Erfahrung und Mystik: Grenzen der Symbolisierung [Reprint 2015 ed.] 9783050072579, 9783050029603

Diese großangelegte Studie, die überarbeitete Fassung einer von der Berliner Humboldt-Universität 1994 angenommenen Habi

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German Pages 645 [648] Year 1997

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung: Mystik und Philosophie
Erstes Buch: Prolegomena zu einer Theorie der mystischen Erfahrung
1 Fragen des methodischen Zugangs
1.1 Sprechen über Mystik?
1.2 Etymologie und Erkenntnis: Hinweise zur Wort- und Begriffsgeschichte
1.3 Klassische Mystiktexte: Kanonisierungen, Textformen
2 Charakteristika der mystischen Erfahrung nach dem Zeugnis klassischer Mystiktexte
2.1 All-Einheit und Ich-Entgrenzung
2.2 Transkategorialität: Die Negation von Zahl, Vielheit, Gegenständlichkeit, Raum, Zeit und Kausalität
2.3 Gesteigerte Emotionalität: Liebe, Ekstase
2.4 Metanoia: Authentizität, Harmonie, Seligkeit
2.5 Gelassenheit, Freiheit, Willenlosigkeit
2.6 Augenblicklichkeit, Unverfügbarkeit, Passivität
2.7 Leiden, Einsamkeit, Todesnähe
2.8 Der mystische ,Weg‘ als Stufenprozeß und die Praxis, mit ihm umzugehen (Vorbereitung und Methode)
2.9 Schweigen, apophatisches und paradoxes Sprechen
2.10 Negation von ,Bild‘ und ,Weise‘
2.11 Esoterik und Innerlichkeit
2.12 Parapsychologische Phänomene (Para-Mystik)
3 Positionen und Theorien der gegenwärtigen Mystikforschung
3.1 Theologie und Frömmigkeitsgeschichte
3.2 Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte
3.3 Soziologie, Ethnologie, vergleichende Religionswissenschaft
3.4 Psychologie und Psychoanalyse
3.5 Ästhetik, Politologie, Grundlagendiskussion in der modernen Physik
3.6 Gegenwartsphilosophie und Mystikforschung
4 Begriffliche Abgrenzungen
4.1 Neuplatonismus, Gnosis, Theosophie
4.2 Okkultismus, Irrationalismus, Mythos, Magie
4.3 Das Desiderat eines zureichenden Erfahrungsbegriffs
Zweites Buch: Zur Phänomenologie und Theorie von Erfahrung und Mystik
1 Lebenswelt, Prozeß, Symbol und Medium: Grundzüge einer Theorie der Erfahrung
1.1 Das Phänomen Erfahrung: Erste Zugänge
1.1.1 Alltäglicher Wortgebrauch und Etymologie
1.1.2 Zur Geschichte des philosophischen Erfahrungsbegriffs
1.2 Erfahrung, Lebenswelt, Symbolprozeß
1.2.1 Exposition: Husserls Begriff der Lebenswelt
1.2.2 Das Konstitutionsproblem der Erfahrung in den Philosophien
1.2.3 Erfahrung als Rationalisierungs- und Symbolisierungsprozeß: Zehn Thesen
1.3 Neuere Fortschreibungen der prozessual-symbolischen Erfahrungstheorie
1.3.1 Langer und Goodman
1.3.2 Schwemmer
1.4 Systematische Bemerkungen zur prozessual-symbolisch-medialen Erfahrungstheorie
1.4.1 Strukturmomente des Phänomens Erfahrung
1.4.2 Aspekte des Symbolcharakters der Erfahrung
1.4.3 Aspekte des Mediencharakters der Erfahrung
2 Das Ganze und die Grenzen der Erfahrung: Die Mystik-Diskussion in der neueren Philosophie
2.1 Erfahrung, Rationalität und Mystik
2.2 ,Klassische‘ Positionen: Sechs Fallbeispiele aus der neueren Philosophie
2.2.1 Transzendentalphilosophie: Kant. Mit einer Nachbemerkung zu Swedenborg
2.2.2 Deutscher Idealismus: Hegel. Mit einer Vorbemerkung zu Fichte und Schelling
2.2.3 Willensmetaphysik: Schopenhauer. Mit einer Nachbemerkung zum ,Nachidealismus‘
2.2.4 Pragmatismus: James
2.2.5 Lebensphilosophie: Bergson
2.2.6 Sprachphilosophie: Wittgenstein. Mit einer Nachbemerkung zu Mauthner
2.3 Mystikphilosophie der Gegenwart: Zwei Fallbeispiele
2.3.1 Philosophie der ,ontologischen Erfahrung‘: Karl Albert. Mit einer Vorbemerkung zu Lavelle
2.3.2 Dekonstruktivismus und negative Theologie: Derrida. Mit einer Nachbemerkung zu Heidegger
2.4 Unterwegs zu einer symboltheoretischen Mystikkonzeption
2.4.1 Philosophische Mystiktheorien und prozessual-symbolisch-mediale Erfahrungstheorie
2.4.2 Der Zusammenhang von Mystik, Philosophie und Kunst nach Whitehead
2.4.3 Cassirers Überlegungen zur Mystik: Die ,Dialektik des mythischen Bewußtseins‘
3 ’Implosionen’ des symbolisch-medialen Prozesses: Grundzüge einer Theorie der Mystik
3.1 Die Methodenschritte einer phänomenologischen Theorie der Mystik: Deskription, Analyse, Theorie, ,Ethos‘
3.2 Analyse: Symboltheoretische Bemerkungen zu den Charakteristika der mystischen Erfahrung
3.2.1 All-Einheit und Ich-Entgrenzung
3.2.2 Transkategorialität: Die Negation von Zahl, Vielheit, Gegenständlichkeit, Raum, Zeit und Kausalität
3.2.3 Gesteigerte Emotionalität: Liebe, Ekstase
3.2.4 Metanoia und Erlösung: Authentizität, Harmonie, Seligkeit
3.2.5 Gelassenheit, Freiheit, Willenlosigkeit
3.2.6 Augenblicklichkeit, Unverfügbarkeit, Passivität
3.2.7 Leiden, Einsamkeit, Todesnähe
3.2.8 Der mystische ,Weg‘ als Stufenprozeß und die Praxis, mit ihm umzugehen
3.2.9 Schweigen, apophatisches und paradoxes Sprechen
3.2.10 Negation von ,Bild‘ und ,Weise‘
3.2.11 Esoterik und Innerlichkeit
3.2.12 Parapsychologische Phänomene (Para-Mystik)
3.3 Konturen einer Theorie der Mystik
3.3.1 Mystik als ,Diskurs der Grenze‘: Das Strukturproblem des Symbolischen
3.3.2 Die Isomorphie von Symbol- und Mystikformen
3.3.3 Medienmystik: Oralität, Literalität, Buchdruck, Telekommunikation, Computer
3.3.4 Zwischenbetrachtung: Genese und Struktur der mystischen Erfahrung
3.4 ’Ethos’: Der Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext von Mystik
3.4.1 Mystik und Kultur: Das Eurozentrismusproblem
3.4.2 Mystik und Stimmung: Die religiöse, künstlerische, wissenschaftliche und alltägliche Psyche
3.4.3 Mystik und Heilserwartung: Affinität zur Gnosis
3.4.4 Mystik und Handeln: Quietismus, Askese, Nekrophilie
3.4.5 Mystik und Geschichte: Kritik des Neuplatonismus
3.4.6 Gibt es eine ’lebensgerechte’ Mystik?
3.5 Konsequenzen für den Philosophiebegriff: Die Einheit von philosophia mystica und philosophia rationalis
Zusammenfassung
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Namenverzeichnis
Nachwort
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Erfahrung und Mystik: Grenzen der Symbolisierung [Reprint 2015 ed.]
 9783050072579, 9783050029603

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Reinhard Margreiter Erfahrung und Mystik

Reinhard Margreiter

Erfahrung und Mystik Grenzen der Symbolisierung

Akademie Verlag

Titelbild: W. Kandinsky, Improvisation 26 (Rudern), 1912, München, Städtische Galerie im Lenbachhaus © VG Bild-Kunst, Bonn 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Margreiter, Reinhard: Erfahrung und Mystik : Grenzen der Symbolisierung / Reinhard Margreiter. - Berlin : Akad. Verl., 1997 ISBN 3-05-002960-9

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1997 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei Mikolai GmbH, Berlin Einbandgestaltung: Hans Herschelmann Printed in the Federal Republic of Germany

Für Helga und Hester

Inhalt

Vorwort

13

Einleitung: Mystik und Philosophie

18

Erstes Buch: Prolegomena zu einer Theorie der mystischen Erfahrung 1

Fragen des methodischen Zugangs

41

1.1

Sprechen über Mystik?

41

1.2

Etymologie und Erkenntnis: Hinweise zur Wort- und Begriffsgeschichte . . .

45

1.3

Klassische Mystiktexte: Kanonisierungen, Textformen

53

2

Charakteristika der mystischen Erfahrung nach dem Zeugnis klassischer Mystiktexte

61

2.1

All-Einheit und Ich-Entgrenzung

66

2.2

Transkategorialität: Die Negation von Zahl, Vielheit, Gegenständlichkeit, Raum, Zeit und Kausalität

72

2.3

Gesteigerte Emotionalität: Liebe, Ekstase

77

2.4

Metanoia: Authentizität, Harmonie, Seligkeit

80

2.5

Gelassenheit, Freiheit, Willenlosigkeit

83

2.6

Augenblicklichkeit, Unverfügbarkeit, Passivität

85

2.7

Leiden, Einsamkeit, Todesnähe

87

2.8

Der mystische ,Weg' als Stufenprozeß und die Praxis, mit ihm umzugehen (Vorbereitung und Methode)

89

Inhalt

2.9

Schweigen, apophatisches und paradoxes Sprechen

95

2.10 Negation von ,Bild'und .Weise'

100

2.11 Esoterik und Innerlichkeit

105

2.12 Parapsychologische Phänomene (Para-Mystik)

108

3

Positionen und Theorien der gegenwärtigen Mystikforschung

ill

3.1

Theologie und Frömmigkeitsgeschichte

112

3.2

Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte

115

3.3

Soziologie, Ethnologie, vergleichende Religionswissenschaft

120

3.4

Psychologie und Psychoanalyse

126

3.5

Ästhetik, Politologie, Grundlagendiskussion in der modernen Physik

133

3.6

Gegenwartsphilosophie und Mystikforschung

140

4

Begriffliche Abgrenzungen

148

4.1

Neuplatonismus, Gnosis, Theosophie

148

4.2

Okkultismus, Irrationalismus, Mythos, Magie

156

4.3

Das Desiderat eines zureichenden Erfahrungsbegriffs

163

Zweites Buch: Zur Phänomenologie und Theorie von Erfahrung und Mystik 1

1.1

1.2

8

Lebenswelt, Prozeß, Symbol und Medium: Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

173

Das Phänomen Erfahrung: Erste Zugänge

173

1.1.1

Alltäglicher Wortgebrauch und Etymologie

174

1.1.2

Zur Geschichte des philosophischen Erfahrungsbegriffs

177

Erfahrung, Lebenswelt, Symbolprozeß

184

1.2.1

Exposition: Husserls Begriff der Lebenswelt

184

1.2.2

Das Konstitutionsproblem der Erfahrung in den Philosophien von James, Bergson, Whitehead und Cassirer

190

Inhalt

1.2.2.1 James

193

1.2.2.2 Bergson

199

1.2.2.3 Whitehead

205

1.2.2.4 Cassirer

212

1.2.3

Erfahrung als Rationalisierungs- und Symbolisierungsprozeß: Zehn Thesen

1.3

1.4

216

Neuere Fortschreibungen der prozessual-symbolischen Erfahrungstheorie . .

223

1.3.1

Langer und Goodman

223

1.3.2

Schwemmer

229

1.3.2.1 Handlung, System und Lebenswelt

230

1.3.2.1 Prozeß, Symbol und Medium

236

Systematische Bemerkungen zur prozessual-symbolisch-medialen Erfahrungstheorie

246

1.4.1

247

Strukturmomente des Phänomens Erfahrung

1.4.1.1 ontologisch/objektiv

247

1.4.1.2 biologisch/anthropomorph

248

1.4.1.3 sozial/kulturell

250

1.4.1.4 subjektiv/individuell

252

1.4.1.5 historisch/kontingent

253

1.4.1.6 kontextuell/transitiv

254

1.4.1.7 prozeßhaft/gestalthaft

255

1.4.1.8 rational/reflexiv

258

1.4.1.9 spekulativ/fiktiv

259

1.4.1.10 affektiv/lebensbedeutsam

260

1.4.1.11 symbolisch/medial

262

1.4.2

263

Aspekte des Symbolcharakters der Erfahrung

1.4.2.1 Symbolische Formen und die Funktionendynamik von ,Ausdruck', .Darstellung' und ,reiner Bedeutung'

264

1.4.2.2 Symbolische Prägnanz

271

1.4.2.3 Die Wahrheitsfrage

274

1.4.2.4 Die Interaktion der Symbolismen

278

1.4.3

281

Aspekte des Mediencharakters der Erfahrung

1.4.3.1 ,Medienphilosophie'

282

1.4.3.2 Die Theorie der Medienabhängigkeit des Denkens (Havelock) . . . .

284

9

Inhalt

1.4.3.3 Medium, Mythos und Aufklärung

289

1.4.3.4 Die ,Dialektik'der Medien und Symbolismen

292

Das Ganze und die Grenzen der Erfahrung: Die Mystik-Diskussion in der neueren Philosophie

297

2.1

Erfahrung, Rationalität und Mystik

297

2.2

,Klassische' Positionen: Sechs Fallbeispiele aus der neueren Philosophie . . .

302

2

2.2.1

Transzendentalphilosophie: Kant. Mit einer Nachbemerkung zu Swedenborg

2.2.2

Deutscher Idealismus: Hegel. Mit einer Vorbemerkung zu Fichte und Schelling

2.2.3

,Nachidealismus'

325

2.2.4

Pragmatismus: James

341

2.2.5

Lebensphilosophie: Bergson

354

2.2.6

Sprachphilosophie: Wittgenstein. Mit einer Nachbemerkung zu

Mystikphilosophie der Gegenwart: Zwei Fallbeispiele 2.3.1 2.3.2

Philosophie der ,ontologischen Erfahrung': Karl Albert. Mit einer Vorbemerkung zu Lavelle

Unterwegs zu einer symboltheoretischen Mystikkonzeption 2.4.1

3.1

,Implosionen' des symbolisch-medialen Prozesses: Grundzüge einer Theorie der Mystik

415

418 422

437 437

Analyse: Symboltheoretische Bemerkungen zu den Charakteristika der mystischen Erfahrung

10

415

Die Methodenschritte einer phänomenologischen Theorie der Mystik: Deskription, Analyse, Theorie,,Ethos'

3.2

397

Cassirers Überlegungen zur Mystik: Die ,Dialektik des mythischen Bewußtseins'

3

386

Der Zusammenhang von Mystik, Philosophie und Kunst nach Whitehead

2.4.3

386

Philosophische Mystiktheorien und prozessual-symbolisch-mediale Erfahrungstheorie

2.4.2

367

Dekonstruktivismus und negative Theologie: Derrida. Mit einer Nachbemerkung zu Heidegger

2.4

311

Willensmetaphysik: Sc hopenhauer. Mit einer Nachbemerkung zum

Mauthner 2.3

302

441

Inhalt

3.3

3.2.1

All-Einheit und Ich-Entgrenzung

3.2.2

Transkategorialität: Die Negation von Zahl, Vielheit, Gegenständlichkeit, Raum, Zeit und Kausalität

453

3.2.3

Gesteigerte Emotionalität: Liebe, Ekstase

458

3.2.4

Metanoia und Erlösung: Authentizität, Harmonie, Seligkeit

463

3.2.5

Gelassenheit, Freiheit, Willenlosigkeit

465

3.2.6

Augenblicklichkeit, Unverfügbarkeit, Passivität

468

3.2.7

Leiden, Einsamkeit, Todesnähe

470

3.2.8

Der mystische ,Weg' als Stufenprozeß und die Praxis, mit ihm umzugehen

472

3.2.9

Schweigen, apophatisches und paradoxes Sprechen

474

3.2.10

Negation von ,Bild' und ,Weise'

478

3.2.11

Esoterik und Innerlichkeit

481

3.2.12

Parapsychologische Phänomene (Para-Mystik)

482

Konturen einer Theorie der Mystik 3.3.1 3.3.1.1

Mystik als ,Diskurs der Grenze': Das Strukturproblem des Symbolischen

487

Vom archaischen zum modernen Bewußtsein

491 494

3.3.2

504

Die Isomorphie von Symbol- und Mystikformen Medienmystik: Oralität, Literalität, Buchdruck, Telekommunikation, Computer

3.3.4

515

Zwischenbetrachtung: Genese und Struktur der mystischen Erfahrung

3.5

487

3.3.1.2 Metaphysik und Mystik; .Implosionen' des Symbolischen

3.3.3

3.4

441

520

,Ethos': Der Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext von Mystik

522

3.4.1

Mystik und Kultur: Das Eurozentrismusproblem

523

3.4.2

Mystik und Stimmung: Die religiöse, künstlerische, wissenschaftliche und alltägliche Psyche

528

3.4.3

Mystik und Heilserwartung: Affinität zur Gnosis

531

3.4.4

Mystik und Handeln: Quietismus, Askese, Nekrophilie

534

3.4.5

Mystik und Geschichte: Kritik des Neuplatonismus

536

3.4.6

Gibt es eine ,lebensgerechte' Mystik?

539

Konsequenzen für den Philosophiebegriff: Die Einheit von philosophia mystica und philosophia rationalis

542

11

Inhalt

Zusammenfassung

548

Anmerkungen

551

Literaturverzeichnis

607

Namenverzeichnis

637

Nachwort

645

12

Vorwort

Die folgende Untersuchung geht von vier — miteinander vielfach verzahnten — Problemstellungen und Zielsetzungen aus: (1) Im Kontext der neueren Technik- und Wissenschaftsreflexion ist immer wieder von einer 'Krise der Vernunft' die Rede, davon, daß überlieferte Rationalitätskonzeptionen angesichts der tatsächlichen Erfahrungen, die wir — innerhalb und außerhalb der Wissenschaften — machen, zunehmend ineffizient und inadäquat erscheinen. Gegenüber der wissenschaftlichen Vernunft, deren normative Geltung und deren Selbstverständnis auch im eigenen, wissenschaftlichen Bereich zunehmend problematisiert werden, erheben die 'Vernunft'formen anderer Lebensweltbereiche — Alltag, Religion, Kunst etc. — konkurrierende Geltungsansprüche. Es geht folglich darum, das Phänomen der Rationalität vor dem Hintergrund einer zureichenden und phänomenologisch fundierten Theorie der Erfahrung zu klären. (2) Der heute weithin als allgemeinverbindlich aufgefaßte, an Transzendentalphilosophie und experimenteller Naturwissenschaft orientierte Begriff der regelgeleitet-empirischen Erfahrung steht in unaufgelöster Spannung zur allgemeinen, lebensweltlichen Erfahrung, aber auch zu speziellen Erfahrungsformen in Kulturbereichen wie etwa Religion und Kunst. Zu diesen speziellen Erfahrungstypen zählt auch die mystische Erfahrung, deren angeblicher Status als 'irrational' und/oder 'erfahrungstranszendent' nur dann zu bestätigen oder zu widerlegen ist, wenn wir die Begriffe Rationalität und Erfahrung und ihr Verhältnis zueinander ausreichend klären. (3) Mit der Krise des Rationalitäts- und der Unbestimmtheit des Erfahrungsbegriffs geht in der gegenwärtigen Kultur eine antiszientistische Mißstimmung einher, die dem Aufkommen neu-alter vernunftfeindlicher und obskurantistischer Anschauungen Vorschub leistet. Wir erleben seit einiger Zeit — am augenfälligsten in der New-Age-Bewegung — eine Renaissance von 'Gnosis', 'Spiritualismus', 'Esoterik', 'Mythos' und 'Mystik'. Das Aufblühen solcher Sinnstiftungsversuche hat zweifellos mit Versäumnissen in der Selbstreflexion des modernen wissenschaftlichen Weltzugriffs zu tun, genauer: mit der Verengung und Dogmatisierung neuzeitlicher Vernunft- und Erfahrungskonzeptionen. Die geistesgeschichtliche Situation erfordert nunmehr eine Klärung nicht außerhalb der Wissenschaften und in Opposition zu diesen, sondern durch (lernbereite) Wissenschaft selbst.

13

Vorwort

(4) Seit etwa 200 Jahren gibt es in Europa eine explizite theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen und Begriff der Mystik als einem (angeblich) 'Anderen der Vernunft' bzw. als einer 'anderen Erfahrung'. Eine Reihe namhafter Philosophen betrachtet Mystik — jenseits ihrer obskurantistischen Formen — als ernsthaft thematisierbaren Gegenstand, der entweder das Ganze der Erfahrung ausdrückt und/oder deren Grenzen. Doch gibt es keinen allgemeinen Konsens darüber, wie Mystik genau zu definieren sei. Darüber hinaus existieren neben den philosophischen auch theologische, sprach- und literaturwissenschaftliche, psychologische und andere Mystiktheorien. Es wäre somit wünschenswert, eine Perspektive und Methode zu entwickeln, welche für die genannte Vielfalt einen gemeinsamen Boden der Betrachtung herstellt und Unklarheiten, die die bisherige Forschung belasten, beseitigt. Aus diesen vier Problemfeldern und Forschungsdesiderata ergibt sich für die vorliegende Untersuchung eine doppelte Zielsetzung: Es geht — erstens — um die Ausarbeitung einer adäquaten Phänomenologie und Theorie der Mystik, die aber — zweitens — nicht isoliert in Angriff zu nehmen ist, da sie sich von einer allgemeinen Theorie der Rationalität und Erfahrung her fundieren lassen bzw. mit dieser in Einklang stehen muß. Eine solche Theorie der mystischen Erfahrung wird reziprok auch zur Klärung einer allgemeinen Erfahrungstheorie beitragen. *

Vorweg läßt sich nun allerdings fragen: Was heißt Mystik? Gibt es eine sinnvolle Rede über den Gegenstand? Ist der Ausdruck Gegenstand im Hinblick auf Mystik überhaupt vertretbar? Läßt diese sich gegenständlich, läßt sie sich begrifflich fassen? Nehmen wir den allgemeinen Sprachgebrauch zum Maßstab, so handelt es in den meisten Sprachspielen, in denen der Ausdruck 'Mystik' vorkommt, um eine black box. Keine der begrifflichen Festlegungen, die verschiedentlich versucht wurden, kann beanspruchen, allgemeingültig zu sein. Denn schon das Phänomen, die Art der Erfahrung, worauf sich der Ausdruck beziehen soll, sind strittig. Gibt es eine 'mystische Erfahrung' überhaupt? Wenn ja, wie ist sie exakt beschreibbar? Ist sie überhaupt beschreibbar? Oder narrt uns hier die Sprache, die — referenzlos geworden — sich verselbständigt hat und nur noch ein 'Nichts', ein Phantasma benennt? Was symptomatisch gegen eine solche Vermutung spricht, ist die unbestreibare Präsenz des Mystikbegriffs in unserer Kultur und sind seine Konjunkturen, die wir vom 18. Jahrhundert — als die Substantiva Mystik, mysticism, mysticisme, misticismo in den europäischen Sprachen geläufig werden — bis heute beobachten können. Romantik, Lebensphilosophie und New Age stellen solche Konjunkturen dar, die freilich auch wieder von Rezessionen abgelöst werden. Bei solchem Auf und Ab handelt es sich stets um Mode und Mainstream. Die kulturelle Exoterik ergeht sich abwechselnd, man könnte nahezu von einem geschichtlichen Rhythmus sprechen, in wenig reflektierter Wissenschaftsgläubigkeit oder — dann klassifiziert sie sich möglicherweise unter dem gegensätzlichen Begriff der Esoterik - in einer Haltung, die wir in verkürzender Perspektive als 'Irrationalismus' abtun. In beiden Fällen haben wir es mit kulturellen — vielleicht

14

Vorwort

sogar anthropologischen — Orientierungsbedürfnissen zu tun, aber auch um Vergröberungen und Trivialisierungen eines 'im Kern' legitimen Bemühens: um rationale Klarheit und Eindeutigkeit einerseits, um Offenheit und Erfahrungsbereitschaft andererseits. Uber die Beschränktheit des 'bloßen Verstandesmenschen' wurde, beispielsweise von Novalis und Schelling, ausgiebig und mit gutem Grund gelästert. Aber auch der von Intuition, Gefühl und 'Offenbarung' geleitete Mensch wurde — gleichfalls nicht zu Unrecht — von den Aufklärern verspottet. Die klassische Aufklärung setzte Mystik mit Obskurantismus gleich. Es gab und gibt aber nicht nur die reinen Befürworter und Gegner. So sprechen beispielsweise Robert Musil oder Fritz Mauthner zwar in verständnisvoller und sogar affirmativer Weise von Mystik, wenden sich aber doch vehement gegen deren obskurantistische Formen, die sie als 'Schleudermystik' (Musil) und 'Mystik des dummen Kerls' (Mauthner) bezeichnen. Wir finden also — neben der oft plumpen exoterischen Aneignung und Ablehnung — vielfach auch eine differenzierende Auseinandersetzung mit Mystik: nicht nur im Kontext religiöser und theologischer Diskurse, sondern auch im Kontext literarischer, künstlerischer und philosophischer Reflexion, ja selbst im Kontext wissenschaftlicher (insbesondere naturwissenschaftlicher) Grundlagenreflexion. Was die Philosophie betrifft, so gibt es in den letzten 200 Jahren — wenngleich bis heute in keinem philosophiehistorischen Überblickswerk gesammelt und erläutert — eine vielfältige und intensive Befassung mit Mystik, sowohl der Sache nach wie auch expressis verbis. Wir stoßen kaum je auf nachdenkliche Menschen, denen Mystik nichts bedeuten würde: ob das Wort für sie nun affirmativ oder pejorativ besetzt ist, ob sie darüber zu sprechen bereit sind und den Ausdruck irgendwie definieren oder ob sie behaupten, das Gemeinte sei 'unaussprechbar'. Der Diskurs über Mystik ist, heute wie ehedem, kontraversiell, aber: er findet statt. Ich denke, mit diesem Faktum — daß Diskurse über Mystik stattfinden — ist ein erster Ausgangspunkt gewonnen, der es erlaubt, sinnvoll über das Thema zu reden, auch wenn sich unser Reden vorläufig nicht auf Mystik selbst beziehen, sondern auf das Reden über Mystik beschränken mag. Mystik, so lautet meine Ausgangsthese, stellt zwar — inhaltlich gesehen — weitgehend eine black box dar. Das Wort indiziert aber ein Problem des Denkens und der Erfahrung, das sich — bei näherem Zusehen — als ein umfangreiches und komplexes philosophisches Problemfeld erweist. Dieses kann umschrieben werden mit den Begriffen Wirklichkeit, Sein, Denken, Erfahrung, Vernunft. Auch diese Begriffe sind — wie 'Mystik' — Problembegriffe, wenngleich wir von dem, was 'wirklich', 'vernünftig' oder 'erfahrungsbezogen' sein soll, weitaus unbefangener sprechen als vom 'Mystischen'. Doch teilen Wirklichkeit, Vernunft und Erfahrung mit Mystik den prinzipiellen Geheimnischarakter. Sie sind nicht schon längst und ein für allemal geklärt. Ihre Inhalte und Verweisungszusammenhänge stehen nach wie vor in Frage. Zunächst scheint uns klar und selbstverständlich, was tatsächlich ist, was wir erfahren und was wir vernünftig finden. Und doch beginnt, sobald sich die Schere öffnet zwischen möglicher Wahrheit und möglichem Irrtum, zwischen Sein und Schein, der nicht abschließbare philosophische Diskurs in seinem typischen Hin und Her von Skepsis und Spekulation. Auch wenn wir heute eine Menge wohlfeiler Theorien — im-

15

Vorwort

pliziter und expliziter Natur — über Realität, Erfahrung und Vernunft kennen und mit ihnen umgehen, sind sie alle vorläufig, d.h. ergänzungs- und korrekturbedürftig und -fähig. Ich halte es daher für eine lohnende philosophische Aufgabe, die Problembegriffe Wirklichkeit, Vernunft und Erfahrung mit dem Problembegriff Mystik zu vernetzen. Möglicherweise stoßen wir auf einen sachlich und schon vor aller Terminologie bestehenden Zusammenhang. Vielleicht gelingt uns eine Erweiterung der fundamentalen Einsicht 'in das, was ist'. In diesem Fall wird sich vermutlich auch die Sicht des gesamten Problemfeldes verändern. In der Synopsis mit Mystik werden wir Realität, Erfahrung und Vernunft anders denken als wenn wir — wie bisher meist üblich — Mystik ausblenden. Umgekehrt aber werden wir auch Mystik anders sehen und beurteilen, wenn wir sie nicht als eine exotische und isolierte Dimension unserer Erfahrung behandeln, sondern in ihrer systematischen Verschränkung mit Realität, Erfahrung und Vernunft begreifen. Ein dergestalter philosophischer Versuch braucht methodisch nicht an einem Punkt null anzufangen, auch wenn Mystik keineswegs zu den bevorzugten Themen der Gegenwartsphilosophie zählt und auch wenn wir in der bisherigen Philosophiegeschichte keine geschlossenen systematischen Entwürfe einer Theorie der Mystik vorfinden, sondern meist nur Andeutungen und Spuren. Wir sollten diese Andeutungen und Spuren nicht unterschätzen. Z.B. Kant, Hegel, Schopenhauer im 19. Jahrhundert oder Wittgenstein, Bergson und Derrida im 20. Jahrhundert kommen jeweils an einem bestimmten Punkt ihrer Überlegungen, die sie zum Problemkreis von Vernunft und Erfahrung anstellen, explizit auf Mystik zu sprechen. Die Charakterisierungen, Zuordnungen und Bewertungen, die sie vornehmen, differieren. Aber es läßt sich zeigen, daß diese Philosophen Mystik stets dann thematisieren, wenn sie über die Grenzen und/oder das Ganze von Vernunft und Erfahrung nachdenken. Es ist freilich daran zu erinnern, daß Mystik genealogisch außerphilosophischen Ursprungs ist und daß viele Philosophen sie seit je und bis heute als Anathema betrachten. Auch im allgemeinen kulturellen Bewußtsein wird sie eher der Religion zugeordnet als der Philosophie. Der Topos, sie sei ausschließlich ein religiöses Phänomen, ist nicht nur unter Theologen — die ihrerseits über Definition und Bewertung von Mystik keineswegs einig sind — weitverbreitet. Doch machen — vor allem seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert — auch Dichter, bildende Künstler, Geisteswissenschaftler und grundlagenreflektierende Naturwissenschaftler Mystik zu ihrem Thema. Dies geschieht in einer Weise, die man zumindest in einem weiten Sinn als 'philosophisch' klassifizieren kann. Solche Bemühungen tragen dazu bei, das Phänomen Mystik unter verschiedenen Aspekte sichtbar zu machen (oder, wenn man will, im Plural: Phänomene, die analog oder äquivok als 'Mystik' bezeichnet werden). Wir haben es insgesamt mit höchst unterschiedlichen Kultur- und Lebensweltbereichen zu tun — und die Philosophie ist, genauso wie die Religion, nur einer unter ihnen —, in denen und von denen her Mystik thematisierbar ist. Wollen wir einen zureichenden Begriff und eine Theorie von Mystik auf dem Wege einer Vergegenwärtigung des Phänomens Mystik gewinnen, so wäre es sicher eine gro-

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Vorwort

be methodische Verkürzung, wollten wir dies allein auf der Schmalspur des bloß philosophischen Diskurses versuchen. Denn der begrifflich-theoretische Diskurs, den die Philosophie verkörpert, neigt zur Verselbständigung und damit zum Ausschluß, zur Abwertung und zur verzerrenden Rekonstruktion anderer Orientierungstypen (wie Religion, Kunst, Alltag, disziplinare Wissenschaft). Aus diesem Grund ist die vorliegende Untersuchung zwar philosophisch motiviert, nicht aber eine ausschließlich philosophische Angelegenheit. Ich will Mystik nicht allein unter philosophischen Rastern thematisieren, sondern auch so, wie sie sich im allgemeinen Sprachgebrauch der Gegenwart und der Vergangenheit (ein Sprachgebrauch, der in Wahrheit in viele heterogene Diskurse zerfällt), 'zeigt'. Dieses Sich-Zeigen — phainestai — ist natürlich jeweils zu hinterfragen, skeptisch abzuwägen, spekulativ zu destruieren oder auch zu untermauern. Der adäquate Umgang mit dem Phänomen führt so zurück zu einem philosophischen Diskurs, der sich freilich nicht von vorgegebenen Begrifflichkeiten gefangennehmen läßt, sondern — phänomenologisch orientiert — seine Begrifflichkeiten an der Sache selbst entwickelt und erprobt. Er beginnt mit einem Hinsehen mitten im Handeln. Das Sich-Zeigen ist — früher oder später — in einen theoretisch-begrifflichen Diskurs zu überführen. Fürs erste aber ist es wahrzunehmen und zu beschreiben. Auch wenn es zwischen den Momenten der Wahrnehmung und Interpretation keine feste Zäsur gibt, so sind sie im Sinn einer methodischen Handregel dennoch voneinander zu trennen. Als eben diese Handregel verstehe ich das Prinzip der Phänomenologie: sich auf ein Phänomen einlassen, es möglichst es selbst sein lassen, bevor es zwangsläufig — im Fortgang unserer Befassung mit ihm — immer intensiver und unvermeidlicher in unsere Interpretations-Mühlen gerät, in deren Bewegung wir und die Objekte sich aneinander angleichen, sich aneinander verändern und so insgesamt eine veränderte Realität stiften. — Nach der Einleitung, die das Verhältnis von Mystik und Philosophie in einem ersten Schritt (und weitgehend programmatisch) behandelt, geht es nachfolgend Im ERSTEN BUCH um einige Prolegomena zu einer Theorie der mystischen Erfahrung. Diese Prolegomena umfassen vier Abschnitte: (1) die Erörterung der Fragen eines sinnvollen methodischen Zugangs zum Thema Mystik, (2) den Aufweis typischer Charakteristika der sogenannten 'mystischen Erfahrung' anhand klassischer Mystiktexte, (3) eine Darstellung der wichtigsten Positionen und Theorien der gegenwärtigen Mystikforschung und (4) Begriff sabgrenzungen im Konnotationsfeld von 'Mystik'. Im ZWEITEN BUCH stelle ich dann das Phänomen der Mystik in den Kontext einer allgemeinen Theorie der Erfahrung und des Geistes. Ein erster Abschnitt (1) behandelt am Leitfaden der Begriffe Lebenswelt, Prozeß, Symbol und Medium die Grundzüge einer allgemeinen Erfahrungstheorie. Der nächste Abschnitt (2) gibt einen Abriß der Mystikdiskussion in der (europäischen und amerikanischen) Philosophie der letzten 200 Jahre. Im letzten Abschnitt (3) arbeite ich eine phänomenologische Theorie der Mystik aus, in der die 'unio mystica' als Steigerung, Verdichtung, Totalisierung und 'Implosion' des symbolischmedialen Erfahrungsprozesses interpretiert wird.

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Einleitung: Mystik und Philosophie

Philosophie wird im allgemeinen mit Rationalität oder Vernunft, Mystik hingegen fast immer mit dem Irrationalen oder dem sogenannten 'Anderen der Vernunft" in Zusammenhang gebracht. Diese Zuordnung treffen sowohl die Anhänger eines ungebrochenen Vernunftglaubens, die Mystik umstandslos mit Aberglauben und Obskurantismus gleichsetzen, als auch jene Apologeten der Mystik, die zu wissen (oder wenigstens zu ahnen) vorgeben, wovon sie sprechen, wenn sie die Vernunft abwerten zugunsten einer wie immer gearteten 'anderen', 'höheren' und 'transrationalen' Erkenntnis. Die Frage, ob — und wenn ja, in welcher Weise — die Gültigkeit einer solchen behauptet werden kann, hängt offenkundig nicht nur davon ab, was unter Mystik näherhin verstanden wird, sondern auch davon, wie man das Andere der Mystik — Rationalität also2 — bzw. wie man die Grenze zwischen beiden begreift. Daß Rationalität eine endliche, eingeschränkte Größe darstellt, die nicht das Ganze der Erfahrungswirklichkeit einzuholen imstande ist, wird in der gegenwärtigen Diskussion kaum noch von jemandem ernsthaft in Frage gestellt.3 Die Auseinandersetzung über das 'Andere der Vernunft' ist daher wohl nicht mehr als Streit darüber auszufechten, ob dieses Andere überhaupt existiert, sondern darüber, welcher Stellenwert ihm im Theoretischen wie im Praktischen zukommt und in welcher Weise es — zumindest als Grenze — begrifflich-theoretisch umrissen und vermessen werden kann. Mit der Problematisierung ihres 'Anderen' steht nun freilich auch die Vernunft selbst zur Disposition. Wir müssen nach ihrem Verhältnis zu unserer vielfältigen Erfahrung fragen: bis zu welchem Grade sie diese zu begreifen vermag, ob sie dekretieren darf, was Erfahrung ist und zu sein hat, aber auch, ob ihr die Fähigkeit zuzuschreiben sei, sich mit neuen und ungewohnten Erfahrungen zu arrangieren und sich produktiv mit ihnen auseinanderzusetzen. Wer sich ein solches Umreißen und Vermessen des Verhältnisses zwischen der Vernunft und ihrem 'Anderen' zur Aufgabe stellt, muß selbstverständlich jenen in der Mystikdiskussion weitverbreiteten Topos verneinen, der besagt, Rationalität als Instrument, mit Mystik umzugehen, müsse notwendigerweise und sozusagen per definitionem versagen. 4 Diesem Topos gemäß wäre nur die Vernunft als solche das der Philosophie gemäße Thema — eine Normierung, die sich aus einem vorschnell festgelegten und eingeengten Vernunftbegriff ergibt, der die strukturelle Verschränkung von Vernunft und Erfahrung sowie deren beider kulturelle Disponibilität, Offenheit und lebensweltliche Fundierung außer acht läßt. Ein solch verengter Vernunft- und Philosophiebegriff mag methodisch einfacher zu handhaben und leichter gegen verschiedene Obskurantismen

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abzuschotten sein als der hier in Aussicht genommene, doch der Preis einer solch normativ-verengten Denkweise besteht darin, daß sie sich in eine intellektuelle Sonderwelt verspinnt5 und damit ihre 'Lebensbedeutsamkeit' 6 verliert. Demgegenüber sollten wir darauf beharren, daß Philosophie — wenn man sie in ihrer eigenen, durch ihre Tradition ausgewiesenen Dimension begreift, also abgegrenzt zu alltäglichen, technisch-wissenschaftlichen, künstlerischen, aber auch religiösen Denkweisen — nichts anderes heißt als: nachdenken über 'das, was ist'7, also über die Erfahrung der Realität und über die Realität der Erfahrung. Auch für Kant ist Philosophie nichts anderes als Theorie der Erfahrung, wenngleich sein allzu enger Erfahrungsbegriff kritisierbar bleibt. Philosophie als grundsätzliches und allgemeines Nachdenken hat sowohl rezeptive wie spontane, deskriptive wie normative, kritische wie konstruktive Elemente. Diese bilden insgesamt eine funktionelle Einheit und sind nur als Komponenten einer in sich komplexen, stets interpretationsoffenen Tätigkeit einzeln begreifbar. So ergibt sich eine Doppelaufgabe der Philosophie, da das Nachdenken nicht nur äußere, ichfremde Gegenstände behandelt, sondern auch — unabweisbar, weil es schließlich das Ganze der Erfahrung denken will — sich selbst zu seinem Gegenstand macht. Die Reichweite und Leistungsfähigkeit dieser Doppelanstrengung ist zweifellos höchst problematisch, doch läßt sich so immerhin das Grundthema der Philosophie klar umreißen. Besagtes Nachdenken, das immer auch selbstreflexiv ist, ist als Tätigkeit der Vernunft identifizierbar, und diese Gleichsetzung erlaubt es, die Vielfalt möglicher Vernunftgegenstände nicht von vornherein einzuschränken, sondern das 'Vernunftvermögen' für 'ankommende', also neue Erfahrungen offen zu halten. Wenn Mystik, wie ich fürs erste bloß hypothetisch behaupten will, eine in der Lebenswelt vorfindliche Erfahrung ausdrückt — und sei es möglicherweise auch eine verzerrte, in ihren Motiven und ihren allfälligen Selbsttäuschungen aufklärungsbedürftige Erfahrung —, dann darf man sie auch nicht von vornherein als Gegenstand der Philosophie ausschließen. Es gibt von Kant bis heute eine Reihe von Philosophen, die — obwohl sie selbst kaum als Mystiker anzusprechen sind —· Mystik mehr oder weniger ernsthaft thematisieren und sie (meist) als Epiphänomen zur Rationalität auffassen. Doch erscheinen diese Thematisierungen als unzureichend. Dies liegt an der Unzureichendheit des jeweiligen Rationalitäts- und Mystikbegriffs, wobei — als gemeinsamer Hintergrund sowohl des Rationalitäts- wie des Mystikproblems — ein unzureichender Erfahrungsbegriff vorliegt. Programmatisch ist zu sagen, daß ein zureichender Erfahrurungs- und Vernunftbegriff nur aus der Lebenswelt und somit aus den Dimensionen auch von Kultur und Geschichte zu erschließen ist. Wenn sich diesbezüglich die gegenwärtige Philosophie um eine Neufassung des Rationalitätsbegriffs bemüht, müßte sich dieses Bemühen konsequenterweise auch auf das Thema Mystik ausdehnen, das einen wichtigen, wenngleich stark vernachlässigten Gegenstand der Philosophie darstellt. Vermutlich ist seine Behandlung in der Situation der gegenwärtigen Philosophie — in der das Schlagwort Postmoderne nur ein unzureichendes Etikett ist für eine viel weiterreichende Krise unseres Vernunft- und Wirklichkeitsbegriffs — dringlicher als noch vor einigen Jahrzehnten. Wenn sich die Philosophen um das Ganze des Erfahrungszusammenhangs bemü-

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hen, dann können sie zwar im Ergebnis durchaus hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückbleiben, doch müssen sie per definitionem imstande sein, zumindest einiges Verständnisfördernde über die Grundlagen und den Horizont jener speziellen Erfahrung auszusagen, die als die mystische bezeichnet wird (so wie sie schließlich auch über die Grundlagen und den Horizont der Natur, der Geschichte, der Kunst, der Wissenschaft, der Religion usw. etwas Verständnisförderndes auszusagen vermögen). *

Wenn wir die Philosophie also prinzipiell als ein mögliches Medium für eine Theorie der mystischen Erfahrung akzeptieren und Philosophie mit grundsätzlichem Nachdenken gleichsetzen, das von einem erfahrungsoffenen Vernunftbegriff bestimmt wird, dann ist es notwendig, dieses Nachdenken — in Abgrenzung zu zahlreichen verengend-normierenden Vorstellungen — näher zu skizzieren. Dem philosophischen Nachdenken geht es darum, in der Lebens weit nicht oder nur wenig reflektierte Begriffe wie Denken, Vernunft, Wirklichkeit und Erfahrung zu problematisieren und sie zumindest einer teilweisen Klärung zuzuführen. Im Vollzug des Nachdenkens über die Erfahrung macht das Nachdenken auch selbst Erfahrungen: nicht nur über seine Gegenstände und deren Eigenschaften, sondern auch über sich selbst als Medium, in welchem die Gegenstände und Orientierungen sich konstituieren, vor allem aber: in welchem sie sich stets und aufs neue verändern. Das Nachdenken erfährt, wenn es gründlich genug vorgeht, daß es kein fundamentum inconcussum von Vernunft und/oder Erfahrung, d.h. keinen einholbaren Anfang gibt — weder als rezeptives Hinnehmen eines fertig 'Gegebenen' noch als spontane Schöpfung eines 'Neuen' im Sinne reiner Konstruktion. Bei allem 'gegenstandskonstituierenden' und 'ichkonstituierenden' Tun und Denken ist 'objektiv' immer schon etwas da: ein Vor- und Zuhandenes, das auch ein Widerständiges, uns (Teil-)Bestimmendes ist. Dieses je schon Vorhandene, in der Erfahrung Vorfindliche ist keine schlechthinnige Indifferenz, sondern bereits konturiert in Formen und Gestalten. Es ist schon erschlossen in einem wirksamen Vorverständnis von (vielfach un- und halbbewußten) Bedeutungen. Was auf solche Weise — als begegnendes Gegebenes, Widerständiges, Bestimmendes und sich im Prozeß der Begegnung weiterhin Veränderndes — immer schon waltet und durch unser Handeln und Nichthandeln, Denken und Nichtdenken laufend modifiziert wird, ist — in sachlich wie etymologisch adäquater Terminologie — die Welt. Sie ist die Gesamtheit, der Inbegriff der Erfahrung. Der Begriff des Ganzen, der Welt, erweist sich dadurch als konstitutiv, daß wir, wenn wir konkrete Erfahrungen machen, kaum je an deren Gesamtzusammenhang zweifeln. Das Ganze und das Allgemeine der Erfahrung aber macht Philosophie zu ihrem Thema: ein Thema, das umfassend genug ist, um auch sich selbst, die Thematisierung, mit einzubeziehen. Somit ist Philosophie — wobei über die Effizienz ihrer Anstrengungen noch nichts entschieden ist — die reflexivste aller Möglichkeiten, sich Welt bzw. Erfahrung zu vergegenwärtigen, reflexiver z.B. als Alltagsdenken, Wissenschaften, Kunst und Religion. Als — dem Anspruch nach — maximal reflexives Medium ist Philosophie notgedrungen dialektisch: Sie Rekonstruiert die vorfindliche Erfahrung und rekonstruiert sie wie-

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der. Sie ist einerseits skeptisch, analytisch und andererseits spekulativ, synthetisch. Sie ist sowohl deskriptiv wie normativ, rezeptiv wie konstruktiv. Solche Komplexität ist ihr in sich widersprüchliches — eben dialektisches — Geschäft. Und da verständlicherweise — verständlicherweise freilich erst nach einer langen Geschichte des Denkens, in der aus Fehlern gelernt wurde — weder der eine noch der andere Teil des Geschäfts je an sein Ende kommt, gelangt das philosophische Nachdenken niemals auf einen sicheren Grund, noch baut es 'Dome aus ewigem Stein'. Es ist vielmehr Repräsentation und zugleich Motor, also Spiegel und Konstituens der Lebenswelt. Es vergegenständlicht den dynamischen Prozeß menschlicher Weltorientierung und Weltgestaltung und treibt eben damit diesen Prozeß modifizierend weiter. Philosophie — als das Sich-Einlassen auf den Prozeß der Erfahrung, auf das (zumindest prima facie) unabschließbare Spiel von De- und Rekonstruktion von Welt — ist freilich ein geschichtlich relativ spätes Produkt menschlicher Kulturentwicklung. Trotz gewisser Ansätze in den meisten Teilen der Erde8 ist sie in traditionalen und schriftlosen Gesellschaften nicht wirksam, da deren intellektuelle Organisation ein umfangreicheres Theoretisieren und vor allem Problematisieren von einmal gewonnenen Orientierungen nicht zuläßt. Traditionale Gesellschaften konzentrieren ihre Kraft auf das Erreichen und Erhalten von stabilen Orientierungs- und Wertmustern, von Sekurität, die Reflexion als frei waltendes Spiel nicht duldet. 9 Erst eine zumindest potentiell moderne, d.h. pluralistisch-liberale und im wesentlichen undogmatische Gesellschaft — wie sie sich im neuzeitlichen Europa entwickelt, wie es sie ansatzweise aber auch in der griechischrömischen Antike10 und, in geringerem Maß, in Indien und China gegeben hat — ermöglicht Philosophie. Verständlicherweise wirkt der kulturelle Hintergrund, aus dem heraus sie sich entwickelt und in dem sie sich ansatzweise schon realisiert hat — Mythos, Religion, eingefahrene Alltagsorientierungen — auch in modernen Kulturen nach. Die genannten Bereiche stellen nämlich Elemente auch noch unserer heutigen Lebenswelt dar, und gerade deshalb sind sie, marginal zumindest, auch noch Gegenstand der Philosophie, die die Gegenwart ihres Zeitalters auf den Begriff zu bringen sucht.11 Verständlicherweise gerät aber auch die reflexivste aller Denkweisen immer wieder in den Bannkreis traditionaler Denkmuster — vor allem des Strebens nach Sicherheit in der Weltorientierung — und fällt damit hinter ihren eigenen Reflexionsanspruch zurück. So gerät sie zeitweise auch heute noch in den Dienst von Religionen und sogenannten religiösen Renaissancen, von politischen Ideologien, aber auch von (geschichtlich längst überholten) szientistischen Wahrheits- und Gewißheitsvorstellungen. Doch solche Rückfälle — so ärgerlich und manchmal unnotwendig sie im einzelnen erscheinen mögen — sind nie das letzte philosophische Wort. Vermutlich ist die intellektuelle Dynamik moderner Gesellschaften zu groß, daß man sich in ihnen je mit angeblich endgültigen Einsichten zufriedengeben könnte, und zudem fehlen hier den Machthabern die Mittel, das Nachdenken über das, was ist auf einem ihnen gefälligen Niveau einzufrieren. Wie sehr auch immer Philosophie bis heute vorübergehend von ideologischen oder Absolutheitsvorstellungen affiziert und deformiert sein mag — gerade in der längerwährenden Auseinandersetzung mit diesen — periodisch auftauchenden — atavistischen Kulturgestalten löst sich die Reflexion wieder von ihnen und erreicht auf ihrem ständigen, unabge-

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schlossenen Wanderweg 12 neue Plateaus mit neuen freien Aussichten. Wo sich solch neue Aussichten auftun, kann man — im Anschluß an Thomas Kuhn — von einem Paradigmenwechsel sprechen. 13 *

Gerade diese Paradigmenwechsel, in denen — zumal in der Neuzeit — immer wieder das große Pathos eines ganz anderen Anfangs der Weltorientierung aufbricht 14 , stehen mit dem Thema Mystik in einem besonderen Zusammenhang. Allgemein kann gesagt werden, daß die mystische Erfahrung ein Phänomen ist, auf das die Philosophie im Lauf ihrer Geschichte — und lange bevor sich der Ausdruck Mystik überhaupt einbürgert — immer wieder stößt. Es handelt sich um die Erfahrung, daß alle Gegenständlichkeiten und Grenzziehungen, alle voneinander geschiedenen Dinge also und ebenso alle die Realität ordnenden Begriffe und Kategorien — somit jene Fixierungen und Unterscheidungen, die Vernunft und Sinne uns vorgeben — in einer gewissen, schwer zu erklärenden, aber grundsätzlichen Weise hinfällig sind und daß wir die Welt — das vielfältige Insgesamt der uns betreffenden Wirklichkeit — als eine differenzlose Einheit, sei sie bedrohend oder beglückend, empfinden können. Diese Erfahrung gibt es freilich in ganz verschiedenen Ausprägungen und in unterschiedlicher Kombination mit weiteren Gedanken, Empfindungen und Vorstellungen. Sie ist oftmals ein Erlebnis von existentieller Tragweite und mit großer Emotionalität verbunden. Charakteristisch ist ihre schwere Mitteilbarkeit — und damit ihre Bestreitbarkeit von Seiten nicht durch sie Betroffener, so daß die schwierige Frage nach ihrem Realitätsstatus zu stellen ist. Handelt es sich um 'göttliche' Erleuchtung oder um ein banales Hirngespinst, um Wunschprojektion, um eine durchaus profane Realitätsebene 'zweiter Ordnung' oder um ein fehlerhaftes Denken, um 'schlechte Metaphysik'? Doch Mystik begegnet nicht nur im Kontext der Philosophie, sondern auch in anderen Bereichen der Lebenswelt: in der Religion — diese scheint zumindest historisch ihr ursprünglicher Bereich zu sein, und viele Forscher wollen sie auch nur als religiöses Phänomen gelten lassen15 —, in der Kunst (insbesondere die Dichtung liefert hier breites Anschauungsmaterial), in alltäglichen Erfahrungen wie Natur-, Liebes- und Todeserfahrungen 16 , schließlich aber auch im Zusammenhang mit wissenschaftlicher Grundlagenreflexion. Diese breite lebensweltliche Streuung des Phänomens Mystik und die Tatsache, daß es in fast allen Zeiten und Kulturen bekannt ist — wenn auch unterschiedlich bewertet und von unterschiedlicher Ausprägung und Relevanz —, läßt folgern, daß es, wenn es pathologischen Charakter hat, ein durchaus allgemeiner, anthropogener Wahn ist bzw. daß das menschliche Weltverhalten und insbesondere die menschliche Rationalität so geartet sind, daß sie Mystik als Epi- oder Kontraphänomen hervorrufen. Sofern die Philosophie das, was ist, die Erfahrungswirklichkeit bzw. eben schlechthin die Realität, zu ihrem Thema hat und sofern der Realitätsstatus von Mystik in besonderer Weise in Frage steht, ist es nicht zu verwundern, daß das Verhältnis der Philosophie zur Mystik — sowohl zur außerhalb der Philosophie sich konstituierenden Mystik, z.B. der religiösen, als auch zur im Verlauf des Philosophierens sich ergeben-

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den und insofern 'philosophischen' Mystik — ein höchst zwiespältiges ist. Diese Zwiespältigkeit ist parallel zu sehen mit dem Stellenwert, den Mystik in verschiedenen Kulturen und Kulturepochen einnimmt, wobei der dort bestimmende Typus von Rationalität als Indikator der Wahrnehmung und Bewertung von Mystik gelten kann. Das gesamte Weltverhalten eines Menschen, einer Gruppe und selbst einer ganzen Kultur kann durch die mystische Erfahrung entscheidend geprägt sein, und diese Erfahrung kann sich in der Sprache und den übrigen Kommunikations- und Verhaltensformen einen intersubjektiv verständlichen und akzeptierten Ausdruck geschaffen haben. 17 Das Weltverhalten eines Menschen, einer Gruppe oder ganzen Kultur kann aber auch — wie das die nachromantische und nachidealistische Epoche in der europäischen Geschichte zu zeigen scheint — das Phänomen der Mystik weitgehend ausschließen, abdrängen und ignorieren. Dann wird Mystik wohl zwangsläufig subkulturell und damit, weil unterdrückt, deformiert, und sie verbindet sich umso leichter mit einem phantastischen und törichten Obskurantismus, mit dem ein (freilich wenig aufgeklärter) aufklärerischer Sprachgebrauch Mystik ohnehin gleichsetzt.18 Es ist die in der Theologensprache so benannte 'Aftermystik', die 'Schleudermystik' (Musil), die 'Mystik des dummen Kerls' (Mauthner), die — als Bemühen um Wirklichkeitsorientierung — freilich verständlich ist als Pendant zu einer von ihrer Lebensbedeutsamkeit abgekoppelten, ihr 'Anderes' ausblendenden Rationalität. Jedenfalls ist Mystik, so wie sie sich jeweils versteht und wie sie verstanden wird, entscheidend durch den jeweils herrschenden Begriff der Rationalität bestimmt. Sie gilt als der Rationalität unter- oder übergeordnet, als entgegengesetzt oder — wie bei Hegel19 — gar als 'dasselbe'. Weiters ist zu beobachten, daß, wenn Rationalität — besser: eine bestimmte historische Gestalt von Rationalität — im Verständnis einer Kultur angefochten und brüchig wird, die mystische Erfahrung — allerdings nicht immer unter diesem Namen — in ihrem Anspruch verstärkt hervortritt. Beispiele hiefur liefern Romantik, Lebensphilosophie und Postmoderne. Da die Gestalt und auch der kulturelle Wert von Rationalität veränderbar sind, haben wir es in der Philosophiegeschichte — wie, in einem weiteren Sinn, in der Kulturgeschichte überhaupt — nicht mit einer ruhigen und kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Mystik zu tun, sondern mit einer durchaus unterschiedlichen, widersprüchlichen, diskontinuierlichen und vor allem konjunkturellen Befassung. Rezessionen des Diskurses über Mystik hingegen sind gewöhnlich in den Zeiten eines besonders gefestigten Rationalitätsbegriffs anzutreffen. Doch nicht nur die Wirklichkeit — das Thema kat exochen der Philosophie — bleibt selbst im Fluß, sondern auch die philosophische Betrachtung. Die Erfahrung der Welt zeigt sich nicht schlechthin in einer oder gar in einer unanfechtbaren Gestalt, sondern in vielen, geschichtlich-kontingenten Gestalten, die letztlich niemals allen denkbaren Angriffen standzuhalten vermögen und die überdies niemals in eine abgerundete Enzyklopädie zu ordnen sind. Gelingt die Enzyklopädie scheinbar doch, so entschwindet dafür umso sicherer — wie das Beispiel Hegel lehrt — auch der Erfahrungsbezug des Denkens. Die Sinngestalten, die im philosophischen Denken — in dem Symbolisierungsprozeß, den es vorantreibt — vorübergehend festgehalten werden, müssen in Spannung bleiben zum Werdefluß der konkreten Erfahrung. Dies gilt vor allem auch

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für die Sinngestalten Rationalität und Mystik, die uns nur dann als wirkliche Phänomene begegnen und nicht als entleerte Abstraktionen belasten, wenn sie die lebendige, prozessuale Welterfahrung ausdrücken — die Erfahrung der Lebenswelt — und von dorther bestimmbar sind. Die Einsicht, Rationalität nicht absolut verstehen und begründen zu wollen, sondern sie als kontingent-geschichtliches Prinzip unserer (theoretisch niemals ganz einholbaren) Praxis zu begreifen, beginnt sich in der gegenwärtigen Philosophie — die sich erneut auf Husserl, zunehmend aber auch auf Autoren wie Cassirer und Whitehead beruft — immer mehr durchzusetzen. 20 Die exoterische Denkkultur, die heute unter dem Namen Postmoderne zusammengefaßt wird, geht ebenfalls von dieser Einsicht aus, ohne freilich genügend darauf zu achten, daß die methodischen Standards der modernen Philosophie erhalten bleiben. Sosehr es richtig sein mag, Denkentwürfe und -methoden als metaphernbestimmt zu begreifen21 und systematischem Denken mit prinzipieller Skepsis zu begegnen, so rückschrittlich und unnotwendig scheint es, das 'Ende' und den 'Tod' von Aufklärung und Rationalität zu verkünden. Während die differenzorientierte Postmoderne (Lyotard, Derrida) den Universalanspruch einer einheitlichen Vernunft als Machfanspruch zu entlarven sucht und ihn 'zersplittern', 'dezentrieren' will, setzen die holistischen Postmoderne-Konzeptionen spekulativ auf eine neue Einheit der Welt, und sie verstehen darunter vor allem die Vernetzung, die ökologische Kontinuität und Komplementarität aller Dinge und Bezüge.22 Die Spekulationen sind freilich dann meist zügellos, und hier verschmilzt diese holistische Postmoderne mehr oder minder mit der Bewegung des New Age. Wenn New Age und die neue Welle der Esoterik das Phänomen Mystik in Opposition zu unserer einseitig-rationalistischen Kultur zu rehabilitieren gedenken, so läßt sich für das Motiv eines solchen Bemühens durchaus Verständnis aufbringen. Was jedoch angeboten wird, ist fast durchwegs als 'Schleudermystik' einzustufen. Der (unnötige) Irrationalismus kommt offenbar dann zur Blüte, wenn der (nötige) Rationalismus zu kurz tritt. Vielleicht muß man es differenzierter ausdrücken: Den Irrationalismus gibt es zwar vermutlich immer, aber er gewinnt nur dann gesellschaftliches Gewicht, wenn der Rationalismus nicht imstande ist, das Postulat der 'Lebensbedeutsamkeit' zu erfüllen. Zweifellos haben wir es seit geraumer Zeit mit einer — noch keineswegs abgeschlossenen — Krise der Rationalität und mit einem neuen Interesse für Mystik zu tun: exoterisch in der ganzen Gesellschaft und — in nächster Zeit vermutlich — disziplinar auch in der Philosophie, die nach dem Niedergang von Marxismus, Neopositivismus und anderen Ismen zwar von falschen Dogmen befreit wurde, sich aber schwertut, Rationalität und Aufklärung neu und adäquat zu bestimmen. Diese Bestimmung, soll sie Lebensbedeutsamkeit einlösen, ist nicht mit abstrakter Präskription zu leisten, sondern durch unprätentiöses Suchen nach Wahrheit. Bevor normiert wird, ist Deskription vonnöten. So scheint es gegenwärtig eine nicht unwichtige und sogar lohnende philosophische Aufgabe zu sein, aus Anlaß, vor allem aber auch im Gegenzug zur konstatierten Mystik-Konjunktur das Thema im Sinne solider phänomenologischer Forschung zu bearbeiten. Denn sosehr vom allgemein-kulturellen Interesse her von einer Mystik-Konjunktur gesprochen werden kann, sosehr ist auf dem Feld der seriösen

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Arbeit des Begriffs — auf dem Feld der (akademischen) Philosophie — eine diesbezügliche Rezession zu verzeichnen. 23 *

Wenn wir von Mystik sprechen, ist es nicht sinnvoll, eine Definition von vornherein abzulehnen, wenn unter Definition die Forderung nach einer möglichst knappen und präzisen Beschreibung verstanden wird, die — in einem zweiten Schritt — im Rahmen einer Theorie auch eine Erklärung finden soll. Beim Versuch, zu einer brauchbaren vorläufigen Definition zu gelangen, bieten sich grundsätzlich zwei Wege an, die sich wechselseitig ergänzen und korrigieren. Der eine Weg ist der phänomenologische, der beim konkreten mystischen Erlebnis ansetzt und aufgrund einschlägiger Berichte darüber eine kohärente Beschreibung versucht. Dieser Weg setzt ein schon ziemlich konturiertes Verständnis dessen voraus, was unter Mystik zu verstehen sei. Das Problematische eines derartigen Vorverständnisses, das bereits die Wahrnehmung und alles darauf aufbauende Denken bestimmt, und das prinzipiell ungeschichtliche Herangehen ans Phänomen sind die hauptsächlichen Schwächen dieses Ansatzes. 24 Des weiteren ist anzumerken, daß die phänomenologische Beschreibung den Folgeschritt einer theoretischen Erklärung verlangt, die sich niemals aus der Deskription allein ergibt, sondern zusätzlich ein spekulatives Moment beinhaltet. Der zweite sich anbietende Weg, um zu einer Definition von Mystik zu gelangen, ist der begriffsgeschichtliche, der bei der Etymologie des Wortes Mystik ansetzt, Bedeutungsvarianten aufzeigt und Wandel wie auch Kontinuität von Bedeutungen durch die Geschichte herauf bis zur Gegenwart verfolgt. Der Nachteil dieses begriffsgeschichtlichen Zugangs zum Phänomen besteht einmal in der Fixierung auf das Wort Mystik, denn bekanntlich sind Wort und Begriff, Name und Bedeutung nicht immer dasselbe, sondern stehen in einem komplizierten Verweisungszusammenhang, der sich im Lauf der Geschichte immer wieder 'verschiebt'. So läuft denn eine historische Definition von Mystik stets Gefahr, an einer kontingenten Bedeutung hängenzubleiben bzw. verschiedene Bedeutungen unverbunden und oft widersprüchlich nebeneinander hinzustellen. Außerdem gerät leicht aus dem Blick, daß die mystische Erfahrung auch unter ganz anderen Namen wirksam werden kann. Während also die ausschließlich phänomenologische Beschreibung das Phänomen durch Ausblendung der Geschichte nur verkürzt in den Blick bringt, tendiert die historische Methode dazu, am Phänomen in seinen gegenwärtig möglichen und erfahrbaren Erscheinungsformen vorbeizugehen. Eingedenk dieser Schwierigkeiten versuche ich zweigleisig vorzugehen, d.h. ich gehe einerseits vom Primat der phänomenologischen Methode aus, ergänze diese jedoch durch begriffsgeschichtliche Hinweise und Überlegungen und versuche der unleugbaren Geschichtlichkeit des Phänomens Mystik insofern gerecht zu werden, als ich es in den Kontext von Rationalität und Lebenswelt stelle, die prinzipiell als geschichtlich bestimmt zu denken sind. Wenn Mystik — in vorläufiger Kennzeichnung — die Erfahrung der Einheit aller Weltbezüge ausdrückt, so muß diese Einheit als Phänomen ernstgenommen und möglichst gewissenhaft beschrieben werden, um später im Rahmen

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einer Theorie eine Erklärung zu versuchen bzw. verschiedene Theorien und Erklärungen miteinander zu vergleichen. All dies ist aber nur durchführbar, wenn wir die Einheit der Erfahrung methodisch voraussetzen, und zwar nicht als abstraktes Postulat, sondern als phänomenologisch beschreibbare Struktur, die sich — je nach Perspektive — als Rationalität, Geist, Symbolisierung, Lebenswelt oder Kultur bezeichnen läßt. Aus dem Verständnis dieser Struktur muß sich dann jener untergründige Sachzusammenhang verdeutlichen lassen, der möglicherweise hinter einigen verschiedenen Verwendungsweisen des Wortes Mystik liegt. Denn die Rede von der Einheitserfahrung ist sicherlich pointiert und nennt nur einen Aspekt der mystischen Erfahrung. Aber selbst wenn wir die Einheitserfahrung als das entscheidende Charakteristikum akzeptieren, so nährt sich der Zweifel an der Kohärenz des Begriffs Mystik aus dessen mehrfacher Disparität. Es handelt sich nicht nur um den Zweifel, womit man sich in der Mystik inhaltlich denn letztlich vereinigen soll, sondern vor allem auch um den Zweifel, wo der Ort der Mystik im menschlichen Erfahrungsraum zu lokalisieren sei. Mystik kann sich inhaltlich auf völlig Verschiedenes beziehen: auf Gott, Natur oder Kosmos, auf alles Lebendige oder eine menschliche Gemeinschaft. Des weiteren wird oft darüber gerätselt, ob sie 'eigentlich' nur auf dem Gebiet der Religion zu Hause sei oder ob sie 'doch' auch in der Kunst, der Poesie und selbst im Alltag erfahrbar werde. Schließlich ist ungewiß, welche Art von Einheit zur Diskussion steht: eine Frage, die mit dem Inhalt der Vereinigung zu tun hat, auch damit, ob und inwieweit diese Einheit in emphatischer Weise die Einheit der Erfahrung, das Thema der Philosophie also, wiederholt. Inhaltlich gesehen, wäre es möglich, daß es letztlich keine Essenz, sondern nur eine 'Familienähnlichkeit' der verschiedenen mystischen Konzeptionen gibt. Wenn wir die gängigen Wörterbuch-Definitionen von Mystik zu Rate ziehen, ergibt sich eine Aufzählung von Charakteristika, deren sachlicher Zusammenhang nicht immer einleuchtend erscheint: Es ist, wird da meist mitgeteilt, eine Erfahrung ganz besonderer, von der übrigen Welterfahrung differenter Art: eine ekstatische, dem gewohnten Selbst- und Weltverständnis entrückte Erfahrung, die alle vertrauten Grenzen, Kategorien und Gestalten auflöst bzw. unwichtig erscheinen läßt. Die Kategorien Ich, Raum, Zeit, Dinglichkeit und Kausalität erscheinen aufgehoben, Ich und Welt verschmelzen zu einer Einheit. Ausgerechnet in solcher Selbstaufgabe scheint jedoch das Ich zu sich selbst zu kommen, eigentlich, authentisch, ganz und vollkommen zu werden. Des weiteren, heißt es, handelt es sich um eine Erfahrung des Glücks und der Harmonie, die freilich in enger Nachbarschaft zur Erfahrung der Leere und des Abgrunds steht. Gerade indem sie der gängigen Welterfahrung — der Erfahrung von Vielheit und Vereinzelung, Unvollständigkeit und Disharmonie, der grundsätzlichen Differenz von Ich und Welt — widerspricht, findet sie nur schwerlich, und manchmal überhaupt nicht, eine ihr adäquate Sprache. Die mystische Erfahrung drückt sich daher vielfach mit Hilfe paradoxer und tautologischer Sprechweisen aus bzw. sie mündet ins Schweigen. Und schließlich ist Mystik eine Erfahrung des Augenblicks, kann nicht willentlich festgehalten werden, und vermittelt eine Art von 'Erkenntnis', der es am Kriterium der Intersubjektivität ermangelt. Der Katalog solcher Charakteristika läßt sich noch erweitern, doch wird in diesen Definitionen auch nicht jedes einzelne dieser Charakteristika als unver-

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zichtbar angesehen. So gilt bei manchen Autoren die Ekstase keineswegs als wesentlich für die Mystik, und für andere ist es nicht einmal die Einheitserfahrung. 25 Solche Wörterbuchdefinitionen stellen nicht nur unvollständige Beschreibungen dar, sie erklären auch nicht den Verweisungszusammenhang des Phänomens, der nur aus dem Gesamtzusammenhang der Erfahrung rekonstruierbar ist. Doch umgekehrt ist auch mit vertraut und einleuchtend scheinenden Erklärungen vorsichtig umzugehen, denn wo diese angeboten werden — etwa auf dem Feld der Theologie, der Psychoanalyse oder des Marxismus —, wird das Phänomen weder in seiner Vielfalt und Vielschichtigkeit gewürdigt, noch wird sein lebensweltlicher Verweisungszusammenhang zureichend erschlossen. Es wird meist in ein bereits bestehendes, enzyklopädisch abgeschlossenes Bild der Realität hineingezwängt und reduktiv verstanden. Mystik ist dann 'nichts als' religiöses Erlebnis, 'nichts als' primärer Narzißmus oder 'nichts als' der Irrationalismus niedergehender Klassen. Wer über das, was ist apriorisch (und insofern 'metaphysisch') bereits entschieden hat, kann sich mit einer solch reduktiven Ansicht zufriedengeben. Philosophie aber, die ihr Thema dem lebendigen Nachdenken, dem nicht vorschnell abzuschließenden Spiel von De- und Rekonstruktion überantwortet, kann und will hier nicht dogmatisch entscheiden, sondern muß in erster Linie hartnäckig und geduldig fragen, bis sich der Sachzusammenhang, in dem das Phänomen steht, immer deutlicher von sich her zeigt. Für phänomenologisches Philosophieren ist Mystik also vorläufig ein Zielbegriff: ein Titel für Vorstellungen, Gefühle, Stimmungen, Gedanken und Verhaltensweisen, die als sachliche Einheit nur aus dem Gesamtprozeß der Erfahrung einsichtig zu rekonstruieren sind. Im Zug dieser Rekonstruktion muß sich der Realitätsstatus der Mystik zeigen und sich wohl auch die Frage beantworten lassen, ob Mystik zur conditio humana gehört oder ob sie ein Phänomen ist, das nur unter ganz bestimmten kulturellen Bedingungen auftritt und geschichtlich auch wieder verschwinden könnte. Da die geläufigen Definitionen und die hinter diesen Definitionen stehenden mystiktheoretischen Konzepte offensichtlich ihren Gegenstand nicht nur erläutern, sondern das Phänomen, um das es geht, in manchem auch entscheidend verstellen, stellt sich die Frage, ob eine Phänomenologie der Mystik nicht gut beraten wäre, all diesen historischen Ballast abzustreifen und ganz von vorn, mit neuen Begriffen und Kategorien, anzufangen. Eine solch ungeschichtliche Konstitutionsanalyse des Phänomens Mystik anzustreben und die bereitliegenden Begriffe und Theoreme von vornherein zu verwerfen, scheint aber wenig sinnvoll zu sein. Es gilt vielmehr, die Gedankenarbeit im Gestrüpp der vorhandenen Begrifflichkeit und der vorhandenen Denkansätze aufzunehmen und sich — bei aller notwendigen Skepsis — von traditionellen Vorstellungen auch leiten zu lassen. Was ist, das Phänomen, das sich von sich her für uns zeigt — und zwar stets vorläufig, geschichtlich-kontingent, interpretationsoffen und veränderbar für die Zukunft —, zeigt sich in dieser Weise nur durch die Arbeit des fortschreitenden Begriffs, der vom Denken irgendwo und irgendwann als Leitfaden aufgenommen und modifizierend weitergesponnen wird. Und es zeigt sich in zunehmender Klarheit nur im Abarbeiten des Begriffs, es zeigt sich als Kehrseite und Resultat der Verstellung des Phänomens, mit welcher Verstellung immer auch schon eine thematische Bereitstellung mit-

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gegeben war. Daher ist es sinnvoll, die traditionellen Konzepte und die Disziplinen, in denen sie entstanden sind, nicht zu ignorieren. Diese traditionellen Disziplinen sind neben Philosophiegeschichte vor allem Religions- und Literaturwissenschaft, aber auch Psychologie und Ästhetik. Sie entsprechen den lebensweltlichen Bereichen, in denen wir mystische Erfahrungen aufspüren: Philosophie, Religion, Dichtung, Kunst und — nicht zuletzt — Alltag. Besonderes Augenmerk hat der Religion zu gelten, deren immanent verfahrende Theoretiker — die Theologen — vielfach zwar die Mystik ablehnen oder sie zumindest als ambivalent in ihrer religiösen Funktion betrachten, aber insgesamt doch dazu tendieren, Mystik ganz auf den religiösen Bereich einzuschränken, sie nur als religiöses Phänomen gelten zu lassen. Wenn wir von Mystik in verschiedenen Gewändern sprechen — dem Gewand der Religion, der Philosophie, der Kunst usw. —, dann ist dies vorerst eine heuristische Idee, die unter Umständen wieder zu destruieren und deren Brauchbarkeit erst noch zu überprüfen ist. Trotz aller Skepsis ist die Möglichkeit ihrer Brauchbarkeit einzuräumen, und ich gehe im folgenden davon aus, daß es einen Sachzusammenhang im gemeinsamen, äquivoken Wortgebrauch geben könnte. Das begriffsgeschichtlich offenkundige Faktum, daß der Ausdruck Mystik via Diffusion aus dem Bereich der Religion auf die Bereiche Philosophie, Ästhetik, Naturbetrachtung, Sprachreflexion, ja selbst politischer Weltanschauung — hier freilich meist nur noch in obskurantistischem Sinn — übertragen wurde, ist vermutlich nicht nur als bloße Vagabondage eines Begriffs zu werten, sondern verweist auf den geschichtlichen, lebensweltlichen und kulturellen Konnex dieser Bereiche, auf ihre genealogische und systematische Konstellation, auf Abhängigkeiten und Interaktionen und — bei aller Differenz — auf analoge Strukturen. *

Ein essentieller Mystikbegriff, sofern er sich denn gewinnen läßt, wird sich nur von einer systematischen Position her bestimmen lassen, die die einzelnen Bereiche der Lebenswelt — Religion, Philosophie, Kunst, Wissenschaften usw. — als Subsysteme der einen Lebenswelt deutet. Eine solche Systematisierung verlangt zwangsläufig irgendeine Theorie des Geistes, die entweder reduktionistisch vorgeht wie z.B. die Psychoanalyse (die einen Totalitätsanspruch auf die Erklärbarkeit aller geistigen Phänomene vermittels ihrer Grundbegriffe erhebt) oder die sich in anderer Weise als Grund- und Hauptwissenschaft versteht (wie das bei der deutsch-idealistischen Philosophie, aber auch — mit einer freilich viel bescheideneren und integrativeren Absicht — bei Ernst Cassirer der Fall ist). Diese Theorie des Geistes ist seit Piaton und Aristoteles das Anliegen der Ideenlehre bzw. der Metaphysik. Doch eben durch die Geschichte der Metaphysik ist das Thema in hohem Maße nicht nur erörtert und durchgearbeitet, sondern auch durch viele nicht sachentsprechende und verwirrende Vorstellungen, Axiome und Zielvorgaben belastet worden. Wenn wir das Ganze und das Allgemeine — und dies sind die Grundthemen der Philosophie — zu denken suchen, ist uns der Blick auf das, was ist immer schon durch philosophiehistorische Reminiszenzen sowohl aufgehellt als auch getrübt. Um daher die Phänomenologie am Phänomen Mystik nicht von vornher-

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Einleitung

ein auf eine schiefe Optik festzulegen und um nicht eine falsche Ganzheit und falsche Allgemeinheit des Begriffs zu konstruieren, wäre es angezeigt, zuerst beim jeweiligen Selbstverständnis der Lebensweltbereiche (und auch, was freilich nicht ganz dasselbe ist, ihrer reflexiven Disziplinen) anzusetzen und also die diversen einzelnen Mystikkonzeptionen getrennt zu rekonstruieren. Meine Untersuchung ist freilich nicht in solch enzyklopädischer Breite angelegt. Der Blick auf außerphilosophische Mystikformen soll diese Gestalten und Bereiche nicht erschöpfend analysieren, sondern sie bloß als thematischen Rahmen im Auge behalten. Das Schwergewicht liegt auf dem Gebiet philosophischer Mystik, und zwar deshalb, weil der Philosophie in der Palette unseres vielfältigen Nachdenkens über die Wirklichkeit — wie es von den Wissenschaften, der Kunst, der Religion und auch von Verhaltens- und Tätigkeitsformen des Alltags geübt wird — zweifellos eine Schlüsselstellung zukommt. Das meint nicht, wir hätten es in der Philosophie mit einer unanfechtbaren Grundlage alles übrigen Wissens zu tun, sondern zielt lediglich auf die alte, unprätentiöse Bedeutung von logos und legein: das Vermitteln- und Vereinbaren-Können von Unterschiedlichem, voneinander Getrenntem. 26 Diese Vermittlung darf kein oberflächlich enzyklopädisches Ordnen sein, sondern meint einen Rekurs auf gemeinsame Ausgangspunkte und gemeinsame Zielvorgaben, gemeinsame Strukturen und gemeinsame Prozesse. Es ist ein Rekurs auf Analogien, die — wie das Wort Analogie sagt — keine Homologien, keine einfachen Gleichsetzungen bedeuten, sondern die Doppeltheit von Identität und Differenz der einzelnen Lebensweltbereiche herausarbeiten. Der Rekurs geht nicht auf ein Absolutes, von dem her das Einzelne zu deduzieren wäre, sondern auf eine Einheit, die stets eine Einheit des Vielen, des Unterschiedlichen bleibt. Die hierbei gewonnenen Einsichten sind historisch, veränderlich, vorläufig. Angesichts der Fülle und Unübersichtlichkeit des heutigen Wissens muß sich Philosophie — ganz anders als Piaton und Aristoteles, Leibniz und Kant, Hegel und selbst noch Husserl es intendierten — als inter-, nicht als metadisziplinäres Unternehmen verstehen. 27 Das inter meint die lebendige, synthesenbildende Interaktion, die nicht nur Standpunkte einander gegenüberstellt, sondern sie auch in einem — natürlich gleichfalls kontingenten — Dritten vermittelt und zusammenfaßt. Eine sich so verstehende Philosophie ist zwar historisch die Fortsetzung der alten Metaphysik, aber eine Fortsetzung mit anderen Mitteln und anderen Ansprüchen. Wenn sie sich mit Mystik befaßt, dann hat sie wenig zu tun mit jener 'philosophierenden Mystik' oder auch 'mystischen Philosophie', die den Paradigmen von Gnosis oder Platonismus und Neuplatonismus verhaftet ist.28 Die philosophische Mystik im hier intendierten Sinn benützt die Schlüsselfunktion der Philosophie, die diese im Hinblick auf das übrige, nichtphilosophische Weltwissen innehat. Im philosophischen Diskurs kann nämlich die strukturelle Analogie der unterschiedlichen Typen mystischer Erfahrung viel deutlicher herausgearbeitet werden, als wenn wir z.B. versuchten, von einem immanent religiösen Mystikverständnis her diese anderen Erfahrungstypen bzw. auch den 'essentiellen' Typus selbst aufzuweisen.

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Einleitung

Bevor ich auf die Bedingungen und Voraussetzungen eingehe, unter denen solch ein 'essentieller Typus' herausgearbeitet werden kann, soll ein kurzer Blick auf die Gebiete und Disziplinen geworfen werden, in denen mystische Erfahrungen gemacht und — in verschiedenen Graden — auch reflektiert werden. Für die Bereiche Philosophie und Religion kann festgestellt werden, daß sie die mystische Erfahrung als tatsächliche und somit ontologisch ernstzunehmende Erfahrung veranschlagen — nicht, wie beispielsweise in der freudschen Psychoanalyse, als Projektion, als unrealistischen Ausdruck unbewältigter Empfindungen und Gefühle. Freilich wird Mystik sowohl innerhalb der Religion wie auch innerhalb der Philosophie — die jeweils keine monolithisch einheitlichen Realitätsauffassungen darstellen, sondern recht unterschiedliche Ansätze ausbilden — auch unterschiedlich beurteilt. Der Bogen reicht — in der Religion — von der Identifizierung von Mystik und 'religiösem Gefühl' schlechthin bis zur totalen Ablehnung und Verketzerung, weil Mystik den theologisch wichtigen Unterschied von Mensch und Gott, von Gott und Welt verwische29, und — in der Philosophie — von der Identifizierung des mystischen und des philosophischen Anliegens bis hin zur rigiden Ablehnung als Scheinproblem und Phantasma. Daneben sind es aber auch Kunst, Poesie, Psychologie und Wissenschaftsreflexion, in denen mystische Erfahrung thematisiert wird. Kunst ermöglicht — zumindest inselhaft innerhalb der Lebenswelt und temporär im Verlauf der menschlichen Existenz — eine dem Alltag und der Wissenschaft (die in der gegenwärtigen Epoche besonders stark verschränkt sind, weil die kulturelle Dominanz der Wissenschaften den Alltag prägt) signifikant entgegengesetzte Weltsicht und Welthaltung und damit auch ein anderes Daseinsgefühl. Die für Alltag und Wissenschaft so bedeutsame Gegenständlichkeit und Kategorialität der Erfahrung wird in der Kunst relativiert und z.T. aufgehoben. Kunst kann eine Welterfahrung ausdrücken und symbolisch festhalten, die sich jenseits von Zeit und Raum, jenseits gegenständlicher Kausalität, jenseits bestimmter Zwänge, Fixierungen und Instrumentalisierungen abspielt. Künstlerische Welterfahrung vermittelt unter anderem auch oft ein besonderes Gefühl der Harmonie, der Entzückung, der Authentizität, der Verbundenheit mit den Dingen, aber auch der krassen Fremdheit zur Welt, des Abgrunds gegenüber dem Gewohnten und Vertrauten. Sie vermittelt unter anderem die Erfahrung, daß Farben, Formen oder Töne symbolischen Charakter nicht nur für Gegenständliches und Kategoriales haben, sondern auch ganz andere Bedeutungen und Bedeutungsgefiige darstellen können, die die genannten Empfindungen von Harmonie und Abgrund auslösen, fortführen und wiedererkennen lassen. Ohne diese sogenannte ästhetische Erfahrung in simpler Weise mit der religiös oder philosophisch kontextuierten mystischen Erfahrung gleichsetzen zu wollen, ist doch der Analogiecharakter all dieser Erfahrungen festzuhalten. Es gibt Künstler und Kunstbegeisterte, die 'für die Kunst' leben und in ihr die wesentliche Dimension des menschlichen Daseins erblicken — man denke an die Wagner-Schwärmerei des jungen Nietzsche, der von der Kunst "als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens"30 spricht —, doch ist der lebenspraktische Status der Kunst und auch der Realitätsstatus ihrer Produkte eine kontroversielle Angelegenheit. Wer künstlerische Erfahrung absolut versteht, wird sie absolut ernstnehmen — und freilich spätestens dann ernüchtert werden, wenn die künstlerische Lebens-

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Einleitung

form, die ja eingebettet bleibt in die Sozietätsbedingungen des Alltags und der gesamten Lebenswelt, mit der Widerständigkeit der tatsächlichen Erfahrung in Konflikt gerät. 31 Kontrovers zu ihrer Verabsolutierung kann die ästhetische Erfahrung aber auch als punktuelle Erholung und innere Sammlung 'nach Feierabend', als praktisch-zweckmäßige Betätigung oder Konsum mit erhebender bzw. kathartischer Wirkung gesehen werden. Dann ist sie freilich auch schon hoffnungslos relativiert und verwässert leicht zum banausischen 'schönen Gefühl' des Bildungsbürgers. Schließlich kann sie aber auch — sofern man sie nicht zur Magd einer anderen Disziplin, sei es Religion oder Politik, erklärt — grundsätzlich abgelehnt werden als angebliche Ideologie und Projektion. Im letztgenannten Fall wird der ästhetischen Erfahrung ein ontologischer, d.h. ein realer Gehalt abgesprochen, eine Ablehnung, die dann meist auch die mystische Erfahrung insgesamt erfährt. Dies ist einmal bei der üblichen aufklärerischen Ideologiekritik — etwa des Marxismus — der Fall, wo Mystik und Obskurantismus meist gleichgesetzt werden. 32 Die — kaum bestreitbare — Anfälligkeit der mystischen Erfahrung für obskurantistische Besetzungen wird hervorgehoben und sogar zum 'Wesen' der Mystik erklärt. Eine größere Herausforderung für eine phänomenologische Betrachtung stellt jedoch die psychoanalytische Theoretisierung und Bewertung der Mystik dar. Während C. G. Jung und neuerdings die sogenannte transpersonale Psychologie ein eher affirmatives Verhältnis zum Thema Mystik an den Tag legen, sind es Freud und seine Schule (im engeren Sinn) — die Vertreter der psychoanalytischen Konflikt- und Narzißmustheorie (z.B. Kohut33) —, die Mystik als irrationalen Ausdruck des primären Narzißmus kritisieren. Aber auch Alltag und Wissenschaft kennen bis zu einem gewissen Grad die mystische Erfahrung, nämlich die Erfahrung, daß eingefahrene, bislang als gültig erachtete Weltorientierungen mit ihrer Ordnung plötzlich unwirklich und irrelevant erscheinen und die Ahnung einer ganz anderen Wirklichkeit, einer untergründigen, aber höchst wirkmächtigen Einheit der Welt, eines seltsamen Zusammenhangs und Zusammenklangs der Dinge, aufsteigt. Die entsprechenden Vorstellungen und Gefühle, die im Alltag auftauchen, werden dann freilich, sofern die Erinnerung an sie nicht wieder erlischt, religiös interpretiert oder auch parallel in der ästhetischen Erfahrung wiedererkannt, oder sie werden psychologisch relativiert. Diese Transformierungen und Relativierungen kommen dadurch zustande, daß der Alltag über keine eigenen Symbolisierungsmöglichkeiten verfügt, die es ihm erlauben würden, derartige Grenzerfahrungen festzuhalten. (Allerdings ist dieses Festhalten auch in Religion, Philosophie und Kunst höchst problematisch, und es ist auch dort eine Ambivalenz von Erinnern und Vergessen, von Realisierung und Verhinderung wirksam. Aber das Festhalten, die Symbolisierung, ist dort zumindest möglich.) Zuletzt ist noch auf gelegentliche mystische oder — um es vorsichtiger zu formulieren — quasi-mystische Erfahrungen in Grenzbereichen wissenschaftlicher Reflexion zu verweisen, insbesondere dort, wo die (metaphysischen) Grundlagen einer Wissenschaft in Frage gestellt, wo also sogenannte Paradigmenwechsel vorbereitet und vollzogen werden. 34 Der Begriff des Paradigmenwechsels kann auch auf den Umschlag zwischen alltäglicher und künstlerischer Orientierungen und auf

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Einleitung

den Umschlag zwischen verschiedenen künstlerischen Orientierungen angewandt werden. *

Mit der postulierten Rationalitäts-, Lebenswelt- und Kulturtheorie — die eine methodisch geläuterte Fortsetzung der alten Metaphysik wäre — ergäbe sich ein allgemeiner Boden der Betrachtung, von dem aus die unterschiedlichen Erfahrungsbereiche von Philosophie, Religion, Alltag, Wissenschaft und Kunst strukturanalog gedeutet werden könnten. Dabei ist freilich zu beachten, daß diese Erfahrungsbereiche — die wir mit Husserl als Bereiche der Lebenswelt und mit Cassirer als symbolische Formen bezeichnen können — nicht in ungeschichtlicher und 'ewiger' Weise existieren, sondern das Ergebnis einer vielschichtigen kulturhistorischen Evolution darstellen. Sie haben sich erst im Lauf der Geschichte als eigene Bereiche — die selbst keineswegs homogen sind, sondern ein Konglomerat von Teil- und Subsystemen darstellen — ausdifferenziert und stehen zueinander in Zusammenhängen sowohl der Genese wie der Wechselwirkung, der fortschreitenden Modifizierung, neuer Synthesenbildungen, der Steigerung und Minderung von Autonomie. So ist z.B. daran zu erinnern, daß Philosophie und Wissenschaft anfänglich identisch sind und sich erst später — mit divergierenden Erkenntniszielen, Terminologien und Methoden — ausdifferenzieren, daß sie aber beidseitig diese Differenzierung immer wieder auch rückgängig zu machen suchen, etwa wenn Philosophie sich um die Aneignung von und den Anschluß an einzelwissenschaftliche Methoden und Forschungsergebnisse bemüht oder wenn die Wissenschaften, wieder einmal grundlagenkritisch geworden, zu philosophieren beginnen. Solche Interaktionsbemühungen heben zwar die Differenzierung nicht auf, können aber das Wechselverhältnis und die Autonomie der einzelnen Glieder neu definieren. Ähnliche Prozesse laufen geschichtlich ab zwischen Kunst und Religion, Alltag und Wissenschaft, Wissenschaft und Kunst, Alltag und Religion usw. Es gibt eindrucksvolle philosophiehistorische Beispiele für den Versuch, den gemeinsamen Boden der Betrachtung für diese unterschiedlichen Erfahrungsweisen und Kulturbereiche in einer speziellen Metaphysik anzunehmen und dabei diese Metaphysik in unbescheidener und unangemessener Weise als Grund- und Hauptwissenschaft zu interpretieren. So muß über die entsprechenden Versuche im deutschen Idealismus gesagt werden, daß dort die Synopsis der Erfahrungspluralität nur spekulativ behauptet, nicht aber phänomenologisch zureichend dargestellt noch gar empirisch nachgewiesen wird. Außerdem werden Struktur und Prozeß des Denkens in der zentralen deutsch-idealistischen These vom (absoluten) Selbstbewußtsein des Geistes offenkundig nicht adäquat erfaßt. Es gibt vermutlich keine obersten Sätze über die Wirklichkeit, von denen sich alle anderen Sätze über spezielle Wirklichkeiten ableiten ließen. Nicht nur der Bezug zu Leib und materieller Wirklichkeit scheint dann abgeschnitten, auch schon die Realität des Geistes selbst wird in Apriorismus und erfahrungs-inadäquatem Systemanspruch nicht adäquat erfaßt.

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Einleitung

Eine Alternative zu Hegels Versuch, die Totalität des Geistes und d.h. auch der menschlichen Kultur insgesamt zu bestimmen, finden wir bei Ernst Cassirer. auch sein Programm das einer umfassenden Phänomenologie

Obwohl

des Geistes ist, versucht

er es eher auf einem induktiven, methodisch breitgefächerten, vorläufig-hypothetischen und einzelwissenschaftliche Forschungen miteinbeziehenden Weg zu verfolgen. Ähnliches gilt für das philosophische Lebenswerk von Alfred N. Whitehead. Es ist nicht zu bestreiten, daß auch Cassirer und Whitehead in einem gewissen Sinn spekulativ und metaphysisch verfahren, doch ist dieser Sinn ein ganz anderer als bei Hegel, dessen Denken typisch ist für ein als vorgebliche Autonomie mißverstandenes Getto philosophischer Argumentation, die gegenüber anderen Disziplinen — wiewohl sie in der Theorie mit vereinnahmend — eine abgeschlossene, nicht mehr lern- und veränderungsfähige Sonderwelt bildet. Nur im Kontext einer solchen Sonderwelt kann die sie bestimmende Spekulation und Metaphysik erfahrungsblind auftreten und die anderen Diskurse, vor allem die der einzelnen Wissenschaften, ignorieren. Bei Cassirer und Whitehead dagegen geraten Philosophie und Spekulation nicht mehr in einen vermeidbaren Gegensatz zur Empirie, sondern sind deren komplementäre Dimension und deren vorläufig-vorsichtige Fundierung. Es handelt sich daher um eine überlegte, um eine anhand der offenkundigen Irrtümer der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte reflektierte

Form

von Spekulation und Metaphysik, die weder apriorisch den Charakter verschiedener lebensweltlicher Erfahrungen dekretiert noch — was genauso unmöglich wäre —

sich

theoriefrei aus der sinnlichen Wahrnehmung aufbauen will. Es geht vielmehr um ein vorsichtiges und nicht vorschnell abzuschließendes Wechselspiel empirischer Wahrnehmungen und spekulativer Interpretationsversuche, das weder naiv-unmittelbar noch 'kritisch'-transzendental — die Annahme, man habe sich das ab nun stets unverändert anwendbare methodische Rüstzeug bereits beschafft und angeeignet — Aussagen über die Wirklichkeit trifft. Es setzt vielmehr 'hier und jetzt' an, mitten im zu reflektierenden Realitätsgeschehen, also an einem geschichtlich-kontingenten Punkt der Erfahrung, die in ihrer 'hier und jetzt' vorfindbaren Beschaffenheit selbst schon ein Ineinander von Wahrnehmungs- und Spekulationsmustern darstellt, das aufzunehmen und kritisch-differenziert weiterzuführen ist. Mit einer solchen Bestimmung von Metaphysik wird nicht nur der methodische Anspruch von Transzendentalphilosophie und Dialektik zurückgewiesen, eine Synopsis verschiedener kultureller und historischer Diskurse und der Einzelwissenschaften anzubieten, sondern auch die diesbezüglichen Ansprüche materialistischer und positivistischer Konzeptionen, die von einem verengten Rationalitätsbegriff ausgehen und alles Unbewiesene und Unbeweisbare aus ihrem Denken ausklammern wollen, ohne den Konstitutionsprozeß des Geistes zu untersuchen, in dem es zur Thematisierung dieses Unbewiesenen bzw. Unbeweisbaren kommt. All diese Konzeptionen, idealistische wie materialistische,

verdanken sich den entscheidenden Irrtümern in der Geschichte des

Denkens, die als Irrtümer zu rekonstruieren sind und in solcher Rekonstruktion dann allerdings zu fruchtbaren Elementen einer erfahrungsadäquaten allgemeinen

Theorie des

Geistes werden können.

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Einleitung

Worum es in dieser Theorie des Geistes geht, kann auch mit anderen Titeln ausgedrückt werden: Bewußtsein, Denken, Kultur, Wirklichkeit, Dasein, In-der-Welt-Sein, menschliche Existenz, Prozeß oder auch einfach: Sein. Es ist das Thema der Philosophie: die Frage nach dem, was ist, die Frage nach jener allgemeinen und doch auch konkreten Dimension der Realität, die vor deren Ausdifferenzierung in die verschiedenen Erfahrungsbereiche und Kulturgestalten 'waltet' und zugleich diese Ausdifferenzierung sinnhaft-prozessual veranlaßt und durchwirkt. Dieses 'vor' gilt einmal in einem strukturellen (synchronen), dann aber auch in einem historischen (diachronen) Sinn. Letzterer besagt, daß es realgeschichtlich einen Zustand der Befindlichkeit und Weltorientierung gibt, in dem die Differenzierung noch nicht gegeben ist, und daß die Differenzen zwischen den verschiedenen Ausdifferenzierungen somit reale Unterschiede und ihre Analogien keine Identitäten sind, sondern gleichfalls Unterschiede zum Anfangszustand. Der strukturelle Sinn des 'vor' hingegen besagt, daß diese historische Entwicklungsgeschichte — vergleichbar dem Verhältnis von Phylo- und Ontogenese in biologischen Evolutionsprozessen — zugleich das Muster der synchronen Verfassung des einzelnen, individuellen Bewußtseins hier und jetzt darstellt, daß die Realgeschichte auch als vergegenwärtigte Gleichzeitigkeit 'gelesen' werden kann und demnach als gegenwärtiges Zusammenspiel, als konstitutive Komplexität begreifbar ist. Zurückgewiesen wird bei dieser doppelten Lesart des Phänomens also sowohl ein ahistorisches als auch ein 'historistisches' Verständnis der Wirklichkeit, da dieses den Blick für die (relative) Autonomie des Konkret-Gegenwärtigen verliert und jenes wiederum die Geschichte gänzlich vergißt, damit aber auch die Zeit- und Entwicklungsdimension überhaupt, einschließlich der Perspektive des Zukünftigen und zukünftig Möglichen. Der Prozeß der Ausdifferenzierung ist, synchron wie diachron, ein Prozeß der Reflexion. Indem sie über die Erfahrung der Realität und über die Realität der Erfahrung nachdenkt, thematisiert die Philosophie eben diesen Prozeß. Diese Thematisierung erfolgt — zumindest seit Hegel, der neben der (zumeist statisch oder zyklisch gedachten) Natur auch die (eher linear und unabgeschlossen zu denkende) Geschichte zum Gegenstand der Philosophie erklärt hat — auf den beiden Ebenen des Strukturellen und des Historischen, des Synchronen und des Diachronen, die man auch als Lebenswelt und als Kulturentwicklung einander gegenüberstellen kann. Kulturentwicklung meint die Ausbildung und Abfolge der einzelnen Gestalten des Geistes wie Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft und Philosophie, die im Verlauf der Zeit entweder wieder verschwinden oder in der (nunmehr synchron gedachten) Lebenswelt gewissermaßen als sedimentierte Einzelbereiche ihren Platz finden. 35 Von Husserl wird der Begriff Lebenswelt in zwei Bedeutungen verwendet. 36 Fürs erste bezeichnet Lebenswelt die alltägliche Erfahrung, von der abgehoben sich die Wissenschaften als eine neue und eigene Welt herausgebildet haben. Husserl konstatiert dabei einerseits das Faktum der Abtrennung, mit dem er den Verlust der Lebensbedeutsamkeit von Wissenschaft verbindet, und fordert in diesem Sinn eine Rückkehr zur Lebenswelt. Andererseits konstatiert er auch das Einwirken der Wissenschaft auf die Lebenswelt, das diese wiederum deformiert, und beharrt auf einer jeweiligen Autonomie beider Bereiche. — Zum anderen — und nur in dieser zweiten Weise verwende ich

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Einleitung

hier den Begriff (für die erste Bedeutung verwende ich den Ausdruck Alltag) — ist Lebenswelt für Husserl der Inbegriff der Realität schlechthin, also die Einheit der diversen Lebensbereiche und Erfahrungswelten, die neben- und miteinander da sind. Lebenswelt ist dann jener 'Realitätsgrund', jene 'Tiefenstruktur' von Realität, die eine apriorische Metaphysik schon eingeholt und begriffen zu haben glaubt, die sich aber in der tatsächlichen Praxis des um Authentizität bemühten philosophischen Denkens stets dem Prokrustesbett vorschneller Verbegrifflichung, Kategorialisierung und Systematisierung entzieht. Genauso inadäquat wie der metaphysische Rationalismus, der die Lebenswelt erobern und kolonisieren zu können glaubt, ist freilich auch der Irrationalismus, der sie für gänzlich unberührbar und unerklärbar hält, der vor ihr einfach verstummt (im Sinn eines 'leeren Verstummens', denn es gibt auch ein 'erfülltes Schweigen' als Resultat reflexiver Bemühung) oder der sich in der haltlosen Spekulation subjektiver Willkür ergeht. Genauso inadäquat scheint aber auch jener 'halbierte' Rationalismus zu sein, der 'das Irrationale' zwar gelten läßt, aber aus der Kompetenz des philosophischen Denkens ausgrenzt und ihn zur 'Sache' etablierter Religionen oder privater Innerlichkeit erklärt: so als ob etablierte Religion bzw. subjektives Seelenleben völlig autonome, von 'außen' nicht mehr kritisierbare Bereiche darstellten. Die Lebenswelt ist das Grundproblem, mit dem es die philosophische Frage nach dem Allgemeinen und dem Ganzen (die, in ihrer komplementären Dimension, immer auch schon zugleich die Frage nach dem Konkreten und den Teilen miteinschließt) zu tun hat. Sie ist die Dimension der Erfahrung und fordert insofern eine allgemeine Erfahrungsf/zeon'e. Sie ist Ansporn, Thema und Ziel der Philosophie. Sie ist das Integral der uns begegnenden einzelnen Phänomene, Erfahrungen und Erfahrungsgestalten, die unser Nachdenken herausfordern und nach Beschreibung, Objektivierung und Erklärung verlangen. Die Lebenswelt ist das Reich der uns konkret begegnenden Phänomene — und Lebenswelttheorie ist dann mit Phänomenologie gleichzusetzen, wenn diese sich nicht auf das Moment bloßer formaler Beschreibung beschränkt. Damit komme ich noch einmal auf den Begriff Phänomenologie zurück, den ich in einem sehr allgemeinen, aber umso grundsätzlicheren Sinn verstehe: nicht als ausgetüftelte, skrupulöse Methode 'transzendentaler', 'hermeneutischer' oder gar 'mantischer' Provenienz, freilich aber auch nicht als beruhigendes Etikett für einen platten Positivismus, der unreflektierten Theorieverzicht mit Einsicht in den Sachverhalt verwechselt. 37 Phänomenologie soll vielmehr eine Erkenntnis/wte/ig bezeichnen, die im Prozeß der Erfahrung das Phänomen als solches, aber auch in seinem Verweisungszusammenhang ernstnehmen möchte, und dies stets vor dem geschichtlichen Hintergrund der Einsicht in erkannte Denkirrtümer. Diese bestanden und bestehen vor allem darin, entweder ein theoriefreies Gegebensein der Phänomene zu behaupten oder — umgekehrt — die Phänomene vorschnell in Theoriekorsette zu pressen. Phänomenologie dagegen muß versuchen, sowohl das spekulative als auch das empirische Moment am Phänomen — d.h. an der Erfahrung selbst in ihrem jeweiligen Vollzug und Gegenstand — ins rechte Lot zu bringen. Sie muß berücksichtigen, daß stets neue und schöpferische Einsichten möglich sind, da sich Erkennen nicht außerhalb der Lebenswelt abspielt, sondern in ihr, wobei

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Einleitung

diese Lebenswelt als Prozeß zu fassen ist, der selbst nicht determiniert und nicht abgeschlossen ist und zumindest fallweise neue, kreative Synthesen der Erfahrung zustande bringt. *

Der Horizont der vorliegenden Untersuchung besteht also in der Absicht, die mystische Erfahrung im Kontext der lebensweltlichen Einheit aller Erfahrung zu rekonstruieren, ohne diese bereits in das Raster einer vorgängigen Metaphysik, sei sie traditioneller oder szientistischer Art 38 , gezwängt zu haben. Dabei wird nicht bestritten, daß jede heuristische und phänomenologische Beschreibung bereits nichtempirische und in diesem Sinn metaphysische Komponenten hat. Es geht nicht darum, diese Komponenten zu leugnen, sondern darum, sie sachgemäß zu reflektieren und die theoretische Konstruktion, die letztlich das empirisch vorfindliche Material möglichst einsichtig und kohärent erklären soll, erst dann zu unternehmen, wenn dieses Material ausreichend gesammelt und gesichtet ist. Dieses heuristische oder, wenn man will, proto-phänomenologische Sammeln und Sichten wird sich unter den Bedingungen des Phänomens Mystik primär auf entsprechende Erfahrungsmitteilungen stützen, sekundär aber auch auf die Arbeit der bisherigen Mystikforschung, auf Texte also, die theoretisch über die mystische Erfahrung sprechen. Die Berichte sollen fürs erste möglichst vorurteilslos zur Kenntnis genommen und auf ihre zentralen Behauptungen hin rekonstruiert werden. In diesen Berichten sind auch bestimmte MitteilungswMifer anzutreffen. Da die Inhalte nicht vorschnell aus dem Rahmen einer bestimmten Metaphysik heraus interpretiert werden sollen, ist auch vor allem methodische Distanz gegenüber dem Paradigma des Neuplatonismus angezeigt. Die Ansicht, mystisches Denken — zumindest im Abendland — ergebe sich nur aus der neuplatonischen Begrifflichkeit und setze diese voraus, ist mehr als fragwürdig. Es geht vorderhand darum, die von Klassikern der europäischen Mystik aufgezeichneten Erfahrungen, Erlebnisse und Gedanken zu rekonstruieren und dabei die Frage nach Wahrheit und Verbindlichkeit solcher Berichte bis auf weiteres offenzulassen. Nach einem einleitenden Abriß zur Wort- und Begriffsgeschichte von Mystik wird im ERSTEN BUCH der Versuch einer derartigen Heuristik oder Proto-Phänomenologie unternommen, indem klassische mystische Texte — vor allem von Meister Eckhart — herangezogen werden. Ich befrage sie auf jene Inhalte hin, die in einem heutigen Verständnis bzw. Vorverständnis als 'mystisch' gelten können. Da Mystik bis auf weiteres als Zielbegriff veranschlagt wird, ist auch der unklare Wortgebrauch vorläufig zu akzeptieren. (Die Reflexion, die sich am Phänomen abarbeitet, wäre schließlich weitgehend überflüssig, wenn dieses schon von vornherein geklärt wäre. Insofern ist die semantische Offenheit einer Vokabel für eine gewisse Wegstrecke des Denkens durchaus Teil einer sachentsprechenden Methodik. Es ist nicht dasselbe, eine 'black box' so lange als solche zu akzeptieren, bis ihr Kontext und sie selbst genügend geklärt sind, oder sie — in einem schlechten Sinn — zu 'mystifizieren'.)

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Einleitung

Die vorläufige Analyse der besagten Texte wird ergeben, daß sie — bei allen Abweichungen und Besonderheiten der einzelnen Richtungen und Autoren — einen meist wiederkehrenden Grundbestand von Charakteristika nennen. Es geht in diesen Texten immer wieder um Ich-Entgrenzung und Welt-Identifikation, Transkategorialität (Aufhebung von Raum, Zeit und Kausalität) und Zeichen-Skepsis, Ekstase und Authentizität, Gelassenheit und Willenlosigkeit, Schweigen und paradoxes Sprechen, Einsamkeit und Todesnähe, absolute Harmonie und doch nur Augenblicklichkeit des Erlebens. Und es geht immer wieder um einen in sich gestuften Erfahrungsprozeß, der nicht erzwungen, wohl aber vorbereitet werden kann. Es handelt sich insgesamt um Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, Stimmungen, Bilder und Spekulationen, die sehr unterschiedlichen Erkenntnis- und Realkategorien zugeordnet werden können und die doch einen Zusammenhang bilden, ein Geflecht oder Muster von Erlebnis, Erfahrung und Denken. Dieser Zusammenhang ist die vorläufige 'black box' der mystischen Erfahrung, die es im ZWEITEN BUCH zu analysieren und theoretisch aufzuarbeiten gilt. Die Lektüre dieser Referenztexte macht außerdem ersichtlich, daß der Erlebnisbegriff nicht verkürzt angewendet werden darf und daß gängige Dichotomien wie Gefühl/ Vernunft, Empfinden/Wissen, Erlebnis/Spekulation, Mystik/Rationalität sehr abstrakte Unterscheidungen darstellen, die am konkreten Phänomen — hier: am konkreten Text — nur als Akzentuierungen sinnvoll wahrzunehmen sind. Spekulation, Abstraktion, Rationalisierung, Symbolisierung, Verbegrifflichung ergeben sich nicht erst auf dem Boden eines bestimmten Denkentwurfs, sondern gehören mit hinein in den Grundprozeß der Lebenswelt, so wie andererseits Empfindungen, Gefühle, Stimmungen — also Emotionalität überhaupt — dem intellektuellen Bereich nicht einfach gegenüberstehen, ihm weder zugrundeliegen noch einfach 'hinzukommen', sondern als Verschränkung im Sinn einer wechselseitigen Konstituierung mitgegeben sind. Somit ist der Begriff der mystischen Erfahrung, bei all seiner Erlebnis- und Gefühlshaftigkeit, nicht ohne weiteres vom Begriff der Spekulation abtrennbar, und daher gibt es auch keine ganz klare Grenze zwischen 'Gefühls-' und 'Gedanken'mystik. Vor allem im Blick auf außereuropäische Mystikformen — die in meiner Untersuchung, übrigens rein aus arbeitsökonomischen Gründen, keine eigene Darstellung erfahren, sondern auf die nur am Rande verwiesen wird — ist die These, Mystik sei ein genuines Phänomen einzig der Religion oder gar nur des Theismus, sicherlich nicht haltbar. Eine solche Behauptung widerspricht nicht nur der Tatsache, daß sich schwerlich ein essentieller Begriff von Religion aufweisen läßt (weder Gott und Götter, noch Ritus und Kult, noch Metaphysik und Moral, noch Jenseitsglaube usw. finden sich in allen Religionen), sondern erweist sich auch schon im Blick auf die neuzeitliche Philosophie, die Mystik thematisiert, als unangemessen. Denn diese ist keineswegs in ihrer Gesamtheit mit dem Theismus verknüpft, noch wäre es richtig, bei allen ihren nichttheistischen Varianten von einem bloßen 'Steckenbleiben in der Negation des Atheismus' zu sprechen. Gott ist seit der Aufklärung kein zentrales oder auch nur peripher notwendiges Thema der Philosophie mehr. Der Entgrenzung und damit Dysfunktionalisierung des Gottesbegriffs in pantheistischen Systemen korrespondiert seine Vergleichgültigung im Deismus, und die Thematisierung Gottes findet in den explizit atheistischen Denkent-

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Einleitung

würfen etwa bei Schopenhauer, Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud ein geistesgeschichtliches Ende. Die gerade für die historische Betrachtung der Mystik wichtige Entkoppelung von Philosophie und Religion, die im 'Nachidealismus' des 19. Jahrhunderts stattfindet, ist eine signifikante Zäsur, da ab nun der Gegenstand der Mystik — von den am Rande fortbestehenden theistischen Philosophien abgesehen — nicht mehr 'Gott' genannt wird, aber seinerseits wichtige Attribute des alten Gottesbegriffs zugesprochen bekommt. Diese Zäsur — die übrigens, wie einschränkend zu bemerken ist, im angelsächsischen Denken nicht in vergleichbarer Weise stattgefunden hat39 — ist in der französischen Tradition mit den Materialisten und in der deutschen Tradition mit dem Ende des deutschen Idealismus bezeichnet. Sie trennt nicht nur die langwährende Verschwisterung von Religion und Philosophie, sondern beschließt auch die Ära des großangelegten Systemdenkens sowie des Vertrauens in die Selbstgewißheit und Allkompetenz der Vernunft. Da Vernunft und Mystik Korrelationsphänomene sind, muß eine umfassende Revision des Vernunftbegriffs auch entsprechende Auswirkungen für den Mystikbegriff zeitigen. Deshalb ist auf diese nachidealistische Zäsur besonders hinzuweisen.

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ERSTES BUCH

Prolegomena zu einer Theorie der mystischen Erfahrung

1 Fragen des methodischen Zugangs

1.1 Sprechen über Mystik? Wer über Mystik spricht, sieht sich mit der weitverbreiteten Meinung konfrontiert, daß über sie zu sprechen unmöglich sei.40 Doch können wir vorläufig davon ausgehen, daß 'Mystik' in den europäischen Sprachen als Formel — welchen Inhalts auch immer — geprägt wurde und als solche bis heute verwendet wird. Bevor ich mich dem möglichen Inhalt dieser Formel zuwende, ist zu fragen, unter welche Kategorie sprachlicher Ausdrücke das Wort 'Mystik' fällt. Es gibt Vokabeln — und 'Mystik' zählt offensichtlich zu ihnen — mit einem so breiten und unbestimmten Konnotationsfeld, daß der Versuch einer genauen Bedeutungsanalyse an den Knaben bei Augustin erinnert, der das Meer ausschöpfen will, oder an Herakles, dem das Ausmisten der Augiasställe zugemutet wird. Dennoch können gerade solche Wörter für die Menschen, die sie in einem ernstgemeinten Sprachspiel verwenden, in hohem Maße bedeutsam und zudem emotional besetzt sein, eben weil in ihnen lebensweltliche und existentielle Geltungsansprüche konzentriert und auf eine Formel gebracht wurden. 41 Deren Suggestivität braucht nicht auf einem klaren Verständnis ihres Inhalts zu beruhen, sondern liegt in ihrer Handhabbarkeit als Formel begründet. Diese verspricht Sinnstiftung, Zusammenschau von Heterogenem, prinzipielle Orientierung. Gerade der synthetisch-verdichtete Charakter und die relative Unbestimmtheit ihrer analysierbaren Bedeutung ermöglicht die Handhabung als Formel, sei es zustimmend oder auch ablehnend. Solche Wörter — neben 'Mystik' ließen sich anfuhren: 'Vernunft', 'Sinn', 'Leben', 'Existenz', 'Kultur', 'Fortschritt', das 'Heilige', 'Gott' oder 'Natur' — werden verständlicherweise sehr leicht zum Inbegriff von Weltanschauungen, d.h. von nicht mehr hinterfragten Gesamtorientierungen in der Wirklichkeit unseres Lebens, deren Verknüpfung mit Herrschaftsinteressen dann auf den Begriff der Ideologie führt. 42 Als mehr oder minder präzisierte, argumentativ aufbereitete und abgesicherte Begriffe spielen solche Ausdrücke auch in der Philosophie eine zentrale Rolle. Freilich läßt es der Pluralismus der philosophischen Entwürfe nicht zu, daß einer dieser Begriffe endgültig auf den 'Punkt' gebracht würde, daß konkurrierende Interpretationen für immer aus dem Feld geschlagen und letztverbindliche Normen für den faktischen Sprachgebrauch aufgestellt wären. Gleichwohl scheinen diese Ausdrücke — gerade in ihrer relativen Unklarheit, Offenheit und vielfachen Applizierbarkeit — sprachökonomisch nicht einfach sinnlos zu sein. Streicht man sie schlichtweg aus dem Sprachgebrauch, so hinterlassen sie Orientierungslücken, die nicht ohne weiteres von einem beliebigen Substitu-

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Prolegomena

tionsvokabular bzw. von verordneter Sinnlosigkeitserklärung zu schließen sind. Es sind also offenbar Ausdrücke, die dazu herausfordern, sie entweder ideologisch-weltanschaulich als platte Formeln zu übernehmen und dann weitgehend unreflektiert zu verneinen bzw. zu bejahen, oder sie selbständig philosophierend — d.h. in eigener intellektueller Anstrengung, in der philosophische und andere geistesgeschichtlichen Traditionen als 'Argumentationsarsenale 1 benützt werden — zu reflektieren. Versucht man, in Auseinandersetzung mit den Texten, in denen sich das Wort Mystik findet, auf einen grünen Zweig zu kommen, stößt man auf ein kaum überblickbares Feld kontextuell verschiedener Bedeutungen, aber auch prinzipieller Unklarheiten und Obskurantismen. Nun ist aber — bei all seiner möglichen heterogenen Bedeutung und relativen Unklarheit — doch immer davon auszugehen, daß ein Wort stets in Korrespondenz zu irgendeiner Wahrnehmung, Vorstellung, Erfahrung und damit zu einem wie immer gearteten realen Phänomen steht. Dieses Phänomen kann, noch bevor es sprachlich wird, klar vor Augen stehen, und irgendein Ausdruck wird ihm dann eben zugeteilt. Oder es kann der Ausdruck schon gegeben sein, doch seine Bedeutung ist erst zu eruieren. Glaubt man — und das ist freilich eine verbreitete philosophische Fehleinschätzung — in aprioristischer Selbstherrlichkeit auf den Namen, der eine 'black box' benennt, und damit auch gleichzeitig auf die Sache, die noch unzureichend gedacht wurde, verzichten zu können, so stellt dies einen Verdrängungsakt dar hinsichtlich dessen, was uns sprachlich-lebensweltlich begegnet. Die mit dem verdrängten Wort mitverdrängte Bedeutung sucht sich dann vielleicht einen anderen Namen, der aber keine neue Erkenntnis darstellt, sondern seinerseits wieder dazu auffordert, das in ihm berührte Thema aufzunehmen und zu klären. Aufgrund besagter Fehleinschätzung von Sprache und Denken, die deren tatsächliche und erfahrbare Funktionen nicht hinreichend reflektiert bzw. sie unzulässig verkürzt, gibt man sich üblicherweise entweder dem faktischen — und damit oftmals ungenauen — Sprachgebrauch hin, oder man versucht das Ärgernis der Ungenauigkeit dadurch auszuschalten, daß man nur über (angeblich) hinreichend Klares zu reden erlauben möchte und alles Andere, Unklare für diskursunfähig erklärt. So vorzugehen wäre sinnvoll, wenn die Geltung sowohl einer strikt konventionalistischen als auch einer vom Exaktheitsideal bestimmten Bedeutungstheorie unbestritten unterstellt werden könnte. Gingen wir im folgenden jedoch von solchen Prämissen aus, wäre es müßig, über die allgemeine Bedeutung eines Abstraktums wie Mystik nachzudenken, denn dieses Wort begegnet in höchst unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen, Interpretationen und Bewertungen. Es wäre — wie einschlägige Versuche gezeigt haben — auch kein allzu sinnvolles Unterfangen, mit Hilfe einer enzyklopädisch angelegten Analyse des faktischen Sprachgebrauchs einen in sich wennschon heterogenen, aber doch vollständigen und übersichtlichen Bedeutungskatalog von 'Mystik' zu erstellen 43 , da hier jegliche Bedeutungseinheit verloren ginge und der Ausdruck nur selten genauer charakterisiert, geschweige denn definiert wird. 'Mystik' ist oft nur ein Füllwort, ein Verlegenheitswort, das vage auf ein nicht näher Bestimmtes bzw. Bestimmbares, ein Ausgeblendetes, eine 'Restgröße' in der Wahrnehmung und im Durchdenken von Realität und Erfahrung hinweist. Zahlreiche Kontexte und Diskurse wären einzeln zu untersuchen, um der je-

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Fragen des methodischen Zugangs

weiligen Sprachverwendung und Sprachökonomie auf die Schliche zu kommen. Einigermaßen klare Definitionen finden sich nur in sehr speziellen Kontexten, z.B. im aufklärerisch-polemischen Diskurs, der Mystik mit Verworrenheit und Aberglauben gleichsetzt, oder in einer (vorwiegend katholischen) Version des christlich-theologischen Diskurses, der in affirmativer Haltung unter Mystik intensive Frömmigkeit und das Phänomen 'übervernünftiger' und 'überrealer' Gottesbegegnung versteht.44 Anerkennt man die (jeweilige) Bedeutung eines Ausdrucks als seinen (jeweiligen) faktischen Gebrauch in der Sprache, dann sind derartig verengte Verwendungen von 'Mystik' durchaus legitim. Es ist aber zu berücksichtigen, daß es stets noch weitere faktische Verwendungsweisen gibt. Außerdem: Die in solch verengter Verwendung bezeichneten Phänomene können sprachlich ohne weiteres auch anders etikettiert werden. Wir können von vornherein festlegen, was wir unter Mystik verstehen wollen, bzw. wir können eine der bereits 'präzisierten' Bedeutungen übernehmen. Damit verbauen wir uns jedoch die Möglichkeit, auf die Vielfalt und — immerhin mögliche — Einheit des faktischen Sprachgebrauchs näher hinzuhören und die in den verengenden Normierungen ausgeblendeten, jedoch noch mitschwingenden Bedeutungen und Bedeutungselemente zu berücksichtigen. Die Vermutung, daß den verschiedenen — sich z.T. überschneidenden und zuweilen wohl auch einander ausschließenden — Bedeutungen ein 'untergründiger Sachzusammenhang' zugrunde liegen könnte45, ist immerhin — bis zum Erweis des Gegenteils — als heuristische Perspektive zu empfehlen, zumal 'Mystik' im faktischen Sprachgebrauch ja auch nicht völlig beliebig verwendet wird. Mit all diesen Überlegungen verbindet sich freilich noch keine 'essentialistische' Erwartung, irgendeinem einheitlichen 'Wesen' von Mystik auf die Spur zu kommen, denn sachliche Zusammenhänge müssen bekanntlich nicht unbedingt essentialistischer, sie können auch 'familienähnlicher' Natur sein. Wie aber ist ein derartiger Sachzusammenhang — sofern es ihn gibt — auch sachgerecht in den Blick zu bringen? Welche Alternative bietet sich gegenüber der — von der populären Mystikliteratur eindrucksvoll bezeugten46 — Möglichkeit, von Mystik in verschwommener und obskurer Weise zu schwätzen, und gegenüber der anderen Möglichkeit, das Thema zu ignorieren oder von ihm nur in 'klaren', d.h. dann aber vorweg geklärten und normativ verengten Bedeutungen zu reden? Allen weiteren Überlegungen ist die These voranzustellen, daß unsere geläufigen Vorstellungen über Wahrnehmen, Denken, Sprechen, Handeln und — insgesamt — Erfahren von Realität für eine philosophische Betrachtung nicht ohne weiteres übernommen werden dürfen, sondern daß sie zu problematisieren und ggf. kritisch zu revidieren sind. Dies setzt freilich ein Verständnis von Philosophie voraus, das diese nicht über, sondern im Fluß der Erfahrung 'schwimmend' (nicht etwa — die Metaphorik ist hier keineswegs beliebig ·— 'stehend'), sie demnach als vorläufig und unabgeschlossen lernend sowie kontingent handelnd betrachtet, nicht aber als eine besserwisserische Perspektive, die der Erfahrung apriorische Normen vorschreibt oder — als deren oberflächliche Rationalisierung — faktisch geltende Überzeugungen systematisch legitimieren möchte. Sowohl am naturwüchsigen Sprachvertrauen als auch am szientistischen Klarheitspostulat sind Zweifel anzumelden. Nicht jedes Wort, weil es gebraucht wird, ist sinnvoll, und nicht jedes

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Prolegomena

Wort, obwohl es dem Rezipienten auf Anhieb unverständlich scheint, ist deshalb auch schon sinn/os. Auch dann nicht, wenn sich der Sprecher über die Bedeutung noch nicht völlig im klaren ist. Bedeutungen sind nämlich — bedenken wir die Zeit- und Prozeßstruktur unseres Denkens und Handelns — nur in geringem Maß 'statischer' Natur insofern, als sie sich auf fertige, abgeschlossene, durchgeklärte Vorstellungen beziehen würden. Die Wörter müssen den Phänomenen und Sachverhalten, sofern diese sich entwickeln, nicht wie starre Etiketten anhaften, sondern können selbst an der Entwicklung der Phänomene und Sachverhalte teilhaben, sie vorantreiben und 'dynamisch' repräsentieren. 47 Wenn aber Entwicklung — u.zw. offene Entwicklung, deren Resultat nicht vorgegeben ist — sich verbalisieren und verbegrifflichen läßt und wenn die Verbalisierung und Verbegrifflichung selbst ein integratives Moment der Entwicklung des Phänomens darstellt, dann ist auch jedes durchgängige und ausschließliche Klarheitspostulat obsolet. Denn dieses läßt für das Sprechen und Denken nur zu, was bereits 'ist', nicht aber, was 'wird'. So wie das tatsächliche menschliche Handeln nicht in konstruierbaren 'Handlungsblöcken' abläuft, sondern in offen und kontingent sich entwickelnden 'Handlungsgeschichten' 48 , gilt Entsprechendes auch für Denken, Sprechen und Weltverhalten — für jede intentionale Struktur — insgesamt. Daher ist kritisch zu hinterfragen, was 'Bedeutung' und 'tatsächlicher Sprachgebrauch' denn überhaupt heißen und ob diese Begriffe durch ein statisch-gegenständliches Referenzdenken nicht von vornherein verzerrt werden. Und es ist zu fragen, ob der vielfältige, schillernde und schwer zu rekonstruierende faktische Sprachgebrauch von 'Mystik' nicht eben mit den prinzipiellen Schwierigkeiten einer erfahrungsgerechten Orientierung unseres Denkens und Sprechens — und möglicherweise auch des Handelns und Weltverhaltens insgesamt — zusammenhängt. Wenn ja, dann muß es aber auch möglich sein, den Problemzusammenhang phänomenologisch zu erhellen49 und das Phänomen, auf das sich der Ausdruck 'Mystik' bezieht, einer Klärung zuzuführen. Dieses Phänomen ist, den Quellen klassischer Mystiktexte zufolge, eine Erfahrung, wobei Erfahrung hierbei nicht in der normativ eingeschränkten Bedeutung, wie Kant sie etwa festlegt, zu verstehen ist, sondern in einer sehr allgemeinen Bedeutung von Wahrnehmen und Konfrontiertwerden. 50 Dem Phänomen Mystik nahezukommen, setzt also voraus, sich darüber klarzuwerden, was Erfahrung ist und welche Möglichkeiten von Erfahrung überhaupt gegeben sind. Dazu bieten sich zweierlei methodische Vorgehensweisen an: (a) Wir erstellen zuerst eine allgemeine Phänomenologie und Theorie der Erfahrung, deren Allgemeinheit uns verbürgen soll, daß sie auch die — erst später näher zu bestimmende — 'mystische Erfahrung' (als Teil-Erfahrung) unter sich subsumiert. Was uns, rätselhaft genug, in den Mystiktexten entgegentritt, muß dann als Deskription oder ggf. auch als verzerrte Projektion von Erfahrung zu identifizieren sein. Gegenüber diesem vornehmlich deduktiven Vorgehen ist aber (b) eine zweite — vermutlich mühsamere, aber wohl auch ergiebigere — vornehmlich induktive Methode denkbar, dergemäß wir die mystische Erfahrung von einzelnen Textzeugnissen her zu bestimmen, mit anderen Beispielen zu vergleichen und schließlich in einen zunehmend allgemeiner werdenden Interpretationsrahmen zu stellen suchen. Im praktischen Vorgehen schließen sich beide Methoden nun aber keineswegs aus. Sie ergänzen sich viel-

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Fragen des methodischen Zugangs

mehr in doppelter Weise. Einmal insofern, als jede (vorläufige) Verallgemeinerung durch ihre Konfrontation mit konkreten einzelnen Texten korrigiert werden kann, für diese Texte aber auch (vorläufige) Verständnishorizonte — also Leitfäden der Interpretation — ermöglicht, die im Verlauf weiterer Denkschritte erneut zu modifizieren sind. Und zum anderen insofern, als die sich verschiebenden Verständnishorizonte auf die Wahrnehmung und Interpretation der Einzeltexte gleichfalls modifizierend zurückwirken. Wenn wir uns bemühen, erfahrbare Phänomene so zu bedenken, daß sie durch vorgängige Normierungen und Theoriekorsette möglichst unverstellt bleiben (was nicht heißt, Norm- und Theorieimplikationen in Wahrnehmung, Beobachtung und Deutung der Phänomene prinzipiell zu leugnen), dann erhält die zweite, 'induktive' Methode freilich mehr Gewicht als die erste, 'deduktive'. Worum wir uns aber fürs erste zu bemühen haben, ist, in den Mystiktexten typische, immer wiederkehrende Charakteristika zu suchen. Zuvor will ich jedoch einen Blick auf die Etymologie und die Begriffsgeschichte von 'Mystik' werfen.

1.2 Etymologie und Erkenntnis: Hinweise zur Wort- und Begriffsgeschichte Im Hinblick sowohl auf seriösen Erkenntnisgewinn wie auf Einschätzung des rezenten Sprachgebrauchs stellt der Rückgang auf die Etymologie eines sprachlichen Ausdrucks ein zweischneidiges Schwert dar. Denn Ausdrücke ändern sich ja im Lauf der Geschichte in ihrer Bedeutung und ihrem Kontext, sie geraten in neue Kontexte, werden metaphorisch übertragen, verlieren und gewinnen Nuancen, ja gewinnen und verlieren zuweilen auch zentrale Charakteristika und geraten — durch die Verschiebung der Wortfelder — in vielfältige Beziehungen (der Neben-, Unter-, Gleich- und Gegenordnung) zu Ausdrücken anderer Wortstämme. Die Vielfalt und Unübersichtlichkeit solcher Entwicklungen erlaubt es z.B. der christlichen Theologie, die biblische Tradition immer wieder neu aufzubereiten und neu zu akzentuieren, unbrauchbar Gewordenes über Bord zu werfen, Vergessenes und Unterdrücktes ins Rampenlicht zu holen und so ein fast uferloses 'aggiornamento' zu betreiben. Das prominente Beispiel eines Philosophen, der im Bedenken von Etymologien zuweilen der Verselbständigung solcher Gedankengänge — so erhellend sie im einzelnen sein mögen — erliegt und damit das sachlich-systematische Interesse seines Nachdenkens aus dem Auge verliert, ist Heidegger. Zwar ist von einem rein historischen Interesse her die Untersuchung von Etymologien ein unanfechtbares Geschäft. Es kann sich allerdings verselbständigen und baut dann seinerseits Hindernisse für das rezente Verständnis auf, das die geschichtlichen Bedeutungen eines Ausdrucks vielfach abgestreift, z.T. auch in ihr Gegenteil verkehrt haben mag. Doch wäre es zweifellos wiederum das Mißverständnis einer platten funktionalistischen Sprachauffassung, rezente und historische Bedeutungen in jedem Fall unanfechtbar klar auseinanderhalten zu können. Gerade Ausdrücke wie Vernunft, Gott, Natur, Mystik usf. sind ohne ihre Herkunft und ihre Geschichte nicht denkbar, und ihre vielfältigen

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Prolegomena

Konnotationen sind vorwiegend sprachgeschichtliche Reminiszenzen, sind Sedimente und Schatten alter, verschobener und überlagerter Bedeutungen. Wird daher das Etymologisieren kritisch — in ausgewogener Haltung zu seinen Möglichkeiten und Grenzen — betrieben, so erleichtert es sehr wohl den Zugang zum Feld rezenter Konnotationen. Es ist dann eben im einzelnen zu prüfen, welche Bedeutungen in der Geschichte verblassen, umkippen und sich neu bilden und welche Wortfelder sich dadurch auflösen oder auch neu konstituieren. Wenn ich mich also noch vor der 'Sache' der Mystik mit dem Wort und seiner Herkunft auseinandersetze, so deshalb, weil die Wort- und Begriffsgeschichte (in wenngleich beschränkter Weise) die Sache — die nicht von vornherein in klarer Abgrenzung feststeht und deren (willkürliche) apriorisch-systematische Setzung zweifellos zu einer sehr verkürzten Optik führen würde — doch ansatzweise in den Blick zu bringen vermag. Zwischen der Geschichte von 'Wort' und 'Begriff — der Geschichte von 'bloßem' sprachlichem Ausdruck und seiner 'geklärten' Bedeutung(en) — soll hier nur tendenziell, nicht prinzipiell unterschieden werden, da es sich bei 'Mystik' um einen Typ von sprachlichem Ausdruck handelt, der eine solche Unterscheidung nur sehr bedingt zuläßt. Die Etymologie und Geschichte des Wortes Mystik ist heute relativ gut erforscht. Der diesbezügliche Aufsatz des katholischen Theologen Louis Bouyer51 gilt nach wie vor als seriöse und aktuelle Zusammenfassung, auf die man sich auch in der jüngsten Literatur noch immer zu Recht bezieht52. Doch ist bei Bouyer — der sich seinerseits auf die Quellenarbeit des Oxforder Lexicon of Patristic Greek stützt — das apologetische Interesse des Autors an seinem Gegenstand nicht zu verkennen, weshalb er die antik-heidnische Vorgeschichte des Wortes nicht ausreichend würdigt. Freilich wendet er sich zu Recht gegen unseriöse Spekulationen, die behaupten, Mystik im heutigen Wortsinn lasse sich bereits aus den antiken Mysterien herauslesen und christliche Mystik sei letztlich nur übertünchter Paganismus. Neuere Untersuchungen53 zur griechischen Sprach- und Kulturgeschichte rechtfertigen nämlich in keiner Weise die in der populären Literatur zuweilen vertretene Annahme von rein paganem Ursprung und paganer Kontinuität von Mystik. Wohl aber legen sie nahe, ein differenziertes Bild der Bedeutungsgeschichte zu entwerfen und Mystik der Sache nach nicht erst — wie bei Bouyer — in der christlichen Patristik beginnen zu lassen. Es scheint sinnvoll zu sein, in einem ersten Zugang zur Etymologie von 'Mystik' nicht beim sprachgeschichtlichen Ursprung — bei der in allen gängigen Definitionen bemühten Wortwurzel 'my-', die in die griechisch-mykenische Frühzeit zurückreicht, und dem Verb 'myein' ( = Mund, Ohren, Augen schließen) — zu beginnen, sondern retrospektiv, also ausgehend von der heutigen Verwendung, die Bedeutungsgeschichte aufzurollen. Die heutige (deutsche) Sprachverwendung kennt, als zusammenhängendes Wort- und Begriffsfeld, die Substantive 'Mysterium', 'Mystik' und 'Mystizismus', die Adjektive 'mysteriös', 'mystisch' und 'mystizistisch', das Verb 'mystifizieren' und die entsprechende Substantivbildung 'Mystifikation'. All diese Ausdrücke überschneiden sich konnotativ. 'Mysterium' wird — vor allem im religiösen Sprachgebrauch — als 'Geheimnis' verstanden, 'mysteriös' hingegen in einem weiteren, durchaus banalen und

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Fragen des methodischen Zugangs

weitgehend pejorativen Sinn als 'seltsam', 'ungeklärt', 'unheimlich'. Während 'Mystik' und 'mystisch' einer Vielzahl von Bedeutungen und dabei auch durchaus unterschiedlichen Bewertungen unterliegen, werden 'Mystizismus' und 'mystizistisch' im Deutschen — anders als im Englischen oder in den romanischen Sprachen — nur abwertend im Sinn von 'Geheimnistuerei', 'Verschleierung' und 'Phantastik' verstanden. Das gilt in gleicher Weise für das Verb 'mystifizieren'. Im Englischen umfaßt das Wort 'mysticism' (adjektivisch: 'mystical') hingegen die Gesamtheit der Bedeutungen, die sich in den deutschen Ausdrücken 'Mystizismus' und 'Mystik' je verschieden bündeln. Anzumerken ist, daß die im Deutschen ausgebildete Differenzierung im 19. Jahrhundert noch nicht vorhanden ist. Von Belang ist, daß das Substantiv 'Mystik' erst im 17. Jahrhundert — in der beginnenden Auseinandersetzung von Aufklärung und (dazu reaktivem) Fideismus — aufkommt und erst im 19. Jahrhundert auch in außerchristlichen Kontexten Verwendung findet (vor allem im Zusammenhang mit der beginnenden europäischen Indienrezeption), sofern man die als 'mystisch' apostrophierte christliche Glaubenserfahrung zu brahmanistischen und buddhistischen Erfahrungen und Glaubenssätzen analogisiert. Das Substantiv 'Mystik' ist vom 17. Jahrhundert bis heute zwar in seinem 'Bedeutungshof' verändert (vor allem: erweitert) worden, sein 'Kerngehalt' ist jedoch nach wie vor derselbe. Er kommt, wenngleich angereichert durch weitere Motive, auch noch in den heute gängigen Wörterbuch-Definitionen von 'Mystik' zum Ausdruck. So spricht der Brockhaus von 'unmittelbarem Gotteserleben', das nur 'begnadeten' Menschen zuteil werde, und erklärt Ekstase und Vision zu 'Nebenerscheinungen'. Er unterscheidet theistische, pantheistische und Naturmystik und betont die Rolle mystischer 'Techniken'. Der Meyer spricht von einer Sonderform religiösen Verhaltens, einem bestimmten Frömmigkeitstypus, dessen Ziel die (bis zur behaupteten Identität steigerbare) Verbindung mit Gott sei und dessen hauptsächliche Praktiken in Kontemplation, Meditation und Askese bestünden. Er betont die anti-institutionalistische Tendenz der Mystik, ihre Gegensätzlichkeit zum 'prophetischen Rigorismus' und die Möglichkeit auch impersonaler Formen. In A. Bertholets Wörterbuch der Religionen wird Mystik definiert als "Aufhebung des religiösen Ich-Du-Verhältnisses [...], d.h. Aufgehen des Menschen in Gott oder im Göttlichen (unio mystica), ja vielleicht in etwas, das noch hinter Gott liegt, einem 'Leeren' oder 'Nichtseienden', Nirvana" 54 . In solche Allgemeindefinitionen sind offenkundig bereits spezielle Deutungen aus der Mystikforschung — z.B. von G. Mensching und M. Buber — eingeflossen. Betont wird aber stets der Erlebnis- und Erfahrungscharakter. Im Dictionary of Philosophy von A. Flew ist Mystik "claimed to be direct or unmediated experience of the divine, in which the human soul momentarily approaches union with God", und sie ist "not primarily or essentially a matter of visions or ecstatics [...], but of total submission of the human will and intellect to God". 55 Bemerkenswert ist, daß gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Übertragung auch auf nichtreligiöse, also säkularisierte Kontexte stattfindet. So demonstrieren einige (vornehmlich der Wiener Moderne zugehörige) Dichter und Denker — F. Mauthner, G. Landauer, R. Musil — die Möglichkeit, Mystik 'gottlos' und areligiös 47

Prolegomena

zu verstehen. 56 Dies wird geistesgeschichtlich möglich einerseits durch die Ausweitung (z.T. auch Entgrenzung) des Religionsbegriffs durch die vergleichende Religionswissenschaft, die namentlich mit der indischen Religiosität auch 'gottlose' Religionen und eine in deren Kontext 'gottlose' Mystik kennenlernt, und andererseits durch den kämpferischen Atheismus der 'zweiten Aufklärung' des 19. Jahrhunderts, der prinzipiell areligiöse Sinndeutungen des gesamten Lebens zu etablieren versucht. Dies hat nicht nur Umdeutungen, sondern geradezu eine Bedeutungsinflation ursprünglich religiöser Begriffe — wie z.B. 'Gott', aber eben auch 'Mystik' — zur Folge, wobei diese Begriffe teilweise wieder — in synkretistischen und intellektualisierten neuen Auffassungen von Religiosität (so etwa in der Anthroposophie R. Steiners) — in erweiterte religiöse Sinndeutungen reintegriert werden. Doch wird Mystik nun auch von nichtreligiösen und antiaufklärerischen Denkhaltungen wie der 'völkischen Weltanschauung' eines A. Rosenberg reklamiert. 57 Für die nächsten, auf die 'völkische' Aneignung reagierenden Aufklärungswellen ergibt sich so die Möglichkeit, unter Hinweis auf solch desavouierende Beispiele die Mystik allgemein mit schlichtem Obskurantismus gleichzusetzen. Generell bleibt festzuhalten, daß Bewegungen, die gegen eine verengte Vernunftauffassung Stellung beziehen, eine besondere Neigung zeigen, mystische Traditionen zu aktualisieren und eigene Mystikkonzeptionen zu entwerfen. Dies gilt etwa für die Romantik, für die Lebensphilosophie und die 'neue Innerlichkeit' unserer Tage. Mystik dient hier immer wieder als Formel für das dem gewöhnlichen und rationalen Denken Verborgene, von ihm Ausgeblendete, von dem her, wie von den Anhängern solcher Strömungen angenommen wird, das 'Ganze' und 'Eigentliche' der Erfahrung erschließbar sein soll. Der historisch zunehmenden Ausweitung des Begriffs Mystik vom 17. bis ins 20. Jahrhundert ist jedoch in weiter zurückreichender Retrospektive die um vieles engere frühere Bedeutung des Adjektivs mystisch entgegenzustellen. Das Mittelalter kennt nur ebendieses Adjektiv mit dem zugehörigen Nomen 'mysterium' ('Geheimnis'). Dem entspricht auch noch die rezente Bedeutung von 'mystisch' als 'geheimnisvoll' in den romanischen (und, weniger durchgängig, in den germanischen) Sprachen. Das Wort hat ursprünglich allerdings eine primär — hier freilich zur Gänze verflachte — christlichreligiöse, insbesondere eine kultische und theologische Bedeutung. Das 'Geheimnis' ist nicht irgendein Geheimnis, sondern das Geheimnis des Glaubens, der Frömmigkeit, der Gottverbundenheit, ein Geheimnis dogmatischer (z.B. der Dreifaltigkeit oder der Jungfrauengeburt) und sakramentaler Provenienz (z.B. der Anwesenheit Christi im Meßopfer, der Transsubstantiation usw.), ein Geheimnis 'übernatürlicher' Erscheinungen wie Vision, Elevation oder Stigmatisation. Da in der gelehrten opinio communis des Mittelalters feststeht, daß Vernunft und Glaube, 'natürliche' und 'übernatürliche' Erkenntnis prinzipiell zu unterscheiden seien und daß letztere immer nur auf dem Wege des 'Geheimnisses' (der Heiligen Schrift) geoffenbart werde, gelten als 'mystisch' all jene Annahmen und Praktiken des Glaubens, die sich 'vernünftiger' Begründung und Rechtfertigung entziehen (was nicht ausschließt, daß in einem sekundären Akt der Rechtfertigung doch auch die insgeheim 'natürliche' Vernunft mancher Glaubensvorschriften und -annahmen herausgestellt werden kann). Philosophie, die dem 'Buch der Natur' folgt, und das 'Mysterium' des Glaubens sind im Verständnis der meisten mittelalterlichen Denker

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Fragen des methodischen

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zwar miteinander pragmatisch vereinbare, aber logisch und sui generis getrennte Bereiche. Es gibt im Mittelalter demnach terminologisch auch keine 'mystische Philosophie', sondern nur die — von Dionysius Areopagita unter diesem Namen eingeführte und später auch weithin anerkannte — 'mystische Theologie', die mit den Mitteln der Apophasis — also 'negativer' Aussagen — vom 'undenkbaren' und 'unsagbaren' Gott redet. 58 So unrichtig es wäre, heutige Bedeutungen von 'mystisch' unbesehen auf das Mittelalter zurück zu projizieren, so sind doch Spuren und Ansätze für das rezente Konnotationsfeld auch im mittelalterlichen Sprachgebrauch von 'mysticus' und 'mysterium' wahrzunehmen. Als 'mystisch' versteht sich insbesondere der mittelalterliche Umgang mit der Bibel, die das Geheimnis der göttlichen Offenbarung verkörpert und die Glaubensgeheimnisse als solche überliefert. Über die Vermittlung dieser Glaubensgeheimnisse findet die persönliche Begegnung des Christen mit seinem Gott statt. Indem diese Begegnung den Christen dahingehend verwandelt, daß sie ihn zum 'neuen Adam' macht, ist die Begegnung mit der 'Schrift' zugleich die Begegnung mit Gott und ist das 'Erkennen' der Schrift zugleich das Erkennen Gottes selbst. Die rechte Auslegung, also die Hermeneutik der Schrift geschieht ineins mit dem 'religiösen Erlebnis' 59 , so daß 'mystisch' ein Epitheton sowohl zum 'objektiven' als auch zum 'subjektiven' Teil der Religion darstellt, also sowohl den Glauben und seine Inhalte selbst als auch deren Rezeption, das Erleben und den 'existentiellen Vollzug' bezeichnet. Das Lesen und Auslegen der Schrift koinzidiert mit der Offenbarungstätigkeit Gottes, ist somit die lebendige und konkrete Gott-Mensch-Begegnung selbst. Von diesem historischen Ausgangspunkt des Schriftverständnisses her ist es einsichtig, daß die spätere Ausdifferenzierung und Verselbständigung der Momente dieses 'Mystischen' in Kategorien wie 'objektive Glaubenswahrheit' und 'subjektive Religiosität' (Stimmung, Gefühl, Spekulation usf.) zu einer entsprechenden Aufsplitterung der Semantik geführt hat. Und es ist einsichtig, daß auf der Basis der später ausdifferenzierten Kategorien die 'alte' Subjekt-Objekt-Einheit des 'Glaubensaktes' schwer zu rekonstruieren, dafür allerdings umso leichter zu idealisieren — und damit: rekonstruktiv zu verfehlen — ist. Mit dem Blick auf die Herausbildung des Phänomens Mystik im Mittelalter — noch bevor also das Wort Mystik existiert — verbindet sich auch meist eine verkürzte Sicht auf die weitere Vorgeschichte, die ins antike Heidentum zurückreicht. Diese Verkürzung hängt — ich folge hier der Darstellung von Walter Burkerf3 — nicht zuletzt mit den gängigen Hypothesen über antike Religiosität zusammen, die gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der damals — gemeinsam mit der Ethnologie — aufblühenden Religionswissenschaft aufgestellt wurden, weitgehend zu unbefragter Geltung gelangten und heute — aufgrund erweiterter empirischer Erkenntnisse und einer Abwendung von eurozentrischen, insbesondere hegelianischen Maßstäben der Kulturbewertung — allerdings wieder in Frage gestellt werden. Es handelt sich vor allem um die Abweisung der idealtypischen Dichotomie von 'griechischer' Vernunft ( = Klarheit) und 'orientalischer' Emotionalität ( = geheimnisvoller Dunkelheit des Denkens), einer Dichotomie, die unschwer als rückwärtsgewandte Projektion des von der Lebensphilosophie formulierten Zwiespalts von Aufklärung und Wissenschaftlichkeit

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Prolegomena

einerseits, von Natur, Gefühl, Poesie und Sehnsucht andererseits zu erkennen ist. Einen solchen Projektions-Topos stellt in diesem Zusammenhang der Begriff der angeblich spezifisch orientalischen 'Erlösungsreligionen' dar, die in den Mysterienkulten

lokali-

siert wurden und unter die auch das Christentum — als 'erfolgreiche' Konkurrenz zu den historisch untergegangenen eleusinischen, bacchischen, kybelischen, Isis- und Mithraskulten — gezählt wurde. Eine genauere Analyse der antiken Quellen zeigt, daß der Typus der als Begriffs- und Wertesystem 'geschlossenen' Religion außerhalb

des Ju-

den· und Christentums kaum irgendwo aufzuweisen ist, daß also Heiden- und Christentum nicht unbedingt derselben Kategorie

von Religion und (subjektiver) Religiosität zu-

gehören und daß überdies keineswegs eine klar artikulierte 'Erlösungssehnsucht'

als

eigentlicher Motor der Mysterienkulte anzusehen ist. Diese Kulte stellen auch keineswegs bloß orientalische Importe nach Griechenland und Rom dar, sondern sind ein verbreitetes, auch für den Okzident autochthones Phänomen, das weder Religion im späteren (christlichen oder jüdischen) 'Vollsinn' des Wortes ist noch das typische Produkt einer kulturellen Spätzeit, sondern ein Typus kultischer Organisation, der seit frühklassischer Zeit bezeugt ist und der vor allem durch seinen Experimentalcharakler

im Um-

gang mit religiösen Vorstellungen zu kennzeichnen ist. Bouyer weist in seinem genannten Aufsatz nachdrücklich auf den häufigen —

so-

wohl gänzlich profanen wie auch philosophisch-allegorischen — Gebrauch von 'mystikos' vor allem in der Spätantike hin, der es nicht erlaube, das Gefühl intensiven religiösen Glaubens bereits im paganen Sprachgebrauch zu orten. Diese gefühlsmäßige und existentielle Dimension erlange das Wort erst in der Patristik. Bei Bouyer wird also aus der weitgehend undogmatischen

heidnischen Religiosität — die mit den mythischen Er-

zählungen und den (die Mythen wiederholenden und sie repräsentierenden) Riten wesentlich freier umgeht als die christliche — auch schon ein Mangel an Erlebnisintensität gefolgert. Bedenkt man jedoch beispielsweise den emotionalen Ernst der Philosophie Piatons — die mit guten Gründen als Transformation der griechischen Religion gedeutet werden kann 61 — und deren Selbst-Analogisierung zu den Mysterien (z.B. im Phaidros), ist die These der angeblichen Oberflächlichkeit und Äußerlichkeit paganer Religiosität stark in Zweifel zu ziehen. Piatons der religiösen Sprache entnommenes Vokabular drückt ganz sicher keine Verflachung, sondern eher eine Intensivierung religiösen Erlebens aus, das — auf dem W e g 'vom Mythos zum L o g o s ' , von der Oralität zur Literalität — freilich nicht unerhebliche Transformationen erfährt. W a s in den Mysterienkulten als 'Geheimnis' behandelt wird, stellt — folgt man der Darstellung von Burkert — eine Haltung zu den 'letzten Dingen' dar, die völlig anders ist als die Haltung im Kontext der 'geschlossenen' christlichen Religion (für die ein Experimentalcharakter religiöser Vorstellungen nicht in Frage kommt, da sie mit dem Postulat der 'Gewißheit' des Glaubens unverträglich wäre). In den Mysterien treffen wir jedoch auf eine Haltung, die einige Züge spät- und nachchristlicher Mystik antizipiert, w o die Gewißheit des Dogmas schwindet und erneut mit religiösen Vorstellungen experimentiert

wird. Freilich verändert sich der Typus des Experimentierens dadurch,

daß — spät- und nachchristlich — die historische Erfahrung mit einer 'geschlossenen' Religion im Hintergrund steht, die nunmehr abgelehnt oder uminterpretiert wird.

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Fragen des methodischen

Zugangs

Doch welcher Bezug läßt sich zwischen den antiken Mysterien und der späteren Mystik aufweisen? Es geht um die Übernahme einiger Motive. Das Mysterien-Geheimnis, das nach außen, gegenüber den Nicht-Mysten, zum Stillschweigen verpflichtet, besteht inhaltlich bloß in einer kleinen Äußerlichkeit des Kults, z.B. im Berühren eines Kultgefäßes durch einen 'heiligen' Zweig. Wird ein solches Geheimnis unter Bruch des Schweigegebots dennoch preisgegeben, und dafür gibt es verbürgte historische Beispiele62, geschieht jedoch — nichts. Der Verrat bleibt folgenlos, da es sich fürs 'normale' Denken um eine Banalität handelt. In dessen Rezeption findet keine Verwandlung der mit dem 'Geheimnis' befaßten Persönlichkeit statt. Diese aber — eine qualitativ veränderte Selbsteinschätzung des Menschen, ein Finden bzw. eine Vergewisserung der eigenen Authentizität — ist der wesentliche Punkt im Mysterienkult, der insgesamt als eine Sonderform von Initiation gelten kann. Somit ist einzig die psychische 'Verwandlungsqualität', die sich mit der Äußerlichkeit eines rituellen Handgriffs oder einer rituellen Deutung verbindet, ausschlaggebend. Es geht dabei vermutlich um die Hinwendung zu und um die Auseinandersetzung mit einem 'Abgrund' aller gegenständlichen und systematischen Vorstellungen, wobei ebendiese Vorstellungen gleichermaßen relativiert wie auch mit einem affirmativen Ernst gutgeheißen werden. Daß dem fortgeschrittenen Mysten die Riten 'nichts' mehr bedeuten, steht nicht im Widerspruch zu deren Anerkennung als 'Weg' hin zum Geheimnis, das sich in einem existentiellen Akt zugleich realisiert und aufhebt. Entscheidend im Realitätsbezug der Mysterien ist, daß sie die gewohnten, überlieferten, zur Selbstverständlichkeit gewordenen Auffassungen über die Wirklichkeit unterlaufen, ohne deshalb zu einer definitiv anderen Wahrheit zu gelangen oder auch nur gelangen zu wollen, daß sie im Unterlaufen aber punktuell zu Erfahrungen einer möglichen Authentizität des Lebensgefühls hinfuhren, die im gegenständlichen Sinn nicht mitteilbar sind. Auch die eleatische und platonische Philosophie geht — wie die Mysterien — aus von der Erfahrung des Scheins, der nur vordergründigen Wahrheit von Meinung, Konvention und sinnlicher Wahrnehmung. Sie insistiert freilich auf der Möglichkeit einer 'wirklichen' und 'letzten' Wahrheit — und zeichnet damit in gewisser Weise die Richtung der sich im Kontext einer 'geschlossenen' Religion ausbildenden christlichen Mystik vor, die den 'Abgrund', den sie bloßlegt, stets wieder mit dem absoluten Wahrheitsanspruch ihrer Glaubensinhalte zudeckt. Den Mysterienkulten hingegen eignet — im Hinblick auf diese Ausformungsmöglichkeiten in der Grunderfahrung von 'Schein und Sein' — ein durchaus ambivalenter, schwerpunktmäßig jedoch ein offener, relativistischer, beinah spielerischer Charakter. Sie inszenieren im Rahmen der antiken Kultur eine Repräsentationsmöglichkeit des 'Anderen der Vernunft' — wenn man hier unter 'Vernunft' die konventionell geklärten und anerkannten Maßstäbe des gesamten Lebens einer historischen Menschengruppe verstehen will. Zugleich sind die Mysterien aber mit dieser von ihnen relativierten kulturellen 'Vernunft', weil zu ihr komplementär, durchaus kompatibel.

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Prolegomena

All diese Überlegungen zur Wort- und Begriffsgeschichte von Mystik sind, dies ist vorbehaltlos einzuräumen, bereits stark mit theoretischen und interpretatorischen Einfärbungen belastet. Dies jedoch vermeiden zu wollen, wäre ein wenig erfolgversprechendes Unterfangen, da Sprache — und um den Verfolg eines sprachlichen Ausdrucks geht es hier — stets in einem lebensweltlich-kulturellen Kontext fungiert und dieser Kontext seinerseits nur interpretatorisch wahrgenommen und bewertet werden kann. Die (globalen) Interpretationen von Antike, Mittelalter und Neuzeit, von Heidentum, Christentum und säkularisierter Moderne stehen daher auch im Hintergrund begriffsgeschichtlicher Überlegungen. Umgekehrt beleuchtet die Begriffsgeschichte ihrerseits die in Frage stehenden Epochen und vermag dabei unbesehene Topoi zu problematisieren. Daß all diese Beleuchtungen und Interpretationen vorläufiger und selbstkritischer Natur sein müssen, ist natürlich zu betonen. Sie erst gar nicht zu versuchen hieße jedoch, dem illusionären Postulat letztgültiger, unanfechtbarer Erkenntnis zu folgen und damit — in der Abwertung relativer, revidierbarer Erkenntnisse — überhaupt auf Erkenntnis zu verzichten. Mystik — wie immer sie in ihrem Inhalt näher zu bestimmen sein wird — indiziert jedenfalls eine spezielle Art zu denken, eine spezielle Art, Realität wahrzunehmen, zu verarbeiten und zu deuten. Unterstellt man eine Invarianz und Ungeschichtlichkeit des menschlichen Geistes, wäre ein überzeitlicher Begriff von Mystik bzw. auch von Vernunft eine sinnvolle Annahme. Räumt man jedoch — und dafür sprechen vermutlich die besseren Gründe — eine vielschichtige Abhängigkeit des Geistes von der jeweiligen Kulturstufe, Technologie (einschließlich Kommunikationstechnologie) sowie sozialen und politischen Ordnung ein, so ist es naheliegend, auch Vernunft und Mystik in mehreren möglichen Gestalten, die je eigens zu untersuchen sind, anzunehmen. Gerade der Ausdruck 'Religion' — als Sammelbezeichnung für höchst unterschiedliche und vielgestaltige kulturelle Vorstellungen, Praktiken, Haltungen und Normen — zeigt, wenn man ihn auf die Epochen Antike, Mittelalter und Neuzeit/Moderne anwendet, daß ein gemeinsames sprachliches Etikett auch irreführen kann. Der bloßen 'Familienähnlichkeit' in der Verwendung der Vokabel 'Religion' entspricht die bloße Familienähnlichkeit bei der entsprechenden Verwendung der Ausdrücke 'Vernunft', 'Mystik', 'Gott' u.dgl. Anhand der Etymologie von 'Mystik' läßt sich — in verschiedenen historischen Ausgestaltungen — ein bis heute unvermindert aktuell gebliebenes Phänomen verfolgen, beginnend bei den antiken Mysterien über die spezifische Christlichkeit des Mittelalters bis zu den säkularisierten Denkweisen der Moderne. Es geht um eine (vornehmlich religiöse) Auseinandersetzung mit dem Problem der Dichotomie von Schein und Sein, von vordergründigem Wirklichkeitsverständnis und einer 'tieferen' Erkenntnis, die sich als Kultangebot oder als Aufforderung zu eigenem Nachdenken, als Offenbarung oder als Wille zur Wissenschaft darbieten kann. Die Schere zwischen Schein und Sein eröffnet für den, der sich ihr ausliefert, eine Chance, aber auch eine Gefahr: Der Abgrund, der sich dem, der den Schein hinterfragt, auftut, verspricht den Sturz ins Bodenlose oder den Gewinn eines qualitativ neuen 'Grund und Bodens' der Weltorientierung. Das 'myein' — das Schließen von Mund, Ohren und Augen, im weiteren Sinn:

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Fragen des methodischen

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das Ausschalten der Sinne, der Gewohnheit (später auch: das Ausschalten der Vernunft) — ist auf alle Fälle ein Unternehmen mit ungewissem Ausgang. Das 'myein' ist sprachgeschichtlich seit seinem frühen Auftauchen in griechischen Texten durch die Mysterien — also kultisch-religiös — konnotiert. Die Bedeutung meditativer Versenkung und 'mystischer' Abkehr von der Welt im Sinne gewohnter Vorstellungen und Werte kommt freilich — wenn auch schon (undifferenziert) in der Grundbedeutung mit angelegt — erst später hinzu. Das kulturelle und existentielle Sinnangebot der Mysterien — Katharsis, punktuelle Abkehr von Schein, Äußerlichkeit und Konvention — erfährt im Sinnangebot der Philosophie eine Transformation und Fortsetzung. Ein vergleichbares Sinnangebot wiederholt sich in der frühchristlichen Askese und Weltflucht, insbesondere der Wüstenheiligen und des Mönchtums. Es wiederholt sich — und zwar in der Synthese zweier Traditionen: Christentum und (Neu-) Piatonismus — in der Mystik des Hoch- und Spätmittelalters sowie der Reformation und Gegenreformation. Und es wiederholt sich in den antirationalistischen63 Bewegungen der Moderne, die in einem erweiterten Sinn des Wortes als 'mystisch' anzusprechen sind. Das Substantiv 'Mystik' kann also in einer ersten Annäherung erläutert werden als — je nach erkenntnistheoretischen und ontologischen Prämissen der jeweiligen Verfechter — Sehnsucht, Gewißheit, Lehre, Erkenntnis oder auch nur Lebenshaltung, in deren Mittelpunkt ein spezifischer 'Geheimnischarakter' der Wirklichkeit steht. Diese 'ist nicht so, wie sie ist' (bzw. scheint), sondern ein Abgrund, der, wenn man sich auf ihn einläßt, eine Herausforderung darstellt, daß der Mensch 'er selbst' wird: in der Ambivalenz der Gefahr völliger Selbstvernichtung und der Chance höchstgesteigerter Authentizität. Im monotheistischen Wirklichkeitsverständnis bedeutet diese Ambivalenz Ferne und Nähe zu dem einen Gott, dem Inbegriff von Wirklichkeit, Wahrheit und Eigentlichkeit. In einem nichtreligiösen Wirklichkeitsverständnis finden sich entsprechende Substitute: die Natur, der Kosmos oder ein überpersönliches 'spirituelles Selbst' ,64

1.3 Klassische Mystiktexte: Kanonisierungen, Textformen Sowohl Theologie wie Philosophie haben lange Zeit den Anspruch erhoben, ein übergeordnet-umfassender oder doch zumindest ein autonomer Diskurs in der vielfältigen Diskursivität der Kultur und Lebenswelt zu sein. Diese Annahme beruhte auf Hierarchievorstellungen, die zwar die Suggestivität starker Traditionen für sich buchen können, sachlich aber kaum zu rechtfertigen sind. Nach dem mittlerweile erfolgten weitgehenden Abbau solcher Hierarchie- und Autonomievorstellungen einer Disziplin oder Denkweise kann diese aber dennoch in transformierter Weise fortgeführt werden. Der frühere Totalitätsanspruch kann in den Anspruch auf tendenziell umfassende Vernetzung der möglichen Perspektiven umgewandelt werden, und der frühere Autonomieanspruch transformiert sich sinnvollerweise in den Anspruch einer Methode und Terminologie, die in ihrem — als relativ reflektierten — Kontext relativ gültige Erkenntnis er-

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zielen will. Sowohl der Theologie wie der Philosophie ist als historisches Verdienst zugute zu halten, daß sie — wenn auch z.T. auf dem Irrweg von Verabsolutierungen — vorher unbekannte und unartikulierte Strukturierungen von Realitätswahrnehmung und -Verarbeitung ausgebildet und ermöglicht haben, die als spezifische Leistungen des theologischen und/oder philosophischen Diskurses anzusehen sind. Diese (im wesentlichen spekulativen und gerade dadurch erschließenden und ordnenden) Leistungen gilt es heute somit einerseits zu relativieren, andererseits aber auch interdisziplinär zu vernetzen. Da die meisten klassischen Mystiktexte — was darunter zu verstehen sei, wird noch einer näheren Betrachtung zu unterziehen sein — der Theologie und/oder der Philosophie, die beide zumal für das christliche Mittelalter nicht wirklich zu trennen sind65, zugehören, sind diese Texte, um sie adäquat zu verstehen, zumindest auch sozial- und kulturhistorisch, psychologisch, linguistisch und literaturgeschichtlich zu betrachten. Zu fragen ist nach dem Medium, den Absichten und Artikulationsbedingungen des in mystischen Texten Mitgeteilten. Da es sich um geschriebene Mitteilungen handelt, sind auch die Bedingungen der Schriftlichkeit — sowohl im Entstehungs- wie im späteren Wirkungskontext — zu berücksichtigen. 66 Was soll im folgenden nun unter 'Mystiktexten' verstanden werden? Selbstverständlich ist eine Klassifikation von dem zugrunde gelegten Mystikbegriff abhängig. Wird dieser sehr weit gefaßt, fällt ein Großteil religiöser, aber auch ein Teil philosophischer Texte darunter. Wird er hingegen eng gefaßt, z.B. im Sinne einer ekstatischen religiösen Erfahrung — so daß nicht-ekstatische Formen und vor allem eher abstrakte, spekulative Konzeptionen auszuklammern wären —, so paßt auch ein großer Teil 'kanonischer' Mystiktexte nicht mehr dazu. Es kann dann z.B. die Frage gestellt werden, ob Meister Eckhart — vom 19. Jahrhundert bis heute von den meisten Mystikforschern 67 und auch in der außerwissenschaftlichen Meinung nach wie vor als Zentralgestalt der deutschen Mystik, ja oftmals der Mystik schlechthin, akzeptiert — als Mystiker anzusprechen oder ob er, wie Kurt Flasch postuliert, im Interesse authentischer Rezeption nicht vielmehr "aus dem mystischen Strom zu retten"68 sei. Wenn wir weder einen Allerweltsbegriff noch eine apriorisch normative Verengung akzeptieren wollen, kann die Frage der Klassifizierung nur so angegangen werden, daß man 'kanonischen' Texten erst einmal vorläufig folgt, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede betrachtet und dann einen gemeinsamen Sinn bzw. auch mehrere gemeinsame Sinnstränge herausarbeitet, woraus sich dann ggf. die Möglichkeit ergibt, weitere, 'nichtkanonische' Texte ebenfalls in die Mystikklassifikation miteinzubeziehen. Zu fragen ist aber auch, was Kanonisierung im Zusammenhang mit Mystik bedeuten soll. Ich schließe an die Überlegungen einiger Beiträge in dem von Aleida und Jan Assmann herausgegebenen Sammelband Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II69 an, wo — paradigmatisch von den Kanones literarischer Texte ausgehend — 'Kanon' allgemein als Phänomen sogenannter 'großer Traditionen' definiert wird. Große Traditionen sind epochen- und ggf. auch kulturenübergreifende Überlieferungen — literarischer, religiöser, rechtlicher, künstlerischer usw. Provenienz — mit starken normativen Implikationen darüber, wie zu denken, zu handeln, zu entscheiden und zu bewerten sei. Ihre transepochale bzw. transkulturelle Invarianz zeigt 54

Fragen des methodischen Zugangs

sich bei näherem Hinsehen freilich nur als eine besondere Form historischer Kontinuität, die bloß in einem sehr relativen Sinn eine sachliche Identität durchhält und prinzipiell genauso wie alle anderen Kulturphänomene dem Fluß des historischen Wandels ausgesetzt ist. Mindestens drei Institutionen garantieren jedoch — nach Assmann — die relative Invarianz und Validität eines Kanons: nämlich 'Textpflege' (die philologische Bewahrung der Textgestalt bzw. des Buchstabens), 'Sinnpflege' (die Bemühung, den Textsinn kohärent verständlich und auf die sich z.T. wandelnden kulturellen Bedürfnisse applizierbar zu halten) und schließlich 'Zensur' (die Abwehr von kritischer Infragestellung und allzu weitgehender Uminterpretation). 70 Der historisch-soziokulturelle Kontext sowie die sachliche Provenienz eines Kanons lassen sehr unterschiedliche Arten und Intensitäten solcher Institutionalisierungen und 'Kanonisierungsstile' (A. Hahn') 71 zu. Für das christliche Mittelalter — für das, wie nochmals zu betonen ist, 'Mystik' noch kein terminus technicus ist — sind diese Institutionen hinsichtlich religiöser und philosophischer Texte klar zu benennen. Ein Kanon beginnt jedoch niemals mit der Erstniederschrift seiner Texte: er ist ein Phänomen der Rezeption und setzt somit das zu Rezipierende voraus, er ist somit ein Phänomen der Traditionsarbeit und Traditionsbildung. Rezeption, Bildung von und Umgang mit Tradition erfolgen im Mittelalter prinzipiell anders als in der Moderne, so daß Kanonisierung im 19. und 20. Jahrhundert unter stark veränderten Bedingungen steht. Th. Luckmann72 macht darauf aufmerksam, daß Kanonisierung zwar gern eine universale Sinngebung beansprucht, aber in der Behauptung eines partialen, bestimmten Wissens — das anderes, 'falsches' und 'minderes' Wissen ausschließt und bekämpft — doch sehr klar Alternativen grundsätzlicher Entscheidung ausformuliert, so daß die Entscheidung für oder gegen einen Kanon meist einen Akt der Konversion oder der dogmatischen Beharrung darstellt. Erst die (als dialektische Einheit zu verstehende) aufklärerisch-fideistische sowie die romantische Ausbildung des Mystikbegriffs ermöglicht es, sich explizit 'für' oder 'gegen' Mystik entscheiden zu können. Die von den 'Archäologen der literarischen Kommunikation' herausgestellten Charakteristika eines Kanons treffen — mit gewissen Einschränkungen — sicherlich auch für den Kanon bzw. die Kanones der mystischen Tradition(en) zu. Innerhalb der von kirchlicher Seite — der vormals einzigen Kanonisierungsinstanz — im Mittelalter kanonisierten Texte sind die Schriften des Dionysius Areopagita, die zwar nicht die Sache, aber zumindest den Namen der 'mystischen Theologie' begründen (die 'Sache' artikuliert sich spätestens schon im Neupiatonismus), als randständig anzusehen: Sie gelten zwar durchaus als verbindlich und werden in ihrem Lehrgehalt nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen, der Rekurs auf sie ist im allgemeinen aber eher beiläufig. Der seinerseits traditionsbegründende Hoheliedkommentar des Bernhard von Clairvaux73 steht wiederum bereits in einer patristischen (und jüdisch-rabbinischen) Tradition, dergemäß die im Hohen Lied des Alten Testaments dargestellte profane Liebesbeziehung in die Liebesbeziehung zwischen Gott und menschlicher Seele transformiert wird. Der kanonische Wert auch dieser Auslegungstradition des Hohen Liedes ist ebenfalls randständig. Eine andere Situation ist bei Meister Eckharts Schriften gegeben. Die päpstliche Verurteilungsbulle In Agro Dominico von 1329 drängt — als Zensurinstanz — die von Eckhart 55

Prolegomena

begründete (oder besser gesagt: intensivierte, propagierte und noch einmal spezifisch akzentuierte) Tradition der 'negativen Theologie' in den kulturellen Untergrund 74 , wo sie in Synthese oder zumindest Nachbarschaft mit Häresien weiterlebt75 und erst in der romantischen Religiosität des 19. Jahrhunderts wieder in die offizielle Kultur zurückkehrt. Wichtiger als diese Mittelalter-Reminiszenzen, die zur Vorgeschichte des (substantivischen) Begriffs Mystik gehören, ist jedoch die europäische Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert. War die 'mystische' oder 'negative' Theologie des Dionysius Areopagita in ihrem eigenen Verständnis (und auch im Verständnis eines Meister Eckhart) keinesfalls ein Gegenprogramm, sondern eine Ergänzung zur 'positiven' Theologie, so versteht der antiaufklärerische Fideismus Mystik als selbständiges, anti-rationales Programm. Nach dem polemisch-aufklärerischen Versuch, die konkreten Inhalte und die Gefühlswelt des Glaubens als Betrug und Unwissenheit zu desavouieren, erfolgt als Reaktion der Versuch einer Desavouierung der Vernunft mit Hilfe des 'übervernünftigen', 'übernatürlichen' Glaubens. Die positiv und eigenständig verstandene 'Mystik', deren Vorstellung nunmehr entsteht und sich etabliert, ist eine der antiaufklärerischen Kampfformeln des Fideismus. Ihr zu Vernunft und vernünftiger Erfahrung — bzw. zu dem, was die Aufklärung darunter versteht76 — konträrer Charakter läßt jedoch als Legitimationsbasis nur die persönliche Offenbarung bzw. das persönliche Glaubenserlebnis zu. Individualität, Privatoffenbarung und Privaterlebnis sind die notwendigen Parameter einer so verstandenen und so sich verstehenden Mystik, und sie werden nun — in Besinnung auf die ältere christliche Frömmigkeitstradition — auf die mittelalterliche Mystik zurückprojiziert. Es ist wichtig zu beachten, daß die 'mittelalterliche Mystik' gewissermaßen das Konstrukt einer bereits aufklärerisch implementierten Rezeptionsepoche darstellt. Was schließlich in diesen antiaufklärerisch-fideistischen Mystikbegriff des weiteren einfließt, ist ein starker charismatischer Zug. Begründer mystischer Sub- und Nebentraditionen wie Jakob Böhme oder Swedenborg institutionalisieren Gemeinden, die sich ihrerseits sehr stark und sehr persönlich auf den jeweiligen Auetor — auch als individuelle Person — beziehen. Die Konnotation von Mystik mit persönlicher übervernünftiger Einsicht — die sich historisch sehr bald von der allgemeinverbindlichen und 'objektiven' Über-Vernünftigkeit der Glaubensüberlieferung emanzipiert — wird hier wesentlich mitgestiftet. Während diese fideistische Mystik des 17. und 18. Jahrhunderts in ihrer Institutionalisierung jedoch auf dem Niveau von Sekten und esoterischen Zirkeln (sowohl außerhalb wie innerhalb der Großkirchen) verbleibt, gerät Mystik im Zuge von deutschem Idealismus und Romantik auf eine neue Ebene der intellektuellen Selbstdarstellung und der Auseinandersetzung mit aufklärerischer Vernunft. Wenn Kant die Mystik noch rein polemisch abhandelt — auch wenn er, wie die Brüder Böhme annehmen, die Vernunftkritik in einer Art sokratischem Wettstreit mit Swedenborg durchgeführt haben mag77 —, so bezieht sich der junge Schelling (in seiner Freiheitsschrift) bereits affirmativ auf Spinoza und Jakob Böhme, auf dessen 'Ur-' und 'Ungrund' der Vernunft, und in der hegelschen Totalkonzeption von Vernunft qua Wirklichkeit ist Mystik dann ausdrücklich nicht mehr Gegensatz, sondern integratives Moment bzw. eine Vorform der absoluten Vernunft selbst. Mystik wird bei Hegel, in-

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Fragen des methodischen Zugangs

dem die Unzulänglichkeit des polemischen Vernunftbegriffs der Aufklärung vorausgesetzt wird, versuchsweise rekonstruktiv von ihren Motiven her — nämlich die Breite und Tiefe der 'ganzen' möglichen Erfahrung auszuloten oder zumindest anzusprechen — rehabilitiert. Allerdings erfährt sie dabei eine — gleichermaßen wohlwollende wie 'rationalisierende' — Uminterpretation, die aber infolge des Scheiterns bzw. der sich durchsetzenden Nichtakzeptanz der hegelschen Totalkonzeption nicht sehr folgenträchtig ist. Doch immerhin wird Mystik so aus dem Status der Subkultur befreit. Der romantische Historismus — mit dem die philologische Neuentdeckung und Aufbereitung mittelalterlicher Texte Hand in Hand geht — ermöglicht dann erstmals eine wirkliche Kanonisierung von Mystik. Diese Kanonisierung ist, wie gesagt, eng an die Rezeptionsgeschichte mystischer Texte und an die Traditionsentwicklung von 'Mystik' — was man darunter versteht und welche soziokulturelle Funktion man ihr zubilligt — gekoppelt. Maßgeblich für die Kanonisierungen ist vor allem die im 19. Jahrhundert beginnende, im 20. Jahrhundert intensivierte Erweiterung des Mystikbegriffs über Konfessionen, Weltanschauungen, Denkformen und Kulturen hinaus, d.h. die Erweiterung vom Ausgangspunkt des katholischen und protestantischen Fideismus auf nichtchristliche, schließlich auch auf nichtreligiöse Bewegungen. Diese Vielfalt führt verständlicherweise zu einer Pluralität affirmativer Berufungen auf Mystik mit unterschiedlicher, z.T. auch völlig fehlender Kompatibilität. Wir haben es am Ende dieser Entwicklung mit einer Mehrzahl von einander neben- und untergeordneten Traditionen und Kanones zu tun, die die gesamte mystische Überlieferung jeweils in bestimmter Weise und unter bestimmten Präferenzen zu sichten unternehmen und das ihnen dabei als wesentlich Erscheinende zu einer mehr oder minder durchgeklärten Gesamtvorstellung von Mystik verdichten. *

Berücksichtigen wir primär die Wirkungsgeschichte, so sind es für das 20. Jahrhundert vor allem zwei Sammlungen von Mystiktexten, die 'kanonisch' Geltung erlangen und deren Editoren einerseits eine weitgehende communis opinio dessen repräsentieren, was innerhalb einer entsprechenden Tradition unter Mystik verstanden wurde bzw. wird, und die andererseits diese Traditionen gefestigt und weiter beeinflußt haben. Es sind dies die Sammlungen Ekstatische Konfessionen von Martin Buber aus dem Jahre 1909 und The Perennial Philosophy von Aldous Huxley aus dem Jahre 1944.78 Bubers Paradigma von Mystik — das er später als pantheistisch verworfen und durch das 'dialogische' Paradigma ersetzt hat79 — zentriert in den Begriffen 'Erlebnis' und 'Ekstase'. Daher klammert er bewußt "alle nichtsubjektiv gehaltene Rede über die Ekstase", "alle Beschreibungen von Visionen nichtsubjektiven Charakters", "alles in scholastischer oder rhetorischer, das ist in mittelbarer Weise Gesagte" und "alle Psychologisierung des Erlebnisses" aus80 und beschränkt sich auf die Wiedergabe sogenannter Erlebnisund Erfahrungstexte aus einer Fülle von Epochen und Weltgegenden: mit dem klassischen und modernen Indien beginnend, über den Sufismus, Plotin, Gnosis, Symeon, die deutsche Mystik des Mittelalters (bezeichnenderweise ohne Berücksichtigung Eckharts),

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Prolegomena

bis hin zur neuzeitlichen spanischen, italienischen und französischen Mystik, zu Laotse und zum Chassidismus. Huxleys Mystik-Paradigma hingegen zentriert, obwohl auch hier der Erlebnischarakter betont wird, in einer populären 'objektiv-idealistischen' Philosophiekonzeption. Mystik qua 'philosophia perennis' umfaßt "die Metaphysik, die hinter der Welt der Dinge, des Lebens und des menschlichen Geistes eine göttliche Wirklichkeit erkennt, die Psychologie, die in der Seele etwas findet, das dieser göttlichen Wirklichkeit ähnlich oder mit ihr sogar identisch ist, die Ethik, die das Endziel des Menschen in der Erkenntnis des immanenten und transzendenten Urgrundes jedes Seins erblickt. "81 Mystik ist nach Huxley eine 'höhere' Erkenntnis, zu der man auf dem Wege körperlicher und geistiger Praktiken methodischen Zugang gewinnen kann. Es gibt sie "seit urdenklicher Zeit, und sie ist universal" 82 . Huxley ordnet seine Texte aus aller Welt und aus sämtlichen Epochen jedoch nicht, wie Buber, nach nationalen Traditionen, sondern — in 27 Kapiteln — nach Motiven (All-Einheit, Urgrund, Inkarnation, Askese usw.) und flicht die Texte in seinen Interpretationstext ein. Sowohl Buber wie Huxley bekunden in ihrer Befassung mit Mystik ein ausdrücklich religiöses Interesse und beschränken sich — freilich in einer überkonfessionellen und außerdem sehr weiten und liberalen Handhabung des Begriffs Religion (der dann z.B. auch die neuplatonische Philosophie inkludiert) — auf religiöse Texte. Was sie in ihre Sammlungen noch nicht aufnehmen (und, so gesehen, noch nicht 'kanonisieren'), sind die für das 20. Jahrhundert nicht minder einflußreichen mystisch inspirierten Texte aus dem Bereich der Literatur und bildenden Kunst83 sowie aus dem Bereich naturwissenschaftlicher Grundlagenreflexion, insbesondere der Physik. 84 *

Einen jüngeren Versuch, ein gegenwärtig weithin anerkanntes, über den 'religiösen Kern' hinausgehendes Mystik-Paradigma zu dokumentieren, stellt der von dem Germanisten Hans Dieter Zimmermann herausgegebene Band Rationalität und Mystik (1981)85 dar. In einem ersten Teil ("Die Aktualität der Mystik", 37 ff.) werden Texte neuerer Autoren — von Mauthner und Landauer, Buber und Kandinsky, Wittgenstein und Heidegger, Kafka und Musil sowie von Werner Heisenberg — versammelt, in einem zweiten Teil ("Die Tradition der Mystik") findet sich eine bunte Palette von älteren Mystiktexten (Plotin, Dionysos < s i c ! > Areopagita86, Hildegard von Bingen, Buch Sohar, Eckhart, Kepler, J. Böhme, Angelus Silesius, J.G. Hamann und E. Bloch). In seinem Vorwort versucht der Herausgeber, durch eine Klärung des Verhältnisses von Rationalität und Mystik seine Zusammenstellung der Texte zu begründen, kommt aber dabei freilich über wenig durchdachte Allgemeinplätze nicht hinaus. 'Die' (näherhin unbestimmt bleibende) Vernunft könne, so Zimmermann, die Gesamtheit der Welterfahrung nicht abdecken, so daß eine 'irrationale' Restgröße der Erfahrung übrig bleibe, die sich — und das ist nun zweifellos ein methodisch mehr als waghalsiger Sprung — als 'unmittelbare Erfahrung des Göttlichen' manifestiere. Wenn sich Zimmermann an die verschliffenen Alltagsbedeutungen von 'Vernunft' und 'Mystik' hält und Irrationalität und

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Fragen des methodischen Zugangs

Göttlichkeit ohne viel Federlesens identifiziert, so wiederholt er damit eine auch heute noch verbreitete populäre Meinung, die vom sachlich zwar richtigen Motiv der Rationalitätskritik ausgeht, deren Möglichkeiten und Grenzen jedoch nicht zureichend durchdenkt, allzu vorschnell die Grenzpfähle der Vernunft aufgerichtet sieht (bzw. diese umgeht) und dahinter, als undifferenzierte 'Transzendenz', auch schon überall das 'Göttliche' erblickt. Es wird nirgendwo herausgearbeitet, daß das 'Göttliche' als eine besondere, nicht als die schlechthinnige Form der Transzendenz, d.h. des über Gewohnheit, Gewißheit und empirische Erfahrung Hinausgehenden, anzusprechen ist. Es wird auch nicht herausgearbeitet, daß bestimmte Momente in der Grundlagenreflexion der modernen Physik nur in einem sehr eingeschränkten Sinn als 'mystisch' zu bezeichnen sind und daß hier im Hinblick auf klassische Mystiktexte wohl besser von Analogien als von Identitäten zu sprechen sein wird. Was Zimmermann jedoch als Verdienst angerechnet werden muß, ist sein prinzipieller Hinweis auf eine lange und verschiedenartige Tradition der Selbst- und Metakritik von Vernunftkonzeptionen, die sich unter die Bezeichnung Mystik subsumieren läßt, und ist sein Hinweis darauf, daß sich diese Tradition zu Beginn des 20. Jahrhundert erneuert und intensiviert hat, indem sie sich auf neue Kulturbereiche wie experimentelle Dichtung, bildende Kunst und postklassische Naturwissenschaft ausweitete. Diese Ausweitung ist in seiner Textsammlung eindrucksvoll dokumentiert. 87 *

Während Buber, Huxley und Zimmermann in je eigener Weise der begriffsgeschichtlichen Ausweitung von 'Mystik' Rechnung tragen, repräsentiert die Sammlung der beiden Theologen G. Ruhbach und J. Sudbrack: Christliche Mystik. Texte aus zwei Jahrtausenden (1989)88 einen Typus von Kanonisierung, der den Gegenstand sowohl gegenüber anderen Religionen als auch gegenüber nichtreligiösen Konzeptionen abzugrenzen sucht und Mystik zum 'Kern' der christlichen Tradition selbst erklärt. Damit steht sie in der Nachfolge klassischer katholischer Anthologien.89 Zwar ist diese Textsammlung überkonfessionell angelegt, dennoch bezieht sie sich primär auf die katholische Tradition, die ihrerseits in dem fünfbändigen Werk von J.J.v. Görres90 einen wichtigen historischen Markstein hat. Görres arbeitete mit der Dichotomie von 'christlicher' und 'dämonischer' Mystik und veranschlagte letztere schlichtweg als ein 'Werk des Satans'. Bei Ruhbach/Sudbrack findet sich diese Abgrenzung abgemildert zur Dichotomie von 'wahrer' und 'falscher' Mystik, wobei die 'wahre' mit der rechtgläubigen 'Gottesmystik' gleichgesetzt wird, während 'falsche' Mystik, die sich nur auf das individuelle Selbst oder den (pantheistisch gefaßten) Kosmos bezieht, als mögliche 'Vorform' der wahren Gottesmystik eine relative Rechtfertigung erfährt. 91 Um einen möglichst umfassenden, die Betonung spezieller Charakteristika vermeidenden und auf alle Frömmigkeitszeugnisse anwendbaren Mystikbegriff zu erhalten, greifen Ruhbach/Sudbrack auf den Begriff der 'kleinen Mystik' bei Therese von Lisieux zurück, die der 'großen Mystik' der Klassiker gegenübergestellt wird. 'Kleine Mystik' ist die das gesamte Denken, Fühlen und Handeln eines gläubigen Menschen durchpulsende 'Gottesbegegnung', die

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Prolegomena

— im Blick auf die Hoffnung des endgültigen Einsseins mit Gott nach dem Tode — eine Dialektik des Bezugs und Entzugs der Seele zu Gott mit einschließt und daher neben einer gesteigerten Glückskonzeption auch eine gesteigerte Leidenskonzeption des Mystikers betont. *

Bubers Insistieren auf dem Erlebnis- und Erfahrungscharakter von Mystik und sein Versuch einer Ausgrenzung jener Denkweisen, die Erlebnis und Erfahrung einer Objektivierung, Verbegrifflichung, Theoretisierung und ggf. auch Relativierung zuführen wollen, erweist sich als problematisch und letztlich nicht durchführbar, weil bei ihm der — im Kontext des 'lebensphilosophischen' Aufbruchs der Jahrhundertwende für so wichtig erachtete — Erlebnis- und Erfahrungsbegriff nicht ausreichend geklärt ist, den er allzu pauschal der Dimension von Theorie und Begriff entgegensetzt. Da Erlebnis/ Erfahrung immer schon theoriebezogen und Theorien immer schon mehr oder minder von Erfahrungs- und Erlebnismotiven durchdrungen sind, stellt die strikte Abgrenzung der beiden Bereiche eine idealtypische Forderung dar, die konkret nicht einzulösen ist. In diesem Zusammenhang ist auch zu fragen, ob die Klassifizierung von Mystiktexten zugleich eine Klassifizierung von Textgattungen darstellt bzw. ob es spezifisch mystische Textgattungen denn überhaupt gibt. Versucht man Mystik auf die Erlebnisdimension in engerem Sinn einzuengen, so wären natürlich Tagebücher, Autobiografien, Briefe und ggf. auch Lyrik als besonders geeignete Gattungen anzusehen, während Gattungen wie Predigt, Traktat und Kommentar nicht zu berücksichtigen wären. Hält man — und dafür sprechen sachliche Gründe — die Grenze zwischen theorie- und erfahrungsbezogenen Texten jedoch für durchlässig und konzediert man, daß Erfahrung immer auch schon theoriebezogen und Theorie immer auch durch Erfahrung motiviert ist, so wird das Bemühen obsolet, Mystiktexte auf eine oder nur wenige literarische Gattungen beschränken zu wollen. Dennoch wird man sogenannten 'Erfahrungsberichten' in der Regel den Vorzug geben, auch wenn zu berücksichtigen ist, daß vieles, was als ganz persönliche Erfahrung und persönliches Erlebnis präsentiert wird, sich bei näherer Betrachtung als literarischer oder rhetorischer Topos herausstellt.92

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2 Charakteristika der mystischen Erfahrung nach dem Zeugnis klassischer Mystiktexte

Welche Charakteristika der mystischen Erfahrung in der Mystikliteratur überhaupt erwähnt, besonders betont oder auch vernachlässigt werden, steht selbstverständlich jeweils im Zusammenhang mit dem dabei vorausgesetzten Mystikbegriff. Komplizierend wirken sich die verschiedentlichen Versuche aus, eine Klassifikation vieler und unterschiedlicher Mystiken vorzunehmen. Die dabei konstruierten Unterbegriffe stellen nämlich oft dermaßen verengte Idealtypen dar, daß sie nur noch auf wenige Personen, Werke und Entwürfe der mystischen Tradition anzuwenden sind.93 Dennoch haben diese systematischen Versuche, das Wesen und die Charakteristika der mystischen Erfahrungen) zu benennen, weitgehend einen identischen Phänomenbereich vor Augen. Um diesen Phänomenbereich und den phänomenologischen — d.h. theorie-skeptischen und Theorie möglichst ausklammernden — Zugriff auf den Bereich geht es jedoch, wenn ich im folgenden die hauptsächlichen Charakteristika der mystischen Erfahrung aus klassisch-mystischen Texten aufzuweisen suche. Ich entnehme die Textbelege vor allem den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts, ergänze sie jedoch durch Parallelaussagen bei anderen klassischen Mystikern wie Dionysius Areopagita, Bernhard von Clairvaux, Margareta Porete, Tauler und Seuse. Doch ist es in erster Linie Eckhart, den ich paradigmatisch als Gewährsmann für Mystik heranziehe. Dabei wird freilich kein umfassendes systematisches Bild der Philosophie oder der Theologie Eckharts gezeichnet. Es geht nicht um einen neuen und eigenen Beitrag zur Eckhartforschung. Es geht — im Interesse einer vorläufigen Proto-Phänomenologie der Mystik — einzig um das Herausstellen jener Themen und Motive, die man im späteren und auch noch im heutigen allgemeinen Verständnis als 'mystisch' einschätzt. Vorerst wird keine Theorie der Mystik und kein vorweg geklärter Mystikbegriff vorausgesetzt, denn dies stellt ja erst das Ziel der Untersuchung dar. Ich wähle Eckhart als Referenzfigur, da er erstens — obwohl es von H.S. Denifle94 bis K. Flasch95 eine Tradition gibt, die diese These bestreitet — weithin als Mustergestalt nicht nur der sogenannten rheinischen oder deutschen96, nicht nur der christlich-mittelalterlichen, sondern der Mystik im allgemeinen gilt. Ich schließe mich dieser — auch innerhalb der Eckhart-Forschung nach wie vor dominierenden 97 — Lehrmeinung an, auch wenn ich den dabei unterstellten Allgemeinbegriff von Mystik vorerst nur heuristisch handhabe.

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Prolegomena

Der zweite Grund, sich an Eckhart zu orientieren, besteht darin, daß sich bei ihm — anders als bei anderen Mystikern — eine genügend breite Palette an mystischen Strukturmotiven findet, die es erlaubt, an einem Autor mehr oder weniger das gesamte Korpus der gängigen Mystik-Indizien aufzuweisen. Freilich sind diese mystischen Elemente nur zum geringsten Teil Eckharts eigene 'Erfindungen'. Er übernimmt sie meist — und belegt dies auch durch eine Fülle von Zitaten — von älteren 'Meistern', etwa von Paulus, Augustin, Dionysius Areopagita, Bernhard von Clairvaux und anderen (die übrigens nicht in allen Fällen namentlich genau zu eruieren sind, denn oft heißt es nur: 'Ein Meister sagt...'). Daß sich Eckharts Denken sehr bewußt in einer (mehrschichtigen) Tradition bewegt und vieles bloß repetiert, ist übrigens kein Einwand dagegen, seine Konzeption als kohärent und als authentisch zu werten. Ein ausdrücklicher und bewußter Traditionsbezug gilt mehr oder minder ja für alle Mystiker, für Eckharts historische Nachfolger genauso wie für seine Vorgänger. So bezieht sich Dionysius Areopagita ausdrücklich auf den Neuplatonismus, und Neuplatoniker wie Plotin und Proklos beziehen sich ebenso ausdrücklich auf Piaton. Für unsere Referenztexte gilt also, daß sie in einer bereits gegebenen mystischen Tradition situiert sind und daß sie sich mehr oder minder explizit auf diese Tradition beziehen, so daß nicht nur das in ihnen zum Ausdruck kommende Denken, sondern auch das Fühlen und die Erfahrung von dieser Tradition mitbestimmt werden. Dennoch kann zwischen Primär- und Sekundärtexten zur Mystik eine relative Unterscheidung getroffen werden, wenn wir die Klassiker selbst sprechen lassen und wenn wir uns um ein Verständnis dieser Texte bemühen, das von der Geschichte ihrer Deutungen und Rekonstruktionen zwar nicht unberührt bleiben kann (denn Verstehen steht immer in einem Überlieferungszusammenhang98) , das diesen Deutungen und Rekonstruktionen aber auch nicht blind folgt, sondern sie kritisch zu hinterfragen sucht. Obwohl also die Charakteristika der mystischen Erfahrung aus Primärtexten gewonnen werden sollen, ist klar, daß der Versuch, einen 'Merkmalskatalog' zu erstellen, von älteren Versuchen dieser Art nicht unbeeinflußt erfolgen kann. Mein Katalog wird sich von anderen Katalogen — wie sie z.B. von William James, Evelyn Underhill, Karl Albert oder Henri van Praag erstellt wurden — zwar unterscheiden, sich teilweise aber auch mit ihnen decken. Die Merkmalskataloge der genannten vier Autoren seien im folgenden kurz referiert. In den Kapiteln XVI und XVII seines Buches The Varieties of Religious Experience (1901/02)" beschreibt William James die Mystik als eine, genauer: als die zentrale Form religiöser Erfahrung, die James in einer besonderen — in ihrer Besonderheit ernstzunehmenden, aber auch kritisierbaren — Region des Bewußtseins ansiedelt. Er geht davon aus, "daß persönliche religiöse Erfahrung ihre Wurzel und ihr Zentrum in mystischen Bewußtseinszuständen hat"100, und schreibt diesen vier formale Merkmale zu: Der mystische Zustand sei erstens unaussprechbar. "Daraus folgt, daß seine Qualität direkt erfahren werden muß; er kann anderen nicht mitgeteilt oder auf sie übertragen werden." 101 Zweitens besitze der mystische Zustand eine bestimmte noetische Qualität, d.h. es handle sich um einen Erkenntniszustand, dem allerdings die Intersubjektivität mangle. Mystik sei autoritativ und verbindlich für das betroffene Individuum, nicht

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

aber für andere Individuen. Sie stelle gewissermaßen eine "Offenbarung durch Anästhesie" dar, deren wesentliche Botschaft "eine monistische Einsicht" sei, "in der das Andere in seinen verschiedenen Gestalten in das Eine absorbiert zu sein scheint". 102 Das dritte Merkmal, das James der mystischen Erfahrung zuschreibt, ist ihre Flüchtigkeit, das vierte Merkmal die wesentliche Passivität bzw. die einseitig rezeptive Haltung des Betroffenen. Neben diesen vier formalen Merkmalen nennt James freilich auch inhaltliche Charakteristika, z.B. Authentizität und Ruhe. James betont nicht zuletzt das erkenntniskritische, skeptische Potential von Mystik. Sie zeige den "Sachverhalt [auf], daß unser normales waches Bewußtsein, das rationale Bewußtsein, wie wir es nennen, nur ein besonderer Typ von Bewußtsein ist, während überall jenseits seiner, von ihm durch den dünnsten Schirm getrennt, mögliche Bewußtseinsformen liegen, die ganz andersartig sind". 103 In ihrem für die Mystikforschung seit langem klassischen Werk Mysticism (1911)104 beschreibt Underhill — sie spielte neben W.R. Inge105 eine bedeutende Rolle in der anglikanischen Erweckungsbewegung — die Charakteristika der mystischen Erfahrung als sinnvoll aufeinander bezogene Momente eines in sich gestuften Entwicklungsprozesses. Auf das 'Erwachen des Selbst' folge dessen 'Reinigung' und daraufhin die 'Erleuchtung', welche durch 'Stimmen und Visionen' in Gang gebracht und begleitet werden könne und zur 'Innenkehr' des Menschen führe. Die Innenkehr äußere sich durch Sammlung, Ruhe und Kontemplation und münde in den Höhepunkt von 'Ekstase und Verzückung'. Diese könne zwar nicht festgehalten und verfügbar gemacht, wohl aber als Erinnerung gepflegt und in ihrer Wiederkehr vorbereitet werden. Der 'dunklen Nacht der Seele', die immer wieder erfahren und ausgestanden werden müsse, korrespondiere das geglückte, von einer umfassenden Liebe getragene 'Leben der Einigung', das "die Vollendung und bewußte Erfüllung dieser vollkommenen Liebe im Hier und Jetzt ist". 106 Das Erreichen einer höchsten, vollkommenen und harmonischen Haltung zum Leben — zum Sein insgesamt — ist nicht nur für Underhill das zentrale Moment der Mystik, sondern auch für einen zeitgenössischen Mystiktheoretiker wie Karl Albert, der in seinem Buch Mystik und Philosophie (1986)107 und in einer Reihe von Aufsätzen die Mystik weniger aus religiösen denn aus philosophischen Quellen und Interessen heraus deutet. Auch er betont, wie Underhill, den 'Weg' der Mystik als einen dynamischen, sinnvoll in sich strukturierten Prozeß, dessen Stufen er jedoch pointierter als Underhill auf den — bei Plotin klassisch formulierten — Dreischritt von katharsis, photismos und henosis (lat. purgatio, illuminatio und unio) bezieht. Albert setzt die mystische Erfahrung mit der 'metaphysischen' (oder 'ontologischen') und überdies mit der ästhetischen Erfahrung in Parallele und nennt in seiner Philosophie der Kunst (1989)108 für diese Parallelmerkmale fünf Punkte. Hauptmerkmal sei die "Erfahrung der Einheit des erkennenden Bewußtseins mit dem erkannten Ganzen des Seienden oder dem Seinsgrund". 109 Das zweite Merkmal bestehe in einer "Erfahrung der Zeitenthobenheit". 110 Drittes Merkmal sei die Plötzlichkeit dieser Erfahrung, die einen radikalen Umschwung in der gesamten Haltung des betreffenden Menschen zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zu den Dingen und zur Welt insgesamt bewirke. Als viertes Merkmal nennt Albert die

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Prolegomena

'Ichlosigkeit', die sich aus der Verschmelzung von Subjekt und Objekt ergebe und aus der Distanzierung gegenüber aller Teilung des einen, identischen Seins in vielfältiges, einzelnes, heterogenes und differentes Seiendes. Fünftes Merkmal sei die 'Ruhe' am Ziel des mystischen Weges. Albert betont nachdrücklich, daß diese Ruhe zwar nur punktuell und nicht ein unveränderlich bleibender Zustand, aber doch ein immer wieder real erreichbares Ziel sei. Damit tritt er Deutungen entgegen, die die mystische Erfahrung harmonischer Seinseinheit als unerreichbaren Traum bzw. als regulative Idee interpretieren. Bezeichnend für Alberts akzentuiert intellektualistische und harmonistische Darstellung der Mystik — deren Sachgehalt er mit dem der Philosophie im wesentlichen gleichsetzt — ist allerdings, daß die Motive der Leidens-, Schmerz- und Todesmystik darin systematisch keinen Platz haben. In seiner populär gehaltenen Schrift De acht Wegen der Mystiek (1986)111 zählt Henri van Praag acht Merkmale von Mystik auf: 1. das Schweigen, das aus dem Bewußtsein "um die Relativität aller Worte" 112 resultiere; 2. das Nicht-Tun, das den "Übergang in einen neuen Zustand"113 bewirke; 3. die Einheit, die den Zusammenhang und die innere Verwandtschaft der als Vielfalt begegnenden Wirklichkeit garantiere; 4. die Liebe, die Zusammenhang und Einheit trage und vermittle; 5. die Einsicht bzw. Erleuchtung; 6. die Freude bzw. das Vollkommenheits- und Harmoniegefiihl, das sich aus der Liebe und dem Einheitsbewußtsein ergebe. Als siebtes und achtes Merkmal nennt van Praag Tiefe und Raum. Mit 'Tiefe' umschreibt er das Moment der Verborgenheit des Eigentlichen, den Geheimnischarakter der Wirklichkeit, und mit 'Raum' das Bewußtsein von 'Heimat' und Authentizität. *

Die referierten Merkmalskataloge mystischer Erfahrung verdanken sich zwar empirischen Bemühungen — sie wurden gleichermaßen aus älteren Texten wie aus jüngeren Erfahrungsberichten extrahiert —, in ihnen ist jedoch (wie manchmal schon in den Referenztexten selbst) eine Theoriekonzeption über Mystik leitend, die für Auswahl, Gewichtung und Deutung der einzelnen Merkmale ausschlaggebend ist. Wenn ich bei meinem eigenen Bemühen, einen Merkmalskatalog zu erstellen, Meister Eckhart als hauptsächlichen Referenzautor wähle, so ist zu beachten, daß bei ihm — wie in der mittelalterlichen Mystik insgesamt — die Wirklichkeitserfahrung unter den Parametern und in der Terminologie christlicher Theologie und scholastischer Philosophie formuliert wird. Die Vorstellung 'Gott' bedeutet hier den Inbegriff von Realität, und Gottes Verhältnis zur 'Seele' wird nach dem Prinzip der analogia entis und der similitudo et dissimilitudo gedacht. Substituiert man den Begriff 'Gott' (deus) durch den weniger religiös konnotierten Begriff 'Sein' (esse) — was Eckhart übrigens selbst, damit ganz in der scholastischen Orthodoxie stehend, des öfteren vorführt, indem er beide Begriffe gleichsetzt114 —, so läßt sich hier ein Typus von Erfahrung rekonstruieren, der nicht zwangsläufig nur theistisch, sondern auch in nicht-theistischer Gestalt denk- und deutbar ist. Solch atheistische (oder, wenn man will, nontheistische) Mystikkonzeptionen hat nicht nur bereits die indische Philosophie hervorgebracht, sondern auch — und zwar mit aus-

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

drücklicher Bezugnahme gerade auf Eckhart — die Mystik der neueren Moderne, wie sie von Mauthner, Landauer und Musil repräsentiert wird. Mein Merkmalskatalog soll also sowohl auf theistische wie auf atheistische Mystikformen anwendbar sein. Ginge man von einer Ausschließlichkeit der theistischen bzw. der christlichen Mystik aus, stünden selbstverständlich andere Vorstellungen und Begriffe als die nachfolgend herauszuarbeitenden im Mittelpunkt: so z.B. das Erlösungsmotiv oder die Lichtmetaphysik oder die in der menschlichen Seele stattfindende 'Gottesgeburt', die für eine immanente Eckhart-Interpretation ganz zentral sein muß. Davon wird im folgenden nur am Rande die Rede sein. Stattdessen versuche ich die — nach Möglichkeit transkulturell verallgemeinerbare — Erfahrungsseite der betreffenden Texte so pointiert wie möglich herauszustellen.115 Freilich gibt es große Schwierigkeiten, den Begriff der Erfahrung adäquat zu denken. Offenkundig ist Erfahrung nicht auf Erlebnis zu reduzieren, und offenkundig handelt es sich bei Wahrnehmung und Erfahrung — auch wenn sie eigens Gegenstand begrifflich-theoretischen Denkens werden können — von allem Anfang an um ein komplexes Ineinander von Fühlen und Denken sowie von Tatsachenfeststellung und Interpretation. Deshalb ist mystische Erfahrung nicht auf ein bestimmtes literarisches Genre wie z.B. den 'unmittelbaren Erfahrungsbericht' beschränkt, sondern kann sich in unterschiedlichen Textgattungen ausdrücken. Und daher ist auch die — von Irene Behn getroffene — Unterscheidung von 'mystisch', 'mystologisch' und 'mystagogisch' 116 nicht lückenlos durchzuführen. Wenn wir bei Eckhart also — im Gegensatz zu berühmten Zeugnissen anderer Mystiker, etwa seines Schülers Seuse oder auch Mechthilds von Magdeburg — nicht (stilisierte) Erlebnisberichte vorfinden, sondern (zumeist in belehrender Absicht verfaßte) Predigten und Traktate, so bedeutet dies keinen triftigen Einwand gegen die Erlebnis- und Erfahrungsqualität solcher Texte. Man kann nämlich davon ausgehen, daß den 'theorielastigen', den belehrenden und erklärenden mystischen Texten die gleiche Erfahrung zugrunde liegt, die auch in sogenannten 'reinen' Erfahrungstexten — sofern sich von solchen überhaupt sinnvoll sprechen läßt — vorliegt. *

Die nachfolgend angeführten Eckhart-Zitate beziehen sich auf die von Nikiaus Largier herausgegebene zweibändige doppelsprachige Ausgabe ( = Werke IUI), die sämtliche deutschen Predigten und Traktate Eckharts sowie eine kleinere Auswahl seiner lateinischen Werke enthält.117 Die Textgestalt dieser Ausgabe ist mit jener der großen Eckhart-Edition bei Kohlhammer (Stuttgart 1936 ff.) identisch. Largier verwendet die von Josef Quint, dem Herausgeber der Deutschen Werke (DW), vorgenommene Numerierung der Predigten. 118 Diese werden im folgenden mit 'Pr.' und der entsprechenden Nummer, die Traktate Reden der Unterweisung und Das Buch der göttlichen Tröstung werden mit 'RdU' und 'BgT' abgekürzt, die — nicht numerierte, weil dem Liber Benedicts angefügte — Predigt Vom edlen Menschen mit 'VeM'. Angegeben werden stets Band, Seiten- und Zeilenzahl der Largier-Ausgabe (also z.B. 'Pr. 1, 1/10, 1-3' = Predigt 1, Band I, S. 10, Zeilen 1-3). Dionysius Areopagita wird zitiert nach: Mystische

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Prolegomena

Theologie und andere Schriften, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von W. Tritsch, München 1956. Das darüber hinaus ergänzende Illustrationsmaterial aus den Texten anderer mittelalterlicher Mystiker entnehme ich der Sammlung Christliche Mystik. Texte aus zwei Jahrtausenden, herausgegeben von G. Ruhbach und J. Sudbrack. 119 Die Zitatquellen werden im fortlaufenden Text ausgewiesen. Dionysius Areopagita wird mit 'D', der Sammelband von Ruhbach/Sudbrack mit 'RS' zitiert. Die Mystikeraussagen, die ich anführen werde, beschränken sich auf Beispiele aus der christlich-mittelalterlichen Mystik. Sie könnten freilich — zeitlich und räumlich — beliebig vermehrt werden. Doch geht es im folgenden nicht um eine Anhäufung von Material (das sich in den einschlägigen Sammelbänden zur Mystik ohnehin zur Genüge finden läßt), sondern um ein Aufsuchen der allgemeinsten und augenfälligsten Charakteristika. Spätere — neuzeitliche und moderne — Mystiktexte weisen im großen und ganzen keine anderen Charakteristika auf als die mittelalterlichen. Daher verzichte ich darauf, sie als zusätzliche Belege anzuführen.

2.1

All-Einheit und Ich-Entgrenzung

Das am öftesten genannte und von den meisten Autoren, die über Mystik geschrieben haben, in den Vordergrund gestellte Moment mystischer Erfahrung und mystischer Vorstellungen ist die Erfahrung der All-Einheit, die mit einer Entgrenzung bzw. Auflösung des Ich, das bis dahin der Welt bzw. Gott als seinem Anderen und Nichtidentischen gegenübergestanden hat, verbunden ist. Seit dem 6. Jahrhundert ist hiefür im christlichen Bereich der Ausdruck unio mystica geläufig, der dem im Neuplatonismus verwendeten Ausdruck henosis entspricht. Plotin, Proklos, Dionysius Areopagita und — in deren Nachfolge — Eckhart verstehen diese Einheit jedoch nicht statisch, sondern als einen dynamischen Prozeß, als den Akt und Vollzug einer 'Einung' zwischen menschlichem (partialem) und göttlichem (totalem) 'Geist'. Indem die Einheit des Wirklichen erkannt wird, realisiert sie sich als aktuale und offenkundige Einheit und ist nicht mehr, wie vorher, bloß eine potentiale und verborgene. Das Erkennen der Einheit ist somit eine ontologische Größe, d.h. ein Moment, das den Realitätsprozeß selbst weitertreibt und ihn zur Vollendung hinführt. Zwar 'ist' die Einheit potential immer schon gegeben, sie 'wird' aber erst durch dieses konkrete, individuelle Da-Sein eines bestimmten Menschen, der als 'transcendens' nicht einfach bleibt, was er ist, sondern der — in irgendeiner Weise immer —- handelt, sich so oder so verhält und sich sowie seine ihn umgebende Wirklichkeit dadurch verändert. In diesem Handeln und Sichverhalten kann sich der Mensch in seinem 'Wesen' gewinnen oder verfehlen. Maßstab dafür sind Gefühl und Überzeugung, nunmehr 'er selbst' — identisch und authentisch — zu sein. Es handelt sich dabei freilich nicht einzig um einen Wechsel der theoretischen Perspektive, sondern um das Gewinnen einer alle Kräfte des Menschen und somit auch das Empfinden der Sinne und des Körpers miteinschließenden Haltung zur Wirklichkeit. Für das Gewinnen dieser Haltung gibt es methodische Hilfen, die für die Einheitserfah-

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

rung aber weder notwendige noch hinreichende Bedingungen darstellen. Die Einheit kann ziemlich unvermittelt erfahren werden, sie kann den Menschen unvorbereitet 'überfallen' und 'überwältigen', sie ist aber auch nicht — mit welchen Mitteln immer — erzwingbar. Sie ist — als punktuelles Moment im zwar teilweise planbaren und beeinflußbaren, letztlich aber immer auch stochastischen, unvorhersehbaren Prozeß des menschlichen Da-Seins — ein kontingentes Ereignis, das sich der 'Gnade' von Seiten des unverfügbaren Schicksals verdankt. In der Perspektive der monotheistischen Hochreligionen — Judentum, Christentum und Islam haben sehr prägnante und weitgehend auch einander ähnliche Formen von Mystik ausgebildet120 — ist dieses 'unverfügbare Schicksal' der Ratschluß Gottes. Und Gott ist in diesen Religionen, weil er die Realität als solche ja erst erschaffen hat, immer auch das 'erste' und 'letzte', das 'höchste' und 'tiefste' Realitätsprinzip. Wird Religion in Philosophie, wird somit Mythologie in Ontologie transformiert — was im Lauf der Religions- und Philosophiegeschichte in unterschiedlicher Form und unterschiedlicher Intensität geschieht —, kommt es zu einer zunehmenden Assimilation von Seinsund Gottesbegriff. Je mehr der eine Gott — und das geschieht im Philosophisch-Werden der monotheistischen Religion — für alles zuständig und verantwortlich ist, umso mehr verklammert sich sein Begriff mit dem allgemeinsten und abstraktesten aller denkbaren Begriffe, dem des Seins. Der philosophisch elaborierte Seinsbegriff meint aber nicht mehr bloßes Da-Sein, das Vorhandensein unter anderem, also die schlichte Existenzbehauptung eines 'es gibt unter anderem', sondern meint Alles-Sein (Totalität) und Wesentlich-Sein (Qualität, Essenz). Solcherart tendiert das Philosophisch-Werden der monotheistischen Religionen zweifellos zu pantheistischen Konzeptionen. In ihnen wird nicht nur das menschliche Ich, sondern schlechthin alles Seiende vergöttlicht — was rein logisch natürlich zur Aufhebung des Gottesbegriffs führt. (Auch der Seinsbegriff hebt sich selber auf, wird er aller konkreten Bestimmungen und d.h. Unterscheidungen entkleidet. Hegel kann in diesem Sinn die Selbigkeit von reinem Sein und reinem Nichts behaupten. 121 ) Ein Begriff, dem kein anderer Begriff mehr ergänzend oder kontrastiv gegenübersteht, 'begreift' kein Feststellbares mehr, er wird 'ungriffig' und verliert, durch solch dysfunktional gewordenen Sprachgebrauch, seine Bedeutung, die per definitionem ja immer die Bedeutung von etwas Bestimmtem, von Anderem Unterschiedenem ist. Der entgrenzte Gottesbegriff taugt nur noch für ein Sprachspiel, das sich vornimmt, eine grandiose Tautologie ins Gedächtnis zu rufen, nämlich den Satz: Alles, was ist, ist eins. Dieses tautologische Sprachspiel kann, funktional eingebettet in eine Lebensform, vermutlich durchaus legitim sein, aber es ist klar, daß die — tautologisch gewordenen — Begriffe in ihrem früheren Verständnis noch heterogene Bedeutungen hatten. Erst im Prozeß eines bestimmten Denkens haben sie ihre Bedeutung geändert und wurden zur Tautologie. Die mystische Rede, die über mystische Erfahrung — beschreibend und reflektierend — spricht, stellt nun einen derartigen Transformationsprozeß dar, in dem vormals Heterogenes — das partiale menschliche Ich und die als 'Welt' oder als 'Gott' bezeichnete Gesamtheit der Realität — seine Bedeutungen ändert, indem es zuletzt als 'dasselbe' erscheint.

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Prolegomena

In der Predigt 5b beschreibt Eckhart die Aufhebung des Gegenüber von in sich selbständigem Gott und in sich selbständigem Menschen und ihre 'Einung' im Gestus einer mystagogischen Forderung: "Ganc din selbes alzemäle üz durch got, sö gät got alzemäle sin selbes üz durch dich. Da disiu zwei üzgänt, swaz da blibet, daz ist ein einvaltigez ein." (Pr. 5b, 1/72, 14-16) Der 'aus sich selbst herausgehende', die Einung vollziehende und die Einung selbst darstellende Gott wird bei Eckhart an einigen Stellen als Gottheit bezeichnet, doch Eckhart hält diese terminologische Scheidung von Gott versus Gottheit nicht konsequent durch. Wenn es in der 6. Predigt heißt: "Got und ich wir sin ein" (Pr. 6, 1/ 86, 7), so ist hier 'Gott' in der Bedeutung von 'Gottheit' gemeint. Die Einheit der unio wird als radikale Identität gedacht, als konkrete Selbigkeit und nicht nur als abstrakte Gleichheit von Vergleichbarem, aber unterschiedlich Bleibendem: "In dem innersten quelle da quille ich üz in dem heiligen geiste, da ist ein leben und ein wesen und ein werk. Allez, waz got würket, daz ist ein; dar umbe gebirt er mich sinen sun äne allen underscheit." (Pr. 6, 1/82 f., 31-2) Und weiter heißt es im angeführten Text: "Also wirde ich gewandelt in in, daz er würket mich sin wesen ein, unglich; bi dem lebenden gote, sö ist daz war, daz kein underscheit enist." (Pr. 6, 1/84, 17-20) Was in diesem Text geleugnet wird, was sich entweder als grundsätzlicher, die Wahrheit verstellender Schein oder zumindest als frühes, nunmehr überwundenes Stadium im Entwicklungsprozeß der Erfahrung darstellt, ist der 'Unterschied' von Ich und Gott. Die Nichtung und Aufhebung dieses Unterschieds veranschaulicht Eckhart im Bild von der 'Gottesgeburt in der Seele'. Die Seele bzw. die Vernunft — Eckhart verwendet den Vernunftbegriff unterschiedlich: einmal als eingeschränktes und begrenztes, dann wieder als umfassendes und unbegrenztes Denk- und Wahrnehmungsvermögen — hat in ihrem 'Fünklein' ein Dispositiv zum Vollzug der unio. Dieser göttliche 'Funke' kann 'entzündet', d.h. aktualisiert und entfaltet werden. Dann wird er zum 'Licht' und zum 'Feuer' der Gotteserkenntnis als Einung. Der Metaphorik von Funken, Feuer und Licht entspricht inhaltlich die vorhin angeführte Metaphorik von Fruchtbarkeit, Zeugen und Gebären. In der Gottesgeburt wird der Unterschied von Ich und Gott dadurch 'durchbrochen', daß Gott den Menschen — paradox genug — als sich (nämlich Gott) selber, 'gebiert', das heißt: phänomenal ausweist und begrifflich festlegt. In der 29. Predigt beschreibt Eckhart die göttliche Einheit als Abgrund und spricht von der "abgründicheit götlichen wesens und götlicher natüre" (Pr. 29, 1/332, 16-17). Gott ist der Abgrund der Vernunft und deren Geheimnis (mysterium). Der Abgrund bezeichnet das Scheitern des gewohnten — eingeschränkten — Denkens, das am Unterschied von Ich und Gott festhält. Aber: "'Ego', daz wort 'ich', enist nieman eigen dan gote aleine in siner einicheit." (Pr. 28, 1/322 f., 32-1). In der Einung hat nur Gottes Ich, nicht aber mehr das menschliche Ich Platz: "In gote enist niht wan ein, und ein ist unteilich, und der iht nimet wan ein, daz ist teil und niht ein." (Pr. 62, 1/656, 7-8) "Ez ist ein in im selben, daz üzerhalp im selben niht ennimet." (Pr. 29, 1/334, 24-25) Von Gott heißt es im Buch der göttlichen Tröstung, "daz er daz lüter ein ist sunder alle zuovallende menge underscheides" (BgT, 11/300, 11-12). Auf die (vordergründige) Widersprüchlichkeit, die Metaphorizität und Paradoxalität dieser Aussagen will ich vorerst nicht näher eingehen. Das Problem der sprachlichen

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

Vermittlung mystischen Denkens erfährt seine Schärfe offensichtlich dadurch, daß ein die Erfahrung qualitativ verwandelnder Erfahrungspraze/J beschrieben wird, wobei die Beschreibung sich vermutlich deshalb nicht an eine durchgängig gleichbleibende und ohne weiteres objektivierbare Terminologie hält, weil sie selbstreferentiell ist und zwischen der Thematisierung von partialem Ich und dessen Entgrenzung in die All-Einheit (die genaugenommen ein Unbegrijf bzw. ein Grenzbegriff des selbstreferentiellen Denkens ist) oszilliert. Ich und Gott, nach dem 'Durchbrechen' ihres Unterschieds tautologisch geworden, sind in der mystischen Erfahrung, deren Rede die alten Ausdrücke ja nach wie vor verwendet, reversibel: "Sol aber ich also got bekennen ane mittel, so muos vil bi ich er werden vnd er ich werden. Me sprich ich: Got mvos vil bi ich werden vnd ich vil bi got, alse gar ein, das dis 'er' vnd dis 'ich' Ein 'ist' werdent vnd sint vnd in der istikeit ewiklich ein werk wirkent." (Pr. 83, 11/194, 9-13) In der 10. Predigt heißt es: "Diu näheit gotes und der sele diu enhät keinen underscheit in der wärheit. Daz selbe bekantnisse, da sich got selben inne bekennet, daz ist eines ieglichen abegescheidenen geistes bekantnisse und kein anderz." (Pr. 10,1/118, 12-15) Wovon sich der Geist bzw. die Seele 'loslösen' soll, ist das gewohnte, eingeschränkte Denken, das dem Unterschied von Ich und Gott verpflichtet ist, aber auch dem Unterschied von jeglichem Unterscheidbaren: dem Unterschied von Mensch und Ding, von Gott und Ding, schließlich auch der Dinge — also des vereinzelt Seienden — untereinander. Solches Losgelöstsein, das frei macht für die Erfahrung der All-Einheit, nennt Eckhart Abgeschiedenheit, und er betont, "wie gar abegescheiden diu sele muoz sin, diu ze der einunge komen wil" (Pr. 73,11/96, 1-3). "Diu sele wirt geliutert in dem lichamen dar umbe", heißt es in der Predigt 8, "daz si samene, daz zerspreitet ist und üzgetragen. [...] Dar ane liget der sele lüterkeit, daz si geliutert ist von einem lebene, daz geteilet ist, und tritet in ein leben, daz vereinet ist. [...] Swenne diu sele kumet in daz lieht der vernünfticheit, sö enweiz si niht widersatzunge." (Pr. 8,1/102, 17-28) Abgeschiedenheit, Lauterkeit und Einssein sind eine Verneinung jener Verneinung, die sich in und vermittels der Kreatürlichkeit als solcher ausdrückt: "Ein ist ein versagen des versagennes. Alle creatüren hänt ein versagen an in selben; einiu versaget, daz si diu ander niht ensi." (Pr. 21, 1/248, 9-11) 'Kreatur' heißt: (geschaffenes) einzelnes Seiendes. Und 'Verneinung' heißt hier: Beschränkung auf ein Bestimmtes, also auf eine Nicht-Totalität. Das aber ist auch der Sinn des Terminus 'Unterscheidung' (nämlich: von Einzelnem untereinander, das auch in Summe niemals das Ganze, die Einheit, ergeben kann, da eine abschließbare Summe stets noch einem denkbar größeren, nicht einholbaren Ganzen gegenübergestellt werden kann). Verneinen und Unterscheiden bedeuten Partialität und — da nur das Ganze, das All-Eine authentisch ist — verfehlte Authentizität. Um dieses unendliche, von der Position einer bestimmten Vorstellung aus niemals einholbare Ganze dennoch einzuholen, ist offensichtlich ein intellektueller Gewaltakt selbstreferentieller Setzung notwendig. Dieser Gewaltakt ist die radikale Identitätsbehauptung von Ich und Gott, wobei Gott und Sein bei Eckhart von vornherein dasselbe sind: Esse est deus ist eine Grundformel seiner Philosophie122, die er im Deutschen mit Übersetzungen wie "Gotes eigenschaft ist wesen" (Pr. 8, 1/98, 25) wiedergibt. Gott ist

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Prolegomena

"die weseliche isticheit nach einvaltiger einicheit äne einigen underscheit" (Pr. 1,1/20, 3334). Gott bzw. die Gottheit in dieser Weise zu 'erkennen' und selbst Gott bzw. die Gottheit in dieser Weise zu 'werden' (wobei hier die Qualität eines solchen Erkennens und Werdens noch nicht zu diskutieren ist), erfordert eine Abkehr vom Ich des Menschen als einer selbständigen Größe, als eines Anderen zu Gott. "Swer in alsus zemäle enpfähensol, dermuoz zemäle sich selben ergeben hän und sin selbes üzgegangen sin." (Pr. 4, 1/54, 3-5) Und "sol diu sele got bekennen, sö muoz si ir selber vergezzen und muoz sich selber Verliesen; wan bekente si sich selber, sö enbekente si got niht." (Pr. 68, II/ 38, 14-16) Hat aber die Seele "gewäget ze nihte ze werdenne" (Pr. 1, 1/18, 7), so "enweiz [sie] niht wan umbe ein, si ist obe bilde" (Pr. 72, 11/82, 28). Das 'abgeschiedene', 'lautere' Erkennen Gottes ist somit ein Erkennen anderer Qualität als das Erkennen des 'Unterschieds', der 'Vielheit', des 'Kreatürlichen' und der 'Bilder'. Dieses 'bildlose' und 'einfältige' Erkennen ist, unter den Bedingungen des 'Unterschieds', ein Nicht-Erkennen, eine Aufliebung von Erkenntnis (wenn man darunter Unterscheiden, Feststellen und Kategorialisieren versteht), es ist zugleich aber auch das Wahrnehmen und Gewißwerden einer in sich nicht-unterschiedenen, transkategorialen Wirklichkeit. Diese 'andere' Wirklichkeit, die Wirklichkeit der All-Einheit und des aufgehobenen, entgrenzten Ich, wird von Eckhart — ganz im Sinn der (neu-)platonischen Metaphysik, der er in seinem Denken weitgehend verpflichtet ist — als die 'eigentliche', 'höhere', 'wahre', 'ewige' und 'göttliche' Wirklichkeit verstanden, die hinter der vordergründigen, vielgestaltigen, scheinbaren, kreatürlichen und vergänglichen Wirklichkeit steht, freilich mit dieser vermittelt ist und in ihr aufblitzt. Eckhart vertritt keineswegs eine weltflüchtige, welt-abwertende Haltung, er sieht 'diese' Welt — und auch den menschlichen Körper (cf. Pr. 8, 1/102, 17-20) — durchaus als notwendigen und sinnvollen Durchgang für das menschliche Dasein, um die 'Läuterung' zu vollbringen. Doch ist es für ihn eben — dem christlichen Gedanken vom 'Pilgerdasein auf Erden 1 entsprechend — ein Durchgang, in dem es allenfalls einen Vorgeschmack auf die ewige Heimat im Jenseits geben kann. Daher ist die eckhartsche Mystik, wenngleich in verhältnismäßig milder Form, der mittelalterlichen und insbesondere der neuplatonischen Metaphysik verpflichtet und in diesem Zusammenhang auch dem Theismus dieser Metaphysik und des mit ihm historisch verschmolzenen christlichen Glaubens. Der bei Eckhart ausgesprochene mystische Einheitsgedanke ist radikaler als der kosmos- und archi-Gedanke der griechischen Philosophie, bei dem es um die objektive Einheit einer Welt und einer Weltordnung bzw. um das Einheitsprinzip von hyle oder morphe der Wirklichkeit geht. Der qualitative Unterschied liegt in der Beachtung des 'subjektiven Faktors', die Eckhart vornimmt, genauer gesagt: in seiner Beachtung der selbstreferentiellen Struktur des auf eine 'letzte' Einheit zielenden Denkens. Es geht hier nicht um die Frage, ob Eckhart das Problem der Selbstreferentialität befriedigend gedacht und gelöst hat, sondern nur darum, daß er es thematisiert, und darum, daß eine solche Thematisierung im älteren griechischen Denken eben noch nicht in Angriff genommen wurde. Erst die christliche Spätantike lenkt den Blick auf die unhintergehbare Individualität und Subjektivität des Denkens, und erst Stoizismus und Neuplatonismus stellen das Problem der philosophischen Vermittlung dieser Subjektivität zur Ge-

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

samtheit der objektiven Wirklichkeit. Dabei verschränken sich Einheitsewor/o« und EinheitsSpekulation, wobei die Verschränkung freilich nicht immer bruchlos gelingt. Emotive und argumentative Denk- und Sprechakte stehen oftmals verselbständigt nebeneinander. *

In seiner Mystischen

Theologie

beginnt Dionysius

Areopagita

mit einer 'Anrufung'

Gottes und wendet sich anschließend an seinen (fiktiven) Schüler Timotheus: "Du aber, ο mein geliebter Timotheus, lasse nicht davon ab, dich in mystischer Schau zu üben, entsage den Künsten des Verstandes, tue ab von dir, was immer noch den Sinnen oder der Klugheit verhaftet ist, befreie dich vollkommen von allem Sein oder Nichtsein, und erhebe dich, wenn du es kannst, bis zur Höhe des Nichts-mehr-unterscheidens, über das All hinaus, bis dicht an die Schwelle des Verschmelzens mit Dem, der über jedem Wesen und über jedes Wissen ist. Denn erst wenn du dich von allem ganz entäußert hast, vornehmlich aber von dir selbst, unaufhaltsam und absolut, und ohne jeden Rest leer bist, erst dann wirst du dich in reinster Ekstase bis zu jenem dunkelsten Strahl erheben können, der aus der Urgottheit vor aller Erschaffung kam, jenseits von aller Welt und jenseits von allem Sein, entblößt auch noch von dem, was jedes und dich selbst erst zum Wesen macht." (D, 161 f.)

Trotz aller theologischen und philosophischen Bildungsrequisiten, die in diesem Text aufscheinen, ist sein Grundton emotional und bezieht er sich auf eine (wie auch immer durch theoretische Vorstellungen vermittelte) subjektive Erfahrung.

Die hier angespro-

chene Einheit von Gott, Mensch und aller Wirklichkeit versucht Dionysius jedoch auch in weitaus abstrakterer Weise zu erläutern, die stark ent-emotionalisiert anmutet. So heißt es an einer anderen Stelle: "Das 'Eine' wird Gott genannt, weil Er kraft Seines allüberragenden Vorzuges der eigenen Ur-Einheit auf allumfassend einzigartige Weise Eins und Alles ist und weil Er ohne je aus dem Einen herauszutreten die Ursache von allem bleibt, was es überhaupt geben kann. Nichts von allen Dingen wird jemals ohne Anteil an dem Einen. Und so wie jede Zahl an der Einheit der Zahlenreihe Anteil erhält, und so wie wir von einer Zweizahl, einer Zehnzahl, einem Halben, einem Drittel und einem Zehntel sprechen, immer im Hinblick auf die zugrundegelegte Maßeinheit, ebenso hat das Weltganze und jedes Teilchen des Weltganzen stets Anteil an dem Einen, dem Allurheber, und alles ist ins Sein erhoben, nur dadurch, daß das Eine ist. Doch ist dieses Eine nicht bloß, wie eine allem gemeinsame Maßeinheit, Ursache von allem: dieses Einzig-Eine ist nicht eines aus vielen. Es ist vielmehr vor jeder Einheit und vor jeder Vielheit, es hält und umfaßt und begrenzt jede Einheit und jede Vielheit." (D, 153)

Hier bemüht sich Dionysius in argumentativer Weise, eine letzte, über allen anderen Kategorien stehende und sie umfassende Kategorie zu denken — eine Kategorie, die notwendigerweise eine (nur noch im Singular zu denkende) 'Einheit höherer Ordnung' gegenüber der (im Plural zu denkenden) 'Einheit niederer Ordnung' darstellen muß. Der für die Mystik entscheidende Punkt ist nicht, daß ein solch schlechthinniger Transzendenzbegriff gedacht werden kann (denn trotz seiner Denkbarkeit kann er emotional 71

Prolegomena

und existentiell unverbindlich bleiben). Entscheidend ist, daß diese schlechthinnige Transzendenz alles kategorial Denk- und Wahrnehmbaren als eine den Menschen überwältigende und verwandelnde Erfahrung dargestellt wird. Johannes Tauler bezeichnet diese Verwandlung als 'Kehr' und meint, sie werde nur durch die schlechthinnige Transzendenz selbst bewirkt (es handle sich also, anders formuliert, um ein ontologisches Geschehen: durch die 'Kehr' komme die 'eigentliche' Wirklichkeit zu sich selbst, in ihr eigenes Wesen). Diese Wirklichkeit sei der "göttliche Abgrund allein in all seiner Unermeßlichkeit. Denn dieser ist weit jenseits aller Maße in göttlicher Unermeßlichkeit. In ihm versinkt der geläuterte, verklärte Geist in die göttliche Finsternis, in ein stilles Schweigen und in ein unbegreifliches und unaussagbares Vereinen. In diesem Versinken geht alles Gleich-Sein und Ungleich-Sein verloren. Und in diesem Abgrund verliert der Geist sich selbst und weiß weder von Gott noch von sich selbst, weder von Gleich-Sein noch von Ungleich-Sein, noch überhaupt irgend etwas von irgend etwas; denn er ist versunken in Gottes Einheit und hat alle Unterschiede verloren." (RS, 212 f.)

In diesem — pastoral orientierten — Text von Tauler kommt die emotionale Komponente der Mystik stärker zum Tragen als bei Dionysius. Wer sich auf die TranszendenzBewegung — den 'mystischen Weg' — einläßt, der läßt sich auf einen entscheidenden Perspektivenwechsel in der theoretischen Betrachtung der Realität, aber auch in der emotionalen und existentiellen Haltung zur Realität ein. Der primäre Akt auf dem mystischen Weg besteht in der Relativierung, der Entgrenzung bzw. Auflösung des Ich. In den folgenden Kapiteln behandle ich — indem wiederum in der Hauptsache Textstellen aus Eckharts Predigten heranzuziehen sind — die mit All-Einheit und Ich-Entgrenzung verknüpften weiteren Momente der mystischen Erfahrung.

2.2 Transkategorialität: Negation von Zahl, Vielheit, Gegenständlichkeit, Raum, Zeit und Kausalität In der Predigt Vom edlen Menschen sagt Eckhart: "Ouch meinet daz wort, sö man sprichet mensche, etwaz, daz über natüre ist, über zit ist und über allez daz, daz ze der zit < ist > geneiget oder nach zit smacket, und daz selbe spriche ich ouch von stat und von liphafticheit." (VeM, 11/326, 6-10) Menschsein bedeutet also ein 'Etwas' jenseits von Natur, Zeit, Zeitverbundenem, Raum und Körperlichkeit. Dieses 'Etwas' im Menschen ist das 'Fünklein', die Disposition zur unio. Wird diese Disposition entfaltet — und man kann diese Entfaltung zwar nicht schlechthin planen und herbeiführen, wohl aber vorbereiten und unterstützen —, so geht das mit einer Negation der grundlegenden Kategorien einher: Gegenständlichkeit und Kausalität, Zahl und Vielheit, Raum und Zeit. Dabei wird in mystischen Erlebnistexten der Verlust dieser Kategorien primär als Verlust des auf diese Kategorien bezogenen Realitätsgefühls beschrieben, das einem qualitativ anderen Realitätsgefühl Platz macht. (Psychologisch ist von 'anderen Bewußt-

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

seinszuständen' zu reden.) In spekulativ orientierten Texten — die jedoch, in freilich unterschiedlichem Maß, ebenfalls emotional konnotiert sind — wird hingegen der Kategorienverlust als Konsequenz aus dem abstrakten Durchdenken eines ontologischen Problems beschrieben, wobei der platonisch-neuplatonische Begriff des 'Einen' dafür verwendet wird, die unio als negierenden und zugleich fundierenden — letztlich also: dialektisch vermittelnden — 'Grund' aller Kategorialität, von dem diese ausgeht und zu dem sie zurückkehrt, zu veranschlagen.123 Solche Gedanken gelten in der Philosophiegeschichtsschreibung nicht als speziell 'mystisch'. Mann kann sie aber eindeutig als mystisch bewerten, wenn sie — wie bei Eckhart — in einem klaren systematischen Zusammenhang mit der entsprechenden Darlegung von Empfindungen und Gefühlen stehen.124 In der 1. Predigt gibt Eckhart der Szene aus dem Neuen Testament, in der Jesus die Kaufleute aus dem Tempel jagt (Matth. 21,12), eine mystische Deutung: Der Tempel ist die Seele, die zur unio mystica strebt, und soll deshalb von allem im Hinblick auf die unio Unnützen, Ablenkenden und Hindernden gereinigt, in obgenanntem Sinn also 'geläutert' werden. Die Seele soll der "koufmanschaft zemäle ledic sin" (Pr. 1, 1/14, 8), sie vermag dies aber nicht "mit eigenschaft, mit zit und mit zal, mit vor und mit nach" (Pr. 1, 1/14, 29-30). Um die Einheit zu erfahren, ist also nicht nur das Ich aufzugeben — Quint übersetzt 'eigenschaft' richtigerweise mit 'Ich-Bindung' —, sondern die gesamte kreatürliche Welt und alle mit Kreatürlichkeit verbundenen Kategorien: die Kategorien der sinnlichen Wahrnehmung (Raum, Zeit), des Verstandes (Gegenständlichkeit, Zahl, Kausalität) und des Willens (Teleologie). Diese Kategorien bezeichnen nicht nur eine ontologische Ordnung, die in der unio negiert wird, sondern auch das Gefüge und die Bedingungen unserer 'normalen', d.h. kreatürlichen (dem Menschen als Kreatur, als raum-zeitlich und kategorial bedingtem Seiendem zukommenden) Erkenntnis. Diese Erkenntnis wird aber nunmehr als 'unbekantheit' (Unwissenheit) bezeichnet (Pr. 1, 1/16, 15), die der wahren Erkenntnis entgegensteht. Nach Predigt 11 hindern "driu dinc [...] den menschen, daz er got en keine wis bekennen kan. Daz erste ist zit, daz ander liplicheit, daz dritte manicvalticheit." (Pr. 11, 1/132, 24-26) "Die wile der mensche zit und stat hat und zal und menige und schar, so ist im gar unreht und ist im got verre und vremde." (Pr. 10, 1/126, 29-31) Aber "swenne sich der mensche bekeret von im selben und von allen geschaffenen dingen, — als vil als dü daz tuost, als vil wirst dü geeiniget und gesaeliget in dem vunken in der sele, der zit noch stat nie enberuorte. Dirre vunke widersaget allen creatüren und enwil niht dan got blöz, als er in im selben ist." (Pr. 48, 1/508, 6-11) Die beiden — einander offensichtlich ausschließenden — Arten des Erkennens werden als 'innere' und 'äußere' Erkenntnis einander gegenübergestellt. (Eckhart bezieht sich mehrfach auf Augustins Rede vom 'inneren' und 'äußeren' Auge des Menschen sowie auf Avicennas Lehre von den 'beiden Antlitzen' der Seele.) Äußere oder kreatürliche Erkenntnis ist "allez, daz man enpfindet und sihet under got" (Pr. 86, 11/210, 6). Kreatürlichkeit ist somit nichts anderes als Kategorialität: die Bestimmungen von Zahl und Vielheit, Ich und Gegenstand, Zeit und Raum, Grund und Folge, aber auch von Ziel und Zweck. Die letztgenannte Kategorie — von der bislang noch nicht die Rede 73

Prolegomena

war — nennt Eckhart 'warumbe' und bezieht sie auf den Willen, der genauso in Willenlosigkeit zurückzuführen sei wie die (gegenständliche) Erkenntnis in eine Mcfeerkenntnis. Jede Kategorie bezieht sich auf etwas Partiales, auf ein Dies oder Das, welches von anderem Dies oder Das 'unterschieden' wird. Gott hingegen "enist weder diz noch daz" (Pr. 9, 1/106, 23). "Waz wesen hat, zit oder stat, daz enrüeret ze gote niht, er ist dar über. Got ist in allen creatüren, als sie wesen hänt, und ist doch dar über." (Pr. 9,1/104, 20-22) Die Kategorien bzw. kreatürlichen Bestimmungen bezeichnet Eckhart — in der Nachfolge Bernhards von Clairvaux, den er ausdrücklich zitiert — als 'Weisen', mit denen Gott nicht zu erfassen ist: "[...] got ze minnenne daz ist wise äne wise" (Pr. 9, 1/106, 8) "Man muoz got nemen wise äne wise und wesen äne wesen, wan er enhät keine wise." (Pr. 71, 11/78, 7-9) "Der iht sihet oder vellet iht in din bekennen, daz enist got niht; dä von niht, wan er noch diz noch daz enist." (Pr. 71, 11/72, 11-13) Auch Gott — sofern er der Welt bzw. dem Menschen noch als ein anderer gegenübersteht und sofern er die unio noch nicht vollzogen hat (sofern er bloß 'Gott' ist und noch nicht 'Gottheit') — kann zwar nicht als 'Kreatur' bezeichnet werden, doch steht auch sein Begriff (d.h. sein mögliches Gedachtwerden durch den Menschen) unter den Koordinaten der 'Kreatürlichkeit'. Demnach "biten wir got, daz wir gotes ledic werden" (Pr. 52, 1/554, 24). 'Ledigwerden', 'Gelassenheit' und 'Abgeschiedenheit' sind drei synonyme Ausdrücke für die Abkehr vom 'äußeren' Erkennen. Das 'innere' Erkennen aber ist ein "bekennen [...] äne zit und äne stat, äne hie und äne nü. In disem lebene sint alliu dinc ein, alliu dinc gemeine al und al in al und al geeiniget." (Pr. 76, 11/128, 23-25) Das 'innere' Erkennen bedeutet '"vülle der gotheit', dä enist weder tac noch naht; in dem ist mir als nähe, daz über tüsent mile ist, als diu stat, dä ich iezuo inne stän; dä ist vüllede und vollene aller gotheit, dä ist ein einicheit." (Pr. 29, 1/334, 3-7) Dieser Gottesoder Seinsfülle steht die Nichtigkeit der Kreatur gegenüber: "Alle creatüren sint ein lüter niht. S waz niht hie noch dä enist und dä ein vergezzenheit aller creatüren ist, dä ist vüllede alles wesens." (Pr. 11, 1/138, 8-10) Das 'Vergessen' der Kreaturen umschreibt Eckhart auch als deren 'Schlaf': "släfent alle creatüren in dir, sö maht dü vernemen, waz got in dir würket" (Pr. 30, 1/342, 8-9). "Waz ze der sele gehoeret, daz sol abegeloeset sin alzemäle." (Pr. 7,1/90,4-5) "Sö diu sele der zit und der stat ledic ist, sö sendet der vater sinen sun in die sele." (Pr. 4, 1/56, 13-14) Die immer wieder als 'Gottesgeburt' und als 'Durchbrechen' der Kreatürlichkeit beschriebene 'innere' Erkenntnis wird, wie wir sehen, vornehmlich ex negativo von den Erkenntnisbedingungen der kategorialen Welt her beschrieben, wobei die Terminologie öfters wechselt und sich sogar ins Gegenteil verkehren kann. So wird das 'Sein' einmal der Kreatur zugeschrieben und Gott bzw. der Gottheit abgesprochen (diese ist dann entweder 'nichts' oder 'über' dem Sein), während ein andermal die Kreatur als 'Nichts' bezeichnet und Gott mit dem Sein gleichgesetzt wird. Die 'Kräfte' und 'Vermögen' des Geistes bzw. der Seele wiederum werden bei Eckhart zuweilen insgesamt der Kreatürlichkeit zugeordnet und stehen dann im klaren Gegensatz zur 'inneren' Erkenntnis. Zuweilen werden sie aber auch in 'niedere' und 'höhere' unterschieden, und letztere werden als Stufen und Näherungsweisen zur 'inneren' Erkenntnis angegeben. Diese geschieht "sunder bilde und glichnisse" (Pr. 72, II/82, 10-11). Unter den Koordinaten der

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

Kreatürlichkeit bedeuten deren 'Licht' und 'Sehen' 'Finsternis' und 'Blindheit': "swer got sehen wil, der muoz blint sin". Es geht darum, "daz der mensche niendert enhafte noch enhange und blint si und niht enwizze von creatüren" (Pr. 72,11/86, 1-2). "Also müezen wir alle creatüren läzen und abescheiden." (Pr. 43, 1/458, 27-28) In diesem Zusammenhang spielt die — von Wilhelm von St. Thierry besonders ausgeführte, aber auch von Eckhart an mehreren Stellen angesprochene (und dort meist von Augustin oder Dionysius Areopagita übernommene) — mittelalterliche Engellehre eine besondere Rolle. Das Denken und die Sprache der Engel gelten als ein Medium, das qualitativ zwischen dem Denken und Sprechen Gottes und dem der Menschen steht. Der Engellehre wird im vorliegenden Zusammenhang aber kein näheres Augenmerk geschenkt, da sie — in noch höherem Maß als die Gotteslehre — Ausdruck neuplatonischer und gnostischer Spekulation ist, die mit der konkreten mystischen Erfahrung, die in mittelalterlichen Texten dokumentiert ist, nur sehr mittelbar zusammenhängt. Die Überlegungen Augustins, Wilhelms, Eckharts und anderer Mystiker über die 'lautere' Sprache und Erkenntnis der Engel verdienen jedoch insofern Beachtung, als man sie als Projektion des menschlichen Vermögens der 'inneren' Erkenntnis und als eine besondere Stilisierung dieser 'inneren' Erkenntnis interpretieren kann. Engel und "die saeligen in dem himelriche" werden für fähig erachtet, daß sie "die creatüren bekennent blöz aller bilde der creatüren, die sie bekennent in dem einen bilde, daz got ist und da sich selben und alliu dine got weiz und minnet und wil." (BgT. 11/250, 29-32) Engel repräsentieren eine von der Kreatürlichkeit der Menschen abgehobene Kreatürlichkeit 'höherer Ordnung', in der die dem Menschen nur endlich und punktuell mögliche ww'o-Erfahrung zur ständigen Befindlichkeit und Wesensverfassung geworden ist. Engel sind zwar geschaffene Wesen, aber sie sind für die Ewigkeit und nicht bloß, wie der Mensch, auf Zeit geschaffen. Daher repräsentieren sie diese Ewigkeit auch in 'reinerer' Form als die Menschen, die an ihr vergleichsweise nur geringen Anteil haben. Einer der wenigen positiven Begriffe, die Eckhart zur Kennzeichnung von unio und innerer Erkenntnis verwendet, ist besagter Ewigkeitsbegriff. Die Ewigkeit wird — wie die unio und die gesamte innere Erkenntnis — in 'dieser Welt' nur punktuell, nicht durchgängig und ganz erfahren. Durchgängig und ganz gilt sie erst in der 'anderen', der jenseitigen Welt. "Waere der geist alle zit mit gote vereinet in dirre kraft, der mensche enmöhte niht alten; wan daz nü, da got den ersten menschen inne machete, und daz nü, da der leste mensche inne sol vergän, und daz nü, da ich inne spriche, diu sint glich in gote und enist niht dan ein nü." (Pr. 2, 1/30, 13-17) "Die tage, die da hin sint sehs tage oder siben, und die tage, di da wären vor sehs tüsent jären, die sint dem tage hiute als nähe als der tac, der gester was. War umbe? Da ist diu zit in einem gegenwertigen nü." (Pr. 10,1/124, 6-9) Den in solcher Weise 'immerwährenden' Tag — das nunc stans — bezeichnet Eckhart als "gotes tac, da diu sele stät in dem tage der ewicheit in einem wesentlichen nü" (Pr. 10, 1/124, 13-14). Die Ewigkeit ist eine Einheit, die alle Zeitfolgen in sich versammelt und so als eigenständige, reale Zeitfolgen vergleichgültigt. Sie meint nicht etwa die Weltgeschichte als Ganzes, sondern deren Konzentration und Aufhebung im Hier und Jetzt.

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Prolegomena

Die unio bei Eckhart könnte — mit einem philosophischen Terminus — als die schlechthinnige Transzendenz bezeichnet werden. Diese Einheit ist ein Abgrund, der alle Kategorien — und somit alle Gewohnheiten und Sicherheiten des Denkens — verschlingt in das 'lautere Eins': Ich, Personalität, Raum/Zeit, Kausalität, Gegenständlichkeit, Vielheit. Gibt es keine Vielheit mehr, dann gibt es auch keine Zahl: "wie alle engel ein engel in der ersten lüterkeit sint al ein, also sint alle grasspier in der ersten lüterkeit ein, und alliu dinc sint da ein." (Pr. 22, 1/260, 15-18) "Dirre geist muoz übertreten alle zal und alle menige durchbrechen [...]. Got lietet disen geist in die wüestunge und in die einicheit sin selbes, da er ein lüter ein ist und in im selben quellende ist. Dirre geist hat kein warumbe, und sölte er dehein warumbe haben, sö müeste diu einicheit ir warumbe haben. Dirre geist stät in einicheit und in vriheit." (Pr. 29, 1/328, 2-9) Gibt es keine Zahl mehr, gibt es auch keine verschiedenen Gegenstände und Begriffe mehr. Und es gibt keine — kausale oder teleologische — Ordnung mehr, in der sich diese Gegenstände und Begriffe bewegen würden und in der sie zueinander in Beziehung stünden. Gibt es keine Vielheit mehr, gibt es auch nicht mehr zeitliche Folge und räumliche Dehnung, und es gibt auch nicht mehr das Ich und die Person, die sich in Raum und Zeit bewegt, die mit Dingen umgeht, in Zahlen mißt und — im Sinn der 'Kaufmannschaft' und des 'Willens' — irgendwelche Zwecke verfolgt. "Alliu dinc, diu in der zit sint, diu hänt ein warumbe." (Pr. 26, 1/296, 16-17) Davon aber kann und muß sich der menschliche Geist, der die unio erfährt, lösen. Für ihn ist die Abgeschiedenheit vom Warum nicht nur ein bedrohlicher Abgrund, sondern auch ein bergender Grund, der es ihm erlaubt, seiner Kreatürlichkeit in einer veränderten Haltung zu begegnen. Die 'innere Erkenntnis' bietet einen Halt in der Haltlosigkeit, einen Boden in der Bodenlosigkeit, eine Orientierung in der Orientierungslosigkeit: "Uzer disem innersten gründe solt dü würken alliu diniu werk sunder warumbe." (Pr. 18, 1/70, 14-16) *

Die mystische Tradition wiederholt — vor und nach Eckhart — unermüdlich das Motiv der Kategorienverneinung. In den Göttlichen Namen betont Dionysius die 'Ungegenständlichkeit' Gottes, seinen Status jenseits unserer Sinne und unseres Intellekts, denen alles kategoriale Wahrnehmen, Empfinden und Denken verpflichtet bleibt: "Er [Gott] ist nicht Gegenstand irgend eines verstandesmäßigen Erschließens, Er ist auch nicht Gegenstand von Sinneswahrnehmungen. Er ist überhaupt kein Gegenstand." (D, 117) Man sieht allenfalls — wie Dionysius in der Negativen Theologie schreibt, wo er den Aufstieg des Moses auf den Berg Sinai als den gestuften 'mystischen Weg' darlegt — den "Ort, wo Gott zu wohnen scheint" (D, 164). Dieser Ort ist transgegenständlich und transkategorial, ist die Transzendenz allen Seins schlechthin. "Doch dieses Eine ist jenseits des Weltalls. Wie könnten unsere Vermutungen über die Ursachen Seiner dennoch spürbaren Allgegenwart in diesem Weltall je an ihn rühren? Sie bleiben stets innerhalb Seiner Schöpfung, der Er dennoch so fern ist, daß er allen Gipfeln des Schaubaren, Denkbaren, Fühlbaren — und auch allen Gipfeln der heiligsten Heiligkeit unerreichbar bleibt." Am Ende seines Aufstiegs bringt Moses

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

"alles auf irdische Gegenstände gerichtetes Wissen zum Schweigen und entgeht so erst gänzlich dem Trug des Faßbaren und Schaubaren. Jetzt erst gehört er gar nicht mehr sich, auch nicht mehr einem anderen, Nahen oder Fernen, sondern nur noch ganz Dem, der über allem ist. Jetzt erst ist das Wahrhafte in ihm beim Schöpfer, der auch ihm unkenntlich bleibt — aber er hat j a auf alles Wissen verzichtet, und dank diesem Verzicht, dank diesem Nichtwissen, tritt er ein in jene Erkenntnis, die alles Wißbare sprengt." (D, 164)

Der anonyme englische Kartäuser, der im 14. Jahrhundert den mystischen Text The Cloud of Unknowing verfaßt, spielt mit diesem Titel auf die 'Gotteswolke' am Sinai an, in die Moses eintritt und die ihm das 'Wissen des Nicht-Wißbaren' vermittelt. Das (kategoriale) 'Dunkel' der Wolke schlägt — in der Erfahrung des mystischen Weges — um in das (transkategoriale) 'Licht', das nicht mehr dem Denken, sondern nur noch der Liebe zugänglich ist: "Alle Dinge, an die du denkst, sind, solange dieses Denken währt, über dir und zwischen dir und deinem Gott. Und je mehr du außer Gott noch anderes im Sinne hast, desto weiter bist du von Ihm entfernt. [...] Aber Gott selbst kann kein Mensch gedanklich erfassen. Und daher will ich alles, was ich denken kann, hinter mir lassen und zum Gegenstand meiner Liebe das erwählen, das nicht gedacht werden kann. Denn Gott kann wohl geliebt, aber nicht gedacht werden. Von der Liebe läßt er sich fassen und halten, vom Intellekt jedoch nicht." (RS, 246 f.)

2.3

Gesteigerte Emotionalität: Liebe, Ekstase

Von der Unabdingbarkeit der Liebe - die schon Augustin in seinem für die christliche Mystik so einflußreichen philosophisch-theologischen Werk hervorgehoben hatte — spricht auch Eckhart immer wieder, beispielsweise in der 60. Predigt, wo er den Weg zur unio als schrittweise Näherung darstellt. Die Näherung werde mit Hilfe der geistigseelischen 'Kräfte', deren 'oberste' die Liebe sei, vollzogen. Die 'oberen' Kräfte, zu denen neben der Liebe auch Wille und Vernunft zählen, stehen an besagter Stelle nicht im Gegensatz zur 'inneren' Erkenntnis, sondern gelten hier vielmehr als deren Vollzugsorgane. Im Prozeß der unio erfahren diese 'Kräfte' laut Eckharts Darstellung eine qualitative Verwandlung. Wenn die Erkenntnis die Seele an Gott herangeführt hat, "tritet diu oberste kraft hervür — daz ist diu minne — und brichet in got und leitet die sele mit der bekantnisse und mit allen im kreften in got und vereinet sie mit gote" (Pr. 60, 1/640, 23-25). "Da wirt diu sele wunderliche bezoubert und kumet von ir selber, als der einen tropfen wazzers güzze in eine bütten vol wines, daz si von ir selber niht enweiz und waenet, daz si got si." (Pr. 82, II/186, 18-21) Die Gleichsetzung Gottes und der Liebe ist eine neutestamentarische Konzeption, die in der Patristik und vor allem bei Augustin systematisiert wurde. Auch Dionysius verweist in den Göttlichen Namen auf jene "Stellen der Schrift, in denen der Name Gottes als Liebe gepriesen wird" und sagt, "daß zu Gott und in Gott das Liebesverlangen stets

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Prolegomena

die Gestalt des Einsseinwollens annimmt" (D, 72). Indem Mystik als ein Übersteigen des Ich in ein umfassenderes Prinzip aufzufassen ist, in ein Über-Ich oder Mehr-alsIch, in welchem das überstiegene Ich Erfüllung im Sinne einer — Authentizität herstellenden — Verwandlung seiner selbst findet, geht sie naheliegenderweise mit einem Gefühl einher, das der 'irdischen' Liebe analog ist oder auch mit dieser gleichgesetzt werden kann. Liebe — in all ihren Varianten zwischen amor und Caritas — bedeutet stets ein Zurückstellen, Hintanhalten, Überschreiten oder gar Vergessen und Auslöschen des denkenden, fühlenden und handelnden Ich. Diese Abkehr vom Ich wird in der Liebe aber nicht als Frustration, sondern als Glück empfunden. Liebe bedeutet eine enorme Steigerung der emotionalen Kräfte, durch die die vormalige (partiale) Identität des Ich zu einer erweiterten, umfassenderen Identität fortschreitet. Was vorher getrennt war (oder beziehungslos nebeneinander existierte), ist nun in Harmonie vereint (oder, im Extremfall, zu einer neuen, unauflöslich scheinenden Einheit verschmolzen). Diese Charakterisierung gilt — zumindest tendenziell — zuerst einmal für die 'irdische' Liebe, die sich somit in besonderer Weise als Muster und Anknüpfungspunkt für die mystische Mensch-Gott-Beziehung eignet. Das alttestamentarische Hohelied — bekanntlich im Ursprung profane Liebespoesie — wird seit den patristischen Anfängen der christlichen Mystik 125 zu einem der wichtigsten und einflußreichsten Referenz- und Auslegungstexte für die Mystiker, zum unerschöpflichen Leitfaden für die sogenannte Braut- und Liebesmystik. Nicht nur die Nonnen und Beginen des Hoch- und Spätmittelalters, sondern auch zahlreiche männliche Mystiker — von Bernhard von Clairvaux über Heinrich Seuse bis zu Johannes vom Kreuz und Friedrich von Spee — verwenden ungeniert die Bildlichkeit amouröser und z.T. eindeutig sexueller Handlungen, wenn sie über ihre Gottesbeziehung reden. Dabei ist oft sehr schwer die Grenze zu ziehen zwischen den unmittelbaren erotischen und sexuellen Gefühlen dieser Mystiker und dem bloß metaphorischen Gebrauch des Vokabulars. Im ganzen gesehen scheint es angemessener zu sein, im Zusammenhang mit den meisten Formen der mystischen Erfahrung nicht von einer — mehr oder minder (fehl-) sublimierten — Erotik zu sprechen, sondern in einem allgemeineren Sinn von einer oftmals extremen Steigerung der Emotionalität, die sich mit der Erfahrung von All-Einheit, Ich-Entgrenzung und Transkategorialität verbindet. Diese gesteigerte Emotionalität trägt in vorhin bezeichneter Weise die Züge der Liebe, die in der christlichen Philosophie und Theologie zu einer 'Seelenkraft' und einem besonderen Attribut Gottes erklärt wird. Im Sinn eines solch abstrakten Begriffs kann die Liebe als schlechthinnig und allumfassend aufgefaßt werden, so daß der Eintritt in sie die Bedeutung erlangt, daß nunmehr alles, das ganze Sein geliebt wird (nicht mehr nur Personen oder Dinge) und daß sich das (emotionale) Ich nunmehr schlechthin und total in die gesamte Wirklichkeit entgrenzt. Dionysius fühlt sich bemüßigt, irdische und göttliche Liebe streng auseinanderzuhalten, und sagt über die Gleichung von Gott und Liebe, daß "hier nicht ein sinnliches Einsseinwollen bezeichnet [werde], sondern das universale göttliche Einssein, Ungeteiltsein, Vollkommensein und Vollkommen-machen — während die armselig sinnlichen Menschen sofort an jenes andere 'Einssein im Geteilten' denken, das ihnen allein vertraut zu sein scheint, jenes un-

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

echte Lieben in Beziehungen, im zertrennten Eros der sinnlichen Täuschung, oft nur körperlich, und immer allen Irrungen und Unvollkommenheiten unterworfen." (D, 72 f.)

Bei Eckhart wird das Vokabular der irdischen Liebe nur sehr sparsam eingesetzt, auch wenn er nicht völlig darauf verzichtet: "Wenne der sele ein kus beschihet von der gotheit", heißt es in der 10. Predigt, "sö stät si in ganzer volkomenheit und in saelicheit; da wirt si umbevangen von der einicheit." (Pr. 10, 1/130, 2-4) Die Einheit meint Gott bzw. die Gottheit, und diese wird mit der Liebe gleichgesetzt: "Minne in dem lütersten, in dem abegescheidensten, in ir selber enist niht anders dan got." (Pr. 27, 1/304, 20-22) Wenn die Seele "alzemäle mit minne in got vervliuzet, sö enweiz si niht anders wan minne. Si waenet, daz in alle liute bekennen als si." (Pr. 71, 11/70, 24-26) Die Liebe hat also einen universalen Zug: sie schließt nichts aus und bezieht sich auf alles. Dieser Bezug aufs Ganze ist ihr 'Adel': "Diu minne ist edel, wan si gemeine ist." (Pr. 4, 1/50, 20-21) "Die liebe, die ein mensch gibt, do ensind nit zwey, me eyn und eynung, und in der liebe bin ich me got, dann ich in mir selber bin." (Pr. 5a, 1/60, 24-26) Diese radikale, mit Gott bzw. der unio gleichgesetzte Liebe geht also auf nichts Einzelnes mehr, bevorzugt nicht eines vor dem anderen, sondern geht auf den alle Dinge umfassenden, zugleich bergenden und vernichtenden göttlichen Grund (der immer zugleich Abgrund ist).126 Der Entgrenzung des Gegenstands, auf den sich die Liebe richtet, entspricht eine Entgrenzung des Liebesgefühls, das sich nun als 'unendlich' und als 'namenloses Ergriffenwerden' (ekstasis, raptus) darstellt. Die Intensivierung des Gefühls wird mit den Bildern des Blühens und des Feuers umschrieben: "Es ist ein hitze und ein üzblüejen des heiligen geistes, dar inne diu sele got minnet." (Pr. 10, 1/126, 11-12) Und "des heiligen geistes wesen ist, daz ich in im verbrant werde und in im zemäle versmolzen werde und zemäle minne werde" (Pr. 39, 1/426, 10-12). Inder 60. Predigt sagt Eckhart, daß "daz götliche antlütze götlicher nature machet unsinnic und tobic aller der sele begerunge nach im, daz er sie ze im ziehe" (Pr. 60, 1/636, 19-21). Dies ist eine der wenigen Stellen, in denen Eckhart die Ekstase als Charakteristikum mystischer Erfahrung anspricht. *

In der mystischen Literatur außerhalb Eckharts spielt die Ekstase freilich eine weitaus dominantere Rolle. Wie vor allem Otto Langer gezeigt hat, wendet sich Eckhart dezidiert gegen die übertriebenen Formen von Ekstase in der Frauenmystik, womit er sich im Rahmen der dominikanischen curia monialium auseinanderzusetzen hat. Er fordert, das 'reale Leben' und vor allem die ethisch-praktische Tätigkeit nicht aus dem Auge zu verlieren. 127 Dennoch wäre es falsch anzunehmen, Eckhart wende sich prinzipiell gegen Kontemplation und emotionales Engagement. Er warnt lediglich vor Verselbständigung. Literarisches Vorbild und biblischen Bezug für Ekstase und Raptus stellt meist das im 2. Korintherbrief geschilderte 'Damaskus-Erlebnis' des Apostels Paulus dar. Die Ekstase zeigt nicht selten auch körperliche Begleiterscheinungen, die mit einem extre-

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Prolegomena

men Gefühlserlebnis verbunden sind.128 In den Berichten von Mechthild und Hadewijch, aber auch im pseudo-eckhartschen Traktat Schwester Katrei129 fallen die Betroffenen vorübergehend wie tot um und geben, solang ihre Seelen entrückt sind, keine Lebenszeichen mehr von sich. Seuse beschreibt in seiner Vita — in der dritten Person von sich sprechend ·— eines seiner Ekstase-Erlebnisse auf folgende Weise: "[...] da ward seine Seele verzückt in dem Leibe oder außer dem Leibe. Da sah er und hörte, was allen Zungen unaussprechlich ist: es war formlos und weiselos und hatte doch aller Formen und Weisen freudenreiche Lust in sich. Das Herz war gierig und doch gesättigt, das Gemüt lustig und wohlgestimmt, sein Wünschen hatte sich gelegt und das Begehren war vergangen. Er tat nichts als hineinstarren in den glanzreichen Widerglast, in dem er seiner selbst und aller Dinge Vergessen gewann. War es Tag oder Nacht, das wußte er nicht. Es war vom ewigen Leben eine ausbrechende Süßigkeit in gegenwärtiger, stillstehender, ruhiger Empfindung. [...] Dieser überschwengliche Zug währte wohl eine Stunde oder eine halbe; ob die Seele in dem Leibe blieb oder von dem Leibe geschieden war, das wußte er nicht. Als er wieder zu sich selber kam, da war ihm in aller Weise wie einem Menschen, der von einer anderen Welt gekommen ist. Dem Leibe geschah so weh von dem kurzen Augenblick, wie er nicht wähnte, daß einem Menschen außer dem Tode in so kurzer Frist so weh geschehen möchte." (RS, 214 f.)

Ekstasen sind nun freilich wohlbekannte und vielfach bezeugte Erscheinungen des religiösen Lebens, die nicht nur überfallsartig und unvorbereitet auftreten können, sondern in vielen Fällen — von den Schamanen archaischer Kulturen bis zu den Mystikern der Hochreligionen — Ziel und Gegenstand einer ausgefeilten Technik der Geist- und Körperbeherrschung geworden sind.

2.4 Metanoia und Erlösung: Authentizität, Harmonie, Seligkeit Die unio wird in den klassischen mystischen Texten — nicht nur in der sogenannten Liebesmystik — als Verwandlung des Menschen dargestellt. Er tritt in eine 'andere Welt', in eine 'andere Qualität' des Daseins ein, die ihn nun von Orientierungslosigkeit bzw. von verfehlter Orientierung, von Leiden, Entfremdung und sämtlicher Defizienz befreit und einen Zustand höchsten, kaum aussprechbaren Glücks darstellt. Er fühlt sich nun vollkommen, vollendet, selig und 'bei sich selbst' oder — und das ist gleichbedeutend — außerhalb seiner selbst. Was nämlich verwandelt wird, ist das menschliche Selbst, das seine Kreatürlichkeit abstreift und sich in einer großen, umfassenden Harmonie wiederfindet. Um diesen Zustand des Glücks, der Eigentlichkeit und Vollkommenheit zu beschreiben, wird von vielen Mystikern die Bildlichkeit und Begrifflichkeit der alten (platonischen, neuplatonischen und gnostischen) Lichtmetaphysik bemüht. Dabei entspricht die Unterscheidung von 'göttlichem' und 'natürlichem' Licht der Dichotomie von 'innerer' und 'äußerer' Erkenntnis, von 'innerem' und 'äußerem' Auge des Menschen. Der metaphorische Charakter und die Kontextbezogenheit der Rede vom Licht zeigen sich freilich darin, daß — je nach terminologischem Kontext — die 'höhe-

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der mystischen

Erfahrung

re' Erkenntnis zuweilen auch als Nicht-Erkenntnis und als 'Finsternis' bezeichnet wird, um ihre Andersartigkeit gegenüber dem 'natürlichen' Licht (dessen Begriff der sinnlichlebensweltlichen Lichterfahrung ja wohl nähersteht) zu betonen. Das 'höhere' Licht (bzw. die das 'natürliche' Licht der Sinnes- und Vernunfterkenntnis transzendierende 'Finsternis') zeichnet sich dadurch aus, daß es nicht mehr Einzelnes, Unterscheidbares, sondern alles —jenseits aller 'Unterscheidung' — beleuchtet, daß es selbst dieses Alles — die Einheit von allem, also Gott bzw. die Liebe bzw. das Sein (diese Begriffe und Vorstellungen sind in der mystischen Rede nunmehr zu Synonyma geworden) — darstellt. Das göttliche Licht ist Grund und Abgrund, Ursprung und Ziel aller Kreaturen. "Swenne disiu wisheit mit der sele vereinet wirt", sagt Eckhart in der 1. Predigt, "so ist ir aller zwivel und alliu irrunge und alliu dünsternisse alzemäle abe genomen und ist gesetzet in ein lüter klärez lieht, daz selber got ist [...] Swenne sich Jesus mit dirre richeit und mit dirre süezicheit offenbaret und einiget mit der sele, mit dirre richeit und mit dirre süezikeit sö vliuzet diu sele in sich selber und üz sich selber und über sich selber und über alliu dinc von gnaden mit gewalte äne mittel wider in ir erste begin." (Pr. 1,1/20, 24-27 und 1/22, 5-9) Der erbauliche Ton dieser Passage könnte dazu verführen, sie nicht gründlich genug zu lesen. Die von Eckhart gewählten Bilder und Begriffe — sämtlich Requisiten der mystischen Tradition — stehen jedoch in einem Verweisungszusammenhang, der bestimmte Charakteristika der unio deutlich macht: Das 'Fließen' evoziert den dynamischen, transgegenständlichen Charakter der unio. Die paradoxe Rede, daß die Seele sowohl 'in' als auch 'aus' und 'über' sich 'fließt', zeigt, daß wir im Verständnis dieses 'Fließens' nicht bei der Vorstellung eines (in eine bestimmte Richtung) fließenden Wassers, das somit kategorial und gegenständlich zu denken wäre, stehenbleiben dürfen. Das Bild des Fließens hat vielmehr Verweisungscharakter auf etwas, das sich bildlich (und begrifflich) nicht mehr ohne weiteres — und vielleicht sogar überhaupt nicht — ausdrücken läßt. Weiters: das Fließen geschieht 'gnadenweise', erfolgt also außerhalb der Verfügbarkeit des Betroffenen, und es geschieht 'ohne Mittel', d.h. es erfolgt nicht nach kategorialen Gesetzen und entzieht sich dadurch auch einem kategorialen (kreatürlichen) Verständnis. Mit 'Süßigkeit' schließlich meint Eckhart das extreme Harmonie- und Glücksgefühl, das sich mit der unio verbindet. Dieser Zustand der Seele ist identisch mit dem Vollkommenheitszustand Gottes, denn wenn die Seele "got in sich ziuhet, sö wirt si gewandelt in got, also daz diu sele götlich wirt", aber — dies ist wichtig für Eckharts Abstand zu einem unumwundenen Pantheismus — "got niht sele" (Pr. 80, 11/164, 16-18). In der 72. Predigt unterscheidet Eckhart die Begriffe Vernunft und Seele dahingehend, daß die 'Seele' den Zustand der Kreatürlichkeit, die 'Vernunft' hingegen den Zustand der Göttlichkeit repräsentiere. (Die Begriffsverwendung ist bei Eckhart, wie erwähnt, nicht durchgängig geregelt, aber aus dem jeweiligen Kontext ziemlich problemlos zu erschließen.)" Wä vernünfticheit üzbrichet üz der sele", heißt es in der besagten Predigt, "da vellet si als in ein ander nature." (Pr. 72,11/86, 28-29) Das Bild des 'Aus-' oder 'Durchbrechens' gehört zum Wortfeld der 'Gottesgeburt in der menschlichen Seele', einer Vorstellung, die später besonders bei Jakob Böhme wieder eine große Rolle spielt und die den Vorgang des Abstreifens der Kreatürlichkeit bezeichnet.

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Prolegomena

Die unio steht offenbar mit einer intentionalen und teleologischen Grundstruktur des menschlichen Daseins in Zusammenhang. Das Streben nach der unio zielt auf ein Überwinden der Kreatürlichkeit. Diese bedeutet nicht nur Kategorialität, sondern auch Unvollkommenheit und Leiden. Unvollkommenheit ist — dem von Eckhart übernommenen scholastischen Seinsbegriff zufolge, der mit dem Begriff der Vollkommenheit ineins gesetzt wird — 'Nichtigkeit', das meint: Mangel an (göttlichem) 'Sein' und daher Mangel an Vollkommenheit. "Ich spriche waerliche", heißt es in der Predigt 5a, "als vil dir niht zuo haftet, als verre bist dü unvolkomen. Her umbe wellet ir volkomen sin, sö suit ir nihtes blöz sin." (Pr. 5a, 1/70, 1-3) Dies geschieht durch die göttliche Gnade, die vermittels "widerruckedercreatüreninirnerstenursprunc" (Pr. 80,11/164, 3)einZunichtemachen der Kreatürlichkeit ermöglicht. Der Mensch, "der da gevriet ist von aller anderheit und von aller geschaffenheit" (Pr. 10, 1/124, 1-2), hat eine Verwandlung seiner selbst vollzogen, die ihn zu einem radikal neuen Menschen macht. Der neutestamentarische Ausdruck metanoia, der die qualitative Verwandlung des Menschen durch die Taufe bezeichnet, wird bei Eckhart zwar nicht verwendet, doch drückt er in klarer Weise aus, worum es sich bei der durch die mystische Erfahrung bewirkten 'Verwandlung' des Menschen handelt. 130 (Der 'alte Adam', Inbegriff alttestamentarischer Geschöpflichkeit und damit verbundener Defizienz, 'stirbt' zugunsten des neuen, durch Christus erlösten Menschen.) Die metanoia betrifft aber nicht nur den Menschen, sondern alles Seiende: "swaz ze gote kumet, daz wirt verendert; swie snoede ez si, bringen wir ez ze gote, ez gät sin selbes abe." (Pr. 3, 1/42, 30-31) Was 'sich selbst entfällt', entfällt seiner eigenen Unvollkommenheit, seinem eigenen 'Nichts', und gelangt in seine Vollkommenheit und in sein wahres 'Sein'. Seine Vollkommenheit und sein Sein aber sind nunmehr die universale Vollkommenheit und das universale Sein schlechthin. Die Vorstellung dieser Universalität und Schlechthinnigkeit verdichtet sich im mystischen Gottesbegriff, dem bescheinigt wird, daß er 'jenseits aller Bilder' stehe. Diese Jenseitigkeit bedeutet 'Süßigkeit': "Jesus ist mit ir [der Seele] vereinet und si mit im, und si liuhtet und schinet mit im als ein einic ein und als ein lüter klär lieht in dem veterlichen herzen." (Pr. 2,1/28, 23-24) Die unio bedeutet "also herzenlichiu vröude und also unbegrifelichiu gröze vröude, daz da nieman volle abe gesprechen kan" (Pr. 2, 1/28, 30-33). Eckhart beteuert, "daz der einunge und dem durchvluzze und der Wunne sich niht glichen enmac an lust und an wunne" (BgT, 11/262, 2-3). Gelangt der Mensch in sein 'eigenstes' Wesen, streift er den 'äußeren' Menschen ab und wird er ganz zum 'inneren' Menschen, so findet die metanoia statt. Darauf nimmt Eckhart in der Predigt Vom edlen Menschen Bezug: "Der ander mensche, der in uns ist, daz ist der inner mensche, den heizet diu geschrift einen niuwen menschen, einen himelschen menschen, einen jungen menschen, einen vriunt und einen edeln menschen." (VeM, 11/314, 23-26) Und im Buch der göttlichen Tröstung heißt es: "Möhte und künde der mensche einen becher zemäle itel gemachen und itel behalten von allem dem, daz vüllen mac, ouch luftes, äne zwi vel der becher verzige und vergaeze aller siner nature, und itelkeit trüege in üf biz an den himel. Also treget blöz, arm und itel aller creatüren die sele üf ze gote." (BgT, 11/262, 22-26)

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

Das (über-kreatürliche) 'Selbstwerden' der Seele ist also zugleich ihr (kreatürliches) 'Entwerden'. Ist sie dergestalt 'einförmig' oder 'gottförmig' geworden, findet sie sich in vorher ungeahnter Harmonie, in Seligkeit und Frieden wieder. Bernhard von Clairvaux beschreibt die unio als den 'Besuch des WORTES': "Ich bekenne, auch zu mir ist das W O R T gekommen [...]. Sicher ist das W O R T nicht durch die Augen eingetreten, denn es hat keine Farbe. Auch nicht durch die Ohren, denn es hat keinen Klang. Auch nicht durch die Nase, denn es durchdringt nicht die Luft, sondern den Geist [...]. Auch nicht durch den Gaumen, denn es ist nichts, was man essen oder trinken kann. Auch mit dem Tastsinn habe ich es nicht erfaßt, denn man kann es nicht berühren. Auf welchem Weg ist es also hereingekommen? Oder ist es vielleicht gar nicht hereingekommen, weil es nicht von draußen gekommen ist? Denn es ist j a nicht ein Ding außerhalb meiner selbst. [...] Ich bin in die höchsten Giebel meines Wesens hinaufgestiegen — und siehe: das W O R T war oberhalb von allem. Ich bin in die tiefsten Keller meines Wesens als neugieriger Forscher hinabgestiegen — und dennoch: es fand sich unterhalb von allem. Wenn ich nach draußen schaute, so erfuhr ich, daß es weiter außen war als alles, was außerhalb von mir ist. Wenn ich in mein Inneres schaute, daß es weiter innen war als alles, was in mir ist. Und ich erkannte, wie wahr es ist, was ich gelesen habe: 'In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.' Aber selig ist der, in dem das W O R T ist, der für das W O R T lebt, der durch das W O R T bewegt wird!" (RS, 122 f.)

Und Margareta Porete, die Zeitgenossin Eckharts, die 1310 von den christlichen Inquisitoren als Ketzerin verurteilt und verbrannt wurde, schreibt in ihrem Spiegel der einfachen und zu Nichts gewordenen Seelen, die einzig im Wollen und Verlangen der Liebe ruhen: "Diese Seele ist gefangen und gehalten im Lande des vollen Friedens, denn sie ist stets in voller Befriedigung; in ihm schwimmt sie, taucht sie, badet sie und ist umspült vom göttlichen Frieden, ohne sich zu bewegen von innen und ohne zu wirken nach außen. Dieses beides würde ihr den Frieden nehmen, wenn es in sie eindringen könnte. Aber sie können es nicht, weil die Seele im Zustand der Souveränität ist, und deshalb können sie sie nicht belästigen und in nichts aufstören." (RS, 166)

2.5

Gelassenheit, Freiheit, Willenlosigkeit

Eines der eckhartschen Grundworte ist Gelassenheit. Der Mensch soll alles Kreatürliche — sein Selbst und damit alle Ziele, Absichten, Ansprüche, jedes Wissen-, Seinund Häbtnwollen — 'lassen'. Zu den Dingen, die er 'lassen' soll, gehört auch Gott, sofern dieser als ein Noch-nicht-Erreichtes und somit als Ziel eines Wollens dem Menschen gegenübersteht (also noch nicht unio, noch nicht 'Gottheit' ist). Die Kategorialität ist in all ihren Formen an den Willen gebunden, nur durch den Willen wird sie aktualisiert, gewinnt sie überhaupt Bedeutung. Existiert dieser Wille nicht mehr, dann kehrt die Kategorialität, sich selbst transzendierend, in ihren von keinem Willen mehr bestimmten 'Ursprung', in den nichtgeschaffenen, bildlosen göttlichen 'Grund' zurück.

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Prolegomena

Was ebenfalls an den Begriff der Kategorialität bzw. Kreatürlichkeit geknüpft wird, ist der Begriff der Notwendigkeit. Mit Willenlosigkeit und Gelassenheit verbindet sich demgegenüber der Begriff der Freiheit. Diese Freiheit ist nicht die willkürliche Entscheidungsfreiheit eines Einzelwesens, auch nicht eine Wesensfreiheit, die partikuläre Interessen verfolgt und diese auf Kosten anderer Einzelwesen durchsetzt. Es ist vielmehr die Freiheit des entgrenzten, vergöttlichten und damit seiner Ichhaftigkeit 'ledig' gewordenen Ich, d.h. die Freiheit Gottes, die in keinem Gegensatz mehr zur individuellen Freiheit stehen kann, da Gott und das Individuum ja eins geworden sind. Wenn der Mensch 'seinen' Willen in den Willen Gottes hinein aufhebt, so unterwirft er sich keinem Zwang, da dieser Wille Gottes keine Fremdbestimmung bedeutet, sondern grenzenlose Freiheit in sich selbst. 131 Gelassenheit, Willenlosigkeit und Freiheit sind somit Umschreibungen einer Haltung, die Eckhart in der 10. Predigt auch als Gerechtigkeit bezeichnet: "Daz ist gereht, daz da glich ist in liebe und in leide und in bitterkeit und in süezicheit und dem zemäle kein dinc wider enist, daz er sich ein vindet in der gerehticheit. Der gerehte mensche der ist ein mit gote." (Pr. 10, 1/130, 23-26) "Die gerehten enhänt zemäle keinen willen; waz got wil, daz ist in allez glich, swie gröz daz ungemach si." (Pr. 6,1/78, 22-24) Der Gerechte aber "muoz sich selben geläzen hän und alle dise werlt" (Pr. 12, 1/150, 5-6). Und schließlich: "Daz hoehste und daz naehste, daz der mensche geläzen mac, daz ist, daz er got durch got läze." (Pr. 12, 1/146, 3-4) Vor dem 'Gottlassen' kommt jedoch das 'Seinlassen' alles niedrigerstufigen Seienden, und zu beginnen ist beim Ich und dem eigenen Willen: "Dü solt dines eigen willen alzemäle üzgän." (Pr. 6,1/78, 12-13) Durch dieses 'Ausgehen' und 'Ablegen' kommt der Wille in seinen 'Wesensgrund' und wird 'recht' und 'frei': "swenne sich dirre wille keret von im selber und von aller geschaffenheit einen ougenblik wider in sinen ersten ursprunc, dä stät der wille in siner rehten vrien art und ist vri." (Pr. 5b, 1/72, 29-32) Er hat "ein ieglichiu eigenschaft oder vürgesetzet werk, daz dir dise vriheit benimet alle zit niuwe" (Pr. 2,1/26, 33-35), 'gelassen'. "Dirre geist stät in einicheit und in vriheit." (Pr. 29, 1/328, 9) *

Das Motiv der Willenlosigkeit betont auch Margareta Porete, wenn sie in ihrem Spiegel im fingierten Gespräch zwischen Verstand, Liebe und Seele letztere sagen läßt: "In der Tat besitzt keine Seele den vollkommenen Frieden, außer sie hat keinen Willen mehr. [...] Die Leute, die keinen Willen mehr haben, leben in der Freiheit der Liebe; und wenn man von ihnen wissen will, was sie wollen, sagen sie mit Recht, daß sie nichts wollen. Diese Leute sind zur Erkenntnis ihrer Nichtigkeit [d.h. der Nichtigkeit ihrer Kreatürlichkeit] gekommen." (RS, 162 f.) Gelassenheit, Freiheit und Willenlosigkeit sind aber stets das Werk der Gnade, nicht das Ergebnis bewußter und voluntaristischer Anstrengung. Dies betont der Verfasser der Wolke des Nichtwissens:

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

"Denn falls jemand durch den mündlichen Vortrag oder ein Gespräch von der geistigen Übung dieses Werks hört und nun glaubt, er könne oder müsse durch mühselige Geistesarbeit dazu kommen, so täuscht sich ein solcher Mensch gewaltig, wenn er sich dann hinsetzt und in seinem Kopf grübelt, wie das wohl sein kann, und indem er in seiner Neugier vielleicht seine Vorstellungskraft auf widernatürliche Weise anstrengt und so eine Art Werk erfindet, das weder leiblich noch geistig ist. [...] Sieh dich deshalb um der Liebe Gottes willen vor bei diesem Werk und strenge auf keinen Fall deinen Verstand und deine Vorstellungskraft an. Denn wahrlich, ich sage dir, man kann nicht dazu gelangen, indem man diese anstrengt; laß daher beide sein und wirke nicht mit ihnen." (RS, 245)

2.6

Augenblicklichkeit, Unverfügbarkeit, Passivität

Die unio ist also ein dem Planen und Verfügenwollen des Menschen entzogenes Ereignis, das ihn plötzlich und unvorbereitet treffen kann, ein Ereignis, das sich auch nicht festhalten und erneut herbeizwingen läßt. Es geschieht — innerhalb der kategorialen Zeit — in einem Augenblick und währt auch nicht länger als einen Augenblick. Gregor der Große begründet dies mit der Defizienz des Erdendaseins, wenn er über die visio dei schreibt: "Hierbei ist freilich zu bedenken, daß keiner, solange er in diesem sterblichen Fleische lebt, in der Ausübung der Beschauung so weit kommt, daß er die Augen des Geistes unverwandt auf den Strahl jenes unumgrenzten Lichtes gerichtet hält." (RS, 106) In dieser Passage lassen sich mögliche Erfahrung und darauf bezogene Spekulation, mögliches Erlebnis — das konkret beschrieben werden kann — und erklärende Metaphysik relativ problemlos unterscheiden. Was als mystische Erfahrung beschreibbar ist, ist nicht das Jenseits, in dem der Augenblick als zur Ewigkeit gerinnend gedacht wird, sondern das Diesseits. Für letzteres ist die Struktur der unio als Plötzlichkeit und Augenblicklichkeit festzuhalten. 132 Bernhard von Clairvaux spricht von einem kontingenten "Wechsel zwischen Gehen und Wiederkommen des WORTES": "es geht und kommt zurück, wie es ihm beliebt" (RS, 121). Und in der Wolke des Nichtwissens ist die unio "bloß eine plötzliche Regung, die gleichsam unversehens schnell zu Gott überspringt, wie ein Funke aus der Kohlenglut schießt". Diese Regung bewirkt, daß "der Mensch plötzlich und vollkommen alle erschaffenen Dinge vergißt. Doch sofort nach jeder Regung läßt ihn die Verderbtheit des Fleisches wieder auf einen Gedanken oder eine Erinnerung an eine begangene oder noch nicht ausgeführte Tat verfallen. Doch was tut's? Denn gleich danach erhebt sich die Regung wieder ebenso plötzlich wie zuvor. " (RS, 244) Mystische Entrückungen negieren, wie bereits gesagt wurde, vor allem die Kategorie der Zeit. Sie 'versetzen' den Betroffenen aus der Zeit heraus — wenn auch nur flüchtig — und hinein in einen Zustand der Zeitlosigkeit bzw. der Ewigkeit. Im mystischen Erlebnis, das einerseits in der Zeit stattfindet, das andererseits aus der Zeit herausführt, treffen sich somit zwei einander logisch widerstreitende Dimensionen: Zeit und Ewigkeit. Das nunc wird zum nunc stans. Aber das nunc stans, die Ewigkeit, ist ein theolo-

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Prolegomena

gischer Begriff, der nicht ohne weiteres die Geltung der kreatürlichen Welt, in der das mystische Erlebnis statthat, außer Kraft setzt. In gewisser Weise wird die Ewigkeit von der Zeit nämlich wieder eingeholt: dann, wenn das mystische Erlebnis real zu Ende ist, wenn der Mystiker auf die unio als auf eine vergangene, obschon wiederholbare Erfahrung zurückblickt oder wenn er sie als künftig wiederholbare Möglichkeit vor Augen hat. Es ist ein wesentliches Charakteristikum der unio, daß sie nicht festgehalten werden kann, daß sie nicht dauert, daß sie — wenn auch in sich zeitlos — sich doch in der Zeit ereignet und etwas Augenblickliches und Vorübergehendes ist. Der Zeitpunkt, in dem sie statthat, ist freilich ein ausgezeichneter, ein Höhepunkt des kreatürlichen — kreatürlich bleibenden — Daseins, auf welchem Höhepunkt sich dieses Dasein (vorübergehend) 'erfüllt 1 , d.h. auf dem es in seine äußerste und höchste Möglichkeit gelangt. Diese vorübergehende, aber ausgezeichnete Zeit wird in der theologischen Literatur als kairos bezeichnet.133 Da der kairos etwas Unverfügbares ist, verdankt er sich der göttlichen 'Gnade'. Und da er durch aktive Anstrengung von seiten des Menschen nicht herstellbar ist, ist es für diesen naheliegend, sein Heil in einer vornehmlich rezeptiven, passiven Lebenshaltung zu suchen. Die möglichen Vorbereitungen, die der Mensch für eine künftige mystische Erfahrung bzw. für deren Wiederholung treffen kann, stehen nicht unter der Perspektive der Machbarkeit, der Herstellbarkeit und Verfügbarkeit (und haben eben deshalb nichts mit magischen Handlungen und Erwartungen zu tun). Die unio wird bei Eckhart — noch akzentuierter freilich bei Dionysius Areopagita und bei Tauler — als 'Erleiden Gottes' betrachtet. 134 Aktiv ist die Seele, wenn sie sich zur 'Bereitschaft' für die unio entschließt, alles weitere entzieht sich ihrer Verfügbarkeit: "Diu sele hat gewäget ze nihte ze werdenne und enkan ouch von ir selber ze ir selber niht gelangen, sö verre ist si sich entgangen, und e daz sie got hat understanden." (Pr. 1, 1/18, 7-9) Daß Gott sich in der unio dem Menschen gibt, daß er sie aber nicht als bleibenden Zustand gewährt und sich — zum Leidwesen des Betroffenen — auch wieder entzieht (ohne Garantie einer Wiederholung), wird vom Mystiker als Trennungsschmerz erfahren. "Ein heilige sprichet: ich enpfinde etwenne solcher süezicheit in mir, daz ich min selbes und aller creatüren vergizze und zemäle wil zervliezen in dich. Und sö ich ez zemäle wil umbevähen, herre, sö nimest dü mirz." (Pr. 79, 11/156, 28-31) Es ist so, daß jedes — restlich verbliebene oder neu aufkeimende — Moment des selbständigen, partikularen, ichbezogenen Willens kein 'Mittel', keinen Behelf und keine Stütze für die unio darstellt, sondern — im Gegenteil — nur als Stör- und Verhinderungsmoment fungiert. Jede Absicht, jede bestimmte Hoffnung und auch jede geplante Technik — die über die Technik der Vorbereitung hinausgehen möchte — erweisen sich im Hinblick auf einen möglichen Vollzug der unio als dysfunktional.

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

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Leiden, Einsamkeit, Todesnähe

Der Ausdruck 'Gottleiden' bezieht sich einerseits auf die Struktur der Passivität, des 'reinen Erleidens' der unio jenseits aller willentlichen Anstrengung und planenden Aktivität, andererseits aber auch auf Leiden im wörtlichen Sinn: Unzufriedenheit, Schmerz, Entbehrung. Dies letztere Leiden wird freilich nicht durch die unio selbst verursacht, sondern durch deren Entzug, durch ihr Ausbleiben. Ein Ausbleiben kann selbstverständlich nicht in der unio selbst, sondern nur außerhalb ihrer und somit im Bereich der Kreatürlichkeit erfahren werden. Leiden ist also nicht ein Moment der unio selbst, sondern ein Moment der Gesamterfahrung, in der die unio steht und in der sie selbst nur ein Moment ist, freilich eines, das in unterschiedlicher Weise alle anderen Momente dieser Gesamterfahrung mitbestimmt. Das geschieht insofern, als die Möglichkeit der unio unerkannt bleiben oder vergessen werden kann, was zu einer in sich verhärteten Entfremdung des Menschen führt, oder insofern, als die Möglichkeit der unio klar gesehen, aber als noch nicht oder nicht mehr realisiert erfahren wird. Dann treten beim Betroffenen Entzugserscheinungen auf, die ihn in eine merkwürdige Ambivalenz des Gefühlslebens versetzen: das Glück der unio ist, weil um sie gewußt wird, denkbar nahe und beinah gegenwärtig, aber es wird dennoch verweigert, und diese Verweigerung bedeutet Leiden.135 Bei Eckhart wird dieses Leidensmoment nicht so zentral thematisiert wie bei anderen Mystikern. Zu verweisen ist aber beispielsweise auf die 51. Predigt, wo Gott als 'Licht' und seine Abwesenheit als 'Finsternis' dargestellt werden: "Eigentlich fyndet man in der fynsternuß das liecht; also, wenn man leiden hat vnnd vngemach, so ist vns diß liecht aller nechst." (Pr. 51, 1/548, 1-3) Hieraus geht hervor, daß im gesamten mystischen Erfahrungsprozeß — in dem die unio nur ein 'Erfahrungspunkt' ist, sozusagen die Peripetie eines Dramas — Finsternis und Leiden, also die (zeitweise) Abwesenheit der unio, ein notwendiges und unverzichtbares Moment darstellen. Die 'Nacht' des Leidens und der Finsternis wird in vielen Zeugnissen der Frauenmystik 136 , aber auch bei Johannes vom Kreuz ausgiebig dargestellt.137 Sie kann stärker, wie in den angeführten Beispielen, oder schwächer, wie bei Eckhart, empfunden und thematisiert werden, sie ist aber offensichtlich eines der konstitutiven Charakteristika der mystischen Erfahrung. Was sich mit dem Moment des Leidens verbindet, sind auch die Momente der Einsamkeit und Todesnähe. Die Einsamkeit des Menschen radikalisiert sich bekanntlich in der (wahren oder vermuteten) Todesstunde, so daß Tod und Einsamkeit von je her einander konnotieren. Tod und Einsamkeit machen die für das alltägliche Leben charakteristische Ablenkung und Entlastung des Einzelnen durch den sozialen Kontext, in dem er sich bewegt und der ihn primär beschäftigt, plötzlich unwirksam. 138 Der einsame und todesnahe Mensch ist in besonderer Weise auf sich selbst und seine fragwürdige Vereinzelung zurückgeworfen (wie das Heidegger in Sein und Zeit eindrucksvoll gezeigt hat). 139 Tod und Einsamkeit stellen also eine besondere Situation, einen ausgezeichneten Modus der Erfahrung dar, worin die (alltäglich unbefragte und hingenommene) Vereinzelung zugleich scharf erkannt und als besonders unbefriedigend und fragwürdig erfah-

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Prolegomena

ren wird. Einsamkeit und Tod sind dazu geeignet, vordergründige Orientierungen aufzugeben und Lebenslügen zerbrechen zu lassen. Sie sind dazu geeignet, den Wert kreatürlichen Wollens, Erkennens und Handelns zu relativieren und das Ichgefühl zu destruieren. Daher kommt es in den mystischen Texten immer wieder auch zu einer positiven Bewertung von Einsamkeit und Tod, die geradezu als Voraussetzung für die in der metanoia ermöglichte neue Gemeinschaft (die Seins-Einheit in der unio) und das darin ermöglichte 'neue Leben' angesehen werden. Es sei, sagt Eckhart, "ein guotiu lere, daz sich der mensche halte in dirre werlt, als ob er tot si" (Pr. 8,1/96, 23-24), denn der 'Tod' der 'Kreatur' ist die Voraussetzung für das 'Leben' der 'Gottheit', d.h. der vollzogenen Vereinigung von Mensch und Gott. "Dar umbe muoz der mensche getoetet sin und gar tot sin und an im selben niht sin und gar entglichet und niemanne glich sin, sö ist er gote eigenliche glich." (Pr. 29, 1/334 f., 30-1) Die solcherart 'Toten' haben eine scheinbare Welt gegen eine wahre Welt vertauscht: "Sie hänt verlorn ein leben und hänt vunden ein Wesen." (Pr. 8, 1/98, 13) Der 'Tod' vernichtet die Kreatürlichkeit und macht tabula rasa zugunsten der unio. Der Sinn der Rede von Leben, Tod und Einsamkeit verschiebt sich in den mystischen Texten sehr rasch vom ursprünglichen Bezugsfeld des realen Sterbens auf eine andere, gleichnishafte Ebene, wo das Sterben des Kreatürlichen das Leben der unio bedeutet. Gleichbedeutend mit 'Tod' sind die Ausdrücke 'Einsamkeit', 'Einöde' und 'Wüste'. Sie werden mit der unio identifiziert. Das — vorerst aus einer konkreten, 'kreatürlichen' Vorstellung geschöpfte — Bild des Todes, der Leere, der Einöde, des 'Nichts' an Vielheit und Dingen, schlägt um in das Bild des Lebens, der Fülle, des wahrhaften oder Über-Seins. So werden Einsamkeit/Einöde/Wüste, aber auch 'Tod' und 'Nichts' zu negativ formulierten, aber positiv gemeinten Attributen Gottes bzw. der unio. Die menschliche Seele "nimet got in siner einunge und in siner einoede; si nimet got in siner wüestunge und in sinem eigenen gründe" (Pr. 10, 1/128, 2931). *

Sofern man sich im Christentum den Himmel, das Jenseits, die Transzendenz als Bild und als Gegenständlichkeit und Kategorialität 'höherer Ordnung' vorstellt, verflacht natürlich der existentielle Bezug, den die christlich konnotierte Symbolik von 'Tod' und 'Leben' dann hat, wenn die Transzendenz als unbestimmter, transgegenständlicher und transkategorialer Abgrund gedacht wird. Dieser Abgrund wird dann ja in nichts anderes rückverwandelt als in einen angeblich 'sicheren Grund', in eine 'neue Heimat', und er verliert, indem er Sicherheit und Geborgenheit suggeriert, den Charakter der radikalen Andersheit gegenüber dem Diesseits. Das Ganze der Wirklichkeit wird dann in der Vorstellung eben bloß verdoppelt, und durch diese Verdoppelung gerät die (logische und existentielle) Aporie, das Ganze überhaupt denken zu wollen, aus dem Blick. Die Wirklichkeit der mystischen Erfahrung wird so domestiziert und verharmlost. Eine derartige Verharmlosung findet statt, wenn der Tod nichts anderes mehr zu bedeuten hat als den Eintritt in ein 'anderes' und 'besseres' Leben, das man in seinen wesent-

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liehen Zügen bereits ausreichend zu kennen glaubt. Einen solch problemlosen Perspektivenwechsel hat Maximos der Bekenner vor Augen, wenn er schreibt: "Wie der Leib beim Sterben von allen weltlichen Dingen getrennt wird, so auch der Geist, wenn er durch höchstes Gebet stirbt: er wird von allen welthaften Gedanken abgeschieden. Denn würde er eines solchen Todes nicht sterben, so könnte er nicht bei Gott gefunden werden und leben." (RS, 110) Ähnlich umstandslos argumentiert Margareta Porete, wenn sie über den Zustand der Seele, "die aus Liebe gestorben ist", befindet: "Sie hat es mit der Welt beendet; und die Welt hat ein Ende mit ihr gemacht und Abschied von ihr genommen. Und daher lebt sie in Gott und kann dort weder sündigen noch Laster haben." (RS, 162) Eine Verharmlosung des 'Abgrunds' liegt aber auch vor, wenn das konkrete Leiden uminterpretiert wird in ein fiktives Leiden. Eine solche Stelle findet sich in Eckharts Buch der göttlichen Tröstung: "allez, daz der guote mensche lidet durch got, daz lidet er in gote, und got ist mit im lidende in sinem lidenne. Ist min liden in gote und mitlidet got, wie mac mir danne liden leit gesin, sö liden leit verliuset und min leit in gote ist und min leit got ist?" (BgT, 11/300, 14-18) Man kann in den Mystiktexten zuweilen eine gewisse Ambivalenz und auch Unklarheit feststellen, wenn es darum geht, wohin sich die Transzendenzbewegung, die von der 'Kreatur' wegführt, näherhin wendet, ob die Abkehr wahrhaft in eine 'Wolke des Nichtwissens' mündet oder in die Suggestion eines angeblich neuen Wissens, das erneut kategorienfixiert ist und damit die Kreatürlichkeit, d.h. die Welt der gegenständlichkategorialen Vorstellungen nicht abarbeitet, sondern sie lediglich spekulativ verdoppelt.

2.8 Der mystische 'Weg' als Stufenprozeß und die Praxis, mit ihm umzugehen (Vorbereitung und Methode) Immer wieder wird die unio als 'unbeschreiblich' bezeichnet. Was die mystischen Texte darstellen, ist — inhaltlich — aber auch nicht sosehr die unio, sondern ist der Kontext, in dem sie stattfindet, der Erfahrungsprozeß (samt dessen spekulativem 'Überbau'), in dessen Mittelpunkt sie steht. Die unio ist das Ziel eines 'Weges', der in voneinander mehr oder minder klar unterscheidbare 'Stufen' gegliedert ist. Wer diesen Weg schon einmal oder mehrere Male gegangen ist, für den gewinnt er eine in sich gegliederte Gestalt, deren einzelne Partien einander funktional zugeordnet sind und, als Zeitfolgen, der Ökonomie einer Ermöglichung der unio dienen. Obwohl dieses Modell nicht herstellbar ist (das wäre ein von der Magie, nicht von der Mystik zu erhebender Anspruch), kann man es beachten, von ihm wissen, sich ihm angleichen und dergestalt — freilich stets im Bewußtsein der Unverfügbarkeit, der 'Gnade' — an seiner Realisierung mitwirken. Im Sinn eines solchen Mitwirkens werden in der Geschichte der Mystik Methoden der Kontemplation ausgearbeitet und weitergegeben, die dem Mystiker helfen, sich auf das mystische Erlebnis vorzubereiten.

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Prolegomena

Solche Methoden und Vorbereitungen sind verständlicherweise nur in kulturellen und sozialen Kontexten möglich, in denen Mystik nicht ein unverstandenes Erlebnis darstellt, dem man ratlos gegenübersteht und das man weiter nicht beachtet (wie das in der säkularisierten Moderne weitgehend der Fall ist), sondern Kontexte, in denen die Mystik zu einer eigens beachteten, eigens interpretierten Erlebnismöglichkeit geworden ist, der eine sinnvolle Funktion im Leben der Menschen zugeschrieben wird. Damit ist in den meisten Fällen auch ein theoretischer 'Überbau', eine theologische und/oder philosophische Konzeptualisierung der Mystik verbunden, sei es eine religiöse, in der es um die Begegnung mit Gott und Vollendung in Gott geht, oder eine profane, an anthropozentrischer Psychologie orientierte Konzeptualisierung, die eine 'Selbstfindung' (also eine Art 'Entstörung') der Persönlichkeit propagiert. Diese Konzeptualisierungen, die als theoretische Ausgestaltungen der mystischen Erfahrung anzusehen sind, wirken als Wissens- und Erwartungsformen natürlich auch auf das konkrete mystische Erleben zurück, das sich ja nicht jenseits aller Begrifflichkeit abspielt. Sie geben dem mystischen Erleben somit eine Form und ein Ablaufschema vor, das gegenüber dem konkret Erlebenden freilich ambivalent bleibt: es kann 'greifen', aber auch 'leerlaufen', es kann teilweise, ganz oder überhaupt nicht mit der konkreten Erfahrung des Betreffenden übereinstimmen. Daher erklärt es sich, daß es in der mystischen Literatur unterschiedliche Weg- und Stufenbeschreibungen gibt. Es ist aber festzuhalten, daß mystische Erfahrung einen Ablauf, einen Weg, einen Prozeß mit unterschiedlichen, jedoch sinnvoll aufeinander bezogenen Phasen darstellt, die sukzessive auf die unio zulaufen und, da diese kein bleibender Zustand ist, auch wieder von ihr wegführen. Bei Eckhart hat — im Gegensatz zu anderen Mystikern — der Stufenweg freilich eine eher untergeordnete Bedeutung. Recht allgemein heißt es in der 42. Predigt: "Nü wizzet: alliu unser volkomenheit und alliu unser saelicheit liget dar ane, daz der mensche durchgange und übergange alle geschaffenheit und alle zitlicheit und allez wesen und gane in den grünt, der gruntlös ist." (Pr. 42,1/456, 3-6) Dieses 'Durch- und Hinausschreiten' kann zwar gewissermaßen in einem einzigen Akt geschehen, meist aber erfolgt es, wie gesagt, in Stufen. Folgt man den Beschreibungen der Mystiktexte genauer, ist freilich zu betonen, daß der Stufenweg sich meist auf die Phase der Vorbereitung bezieht, nicht auf die 'unaussprechbare' und jenseits aller Kategorien (und somit: jenseits möglicher Einteilungen und Unterscheidungen) befindliche unio. Mit dem Bild der Stufen (und damit einer Treppe oder Leiter) verbindet sich das Bild des Aufwärtsgthens. Alttestamentarische Referenzmotive hiefür sind Jakobs Himmelsleiter 140 , aber auch der Berg Karmel sowie — am öftesten bemüht141 — der Aufstieg des Moses auf den Berg Sinai142. Für Dionysius Areopagita, den Eckhart in der 19. Predigt zitiert, ist das Gebet "ein vernünftic üfklimmen in got" (Pr. 19,1/218, 17-18) Aber auch das diskursive Denken versteht Dionysius als stufenweisen 'Aufstieg', bei dem "unsere Seele langsam von der ihr gleichgearteten Welt abgezogen und über sie allmählich emporgehoben" wird. (D, 156) Tugenden und äußerliche Übungen sind nützliche Verhaltensformen auf dem mystischen Weg, aber weder notwendige noch hinreichende Bedingungen, um auf ihm weiterzukommen. Für die Seele gilt, "daz si geliutert wirt in üebunge der tugende, daz ist,

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Charakteristika

der mystischen

Erfahrung

swenne diu sele üfklimmet in ein leben, daz vereinet ist" (Pr. 8,1/102, 21-22). Doch diejenigen sind noch unvollkommen, "die mit eigenschaft gebunden sint an gebete, an vastenne, an wachenne und aller hande üzerlicher üebunge und kestigunge" (Pr. 2, 1/26, 26-28). Derartige Handlungen, aber auch die 'Kräfte', die diese Handlungen durchführen und motivieren, haben nur vorbereitend-mitwirkenden Charakter: sie erleichtern die unio, zitieren sie jedoch nicht herbei. "Götlich lieht enmac niht in sie [die Kräfte] geliuhten; aber mit üebunge und mit abelegunge mügen sie enpfenclich werden." (Pr. 10, 1/118, 27-28) Empfänglichkeit meint Bereitschaft, die gleichwohl noch immer auf 'Gnade' angewiesen ist. Nach Eckhart "bereitet sich diu sele in üebunge. Da von wirt si entvenget [entzündet] von oben her nider." (Pr. 20a, 1/228, 32-33) In der 86. Predigt mahnt Eckhart, die Tugenden dennoch nicht gering zu achten, indem er — entgegen geläufiger Interpretation — die Evangelienstelle, an der Jesus ins Haus der Schwestern Martha und Maria kommt (Luk. 10,38), zugunsten der 'geschäftigen' Martha interpretiert. Martha und Maria, die gewissermaßen Allegorien von vita activa und vita contemplativa darstellen, veranschaulichen zwei ' Mittel', um zu Gott zu gelangen. Diese 'Mittel' schließen keineswegs einander aus, sondern stehen zueinander in einer sinnvollen Reihenfolge. "Mittel", sagt Eckhart, "ist zwivalt. Einez ist, äne daz ich in got niht komen enmac: daz ist werk und gewerbe in der zit, und daz enminnert niht ewige saelde. Werk ist, so man sich üebet von üzen an werken der tugende; aber gewerbe ist, sö man sich mit redelicher bescheidenheit üebet von innen. Daz ander mittel daz ist: bloz sin des selben. Wan dar umbe sin wir gesetzet in die zit, daz wir von zitlichem vernünftigen gewerbe gote naeher und glicher werden." (Pr. 86,11/214 f., 22-2) Obwohl die vita contemplativa rangmäßig höhersteht als die vita activa, darf letztere nicht einfach 'übersprungen' werden. Der vordergründige Widerspruch zwischen verschiedenen Eckhart-Texten, die — wie hier — das 'Wirken' und die aktiven 'Tugenden' gutheißen und — andernorts — sie als ausgesprochene Hemmnisse auf dem mystischen Weg charakterisieren, läßt sich durch die Beachtung des jeweiligen argumentativen Kontexts auflösen. Auf einer bestimmten, vorbereitenden Wegstrecke ist Aktivität sinnvoll und sogar notwendig, am Punkt der unio jedoch ist sie, weil Aktivität stets auf Partikulares gerichtet bleibt, nur noch störend. Da die unio jedoch ihrerseits ein zeitlich vorübergehender Zustand ist und als ein solcher reflektiert wird, führt sie keineswegs zu einer allgemeinen Lähmung der lebensweltlichen Aktivitäten dessen, der die unio erfahren hat. Es ist vielmehr so, daß Eckhart für das menschliche Dasein auf Erden ein 'gelassenes Wirken' fordert. Für den mystischen Weg gebraucht Eckhart verschiedene Bilder, z.B. jenes der Sonnenbahn und der Tageszeiten: "Daz götliche lieht gät üf in der sele und machet einen morgen, und diu sele klimmet üf in dem liehte in eine wite und in eine hoehe in den mittentac; dar nach volget der äbent." Den Höhepunkt, die unio, bezeichnet hier nicht der Mittag, sondern der (mit dem 'letzten Abendmahl' in Zusammenhang gebrachte) Abend: "Swenne diu sele gesmecket in der äbentwirtschaft der spise und daz vünkelin der sele begrifet daz götliche lieht, sö endarf ez keiner spise me und ensuochet niht üzenund heltet sich allez in dem götlichen liehte." (Pr. 20b, 1/234, 11-14, 21-24) Die Bilder von Morgen, Mittag und Abend stehen hier also für die drei Wegstufen.

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Prolegomena

In der 86. Predigt spricht Eckhart zwar nicht von Stufen, aber von drei verschiedenen Wegen: "Diu sele hat dri wege in got. Der eine ist: mit manicvaltigem gewerbe, mit brinnender minne in allen creatüren got suochen. [...] Der ander wec ist wec äne wec, vri und doch gebunden, erhaben und gezucket vil nähe über sich und alliu dinc äne willen und äne bilde, swie aleine ez doch weseliche niht enstä. [...] Der dritte wec heizet wec und ist doch heime, daz ist: got sehen äne mittel in sinesheit." (Pr. 86, 11/216 f., 26-28, 1-3, 29-30) Offensichtlich gehören diese 'drei Wege' zusammen, bedingen einander und können als die drei aufeinanderfolgenden Stufen eines Weges verstanden werden, an dessen Ende die visio dei, die — wie die klassische Mystikformel lautet — 'eingegossene Beschauung' Gottes, steht. (Die visio ist eine Umschreibung für die unio, das heißt: in ihr wird nichts Einzelnes, sondern alles in seiner Einheit 'gesehen', und dieses 'Sehen' ist keine unter kategorialen Bedingungen ablaufende sinnliche oder vernunftmäßige Aktivität mehr, sondern es steht jenseits der Sinne und des Denkens, jenseits von Aktivität und Passivität, von Subjekt und Objekt.) Angesichts der visio verfällt Eckhart in einen geradezu hymnischen Tonfall: "Nü lose wunder! Welch wunderlich stän üze und innen, begrifen und umbegriffen werden, sehen und sin diu gesiht, enthalten und enthalten werden: daz ist daz ende, dä der geist blibet mit ruowe in einicheit der lieben ewicheit." (Pr. 86, 11/220, 7-10) Eckhart hält sich in der zitierten Darstellung des mystischen Wegs an das für die Mystik klassische Dreistufenschema katharsis—photismos—henosis bzw. purgatio— illuminatio—perfectio, das er der plotinisch-dionysischen Tradition entnimmt und das er, wie die meisten Mystiker, gleichermaßen ontologisch wie auch erkenntnistheoretisch und moralisch versteht. Die erste Stufe meint eine 'Reinigung' und Abkehr von den Kategorien und jedem Eigenwillen. In der zweiten Stufe tritt die Wirklichkeit in ein neues, sinnstiftendes Licht. Die dritte Stufe bezeichnet die unio. Dieser Dreischritt — den Karl Albert schon bei Parmenides und Piaton vorgebildet sieht143 — ist das am häufigsten begegnende Stufenschema, das der konkreten mystischen Erfahrung wohl auch am angemessensten ist. Eckhart —• und nach ihm vor allem Jakob Böhme — setzen den dreigeteilten mystischen Weg auch sehr detailliert mit der (als Prozeß und Abfolge, bildlich: als 'Geburt' verstandenen) göttlichen Trinität in Verbindung. In der Predigt Vom edlen Menschen verläßt Eckhart jedoch das Dreistufenschema und ersetzt es — unter Berufung auf Augustin — durch ein Schema von sechs Stufen, das zum "innern und [...] niuwen menschen" (VeM, 11/318, 18) führen soll und mit dem individuellen menschlichen Reifungsprozeß — von der Kindheit und Jugend bis zum Erwachsensein — verglichen wird. Die Schlußstufe ist die der 'Gotteskindschaft': "Der sehste grät ist, so der mensche ist entbildet und überbildet von gotes ewicheit und komen ist in ganze volkomen vergezzenlicheit zergancliches und zitliches lebens und gezogen ist und übergewandelt in ein götlich bilde, gotes kint worden ist. Vürbaz noch hoeher enist enkein grät, und dä ist ewigiu ruowe und saelicheit, wan daz ende des innern menschen und des niuwen menschen ist ewic leben." (VeM, 11/320, 8-14)

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

Euagrius Pontikus (4. Jahrhundert) spricht von einem dreistufigen Weg zu Gott: 'praktike', 'physike' und 'theologike 1 . Die nähere Bestimmung dieser Stufen entspricht ungefähr dem neuplatonischen Dreischritt. Bernhard von Clairvaux bringt in seinem Hoheliedkommentar den Dreischritt im Bild der Aufeinanderfolge 'dreier Küsse' — Fuß-, Hand- und Mundkuß — zum Ausdruck. 144 Der orientalische Mönch Johannes Klimakos nimmt hingegen nicht bloß drei, sondern dreißig Stufen an, die er zu den 30 Lebensjahren Jesu (gezählt von der Geburt in Bethlehem bis zur Taufe im Jordan) in Analogie setzt. Der Beiname 'Klimakos' bezieht sich auf die von Johannes konzipierte dreißigstufige Klimax. Nach Angela von Foligno sind es ebenfalls 30 Schritte, die die Seele auf ihrem Weg zu Gott zurückzulegen hat. Bonaventura hält in De triplici via zwar am Dreistufenschema fest, doch differenziert er jede Stufe noch einmal in drei Unterstufen, so daß insgesamt ein neunstufiges Schema entsteht. In seinem Itinerarium mentis in deum formuliert Bonaventura aber wiederum ein siebenstufiges Schema. 145 Was die sieben Stufen repräsentieren, sind die einzelnen — von der scholastischen Philosophie formulierten— 'Seelenvermögen': 1. das Sinnesvermögen, 2. die Vorstellungskraft, 3. der Verstand, 4. die Vernunft, 5. die 'Einsicht', 6. die 'Seelenspitze' und 7. die Ekstase. Eine bekannte Ausgestaltung des siebenstufigen Schemas findet sich schließlich im 14. Jahrhundert bei Rudolf von Biberach (De Septem itineraribus aeternitatis bzw. Die siben strassen zu got).146 Margareta Porete wiederum spricht in ihrem Spiegel von vier Stufen, über die "die freie Seele [...] vorangeht und frei das göttliche Licht lebt" (RS, 167). Es ist offenkundig, daß kulturell vorgegebene Denkfiguren— 'heilige Zahlen' sowie theologisch und/oder philosophisch kanonisierte Begrifflichkeiten — hier eine maßgebende Rolle spielen. Zuweilen — wie bei der erwähnten Angela von Foligno — ist es auch so, daß Berufung auf ein formales Schema und inhaltliche Beschreibung der mystischen Erfahrung nicht kohärent sind. Angela postuliert 30 Stufen, obwohl "das Werk nur 26 Stufen [enthält], in denen die logische Abfolge der einzelnen Schritte immer wieder gestört erscheint. Konkrete Erfahrungen und theoretisches Schema sind nicht vollkommen aufeinander abgestimmt: ein Zeichen dafür, daß einer Schematisierung der Wirklichkeit Grenzen gesetzt sind." 147 Sicherlich korrespondiert bei manchen mystischen Schriftstellern ein relativer Mangel an Erfahrung und Erfahrungsintensität dem Bemühen, dafür den Leser mit umso komplexeren Abstraktionen zu beeindrucken. Eine solche Verselbständigung, ein geradezu hemmungsloses Wuchern der zwar durch Erfahrung motivierten, sich aber von ihr zunehmend entfernenden Spekulation finden wir schon in der älteren neuplatonischen und gnostischen Literatur. Form und Inhalt der mystischen Erfahrung stehen offenkundig stets in einem labilen Gleichgewicht. Erfahrung setzt Formen voraus und produziert ihrerseits — im Akt der Repräsentation — wiederum Formen, wobei sich diese Formen, werden sie von der Erfahrung abgekoppelt, in extremer Weise verselbständigen können. Die Verselbständigungstendenz der Formen, die sich exemplarisch im Problem der Zahlenschemata des 'mystischen Wegs' zeigt, ist zweifellos eines der Einfallstore, die die Mystik für eine obskurantistische Interpretation der ihr zugrunde liegenden Erfahrung bereithält.

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Prolegomena

Die prozessuale Erfahrung, die Mystik darstellt, verlangt in ihrer Repräsentation und Vergewisserung jedoch unleugbar eine sequentielle Interpretation. Daß diese Sequenzen unterschiedlich angesetzt werden können, hat mit dem Analogiecharakter von Form und Inhalt, von Begriff und Erfahrung, von 'fester' und 'flüssiger' Wahrnehmung zu tun. Analogie bedeutet, neben Konvergenz, auch Differenz, die in einer übergreifenden Einheit nicht noch einmal thematisiert und zum Stillstand gebracht werden kann. Man wird jedoch behaupten dürfen, daß im Hinblick auf die Authentizität einer konzeptualisierten Erfahrung ein Prinzip nach der Art des occamschen Rasiermessers angebracht ist. So gesehen, scheint das dreistufige Schema, wie wir es bei Plotin, Dionysius Areopagita und Eckhart vorfinden, der quasi 'vorkonzeptuellen' 148 mystischen Erfahrung am nächsten zu stehen, scheint es authentischer zu sein als die 'wuchernden' Schemata, die sich zwar um größere Komplexität der Darstellung bemühen, dabei jedoch auch zunehmend unübersichtlicher und fragwürdiger werden. *

Da die Stufenfolge — wie immer sie nun näherhin aussehen mag — erfahren und reflektiert werden kann, stellt sich die Frage nach Übung, Vorbereitung und Methode, um diesen Weg erfolgreich zu gehen, mögliche Dispositionen zu stärken und mögliche Hindernisse zu umgehen. Obwohl die fernöstliche Mystik diesem Aspekt weitaus mehr Beachtung schenkt als die westliche, so hat diese ebenfalls — vom sogenannten Hesychasmus eines Pseudo-Symeon (14. Jahrhundert) bis zu Ignatius von Loyola — entsprechende methodische Anleitungen ausgearbeitet. Die Notwendigkeit, die Stufen des Aufstiegs zu Gott in ihrer vorgegebenen Reihenfolge zu kennen und solcherart zu gehen, daß man sich jede dieser Stufen eigens erarbeitet und sie als Voraussetzung dafür erkennt, die nächsthöhere zu erreichen, veranschaulicht Pseudo-Symeon mit einem architektonischen Gleichnis: "Wer ein Haus baut, errichtet das Dach nicht vor dem Fundament (ein Ding der Unmöglichkeit), sondern er errichtet zuerst das Fundament, dann baut er auf, und zuletzt zimmert er das Dach. Hier [im hesychastischen Beten] verhält es sich ebenso. Durch die Wachsamkeit des Herzens und die Verminderung der Leidenschaften legen wir die Fundamente unseres geistigen Hauses; wenn wir sodann durch die zweite Wachsamkeit den durch die äußern Empfindungen ausgelösten Sturm der bösen Geister abwehren, entrinnen wir unverzüglich dem Kampf und errichten auf den Fundamenten die Mauern des geistigen Hauses. Durch die Vollkommenheit unserer Neigung zu Gott und durch unsere Zurückgezogenheit errichten wir schließlich das Dach und vollenden damit unser geistiges Haus in Jesus Christus [...]." (RS, 182)

Daß mystische Erfahrung geübt werden will, betont auch Eckhart in den Reden der Unterweisung: "Triuwen, des enist niht genuoc, daz des menschen gemüete abegescheiden st in einem gegenwertigen puncten, als man sich gote vüegen wil, sunder man muoz eine wolgeüebete abgescheidenheit haben, diu vor- und nächgände si. Denne mac man gröziu dinc von gote enpfähen und got in den dingen. Und ist man

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

unbereit, man verderbet die gäbe und got mit der gäbe. Daz ist diu sache, daz uns got niht gegeben enmac alle zit, als wir ez biten. Ez gebrichet an im niht, wan im ist tüsentstunt gaeher ze gebenne wan uns ze nemenne. Aber wir tuon im gewalt und unreht mit dem, daz wir in sines natürlichen Werkes hindern mit unser unbereitschaft." (RdU, 11/408 f., 29-6)

2.9 Schweigen, apophatisches und paradoxes Sprechen Ein großer Teil der bisher angeführten Zitate aus den Predigten und Traktaten Eckharts sowie aus anderen Mystiktexten enthält negative (apophatische) und paradoxe Aussagen, die von der unio und den mit ihr verbundenen Empfindungen und Gefühlen in der menschlichen Seele handeln. Da die unio (als menschliche Erfahrung) mit Gott selbst — exakter: mit der Gottheit — identifiziert wird, wiederholen sich die negativen und paradoxen Aussagen in der Beschreibung der göttlichen Attribute. So sagt Eckhart über die göttliche Trinität: "Diu einicheit ist der underscheit, und der underscheit ist diu einicheit. Ie der underscheit mer ist, ie diu einicheit mer ist, wan daz ist underscheit äne underscheit. Waeren da tüsent persönen, so enwaere doch da niht dan einicheit." (Pr. 10, 1/130, 10-14) Die (in der quintschen Übersetzung mit Bedacht kursiv gesetzte) Kopula "ist", die Subjekt und Objekt, (auszusagende) Sache und (ausgesagtes) Attribut verbindet, hat in diesem Sprachspiel offenkundig reversible Bedeutung und drückt eine Tautologie aus. Wäre die Tautologie bloß ein statisches Bild und bloß ein aussagender Sprechakt, könnte sie schwerlich dem Verdikt entgehen, es würden hier sinnlose Sätze formuliert. Sinn gewinnt die Tautologie aber, wenn man sie als performativen Sprechakt auffaßt, der, indem er vollzogen wird, seine Bedeutung nicht nur in Handeln umsetzt, sondern dabei auch diese Bedeutung verschiebt und verändert, und zwar so, daß Reversibilität entsteht. In der zitierten Passage über die Trinität wird also nicht etwa der Begriff einer (gegenständlichen) Vielheit in den Begriff einer (gegenständlichen) Einheit überführt und darin aufgelöst. Es findet auch nicht ein Überführen und Auflösen der Einheit zurück in die Vielheit statt. Was angesprochen wird, ist vielmehr ein untergründiger Sachzusammenhang zwischen Einheit und Vielheit, der jenseits der Gegenständlichkeit, d.h. der identifizierbaren Vereinzelung von Einheit und Vielheit anzusetzen ist und der besagt, daß Einheit und Vielheit 'in gewisser Weise' ein und dasselbe sind, daß diese Selbigkeit aber doch auch den Unterschied beider 'in gewisser Weise' wahrt. Die Frage ist freilich, wie — und ob überhaupt — diese 'gewisse Weise' denkbar ist und zur Sprache gebracht werden kann. Seit Descartes und Kant, insbesondere aber in der sprachanalytischen Philosophie wetteifert man darin, möglichst klare und enge Normen zu veranschlagen, denen gemäß 'vernünftig zu denken' und 'sinnvoll zu sprechen' sei. Solche Normen versagen jedoch völlig bei einer Rezeption mystischer Texte, sofern diesen nicht von vornherein eine Motivation durch psychisch-krankes oder logisch-fehlerhaftes Denken unterstellt wird. Gegen die 'Einseitigkeit des Intellekts' wetternde Liebhaber mystischer Texte tendieren dazu, die Abweichungen der mystischen gegenüber der 'gewöhnlichen' Sprache mit dem Gestus des 'esoterisch Wissenden' blind zu verteidigen, ohne sie in ihrer Eigenheit 95

Prolegomena

zu durchschauen. 149 Ihnen genügt die 'Ahnung', daß die Sache 'irgendwie' doch einen Sinn ergebe und daß hinter diesen schwierigen Aussagen sehr wohl ein elaboriertes Denken stehe. Aber sie begnügen sich damit, ihre 'black box' feierlich zu hüten. Sie verfallen damit einem aus der Geschichte frühliteraler Kulturen bekannten Phänomen, für das der Umgang der Hebräer mit ihrer 'Bundeslade' ein Beispiel darstellt: dem Fetischismus gegenüber 'heiligen Texten'. Auch ein dergestalter Umgang mit Mystik ist offenkundig eine Möglichkeit, obskurantistisch mit ihr umzugehen. Jetzt geht es mir freilich noch nicht um eine zureichende Interpretation mystischen Denkens und Sprechens, sondern nur darum, dieses Denken und Sprechen in seiner charakteristischen Abweichung vom 'üblichen' Denken und Sprechen zu kennzeichnen. Schwer ausdrückbare Inhalte, z.B. neu auftauchende und komplizierte Gefühlslagen, apophatisch zu umschreiben oder sie paradox zu formulieren oder die Rede hierüber in ein 'erfülltes' Schweigen münden zu lassen, sind Sprachgesten, die wir auch aus nichtmystischen Texten kennen, insbesondere aus der Poesie.150 Demnach kann man die 'mystische Sprache' prinzipiell nicht durch die Verwendung angeblich spezifisch mystischer Formelemente (etwa bestimmter rhetorischer Figuren oder syntaktischer Muster) charakterisieren, sondern nur durch deren auffällige Häufung im Zusammenhang mit einer spezifischen Terminologie. Diese wird in der christlichen Mystik — auch bei Eckhart — vorwiegend aus der theologischen Tradition entnommen. Im Hinblick auf den Begriff Seele bzw. Gott werden Apophasis, Paradoxon und das Umkippen der Rede ins Schweigen so stark bemüht wie bei keinem anderen möglichen Thema des Denkens und Sprechens. Dies ist wohl deshalb so, weil die unio so etwas wie die letzte und radikalste Möglichkeit des sich selbst transzendierenden Denkens und Sprechens thematisiert. (Über die All-Einheit hinaus ist per definitionem nichts Größeres, Umfassenderes mehr zu denken.) Hinzu kommt als weiteres Motiv, besagte Denk- und Sprachfiguren zu verwenden, die extrem gesteigerte Emotionalität, die den Menschen befällt, wenn er sich auf den 'mystischen Weg' eingelassen hat. Im folgenden seien einige diesbezügliche Textbeispiele angeführt. Vielfach betont Eckhart — ganz in der Nachfolge der Mystischen Theologie des Dionysius Areopagita — die 'Unaussprechlichkeit' der unio, d.h. Gottes und der Seele: "Got, der äne namen ist — er enhät enkeinen namen —, ist unsprechelich, und diu sele in irm gründe ist si ouch unsprechelich, als er unsprechelich ist." (Pr. 17, 1/200, 4-6) Diese Unaussprechlichkeit ergibt sich aus der Transgegenständlichkeit und Transkategorialität der unio, aus deren 'Bildlosigkeit', die sich jeder sprachlichen und kognitiven Strukturierung entzieht: "daz ist über allez, daz man gewort'en mac." (Pr. 86, 11/220, 6) Was von Gott gilt, gilt auch vom 'Seelenfünklein', dessen verschiedene Synonyma ('Bürglein', 'Seelenspitze' usw.) immer nur eine Verlegenheit darstellen, das offenkundig Unbezeichenbare zu bezeichnen: "ez enist weder diz noch daz; nochdenne ist ez ein waz, daz ist hoeher boben diz und daz dan der himel ob der erde. [...] Ez ist von allen namen vri und von allen formen blöz, ledic und vri zemäle, als got ledic und vri ist in im selber. Ez ist so gar ein und einvaltic, als got ein und einvaltic ist, daz man mit dekeiner wise dar zuo geluogen mac. [...] Möhtet ir gemerken mit minem herzen, ir verstüendet wol, waz ich spriche, wan ez ist war und diu wärheit sprichet ez selbe." (Pr. 2,1/32 f., 30-32, 1-5, 12-

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

14) Die Ausdrücke 'wise' und 'luogen' sind eigens zu beachten. Sie meinen das 'natürliche', also das kreatürlich-kategoriale Erkennen, das allenfalls an die uriio heranführt, sie selbst aber nicht begreifen und ausdrücken kann. Der Gegensatz von kreatürlicher Welt und Gott(heit) ist zugleich ein ontologischer und gnoseologischer, und er wird in wechselnden Bildern und Begriffen umschrieben: als 'natürlich' versus 'übernatürlich', als 'äußerlich' versus 'innerlich', als 'Nichts' versus 'Sein'. Gott sei, heißt es in der 80. Predigt, "überwesenlich und Überredelich und überverstentlich, daz natiurlich verstän ist" (Pr. 80,11/160, 23-24). "Da von sprichet der liehte Dionysius, wä er von gote schribet, da sprichet er: er ist über wesen, er ist über leben, er ist über lieht; er engibet im noch diz noch daz, und er meinet, daz er si neizwaz, daz gar verre dar über si." (Pr. 71,11/72, 7-11) Alles sinnlich Wahrnehmbare und alles kategorial Denkbare ist immer nur Metapher, die über sich hinausweist und sich selbst in einer Bewegung radikalen Transzendierens befindet. Das mystische Denken und Sprechen drückt dieses Transzendieren aus, in dessen Ablauf die 'suchende' (kreatürliche) Vernunft umschlägt in eine "vernünfticheit, diu da niht suochende enist, diu da ein lüter lieht in ir selber ist" (Pr. 71,1/66, 30-31). Das in Metaphern sich vorwärts bewegende Transzendieren vernichtet auf seinem Weg immer wieder die Bildlichkeit, deren es sich eben noch bedient hat: "got 'liuhtet in einer vinsternisse', da entwahset diu sele allem liehte" (Pr. 72, 11/86, 20-21). Die Erkenntnis der unio ist ein 'nichterkennendes Erkennen' des Seins, das unter der Perspektive des kreatürlichen Seins ein 'Nichts' ist. Die unio kann kreatürlich nicht gesehen und erkannt, und es kann auch kreatürlich nicht von ihr gesprochen werden: "Ich enmac niht gesehen, daz ein ist. Er [Paulus während seines Damaskus-Erlebnisses] sah niht, daz was got. Got ist ein niht, und got ist ein iht. Swaz iht ist, daz ist ouch niht." (Pr. 71, 11/72, 5-7) Sprechen und Denken werden von Eckhart offensichtlich synonym verstanden. Neben dem menschlichen Erkennen und Sprechen, die ganz an Kreatürlichkeit gebunden sind, gibt es das Denken und Sprechen der Engel, und zuletzt gibt es das göttliche Denken und Sprechen. Es ist aber nicht so, daß Engelsprache und göttliche Sprache dem Menschen ein für allemal verschlossen und unzugänglich wären, denn die analogia entis von Gott und Mensch ermöglicht den Überstieg der kreatürlichen Seele in die unio. Der Mensch ist zwar fähig, die göttliche Sprache zu hören, aber er kann sie selbst nicht ausdrücken. Er kann sie nicht dazu verwenden, eine Beschreibung oder Erklärung der unio zu liefern und die unio somit anderen Menschen, die die göttliche Sprache nicht oder nur unzureichend vernommen haben, nahezubringen. Wenn der Mensch spricht und sein Denken sprechend mitteilt, dann kann er das nur in der kreatürlichen Sprache tun. Er kann dann von der und über die unio sprechen, aber nicht in und aus ihr. Er kann, anders ausgedrückt, also nur im Modus der Entfremdung von ihr sprechen, so daß (kreatürliche) Sprache zwar das unumgängliche Mittel darstellt, von der unio zu reden, aber ein Mittel, das das Mitzuteilende immer auch verzerrt und verfälscht, es zumindest immer irgendwelchen möglichen Mißdeutungen aussetzt. In der Predigt 20a erklärt Eckhart: "Der gebreste ist an der zungen. Daz kumet von dem überswanke der lüterkeit sines wesens." (Pr. 20a, 1/224, 19-20) In der 17. Predigt zitiert er Gregor den Großen: "Gregörius sprichet: swaz wir von götlichen dingen reden,

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Prolegomena

daz müezen wir stameln, wan man muoz im wort geben." (Pr. 17, 1/202, 33-35) Aber die Rede von den 'göttlichen Dingen' kann auch sinnvollerweise — anstatt sich weiterhin in Kaskaden einander verschlingender Metaphern, in Negationen und Paradoxa zu ergehen — in ein 'erfülltes' Schweigen münden. Eckhart zitiert dafür Augustin: "Das schoneste, de der mensche gesprechen mag von gotte, de ist, das er von wisheit inners richtvomes swigen kvnne." (Pr. 83, 11/190, 26-28) Das menschliche Schweigen— als kommunikative Fortsetzung wie als kategoriale Negation der Rede — korrespondiert der Leere und Einöde Gottes. Die Negation des Sprechens korrespondiert der Negation des kategorialen Denkens und der Negation der vielgestaltigen Wirklichkeit. Die Leere und Einöde Gottes kennt kein Bild und keine Vermittlung mehr. Nur in der Stille kann das 'Wort Gottes' gehört, kann die 'göttliche Sprache' vernommen werden. Das mystische Schweigen ist also kein 'leeres' Schweigen. Es ist leer nur dahingehend, daß es die kreatürliche Welt transzendiert hat. Das heißt: In verwandelter Weise ist diese kreatürliche Welt in solch (kreatürlich) leerem und zugleich (im Sinn der unio) erfülltem Schweigen immer noch da. Leere (an Kreatürlichkeit) und Fülle (an Einheit) sind ein und dasselbe. Es gibt demnach kein sinnvolles Schweigen vor der Rede, sondern nur nach ihr, so wie es für den Menschen kein Ziel des mystischen Weges gibt, bevor er diesen Weg — den Weg der Kreatürlichkeit und somit der Abwesenheit Gottes — nicht in all seinen Stufen gegangen ist. Dementsprechend ist auch die kreatürliche Erkenntnis, die es zu überwinden gilt, eine Voraussetzung der 'anderen', der unnennbaren und göttlichen Erkenntnis. Wissen, Denken, Sprechen sind somit menschliche Vollzugsformen, die in der kreatürlichen Welt beheimatet sind. Der Mensch aber ist — um hier ein geläufiges KantWort, wenngleich nicht in kantischem Sinn, zu gebrauchen — 'Bürger zweier Welten', die weder harmonisch miteinander kompatibel sind noch aber auch völlig unvermittelt einander gegenüberstehen. Sie stehen vielmehr 'schief' zueinander — vermittelt-unvermittelt — im Sinn eines Überstiegs, einer Transzendenz. Der Mensch ist nicht nur Kreatur, sondern auch Träger des göttlichen 'Seelenfünkleins', dessen er innewerden und das er pflegen und entfalten kann bis hin zur metanoia, der Selbstverwandlung in der unio, in der er seine Kreatürlichkeit abstreift. Wenn er dem mystischen Weg folgt, gehorcht er seiner Wesensanlage, gehorcht er einer teleologischen Harmonie-Struktur, die ihm als Disposition zugrunde liegt und die er zum realen Austrag bringen kann. Auf diesem Weg des Denkens — Denken meint hier in umfassender Weise: Sich-Orientieren — verwandelt sich das Denken selbst, verwandeln sich die Begriffe, verwandelt sich die Sprache. Die Verwandlung ist aber nur für denjenigen wirklich einsichtig, der sie vollzieht und vollzogen hat. Wer sie nicht oder noch nicht vollzogen hat, bewertet die Aussagen des Mystikers nach wie vor unter der Perspektive der Kreatürlichkeit, die dieser längst verlassen hat. Daher ist das mystische Wissen, Denken und Sprechen ein esoterisches, das beim Nichteingeweihten fast zwangsläufig auf unzureichendes Verständnis stößt. Der Nichteingeweihte steht den apophatischen, paradoxen und ins Schweigen mündenden Sprachspielen des Mystikers verständlicherweise skeptisch gegenüber, und er kann mit der Sturzflut der Bilder und Metaphern, in denen sich die mystische Rede ausdrückt, nur wenig anfangen. Diese von der 'normalen' Sprechweise

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Charakteristika der mystischen

Erfahrung

— sei es in Alltag oder Wissenschaft — so signifikant abweichende Weise des Denkens und Sprechens scheint allen Maßstäben der Vernunft und Erfahrung zu widersprechen. Der Mystiker hingegen erachtet diese Abweichungen als seiner Erfahrung angemessen. *

Die Unaussprechlichkeit der unio zu beteuern, ist eines der häufigsten Motive mystischer Texte. Für Seuse ist die unio "ein süßes Weh und ein liebliches Zerfließen und ein überschwengliches Empfinden, davon Du nicht reden kannst" (RS, 220). Neben den von Augustin vorgetragenen Gedanken über das Schweigen im Angesicht Gottes ist für die mystische Tradition — auch für Eckhart und Seuse — vor allem die Mystische Theologie des Dionysius Areopagita maßgeblich, die einen Weg des Denkens aufzeigt, der vom symbolischen zum apophatischen Sprechen (von der 'positiven' zur 'negativen' Theologie) führt und zuletzt, an der 'Schwelle' zur unio, in ein radikales Schweigen mündet. Vor diesem Schweigen bestehen Denken und Rede darin, die symbolischen Bestimmungen Gottes (die die 'positive Theologie' zuerst erarbeitet hat), nunmehr apophatisch abzuarbeiten: "Noch höher steigend sprechen wir jetzt aus, daß dieser Urgrund nicht Seele ist und auch nicht Geist, daß ihm weder Einbildungskraft zueigen sein kann noch Meinung, noch Vernunft, noch Erkenntnis; daß Gott weder ausgedrückt werden kann noch auch Ausdrücke vor anderen Ausdrücken wählt. Er kann auch weder Zahl haben noch Ordnung noch Größe, noch Kleinheit. Er kann nicht Gleichheit sein, nicht Ungleichheit, nicht Ähnlichkeit, nicht Unähnlichkeit; Er kann nicht unbeweglich sein, noch auch sich bewegen, kann weder seine eigene Veränderung wollen, noch seine eigene Veränderung bewirken. Er ist auch nicht 'das Mögliche', noch auch 'das Licht', lebt nicht und ist auch nicht Leben (welches immer Veränderung wäre): Er ist also auch nicht Essenz oder Existenz, nicht Sein, nicht Zeit, nicht Wirken, nicht Gelten, nicht Abfolge, nicht Beharrung, kein Hingebreitetsein und kein Hinbreiten — man kann ihn daher mit Gedanken niemals fassen. Er ist aber auch nicht Wissen, nicht Wahrheit, nicht Herrschaft, nicht Weisheit, nicht die Eins oder die Einheit oder Göttlichkeit oder Güte oder Schönheit oder Geist in dem Sinne, in welchem wir Menschen es begreifen könnten. Er ist nicht Vaterschaft, nicht Kindschaft, nichts was sich mit irgendetwas Bekanntem oder Erfahrenem irgendeines wesbaren Wesens vergleichen ließe." (D, 171 f.)

Die Negationen werden in der Mystischen Theologie fortgesetzt und unermüdlich wiederholt und variiert. Solange inhaltliche Bestimmungen (also Gegenstände und Kategorien und somit Partikulares) aufgestellt oder verneint werden, sind Denken/Sprechen dafür ein geeignetes Medium, denn die Funktion von Denken/Sprechen besteht im Normalfall ja darin, Bestimmungen — positive oder negative — wahrzunehmen und zu artikulieren. Jenseits dieser Bestimmungen kippt jedoch Denken/Sprechen notwendigerweise in die Negation von Denken/Sprechen um. Die Negation bleibt dem Negierten verbunden. Ohne die Arbeit des Denkens/ Sprechens fiele der Mensch in ein dumpfes und leeres Schweigen zurück. Nach dem Vollzug des Denkens/Sprechens — das ein Sammeln von Erfahrung und, wie gesagt, ein Abarbeiten offensichtlich unzureichender

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Prolegomena

Wirklichkeitserfahrung bedeutet — mündet das Denken/Sprechen aber in das erfüllte, das 'mystische' Schweigen, das bei Dionysius folgendermaßen beschrieben wird: "Doch jetzt, da wir bis zur absoluten Urdunkelheit emporsteigen, welche alles Vorstellbare von oben her und von unten her und aus allen Vorder- und Hintergründen umfaßt [...] jetzt handelt es sich nicht mehr u m Bestimmtheit, jetzt geht es um die reine Überwindung jeder Bestimmtheit, also u m das Aufhören der Gültigkeit von Worten und Gedanken überhaupt. Als noch unsere Untersuchungen

vom Allgemeinen

zum Besonderen herabschritten, nahm deren Umfang zu, je mehr wir uns von den Höhen entfernten, um bis in die Niederungen der Einzelerscheinungen vorzudringen. Jetzt aber, da wir vom Faßbaren in Richtung auf die unfaßbaren Höhen emporzusteigen uns anschicken, wird sich der Umfang unserer Rede immer mehr verengen — bis wir an einen Punkt unseres Anstiegs gelangen, wo wir ganz und gar verstummen müssen, um uns still dem Unsagbaren einzufügen." (D, 168)

2.10

Negation von 'Bild' und 'Weise'

Die augenfälligen Besonderheiten der 'mystischen Sprache' verlangen schon in der Phase ihres ersten Wahrgenommenwerdens nach Umrissen einer Erklärung sowohl im Hinblick auf ihre Motivation als auch auf ihre Funktion im Sprachspiel. Überdies ist in der Mystik das Sprachproblem repräsentativ für das Symbolproblem, d.h. für das Problem der Vermittlung menschlicher Orientierung und Orientiertheit schlechthin. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß eine 'reine' Proto-Phänomenologie der mystischen Erfahrung — ein Wahrnehmen und Klassifizieren ohne begrifflich-theoretische Implikationen bzw. ohne Interpretation — zwar eine sinnvolle regulative Forderung darstellt, in concreto aber niemals voll einzulösen ist. Beim Sprach- und Symbolproblem in der Mystik wird dies besonders deutlich; die Referenztexte blieben völlig unverständlich, wollte man sich ihnen 'theoriefrei' nähern. Da sie selbst bereits eine Reflexion über Sprache und Denken bzw. über Symbolik schlechthin ausdrücken, ist diesbezügliche Reflexion auch eine Bedingung dafür, sie phänomengerecht wahrzunehmen. Was wir fürs erste konstatieren, ist das — in Schweigen, Apophasis, Paradoxalität und Hyperbolik sich ausdrückende —Abweichen mystischen Sprechens von der 'normalen' Sprache. Es geht also um eine (wirkliche oder angebliche) Sprachnorm und deren 'Verletzung', und beides — Norm und Bruch der Norm — ist zu problematisieren. Ich werde daher im folgenden — umfassender als in den vorhergehenden Abschnitten — die rezente Theoriediskussion über Mystik mit berücksichtigen.151 Die Eingangsfrage lautet: Warum zieht sich der Mystiker, der Denken und Sprache offenbar nur als höchst unzureichende Mitteilungs- und Darstellungsformen, ja letztlich nur als Verzerrungen und Verfälschungen seiner 'eigentlichen' Erfahrung ansieht, nicht völlig ins Schweigen zurück? Warum verzichtet er nicht gänzlich auf Denken und Sprache und läßt seine Erfahrung ungedacht und unausgesprochen auf sich beruhen? Die Frage, so gestellt, setzt voraus, daß es sich beim mystischen Erlebnis um eine prinzipiell vorsprachliche Erfahrung handeln müsse, die der Mystiker nachträglich in Sprache umsetzen möchte, da er aufgrund der emotionalen Intensität seines Erlebnisses vom

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

Drang, sich mitzuteilen, überwältigt sei. Dies war die — in der neueren Mystikrezeption bis vor kurzem fast allgemein akzeptierte — Auffassung Josef Quints über das Wesen der mystischen Sprache.152 Nach Quint ist die mystische Erfahrung wesenhaft unaussprechlich, da sie jenseits der Kategorien stattfinde, die Sprache aber und mit ihr das Denken kategorial strukturiert seien. Der Mystiker renne daher in einem aussichtslosen Unterfangen gegen das 'Wesen der Sprache' an, werfe deren Formen und Funktionen durcheinander und ersinne widerspruchsvolle, hybride Sprachfiguren sowie exzentrische Neologismen, die gleichwohl alle nicht imstande seien, das 'Unsagbare' sagbar zu machen. In diesem sachlich scheiternden Sprachbemühen werde jedoch, so Quint, eine innovative, sprachproduktive Tendenz mystischer Texte wirksam. Anders gesagt: Der Mystiker rede zwar Unsinn, aber die Motivation dieses Unsinn-Redens sei legitim, und das Unsinn-Reden sei außerdem für die historische Entwicklung der Gemeinsprache eine fruchtbringende Angelegenheit. Quints Auffassung von der mystischen Sprache beruht, wie Walter Haug mittlerweile überzeugend dargelegt hat153, auf einem doppelten Irrtum, da man hier in vorschneller Weise zu wissen glaubt, was Mystik und was Sprache ihrem Wesen nach sind. Quint beachtet nicht, daß die mystische Rede nicht bloß aussagt und beschreibt, sondern performativ die metanoia zu vollziehen sucht, daß sich also im mystischen Sprechen die Bedeutung der Ausdrücke und der Sinn des Sprachspiels wandeln. Es scheint daher unrichtig zu sein, die mystische Erfahrung schlechthin jenseits der Sprache anzusiedeln, weil diese Erfahrung — trotz aller Schwierigkeiten verbaler Umsetzung — durch und durch sprachlich vermittelt ist. Mystisches Sprechen ist somit kein nachträglicher Akt gegenüber der mystischen Erfahrung, sondern deren Mit-Konstituens.154 Sprache aber — und hier liegt der zweite Irrtum Quints, der sich mit seinem ersten Irrtum verknüpft — ist keineswegs unentrinnbar und ein für allemal in kategorialer Erfahrung gefangen, und es ist nicht so, daß sie stets nur diese kategoriale Erfahrung artikulieren könnte. Sprache ist vielmehr ein offenes System, das zwar bestimmte Erfahrungstypen bevorzugt tradiert und wohl auch suggeriert, andere Erfahrungstypen aber nicht völlig ausschließt. Sprache (und mit ihr das Denken) ist außerdem — als parole, als aktualisiertes Sprechen bzw. Schreiben — eine Repräsentationsform, die nicht nur abgeschlossene Erfahrungen mit sich führt, sondern auch unabgeschlossene, offene Erfahrungen aufnimmt und weitertreibt. Im konkreten Vollzug von Sprache entsteht und modifiziert sich auch neue, bislang nicht artikulierte Erfahrung, die nunmehr in die Sprache — als langue — eingeht und sie beeinflußt und verändert. Sprache kann sich somit durchaus selber transzendieren, und ihre Referenz auf Erfahrung kann sich so verschieben, wie Erfahrung selbst sich verschieben kann. Sprache ist — wie schon Humboldt klargestellt hat155 — keineswegs nur ein 'Gefängnis' unserer Weltorientierung (wie dies Nietzsche formulierte), sondern auch deren Motor. Wie die poetische, aber auch die religiöse und vor allem die mystische (Sonder-) Sprache zeigen, ist das Medium Sprache durchaus in der Lage, nichtgegenständliche und nichtkategoriale Erfahrung auszudrücken, auch wenn die hiefür zu verwendenden Sprachmittel komplizierter und potentiell mißverständlicher sind als die Sprachmittel, mit denen man in der alltäglichen und fachwissenschaftlichen Rede — die sich beide

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Prolegomena

auf Gegenständliches richten — operiert. Nun gibt es aber bekanntlich außerhalb der (gesprochenen und geschriebenen) Sprache noch andere Möglichkeiten, Erfahrung in Zeichen und Zeichensysteme zu übersetzen: als körperliche Gestik, als Tanz und Musik und Ritus, als — plastisches oder gemaltes oder auch nur durch die Einbildungskraft vorgestelltes — visuelles Bild. Erfahrungs-Elemente, die der Mensch wahrnimmt und (sich selber und seinesgleichen) kommunikativ vermittelt, gerinnen notwendigerweise zu Zeichen oder Symbolen. Erfahrungs-Kontexte werden somit grundsätzlich in Zeichensystemen bzw. Symbolismen repräsentiert. 156 Was für die Sprache gilt, gilt in allgemeiner Weise für jegliche Symbolik. Da wir es in vorliegendem Zusammenhang durchgehend mit Texten, also mit (schrift-)sprachlicher Symbolik zu tun haben, ist das Problem mystischer Symbolik zur Gänze, wenn auch differenziert, als sprachlich vermittelt zu begreifen. Wenn wir im Zusammenhang mit Mystik von Symbolen reden, handelt es sich also stets um sprachliche oder sekundär durch Sprache vermittelte bzw. im Hinblick auf Sprache in irgendeiner Weise bezugsfähige Symbole. Letzteres heißt, daß Symbole — z.B. dann, wenn der 'mystische Weg' konkret vollzogen und erfahren, aber noch nicht (zur Gänze) sprachlich repräsentiert wurde — auch neben und jenseits der Sprache auftreten können, aber stets in einer (aktuellen oder potentiellen) Beziehung zur Sprache stehen. Ein Symbol ist — so läßt sich fürs erste definieren — ein Zeichen und hat Verweischarakter auf ein anderes, das nicht es selbst ist. Es ist demnach immer ein Bote und ein Stellvertreter, also eine Vermittlung bzw. — mit Eckhart zu sprechen — ein 'Mittel'. Verweist das Symbol auf Gegenständliches, das auch auf andere Weise klar auszudrücken ist (z.B. das Kreuz als Symbol der christlichen Heilsgeschichte, der Baum als Symbol des Lebens, die rote Fahne als Symbol der Revolution usw.), dann ist es — auch wenn es helfen mag, Formeln zu prägen und Anhänger der betreffenden Sache zu affizieren — prinzipiell entbehrlich. Nicht entbehrlich ist das Symbol aber dann, wenn es dazu dient, auf Nicht gegenständliches, Transzendentes zu verweisen. Bekannte christlich-mystische Symbole — z.B. Kreuz, Rose, die Jungfrau Sophia, Jesus, die Trinität, die Gottesgeburt — zielen darauf ab, die unio zu repräsentieren. Repräsentieren — im Sinn eines direkten Abbildens — läßt sich aber immer nur Partikulares aus unserem Erfahrungszusammenhang. Diesen selbst — also die Totalität der Erfahrung — repräsentieren zu wollen, ist ein Anspruch, der sich offenkundig nicht einlösen läßt. Der Symbolgebrauch, den Sprache und Denken vollziehen, ist auf dem Gebiet der Mystik, deren Thema die All-Einheit und die Überwindung des Partikularen ist, unter diesen Voraussetzungen notgedrungen zum Scheitern verurteilt. Das Scheitern des mystischen Symbolisierungsbemühens kann aber vielleicht einen über sich selbst hinausweisenden Sinn erhalten, wenn es nicht an seiner Intention gemessen wird, sondern an seiner tatsächlichen Funktion im menschlichen Erfahrungsprozeß, der sich — vermutlich — prinzipiell über Symbole vermittelt. In seiner Weltorientierung hat der Mensch nämlich keine andere Möglichkeit des Vorwärtskommens (und d.h. hier auch: des authentischen Zu-sich-selber-Kommens) als die, Symbole zu gebrauchen. Wenn diese Symbole in der Mystik 'versagen', steht nicht nur der Sinn von Mystik zur Disposition, sondern auch unser gewohntes Verständnis des Symbolgebrauchs.

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

Wenn die menschliche Erfahrung auf die Ebene der unio gelangt, bedeutet das Scheitern des Symbolgebrauchs vielleicht kein Scheitern mehr, sondern kann in neuverstandener Weise — weil Gegenständlichkeit und Kategorialität hier nicht mehr maßgeblich sind — zu einem erfolgreichen und sinnvollen Handeln werden. Der in seinen (ursprünglichen) Absichten scheiternde Symbolgebrauch kann vielleicht als das Abarbeiten der gegenständlich-kategorialen Welt durch 'Mittel' begriffen werden, die im Zuge dieses Abarbeitens vernichtet und zuletzt auch überflüssig werden. Eine Absicht, die unio zu repräsentieren, kann nämlich in der unio selbst kaum noch gegeben sein, da sie jenseits aller Absichten (und somit auch jenseits aller Repräsentations-Absichten) steht. Es ist der Vermutung nachzugehen, daß sich Sinn und Gebrauch von Symbolik im Vollzug der mystischen Erfahrung selbst wandeln. Mystische Symbole wären demnach — ob nun sprachlich oder nicht — Vehikel, die zur unio hinführen, aber möglicherweise nicht in sie hinein, und demgemäß haben sie auch in der unio keine Bedeutung mehr. Dies gilt dann — in Eckharts Terminologie — für alle 'Kräfte' des Geistes und der Seele, für alle 'Weisen' und 'Mittel', 'Bilder' und 'Gleichnisse' (d.h. Vergleiche zwischen 'diesem' und 'jenem'). Die genannten Ausdrücke gebraucht Eckhart synonym zu dem, was ich vorhin als Symbol bezeichnet habe. Die unio selbst ist — und hier schwelgt Eckhart in apophatischen Beschreibungen — über allen 'Kräften'. Sie ist 'weiselos', 'unmittelbar', 'bildlos' und jenseits aller 'Gleichheit' (d.i. Vergleichbarkeit). Man erkennt sie nur in einer 'weiselose Weise' und als 'bildloses Bild'. Mit diesen Negationen, Paradoxa und Oxymora entstehen Sprachbilder und Denkbilder, die zwar fürs erste sinnleer und losgelöst von jeder lebensweltlichen Erfahrung anmuten, die aber doch (ex negativo) eine Stufe der mystischen Denkerfahrung ausdrücken, auf der die Kategorialität zwar noch nicht unwirksam geworden, aber doch schon im Zerbrechen begriffen ist. Die Affektaufladung, die in der mystischen Erfahrung erfolgt, führt einerseits zu einer Intensivierung der dabei bemühten Symbolik. Mit der gleichen Affektaufladung wird diese Symbolik aber auch wieder zurückgenommen. Bestimmend ist der Gedanke, "das alle gleichnuß ist ein fürwerck" und "das man gott mitt gleichnuß muoß beweisenn, mitt disem vnnd mit dem. Dannocht ist er weder diß noch das" (Pr. 51, 1/542, 32-33 und 14-16). Er ist "bilde äne bilde, wan ez enwirt niht gesehen in einem andern bilde. Daz ewic wort ist daz mittel und daz bilde selbe, daz da ist äne mittel und äne bilde, üf daz diu sele in dem ewigen worte got begrifet und bekennet äne mittel und äne bilde." (Pr. 69, 11/46, 26-29). In seiner Dimension der Unähnlichkeit (dissimilitudo) zur Schöpfung ist er mit nichts außer sich selbst vergleichbar: "Götlich wesen enist niht glich, in im enist noch bilde noch forme." (Pr. 6, 1/82, 10-11) Das gilt auch für das 'Fünklein' oder 'Bürglein' als jenen Teil der Seele, in dem das göttliche Wesen dadurch zum Austrag kommt, daß es sich dort 'gebiert'. Auch die im Vollzug der unio begriffene Seele "ist sunder wise und sunder eigenschaft" und dennoch "ein waz, daz enist noch diz noch daz" (Pr. 2, 1/34, 29 und 35-36). Das Problem besteht darin, ein 'Etwas' zu benennen, das kein bestimmtes 'Etwas' sein soll, aber gleichfalls auch kein (privatives) 'Nichts'. Die Mystiker haben enorme Schwierigkeiten, die 'Weiselosigkeit' dieses 'Etwas' nicht als eine neue positive Größe

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Prolegomena

erscheinen zu lassen. Die verwendeten Sprachbilder können immer auch mißverständlich interpretiert werden, wenn von 'unverhüllter Erkenntnis' die Rede ist oder wenn Eckhart Kreatürlichkeit und unio mit dem Bild von 'Schale und Kern' umschreibt: "Ich hau gesprochenn etwan me: die schal muoz zerbrechen, vnnd muoz das, daß darinn ist, herauß kommenn. Wann, wiltu den kernen haben, so muostu die schalen brechen. Vnd also: wiltu die natur bloß finden, so muessent die gleychnuß alle zerbrechenn, vnnd ye das es me darin trittet, ye es dem wesen naeher ist. So wenn das sy daß ein findet, da es alles eyn ist, da bleibet sy < i n > dem einigen < e i n > . " (Pr. 51, 1/544, 14-20)

Das Sehen der 'unverhüllten Natur' ist jedoch ein 'geistiges' Sehen und damit — im kreatürlichen Sinn — ein 'Nicht-Sehen': "da wirt got geistic gesehen, vri von allen bilden. Einez wirt zwei, zwei ist ein; lieht und geist, diu zwei ist ein in dem umbevange ewiges liehtes." (Pr. 86, 11/216, 23-25) Wohin aber wendet sich diese — 'Gott' in die 'Gottheit' und alle Dinge in ihren göttlichen 'Grund' überführende — Vorstellung? Sie wendet sich über jede Vorstellung hinaus und nennt dies 'reines Einssein' und 'reine Schau' (visio beatifica). Die Seele "entwahset allem liehte und bekantnisse" (Pr. 72, 11/88, 1-2). "Swenne aber alle bilde der seien abegescheiden werden vnd < s i > allein schowet das einig ein, so vindet das bloze wesen der seien das blose formlose wesen gütlicher einkeit, de do ist ein vberwesende wesen, lidende ligende in ime selben." (Pr. 83, 11/188, 17-21) Das in diesen Zitaten mehrfach angesprochene (augustinische) 'Ruhen in Gott' als Endpunkt des mystischen Wegs ist — im Verständnis der christlichen Heilslehre — der Zustand der frommen Seele im Jenseits, hinsichtlich dessen die Seele im Diesseits durch das über Stufen erreichbare Erlebnis der unio einen Vorgeschmack erhalten kann. Dies ist nun freilich eine offenkundig spekulative Interpretation der mystischen Erfahrung, die mit dieser selbst nicht notwendig verknüpft sein muß (auch wenn die betreffende Spekulation für die Erwartungs- und Erklärungshaltung des Erlebenden durchaus von Belang ist). In der diesseitigen Erfahrung ist das Ruhen jedenfalls als kairos, somit als Augenblick und endlicher 'Punkt' im Erfahrungsprozeß zu begreifen. Ebenfalls von der 'reinen' — d.h. hier: phänomenologisch aufweisbaren und nicht unnötig spekulativ befrachteten — Erfahrung aus gesehen, ist die philosophische Begrifflichkeit Eckharts zu relativieren. Wenn Eckhart die unio als 'neue Form, die alle Formen in sich beschließe', bezeichnet, so könnte dies als (gegenständliche) 'höchste Form' aller Formen mißverstanden werden. Gemeint ist aber — auch wenn von 'Einförmigkeit' und (bei Eckharts Nachfolgern) von 'Gottförmigkeit' die Rede ist — eine so radikale Transzendenz des Formbegriffs überhaupt, daß der Begriff und seine Negation ununterscheidbar werden. Mit der Intensivierung und Radikalisierung von Repräsentation bzw. Symbolik ist somit auch deren Destruktion mitgegeben. Um die Intention mystischer Symbolik zu charakterisieren, ist offensichtlich an eine ähnlich meta-reflexive Struktur zu denken wie in Wittgensteins Rede von der 'Leiter', die er am Schluß seines Tractatus 'wegwerfen' will.

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

Walter Haug macht in seinem erwähnten Aufsatz, in dem er die mystische Sprachauffassung Quints kritisiert, den durch und durch allegorischen Charakter der christlichmittelalterlichen Wirklichkeitsauffassung dafür verantwortlich, daß in der mystischen Rede letztlich jede Aussage und jede konkrete Bestimmung austauschbar werde 157 , daß letztlich alles alles bedeute und in eine allumfassende Tautologie münde. Haug meint, daß im christlich-mittelalterlichen Weltbild jedes weltlich begegnende Phänomen und jede (zufällige) Konstellation von Phänomenen zum biblisch-heilsgeschichtlichen Gleichnis werden könne. Dadurch sei Gott, der Inbegriff des 'Ganzen', überall vernehmbar, und es gebe nichts, worin er sich nicht wiederfinden ließe. Gott 'spreche' — in entgrenzter Bedeutung von 'Sprechen' — durch alle Dinge zum Menschen, so daß jede Sprache zu seiner Sprache und jedes Zeichen zu seinem Zeichen werde. Sosehr diese umfassende christliche Allegorese für die konkrete Ausgestaltung christlich-mystischer Texte maßgebend sein mag, so scheint sie doch nur die bestimmte historische Gestalt einer allgemeineren — transepochal und transkulturell beobachtbaren — Möglichkeit zu sein, Realität wahrzunehmen und zu verarbeiten. Diese allgemeine Möglichkeit — die besonders eindrucksvoll im Zen-Buddhismus demonstriert wird158 — besteht darin, Kategorien und jegliche konkrete Bestimmungen der Wirklichkeit als solche zu relativieren, sie ins Gegenteil zu verkehren und beliebig auszutauschen, indem ihre Bedeutung auf jene Dimension eingeschränkt wird, in der sie — als Partikulares — das (nur aporetisch zu denkende) Ganze der Wirklichkeit repräsentieren. Mit diesem (aporetisch bleibenden) Repräsentationsbemühen hinsichtlich des 'Ganzen' ist stets der Versuch verknüpft, den Denkenden und sein Denken in das Gedachte mit einzubeziehen, also der Versuch eines Überspringens der Subjekt-Objekt-Relation. Dieser Denkversuch realisiert sich, wie das nicht nur im Zen, sondern eben auch in der westlichen Mystik geschieht, in apophatischer und paradoxer bzw. ins Schweigen mündender Rede. Die aufschlußreichsten Texte der westlichen Tradition, die dieses Problem explizit behandeln, finden sich bei Dionysius Areopagita, der die "symbolischen Bilder des Unvorstellbaren" (D, 168) in ebendiesem Sinn beschreibt und in ihrer Funktion, die ihnen als abzuarbeitenden 'Mitteln' auf dem mystischen Weg zukommt, erklärt. Sein Erklärungs-Paradigma ist die Lehre von der 'unähnlichen Ähnlichkeit' zwischen Gott und der Welt. Symbole — sprachliche und außersprachliche — sind demnach unverzichtbare Stufen auf dem mystischen Weg, die der Gehende aber schließlich hinter sich lassen muß, will er zur unio gelangen.

2.11 Esoterik und Innerlichkeit Nach diesem mehr theoretischen als phänomenologischen Exkurs zum Symbolproblem in der Mystik sind noch zwei letzte Charakteristika darzulegen, die ich ebenfalls mit modernen Termini umschreibe, welche sich zwar sinngemäß, nicht aber wörtlich in den Referenztexten finden. Was ich als 'mystischen Weg' dargelegt habe, ist für die mittel-

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Prolegomena

alterlichen Mystiker einerseits der Vollzug der Glaubenserfahrung (und — damit identisch — der Wirklichkeitserfahrung) im Gebet sowie in einem allgemeineren Sinn auch der schlechthinnige 'Weg des Lebens', der Weg der spirituellen Entwicklung und Reifung des Menschen. 159 Die Grundorientierungen christlichen Glaubens — Ausrichtung des Diesseits auf ein Jenseits, Gehorsam gegenüber kirchlicher Autorität, Akzeptanz der Dogmen und der biblischen Überlieferung — werden in diesen Texten nirgendwo in Frage gestellt. Wo sich die mittelalterliche Mystik dennoch mit sogenanntem Ketzertum verbindet, findet nicht eine aufklärerische Ablehnung, sondern meist nur eine Umund Neuinterpretation des Autoritätsbezugs statt (indem z.B. — wovon bei Eckhart freilich keine Rede ist160 — die Vorstellung des Antichrist auf den Papst angewendet und die reine, ursprüngliche Bibellehre beschworen wird). Hinsichtlich ihrer Stellung zum institutionalisierten Glauben ist die mittelalterliche Mystik zwar ambivalent — sie dient der Verinnerlichung des verordneten Glaubens ebensosehr, wie sie auch eine freie Auslegung von Dogmen und biblischem Erzählgut forciert —, doch kann ihr nicht (wie das in der Mystikrezeption des 19. und 20. Jahrhunderts vielfach der Fall war) eine besonders auffällige individualistische und anti-institutionalistische, vor allem aber auch nicht eine elitäre Tendenz bescheinigt werden. Was der Mystiker denkt, erfährt, glaubt und mitteilt, versteht er selbst als etwas, das jeden Menschen angeht, weil es sich um den schlechthinnigen Weg menschlichen 'Wesentlich-Werdens' handelt. Die mystische Wahrheit ist eine Wahrheit für alle Menschen. Dennoch reflektieren die Mystiker darüber, daß ihre Erfahrungen über die Alltagserfahrung der meisten Menschen hinausführen, daß sehr viele Menschen ihre Aussagen nicht verstehen und daß sie darauf gleichgültig, verständnislos, z.T. aber auch mit Spott, Haß und offener Ablehnung reagieren. Daher bilden sich beim Auftreten des Mystikers in der Gesellschaft unterschiedliche Umgangs- und Kommunikationsstrukturen heraus. Zum einen gibt es da einander bestätigende und fördernde Menschen (das sind die berühmten 'Mystikerfreundschaften' — etwa zwischen Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von St. Thierry, zwischen Margarethe Ebner und Heinrich von Nördlingen, zwischen Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz usw.). Zum anderen gibt es Mystiker, die einander in ihren Gedanken sehr nahe stehen, sich aber persönlich nicht näherkommen und einander heftig kritisieren (hier ist etwa an die Haltung Ruusbroecs gegenüber Eckhart zu denken). Schließlich gibt es das höchst problematische Aufeinandertreffen von verständigen und ganz und gar unverständigen Menschen. Letztere spricht Eckhart mehrfach als die 'Grobsinnigen' an. Ihre 'Grobsinnigkeit', die sie mystisches Sprechen und Denken nicht verstehen läßt, ist jedoch auf die mangelnde 'Übung', auf die — prinzipiell behebbare — Unentfaltetheit ihrer geistigen Entwicklung zurückzuführen. "Wer dise rede [über die unio] niht enverstät", sagt Eckhart, "der enbekümber sin herze niht da mite. Wan als lange der mensche niht glich enist dirre wärheit, als lange ensol er dise rede niht verstän; wan diz ist ein unbedahtiu wärheit, diu da komen ist üz dem herzen gotes äne mittel." (Pr. 52,1/562, 23-27) "Ez ist vil liute, die diz niht enbegrifent, und bedünket mich niht unbillich; wan der mensche, der diz begrifen sol, der muoz sere abegescheiden sin und erhaben über alliu dinc." (Pr. 30, 1/346, 16-19)

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Charakteristika

der mystischen

Erfahrung

Wenn Eckhart vor der "gropheit der liute, die gemeinliche wunder hänt" (BgT, 11/302, 24-25), warnt, so finden sich solche Warnungen auch schon an mehreren Stellen bei Dionysius, der sich über "die törichte Menge", "die armselig sinnlichen Menschen", "die unwissende Menge" (D, 72 f.) entrüstet und seinen (fiktiven) Schüler Timotheus ermahnt: "Doch gib acht! Daß dich niemand höre von denen, die nicht eingeweiht sind. Ich will sagen, von jenen Ahnungslosen, die noch irgendwo im Sein haften (oder gar: im Dasein!) — und die sich nicht vorstellen können, daß es über alle Wesen hinaus ein Nichtsmehr-nichtsein geben muß, ein erst Wesenschaffendes, ein Überhaupt, und die sich einbilden, auf den Wegen des Erkennens Dem nahen zu können, der sich die Dunkelheit als Heimat und als Quelle seines Lichts gewählt hat." (D, 162) Neben diesen 'Ahnungslosen' gibt es aber nach Dionysius auch die "noch ahnungsloseren Profanen [...], die töricht genug sind, zu meinen, sie könnten den übersinnlichen Urgrund alles Geschehens und Seins mit Hilfe der niedrigsten, handgreiflichsten Schlüsse sinnfällig machen. Weil sie glauben, daß auch die Wahrheit nicht aus anderem Stoffe bestünde als ihre Fetische und Idole es sind, von denen sie sich so viele Götzenbilder machen." (Ebda) Solche Abgrenzungen zu 'grob', 'gewöhnlich' und jedenfalls unzureichend denkenden Mitmenschen sind freilich keine spezifischen Mystikeraussagen, sondern finden sich seit ihren Anfängen — beginnend mit den Erzählungen über die Ungeschicklichkeiten des Thaies — auch in der Geschichte der Philosophie. Freilich wird von den Mystikern der qualitative Sprung zwischen ihrem und dem 'gewöhnlichen' Denken meist stärker betont als bei den Philosophen, so z.B. von Margareta Porete: "Aber ihr, die ihr nicht dort seid, dort nicht wart und nicht sein werdet, ihr verliert eure Mühe, wenn ihr es verstehen wollt. Der, der nicht in Gott ist ohne Sein und in dem Gott nicht das Sein ist, kann es nicht schmecken." (RS, 167) Im Hinblick darauf, daß 'grobes Denken' belehrt und verwandelt werden kann, gibt sich Eckhart freilich moderater: "ensol man niht leren ungelerte liute, so enwirt niemer nieman geleret, sö enmac nieman leren noch schriben. Wan dar umbe leret man die ungelerten, daz sie werden von ungeleret geleret. Enwaere niht niuwes, sö enwürde niht altes." (BgT, 11/312, 15-19) Übrigens äußert auch Bonaventura in seinem Itinerarium Verständnis für die 'Grobsinnigen' und verweist darauf, daß jeder Mensch der Hilfeleistung durch einen anderen — vor allem der Hilfeleistung von seiten Jesu Christi — bedürfe: "Es scheint nun aber erstaunlich, daß nur so wenige den Urgrund in sich selbst zu schauen vermögen, obschon Gott unserer Seele so nahe ist. Der Grund dafür ist offensichtlich. Durch Sorgen abgelenkt, tritt die Seele des Menschen nicht durch das Gedächtnis in sich selber ein; durch Phantasiebilder umnebelt, kehrt sie nicht durch den Verstand zu sich selber zurück und, von Begierden angelockt, findet sie auch durch das Verlangen nach innerer Süßigkeit und geistlicher Freude nicht mehr zu sich heim. Sie ist ganz in das Sinnenfällige verstrickt und kann deshalb zum Bilde Gottes in sich nicht einkehren. Wohin aber einer gefallen ist, da muß er auch liegen bleiben, wenn nicht jemand kommt und ihm hilft aufzustehen." (RS, 152)

Mystik hat also zweifellos einen esoterischen (wenngleich nicht unbedingt elitären) Zug. Daraus folgt nicht, daß der Mystiker — in vergleichbarer Weise wie der Myste

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Prolegomena

der antiken Mysterien — ein besonderes 'Geheimnis' zu hüten hätte, das er nicht verraten darf oder will. Was die Geheimgesellschaften des Mittelalters und der Neuzeit an 'Geheimnissen' hüten, hat z.T. mit Magie (der Vorstellung, wie man 'andere Zustände' technisch 'herstellen' könne), aber kaum etwas mit Mystik zu tun. Was mit dem esoterischen Zug der Mystik jedoch zu tun hat, ist ihr Innerlichkeitsbezug (eiso/eso heißt ja soviel wie innerlich). Die mystische Wahrheit ist mit alltäglichem Denken nicht zu bewältigen und mit alltäglicher Rede, die ganz und gar der Gegenständlichkeit und Kategorialität verhaftet bleibt, nicht auszudrücken. Sie mitzuteilen — mit all den erwähnten kommunikativen Schwierigkeiten — ist nur sinnvoll, wenn der Empfänger der Mitteilung selbst (inchoativ zumindest) über mystische Erfahrung verfügt. Zumindest die persönliche Bereitschaft muß da sein, sich dieser Erfahrung nicht von vornherein zu verschließen. Die mystische Erfahrung, aber auch die genannte Bereitschaft, setzt Innerlichkeit voraus, d.i. bereits geleistete Reflexionsarbeit über Möglichkeiten und Bedingungen des eigenen Denkens und Erlebens. Wer sich ohne diesen persönlichen Einsatz — das heißt: mit 'sich selbst' allein sein zu können, seine eigene Einsamkeit und seinen Abgrund zu erfahren, die Last der eigenen Existenz und Verantwortung zu übernehmen und auf die im Alltag vorgegebene Entlastung, durch die man Orientierung unbesehen von anderen Menschen übernimmt, zu verzichten — auf die Sprachspiele der Mystik einläßt, kann sich von ihr notgedrungen immer nur ein äußerlich-verzerrtes und unangemessenes Bild machen. In diesem Zusammenhang erscheint die in der geistesgeschichtlichen Literatur zum Topos gewordene Behauptung, daß die mittelalterliche Mystik zur Ausbildung der neuzeitlichen Subjektivität und Individualität entscheidend beigetragen habe, einigermaßen plausibel. Gegenläufig dazu ist freilich zu bemerken, daß die neuzeitliche Vorstellung eines substantiellen und kontinuierlichen Ich sowie der neuzeitliche Wille zu Autonomie und Autarkie, zu Herrschaft und Machbarkeit in der bislang beschriebenen mystischen Erfahrung keinerlei Stütze findet.

2.12 Parapsychologische Phänomene (Para-Mystik) Das letzte hier zu erörternde Charakteristikum der mystischen Erfahrung betrifft die sogenannten parapsychologischen Phänomene, die sich zuweilen in Mystiktexten finden und die in der Literatur gelegentlich als 'Paramystik' oder als 'Nebenerscheinungen' der Mystik klassifiziert werden. 161 Es sind dies Phänomene wie Auditionen (das Hören übernatürlicher Stimmen, z.B. bei Hildegard von Bingen oder bei Swedenborg), Elevationen (das Schweben über dem Erdboden, z.T. auch die Entrückung in räumlich 'höhere Sphären') und Visionen (womit hier nicht die mit der unio identische 'visio beatifica' gemeint ist, sondern Erscheinungen des 'gestalthaften' Gottes, z.B. des thronenden Gottvaters162 oder des Gekreuzigten oder des in Windeln liegenden Jesuskindes163; aber auch Erscheinungen etwa der 'Jungfrau Sophia' oder verschiedener Heiliger, Engel und Dämonen 164 ; schließlich das 'Gesicht' des Jüngsten Tages sowie im Himmel

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Charakteristika der mystischen Erfahrung

sich abspielender Szenen etc.). Es geht zudem um die Erlebnisse von 'Zeitraffung' und 'Zeitstillstand' — sehr oft auch von 'Zeitreisen' — sowie um die Erlebnisse eines Wechsels der persönlichen Identität. Je volkstümlicher — und in diesem Sinn unphilosophischer — mystische Texte sind, desto mehr und ausführlicher berichten sie über derartige Phänomene. 165 Man kann sie unter die Kategorie religiöser 'Wunder' subsumieren, die sich für die schlichten Gemüter unter den Rezipienten besonders staunenswert und überzeugungskräftig darstellen. 'Wunder' jedoch sind nichts anderes als die Vorstellung, da und dort würden die Gesetze der 'natürlichen Welt' — d.h. der Logik, der Kategorien, der gewohnten Vorstellungen und Erfahrungen — durchbrochen, und bei diesem 'Durchbrechen' entstünden 'Fenster', die die Menschen in eine andere, höhere und nach anderen Gesetzen und Gewohnheiten funktionierende Welt blicken ließen. Was diese 'andere Welt' jedoch von der unio unterscheidet, ist, daß sie ihrerseits wieder (auf eigene und neue Weise) Kategorialität, Vielheit, Raum, Zeit und Gegenständlichkeit erlaubt. Die Visionäre geben vor, über diese andere Welt Bescheid zu wissen, daher sind sie — besser und sogar im genauen Wortsinn — als Okkultisten zu bezeichnen, weil sie eine 'geheime', 'verborgene' Welt kennen und mitteilen wollen. Zwar wird die diesseitige Welt — wie erfolgreich, sei hier dahingestellt — transzendiert, doch handelt es sich dabei nicht um die radikale mystische Transzendenz, die auf das Jenseits aller Vielheit, aller Kategorien und Gegenstände zielt. Es ist vielmehr eine 'Transzendenz', die in der Immanenz einer neuen gegenständlichen Welt zur — vermeintlichen — Ruhe gelangt. Bezeichnenderweise kommt diese Paramystik — deren fallweiser Realitätsstatus hier natürlich nicht erschöpfend zu diskutieren ist166 — in klassischen, intellektuell elaborierten Mystiktexten (und so auch bei Eckhart) nicht oder nur ganz am Rande vor. Dennoch ergibt sich auch in manchen 'elaborierten' Texten — auch bei Eckhart — zumindest eine Disposition für solche Vorstellungen. Die betreffenden Textstellen können — bei nur leichter Verschiebung der Interpretationsraster — entsprechend gelesen und rezipiert werden. So heißt es in der 13. Predigt Eckharts über die Seele: "Daz enent des mers ist oder über tüsent mile, daz ist ir als eigenliche kunt und gegenwertic als dise stat, da ich inne stän." (Pr. 13, 1/158, 20-23) Diese mit Hellsehen oder auch mit Telepathie assoziierbare unmittelbare 'Kenntnis' anderer Räume — vergleichbar übrigens mit der unmittelbaren 'Kenntnis' anderer Zeiten (Prophetie) — bedeutet bei Eckhart zugleich 'Unwissenheit', ist also nicht Kenntnis im gegenständlichen, kategorialen Sinn. Bezieht man den Ausdruck 'Kenntnis' jedoch wieder zurück auf seine vor-mystische Bedeutung, so entsteht — hält man an der zitierten Aussage fest — sicherlich das Bedürfnis, die ganze Szenerie, d.h. die Vielfalt und Gegenständlichkeit dessen, was an anderen Orten und zu anderen Zeiten geschieht, im primären Wortsinn zu 'sehen' und mitzuteilen. Parapsychologische Phänomene, so ist zu resümieren, haben einen vergleichbaren Ursprung und eine vergleichbare Tendenz wie der eigentliche mystische Weg. Sie führen, wie dieser, aus der 'Kreatürlichkeit' weg, aber nicht hin zur unio, der Aufhebung aller Gegenständlichkeit. Sie führen vielmehr hin zu neuer, 'okkulter' Gegenständlichkeit. Vielleicht nicht in allen, aber doch in den meisten Fällen handelt es sich dabei um

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offenkundige Fehleinschätzungen der tatsächlichen Erfahrung — somit um Wünsche, Projektionen und Spiegelfechtereien, die nur sehr vordergründig mit der strengen und radikalen Transzendenzerfahrung der Mystik gleichzusetzen sind. Freilich ist das Vokabular, dessen sich auch ein Eckhart bedient, für solche Vorstellungen anfällig. Denn die meisten Menschen — sowohl in unserer heutigen wie auch vormals in der mittelalterlichen Kultur — stellen sich unter 'Gott', 'Engeln', 'Natur', 'Kräften' u.dgl. keineswegs 'abzuarbeitende' scholastische Reflexionsfiguren vor, sondern etwas Konkretes und Personales, das man prinzipiell — wenngleich nur in Ausnahmefällen — auch sehen, fühlen, greifen und gegenständlich-kategorial denken kann.

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3 Positionen und Theorien der gegenwärtigen My stikfor schung

In der Einleitung habe ich auf eine Mehrzahl möglicher Zugänge zum Phänomen der mystischen Erfahrung hingewiesen: Religion, Kunst, Alltag, einzelwissenschaftliche Grundlagenreflexion, Philosophie. Es wurde aber auch angemerkt, daß Mystik von vielen Interpreten als ausschließlich religiöses Phänomen betrachtet wird, so daß man den nichtreligiösen Zugängen ihre Genuinität bestreitet und sie als bloße Pseudomorphosen eines religiösen Ursprungs bezeichnet. Diese Klassifizierung und diese Einengung auf Religion halte ich jedoch aus zwei Gründen für verfehlt. Erstens subsumiert der Begriff Religion sehr viele verschiedenartige, wenn auch familienähnliche Kulturgebilde, so daß auch ein essentieller religiöser Mystikbegriff fragwürdig ist. Zweitens sind nach dem Zeugnis historischer Quellen und ethnologischer Beobachtung offensichtlich alle Kulturen der Menschheit zumindest im Anfang durch irgendeinen Typus von Religion bestimmt, so daß sich ihre Weiterentwicklung entweder — in 'statischen' Gesellschaften — als Kontinuität oder — in 'dynamischen' Gesellschaften — als Transformation religiöser Annahmen und Anschauungen begreifen läßt.167 Aus diesen beiden Gründen sollte man Religion nicht als Phänomen sui generis, sondern als Modifikation der Kultur — d.h. der geistigen und materiellen Orientierung und Weltgestaltung des Menschen insgesamt — ansehen und auch Mystik nicht allein als Thema einer speziell religiösen Anthropologie, sondern als Thema einer allgemeinen Kulturbetrachtung und Kulturtheorie behandeln. Beim Versuch, einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Mystikforschung zu gewinnen, spiegeln sich in deren verschiedenen Richtungen die möglichen Zugänge zum Phänomen nur in sehr unausgewogener Weise. Denn die Mehrzahl derer, die über Mystik forschen und theoretisieren, verstehen ihren Gegenstand — wie gesagt — als ausschließlich religiösen (oder auch als bloß historischen) Gegenstand. 168 Die ältesten und etabliertesten dieser Forschungsrichtungen sind Theologie und Frömmigkeitsgeschichte sowie Philologie und Literatur- bzw. Geistesgeschichte, gefolgt von Ethnologie, vergleichender Religionswissenschaft und Psychologie. Jüngere Forschungsrichtungen stehen im Zusammenhang mit Soziologie und Kommunikationsforschung, aber auch im Zusammenhang mit der Grundlagendiskussion in der modernen Physik, mit Ästhetik und, bisher wohl am wenigsten bearbeitet, mit Politologie (sofern sich diese mit der Trivialisierung und Ideologisierung von Mystik befaßt, einem Phänomen, das wohl am augenfälligsten am Beispiel der sogenannten 'völkischen Weltanschauung' zu demonstrieren ist). Im folgenden gebe ich einen kurzen Abriß dieser Forschungsrichtungen.

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3.1 Theologie und Frömmigkeitsgeschichte Wenn wir unter Wissenschaft die gewissenhafte Deskription von Meinungen und Überlieferungen sowie deren systematische Analyse, Rekonstruktion und Deutung im Rahmen Objektivität beanspruchender Institutionen bzw. 'gelehrter Gemeinschaften' verstehen — ungeachtet ob diese mehr oder minder Zensur ausüben, ob sie ideologischer Verwertung zugänglich sind und ob das zugrunde liegende Verständnis von Rationalität unseren eigenen, heutigen Vorstellungen entspricht —, dann muß die Theologie als älteste und wirksamste Wissenschaft im christlichen Europa angesehen werden, die das Phänomen der Mystik disziplinar behandelt. Die christliche Theologie überliefert und kommentiert im Mittelalter das Corpus Areopagiticum, sie motiviert, diskutiert und zensuriert die Schriften eines Meister Eckhart sowie zahlreicher späterer Mystiker/innen, und sie ist schließlich der Boden, auf dem im 17. und 18. Jahrhundert — nicht nur im Katholizismus, sondern auch in den protestantischen Kirchen — die Auseinandersetzung zwischen sogenannter rationalistischer und fideistischer, d.h. aufklärungsfreundlicher und -feindlicher Ausdeutung des Glaubens stattfindet. Theologie, die als OntoTheologie' und als 'metaphysica specialis' auch lange Zeit den philosophischen Diskurs dominiert, ist nicht nur Widerpart der Aufklärung, sondern ist selbst zuerst deren Antizipation und später deren Komponente. In der neuzeitlichen Auseinandersetzung zwischen Rationalismus und Fideismus wird das Wort 'Mystik' als fideistische Kampfformel geboren und als rationalistisches Schimpfwort weiter tradiert, bis seine Bedeutung schließlich (wie bei Hegel) eine rationalistisch-fideistische Synthese eingeht oder (wie bei Schopenhauer) zwischen einer positiven und einer negativen Bewertung oszilliert. Aufgrund dieser Konstellation erhält 'Mystik' keine einheitliche Deutung und Bewertung von Seiten der Theologie insgesamt. Sie bleibt vielmehr bis heute ein theologisch kontroversielles Thema, und die jeweilige Bewertung motiviert, strukturiert, verhindert aber auch z.T. die theologischen Forschungen zur Mystik. Diese bestehen im Aufspüren und in der deutenden Rekonstruktion mystischer Texte und mystischer Aussagen, in deren Analyse, Vergleich und Klassifizierung. Dabei geht die theologische Forschung vielfach mit der philologischen und z.T. auch mit der religionswissenschaftlichen Forschung Hand in Hand. Es gibt Theologen, die Mystik als zentrale Dimension des Glaubens ansehen, solche, die sie als randständig tolerieren, solche, die sie aus Orthodoxiegründen mit Mißtrauen bedenken, solche, die grundsätzlich nicht über sie sprechen, und solche, die sie ausdrücklich und mit bestimmten Argumenten ablehnen. Die protestantische, insbesondere die 'dialektische' Theologie eines Karl Barth — die dem 'Wort', d.h. der 'objektiven' Glaubensverkündigung, den absoluten Vorrang gegenüber aller subjektiven Religiosität einräumt — hat die alten rationalistischen Vorbehalte gegenüber der Mystik am deutlichsten aufgenommen und zur Sprache gebracht. Bei Emil Brunner werden 'Mystik' und 'Wort' 169 pointiert zu Gegensätzen erklärt, die einander ausschließen. 'Mystik' gilt hier als Inbegriff von Schwärmerei, Spekulation und Aberglauben, als spezifisch 'katholisches' (qua 'heidnisches', 'unchristliches') Phänomen, so daß sich die Gegenüberstellung von 'Mystik' und 'Wort' zur Gegensatz-Formel 'Katholizismus versus

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

Protestantismus' und 'falsches versus wahres Christentum' verdichten läßt. Für diese Art von konfessionell eifernder Theologie ist Mystik ein Anathema und folglich auch nicht Gegenstand systematischer oder auch nur historischer Forschung. Dennoch wäre es aber unrichtig — gleichgültig, welcher Bewertung von Mystik man folgt —, diese als Reservat des Katholizismus zu betrachten, denn zumindest in historischer Retrospektive ist auch die protestantische Haltung zur Mystik nicht eindeutig und auch nicht vorwiegend negativ. Böhme, Swedenborg und Oetinger waren Protestanten, und auch Luther selbst, bekanntlich Herausgeber der Theologia deutsch, ist — bei aller ambivalenten Haltung zur Mystik — stark von mystischen Motiven beeinflußt. 170 Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfaßt der protestantische Theologe Wilhelm Preger ein mehrbändiges und vielbeachtetes religionsgeschichtliches Werk über die deutsche Mystik des Mittelalters.171 Auch Albert Schweitzer, dessen Ethik der Solidarität mit allem Lebendigen dem All-Einheits-Denken der Mystik entgegenkommt, ist ein die Mystik befürwortender evangelischer Theologe. Weichenstellend für die neuere, heute noch dominante Einstellung der protestantischen Theologie war jedoch die radikale Ablehnung der Mystik durch den einflußreichen Theologen des 19. Jahrhunderts, A. Ritschi. Vielschichtiger und differenzierter erfolgt die Behandlung der Mystik von Seiten katholischer Theologen, deren große Sorge zwar der Abgrenzung von 'wahrer' und 'falscher' , d.h. glaubenskonformer und von der Orthodoxie abweichender Mystik gilt, die aber dem Phänomen selbst zumeist positiv gegenüberstehen und es gelegentlich sogar zum 'Kern' der Christlichkeit erklären. Letzteres ist freilich nur möglich, wenn ein ziemlich vager Mystikbegriff angesetzt wird, der Mystik mit intensiver Glaubensfrömmigkeit gleichsetzt und konkrete Charakteristika — z.B. den stufenweisen Weg zur Vereinigung mit Gott — nicht ins Zentrum der Betrachtung stellt. Dies ist z.B. bei Josef Sudbrack112 der Fall, der sich auf den Begriff der 'kleinen Mystik' bei Therese von Lisieux beruft, die damit eine wie immer geartete 'Begegnung mit Gott' meint. Nach Henri de Lubac ist "Mystik ein Glaube, der innerlich geworden ist durch Verinnerlichung des Mysteriums", und nach M. Figura "hat die Mystik die Aufgabe, die Kirche immer wieder auf ihre Bestimmung als 'Corpus Christi mysticum' [...] hinzuweisen". 173 Mystik wird hier also ganz an das 'Mysterium des Glaubens' gebunden, nicht in allgemeiner Weise strukturell beschrieben. Sie soll auch nicht primär als 'Erfahrung' gewertet werden, sondern als 'Liebe Gottes" 74 . "In christlicher Tradition", meint Sudbrack, "erhält Mystik ihre Einheit nicht durch eine bestimmte Form des Erlebens: ekstatisch, identisch, einend, sich-auflösend u.ä., sondern von dem, den der Mystiker erlebt, vom lebendigen Gott [.. ,]". 175 Daher ist dieser Mystikbegriff nahezu synonym mit dem von katholischen Theologen gleichfalls häufig verwendeten Begriff der 'Spiritualität' , der das Erfülltsein des Menschen mit dem 'Geist Gottes' meint. Sudbrack steht in der Tradition einer (vornehmlich jesuitischen) Theologenschule französischer und deutscher Provenienz, die ihre große Blütezeit in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts erlebte und der Marcel Viller, Louis Bouyer, Karl und Hugo Rahner, Alois Mager, Hans Urs von Balthasar und auch noch Paul Mommaers zuzuordnen sind. Zu ihren Anliegen gehört nicht nur der Rekurs auf die Mystik eines

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Ignatius von Loyola, sondern auch die quellenmäßige Sichtung und Deutung frühchristlicher Mystik, wie sie Viller in seinem Buch La spiritualite des premiers siecles Chretiens (Paris 1930) — von Karl Rahner überarbeitet und auf deutsch herausgegeben 176 — vorgenommen hat. Viller begründete 1932 das Dictionnaire de Spiritualite, Ascetique et Mystique, und in den letzten Jahrzehnten erschien eine Fülle historischer und systematisch-dogmatischer Mystikarbeiten in den Zeitschriften Revue d'Ascitique et de Mystique (1920-77) und Zeitschrift für Aszese und Mystik (1925 ff., 1947 umbenannt in Geist und Leben). Schwerpunktmäßig zielt das Interesse der genannten Theologen auf einen katholischen Fundamentalismus, der — die alte Lehre von der 'Unterscheidung der Geister' aufnehmend — eine von nichtkonformer 'Pseudomystik' klar abzugrenzende 'wahre' Mystik zur eigentlichen Dimension des Glaubens erklärt, freilich weitgehend um den Preis einer Entgrenzung des Mystikbegriffs. Dieser wird mit religiöser Innerlichkeit — die zwar als Raum der menschlichen Freiheit deklariert, aber nur in strenger Bindung an die Lehrautorität der Kirche akzeptiert wird — gleichgesetzt. Mystik ist, als Begegnung der menschlichen Seele mit Gott, die Einheit subjektiver, freier Hinneigung zu Gott und dessen objektiv gewährter Liebe und Gnade. Nach Viller/Rahner bildet sich die christliche Mystik erst ab dem 4. Jahrhundert aus, als das Mönchstum die Unterscheidung von 'Gebot und Rat' formuliert. Als 'Vater' der Mystik wird der Kirchenlehrer Gregor von Nyssa angeführt. Ihre älteren Spuren reichen jedoch zurück bis zum Johannesevangelium und den Paulus-Briefen, in denen die Lehre von der Kirche als dem 'mystischen Leib Christi' sowie das Damaskus-Erlebnis — wo Paulus "in das Paradies entrückt wurde und unaussprechliche Worte vernahm, die auszudrücken keinem Menschen vergönnt ist"177 — die christliche Mystik präfigurieren. War im Zuge des durch das Zweite Vatikanum abgesegneten 'aggiornamento' — der Hinwendung zur 'Welt', d.h. vorwiegend zu sozialen und zwischenmenschlichen Problemen — die katholische Theologie im allgemeinen an Mystik nur mäßig interessiert, so zeigt die neuere Wende im offiziellen Katholizismus — hin zu Konservatismus und Fundamentalismus — auch hier eine Kurskorrektur an. Auffallig ist, daß von offizieller Kirchenseite in den letzten Jahren eine Reihe wissenschaftlicher Tagungen organisiert und Druckförderungen für Tagungsbände bereitgestellt wurden. 178 Auf diesen Tagungen gingen Theologen und Philologen vielerlei historischen Fragen der Mystikforschung nach. Freilich ist Mystik hier nicht mehr — wie in den zwanziger und dreißiger Jahren — eine katholische Identifikations- und Kampfformel, sondern in erster Linie ein Gegenstand historisch-philologischen Interesses. Man aktualisiert derzeit jedoch den historischen Gegenstand durchaus in der praktischen Absicht, der Konkurrenz nichtchristlicher Mystik mit dem Hinweis auf die eigene, christlich-abendländische Mystiktradition zu begegnen. So postulieren die Theologen Sudbrack und Gerhard Wehr, aber auch der (theologisierende) Altgermanist Alois Maria Haas, daß eine Begegnung des Christen und Europäers mit außerchristlicher und außereuropäischer Mystik auf dem eigenen Terrain, in dem man 'verwurzelt' bleiben müsse, stattfinden solle.179 Das eigene Terrain wird also nicht zuletzt deshalb wiederentdeckt und aufbereitet, um die rezente 'neue Innerlichkeit', die ihre Zuflucht nicht selten im New Age und im außerchristli-

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

chen Bereich, bei indianischen, fernöstlichen und anderen Weisheitslehren sucht, an die christliche, insbesondere die katholische Tradition zurückzubinden. Es wäre freilich pauschalierend, die gesamte Perspektive der katholischen Theologie, sofern sie sich mit Mystik auseinandersetzt, auf solche Abwehr und Rückbindung einzuengen. Theologisch-pastorales, philologisch-geistesgeschichtliches und religionswissenschaftlich-ethnologisches Interesse gehen oftmals enge Verbindungen ein, die in concreto nur schwer zu trennen sind. Daraus, daß der Mystik im Zuge fundamentalistischer Bestrebungen mehr Interesse und Wohlwollen entgegengebracht wird, als dies von seiten der Verfechter des 'aggiornamento' geschieht, kann nicht generell geschlossen werden, daß sie auf jeden Fall und unausweichlich unter Ideologieverdacht zu stellen sei. Die jüngsten Protagonisten einer katholischen Mystik — wie Teilhard de Chardin, Henri Le Saux, Thomas Merton oder David Steindl-Rast — können insgesamt schwerlich dem Lager der Fundamentalisten zugezählt werden. Und sofern sich die Genannten ausdrücklich auch mit nichtchristlicher Mystik — vor allem mit dem Zen — beschäftigt haben, geschah dies nicht im Zeichen von Abwehr und Abwertung, sondern vielmehr im Zeichen von Anerkennung und Toleranz. Diese Toleranz wird heute im wesentlichen auch dem Protestantismus entgegengebracht, so daß sich interkonfessionelle Polemiken im Zusammenhang mit Mystik — wie sie in den dreißiger Jahren und auch noch späterhin durchaus gang und gäbe waren — im heutigen theologischen Schrifttum so gut wie nirgendwo mehr finden.

3.2

Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte

Die ins Zeitalter der Romantik datierbaren Anfänge der nationalen Literatur- und Sprachwissenschaft sowie der Geistes- und Ideengeschichte haben in Deutschland und anderen europäischen Ländern sehr schnell zu einer Befassung auch mit der Tradition mystischen Schrifttums geführt, das in seinen vernunftkritischen und Vernunft transzendierenden Intentionen der romantischen Aufklärungskritik verständlicherweise besonders entgegenkam. Das 19. Jahrhundert brachte die Wiederentdeckung sowie erste Editionen der deutschen — anschließend auch der lateinischen180 — Schriften Meister Eckharts, die Wiederentdeckung weiterer mittelalterlicher Mystiker (einschließlich der Frauenmystik) sowie erste Gesamtdarstellungen einer christlich-abendländischen Mystikgeschichte.181 Beispiele hiefür sind die mehrbändigen Arbeiten von Görres und Preger. Es ging und geht in der Mystikphilologie um die verläßliche Bereitstellung, aber auch um die inhaltliche Deutung und Bewertung vornehmlich mittelalterlicher Texte und — in sprachgeschichtlicher Perspektive — um das Interesse am Sprachproblem der Mystiker und namentlich an der Sprachinnovatorik eines Eckhart. Der weltanschauliche und ideologische Hintergrund, der die Forscher und Gelehrten — vor allem im deutschen Sprachraum — motivierte, war dabei im wesentlichen ein zweifacher: zum einen ein theologischer und zum anderen ein nationaler. Beide Hintergründe konnten zwar an ihren Rändern verschmelzen, sie traten im großen und ganzen

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aber dann doch als entschiedene Gegensätze auseinander. Zu ersterem: Philologisch versierte Theologen und theologisch motivierte Philologen bewerteten Mystik als 'Tiefendimension' des Glaubens, wollten die alten Texte wieder allgemein zugänglich machen und, indem sie die (angebliche oder wirkliche) Rechtgläubigkeit der Mystiker, auch eines Eckhart, betonten, pastoral verwenden. Freilich benannten sie auch da und dort 'häretische' Aussagen dieser Texte und suchten dergestalt 'Spreu' vom 'Weizen' abzusondern. Für diese Forscher war die damals gleichzeitig aufkommende These vom je eigenen nationalen 'Sprachgeist' der germanischen und romanischen Sprachen, insbesondere des Deutschen und des Latein, entweder völlig gegenstandslos oder nur von sekundärer Bedeutung. Sie konzentrierten sich demnach nicht ausschließlich auf die volkssprachliche Mystik von Spätmittelalter und früher Neuzeit, sondern ebensosehr auf die der volkssprachlichen Mystik vorhergehende und sie begleitende lateinische Mystik sowie auf die — im Zusammenhang mit der Gegenreformation wichtige — spanische und französische Mystik der Neuzeit. Es ist nicht zuletzt der Stellenwert dieser (romanischen) Mystik in der katholischen Gegenreformation — die dort führenden Mystiker wie Ignatius von Loyola, Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz sind zugleich wichtige 'Heilige', also persönliche Leitbilder der wieder selbstbewußt gewordenen Katholizität —, der im 19. Jahrhundert viele Protestanten davon abhielt, die Mystik als eine Form christlicher Lebenshaltung gutzuheißen und die eigene — protestantische — Mystiktradition (die sich ja auch nicht innerhalb, sondern eher am Rande der protestantischen Großkirchen hatte etablieren können) entsprechend aufzuwerten. Zu dieser konfessionell motivierten Ablehnung gesellte sich im deutschen Bildungsbürgertum eine chauvinistische Abwertung des 'romanischen' Geistes. Damit sind wir beim weltanschaulichen Hintergrund der zweiten Gruppe deutscher Philologen des 19. und 20. Jahrunderts, die die rheinische Mystik des Mittelalters als spezifisch 'deutsche' Angelegenheit bewerteten, als 'deutsche' Form religiöser Frömmigkeit, ja auch als spezifisch 'deutsche' Philosophie. Eine Radikalisierung und Trivialisierung dieser Einstellung erfolgte schließlich durch die 'völkische' Aneignung der älteren europäischen Mystiktradition, z.B. durch den nationalsozialistischen Chefideologen Alfred Rosenberg oder den Romanschriftsteller E. G. Kolbenheyer.182 Freilich war das nichtkonfessionelle bzw. nichtreligiöse Interesse an der Mystiktradition nicht auf Deutschnationale beschränkt, sondern fand sich, wenngleich in viel geringerem Ausmaß, auch bei Theoretikern des linken Anarchismus wie Gustav Landauer 183 und bei mehr oder minder weltbürgerlich und liberal gesinnten 'Weisheitssuchern', die eine Synopsis der deutschen und europäischen Mystik mit anderen, vor allem fernöstlichen Mystiktraditionen anstrebten. Hier wären Hermann Hesse, Karlfried Graf Dürckheim oder der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, zu nennen. Sie waren ihrerseits teilweise motiviert durch eine englische Tradition der Mystikforschung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus der religiösen Erneuerungsbewegung im Anglikanismus entstand und wichtige Arbeiten zur Mystik hervorbrachte. 184 Für die Philologie — besonders die Altgermanistik — als wissenschaftliche Disziplin sind diese weltanschaulich-ideologischen Vorgaben und Bewertungen zwar als kultureller Bezugsrahmen durchaus von Bedeutung, doch ist der thematische Rahmen von

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

vornherein — weitgehend bis zum heutigen Tag — eng abgesteckt. Man befaßt sich mit konkreten historischen Texten — seien sie von Eckhart oder Jakob Böhme, Mechthild von Magdeburg oder Angelus Silesius — und versteht, sofern sich Inhalte und gewisse sprachliche Merkmale dieser Texte vergleichen lassen, unter 'Mystik' einen historischen, geistesgeschichtlichen Begriff, der freilich nicht selten auch sehr vage gebraucht wird und von Klischeevorstellungen katholisch-dogmatischer oder auch deutschtümelnder Provenienz bestimmt ist. Den Prototyp von Mystik findet man in dieser Perspektive zweifellos im Spätmittelalter — bei Eckhart und/oder in der Frauenmystik —, und was später an Vergleichbarem folgt, wie die 'Barockmystik' oder die 'romantische' und 'symbolistische' Mystik, wird als Analogie, meist jedoch als Renaissance oder epigonale Fortsetzung der 'alten' Mystik interpretiert. Jedenfalls ergibt sich so ein literarhistorischer und geistesgeschichtlicher Mystikbegriff, der ausschließlich oder doch vorwiegend auf die eigene nationale Tradition beschränkt wird. Dies entspricht der historischen — wenn auch in den letzten beiden Jahrzehnten stark gelockerten — Gettoisierung der Germanistik als einer 'deutschen Wissenschaft'. 185 Die Lockerung des Gettos erfolgt — im Hinblick auf Mystik — in den letzten Jahren durch eine verstärkte Zusammenarbeit von Germanisten mit Mediävisten (mit Historikern, Philosophen und Theologen), die ihrerseits mittellateinische und romanisch-volkssprachliche Texte historisch-philologisch bearbeiten und so internationales Vergleichs- und Ergänzungsmaterial in die Diskussion einbringen. 186 Auch wenn der Wille zur Interdisziplinarität bei vielen Germanisten nicht gerade als überwältigend anzusehen ist, so ist in den letzten Jahren immerhin eine stärkere Zusammenschau volkssprachlicher und lateinischer Texttraditionen sowie die Absicht, die eigenen Arbeitsbegriffe — wie eben den literaturwissenschaftlichen Mystikbegriff — kritisch zu hinterfragen, bemerkbar. Die vorhin genannten weltanschaulichen Vorgaben treten in den neueren philologischen Arbeiten stark in den Hintergrund. So kann man die deutschnationale Tradition in der Mystikphilologie heute wohl mehr oder minder als beendet ansehen, und die Frage dogmatisch-konfessioneller Rechtfertigungen ist zwar noch lebendig, wird aber doch eher dezent behandelt und steht zumindest nicht im Vordergrund entsprechender Arbeiten. In nicht wenigen Fällen — hier sind prominente Altgermanisten wie K. Ruh und A.M. Haas zu nennen — ist zu konstatieren, daß philologische und theologische, wissenschaftliche und weltanschauliche Forschungsinteressen eng ineinandergreifen. Sofern solche Doppel- und Mehrfachinteressen offen eingestanden und methodisch reflektiert werden, ergibt sich für die wissenschaftliche Qualität dieser Arbeiten kaum ein Nachteil. Angesichts eines solchen 'Connubiums' von Theologie und Philologie nimmt es aber auch nicht wunder, wenn z.B. die Theoriekonzeption, die A.M. Haas über Mystik vorlegt187, wesentlich mehr von theologischem als von philologischem Interesse ist. Haas will in der menschlichen Natur anthropologische Bedingungen für eine Disposition zur Mystik entdecken und ortet als Bezugspunkt die allgemein-menschliche "Erfahrung einer schlechthinnigen Kontingenz", aus der er eine "konstitutionelle Heteronomie" ableitet188 sowie die Notwendigkeit einer — gleichermaßen ontologisch wie moralisch zu verstehenden — 'Selbstreduktion' des Menschen. Wenn der Mensch sich selbst aufgibt, sich in seiner Ohnmacht und seiner Angewiesenheit auf Gottes Gnade erkennt

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und akzeptiert, dann erfahre er die "Fülle des göttlichen Lebens, der gegenüber man sich nur 'leidend', d.h. passiv verhalten kann". 189 In der christlichen Mystik stehe diese Gottesbegegnung ganz im Zeichen der Christuspassion, die paradigmatisch den Weg von Selbstaufgabe, Leiden, Vernichtung und Erlösung des Menschen vorgebe. Die gleiche anthropologische Struktur — der in sich gestufte Erfahrungsprozeß von Selbstaufgabe und Selbstfindung, von 'Nichts' und 'Fülle' — ortet Haas aber auch in anderen, nichtchristlichen Mystikformen wie beispielsweise im Zen. 190 Nach Kurt Ruhm wurden in den letzten Jahren vor allem auf drei Gebieten der Mystikphilologie Fortschritte erzielt. (1): Es wurden Teilbereiche quellenmäßig näher erschlossen, wie z.B. die Beziehungen zwischen lateinischer und volkssprachlicher Mystik, die Beziehungen zwischen Mystik und Scholastik (einschließlich der volkssprachlichen Scholastik), die franziskanische Mystik (die bislang gegenüber der dominikanischen Mystik ein vernachlässigter Forschungsgegenstand war) und die Frauenmystik. Zu letzterer ist anzumerken, daß sich die ideologischen Hoffnungen von feministischer Seite — nämlich hier Frühformen weiblichen Emanzipationsdenkens ausfindig zu machen — kaum in nennenswerter Weise erfüllt haben. Von einzelnen Bekundungen weiblichen Selbstbewußtseins (z.B. bei Mechthild von Magdeburg) abgesehen, ordnen sich die vielen 'frommen Frauen' des christlichen Spätmittelalters sehr wohl der männlichen Dominanz in Kirche und Gesellschaft unter. Es finden sich auch nur verschwindend geringe Spuren einer speziell weiblich inspirierten Theologie (z.B. weibliche statt männliche Gottesvorstellungen).192 Die breite empirische Erschließung frauenmystischer Texte hat also dazu geführt, einen feministischen Topos zurückzuweisen, freilich auch den Topos der angeblichen historischen Einmaligkeit der christlichen Frauenmystik, die sich — wie J. Lanczkowski im Wörterbuch der Mystik193 unbeeindruckt wiederholt — aus der biblisch-christlichen Gleichbehandlung von Mann und Frau erklären lasse.194 (2) Als weiteren Fortschritt nennt Ruh die detaillierte Fortführung der Diskussion um die Zentralgestalt der deutschen Mystik, Meister Eckhart.195 Diese Diskussion erfolgt in enger Gemeinschaft mit Theologen und Philosophiehistorikern und konzentriert sich — neben der fortdauernden Erörterung von Einflußfragen, wie sie z.B. Otto A. Langer im Zusammenhang der curia monialium-Diskussion neuerlich aufgeworfen hat196 — auf die Frage, ob man Eckhart als 'Mystiker', 'Theologen' oder 'Philosophen' zu klassifizieren habe. Die meisten Forscher sind freilich der Meinung, daß sowohl sachlich wie im Eigenverständnis Eckharts, der primär ein pastorales Interesse verfolgt habe, die systematische Einheit dieser drei Aspekte zu veranschlagen sei. 197 Es gehe bei solchen Zuteilungen nicht um Alternativen, sondern bloß um Akzentuierungen eines einheitlichen Anliegens und Werkes, und man dürfe nicht anachronistischerweise spätere Ausdifferenzierungen und damit sachfremde Kategorien an Eckhart herantragen. Diese synoptische Sicht wird freilich von der sogenannten 'Bochumer Schule' um Kurt Flasch und Bernhard Mojsisch bekämpft, die in der Dominikanerschule des 12. und 13. Jahrhunderts neben der theologischen eine davon trennbare genuin philosophische Traditionslinie orten wollen198 und außerdem die Verwendung des Terminus 'Mystik' in der mediävistischen Diskussion ablehnen — eine Ablehnung, die manche Philologen nachhaltig beeindruckt hat und der sie seither Rechnung zu tragen suchen. 199

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

Flasch argumentiert, daß der Ausdruck 'Mystik' im Mittelalter nicht vorkomme und daß Mystik als Begriff eine rückwärtsgewandte Projektion vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts darstelle.200 Außerdem sei dieser Begriff völlig ungeklärt und schon allein deshalb für die Wissenschaft unbrauchbar, ja schädlich und irreführend. Mit letztgenanntem Vorwurf trifft Flasch in der Tat einen wunden Punkt bei vielen Mystikphilologen, die einen tradierten Ausdruck weitgehend reflexionslos übernommen haben und deren oftmals persönliche Begeisterung für den Gegenstand dem Bemühen um begriffliche Klarheit nicht eben förderlich war. Andererseits scheint Flaschs Kritik in zweierlei Hinsicht überzogen und damit wieder ihrerseits unbrauchbar zu sein: Flasch unterstellt nämlich die Illegimität einer Anwendung nicht-immanenter Rekonstruktionsbegriffe und widerspricht damit einer hermeneutischen Selbstverständlichkeit, er bestreitet außerdem den zumindest heuristischen Wert, den auch ungenügend geklärte Interpretationsbegriffe durchaus haben können. Wären die Philologen der Forderung der 'Bochumer Schule', den Begriff Mystik zu verabschieden, umstandslos gefolgt, hätte dies einen wenig nützlichen Kahlschlag für den Bestand bisheriger Forschungsergebnisse bedeutet. Insgesamt ist die 'gebremste' Akzeptanz der 'Bochumer' Kritik vermutlich aber doch als hilfreiche Korrektur zu werten. Obwohl Eckharts lateinische Schriften noch immer nicht zur Gänze herausgegeben und kommentiert sind, ist von der neueren Forschung sein Werk sowohl immanent als auch in seiner philosophie- und theologiegeschichtlichen Bewertung und Kontextualisierung in ein relativ klares Licht gerückt worden. Die in der Rezeptionsgeschichte verbreiteten Eckhart-Klischees (z.B. des 'ersten deutschen Philosophen', des pantheistischen Häretikers sowie — dazu kontrastiv — des zu Unrecht verdächtigten und verfolgten Rechtgläubigen) sind gegenwärtig kaum noch wirksam. 201 Auch die — einander ausschließenden — Topoi, Eckhart sei ein besonders origineller Philosoph bzw. ein bloßer Epigone gewesen, haben sich im Zuge der genaueren philologischen und ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit seinem Werk verschliffen. Einzelne Fragen wie die nach Einfluß und Wirksamkeit aristotelischer, platonischer und neuplatonischer Denkstrukturen in seinen Schriften sind freilich nach wie vor kontrovers. Von Belang ist schließlich auch, daß zwischen deutschem und lateinischem Werk — bei aller Berücksichtigung sprachlicher, textgattungsmäßiger und situationaler Unterschiede — kaum noch prinzipielle Unterschiede gemacht, d.h. daß sie nicht vorschnell gänzlich verschiedenen 'Welten' und Intentionen zugeordnet werden. 202 (3) Den dritten Fortschritt in der neueren Mystikphilologie sieht Ruh schließlich darin, daß sich heute weitgehend eine neue Beurteilung der mystischen Sprache durchgesetzt habe, die sich von der — lange Zeit allgemein akzeptierten — Auffassung Quints in einigen wesentlichen Punkten unterscheidet. Quints mystische Sprachkonzeption und ihre Kritik durch Haug wurde im vorhergehenden Kapitel (2.10) bereits dargelegt. Der Ansatz Haugs ist insofern von Interesse, als er der traditionellen literaturwissenschaftlichen Mystikforschung systematisch den Zugang zur Diskursebene einer philosophischen Zeichen- und Symboltheorie eröffnet. In diese Richtung gehen denn auch die Bemühungen von Martina Wagner-Egelhaaf um eine Rekonstruktion moderner und postmoderner Mystikkonzeptionen in der erzählenden Literatur. 203

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Prolegomena

Wagner-Egelhaaf setzt sich mit einem Phänomen auseinander, das für die grundsätzliche, systematische und aktuelle Mystikdiskussion von großem Interesse ist: daß nämlich eine Reihe bedeutender Dichter des 20. Jahrhunderts — z.B. Kafka, Rilke, Hofmannsthal, Musil, Broch, Hesse, neuerdings auch Peter Handke (und, wie zu ergänzen wäre, Botho Strauß) — die ältere europäische Mystiktradition ernsthaft rezipiert haben und daß sich in ihrem Werk eine Wiederaufnahme und charakteristische Transformation mystischen Gedankengutes findet. Moderne Sprachkritik greift z.T. ausdrücklich auf die alte europäische Mystiktradition zurück, ist durch ähnliche Motivationen bestimmt wie diese und mündet nicht selten selbst in eine quasi-mystische Denkhaltung. 204 Wagner-Egelhaaf zieht enge Vergleiche zwischen den Paradigmen der traditionellen Mystik und des Dekonstruktivismus, da sich beide um eine Klärung des Repräsentationsproblems bemühen. Die klassische literarische Moderne der Jahrhundertwende wird als eine 'Drehachse' zwischen diesen beiden Paradigmen interpretiert. Für Wagner-Egelhaaf ist Mystik eine affektiv aufgeladene Reflexions weise, die sich dem Phänomen der differance (Derrida) in besonderer Weise stellt. Mystisches Erfahren, Denken und Sprechen ist gemäß dieser Interpretation ein Indikator für Wirklichkeitserfahrung als Zeichenerfahrung und prinzipiell kritisch motiviert. Es oszilliert zwischen dem Insistieren auf offene und auf geschlossene Repräsentationsfelder und ist eben dadurch besonders sprachschöpferisch und textproduktiv.

3.3 Soziologie, Ethnologie, vergleichende Religionswissenschaft Sowohl der theologische wie der philologische Ansatz, sich mit Mystik zu beschäftigen, beschränkt sich zumeist auf eine individualistische Perspektive, d.h. auf die mystische Erfahrung des Einzelmenschen. Vor allem der mit Mystik eng verbundene Topos der mangelnden Intersubjektivität mystischer Rede dient als beliebtes Argument dafür, daß es in der Mystik — wenn überhaupt — nur Sinn habe, vom konkret erfahrenden Individuum als einem begrifflich uneinholbaren 'Nichtidentischen' und 'ineffabile' zu sprechen. Auch wenn A.M. Haas die Mystik von anthropologischen Maßstäben her zu erhellen sucht, handelt es sich bei ihm um eine — zudem theologisch fixierte — Anthropologie des Einzelnen, nicht des Menschen als eines ens sociale, dessen Denken, Handeln und Fühlen nicht allein und ausschließlich auf 'Gott' und 'Welt' gerichtet, sondern vor allem auch durch Sozialbeziehungen vermittelt sind. Das schließt freilich nicht aus, daß Mystik vornehmlich eine private und persönliche Erfahrung darstellt. Aber auch das Private und Persönliche steht in einem sozialen Kontext und kann — vor allem hinsichtlich Motivation und Funktion — immer auch unter sozialen Kategorien betrachtet und bewertet werden. Mystik ist daher auch ein Gegenstand der Soziologie. Mindestens in zwei Fällen kann bei Theologen und Philologen von einem gewissen Durchbrechen der individualistischen Perspektive gesprochen werden. Theologen wie Rahner, de Lubac, Bouyer, v. Balthasar und Sudbrack betonen nachdrücklich den Gemeinschaftscharakter christlicher Spiritualität im ekklesialen Rahmen und beziehen sich

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

dabei auf die paulinische Lehre von der Kirche als 'mystischem Leib Christi', in dem der Einzelne nur abhängiges 'Organ' sein könne und stets auf das 'Corpus' der Gemeinschaft verwiesen bleibe. Der gemeinschaftliche Ritus - vornehmlich Meßopfer und Liturgie — gilt als ausgezeichnete Einstiegsmöglichkeit für (kirchlich orientiertes) mystisches Erleben. Doch ist dieser theologische Verweis auf Gemeinschaft weniger beschreibender und erklärender denn normativer Art, denn er dient primär dazu, die Mystik an Orthodoxie und kirchliche Disziplin zu binden. In der Mystikphilologie wird der individualistische Ansatz dort durchbrochen, wo sich Literaturwissenschaft als LiteraturSoziologie akzentuiert. Doch hat sich die bisherige Literatursoziologie meist darauf beschränkt, geistesgeschichtliche Ideen und ihre literarische Umsetzung in Relation zu sozialen und politischen Gruppen und deren ideologischen Bedürfnissen zu stellen. Mystik als kontemplative und 'kontrafaktische' Weise des Denkens und Empfindens wurde dabei kaum als eigenständiges Phänomen analysiert, sondern als nicht mehr weiter in Frage zu stellender Begriff in seiner praktischen Verwertbarkeit vorschnell funktionalisiert. Mystik erhielt — vor allem von marxistischen Interpreten — im Hinblick auf ihr utopisches, kontrafaktisches Potential die Funktion zugesprochen, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, im Hinblick auf die von ihr repräsentierte Innerlichkeit — ausgiebige Beschäftigung mit dem eigenen Ich, Kontemplation und Tendenz zur Weltflucht — aber auch die Funktion des Reaktionären, des gesellschaftlich Perspektivlosen, der intellektuellen Stagnation.205 Die 'Klassenzugehörigkeit' der Mystiker und ihr gesellschaftlich-politisches Verhalten in der jeweiligen historischen Epoche sollten dann für eine entsprechende Zuweisung maßgeblich sein. Diese Zuweisungen sind jedoch im Zusammenhang mit der Bewertung von Epochen als angeblicher Niedergangs- oder Aufstiegsepochen überaus problematisch, wie die Diskussionen nicht nur um die Beurteilung des Spätmittelalters, sondern auch des Barock, der Romantik oder der Wiener Moderne gezeigt haben. 206 Vor allem im Hinblick auf die christliche Mystik ist eine Kultursoziologie jener Gruppen, in denen Mystik verbreitet war und zur Blüte kam, eine Forschungsrichtung, die noch weitgehend in den Kinderschuhen steckt. Die heutigen soziologisch ausgerichteten philologischen und religionsgeschichtlichen Arbeiten — die in manchen Details recht interessante Einsichten zutage fördern 207 — orientieren sich noch immer weitgehend an Herbert Grundmanns Klassiker Religiöse Bewegungen im Mittelalter aus dem Jahre 1935.208 Der Fragerahmen lautet dabei: Unter welchen Bedingungen wird mystisches Erleben (von Einzelnen) in bestimmten Gruppen und Institutionen gefördert oder gehemmt, überhaupt beachtet und zum Kommunikationsgegenstand? Führt es zu sozialer Auszeichnung oder zu sozialer Ausgrenzung? Wie entsteht und realisiert sich die — nicht durchgängig beobachtbare, aber teilweise doch wirksame — anti-institutionelle und individualistische Tendenz der Mystik und wie wird ihr von Seiten der betreffenden Institutionen begegnet? Eine zumindest teilweise Antwort verspricht hier neuerdings die luhmannsche Systemtheorie, die in dem von Niklas Luhmann und Peter Fuchs gemeinsam verfaßten Band Reden und Schweigen209 auf im Umkreis der Mystik relevante Probleme angewendet wird. Methodische Leitbegriffe sind hier vor allem System, Autopoiesis, Kommunika-

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Prolegomena

tion und Gesellschaft.

Letztere wird als Beziehungsgefiige von Kommunikationsstruktu-

ren und als sich selbst organisierende Ordnung verstanden, deren Bewegung zwischen einem Verlassen und Wiedergewinnen von Ausgangslage und Selbstgleichgewicht oszilliert. D . h . es kommt im Zuge der Eigendynamik des Systems, ob dieses nun darauf eigens abzielt oder nicht, stets wieder zu einer strukturellen Wiederherstellung, anschließend aber dann erneut wieder zu einer Veränderung des 'ursprünglichen Zustands'. Dieser Zustand — eine Funktionseinheit und Konstellation von Kommunikationselementen — ist nicht als Ensemble inhaltlicher Informationen oder als das theoretische Selbstverständnis der betreffenden Gesellschaft oder Gruppe anzusehen, sondern als struktureller 'Gleichgewichtszustand' der Kommunikation. Luhmanns Systemtheorie kann in gewisser Weise als eine deutsche Fortsetzung des französischen Strukturalismus gelesen werden, die den grundsätzlichen Formalismus und die mathematische

Orientierung

eines Levi-Strauss teilt. Dieser Denkschule gemäß bewegt sich gesellschaftliche Dynamik, formal gesehen, im Kreis, was jedoch nicht unbedingt als sinnloses Auf-der-StelleTreten zu begreifen ist, sondern die stets notwendige autopoietische Neukonstituierung und Regeneration einer Gesellschaft bzw. Gruppe bedeutet. Wie gesagt, geschieht diese Bewegung nicht notwendigerweise bewußt, es ist in ihr vielmehr eine weitgehend unbewußte 'List der Vernunft' (Hegel) am Werk, wobei 'Vernunft' hier im Sinn der neuzeitlichen Philosophie als Prinzip der Selbsterhaltung zu verstehen ist. Luhmann/Fuchs gehen — wie Wittgenstein 210 — davon aus, daß das Reden über die Welt b z w . die Erfahrung als Ganzes widersprüchlich sei, und begründen dies mit dem Hinweis auf die systemtheoretische Grundkonstellation, dergemäß jedes System —

d.h

jede Rede, jedes Denken und jede Erfahrung — nur durch definitive Abgrenzung

ge-

genüber einer ihm transzendenten System -Umwelt zu bestimmen sei. 2 1 1 Die Umwelt, das Außerhalb des Systems, aber sei per definitionem nicht mehr im System darstellbar und der Systembegriff also nur im Plural zu denken. Es gebe somit nie ein oberstes System, das alle anderen Systeme inkludieren könne, und demnach auch keine Erfahrung und keine Rede, die die Gesamtheit der partikularen Erfahrungen und Kommunikationen j e einzuschließen vermöchte. Das systemtheoretische Verdikt über Totalitätsaussagen vermeidet jedoch den problematischen Immanenzstandpunkt des frühen Wittgenstein, denn es postuliert keine angeblich fixe und unüberschreitbare Grenze zwischen dem Erfahrbaren und Nichterfahrbaren, dem Sagbaren und Unsagbaren. Die Grenze wird vielmehr relativ auf das jeweilige, konkrete System bezogen, das sich — in dynamischer Autopoiesis — selbst verändert und seine Grenzen gegenüber der Systemumwelt ständig verschiebt. Jede vorerst nichtdefinierte Umwelt eines Systems kann partikulär zu einem neuen System verdichtet werden, und über ein System zu reden, setzt immer schon den (definierten) Standpunkt in einem anderen System b z w . den (Undefinierten) Standpunkt in der System-Umwelt

(der 'Transzendenz') voraus.

Luhmann

räumt aber, im Gegensatz zu Wittgenstein, die Legitimität eines Sprechens über 'die' Welt als Ganzes durchaus ein. Man könne den Gedanken einer Totalität aller Totalitäten durchaus konzipieren und zur Sprache bringen, nur dürfe man dabei nicht vergessen, daß ein solches Sprechen — aufgrund des System- und d.h. Partikularcharakters jeder Kommunikation — notwendigerweise paradox sein müsse.

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

Luhmann und Fuchs betrachten Mystik als einen besonders extremen Fall von Selbstreferenz, wobei ihrer Ansicht nach die Mystiker freilich nicht imstande waren, dieses Problem strukturell zu begreifen und ihm methodisch gerecht zu werden. 212 Sie hätten eben noch nicht über das theoretische und begriffliche Instrumentarium der Systemtheorie verfügt. Ein solcher Optimismus, den methodischen Schlüssel zum Geheimnis der Selbstreferentialität gefunden zu haben und vergangene Denkbemühungen als defiziente Vorläuferschaften des eigenen Ansatzes einzustufen, erinnert an Hegels überzogenen Anspruch, die Wahrheit vergangener Denkentwürfe im eigenen System und mit Hilfe der eigenen Methode 'aufheben' zu können. Von Interesse sind jedoch die von Luhmann/Fuchs vorgelegten konkreten soziologischen Studien über Mystikergemeinschaften. Fuchs untersucht z.B. die Funktion des Schweigens in christlichen Klostergemeinschaften, aber auch die Paradoxalität im Zen213, und er interpretiert diese Phänomene dahingehend, daß sie nur aus einem gruppensozialen Kontext heraus zu verstehen seien. Jede Form individueller Vereinzelung korrespondiere der prinzipiellen sozialen Verfaßtheit des Menschen — sie sei eine Reaktion auf soziale Vereinnahmung und bleibe auf diese bezogen —, und Schweigen bedeute niemals den wirklichen Abbruch von Kommunikation, sondern nur ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln.214 *

Die Systemtheorie ist eine strukturalistische Methode, die klassische Themen nicht nur der — lange Zeit eurozentrisch ausgerichteten — Soziologie, sondern auch der vergleichenden Ethnologie und Religionswissenschaft bearbeitet. 215 Die beiden letztgenannten Wissenschaften haben sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts parallel entwickelt und, da sie sich in ihrem Gegenstand vielfach überschneiden, auch wechselseitig stark beeinflußt. Die religiöse Verfaßtheit sämtlicher früher Kulturen und der kulturspezifische Charakter der jeweiligen religiösen Vorstellungen, Praktiken und Normen verunmöglichen es, Ethnologie und Religionswissenschaft — wobei sich letztere aus vergleichender und historisch-kritischer Theologie entwickelt hat — sachlich voneinander zu trennen. Obwohl Ethnologie und vergleichende Religionswissenschaft in der Beurteilung außereuropäischer Religionen und Kulturen lange Zeit von eurozentrischen Maßstäben ausgegangen sind — indem das Fremde angesichts europäischer Maßstäbe als un- oder unterentwickelt abgewertet oder auch als naturhaft-unverdorben romantisch verklärt wurde —, haben sie doch in erheblichem Ausmaß auf Parallelerscheinungen in den verschiedenen Kulturen und Religionen aufmerksam gemacht und damit in produktiver Weise den kulturtheoretischen Horizont erweitert. Unter diese Parallelerscheinungen fällt auch die Mystik bzw. eine Anzahl von Vorstellungen, Bewußtseinszuständen und Riten, die — wenn man den Bereich der Mystik weit faßt — sowohl mit den griechischen Mysterien Affinitäten aufweisen, als auch — zieht man die Grenzen des Mystikbegriffs enger — mit der christlich-europäischen Mystik vergleichbar sind. Die Charakteristika der mystischen Erfahrung, wie sie oben erläutert wurden, sind in unterschiedlichen Bündelungen als ethnologische und religionswissenschaftliche Phänomene ent-

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Prolegomena

deckbar und beschreibbar. Im Kontext früher und noch schriftloser Kulturen spielen Initiationsriten und Ekstasetechniken, insbesondere auch das komplexe Phänomen des Schamanismus eine Rolle216, da sich mit diesen sozialen Phänomenen Vorstellungen wie Wechsel der Persönlichkeit, Trennung von Leib und Seele, Aufhebung der Kategorien Raum/Zeit sowie Kontakt zu höheren und übernatürlichen Personen und Mächten verbinden. Das betreffende ethnologisch-religionsgeschichtliche Material zeigt aber auch die vielfache Verbindung dieser — wenn wir sie, als Analogie-Phänomen, so nennen wollen — Quasi-Mystik mit Aberglauben und Magie. Dieser Hinweis bedarf einer begrifflichen Klärung. 217 Unter Aberglauben verstehen wir Überzeugungen, die von 'normalen', d.h. in der jeweiligen historisch-kulturellen Gemeinschaft allgemein akzeptierten Glaubensvorstellungen augenfällig abweichen und als unverständlich, dumm und abstrus gelten. Die Grenze zwischen Aberglauben einerseits sowie Erfahrung, Vernunft und im sozialen Rahmen verbindlich geltender Spekulation andererseits ist daher kulturell und historisch relativ. Diese Relativität gilt auch dahingehend, ob Magie — bzw. bestimmte Formen von Magie — als Aberglaube aufgefaßt wird oder nicht. Unter Magie verstehen wir die 'technizistische' und manipulative Erwartung eines 'Gläubigen', sich mit Hilfe extrem spekulativer und gleichzeitig operativ ausgeklügelter Vorstellungen eine persönliche Machtposition aufzubauen. Dies soll dadurch geschehen, daß die Realität in ihren geheimnisvollen Mechanismen durchschaut und in die Sphäre der Machbarkeit und Verfügbarkeit gebracht wird. Magie besteht also aus einer besonderen Mischung mythisch-religiöser und pseudowissenschaftlicher, spekulativer und praktischer Elemente. Für eine ethnologisch-religionswissenschaftliche Klärung des Phänomens Mystik ist die Konzeption der 'heiligen Zeit' bei Mircea Eliade von Belang218, die eine Möglichkeit darstellt, die Genese der (individualistischen) Mystik aus dem (gemeinschaftlichen) Ritus zu rekonstruieren. Karl Albert hat in seiner Religionsphilosophie die Konzeption Eliades aufgegriffen und besonders im Hinblick auf Mystik philosophisch ausgewertet. 219 Nach Eliade konstituieren die Elemente Mythos und Ritus die Religion. Mythos und Ritus beziehen sich auf die Dimension des 'Heiligen', die als das Andere des 'Profanen' veranschlagt wird. Der Bereich des Profanen ist das Alltägliche, Gewohnte, Selbstverständliche, das banale Hier und Jetzt, und die 'profane Zeit' ist die normal ablaufende, irreversible, nie wiederkehrende Zeit. Die 'heilige Zeit' hingegen ist eine 'stehende Zeit', die sich hinter der fließenden verbirgt und mit einem der Vergänglichkeit enthobenen inhaltlichen Geschehen identisch ist: einem Geschehen, das am 'Anfang' der Geschichte war, als die Welt überhaupt erst geschaffen wurde, als Kulturund Gesetzesheroen agierten und als Menschen und Götter in konkreter Gemeinschaft standen. Das 'Heilige' bedeutet also gegenüber dem 'Profanen' eine 'andere Wirklichkeit' und 'andere Lebensform' und beansprucht eine Aura letztgültiger Wahrheit sowie höheren Glücks und höherer Authentizität des Daseins. Man kann sagen: Das Heilige lebt geradezu aus seinem stilisierten Gegensatz zum Profanen (das seinerseits eine Stilisierung ins Marginale und Defiziente erfährt). Das Heilige ist dasjenige, was 'normalerweise' nicht ist und nicht erfahren wird, das aber hinter dem 'Normalen' wartet und aus diesem Hintergrund hervorbrechen kann. Es geht also um eine Zweiteilung der Wirk-

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

lichkeit als solcher und damit — wie Eliade ausdrücklich betont — um eine ontologische Deutung. Das Heilige ist dem Profanen gegenüber die 'eigentliche' Wirklichkeit des Menschen, die zwar — nach dem Maßstab der 'profanen Zeit' — vergangen ist, die aber in 'anderer Weise' dennoch weiterbesteht und unter besonderen Bedingungen auch konkret wiederkehren, erneut anwesend und bestimmend sein kann. Diese Wiederkehr geschieht im Ritus, der gemeinschaftlich vollzogen wird. Außerdem gibt es über den Inhalt des Heiligen feierlich überlieferte Erzählungen: die Mythen. In ihnen wird von der einstmaligen Gemeinschaft zwischen Göttern und Menschen berichtet: von folgenschweren Begegnungen, von plötzlichem Erkennen und Erkanntwerden eines Gottes, von Kämpfen, Unterwerfungen und Friedensschlüssen, von Unterweisung und Belehrung der Menschen, nicht selten auch von gemeinsamen Mahlzeiten. Wären diese Mythen bloß die Erzählungen von vergangenen, nie wiederkehrenden Begebenheiten, würden sie verblassen und verlören ihre 'existentielle' Relevanz für die Menschen. Doch der Mythos handelt von der 'heiligen' Zeit, die im Ritus immer wieder zur 'Wirklichkeit' wird. Die Menschen beschwören die Relevanz des Mythos im Vollzug des Ritus, der, den Mythos darstellend, ihn performativ aktualisiert. Die Irrelevanz des Satzes vom Widerspruch sowie des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten im mythischen Denken220 erlaubt es den Akteuren des Ritus, die Schranken von Raum, Zeit und Kausalität vorstellungsmäßig zu durchbrechen und in die 'heilige Zeit' des 'Anfangs' einzutreten. Die Gemeinschaft mit den Göttern und das Erleben und Vollbringen von Wunderbarem und Übermenschlichem kann somit immer und immer wieder stattfinden. Im Rahmen dieser Konzeption läßt sich Mystik — das Eintreten in eine 'andere' und authentische Realität, die Vereinigung des Menschen mit Gott, die Aufhebung und das Ungültigwerden aller profanen Wirklichkeit — als eine Vergeistigung und Individualisierung des im Ritus sinnlich und gemeinschaftlich 'Erfahrenen' deuten. Nicht mehr die Gemeinschaft, sondern der Einzelne in seiner Einsamkeit begibt sich nunmehr in die 'heilige Zeit', in die 'andere Wirklichkeit', und vereinigt sich mit seinem Gott. Durch die Vereinzelung verliert nun freilich der Ritus weitgehend seine Relevanz. Er wird immer mehr als bloße Äußerlichkeit empfunden. Die Einzelseele, die individuelle Innerlichkeit wird zum Schauplatz der 'heiligen Zeit'. Diese Einkehr ins 'Innere' bereitet den Boden für theologische und philosophische Spekulation, aber auch für theoretische Skepsis. Zweifellos spielt für die hier dargelegte Transformation von Ritus/Mythos in Mystik, von ritueller Äußerlichkeit in vergeistigte Innerlichkeit und von sozialem Kontext in Individualität die Schrift als Kommunikationsmedium eine wichtige Rolle. Es wäre demnach hilfreich, Eliades Konzeption durch die Konzeption der 'oralen' und 'literalen' Noetik, die Eric A. Havelock ausgearbeitet hat, zu ergänzen. 221

125

Prolegomena

3.4

Psychologie und Psychoanalyse

Die bisher referierten Ansätze von Mystikforschung betrachten ihren Gegenstand als Zentrum oder Teil eines objektiven Heilsgeschehens (Theologie) bzw. religiöser Metaerzählungen (Religionswissenschaft), als sprach- und literaturgeschichtlichen Text (Philologie) oder als soziale Verhaltensweise und Lebensform (Soziologie, Ethnologie). Ein weiterer Forschungsansatz ist der psychologische, der Mystik als eine besondere Erscheinung des 'Seelenlebens' betrachtet. Die Psychologie der Mystik ist jedoch sowohl in synchroner wie diachroner Perspektive zu differenzieren: einerseits im Hinblick auf die Pluralität der rezenten psychologischen Schulen und andererseits im Hinblick auf die historische Entwicklung des Psychologiebegriffs. Wenn heute allgemein von Psychologie als einem Sachbereich und von dessen Gegenstand, der Psyche, gesprochen wird, wird vielfach übersehen, daß der Funktionsbegriff 'Seele' eine lange und komplizierte Bedeutungsgeschichte hat. Der Seelenbegriff ist keine Abspiegelung einer materiell greifbaren Entität, sondern — als spekulativer Begriff, den naturwissenschaftlich orientierte Richtungen der modernen Psychologie wie der Behaviorismus denn auch aus dem fachwissenschaftlichen Diskurs zu verbannen suchen — eine kulturspezifische Projektion. Psyche als in sich konsistenter 'Wesenskern' bzw. als Grundfunktion der menschlichen Natur wurde gewissermaßen erst in der griechischen Kultur erfunden — Havelock hat diese Erfindung mit der sich in Piatons Philosophie historisch durchsetzenden Dominanz schriftsprachlichen Denkens in Verbindung gebracht222 —, der Begriff wurde in der christlichen Patristik vertieft und ausgestaltet und in Mittelalter und Neuzeit zum Gegenstand einer eigenen philosophischen Disziplin. Dieser scholastisch bestimmten 'philosophischen Psychologie' — die durch die im 19. Jahrhundert erfolgende Emanzipation der Psychologie als eigenständiger Wissenschaft im großen und ganzen historisch zu Ende war — sind bis heute jene 'psychologischen' Untersuchungen zur Mystik verpflichtet, die sich mit dem Phänomen aus theologischer und kirchlicher Sicht auseinandersetzen und für die 'Gott' und 'Seele' ontologische Bezugsgrößen darstellen.223 Ein Großteil der älteren und neueren Publikationen zur 'Psychologie der Mystik' gehört hierher. Diesen Arbeiten liegt ein Psychologieverständnis zugrunde, das wir in gleicher oder ähnlicher Form auch in den Selbstreflexionen der mittelalterlichen Mystiker vorfinden. Daher handelt es sich bei ihnen meist um — systematisierte und z.T. mit neueren methodischen Ansätzen wie z.B. dem phänomenologischen 224 verschränkte — Paraphrasierungen dessen, was bereits in den klassischen Texten selbst zu finden ist. Bis zur Emanzipation der eigenständigen Disziplin Psychologie aus der 'Dach-' oder 'Grund'Wissenschaft Philosophie wurde die sogenannte 'rationale Psychologie' als Teil der Philosophie betrachtet und betrieben. Auch noch in ihrer Gestalt als Teil der neuzeitlich-rationalistischen Schulphilosophie entnahm sie ihre Bestimmungen der scholastischen Philosophie bzw. dem in der Scholastik herrschenden Menschenbild mit seinen Hierarchien der 'Geistes-' und 'Seelenvermögen', bei denen es sich um höchst spekulative Aussagen erkenntnistheoretischer und anthropologischer Art handelt. Leitvorstellung war bzw. ist die analogia entis von Mensch und Gott, derzufolge die menschli-

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Positionen

und Theorien der

Mystikforschung

chen Erkenntnis- und Willensbestrebungen — freilich in defizienter Weise — das von Gott Erkannte und Gewollte widerspiegeln und der Mensch (da das weniger Vollkommene sich zum wahrhaft Vollkommenen hingezogen fühlt und die Kreatur zu ihrem Schöpfer zurückstrebt) nach Nähe oder Vereinigung zu Gott verlangt. Die Unvollkommenheit des Kreatürlichen — ob sie nun abstrakt als materia prima oder konkret als Einfluß von Teufeln und Dämonen angesehen wird — wirkt sich dabei freilich als ablenkende, zentrifugale Kraft aus, die sich — in einer ihrer Erscheinungsformen — auch als alternative Heilsinstanz zu Gott aufspielen bzw. selbst in die Maske des Heiligen und des Göttlichen schlüpfen kann. Gerade die mit Mystik historisch in Zusammenhang stehenden Motive von Offenbarungen, Träumen, Elevationen, Auditionen, Visionen u.dgl. stellen ein beliebtes Einfallstor für 'falsche' Erkenntnisse und Ansprüche dar, und daher ist die 'Unterscheidung der Geister' ein großes Problem für die glaubensgebundene mittelalterliche Mystik. 225 Das 'Ebenbild Gottes' ist einerseits in beschränkter Weise zu gottgleicher Erkenntnis fähig, es ist aber auch stets gefährdet, durch die 'Welt' oder — krasser — den Teufel verblendet zu werden. Neuscholastik und moderne Theologie führen die genannte Auffassung von Psychologie und damit auch die Lehre von der 'Unterscheidung der Geister' in abgemilderter Weise fort. Dies zeigt sich etwa in Sudbracks Unterscheidung zwischen 'Mystik des Selbst', 'kosmischer' und 'Gottesmystik' 226 , derzufolge die ersten beiden Mystikformen als Vorstufen zur dritten und 'wahren' Stufe zwar toleriert, in ihrer möglichen 'Verselbständigung' jedoch ausdrücklich kritisiert und dann als 'Irrwege' menschlichen Denkens und Strebens verurteilt werden. Sofern von Theologenseite über eine 'Psychologie der Mystik' gehandelt wird, stehen solche Bewertungen mehr oder minder deutlich im Hintergrund. Die scholastische rationale Psychologie, die bereits in den Selbstbeschreibungen mittelalterlicher Mystiker — die ihre 'mystischen' Erlebnisse 'mystologisch' erklären und 'mystagogisch' vermitteln wollen — eine Rolle spielt, ist also heute noch in jenen theologischen Konzeptionen präsent, die Mystik als Zentrum oder zumindest als legitimen Bestandteil religiösen Glaubens rehabilitieren wollen. Dazu zählen auch die Arbeiten des katholischen Psychiaters Carl Albrecht221, dessen Psychologie offensichtlich stark von der Philosophie Heideggers und dessen Rede von der 'Ankunft des Seins' und vom 'Offenstehen für das Geheimnis' mit beeinflußt ist. Albrecht unterscheidet eine engere und eine weitere Bedeutung von Mystik. Im engeren Sinn sei Mystik "das Ankommen eines Umfassenden im Versunkenheitsbewußtsein"228, im weiteren Sinn ein ekstatisches 'Übersteigen' des gegenständlichen Bewußtseins, das zwar vollzogen, nicht mehr jedoch direkt beschrieben werden könne. Das 'Übersteigen' geschehe in der Begegnung mit dem personhaften 'göttlichen Du', die "sofort eine höchste Wertsphäre" bilde und "einen einzigen, alles füllenden Bewußtseinsraum" stifte. Aus dieser Begegnung erwachse "der Auftrag, in seine eigene Selbstvernichtung einzugehen, zu enden und zu schweigen. Verwandelt zu sein in einen Offenstand, bereitet für das Ankommen eines Geschenkes, das nur unter dem Namen der Liebe greifbar ist". 229 *

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Prolegomena

Von den modernen psychologischen Schulen, die sich mit Mystik auseinandersetzen und dabei nicht in theologischem Dienst stehen, sind vor allem drei zu nennen: (1) die Psychologie im Umkreis des amerikanischen Pragmatismus um 1900 (J. Leuba, W. James), (2) die dazu zeitgenössische freudsche Psychoanalyse und (3) die — neuerdings im Zusammenhang mit der New-Age-Bewegung entstandene und an die sogenannte 'humanistische Psychologie' (A. Maslow u.a.) anknüpfende — transpersonale Psychologie (W.S. Tart, St. Grof, K. Wilber). Letztere steht teilweise in der Kontinuität der — von Freuds Konzeption stark abweichenden — jungschen Tiefenpsychologie, auf deren Vorläuferschaft sie sich denn auch ausdrücklich beruft. 230 Zu (1): William James hat in seinem Werk The Varieties of Religious Experience von 1901/02 der Mystik ein eigenes Kapitel gewidmet231, das Thema Mystik durchzieht jedoch darüber hinaus einen beträchtlichen Teil des gesamten Werkes, das sich um eine möglichst unvoreingenommene Phänomenologie religiöser Vorstellungen und Empfindungen bemüht. Diese werden als 'neural konditioniert1 und in diesem Zusammenhang sowohl unter psychologischem als auch physiologischem Aspekt betrachtet. James bewertet religiöse Phänomene ausdrücklich nicht im Hinblick auf ihre möglicherweise 'niederen', d.h. in banalen Ängsten und Vorurteilen liegenden Ursprünge, sondern einzig und allein im Hinblick auf ihre praktischen Folgen. James — der sich unter anderem auf den kanadischen Psychiater J. Leuba bezieht — legt in der genannten Arbeit eine stark psychologisierende Religionsphilosophie im Geiste des Pragmatismus vor, die — im Reichtum ihres empirischen Materials und in ihrer methodischen Vorsicht gegenüber metaphysischen Pauschalierungen — noch heute lesenswert ist. Sie vermeidet die Hypostasierungen der späteren sogenannten 'Religionsphänomenologie' und verbietet es sich z.B., von einem einheitlichen 'religiösen Gefühl' zu reden. Andererseits finden wir bei James freilich auch wenig reflektierte Theorievoraussetzungen und -implikationen, die der Vorstellungswelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts angehören, z.B. wenn er ausgiebig mit der Dichotomie von 'kranker' und 'gesunder' Psyche argumentiert. Doch setzt er — wenn er das Wesen der Religion von deren oftmals neurotischen Extremformen her zu begreifen sucht — keineswegs Religion (und auch nicht Mystik als eine ihrer Erscheinungsformen) schlechthin mit Krankheit gleich. Er glaubt vielmehr an den lebenspraktischen Sinn und an die Legitimität einer 'gemäßigten' Religiosität, die — weil sie das für einen erheblichen Teil der Menschheit konstitutive Grundgefühl des 'Unglücklichseins' überwinden' helfe — schon 'aus biologischen Gründen' unverzichtbar sei. Trotz James' freundlicher Grundhaltung gegenüber der Religion inklusive der Mystik wurde sein Ansatz in der Rezeption vielfach als Plädoyer für die radikalaufklärerische Religionskritik und für einen physiologischen Materialismus aufgefaßt. Obwohl er von den 'Vorteilen des psychopathischen Temperaments, wenn es von einem überlegenen Intellekt begleitet ist', spricht, teilt er mit Nietzsche und Freud die Einschätzung des radikal religiösen Menschen als eines Neurotikers. Zu (2): Bei Sigmund Freud und seinen orthodoxen Schülern fällt die Religion zur Gänze unter den Verdacht einer neurotischen Projektion. 232 Freud glaubt, daß in einer 'wissenschaftlich' orientierten Zukunft die 'Illusion' der Religion, deren Verständnis

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

von Wirklichkeit er strukturell in der 'Urszene' des ödipalen Konflikts vorgebildet findet, historisch ein Ende haben könnte. Damit teilt er — unisono mit Feuerbach, Marx, Schopenhauer und Nietzsche — eine Fehleinschätzung der gesamten klassischen deutschen Religionskritik. Mystik wird von Freud zwar nicht zentral thematisiert und im Detail untersucht, in beiläufigen Bemerkungen aber unmißverständlich als Form infantiler Regression beurteilt, die auf eine vergebliche Restitution des frühkindlichen 'Es'-Zustands abziele. In der infantilen Sphäre des 'primären Narzißmus' seien Ich und Nicht-Ich noch ungeschieden, es fehle somit das Bewußtsein der Individualität, der Vereinzelung und Verantwortlichkeit des Subjekts gegenüber der objektiven Andersheit der Welt. Es sei ein zwar unentfremdeter, aber auch undifferenzierter und im Hinblick auf die notwendige Persönlichkeitsentwicklung prinzipiell zu überwindender Zustand. Der Weg der 'Ichwerdung', der Überwindung des primären Narzißmus ist nach Freud kein ungebrochen-gerader Weg zum Glück, sondern — zwischen der Sky IIa des chaotischen 'Es' und der Charybdis des repressiven 'Über-Ich' — ein Weg von Schmerz, Entfremdung und sozusagen konstitutivem Unglücklichsein. Das erfolgreiche Ich konstituiert sich als Differenz zum Nicht-Ich, zur Welt, die fremd und gefährlich bleibt und der man sich nicht einfach überantworten, in die man sich nicht einhausen kann. Die Werke der Sublimierung von Libido — familiäre und soziale Ordnung, Kunst, Wissenschaft etc. — bleiben immer Pfahl im Fleisch der untersten, fundamentalen Lebensschicht. Es gibt weder die Rückkehr in eine 'alte' Harmonie noch die Hoffnung auf eine künftige und neue. Auch die — von der Religion verheißene, von der Mystik versprochene — vorwärtsgewandte Hoffnung auf ich-entgrenzende Einheit ist als regressiv zu diagnostizieren. Der redliche Geist der Wissenschaft — und Freud versteht sich, trotz der Methodenprobleme seiner Theorie, als Naturwissenschaftler — versagt sich solche infantilen Wünsche. Das 'ozeanische Gefühl' des Alles-Eins wird von Freud nicht ernstgenommen. 233 Parallel dazu ist ihm auch das Totalitätsdenken klassischer philosophischer Konzeptionen suspekt und Ausdruck von Neurosen. Eine Mystikstudie ganz im Geiste der frühen Freud-Orthodoxie ist Oskar Pßsters Aufsatz "Hysterie und Mystik bei Margaretha Ebner" 234 aus dem Jahre 1911. Mystische Empfindungen und Vorstellungen werden polemisch als mißlungene Sublimation gedeutet, der Persönlichkeitstypus des Mystikers gilt als labil und neurasthenisch, der seine unbewältigte Sexualität in Perversionen, inbesondere in Masochismus, auslebt bzw. die entsprechenden Wünsche und Ängste rhetorisch und literarisch umsetzt. Diese Einschätzung von Mystik hat sich in der orthodoxen Psychoanalyse durchgehalten und war von großem kulturellen Einfluß. Aus ihrer Optik lassen sich die "Ekstase [...] mit epileptischen Absencen und kataleptischem Stupor, Visionen und Auditionen als Halluzinationen, das Gefühl der Präsenz Christi oder Gottes als Wahn, die Stigmata als Hysterie" erklären. 235 Zu (3): Während für Freud — und für die Fortsetzer seiner Schule bis hin zu Lacan — die Psyche von ihrer unaufhebbaren Differenz sowohl zur Welt wie zum eigenen Selbst gekennzeichnet ist und somit konstitutiv unglücklich und entfremdet bleibt, verfechten andere Vertreter der Psychoanalyse — z.B. Jung, Reich, Marcuse, Fromm —

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Prolegomena

Harmoniekonzeptionen, die — sei es durch Arbeit an der eigenen Persönlichkeit, durch sexuelle Befreiung oder durch politische, soziale und kulturelle Revolution — eine mögliche Aufhebung des Unglücklichseins und der Entfremdung versprechen. Sucht man dabei nach geistesgeschichtlichen Parallelen, so bieten sich der deutsche Idealismus, vor allem aber die gesamte Tradition der Gnosis ·— von der Antike bis zur Gegenwart — als Vergleichsmaterial an.236 Es sind jene Konzeptionen von Totalität und Identität, die die bisherige und gegenwärtige intellektuelle und emotionale Verfassung des Menschen als partikulär und entfremdet beklagen und die Aufhebung dieses defizienten Zustands für möglich erachten. Der harmonische Zustand von vollkommenem Wissen, Glück und Wohlbefinden wird entweder historisch in die Vergangenheit zurück- oder in die Zukunft vorprojiziert, so daß man von einem rousseauschen und hegelschen Typus geschichtlicher Spekulation sprechen kann. Man will entweder zu einem heilen Ursprung zurückkehren, oder man erwartet, daß dieser Zustand erstmals in naher oder ferner Zukunft eintritt. Bedingung dafür ist ein entscheidender Schritt menschlicher Selbsterkenntnis: Was es gegenüber allen gegenständlichen und kategorialen Täuschungen und auch gegenüber jeder unwahren 'Ich'-Vorstellung zu entdecken gilt, ist das — die 'Wahrheit' menschlicher Wirklichkeit repräsentierende — 'Selbst'. Wesentlich an diesem 'Selbst' ist seine universale Verbundenheit. Es repräsentiert zugleich sich selbst in seiner Partikularität und die Totalität der Wirklichkeit als solcher. Es erinnert daher an die Gleichung von Seele und Gott in der (religiösen) Mystik. Die von Freud so bezeichneten Phänomene Narzißmus und Regression — und somit auch die Mystik — werden in den psychoanalytischen Harmoniekonzeptionen in einem veränderten Kontext und sozusagen mit umgekehrten Vorzeichen wahrgenommen und bewertet. Was Freud und die Orthodoxie als infantil und neurotisch abwerten, wird nun als sinnvoll und förderlich rehabilitiert. Herbert Silberers Studie Probleme der Mystik und ihrer Symbolik aus dem Jahre 1914237 ist in Methode und Werturteil bereits weit von Freud entfernt. Silberer läßt neben der psychoanalytischen auch eine religiös-anagogische und eine naturwissenschaftliche Deutung psychischer Artikulationen — insbesondere von Träumen — zu. Dabei entspricht die religiös-anagogische Deutung der 'Mystagogie', d.i. der praktischen Anleitung zu mystischer Erfahrung, die durch 'Introversion' — Rückgang in die Innerlichkeit, passive Welt-Abkehr — ermöglicht wird. Die Introversion ist jener Punkt, an dem eine Synopsis der drei unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten gelingt. Sie ist — nach dem Urteil Silberers — ambivalent, denn sie kann eine Verengung und Deformation der Persönlichkeit genauso bewirken wie deren Entfaltung und Selbstfindung als eine reife, gelassene, in sich gesammelte Haltung. Das mystische 'Begehren' nach Einheit und Totalität gilt dabei freilich als unaufhörliches, unstillbares Streben, das Ziel wird aber nicht, wie bei Freud, als 'Illusion' betrachtet, sondern ist ein ernstzunehmendes 'immerwährendes Objekt'. 238 Eine weitaus radikalere Umwertung der Mystik ins Positive findet sich dann bei Carl Gustav Jung239, der sich freilich — sofern man die beiden Begriffe nicht, wie Jung und viele andere Autoren es tun, zusammenwirft — weitaus mehr auf die Gnosis und die (gnostisch beeinflußte) mittelalterliche Alchemie denn auf Mystik bezieht. 240 Der Weg zum 'Selbst' ist für Jung dem mystischen Stufenweg vergleichbar, und die alten mysti-

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sehen Traditionen gelten ihm als Vorläufer der eigenen Konzeption von Psychoanalyse. Die Gottesvorstellung, meint er, entstehe durch eine besondere Libidokonzentration. Wenn sich das Ich mit dem Unbewußten identifiziere, verliere die Gottesvorstellung jedoch ihre objektiv-gegenständliche Form und gehe auf in die Subjekt-Objekt-Identität des 'Selbst'. Die dort erreichte Einheit sei keine regressive, sondern eine progressive, für die Reifung der Persönlichkeit förderliche und sogar notwendige Größe. Der Weg zur Selbstfindung sei also kein Kreis, sondern eine Spirale. Neben der das Alte verwandelnden Progression gibt es bei Jung freilich auch die krankhafte und unschöpferische Regression. Daher ist für ihn die Mystik in ihren historischen Erscheinungsformen teils progressiv — in dieser Hinsicht antizipiert sie seine eigene 'analytische Psychologie' — und teils regressiv. Letzteres ist sie dann, wenn sie tatsächlich in unentwickelten und primitiven Entwicklungsstadien der Psyche verharrt bzw. dahin zurückkehren möchte. Die im Zusammenhang mit der New-Age-Bewegung in Amerika entstandene transpersonale Psychologie versucht, auf eine Vielfalt von spirituellen Strömungen zurückzugreifen 241 — z.B. auf die jungsche Psychologie, auf Anthroposophie, auf schamanistische Vorstellungen und Praktiken, auf Sufismus, Zen, christliche Mystik und indianische Weisheitslehren — und eine neue, erfahrungsadäquate Psychologie und Psychotherapie zu entwickeln. Wie sich das bereits in ihrem Namen ausdrückt, will die transpersonale Psychologie die Vernetztheit und die Ganzheit der menschlichen Lebensbezüge, die über die enge Hypostasierung des Daseins als 'Person' hinausgehen, untersuchen. Sie ist darin mit der Subjektkritik der Postmoderne (und zuvor schon Adornos und Heideggers) verwandt. Das Erkennen des universalen Zusammenhangs wird als Therapie gegenüber der Vereinzelung, Beengtheit, Deformation, Angst und Entfremdung der in sich verhärteten 'Person' angesehen. Die transpersonale Konzeption ist also holistisch und harmonistisch. Die Befreiung der Person zur Trans-Person, das bewußte Eintreten in den universalen Zusammenhang geschieht in 'außergewöhnlichen Bewußtseinszuständen' und durch 'Spitzenerlebnisse' (peak experiences), die durch religiöse Übung, Meditation, Drogen oder anderweitig forciert werden können. Sie führen den Menschen über den banalen und entfremdeten Alltag — zu dem auch die Welt der routinierten Wissenschaft gehört — hinaus und lassen ihn Authentizität gewinnen: das Finden und Behaupten des wahren, universalen 'Selbst' durch das Verlieren und Aufgeben der falschen, partikulären 'Person'. Referenzen für eine solche Psychologie lassen sich — das war auch schon so bei Jung — in zahlreichen Weisheitstraditionen verschiedenster Völker und Zeiten ausfindig machen. Damit wendet sich die transpersonale Psychologie gegen eurozentrische Gewohnheiten und Vorurteile. Die Arbeiten dieser Schule zeichnen sich freilich nicht selten durch philologische Naivität und zügellose Spekulation aus, so daß die Grenze zwischen ernstzunehmender Argumentation und einer 'Mystik des dummen Kerls' (Mauthner) nicht immer klar gezogen werden kann. *

Zusammenfassend läßt sich zum gegenwärtigen Forschungsstand der Mystikpsychologie sagen: Da Mystik von den meisten Forschern als genuin religiöses Phänomen gewertet

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Prolegomena

wurde und wird, stand und steht Mystikpsychologie weitgehend im Kontext von Religionspsychologie. Diese erfährt heute im Zusammenhang mit der transpersonalen Psychologie und im Zusammenhang gegenwärtiger Rationalismuskritik eine Neubelebung. Es ist derzeit schwer zu entscheiden, welche der vielen neuen Ansätze, die religiöse und insbesondere mystische Erfahrung theoretisch erklären (und meist auch rechtfertigen) wollen, wissenschaftliche Dignität erlangen werden und welche dieser Ansätze bloß der spekulativen Giftküche des New Age zuzuordnen sind. Zweifellos werden verschüttete Traditionen reaktiviert, wird zu Unrecht Vergessenes und bislang Ignoriertes erinnert und fruchtbar gemacht, zweifellos ist hier aber auch nur allzu oft 'Schleudermystik' (Musil) am Werk, die emotionale Begeisterung mit Sachverstand verwechselt. Gegenüber der transpersonalen Psychologie und ihrem semi-wissenschaftlichen Status ist jedenfalls bis auf weiteres eine doppelte Haltung am Platz: vorsichtiges Interesse und anhaltende Skepsis. Sieht man von der transpersonalen Psychologie ab, so ist in der Entwicklung der Religions- und Mystikpsychologie in den letzten Jahrzehnten eine gewisse Stagnation zu beobachten. Dies hängt mit dem Rückgang des kulturellen und wissenschaftlichen Interesses am Phänomen Religion seit den 30er Jahren zusammen, die als historischer Höhepunkt sowohl der neueren Religionswissenschaft als auch der neueren Mystikforschung gelten dürfen. Psychologisierende Theologen kamen damals zu dem Ergebnis, daß das Phänomen Mystik teilweise und relativ durch Psychologie erklärt werden könne. Dies ergab sich als Konsequenz daraus, daß für sie ein Vorrang von Theologie und Offenbarung vor aller fachwissenschaftlichen Arbeit selbstverständlich war. Demgemäß wurde auch — wie z.B. im Mystik-Artikel von Karl Rahner im Theologischen Wörterbuch242 — Zwischen 'natürlicher' und 'übernatürlicher' Mystik unterschieden, wobei der erstgenannte Typus auf die allgemeine anthropologische und psychologische Struktur der 'Transzendenz' bezogen wurde, der zweitgenannte Typus auf die — nach theologischem Verständnis nicht mehr zu relativierende — 'Selbstmitteilung Gottes'. Während Mystik in der Sicht der jungschen sowie der transpersonalen Psychologie deren eigene Position historisch antizipiert, so daß diese als Reformulierung und Rekonstruktion mystischer Traditionen gelesen werden kann, fällt für die nichtharmonistische, differenzorientierte Psychoanalyse Freuds die Mystik sachlich in den Gegenstandsbereich der Ideologiekritik. Neuere Selbstreflexionen der freudschen Schule, die unter Titeln wie 'Antipsychiatrie' oder 'Pathognostik' auftreten, destruieren freilich eine Reihe von Grundannahmen Freuds. So werden z.B. die Dichotomien 'krank-gesund' und 'normal-abnormal' in Zweifel gezogen bzw. gänzlich verworfen. Dadurch verschiebt sich zwangsläufig die klassische Beurteilung des Phänomens der Regression, ohne daß diese — was man Jung, Reich u.a. wohl nicht zu Unrecht vorgeworfen hat — auch schon positiv stilisiert würde. Obwohl sich die genannten Richtungen mit Mystik noch kaum befaßt haben, dürften sie für die künftige Mystikforschung von Interesse sein. Und zwar deshalb, weil sie — aufgrund ihrer methodischen Prämissen —• sowohl gegenüber einer zu vorschnellen Abwertung von Mystik als auch gegenüber einer zu vorschnellen Akzeptanz einen erfolgreichen Mittelweg einschlagen könnten. 243

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

Von einem gewissen Interesse ist schließlich auch noch der Ansatz des amerikanischen Psychotherapeuten Arthur J. Deikman2U, der die klassische Mystik nicht als bloß unvollkommene Vorwegnahme moderner Psychoanalyse interpretiert, sondern umgekehrt die Psychoanalyse als vorläufig letztes Glied in der langen und vielfältigen Geschichte der 'mystischen Wissenschaft' betrachtet. Dieser sei es immer schon zentral um das Problem des 'wahren Selbst' gegangen, nicht um einen transzendenten Gott, und der häufige Konnex der Mystik mit Religion sei nur als historisch zufällig zu werten. 'Gott' und 'Selbst' seien zwei unterschiedliche Interpretationen bzw. Vergegenständlichungen des 'Heiligen'. 245 Von heuristischem Wert sind Deikmans Bestimmung des Heiligen und seine methodische Trennung von Mystik und Religion.

3.5 Ästhetik, Politologie, Grundlagendiskussion in der modernen Physik Die drei im Titel genannten Ansätze können im engeren Sinn nicht als Forschungsansätze zur Mystik bezeichnet werden, sondern es sind Disziplinen, von denen her sich enge thematische Bezüge zur Mystik herstellen lassen. Es sind Diskurse, die im Verfolg ihrer je eigenen Problemstellungen auf Affinitäten mit den Erfahrungsberichten und spekulativen Konzeptionen der klassischen Mystik stoßen und diese Affinitäten z.T. ausdrücklich untersuchen. Sie berufen sich dann auch manchmal — meist apologetisch, nur selten kritisch — auf den Begriff und Ausdruck 'Mystik', den sie vielfach auch, was der Klarheit des Gemeinten nicht eben förderlich ist, synonym zu 'Religion' und 'Metaphysik' verwenden. Wenn man eine unklare Begrifflichkeit — so ärgerlich sie im Einzelfall sein mag — zum Anlaß nimmt, um sachlich über das, worüber sie zu reden sucht, nicht mehr nachzudenken, so ist damit kein Erkenntnisgewinn verbunden. Vielmehr ist zu fragen, aus welcher Motivation heraus es denn zur Verwendung dieser Ausdrücke und warum es zu ihrer begrifflichen Gleichsetzung kommen konnte. Die Frage beantwortet sich aus einem Bündel gemeinsamer kultureller Voraussetzungen und Problemstellungen von Kunst, politischer Reflexion und Naturwissenschaft. Diese drei Diskurse sind zwar durchaus heterogen, doch sind sie in einer gemeinsamen Lebenswelt beheimatet. Alle drei Bereiche sind durch die — für die moderne Kultur grundlegende — Spannung zwischen aufklärerischem Szientismus und alt-neuer Religiosität, zwischen Differenz-Erfahrung und Harmonie-Intentionen bestimmt. Und es ist — in unterschiedlichen Formen und Begriffen — die Selbstkritik der modernen Rationalität, die (1) aus dem auf seine Aporien stoßenden Naturalismus in der Kunst, (2) aus der phantasielosen Pragmatik säkularisierter Politik und (3) aus der erkannten Relativität klassischer Wissenschaftsmodelle theoretische Konsequenzen zieht, die 'metaphysische', 'religiöse' und 'mystische' Traditionen rehabilitieren.

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Prolegomena

(1) Zum ästhetischen Ansatz: Der Germanist Hans Dieter Zimmermann246 vertritt die vermutlich übertriebene, aber doch teilweise richtige These, "daß die Grundlegung der modernen Philosophie und der modernen Künste zu Beginn unseres Jahrhunderts sich in einem Rückgriff auf die Mystik vollzog". 247 Er führt unter anderem den Dadaismus und die abstrakte Malerei als Beispiele an. Der Philosoph Karl Albert248 hat aus Tagebüchern, Briefen und programmatischen Texten moderner bildender Künstler (z.B. Cezanne, Marc, Klee, Mondrian, Kandinsky), aber auch moderner Komponisten (z.B. Mahler, Strawinsky, Schönberg, Messiaen) und moderner Dichter (z.B. Perse, Whitman, Broch, Kazantzakis) Beispiele 'ontologischer' bzw. 'mystischer Erfahrung' angeführt 249 und dabei hervorgehoben, daß diese Künstler immer wieder explizit von 'Mystik' sprechen und daß sie sich auf klassische Mystiker berufen. Dies gilt vor allem für die expressionistischen Künstler. In ihrem Versuch, die Seh- und Bewertungsnormen klassischer Wahrnehmungs- und Stilisierungsmuster in Frage zu stellen, kann die ungegenständliche Malerei — ihre Hinwendung zu 'bloßen' Formen oder auch zur 'bloßen' Sinnlichkeit der Farben — unschwer als poietische Kritik an überkommenen Rationalitätsvorstellungen verstanden werden. Analoges gilt für die Zwölfton- und atonale Musik. In ihrem Selbstverständnis als Avantgarden zielen diese modernen Kunstströmungen nicht auf eine äußerliche Restitution von Traditionen, sondern auf deren neue und verwandelte 'innere' Aneignung. 'Mystik', 'Religion' und 'Metaphysik' sind dann sozusagen Kampfformeln gegen eingerastert-traditionelle Selbstverständlichkeiten in der (künstlerischen, aber auch allgemein-kulturellen) Wahrnehmung, Deutung und Gestaltung der Wirklichkeit. Sie wenden sich also gegen überkommene Formen von Rationalität und sind Schlagworte in der Auseinandersetzung um ein neues, authentisches Selbstverständnis der modernen Künstler. Künstler sind freilich, wenn überhaupt, nur implizit und sekundär auch die Theoretiker dessen, was sie wollen, schaffen und bewirken. Sie sind in erster Linie Poietiker, also 'primär Schaffende', und die systematische und erklärende Interpretation ihrer Werke obliegt — auf einer sekundären Ebene — der Ästhetik (als eigener Disziplin), der Kunstkritik und Kunsttheorie. Obwohl sie gerade von modernen Künstlern zunehmend durchbrochen wird, bleibt die Differenz zwischen Poiesis und Theorie zu beachten, und es ist jeweils nützlich zu wissen, auf welcher Ebene man sich bewegt. Beide Ebenen bleiben prinzipiell divergent. Dem für die ästhetische Theorie stets uneinholbaren ästhetischen 'Bedeutungsüberschuß' eines Musikwerkes, eines Bildes, einer Plastik, irgendeines materialen Arrangements oder literarischen Textes steht das Faktum gegenüber, daß das materiale Objekt in gewisser Weise auch immer hinter seiner Interpretation zurück- und in seiner Wirkung unentfaltet bleibt. Wenn verschiedene Sparten der modernen Kunst — also neben den Schriftstellern auch Maler, Bildhauer, Komponisten und Aktionskünstler — ihr eigenes Anliegen als 'mystisch' bezeichnen und es in mehr oder minder überzeugender Weise mit der mystischen Tradition in Verbindung bringen, so ist dies für eine Phänomenologie der Mystik von erheblichem Interesse. Denn erstens wird dadurch deutlich, daß Mystik sachlich nicht auf die Bereiche Religion/Theologie, Philosophie und Literatur beschränkt ist, sondern auch ein zentrales Thema in unterschiedlichen Kunstsparten darstellt. Und zweitens wird deutlich, daß das Medium

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

mystischer Reflexion nicht allein die Sprache ist, sondern daß auch andere Zeichenund Symbolsysteme diese Reflexion in Gang setzen und vollziehen können (wobei sie sich dann freilich begleitend und fortsetzend auch der Sprache bedienen). Der Blick darauf, daß Reflexion — und insbesondere das Wechselspiel von Rationalität (als Stiften von Orientierung) und Mystik (als deren Destruktion und Neustiftung) — in verschiedenen Medien und nicht nur im sprachlichen und theoretischen Denken möglich ist, sprengt eine geläufige, aber verengte Option, mit den Begriffspaaren Rationalität/Mystik und Denken/Erfahrung umzugehen. Nun ergibt sich nämlich die Möglichkeit, die Intentionen unterschiedlicher Künste kulturell und analog zu verstehen. Das heißt: Rationalität und Mystik, Denken und Erfahrung stehen in einer pluralen, aber vernetzten Lebenswelt bzw. Kultur, in deren verschiedenen Bereichen sie nicht schlechthin gleich, wohl aber — bei unaufhebbarer Differenz — vergleichbar sind. *

(2) Zum politologischen Ansatz: Im politischen und politologischen Diskurs taucht der Begriff 'Mystik' dann als Metapher auf, wenn — abwertend oder zustimmend — ein Gegensatz zu rationalen und pragmatischen Prinzipien gesellschaftlichen Denkens und Handelns bezeichnet werden soll. Des näheren ist dieser Gegensatz mit den Momenten besonderer Emotionalität und der Selbstaufgabe des distanzierten, kritischen Ich zugunsten einer allgemeinen, überpersonalen Sache oder Idee verknüpft. Je nachdem, ob eine solche Selbstaufgabe kritisiert oder eingefordert wird, ist 'Mystik' in diesem Zusammenhang ein Fall von Obskurantismus oder ein positiver Wert. Dasselbe gilt übrigens auch für den politischen und politologischen Sprachgebrauch von 'Mythos', und beide Begriffe — Mystik und Mythos — können hier zuweilen aufgrund ihrer unbestimmten Bedeutungsränder auch verschmelzen. Dies ist z.B. in Rosenbergs Der Mythus des XX. Jahrhunderts250 der Fall, das neben Hitlers Mein Kampf als ideologisches Hauptwerk des Nationalsozialismus gilt. Im Kontext einer z.T. verfälschten und jedenfalls trivialisierten Verwertung von Motiven romantischer und lebensphilosophischer Vernunftkritik fordert Rosenberg als politische Grundlage des 20. Jahrunderts einen 'religiösen Glauben' an den geheimnisvollen Wert 'nordischen Blutes', und er findet besagte 'Religion' — philologisch freilich ohne jede Referenz — in der klassischen 'deutschen Mystik' Meister Eckharts vorgezeichnet. 251 Neben diesem Bezug auf eine historisch faßbare geistesgeschichtliche Tradition bedeutet 'Mystik' für Rosenberg aber auch die überzeitliche Haltung eines Individuums gegenüber der sozialen Realität. Diese Haltung finden wir in extremer Weise in den hymnisch-naiven Preisgedichten an Hitler ausgedrückt, die der 'Reichsjugendführer' Baidur von Schirach verfaßt hat und in denen er die begnadete 'Einheit' von Führer und Volk beschwört. Hitler und die Deutschen bilden da ein 'corpus mysticum' und spiegeln einander wie — gemäß den alten hermetischen Lehren —• Gott und Welt, Mikro- und Makrokosmos. 252 Ein wesentliches Motiv der 'völkischen Weltanschauung 1 , die zweifellos Züge einer 'trivialen Mystik' trägt, besteht sicherlich in der Unfähigkeit ihrer Anhänger, mit der Pluralität und Relativität des Wissens, der Werte und der Lebensformen in

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Prolegomena

der modernen Welt zurechtzukommen. Daher versuchen sie in voluntaristischer Anstrengung die Restitution eines 'geschlossenen' Weltbildes, das sie von Kritik und Autonomie als Anforderungen des modernen Lebens dispensiert. Unter psychoanalytischem Aspekt ist ihre 'Mystik' eine regressive Reaktion auf die — als hyperbedrohlich empfundene — Differenzerfahrung der Moderne. 253 Da mit einer verzweifelten und/oder zynischen Haltung registriert wird, daß es absolute Wahrheit nicht gibt, und da man sich außerstande sieht, in einer pragmatischen Welt der Vorläufigkeit und der ständigen Revisions- und Lernbereitschaft zu leben, werden gewaltsam 'Mystik' und 'neue Mythen' bemüht, die in der modernen Welt — deren Bedingungen eben nicht mehr die Bedingungen archaischer und traditionaler Gesellschaften sind — jedoch bodenlos bleiben. 254 Die 'neuen Mythen' können nur um den Preis extremer Aggressivität und extremer Selbstentfremdung durchgesetzt werden, und auch das nur für verhältnismäßig kurze Zeitspannen. 'Mythos' und 'Mystik' werden bei Rosenberg zu einer billigen Rechtfertigung für die Unfähigkeit, rational auf die komplexe Erfahrung der modernen Welt zu reagieren. Es war vor allem der Politologe Eric Voegelin, der die 'mystische' Dimension der Nazi-Ideologie thematisiert und sie außerdem — im Kontext der von ihm vertretenen allgemeinen Totalitarismustheorie — zur marxistischen Ideologie in Analogie gesetzt hat. 255 Allerdings ist hinzuzufügen, daß Voegelin in seiner eigenen Terminologie mit einem positiv bewerteten Mystikbegriff arbeitet und daß er, was er kritisiert, nicht 'Mystik' nennt, sondern 'Gnosis'. Dennoch trifft seine Gnosis-Kritik zu erheblichen Teilen dasjenige, was Rosenberg — und, in anderer Weise, auch ein marxistischer Philosoph wie Ernst Bloch256 — als 'Mystik' bezeichnet und auf das er sich affirmativ beruft. In der Perspektive Voegelins handelt es sich um ein intellektuell zwielichtiges Unterfangen, das unvermeidlich in Irrationalität und Obskurantismus mündet. Hier werde ein 'höheres Wissen', das die Vernunft zu transzendieren beansprucht, behauptet, in Wahrheit handle es sich jedoch nur um eine haltlose Projektion, um die uneinlösbare Hoffnung einer chiliastischen 'Erlösung' aus der Ohnmacht und Widersprüchlichkeit des eigenen Lebens. Im politisch-politologischen Diskurs wird 'Mystik' also entweder von einem aufklärerisch-emanzipatorischen Standpunkt aus einem radikalen Ideologieverdacht ausgesetzt, oder sie firmiert — wie bei Rosenberg und Bloch — als affirmative Berufungsinstanz für die eigenen politischen Vorstellungen. Ähnlich wie bei der psychoanalytischen Befassung mit Mystik — orthodoxer Freudianismus einerseits, jungsche Schule und transpersonale Psychologie andererseits — lassen sich auch in der politologischen Befassung zwei vergleichbare Rezeptionstypen unterscheiden. Dem freudschen Regressions-Verdikt entspricht die Abwertung der Mystik zu einem Ideologem des Totalitarismus, und der positiven Stilisierung der Mystik als Reife- und Erfüllungsstadium der menschlichen Persönlichkeit bei den holismus- und harmonieorientierten Psychoanalytikern entspricht, was politische Denker wie Landauer (als Anarchist)257 und Bloch (als 'revisionistischer' Marxist) an emanzipatorischem Potential in der Mystik zu entdecken glauben. Beide Konzeptionen sind inkompatibel, und ein um Vermittlung bemühter Standpunkt — der die phänomenologisch vertretbaren Ergebnisse der einen wie der anderen Rezep-

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

tion zur Synopsis bringen will — hat sowohl den grauen anthropologischen Pessimismus Freuds und Voegelins ebenso zu entschärfen wie die blauäugigen Hoffnungen auf Authentizität, deren Pathos bei Landauer, Bloch, Jung und den Transpersonalisten die Diktion beherrscht. Während die Ideologiekritiker den Untersuchungsgegenstand Mystik davor bewahren, unbefragt und eindimensional zu einer positiven Größe der Kultur und des menschlichen Lebens stilisiert zu werden, schützen sie die Fürsprecher von Harmonie und Authentizität gegenüber vorschneller und ebenfalls einseitiger Denunzierung. Hielten sich — dies sei hier programmatisch festgehalten — ideologiekritische Skepsis, die den methodischen Zirkel der Ideologiekritik reflektiert, und phänomenologische Akzeptanz, die ihrerseits wiederum um die Gefahr naiver Hypostasierungen weiß, die Waage, so wäre eine dergestalte Phänomenologie der Mystik in politologischem Kontext zweifellos von beachtlichem Erkenntnis wert. Dabei wäre freilich — wie in der Auseinandersetzung um die Rolle des Mythos — sehr pointiert die kulturelle und historische Relativität mystischer Modelle herauszuarbeiten, so daß z.B. die 'völkische Mystik' der Nazis nicht ohne weiteres mit der mittelalterlichen 'deutschen Mystik' — trotz partieller Analogien und trotz der Tatsache, daß jene sich auf diese beruft — in einen Topf geworfen werden kann. Die Erkenntnis, daß 'moderne' Mythen — seien es neu erfundene oder adaptierte alte — im Kontext und unter den Bedingungen der Moderne eine andere, eben moderne Funktion haben258, ist analog auf 'alte' und 'neue' Mystikformen anzuwenden. Analogien und Differenzen zwischen alten und neuen Konzeptionen wären dann einzeln herauszuarbeiten. *

(3) Zum Ansatz der Grundlagenreflexion in der modernen Physik: Dieser Ansatz ist dadurch mit dem ästhetischen Ansatz strukturell vergleichbar, daß er gleichfalls das Untersuchungsfeld zur Mystik auf eine neue — diesmal fachwissenschaftliche — Disziplin ausweitet und die Fragestellungen der traditionellen, religiösen Mystik an 'neuem' Material erprobt. Der zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende und vor allem die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts bestimmende Paradigmenwechsel von der klassischen Physik hin zur Atomphysik und Quantentheorie führt bei einer Reihe von Physikern — Bohr, Heisenberg, Schrödinger u.a. — zu grundlagentheoretischen und in diesem Zusammenhang originär philosophischen Reflexionen. Diese Reflexionen nehmen jedoch kaum je auf die Fachphilosophie Bezug, sondern formulieren 'hausgemachte' Ergebnisse des eigenen Nachdenkens, oder sie verbinden diese Ergebnisse mit Referenzen auf vorwiegend außerakademische Traditionen — z.B. des Vedanta (wie bei E. Schrödinger) oder der mittelalterlichen Mystik (wie bei A. Eddington). Wie in der Ästhetik werden die Ausdrücke 'Mystik', 'Religion', 'Metaphysik' und 'Transzendenz' nicht selten pauschalierend und gleichsinnig verwendet. Hans-Peter Dürr hat in seinem Sammelband Physik und Transzendent die diesbezüglichen Zeugnisse von zwölf modernen Physikern zusammengestellt, "deren Lebenswerk mit dem Paradigmenwechsel von der klassischen Physik zur Quantenphysik eng verknüpft war"260 und die in ihren philosophischen oder quasi-philosophischen Überlegungen (die thematisch den fachphilosophi-

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Prolegomena

sehen Disziplinen Erkenntnistheorie und Ontologie bzw. Metaphysik zuzuordnen wären) der "Einbettung von Wissen in Transzendenz" 261 nachgingen. Die Hauptthemen des Paradigmenwechsels in der Physik, die eine Affinität zur mystischen Erfahrung aufweisen, sind folgende: die Entgegenständlichung lichkeitsvorstellungen; die Relativität und Kontingenz

ler Wissens- und Wirklichkeitsbezüge; die sprachliche neuen Wissens; die Subjekt-Objekt-Entgrenzung

konkreter Wirk-

alles Erkennens; die Ganzheit alUnfaßlichkeit

paradigmatisch

im Wissenschaftsprozeß. Die Quanten-

phänomene erlauben es nicht mehr, die Realität — wie in der klassischen Physik und in der Erkenntnistheorie Kants —

als eine objektivierbar-gegenständliche

anzusetzen.

Transzendentales und positivistisches Denken wird so in seiner Universalisierbarkeit bestritten und, w o es weiterhin anerkannt wird, zum eingrenzbaren Sonderfall. Die Annahme, daß man, wenn schon nicht das Ganze, so doch die einzelnen Teile der Wirklichkeit als solche einer klaren und nicht mehr revidierbaren Erkenntnis werde zuführen können, ist nunmehr obsolet. Real ist, wie D. Böhm programmatisch formuliert,

nur

noch das — stets präsente, aber nicht objektivierbare — Ganze des Wirklichkeitszusammenhangs. Dieses Ganze nennt Werner Heisenberg

die 'zentrale Ordnung', der man —

folgen wir der Schilderung seiner "Nacht von Helgoland" 262 — in der Stimmung eines visionären Gefühls begegnet, das an die religiöse Dimension des 'Heiligen' erinnert. Der geheimnisvolle 'Grund' der Wissenschaft ist zugleich ein Abgrund und ein Erhabenes, das ineins einschüchtert und fasziniert. Weil das Ganze und 'eigentlich Reale' nicht vergegenständlichbar und sprachlich abbildbar ist, muß von ihm — so Bohr und Heisenberg — in Bildern und Gleichnissen gesprochen werden. Da die 'zentrale Ordnung' das Ganze der Wirklichkeit beherrscht, richtet sie sich tendenziell gegen das aufklärerische Selbstverständnis des Menschen als eines autonomen Wesens. Es ist dies der Punkt, an dem Naturwissenschaftler für ein 'religiöses', 'metaphysisches', 'transzendentes' oder 'mystisches' Weltverständnis empfänglich werden, so daß also naturwissenschaftliche Grundlagenreflexion in eine wiederbelebte A k zeptanz überlieferter religiöser und Gottesvorstellungen einmünden kann. Es fehlt bei Denkern wie Heisenberg freilich — vielleicht ist sie aber auch gar nicht zu leisten



eine Methodologie, die es erlaubte, den intuitiven 'Grund' der Wissenschaft v o m Spiel unverbindlicher Phantasie und Scharlatanerie klar abzugrenzen. Arbeiten zur 'modernen Physik', in denen eine solche Grenze allzu rasch verschwimmt, finden wir vor allem in der New-Age-Literatur. Die Ambivalenz des grundlagenwissenschaftlichen 'Erfahrungspunktes' nicht ausreichend zu beachten, ist die entscheidende Schwäche in den Darlegungen eines F. Capra oder M. Talbot263,

die an die

Überlegungen der vorhin genannten Physiker anknüpfen und diese Überlegungen sowohl radikalisieren als auch zu einem umfassenden und einheitlichen 'Weltbild' des N e w A g e ausgestalten. Die Tatsache, daß solche Konzeptionen einerseits von einer großen semi-intellektuellen Anhängerschaft kritiklos gutgeheißen und andererseits von den meisten Fachphysikern völlig ignoriert werden, läßt eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Problem weitgehend stagnieren. Möglicherweise besteht die Funktion solcher Popularphilosophien darin, daß sie im kulturellen Entwicklungsprozeß die Rolle eines Ferments zu spielen haben: Sie geben Anregungen und lösen Reaktionen und

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Positionen

und Theorien der

Mystikforschung

Ängste aus. Sie werden zeitweilig zum Idol, doch nicht zum ernsthaften Untersuchungsgegenstand. Sie vergröbern und trivialisieren wissenschaftliche und philosophische Fragen nicht nur durch rhetorische und begriffliche Simplifizierung, sondern auch dadurch, daß sie dort, wo Antworten verfrüht oder vielleicht auch prinzipiell nicht möglich sind, stets auch schon mit einer alles erklärenden und allzu griffigen 'Lösung' aufwarten. Ergiebiger für die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit die physikalische Grundlagenreflexion zu mystischen Thesen hinführt und inwieweit solche Untersuchungen ihrerseits ein sachliches Verständnis mystischer Traditionen fördern, scheint es vorläufig zu sein, sich erneut mit den detaillierten Überlegungen der klassischen modernen Physiker auseinanderzusetzen, als sie in der Salto-mortale-Manier des New Age vorschnell 'vollenden' zu wollen. Dürr — der sich in seiner Darstellung des Problems offensichtlich eng an Wolfgang Pauli anlehnt — verfolgt, im Gegensatz zum Großteil der von ihm zitierten Physiker, eine vorwiegend ethische Perspektive. Er bezieht seine Wissenschaftsethik jedoch sehr eng auf erkenntnistheoretische und ontologische Thesen. Dürr spricht von der Komplementarität und vom Wechselspiel zweier Perspektiven: des weltbeobachtenden Ich-Bewußtseins und der mystischen Einheit, und er identifiziert diese beiden Perspektiven mit dem Begriffspaar 'rational-irrational' sowie mit der Entgegensetzung von Sein und Sollen. Indem er diese Zuordnungen trifft und vor allem indem er aus der NichtVerfügbarkeit des Ganzen einen moralischen 'Führungsanspruch' des Lebens "durch das Transzendente" 264 ableitet, entsteht freilich ein halbtriviales Amalgam erkenntnistheoretischer, metaphysischer und ethischer Annahmen. Der von Dürr zitierte W. Pauli zeigt sich da etwas vorsichtiger, wenn er in Anlehnung an Rudolf Otto das 'Heilswissen' der Mystik auch als für das wissenschaftliche Weltbild gültig reklamiert. Pauli fordert, die beiden in der bisherigen Kultur entwickelten 'Grundhaltungen' — "die kritisch rationale, verstehen wollende auf der einen Seite und die mystisch irrationale, das erlösende Einheitserlebnis suchende auf der anderen Seite"265 — zur Synthese zu bringen. Dieses Ziel eines synthetischen Weltbildes hält er "für den ausgesprochenen oder unausgesprochenen Mythos unserer eigenen, heutigen Zeit" 266 , verzichtet dabei jedoch auf eine ins einzelne gehende Vorzeichnung dieses Ziels. Aus der bisherigen Interaktion der beiden Grundhaltungen sei "eine Art dialektischer Prozeß" entstanden, "von dem wir nicht wissen, wohin er uns führt" 267 . Man kann also resümieren: Unbestritten ist, daß wir nach synthetisch-holistischen Erklärungen zu suchen haben. Das Wie dieser Erklärungen ist jedoch nicht vorschnell in einem spekulativen Gewaltstreich zu erzwingen. Pauli und einige andere Physiker — vor allem Carl Friedrich von Weizsäcker — rekurrieren in ihren Überlegungen auf Piaton und dessen Zweiwelten-Theorie. Dies ist von besonderem Interesse, wenn man die Bedeutung Piatons und des sich auf Piaton berufenden Neuplatonismus für die Ausbildung der europäischen Mystik bedenkt. Die jeweilige Piatonrezeption ist ein Indikator gleichermaßen für den Diskussionsstand zum Problem der Mystik wie zum Problem der Rationalität. Die genannten Physiker behaupten — in verschiedenen Varianten — die Realität zweier Welten bzw. die gleichzeitige Geltung und Unverzichtbarkeit zweier methodischer Konzeptionen. Sie betonen den Charakter der Komplementarität von 'Fragmentierung und Ganzheit' (D. Böhm) und

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Prolegomena

postulieren die Vereinbarkeit von — gegenstands- und kategorienorientierter — Rationalität einerseits und von — die bestimmte Vielheit zugunsten einer unbestimmbaren Einheit negierenden — Mystik andererseits. Dieses Postulat zielt gleichermaßen auf einen 'rationalisierten' Mystikbegriff wie auf einen erweiterten und höherreflektierten Vernunftbegriff. "Die Anerkennung einer meditativen oder mystischen Erfahrung der Einheit", schreibt v. Weizsäcker, "ist nicht ein Ausweichen vor der Realität, sondern [...] eine Konsequenz des Verständnisses des Wesens der Rationalität. Argumentierende Philosophie kann dann eine Vorbereitung oder eine Auslegung dieser Erfahrung sein; sie kann auch eine Auslegung der Anerkennung der Möglichkeit dieser Erfahrung

3.6

Gegenwartsphilosophie und Mystikforschung

Bei den bisher behandelten Positionen und Theorien in der gegenwärtigen Mystikforschung sind wir in verschiedenem Ausmaß immer wieder auf implizite oder explizite philosophische Annahmen und Argumentationen gestoßen. Theologie und Literaturwissenschaft behandeln traditionellerweise im Rahmen ihrer eigenen Disziplin philosophiehistorische Fragen, und auch ihre systematisch-methodologischen Reflexionen tangieren zwangsläufig philosophische Problemstellungen. Letzteres gilt selbstverständlich auch für Ethnologie, Soziologie und Psychologie. Wenn der Theologe und Altgermanist A.M. Haas eine — wenn auch grob gezimmerte — Anthropologie der Mystik entwirft, wenn der Soziologe und Kommunikationstheoretiker N. Luhmann Mystik als Extremfall von Selbstreferentialität behandelt, wenn der Ethnologe und Religionswissenschaftler M. Eliade die Mystik in den Zusammenhang einer 'ontologischen' Interpretation von Religion stellt — dann handelt es sich dabei stets auch um philosophische Erklärungsversuche. Wohl am nachdrücklichsten wird die philosophische Dimension in der Grundlagenreflexion der Physik bemüht, und zwar verständlicherweise deshalb, weil diese — das steht heute wohl im Selbstverständnis aller Fachwissenschaften außer Streit — stets auf einer Teilbasis metaphysischer Grundannahmen arbeiten muß. Es geht einerseits um empirisch nicht beweisbare, aber denkökonomisch notwendige Annahmen wie z.B. die Geltung der Kausalität und der logischen Grundsätze, andererseits um die Legitimität spezieller spekulativer Konzeptionen, die als 'Grundgerüst' oder 'Gestalt' die empirische Arbeit vorweg strukturieren und — wenn man der in der wissenschaftlichen community weitgehend akzeptierten Theorie von Th.S. Kuhn 269 folgt — auf historisch-kontingente 'Paradigmen', nicht auf eine überzeitlich gültige 'reine Vernunft' zu beziehen sind. Freilich kann — j e nachdem, wie man den Philosophiebegriff ansetzt — der Anteil philosophischer Fragen, der innerhalb einer Disziplin zur Geltung kommt, sehr unterschiedlich bemessen werden. In diesem Kapitel geht es nun um eine umgekehrte Perspektive: nicht um den Anteil von Philosophie in den Disziplinen der Mystikforschung, sondern um die explizite Thematisierung von Mystik innerhalb gegenwärtiger philosophischer Diskurse. Ich gehe

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

der Frage nach, wo und wann Philosophen von Mystik sprechen. Wie definieren und bewerten sie das Phänomen mystischer Erfahrung und mystischer Spekulation? Und welchen Beitrag leistet Philosophie zur Mystikforschung insgesamt? Ich habe bereits erwähnt, daß es in der europäischen und englisch-amerikanischen Philosophie seit 200 Jahren eine philosophische Auseinandersetzung mit Mystik gibt und daß diese Auseinandersetzung im Kontext der Erfahrungs- und Vernunftreflexion stattfindet. Wenn die Philosophen von den Grenzen und/oder vom Ganzen der Erkenntnis sprechen, rekurrieren sie — das gilt beispielsweise für Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, James, Bergson, Lavelle, Russell, Cassirer, Wittgenstein und Charles Morris — ausdrücklich auf Mystik. Dabei sind zwei Strategien zu beobachten. Ein Teil der Philosophen versucht, Vernunft und Erfahrung restriktiv zu bestimmen und Mystik radikal aus diesem Bereich auszugrenzen. Das gilt etwa für Kant und den frühen Wittgenstein. Ein anderer Teil der Philosophen hingegen — z.B. Hegel oder Bergson — versucht, durch eine Entgrenzung des Vernunft- und Erfahrungsbegriffs Mystik zu vereinnahmen, d.h. in eine Vernunft- und Erfahrungskonzeption zu integrieren. Halten wir bei gegenwärtig lebenden und lehrenden Philosophen Ausschau, dann erweist sich Mystik als ein vernachlässigtes und, wenn überhaupt, nur am Rande behandeltes Thema. Unter den 'großen' und 'berühmten' Gegenwartsdenkern läßt sich eigentlich nur Jacques Derrida nennen, bei dem von einer originären Mystikkonzeption gesprochen werden kann. Er entwickelt diese — vor allem in seiner Studie How to Avoid Speaking?210 — in Auseinandersetzung mit dem gegen ihn erhobenen 'Vorwurf', seine Methode des Dekonstruktivismus sei eine Wiederholung negativ-theologischer und kabbalistischer Konzeptionen.271 Eine nennenswerte, aber nicht allzu bekannte Mystikphilosophie hat in Deutschland Karl Albert vorgelegt. Seine in dem Buch Mystik und Philosophie272 erläuterte Position ist — im Vergleich zur 'postmodernen' Position Derridas — als 'vormodern' zu bezeichnen, sie negiert die historischen Zäsuren von Transzendentalphilosophie und 'linguistic turn' und bleibt der Verschränkung von Piatonismus und Mystik verpflichtet. Für Albert ergibt sich eine nahezu problemlose Koinzidenz von mystischer und philosophisch-rationaler Intention. Unter den übrigen Gegenwartsphilosophen — den deutschen genauso wie den französischen und englisch-amerikanischen — gibt es nur ein gelegentliches und meist randständiges Interesse an Mystik. Ausnahmen sind Hermann Schmitz, der in seinem System der Philosophie [Bd. 2 und 3, Bonn 1965 und 1967] die Erörterung von Raum und Leiblichkeit mit Mystik in Zusammenhang bringt, sowie der nahezu unbekannte Wolfgang Struvem, der eine Philosophie 'seinsüberschreitender' radikaler Transzendenz und Freiheit entwickelt hat, die er explizit als 'Mystik' verstanden wissen will. *

Von Struves Schülerin Ursula Schneider stammt eine bemerkenswerte Dissertation 274 , die am Leitfaden der Frage nach dem menschlichen Glück die Philosophie Nietzsches dahingehend rekonstruiert, daß diese Philosophie von klassisch-mystischen Motiven

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Prolegomena

durchzogen und von Grundüberzeugungen bestimmt sei, die im Einklang mit einigen Grundüberzeugungen der Mystik stünden. Nietzsches Formel für die mystische Erfahrung sei das 'dionysische Glück', in dem der Mensch in sein Eigenstes 'verwandelt' werde und das — unverfügbar, aber wiederkehrend — als Kontrapunkt zur gewohnten und mitteilbaren Welterfahrung fungiere. Es entziehe sich der gegenständlich mitteilenden Sprache und könne wohl Motiv wie Horizont, nicht aber im strengen Sinn Gegenstand der philosophischen Reflexion sein. "Glück und Philosophie schließen sich aus. [...] Die Philosophie könnte streng genommen vom Glück nur in der Weise der Erinnerung handeln." 275 Eine intellektuelle Lösung des Glücksproblems ergibt sich nach Schneider erst durch sein Verschwinden. Philosophie, die an diesem Punkt ihrer eigenen Bewegung nicht ins Schweigen zurückfällt, sondern weiterdenkt und -spricht, werde notwendigerweise "zum paradoxen Tun, denn es geht um den immer neu unternommenen Versuch, das Nichtsagbare dennoch zu sagen"276 und eine "Änderung des ganzen Menschen" 277 zu forcieren. Hieraus werde der 'Experimentalcharakter' von Nietzsches Denken verständlich, das es aus einem "Ungenügen an der Reichweite und Gültigkeit auch der letzten, einer höchsten Anstrengung abgewonnenen Begriffe" unternimmt, "Begriffe so weit auszudehnen, daß sie ihr Gegenteil mit umfassen", und das deutlich macht, "daß Denken auf jedem Weg den Punkt erreicht, wo es sich in sich selbst verstrickt". 278 Glück sei kein Gedankenkonstrukt, sondern "eine sich von sich her zeigende, sich bekundende und ergreifende Wirklichkeit, etwas Unantastbares, das zwar störbar, aber nicht eigentlich zerstörbar ist, eine Wirklichkeit, die alle Hinsichten, auch die bezüglich ihrer Berechtigung, überholt und die Ebene des Fragens und Problematisierens unendlich übersteigt". 279 Neben dem 'dionysischen Glück' seien für Nietzsche, so Schneider, 'Wille zur Macht' und 'amor fati' die zentralen Formeln dafür, den mystischen Grundgedanken zu umschreiben. Nietzsches Philosophie der bewußten und gewollten Oberfläche', seine engagierten Thesen und Widersprüche seien als Form des paradoxen mystischen Sprechens verstehbar, das auf Selbstaufhebung zielt und, indem es sich an Begriffen abarbeitet, den Menschen zu seinem Eigentlichsten hin wandelt. Dieses Eigenste ist aber weder mit dem 'transzendentalen' noch mit dem 'empirischen' Ich identisch. "Das Ich ist [...] etwas, das gesucht und gefunden werden muß, aber nur, um es abzuwerfen. "280 Doch auch die Selbstaufhebung hebt sich wieder auf. Zwar ist "der höchste Wille zur Macht [...] willenlos" 281 , darin aber kein Abschluß, sondern bloß das vorübergehende Moment einer umfassenderen Bewegung, die die Momente von (Macht-) Willen, Ich und Gegenständlichkeit durchaus wiederkehren läßt. "Ein Aufgeben aller 'Sitze' des Denkens", wie es Nietzsche fordert, sei "nur sehr schwer zu erreichen und nur für Augenblicke festzuhalten"." 282 Schneiders Untersuchung ist zwar ein beachtenswerter Beitrag für die NietzscheDiskussion (in der sie bislang freilich kaum zur Kenntnis genommen wurde), kann aber kaum — was sie auch nicht beansprucht — in einem allgemeinen Sinn als Beitrag zu einer systematischen philosophischen Mystikforschung angesehen werden. Sie zeigt allerdings exemplarisch, daß auch bei einem Philosophen wie Nietzsche, der sich selbst nur marginal über Mystik äußert283, mystische oder quasi-mystische Denkstrukturen

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

feststellbar sind. Geht man davon aus, daß Nietzsche möglicherweise nicht der einzige 'philosophische Fall' ist, auf den eine solche Feststellbarkeit zutrifft, ließe sich folgern, daß ein zureichendes Verständnis von Mystik einen wesentlichen Schlüssel auch für das Verständnis von Philosophie bzw. bestimmter philosophischer Entwürfe liefern könnte. Eine Phänomenologie der Mystik wäre dann zwar sicher nicht der einzige, wohl aber ein bedeutsamer Zugang zu philosophischen Problemstellungen. Doch ein derart zureichendes Verständnis von Mystik liefert bislang weder die außerphilosophische noch — sofern von einer solchen überhaupt gesprochen werden kann — die philosophische Mystikforschung. Dennoch, wir finden bei einigen gegenwärtigen Denkern immer wieder Hinweise, die als Bausteine für eine Theorie der Mystik brauchbar sein könnten. Man bezieht sich aber meist nur auf Einzelaspekte der mystischen Erfahrung oder bleibt allgemein und pauschalierend, d.h. man thematisiert nicht die mystische Erfahrung in der Gesamtheit ihrer Aspekte. Thomas H. Macho kommt in seiner Studie Todesmetaphern: Zur Logik der Grenzerfahrung2M auf die unio mystica zu sprechen und zeigt, daß sich die Todesmetaphorik — und zwar deshalb, weil wir den Tod als solchen, mit Wittgenstein zu reden, 'nicht erleben' — auf ein nicht identifizierbares Moment und eben darum auf das unverfügbare Ganze und auf die ständige Veränderlichkeit unserer Erfahrung bezieht. Macho sieht in der Mystik, die — hier zitiert er den Psychiater J.E. Meyer 285 — als alternativer 'Zugang zum Tode' interpretiert werden kann, einen Abbruch und eine Zerstörung all jener Bezüge, die uns mit unseren Mitmenschen und der Vielfalt der realen Welt verbinden. Die in der Mystik erlebte 'Einheit' der Wirklichkeit sei nur auf Kosten der Wirklichkeit aller konkreten, faßbaren, partikulären Dinge herstellbar. Daher bedeute sie ein 'Nichts'. "Dieses Nichts der Einheit impliziert den sozialen Tod. Die Einsamkeit ist keine beliebige Bedingung der mystischen Wesensschau, sondern eine erstrangige Voraussetzung." 286 Für Macho ist Mystik freilich nur eine unter mehreren möglichen 'Grenzerfahrungen'. *

Manfred Sommer widmet in seinem Buch Lebenswelt und Zeitbewußtsein dem Thema "Mystik und Aufklärung" einen kurzen Abschnitt287, in dem er zwischen diesen beiden Phänomenen eine Parallele zieht. Ausgang seiner Überlegungen ist eine Kritik der 'natürlichen Erfahrung', die "naiv-reflexionsfrei [...] die Dinge, die uns umgeben, als stets dieselben, obgleich sie sich ändern" 288 , betrachten möchte. Demgegenüber lehre die kantische Philosophie, daß Wirklichkeit für den Menschen nicht als vorweg gegebene existiere, sondern als 'Gleichursprünglichkeit' ihres An-sich und ihres Verhältnisseszu-uns. Diese kritische Einsicht führe "zu einer Konstellation von Phänomenen, die zwar in den Umkreis dessen gehören, was wir Religion nennen, die uns aber die Einsicht nahebringen, daß und warum im Funktionsgefüge unserer Wirklichkeitsbeziehung — und d.h. unseres Bewußtseins — so heterogene Größen wie 'Mystik' und 'Aufklärung' miteinander verwandt sind." 289

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Prolegomena

Da wir die Gegenstände unseres Bewußtseins nicht 'vorfinden', sondern 'produzieren', müssen sie aus einem vorgängigen 'Etwas' herausgearbeitet werden, über das aber "Aussagen eigentlich unmöglich sind", weil diese sich nur auf die 'Produkte' beziehen können. Daher "müssen Aussagen über das, was 'schon da ist', wenn es Gegenstände und Urteile 'noch nicht gibt', uneigentlich, metaphorisch, symbolisch werden". 290 Sie ruhen auf einer Schicht von 'Empfindungen', 'sinnlichen Anschauungen' und 'subjektiven Erlebnissen', an die wir — Sommer bezieht sich nunmehr auf Husserl — Intentionen knüpfen, die im 'Erfolgsfair zu Objektivierungen der Wirklichkeit, zur Wahrnehmung von und zum Umgang mit Objekten führen. Eben in dieser objektstiftenden Intentionalität bestehe das Wesen von Rationalität. Was in der Philosophie, vor allem jedoch im Alltagsbewußtsein vergessen werde, sei deren sinnliche, emotionale, subjektive Grundschicht. Es gebe "neben dem Wahnsinn [...] ein religiöses Phänomen, durch das wir von einem solchen begriffslosen und gegenstandslosen Bewußtsein etwas wissen: die Mystik. Der Mystiker erlebt, was in der Transzendentalphilosophie als Grenzwert gedacht wird: daß alles Rationale, Funktionale, Intentionale wegfällt." 291 Im folgenden hält sich Sommer an die 'Religionsphänomenologie' von Rudolf Otto192 und stellt 'zwei Typen' von Mystik einander gegenüber, die mit dem in der Mystik gegebenen Moment der Spannung zwischen gegenständlicher und ungegenständlicher Erfahrung — für Otto ist dies der Gegensatz von 'rational' und 'irrational' — unterschiedlich umgehen. Der Mystiker reagiert entweder "quietistisch oder destruktiv" 293 , je nachdem ob es sich um den 'regressiv-introvertierten' Typ des 'Weltflüchtigen' handelt oder um den 'aggressiv-exaltierten' Typ des 'Weltzerstörers'. Der letztere wende sich vehement gegen die religiöse Objektivierung der Wirklichkeit, die das Dogma verkörpert. Die Resultate der Objektivierung — in und außerhalb der Religion — können nach Sommer "wieder aufgelöst und somit reduziert werden auf das, was der Intentionalität als intuitiv-sensitiver Anfang ihrer Objektivationsleistung vorauslag. Allerdings: was nach solchen episodischen oder regionalen Zerstörungen bleibt, ist selbst wieder 'Material' für neue 'Formation'. Insofern ist Re-Formation ein Prinzip von Religion überhaupt; und Reformation als religionsgeschichtliche Figur lebt aus einem mystischen Untergrund." 294 Neben dieser 'reformatorischen' unterscheidet Sommer eine 'innovatorische' Mystik, in der 'gänzlich Neues' erlebt und geformt werde. Wenn diese Neuformation allerdings "nicht gelingt, wird Mystik zu einer Variante des Wahnsinns." 295 Unter Berufung auf eine Äußerung von Max Wundt zur Mystik — dieser sei eigen, den Begriff in die Anschauung zurückzuverwandeln" 296 — resümiert Sommer, Mystik stelle "die Gegenbewegung zur formhaften und formgebenden Intentionalität" dar, und er meint darüber hinaus, "daß Wundts Charakteristik der Mystik sich auch als Beschreibung des Verfahrens der Aufklärung lesen läßt." 297 Auch die kritische Philosophie gehe hinter den Schein des Objektiven zurück auf jene Ebene, aus der sich das Objektive heraus konstituiert — freilich nur, "um dann mit hellem Sinn und wachem Verstand den Weg der objektivierenden Auffassung selbst noch einmal zu gehen". 298 Sommers Analogisierung von Mystik und Aufklärung greift nicht allzu weit, und er geht vor allem nicht auf die markanten Unterschiede ein, durch die sich die beiden Phänomene auszeichnen. Doch macht er immerhin deutlich, daß sich in der Konstitu-

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

tionsbewegung der Vernunft — im Werden der gegenständlichen Vorstellungen unseres Bewußtseins und in dessen Selbstkritik — ein Referenzpunkt für die mystische Erfahrung aufweisen läßt. Man kann als Ergebnis seiner Überlegungen festhalten: Die kritische Philosophie entdeckt eine Bewußtseinsschicht, die sie als Ausgang der Bewußtseinsleistungen erkennt, auf die sie im Reflexionsprozeß zurückkommt und die sie, um die Leistungen nicht der Destruktivität eines unkontrollierbaren Chaos auszuliefern, auch wieder verlassen muß, wobei sie die Begegnung mit besagter Bewußtseinsschicht — nicht das Verharren in ihr — als reinigend und motivierend erlebt. Das Verharren — als ein Stopp und ein Mißlingen der Vernunftbewegung — bedeutet nämlich Wahnsinn. Indem Sommer jedoch Mystik auf den Phänomenbereich der Religion einschränkt und indem er von den Formen philosophischen Denkens nur die Transzendentalphilosophie berücksichtigt, begibt er sich der Möglichkeit, Mystik in ihrer kulturellen und lebensweltlichen Vielfalt näher zu erkunden. In einer früheren Arbeit über Ernst Mach299 hat Sommer eine These aufgestellt, die eine 'Inversion' zwischen 'Gnosis' und 'Positivismus' behauptet. 300 (Dabei werden die Begriffe Gnosis und Mystik gleichgesetzt.) Sommer nimmt Bezug auf ein autobiografisch festgehaltenes All-Einheits-Erlebnis des jungen Mach, das für dessen späteres Denken — die Auflösung der (einen und festgefügten) Welt in eine unendliche Vielzahl flüssiger 'Empfindungen' — als Antifolie und zugleich als weiterwirkendes Stimulans bestimmend gewesen sei. "Machs Positivismus tendiert zur Preisgabe der Ich-Identität und lebt aus einer Sehnsucht nach weltliebender Selbstverflüssigung. Aus der unio mystica wird die dispersio mystica. Statt Sammlung Zerstreuung; statt Synthesis Analysis. "301 Damit weist der Autor bei Mach einen untergründigen Zusammenhang, ja eine Komplementarität mystischen Erlebens und begrifflich-philosophischen Denkens auf, der wir — freilich in anderer Form — auch bei Wittgenstein begegnen. *

Mystik steht also sachlich mit Rationalität und deren Selbstkritik in engem Zusammenhang. Dieser Zusammenhang wird — allerdings in begrifflich und theoretisch meist unbefriedigender Form — auch von philosophischen Schriftstellern hervorgehoben, die — wie Peter Koslowski - einer besonderen Variante der Postmoderne oder — wie Hubertus Mynarek — dem New Age nahestehen. Koslowski302 unterscheidet drei verschiedene Weisen, Totalität zu denken: Philosophie/Metaphysik, Gnosis und Mystik. Er definiert: "Das beherrschende Gefühl des Mystikers ist dasjenige der Einheit, die bestimmende Erfahrung des Gnostikers diejenige der Fremdheit in der Welt, die zentrale Erkenntnis des Philosophen diejenige der Ganzheit. [...] Mystik ist die sinnliche Seite der Religion und der Philosophie. In der Mystik konvergieren Philosophie und Religion im Erlebnis von Einheit und Ganzheit." 303 Mystik und Gnosis — letztere will Koslowski streng vom (neo-)paganen 'Gnostizismus' getrennt wissen — seien "keine Formen des Irrationalismus, sondern Versuche, mit den Mitteln der Vernunft und des Gefühls an die Grenzen des Erkennbaren vorzustoßen." 304 Die genannten Mittel versucht der Autor als gegen "die reduktionistische, materialistische Aufklärung" gerichtete Werk-

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Prolegomena

zeuge der "religiöseren] Aufklärung" 305 einzusetzen und erklärt sie zu Elementen einer christlich-konservativ gewendeten 'Postmoderne', die aber nicht auf die radikale Offenheit der wirklichen Postmoderne (Derrida, Lyotard u.a.) setzt, sondern vielmehr auf den traditionellen "Glauben an die Offenbarung". 306 Von solch fideistischen Aktualisierungsversuchen der Mystik in philosophischem Gewand ist Mynareks Buch Mystik und Vernunft. Zwei Pole einer Wirklichkeit307 freilich weit entfernt. Mynarek berücksichtigt ein breites Spektrum an Mystikformen, und er begreift Mystik als besonderes Potential für Selbstbefreiung und Kreativität des menschlichen Geistes. Doch versucht er eigenwillig-spekulativ, das Thema für seine Konzeption einer postchristlichen 'ökologischen Religion' zu vereinnahmen, die sich aus typischen New-Age-Komponenten zusammensetzt. Es geht — gestützt durch einen breiten populärwissenschaftlichen Ausgriff auf die mundanen Probleme der Gegenwart — um die Propagierung eines holistisch-harmonistischen Weltbildes, dem gemäß wir Natur und Mitmensch schonen und eine authentische Daseinsform, einen 'neuen Menschen' und eine 'neue Welt' verwirklichen sollen. Gegen solche Vorschläge ist inhaltlich natürlich nichts einzuwenden. Die Klarheit der verhandelten Begriffe aber — es fehlt z.B. eine deutliche Unterscheidung von 'Mythos' und 'Mystik' — und die Stringenz der Argumentation läßt vielfach zu wünschen übrig. Für die Mystikforschung ergeben sich sachlich und systematisch keine neuen Aspekte. *

Versucht man die neuere Philosophie in ihrem Bezug zur Mystik im ganzen zu überblicken, so ist dies insofern schwierig, weil einschlägige Untersuchungen darüber — sowohl für das 19. wie für das 20. Jahrhundert — fehlen. Der Mystik-Artikel von Hans-Ulrich Lessing im Historischen Wörterbuch der Philosophie gibt einen Abriß, der jedoch zu gedrängt und zu unvollständig ist, als daß er mehr böte als Literaturhinweise und einen allerersten Einstieg. Auch die Arbeiten von Karl Albert bieten Exemplarisches, aber keine umfassende Übersicht. Allgemein kann gesagt werden: Im 19. Jahrhundert sind es Positivismus, Materialismus und — freilich nicht durchgängig 309 — Neukantianismus, die die Mystik radikal ausgrenzen und für irrelevant erklären. Sie setzen die Polemik und den einschlägigen Sprachgebrauch der Aufklärung fort. Auf der anderen Seite sind es jedoch romantische, spätidealistische und Lebensphilosophie, die ein positives Interesse an Mystik bekunden. Im außerdeutschen Sprachraum wird Mystik im 19. Jahrhundert von französischen und italienischen Spiritualisten (z.B. Maine de Biran), aber auch in Amerika von dem Dichter und Naturphilosophen Ralph Waldo Emerson und später von William James thematisiert. Das 20. Jahrhundert setzt im wesentlichen die Traditionen des Ausgrenzens und Vereinnahmens fort. Neukantianismus, Neupositivismus, analytische Philosophie, transzendentale Phänomenologie, Strukturalismus und Marxismus — vom orthodoxen Marxismus-Leninismus bis zu den 'revisionistischen' Spielarten (wenn man von Ernst Bloch absieht) — befassen sich nicht ernsthaft mit Mystik und haben für sie nur Polemik übrig. In der Existenzphilosophie (Jaspers) und in der hermeneutischen Phä-

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Positionen und Theorien der Mystikforschung

nomenologie (Heidegger) finden sich zwar mystische Motive 310 , zugleich ist man dort aber auch um Abgrenzung bemüht und an einer sachlichen Auseinandersetzung mit der mystischen Tradition nicht wirklich interessiert. Das 20. Jahrhundert zeigt einerseits Fortsetzungen traditioneller christlicher Mystik — in der intellektuellen Spannweite zwischen Therese von Konnersreuth und Simone Weil —, andererseits auch nichtchristliche und sogar ausgesprochen atheistische Neuansätze mystischen Denkens. Dazu zählt Albert Camus, der sich zwar nicht explizit, aber der Sache nach sehr wohl mit Mystik auseinandersetzt. Seine frühen literarischen Arbeiten sind von einer ekstatischen Naturmystik geprägt, die in L 'Homme revolte unterschwellig wiederkehrt, und seine das Philosophiestudium beschließende Magisterarbeit handelt über den Neuplatonismus.311 Exponenten einer atheistischen Mystik sind vor allem einige Vertreter der Wiener Moderne um 1900, die teilweise aus dem Judentum stammen und jüdisch-kabbalistische Traditionen mitverarbeiten. Es sind dies Robert Musil mit seinem philosophischen Roman Der Mann ohne Eigenschaften, Fritz Mauthner, der sein atheistisches Mystikverständnis im Rahmen einer eigenwilligen Sprachphilosophie formuliert, und der von Mauthner beeinflußte Gustav Landauer, der Mystik mit einem Aktivismus nicht christlicher, sondern anarchistischer Prägung verbindet. Zu verweisen ist aber auch auf eine randständige Tradition mystikphilosophischer Bemühungen im Kontext der analytischen Philosophie (Charles Morris, W.T. Stace, F. Staal, Steven Katz u.a.). 312 Im ganzen gesehen, dominiert in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts der Gestus der Ausgrenzung. Die neukantianischen und transzendental-phänomenologischen, die neupositivistischen und analytischen, die strukturalistischen und materialistischen Konzeptionen von Rationalität versuchen die Mystik kaum je als integrativen Teil oder notwendige Komplementarität von Vernunft anzusetzen. Sie sehen schlichtweg von ihr ab oder verachten sie als 'Irrationalismus', d.h. als fehlerhaftes und verschwommenes Denken. Existenzphilosophie, hermeneutische Phänomenologie, kritische Theorie und Postmoderne (abgesehen von Derrida) formulieren Mystik zumindest nicht als explizites Problem. Mystik ist daher insgesamt nur ein Randthema in der neueren Philosophie. Wo sie beiläufig thematisiert wird — wie bei Cassirer oder Whitehead —, finden sich aber doch zuweilen auch Ansätze eines Verständnisses, das über bloß historische Reminiszenzen hinausreicht. Mystik ist da nicht nur eine unbestimmbare Restgröße im nicht durchgängig rationalisierbaren Weltbegreifen, sondern wird als genuine Möglichkeit philosophischer — und nicht nur religiöser — Erfahrung begriffen. Die zugrunde liegende Erfahrungstheorie ist dabei eine — bei Cassirer und Whitehead verschieden ausgeprägte, aber im wesentlichen kompatible — Symboltheorie, die den neuzeitlichmodern verengten Vernunft- und Erfahrungsbegriff sprengt und ihn neu zu bestimmen sucht.

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4 Begriffliche Abgrenzungen

Die Tatsache, daß der Begriff Mystik in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts — analog zur allgemeinen kulturellen Einstellung zur Mystik — meist in einem wenig durchgeklärten Verständnis begegnet, hängt mit der Unbestimmtheit weiterer Begriffsverwendungen zusammen, die mit Mystik in einem gemeinsamen Konnotationsfeld stehen und des öfteren sogar synonym zu 'Mystik' gebraucht werden. Dies betrifft historische Begriffe wie 'Neuplatonismus', 'Gnosis' und 'Theosophie' sowie systematische Begriffe wie 'Mythos', 'Irrationalismus', Okkultismus' oder 'Magie'. Im folgenden Abschnitt gehe ich auf diese Begriffe näher ein und zeige, daß sie sich mit dem Begriff Mystik zwar berühren, aber doch nicht mit ihm identisch sind.

4.1

Neuplatonismus, Gnosis, Theosophie

Eine der Gleichsetzungen, die in der Literatur begegnen, ist die von Mystik und Neuplatonismus. In der Tat zeigt sich die gesamte Tradition der christlich-europäischen, aber auch der islamischen und jüdischen Mystik in ihrem spekulativen Zweig stark von der neuplatonischen Philosophie beeinflußt 313 , was z.B. bei Dionysius Areopagita oder Meister Eckhart besonders deutlich wird. Es ist sinnvoll, den Neuplatonismus in einem weiteren und einem engeren Sinn zu definieren. 314 Im weiteren Sinn ist darunter die vielfältig verzweigte und mit anderen Denkströmungen vielfache Synthesen eingehende Geistesströmung in der ausgehenden Antike zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert zu verstehen, die nicht nur als Philosophie anzusprechen ist, sondern als ein umfassenderes Kulturphänomen, das akademisch-philosophische, popularphilosophische, religiöse und kultisch-magische Komponenten aufweist und beispielsweise auch mit der 'chaldäischen' (babylonischen) Zahlenmagie zu tun hat. Im engeren Sinn meint Neuplatonismus hingegen die systematische Philosophie eines Plotin oder Proklos. 315 Zu beachten ist, daß der Terminus Neuplatonismus genauso wie der Terminus Mystik keine antike oder mittelalterliche, sondern eine moderne Sprachschöpfung ist, die sich somit nicht dem Selbstverständnis dieser Richtung oder der Einschätzung durch ihre Zeitgenossen verdankt, sondern einer späteren, retrospektiven Interpretation. Neuplatonismus im weiteren Sinn ist eng mit gnostischen und hermetischen Traditionen — gegen die sich Plotin freilich dezidiert ausspricht316 — verknüpft und enthält okkulte und magische, also

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Begriffliche

Abgrenzungen

'paramystische' Elemente. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf den Neuplatonismus im engeren Worts inn. Nach Plotin ist die Welt — als Inbegriff aller Realität — eine Einheit, jedoch nicht materieller, sondern spiritueller Natur. Diese Einheit bzw. dieses 'Eine' ist zugleich das 'Gute' und 'Schöne' und wird gleichgesetzt mit Gott, der seinem Wesen nach so sehr über allem anderen Seienden steht, daß man nur näherungsweise und im uneigentlichen Sinn von ihm sprechen kann. Plotin vertritt also sowohl einen spiritualistischen Monismus als auch eine negative Theologie. Piatons Philosophie wird nicht unter Betonung der Ideenlehre, sondern unter Betonung des Einheitsgedankens, des esoterischen Charakters und des mef/iem-Gedankens reformuliert und — am konsequentesten dann bei Proklos — systematisiert. Die Systematisierung erfolgt durch eine komplexe Emanations· und Hypostasenlehre, die als Plotins entscheidende Zutat zur platonischen Konzeption zu weiten ist. Gott in seiner 'Überfülle' entläßt stufenweise aus sich den Geist, die Seele und eine ganze Reihe von Mittelwesen (Hypostasen), die das Eine mit dem Vielen, den (obersten) Geist mit der (untersten) Materie verbinden. Die Dynamik des Ganzen geht aber nicht nur via Emanation in die eine, zentrifugale Richtung, die Plotin mit dem Bild von Quelle und Fluß illustriert. (Der Fluß entspringt der Quelle und verdankt sich ihr, verläßt damit aber auch seinen Ursprung, der seinerseits weiterhin Wasser spendet und dabei selbst nicht kleiner und nicht ärmer wird.) Die Bewegung geht — komplementär — auch wieder zu diesem Ursprung zurück (Epistrophe). Die Hypostasen, die das Eine aus sich entlassen hat, streben zu diesem Einen zurück. Je mehr die Hypostasen freilich vom Einen entfernt sind, desto mehr haftet ihnen der Charakter des Materiellen und Sinnlichen an, desto ungeistiger sind sie und desto schwächer ist ihre Kraft zurückzustreben. Epistrophe bedeutet demnach einen Prozeß der Entsinnlichung, Entmaterialisierung und Vergeistigung. Wenn ich hier von der Rückkehr zum Einen als von einer Rückkehr zum Geist spreche, so handelt es sich freilich um eine vergröbernde Darstellung. Denn Plotin setzt genaugenommen den Geist nicht mit dem Einen gleich, sondern betrachtet ihn als dessen erste Hypostase, die dem Einen unter allem Vergleichbaren am nächsten kommt. Das Eine selbst ist noch einmal jenseits des Geistes, also transzendent. Dieses Bewegungsmodell der Entäußerung des Geistigen in die Welt der Sinnlichkeit und Materie sowie der Rückkehr aus ihr ist nicht dem Prinzip nach, sondern nur in der speziellen Ausführung neuplatonisch. Es ist prinzipiell schon bei Piaton vorgezeichnet, so wie es auch in der Gnosis und im Christentum begegnet. Neuplatonisch aber sind zwei besondere Akzentuierungen des Modells: der äternalistische und harmonistische Charakter, d.h. die Negation der Zeit und die Negation des Bösen. Die Emanationsund Epistrophenbewegung spielt sich nach neuplatonischem Verständnis nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit ab. Die Zeit — das konkrete Hier und Jetzt — ist nur ein Reflex der Ewigkeit. Was in Wahrheit ist, das war auch schon immer und wird ewig sein. Nur dem Blinden begegnen im zeitlichen Augenblick nur Endliches und Vergängliches, dem Sehenden wird sein In-der-Welt-Sein zum kairos, zum Einstieg in die Schau des Wahren, Schönen, Guten und Einen. Dem Erleuchteten zeigt sich die Wirklichkeit als eine Kreisbewegung, die ihr Ziel immer schon erreicht hat und daher — bei aller

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Prolegomena

Dynamik — in gewisser Weise stillsteht. Dies ist ein gleichsam eleatischer Zug im Neuplatonismus. Der Augenblick ist zugleich die Ewigkeit. Alles — Vielheit und Einheit — ist immer schon vermittelt, ist ein und dasselbe. Es gibt in dieser Konzeption keine reale Veränderung und damit auch keine eigentliche Dramatik des Geschehens. Da das Eine — der Inbegriff der Realität — zugleich das Gute ist, kommen die Vielheit und das Böse in den Status der 'Uneigentlichkeit', d.h. sie existieren nicht 'wirklich' bzw. ihre Realitätsebene ist so unbedeutend, daß man sie vernachlässigen darf. Materie, Sinnlichkeit, Differenz, Vielheit (und damit auch: Individualität) gehören demnach mehr oder minder in die Welt des Scheins und sind Orientierungen, die es zu überwinden gilt. Während die Kirchenväter, insbesondere Augustin, mehr die Unterschiede als die Affinitäten des Neuplatonismus zum Christentum betonen, dabei aber doch — in ihrem Bemühen, den Glauben zu intellektualisieren und philosophisch hoffähig zu machen — stark von dieser Philosophie beeinflußt werden, legt im 6. Jahrhundert, am Ende der neuplatonischen Ära, jener namentlich unbekannte Theologe, der sich des Pseudonyms Dionysius Areopagita bedient, eine durch und durch christliche Version des Neuplatonismus vor, die man umgekehrt auch als eine durch und durch neuplatonische Version des Christentums bezeichnen kann.317 In den beiden Schriften über die Hierarchien adaptiert er die Lehre von den Hypostasen, in den Schriften über die Göttlichen Namen und die Mystische Theologie adaptiert er die Lehre von der radikalen Andersheit Gottes gegenüber allem Seienden bei Plotin, die dieser freilich nicht eigens erfunden, sondern für die Philon von Alexandrien und die Neupythagoreer bereits vorgearbeitet hatten. Dionysius Areopagita gilt im Mittelalter, das über ihn einige Kommentare schreibt, unbestritten als eine der patristischen Autoritäten, auch wenn dann der Aristotelismus der Hochscholastik den neuplatonischen Einfluß deutlich zurückdrängt. Daß der Aristotelismus — der den Eigenstand der geschöpflichen, der sinnlichen und materiellen Welt betont — jene Seite am Neuplatonismus, die mit einigen Prinzipien des Christentums nicht kompatibel ist, konterkariert, ist offenkundig. Die neuplatonische Tendenz, die Welt als gänzlich spirituell, als gänzlich vermittelt und als strenge Einheit zu begreifen, wird vom Aristotelismus bekämpft, auch wenn dieser die dramatische Geschichtlichkeit der christlichen Metaerzählung — Schöpfung, Abfall des Menschen von Gott und Erlösung — ebenso wenig ernstnimmt. Diese Metaerzählung findet jedoch — stark modifiziert — im Prozeßmodell des Neuplatonismus einen Platz, und zwar dergestalt, daß die lineare Geschichtlichkeit des Christentums uminterpretiert wird in den Kreis eines ewigen göttliches Heilsdramas. Die 'Gottesgeburt' in der menschlichen Seele, von der Eckhart und andere Mystiker sprechen, und die trinitarische Spekulation, die zum ewigen kosmisch-menschlichen Geschehen wird, sind durch dieses neuplatonische Paradigma vermittelt. Die Attraktivität der neuplatonischen Spekulation für die Theologie und das Glaubensgefühl des Christentums besteht vor allem darin, daß die Metaerzählung der Rückkehr aller Geschöpflichkeit in Gott hier in einer sonst unvergleichbaren Weise in eine individuelle und existentielle Dimension erhoben wird. Dies wird ermöglicht durch die neuplatonische Verhältnisbestimmung von Besonderem und Allgemeinem, von Indivi-

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Begriffliche Abgrenzungen

duum und Gesamtrealität. Wichtig ist der platonische Gedanke der methexis, der Teilhabe des Einzelnen am Ganzen. Die Menschenseele besitzt einen kentron, der an der Weltseele teilhat und der in der späteren Mystik eines Eckhart als Seelenfünklein oder Seelenspitze (scintilla animae, acies/apex mentis) bezeichnet wird. Sich diesem kentron zu nähern und ihn zu erkennen heißt, sich dem göttlichen Einen zu nähern und es zu erkennen. Dies geschieht in Folgestufen, und der Neuplatonismus bietet hier ein Dreierschema des Aufstiegs an, das zwar vielfach variiert wird, in der Geschichte der Mystik aber ständig wiederkehrt. Die erste Stufe ist die katharsis, die Reinigung. Der von sinnlichen und materiellen Interessen und Vorstellungen beherrschte egozentrische Mensch empfindet seinen Zustand als — prinzipiell aufhebbare — Entfremdung und versucht, sich von den Interessen und Vorstellungen, die ihn von seinem 'Eigentlichen', seiner spirituellen Dimension, ablenken, zu befreien. Die zweite Stufe ist der photismos, die Erleuchtung. Die in ihrer Vielfalt begegnende Realität erscheint jetzt unter der Perspektive einer verborgenen Einheit und Harmonie, die die Differenz, die Defizienz und das Böse in die Irrelevanz drängt und eine Aura des Glücks und der Zustimmung zur Realität als ganzer ausbreitet. Die dritte — am seltensten erreichbare — Stufe ist die henosis, die Vereinigung mit dem Einen und Guten. Plotin will sie nach eigenem Zeugnis nur dreimal im Leben erreicht haben. In lateinischer Terminologie wird dieser Dreischritt später als purgatio, illuminatio und unio bezeichnet. Und henosis bzw. unio gelten, weil das Eine selbst unaussprechbar ist, gleichfalls als unaussprechlich. Die bildlich-konkrete Ausgestaltung dieses neuplatonischen Aufstiegsschemas, das sich auch bestens als formales Muster christlicher Gotteserfahrung eignet und dementsprechend von der christlichen Mystik übernommen wird, umfaßt nun eine gewisse Bandbreite, wobei sogenannte Kreuz- und Brautmystik besonders hervorzuheben sind. Passion und Himmelfahrt Christi sind in diesem Schema genauso als immanent-logische Erzählung darzustellen wie Passion und Erfüllung einer irdischen Liebe. Nachdem das alttestamentarische Hohe Lied schon bei den Kirchenvätern als Beziehung zwischen Gott und Einzelseele allegorisiert wurde 318 , zieht sich das Motiv der Hochzeit, der erotisch-sexuellen Vereinigung der Geschlechter, als ein roter Faden durch die Geschichte der christlichen Mystik. Höhepunkte der Brautmystik sind Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von St. Thierry319 sowie die Nonnen- und Beginenmystik des Spätmittelalters. Naheliegend ist, daß sich im Kontext der Brautmystik auch — wenngleich bescheidene — Ansätze zu einer androgynen Deutung des Menschen finden. K. Albert320 hat darauf hingewiesen, daß der mystische Dreischritt, wie er im Neuplatonismus mustergültig und ausdrücklich formuliert wurde, nicht nur zahlreiche Nachfolgen und — wahrscheinlich eigenständige — Analogien in der außereuropäischen Kulturgeschichte hat, sondern daß es sich hier auch um ein vor-neuplatonisches Denkmuster handelt, das möglicherweise auch schon dem Initiationskult archaischer Stammesgesellschaften zugrunde liegt. Das schamanistische Motiv der Seelenreise, die stets in Stadien verläuft, findet sich auch in jenen indischen Erlösungslehren, die man — wie den Vedanta — als 'mystisch' bezeichnen kann. Freilich teilt der Neuplatonismus mit der indischen Mystik das extrem kontemplative, quietistische und passive Moment, das mit dem Aternalismus beider Konzeptionen zusammenhängt. Aternalismus

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bedeutet, daß das Erlösungs- und Erkenntnisgeschehen als ein ewig-kosmisches veranschlagt wird, das sich in der einzelnen Menschenseele wiederholt und spiegelt. Durch die Eliminierung der Geschichte findet auch eine Eliminierung des Individuums statt, d.h. die Vereinigung mit dem Allgemeinen wird mehr oder minder radikal als Auslöschung des eigenen Selbst begriffen. Und wenn die Zeit nicht mehr linear als progressive Veränderung, sondern zirkulär als Wiederholung gedacht wird, wird verständlicherweise auch das praktische Handeln demotiviert. Das Christentum und die christliche Mystik hat demgegenüber stets eine 'vita mixta' von Kontemplation und Handeln, von Ewigkeits- und Zeitlichkeits-Orientierung propagiert. 321 In der Betonung des aktivistischen Moments — das Bergson so sehr am Christentum lobt — ist dieses freilich nicht vom Neuplatonismus, sondern von der Gnosis beeinflußt. Der Neuplatonismus ist somit als eine eigene Form von philosophischer Mystik anzusprechen, die ihrerseits die christliche Mystik in erheblicher Weise mitgeformt hat, jedoch einige spezifisch christliche Züge — Geschichtlichkeit, Dramatik, Kontingenz, Realität des Bösen — außerachtläßt und somit nicht mit 'der' christlichen Mystik als solcher gleichzusetzen ist. *

Auch bei der Gnosis handelt es sich — wie beim Neuplatonismus — sowohl um einen mehrschichtigen Begriff als auch um eine spezielle, die mystische Erfahrung ausgestaltende und deutende Theorie, die durch ihren Theoriecharakter jedoch das Erfahrungsmoment der Mystik nicht nur klären hilft, sondern es teilweise auch wieder verdeckt und in andere — eben durch die Theorie vorgezeichnete — Bahnen lenkt. Im Gegensatz zum Neuplatonismus ist Gnosis kein moderner, sondern bereits ein antiker Terminus und wird zur Kennzeichnung einer Reihe von Denkrichtungen verwendet, die — in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen — als religiös, mythisch oder philosophisch zu klassifizieren sind. D.h. es wird mehr oder minder eng an die Vorstellungswelt bestehender Religionen — des Christen-, Juden- oder Heidentums — angeknüpft, und der Abstraktionsgrad der jeweils vertretenen gnostischen Lehren ist unterschiedlich. Gemeinsam ist den gnostischen Richtungen jedoch die Metaerzählung von Ursprung, Abfall und Erlösung des Menschen und der Welt aus einem, von einem und durch ein positives, göttliches Prinzip. 322 Die Differenz zum Neuplatonismus ist dennoch gravierend und besteht vor allem in drei Motiven: einem ontologischen und ethischen Dualismus, einem menschlichen Aktivismus und Voluntarismus sowie der eschatologisch als Kampfplatz metaphysischer Mächte gedeuteten Weltgeschichte. Anstelle des neuplatonischen spirituellen Monismus, der die Materie und das Böse allenfalls als flüchtige Momente, nicht aber als wirklich ernstzunehmenden Widerpart des Geistes und des einen Guten betrachtet und der überdies Endlichkeit und Zeitlichkeit in Unendlichkeit und Ewigkeit auflöst, tritt in der Gnosis eine radikale ontologische Zweiteilung der Welt in Geist und Materie, die — ethisch gewendet — den Gegensatz der einander unversöhnlich gegenüberstehenden Mächte von Gut und Böse darstellen. Dabei kann — je nach Version — das Böse immer schon für sich bestanden haben, oder es kann als deformiertes Gutes — Paradigma ist hier der Abfall Luzifers von Gott

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— erst später geworden sein, oder es kann schließlich — Paradigma ist hier der Demiurg in Piatons Timaios — einfach mit dem Prinzip der (gegenüber dem unendlichen Guten immer schon verspäteten und benachteiligten) Endlichkeit, Geschöpflichkeit und Materie identifiziert werden. Die Gleichung lautet: Materie = Endlichkeit = Defizienz = das Böse. Es findet — in unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichen Varianten — eine Verachtung, Ablehnung, ja schließlich eine radikale Bekämpfung dieses Prinzips statt, die sich zum Willen steigern kann, alles 'Böse' restlos auszurotten. Gut und Böse, Geist und Materie stehen in einem Kampf, der zur Entscheidung im Sinn einer 'Endlösung' drängt. Die gnostische Metaphysik wird daher Geschichtsmetaphysik, und Geschichte wird Weltgeschichte. Nicht das immergleiche Kreisgeschehen neuplatonischer Ewigkeit bestimmt das Zeitgefühl des Gnostikers, sondern die kontingente, lineare Geschichtlichkeit. In diesem Szenario spielen Entscheidung, Wille und Engagement des einzelnen Menschen eine außerordentlich wichtige Rolle. Der Mensch kann sich für das eine oder das andere Prinzip entscheiden und für es kämpfen. Auch wenn er, einmal in die jeweilige Schlachtordnung eingereiht, seine Gesinnung und seinen Weg kaum mehr ändern kann, so steht doch am Beginn des Engagements — auch wenn der gute oder der böse Gott (mit dem ontologischen Monismus fällt auch der Monotheismus) die Seinen gewöhnlich aus eigener Entscheidung erwählt und rekrutiert — ein Akt der Freiheit. In der menschlichen Seele spiegelt sich der große, kosmische Kampf, und die Einzelseele wird so zum Träger und Spiegelbild der Weltgeschichte. Der Sieg des Bösen ist nicht auszuschließen, ja er gilt sogar als unmittelbare und höchste Bedrohung, und der Sieg des Guten — der in eine übergeschichtliche, stabil-harmonische Ordnung führen soll — steht keineswegs von vornherein fest. Wer für das Gute kämpft, tut dies in der Gesinnung des 'Alles oder Nichts'. Er hat keine Distanz zu dem, wofür er kämpft. Der anzustrebende Sieg des Guten ist für ihn Erlösung schlechthin: seine eigene Erlösung, die Erlösung des bis zum Endsieg noch in seiner Macht beschränkten Guten, die Erlösung der ganzen Welt. Dies zu 'wissen' ist eine 'höhere Erkenntnis', eine 'Erleuchtung', die den Wissenden und Erleuchteten dazu befähigt, überzeugter Kämpfer zu sein. Das Christentum hat mit der Gnosis bekanntlich eine lange Auseinandersetzung geführt, die sowohl zu Assimilation wie zu scharfer Abgrenzung gefuhrt hat, so daß bei den Kirchenvätern von 'wahrer' (d.i. christlicher) und 'falscher' (d.i. nichtchristlicher) Gnosis die Rede ist.323 Radikale Dualismuskonzeptionen wie der Manichäismus konnten relativ leicht ausgegrenzt werden. Schwieriger war die Frage von Gnade und Willensfreiheit zu entscheiden, wie der Pelagianismusstreit zeigt. Man kann sagen, daß die gnostischen Motive im Christentum in unterschiedlichem Grad und in unterschiedlicher Bündelung wirksam waren. Eine völlige Abgrenzung beider Strömungen scheint nicht möglich zu sein. Betrachtet man die Konzeption der christlichen Heilsgeschichte, so finden wir in ihr einen Monismus der göttlichen Vorsehung, in den jedoch ein sekundärer Dualismus miteingebaut ist. Zwar steht der Sieg Gottes über den Teufel von Anfang an fest, doch ist es gerade das böse Prinzip — man denke an den Abfall der Engel, an die Schlange und den Apfel im Paradies, an Kains Brudermord, an Herodes, an die Verantwortlichen für den Tod Christi und den Tod der Märtyrer etc. —, das die Heils-

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Prolegomena

geschichte in Atem hält und ihr ihre Dynamik verleiht. Die Heilstaten Gottes sind in der Regel die Antworten auf die Herausforderungen des Bösen. Demnach trägt die christliche Metaerzählung zwar durchaus gnostische Züge, sie kann aber keinesfalls zur Gänze mit der gnostischen Metaerzählung gleichgesetzt werden. Gnostische und neuplatonische Züge halten in der christlichen — genauso wie auch in der jüdischen und islamischen — Geschichte der Mystik einander mehr oder minder die Waage. Die Momente Dualismus und Geschichte spielen beispielsweise bei Jakob Böhme und den russischen Mystikern des 19. Jahrhunderts, Solowjew und Berdjajew, eine dominante Rolle, nicht hingegen bei Meister Eckhart und Dionysius Areopagita. Wo es im Rahmen einer eschatologischen Geschichtsauffassung um letzte metaphysische Entscheidungen zu kämpfen gilt, entsteht ein Klima höchster Euphorie und die Vorstellung vom 'Heiligen Krieg'. Diese Denkstruktur ist übrigens sehr leicht politisch zu adaptieren, und Politologen wie Eric Voegelin324 haben zu Recht in den modernen aggressiv-totalitären Ideologien eine gnostische Grundstruktur ausgemacht. Sowohl der Nationalsozialismus wie der Kommunismus sind von extremer Heilshoffnung und Erlösungsbedürftigkeit und von einem extremen Dämonisierungs- und Vernichtungswillen dem einmal erkorenen Feind gegenüber geprägt. Eine vergleichbare Gesinnung finden wir auch schon bei Thomas Müntzer325 und manchen 'schwärmerischen' Sekten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit vor. Es ist dies ein Charakterzug, der im Neuplatonismus — der äternalistisch davon ausgeht, daß die Harmonie 'immer schon' ist und nicht erst gewaltsam hergestellt werden muß — keinen Anknüpfungspunkt findet. Stellt man die Begriffe Gnosis und Mystik einander gegenüber, so kann man weder behaupten, daß sie sich decken, noch daß sie sich ausschließen. Es dürfte angemessen sein, Gnosis und Mystik jeweils als Bündel-Phänomene, als Konstellation und idealtypische Gesamt-Gestalt einzelner Charakterzüge zu betrachten, die in praxi aber unterschiedliche Mischformen mit verschiedener Akzentuierung bilden können. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist das Weltgefühl der Entfremdung und Defizienz, und gemeinsam ist ihnen die Hoffnung auf eine mögliche Rückkehr in Authentizität und Vollkommenheit, die durch ein 'höheres', esoterisches Wissen zu erzielen sei. Das aktivistische, voluntaristische Moment in der Gnosis ist freilich dem rezeptiven, auf unverdiente 'Gnade' ausgerichteten Moment der Mystik entgegengesetzt und verführt die Gnosis teilweise zur Perspektive radikaler Machbarkeit, d.h. zur Vorstellung, das 'höhere Wissen' zur bewußt-manipulativen Herstellung besserer Zustände benützen zu können. Dies ist dann aber auch das Einfallstor für die Magie, für Zauberformeln und -praktiken, und hier liegt auch die historische Verbindung der Gnosis zur — kulturgeschichtlich so bedeutsamen — Tradition der Alchemie?26 *

Eine dritte Gleichsetzung, die in der Literatur begegnet, ist die von Mystik und Theosophie. Letzteres ist eine Selbstbezeichnung neuzeitlicher und moderner Mystiker und Gnostiker 327 , aber auch die Selbstbezeichnung der 1875 in New York gegründeten Theosophischen Gesellschaft, die als ein religiös motiviertes, popularphilosophisches

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Unternehmen anzusehen ist, sich später mehrfach gespalten und dabei auch die 'Anthroposophische Gesellschaft' Rudolf Steiners aus sich entlassen hat.328 Diesen modernen Theosophen geht es darum, den 'gemeinsamen Kern' der großen Philosophien und Weltreligionen herauszustellen, worunter sie die 'Botschaft der Mystik' verstehen: daß die Wirklichkeit eine einzige und universale sei, von göttlicher Qualität, und daß für den Menschen das Ziel höchster Erkenntnis, höchsten Glücks und höchster Harmonie erreichbar sei, wenn er sich 'höherer' Inspiration anvertraue und den Stufenweg von Reinigung, Erleuchtung und Erlösung gehe. Die moderne Theosophie ist also eklektizistisch und synkretistisch und verbindet sich zuweilen auch mit einer sozialen Utopie. Sie gehört geistesgeschichtlich in den Kontext der populären Lebensphilosophie, erfuhr gegen Mitte unseres Jahrhunderts eine Renaissance in der Hippie-Kultur und findet heute ihre Fortsetzung im New Age. 329 Der Terminus Theosophie begegnet aber, wie gesagt, bereits im Selbstverständnis der älteren mystischen Tradition. Von der 'Weisheit Gottes' ist schon im Korintherbrief die Rede, und bei Dionysius Areopagita bedeutet Theosophie dasselbe wie Theologie. Böhme, Swedenborg, Weigel, Hahn, Oetinger, Solowjew, Bulgakow und Berdjajew bezeichnen sich ausdrücklich als Theosophen. In diesem Namen drückt sich eine Betonung des Theismus aus. Während Mystik und Gnosis prinzipiell auch atheistische Formen annehmen können, ist dies im Fall der Theosophie von vornherein ausgeschlossen. Es ist eine um begriffliche und theoretische Ausgestaltung bemühte Mystik, die alles Wissen auf Gott bezieht und für die Gott zu einer Art Weltformel wird, deren Erkenntnis — die eine Erkenntnis nicht des gemeinen Verstandes und der gemeinen Sinne ist, sondern eine 'höhere', inspirierte Erkenntnis — die Vereinigung mit eben diesem Gott bedeutet. Die Legitimation des 'höheren' Wissens bezieht man aus Erleuchtungen, Offenbarungen, der diktierenden Stimme Gottes (von deren ständigem Vernehmen z.B. Swedenborg spricht) und — beim 'Fußvolk' — aus dem Charisma der geistigen Führer. Die begriffliche und theoretische Ausgestaltung der theosophischen Mystik nimmt — da sie sich ja dem 'gewöhnlichen' Wissen und damit auch dem Rationalismus der Philosophie entgegenstellt — Anleihen aus subakademischen und subkulturellen Traditionen wie dem volkstümlichen Neuplatonismus, hermetischen und gnostischen Überlieferungen, renaissancezeitlicher Naturphilosophie, Alchemie und Kabbala. Im Hinblick auf die offizielle intellektuelle Kultur sind die theosophischen Lehren daher in der Regel nur Randphänomene. In ihnen werden die thematischen und methodologischen Ausblendungen der herrschenden Diskurse — vielfach zu Recht — kritisiert. Sie unterschreiten aber auch vielfach die methodischen Errungenschaften der philosophischen Kultur und kompensieren dies durch die Anmaßung, esoterisches Wissen zu besitzen, dessen Grenze zur Scharlatanerie aber stets nur schwer zu ziehen ist. Dennoch gelingt es von Zeit zu Zeit, daß diese subakademischen Traditionen in der Konzeption eines bedeutenden Philosophen aufgenommen und sozusagen elaboriert werden. Spinoza, der von der Kabbala, und Hegel, der von Jakob Böhme beeinflußt ist, sind hiefür prominente Beispiele. Die Tatsache des halbintellektuellen Status —· von dem man z.B. bei Jakob Böhme wohl zu Recht sprechen kann — ist jedoch unter mehreren Gesichtspunkten zu sehen.

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Prolegomena

Ein erster — sozialer — Gesichtspunkt ist die historische Kontingenz der jeweils herrschenden Methoden, die über die Legitimität von Grundbegriffen, Denkweisen und sogar Themen entscheiden und die sich zu einem späteren Zeitpunkt als ungerecht und borniert herausstellen können. Ein zweiter — individueller — Gesichtspunkt ist die manchmal zu beobachtende Verbindung von großer emotionaler Ergriffenheit des Theosophen mit einer dazu vergleichsweise bescheidenen intellektuellen Kompetenz. Am entscheidendsten dürfte jedoch ein dritter — systematisch-philosophischer — Gesichtspunkt sein: In der Theosophie geht es um den großangelegten Versuch, mystische Erfahrung theoriefähig zu machen. Vor dieser Aufgabe schreckt die akademische Philosophie meist zurück und bescheidet sich damit, das Thema auszuklammern bzw. es den Außenseitern zu überlassen — und dann über deren Dilettantismus vornehm die Nase zu rümpfen. Eine Schwäche der Theosophie — wie theoretischer, philosophischer Konzeptionen allgemein — liegt sicher darin, daß sie das konkrete mystische Erleben und Erfahren zwar ausdeutet, in dieser Ausdeutung aber immer wieder zu kurz greift und dann mit irgendwelchen Abstraktionen die konkrete Erfahrung verstellt. Für eine konsequente negative Theologie wäre die sophia theou (sapientia dei) schlechthin transzendent. Für eine Metaphysik der Immanenz hingegen gibt es Hoffnung, der göttlichen Weisheit durch die Wesens-Entsprechung von Mensch und Gott teilhaftig zu werden. Von Interesse ist die in der theosophischen Tradition — die sich mit der gnostischen und kabbalistischen Tradition überschneidet — überlieferte Allegorie der Sophia, die einmal mit Christus, ein andermal mit dem Heiligen Geist identifiziert wird, dabei aber stets — wie Gerhard Wehr in seiner Beschreibung bildlich-symbolischer Sophia-Darstellungen darlegt — die "Ganzheit und Universalität aller Elemente, zentriert auf die eine Mitte" 330 , ausdrückt. Die Gestalt der Sophia ist somit eine Allegorie der Allvermittlung und All-Einheit und eben darin eine Allegorie von Erleuchtung und 'höherem' Wissen. Konfrontiert man die theosophischen Entwürfe mit den Realitätsverständnissen des Alltags, der Wissenschaften und auch der traditionellen Philosophie, so sind deren Denkweisen mit der Denkweise der Theosophie kaum zu vermitteln. Ein paradigmatischer Bruch ist zu registrieren, der freilich nach Überwindung verlangt, da die genannten divergierenden Paradigmen schließlich in einer Lebenswelt und in einer Kultur statthaben und somit auf irgendeiner gemeinsamen Erfahrungsgrundlage ruhen müssen.

4.2

Okkultismus, Irrationalismus, Mythos, Magie

Unter diesen vier Titeln begegnet in der Literatur zwar nur gelegentlich eine gänzliche Gleichsetzung mit dem Begriff Mystik, wohl aber wird Mystik — freilich niemals in einem präzisierten Sinn — mit diesen Begriffen gern in einem Atemzug genannt und thematisch in engste Nähe gerückt. Versucht man sie systematisch zu bestimmen, so kann dies nicht ohne Berücksichtigung der geistesgeschichtlichen Kontexte geschehen, in denen diese Ausdrücke als Formeln geprägt wurden. Sie beinhalten spezielle Wahr-

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nehmungs- und Bewertungssynthesen im Hinblick auf das vielschichtige Bewußtseinsphänomen und stehen jeweils vor der Negativfolie eines bestimmten Begriffs von Rationalität. Der Begriff Okkultismus — übernommen aus C. Agrippas (der Renaissancephilosophie zuzuordnendem) Werk De occulta Philosophia — wurde im 19. Jahrhundert von A.L. Constant geprägt und verstand sich als Formel gegen jene platte, szientistische Aufklärung, die 'hinter' der Erscheinungswelt entweder überhaupt keine 'verborgene' (okkulte) Tiefenstruktur der Wirklichkeit vermutet oder aber glaubt, diese Tiefenstruktur mit den richtigen rationalen Mitteln ans Licht heben zu können. Nun liegt sowohl der traditionellen Metaphysik als auch dem wissenschaftlichen Weltverständnis (von den Griechen bis heute) die hier angesprochene Trennung von Schein und Sein, also von Oberflächen- und Tiefenstruktur der wahrzunehmenden Wirklichkeit, als Voraussetzung zugrunde, nur wird diese Tiefenstruktur (vorkantisch) als erkennbar oder (kantisch) als unerkennbar ausgewiesen. Der Okkultismus geht gleichfalls von einer grundsätzlichen Doppelung der Wirklichkeit aus, betont jedoch deren Geheimnischarakter und steht unter der Faszination einer möglichen Entdeckung der Tiefenstruktur. Er versteht darunter allerdings personale Kräfte, Geister und Wesenheiten, die erklärtermaßen nicht mit rationalen, analytischen und empirischen Mitteln, sondern nur durch intuitive Analogieschlüsse und ggf. mit magischen Praktiken zu erkennen seien. Dieses Konzept beinhaltet den Analogiegedanken von Mikro- und Makrokosmos, von sinnlicher und übersinnlicher Welt, von Menschen- und Geisterreich, wie er aus der hermetischen — in der Naturphilosophie der Renaissance besonders produktiven — Tradition geläufig ist. Es beinhaltet aber auch den Gedanken, daß es außer der bewußten, rationalen Erkenntnis andere und 'höhere' Erkenntniskräfte gebe und daß die Definition des Menschen als animal rationale dessen Wirklichkeit nur verkürzt wiedergebe. Zwischen der 'okkulten' Renaissancephilosophie eines Agrippa oder Paracelsus und dem Okkultismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist freilich in ein paar wesentlichen Punkten zu unterscheiden. Die Renaissancephilosophie kann zum Zeitpunkt ihres historischen Auftretens sinnvollerweise nicht als 'irrational' beurteilt werden, da sie gegenüber der abstrakten Verstandeskultur der Scholastik, deren Diskurs ein (fast) reiner Diskurs der gelehrten Bücherwelt und abstrakter Disputationen war, das bis dahin vernachlässigte Prinzip der Anschaulichkeit, Sinnlichkeit und damit gewissermaßen der Empirie einbringt, wofür gewisse Denkfiguren der hermetischen Tradition als Symbolisierungsmöglichkeiten herangezogen werden. Mythologische Namen werden hier bewußt als Abstraktionen verwendet, und man verbindet die naturphilosophische Spekulation mit dem konkreten Experiment. Die von hier ihren Ausgang nehmende Alchemie wird erst zu dem Zeitpunkt obskurantistisch, da sie sich von dem mechanistischen Denken der cartesisch-newtonschen Tradition entschieden abkoppelt und die Methode eines ausschließlich intuitiven, Wunsch und Realität hoffnungslos vermengenden Weltzugangs verabsolutiert. Sie verliert den Anschluß an die intellektuellen Standards der fortgeschrittenen Neuzeit, lebt in deformierten Gestalten als subkulturelle Tradition weiter, wird vom Antiszientismus des 19. Jahrhunderts rezipiert und der Transzendentalphilosophie und dem Positivismus als vermeintliche Alternative gegenübergestellt.

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Prolegomena

Mit der Attitüde geheimnisvoller Weisheit behauptet der Okkultismus eine metaphysische Hinterwelt zweifelhafter Provenienz als Tiefenstruktur der menschlichen Wirklichkeit und Erfahrung, und er behauptet überdies die Möglichkeit, mit nicht-rationalen, geheimnisvollen Methoden in sie einzudringen. Er belegt jene Bereiche punktueller Erfahrung und möglicher Spekulation mit seinem Monopol, worüber die moderne Wissenschaft und Rationalität nichts allzu Zielführendes auszusagen vermag. Dies betrifft vor allem die parapsychologischen Phänomene. Für den Okkultismus steht also die Mystik, sofern diese als Inbegriff von Antirationalität und Antiwissenschaftlichkeit aufgefaßt wird, in der Nähe des eigenen Anliegens, zumal die Mystiktexte ja ebenfalls z.T. in der hermetischen Tradition stehen, deren Denkfiguren — z.B. die Analogie von Mikround Makrokosmos — verwenden und von parapsychologischen Phänomenen (Elevation, Levitation, Stigmatisation, Audition usw.) berichten. *

Verbreiteter als die Gleichsetzung von Mystik und Okkultismus ist allerdings die Gleichsetzung von Mystik und Irrationalismus. Vergleicht man den Gebrauch der Vokabel Mystik z.B. bei Kant und Marx, so ist das Mystikverständnis Kants noch vergleichsweise differenziert, da bei ihm zumindest die Movitation der Mystik ernstgenommen wird. Die umstandslose Abwertung, die sich im Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts — nicht durchgängig, aber doch erfolgreich — durchsetzt, hat freilich kaum noch die klassischen Mystiktexte und deren detaillierte Beschreibung von mystischer Erfahrung im Auge, sondern versteht unter Mystik nur die abstrakte Negation des auf grundlegende Begriffsklärung, logische Kohärenz und empirische Überprüfbarkeit insistierenden wissenschaftsorientierten Bewußtseins. Da die ungebrochene Aufklärung den Wissenschafts- und Rationalitätsbegriff unzureichend reflektiert, kann sie das 'Andere der Vernunft' nicht eigens in den Blick nehmen, sondern muß es pauschal und undifferenziert ausgrenzen und abwerten. Sie bezeichnet es als 'irrational' — und zuweilen eben auch als 'mystisch'. Obwohl mit dieser schlechthinnigen Identifizierung von Mystik und dem Insgesamt des Nicht-Rationalen eine phänomenologische und begriffsgeschichtliche Fehlleistung vorliegt, ist sie folgenreich für die weitere Begriffsgeschichte. So versteht Wittgenstein - vermutlich im Anschluß an Russell331 — unter dem 'Mystischen' dasjenige, was sich bloß 'zeigt'. Ein anderes Beispiel für die historische Wirksamkeit der Gleichsetzung von Mystik und Irrationalismus — wo letzterer als Grundzug des 'Heiligen' in positiver Absicht beschrieben werden soll — ist die sogenannte Religionsphänomenologie bei Rudolf Otto. Dort wird Mystik als "eine Höchstspannung und Überspannung des irrationalen Momentes im sensus numinis"332 definiert. *

Ungebrochene Aufklärer neigen aber auch dazu, Mystik und Mythos wennschon nicht gleichzusetzen, so doch als parallele Formen von Irrationalismus zu veranschlagen, wobei — da in beiderlei Hinsicht ein undifferenzierter Sprachgebrauch vorliegt — nicht

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zuletzt die Ähnlichkeit in der Lautgestalt beider Wörter eine assoziative Vorstellung begünstigt haben dürfte. 333 Bemüht man sich jedoch um eine kritische Überprüfung dieser Assoziation, so ergibt sich fürs erste zwar eine völlige Heterogenität der Begriffe, im Zuge eines näheren Hinsehens aber dennoch ein thematischer Zusammenhang. Fürs erste ist festzuhalten, daß auch das moderne Interesse für den Mythos mit Krisen des Rationalitätsbegriffs zu tun hat. Man versucht sich entweder gegenüber dem mythischen Denken als einer frühen, noch unentfalteten Weltorientierung abzugrenzen (Comte, Levy-Bruhl) oder es als eigene, genuine Denkform zu würdigen, die nicht als 'prä-logisch', sondern als besondere Form von Rationalität zu werten sei (Cassirer, Hübner). 334 Darüber hinaus — und hiefür steht die Romantik und steht vor allem Schelling335 — gibt es die Haltung, den Mythos der modernen Rationalität gleichberechtigt an die Seite zu stellen oder sogar eine 'neue Mythologie' als Ablösung der modernen Rationalität zu fordern. Für das Programm der Abgrenzung gegenüber der Rationalität steht das Stichwort Entmythologisierung, für das Programm einer modernen (oder postmodernen) Adaptierung des Mythos das Stich wort Remythologisierung. Im Anschluß an Schelling fordern auch rezente, dem deutschen Idealismus und der Romantik verpflichtete Philosophen wie Wilhelm Dupri336 oder Peter Koslowski337 eine 'Remythologisierung der Welt'. Dupre faßt 'Mythizität' als hermeneutische und anthropologische Grundkategorie, unter die er Rationalität als abkünftigen Modus des 'Mythisierens' (als eines sich in kontingenten Verstehens-Gestalten äußernden geistigen Orientierens in der Welt) subsumiert. Koslowskis Remythisierungsprogramm wiederum knüpft an die Vernunftkritik der Postmoderne an und verwendet — freilich in einem methodischen Gewaltstreich — den Postmoderne-Begriff als Formel für ein nachaufklärerisches, den Grundsätzen eines katholischen Fideismus erneut verpflichtetes Zeitalter. Die Auseinandersetzung der Philosophie mit dem Problem des Mythos ist freilich älter. Auffällig ist die Verwendung (allegorisch verstandener) Mythen in der Renaissancephilosophie, z.B. des Aktaion-Mythos bei Giordano Bruno. 338 Sofern man die biblischen Geschichten als Mythen klassifiziert, steht natürlich auch das gesamte Bemühen der christlichen Patristik, Philosophie und Glauben miteinander zu vermitteln, im Spannungsfeld von Mythos und Rationalität. Des weiteren ist zu bedenken, daß philosophische Traditionen wie die chinesische — aus einem Sprach- und Kulturraum, der dem europäischen Rationalitätsbegriff gegenüber zwar analoge, aber doch nicht wirklich vergleichbare Abstraktionsbegriffe entwickelt hat — Mythen als philosophische Darstellungsform benützen, die ausdrücklich nicht zwischen Begriff und Anschauung, abstrakter Botschaft und illustrierender Erzählung differenziert. 339 Eine Grundform philosophischer Auseinandersetzung mit dem Mythos findet sich schließlich bei Piaton. Einerseits steht Piaton an der Front eines Kulturkampfes zwischen oraler und literaler Kultur, zwischen der Autorität des überlieferten Mythos und der durch Sokrates geforderten Eigenverantwortlichkeit individuellen Urteilens. 340 In seiner Parteinahme für die eigenverantwortliche Vernunft lehnt er die mythischen Erzählungen der Dichter ab. Andererseits arbeitet Piaton bewußt mit Mythen dort, wo es um die Darstellung von Problemen und um die Beantwortung von Fragen geht, die von der Dialektik — dem reinen Denken — nicht geleistet werden können. Die Wiedererinnerung der Seelen an

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ihren vormaligen Zustand bei den Göttern oder die Erschaffung der Welt durch den Demiurgen sind derartige Mythen. Piaton lehnt es ab, daß die Mythen als alleinige und unbestrittene Form des Denkens die Kultur beherrschen, doch scheut er sich nicht — freilich erst nachdem die kulturelle Herrschaft der Oralität gebrochen und die Autorität der Dichter nicht mehr gegeben ist — einzelne dieser Mythen aufgrund ihres allegorischen Gehalts zur Illustration eigener, philosophischer Überlegungen zu verwenden bzw. zu solchem Zweck sogar selbst neue Mythen zu erfinden. Im Gegensatz zur Mystik ist der Mythos in seiner Definition und in der Möglichkeit, ihn phänomenologisch dingfest zu machen, weniger umstritten. Dem entspricht auch seine weit zurückreichende und kaum problematische Begriffsgeschichte. Der Mythos ist die Erzählung von besonders wichtigen, besonders dramatischen Ereignissen in einer Vorzeit, die für die Stellung des Menschen in der Welt verantwortlich sind und fundamentale Charakteristika des Lebens wie Existenz überhaupt (Kosmogonie, Theogonie, Anthropogonie), Liebe, Leid, Sünde, Tod, vor allem aber auch kulturelle Errungenschaften in ihrem Ursprung erklären. 341 Es sind also Ursprungserzählungen, die zugleich beispielgebend sind für neue und spätere Situationen, in denen sich die von diesen Erzählungen Berührten befinden, und es sind z.T. auch Metaerzählungen, in deren Rahmen das eigene Erleben und die eigene Praxis, sich in der Realität zu verhalten, eine Interpretation und somit eine Sinnstiftung findet. Da das Bewußtsein früher Kulturstufen keine immanent-menschliche Welt kennt, sondern — ohne scharfe Abgrenzung — nichtmenschliche Wesen wie Götter, Tiere, Dämonen, Pflanzen etc. als Akteure des gesamten Wirklichkeitsprozesses ansetzt, ist die Welt der Mythen zumeist eine 'göttliche' und 'all-lebendige'. Der Mythos ist nicht irgendeine Erzählung, sondern er steht in einer 'heiligen' und Autorität gebietenden Tradition. Er kann und darf nicht bezweifelt werden, sondern ist einfach zu akzeptieren. Demgemäß wird er auch in einer suggestiven Darbietung mitgeteilt, die keinen Raum läßt für skeptische Einwände, für logische oder empirische Zweifel. Cassirer, der Sprache und Mythos als die beiden grundlegenden und wohl auch gleichursprünglichen symbolischen Formen — Formen der Verständigung und Selbstverständigung, mit denen sich der Mensch in der Welt orientiert, Welt erschließt und Welt verarbeitet — ansetzt, unterscheidet terminologisch zwischen Mythos und Religion als zwei verschiedenen symbolischen Formen. 342 Die Differenz liegt im unterschiedlichen Status des kulturellen Bewußtseins. Der Mythos ist eine Stabilisierungsund Sekuritätsleistung des Bewußtseins früher Kulturstufen, das noch all seine Kraft auf die Sicherung und Bewahrung mühsam erlernter erster Erkenntnisse und Normen verwendet und sich relativierende und skeptische Überlegungen diesen Erkenntnissen und Normen gegenüber (noch) nicht leisten kann und will. Dies hat der Mythos mit den frühen Stufen der Sprache gemeinsam. Religion hingegen enthält Momente von Skepsis und von Bemühen logischer Rechtfertigung dessen, was sie verkündet. Sie verkündet eine Botschaft, die sich von anderen Botschaften abgrenzt, diese anderen als falsch und sich selbst als richtig darlegen möchte. Zu einer Religion kann man bekehrt oder man kann ihr abtrünnig werden, indem man ihre Glaubwürdigkeit eigens bejaht oder eigens verneint. Religion ist demgemäß — wenn man Cassirer durch die Erkenntnisse der Li-

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Begriffliche

Abgrenzungen

teralitätsforschung ergänzt — bereits das Phänomen einer literalen Kultur, deren theoretisches Denken durch die Verwendung der Schrift an Beweglichkeit gewonnen hat. 343 Der Mythos hingegen ist — in Korrespondenz zum Kult, für den er die thematische Vorlage liefert und durch den er immer wieder performativ in Erinnerung gebracht wird344 — mit all seinen Charakteristika und in der Weise seiner Darstellung durch den 'Sänger' (dieser repräsentiert das soziale Gedächtnis der Gemeinschaft) 345 ein genuines Phänomen der rein oralen Kultur. Dadurch, daß der Mythos auch in der literalen Kultur — wenngleich in veränderter Form und Funktion — weiterlebt und daß er in jüngster und allerjüngster Zeit gewisse Renaissancen erfährt, stellt er ein überaus kompliziertes Phänomen kultureller Transformation dar. Zunehmende Literalität produziert zunehmende Skepsis. Mythen werden vergleichgültigt, vergessen oder rationalisierend und allegorisierend 'gedeutet', aber nicht mehr einfach als wahr und gegeben hingenommen. Sie erscheinen demnach als Produkte einer fehlgeleiteten Phantasie oder als erzählerisch verkleidete Lehrstücke für abstrakte Einsichten. Diese Relativierung wird medial ermöglicht durch die Verschriftlichung der Mythen, die so zum literarischen Genre und — aus der kulturellen Verklammerung mit ihrer Performanz im Kult herausgelöst — zur interessanten, aber unverbindlichen Mitteilung werden. In der suggestiven oralen Darbietung durch den 'Sänger' wäre solche Unverbindlichkeit schlichtweg undenkbar. Der Verlust suggestiver Oralität stiftet freilich — mit Freud zu reden — ein 'Unbehagen' in der literalen Kultur, die ihren erweiterten intellektuellen Spielraum teilweise durch Desorientierung bezahlt und in der immer wieder eine Sehnsucht nach emotionalem Überwältigtsein, nach stimmlicher Autorität und einfachen, klaren Normen des Erkennens und Handelns durchbricht. Dies ist — auf durchaus unterschiedlichen Ebenen intellektuellen Anspruchs — der Nährboden für die Adaptierung alter und für das Wachstum 'neuer' Mythen. Darunter fallen auch die politischen Mythen des 20. Jahrhunderts, die freilich — wie Horkheimer/Adorno 346 und Cassirer347 gezeigt haben — die Unbezweifelbarkeit der alten Mythen nur halbherzig, mit einem schiefen, intellektuell unredlichen Bewußtsein und außerdem auch niemals mit anhaltendem Erfolg restituieren können. Was das Fortleben des Mythos und seine gelegentlich neu aufflammende Aktualität in erster Linie ermöglicht, sind die — offenkundig schwer vermeidbaren — Defizite der Rationalität, die Piaton ebenso wie Schelling klar gesehen hat. Dabei ist zu beachten, daß Rationalität keine überhistorische Instanz darstellt, sondern relativ ist im Hinblick auf historisch-kontingente Orientierungsmuster menschlichen Weltverhaltens, in denen Wahrnehmungs- und Reflexionsweisen gestaltet und verdichtet, aber auch verdrängt und ausgeblendet werden. Wo die Kraft der begrifflich-theoretischen Abstraktion nicht hinreicht und auch dort, wo sie sich selber nicht ausreichend reflektiert, fungieren alte und neue Mythen als Lückenbüßer. Mit Mystik als dem 'Anderen der Vernunft' hat der Mythos, der vor und neben der Vernunft existiert, also nur bedingt zu tun, da Mystik offenbar ein Phänomen ist, das nur in (skeptischer) Auseinandersetzung mit der Vernunft entsteht, nicht aber jenseits von ihr. Der Mythos hingegen ist ohne abstrakte Vernunft durchaus denkbar, ja er ist offenbar deren historischer Vorläufer. Solche Vorläuferschaft schließt freilich die Mög-

161

Prolegomena

lichkeit einer antizipatorischen und undifferenzierten Synthese von Vernunft und Mystik, die im Kontext des Mythos stattfindet, nicht aus. So sind manche Mythen nicht nur — allegorisch — als Erzählungen über Rationalität ausdeutbar, sondern auch als Erzählungen über quasi mystische Erfahrung. Beispielsweise ist hier an schamanistische Seelenreisen zu denken und an Initiationsmotive wie Selbstverwandlung, Reinigung, stufenweise Erleuchtung, Aufhebung des Raum-Zeit-Gefüges und physikalischer Gesetze etc. 348 Der mystische — und z.T. auch gnostische — Gehalt solcher mythischer Motive veranlaßt übrigens auch C.G. Jung, Mythos und Mystik als Phänomene in enger Nachbarschaft zu behandeln. 349 Dennoch ist es sinnvoll, die beiden Begriffe auseinanderzuhalten und lediglich einzuräumen, daß — sofern dem mythischen Denken eine eigene Art von Rationalität zuzugestehen ist — der Mythos mit seinen eigenen Mitteln, nämlich durch das Erzählen eines neuen und weiteren Mythos, das eigene Medium relativieren und dies mit Hilfe von Motiven bewerkstelligen kann, die heute — retrospektiv — als mystische Motive interpretierbar sind. Es ist auch einzuräumen, daß religiöse Mystik stets im Kontext einer mythischen Vorstellungswelt angesiedelt ist, da eine 'Religion jenseits des Mythos' einer Selbstaufhebung des Begriffs von Religion gleichkäme. Religion besitzt immer mythische Elemente und steht zu diesen Elementen in einer keineswegs problemlosen Spannung. Niemals aber steht sie gänzlich jenseits des Mythos. *

Relativ leicht ist die Abgrenzung von Mystik und Magie anzugeben. In seiner Arbeit Aberglaube und Zauberei350 definiert Alfred Lehmann den Begriff Magie aus der Gegenüberstellung zu den Begriffen Kultus und Technik: "Durch die Kultushandlungen hofft der Mensch höhere Mächte seinen Wünschen gemäß zu beeinflussen; durch die Technik erstrebt er eine Veränderung der Dinge in der Natur zur Erreichung eines bestimmten Zweckes. Es ist nun möglich, beide Ziele durch Handlungen erreichen zu wollen, die weder Kultushandlungen sind, noch auf sicheren technischen Kenntnissen beruhen; ein solches Handeln nennt man magisch." 351 Obwohl Lehmann von fließenden Grenzen zwischen diesen drei Begriffen spricht, bestimmt er im wesentlichen die Magie doch als eine Fehl-Synthese aus Technik und Kultus: "Magisch sind diejenigen Handlungen, durch die man, wie man annimmt, eine zwingende Macht über die Götter ausüben kann. "352 Und: "Magie oder Zauberei ist eine auf zufälligen Erinnerungen aufgebaute Technik. Man glaubt von ihr, daß man durch sie ein bestimmtes erwünschtes Resultat erreichen kann, obwohl dieses tatsächlich jedenfalls direkt nicht möglich ist, weil kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Handlung und dem erstrebten Resultat besteht." 353 Magie drückt demnach — im Gegensatz zur Mystik — den Wunsch nach (quasi-technischer) Machbarkeit aus und nach einem (besonderen) Kategorien- und Gegenstands'wissen' ,354

162

Begriffliche Abgrenzungen

4.3

Das Desiderat eines zureichenden Erfahrungsbegriffs

Im Abschnitt 2 habe ich versucht, die mystische Erfahrung im Hinblick auf ihre auffälligen Charakteristika in einem ersten, 'proto-phänomenologischen' Durchgang darzustellen. Es ging dabei um jene Charakteristika, durch die sich die mystische von der 'normalen' Erfahrung insofern unterscheidet, als die Momente 'normaler' Erfahrung entweder ins Gegenteil verkehrt oder in bestimmter Weise akzentuiert werden. Im Abschnitt 3 habe ich die wichtigsten disziplinaren Herangehensweisen an das Phänomen mystischer Erfahrung im Kontext der dabei leitenden Theorien referiert. Im Abschnitt 4 ging es um Abgrenzungen und Überschneidungen des Mystikbegriffs zu Begriffen, die mehr oder minder ausgeprägt mit Mystik identifiziert werden. Nimmt man den geläufigen Sprachgebrauch in seinen unterschiedlichen Akzentuierungen, so ist Mystik ein Begriff, der gewisse Phänomene in unterschiedlicher Stringenz und nach dem Prinzip der Familienähnlichkeit bündelt. Nicht jede mystische Tradition, nicht jeder Mystiker und nicht jeder mystische Text verfügt über alle der im Abschnitt 2 dargelegten Charakteristika, und der Katalog dieser Charakteristika wäre durchaus erweiterbar. So erweisen sich Mystik und mystische Erfahrung als idealtypische Begriffe, deren Konkretionen sich in den Idealtypen zwar mehr oder weniger vollständig gespiegelt finden, die aber kaum je völlig deckungsgleich mit ihnen sind. In den konkreten Entwürfen und Texten der Mystik entdecken wir also stets auch eine Beimengung von Heterogenem, von 'Nicht-Mystischem'. Dies ist aber nur ein Indiz dafür, daß Mystik kein vom übrigen Denken und Leben sui generis abgehobener Bereich sein kann, sondern in und aus der Struktur der gesamten Lebenswelt und der gesamten Erfahrung begreifbar sein muß. Von einem solchen Befund her läßt sich erneut fragen, ob es sinnvoll sei, den Begriff Mystik überhaupt beizubehalten. Wir müssen uns jedoch entscheiden, ob wir dem Primat eines am Begriff oder dem Primat eines am Phänomen orientierten Denkens folgen. Begriffliches Denken meint in solcher Gegenüberstellung, daß es um der Reinheit und Kohärenz wohldefinierter Bedeutungen willen auf eine nähere Beschreibung der insgesamt gegebenen Erfahrung verzichtet und dergestalt bereit ist, Erfahrungsmomente, die sich nicht rasch genug begrifflich fokussieren lassen, auszublenden. Phänomenologisches Denken, das gleichwohl unverzichtbar mit Begriffen arbeitet, läßt sich demgegenüber dadurch charakterisieren, daß es auch den ausgeblendeten Erfahrungsmomenten nachgeht und dafür vorübergehende begriffliche Unklarheiten in Kauf nimmt. Sofern damit nicht ein prinzipieller Verzicht auf die 'Anstrengung des Begriffs' gemeint ist, sondern das Prinzip eines den weiteren Denkprozeß behutsam abwartenden und geduldigen Hinsehens auf die Erfahrung, sehe ich mich diesem zweiten, phänomenologischen Diskurs verpflichtet. Damit geht auch eine ausdrückliche methodische Vorsicht gegenüber dem Begriff der Wirklichkeit und gegenüber dem Begriff der Erfahrung einher. Erfahrung ist, so besehen, nicht etwas, das man bereits 'hat', sondern etwas, was man in einem kaum abschließbaren und kaum vorhersehbaren Prozeß 'erwirbt' — und auch das nicht im Sinn eines saturierten Besitzes, sondern im Sinn partieller Einsichten und Kompetenzen, die stets revidierbar, erweiterbar, neu kombinierbar und neu akzentuierbar bleiben. Da uns die Wirklichkeit nur über Erfahrung zugänglich ist, bedeuten

163

Prolegomena

Wirklichkeit und Erfahrung in gewisser Weise 'dasselbe'. Dieses 'Selbe' sind sie freilich nur unter dem Aspekt der Subjekt-Objekt-Verschränkung, also unter dem — transzendentalen — Aspekt, daß die Welt, als wahrgenommene und denkbare, nur so lange 'da' ist, als sie von einem sie 'ergreifenden' Subjekt wahrgenommen und gedacht wird. A l l e 'objektiven' Wirklichkeitsmodelle sind an diese transzendentale Grundbedingung rückgebunden. Diese kann somit als Fundamentalstruktur der Wirklichkeit selbst betrachtet werden, angesichts deren 'objektive' Wirklichkeitsstrukturen nur noch als abgeleitete

Modelle möglich sind. Diese innere Verschränkung muß näherhin untersucht

werden, wenn nicht nur der Begriff,

sondern auch das dem Begriff zugrunde liegende

Phänomen der Erfahrung zureichend rekonstruiert werden soll. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, wie wenig weit bislang die philosophische Diskussion über den Begriff der Erfahrung

gediehen ist. Erfahrung wird ent-

weder — wie im klassischen Empirismus oder in der kantischen Version —

normativ

und damit verkürzt gedacht oder in einem allzu weiten, diffusen und unverbindlichen Sinn veranschlagt. Was ein Desiderat ersten Ranges darstellt, ist eine großangelegte phänomenologische Gesamtbeschreibung der Erfahrung als komplexer und vielfältiger Prozeß der Wahrnehmung, Sinnbildung, Verarbeitung, Modellierung und Umstrukturierung des uns als Wirklichkeit Begegnenden. Das Desiderat eines zureichenden Erfahrungsbegriffs wird — nicht nur, aber auch —

in besonderer Weise deutlich, wenn wir über die mystische

Erfahrung

sprechen.

Einerseits wird hier sehr oft der Begriff der Erfahrung allzu sorglos vorausgesetzt, indem jede beliebige Art von Emotion, Erlebnis, Phantasie, Stimmung, Spekulation oder sinnlicher Vorstellung als 'Erfahrung' deklariert wird. Andererseits wird der Mystik



im Sinne einer normativen Verengung des Begriffs — sehr oft auch der Erfahrungscharakter schlichtweg abgesprochen, indem sie zum 'reinen' Gefühl oder zur 'reinen' Spekulation erklärt wird. A l l diese übereilten Zustimmungen und übereilten Ablehnungen des Begriffs der 'mystischen Erfahrung' leiden unter dem Mangel eines zureichenden allgemeinen

Erfahrungsbegriffs,

der phänomenologisch ausreichend fundiert wäre. Der

Mangel an phänomenologischer Geduld und das vorschnelle Sich-Versteifen auf angeblich klare Begriffe führt dazu, daß Abstraktionen —

wie eben ' G e f ü h l ' ,

'Erlebnis',

'Spekulation', 'Erfahrung' — simplifiziert gebraucht und nicht als Funktions-, sondern gleichsam als Substanzbegriffe betrachtet werden. 355 Demgemäß glaubt man dann auch verschiedentlich, aus der Optik solcher Abstraktionen gültige Einteilungen der Mystik in Gefühls-

versus Gedankenmystik,

versus theoretische

Erlebnis-

versus spekulative

Mystik,

Erfahrungs-

Mystik etc. treffen zu können.

Solche Einteilungen sind nicht völlig sinnlos, da sie mögliche Akzentuierungen

von

Mystik ausdrücken, die sich in den verschiedenen Traditionen, Personen und Texten der mystischen Überlieferung mühelos auffinden lassen. Wer möchte bestreiten, daß z . B . Seuse um vieles emotionaler denkt als Eckhart oder daß Eckharts Texte um vieles spekulativer angelegt sind als die Texte einer Mechthild

oder Hadewijch.

Besagte Ein-

teilungen erscheinen jedoch dann als sinnlos, wenn man diese Akzentuierungen als qualitative

und damit unüberbrückbare Unterschiede versteht und dann —

wie Martin

Buber 356 — z . B . Gefühl und Spekulation als gänzlich inkompatible Ebenen betrachtet.

164

Begriffliche Abgrenzungen

Die gemeinsame — nämlich lebensweltliche — Bezugsebene all dieser Abstraktionen ist die Erfahrung als solche, das Phänomen der umfassenden und vielfältigen Begegnung und Verschränkung des Menschen mit der Wirklichkeit. Diesem Phänomen müssen wir eigens nachgehen, bevor die mystische Erfahrung systematisch näher untersucht und in ihren Verweisungszusammenhängen und ihrer Funktionalität erklärt werden kann.

165

ZWEITES BUCH

Zur Phänomenologie und Theorie von Erfahrung und Mystik

Phänomenologie und Theorie

Das nun folgende Zweite Buch gliedert sich in drei Abschnitte, deren erster zur Gänze — und vorerst ohne spezielle Anwendung auf Mystik — dem Erarbeiten einer adäquaten Theorie der Erfahrung gewidmet ist. In Abgrenzung sowohl zum transzendentalphilosophischen wie zum positivistischen Theorieansatz (die Erfahrung als bloß 'konstruiert' bzw. als bloß 'gegeben' betrachten) und in Anknüpfung an moderne philosophische Klassiker wie Husserl, James, Bergson, Whitehead und Cassirer werden die Grundlinien einer prozessual-symbolisch-medialen Erfahrungstheorie gezeichnet, die der Ausgangsforderung nach Interdisziplinarität und Allgemeinheit Rechnung trägt. In diese Konzeption werden auch die Erfahrungstheorien neuerer Philosophen sowie Kultur- und Medientheoretiker wie Eric A. Havelock, Susanne K. Langer, Nelson Goodman und — in besonderem Maße — Oswald Schwemmer eingebracht. Bevor in Abschnitt 3 eine Anwendung dieser Erfahrungstheorie auf Mystik erfolgt, gehe ich in Abschnitt 2 in einer Reihe von Fallbeispielen auf die philosophische Mystikdiskussion zwischen Aufklärung und Postmoderne ein. Mystik wird dort stets im Zusammenhang mit dem Problem der Erfahrung thematisiert. Für diese Diskussion — die bisher von den Philosophiehistorikern kaum wahrgenommen und noch nirgendwo übersichtlich dargestellt wurde — läßt sich ein überraschend reiches Textmaterial aufweisen. Ich setze mich insbesondere mit den Konzeptionen von Kant, Hegel, Schopenhauer, James, Bergson, Wittgenstein und Derrida auseinander, behandle am Rande aber auch die Stellungnahmen zur Mystik von Swedenborg, Fichte, Schelling, Mauthner, Lavelle und Heidegger. Eine eingehendere Darstellung erfährt der deutsche Gegenwartsphilosoph Karl Albert, dessen Philosophie der 'ontologischen Erfahrung' in eine ausdrückliche Mystikphilosophie mündet, die einem platonischen Realismus verpflichtet ist und sich daher zur Darstellung einer idealtypischen Gegenposition zum Differenzdenken eines Kant, Wittgenstein oder Derrida besonders eignet. In der Auseinandersetzung der neueren Philosophie mit Mystik lassen sich zyvei Strategien beobachten. Entweder wird Mystik gegenüber der Dimension von Vernunft und Erfahrung radikal ausgegrenzt — etwa bei Kant oder Wittgenstein —, oder sie wird — wie bei Hegel oder Bergson — ebenso radikal unter die Begriffe von Vernunft und Erfahrung subsumiert. Ersteres geschieht um den Preis einer normativen Verengung des Vernunft- und Erfahrungsbegriffs, letzteres um den Preis der Entgrenzung. Demnach bezeichnet Mystik — offenkundig also ein Problembegriff im Kontext der philosophischen Erfahrungsdiskussion — entweder die Grenzen oder das Ganze der Erfahrung. Allerdings werden diese Grenzen fast immer entweder zu eng oder zu weit gezogen, da man Erfahrung durchwegs nur begrifflich und außerdem statisch auffaßt, nicht aber symbolisch und prozessual. Die Möglichkeit, Totalität zu denken, wird fast immer entweder apodiktisch ausgeschlossen oder allzu vorschnell als eingelöst betrachtet.

169

Phänomenologie und Theorie

Umrisse einer symboltheoretischen, d.h. über den begrifflich-theoretischen Ansatz hinausgehenden Mystikkonzeption finden sich bei Cassirer und Whitehead. Für letzteren ist Mystik eine vorgegenständliche und vorkategoriale Ebene der Realitätswahrnehmung, die am Anfang des — Symbole produzierenden und sich über Symbole realisierenden — Prozesses menschlicher Weltwahrnehmung und -Verarbeitung steht. Mystik ist für Whitehead aber auch der Horizont jener Symbolreflexion, in welcher die Symbolik in ihrer nur relativen Geltung gegenüber dem subsymbolischen 'Lebensgrund' erkannt wird. Cassirer hingegen beschränkt Mystik zwar auf das Gebiet der Religion, doch beschreibt er sie strukturell als das Ergebnis einer in der Symbolform Religion angelegten inneren Dynamik. Diese lebt aus der strukturellen Spannung zwischen den beiden Polen 'mythischer Inhalt' und 'geistige Form' der Religion, wobei Spannung und Dynamik dann paralysiert werden, wenn Mystik die beiden Pole ineinander überführt und die Symbolform in ein tautologisches Selbstverhältnis verwandelt. Diese cassirersche Konzeption ist, denke ich, der wertvollste heuristische Beitrag, den die bisherige Philosophie für eine adäquate Theorie der Mystik geleistet hat und an den es anzuknüpfen gilt. Der dritte und letzte Abschnitt enthält meinen eigenen Versuch, Grundlinien einer Theorie der mystischen Erfahrung auszuarbeiten. Nach einer methodischen Vergewisserung beginne ich mit einer symboltheoretischen Rekonstruktion jenes Katalogs der 'zwölf Merkmale', den ich in den Prolegomena aus den Texten Meister Eckharts und anderer klassischer Mystiker gewonnen habe. Nunmehr erweisen sich diese Merkmale als in einer gemeinsamen sinnvollen Funktionseinheit stehend. Sie zentrieren in den Momenten der All-Einheit, Ich-Entgrenzung und Kategorienverneinung und stellen damit das 'normale' und gewohnte Wirklichkeitsverständnis, wie es vor allem in Wissenschaften und Alltag Geltung hat, auf den Kopf. Beschränkt man sich auf die begriffliche Dimension dieser Charakteristika, so ergibt sich eine rein intellektuelle, philosophische Mystik. Transformiert man jedoch den Begriff in die allgemeinere Gestalt des Symbols, so läßt sich besagte Funktionseinheit, je nach Symbolsystem und Medium, als spezielle religiöse oder künstlerische, als technisch-mediale, alltägliche oder Sprachmystik rekonstruieren. Damit ist der eingangs postulierten Zielsetzung entsprochen, eine analoge, interdisziplinäre Methode für die lebensweltlich und kulturell verschiedenen Formen von Mystik ausfindig zu machen. Eine zweite und genauso wichtige Zielsetzung besteht aber auch darin, Mystik im Kontext menschlicher Gesamterfahrung zu begreifen und die Verbindung zwischen 'mystischer' und 'normaler' Erfahrung zu erklären. In diesem Zusammenhang versuche ich zu zeigen, daß Mystik — die mit besonderer Emotionalität verbundene Wahrnehmung der Wirklichkeit als 'ichlos', 'differenzlos' und 'kategorienlos' — keinen genuin anderen Zugang zur Welt darstellt als der ichhafte, differente und kategoriale, daß sie diesem auch nicht als anfängliche Dimension — wie Whitehead annimmt — zugrunde liegt, sondern sich aus der Logik des allgemeinen Erfahrungs- bzw. Symbolprozesses strukturell ergibt. Und zwar deshalb, weil jede Symbolisierungsbewegung dazu tendiert, ihre Grenzen zu transzendieren und das Ganze der Erfahrung in eine letzte, absolute und völlig selbstreferentielle Symbolisierungsgestalt überführen zu wollen. Ein

170

Phänomenologie und Theorie

Symbolismus bzw. ein Medium — sei es Sprache, philosophische Begrifflichkeit, Kunst oder Religion — interpretiert sich dann selbst als den Symbolismus bzw. das Medium schlechthin und stilisiert sich damit zur reinen Tautologie der Wirklichkeit als solcher. Somit stellt die 'mystische Erfahrung' gleichzeitig eine maximale Intensivierung und eine konsequente Destruktion aller Symbolik dar, eine paradoxe Bewegung, die zwar in ihrer Zielsetzung scheitern muß, aber — sofern wir dem Symbolprozeß eine autopoietische Struktur unterstellen — eine verständliche Konsequenz der sich selbst aufbauenden und destruierenden Symbolbewegung darstellt (man kann auch sagen: eine verständliche Konsequenz von 'Rationalität' und 'Erfahrung'). Metaphorisch läßt sich von einer Implosion des Symbolprozesses sprechen, die entweder zu dessen definitiver Selbstzerstörung führt oder — in der Regel — zu einer Eigenparalyse plus anschließender Eigen-Rekonstruktion. Die Symbol-Implosion, die sich als henosis bzw. unio mystica ausdrückt, stellt aber eine einschneidende Zäsur im Ablauf eines Symbolprozesses dar, da Symbolisierung hier in entscheidender Weise an ihre Strukturgrenzen gelangt und die eigene ' Abgründigkeit' erfährt. Die mit der unio verbundene extreme Emotionalität läßt sich dadurch erklären, daß jede Symbolbildung 'affektiv getönt' (Whitehead) ist und daß sie durch die Transformation zur totalen, allumfassenden und deshalb implodierenden Symbolbildung eine maximale Verdichtung und Steigerung erfährt. Man kann Mystik als den paradoxen Symbolisierungsversuch einer Rücknahme von Symbolisierung als solcher und im Ganzen definieren. Jede Symbolform, sagt Cassirer, hat die Tendenz, die Gesamtheit der Wirklichkeit (d.h. auch: alles durch andere Symbolformen — aktuell und potentiell — Repräsentierte) repräsentieren zu wollen. Jeder Symbolismus und jedes Medium kann dieser Tendenz nachgeben und sich dergestalt totalistisch (miß)verstehen. 'Gott', 'Sein', 'Leben', 'Natur', 'Sprache' u.dgl. können dergestalt zu implodierenden Totalitätssymbolen werden und ergeben dann 'religiöse', 'philosophische', 'Natur'- oder 'Sprach'mystik. Die Selbstentgrenzung eines Mediums, sein überzogener Repräsentationsanspruch, geht aber mit einer radikalen Symbol- und Repräsentationsskepsis einher. Gerade diese Skepsis führt zum Punkt einer differenzlosen Einheitskonzeption, zur Austauschbarkeit aller Orientierungsgrößen, zur Gleichung von Sein und Nichts. An diesem Erfahrungspunkt wird offenkundig, daß jede symbolische und mediale Vermittlung nur ein — unverzichtbarer, aber defizienter — Notbehelf und eine Krücke ist, um mit der 'Erfahrung als solcher' umzugehen. Es wird offenkundig, daß alle Symbolik und Medialität veränderlich, austauschbar und in ihren Funktionsgrenzen verschiebbar ist. Dazu aber gesellt sich die Gewißheit, daß es jenseits aller Symbolik keine Erfahrung geben kann. Denn Wirklichkeit, Erfahrung und Symbolprozeß bedeuten dasselbe. Dadurch ergibt sich eine — gegenständlich nicht faßbare — 'Durchsichtigkeit' der symbolischen Realität 'als solcher und im Ganzen'. Erlebt wird eine paradoxe 'gleichzeitige Geltung und Nichtgeltung' aller Symbole. Dieses Erlebnis ist freilich nur auf Augenblicke beschränkt und erscheint als ein kathartisch-authentischer Erfahrungs/Jwn/if.· Wir gewinnen — punktuell — Distanz zu symbolisch-medialer Vermittlung und Distanz zu falscher Identität, ohne freilich diese Vermittlung und Identität wirklich abstreifen und jenseits von ihr eine neue, unmittelbare bzw. symbollose Position einnehmen zu können.

171

Phänomenologie

und Theorie

Da der 'Erfahrungspunkt' der Mystik wieder verlassen werden muß, ist er außerhalb seiner selbst unterschiedlichen Interpretationen ausgeliefert. Mystik kann als 'bodenlose', nicht klassifizierbare Erfahrung verstanden werden oder — wie in der neuplatonischen Tradition — als 'höchste Erkenntnis', die ins Schweigen mündet. Mystik kann mit oder ohne den Bereich der sogenannten paranormalen Phänomene betrachtet, und es kann einseitig entweder ihr spekulatives oder ihr kritisches Potential betont werden. Als Gratwanderung zwischen Symbolik und — intendierter, niemals wirklicher — 'Nichtsymbolik' ist sie sowohl für radikale Skepsis adaptierbar als auch für blinde Spekulation. Sie fördert — wenn auch keineswegs zwangsläufig — sowohl kritisches wie naives Weltverhalten. Sie liegt genauso am Grunde jeder ernsthaften Selbstreflexion eines Symbolismus (Sprache, Wissenschaft, Kunst, Religion etc.), wie sie als Einfallstor für 'Schleudermystik' (Musil) fungieren kann. Es geht im folgenden keineswegs darum, Mystik zu rechtfertigen oder zu denunzieren, sondern einzig darum, sie zu verstehen. Die Theorie, die ich vorschlage, placiert ihren Gegenstand in die strukturell beschreibbare Bewegung des Symbol- und Erfahrungsprozesses als solchen. Wird Erfahrung als Symbolisierung verstanden, dann ist die unio mystica ein 'Punkt' in diesem Prozeß, der niemals mit mechanischer Notwendigkeit eintreten muß, aber — angesichts der Disposition jedes Symbolismus, sich selbst zu verabsolutieren und zu entgrenzen — stets eintreten kann. Mystik ist also kein 'Anderes' zur Erfahrung und Vernunft, sondern deren mögliche Konsequenz und Fortsetzung: ein £p/phänomen, das in sich selbst keinen Bestand hat und — im Interesse der Selbsterhaltung eines Symbolismus — in das 'normale', partielle und begrenzte Symbolisieren zurückkehren muß. Diese Rückkehr geschieht nicht so, 'als ob nichts gewesen wäre'. Die mystische Erfahrung ist durchaus eine Zäsur menschlicher Selbsterfahrung, ein die gesamte Persönlichkeit ergreifender 'Gang zu den Müttern'. Ein solcher Gang legitimiert aber keinen wie immer gearteten Ursprungsmythos. Die 'mystische Wahrheit' , wenn von einer solchen gesprochen werden kann, besteht in der Einsicht in unsere konstitutive Symbolizität. Sie ist nicht 'höher' und 'wertvoller' als die 'gegenständlichen' Wahrheiten, die Wissenschaften und Alltag für uns bereit halten. Sie ist nur deren — allzu oft vergessene, aber auch allzu oft mystifizierte, mißverstandene, mit Erlösungs- und Weisheitshoffnungen unsachgemäß befrachtete — Rückseite. Sie adäquat zu berücksichtigen heißt, einer lebensweltlich ausgewiesenen, offenen und lernfähigen Erfahrungskonzeption Gehör zu schenken. Eine solche Erfahrungskonzeption könnte uns befähigen, die antiszientistischen und irrationalistischen Strömungen der Gegenwart zwar in ihrer Motivation und Genese zu verstehen, sie aber dennoch entschieden zurückzuweisen.

172

1 Lebenswelt, Prozeß, Symbol und Medium: Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

1.1 Das Phänomen Erfahrung: Erste Zugänge Es wird nicht selten behauptet, es handle sich bei Mystik nicht um Erfahrung, sondern um Gefihl oder auch um Spekulation, die mit Erfahrung nichts zu tun hätten. Solche Einwände setzen einen Gegensatz von Gefühl und Erfahrung oder von Spekulation und Erfahrung voraus im Sinne wechselseitiger Ausschließung. Des weiteren wird oft behauptet, es handle sich bei Mystik zwar durchaus um eine Erfahrung, doch um eine Art von Erfahrung, die die Rationalität überschreite und daher auch sprachlich nicht mehr ausdrückbar sei. Diese Rede wiederum impliziert, daß nur rationale Erfahrung (sinnvoll) ausdrückbar sei und daß die Grenzen der Rationalität zugleich die Grenzen der Sprache darstellten. In einer etwas schwächeren Version dieses Standpunktes wird zuweilen Mystik als 'irrationale Erfahrung' zwar anerkannt, ihre Ausdrückbarkeit jedoch auf die der Irrationalität zugeordnete poetische Sprache, auf Dichtung also, bzw. allgemeiner auf künstlerische Darstellungsformen des dergestalt Erfahrenen und Erlebten beschränkt. All diese begrifflichen Zuordnungen und Ausschließungen beruhen auf konzeptionellen Überzeugungen dessen, was Erfahrung sei, oder besser: was sie zu sein habe. Es handelt sich gewöhnlich nicht um phänomenologische Beschreibungen, sondern um theoretisch-begriffliche Vorentscheidungen über die Phänomene Mystik, Erfahrung, Gefühl, Spekulation, Rationalität, Sprache und Erlebnisrepräsentation. Da diese konzeptionellen Überzeugungen einander widersprechen, stoßen wir bei ihrem Vergleich auf Äquivokationen, die inhaltlich Unterschiedliches bezeichnen und so die Verständigung erschweren. Will man sich — im Interesse einer sachlichen Aufklärung — nicht mit der immanenten begrifflichen Rekonstruktion und Kritik der diversen Erfahrungskonzeptionen begnügen, sondern sich auf ihren gemeinsamen Gegenstand — das Phänomen Erfahrung — einlassen, so steht man vor der Aufgabe einer — in ihrer Intention: vorkonzeptionellen — Phänomenologie der Erfahrung, von der her auch die korrelativen Phänomene Rationalität, Gefühl, Sprache usw. neu in den Blick zu nehmen sind. Was ich hier und im folgenden unter Phänomenologie verstehe, ist die tendenzielle Bemühung, begriffliche und theoretische Korsette, die unsere tatsächliche Erfahrung verstellen, zu lockern und abzubauen und eine angemessenere begriffliche Repräsentation der Phänomene anzubieten. Konstitutiv für die Phänomene ist freilich, daß sie —

173

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

und dies macht ihre hermeneutische Struktur aus — uns 'immer schon' in einer kontingenten, veränderbaren Repräsentation begrifflicher oder quasi-begrifflicher Art begegnen und daß die jeweils vorgefundene Repräsentation zwischen als authentisch und als nichtauthentisch empfundener Wiedergabe des Repräsentierten, d.h. des Phänomens als solchen, oszilliert. Die Repräsentation ist also nicht — oder nur selten — eine fertige Gestalt, sondern befindet sich selbst 'im Fluß'. Anders gesagt: die Repräsentation ist ein sich selbst transformierendes Repräsentationsgesc/ieAen. Wenn wir das naiv-realistische Erkenntnisziel, vorbegriffliche Phänomene unmittelbar in begriffliche Darstellung überführen zu wollen, als obsolet betrachten, kann der Sinn von Phänomenologie nur darin bestehen, sich auf die fließende Bewegung vorfindlicher Repräsentationen — und d.h. auch: vorfindlicher Begriffe und Theorien — einzulassen und diese Bewegung in geboten kritischer Haltung weiterzuführen. Das Weiterführen kann radikale begriffliche Umdeutungen und Neubestimmungen beinhalten. Phänomenologie vermag also nicht bei einem imaginären Punkt null zu beginnen, sondern tritt in gleichermaßen kritischer wie lernwilliger Absicht in die Zirkularität gegenwärtiger (und vergangener) Interpretationen ein, um diese Zirkularität im Bedarfsfall zu durchbrechen. Die Bewegung des Abarbeitens von Begriffen und die Bewegung des Neuentdeckens von Phänomenen koinzidieren also letztlich in einer, in sich differenten oder, wenn man will, dialektischen Denkbewegung. 1 Wenn ich mich im folgenden nun um eine allgemeine Phänomenologie der Erfahrung bemühe, so sind nicht nur explizite und theoretische Erfahrungskonzeptionen — wie sie von seiten der Wissenschaften, der Philosophie, aber auch der Religion und Kunst präsentiert werden — als Zugänge zum Phänomen Erfahrung zu berücksichtigen, sondern auch der konkrete, alltägliche Sprachgebrauch. Ich beginne mit dieser alltagssprachlichen Perspektive, denn sie ist Ausgangs-, aber auch Kreuzungspunkt einer Fülle lebensweltlicher Perspektiven, aus denen sich eine zureichende Phänomenologie der Erfahrung aufbauen muß. Die vielfältige Bedeutung der alltagssprachlichen Vokabel Erfahrung macht nicht nur die Lebenswelt als — noch eigens zu bestimmenden — Kontext von Erfahrung deutlich, sie führt auch auf die Spur einer weiteren, für die philosophische Betrachtung entscheidenden Gegebenheit: zu der von Anfang an in der Rede von Erfahrung und in der Erfahrung selbst angelegten Reflexivität, aus deren Anerkenntnis sich — dies sei hier vorweggenommen — die These einer weitgehenden Gleichsetzung von Rationalität und Erfahrung ergibt. Ein näheres Bedenken der alltagssprachlichen Bedeutungsfelder von 'Erfahrung' beinhaltet erste Schritte einer Erfahrungsphänomenologie.

1.1.1

Alltäglicher Wortgebrauch und Etymologie

Betrachten wir den in der heutigen Alltagssprache üblichen Gebrauch des Wortes 'Erfahrung' — dem das griechische Wort empeiria und das lateinische Wort experientia (von dem sich frz. expirience und engl, experience herleiten)2 sinngemäß entsprechen 174

Das Phänomen Erfahrung

—, so versteht man darunter ein Wissen von und Vertrautsein mit Dingen, das nicht aus vorgängigen theoretischen Einsichten und Schlußfolgerungen entspringt, sondern aus unmittelbarem, praktischem Umgang. Es ist nicht notwendig, daß ein so geartetes Wissen auch systematisch und begrifflich dargelegt wird. Es ist sogar fraglich, ob es überhaupt in das Medium der Sprache eintreten muß. Erfahrung kann nämlich auch — man denke an handwerkliche Leistungen — vorgeführt und gezeigt werden. Erfahrungswissen meint in diesem alltagssprachlichen Sinn aber stets ein 'solides' und begründetes Wissen, das in wiederholten und wiederholbaren Situationen bestätigt wird und anwendbar bleibt. Alltagserfahrung ist "das Ergebnis von kompetenter, d.h. mit dem jeweiligen Gegenstand vertrauter Urteilskraft und freier Phantasie". 3 Eingebettet in die kontingente und vielfältige Welt der praktischen Lebenswirklichkeit, behält Erfahrungswissen gleichwohl immer auch eine offene Dimension: Erfahrung kann erweitert, geändert, durch neue Erfahrung ergänzt und eben dadurch auch umgedeutet werden. Erfahrung enthält somit auch eine Deutung des Erfahrenen. Sie blickt — mehr oder minder ausdrücklich — auf eine Geschichte des Umgangs mit dem Erfahrungsgegenstand zurück und gewinnt so Kriterien der Unterscheidung von mangelhafter und besserer Erfahrung. Sie besitzt insofern — im Ansatz — eine reflexive Struktur. Erfahrung ist nicht denkbar ohne Urteilskraft. Sie bezieht sich auf frühere, vorhergehende Erfahrungen (die dem erfahrenen Sachverhalt mehr oder weniger adäquat waren), und der Erfahrende bzw. 'Erfahrene' weiß sich selbst fast immer als das Agens seiner Erfahrung. Alles, was der Mensch wahrnimmt, tut und denkt, kann zu Erfahrung werden — sofern er es in irgendeiner Weise im Gedächtnis, in der Erinnerung behält. 4 Daher gibt es höchst unterschiedliche — vielleicht sogar unbewußte5 — Weisen von Erfahrung, die freilich nicht immer problemlos miteinander koordinierbar sind (auch wenn sich aus dem Ensemble des Gesamtverhaltens des Lebewesens Mensch — sei es auf der Ebene des Individuums oder des Kollektivs — stets irgendeine Form des Zusammenspiels auch heterogenster Erfahrungen ergeben wird). Doch auch die nicht oder nur in geringerem Maß bewußten, die nicht oder nur ansatzweise artikulierten Erfahrungen sind ihrerseits vielfältig, sie erwachsen aus und wirken in vielfältigen lebenspraktischen Kontexten und schließen sich nicht ohne weiteres zu einer übergreifend-geordneten Gesamterfahrung zusammen, von der her der Stellenwert einzelner, bereichshafter und konkreter Erfahrungen zu deduzieren wäre. Wo eine solche Gesamterfahrung behauptet wird, ist sie ein spekulatives Gebilde, ein theoretisches oder quasi-theoretisches Konstrukt, das den konkreten Sinn von Erfahrung, wie er sich im Sprachgebrauch des Alltags ausdrückt, überschreitet. Dies sind die Zusammenhänge, in denen im Deutschen die Worte 'erfahren' und 'Erfahrung' seit dem Beginn der Neuzeit gebraucht werden. 6 Betrachtet man (a) zweckgerichtetes Handeln, (b) theoretisches, interpretierendes Denken sowie (c) Empfinden und Fühlen als wesentliche Dimensionen unseres Realitätsbezugs, so kann — gemäß diesen drei Dimensionen — in unterschiedlicher Weise von (a) technisch-instrumenteller, (b) kognitiver und (c) emotiver Erfahrung gesprochen werden. Dabei handelt es sich freilich um Spezifizierungen, deren Bedeutungsränder im konkreten Sprachgebrauch zumeist verschwimmen, weil man diese drei Dimensionen in der Sache - zu Recht — als Einheit betrachtet. Die genannten Erfahrungstypen bestehen

175

Grundzüge

einer Theorie der

Erfahrung

nicht nur darin, daß Phänomene wahrgenommen und gewußt, gefühlt und instrumentalisiert werden, sie haben auch eine hermeneutische Struktur. Das heißt: sie werden von vorgängigen Interpretationen geleitet, sie stiften ihrerseits neue Interpretationen, auf die sie sich hin- und von denen her sie sich auf sich selbst zurückbeziehen. Aus dieser hermeneutischen Verfaßtheit — die sich als Dialektik, als Zirkel oder (am angemessensten) als spiralförmige Bewegung beschreiben läßt — resultieren übrigens wohl auch die methodischen Probleme der verschiedenen Ursprungstheorien über den Intellekt und/oder über die Gefühle. Es lassen sich nämlich sowohl die Gefühle als transformierte intellektuelle Urteile begreifen, wie es auch möglich erscheint, Rationalität als sublimierte Triebstruktur anzusehen (wie dies die psychoanalytische Gefühlstheorie behauptet). 7 Erfahrung ist also immer eingebunden in ein vielschichtiges, interpretierendes, offenes Geschehen, das sich nicht zur Gänze überblicken läßt, dessen Verweisungszusammenhang aber zumindest gefühlt und geahnt wird. Gleichwohl ist Erfahrung stets TeilErfahrung, d.h. sie konstituiert sich als Erfahrung auf einem bestimmten, abgegrenzten Gebiet. In solcher Begrenzung tendiert sie dazu, sich nicht auf das bereits Erfahrene zu beschränken. Einerseits fördert sie das (in Gadamers Hermeneutik explizit gerechtfertigte8) Vorurteil und verschließt sich möglicher Innovation. Die Rede von angeblicher oder wirklicher Erfahrung kann daher nicht nur borniert klingen, sondern zuweilen auch tatsächlich borniert sein. Was diesen innovationsfeindlichen Zug in der Erfahrung vielfach legitimiert, ist die Bestätigung durch bisherige Praxis. Das Sichverschließen gegenüber neuer Erfahrung vermag bereits gegebene Erfahrung fallweise aber auch ad absurdum zu führen, wenn diese angesichts einer neuen und geänderten Situation versagt. Dann ist das innovative Experiment — also der Versuch, mit einer neuen (und möglicherweise sehr spekulativen) Interpretation der Wirklichkeit anstehende Probleme zu lösen — dem traditionellen Erfahrungswissen vorzuziehen. Erfahrung im alltagssprachlichen Sinn — dies ist vorweg gegen die eingeengten Erfahrungsbegriffe sowohl der modernen Naturwissenschaften wie auch der philosophischen Tradition geltend zu machen — ist also ein mehrschichtiger, mehrdimensionaler Begriff, der nicht ohne weiteres als eigener kategorialer Bereich der Vernunft und dem Gefühl gegenübergestellt werden kann. Er richtet sich intentional auf das Insgesamt unserer Weltorientierung und ist -— auf sehr unterschiedlichen Ebenen — immer schon reflexiv9, d.h. aber auch: spekulativ und interpretativ. Wird der Verweisungszusammenhang der Erfahrung in voneinander isolierte Faktoren aufgesplittert, so entsteht die Vorstellung von Gegensätzlichem, das sich logisch auszuschließen scheint: etwa das 'bloße Gefühl' und/oder das 'bloße Denken', das sich der 'Erfahrung' als deren Anderes entgegenstellt. Sprachgeschichtlich leitet sich das deutsche Wort 'Erfahrung' (mhd. ervarunge) aus dem Verb 'erfahren' her und bedeutet: eine Fahrt bzw. Reise machen (genauer: gemacht haben), dabei Neues erforschen und kennenlernen, ein Wissen erwerben, das man denen, die diese 'Er-fahrung' nicht selbst gemacht haben, dann voraushat. 10 Dieses Bild der Fahrt bzw. der Forschungs- und Entdeckungsreise ist ein charakteristisches lebensweltliches Bild (und damit auch schon eine charakteristische lebensweltliche Erfah-

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Das Phänomen

Erfahrung

rung im heutigen Wortsinn), das als Metapher eine Reihe von weiteren und sehr heterogenen Erfahrungen bezeichnen hilft und so ein (zuerst sprachliches, dann aber auch kognitives und emotives) Interpretationsmuster für unterschiedliche Erfahrungen liefert." Es gibt dann eine Erfahrung beispielsweise in einer Kunst und einem Handwerk, im Umgang mit dem Wetter und der Natur, im Umgang mit anderen Menschen und mit Institutionen, im Umgang mit sich selbst, seinen eigenen Wünschen und Gefühlen (woraus sich dann eine Entgegensetzung von 'innerer' und 'äußerer' Erfahrung ergibt), im Umgang mit traditionellen Vorstellungen und Normen (z.B. mit 'Gott' und mit der Moral als einem kontrafaktischen Sollen) usw. Es gibt nicht nur augenfällige und 'handfeste', sondern auch relativ abstrakte und nur schwer kommunizierbare Erfahrungen, die mit feinen und subtilen Wahrnehmungen verbunden sind. Dann gibt es eine besondere Nähe und z.T. sogar eine Identifikation von Erfahren und Fühlen/Empfinden (was sich auch in einem bestimmten Sprachgebrauch des engl, experience, sofern dieses mit feeling gleichgesetzt wird, aufweisen läßt).12 Das reflexive Potential, das in einzelnen Erfahrungen angelegt und unterschiedlich wirksam ist, läßt jede Erfahrung tendenziell zu einer reflektierten Erfahrung bzw. zu einer Erfahrungsreflexion werden, die sich gegenüber der 'Erfahrung selbst' zwar verselbständigen kann und dann von dieser wegführt, die sich aber auf Umwegen — über die Umorganisation begrifflicher Repräsentation — der 'Erfahrung selbst' auch wieder annähern kann. 'Erfahrung und Reflexion' 13 bilden daher im Prozeß der Wahrnehmung und der Verarbeitung von Wahrnehmung eine untrennbare Einheit. Das Gesagte gilt — wenn man vom etymologischen Anfangs-Bild der 'Reise' (das so nur im Deutschen gegeben ist), absieht — auch für empeiria, experientia, experience und experience. Auch diese Vokabeln kommen aus der Alltagssprache und erhalten eine elaborierte, theoretische Bedeutung erst in den wissenschaftlichen und philosophischen Sondersprachen, die freilich ihrerseits wieder auf die Alltagssprache zurückwirken und deren komplexe Bedeutungsvielfalt, aber auch deren vereinzelte Borniertheiten mitverursachen. Der Blick auf die alltagssprachliche Bedeutung von 'Erfahrung' hat uns zu den ersten Schritten einer philosophischen Reflexion über Erfahrung und zu den ersten Schritten einer Phänomenologie der Erfahrung hingeführt. Diese Schritte sind im folgenden durch einen — gleichfalls vorbereitenden — Blick auf die philosophische Geschichte des Erfahrungsbegriffs zu ergänzen. Diese Geschichte zeigt uns die wichtigsten Formen einer begrifflich-theoretischen Transformation des alltäglichen Erfahrungsbegriffs: Verengungen und Entgrenzungen, Präzisierungen und Stilisierungen.

1.1.2

Zur Geschichte des philosophischen Erfahrungsbegriffs

Über die Begriffsgeschichte von empeiria, experientia und Erfahrung und über die Reflexion, die von seiten der Philosophie auf dieses Thema verwendet wurde, geben einschlägige Lexikonartikel detaillierten Aufschluß. 14 Im folgenden sollen nur wenige Grundlinien dieser Begriffs- und Reflexionsgeschichte skizziert werden. Was vergange-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

ne und gegenwärtige Philosophen unter Erfahrung verstehen, wird weitgehend durch ontologische und erkenntnistheoretische Vorentscheidungen festgelegt und ist somit in hohem Maß theorieabhängig. Es ist abhängig davon, wie die Wirklichkeit als solche verstanden wird und wie die Möglichkeiten der Begriffsbildung und des Wissens eingeschätzt werden. Die philosophische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Erfahrung steht in engem Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den Begriff der Wissenschaft bzw. der wissenschaftlichen Qualität des Denkens. Wissenschaft als Haltung und Methode — episteme — ist in der Ära ihrer 'Entdeckung' durch die Griechen freilich alles andere als gleichbedeutend mit Erfahrung im heute geläufigen und dominierenden Wortgebrauch (der vornehmlich eine Gegen-Bedeutung zu unbewiesener Spekulation intendiert). Ihr Gegenbegriff ist vorerst die doxa, die bloße, unbefragt aus der Tradition übernommene Meinung, die mit Hilfe des nous oder logos zu überwinden sei. Wissenschaft und Philosophie beginnen geschichtlich also mit einem deutlichen Mißtrauen gegenüber der lebensweltlichen, alltäglichen Erfahrung und vor allem — zumal bei Parmenides und Piaton — gegenüber der sinnlich-konkreten Wahrnehmung. Wissenschaft — wie sie paradigmatisch bei Piaton entworfen wird — sucht ihre Prinzipien im 'reinen' Denken, in einem Reich der Formen bzw. Ideen. Um dieses Reich zu erkennen und sich in ihm zurechtzufinden, bedarf es der Anstrengung des vernünftigen, gegenüber der doxa sich emanzipierenden Denkens. Dieses kann beim Anfänger in der Philosophie vermittels 'pädagogischer' Hilfe des in seinem Metier bereits erfahrenen älteren Philosophen nicht schlechthin erzeugt oder auch nur zur Gänze vermittelt, wohl aber — in begrenzter Weise — ausgelöst und geleitet werden. 15 Der heute im allgemeinen Verständnis — sowohl der Wissenschaften wie des Alltags — dominierende Erfahrungsbegriff ist aber auch nicht ohne weiteres mit dem gleichzusetzen, was die griechischen Philosophen unter empeiria verstehen. Die Vorsokratiker und auch noch Aristoteles in seiner Metaphysik verwenden empeiria in der — damals wie heute — umgangssprachlichen weiten Bedeutung und setzen sie z.T. mit techne und episteme gleich. Philosophische empeiria bedeutet das Umgehen-können-mit und das praktische Wissen über Philosophie als Haltung und Lebensform. Die Erfahrung des 'erfahrenen' Philosophen — Prototyp ist Sokrates — bezieht sich auf seinen Umgang mit dem spekulativen Denken, seinem eigenen und dem der anderen. Piaton betrachtet die Dialektik als das Mittel, den Menschen zu der ihm möglichen höchsten Erkenntnis zu befreien, die ihm die Wahrheit seines Seins, ontologische Wahrheit also, erschließt. Diese Wahrheit hat nicht den Status 'bloßer' Spekulation, sondern prinzipiell für jedermann vollziehbarer, den Menschen in seinem Selbst- und Weltverständnis verwandelnder, ihn vervollkommnender Erfahrung. Die Spekulation ist hier also nicht ein Gegensatz zur 'wahren' Erfahrung in der Ideenschau bzw. im Innewerden der höchsten Idee, sondern das Mittel ihres Innewerdens. Die Erfahrung der qualitativen Koinzidenz des Guten, Wahren und Schönen bedeutet für den Erkennenden eine qualitative Verwandlung seines Daseins. Die lebensweltlich-alltägliche empeiria wird als von der doxa bzw. dem me on suggerierte Pseudoerfahrung zurückgewiesen. So geraten sinnlich-alltägliche und vernünftig-philosophische Erfahrung bei Piaton in unauflösbare Opposition.

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Das Phänomen Erfahrung

Zwar entzündet sich der philosophische Eros an konkreter Sinnlichkeit, transzendiert diese aber in ein entmaterialisiertes Allgemeines. Sinnlichkeit gilt nicht als eine Instanz, die das 'reine' Denken in Frage stellen, ja nur korrigieren könnte. Sie ist 'relatives Nichts', ein zu Vernachlässigendes. Was es zu entfalten gilt, ist die Vernunfttätigkeit. Diese platonische Tendenz, spekulatives Denken auf Kosten der Sinnlichkeit und der lebensweltlichen Empirie hochzubewerten, setzt sich fort und radikalisiert sich z.T. in der Stoa, vor allem jedoch im Neuplatonismus. Andererseits zeigt die Antike — von Aristoteles bis hin zur differenziert beobachtenden und beschreibenden Gelehrsamkeit alexandrinischer Wissenschaft — auch eine gegenläufige, im heutigen Wortsinn empirisch ausgerichtete Tendenz. Aristoteles beginnt seine Metaphysik mit einer Erörterung von Erfahrung, nimmt dabei die alltagssprachliche Bedeutung auf und unternimmt die ersten Schritte, diese alltagssprachliche Bedeutung philosophisch zu elaborieren, sie in das System eines in sich widerspruchsfreien Denkens einzuordnen. Dabei wertet er die Kunst höher als die Erfahrung, weil diese — im Gegensatz zu jener — nur ein Daß, aber kein Warum, d.h. kein allgemeines Ursachenwissen enthalte. Er läßt aber Kunst, genauso wie Wissenschaft, in der Erfahrung gründen 16 und vermeidet damit Piatons starre Entgegensetzung. Was jedoch in der Antike und im Mittelalter (zumal im großen Einflußbereich des Piatonismus) philosophisch überwiegt, ist das Interesse an der Spekulation, die als Instrument einer sicheren Ontotogie verstanden wird. Das 'Sein' — das Wirkliche in seiner Allgemeinheit — werde, so glaubt man, durch die Sinne und die lebensweltliche Erfahrung insgesamt vernebelt, und es offenbare sich nur dem 'reinen', dem spekulativ-vernünftigen Denken, dessen Leitwissenschaft schon bei Piaton die Mathematik ist. Philosophisch maßgeblich ist also vorderhand nicht die Erfahrung 'als solche' — wie sie eine naive Weltsicht fraglos voraussetzt, wie sie durch philosophische Reflexion jedoch destruiert wird, da diese die reflexive Vermitteltheit aller Erfahrung aufdeckt —, sondern der spekulativ-ontologische Interpretationsrahmen, der festlegt, was Erfahrung bedeuten kann und darf. So wird empeiria/experientia bei Aristoteles und auch noch bei Thomas von Aquin weniger als Methode denn als Eigenschaft verstanden. Da man beispielsweise ontologisch von der Existenz Gottes überzeugt ist und annimmt, sein Wesen sei intellektueller Natur, ergibt sich bei Thomas und Bonaventura auch die Vorstellung, daß Gott 'intellektuell erfahren' werden könne. 17 Autoren wie Wilhelm Nestle18 und Eric A. Havelock19 beschreiben die Selbstkonstituierung der griechischen Philosophie als entschiedenen Kulturkampf gegen den bis dahin herrschenden Mythos. Folgt man dieser Perspektive, so haben wir einen Veränderungsprozeß vor uns, in dem mythische Erfahrung durch philosophische bzw. wissenschaftliche Erfahrung ersetzt wird. Metaphysik, der Anspruch auf das Wissen um das Sein 'als solches und im Ganzen', tritt in der antiken Philosophie ganz offensichtlich in mehrfacher Funktion an die Stelle des Mythos. Auch die Aussagen des Mythos standen — wie die philosophische Spekulation — vielfach konträr zu einigen Aspekten der tatsächlichen, d.i. durch sinnliche Wahrnehmung und/oder rationale Schlußfolgerung auszuweisenden Erfahrung. Was der Mythos jedoch vermochte, war, große Teile der tatsächlichen, der realen Erfahrung symbolisch zu organisieren, zu integrieren und zu deu-

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ten. Der Mythos vermittelte eine erste Sicherheit im Umgang mit Erfahrung. 20 Dasselbe sollte nun — und zwar viel besser, weil jenseits von Willkür und blindem Glauben — die philosophische Spekulation leisten. Die Emphase, mit der die Geltung der philosophischen Spekulation behauptet wurde, steht offenbar mit dem zentralen Bedürfnis früher Kulturen in Zusammenhang, relativierende Kritik an bestehenden Orientierungsnormen nicht zuzulassen, sondern alle Kräfte auf Stabilisierung des Denkens und Handelns zu richten. 21 Stabilisierung des Wissens — nach dem Durchgang durch die (von den Sophisten provozierte) relativierende Argumentation — ist wohl das hauptsächliche kulturelle und soziale Motiv, das dem Piatonismus zugrundeliegt. Stabilisierung des Wissens ist aber auch ein entscheidendes Motiv des Aristotelismus und damit der klassischen griechischen Philosophie überhaupt. Doch Stabilisierung des Wissens — einschließlich der moralischen Normen und insgesamt der kulturellen Verhaltensweisen — war auch die primäre soziale Funktion des Mythos gewesen. Daß dessen Herrschaft eine willkürliche, kontingente und bloß angemaßte war, darin bestand die zentrale, aber sozial und kulturell explosive Einsicht der Sophisten. Die mit Sokrates beginnende 'klassische', in ihrer politischen Tendenz durchaus konservative Philosophie teilte das sophistische Verlangen nach kritischer Begründung dessen, was behauptet wird, sie teilte aber auch das mythogene Verlangen nach absoluter Verbindlichkeit. Die neuzeitliche und moderne Diskussion um den Begriff der Erfahrung hatte sich daher notgedrungen mit dem Begriff der spekulativen Rationalität auseinanderzusetzen, den die klassische Metaphysik — in ihrer Transformation durch die mittelalterliche Scholastik und die großen Systementwürfe des 17. und 18. Jahrhunderts — exponiert. Die Metaphysik definiert im voraus, was philosophische Erfahrung zu sein hat: nämlich Vergewisserung und Bestätigung dessen, was das 'reine' Denken, unabhängig von aller Erfahrung, bereits von sich her weiß. Erfahrung ist in diesem Kontext somit nichts anderes als sich selbst bestätigende (spekulative) Rationalität, und dieser Zirkel bleibt auch bestehen, wenn in der Neuzeit die Rationalität einer einschneidenden Kritik unterzogen, wenn sie als Meßinstrument der mathematisch zu entschlüsselnden Natur neu definiert wird. Besagte Zirkularität von Rationalität und Erfahrung eignet also auch dem neuzeitlichen und modernen Erfahrungsbegriff, wie ihn die Denkschule des Empirismus ausbildet. Was jetzt im Blick steht, ist die am naturwissenschaftlichen Experiment orientierte, d.h. methodisch erzeugte, kontrollierte und regelgeleitete Erfahrung. Dies bedeutet eine Präzisierung, Funktionalisierung und Verengung des allgemeinen, lebensweltlichen Erfahrungsbegriffs. Das Finden und Bestätigen von Erfahrung besteht darin, daß man — auf einem von vornherein begrenzten, überschaubaren Feld — in ihren Ausgangsbedingungen, in ihrem Ablauf und in ihren Faktoren wiederholbare und damit verallgemeinerbare Prozesse in Gang setzt, sie in ihrer Gesetzmäßigkeit bzw. Regelhaftigkeit genau beobachtet und an diese Beobachtung eine kausalistische bzw. statistische Deutung 'objektiver' Naturgesetzlichkeiten knüpft. Um die Wiederholbarkeit und damit Verallgemeinerbarkeit der Experimente — als Wege, d.h. Methoden der Erfahrung — zu gewährleisten, sind dafür aber nur Prozesse geeignet, die einen kleinen Ausschnitt aus der gesamten Erfahrungswirklichkeit des Menschen darstellen, vor allem jene relativ gut

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Das Phänomen Erfahrung

meßbaren und mathematisierbaren Bereiche wie Physik und Chemie, die gegenüber dem lebensweltlichen Horizont der Gesamtwirklichkeit des Menschen verhältnismäßig leicht isolierbar sind.22 Der am naturwissenschaftlichen Experiment orientierte moderne Erfahrungsbegriff ist exakter und methodisch ausgewiesener als der alltägliche Erfahrungsbegriff, er ist auch exakter und methodisch ausgewiesener als der vormoderne philosophische Erfahrungsbegriff, die beide, wenngleich in verschiedener Weise, an der — weder meßbaren noch mathematisierbaren — Totalität des menschlichen Lebens orientiert sind. Sobald nun aber die genannten 'kleinen Ausschnitte' aus der Totalität unserer Lebenswirklichkeit verlassen werden, zeigt sich wiederum der moderne, naturwissenschaftliche Erfahrungsbegriff der alltäglichen Erfahrung vielfach unterlegen. Seine Stärke liegt lediglich darin, daß er bewußt und methodisch nach 'neuen Erfahrungen' sucht und sie für eine systematische, vor allem technologische Anwendung bereitstellt. Man sammelt also programmatisch nicht-apriorisches Wissen und ist daher programmatisch stets innovations- und revisionsbereit. Dennoch ist die Offenheit auch des modernen, naturwissenschaftlichen Erfahrungsbegriffs von vornherein beschränkt. Auch die methodisch-empiristische Erfahrung ist insofern spekulativ bestimmt, als sie die Rationalität der erfahrbaren Prozesse — ihre Gesetzlichkeit und Regelhaftigkeit, die via Erfahrung zu explizieren seien — voraussetzt. Die Applikationsgrenzen dieser Annahme werden dort deutlich, wo man versucht, die Gesamtheit oder zumindest große Gebiete der Realität durch eine 'Weltformel' in ihrer Struktur zu erklären, und vor allem dort, wo man — von Hobbes bis Comte und Spengler — auch Kultur und Geschichte unter allgemeine, quasi naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten zu stellen sucht. Was in seinen vollständigen Bedingungen nicht überschaubar und damit herstellbar, was im Prinzip auch nicht wiederholbar und damit verallgemeinerbar ist, entzieht sich dem empiristischen Erfahrungsbegriff. Die in der Philosophiehistorie allzu geläufig gewordene Dichotomie von Rationalismus und Empirismus ist, da der letztere stets in einem rationalistischen Korsett einhergeht, somit fragwürdig, ebenso die These, daß der Rationalismus sich um Erfahrung erst gar nicht kümmere. Der Rationalismus eines Descartes und Leibniz zielt vielmehr darauf, Erfahrung in ganz bestimmter Weise zu organisieren und in einer mathesis universalis die letzte und tiefste Erfahrungsgrundlage anzusetzen. Damit wird freilich auch der phänomenologische Ausgrenzungsprozeß in Gang gesetzt, der sich im normativen Vernunftprogramm der Aufklärung ausdrückt. Diesem Programm gegenüber 'unpassende', vor allem die nicht-formalisierbaren und nicht-mathematisierbaren Phänomene und Erfahrungen werden als 'irrational' denunziert und an die Peripherie kultureller Wahrnehmung und Geltung gedrängt, es wird ihnen der Status von Erfahrung und damit der Status von Realitätsbezug abgesprochen. (Die dazu gegenläufige Position von G. Vico kann sich im Diskurs der neuzeitlichen Philosophie nicht durchsetzen.) Lediglich in aporetisch-paradoxen Weltbildern wie denen von Pascal oder Kierkegaard haben 'rationale' und 'irrationale' Erfahrungen nebeneinander Platz. Dies geschieht aber um den Preis einer Dichotomisierung der Wirklichkeit, die noch wesentlich unüberbrückbarer erscheint als die Zweiweltenkonzeption Piatons.

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Hatte Leibniz das Programm einer Kalkülisierung der gesamten Wirklichkeit — inklusive der menschlich-kulturellen Wirklichkeit — noch ernsthaft verfolgt, so bezeichnet die kantische Transzendentalphilosophie ein Programm sinnvoll erscheinender Beschränkung erkenntnistheoretischer Ansprüche. Kants Beschränkungsabsicht resultiert aus der Einsicht, daß spekulatives Denken als solches einer Verselbständigung erliegt und reale Erfahrung verfehlt, wenn es nicht immer wieder an diese — und zwar an ihre sinnliche Seite, die Seite der Anschauung — rückgebunden und dadurch korrigiert wird. Die berühmte Formel Kants, daß anschauungslose Begriffe leer und begriffslose Anschauungen blind seien — eine Formel, die spätere Denker wie Schopenhauer und die Neoempiristen noch einmal radikalisiert haben —, beschränkt die Reichweite der Erfahrung auf den Einsatzbereich der reinen Verstandesbegriffe. Die darüber hinausgehenden Vernunft/cfeen sind ausdrücklich jenseits möglicher Erfahrung angesiedelt. Sie sind für uns nicht aus theoretischen, sondern aus praktischen Gründen wirksam. Bedenkt man den Stellenwert der praktischen Philosophie innerhalb des Gesamtentwurfs der kantischen Philosophie, so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Kant einen methodologisch verengten Erfahrungsbegriff verficht, der viele Formen der Wahrnehmung und Akzeptation von Wirklichkeit, die wir mit dem alltagssprachlich geläufigen Begriff der Erfahrung meinen, nicht berücksichtigt. 23 So kann es beispielsweise in der kantischen Terminologie keine 'Erfahrung der Freiheit' geben, sondern nur eine praktisch-regulative Vernunftidee der Freiheit bzw. deren selbstgewisses Gefühl, das (in Kants praktischer Philosophie) unversehens zum metaphysischen 'Faktum' erklärt wird. Kant siedelt also Vernunft, Gefühl und Erfahrung auf kategorial verschiedenen Ebenen an, die zwar innerhalb seiner Philosophie sinnvoll miteinander zu verbinden sind, deren methodische Differenzierung jedoch der Architektonik dieser Philosophie verpflichtet bleibt und deshalb für eine andere, zumal phänomenologische Betrachtungsweise unverbindlich bleiben muß. 24 Auch wenn Kants Begriff der Erfahrung schon früh und auch noch bis in jüngste Zeit ausgiebig kritisiert wurde — von den Gefühls- und Glaubensphilosophen, von Hegel, James, Bergson, Whitehead u.a. —, so ist er doch bis heute überaus einflußreich geblieben. Wird in der Gegenwartsphilosophie von Erfahrung gesprochen, so hat man fast immer den kantischen Erfahrungsbegriff vor Augen, der die wissenschaftliche Erfahrung — genauer: den (stilisierten) Erfahrungsbegriff der experimentellen neueren Naturwissenschaften — repräsentiert. In modifizierter Form ist der kantische Ansatz ohne weiteres auch mit dem modernen Empirismus vereinbar. Transzendentalphilosophie und moderner Empirismus haben beide die eingeengte, methodisch kontrollierte Erfahrung vor Augen. Dies wäre problemlos, würde sie als Spezialfall eines umfassenden bzw. pluralen Korpus unterschiedlicher Erfahrungsmöglichkeiten betrachtet und läge dieser Betrachtung ein liberales, die eigene Position relativierendes Methodenverständnis zugrunde. Was aber im Philosophie- und Wissenschafts Verständnis unserer Kultur dominiert, ist eine sachlich kaum zu legitimierende Verallgemeinerung und Absolutsetzung methodischer Einengung. Wird jede mögliche Erfahrung nur als methodisch-regelgeleitete anerkannt bzw. werden Erfahrungen in 'rationale' und 'irrationale' unterschieden, erfährt das Verständnis der gesamten Wirklichkeit unseres Lebens eine

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Das Phänomen Erfahrung

willkürliche Einschränkung bzw. es gerät in eine willkürliche Dichotomie. Sowohl Einschränkung wie Dichotomie aber geraten mit unserer kontingenten und vielschichtigen tatsächlichen Erfahrung in Konflikt. Die Etikettierung von Erlebnissen und Erfahrungen als 'irrational' und 'unwissenschaftlich' bedeutet immer einen Reflexionsstopp und die Ausblendung von Erfahrungen, die wir ansatzweise zwar machen, nach Möglichkeit aber verdrängen und um deren Verständnis wir uns dann nicht mehr bemühen. Eine Reihe bedeutender Philosophen des späten 19. sowie des 20. Jahrhunderts — Pragmatisten, Lebensphilosophen, Phänomenologen und Sprachphilosophen — haben ihre Energien darauf verwandt, eine Konzeption von Erfahrung auszuarbeiten, die jener Formalisierung und Verengung entkommen soll, die den transzendentalphilosophischen und neoempiristischen Erfahrungsbegriff kennzeichnet. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Nietzsche und Dilthey, James und Bergson, Whitehead und Cassirer, Husserl und Merleau-Ponty, in gewisser Weise auch Heidegger und Wittgenstein. Sie alle versuchen auf ihre Weise, die tatsächliche Erfahrung gegenüber der begrifflich vorweg 'verordneten' Erfahrung freizulegen und zur Geltung zu bringen. 'Leben' und 'Erlebnis 1 , 'pure experience' und 'Intuition', 'Prozeß' und 'symbolische Prägnanz', 'Lebenswelt' und 'Dasein', 'Sprachspiel' und 'Lebensform' sind Problemtitel für eine adäquate Theorie der Erfahrung. Aber vor allem der von Husserl so folgenreich in die Diskussion gebrachte Begriff der Lebenswelt ist ein Indikator des modernen philosophischen Bemühens, den Begriff der Erfahrung zu entformalisieren und ihn dennoch systematisch in das Zentrum philosophischen Nachdenkens zu stellen. Dieses Bemühen hat eine kulturkritische Komponente. Man reflektiert nicht nur eine inadäquate Tradition des Erfahrungsbegriffs in der Philosophie und eine inadäquate Geltung dieses Erfahrungsbegriffs im Wissenschaftsbetrieb. Man reflektiert darüber hinaus auch die historisch neue Erfahrung, die unsere Kultur mittlerweile mit den Wissenschaften und deren Erfahrungsverständnis gemacht hat. Die durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation produzierten Krisen — vor allem die ökologischen, militärischen und sozialtechnologischen Fehlplanungen mit ihren berüchtigten 'Nebenfolgen' — haben bis zu einem gewissen Grad zur Rehabilitierung der vor- und außerwissenschaftlichen, der praktischen Erfahrung geführt. Im Windschatten solcher Rehabilitierung sprießen freilich auch Formen von Wissenschaftskritik, die das argumentative Niveau des Szientismus offenkundig unterbieten: New Age und einige 'postmoderne' Ideologien des anything goes. Diese wissenschaftsfeindlichen Strömungen können aber sicherlich nicht aus der Perspektive eines verknöcherten Szientismus erfolgreich bekämpft werden. Sie erfahren ihre Widerlegung — den Aufweis ihrer eigenen Borniertheit und Oberflächlichkeit — nur aus dem Bemühen eines authentischen, umfassenden und strengen Philosophierens. Dieses hat in Husserl einen engagierten Vertreter gefunden, der das Grundproblem der gegenwärtigen kulturellen Erfahrung — den Verweisungszusammenhang von wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher, begrifflicher und vorbegrifflicher Erfahrung — in prätentiöser Weise diskutiert hat. Im Zentrum der diesbezüglichen Überlegungen Husserls steht der Lebensweltbegriff. Ihn wähle ich im folgenden Abschnitt als Einstieg dafür, eine möglichst adäquate allgemeine Erfahrungskonzeption zu entwickeln.

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1.2 Erfahrung, Lebens welt, Symbolprozeß

1.2.1

Exposition: Husserls Begriff der Lebenswelt25

Zweifellos gehört der Terminus Lebenswelt heute zu den abgegriffensten und damit auch ungriffigsten Schlagworten, die aus einem ursprünglich — bei Edmund Husserl26 und auch noch bei Habermas27 — einigermaßen präzisen philosophischen Sprachgebrauch in den allgemeinen Wortschatz übergegangen sind und dort vielfach als Leerformeln dienen. Mitverantwortlich hiefür ist freilich auch die Philosophie selbst, die in den letzten Jahrzehnten sehr heterogene Lebensweltkonzeptionen entwickelt hat, für die in unterschiedlicher Weise wissenschaftstheoretische, ontologische, anthropologische, soziologische oder formalpragmatische Geltung beansprucht wurde. 28 Diese Konzeptionen sind meist weder inhaltlich noch methodisch auf eine einzige Grundkonzeption rückführbar. Aber schon bei Husserl, der als historischer Begründer der Lebensweltdiskussion zu betrachten ist, sind unterschiedliche Bedeutungen des Terminus auseinanderzuhalten. Rüdiger Welter, der "Husserls mangelnde terminologische Präzision" 29 beklagt, nimmt hiezu eine dreifache Differenzierung vor. Lebenswelt bedeute bei Husserl "(1) das Welträtsel überhaupt, (2) die Kulturumwelten und (3) die kulturumweltinvariante Struktur der Lebenswelt".30 Gemeint ist damit folgendes: Lebenswelt bedeutet für Husserl (1) die geheimnisvolle, schlechthin unüberschaubare und uneinholbare Totalität des Konstitutionsgefüges unserer Wahrnehmung und unseres Denkens, unseres Verhaltens und unseres Handelns, unserer Kulturschöpfungen und unseres Daseins überhaupt. Sie bedeutet (2) — in Einengung der eben genannten Bedeutung — die historisch-kontingente kulturelle Umwelt, in der sich unser (durch diese Umwelt mitkonstituiertes) Wahrnehmen, Denken und Handeln abspielt. Und sie bedeutet (3) den Gegenstand einer vom späten Husserl programmatisch ins Auge gefaßten abstrakt-ontologischen Konzeption: nämlich die formalen 'Weltdinge' ('Onta'), die von einer 'Ontotogie der Lebenswelt' zu untersuchen seien. Da die Lebenswelt (in den Bedeutungen von 1 und 2) nach Husserl in der bisherigen philosophischen Tradition unbeachtet geblieben ist, hält er besagte Lebensweltontologie für ein Desiderat im Hinblick auf die von ihm intendierte vollständige und adäquate 'formale Ontologie'. Stellt man die von Welter genannten Bedeutungen nicht statisch nebeneinander, sondern folgt man dem Fluß der husserlschen Argumentation, so ergibt sich freilich — wenngleich in anderslautender Reihenfolge — ein sinnvoller Zusammenhang. Die Bedeutung (1) ergibt sich aus dem Durchdenken der Bedeutung (2) und die Bedeutung (3)

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Erfahrung, Lebenswelt, Symbolprozeß

— deren Legitimität man allerdings im Rahmen einer methodologischen Kritik an Husserl ernsthaft in Frage stellen kann — sowohl aus (1) wie aus (2). Denn vorerst nimmt Husserl die Lebenswelt — ich folge hier seinen Ausführungen im Krisis-Werk (1936)31 nur als Bereich der alle begrifflich-theoretische Abstraktion fundierenden Anschaulichkeit und der sinnlich-konkreten Wahrnehmbarkeit von Erfahrung in den Blick. Lebenswelt ist fürs erste — gegenüber der methodisch stilisierten Welt der Wissenschaft, der Theorien und Begriffe — die "Welt der wirklich erfahrenden Anschauung" 32 , "die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt — unser alltägliche Lebenswelt". 33 Sie ist — in einer zweiten Perspektivierung — sowohl bedingende 'Umwelt' wie auch 'Sinnfundament' aller spezifizierenden Methodik. In einer dritten Perspektivierung schließlich wird die "als Universum prinzipieller Anschaulichkeit" und als "ein Reich ursprünglicher Evidenzen" definierte Lebenswelt34, die vor ihrer philosophischen Thematisierung "in einem universalen unthematischen Horizont" des "natürliche[n] Leben[s]" zu lokalisieren war 35 , dadurch zum Gegenstand der 'phänomenologischen Wissenschaft', daß man ihr "als dem allgemeinen 'Boden' menschlichen Weltlebens nun ein ausschließliches, konsequent theoretisches Interesse" zuwendet. 36 Der Lebensweltbtgriff — nunmehr als Korrelation von Alltag und Wissenschaft bzw. von Anschauung und Abstraktion verstanden, nicht mehr bloß als der die Wissenschaft fundierende Alltag — wird schlechthin zum We/ibegriff: "Sie ist die raumzeitliche Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren und über die erfahrenen hinaus als erfahrbar wissen. Wir haben einen Welthorizont als Horizont möglicher Dingerfahrung." 37 Und: "[...] die Welt ist das All der Dinge [...], der raumzeitlichen 'Onta'. Somit läge hier die Aufgabe einer lebensweltlichen Ontologie, verstanden als einer konkret allgemeinen Wesenslehre dieser Onta. "38 Dergestalt erweist sich "das vermeintlich bloße Grundlagenproblem der objektiven Wissenschaften [...] als das eigentliche und universalste Problem [der Philosophie]". 39 Husserl hat die in der ifrisw-Schrift programmatisch verkündete ' Lebensweltontologie' nicht wirklich durchgeführt, und es ist mehr als fraglich, ob sie sich mit Husserls transzendentalphilosophischen Prämissen überhaupt durchführen läßt, ob sie sich nicht vielmehr in unauflösliche Widersprüche verstrickt. Husserls zentraler Begriff bleibt nämlich bis zuletzt der Begriff der transzendentalen Subjektivität. Alle philosophischen Fragen führen für ihn "auf das Rätsel der Subjektivität zurück" 40 , und sein philosophisches Hauptmotiv ist das transzendentale "Motiv des Rückfragens nach der letzten Quelle aller Erkenntnisbildungen, des Sichbesinnens des Erkennenden auf sich selbst und sein erkennendes Leben". 41 Der Philosoph soll "zu einem klaren Verständnis seiner selbst als der urquellend fungierenden Subjektivität "42 gelangen. Er zielt also auf "einen radikalen transzendentalen Subjektivismus1,43 ab und damit auf eine Wiederholung der deutsch-idealistischen Intention der Selbstbegründung des Denkens in einer 'letzten Evidenz'. 44 Zwar postuliert Husserl nicht, wie Fichte und Schelling, eine 'intellektuelle Anschauung', wohl aber hält er den Zugang zu einem solch all-fundierenden Selbst-Wissen mit Hilfe seiner phänomenologischen Reduktionsmethode für möglich. Er spricht dabei von der Notwendigkeit "einer totalen Umstellung, einer ganz einzigartigen universalen Epoche ",45

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Doch beschränken sich Husserls Überlegungen zur Lebenswelt — entgegen einem verbreiteten Rezeptionstopos — keineswegs auf sein Spätwerk. Im 9. Kapitel ihres — für die gegenwärtige Husserl-Forschung maßgeblichen — Gemeinschaftswerkes Edmund Husserl: Darstellung seines Denkens (1989) geben die Autoren Bernet/Kern/Marbach eine konzise Zusammenfassung des systematischen Stellenwerts und der Genese der Lebensweltthematik im Gesamtkorpus seiner Schriften. 46 In Opposition zur dualistischen Metaphysik des Cartesianismus — von der er sich freilich niemals völlig befreien wird — will Husserl bereits in den 20er Jahren auf einen der Differenzierung von Natur und Geist vorgeordneten Bereich von Erfahrung zurückgehen, in dem beide Momente der Wirklichkeit "in einem ursprünglich anschaulichen Ineinander" 47 gegeben sein sollen. Dies sei der Bereich der vorbegrifflichen, vorsprachlichen, 'anteprädikativen' Erfahrung: die 'schlichte' oder 'pure' Erfahrung, die 'konkret-anschauliche Welt', die allen methodischen Abstraktionen vorgeordnet sei und deren 'Ursprungsfeld' darstelle. Die "volle Ursprungskonkretion der Welt" könne, meint Husserl, "jederzeit in naiver Ursprünglichkeit erfahren" werden. 48 Hier identifiziert er den Begriff der Lebenswelt mit dem 'natürlichen Weltbegriff'. 49 Später — in den Cartesianischen Meditationen (1931) — identifiziert er die Lebenswelt mit der 'primordialen Welt' oder 'Eigenheitssphäre' des Subjekts. Husserl plädiert für ein Schichtenmodell des Bewußtseins, das noch im einzelnen phänomenologisch zu erforschen sei, und formuliert — in der Vorlesung Natur und Geist von 192750 — dieses Forschungsprogramm so: "Den Weg zu durchmessen, der von der stummen, begrifflosen Erfahrung und ihren universalen Verflechtungen überführt zunächst zur typischen, vagen, ersten Allgemeinheit, die im Alltag genügend ist, und von da zu den echten und wahren Begriffen, wie sie echte Wissenschaft voraussetzen muß." 51 In der genannten Vorlesung stellt Husserl freilich bereits die (rhetorische) Frage: "Ist denn nicht Wissenschaft selbst eine Funktion des Lebens [...]? Ist sie nicht ein Stück selbst der einheitlichen Lebenswelt?"52 — eine Frage, die dann in der Krisis eine Radikalisierung erfährt und dabei auch zu einer Perspektivenverschiebung und einem revidierten Lebenswelt-Begriff führt. Husserl ersetzt das vorhin beschriebene Schichtenmodell des Bewußtseins durch ein quasi-dialektisches oder, wenn man will, ein Regelkreismodell. Er gibt die Vorstellung einer auf die subjektiv-individuelle Wahrnehmung beschränkten 'ursprünglichen' Erfahrung — die stumm, 'vorprädekativ', vorsprachlich, vorwissenschaftlich usw. sein soll — auf und räumt ein, daß das Konzept von begriffsloser Anschauung und abstraktionsfreier Konkretion nicht haltbar sei. Zwar hätten sich die Wissenschaften zweifellos gegenüber dem konkret-subjektiven Leben, dem sie entstammen, verselbständigt und entfremdet — darin liege ihre 'Krisis' und die der gesamten europäischen Kultur als einer von den Wissenschaften durch und durch geprägten —, doch gehörten eben diese Wissenschaften genuin zur Lebenswelt selbst, würden sie durchdringen und bestimmen, so daß diese nicht als eigene, autonome Erfahrungsschicht zu werten sei. Die 'Ontologie der Lebenswelt', die der späte Husserl nicht systematisch ausführt, aber als neu zu schaffende, eigene Disziplin fordert, beansprucht nicht, einen Bereich der Ursprünglichkeit zu erhellen, der als schlechthinniger Beurteilungs- und Wertmaß186

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stab für den sekundären Bereich der wissenschaftlichen Kultur fungieren soll. Diese Ontologie, so Husserl, sei vielmehr eine vorletzte Methodenstufe und sei zu ergänzen durch eine Reflexion auf die — notwendigerweise wieder Abstraktionen stiftende — transzendentale Subjektivität. Der letzte Horizont der Wirklichkeit sei ein Prozeß bzw. ein prozessuales Ineinander von Konkretion und Abstraktion, von Anschaulichkeit und Begriff, von Vorsprachlichkeit und Sprachlichkeit — das "universal leistende Leben, in welchem die Welt als die für uns ständig in strömender Jeweiligkeit seiende, die uns ständig 'vorgegebene' zustande kommt". 53 Das 'lebensweltliche Apriori', von dem Husserl im Zusammenhang mit seiner programmatisch geforderten 'Ontologie der Lebenswelt' spricht, ist also nur sehr bedingt mit der Apriorizität Kants gleichzusetzen. Es meint — der Sache nach — jenen grundlegenden Prozeß des gesamten Lebens, auf den auch Denker wie James, Bergson, Whitehead und Cassirer (in jeweils anderer Terminologie) rekurrieren. Lebenswelt wird so zum Synonym für jene fundamentale Schicht der in sich vielfältigen Wirklichkeit, in welcher die Vielfalt als Synthesis erscheint, die als solche aber nicht in einem Konstitutionsbegriff festgemacht werden kann. Sie als bloß regulative Idee anzusetzen, kann aber ebenfalls nicht befriedigen. Wird der Begriff Lebenswelt nun aber zum Inbegriff des tatsächlichen, konkreten Lebens, zum Inbegriff der aktiven, lebendigen Kultur, zum Inbegriff der prozessualen Wirklichkeit selbst, so verliert er — und dies hat man denn auch Husserl und den ihm folgenden Lebensweltphilosophen ausgiebig zum Vorwurf gemacht — sehr rasch seine Konturen als Erklärungsbegriff. Als Problem- oder Z/e/begriff bleibt er aber dennoch brauchbar, weil er das Verweisungsgefüge von Sein und Schein, von konkreter Anschaulichkeit und abstrakter Begrifflichkeit darstellt und problematisiert. Seitdem der menschliche Geist ausdrücklich über sich selbst nachdenkt, ist das genannte Verweisungsgefüge das philosophische Thema kat exochen, das sich in den verschiedenen historisch-kulturellen Lagen stets in neuer Form, Gewichtung und Dringlichkeit stellt. Es geht dabei stets um zwei miteinander verschränkte Dinge: um das Abarbeiten 'geronnener' Vorstellungen einerseits und um die nähe-rungsweise Freilegung der 'Wahrheit selbst' andererseits. Was die meisten Versionen des Lebensweltbegriffs — bei Husserl selbst und bei den ihm folgenden Lebensweltphilosophen — gemeinsam haben, ist ihre Intention, eine eigene, genuine Erfahrungswelt jenseits, gegenüber, hinter oder über den Abstraktionen der Wissenschaft namhaft zu machen. Die methodologische Frage, ob und, wenn ja, wie diese Welt als eine eigene gedacht und dargestellt werden kann, ist damit freilich noch nicht beantwortet, sondern erst aufgeworfen. Doch dieses Problem kann uns nicht daran hindern, die prinzipielle Zielrichtung und Motivation des Begriffs ernstzunehmen. Festzuhalten ist, daß sich der Lebensweltbegriff der modernen Reflexion auf die Abstraktheit und Verselbständigung begrifflicher und theoretischer Stiftungen bzw. daß er sich der modernen Problematisierung des Verhältnisses von 'Geist und Natur' verdankt. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß der Begriff Lebenswelt — wenngleich noch nicht systematisch — bereits vor Husserl in der sogenannten Lebensphilosophie auftaucht, z.B. bei Simmel, Eucken und Freyer. 54 Diese philosophische Strö-

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mung bemüht sich um eine Abstraktionen- und Wissenschaftskritik. Man kann daher sagen, daß Husserl eine lebensphilosophische Problemstellung aufgenommen und weitergeführt hat. Anknüpfungen an Husserls Lebenswelttheorie und Weiterführungen liegen in den Entwürfen von Schapp und Rothacker, von Schütz und Gurwitsch, schließlich auch in der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas vor. 55 Die genannten Autoren verengen den Lebensweltbegriff freilich zumeist auf eine Dimension der Wirklichkeit. Die Geltung von Lebenswelt wird dann etwa beschränkt auf die narrative Struktur des In-der-Welt-seins, auf eine anthropologische, soziologische oder kommunikationstheoretische Struktur. Im habermasschen System der möglichen Erfahrungs- und Wissensbereiche ist Lebenswelt eine Art Restgröße. Unter ihr wird zusammengefaßt, was sonst in der Konzeption keinen ordentlichen Platz findet. Lebenswelt wird auf Alltag reduziert und fungiert als Depot für theoretisch nicht-elaborierte Einsichten, Praktiken und Geltungsansprüche, die bei Bedarf den wissenschaftlich elaborierten Einsichten, Praktiken und Geltungsansprüchen an die Seite gestellt werden bzw. diese ersetzen. Gegen solch verengende Fortschreibungen der husserlschen Lebensweltthematik ist ins Feld zu führen, daß gerade die Weite und Mehrdeutigkeit des husserlschen Lebensweltbegriffs seine philosophische Relevanz — insbesondere seine Relevanz für einen allgemeinen Erfahrungsbegriff — ausmachen. Die Mehrdeutigkeit besteht darin, daß der Begriff bei Husserl fürs erste jene Schicht der Erfahrung benennt, die den Wissenschaften und ihren Abstraktionen zugrunde liegt, eine Schicht von Wahrnehmung, Begriffsbildung und Denkverhalten, die ursprünglicher und allgemeiner, aber auch anders ist als die wissenschaftliche Abstraktion. Fürs zweite benennt Husserl mit Lebenswelt — ausgehend davon, daß die Wissenschaften auf die besagte Erfahrungsschicht zurückwirken und gemeinsam mit ihr eine Einheit des tatsächlichen Lebens bilden — dieses breite, tatsächliche und vielschichtige Realitätsfeld überhaupt, das als solches in der Regel nicht thematisiert wird, das aber eigens zu thematisieren uns die gegenwärtige kulturelle Problematik — der zu registrierende Verlust der Wissenschaften an 'Lebensbedeutsamkeit' 56 — zwingt. Es ist also eine kontingente, aber unabweisbare historischkulturelle Situation, die Husserl zu einem neuartigen Theorieprogramm veranlaßt. Es geht darum, Ausblendungen der traditionellen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie namhaft zu machen. Die Erkenntnis, daß die so dominant gewordene, Ausschließlichkeit beanspruchende wissenschaftliche Abstraktion mit unserer allgemeinen, unausdrücklichen und vielschichtigen Welterfahrung nicht — zumindest nicht widerspruchsfrei und zur Gänze — übereinstimmt, daß beide irgendwie schief zueinander stehen, führt zum Versuch einer doppelten Anstrengung. Sie führt erstens dazu, daß wir versuchen, von der bislang durch Wissenschaft ausgeblendeten Erfahrungsschicht her Wissenschaft anders und besser zu verstehen, und zweitens dazu, daß wir die wissenschaftliche Abstraktion selbst so weit verfeinern und an die lebensweltliche Erfahrung rückbinden, daß die Gesamterfahrung gesteigert und sich möglichst weitgehend selbst durchsichtig wird. Ich bin in meiner Darstellung der Lebensweltkonzeption und des Konstitutionsproblems der Erfahrung bei Husserl weder all den feinen Verästelungen und Querverbindungen seiner Argumentation gefolgt, noch habe ich die damit verbundenen Methoden-

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Probleme ausreichend diskutiert. Dazu gibt es eine Reihe einschlägiger husserl-exegetischer Untersuchungen. 57 Es ist jedoch festzuhalten, daß der von Husserl in die philosophische Diskussion eingebrachte Lebensweltbegriff den unabdingbaren Ausgangspunkt einer allgemeinen Erfahrungstheorie darstellt — auch dann, wenn diese sich, anders als Husserl, um eine Alternative gegenüber dem transzendentalen Subjektivismus bemüht und nicht allein den Begriff als konstitutives Medium sämtlicher menschlicher 'Erfahrungsgestalten' ansetzt. 58 *

Das Problem der Gesamterfahrung kann, es muß aber nicht unter dem Titel 'Philosophie der Lebenswelt' diskutiert werden. Daß andere Philosophen — wie Heidegger — die Lebensweltthematik mit einer anderen Terminologie verfolgen, ist oftmals und richtigerweise bemerkt worden. 59 Whiteheads Versuch, die gesamte wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Realität als einheitlichen, dynamischen und vielschichtigen Prozeß zu beschreiben, ist hier ebenso anzuführen wie Cassirers Entwurf einer Philosophie der 'symbolischen Formen', die als 'Formen des Weltverstehens' einander sowohl konkurrenzieren als auch bedingen und ergänzen. Will Philosophie die Dimensionalität von Erfahrung schlechthin ausloten, ist sie gezwungen, in irgendeiner Form das hegelsche Programm einer Phänomenologie des Geistes zu wiederholen und die genealogische und systematische Komplexität, die Dynamik, die innere Widersprüchlichkeit und dennoch konzeptionelle Einheit des 'Geistes', d.h. des Bedeutungen stiftenden und sich selbst reflektierenden menschlichen Weltverhaltens, zu thematisieren. Derartige Versuche, die Erfahrung gleichzeitig in ihrer abstrakten Allgemeinheit und in ihrer konkreten Vielfalt darzustellen, scheinen — und sowohl Empirismus/Positivimus wie die transzendentalphilosophischen Ansätze (in der Spannweite zwischen Kant und Hegel) liefern dafür beredte Beispiele — vor folgendem Dilemma zu stehen: Entweder man betreibt eine sehr naive Phänomenologie, die die natürliche Gegebenheit von Erfahrung(en) für das menschliche Bewußtsein annimmt, oder man setzt apriorische Bewußtseinsstrukturen voraus, die jede Art von Erfahrung erst formen, filtern und verändern. Beide Ansätze enthalten 'wahre Momente', sind aber insgesamt mit der tatsächlichen Erfahrung nicht völlig kompatibel. Beide stellen vereinfachende Modelle dessen dar, was wir tatsächlich wahrnehmen und denken. Sie bilden vorläufige, einander ergänzende Orientierungsgerüste, mit deren Hilfe wir dem Erfassen des tatsächlichen Wahrnehmens und Denkens näherkommen können. Aporetisch sind sie aufgrund ihrer jeweiligen Einseitigkeit und aufgrund ihrer statischen Perspektive, d.h. sie nehmen immer nur bereits 'fertige' Gestalten — Gegenstände und Strukturen — wahr, beachten aber nicht die Dynamik und den Prozeß, in welchem diese Gegenstände und Strukturen entstehen (und vergehen). Hält der — stets mehr oder weniger einem naiven Realismus das Wort redende — Empirismus/Positivismus das menschliche Bewußtseinskonstrukt für die Wirklichkeit selbst, so verdrängt der Transzendentalphilosoph — zumindest tendenziell — stets die Dimension der 'Wirklichkeit als solcher', indem er sie nur im methodisch vorgefertigten (und phänomenologisch keineswegs gerechtfertigten)

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Zirkel 'reiner' apriorischer Bewußtseinsstrukturen begegnen läßt. Was in beiden Fällen aus dem Blick gerät, ist der lebensweltlich-kontingente Prozeß des Konstruierens, der adäquaterweise weder als bloßes Material noch als bloße Form interpretierbar ist. Während ein naiver Objektivismus in der gegenwärtigen Methodendiskussion eher selten verfochten wird, ist die transzendentalphilosophische Argumentation — die ein universales, gleichbleibend strukturiertes, somit kultur- und geschichtsunabhängiges Bewußtsein als Norm alles Denk- und Erfahrbaren unterstellt — sehr einflußreich und wird weitgehend als selbstverständlich akzeptiert. Sie operiert mit der Dichotomie von chaotischer Sinnlichkeit und ordnungsstiftendem Intellekt. Erfahrung (und, dazu analog, Natur) gibt es demnach nur zum einen in der gänzlich unfaßbaren Weise chaotischer Empfindung, die 'blind' bleiben muß, und zum anderen in der durch Anschauung und Verstand immer schon regelgeleiteten, domestizierten Weise, in der jedoch Erfahrung (bzw. Natur) nicht mehr 'als solche' erscheint, sondern in der die apriorische Vernunft sich vielmehr nur selbst bespiegelt. Demnach haben 'Erfahrung' und 'Natur' bei Kant einen 'domestizierten', d.i. strikt bewußtseinsabhängigen, regelgeleiteten Sinn und sind begrifflich klare, aber phänomenologisch fragwürdige philosophische Termini. Das kantische Verständnis von Erfahrung und Begriffsbildung — daß apriorische Denkformen, und nur sie allein, der sinnlichen Erfahrung Gestalt und Bewußtsein geben können —• hält, wie zu zeigen sein wird, einer phänomenologischen Analyse nicht stand. Ist dieses Erfahrungs- und Begriffsbildungsmodell jedoch obsolet, so steht auch das transzendentalphilosophische Rationalitätsverständnis — das (wie auch immer modifizierte) Schichtenmodell von Anschauung, Verstand und Vernunft — zur Disposition. Die über dieses Problem angestellten Reflexionen einiger Denker der Lebensphilosophie, des Pragmatismus, der phänomenologischen Schule und anderer Richtungen zeigen jedoch Alternativen zum transzendentalphilosophischen Modell auf. Der Erfahrungsbegriff, den die besagten Denker ansetzen, und ihre Phänomenologie der Verbegrifflichung von Erfahrung eröffnen darüber hinaus — zumindest ansatzweise — auch die Perspektive eines angemessenen Begriffs von Rationalität.

1.2.2 Das Konstitutionsproblem der Erfahrung in den Philosophien von James, Bergson, Whitehead und Cassirer Im folgenden skizziere ich vier philosophische Positionen, die sich — aus kritischer Distanz sowohl zu naiv-empiristischen wie zu transzendentalphilosophischen Erfahrungstheorien — mit den Fragen der Wahrnehmung (als der primären Schicht von Erfahrung) und der Struktur genese von Rationalität (als der Organisationsstruktur von Erfahrung) auseinandersetzen. Diese Positionen stehen untereinander nicht nur in einem systematischen, sondern z.T. auch in einem genetischen Verweisungszusammenhang. So schließen z.B. die Erfahrungskonzeptionen von Bergson und Whitehead eng an James' radical empiricism an, und Cassirer (wie übrigens auch Husserl) bezieht sich immer wieder — vor allem im unveröffentlichten Nachlaß — auf Bergson. Auch James betont, von

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Bergson gelernt zu haben. Gemeinsam ist all diesen Positionen die Thematisierung der lebensweltlichen Grundproblematik — nämlich des zu eruierenden 'gemeinsamen Bodens' von wissenschaftlicher und alltäglicher Erfahrung. Inhaltlich stehen diese Positionen also in der Nähe der Lebenswelttheorie Husserls, sie weichen von dieser jedoch insofern ab, als sie sich viel entschiedener von dem (bei Husserl trotz aller Anstrengung keineswegs überwundenen) transzendentalphilosophischen Paradigma entfernen, das den Subjekt-Objekt-Dualismus festschreibt. 60 Man wendet sich — kontrastiv zur szientistischen und positivistischen Philosophie — gegen den universalen Normanspruch wissenschaftlicher bzw. wissenschaftstheoretischer Begrifflichkeit, aber auch — kontrastiv zur populären Lebensphilosophie — gegen eine Abwertung von Wissenschaft zugunsten einer angeblichen (und de facto immer schon zurechtstilisierten) 'Ursprünglichkeit' (die, je nachdem, in Alltag, Kunst oder Religion angesiedelt wird). Man versucht, die 'ursprüngliche' Erfahrung — die den kulturellen, sprachlichen, theoretischen Differenzierungen vorausliegt bzw. all diesen Differenzierungen gemeinsam ist — gleichzeitig zu den Differenz-Erfahrungen zu denken und nicht, wie es Husserl, vor allem aber auch die romantische Philosophie vorgeführt hat61, Ursprung und Differenzierung gegeneinander auszuspielen. Die beiden wesentlichen Vorstellungen, mit denen diese alternativen Positionen arbeiten, sind einerseits: der kontingente 'Fluß' bzw. 'Prozeß' der Erfahrung, und andererseits: die (ebenfalls kontingente) Symbolizität — und d.h. Nichtsubstantialität — seiner 'Gestalten' bzw. der in ihm auftauchenden und sedimentierenden Begriffe. Die Synopsis beider Vorstellungen — der gemäß der Erfahrungsprozeß als Produktion von Symbolik und diese nicht als statische Zuordnung von Signifikant und Signifikat zu begreifen ist, sondern selbst als (lebensweltlich bedingter) Veränderungsprozeß - führt zu einer dynamischen Theorie der Bedeutung. Die zu skizziernden vier Positionen sind exemplarisch. Wollte man die systematische Tendenz, der sie verpflichtet sind, in philosophiegeschichtlicher Breite nachweisen, müßte selbstverständlich noch eine ganze Reihe anderer Philosophen mitberücksichtigt werden. Zu beginnen wäre dabei historisch spätestens mit Nietzsche, der unter den 'großen' modernen Denkern sicherlich der erste ist, der die Wissenschaft insgesamt als kulturelles Problem begriffen hat. In seinen Lösungsvorschlägen zeigt sich Nietzsche allerdings nicht konsequent. Während er in seinem Frühwerk die Kunst als eine Möglichkeit postuliert, der Entfremdung des Lebens durch Wissenschaft Paroli zu bieten und auf ihrem ('dionysischen') Boden die in der Zivilisation auseinanderstrebenden Kräfte in eine sie fundierende Einheit zurückzubinden, setzt er in der 'mittleren Periode' seines Denkens, aber auch im Spätwerk auf eine unbegrenzte Eskalation des wissenschaftlichen Geistes (den er als spezielle Form, keineswegs jedoch als Gegensatz zu seiner Machtwillenlehre betrachtet). 62 Wissenschaft habe sich allerdings selbst auf die in ihr und durch sie wirkenden Zwecksetzungen zu reflektieren, die Nietzsche auf 'das Leben' als letztes Motiv und letzten Horizont allen Denkens und Theoretisierens ausgerichtet sieht. Sofern es 'dem Leben' dient, hat sich das Denken auch vor seiner, des Denkens, Verselbständigung und Auswucherung zu bewahren. Wenn es sich daher selber begrenzt, tut es dies als Akteur und Sachwalter 'des Lebens'. 63 Nietzsche macht folgen-

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den Sachverhalt klar: Das philosophische Denken, das sich der fundamentalen und vielfältigen Welterfahrung als solcher verpflichtet weiß, kann sich nicht jenseits der Wissenschaft etablieren (weder in einer genuin eigenen Sphäre noch etwa — wie noch im Frühwerk gedacht — in der Sphäre der Kunst), es kann sich aber auch nicht mit der Wissenschaft identifizieren. Das philosophische Denken oszilliert daher zwischen den Selbstverständnissen von Wissenschaft, Kunst, Alltag und Religion und ist insofern ein Diskurs der 'Grenze' und des 'Zwischen'. So wird denn der Wechsel der Perspektiven — Perspektivismus als Prinzip 64 — vom späten Nietzsche auch konsequenterweise zur philosophischen Methode und (in naturalistischer Translozierung) zum Realitätsprinzip erklärt. Gemäß diesem Perspektivismus gibt es viele Erfahrungen, die 'das Leben' selbst hervorbringt und die das menschliche Denken in höchst unterschiedlicher Weise verbegrifflicht (und d.h. auch: in eine Lebensform mit einbringt). Es gibt aber keine universale, all diesen Erfahrungen vorgeordnete und sie systematisierende Vernunft. Daß Nietzsche alles Geschehen als Ausdruck des Machtwillens interpretiert, stiftet keine neue Vernunftordnung, die von einem höchsten Prinzip geleitet würde. Denn der Wille zur Macht — dies ist seit den Arbeiten von Müller-Lauter in der Nietzsche-Forschung so gut wie unbestritten 65 — ist nicht als ein universaler Logos konzipiert, sondern als eine Qualifizierung einzelner Lebewesen und Lebens'quanten', die deren dynamische Bewegung kennzeichnet, nicht jedoch die Heterogenität allen Seins, Erkennens und Sichverhaltens außer Kraft setzt. In der Tendenz, Lebenswelt als gemeinsamen Hintergrund von wissenschaftlichem und nichtwissenschaftlichem (alltäglichem, religiösem, künstlerischem etc.) Denken zu thematisieren, begegnen sich aber auch Heidegger und (der späte) Wittgenstein.66 Auch für sie trifft die bei Nietzsche rekonstruierbare doppelte Frontstellung gegenüber Szientismus einerseits, gegenüber naivem Alltagsrekurs andererseits zu. Das in seiner Intentionalität (die sich in der 'Sorgestruktur' ausdrückt) dynamische 'Dasein' Heideggers ist ein sowohl der wissenschaftlichen wie der alltäglichen Verfassung des Subjekts vorgeordnetes philosophisches Konstrukt, das nur in sehr begrenzter Weise als Transformation des kantischen Apriori bzw. des transzendentalen Subjekts gelesen werden kann. Beim späten Heidegger — der den Menschen als 'Sterblichen' in der Bewegung des 'Gevierts' ansetzt — kann von einer aprioristischen Konstitution ohnehin nicht mehr gesprochen werden. — Wittgenstein wiederum transloziert das Erfahrungsproblem auf die Ebene der Sprachlichkeit. Für ihn konstituiert sich der Sinn menschlicher Weltorientierung im Zuge der Entstehung und des Gebrauchs von Sprachspielen, die ihrerseits in kontingenten Lebensformen gründen. Auch diese Sprachphilosophie bewegt sich ganz entschieden in einem Jenseits zu transzendentalphilosophischen und empiristischen Erkenntnisansprüchen. Schließlich ist noch auf weitere verwandte Positionen zu verweisen, z.B. die von Merleau-Ponty67, der sich gleichermaßen auf Husserl wie auf Cassirer beruft.

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Erfahrung, Lebenswelt,

1.2.2.1

Symbolprozeß

James

Die erste der exemplarisch zu behandelnden Positionen ist der 'radikale Empirismus' (radical empiricism) des amerikanischen Philosophen William James.6S Dieser in den philosophiegeschichtlichen Darstellungen — natürlich zu Recht 69 , aber in solcher Interpretation auch unzureichend 70 — dem Pragmatismus zugeordnete Denker, der insbesondere von der europäischen Lebensphilosophie stark rezipiert wurde, kann nur sehr vordergründig in die Tradition des klassischen Empirismus eingereiht werden, denn das Epitheton 'radikal' unterscheidet seinen 'Empirismus' signifikant sowohl vom alten englischen Empirismus wie vom Neoempirismus etwa des Wiener Kreises, aber auch vom Empiriokritizismus eines Mach und Avenarius. James' Eigenetikettierung als 'radikaler Empirist' dürfte vor allem in seiner Opposition gegenüber dem amerikanischen 'Transzendentalismus' des 19. Jahrhunderts begründet sein — in einer Opposition, die James auch gegenüber dem Terminus 'Metaphysik' (den Bergson und Whitehead dann wieder sehr ungeniert gebrauchen werden) mißtrauisch macht, reden die Transzendentalisten doch von Wissenschaft und Metaphysik als von zwei deutlich voneinander zu trennenden Diskursen. 71 Eine solche Trennung aber stellt — in James' Sicht — bereits die Weichen für eine dualistische Ontotogie, die er bei Descartes und Kant, im Ansatz auch bei Hume ortet und die ihm insgesamt als inakzeptabel erscheint. Geist und Materie, Bewußtsein und Bewußtseinsinhalt betrachtet er ausdrücklich als sekundäre und bloß 'funktionale' (also nicht ontologisch gültige) Unterscheidungen innerhalb der einen, aber in sich pluralen Wirklichkeit, die uns in 'reiner Erfahrung' (pure experience) gegeben sei. Der radikale Empirismus, so James, habe zwei methodische Vorgaben zu erfüllen: Jedes Konstruktionselement, mit dem er arbeite, müsse in unmittelbarer Erfahrung aufweisbar sein, und kein in der Erfahrung gegebenes Element dürfe unberücksichtigt bleiben. 72 Selbstverständlich ist ein so strenges methodologisches Programm — vor allem in seinem zweiten Teil — in praxi kaum erfüllbar, doch zeichnet es einen Rahmen der Betrachtung vor, der sowohl über den Dualismus der Transzendentalphilosophie (die die Konstruktionsleistungen des Bewußtseins ontologisch festschreibt und verabsolutiert) wie über den naiven Gegenstandsbezug des traditionellen Empirismus (der die Konstruktionsleistungen ignoriert und das Konstruierte in platte 'Gegebenheit' ummünzt) hinausführt. Auch die Konstruktionselemente — Begriffe, Kategorien, Relationen — seien als Momente der Erfahrung selbst — nicht als deren ontologisch Anderes, nicht als ein von außen Hinzukommendes, nicht als ein Apriori — zu werten. 73 Auch sie seien, wie das in Empfindungen und sinnlichen Vorstellungen vorbegrifflich Vorfindbare, gleichzeitig mit der 'reinen Erfahrung' gegeben: "[...] the relations that connect experiences must themselves be experienced relations". 74 Diese Gleichzeitigkeit bedeutet nicht Apriorizität. Der reine Erfahrungsfluß als solcher existiert als Voraussetzung der Erfahrungsrelationen, er existiert aber nicht für sich allein. Er läßt sich also nicht gegenüber den Relationen isolieren und läßt sich nicht sui generis begreifen, sondern nur als jener Prozeß, der die Relationen hervorbringt und sich in ihnen repräsentiert, ohne daß Spannung und realer Unterschied zwischen ihm und den Formen seiner

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Repräsentation aufgehoben würde. Anders gesagt: Man muß (vermittels Repräsentation) aus dem Fluß heraus, aber auch wieder — da man bei der Repräsentation nicht stehenbleiben kann (sie ist niemals ein Schlußpunkt, sondern immer nur eine vorläufige Wegmarke) — in ihn zurück. Nicht die Repräsentation selbst, wohl aber das Zusammenspiel von Repräsentation und Fluß (von Erfahmng&organisation also und von reiner Erfahrung, wobei sich jene aus dieser ergibt) macht das Insgesamt der Erfahrung aus. Diese 'reine Erfahrung', auf die also jeglicher Wirklichkeitsbezug des Menschen zurückgeführt wird und in die jede Art von Wahrnehmen und Denken einmünden soll, erscheint nun vorderhand freilich als eine seltsame black box, als eine — um Hegels gegen Schelling gerichtetes Diktum zu bemühen — 'Nacht der schwarzen Kühe', in der alles eins und ununterscheidbar zu werden droht. In einer ersten Annäherung nennt James die 'reine Erfahrung' — in einer freilich nicht sehr eleganten Terminologie — einen ersten und universalen 'Stoff: "[...] there is only one primal stuff or material in the world, a stuff of which everything is composed, and [...] we call that stuff 'pure experience'". 75 Die weitere Explikation zeigt aber — trotz ein paar dabei einzuräumender methodischer Schwierigkeiten —, daß es sich um ein durchaus begreifbares Phänomen und um eine kohärente und nachvollziehbare Argumentation handelt. Nachvollziehbar ist sie allerdings nur, wenn man bereit ist, gegenüber den durch Transzendentalphilosophie und/oder Empirismus suggerierten Selbstverständlichkeiten in der Orientierung des Denkens einen Paradigmenwechsel zu vollziehen und insbesondere die Vorstellung der Dichotomie von Form und Stoff zu verabschieden. Was ein Verständnis des neuen Paradigmas zweifellos erleichtert, ist die Vergegenwärtigung des Grundproblems, von dem her James' gesamte Philosophie — nicht nur die hier behandelte Konzeption des radikalen Empirismus — motiviert wird. Dieses Grundproblem besteht — ich folge der Darstellung von Eilert Herms76 — darin, daß James in der geistigen Situation seiner Zeit und in seinem eigenen Denken einen unbefriedigenden Dualismus vorfindet, der nicht ohne weiteres in eine harmonisierende Duplizität überzuführen ist, aber dennoch nach einer Synthese verlangt: den Dualismus persönlicher Selbstgewißheit und Freiheit einerseits und naturwissenschaftlicher Weltgewißheit und Determiniertheit andererseits. Die Erfahrung von innerer und äußerer Welt, von Subjektivität und Objektivität, von Mensch und Natur, von introspektivem und rechnendem Denken zerfällt in zwei unvereinbar scheinende Dimensionen. Während die Transzendentalphilosophie diese Unvereinbarkeit begrifflich-theoretisch festschreibt oder mit allzu künstlichen Konstruktionen zu überbrücken sucht, geht der alltägliche 'gesunde Menschenverstand' nach wie vor von einer Einheit unserer Erfahrung aus und hält an dieser Einheit fest. Das Festhalten geschieht freilich auf die Weise, daß das Alltagsdenken auf eine theoretische Elaboration des Einheitsgedankens verzichtet, festzustellende Disparitäten in der Gesamterfahrung pragmatischerweise nicht weiter verfolgt und demgemäß auch nicht weiter problematisiert. Während also der 'gesunde Menschenverstand' der heterogenen alltäglichen Bedeutung von Erfahrung folgt, hat sich der — um innere Konsistenz bemühte — philosophische Erfahrungsbegriff in ein abstraktes, theorieabhängiges Konstrukt verflüchtigt. Für James stellt sich nunmehr die Frage, ob eine philosophische Rekonstruktion der Erfahrungseinheit —

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die keine bloße Abstraktion darstellt (wie dies im absoluten Idealismus geschieht), sondern die lebendige, alltägliche Erfahrung auf den Begriff bringt — möglich ist. Diese Möglichkeit wäre dann gegeben, wenn es gelänge, eine gemeinsame Datenbasis aller Erfahrungswissenschaften (also sowohl der Geistes- wie auch der Naturwissenschaften) nachzuweisen. Diese gemeinsame Datenbasis scheint James — und damit kehren wir zum Ausgangsthema zurück — auf der Ebene der 'reinen Erfahrung' tatsächlich gegeben zu sein. Es muß sich um eine Ebene handeln, auf der sich die begrifflichen Gegensätze von Freiheit und Notwendigkeit, von Form und Stoff, von Bewußtsein und Bewußtseinsinhalt etc. neutralisieren lassen. Die Darstellung von Herms, der ich bislang gefolgt bin, dürfte freilich den letztgenannten Aspekt — nämlich daß James theoretische Fragen stellt, die er dann ebenfalls theoretisch beantworten muß — zu stark betonen. Denn die Konzeption der 'reinen Erfahrung' ist nicht einzig und allein eine aus dem kulturellen Krisenbewußtsein des 19. Jahrhunderts erwachsene und insofern 'ideologische' Theorieantwort auf ein historisches Theorieproblem, sondern nicht minder auch eine allgemeingültige sachlich-phänomenologische Beschreibung von Erfahrung und Bewußtsein. James beginnt seine Charakterisierung der 'reinen Erfahrung' mit dem Dementi einer idealistischen Selbstverständlichkeit: mit der Verneinung des Bewußtseins als selbständiger ontologischer Größe. In dem die Essays in Radical Empiricism einleitenden Aufsatz "Does Consciousness Exist?"77 wird die Titelfrage polemisch mit Nein beantwortet, denn Bewußtsein sei "the name of a nonentity, and has no right to a place among first principles". 78 Der Bewußtseinsbegriff sei ontologisch konnotiert. Er impliziere stets die Dualität von Bewußtsein versus Bewußtseinsinhalt, Bewußtsein versus Sinnlichkeit/Erfahrung, und es sei daher besser, ihn ganz fallenzulassen. Wenn man den Bewußtseinsbegriff nur noch fiinktional verstehe, sei er zwar legitim, doch spricht James nunmehr lieber von 'knowing' als von 'consciousness'. 'Knowing' als Funktion aber, meint er, sei nicht die einzige und auch nicht die primäre, sondern eben nur eine unter vielen Funktionen und Aspekten der Erfahrung. Es sei also nicht das Bewußtsein (verstanden als apriorisches Instrumentarium), das einzig und allein den Zugang zur Erfahrung — u.zw. in einer stets schon verbegrifflichten Form —• ermögliche, sondern es sei die Erfahrung selbst, die, wenn wir uns auf sie einlassen, sich uns repräsentiert und dabei auch jene repräsentierende Vermittlung, die wir als 'Bewußtsein' bezeichnet haben (aber lieber als 'knowing' bezeichnen sollen), als Erfahrungsakt deutlich macht. Es ist nach James unerheblich, ob wir vorläufig bei einer subjektiven oder objektiven Perspektive der 'reinen Erfahrung' ansetzen, um diese als ein Gesamtgeschehen in den Blick zu bekommen. Von Belang ist nur, ob wir dieses Gesamtgeschehen in seinem typisch-vielfältigen Charakter adäquat zu begreifen und damit die aus der kulturellen Tradition übernommenen inadäquaten Realitätskonzeptionen abzubauen vermögen. Wir können uns also nicht auf einen aller kontingenten Erfahrung vorgeordneten fixen Ausgangspunkt des Denkens stützen, sondern müssen mitten in der vielfältig-konkreten Erfahrung ansetzen und sie uns von hier aus in ihrem allgemeinen Schema schrittweise erarbeiten.

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Dieses allgemeine Schema von Erfahrung kann natürlich nicht die jeweils-individuelle, jeweils-konkrete Erfahrung selbst sein, sondern sie ist deren Abstraktion, die jedoch nicht über dem Konkreten — als ein kategorial Anderes oder gar apriorisch Vorgeordnetes — steht, sondern die, selbst eine konkrete Erfahrung darstellend, an die vorhergehende Konkretion anschließt und, diese in neuer Form repräsentierend, 'überholt' (supersedes). Dies geschieht in einem 'Übergang' (transition) der einen Erfahrung in die nächste und ist ein 'Ereignis' (event). Das Insgesamt der 'reinen Erfahrung' beschreibt James — indem er die subjektivistisch-psychologische Vorstellung des 'reinen Bewußtseinsstromes' auf eine naturalistisch-ontologische Ebene transloziert — als 'Fluß' (flux). Aus ihm heben sich 'Gestalten' und 'Relationen' heraus, kontinuierliche und diskontinuierliche, die in vielfacher und oft komplexer Weise miteinander verbunden sind. Ihr Gewahrwerden ist jenes Ereignis, in dem eine Erfahrung — sei es eine der Sinnesempfindung oder auch eine Erfahrung des davon losgelösten, verselbständigten Denkens — tatsächlich da ist. Dieses Ereignis ist stets der Übergang von einer Erfahrung in eine andere, indem jene von dieser 'überholt' wird. Das 'Überholen' (supersede) geschieht entweder als Abbrechen der alten Erfahrung oder als deren Fortführung im Sinne von Wiederholung bzw. Transformation, es geschieht somit als Diskontinuität oder als Kontinuität. Den Übergang denkt James — sowohl im Bereich des Intellekts wie im Bereich der Natur (d.i. der vom Intellekt unabhängigen Wirklichkeit) — als einen sowohl in seinem Daß wie in seinem Was kontingenten Akt, genauer: als freien Willensakt. 79 Die Zielrichtung dieser Beschreibung besteht offensichtlich darin, daß James mechanistische und deterministische Vorstellungen über die Realität abzuwehren versucht. 80 Die Einheit bzw. Gesamtheit der 'reinen Erfahrung' — James redet in der Folge lieber vom Plural der 'reinen Erfahrungen' — ist also weder eine substantielle noch eine transzendentale Konstruktionseinheit, sondern ein real-vielfältiger, in sich heterogener Entwicklungsstrom. 81 Reine Erfahrung ist fürs erste, nimmt man sie als bloßen, zeitenthobenen Punkt, ein einfaches 'Daß' bzw. 'Dieses' (a simple 'that'). Sie zeigt sich als Erfahrung erst in der Bewegung des Übergangs, indem sie kontrastiv-diskontinuierlich durch eine neue Erfahrung abgebrochen oder analog-kontinuierlich in einer neuen Erfahrung fortgesetzt, wiederholt und neu repräsentiert wird. Es sind somit die 'Ränder' (edges) der Erfahrungen, die sie als Erfahrungen erfahrbar machen. Somit fungiert eine Erfahrung stets gleichzeitig als terminus ad quem und als terminus a quo. Sie ist "the last term of a train of sensations, emotions, decisions, movements, classifications, expectations etc., ending in the present, and the first term of a series of similar 'inner' operations extending into the future [...]". 82 Eine Erfahrung verbindet und trennt gleichermaßen stets das Außen (die Natur) und das Innen ('knowing') des Erfahrenden, und sie verbindet und trennt gleichermaßen die Zeitdimensionen Vergangenheit und Zukunft. Deren Ineinandergreifen wird in der Erfahrung ebenso deutlich wie das Ineinandergreifen räumlicher Dimensionen (des Außen und Innen, des Hier und Dort). In der Erfahrung werden gleichermaßen Kontinuität wie Diskontinuität, Identität wie Differenz dieser Dimensionen erfahren. 83

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Symbolprozeß

James' Ontologie der reinen Erfahrung erinnert in ihrem Duktus sowohl an die naturalistische Theorie der 'Machtwillensquanten' beim späten Nietzsche 84 als auch an die rezente Diskussion über Chaostheorie und Autopoiesis. Daß Erfahrungen sich kontingent auf-, an-, neben- und nacheinander folgend selbst organisieren, steht nicht im Widerspruch dazu, daß sie sich vielfach von Zwecken leiten lassen, daß sie also — phänomenologisch gesprochen — intentional sind. Die Möglichkeit, daß sich Absicht und Resultat des Denkens in der Handlungswelt menschlicher Erfahrung restlos decken würden und somit ein Determinismus durch die Hintertür wiedereingeführt wäre, wird durch das Grundprinzip der Kontingenz vereitelt. Intention und Resultat einzelner Erfahrungen und Handlungen produzieren somit eine Differenz, die ihrerseits die Kontingenz stets neu reproduziert. Dennoch ist das Erfahrungsfeld insgesamt kein 'reines' Chaos und das Handeln kein schrankenloses 'anything goes', es ist vielmehr in gewisser Weise immer schon vorstrukturiert. Indem Erfahrung nicht bei einem starren Nullpunkt anfängt — der 'reine Fluß' der Erfahrung und ihr 'simple that' erweisen sich im Fortgang der Erfahrung als eine über sich selbst hinausweisende Übergangs-Gestalt 85 —, geschieht sie als eine dynamische Ordnung, die wir zwar nicht total überblicken, in die wir aber erfahrend-handelnd einsteigen, in der wir kreativ mit- und weiterwirken, die wir somit mitgestalten können. Wenn wir auf solche Mitgestaltung verzichten, verblassen alte Erfahrungen und werden durch neue nicht fortgesetzt. Lassen wir uns jedoch auf Mitgestaltung ein, dann überholen wir alte Erfahrungen, indem wir neue produzieren, d.h. wir erhalten, transformieren und erweitern die schon gemachten Erfahrungen und erhalten sie in lebendiger Spannung. Dies ist für James der wesentliche Punkt, der für ihn auch die Kategorien des Neuen und des Schöpferischen erschließt. Diese sind nur möglich durch ständiges Sich-Einlassen auf Erfahrung, indem viele und verschiedene Erfahrungen aufgenommen, kombiniert, integriert und weitergeführt werden. Diese Leistungen des Anschlusses, der Integration, der Kontinuität und der Transformation von Erfahrungen sind, wie schon erwähnt, Leistungen des 'Überholens'. Das Prinzip dieses Überholens ist das Prinzip der Repräsentation — und damit auch des Bewußtseins (bzw. 'knowing') und der Verbegrifflichung und Theoretisierung von Erfahrung. Das Bewegungsmuster des 'Überholens' gilt für das Verhältnis zwischen (bewußtseinsunabhängigen) Realvorgängen in der Natur genauso für das Verhältnis zwischen Natur- und Denkvorgängen, aber auch für das Verhältnis zwischen einzelnen Denkvorgängen. Es gilt also auch dann, wenn wir in der Betrachtung "from percepts to concepts, or from the case of things presented to that of things remote" 86 fortschreiten. Durch das 'Überholen' einer Erfahrung (bzw. eines Naturvorgangs) Α vermittels einer Erfahrung (bzw. eines Naturvorgangs) Β spiegelt und erneuert sich A in B. Ein Spezialfall dieser allgemeinen Erfahrungs-Funktion des 'Überholens' ist das Denken (knowing), das das Gedachte — die vorhergehende Erfahrung — nicht einfach abbildet, sondern sie in zwar regelgeleiteter, keineswegs aber determinierter Weise 'überholt'. Das in sich noch nicht determinierte und somit stets kontingente 'Überholen' ist also das Prinzip der Repräsentation, und diese ist somit stets ein geschichtliches Ereignis und ein unvorhersehbarer Übergang zwischen Kontingenz-Gestalten. Auch Denken ist ein

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Ereignis und ein Übergang und somit ein Element des vielfältig-unvorhersehbaren, stets neu und schöpferisch sein könnenden 'Flusses' der Erfahrung. Es ist von keinem 'anderen Stoff als das Gedachte, sondern Anschlußleistung an dieses. Als eine solche Anschlußleistung kann Denken gegenüber der vorangehenden Erfahrung stagnieren, sich verselbständigen, kann abbrechen. Es kann aber auch weitere Erfahrungen integrieren und überholen, kann Erfahrungen (und sich selbst — als eine Erfahrung) weitertreiben und organisieren, kann somit als Element der Diskontinuität oder der Kontinuität wirken. Was in dieser Beschreibung des allgemeinen Schemas von Erfahrung freilich nicht geleistet wird, ist eine Operationalisierbarkeit von wahr und falsch. Eine Unterscheidung wirklicher von nur vorgespiegelten Erfahrungen scheint hier nur schwer möglich, wenn nicht gar ««möglich zu sein. Gezeigt wird nur, wie Erfahrung — gelingend und mißlingend, akkumulierend und zerplitternd — zustande kommt, abläuft, sich fortsetzt oder auch verschwindet. Gezeigt — oder, vorsichtiger gesagt, postuliert — wird, daß (a) das Denken und die vom Denken unabhängige Wirklichkeit dem gleichen ontologischen Bewegungsmuster folgen, daß (b) auch vor dem menschlichen Denken schon Repräsentation stattfindet und daß (c) dieses menschliche Denken von keinem 'anderen Stoff' ist als das Repräsentationsgeschehen in der Natur. Jede Repräsentation ist eine reale, d.h. ontologisch gültige Anschlußleistung, ist eine neue Erfahrung, die das Gefüge bzw. den Fluß der Gesamterfahrung beeinflußt und verändert. James beansprucht, in einem neuen philosophischen Paradigma zu denken 87 , das die kategorial-ontologische Trennung von Bewußtsein und Realität und somit den transzendentalphilosophischen Dualismus — ebenso wie den naiven Objektivismus der alten Empiristen — hinter sich läßt. Der Erfahrungsbegriff des radikalen Empirismus kennt kein 'Anderes' der Erfahrung, er kennt vor allem keine der Erfahrung angeblich vorgeordnete eigene Welt der Kategorien bzw. keine Welt einer autonomen Rationalität. Auch Begriffe sind für ihn Erfahrungsmomente, und der Prozeß der Verbegrifflichung von Erfahrung ist für ihn ein spezieller Modus des allgemeinen Erfahrungsprozesses. Damit löst sich Denken nicht in Erfahrung auf, es wird vielmehr aus der Erfahrung — und als Erfahrung — verstanden. Da Denken jedoch eine — das heißt also: nicht die einzige — Erfahrung und Repräsentationsform von Erfahrung darstellt, haben neben dem Denken auch andere Repräsentationsformen systematisch Platz, und sie haben daher auch Anspruch auf (philosophische) Legitimation. In seinem Werk The Varieties of Religious Experience hat James eine solche Legitimation für die Religion dargelegt. 88 Erfahrung begegnet uns nach James also nur in Form einer Repräsentation von Erfahrung. Anders gesagt: Erfahrung ist Repräsentation, doch stellt diese keine statische Form bzw. kein Ensemble statischer Formen dar, sondern einen Transformationsprozeß. Das Repräsentierte ist kein Selbständiges gegenüber der Repräsentation, so daß auch 'Bewußtsein' (sofern dieser Terminus beibehalten wird) nicht mehr getrennt von Bewußtseinsinhalten begriffen werden darf. In dieser Weise 'überholt' James mit seinem radikalen Empirismus das Apriorismuskonzept der Transzendentalphilosophie, und er reformuliert das vormals in einem ontologischen Dualismus von 'Vernunft versus Erfahrung' thematisierte Erfahrungsproblem im Alternativmodell der 'reinen Erfah-

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Erfahrung, Lebenswelt,

Symbolprozeß

rung' (deren 'Reinheit' also mit Kants 'reinem Denken' nicht kompatibel ist). Dieses Modell ermöglicht, die Denkweisen des Alltags, der Wissenschaft, der Religion und — potentiell — auch anderer Lebensbereiche sowohl in ihrer jeweiligen, konkreten Andersheit wie auch in ihrer ontologischen Gemeinsamkeit anzuerkennen. Das Modell ermöglicht es aber auch anzuerkennen, daß zwischen diesen Bereichen jederzeit Anschlußund Integrationsleistungen möglich sind. Wenn wir von Subjekt und Objekt, vom 'Leben selbst' und von seinen veräußerlichten 'Formen' reden, dann klassifizieren wir die Erfahrung in sekundärer Weise, indem wir praktischen Bedürfnissen und bestimmten Zwecksetzungen folgen. "Classifications depend on our temporary purposes." 89 Aber auch diese Bedürfnisse und Zwecksetzungen sind kein 'letzter Horizont' — auch wenn sich der Pragmatismus, zu dem sich James bekennt, pragmatischerweise bei ihnen beruhigen mag —, und wer sie reflektiert, initiiert einen neuerlichen Übergang, ein neuerliches Ereignis, ein neuerliches Überholen und eine neuerliche Repräsentation.

1.2.2.2

Bergson

Henri Bergson90 schreibt der Philosophie James' das Verdienst zu, "den Begriff, den man sich für gewöhnlich von der Wirklichkeit im allgemeinen macht, einer Korrektur zu unterziehen" (PM 234). James zeige, daß durch die Vorgaben der Logik unsere Wirklichkeitsvorstellung "gleichsam von einer intellektuellen Armatur getragen" sei (PM 244), die bereits unsere Wahrnehmung verzerre, aber auch die Begriffe und das Denken überhaupt. Wenn wir uns hingegen "ganz schlicht an das halten würden, was uns die Erfahrung gibt, und darauf verzichten würden, der konstruktiven Tendenz unseres Intellekts nachzugeben, dann würden wir in ganz anderer Weise denken und uns ausdrücken lernen." (PM 235) Als Methode, sich 'schlicht' an die Erfahrung als solche zu halten und so der logischen Wirklichkeitsverzerrung gegenzusteuern, benennt Bergson die Intuition und als deren Gegenstandsbereich die Metaphysik. Intuition, "die direkte Schau des Geistes durch den Geist" (PM 44), bedeute freilich nicht "Instinkt oder Gefühl", sondern "Reflexion" (PM 106) über die Art und Weise, wie Erfahrung tatsächlich statthat. Was die Metaphysik (im Sinne und in der Terminologie Bergsons) demnach thematisiere, sei nicht —• wie das Metaphysikverständnis Kants es nahelegen würde — ein Jenseits der Erfahrung, sondern die Erfahrung selbst. Bergson hat dabei nicht die "in Thesen erstarrte und tote Metaphysik" im Blick, "sondern die lebendige" (PM 224), d.h. eine Erfahrungsmetaphysik, "die dem Wellengang des Wirklichen folgt" (PM 43). Bergson identifiziert sie sogar, ohne an dieser Stelle freilich James' radikalen Empirismus namentlich zu erwähnen, mit 'Empirie': "Aber ein wahrer Empirismus ist derjenige, der das Original selber unmittelbar zu erfassen sucht, um sein inneres Leben zu ergründen, und der durch eine Art von geistiger Auscultation die Herzschläge der Seele zu hören sucht, und dieser wahre Empirismus ist die wahre Metaphysik." (PM 197)

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Der 'wahre Empirismus' hat nichts zu tun mit einem naiven Realismus, der davon ausgeht, das Wahrgenommene seien schon die Dinge selbst. Hingegen befaßt er sich, indem er eine 'Wesenserfassung' von Wahrnehmung und Erfahrung leisten will, ausdrücklich mit den Bedingungen, unter denen Wahrnehmung (perception) und Erfahrung (experience) stattfinden. Für Bergson ergibt sich ein prinzipieller Dualismus der Wahrnehmungs- und Erfahrungstypen. Dieser Dualismus drückt sich aus in seinen philosophischen termini technici: den Dichotomien von Intuition versus Analyse, Intuition versus Intelligenz, Metaphysik versus Wissenschaft, Materie versus Gedächtnis, relativ versus absolut, Raum versus Zeit usw. 91 Den anschaulichsten Einstieg in die Thematik bietet sicherlich Bergsons Analyse der Zeit. Das Zeitphänomen und sein paradoxer Charakter — Zeit als eine Linie stationärer, aneinandergereihter Zeitpunkte einerseits und Zeit als eine Linie des dynamischen, alle Konturen verwischenden Zeitflusses andererseits — ist seit Augustin ein Standardproblem in der Philosophiegeschichte. Daß die von uns erlebte und erfahrene Zeit nicht auf Punkte und Quanten reduzierbar ist, zeigt Bergson — wie später dann auch Heidegger in seiner Daseinsanalyse von Sein und Zeit — am Problem der Gegenwart und des Augenblicks. Bergson unterscheidet die sekundäre, verräumlichte Zeit (temps) von der 'wahren' Zeit qua 'Dauer' (duree). Letztere entspreche unserer tatsächlichen, auf die Tiefendimension und Gesamtheit des Lebens bezogenen Erfahrung, jener Erfahrung also, die nicht von den praktischen Zwecken des Alltags und der Wissenschaft und von den Gewohnheiten der (auf diese Zwecke hin ausgerichteten) Sprache überformt sei. Die in Meßeinheiten zerlegte und so in ein statisches Modell transformierte Zeit, sagt Bergson, sei nicht die wirkliche Zeit, sondern eine analog zur Kategorie des Raumes gedachte Abstraktion, die den Bedürfnissen des Messens, also den Bedürfnissen eines statischen Wirklichkeitsmodells diene. Statisches, messendes, fixierendes, identifizierendes, vergegenständlichendes Denken — das analytische Denken der Wissenschaft (im Gegensatz zum intuitiven Denken der Metaphysik) - sei aber dennoch nicht nur eine Abstraktion, der überhaupt nichts Wirkliches entspräche. Im Hinblick auf den Raum selbst und im Hinblick auf die räumlich organisierte Wirklichkeit — die Materie — sei es durchaus die adäquate Weise der Erfahrung, der Wahrnehmung und des Bewußtseins. Man habe jedoch insgesamt "zwei auseinanderlaufende Richtungen der Aktivität des Denkens" (PM 59), "zwei grundsätzlich verschiedene Arten der Erkenntnis zu unterscheiden" (PM 180), die gleichberechtigt und auf ihrem jeweiligen Gebiet legitim und sogar notwendig seien. Das Problem beginne erst dort, wo man ungerechtfertigterweise die Intuition auf ihrem originären Gebiet, der Metaphysik, durch die Analyse bzw. durch die Intelligenz zu verdrängen und zu ersetzen suche. ('Analyse' ist die methodische, 'Intelligenz' die ontologische Seite desselben Phänomens: des räumlichen, vergegenständlichenden Denkens.) Wenn wir also wahrnehmen und erfahren, so geschieht dies immer schon entweder unter der Perspektive der vergegenständlichenden Raumvorstellung oder "sub specie durationis [...] in einer gleichsam galvanisierten Wahrnehmung" (PM 148). Diese Alternative wäre hinfällig,

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Erfahrung, Lebenswelt, Symbolprozeß

"wenn die Erfahrung sich uns nicht in zwei verschiedenen Aspekten darböte, einerseits in Form von Tatsachen, die sich äußerlich aneinanderreihen, die sich ungefähr messen lassen, kurz, die sich im Sinn einer distinkten Mannigfaltigkeit und Räumlichkeit entfalten, und auf der anderen Seite in der Form einer gegenseitigen Durchdringung, die eine reine Dauer ist und sowohl dem Gesetz wie dem Messen unzugänglich. In beiden Fällen bedeutet Erfahrung Bewußtsein, aber im ersten Fall entfaltet sich das Bewußtsein nach außen und veräußerlicht sich in bezug auf sich selbst in demselben Maße, wie es äußere Dinge wahrnimmt; im anderen Fall geht dieses Bewußtsein in sich, erfaßt sich selbst und vertieft sich." (PM 143)

Intuition, die Methode der Metaphysik, bedeutet Einfühlung, Introspektion, unmittelbaren Zugang zu einer Schicht von Realität und Erfahrung, die einerseits neben dem analytischen Denken der Wissenschaft (aber auch des Alltags und der Sprache) als eigene, alternative Möglichkeit menschlicher Reflexion existiert, die andererseits aber auch diesem Dualismus selbst als fundierende Einheit und Ursprünglichkeit zugrunde liegt. Einen Schnittpunkt beider Dimensionen findet Bergson — und das erinnert natürlich an Schopenhauers diesbezügliche Vermittlung von Wille und Erkenntnis92 — im menschlichen Leib, der dem Bewußtsein gleichzeitig als 'Wahrnehmungsbild' von außen, also vergegenständlicht (image-perception), und als 'Empfindungsbild' von innen, also unmittelbar (image-affection) gegeben sei. 93 Doch nicht der Leib als solcher, sondern das 'Gedächtnis' (memoire) ist der Ort der 'Bilder' (images), deren wichtigste Art die 'Erinnerungsbilder' (images-souvenirs) sind. Sie führen "zur unmittelbaren Wahrnehmung zurück" und helfen uns, "mit gewissen Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten zu brechen, die uns zur zweiten Natur geworden sind" (PM 162). Die 'zweite Natur' unseres Bewußtseins, unserer Wahrnehmung und Erfahrung besteht in der durch die praktischen Interessen von Wissenschaft, Alltag und Sprache als natürliche Tendenz grundgelegten, durch die geschichtliche Dominanz von Technik und Naturwissenschaften aber fälschlicherweise als ausschließlich und alternativlos suggerierten Annahme, die Wirklichkeit bestünde aus statischen, identifizierbaren, meßbaren Einheiten. Diese Einheiten — die Einheiten der Gegenstände, der Relationen, der Begriffe, der grammatischen Elemente (wie Subjekt, Objekt, Eigenschaft u.dgl.) sowie der wissenschaftlichen Symbolismen — stellen nach Bergson jedoch eine aus praktischen Bedürfnissen erwachsene und konstruierte Oberflächenstruktur der Wirklichkeit dar. Die Tiefendimension und das Insgesamt der Erfahrung sehe anders aus: "Unterhalb der an der Oberfläche erstarrten und kristallisierten Schicht finde ich eine Kontinuität des Fließens, die mit keinem anderen Fluß zu vergleichen ist. Es ist eine Aufeinanderfolge von Zuständen, von denen jeder den folgenden ankündigt und den vorhergehenden in sich enthält. In Wirklichkeit bilden sie erst eine Vielheit von Zuständen, wenn ich sie überholt habe und mich nach rückwärts wende, um ihre Spur zu beobachten. Während ich sie empfand, waren sie so fest organisiert, so tief von einem gemeinsamen Leben durchdrungen, daß ich nicht hätte sagen können, wo der eine von ihnen endigte und der andere anfängt. In Wirklichkeit hat keiner von ihnen einen Anfang oder ein Ende, sondern alle verlängern sich ineinander." (PM 185)

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Der Erfahrungsstrom — "eine Kontinuität, die weder Einheit noch Vielheit ist und in keine unserer Denkschablonen eingeht" (PM 24) — wird hier ähnlich beschrieben wie bei James. An der traditionellen Metaphysik kritisiert Bergson, daß sie diese fließende Wirklichkeit mit starren Begriffen — also mit Hilfe analytischen, nicht intuitiven Denkens — zu reformulieren gesucht habe. Die traditionelle ßegr/^jphilosophie, die sich vom Anschauungsbezug der Begriffe gelöst habe, wolle die 'bloße' Wahrnehmung ergänzen, verfehle diese Wahrnehmung aber bereits im Ansatz und könne sie daher nicht fortführen, sondern müsse sie verdunkeln. Die philosophischen Versuche, Wahrnehmung begrifflich zu ergänzen, hätten bloß dazu geführt, "eine große Anzahl von qualitativen Unterschieden aus der Wirklichkeit zu eliminieren und so z.T. unsere Wahrnehmungen auszulöschen und unsere konkrete Schau des Universums zu verarmen" (PM 153). Man habe — seit Zenon von Elea, der mit seinen Paradoxien die Dimensionen von Raum und Zeit unzutreffenderweise 'logisch' gleichgeschaltet habe — Bewegung und Veränderung nicht unter dem Aspekt des Fließens, sondern unter dem Aspekt fixierender, statischer Einheiten gedacht: "Wir räsonnieren über die Bewegung, als ob sie aus Unbeweglichkeiten zusammengesetzt wäre. [...] Wir sagen uns allerdings wohl, daß da noch etwas anderes vorhanden ist, und daß zwischen den Positionen ein Übergang liegt, durch den das Intervall überbrückt wird. [...] Wir verschieben aber immer wieder den Augenblick, diesen Übergang wirklich ins Auge zu fassen." (PM 165)

Den Übergang zu begreifen, ist — innerhalb des 'analytischen' Denkens — deshalb so schwer, weil es hier nichts anderes gibt als die Punkte und Quanten, zwischen denen der Übergang stattfinden soll. Es leuchtet ein, daß die Genese fester Begriffe aus einem dynamischen, vorgegenständlichen Erfahrungsstrom erfolgt. Wir sind aber nach Bergson nicht imstande, im Ausgang von festen Begriffen und gegenständlichem Denken diesen Erfahrungsstrom zu rekonstruieren. Die beiden Ebenen seien durchlässig, aber die Bewegung des Verstehens gehe nur vom 'flüssigen' zum 'festen' Modell, nicht umgekehrt. Zwar könne man "von der Intuition zur Analyse übergehen, aber nicht von der Analyse zur Intuition" (PM 203). Zwar können "feste Begriffe durch unser Denken aus der Beweglichkeit abstrahiert werden [...], aber es gibt kein Mittel, um mit der Festigkeit der Begriffe die Beweglichkeit des Beweglichen wiederzugewinnen" (PM 213). Um das Ganze der Erfahrung in den Blick zu bekommen, muß man also bei der Intuition beginnen. Diese erschließt ihren eigenen Bereich, den der Metaphysik, und sie erschließt darüber hinaus die (durch eigene, analytische Anstrengung nicht erschließbare) Analyse. Metaphysik wird so zur 'Erfahrung selbst' (PM 28). Sie ist keine Verallgemeinerung der Erfahrung, sofern diese ihren Ausgang von der gegenständlichen Erfahrung nimmt, sie weist aber deren Grund und deren Anderes auf und kann also "doch als die integrale Erfahrung definiert werden" (PM 225). Sie zeigt, daß die 'feste' Welt nur eine Substitution der 'flüssigen' ist. Warum kommt es aber zur Substitution des Flusses durch die Gegenständlichkeit? Letztere ist nach Bergson "für den gesunden Menschenverstand notwendig, ebenso für

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Symbolprozeß

die Sprache und das praktische Leben, und [...] auch für die positive Wissenschaft" (PM 212). Sie ist "durch die Bedürfnisse des praktischen Lebens" (PM 156) motiviert, bei denen es um die Schaffung fester Orientierungspunkte geht. Die gegenständlichräumliche Wahrnehmung ist ein "Hilfsmittel der Handlung", und als solches "isoliert sie aus dem Ganzen der Wirklichkeit das, was uns interessiert [...]. Von vornherein klassifiziert sie." (PM 157) "Wenn unsere Intelligenz ihrer natürlichen Neigung folgt, schreitet sie einerseits fort an Hand fester Wahrnehmungen und andererseits an Hand statischer Begriffe." (PM 212) Die Dominanz des Gesichtssinns gegenüber den anderen Sinneswahrnehmungen — auch hier läßt sich eine Parallele zu Heidegger, aber auch zu Havelock ziehen 94 — hat nach Bergson überdies eine legitimierende Funktion, da "das Auge die Gewohnheit angenommen hat, im Ganzen des Gesichtsfeldes relativ unveränderliche Figuren herauszuschneiden" (PM 167). Wenn wir hingegen das Schwergewicht der Wahrnehmung auf den Gehörssinn verlegen, so wird "die Substantialität der Veränderung" (PM 169) schon eher wahrgenommen, die Tatsache, daß es "Veränderungen [gibt], aber [...] keine Dinge, die sich verändern" (PM 170). Indem Bergson die Veränderung selbst (changement) als 'Substantialität' des Wirklichen definiert, findet er eine griffige Formel, um den von ihm intendierten philosophischen Paradigmenwechsel zum Abschluß zu bringen. Wahrnehmung, Begrifflichkeit und Verstehen sind selbst nicht 'der Veränderung unterworfen', sondern bedeuten Übergänge und stellen so selbst Veränderung dar. Was im analytischen Denken zu festen Elementen gerinnt, wird in der Intuition verflüssigt. Die gegenständliche Wahrnehmung kontrahiert und kondensiert z.B. Luftschwingungen "zu relativ unveränderlichen Empfindungen". Ähnlich geht die gegenständliche Begriffsbildung vor. Räumliches Verstehen "bedeutet einfach Verhältnisse finden, feste Beziehungen zwischen vorübergehenden Geschehnissen setzen" (PM 114). Intuitive Wahrnehmung, intuitive Begriffsbildung und intuitives Verstehen jedoch vermeiden all diese Sedimentierungen. "Was also wirklich ist", schreibt Bergson, "das sind nicht die in Momentaufnahmen fixierten 'Zustände', die wir im Verlauf der Veränderung aufnehmen, sondern das ist im Gegenteil der Fluß, d.i. die Kontinuität des Übergangs, d.i. die Veränderung selbst. Diese Veränderung ist unteilbar, sie ist sogar substantiell." (PM 27) Während andere Lebensphilosophen (wie beispielsweise Ludwig Klages) dem 'Geist' alle synthetisch-schöpferischen Attribute absprechen, ist Bergson überzeugt, "daß unser Geist [esprit] die entgegengesetzte Richtung zu verfolgen vermag. Er kann sich in die bewegliche Wirklichkeit hineinversetzen, [...] sie intuitiv ergreifen. Er muß sich deswegen Gewalt antun und die gewöhnliche Richtung seines Denkens umkehren und unaufhörlich seine Kategorien einschmelzen. Aber er wird so zu gleichsam fließenden Begriffen kommen, die fähig sind, der Wirklichkeit sich innig anzuschmiegen [...]." (PM 213)

Die Aufgabe der Philosophie bestehe somit in einer "Umkehrung der Aufmerksamkeit" (PM 158) vom zweckgerichteten zum zwecklosen Denken, von einem — mit Scheler (der seinerseits von Bergson beeinflußt ist) zu reden — Herrschafts- zu einem Wesens-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

wissen. Der Wissenschaftler wolle — gemäß der Parole Bacons — herrschen und gehorchen. Doch der Philosoph "gehorcht [...] noch herrscht er; er sucht zu sympathisieren." (PM 145) Daher wendet sich die Philosophie gegen das Herrschen- und Verfugenwollen, zumindest gegen dessen ausschließliche Geltung in allen Bereichen des Lebens. Ihre Intuition wendet sich gegen die "normale Erkenntnisfunktion", die darin besteht, "alles Stabile und Regelmäßige aus dem Fließen des Wirklichen herauszuziehen" (PM 114), und sie zeigt auf, daß "die Struktur des menschlichen Verstandes" darin besteht, "die Dauer zu verschleiern, sowohl bei dem Begriff der Bewegung wie auch bei dem der Veränderung" (PM 25). Das Phänomen Erfahrung (experience) kann also in der Konzeption Bergsons, so ist zu resümieren, niemals getrennt vom Phänomen Bewußtsein (conscience) gedacht werden. Beide sind aufeinander bezogen, indem sie — jeweils parallel — einem der beiden möglichen Zugänge folgen, die sich dem menschlichen Geist gegenüber der Wirklichkeit (und gegenüber sich selbst) darbieten: dem intuitiven oder dem analytischen, dem fließenden oder dem vergegenständlichenden Zugang. Jeder dieser Zugänge ist ein authentischer Zugang zur 'absoluten' Wirklichkeit, wobei freilich der intuitive Zugang dem analytischen vorgeordnet ist, sofern jener diesen fundiert und ermöglicht, nicht aber umgekehrt, und sofern die Analyse auf dem Gebiet der Metaphysik — der Wirklichkeit als solcher und im ganzen — fehl am Platz wäre. Bergson bemüht sich freilich immer wieder (und wurde darin in der Rezeption vielfach mißverstanden), die Gleichwertigkeit der beiden Ansätze und ihre unabdingbare Bezogenheit aufeinander zu betonen: So wie der 'Geist' die 'Materie' zur Realisierung des 'Lebensschwungs' (elan vital) benötigt, so benötigt auch die 'Intuition' die 'Intelligenz' sowohl als Stimulans wie als Stütze. Es ist die evolutionäre Hoffnung Bergsons, daß eine durch 'Intelligenz' und 'Technik' getragene Intuition geschichtlich zur wahren Bestimmung des Menschen, zu erhöhter Geistigkeit und Authentizität, hinführen werde. 95 Auf die mit dem Ansatz Bergsons verknüpften methodischen Schwierigkeiten — vor allem auf die Frage, wie denn die 'verflüssigten', der Intuition angemessenen Begriffe beschaffen seien — soll hier nicht näher eingegangen werden. 96 Nicht gänzlich geklärt ist bei Bergson die Frage des genauen Verhältnisses der notwendigen Trennung von Intuition und Intelligenz einerseits und ihres unverzichtbaren Zusammenspiels andererseits. Im Abschnitt 2 werde ich auf die Erfahrungskonzeptionen von James und Bergson, und zwar im Zusammenhang mit ihren Überlegungen zur Mystik, noch einmal zurückkommen. Nunmehr aber wende ich mich zwei Denkern zu, die ihre Theorien lebensweltlicher Erfahrung mit symboltheoretischen Überlegungen verbinden. Dies gilt für Whitehead und Cassirer sowie, in deren Nachfolge, für Langer, Goodman und Schwemmer. Bei James und Bergson spielt der Symbolbegriff keine nennenswerte Rolle. Bergson behauptet sogar, daß sich die Verwendung von Symbolen — er meint damit: von Vermittlung und vermittelnder Repräsentation — auf die Wissenschaft und das analytische Denken beschränke und daß Metaphysik und Intuition einen 'symbolfreien', d.i. unmittelbaren und direkten Zugang zur Wirklichkeit erschließen würden. Das 'intuitive Schauen' der Wirklichkeit bedeute, diese "ohne allen Ausdruck zu erfassen, ohne Über-

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Erfahrung, Lebenswelt, Symbolprozeß

setzung oder symbolische Vorstellung". Eben das sei Metaphysik. "Die Metaphysik ist also die Wissenschaft, die sich aller Symbole zu entledigen sucht." (PM 184) Dagegen läßt sich freilich einwenden, daß es zwar den intuitiven Zugang zur Realität, wie Bergson ihn beschreibt, geben mag, daß das intuitive Denken aber wohl kaum imstande sein wird, sich schlechthin einer Nicht-Symbolik zu bedienen. Es ist vermutlich ein überzogener Gedanke, alle Möglichkeiten des Symbolischen an die Dimension des RäumlichGegenständlichen zu binden und für die Intuition die Möglichkeit einer Symbolik eigener Art und Funktion von vornherein auszuschließen.

1.2.2.3

Whitehead

Gegenüber den erfahrungsphilosophischen Ansätzen bei James und Bergson ist die weitaus komplexere und in eine großangelegte 'Kosmologie' eingebettete Erfahrungstheorie bei Alfred N. Whitehead91 um vieles schwieriger in ein paar kurzen Zügen darzustellen. Die Strukturen seines 'Systems' — er betrachtet sich expressis verbis als Systemdenker — lassen sich nicht, wie in herkömmlichen Systemphilosophien, aus einem oder einigen wenigen Axiomen herleiten, sondern sind eher als wandelbares Ordnungsgefüge mit einem offenen Horizont zu denken, dessen Reflexion an einzelwissenschaftliche — daneben aber auch an vor- und außerwissenschaftliche — Diskurse anschließt und diese in das 'System' zurück integriert. Whitehead versteht den philosophischen Diskurs nicht als genuinen und selbständigen Diskurs neben oder über den Diskursen der Wissenschaften, des Alltags, der Kunst, der Religion, der politischen, wirtschaftlichen und Kulturgeschichte, sondern als einen Diskurs, der — in ständiger Anstrengung des Begriffs, aber ohne fixierende Endperspektive — polykontextual vermittelt. Das 'System' der whiteheadschen Philosophie ist also ein prinzipiell stets in Ausarbeitung und Veränderung befindliches, komplexes 'Schema', das induktiv-experimentierend ontologische Strukturen namhaft macht und sie in je eigener Weise in heterogenen Bereichen der Wirklichkeit zur Darstellung bringt. Mit James teilt Whitehead die Überzeugung, daß die 'Einheit' der Wirklichkeit nur als komplexe und heterogene Vielheit zu fassen sei und daß die Resultate philosophischen Nachdenkens stets vorläufig, unabgeschlossen und revidierbar sein müßten. Mit Bergson teilt er die Einsicht in die konstitutive Pluralität der dem Menschen möglichen Denkweisen, und wie Bergson versucht er, 'Metaphysik' als einen positiven Arbeitsbegriff zu reformulieren. Mit James und Bergson verbindet ihn die dynamische Sicht der Wirklichkeit als eines prozessualen Geschehens und die methodische Absicht, auf dem Wege philosophischen Verstehens die unterschiedlichen Diskurse der Lebenswelt miteinander zu vernetzen. Indem er das Medium dieser Diskurse als einen Pluralismus von Symbolismen darstellt 98 , trifft er sich in Absicht und Methode auch mit Cassirers 'Philosophie der symbolischen Formen'. Im folgenden versuche ich nicht, die Gesamtkonzeption Whiteheads darzustellen. Ich berücksichtige auch nicht die Genese und damit die Veränderungen seiner Philoso-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

p h i e . " Es geht lediglich um die Grundzüge seiner Erfahrungstheorie und seines Verständnisses von experience.100 Zu beachten ist, daß das englische Wort experience in stärkerer Weise als das deutsche Wort Erfahrung die Bedeutung von 'Erleben' (und damit auch von 'Fühlen' und 'Empfinden') konnotiert. 101 Für Wahrnehmen bzw. Erfahren verwendet Whitehead demgemäß auch immer wieder — wie vor ihm schon Bradley und nach ihm S.K. Langer — den Ausdruck feeling (der also nicht einfach mit 'Fühlen' gleichzusetzen ist, sondern auch 'Empfinden', 'Wahrnehmen' und 'Denken' miteinschließt und, mit Betonung der emotionalen Komponente, einen sowohl weiten wie auch fundamentalen Erfahrungsbegriff anzeigt: ein auch vorbewußte Regionen der Weltwahrnehmung und -Verarbeitung einschließendes 'Erfassen von Realität', für das Whitehead auch das Wort prehension verwendet). Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß bei Whitehead Erfahrung von Metaphysik, Wahrnehmung von Spekulation grundsätzlich nicht zu trennen ist, daß beides vielmehr zirkulär aufeinander verweist und einander bedingt. Der Bedeutungszirkel dieser Begriffe ist aber keineswegs starr. Es ist nicht so, daß die Deskription von Erfahrung ihren metaphysischen Hintergrund auch schon streng determinieren würde. Und es ist auch nicht so, daß eine vorgängige Metaphysik immer schon unausweichlich festlegen würde, worin Erfahrung besteht und worin nicht. Es herrscht vielmehr ein dynamisches, immer wieder korrigierbares und veränderbares Interaktionsverhältnis zwischen Spekulation und Erfahrung, das bei Befassung mit konkreten Gedanken, Theorien und Ideen stets neu eine intellektuelle Herausforderung darstellt und stets neu philosophisch abzuarbeiten ist. Dieses Abarbeiten — das Annehmen der Herausforderung, die die konkrete Wirklichkeit dem menschlichen Geist gegenüber darstellt — ist im Verständnis Whiteheads selbst Teil des sich (evolutionär) fortentwickelnden, schöpferischen Realitätsprozesses, in dem sowohl Erfahrung wie auch Spekulation sich unermüdlich in neue, veränderte und verfeinerte Gestalten transformieren. Diese — im systematischen Anspruch, wenngleich keineswegs in der Methode zu Hegel vergleichbare — Verhältnisbestimmung von Erfahrung und Spekulation führt Whitehead, so wie zuvor schon James und Bergson, zu einer dezidiert anti-kantianischen Position 102 , die sich überdies gegen die gesamte rationalistische Tradition und insbesondere gegen Descartes, Locke und Hume richtet. Das Klarheitspostulat, so Whitehead, sei erfahrungs-inadäquat: "Mit Ausnahme Piatons haben alle Philosophen stillschweigend angenommen, daß die fundamentalen Faktoren des Erlebens 103 mit besonderer Klarheit zu erkennen seien. Das ist eine Annahme, die hier bestritten werden soll." (AI 325) Whitehead macht schon in seiner frühen Naturphilosophie 104 geltend, daß uns Erfahrung grundsätzlich als eine 'unordentliche' begegne und daß die — z.B. naturwissenschaftliche — Ordnung der Erfahrung eine spätere Stilisierung bzw. Symbolisierung und somit ein sekundärer Akt sei. Ordnung, Bestimmtheit und Klarheit werden erst durch die Vernunft konstruiert, und diese ist "kein notwendiger Bestandteil des psychisch-geistigen Erlebens" (FR 30). Die Formung der Erfahrung ist freilich ein Prozeß, den nicht erst die Vernunft vollführt, sondern der bereits auf einer vor-vernünftigen Ebene des psychisch-geistigen Erlebens statthat: "Die unterste Stufe des psychisch-gei-

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stigen Erlebens ist ein blindes Streben nach Formung des Erlebens, nach einer in diesem Akt zu verwirklichenden Form. Und diese Formen der Bestimmtheit sind dasselbe wie die Formen Piatons, die platonischen Ideen, die Universalien der Scholastiker." (ebda) Je 'ordentlicher', 'bestimmter' und 'klarer' sich die Erfahrung — die Whitehead, der Sache nach, sowohl als intentionale wie als autopoietische Bewegung der Selbsttranszendenz eines Erlebnisses betrachtet — darstellt, desto 'vernünftiger' wird sie, und desto mehr Spielraum eröffnet sich durch sie und mit ihr für Kritik und Selbstkritik. Die "Funktion der Vernunft [...] besteht darin, die Zweckursachen und die Stärke des auf sie gerichteten Strebens zu konstituieren, zu artikulieren und zu kritisieren" (FR 25). In dieser Funktion ist Vernunft auch "das Agens [...] der Evolution" (FR 26). Vernunft (reason) ist bei Whitehead demnach alles andere als ein apriorisches Vermögen. Sie ist das Organisationsprinzip der Erfahrung selbst auf deren höheren Stufen und entsteht kontinuierlich aus dem Streben und der Tätigkeit nach Formung, die in der Erfahrung angelegt sind: erst dumpf und unklar, später umso bestimmter und klarer. Vernunft ist also eine fortgeschrittene Weise der in allem 'Streben' wirksamen Formung. Das 'Streben' erinnert an den 'appetitus' der leibnizschen Monaden, und in der Tat knüpft Whitehead bewußt an Leibniz' Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption, Prehension und Apprehension an. Leibniz hat mit diesen Unterscheidungen keine Dichotomien sui generis im Auge, sondern Gradunterschiede des einen, universalen 'appetitus': Gradunterschiede, die zwar auch qualitative Sprünge ausdrücken mögen, die aber doch eine Kontinuität, Punkte auf einer gemeinsamen Linie, darstellen. 'Verworrene' und 'klare' Gedanken stehen — mit unmerklichen, aber vielfältigen Übergängen •— auf dieser einen Linie der Erfahrung. 105 Mit dem Ausdruck Prehensionen (auf dessen systematische Differenzierungen 105 ich hier nicht näher eingehe) bezeichnet Whitehead die einzelnen Erfahrungsakte, in denen es — auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen symbolischen Mitteln — um ein Erfassen und Formen der Wirklichkeit geht. Diese ist selbst das Erfahrungsgeschehen, nicht dessen Gegenüber und Anderes. 107 Prehension als Erfassen und Formen, als elementarer Anfang und als Wesen von Erfahrung, ist ein kreativer — gestaltund komplexitätsstiftender — Akt. Dergestalt sind Form und Wirklichkeit — beide verbal zu denken — dasselbe. Die Prehensionen beruhen auf (oder besser: sind beschreibbar als) 'feelings' 108 , sie stellen ein 'Ereignis' (event, actual occasion) und ein aktuierendes Seiendes (actual entity) dar. Sie verlaufen prozessual und vollenden sich im 'konkreszierenden' Finden einer 'subjektiven Form', die den Akt — die Erfahrung, das Erlebnis, das Ereignis — zu einer konkreten individuellen Einheit, einem Individuum bzw. zu einem Identischen zusammenfaßt. 109 Individualität und Identität eines Seienden entsteht somit durch eine jeweilige 'Schließung der Form 1 . Jedes dieser 'Ereignisse' befindet sich — bildlich gesprochen — in einem geschichtlichen Strom, in einem Kontinuum, aus dem es sich sodann als Gestalt abhebt. Das Ereignis entsteht aus diesem Strom, indem es aus vorhergehenden Ereignissen sich herleitet, und es bleibt in diesem Strom oder versinkt wieder in ihm, indem es Ausgangsbasis neuer und anderer Ereignisse wird. Whiteheads diesbezügliche Darstellung kann als Fortschreibung von James' radikalem Empirismus gelesen werden. 110 Auch Whitehead 207

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fragt nach der "Beschaffenheit der Augenblicke des unmittelbaren Erlebens" (FR 65) und arbeitet eine Dialektik von klar bewußtwerdenden Objekten und diffusem Wahrnehmungs- und Erfahrungshintergrund heraus: "In jedem Augenblick unseres Lebens ist unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt konzentriert, sind uns einige Objekte klar bewußt, die dann ihrerseits aber wieder auf eine ebenso verschwommene wie nicht wegzudiskutierende Weise mit anderen Objekten verbunden sind, die wir nur undeutlich erfassen, und dieses undeutliche Erfassen geht schließlich in unmerklichen Abstufungen in ein von allen Unterscheidungen freies Gefühl der Präsenz über. — Außerdem läßt sich das klar und distinkt Gegebene nicht säuberlich vom 'Vagen', 'Kompakten', 'Verschwommenen' trennen. Der Zusammenhang unter den klar gegebenen Dingen bleibt der klaren analytischen Anschauung verschlossen. Das Ganze bildet offensichtlich ein System; aber wenn wir versuchen, dieses System zu beschreiben, spielt uns unsere unmittelbare Anschauung einen Streich. Unser bewußtes Auffassen unterliegt Fluktuationen und plötzlichen Sprüngen, entzieht sich der Kontrolle. Es fehlt ihm an Durchdringungsvermögen. Das Durchdringungsvermögen unserer Anschauung richtet sich nach den Erwartungen unseres Denkens — und das ist das Geheimnis der konzentrierten Aufmerksamkeit." (FR 64 f.)

Eine Phänomenologie des 'ursprünglichen' Wahrnehmungsaktes zeigt, "daß das Wesen der konkreten Wirklichkeit (real actuality) [...] in seinem innersten Kern Prozeßcharakter hat" (AI 477) und daß es in diesem Prozeß keine vernunftlose — oder allgemeiner: formlose — Erfahrung gibt. Da sich Erfahrung — ganz anders als in der Sichtweise Kants — als ein autopoietischer Akt darstellt, so ist Vernunft kein Anderes zur Erfahrung, sondern Akteur und Vollzugsorgan dieser Autopoiesis. Freilich wäre es voreilig, sie mit der Erfahrung selbst auch schon zu identifizieren, denn Vernunft besteht ja nicht nur im Formen und Elaborieren von Erfahrung, sondern auch im Abblenden des diffusen Hintergrunds von (vorläufig) Nichtbewußtem, Nichtbezwecktem, Nichtrelevantem. Ihre Formungstätigkeit ist ein Transformieren, bei dem das Material — die diffuse, 'unordentliche' Erfahrung — nie zur Gänze verwendet wird, so daß immer Reste bleiben, die auch die kritische Vernunft daran erinnern, daß sie —• die Vernunft — sich niemals völlig mit der Wirklichkeit deckt. 111 Für einen klassisch-ungebrochenen Aufklärer wie Christian Wolff— den Reibebaum Kants — gibt es solche 'Reste' nicht, da die Vernunft als allerfassendes Instrumentarium angesehen wird, welches das Gesamtsystem der Wirklichkeit in ein Gesamtsystem von Begriffen übersetzen soll. Für Kant, der die Funkton der Vernunft zwar bescheidener, aber noch immer statisch bestimmt — als ein Vermögen, dessen Möglichkeiten und Grenzen ein für allemal abzustecken seien —, haben die besagten 'Reste' den Status prinzipieller Erfahrungstranszendenz. Whitehead hingegen sieht den Horizont des 'Nichtgedachten' und 'Undenkbaren' als historisch verschiebbare Kulissenlandschaft. Die Vernunft spezifiziert und evolutioniert die Erfahrung — auf dem Boden wechselnder pragmatischer Akzentuierungen. Daß die Vernunft ein kohärentes und klar strukturiertes Bild der Welt als ganzer zeichnet, ist eine kulturell späte Leistung von Erfahrungs-Transformation. Primär ist die Welt für uns "ein trüber Hintergrund, durchschossen mit isolierten lebhaften Wir-

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kungen, die mit emotionaler Erregung befrachtet sind." Sie ist "ein Hintergrund der Unbestimmtheit, der durch lebhafte Akte der Bestimmung, die ihrem Wesen nach isoliert sind, aufgelöst wird." (RM 21) Sofern die Bestimmungsakte aneinander anschließen und sich vernetzen, wird Erfahrung vernünftig elaboriert. Jeder dieser Bestimmungsakte ist, auf unterschiedlichem Grad und Niveau, ein Erfahrungsakt, so daß auch abstraktes Denken zur Erfahrung zählt und wie diese dem (pragmatischen) Maßstab von Angemessenheit und Unangemessenheit unterliegt, der — in Whiteheads Konzeption — letztlich auch der Maßstab der Wahrheit ist: "Der Fortschritt der Wahrheit [...] ist hauptsächlich ein Fortschritt in der Gestaltung von Begriffen, bei der Abweisung künstlicher Abstraktionen oder ungenügender Metaphern, und in der Entwicklung von Vorstellungen, die tiefer in den Grund der Realität eindringen." (RM 98 f.) 112 Auch die in Whiteheads Philosophie immer wieder betonte Abwehr unangemessener Abstraktionen und der Rekurs auf eine Phänomenologie der Wahrnehmung, die den prozessualen Aufbau von Erfahrung und Vernunft zeigen soll, verdankt sich einem via Vernunft vollzogenen Erfahrungsakt. Dieser erkennt, daß das Denken nicht nur zu neuer und erweiterter Erfahrung hinführt, sondern daß es auch von Erfahrung wegführt: "Denken ist abstrakt; und die unduldsame Verwendung von Abstraktionen ist das Hauptübel des Intellekts. Diese Krankheit wird durch den Rückgriff auf die konkrete Erfahrung nicht vollständig geheilt." (SMW 30) Auch diese ist nicht davor gefeit, unangemessen zu sein: "Die Sinnes Wahrnehmung ist ihrer Natur nach Interpretation, und zwar eine Interpretation, die ganz und gar irreführend sein kann." (AI 507) Von Wahrheit kann man nach Whitehead nur sprechen, wenn die Zusammenführung (concrescence) verschiedener Empfindungen und Objekte zur Einheit eines Wahrnehmungs- bzw. Denkaktes gelungen ist, wobei sich die Einheit im Gelingen einer 'subjektiven Form' dieses Wahrnehmungs- bzw. Denkaktes ausweist. Nicht nur die Trennung von Denken und Erfahrung, sondern auch die Trennung von Denken und Gefühl ist nach Whitehead abstrakt: "Die Basis des Erlebens und der Erfahrung ist emotional; allgemeiner gesagt: das fundamentale Faktum ist das Aufkommen einer affektiven Tönung, die von Dingen ausgeht, deren Relevanz bereits gegeben ist." (AI 326) Die Relevanz von Dingen und Strukturen ist historisch-pragmatisch gegeben und hat insofern 'lebensweltliche' Qualität. Im Erfahrungsakt kommt ein intentional gerichtetes Streben zum Ausdruck, wobei das Streben nach 'reiner Erkenntnis' nur einen historisch späten Sonderfall darstellt. Primär kann man bloß sagen, daß es dem Erfahrenden 'ernstlich um (etwas) geht'. Whitehead weist hier auf die sondersprachliche Bedeutung des Quäker-Wortes 'concern' hin. (AI 326) 113 Anliegen der Philosophie ist es nach Whitehead, Erfahrung und Wirklichkeit als solche zu erfassen. Philosophische Verallgemeinerung meint also — und darum 'geht es ernstlich' in seiner 'spekulativen Kosmologie', die zugleich eine Erfahrungstheorie ist114 — eine "Verallgemeinerung des Erlebnisakts" und zielt auf den "Begriff des fundamentalen, konkret Wirklichen (final actuality)" (AI 419). Dazu "bedarf es einer scheinbaren Redundanz von Ausdrucksformen: und zwar weil wir darauf angewiesen sind, daß die jeweils verwendeten Wörter sich wechselseitig korrigieren. Wir brauchen die Ausdrücke

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

'zusammen 1 , 'das immanent Schöpferische', 'die Konkreszenz', 'das Erfassen', 'das Fühlen', 'die subjektive Form', 'die Gegebenheiten', 'Wirklichkeit', 'Werden' und 'Prozeß'." (ebda)115

Die Position Whiteheads zeigt insgesamt eher einen problem- als einen systemphilosophischen Ansatz. Der letztere wird aber deutlich, wenn wir uns der in Process and Reality (1929) und schon früher in Symbolism. Its Meaning and Effect (1927) 116 dargestellten Trias möglicher Erfahrungsweisen zuwenden, die zueinander in einem prozessualen Interaktionsverhältnis stehen und diesbezüglich drei aufeinander aufbauende Erfahrungsphasen konstituieren: eine 'reaktive', 'ergänzende' und 'geistige' Phase (PR 335 f, 392 ff.). Die fundamentalste Wahrnehmungs- und Erfahrungsweise nennt Whitehead 'kausale Wirksamkeit' (causal efficacy). Erst auf ihrem Boden ist die zweite Weise — die der 'vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit' (presentational immediacy) möglich. Thematisch entsprechen diese beiden Erfahrungsweisen den klassischen Begriffen Kausalität und Selbstbewußtsein. In den rationalistischen und kritizistischen Konzeptionen gilt jedoch das Selbstbewußtsein als primär (und mit ihm das Klarheitspostulat), während Kausalität als eine von ihm abgeleitete Größe aufgefaßt wird. Für Hume und Kant, aber auch schon für Locke und Descartes "stellte sich die vergegenwärtigende Unmittelbarkeit als die primäre Erfahrungstatsache dar". Diese Denker hätten "einer Verkehrung der wahren Beschaffenheit der Erfahrung" (PR 324) das Wort geredet. Whiteheads naturalistische, 'organismische' Philosophie117 ist, so besehen, antiidealistisch. Er faßt Kausalität vorerst nicht als logische Kategorie und insofern als Verstandesleistung (obwohl sie dies auf einer elaborierten Erfahrungsebene dann natürlich auch ist), sondern als primäre, noch keineswegs klar strukturierende Wahrnehmungsweise, die Wirksamkeit bzw. Wirklichkeit als etwas Zeit- und Beeinflussungs-Abhängiges erfaßt. Die Wahrnehmungs^egeniiänrfe der 'kausalen Wirksamkeit' sind "vage, nicht kontrollierbar und voller Emotion" (PR 333), während die Wahrnehmungsgegenstände der 'vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit' "vergleichsweise klar, abgegrenzt, kontrollierbar, dem unmittelbaren Erleben zugänglich" sind (PR 334). Nur höher entwickelte Lebewesen verfügen über diese zweite Erfahrungsweise. Beide Erfahrungsweisen sind — wie jegliche Erfahrung — Prehensionen, d.h. selbst wirkliche und wirksame Vorgänge des Erfassens und des Vereinens bereits bestehender Erfahrungen bzw. Ereignisse, die sich schon in der außermenschlichen Natur finden und dort bereits die prozessuale Wirklichkeit bestimmen. Die erste Erfahrungsweise ist primär als 'Reaktion' oder auch als 'Verhalten' zu kennzeichnen, die zweite als 'Ergänzung', als Klärung und Elaboration. Doch findet die 'Konkreszenz' — das Vereinen beider Erfahrungsweisen in einer sie vermittelnden dritten Erfahrungsweise — erst durch die 'symbolische Referenz' (symbolic reference) statt, die für die menschliche Welt konstitutiv ist. 118 Für Whitehead ist es wesentlich, daß der Mensch in Symbolen und Symbolsystemen denkt. Unsere Erfahrung ist vielschichtig. Sie ist nicht nur symbolisch, doch ohne Symbolik (etwa in der Sprache, in Kunst und Architektur, in sozialen Gewohnheiten

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und Bräuchen, in Wissenschaft und Religion) ist menschliche Kultur nicht denkbar. Die Wahrnehmungs- und Erfahrungsweise der 'symbolischen Referenz' verbindet nicht nur und steht nicht nur in der Spannung von kausaler Wirksamkeit und unmittelbarer Gegebenheit des Erfahrenen, sie vermittelt auch — stets interpretatorisch und daher, im Gegensatz zu den vorhergehenden Erfahrungsweisen, dem Irrtum ausgesetzt — zwischen Symbol und Bedeutung (S 8). Whitehead setzt den Symbolbegriff so umfassend an, daß für ihn bereits die Sinneswahrnehmung — z.B. das Erkennen eines Stuhles als 'coloured shape' (S 16 f.) — einen Symbolisierungsakt darstellt. Symbolisierungen werden demnach bereits im vorbewußten Bereich vorgenommen und gebraucht. Gelingt symbolische Referenz, ist sie ein Akt der 'Erfüllung' dessen, was das Erfahrungs-Ereignis (unbewußt oder bewußt) intendiert hat. Ist das 'Streben' der 'gegebenen Unmittelbarkeit' als teleologisch zu charakterisieren (PR 396), so schließt die 'symbolische Referenz' eine Erfahrung und ein Ereignis ab, indem sie dessen Vielfalt und Ungeordnetheit in eine 'subjektive Form' — im Sinne integrativer Einheit und Ordnung — bringt. Diese subjektive Form ist aber, im Gegensatz zu den einheits- und abschlußstiftenden Leistungen primitiverer Erfahrungsakte, durch gesteigerte Phantasie und Vernunft gekennzeichnet (PR 332). Der Erfahrungsprozeß ist zugleich "unser Prozeß der SelbstWerdung, mit dem Ziel, eine einheitliche Erfahrung zu erreichen" (PR 334). Diese ist natürlich auch selbst wiederum eine Symbolisierung, die einem Symbolismus der Begriffe zuzuordnen ist. Obwohl Whitehead dem Begriff Erfahrung prinzipiell mißtrauisch gegenübersteht — "The word experience is one of the most deceitful in philosophy." (S 16) — und obwohl sich die Bedeutung von 'experience' (bzw. 'feeling', 'prehension' etc.) im Verlauf seiner Überlegungen verschiebt und verkompliziert, ist bei ihm das "Fehlen eines 'klaren Erfahrungsbegriffs' [...] als ein begriffsstrategisches und erkenntniskritisches Symptom zu verstehen". 119 Es ist Strategie und Symptom dafür, daß Whitehead den Erfahrungsbegriff einerseits universalisiert — alles Wirkliche begegnet im Modus irgendeiner Erfahrung •— und ihn andererseits in eine Vielzahl unterschiedlicher Modi aufsplittert, die zwar interagieren, aber nur in ungemein komplexer Weise auf einen Nenner hin zu versammeln sind. Wichtig aber ist die — erst durch die Symbolkonzeption mögliche — Unterscheidung zwischen "pure instinctive action, reflex action, and symbolically conditioned action" (S 78). Whiteheads komplizierte Gedankengänge seiner in Process and Reality dargelegten Metaphysik und Kosmologie brauchen, da ich sie in die erfahrungstheoretischen Überlegungen im speziellen nicht mit einbeziehen werde, im jetzigen Zusammenhang nicht zu interessieren, auch nicht das — für ein immanentes Verständnis der Konzeption Whiteheads wichtige — Theorem der 'Überzeitlichkeit' des Realprozesses. 120

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1.2.2.4

Cassirer

Während bei James, Bergson und Whitehead der kantische Kritizismus methodisch als ausdrückliche Antifolie des eigenen Entwurfs und historisch als ungebrochene Fortsetzung der rationalistisch-empiristischen Vernunftphilosophie angesehen und abgelehnt wird, sind Ernst Cassirers121 — in seinen Texten beinah zahllose — Berufungen auf Kant meist affirmativer Natur. Es findet keine scharfe und kompromißlose Abgrenzung gegenüber der Transzendentalphilosophie statt, wohl aber unternimmt Cassirer den ausdrücklichen Versuch, diese Transzendentalphilosophie (die er in neukantianischer Fassung verengt als Erkenntnistheorie kennenlernt) in eine allgemeine Bedeutungstheorie unterschiedlicher menschlicher Sinnstrukturen zu transformieren. 122 Dabei setzt er an die Stelle des Begriffs — als des interpretierenden Elements der Wirklichkeit und (im weiten Sinn) der Erkenntnis — das Symbol, das alle Bereiche menschlicher Kulturalisation strukturiert und das er dreifach-relational bestimmt: als eine Energie des Geistes, die an ein bestimmtes sinnliches Zeichen eine bestimmte Bedeutung knüpft 123 , wobei diese Zuordnung — und das ergibt genaugenommen eine vierte Relation 124 — nicht als eine beliebige und willkürliche, sondern als eine verinnerlicht-ernstgenommene betrachtet wird. Das begriffliche Denken in Wissenschaft und Philosophie ist demnach nur ein Sonderfall des symbolischen 'Denkens' bzw. Sinnverstehens überhaupt. Andere Formen des Sinnverstehens — eines je eigenen symbolischen Bezugs zur Wirklichkeit — sind Mythos, Religion, Kunst und Technik. 125 Sie werden als 'symbolische Formen' bezeichnet. Diese versteht Cassirer aber nicht als starre Interpretationsmuster, sondern als dynamische und sich selbst transzendierende Prozesse. Den Veränderungsprozeß in und an einer symbolischen Form zeigt er insbesondere am Phänomen der Sprache126, deren Funktionalität geschichtlich zuerst der archaischen Struktur des Mythos, später jedoch der elaborierten Struktur wissenschaftlichen Relationalitätsdenkens entspricht. Den besagten Veränderungsprozeß sucht Cassirer durch ein dreigegliedertes Funktionen-Schema des Geistes — das meint: des verstehenden und interpretierenden menschlichen Erfassens von Realität — zu erklären. Die Trias 'Ausdruck', 'Darstellung' und (reine) 'Bedeutung' nennt die Entwicklungsstufen des Geistes im Prozeß zunehmender Beweglichkeit und Reflexivität des Symbolbezugs. 127 Cassirers Symbolphilosophie kann insgesamt nur in sehr eingeschränkter Weise als Gegenentwurf zur kantischen Transzendentalphilosophie verstanden werden, wohl aber als eine Weise der verändernden Fortschreibung, die qualitativ durchaus neue Dimensionen erschließt. Den historischen Formen der Metaphysik wirft Cassirer nicht — wie Kant — einen gänzlichen Verlust, sondern nur einen unausgewogenen und daher verzerrten Erfahrungsbezug vor: Sie hätten einzelne Erfahrungsmomente — unter Vernachlässigung anderer — isoliert und totalistisch interpretiert. 128 Auch für Cassirer ist Metaphysik — sofern er diesen Begriff (nur an wenigen Stellen: vor allem im nachgelassenen Vierten Teil der Philosophie der symbolischen Formen) als positiven Arbeitsbegriff verwendet 129 — eine Theorie der Erfahrung, die mit einer adäquaten Theorie der Wahrnehmung zu beginnen hat, doch muß sie die in der menschlichen Wesensverfassung, Kultur und Geschichte angelegte Breite der uns möglichen Erfahrungen — also

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nicht nur das begriffliche Denken — berücksichtigen. Daher wendet er sich auch gegen die Erfahrungskonzeptionen des Wiener Kreises, insbesondere Carnaps. Er konzediert zwar: "Wahrnehmung ist das Einzige, was uns Wirklichkeit erschließt." Doch schränkt er ein: "Aber im 'Physikalismus' ist diese Basis zu eng genommen." 130 Cassirer bemüht sich — in Abgrenzung zum dogmatischen Empirismus und zum dogmatischen Rationalismus, wo Wahrnehmung als platte Gegebenheit des Wahrnehmungsgegenstands bzw. als ausschließliche Formgebung durch den Intellekt aufgefaßt werden — um eine "wahrhafte Phänomenologie der Wahrnehmung" (PhSF III, 224). Dabei beruft er sich positiv einerseits auf Kant131, andererseits auf Brentano. Die Begriffe der 'transzendentalen Apperzeption' einerseits, der 'Intentionalität' andererseits hätten von "zwei verschiedenen Ansätzen her [...] den Boden für ein tieferes [...] Verständnis der Wahrnehmung bereitet" (PhSF III, 224). In seiner eigenen Phänomenologie der Wahrnehmung findet Cassirer die Symboltheorie bestätigt: Wahrnehmung ist immer schon symbolisch — d.h. 'theoretisch' im Sinn eines interpretierenden Bedeutungszusammenhangs — vermittelt. Dem Sensualismus und Positivismus — die er öfter und ausgiebiger attackiert als den Rationalismus — wirft er vor, sie seien "nicht nur gewissermaßen 'symbolblind', sondern eben damit auch wahrnehmungsblind" (ebda). "In Wahrheit ist [...], was wir die Welt unserer Erfahrung nennen, kein Einfaches, von Anfang an selbstverständlich Gegebenes, sondern es 'ist' nur, sofern es durch gewisse theoretische Grundakte hindurchgegangen, durch sie erfaßt, 'apprehendiert' und bestimmt ist." (PhSF II, 40) Aus dem Kontext gerissen, könnte diese Aussage als Paraphrase zur transzendentalphilosophischen Grundformel, 'wir' würden vermittels apriorischer Anschauungs- und Begriffsformen die Erkenntnis 'machen', aufgefaßt werden. Doch wäre dies eine Fehlinterpretation. Cassirer lehnt nämlich gleich eine Mehrzahl klassischer WahrnehmungsThesen ab: einmal die These, daß Wahrnehmung Fertig-Gegebenes einfach vorfinde und in der Erkenntnis reproduziere; aber auch, daß Wahrnehmung ausschließlich intellektuelle Formgebung sei; zudem aber drittens, Wahrnehmung baue sich produktiv erst aus einem Chaos von Sinnesempfindungen auf. Diese letztgenannte These ist die These Kants. Demgegenüber beruft sich Cassirer auf die moderne Gestaltpsychologie, dergemäß "schon die einfachsten Wahrnehmungsvorgänge fundamentale Strukturelemente voraussetzen, bestimmte Muster oder Konfigurationen" (VM 67). Wichtig ist für ihn, daß diese vorgängigen Strukturelemente und 'Gestalten' vielfältig und kontingent sind im Hinblick auf die historische, kulturelle und individuelle Vielfalt menschlicher Wahrnehmung, daß sie insbesondere relativ sind zu den je eigenen Verstehensbedingungen verschiedener symbolischer Formen. So ist z.B. die "ästhetische Wahrnehmung [...] sehr viel differenzierter und komplexer als unsere gewöhnliche [alltägliche, aber auch wissenschaftliche] Sinneswahrnehmung. In der Sinneswahrnehmung begnügen wir uns damit, die vertrauten, konstanten Merkmale der Gegenstände in unserer Umgebung zu erfassen. Die ästhetische Erfahrung hingegen ist unvergleichlich viel reicher. Sie schließt unendliche Möglichkeiten in sich, die in der gewöhnlichen Sinneserfahrung unverwirklicht bleiben." (VM 223) Während die ästhetische Erfahrung mit den durch sie befaßten Gestalten und Strukturen

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in hohem Maß spielerisch umgeht, ist dieser Umgang in der mythischen Erfahrung ernst und schwerfällig. "Es fehlt hier vor allem jede feste Grenzscheide zwischen dem bloß 'Vorgestellten' und der 'wirklichen' Wahrnehmung, zwischen Wunsch und Erfüllung, zwischen Bild und Sache." (PhSF II, 48) Eine solche — aus der Sicht von Philosophie, Wissenschaft, Technik und (wissenschaftlich-technisch bestimmtem) Alltag — Grenzverwischung charakterisiert auch den Wirklichkeitsbezug der Kunst, doch ist dieser Wirklichkeitsbezug von jenem des Mythos in der grundsätzlichen Haltung, in der Frage der Beweglichkeit und Reflexivität des Symbolbezugs, wieder grundsätzlich verschieden. Es sei "kennzeichnend für den Menschen, daß er nicht auf einen einzigen, spezifischen Zugang zur Wirklichkeit festgelegt ist" (VM 261) und "daß wir imstande sind, verschiedene Sehweisen einzusetzen und unsere Anschauung der Wirklichkeit zu variieren" (VM 260). Da die 'Sehweisen' und 'spezifischen Zugänge zur Wirklichkeit' identisch sind mit den symbolischen Formen, baut sich die Komplexität und der Fortschritt der gesamten Wahrnehmungswelt des Menschen aus dem dynamischen — strukturellen und historischen — Zusammenhang der symbolischen Formen auf. Der "Aufbau der Wahrnehmungswelt" drückt sich in "immer mannigfaltigeren und reicheren Sinnfunktionen" aus, und: "Je weiter dieser Prozeß fortschreitet, einen um so weiteren Kreis vermag das Bewußtsein in einem einzelnen Moment zu umspannen und zu überschauen." (PhSF III, 222) Was durch den sukzessiven Aufbau der symbolischen Formen — Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft — und deren gegenseitige Durchdringung einerseits, durch den sukzessiven Aufbau und die Abfolge der Funktionen Ausdruck, Darstellung und Bedeutung — was innerhalb einer symbolischen Form und zwischen den symbolischen Formen statthat —• andererseits entsteht, sind zunehmend elaborierte 'Bedeutungsgefüge' und 'Sinnkomplexe', die ihrerseits auf Wahrnehmung/Erfahrung zurückwirken und dieser einen (jeweils veränderten) Maßstab vorgeben. Die Wahrnehmungsweisen verschiedener symbolischer Formen können einander sinnvoll ergänzen und korrigieren. Die mythische Erfahrung wird durch die religiöse relativiert, die religiöse durch die wissenschaftliche, die wissenschaftliche durch die ästhetische. 132 Durch die Fixierung auf eine symbolische Form sieht Cassirer sehr stark die Gefahr der Entfremdung, aber auch der Entsachlichung des Sinnverstehens gegeben. "In der gewöhnlichen Erfahrung verbinden wir", schreibt er, "die Phänomene nach Kausalitäts- oder Finalitätskategorien. Je nachdem, ob wir uns für die theoretischen Begründungen oder die praktischen Wirkungen der Dinge interessieren, betrachten wir sie als Ursachen oder als Mittel. So verlieren wir ihre unmittelbare Erscheinung meist aus dem Blick, bis wir sie überhaupt nicht mehr direkt wahrzunehmen vermögen." (VM 260 f.) Kunst lehrt demgegenüber, die Dominanz des Nützlichkeits- und Verfügungsdenkens in Frage zu stellen und die Welt anders — reicher und vielfältiger — zu sehen. Cassirer, der die Ausdrücke Wahrnehmung und Erfahrung meist synonym verwendet, betrachtet also das Phänomen Erfahrung als vermittelt durch symbolische Formen. Jeder Symbolismus hat einen — wie auch immer unvollständigen und verzerrten — Erfahrungsbezug, den er in Konkurrenz und Synopsis mit anderen Symbolismen zu korri-

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Symbolprozeß

gieren, zu ergänzen und (auch qualitativ) zu erweitern vermag. Es gibt also keine 'reine', d.h. direkte und 'formlose' Erfahrung, so wie es keine 'reinen', d.h. erfahrungstranszendenten Formen als solche gibt. Die symbolischen Formen sind keine willkürlichen Konstruktionen, sondern geschichtlich entstandene, geschichtlich mit Sinn und Anwendbarkeit verknüpfte Verstehens- und Verhaltensweisen des Menschen. Darin unterscheiden sie sich von bloßen 'Zeichen'. Insofern ist die 'Philosophie der symbolischen Formen' auch eine Anthropologie. Das Symbol, heißt es im Versuch über den Menschen, sei ein "Schlüssel zum Wesen des Menschen" (VM 47), diesen könne man als 'animal symbolicum' bezeichnen. 133 Symbolische Formen sind aber nicht als statische Perspektiven zu verstehen, die ein für allemal festlegen, was in welcher Weise wahrgenommen und erfahren wird. Sie sind vielmehr Repräsentationsprozesse, die sich in ihrem Ablauf selbst ändern und damit auch ihre Perspektiven verschieben. Die je fortschreitende Wahrnehmung überschreitet das je 'direkt Gegebene', anders gesagt: die fortschreitende Wahrnehmung transzendiert sich selbst. 134 Nicht in Cassirers eigener Terminologie, wohl aber sinngemäß läßt sich sagen, er habe ein Autopoiesis-Modell vor Augen. Wie für Kant, aber doch in einer wesentlich andersartigen Beschreibung, ist auch für Cassirer Erfahrung an den Prozeß der Gegenstandskonstituierung gebunden oder, anders gesagt, etabliert sich Erfahrung erst durch und vermittels Gegenstandskonstitution. In deren Beschreibung als aus einem Empfindungsstrom auftauchende und faßbare 'Gestalt' nähert sich Cassirer den anti-kantianischen Beschreibungen von James und Whitehead. Der Wahrnehmungsprozeß ist ein Prozeß der Repräsentation, durch den der Wahrnehmungsgegenstand erst in seiner Einheit — in seiner Kontinuität und in seiner Kohärenz — als ein 'Sinn-Ganzes' gebildet wird. Diese Einheit ist also nicht von vornherein da — was nicht heißt, daß 'nichts' oder ein bloßes Chaos da wäre. Auch die direkte und primäre Wahrnehmung ist schon strukturiert. Doch diese Strukturen sind Schemata ohne Kontinuität und Kohärenz. Sie sind noch nicht als Symbole aufzufassen, da ihnen der Symbol bezug fehlt. Ihre Einheit ist nicht die Einheit des Symbols, das mehrere vorangehende Bedeutungen zu einer Bedeutungseinheit synthetisiert. "Die aktuelle Wahrnehmung als Prozeß weiß in ihrem steten Fließen von einer derartigen Einheit nichts. Jeder Inhalt, der in ihr auftaucht, wird alsbald wieder von einem anderen verdrängt — jede Gestalt, die sich zu bilden scheint, wird wieder in den Strudel des Prozesses hinein- und mit ihm fortgerissen." (PhSF III, 375)135 Es ist aber nun nicht — wie bei Kant — ein erfahrungsfremdes 'Vermögen', das (als 'Verstand') die Leitung der Erfahrung übernimmt. Es ist die Erfahrung selbst, die sich zunehmend intellektualisiert, d.h. die Funktion des Ausdrucks zurückdrängt und auf die Funktion der reinen Bedeutung zusteuert. Die Erfahrung — hier greift Cassirer auf die moderne Phänomenologie zurück und beruft sich neben Husserl (den er seines Dualismus wegen kritisiert) 136 vor allem auf Brentano — ruht oder kreist nicht in sich selbst, sondern ist intentional. Jede Wahrnehmung "schließt einen bestimmten 'Richtungscharakter1 in sich, mittels dessen sie über ihr Hier und Jetzt hinausweist" (PhSF III, 236). Sofern sie auf Kontinuität und Kohärenz gerichtet ist, sucht sie die im Empfindungsstrom auftauchenden Gestalten als Ordnungsgefüge wahrzunehmen und zu fixieren. Das

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Ordnen und Fixieren ist die Funktion des Intellekts. Daher kann man sagen, daß sich der Intellekt aus der auf Kontinuität und Kohärenz gerichteten Intention der Erfahrung ergibt und daß er selbst diese Erfahrung auf ihrer betreffenden Stufe darstellt. So wie die primäre 'aktuelle Wahrnehmung' den 'unordentlichen' Gestaltenfluß als untere, noch wenig organisierte (vor-symbolische) Wahrnehmung repräsentiert, so repräsentiert der Ordnung stiftende und fixierende Intellekt die Erfahrung auf einer entwickelteren (symbolischen) Stufe ihres Fortschreitens. Da alle Wahrnehmungs-Ordnung "auf Akte der Identifizierung, der Unterscheidung, der Vergleichung und Zuordnung zurückgeht, die ihrer Grundform nach rein intellektuelle Akte sind" (PhSF II, 41), repräsentiert der Intellekt also die Intentionalität der Erfahrung selbst. "Der Übergang von der Welt des unmittelbaren Sinneseindrucks zur vermittelten Welt der anschaulichen [...] 'Vorstellung' beruht darauf, daß sich in der fließend immer gleichen Reihe der Eindrücke die konstanten Verhältnisse, in denen sie stehen und nach welchen sie wiederkehren, allmählich als ein Selbständiges herausheben und sich eben hierdurch von den von Moment zu Moment wechselnden, schlechthin unbeständigen Sinnesinhalten charakteristisch unterscheiden. Diese konstanten Verhältnisse bilden nun das feste Gefüge und gleichsam das feste Gerüst der Objektivität'." (PhSF II, 41) So entsteht Erfahrung als ein 'theoretisches Gefüge'. (PhSF III, 237) In der Rückwendung auf ihre eigene Genese kann die (intellektualisierte) Erfahrung vermeiden, daß sie dem Selbstmißverständnis erliegt, die so geschaffene Objektivität sei von vornherein gegeben und an sich gültig. 137 Ich breche hier die Skizze der cassirerschen Erfahrungstheorie ab, komme jedoch auf diese — Cassirer ist in systematischer Hinsicht mein hauptsächlicher Referenzautor — in weiteren Abschnitten zurück (1.4.2, 2.4.3 und 3.3.2). Dort werden verschiedene Aspekte seiner Symbolphilosophie (vor allem die 'symbolische Prägnanz', die einzelnen symbolischen Formen sowie die Funktionendynamik von 'Ausdruck', 'Darstellung' und 'reiner Bedeutung') noch näher zu erläutern sein.

1.2.3 Erfahrung als Rationalisierungs- und Symbolisierungsprozeß: Zehn Thesen Husserl hatte den Begriff der Lebenswelt in die philosophische Diskussion gebracht, um — ausgehend von der Einsicht, daß wissenschaftliches Wissen aus einer vorwissenschaftlichen Dimension entspringt und in gewisser Weise auf diese vorwissenschaftliche Dimension verwiesen bleibt — die Begriffe des Bewußtseins und der Erfahrung angemessener theoretisch zu erfassen. Um zu wissen, worin der menschliche 'Geist' — das Vermögen wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen, zu imaginieren, allgemeiner: sich zu orientieren und sich die begegnende Wirklichkeit anzuverwandeln — qualitativ besteht, was er leistet und wie er funktioniert, sollte das gesamte Bedingungs- und Funktionsgeflecht des Wissens in den Blick genommen werden. Und da der menschliche Geist nur eine Funktion menschlichen Daseins ist, die freilich mit dem 'Rest' dieses Daseins of-

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Erfahrung, Lebenswelt,

Symbolprozeß

fenkundig unauflösbar verwoben ist, wurde in der Lebenswelttheorie die Lebenswelt nicht nur erkenntniskritisch (als Basis des Wissens), sondern ontologisch — als Dimension des 'Seins' — zum philosophischen Thema. Damit war Lebenswelttheorie — thematisch — zur Metaphysik geworden, deren Objektivität' freilich noch immer keinen anderen Zugang erlaubte als den Zugang subjektiven Bewußtseins, so daß bei Husserl das 'Denken' im engen Wortsinn, nämlich das begriffliche Denken, im Mittelpunkt des Interesses blieb. In seinem Bemühen um eine lebensweltlich fundierte Theorie der Erfahrung bemühte sich Husserl um eine möglichst vorurteilsfreie und minuziöse Phänomenologie der Wahrnehmung, die allerdings bis zuletzt im cartesisch-kantischen Paradigma einer dualistischen Ontologie und Erkenntnistheorie blieb und der es auch nicht gelang, den menschlichen Geist in einer grundsätzlicheren und allgemeineren Form als der begrifflich-diskursiven zu betrachten. Eine solche Erweiterung wurde jedoch parallel zu und nach Husserl von mehrfacher Seite unternommen: etwa in Heideggers Daseinsanalyse, bei Merleau-Ponty oder in der Sprachphilosophie des späten Wittgenstein. Ich habe in den vorhergehenden Kapiteln, die sich auf Exemplarisches beschränken mußten, auf Heidegger, Merleau-Ponty und Wittgenstein keinen Bezug genommen, doch wäre zweifellos auch im Rekurs auf diese Denker ein erweiterter und vertiefter Erfahrungsbegriff zu gewinnen. Ich habe mich stattdessen auf vier Philosophen beschränkt, die weder der Phänomenologie oder der Existenzphilosophie, noch auch der analytischen Philosophie zugerechnet werden, sondern die einer Traditionslinie zuzuordnen sind, für die sich in der Philosophiegeschichtsschreibung bislang kein gängiges Etikett durchgesetzt hat. 138 Die Philosophiegeschichtsschreibung hat diese Traditionslinie auch noch kaum zur Kenntnis genommen, sondern operiert mit den gewohnten, inhaltlich kaum aufeinander verweisenden Bezeichnungen 'Pragmatismus' (für James), 'Lebensphilosophie' (für Bergson) und 'Neukantianismus' (für Cassirer) 139 , während man Whitehead in der Regel, sofern er denn zur Kenntnis genommen wird, überhaupt nicht zuordnet, sondern ihn als 'weißen Elefanten' 140 im philosophischen Tierpark betrachtet. Was uns in besagter Traditionslinie — die vorhergehenden Kapitel waren bemüht, dies zu zeigen — begegnet, ist eine bestimmte Phänomenologie der Wahrnehmung und Erfahrung, die jenes korrelative Umfeld berücksichtigt, das bei Husserl als 'Lebenswelt' beschrieben wird. Obwohl der Lebensweltbegriff bei James, Bergson, Whitehead und Cassirer nirgendwo expressis verbis an zentraler Stelle auftaucht, lassen sich ihre Entwürfe inhaltlich als Lebensweltkonzeptionen klassifizieren, wobei — vor allem bei Whitehead und Cassirer — hiefür der Begriff der Kultur bemüht wird. Eine dergestalte 'Kulturphilosophie' versteht Kultur als die vielfältigen Hervorbringungen des menschlichen Geistes, deren Charakter und Funktionalität in den Weisen begründet ist, wie der menschliche Geist — via Wahrnehmung, Erfahrung, Vorstellung, Denken, Theorie — seine eigenen Gebilde konstituiert, wie er sie versteht (und mißversteht), wie er mit ihnen im Kontext seines vielfach vernetzten Daseins — seiner 'Lebenswelt' — umgeht. Bei Whitehead und Cassirer werden diese Konstituierungsweisen ausdrücklich als analog interpretierbare 'Symbolismen' bzw. 'symbolische Formen' dargestellt.

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Grundzüge

einer Theorie der

Erfahrung

Die Phänomenologie der Erfahrung, wie sie uns — selbstverständlich unter Abstrich einiger wichtiger Differenzen — bei James, Bergson, Whitehead und Cassirer begegnet und wie sie später als Folie zum Verständnis der 'mystischen Erfahrung' heranzuziehen sein wird, soll vorerst in zehn Punkten resümiert werden. Es läßt sich dabei von einer prozessual-symbolischen Erfahrungstheorie sprechen, die eine nichtapriorische Theorie der Rationalität impliziert. Den zehn Punkten wird jeweils eine zusammenfassende These vorangestellt. *

(1) 'Form' und 'Material' der Erfahrung sind gleichursprünglich. Begriff und Anschauung, theoretische und vortheoretische Erfahrung sind weder voneinander unabhängige Größen, noch sind sie — in die eine oder andere Richtung — aufeinander reduzierbar. Zwar ist Erfahrung meist schon durch Begriffe vermittelt (und dadurch gleichermaßen verdeutlicht wie verengt), doch kann diese Vermittlung reflektiert und durchschaut werden. Eben dadurch ändert sich aber auch die Erfahrung selbst. Grundsätzlich baut sie sich aus zwei Größen auf: dem 'gestaltlosen' Erfahrungs- bzw. Wahrnehmungsstrom und den aus dem Strom sich abhebenden, im Zuge der Wahrnehmung und des Denkens geschaffenen 'Gestalten' als den mehr oder minder konstanten Elementen des (gegenständlich-kategorialen) Bewußtseins. ('Gestalt' und 'gestaltlos' schreibe ich in Anführungszeichen, da dies eine vorläufige Beschreibung ist, die bei näherem Hinsehen zu revidieren ist. Denn zum einen ist der 'reine Bewußtseinsstrom' immer schon in beweglichen Ordnungsmustern strukturiert und somit keinesfalls schlechthin formlos, und zum anderen sind die Gestalten und Formen der Erfahrung niemals endgültige oder gar von Anfang an fertig vorgegebene Fixierungen, sondern selbst veränderlich.) Erfahrung ist somit ein unabschließbares Transformationsgeschehen werdender und vergehender oder, anders gesprochen, sich selbst ständig verändernder Formen. 'Strom' und 'Gestalt' sind als Abstraktionen fungierende Metaphern, die uns dieses Transformationsgeschehen beschreiben helfen. Sie sind keine je für sich isolierbaren Momente der Erfahrung. Konkrete Erfahrungen können freilich — in verschiedenen Abstufungen (und dabei verschiedene Bewußtseinsstufen darstellend) — entweder 'stromhafter' oder 'gestalthafter' sein, dem Fließenden oder dem Konstanten näher. Es ist daher einzuräumen, daß es vorbegriffliche Erfahrung tatsächlich gibt. Es handelt sich dabei aber nicht um einen 'reinen', im wörtlichen Sinn 'gestaltlosen' Empfindungsstrom, sondern um einen Empfindungsstrom flüchtiger, noch nicht oder nur augenblickshaft fixierbarer Gestalten. Doch tendiert die vorbegriffliche Erfahrung dazu, die flüchtigen Gestalten fixierbar, identifizierbar und wiederholbar zu machen. Dies geschieht mit Hilfe des Begriffs bzw. — allgemeiner gesprochen — des Symbols. (Der Begriff ist eine Möglichkeit des Symbols.) Der Bewußtseinsstrom wird so zwar nicht gestoppt, aber doch dergestalt verlangsamt, daß relativ verläßliche Orientierungen möglich sind. Freilich kann eine begriffliche bzw. symbolische Ordnung auch in extremer Weise unbeweglich werden und erstarren, sie kann — in einem apriorischen, äternalistischen Selbstmißverständnis — ihren Ursprung aus dem Empfindungsstrom vergessen. Aber so, wie Wahrnehmung zur

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Erfahrung, Lebenswelt,

Symbolprozeß

Fixierung ihrer Gestalten tendiert, so tendiert sie in weiterer Folge auch zur Infragestellung, zur Kritik und Variation dieser Gestalten. In dieser doppelten Tendenz — einer fixierend-konstruktiven und einer relativierend-kritischen — ist Erfahrung zugleich Rationalität. Sie ist ein Prozeß, der sich sukzessive in Stufen vollzieht: von der 'unmittelbaren' konkreten Wahrnehmung (die völlig unmittelbar nie sein kann, wohl aber relativ unmittelbar) 141 bis zur weitgespannten, komplex organisierten, abstrakten Reflexion. Dieser Erfahrungsprozeß ist zugleich der Rationalitätsprozeß, da Rationalität, die wir als die dynamisch-reflexive Struktur der Erfahrung definieren können, sich in diesem Prozeß und als dieser Prozeß erst bildet. 142 (2) Rationalität ist Symbolizität. Faßt man den Begriff der Rationalität auf die genannte Weise, dann gibt es das Phänomen Rationalität natürlich nicht nur in begrifflicher, sondern auch in einer allgemeineren, sich in unterschiedlichen Ausdrucks- und Reflexionsformen manifestierenden Ausprägung. Diese Allgemeinheit ist die Allgemeinheit des Symbols. Symbolismen bzw. Symbolsysteme — also: Symbole in ihrem funktionalen Zusammenhang — sind daher analog zu Theorien bzw. Begriffssystemen zu denkende Rationalitätsformen des menschlichen Geistes. Man kann somit neben einer begrifflichen, wissenschaftlichen und philosophischen Erfahrung auch von einer ästhetischen, religiösen oder sprachlichen Erfahrung und Rationalität sprechen. Rationalität ist also die — in unterschiedlichen Symbolsystemen unterschiedliche Gestalt annehmende — dynamische Struktur der Repräsentation und stellt das die Erfahrung organisierende Prinzip dar — ein Prinzip, das nichts Apriorisches darstellt und auch nicht 'von außen' an die Erfahrung herangetragen wird, sondern das 'intentionale' Prinzip der Erfahrung selbst ist. (3) Rationalität und Erfahrung sind autopoietisch. Indem Erfahrung diesem ihrem eigenen, inneren, intentionalen Prinzip folgt, ist sie autopoietisch. 143 Sie schafft sich gewissermaßen selbst. Indem sie stetig versucht, die jeweilige Erfahrungssituation strukturell zu organisieren, verändert sie sich selbst und verändert damit auch die Struktur von Wahrnehmung und Reflexion. Der Fortgang von Erfahrung führt demnach immer auch zu (partiellem) Erfahrungsver/wsi. Wo Erfahrung 'klar und deutlich' wird, stößt sie ihren 'diffusen Hintergrund' — und damit auch dessen Reichtum und Vielfalt — von sich. Sie verarmt durch Vereinfachung und Fixierung. Sie gewinnt dadurch aber auch, da sie durch Vereinfachung und Fixierung vieles Flüchtige und Unbestimmte zu einer Einheit zusammenführt und auf diese Einheit als auf eine verläßliche Größe zurückkommen, sie reproduzieren kann. Diese Eigenschaften sind Eigenschaften des Symbols. (4) Rationalität und Erfahrung sind prozessual. Bewegung ist das Prinzip von Rationalität und Erfahrung. Sie ist aber nicht ziellos und beliebig, sondern teleologisch in einem kontingent-formalen Sinn. Sie zielt auf Form- bzw. Symbolstiftung, und das bedeutet: sie zielt auf Rationalität. Als Vermittlungsgeschehen von 'Strom' und 'Gestalt' ist sie der Prozeß der Konstituierung von Begriffen bzw. von Symbolen überhaupt. Verselbständigen sich die Begriffe bzw. Symbole und vergessen sie ihren dynamischen Ursprung, entsteht ein unzutreffendes Bild dessen, was Erfahrung und Bewußtsein sind. (Diese Erkenntnis muß zu einer Kritik klassischer Rationalitäts- und Erfahrungstheorien

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Grundzüge einer Theorie der

Erfahrung

in der Philosophie führen.) 144 Doch kann das Wissen über den Ursprung wiedergewonnen werden, kann der Ursprung selbst — als der Strom der vorbegrifflichen Empfindungen und Imaginationen — noch einmal repräsentiert werden durch die 'Anstrengung des Begriffs'. 145 Es ist also nicht eine jenseits von Begrifflichkeit anzusiedelnde 'Intuition' (in der landläufigen, nicht in der bergsonschen Bedeutung des Ausdrucks), die es uns erlauben würde, per se in die Sphäre des Vorbegrifflichen 'einzutauchen' und so ein 'höheres' oder 'tieferes', jedenfalls aber nichtbegriffliches Wissen zu erlangen. Der Begriff begreift sich selbst vielmehr in seinem allgemeinen Charakter als Symbol, und er begreift sich als — unabgeschlossenes — Prozeßprodukt. (5) Autopoiesis heißt: zunehmende Selbstbeherrschung und Selbstreflexion. Erfahrung ist ein Prozeß, in dem Vernunft sich erst bildet, um dann in immer höherem Ausmaß den Prozeß zu beherrschen. Dieser ist der Vorgang der Gegenstands- und Begriffskonstitution und eben darin der Prozeß der Bildung, Ausgestaltung und Weiterentwicklung von Symbolen bzw. Symbolismen. Gegenstands- und Begriffskonstitution bzw. Symbolbildung sind aber nicht der Endpunkt des Prozesses. Indem die Erfahrung bzw. die Rationalität ihren Konstitutionscharakter als intentionalen Prozeß erkennt, relativiert — d.h. variiert, verändert und kritisiert — sie ihre Gegenstände, Begriffe und Symbole. Diese selbstreflexive Tätigkeit muß nicht immer deutlich und bewußt vonstatten gehen, sie kann auch, wie dies vor allem in künstlerischen Prozessen der Fall zu sein scheint, vorbewußt oder teilbewußt betrieben werden. (6) Die lebensweltliche Vielfalt wird symbolisch organisiert. Erfahrung ist eingelassen in eine vielfältige, nicht überblickbare Lebenswelt. Sie organisiert diese Lebenswelt in der Weise gegenständlich-kategorialer Strukturen, und sie organisiert sich damit auch selbst — nämlich als Ordnung, als Rationalität. Sie organisiert jedoch nie das Ganze, die Totalität der Lebenswelt, und daher geht die anfängliche 'Unordnung' (Whitehead) auch niemals in eine endgültige Ordnung über. Das Chaotische und Anarchische bleibt als Ferment der weiteren Entwicklung auf jeder Stufe der Erfahrung erhalten, auch wenn es in den Hintergrund gedrängt (und aus dem Bewußtsein verdrängt) sein mag. (Hier hat die Rede vom 'Anderen der Vernunft' ihren phänomenologisch gerechtfertigten Sinn. Vernunft kann nicht alles sein bzw. sie muß nicht allem sich anpassen. Sie kann sich nur — wenngleich nicht ahistorisch und immergleich im Sinne Kants, sondern historisch-kontingent, mit verschiebbaren Grenzen — als begrenzt erfahren und sich in solchem Endlichkeitsbewußtsein ihrem 'Anderen' öffnen als dem Gemeinsamen im gemeinsamen Erfahrungshintergrund.) Nur eine ängstliche Vernunft sieht ihr Anderes als Bedrohung an. Eine gelassene Vernunft setzt sich ihrem 'Anderen' ohne Vorbehalte aus, d.h. der Erfahrungsprozeß treibt sich in diesem Fall selbst weiter gemäß einer inneren Tendenz, die darin besteht, Erfahrungsgestalten nicht nur zu fixieren und reproduzierbar zu machen, sondern sie zugleich in Frage zu stellen, zu variieren und zu überwinden. 146 (7) Erfahrung ist dialektisch: Formen fixierend und kritisierend. Die Erfahrung auf allen ihren Stufen — von der relativ einfachen Empfindung und Wahrnehmung bis zu denkbar komplexer Reflexion und Abstraktion — befindet sich in einer Dialektik von Beständigkeit und Unbeständigkeit, von gewonnener Gestalt und neu herausforderndem

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Erfahrung, Lebenswelt, Symbolprozeß

Fluß. Der primäre Erfahrungsfluß ist nur unbeständig. Er ist zwar strukturiert, doch sind es schemenhafte, stets wechselnde, noch nicht fixierbare Strukturen: schwebende, fließende, keinen Halt findende Imaginationen sowie flüchtige, nicht wirklich identifizierbare Sinneswahrnehmungen und Abstraktionsblitze, die — um in der Bildlichkeit des Lichts zu bleiben — aufleuchten und im Handumdrehen in ein Nichts verlöschen. Hier gibt es zwar eine belebte Szenerie der 'unteren' Wahrnehmung, aber es wird nichts Bleibendes (Symbolisches) konstituiert. Hier ist — mit Cassirer zu sprechen — fast alles nur 'Ausdruck', aber es fungiert noch keine 'Darstellung' und keine 'Bedeutung'. Bedeutungen (in des Ausdrucks landläufigem Sinn) blitzen zwar auf, sind aber nicht fixierbar, sondern vielmehr unbestimmt, mehrdeutig, widersprüchlich und in extremer Weise fließend. Dieser primäre Erfahrungsfluß ist demnach als vorsymbolisch zu bezeichnen, da Symbolik erst gleichzeitig mit Fixierung entsteht. Im Vorsymbolischen gibt es gewissermaßen noch fließende Verweisungsgefüge oder Verweisungsmuster — es sind freilich bereits die ersten Formen von Repräsentation. Diese bilden genetisch die Voraussetzung für Symbole, diese wiederum die Voraussetzung für Fixierungen der Einbildungskraft ('Symbole im Kopf'). 147 Die Repräsentation ist also grundlegender als das Symbol, und dieses ist grundlegender als die Fixierung, da diese erst durch jenes erfolgt. 148 (8) Symbolisierung bedeutet: Fixierung und Synthese. Symbole haben die Funktion, Imaginationen und Wahrnehmungen an ein stoffliches Medium bzw. an ein materielles Zeichen zu 'binden' und sie durch diese Bindung in eine greif- und faßbare Einheit und Gestalt zusammenzuführen. Das Symbol ist eine synthetisierende Leistung, die sich der inneren Intention des Erfahrungsflusses in Richtung Rationalität, d.h. in Richtung maximaler Selbstorganisation, verdankt. Wird das Symbol in der Betrachtung von diesem Gestalt und Einheit stiftenden, intentionalen Symbolisierungsafa getrennt, verliert es seine im Hinblick auf authentische Erfahrungsrepräsentation legitimatorische Kraft. Das Symbol wird dann zum austauschbaren Etikett, von dem zu bezweifeln ist, ob es überhaupt eine Realität bezeichne, ob es nicht bloß ein parasitärer Signifikant sei, auf den man auch verzichten kann. (In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, 'Symbol' und 'Zeichen' terminologisch zu unterscheiden.) Zu bloßer Etikettierung kann es nur kommen, wenn der Erfahrungsprozeß stagniert, wenn seine Intentionalität ihn als sein dynamisches Prinzip nicht mehr bestimmt, wenn er nicht mehr über sich selbst hinaus weitertreibt. Ist das Symbol lebendig und hat es legitimatorische Kraft, dann weist es über sich selbst hinaus, stellt es sich selbst in Frage, setzt es sich dem Fluß dessen, was es bisher noch nicht organisiert hat, aus. (9) Erfahrung ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Symbolsysteme. Symbole bzw. Symbolsysteme sind — bildlich gesprochen — gewissermaßen die kristallinen Strukturen der Erfahrung. (Daß Kristalle wachsen, erhöht die Adäquanz dieser Metapher. Allerdings blendet sie das wichtige Moment der Rückführung der 'Gestalten' in den 'Fluß' völlig aus; insofern ergibt sie nur ein vorläufiges, korrekturbedürftiges Bild.) Symbole bzw. Symbolsysteme entstehen auf dem Wege von Erfahrung, durch sie organisiert sich Erfahrung, und in ihnen repräsentiert sich Erfahrung. Die Einheit der Erfahrung, wie sie sich in diversen Symbolismen ausdrückt, ist freilich keineswegs ho221

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

mögen und nicht ohne weiteres überblickbar. Unsere gesamte, lebensweltliche Erfahrung baut sich aus der Erfahrung der einzelnen Symbolismen und aus deren Zusammenspiel auf. Die Symbolismen konkurrenzieren oder ergänzen einander, sie hemmen oder fördern sich gegenseitig. (Dies läßt sich an vielen konkreten Beispielen des Verhältnisses etwa von Wissenschaft, Kunst und Religion zueinander belegen.) Die Interaktion der Symbolismen schafft den Raum für ein in sich heterogenes, gleichwohl die Heterogenität in ein gemeinsames Kraftfeld bannendes Erfahrungsganzes, das offenkundig zwar durchmessen, aber nicht ermessen werden kann, das prinzipiell unüberblickbar ist und stets in Bewegung bleibt. (10) Erfahrung ist partiell. Jede Erfahrung ist eine kontingente Anschlußleistung an eine vorhergehende Erfahrung und grenzt sich eben dadurch von einer Mehrzahl möglicher anderer Erfahrungen ab. Dies macht die Vorläufigkeit und Endlichkeit jeder Erfahrung aus: sie ist grundsätzlich transzendierbar. Nur ihr abstrakter, potentieller Möglichkeitsraum könnte unendlich sein und könnte den Horizont von Totalität eröffnen — wobei man sich jedoch fragen muß, ob die Gleichsetzung dieses allenfalls unendlichen Möglichkeitsraumes mit der (theoretisch gedachten) Totalität aller möglichen Erfahrungen legitim sein kann. Denn es gibt für Unendlichkeit und Totalität offensichtlich keinen übergeordneten gemeinsamen Begriffsrahmen. Jedenfalls läßt sich keine konkrete Einzelerfahrung als das Ganze der Erfahrung ausweisen, und das Ganze der Erfahrung läßt sich nirgendwo als ein beschreibbarer Symbolprozeß konkretisieren. Freilich hat jede Erfahrung einen großen, diffusen Hintergrund, den sie als das Ganze dessen, wovon sie selbst ein Teil ist, empfinden und deuten kann. Sie kann dieses Ganze unter Umständen sogar symbolisieren wollen. Als 'Gestalt im Wandel' muß sie aber jede Symbolisierung als ein zeitliches und vorläufiges Produkt des Erfahrungsflusses hinter sich lassen, muß sich dadurch selbst wieder relativieren und partialisieren. Somit ist nicht nur jede 'normale' Erfahrung eine partielle Aktion, sondern auch jeder Versuch, die Erfahrungstotalität zu repräsentieren. Nicht nur die Mystik, auch die klassische Metaphysik und die theologisch systematisierte Hochreligion können jeweils als eine diesbezügliche Totalitäts-Anstrengung aufgefaßt werden.

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1.3 Neuere Fortschreibungen der prozessualsymbolischen Erfahrungstheorie

William James, der historisch älteste der bisherigen Referenzautoren, zählt neben Charles S. Peirce zu den Begründern des Pragmatismus. 149 Er wurde — anders als Peirce, der erst seit kurzem auf ein relativ breites Interesse stößt150 — schon früh nicht nur in der amerikanischen, sondern auch in der kontinentalen Philosophie rezipiert, so z.B. von Bergson, Cassirer, Husserl und Wittgenstein. Doch hat James — anders als Peirce — keine Tradition einer semiotischen Philosophie begründet. Wie immer man nun terminologisch das Verhältnis von 'Symbol' und 'Zeichen' bestimmt — sei es als Gleichsetzung oder als differenzierende Subsumption des einen Begriffs unter den anderen —, jede 'Symbolphilosophie' und jede 'Zeichenphilosophie' müssen sich im Hinblick auf ihr mögliches Problemfeld und ihre möglichen Methodenkonzepte jedenfalls vielfach überschneiden. Dies gilt selbstverständlich auch für einen Vergleich von Whiteheads und Cassirers Symboltheorie einerseits und Peirces Zeichentheorie andererseits. An letztere schließen sich — der bedeutendste Fortsetzer ist sicherlich Charles Morris151 — verschiedene Traditionen einer analytischen und strukturalistischen152 Zeichentheorie an, die aber wiederum auf die cassirersche und whiteheadsche Symboltheorie kaum je Bezug nehmen. Im Hinblick auf die philosophische Problemgeschichte von Zeichen und Symbol ist eine Synopsis der genannten Denkrichtungen ein Desiderat, das im vorliegenden Zusammenhang freilich nur zu vermerken ist und das abzuarbeiten ein großangelegtes Forschungsunternehmen wäre. 153 Bis heute gehen die von James und Peirce ausgehenden Traditionen verschiedene Wege und nehmen kaum Notiz voneinander. Ich befasse mich im folgenden lediglich mit neueren Fortschreibungen des whiteheadschen und cassirerschen Ansatzes. Hier ist in erster Linie die amerikanische Philosophin Susanne Langer zu nennen, deren Denken wohl die geschlossenste Fortführung des besagten Ansatzes darstellt.

1.3.1 Langer und Goodman Susanne Langer — eine der zu Unrecht gegenwärtig kaum rezipierten neueren Philosophinnen 154 — hat in ihren Arbeiten Philosophy in a New Key (1942), Feeling and Form (1953) und dem dreibändigen Mind. An Essay in Human Feeling (1967/72/83) 155 eine methodisch z.T. vertiefende und thematisch erweiterte Fortsetzung der Symbolphi-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

losophie Cassirers erarbeitet, indem sie vor allem das Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsverständnis von Kunst in den Mittelpunkt des Interesses rückte und das dem Mythos korrelative Phänomen des Ritus als eigene symbolische Form darstellte. Langer unterscheidet grundsätzlich zwischen 'diskursiven' (sprachlichen) und 'präsentativen' (nichtsprachlichen) Symbolformen. 156 Sie knüpft in erheblichem Maß auch an die Symboltheorie Whiteheads an — die dieser zwar zeitlich parallel zu Cassirer, aber unabhängig von ihm entwickelt hat — und integriert die beiden einander sehr ähnlichen Symbolkonzeptionen in den eigenen Entwurf. Sie greift auf Whiteheads Begriff feeling zurück, von dem vorhergehend schon die Rede war, und macht ihn zum Zentralbegriff der eigenen Philosophie. Langers Ansatz ist, obwohl er insgesamt der cassirerschen Position nähersteht als der whiteheadschen, ausdrücklich anti-kantianischer, als dies bei Cassirer der Fall ist. Nachdrücklicher als Cassirer betont sie den Unterschied zwischen Begriff und Symbol als jeweils möglichem Ansatz des Weltverstehens und einer allgemeinen Theorie des menschlichen Geistes. "Im fundamentalen Begriff der Symbolisierung", schreibt sie, "gleichviel ob mystischer 157 , praktischer oder mathematischer Art — liegt der Schlüssel zu aller menschlichen Existenz." 158 Nachdrücklicher als Cassirer betont sie den Transformationscharakter des — anthropologisch gedeuteten159 — Symbolisierungsgeschehens. Es handle sich um "das menschliche Grundvermögen der symbolischen Transformation" 160 , das "der wesentlich transformatorischen Natur des menschlichen Begreifens" 161 entspreche. Unser Begreifen der Realität und der Dinge sei niemals ein direktes oder abbildliches, sondern qualitative Neuschöpfung der Wirklichkeit durch das 'transformierende' Symbol. Damit wendet sich Langer gegen einen platten Realismus, in gleicher Weise aber auch gegen einen selbstgenügsamen Idealismus, der annimmt, die Symbolproduktion könne ohne Rücksicht auf die vorsymbolische 'Realität an sich' und ohne jegliche Bindung an diese vorgenommen werden. Die Kooperation des Symbolisierens mit realistischen Rahmenbedingungen und die mögliche Korrektur durch solche Rahmenbedingungen wird ausdrücklich hervorgehoben. 162 Langer geht von dem Grundsatz aus, daß menschliches Dasein in erster Linie Handeln und erst in zweiter Linie Denken sei, und unterscheidet demgemäß in unserem Umgang mit Sinnesdaten bloße 'Anzeichen' (für das Handeln) von 'Symbolen' (für das Denken), die ihrerseits auf den Anzeichen aufbauen und sie in fixierbare, reproduzierbare Formen überführen. 163 Besagte Unterscheidung markiert auch die — für Langer einschneidende — Zäsur zwischen tierischer und menschlicher Existenz. Tiere seien der 'Übersetzung von Erfahrungen in Symbole' und damit der 'Ideation' — Ideen sind nämlich der Gehalt von Symbolen — nicht fähig. Ich zitiere dazu eine Schlüsselstelle aus Philosophy in a New Key: "Das Gehirn [...] übersetzt [...] Erfahrungen in Symbole. Es betreibt einen dauernden Prozeß der

Idea-

tion. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Ideen aus Eindrücken gebildet werden — aus Sinnesbotschaften der einzelnen Wahrnehmungsorgane und aus vagen innerleiblichen Gefühlsberichten. Das Gesetz, nach dem sie entstehen, ist aber keines der direkten Kombination. [...] Der Ideationsprozeß vollzieht sich [...] als Prinzip des Symbolisierens [...]. Das von den Sinnen gelieferte Material wird fortwährend zu Symbo-

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Neuere Fortschreibungen

len verarbeitet, die unsere elementaren Ideen sind. Einige von ihnen lassen sich nach der Art, die wir als 'vernünftiges Denken' bezeichnen, kombinieren und manipulieren; andere widersetzen sich dem und werden automatisch in Träume verwoben oder in bewußten Phantasien verarbeitet; unermeßlich ist die Zahl derer, die das höchst typische und grundlegende Werk des menschlichen Geistes, das Gebäude der Religion errichten. Symbolisierung ist vorbegrifflich, aber nicht vorrational. Sie ist der Ausgangspunkt allen Verstehens im spezifisch menschlichen Sinne und umfaßt mehr als Gedanken, Einfälle oder Handlungen. Denn das Gehirn ist nicht bloß eine große Vermittlungsstation, eine Superschalttafel, sondern eher ein großer Transformator. Der ihn durchlaufende Erfahrungsstrom verändert seinen Charakter, nicht durch das Zutun des Sinnes, der die Wahrnehmung empfing, sondern vermöge des primären Gebrauchs, der sofort davon gemacht wird; er wird eingesogen in den Strom von Symbolen, den, der den menschlichen Geist konstituiert. Unsere konkreten Handlungen werden von Vorstellungen geleitet, deren objektive Entsprechungen sich nirgends aufweisen lassen, deren Gegenstände nur in einem Pickwickschen Sinne 'Wahrnehmungen' sind. Die Vorstellungen, auf die hin wir handeln, sind Symbole von sehr verschiedener Art. Dieser Tatbestand wird von den meisten Erkenntnistheoretikern vage und allgemein anerkannt; was aber keine gebührende Anerkennung gefunden hat, ist die ungeheure Wichtigkeit eben der Arten." 1 6 4

Vor allem mit ihrer Darlegung der 'präsentativen Formen' — insbesondere in Kunst und Ritus — versucht Langer die Vielfalt möglichen Symbolisierens aufzuzeigen. Die Ordnung dieser Vielfalt sieht sie nicht in einer Architektonik und Hierarchie vorbegrifflicher und begrifflicher Vermögen gegeben, sondern in einem 'Sinngewebe' 165 unterschiedlicher Erfahrungen, die wir in unterschiedlichem Grad und unterschiedlicher Weise in Symbole übergeführt haben und auf die wir uns in unserem Denken und Handeln auch in unterschiedlichem Grad und unterschiedlicher Weise beziehen können. Das 'Sinngewebe' ist selbst in ständiger Transformation begriffen und somit kein abgrenzbarer und gegenständlich klar überschaubarer Horizont. Es ist der — in Whiteheads Terminologie — 'diffuse' und 'kompakte' Hintergrund aller symbolischen Gestaltbildung, der selbst jedoch keineswegs strukturlos, sondern als stets auch im Detail thematisierbarer 'fließender Ordnungszusammenhang' zu sehen ist. Mit dem Terminus 'Sinngewebe' reformuliert Langer, so könnte man sagen, selbstverständlich nichts anderes als das Problem der Lebenswelt. Diese kann, wie bereits bei Husserl deutlich wurde, nicht dergestalt zum Gegenstand einer Theorie werden, daß sie in dieser Theorie aufginge und nicht selbst wieder als deren Möglichkeitsbedingung in Erscheinung träte. Dennoch können einzelne Komponenten der Lebenswelt 'verdichtete' Strukturen bilden, in denen ein konzentrierendes Verweisungsgefüge für das 'Ganze' der Lebenswelt entsteht. Die einzelne Struktur hat dann einen Bedeutungsüberschuß, der dieses Ganze mehr oder minder deutlich evoziert. Dies kann für wissenschaftliche Strukturen genauso gelten wie für künstlerische, religiöse oder alltägliche. Je mehr Verweisungsbezüge eine Struktur ausbildet, umso 'ganzheitlicher' und 'lebensweltbezogener' wirkt sie. In der symboltheoretischen Lebensweltphilosophie Langers werden diese Strukturen als Symbole dargelegt. Als Beispiel für ein 'verdichtendes', einen ganzheitlichen Horizont aufschließendes Symbol nennt die Autorin das Kreuz:

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

"Von manchen Symbolen — nicht nur von Worten, sondern von anderen Formen — kann man sagen, sie seien mit Bedeutungen 'geladen'. Sie haben Symbol- und Anzeichenfunktionen in großer Zahl, die zu einem Komplex integriert sind, so daß leicht alle zugleich sympathetisch mit der einen gerade aktuellen Funktion heraufbeschworen werden. Das Kreuz ist ein solches 'bedeutungsgeladenes' Symbol: das tatsächliche Instrument von Christi Tod und daher ein Symbol des Leidens; ihm als wirkliche Bürde auferlegt und wirkliches Erzeugnis menschlicher Arbeit und auf Grund von beidem ein Symbol der von ihm auf sich genommenen moralischen Bürde; ferner ein altertümliches Symbol mit kosmischer Konnotation für die vier Punkte des Tierkreises; ein 'natürliches' Symbol für Wegkreuzungen (es dient auf unsern Fahrstraßen als Warnungszeichen vor einer Straßenkreuzung) und daher für Entscheidung, Krise, Wahl; auch ein Zeichen für Durchkreuztwerden, d.h. für Frustration, Widerwärtigkeit, Schicksal; und schließlich ist das Kreuz für das künstlerische Auge eine menschliche Gestalt. Alle diese und noch viele andere Bedeutungen schlummern in dieser einfachen, vertrauten, sinnerfüllten Form. Kein Wunder, daß es eine magische Form ist! Sie ist geladen mit Bedeutungen, die alle menschlich und emotional und in vager Weise kosmisch sind, integriert in der Konnotation des ganzen religiösen Dramas von Sünde, Leiden und Erlösung. Doch verdankt das Kreuz zweifellos viel von seinem Reichtum dem Umstand, daß es die physischen Attribute eines guten Symbols besitzt: es läßt sich leicht herstellen — auf Papier zeichnen, aus Holz oder Stein errichten, aus kostbarem Stoff als Amulett formen, als rituelle Geste läßt es sich erkennbar mit dem Finger beschreiben. Seine Eignung als Symbol ist so offensichtlich, daß wir trotz seiner heiligen Konnotationen keine Scheu haben, es rein weltlich, diskursiv zu benutzen; als plus-Zeichen oder, schräg gestellt, als mal-Zeichen, auch zur Markierung auf Wahlzetteln und zu vielen anderen Arten des Anmerkens." 1 6 6

Diese Passage über die Symbolfunktion des Kreuzes ist für Langer kein Einstieg in eine speziell 'christliche Philosophie 1 . Sie nennt im Anschluß an die zitierte Stelle als ähnlich bedeutungsreiches Symbol das 'Schiff'. 167 Das Kreuz ist aber auch nicht Anlaß für eine Erörterung der Mystik, die — ich verweise auf die Interpretation des Altgermanisten Walter Haugi6S — als derart auf den Horizont des Ganzen der Erfahrung bezogenes metaphorisches Verweisungsgefüge begriffen werden kann. Nicht vom Ganzen, sondern nur vom Grundcharakter der Erfahrung ist bei Langer die Rede. Dieser Grundcharakter besteht im Symbolisieren, dessen höchst unterschiedliche 'Formen' oder 'Weisen' sich nicht von einer obersten 'Grundform' oder 'zentralen Weise' ableiten lassen, sondern die — nichthierarchisch — bloß in Analogie zueinander stehen. *

Eine den Problemstellungen und Lösungsvorschlägen Langers vielfach verwandte, aber aus ganz anderen Traditionen — nämlich denen der analytischen Philosophie, insbesondere Carnaps — sich herleitende Position bezieht Nelson Goodman. Diese Verwandtschaft gilt zumindest für sein Werk Languages of Art (1968) und die daran anschließenden Arbeiten Ways of Worldmaking (1978), Of Mind and Other Matters (1984) sowie — gemeinsam mit C.Z. Elgin verfaßt — Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences (1988). 169 Mit Langer teilt Goodman die Abwehr naturalistischer Auffassungen in der Erkenntnistheorie und das Eintreten für eine konstruktivistische Auffassung 170 , das Interesse für das kreative Moment aller Begriffs- und Theoriebildung und für die Kunst171, schließlich die Forderung nach einer 'Neufassung der Philosophie' im

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Neuere Fortschreibungen

Hinblick auf eine Verabschiedung leitender traditionell-philosophischer Grundbegriffe wie Wahrheit, Gewißheit und Wissen. Langers 'new key', Goodmans 'reconceptions' zielen beide — in gemeinsamer Wendung gegen das einseitig begriffliche Weltverständnis der Transzendentalphilosophie — auf eine allgemeine Symboltheorie, die "die Struktur der Begriffe [...] durch die Strukturen der verschiedenen Symbolsysteme der Wissenschaften, der Philosophie, der Künste, der Wahrnehmung und der alltäglichen Rede zu ersetzen" 172 sucht. Dabei bezieht sich Goodman nur ganz am Rande auf Cassirer. 173 Seine Kritik ist — ähnlich wie die neueren Arbeiten von Putnam und Toulmin174 — eine lebensweltlich orientierte Selbstkritik der bislang allzu sehr mit formalen Operationen und bloßen Begriffen beschäftigten analytischen Philosophie. Für den Diskurs der Wissenschaften fordert er eine Berücksichtigung des ausgeblendeten 'Hintergrundwissens'. Sowohl inhaltlich als auch methodisch müsse die Philosophie einen breiteren und den Phänomenen gerechter werdenden Zugang zur Wirklichkeit entwickeln. Nach Goodman "präsentieren sich uns die Dinge nicht in irgendeinem privilegierten Vokabular und Kategoriensystem. Wir besitzen eine Vielfalt von Vokabularen und Kategoriensystemen, die unterschiedliche Möglichkeiten bieten, in denen Dinge getreu repräsentiert und beschrieben werden können." 1 7 5 "Bei all dieser Vielfalt konzentriert sich die Aufmerksamkeit normalerweise auf Versionen, die buchstäblich, denotativ und verbal sind. [...] Versionen, die aus Wahrnehmungen und Bildern bestehen, die mit Mitteln der übertragenen Rede oder der Exemplifikation arbeiten oder nicht-verbale Medien verwenden, bleiben dabei außer acht." 1 7 6

Die Ausdrücke 'Symbolsysteme', 'Systeme', 'Versionen', 'Konstruktionen' und 'Welten' gebraucht Goodman synonym. Es gebe, behauptet er, nicht ein Symbolsystem, sondern eine Pluralität nebeneinander bestehender und z.T. konfligierender Systeme, die unterschiedlich strukturiert, aus unterschiedlichen Elementen aufgebaut, von unterschiedlichen Interessen geleitet und durch unterschiedliche Methoden geprägt seien. Diesen ('vorwiegend funktionalen) Unterschieden sei in der konkreten Analyse der einzelnen Systeme nachzugehen. Denken, das er mit Symbolisieren gleichsetzt, ist für Goodman kein Abbilden, sondern ein vielfältiges 'Machen', 'Hervorbringen', 'Erzeugen' (making, working, creating) unterschiedlicher 'Welten' — und zwar sowohl in erkenntnistheoretischer wie in ontologischer Hinsicht. Jede 'Welt' ist ein Symbolsystem und "eine neue Weise, unsere Erfahrung zu organisieren". 177 "Welten werden erzeugt, indem man mittels Wörtern, Zahlen, Bildern, Klängen oder irgendwelchen anderen Symbolen in irgendeinem Medium solche Versionen erzeugt; und die vergleichende Untersuchung dieser Versionen und Sichtweisen sowie ihrer Erzeugung ist das, was ich eine Kritik der Welterzeugung nenne." 178 Es gibt keine vorgegebene Hierarchie all dieser Systeme und kein oberstes, allgemeinstes System. Stattdessen "läßt sich eine Vielzahl von Symbolsystemen konstruieren, die weder auf eine einzige bevorzugte Basis reduzierbar noch mit ihrer Hilfe zu rechtfertigen sind. Diese Systeme unterliegen außerdem unterschied-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

liehen Standards, und es gibt keinen neutralen Standpunkt, von dem aus alle bewertet werden können. [...] Berücksichtigung der Konsistenz, der Treue zur vorhergehenden Praxis, der Erfüllung unserer Ziele beim Systematisieren und der Eignung für die vorliegenden Zwecke lassen unterschiedliche Spezifizierungen zu, erhalten unterschiedliche Gewichtungen und werden auf unterschiedliche Weisen bei der Konstruktion unterschiedlicher Symbolsysteme verwirklicht. Aber nichts davon wird durch bloßen Beschluß verwirklicht." 179

Besonders in Ways of Worldmaking legt Goodman großen Nachdruck auf die Feststellung, daß in seiner Symbolphilosophie der Begriff der Wahrheit keinen sinnvollen Platz mehr einnehmen könne, da Wahrheit immer der Abbildungskonzeption und der Konzeption einer an sich bestehenden, denkunabhängigen Realität verpflichtet sei.180 Eine solche denkunabhängige Realität aber sei eine Chimäre. Realität müsse als 'worldmaking', d.h. Denken bzw. Symbolisieren, definiert werden. Für diese Gleichung gelte allerdings auch der Umkehrschluß, sofern es sich um 'echte' Symbolsysteme handelt. 181 Ein 'echtes' System "zwingt einem Gebiet ebensosehr Ordnung auf, wie es Ordnung in ihm ausfindig macht". 182 'Gebiete' — damit sind gemeint: materiale Inhalte — lassen sich auf verschiedene, manchmal auch miteinander unverträgliche Weise 'organisieren'. Jede solche Version muß sich aber durch ihre 'Richtigkeit' und ihr 'Passen' ausweisen, wobei das Passen "eine Sache des Zusammenpassens mit einer Praxis ist". 183 Zwar handle es sich bei Symbolsystemen um menschliche 'Erfindungen', doch seien sie — hier spricht sich Goodman, wie zuvor Langer, gegen einen schrankenlosen Idealismus aus — niemals willkürlich184: "Symbolsysteme sind Artefakte. Ihre syntaktischen und semantischen Merkmale [...] resultieren aus Entscheidungen, die wir darüber treffen, wie das [Erfahrungs-jGebiet zu organisieren ist. [...] Doch zu sagen, daß Symbolsysteme Erfindungen sind, bedeutet keineswegs, daß [...] wir es durch bloße Festsetzung zu einem solchen machen können. 1,185

Goodman ist besorgt, seine Verabschiedung des Wahrheitsbegriffs könnte als Plädoyer für einen fiktionalistischen oder dezisionistischen Standpunkt mißverstanden werden: "Wir haben Wahrheit nicht zugunsten von Bestätigung, Gewißheit nicht zugunsten von Wahrscheinlichkeit und Wissen nicht zugunsten von Meinung fallengelassen; und wir haben uns nicht mit einem schrankenlosen Relativismus abgefunden." 186 Denn "die Anerkennung von vielfachen alternativen Weltversionen [bedeute] nicht den Anfang einer laissez-faire-Po\itik. Maßstäbe zur Unterscheidung von richtigen und falschen Versionen werden dadurch eher wichtiger als unwichtiger." 187 An die Stelle des Maßstabs der Wahrheit (truth) — der für die meisten, vor allem für die (in Langers Diktion:) präsentativen Symbolsysteme nicht anwendbar oder einfach nicht relevant ist188 — tritt also der Maßstab der Richtigkeit (rightness) und des Passens (fitting): "Systeme unterliegen [...] multiplen Standards der Richtigkeit. Bei der Konstruktion eines Systems kommen Erwägungen wie Genauigkeit, Reichweite, Verankerung und Eignung zum Tragen." 189 Diese Erwägungen sind die Vorbedingun-

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Neuere Fortschreibungen

gen, unter denen ein Symbolsystem konstruiert wird. Von diesen Vorbedingungen (constraints)190 sind die Weisen (ways) des Konstruierens bzw. 'Welterzeugens' zu unterscheiden: Komposition und Dekomposition (von Elementen), Gewichtung und Betonung, Ordnen, Tilgen und Ergänzen sowie Deformieren (einer vorgegebenen Gestalt).191 Vorbedingungen und Weisen werden je nach den Erfordernissen eines Symbolsystems —• man denke an den unterschiedlichen Charakter z.B. wissenschaftlicher, künstlerischer und alltäglicher Versionen — ausgewählt und angewendet. Wichtig ist, daß keine Version an einem Nullpunkt beginnt, sondern daß sie stets an vorgegebene Versionen anknüpft und diese transformiert: "Wir beginnen jedesmal mit irgendeiner alten Version oder Welt, über die wir schon verfügen und an die wir auch so lange gebunden sind, bis wir die Entschlossenheit und Fertigkeit haben, sie zu einer neuen umzubilden. [...] Welterzeugung beginnt mit einer Version und endet mit einer anderen." 192 Obwohl sich Goodman mehrmals gegen den pragmatistischen Wahrheitsbegriff ausspricht193, kommt seine Konzeption von 'Richtigkeit' und 'Passen' jener Vorstellung von Wahrheit recht nahe, die James in seinen Pragmatismus-^orlesungen entwickelt. Das sogenannte Kohärenzprinzip versteht James ja nicht bloß als logische Verträglichkeit systemisch verbundener Aussagen, sondern auch im Sinne der Integration bisherig praktizierter Überzeugungen und künftiger Anwendungsmöglichkeiten. Dadurch steht die pragmatistische Wahrheit in einem vielfältig-lebensweltlichen und, in Rücksicht auf solche Vielfalt, offenen und veränderungsfähigen Kontext. Goodman reduziert jedoch — einem verbreiteten Vorurteil folgend — das pragmatistische Wahrheitskriterium auf 'Nützlichkeit' und 'Praktizismus'. Wenn er jedoch in seiner programmatischen Revision der Philosophie und ihrer Grundbegriffe "an die Stelle von Wahrheit, Gewißheit und Wissen •— die alle auf behauptende Symbole beschränkt sind — Richtigkeit, Übernahme und Verstehen treten" läßt194, so ist es vermutlich nicht abwegig, von einer Neuformulierung pragmatistischer Traditionskritik zu sprechen.

1.3.2

Schwemmer

Es erfolgt hier keine Gesamtdarstellung der Philosophie Oswald Schwemmersm, sondern nur eine in systematischer Absicht unternommene Darlegung derjenigen seiner Philosopheme, die sich als Fortschreibung der Lebenswelttheorie und der prozessualsymbolischen Erfahrungstheorie referieren lassen. Eine Gesamtdarstellung hätte zu berücksichtigen, daß Schwemmers Hauptinteresse in fast allen seinen Schriften den Problemen der Ethik und somit den Handlungsnormen gilt und daß er deshalb sein erfahrungstheoretisches Interesse primär im Rahmen der Ethikdiskussion entwickelt. Des weiteren müßte eine Gesamtdarstellung auf die Zäsur in seinem Denken eingehen, die sich etwa in die Mitte der 80er Jahre datieren läßt und die, je nach Lesart, eine Verabschiedung oder doch zumindest eine starke Modifikation des Erlanger Konstruktivismus bedeutet. Ich beziehe mich im folgenden nur auf Arbeiten dieser zweiten, jüngeren

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Phase nach der betreffenden Zäsur, insbesondere auf die beiden Bücher Handlung und Struktur (1987) sowie Die Philosophie und die Wissenschaften (1990). Schwemmer entwickelt seine Erfahrungstheorie vom Ausgang einer Handlungstheorie her, die er zusammen mit Lebenswelttheorie und Systemtheorie unter die gemeinsame Perspektive einer kritischen Phänomenologie stellt. Hervorzuheben ist, daß er seine Symbolphilosophie ausdrücklich mit medientheoretischen Aspekten verbindet bzw. daß er sie als eine Medienphilosophie reformuliert.

1.3.2.1

Handlung, System und Lebens weit

In seiner frühen Arbeit Philosophie der Praxis (1971)196 und in seinen Publikationen bis Mitte der 80er Jahre, die noch dem Programm des Erlanger Konstruktivismus verpflichtet sind, bemüht sich Schwemmer um eine universale normative Grundlegung des moralischen und kommunikativen Handelns. Dieses soll von einer Regel- und Prinzipienethik geleitet werden, die das Phänomen des menschlichen Handelns strukturell im Sinne der klassischen Handlungstheorie Kants interpretiert: nämlich als die Struktur eines intentionalen Vollzugs, der als vollgültige Realisierung eines in Absicht und Vorstellung bereits vorweggenommenen Handlungsergebnisses veranschlagt wird. Handlung erscheint also einlinig als der Vollzug einer von vornherein klaren Handlungsabsicht, deren reale Umsetzbarkeit über Gelingen oder Mißlingen der Handlung entscheidet. Eine Handlung ist in diesem Handlungsmodell in distinkte, isolierbare Elemente zerlegbar, und ihr Ablauf ist in drei Phasen einteilbar: (a) in die Intention, (b) in deren Realisierung im Tun und (c) in die aus dem Tun sich ergebenden Folgen. Ein gleichfalls distinktes, isolierbares Element des Modells ist auch der Handelnde selbst, dessen Tätigkeit — "als Erzeugnis eines autonomen Subjekts verstanden" (HS 196) — von ihm ablösbar und als 'Eigenschaft' gedacht wird. Seit den Ethischen Untersuchungen (1986)197, vor allem aber in Handlung und Struktur (1987) und zuletzt in Die Philosophie und die Wissenschaften (1990) stellt Schwemmer diesen Handlungsbegriff zunehmend in Frage, und er begründet seine Kritik — die also zugleich eine Kritik der eigenen philosophischen Anfänge darstellt — mit der phänomenologischen Inadäquanz des klassischen Handlungsbegriffs. Eine sich von vorschnellen Normierungen freihaltende, sich deskriptiv verstehende Phänomenologie der Handlungen, die wir in unserer Lebenswelt — aber auch in der konkreten Wissenschaftspraxis — tatsächlich vornehmen, zeige nämlich eine völlig andere und weitaus komplexere Struktur. Zwar sei Handeln zweifellos stets auch von Absichten auf die Verwirklichung antizipierter Handlungsergebnisse bestimmt, doch seien die Absichten meist vielfältig, inhomogen und — was besonders hervorzuheben sei — sie änderten sich sehr oft noch einmal während des Handlungsvollzugs. Vorhandene Absichten würden modifiziert, neue träten hinzu, alte würden fallengelassen. Ergebnisse hätten im Bewußtsein des Handelnden keineswegs immer nur den Charakter der — gelungenen oder mißlungenen — bloßen Umsetzung einer Absicht. Sie entwickelten sehr oft etwas unvorhergesehen Neues (dem dann Eigenwert zuzubilligen sei), indem sie vordem un-

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Neuere Fortschreibungen

oder halbbekannte Perspektiven, Beurteilungen und Gefühlslagen aufschließen würden. Indem Schwemmer auf den kleinen Text Heinrich von Kleists "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" hinweist (HS 198 f.), wo ein solch mehrschichtiger und kontingenter Handlungsprozeß anschaulich geschildert wird, illustriert er seine idealtypische Unterscheidung von 'Handlungsblöcken' — d.i. die Struktur des klassischen Handlungsmodells — und von 'Handlungsgeschichten 1 . 198 Mit diesem Begriff umschreibt er jene andere, tatsächliche Struktur, die sich aus einer phänomenologischen Betrachtung ergibt. Die klassische Handlungstheorie faßt Handlung als einen 'Block' auf, dessen distinkte Enden die Absicht und das Ergebnis darstellen. So wird eine homogene Einheit der Handlung suggeriert, die sich in der phänomenologischen Analyse als vereinfachende Stilisierung des tatsächlichen Handlungsgeschehens erweist. Wenn das Handlungsergebnis nur in der realen Umsetzung einer idealen Absicht besteht, erscheint eine solche Realisierung aber auch immer nur als die Realisierung eines bereits Vorausgesetzten, eines bereits Altbekannten. Die klassische Handlungstheorie blendet somit die Kategorie des Neuen, Überraschenden, Schöpferischen aus. Sie hat einen mechanistischen Zug. Die Einheit und auch die Identität einer Handlung ist hier in der Handlungsintention bereits vorweggenommen. Die wirkliche Identität einer Handlung, so Schwemmer, ergibt sich hingegen erst post festum: Der Handelnde interpretiert, durch 'Schließung der individuellen Form', einige seiner Erfahrungen als seine Handlung und seine Geschichte.199 Was die im klassischen Handlungsmodell vorgenommene Stilisierung freilich positiv leistet, ist eine in vielerlei Hinsicht praktische und nützliche Vereinfachung im Umgang mit der uns herausfordernden Realität. Eine adäquate Beschreibung des Handlungsgeschehens versucht Schwemmer mit dem Begriff "historische Handlungsbeschreibung" (HS 56) bzw. 'Handlungsgeschichte' zu leisten. An die Stelle der distinkten Handlungsmomente Absicht, Durchführung und Ergebnis und an die Stelle ihres Quasi-Mechanismus tritt die Vorstellung einer pluralen Kontinuität und Kontingenz des Handelns, sowie der Veränderbarkeit der Handlungsabsichten während des — in verschiedenartigen Schüben ablaufenden — Handlungsprozesses. Da eine 'Geschichte' immer eine konkrete und kontingente Struktur hat, kann sie nicht als in einer idealen Einheit vorweg konstruierter Handlungs'block' gedacht werden, sondern nur als 'allmähliche Verfertigung' (Kleist) ihres keineswegs vorhersehbaren und außerdem meist vielschichtigen Resultats. Die Struktur einer realen Handlung ist also nicht identisch mit der Struktur einer abstrakten logischen Schlußfigur, woran sich die klassische Handlungstheorie orientiert und dabei die konkrete Totalität einer wirklichen Handlung — das Beziehungs- und Kausalgefüge der tatsächlich in ihr maßgebenden Faktoren — verarmt, vereinfacht, verzweckt, kurz: zurechtstilisiert. Schwemmer leugnet nicht, daß solche Zurechtstilisierungen erstens in gewisser Weise nützlich und sogar notwendig sein können — denn unser Handeln in der Welt erfordert ja immer wieder eine klare Selbstverständigung des Handelnden über seine Ziele und über die einsetzbaren Mittel — und daß zweitens die Tendenz zur Zurechtstilisierung sich bereits in den Anfängen der Wahrnehmung und des sich in der Welt orientierenden praktischen wie theoretischen Denkens vorfindet. Was er — kultur- und wis-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

senschaftskritisch in Anknüpfung an die diesbezüglichen Überlegungen des späten Husserl — aber diagnostiziert, ist eine ideologische Dominanz und Verabsolutierung des Denkmusters der klassischen Handlungstheorie in der Moderne. Die — als solche nicht mehr wahrgenommene, also selbstvergessene, sich mit der Realität selbst verwechselnde — Stilisierung des Handlungsgeschehens zum Handlungs'block' beherrscht und reduziert nicht nur unser modernes Verständnis des Handelns im engeren Sinn, sondern auch das Verständnis des Denkens, der Erfahrung, der Moralität und — vor allem — der Wissenschaften. Es ist insbesondere die klassische Wissenschaftstheorie - und zwar sowohl die kantisch-transzendentalphilosophische wie die positivistisch-analytische —, die den klassischen Handlungsbegriff fraglos voraussetzt und fraglos mit ihm hantiert. Diese Wissenschaftstheorie — die, Schwemmer zufolge, nicht mit den Wissenschaften selbst gleichzusetzen ist, da sie deren Praxis in einem von dieser Praxis abgehobenen, eigenen Diskurs noch einmal zurechtstilisiert — bestimmt als herrschende wissenschaftliche Ideologie weitgehend die in der Kultur als selbstverständlich geltenden Annahmen. Sie bestimmt — in verzerrter, inadäquater Weise — die Geltung der Begriffe Denken, Rationalität und Erfahrung nicht nur im wissenschaftlichen, sondern auch im außerwissenschaftlichen Bereich. Sie legt fest, wie Denken, Rationalität und Erfahrung ganz allgemein aufgefaßt werden. Der Schlüssel des Mißverständnisses liegt, so Schwemmer, in der Auffassung der transzendentalen Gegenstandskonstitution, der Art und Weise also, wie uns Realität begegne und worin Erfahrung bestehe. Schwemmer behauptet, "daß die philosophische Erkenntnistheorie und auch die an diese anschließende Wissenschaftstheorie sich — zumindest seit Kant — auf einen forschungshemmenden Irrweg begeben hat, der von seinem Anfang her noch einmal zu bedenken und anders zu gehen" sei (HS 167). Sofern er kulturkritisch argumentiert, steht seine Argumentation — auch wenn Schwemmer selbst diese Brücke nicht schlägt — in enger Nähe zur Kulturkritik Heideggers und der Postmoderne, die den Begriff der 'Machbarkeit' und der 'Umsetzung von Theorie in Praxis' ja in ähnlicher Weise kritisieren, dabei allerdings nicht zwischen deklarativer und prozeduraler Wissenschaft, zwischen deren (Selbst-) Stilisierung einerseits und der geübten Wissenschaftspraxis andererseits unterscheiden. Gerade diese Unterscheidung erlaubt Schwemmer jedoch — im Gegensatz zu Heidegger und einigen postmodernen Theoretikern, deren Wissenschaftskritik vorschnell in blinde Wissenschaftsfeindlichkeit umkippt — eine vertiefte Phänomenologie der wissenschaftsbestimmten Lebenswelt. Im vierten und letzten Teil von Handlung und Struktur200 stellt Schwemmer in eigenen Unterkapiteln Handlungstheorie, Lebenswelttheorie und Systemtheorie als Entwürfe, die Wirklichkeit des Handelns und der Erfahrung theoretisch zu formulieren, einander gegenüber und versucht abschließend "eine kritische Integration der verschiedenen Ansätze" (HS 267). In dieser integrativen Konzeption spielt die revidierte Handlungstheorie eine Hauptrolle, und das durch sie bezeichnete 'Handlungsgeschehen' wird modellhaft auf das gesamte 'Wirklichkeitsgeschehen' übertragen. 201 Husserl, dem der Erfahrungs-Bruch zwischen Wissenschaft und Alltag zum methodologischen Problem geworden war, hatte — als kritische Relativierung unbefragten Wissenschaftsglaubens, aber doch sehr wohl mit dem Anspruch wissenschaftlicher Fest-

232

Neuere Fortschreibungen

legung — den Lebensweltbegriff in die philosophische Diskussion gebracht. Sowohl diese Fragestellung — Wissenschaft versus Alltag — wie diesen Lebensweltbegriff nimmt nun Schwemmer im Kontext seiner handlungstheoretischen Überlegungen auf. Die Kritik des klassischen Handlungsmodells wird als Kritik des wissenschaftlichen bzw. wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses dargelegt. Was Rationalität und Erfahrung tatsächlich heißt, wird in der Spezifikation von wissenschaftlicher Rationalität und Erfahrung reformuliert, sofern diese alltäglicher Rationalität und Erfahrung gegenüberstehen. Es ist allerdings zu präzisieren, daß Schwemmer in seiner eigenen Terminologie nicht mit dem weiten und allgemeinen Lebensweltbegriff Husserls arbeitet, unter den die gesamte Kultur bzw. die menschliche Gesamtrealität fällt, sondern daß er jene Variante des husserlschen Lebensweltbegriffs aufnimmt, in welcher Lebenswelt als 'Umwelt' bzw. 'Umgebung' gefaßt wird. Er definiert "Lebensweit als sinnhaft strukturierte Umgebung unseres Handelns" (HS 277). Da die historische Handlungsbeschreibung die distinkten, isolierten Elemente der klassischen Handlungsbeschreibung als idealisierende Abstraktionen ansieht, kann sie das konkrete Handeln auch nicht von seiner 'Umgebung' loslösen, sondern muß es als kontinuierlichen Fluß verstehen und seine Umgebung in die Beschreibung mit hereinnehmen. Schwemmer fordert daher eine integrative Erforschung von Handlungs- und Umgebungsstruktur. Im 'Lebenswelt'kapitel von Handlung und Struktur (HS 202 ff.) referiert der Autor die beiden Konzeptionen von Husserl und Habermas. Während er letzterem ein grobes "Mißverständnis der Lebensweltkonzeption" (HS 237) vorwirft — da Lebenswelt in der Theorie des kommunikativen Handelns202 nur als "transzendentalphilosophisches Konstrukt" (HS 236) behandelt werde, als ein im Denken und Handeln nicht systematisierte 'Restgrößen' versammelndes Subsystem —, würdigt er Husserls Konzeption als einen "Schritt der konkretisierenden Wieder vergegenwärtigung all der Wirklichkeitsbereiche, die den wissenschaftlichen Abstraktionen entgangen, d.h. für die wissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung als irrelevant beiseite geschoben worden sind" (HS 237). Doch habe Husserl am erfahrungstranszendenten Subjekt festgehalten und verbleibe mit seinem Bemühen, das ganze und konkrete Leben wiederzugewinnen, "im Bereich des Appells oder auch des bloßen Ideals" (HS 281). Die von Husserl propagierte 'Ontologie der Lebenswelt' sei praktisch nicht durchfuhrbar, weil sie am 'Totalitarismus' des husserlschen Anspruchs —• der "Forderung nach der totalen Revision unserer Erkenntnisintentionen" (HS 227) via Epoche aller Geltungsansprüche und Sinnbestimmungen — scheitern müsse. Doch sei an Husserls Problemorientierung — die bei Habermas gänzlich verlorengegangen, ja wiederum ins Gegenteil (nämlich in eine neue Zurechtstilisierung von Erfahrung und Rationalität) umgekippt sei — anzuknüpfen: an seine "Kritik der wissenschaftlichen und damit überhaupt der idealisierend-normierenden Rationalität" (HS 241). Obwohl diese Kritik und die aus ihr sich ergebenden positiven Phänomenbeschreibungen von Rationalität und Erfahrung in Handlung und Struktur erst vorläufig und bruchstückhaft vorgetragen werden — eine breitere und systematischere Behandlung erfolgt dann in Die Philosophie und die Wissenschaften —, finden sich in der erstge-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

nannten Arbeit einige Philosopheme, die später nicht mehr weiterverfolgt werden, die jedoch — wenngleich außerhalb des 'Lebenswelt'kapitels placiert — für Schwemmers Lebensweltbeschreibung aufschlußreich sind. Sie finden sich vor allem im Unterkapitel "Die Rolle der Erfahrung für Interpretationsbehauptungen" (HS 157 ff.) des dritten Abschnitts ("Empirie und Erfahrung in den Kulturwissenschaften", 135—182) und betreffen die Begriffe 'anthropologische Methode', 'vagabundierende Struktur' und 'metaphorische Synthese'. Auf diese Begriffe gehe ich im folgenden kurz ein. Eine erste Notwendigkeit, den herrschenden Erfahrungsbegriff zu revidieren, ergibt sich für Schwemmer daraus, daß sich dieser Erfahrungsbegriff in den Kulturwissenschaften, die es mit menschlichen Handlungen zu tun haben, noch viel schneller ad absurdum führe als in den Naturwissenschaften, die es mit Naturprozessen zu tun haben, welche zumindest prima facie vom menschlichen Handeln ablösbar erscheinen. Die Kulturwissenschaften erforderten daher einen ihrem Gegenstand angemessenen Erfahrungsbegriff, in dem das Moment der Interpretation im Vordergrund stehe. Als Antifolie zur klassischen Vorstellung der transzendentalen Gegenstandskonstitution (und, damit verbunden, zur klassischen Handlungstheorie) verweist Schwemmer auf die — auch von Feyerabend empfohlene — 'anthropologische Methode' des Ethnologen Evans-Prichard (HS 158 ff.). Diese sei durch ihren "Verzicht auf logische Vorklärung und Aneignung des empirischen Materials" sowie durch ihre vorerst unsystematische "Suche nach Schlüsselideen und [ihr] Interesse für Kleinigkeiten" in der beobachtenden Wahrnehmung zu charakterisieren (HS 160). Es geht darum, daß in jeder Wahrnehmung "eine Pluralität von Sinnstrukturen unterstellt und anerkannt wird" und daß diese Pluralität nicht vorschnell, nur um die 'Theoriefähigkeit 1 der Gegenstände zu garantieren, "in eine rationalistische Monokultur umstilisiert" wird (HS 163). Die 'anthropologische Methode' ermöglicht eine gelassene, sich auf Unbekanntes einlassende Beobachtung, die sich selbst als kontingenten Prozeß der Sinn- und Interpretationsbildung erfährt und eine "Verschiebung unserer Wahrnehmungsgrenzen" (HS 161) — und damit auch eine Verschiebung des Selbstverständnisses von Rationalität und Erfahrung — zuläßt. Schon an dieser Stelle (und noch einmal abschließend bei seinem Syntheseversuch von Handlungs-, System- und Lebenswelttheorie am Ende des Buches) fordert Schwemmer "zur Aufklärung unserer Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten eine besondere Strukturforschung" (HS 175). Eine wichtige Rolle in diesem Programm einer Strukturforschung spielt die — von Gregory Bateson203 übernommene — These, daß Wahrnehmung an 'vagabundierende Strukturen' geknüpft sei.204 Die Sinnkonstitution einer Wahrnehmung bestehe darin, daß uns eine Sinngestalt entgegentritt, die sich aus der bestimmten Identität und Ordnung kleinerer Einheiten ergibt, welche sich zu einem komplexen Ganzen zusammenfügen. Dieselbe Gestalt, dieselbe Identität und Ordnung können wir auch auf inhaltlich gänzlich anderen Gebieten wiederfinden, so daß es ideale (oder, enger gefaßt, begriffliche) Strukturen gibt, die in heterogener Weise inhaltlich 'anwendbar' bzw. 'auffindbar' sind. Andererseits läßt sich ein und dasselbe Wahrnehmungsmaferia/, ein und derselbe Wahrnehmungs/n/ζα/ί in höchst unterschiedlicher Weise als (ideale) Sinngestalt organisieren, so daß sich in unserer Erfahrung ein offenes, unabschließbares Wechselspiel 234

Neuere Fortschreibungen

materialer Formungsfähigkeit und formaler Materialisierungsfähigkeit ergibt, das nicht auf eine allgemein-abstrakte transzendentale Gegenstandskonstitution zurückgeführt werden kann, sondern das unter den nicht von vornherein antizipierbaren Bedingungen kulturell-lebensweltlicher Kontingenz erfolgt. Wir finden Sinnstrukturen und Interpretationen 'immer schon' vor und können diese, im Zug ihrer Rezeption, weiterführen, elaborieren, variieren — und selbstverständlich auch ignorieren. Diese Dialektik vagabundierender Formen und konkreter Sinneswahrnehmungen hat aber noch einen weiteren Aspekt. Eine vagabundierende Form organisiert, indem sie immer schon über ihre jeweilige Konkretisierung hinausweist auf andere mögliche Konkretisierungen, in eigener Weise eine Ganzheit des Wirklichkeitsverständnisses. Durch ihr Vagabundieren erschließt die vagabundierende Form einen prinzipiell unbegrenzten Erfahrungsraum, der als Totalität möglicher Erfahrung erscheint. Im Ansatz erschließt eine vagabundierende Form nicht nur den jeweils dargestellten Gegenstandsbereich, sondern auch andere, konkret zu erfahrende und letztlich — freilich nur potentiell — alle Gegenstandsbereiche möglicher Erfahrung. Wären die vagabundierenden Strukturen nun allgemein-abstrakte, verläßliche, ontologisch festschreibbare Größen, dann ließe sich der Anspruch der klassischen Metaphysik einlösen, das Ganze der Wirklichkeit in begrenzten Kategorien zu erfassen und zu beschreiben. Ein definitives Identifizieren der vagabundierenden Formen führt aber, so Schwemmer, zum Verlust ihrer Totalitätsfunktion. Totalität bleibt ein 'gefühlter', allenfalls ein regulativer Begriff. Totalität verbegrifflichen zu wollen bedeutet die vergebliche Anstrengung, 'totalitaristisch' zu denken. In dieser 'totalitären' Anstrengung "verschwindet gerade diese Totalität der Strukturen im Lichte der objektivierenden Analyse, mit der wir uns der Identität der Gegenstände vergewissern wollen, und der formalisierenden Synthese, mit der wir uns um die präzisierende Darstellung unserer allgemeinen Hypothesen bemühen" (HS 177). Es gebe allerdings einen Gegenstandsbereich, eine Tätigkeit und eine Wirklichkeitsauffassung, in der diese Totalität sehr deutlich zum Ausdruck gelangen könne: die Kunst. Sie aber sei eben nicht begrifflich organisiert und organisierbar, sondern drücke Totalität im konkreten, einzelnen Werk aus: "Alleine in der Erfassung des Konkreten, insbesondere in der künstlerischen Darstellung von Konkretem durch Konkretes, öffnen wir den Blick für diese Totalität." (HS 177) Wahrnehmung und Interpretation sind aber mehr als das bloße Zusammentreffen einer vagabundierenden Form und eines zufälligen Inhalts, einer möglichen Sinngestalt und einer bestimmten materialen Wahrnehmung. In jedem derartigen Zusammentreffen spiegeln sich andere Wahrnehmungen und Interpretationen, werden diese mitvergegenwärtigt und miteinander korreliert. Erst aus diesem mehrdimensionalen Zusammenspiel ergibt sich die Identität eines Gegenstandes, einer Wahrnehmung, einer Interpretation. "Nicht die einzelne Wahrnehmung versichert uns der Existenz ihres Gegenstandes, sondern erst die Konvergenz verschiedener Wahrnehmungen und die — interpretierende und korrelierende — Verständigung über sie [...]." (HS 172) Dergestalt "zeigen sich die Wahrnehmungsgehalte als elementare Strukturen, die nur dadurch die konkrete Identität der Gegenstände zu erfassen erlauben, daß sie andere Gegenstände aus anderen

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Gegenstandsbereichen mitvergegenwärtigen" (HS 174). Diese Sinnkonstitution durch Mitvergegenwärtigung nennt Schwemmer 'metaphorische Synthese'. All diese für den Aufbau und das Funktionieren der Handlungs- und Denkwirklichkeit205 — damit aber auch der Lebenswelt — grundsätzlichen Überlegungen sind aber theoretisch besser formulierbar, wenn sie mit der Symbol- und Prozeßtheorie zusammengesehen werden, die Schwemmer — in ausdrücklicher Anknüpfung an Cassirer, Whitehead und Langer — vor allem in Die Philosophie und die Wissenschaften darlegt. In diesem Buch geht es — im Ausgang von einer (sich selbst als wissenschaftlich verstehenden) Kritik der wissenschaftlichen Erfahrung und Rationalität — um eine im Gegensatz zu Handlung und Struktur breiter und tiefer angelegte Lebenswelttheorie. Was die Systemtheorie betrifft, so kombiniert sie Schwemmer nur in sehr vorsichtiger Weise mit Lebenswelt- und Handlungstheorie, da die methodologische Eigenreflexion der luhmannschen Strukturkonzeption offensichtlich nicht bis zur Erkenntnis vordringt, daß es sich hier im Grunde um ein mechanistisches Modell handelt. Dennoch entnimmt Schwemmer der Systemtheorie einige Grundbegriffe, die dazu dienen, den Strukturprozeß von Handlung bzw. Lebenswelt und insbesondere von Wahrnehmung, Erfahrung und Rationalität zu beschreiben. Dazu gehört, daß Handlungen prinzipiell Anschlußleistungen an die vorhandene Lebenswelt darstellen oder, daß die Konstitution von Wahrnehmung, Erfahrung und Rationalität ein Schematisierungsprozeß ist, in dem (bereits vorhandene und vorfindbare) Komplexität vereinfacht und mit Hilfe solcher Vereinfachung neue Komplexität gestiftet wird. Dazu gehört auch die Perspektive, daß dieses Wechselspiel von Simplifizierung und Komplexifizierung vor allem durch Techniken der Gleichsetzung und Kontrastierung vorangetrieben wird. Kritische Handlungstheorie und kritisch reformulierte Lebenswelttheorie stimmen mit der Systemtheorie aber auch darin überein bzw. finden in ihr eine für das eigene Anliegen passende Begrifflichkeit vor, daß die Systemtheorie ausdrücklich auf das Subjekt als 'Handlungsträger' verzichtet. Die Wahrnehmungs-, Bewußtseins- und Wirklichkeitsprozesse werden als Systemprozesse aufgefaßt, die durch Autopoiesis und Selbstreferentialität gekennzeichnet seien. Handlungswirklichkeit ist als "eine eigenständige Wirklichkeit zwischen den Subjekten" (HS 252) zu veranschlagen.

1.3.2.2 Prozeß, Symbol und Medium Die in Handlung und Struktur skizzierte Phänomenologie der Erfahrung gelangt in einigen späteren Aufsätzen Schwemmers und besonders in seinem Buch Die Philosophie und die Wissenschaften zu einer detaillierten und vertieften Darstellung. Jegliches Denken und Weltverhalten wird nun im Sinn 'historischen Handelns' interpretiert, d.h. als Ereignis-Prozeß dargestellt, und es wird des weiteren ausdrücklich als Symbolisierungsgeschehen und als mediale Transformation gefaßt. Da Symbolismen Systeme sind, die an bestimmte materielle Bedeutungsträger (Laute, Schriftzeichen, Bilder usw.) gebunden sind, würdigt Schwemmer auch die Bedeutung der Medien für die Konstituierung von Denken und Erfahrung. Er definiert Denken als Symbolisieren und — wobei

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Neuere Fortschreibungen

er an die medientheoretischen Arbeiten von Havelock und Ong anknüpft206 — versteht Symbolsysteme als Medien: "Denken, das ist die Verschlüsselung der Welt zu Symbolen und damit zugleich die Erschaffung einer Symbolwelt, die den verbleibenden Mannigfaltigkeiten unseres Lebens und Erlebens Konturen und Festigkeit verleiht. Denken vollzieht sich als ein Durchwandern von Symbol weiten, als Aufnehmen und Umgestalten, als Wiederholen und Erzeugen symbolischer Konfigurationen. Und auch unserem Wahrnehmen, unserem Wünschen und Empfinden werden die symbolischen Strukturen eingeprägt, weil es jeweils mit unserem Denken verbunden, von ihm mitgeformt ist. Die Geschehens- und Wahrnehmungswelten sind in und durch die Symbolwelten verknüpft und bilden dadurch die eine Lebenswelt, in der es eine Kultur der Symbolismen und damit eben den Geist gibt. Die Logik der Medien bestimmt die Logik des Geistes. Der Geist [...] bildet sich mit und in seinen symbolischen Welten, in den Welten der Wörter und Bilder, der Töne, der Bewegungen und all der anderen Formen symbolischer Darstellung. In seinen Symbolen realisiert sich der Geist. Ohne Symbole bleibt er bloße Entwicklungsmöglichkeit. Wir sind es nicht gewohnt, bei allen Symbolsystemen — wie etwa schon bei der Sprache — von Medien zu reden. Tatsächlich haben wir es aber bei jedem Symbolsystem mit einem Medium zu tun. Stellt ein Symbolsystem doch eine durchaus eigenständige Realität dar, durch die Kommunikation vermittelt wird. Zwar erreicht die Kommunikation erst die Massen, wenn sie — wie bei den heutigen Medien — mit einem hohen technologischen Aufwand betrieben wird, der sie im fast wörtlichen Sinne blitzschnell macht und mit einer weltumspannenden Reichweite ausstattet. Gleichwohl bleibt zu sehen, daß auch schon die einfachen Techniken der Lauterzeugung oder der Schrift Kommunikationsmedien sind, die gegenüber unserem Organismus — und insbesondere unserem Gehim — eigene Strukturen besitzen und damit auch eigene Probleme erzeugen. Denn wenn der Geist nur in Symbolsystemen — und also in seinen Medien — seine Existenz gewinnt, dann unterliegt er auch in all seinen Möglichkeiten den Strukturzwängen der Medien. Die Logik der Medien — ihre innere Organisation — bestimmt die Logik des Geistes." 2 0 7 "Mit der Entwicklung neuer symbolischer Medien entwickeln sich auch neue Möglichkeiten und Formen symbolischer Leistungen, also neue Denkmöglichkeiten und Denkformen, eine jeweils neue Wirklichkeit des menschlichen Geistes und seiner Kultur." 2 0 8

In Die Philosophie und die Wissenschaften bemüht sich Schwemmer um einen deskriptiven Rationalitäts- und Erfahrungsbegriff. Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel, von denen in unserem Zusammenhang vor allem die Kapitel 3 ("Die Rationalität des Menschen. Ein geistiges Ideal und seine empirische Wirklichkeit", 69 ff.) und 4 ("Die Struktur unserer Erfahrung. Zum Verhältnis von alltäglicher und wissenschaftlicher Erfahrung", 103 ff.) relevant sind. Rationalität darf nach Schwemmer nicht als eine normative Instanz verstanden werden, die als solche erfahrungstranszendent sei und aus erfahrungstranszendenter Position entweder überhaupt keinen Zugang zur Erfahrung aufschließen könne oder aber als äußerliches Formungs-, Gestaltungs- und Filterprinzip von Erfahrung auftrete. Rationalität wird vielmehr deskriptiv dargelegt als die auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Phasen ablaufende Selbstorganisation von Erfahrung. Zur Erfahrung gehört, daß sie sich (in Symbolen und über Medien) repräsentiert, aber auch, daß sie nicht bei einer Repräsentation stehenbleibt, sondern diese über sich selbst hinaustreibt, mit ande-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

ren Repräsentationen vermittelt, sich in ihrer jeweiligen Gestalt immer wieder in Frage stellt und immer wieder neu konstituiert. Der Konstitutionsprozeß von Rationalität ist demnach in der Sache identisch mit dem Konstitutionsprozeß von Erfahrung. Wenn Rationalität — wie in der philosophischen Tradition, insbesondere bei Kant, und in der analytischen Wissenschaftstheorie — diesen ihren Möglichkeitsraum und ihren Prozeßcharakter vergißt und sich auf statische "Formen reduzierter Rationalität" (PhW 95) beschränkt, verengt und normiert sie auch den Raum und das Wesen von Erfahrung in nicht gerechtfertigter Weise. Rationalität (bzw. Erfahrung) ist selbst als Prozeßgeschehen zu denken. Sie besteht in der "Entwicklung und Verarbeitung von Symbolismen" (PhW 91). Sie ist ein "Prozeß der Symbolerzeugung und -Verwendung" (PhW 13) und ein "Prozeß der Formelprägung" (PhW 72). Den Hintergrund dieses Rationalitatsverständnisses bildet eine an Whitehead und Cassirer orientierte 'Philosophie des Geistes', die sich als Erkenntnistheorie und Methodologie, darüber hinaus aber auch als Kulturphilosophie und Anthropologie versteht. 'Geist' ist für Schwemmer der Sammelbegriff für alle Repräsentations-, Verstehensund Erfahrungsaktivitäten des Menschen, die unter dem Stichwort Symbolisierung zusammengefaßt werden können. 'Geist' ist der "Titel für eine Vielfalt symbolischer Leistungen, über die wir uns die Welt repräsentieren, uns in ihr orientieren und diese unsere Repräsentationen und Orientierungen insgesamt zu Erfahrungen und schließlich zu einem Wissen zusammenführen, befestigen und verfügbar halten" (PhW 30). 'Geist' umfaßt nicht nur wissenschaftliches und philosophisches Denken, sondern auch alltägliche und künstlerische Weltorientierung. Wie aus dem eben angeführten Zitat hervorgeht, ist für Schwemmer 'Erfahrung' als solche nicht identisch mit den einzelnen, konkreten 'Erfahrungen', sondern letztere sind Momente, die sich im umfassenden Prozeßgeschehen des 'Geistes' herausbilden, wobei der Prozeß jedoch nicht bei ihnen stehenbleibt, so daß sie je als ein für allemal gültige Resultate betrachtet werden könnten. Sowohl in ihrem Daß-Sein wie in ihrem Was-Sein, in ihrem Ursprung wie in ihrem Charakter ist eine einzelne, konkrete Erfahrung stets abhängig von verschiedenen kontingenten Faktoren, z.B. von der Erfahrungs- bzw. Rationalilälsebene, auf der sie gemacht wird, vom Symbolismus, innerhalb dessen sie generiert, und vom Medium, in dem sie repräsentiert wird. Eine Erfahrung, die wir machen, bzw. ein Denkinhalt oder eine Repräsentation, den oder die wir uns vergegenwärtigen, hat stets den Charakter einer symbolischen Vermittlung bzw. ist ein vermittelndes Symbol. Was das Symbol (und zwar über die Aktivität des Symbolerzeugers bzw. -Verwenders) vermittelt, sind zwei ineinander verschränkte Komponenten: eine geistige Bedeutung und ein materielles Zeichen. Zwar korrelieren (notwendigerweise) Bedeutung und Zeichen, doch sind sie niemals völlig kongruent, und es kann nie die Bedeutung im Zeichen und nie das Zeichen in der Bedeutung 'aufgehoben' werden. Es gibt jeweils Inkongruenzen, Überschüsse und 'Restgrößen' der Bedeutung, die im Zeichen nicht aufgehen, und des Zeichens, das sich gleichfalls nicht in seiner Bedeutung erfüllt. Daher stehen Zeichen und Bedeutung in einer Spannung, die als die prinzipielle 'Spannung des Symbolismus' bezeichnet werden kann. Da der Symbolismus nicht ein starres System von einander zugeordneten Zeichen und Bedeu-

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Neuere Fortschreibungen

tungen ist, sondern ein lebendiger, fortschreitender Prozeß, werden diese Spannungen verstärkt oder gedämpft, vervielfacht oder verringert, abgearbeitet oder neu entfacht. Die Spannung besteht aber nicht nur innerhalb eines Symbolismus, sondern auch zwischen verschiedenen Symbolismen und im Gesamtgefüge aller Symbolismen, die insgesamt 'den Geist', 'den Menschen', 'die Kultur' ausmachen. Da der 'Geist' darin besteht, Repräsentationen der Erfahrung zu bilden, zu verbessern, zu kritisieren und zu verwerfen — und das immer nur, um eine höhere Adäquanz von Erfahrungs-Repräsentation zu erreichen —, bewegt er sich in, zwischen und über Symbolismen hinweg (wobei das Darüber-Hinweg natürlich wiederum in einem je und je neuen und integrativen Symbolismus geschieht). Der Geist transzendiert somit zwar sehr wohl einzelne Symbolismen, doch nie die Symbolizität als solche. Die Selbstgewißheit der Symbolizität des Geistes ist nun freilich meist verdeckt, oder sie äußert sich in sachlich verzerrter Weise. Man kann einen Symbolismus für die Struktur der 'Realität selbst' halten. (Eine solche Ansicht äußert sich z.B. im naiven Erkenntnis- und Sprachrealismus, in einem platten positivistischen Wissenschaftsverständnis, aber z.B. auch — in eigenwilliger Weise — in der von Jakob Böhme vertretenen Signaturenlehre.) 209 Man kann aber auch — wie Schwemmer dies im Hinblick auf den klassischen Rationalismus und den deutschen Idealismus zeigt — ein Philosophem konstruieren, das vorgibt, das Denken habe sich nunmehr selbst eingeholt, selbst auf den Begriff gebracht und somit vollendet: klar und distinkt verharre nun der Geist in seiner Selbstanschauung. Dieses Konstrukt angeblicher philosophischer Selbstgewißheit und Selbstvollendung ist, so Schwemmer, jedoch eine Illusion und zudem eine statische Vorstellung, die dem Prozeß- und Unabgeschlossenheitscharakter der Realität des Geistes nicht Rechnung trägt. Darüber hinaus ist dieses Philosophem in einseitiger Weise intellektualistisch. Es veranschlagt — besonders augenfällig im hegelschen System — das begriffliche Denken als höchste und letzte Stufe eines hierarchisch gegliederten Aufbaus von Repräsentationsformen, die mit der Abstraktion 'bloßer Sinnlichkeit' beginnen und Kunst, Religion usw. als untergeordnete, für den aufstrebenden Geist zu überwindende Stufen erscheinen lassen. An die Stelle einer solchen — sachlich nicht begründbaren — Hierarchie tritt bei Schwemmer, wie schon im wesentlichen bei Cassirer und Whitehead, ein prinzipiell gleichberechtigtes Nebeneinander der Repräsentationsformen bzw. symbolischen Formen. Des weiteren nimmt Schwemmer eine Unterscheidung von primärer und sekundärer Erfahrung vor, was einer Unterscheidung von Tiefen- und Oberflächenstruktur von Erfahrung entspricht. Die sekundäre Erfahrung besteht darin, einen bestimmten Erfahrungsgehalt mit einem bestimmten Symbol zu korrelieren. Da ein Symbol seine Bedeutung aber nicht direkt aus dieser Zuordnung bezieht, sondern aus dem Zusammenhang der ein Bedeutungsge/wge darstellenden Symbole, die insgesamt den betreffenden Symbolismus bilden, besteht die primäre Erfahrung in der Korrelation des Zusammenhangs von Erfahrungsgehalten mit dem ihn repräsentierenden Symbolismus. Die sekundäre Erfahrung ist hingegen der Gebrauch des einzelnen, symbolismusabhängigen Symbols. Die 'gewöhnliche' — d.h. hier durchaus im wörtlichen Sinn: die an die Gewohnheit eines geläufigen Symbolismus gebundene — Weise unserer Wahrnehmungen entspricht

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

somit der sekundären Wahrnehmungskategorie. Die primäre Wahrnehmung — das InGeltung-Setzen eines Symbolismus als das Stiften der Gesamtrepräsentation einer Pluralität von Erfahrungsgehalten — bezeichnet Schwemmer (in Anlehnung an Cassirer) als die "Herausbildung prägnanter Wirklichkeitszentren" (PhW 57) im Wahrnehmungsund Erfahrungsfluß. Um dieses Herausbilden von Prägnanzen im Erfahrungsstrom — James hatte diesbezüglich vom Übergang der 'percepts' in 'concepts', Whitehead hatte von 'events' und 'actual occasions/entities' gesprochen — geht es hauptsächlich, wenn Schwemmer die verschiedenen Weisen oder Ebenen der Erfahrung nacheinander 'phänomenologisch', 'analytisch' und 'theoretisch' erörtert und besagte Ebenen in ein aufstrebendes Stufenschema ordnet. Dieses Stufenschema veranschaulicht nicht nur die Formen der zunehmend reflexiver werdenden Symbolizität von Erfahrung, es zeigt an seinem Anfang auch vorsymbolische Stufen, und es zeigt die Genese von Symbolizität überhaupt. Jede Erfahrungsebene wird von Schwemmer als ein autopoietischer Systemprozeß beschrieben, dessen Aktivität darin besteht, auf eine (über-)komplexe Umwelt durch Komplexitätsrafw&riofl und durch den Aufbau einer 'neuen Ordnung' (bzw. auch durch die Adaptation eines schon bekannten Strukturmusters) zu reagieren. Jeder Allgemeinbegriff, aber auch schon jeder individuelle Name — nicht nur die konstituierten Gegenstände und Kategorien, sondern auch die Ich-Konstitution, die Konstitution von Subjektivität und Individualität — ist eine solche Reduktion und Neuordnung. Diese Selektion der Wirklichkeit (bzw. des primären Wirklichkeitsverständnisses) auf 'handhabbare' Wirklichkeitselemente (bzw. Verständniselemente) ist auf den untersten Stufen noch nicht symbolischer Natur. Der sich vorerst in einigen biologischen Grundfunktionen erfüllende niedere Organismus nimmt Schematisierungen — ein Vereinfachen, ein Identifizieren (mit Hilfe von Kontrastierungen und Gleichsetzungen) und ein nach dem ReizReaktions-Mechanismus erfolgendes Reagieren — vorsymbolischen Charakters vor. Von Symbolizität kann erst dann gesprochen werden, wenn eine — wie auch immer noch verworrene — Differenzierung von Zeichen und Bedeutung bewußt zu werden beginnt. Schwemmer unterscheidet insgesamt sechs Etfahrungsebenen. "Auf einer ersten Ebene kann man den gesamten Austausch, den 'Stoffwechsel' des Organismus mit seiner jeweiligen Umwelt sehen." (PhW 121) Die zweite Ebene sei die der "Wahrnehmung", die hauptsächlich über fundamentale "Körpergefühle" vermittelt wird, die "unsere intellektuellen Leistungen und insbesondere unsere Gesamtstimmung" tragen und "am Rande unseres um Klarheit und Deutlichkeit bemühten Bewußtseins liegen" (PhW 122). Die dritte Erfahrungsebene wird als "äußere" oder "voraufmerksame Wahrnehmung" bezeichnet, als "Wahrnehmung des ständigen Hintergrundes unseres thematisierten bzw. aufmerksamen Wahrnehmens". Sie schaffe einen Gesamthorizont des Denkens und Empfindens, der dem Denken und Empfinden die unausdrückliche Gewißheit einer Ganzheit vermittelt, und könne retrospektiv — von höheren Erfahrungsebenen her — ausdrücklich gemacht werden. Diese Ebene sei also bereits der Reflexion zugänglich. Die vierte Ebene sei die "normale" oder "aufmerksame Wahrnehmung, die zumeist einzig den Gegenstand von philosophischen und [...] psychologischen Wahr-

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Neuere

Fortschreibungen

nehmungstheorien gebildet hat". Mit ihr sei "der Prozeß der Thematisierung abgeschlossen" (PhW 122). Sie sei eine "sehr späte Stufe der Umweltverarbeitung durch uns und zudem eine im wörtlichen Sinne 'oberflächliche'" (PhW 123), denn sie stehe unter der Dominanz des Sehens und dränge dadurch die mit den übrigen Sinnen gegebenen Wahrnehmungsmöglichkeiten an den Rand oder sogar überhaupt aus dem Blickfeld ihrer Aufmerksamkeit. "An die aufmerksame Wahrnehmung von Gegenständen schließt" — als fünfte Ebene — "die alltägliche (Teil-)Versprachlichung unserer Wahrnehmungen an [...]. Hier finden erste symbolische Fixierungen unserer Wahrnehmungen statt, die diese unsere Wahrnehmungen in den Verweisungszusammenhang des sprachlichen Symbolismus integrieren und sie sozusagen sozialisieren. Mit der Bindung an und Einbettung in einen eigenständigen Symbolismus werden unsere Wahrnehmungen in einem bestimmten Sinne transzendent, insofern sie nämlich nicht mehr nur organische Zustände und Befindlichkeiten [...] repräsentieren, sondern nun einer außerorganischen und intersubjektiv zugänglichen [...] Eigenwirklichkeit angehören." (PhW 123)

Ab dieser fünften Stufe gibt es die von ihren biologischen Voraussetzungen weitgehend emanzipierte Kultur, d.h. die autonome Welt des 'Geistes', dessen Tätigkeit das Symbolisieren ist, wobei sich die Symbolismen gegenüber dem biologisch-physiologischen Boden, auf dem sie erwachsen und von dem sie (im Sinn einer notwendigen, wenngleich nicht hinreichenden Bedingung) ermöglicht werden, verselbständigen. Die sechste und letzte Erfahrungsebene, die Schwemmer ansetzt, kann nur noch teilweise gelingen. Es ist das Feld der Experimente jener wissenschaftlichen Symbolisierungsstrategien, die auf dem Wege formalisierter Wissenschaftssprachen der Lebenswelt "eine volle Versprachlichung" aufnötigen wollen, eine Vollversprachlichung und eine theoretische Geltung, "die unabhängig vom Wechsel der Situationen und Kontexte ihre Bedeutung durchhält" (PhW 124), sich also nicht mehr der Kontingenz des Erfahrungsprozesses auszusetzen gedenkt. Mit dieser Differenzierung von Erfahrungsebenen beantwortet Schwemmer die von Husserl übernommene "Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und alltäglicher Erfahrung" (PhW 124). Indem letztere den Erfahrungsstufen zwei bis fünf zugeordnet wird, zeigt sich die geläufige Rede von ihr als zu grobschlächtig: "Es gibt nicht die alltägliche Erfahrung, die wir als homogene Einheit der wissenschaftlichen Empirie [...] gegenüberstellen können. Die alltägliche Erfahrung versammelt in sich [...] durchaus unterschiedliche Weisen der Umwelterfassung und -Verarbeitung, der erinnernden und vermittelten Vergegenwärtigung." (ebda.) Bemerkenswert sei, "daß diese verschiedenen Weisen des Erfassens und Vergegenwärtigens sich nicht nahtlos zu einer einheitlichen Erfahrung ineinanderfügen, sondern eine gespannte Struktur erzeugen, in der ihre Verschiedenheit sich erhält" (PhW 125), weiters, "daß auf jeder dieser Stufen unsere Erfahrung sich auf neue, nämlich eigenständige Weise organisiert und daß diese verschiedenen Organisationsformen von Erfassen und Vergegenwärtigen sich im Ganzen des Erfahrungsgeschehens gegeneinander behaupten und ihrer Stimme Gehör verschaffen müssen" (ebda).

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Grundzüge einer Theorie der

Erfahrung

Schwemmer faßt hier das Verhältnis der Erfahrungsebenen zueinander in das Bild der Polyphonie: das Bild einer sich teils hierarchisch organisierenden und harmonisierenden, teils aber auch widerstreitenden, sich bekämpfenden und gegenseitig sowohl unterdrückenden wie steigernden Mehrstimmigkeit. Sofern die Erfahrungsebenen — vor allem die fünfte — an verschiedene Medien gebunden sind, gilt dieses Bild der Polyphonie aber auch für das Verhältnis der Medien zueinander. Besonderes Augenmerk legt Schwemmer auf das Moment der Verselbständigung der Symbolwelt gegenüber ihrer biologisch-physiologischen 'Basis'. Diese Verselbständigung hatte bereits — freilich so gut wie ohne jede kulturkritische Skepsis — Cassirer in seiner Anthropologie hervorgehoben. Schwemmer macht einerseits die kulturelle und ethische Ambivalenz dieser Verselbständigung zum Gegenstand der Erörterung 210 , andererseits stellt er sich — im Kontext der neueren und gegenwärtigen philosophischen Versuche, den menschlichen Geist auf Neurophysiologie zu reduzieren211 — dem damit verbundenen Methodenproblem, wie das Verhältnis neurophysiologischer Fundierung und sich davon emanzipierender Symbolizität näherhin zu denken sei. Ohne hier Schwemmers Argumentation zu explizieren212, sei angemerkt, daß er dieses Problem durch die Behauptung einer gleichursprünglichen Geltung beider Dimensionen — die Behauptung der Korrelativität und Nichtreduzierbarkeit — zu lösen sucht, indem er von der "physiologisch-symbolischen Doppelexistenz des Geistes" (PhW 29) spricht. Die Explikation der sechs Erfahrungsebenen unternimmt Schwemmer im 'Theorie'teil seiner Ausführungen. Diesem 'Theorie'teil gehen ein 'Analyse'- und ein 'Phänomenlogie'teil voran, in denen der methodische Zugang zu einem solch differenzierenden Überblick erarbeitet wird. Dabei drängen sich folgende Fragen auf: Wie können wir überhaupt zu einer allgemeinen Theorie der Erfahrung (bzw. der Rationalität) gelangen, da wir doch immer von konkret-begrenzten Verständnissen bzw. Vorverständnissen der Erfahrung ausgehen müssen? Wie unterscheiden wir eine ideologisch und durch kulturelle Gewohnheiten suggerierte falsche Erfahrungstheorie von einer phänomenologisch gerechtfertigten? Und bei welcher Art von spezieller Erfahrung setzen wir an, um zu einem allgemeinen Erfahrungsbegriff zu gelangen? Diese Fragen werden bei Schwemmer rückgebunden an die lebenswelttheoretische 'Ausgangsfrage' nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Alltag, von wissenschaftlicher und alltäglicher Erfahrung. In der Perspektive der durch Wissenschaft dominierten Kultur, die auch eine ideologische Wissenschaftsdominanz hinsichtlich des Alltags einschließt, muß die wissenschaftliche Erfahrung als Exposition jeder weiteren Untersuchung genommen werden. Wissenschaftliche Erfahrung muß — bevor sie gegebenenfalls kritisiert und konterkariert wird — erst einmal als solche zur Darstellung gebracht werden. Sie darf nicht von vornherein im Namen irgendeiner anderen Erfahrung denunziert werden. Der Verdacht liegt freilich nahe, daß der geläufige Begriff von alltäglicher Erfahrung nur die schlechte Negativfolie darstellt für eine erst künftig zu leistende Kritik wissenschaftlicher Erfahrung. In ihrem Selbstverständnis bzw. in ihrer Selbststilisierung (die im Wissenschaftsverständnis der transzendentalphilosophischen und der analytischen Philosophie zum Ausdruck kommt) lassen die Wissenschaften laut Schwemmer nur eine normierte, regelge242

Neuere Fortschreibungen

leitete Erfahrung zu. Der Autor referiert zunächst einen gängigen Forderungskatalog mit fünf Kriterien, denen gemäß sich eine Erfahrung als 'wissenschaftlich' ausweisen soll: (a) beliebige Reproduzierbarkeit der Ergebnisse aufgrund exakt festgelegter Experimentbedingungen; (b) strenge Eindeutigkeit der Gegenstände und Beziehungen; (c) Vollständigkeit; (d) Unabhängigkeit oder klar bestimmte Abhängigkeit zwischen Ergebnissen und Methoden; (e) quantitative oder metrische Genauigkeit (PhW 103). Solche "wissenschaftlichen Tugenden", so Schwemmer, verdanken sich freilich "der Isolierung von Faktoren und einem raffiniert manipulierten Arrangement dieser isolierten Faktoren, die beide im Leben nicht — oder höchstens in Extremfällen — vorkommen" (PhW 104) und deren 'Lebensbedeutsamkeit' mehr als fraglich ist. Die "fokussierende und isolierende Wahrnehmungs- und Denkweise" der neuzeitlichen Wissenschaften, die "im naturwissenschaftlichen Experiment paradigmatisch etabliert" (PhW 22) wurde, ist ein Denk- und Wirklichkeitsmodell, das dem skizzierten klassischen Handlungsmodell strukturell entspricht. Es ist schlechthin unmöglich, daß unser Alltagsdenken — das Denken in jenem Bereich, den Aristoteles als 'bios praktikos' bezeichnet hat — diesem wissenschaftlichen Erfahrungsverständnis folgt und die dort postulierte Denkweise übernimmt. Es ist außerdem mehr als zweifelhaft, daß z.B. künstlerisches Denken an die genannten Normen zu binden ist, ohne seinen Eigencharakter und seine spezifischen Eigenleistungen einzubüßen. Darüber hinaus ist aber auch fraglich — und dies ist vielleicht der stärkste Einwand —, ob die Wissenschaften tatsächlich so betrieben werden und so funktionieren, wie dies in den ausformulierten Normen ihrer Selbststilisierung postuliert wird. Alle drei genannten Einwände — Nichtübertragbarkeit der 'wissenschaftlichen Tugenden' auf den Alltag, ihre Nichtübertragbarkeit auf den Bereich der Ästhetik und vor allem ihre Nichteinlösbarkeit in der wissenschaftlichen Praxis — werden von Schwemmer ausdrücklich ins Feld geführt. Seine Wissenschaftskritik mündet aber nicht in die Destruktivität eines 'anything goes', sondern in eine umfassende kritische Phänomenologie sowohl des tatsächlichen Wissenschaftsgeschehens als auch des sogenannten Alltags. Dabei gelangt Schwemmer zu einer Perspektive, die der gängigen These von der strukturellen Verschiedenheit (und eventuell auch: der funktionellen Komplementarität) von Wissenschaft und Alltag widerspricht. Demnach ist das Alltagsdenken im Vergleich zum Wissenschaftsdenken nicht schlechthin einfach, naiv und unreflektiert, sondern seinerseits bereits durch mannigfache kulturelle Symbolisierungsarbeit hindurchgegangen, hochkomplex und elaboriert. Strukturell sind Alltagsdenken und reale Wissenschaftspraxis — jenseits ihrer idealisierenden Stilisierung — einander näher, als gemeinhin angenommen wird. Andererseits ist es aber auch so, daß die in den Stilisierungsnormen extrem ausgewalzte Ideal isiemngstendenz nicht nur im wissenschaftspraktischen, sondern auch im alltäglichen Denken zumindest ansatzweise erkennbar ist. Um zu der genannten umfassenden 'Phänomenologie der Erfahrung' zu gelangen, sucht Schwemmer nach den "Charakteristika, die in der wissenschaftlichen Empirie verlorengehen oder eliminiert werden" (PhW 109), und findet deren vier:

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

"Ein erstes dieser Charakteristika ist die Stetigkeit

der alltäglichen Erfahrung: zwischen den bemerkten

oder erwähnten Dingen bleibt kein leerer Zwischenraum. Die erfahrene Situation oder Umwelt ist jeweils als ein zusammenhängendes Ganzes gegeben und nicht als eine Anordnung von einzelnen diskreten Dingen oder Geschehnissen." (PhW 109) "Ein weiteres Charakteristikum ist der Fluß unserer Erfahrungen in der Zeit: wir nehmen nicht ein für allemal begrenzte und in ihrer Identität fixierte Dinge oder Konfigurationen von Dingen wahr, sondern sich wandelnde und ineinander übergehende, auseinander hervorgehende Episoden, eingelagert in eine stetige, aber ebenfalls sich wandelnde Ganzheit von Umgebungen. Stetigkeit und Fluß sind daher keine widersprüchlichen, sondern einander ergänzende und interpretierende Charakteristika." (PhW 110) "Ein weiteres Charakteristikum unserer Erfahrungen ist deren autarke

Gegebenheit:

daß wir

nicht nur träumen, sondern etwas wirklich erfahren, zeigt sich immer wieder in der Widerspenstigkeit, in der überraschenden Andersheit und Neuheit des Erfahrenen." (PhW 111) "Schließlich ist als Charakteristikum unserer Erfahrung anzuführen deren

Vieldimensionalität:

unsere Erfahrungen ergeben sich nicht als ein festumrissenes System aus Wahrnehmungen genau begrenzter Bereiche, also eine Kombination aus Hör-, Tast-, Seh-, Geruchs- und Geschmacksempfindungen, sondern als vieldimensionaler Komplex verschiedenartiger Wahrnehmungen, die zu einer mehr oder weniger geschlossenen Wahrnehmungseinheit zusammenwachsen. In diesen Komplex gehen ein der Rückbezug auf frühere Wahrnehmungen, die bleibende Gegenwart der unmittelbaren Vergangenheit in unserem Erleben, die Durchformung dieser Gegenwart durch die Anschlußerwartung des unmittelbar Zukünftigen, die Einordnung unserer Wahrnehmungserlebnisse in das Relevanzgefüge unseres Erlebens und Handelns [...], die symbolischen ([...] nicht nur sprachlichen) Verweisungen und vieles andere mehr." (PhW 112)

Kontinuität, Zeitfluß, Widerständigkeit und Mehrdimensionalität — letztere bedeutet organische, symbolische, institutionelle und mediale Heterogenität plus Vernetzung213 — sind nach Schwemmer also jene Momente von Erfahrung, die von der wissenschaftlichen Normierung und Stilisierung ausgeblendet werden, die jedoch entscheidend sowohl unsere davon abgehobene Alltagserfahrung als auch die reale Wissenschaftspraxis prägen. Diese Momente ergeben insgesamt ein 'Hintergrund'- und 'Totalitätswissen', das nicht in einzelne isolierte und distinkte Teilvorstellungen transformierbar ist, sondern in einer eigenen Repräsentationsleistung unserer Reflexion (und das heißt immer: in einer Neu-Wahrnehmung und Neu-Erfahrung 'dessen, was ist') thematisiert werden kann. Wird diese eigene Repräsentationsleistung, diese eigene Reflexion auf Hintergrund und Totalität nicht unternommen, dann kann dieser Horizont vergessen werden (wie im Szientismus) oder in unangemessener, verzerrter Weise symbolisiert werden (wie dies im klassischen Philosophem des 'Selbstbewußtseins' geschieht, wo man die Totalität restlos 'ans Licht' und 'auf den Begriff' bringen will). Sowohl das künstlerische Werk — in der Schöpfung wie in der Rezeption — als auch ein von szientistischen Normen nicht depraviertes Alltagserleben können Hintergrund und Totalität unseres Daseins jedoch auf eigene Weise ausdrücken und bewußt machen. Andererseits ist es aber auch so, daß

"die Wissenschaften fortsetzen und verstärken, was wir bereits in unseren alltäglichen Lebenszusammenhängen tun. Die Schaffung einer geordneten Gegenstandswelt vollzieht sich nicht erst in der besonderen Form wissenschaftlicher Stilisierung, sondern bereits in unserer alltäglichen Sprache und sogar in unse-

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Neuere Fortschreibungen

ren alltäglichen Wahrnehmungen und Handlungen, die mit dieser unserer Alltagssprache geformt werden. Bereits in unserer Alltagssprache [...] schaffen wir sprachliche Fixpunkte, auf die wir Regionen unserer lebendigen und vielfach bewegten Wahrnehmungswelt gleichsam projizieren können." (PhW 51 f.)

Kultur besteht nach Schwemmer in einem komplexen System solch symbolischer Fixpunkte, auf die der gesamte Umkreis von Erfahrungen projizierbar ist. Und der Fortschritt der Kultur ergibt "das Bild einer immer weitergeführten Bemühung um eindeutige Identitäten und überschaubare Ordnungen" (PhW 52). Die "symbolische Fixierung der fließenden Welten" (PhW 51) ist somit der Gestus der Kultur, sofern diese die Antwort des menschlichen Geistes gegenüber der ihn herausfordernden Realität darstellt. Symbolische Fixierung oder, anders gesagt, Vergegenständlichung ist bereits im vorwissenschaftlichen Bereich der grundsätzliche Gestus von Wahrnehmung und Sprache, so wie sie dann der ausdrückliche und zum Teil extreme Gestus von Wissenschaft und wissenschaftlicher Reflexion ist. In diesem Sinne lassen sich die "Wissenschaften als Fortsetzungen der alltäglichen Kultur" (PhW 51) betrachten. Doch sind die Symbolsysteme — als autopoietische Systeme — nie ein für alle Male am Ziel ihrer Entwicklung angelangt. Indem sie (auf der sechsten Erfahrungsstufe) 'Vollversprachlichung' bzw. 'Vollsymbolisierung' anstreben und dabei zwar Teilergebnisse erzielen, aber auch scheitern, setzen sie sich erneut der offenen Dynamik des Erfahrungsprozesses aus.

245

1.4 Systematische Bemerkungen zur prozessual-symbolisch-medialen Erfahrungstheorie

In drei Durchgängen habe ich bis jetzt das Thema der lebensweltlich, prozessual und symbolisch-medial vermittelten Erfahrung dargelegt: (a) in der Lebenswelttheorie bei Husserl, (b) in den Entwürfen von James, Bergson, Whitehead und Cassirer sowie (c) — exemplarisch für eine neuere Fortschreibung — in dem diese klassischen Ansätze aufnehmenden und darüber hinaus medientheoretische Aspekte integrierenden Entwurf von Schwemmer. Hingewiesen wurde auch auf die parallelen erfahrungstheoretischen Untersuchungen bei Langer und Goodman. In einem vierten Durchgang — einem Aufriß dessen, was eine durch die Auseinandersetzung mit den referierten Positionen belehrte allgemeine Phänomenologie der Erfahrung ergibt — versuche ich nunmehr, durch Auflistung und Erläuterung einer Reihe von Begriffspaaren die wichtigsten Strukturmomente des Phänomens Erfahrung darzulegen. Diese Momente ergeben sich aus einer systematischen Zusammenschau dessen, was in Referenz auf die oben genannten Autoren bislang erörtert wurde. Der Rekurs auf bestimmte Philosophen erfolgt nur mehr en passant und in Bezug auf Einzelheiten. Alle anzuführenden Strukturmomente bilden ein hermeneutisches Begriffsnetz. Sie verweisen aufeinander, indem sie sich ergänzen, z.T. aber auch inhaltlich überschneiden. Es handelt sich um Perspektiven bzw. um Akzentuierungen der einen — in sich vielgestaltigen — lebensweltlichen Erfahrung, die — ohne daß die folgende Aufzählung von Bestimmungen den Ansprach auf Vollständigkeit erheben will — zu klassifizieren ist als: (1) ontologisch und — zumindest ansatzweise — objektiv, (2) biologisch und anthropomorph, (3) sozial und kulturell, (4) subjektiv und individuell, (5) historisch und kontingent, (6) kontextuell und transitiv, (7) prozeßhaft und gestalthaft, (8) tendenziell rational und reflexiv, (9) spekulativ und zuweilen fiktiv, (10) affektiv und lebensbedeutsam sowie (11) — diese beiden letzten Bestimmungen sind vielleicht die wichtigsten — symbolisch und medial.

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Systematische Bemerkungen

1.4.1

1.4.1.1

Strukturmomente des Phänomens Erfahrung

ontologisch/objektiv

Erfahrung bezieht sich — nicht nur, aber auf unverzichtbare Weise auch — auf ein Objektives, auf ein reales Sein. Anders gesagt: sie bezieht sich stets in irgendeiner Weise auf die Wirklichkeit unseres Lebens und auf Tatsachen, die in ihrer jeweiligen Gestalt zwar subjektiv von uns hervorgebracht und in gewisser Weise von uns abhängig sein mögen, die prinzipiell aber doch auch ohne unsere Phantasie und ohne unser denkendhandelndes Zutun existieren. Aus diesem Realbezug folgt unter anderem der Anspruch unserer Erfahrung auf Intersubjektivität, Verbindlichkeit und Wahrheit. Damit ist freilich keine Gleichsetzung von Erfahrungsinhalt und Wirklichkeit behauptet. Erfahrung ist selbstverständlich nicht schlechthin objektiv, tatsachenbezogen und wahr — aber sie ist es doch in einem näherungsweisen (und durchaus problematischen) Sinn. Erfahrung spiegelt die Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht, nicht einfach wider (es sei denn, wir fassen das Spiegelbild prinzipiell als Verzerrung und jede Rekonstruktion als Neokonstruktion auf). Aber die Erfahrung ist von der 'Wirklichkeit selbst' — die wir zumindest abstrakt und prinzipiell als 'an sich seiend' und erfahrungsunabhängig denken können — auch nicht ein für allemal getrennt. Diese Überlegungen wenden sich gegen einen fiktionalistischen und dezisionistischen Idealismus, ohne dabei einem naiven Realismus und Materialismus das Wort zu reden. Daß Erfahrung sich nicht mit jeder beliebigen und willkürlichen Interpretation der Wirklichkeit verträgt, erweist sich durch die Kompaktheit und Widerständigkeit, die uns die Wirklichkeit immer wieder entgegensetzt: Immer wieder erkennen wir, daß wir uns da und dort in unserer Erfahrung geirrt haben und daß wir da und dort auf unsere theoretischen und praktischen Fragen keine Antwort finden. Das impliziert aber auch — und dies spricht gegen einen durchgängigen Falsifikationismus —, daß wir nicht immer irren und daß wir gelegentlich doch Antworten auf unsere Fragen finden, mögen unsere Wahrheiten und Problemlösungen auch unvollkommen und vorläufig und stets mit neuen Irrtümern und Unwissenheiten verknüpft sein. Erfahrung ist also neben ihrer — noch zu erörternden — Subjektivität und Irrtumsanfälligkeit auch objektiv und wahr. Es gibt in der Geschichte der Philosophie und des allgemeinen kulturellen Bewußtseins allerdings mindestens drei Grundirrtümer, die, als programmatische spekulative Annahmen, den Wirklichkeitsbezug verkennen, der uns in der Tat möglich und erreichbar ist. Der erste Grundirrtum ist der des klassischen Empirismus: daß wir durch die Erfahrung — genauer: durch systematische Beobachtung und messendes Experiment — die objektive Wahrheit erkennen könnten. Erfahrung

247

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

wird hier als wissenschaftlich lehrbare und immergleiche Methode betrachtet, zur Erkenntnis der Wirklichkeit an sich zu gelangen. — Der zweite Grundirrtum ist der des klassischen Rationalismus: daß wir ohne Erfahrung — einzig am Leitfaden von Mathematik bzw. formaler Logik, die hier als vorgängige ontologische Struktur mißverstanden werden — zur objektiven Wahrheit vorstoßen könnten. Erfahrung wird als Summe des empirisch-kontingent Begegnenden betrachtet, das für ein prinzipielles Verständnis der Wirklichkeit unerheblich sei. — Der dritte Grundirrtum wird von Nietzsche — und wohl auch von Derrida — verfochten214 und ist eine (verfehlte) Reaktion auf die Einsicht in die Grundirrtümer eins und zwei. Es wird postuliert, daß man die Konzeption der objektiven Wahrheit gänzlich verwerfen müsse zugunsten der Absolutsetzung eines subjektiven, willkürlichen und bodenlosen Denkens und Handelns. Mit der Eliminierung des Wahrheitsbegriffs, mit dem Leugnen jeder Korrelation unseres Denkens mit der 'Wirklichkeit selbst' wird auch jede sinnvolle Version des Begriffs Erfahrung abgeschafft. — Ein lebendiger, problemorientierter Erfahrungsbegriff läßt sich hingegen weder als Instrument eines naiven, ungetrübten Erkenntnisfortschritts gebrauchen, noch läßt er sich zugunsten einer angeblich autarken Rationalität außer Kraft setzen, noch läßt er sich ersatzlos und ineins mit der vorschnell zur Gänze verworfenen Rationalität abschaffen. Der phänomenologische Befund lehrt, daß das Phänomen Erfahrung vielmehr gerade aus der Spannung heraus zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, dem Irrtum und der Wahrheit, dem Schein und dem Sein lebt. Es ist nicht nötig, die Pole dieser Spannung als absolut greifbare Bezugsebenen zu hypostasieren, es ist jedoch ganz und gar unmöglich, sie konzeptionell zu eliminieren.

1.4.1.2

biologisch/anthropomorph

Unsere Erfahrung ist menschliche, also gattungsmäßige Erfahrung. Sie findet nicht in einem 'an sich' und für alle (oder auch nur für mehrere) Gattungen gegebenen differenzlos-gemeinsamen Kontext statt. Sicher gibt es diese gattungsübergreifende, gemeinsame Welt, aber sie ist für unser Denken und Handeln eine kompakte, undurchsichtige Größe. Zu ihr und zu den 'Eigenwelten' (Uexkuell)215 anderer Gattungen haben wir naturgemäß keinen bzw. nur einen begrenzten Zugang und können darüber sinnvoll — mit Ausnahme behavioristischer Beschreibungen und spekulativ-vager Analogieschlüsse — nichts aussagen. Wenn wir von der Erfahrung anderer Lebewesen — der Tiere vor allem — sprechen, ist das Fundament unseres Sprechens, der Ausgangspunkt aller Beobachtungen und Schlüsse, die eigene Gattungsspezifität. Worin diese besteht, hat die moderne philosophische Anthropologie216 — in ihren Anfängen freilich in zu einfacher Kategorialisierung, im prinzipiellen Ergebnis aber auch mit den heutigen, verfeinerten Erkenntnissen der Biologie kompatibel — herausgearbeitet. Dabei bemühten sich die Klassiker der philosophischen Anthropologie vor allem um eine Abgrenzung menschlichen Erfahrens, Denkens und Verhaltens zu tierischem, und mit dem Begriff der 'Weltoffenheit des Menschen' (Scheler)217 fanden sie eine griffige Abgrenzungsformel.

248

Systematische Bemerkungen

Versteht man darunter das Theorem, alle Tiere folgten in ihrem Wahrnehmen und Verhalten einem strengen, biologisch vorgegebenen Bauplan, der quasi mechanisch funktioniere und in determinierter Weise durch Instinkte und vererbte Aktionsformen bestimmt sei, während der Mensch in einer Sphäre absoluter Freiheit seine Entscheidungen treffen könne, so ist sie — in solch vereinfachter Form — nicht aufrecht zu erhalten. Die verschiedenen Versuche, einen 'Katalog' von qualitativen Leistungen und Vermögen zu erstellen, die dem Menschen zuschreibbar, dem Tier jedoch abzusprechen seien — z . B . Sprache, Vernunft, 'Geist', Religion, Artefakte, Kleidung, Hausbau, produktive Lernfähigkeit in unvorhergesehenen Situationen usf. —, haben eine doppelte Schwäche: Die genannten Charakteristika treffen — wenngleich auf niederen Entwicklungsstufen — auch auf manche höheren Tiere zu, oder die Charakteristika sind so allgemeiner und spekulativer Natur, daß sie sich jeder empirischen Uberprüfbarke it entziehen. Das letztere gilt z.B. für die allgemeine Frage, ob Tiere 'denken' können. Solange der Begriff 'Denken' nicht genügend spezifiziert ist, muß die Frage ohne Antwort bleiben. Wird der Begriff jedoch spezifiziert, gerät die Spezifizierung sehr leicht zu eng und ist dann nicht mehr brauchbar. 218 Die Frage des Qualitätsunterschiedes von Mensch und Tier, die in der philosophischen Anthropologie eine so zentrale Stellung einnimmt, ist freilich für eine phänomenologische Fragestellung nicht erstrangig, denn diese will den menschlichen Weltbezug ausloten und diesen Bereich nicht vorschnell zugunsten anderer Fragestellungen überspringen. Das phänomenologisch objektivierte Phänomen Erfahrung zeigt sich als Phänomen für den, der es als sein Phänomen bedenkt, und das ist in dem uns möglichen Reflexionszusammenhang kein anderes Lebewesen als eben der Mensch. Das Phänomen existiert also, so besehen, nicht ohne den 'Phänomenologen' (und eben dadurch nicht ohne die menschliche Gattung), der seinerseits nur Phänomene bedenkt (und bedenken kann), die ihm begegnen und mit denen er sich auseinandersetzt. In solcher Perspektive ist das Tier — in seinen Möglichkeiten, seinem Verhalten, kurzum: seiner 'Seinsweise' — eine Größe unter anderen Größen im Bezugsfeld unserer Erfahrung. Dies bedeutet nun allerdings keinen Freibrief für menschliche Interpretationswillkür, keinen Freibrief dafür, auf genaue und gewissenhafte Beobachtung und Reflexion des Außermenschlichen zu verzichten. Wir müssen aber einräumen, daß unsere gattungsspezifische Welt offensichtlich eine andere ist als die Wahrnehmungs- und Aktionswelt irgendeines nichtmenschlichen Lebewesens, daß dies mit unserer biologischen Spezifikation zu tun hat und daß somit unsere Erfahrung zwangsläufig eine anthropogene und anthropomorphe Erfahrung ist. Daraus folgt nicht, daß uns das Außermenschliche ganz und gar fremd bleiben müsse. Wir erfahren es aber immer nur in unserem — menschlichen — Weltbezug und vermittels dieses Weltbezugs. Die phänomenologische Art zu denken bestätigt auf eigene Weise die These der philosophischen Anthropologie über die menschliche 'Weltoffenheit'. Wie immer es um die Erfahrungswelt z.B. der Tiere bestellt sein mag, für die menschliche Erfahrungswelt läßt sich behaupten, daß sie keinem vorgefertigten biologischen Bauplan folgt, sondern in vielfacher Weise variabel und innovationstüchtig ist. Die Vielfalt möglicher und wirklicher Erfahrung spiegelt sich nicht nur in der Vielfalt der Individuen einer

249

Grundzüge einer Theorie der

Erfahrung

durch Zeit und Ort miteinander verbundenen sozialen Gruppe, sondern auch in der Vielfalt der geschichtlichen Kulturen, der Klassen, Völker, Religionen und Sprachen. Fast jede Sprache organisiert die Wirklichkeit — und damit: die Wahrnehmungen, die Wertungen, die Erfahrungen — durch ihre Lexik, Grammatik und (was zuweilen übersehen wird) auch durch ihre Pragmatik auf originelle und eigene Weise. 219 Auch jede Religion und jede Philosophie — allgemeiner gesprochen: jedes Symbolsystem — bietet einen anderen Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit. Es ist also insgesamt das vielfältige Reich der Kultur (verstanden als Inbegriff menschlicher Symbolfähigkeit und als Inbegriff aller Symbolsysteme), das von der bildsamen und variationsreichen 'Weltoffenheit' des Menschen Zeugnis ablegt.

1.4.1.3

sozial/kulturell

Erfahrung ist gemeinschaftliche Erfahrung. Das ergibt sich aus der gemeinschaftlichen Lebensweise des Menschen als eines 'ens sociale'. Wir denken und handeln nicht primär als einsame Individuen, und selbst dann noch, wenn wir gelernt haben, individuelle Wahrnehmungen zu entwickeln, individuell zu werten und individuelle Schlüsse zu ziehen, bleibt unsere Individualität sehr relativ und entpuppt sich bei näherem Hinsehen nur allzu oft als das bloße Repetieren kollektiver Verhaltensweisen bzw. als Anpassung an diese. Die These, daß jedes Individuum nur dadurch, weil es Individuum sei, die Welt anders erfahren müsse, stilisiert den Begriff des Individuums in erfahrungs-inadäquater Weise und ist eine unhaltbare Behauptung. Die Gegenthese, daß die Erfahrungen der verschiedenen Menschen — ihre Vorstellungen und Gefühle, ihre Denk- und Handlungsweisen — zumindest untereinander vergleichbar und ähnlich seien, hat ihre Basis sowohl in der objektiv-wahren wie in der gattungsspezifisch-biologischen Dimension der Erfahrung. Eine wesentliche Komponente dieses gattungsspezifisch Biologischen ist die erwähnte Weltoffenheit, die der möglichen Entwicklung vieler, höchst unterschiedlicher Kulturen und damit Erfahrungen Raum gibt. Die Kulturfahigkeit — und damit: die Erfahrungskompetenz — des Menschen ist durchaus biologisch grundgelegt: Der Mensch muß kulturelle, d.h. künstliche Strukturen schaffen bzw. sich vorgegebenen kulturellen Strukturen anpassen, sich in ihnen und durch sie verwirklichen, um gattungsgerecht (und, wie man angesichts der konstitutiven 'Unspezialisiertheit' des Menschen wohl hinzufügen muß: um überhaupt) leben zu können. Das lebensnotwendig Künstliche ist die Welt der Symbole. Kultur impliziert — als Voraussetzung wie als Ergebnis dieser Konstitution — einen gewissen Rahmen von Freiheit, Entscheidungen zu treffen und Konstruktionen so oder anders durchzuführen. Diese Freiheit bedeutet Selbstdistanzierung und zugleich Weltdistanzierung des Menschen. Dies wird besonders deutlich, wenn wir Kultur als Symbolisierungsleistung analysieren. Symbole sind nichts — oder nur ganz selten und ausnahmsweise etwas — Individuelles. Sie sind allgemein und eben dadurch selbst- und weltdistanzierend. Sie sind intersubjektiv verstehbar und verbindlich — und eben dadurch kulturstiftend und Mittel

250

Systematische Bemerkungen

der Kommunikation. Sie gehen mit Natur um, organisieren und gebrauchen Natur, z.B. indem Naturelemente zu Zeichen werden, bleiben selbst aber stets artifiziell. Symbole sind — und damit: Kultur ist — künstlich. Hier ist an Plessners anthropologische Grundformel zu erinnern, der Mensch sei 'der Künstliche von Natur'. 220 Jedes Individuum ist Glied einer Sozietät, und jede Sozietät sondert sich von anderen Sozietäten dadurch ab, daß sie besondere Interessen und Traditionen hat, die sich auf Art und Umfang der Wahrnehmungen und auf deren intellektuelle Verarbeitung beziehen, auf die jeweiligen Symbolisierungen, Wertungen und Verwertungen. Die Sozietäten sind freilich nicht immer homogene Gruppen, sondern müssen als perspektivische Gemeinschaften begriffen werden, d.h. sie überschneiden sich de facto, und das einzelne Individuum kann gleichzeitig mehreren unterschiedlichen Sozietäten angehören. Eine solche Sozietät ist z.B. die Sprachgemeinschaft, die (ökonomische bzw. soziale) Klasse, die Berufsgruppe, die politische oder religiöse Gesinnungsgemeinschaft, aber auch das Geschlecht, die Altersgruppe oder irgendeine geschichtliche 'Schicksalsgemeinschaft' (z.B. eine Gemeinschaft der Flüchtlinge, Gefängnisinsassen, Sportfans, Kriegsteilnehmer, Drogenabhängigen, Aids- oder Krebskranken usf.). Diese Sozietäten entwickeln jeweils gruppenspezifische Erfahrungen, Erwartungen, Bewertungen, Urteile und Normen, die sich in speziellen Symbolisierungen ausdrücken können. Die Gemeinsamkeit einer Sozietät ist die Gemeinsamkeit einer Lebensform — und diese ist nichts anderes als ein anderer Name für 'Kultur'. Teil und besonderer Ausdruck einer speziellen Kultur und Lebensform ist im Hinblick auf solche genannten Gruppen die sich jeweils ausbildende (Sonder-)Sprache. Freilich ist der Sozial- und Kulturaspekt der Erfahrung niemals deterministisch aufzufassen. Individuen können sich sehr wohl gegen die Gruppe stellen, und da das Gruppenleben selbst ein dynamischer und in sich widersprüchlicher Prozeß ist, der vom Wechselspiel individueller Zielsetzungen und Reaktionen einerseits und kollektiver Vorgaben andererseits vorangetrieben wird, kann weder von einem Apriori der Gruppe noch des Individuums gesprochen werden. Wenn es ein Apriori gibt, so besteht es in der formalen 'Gleichursprünglichkeit' bzw. in der konstitutiven Verschränkung von Gruppe und Einzelnem. Diese Verschränkung wird in spezifischen kulturellen Kontexten zu einem je spezifischen Verhältnis von Individuum und Gruppe ausgeformt. Auch wenn sich das Individuum — wie wir es in traditionalen, archaischen Gesellschaften vor allem beobachten — gegenüber der Gruppe kaum emanzipiert, so ist insgesamt und in einem allgemein-strukturellen Verständnis von Kultur dennoch die Individualität in gleicher Weise für die Erfahrungskonstitution zu berücksichtigen wie die Sozialität. Wir haben es also nicht mit zwei einander ausschließenden, sondern komplementären Aspekten der Erfahrung zu tun. 221

251

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

1.4.1.4

subjektiv/individuell

Auch wenn Erfahrung kollektiv bestimmt ist, ist sie — als konkret gemachte Erfahrung — immer die Erfahrung eines Subjekts und eines Individuums. Diese beiden Begriffe werden in der Regel so unterschieden, daß Subjektivität die Allgemeinheit, Individualität die Besonderheit der Einzelnheit des Einzelmenschen meint. 222 Ein Subjekt als solches ist demnach abstrakt denkbar, ein Individuum als solches kann hingegen nur konkret wahrgenommen, beschrieben und behandelt werden. Subjektivität ist eine Größe, unter der der Mensch formal gedacht werden kann, Individualität hingegen die Repräsentation des Daseins eines bestimmten, nicht auswechselbaren Menschen. Daher kann in einem allgemeinen Sinn gesagt werden, daß Erfahrung 'subjektiv' sei: Sie erfolgt zwangsläufig durch den Einzelnen, und nur dessen Interaktion mit den anderen Einzelnen sowie sein vorgängiges kulturelles Eingebettetsein in eine Sozietät ermöglicht das Phänomen der gemeinschaftlichen — der kollektiven, objektiven, intersubjektiven — Erfahrung. Die Gruppe ist stets eine Gruppe von Einzelnen (auch wenn die Einzelnen als Einzelne wesentlich durch die Gruppe konstituiert sind). Der Akt der Erfahrung ist stets ein subjektiver, aber auch, denn das konkrete Subjekt ist stets ein Individuum, ein individueller. Die Subjektivität einer Erfahrung ist also eine abstrakte Form, ihre Individualität hingegen ein konkreter Inhalt. Ein Inhalt bestimmt sich als 'Gestalt', als eine Größe mit einer Struktur, einer inneren Ordnung, einem Anfang und einem Ende. Diese Gestalt ist aber keine allgemein-formale transzendentale Setzung. Die Transzendentalphilosophie — für die es nur Subjekte, aber keine Individuen gibt223 — läßt Erfahrung aus der 'Anwendung' von fertigen Anschauungsformen (Raum, Zeit) und Kategorien (Kausalität usw.) auf ein chaotisch begegnendes Material sinnlicher Empfindungen entstehen. Cassirer zeigt aber in seiner Symbolphilosophie nicht nur, daß Raum, Zeit, Kausaltät usw. in verschiedenen Kulturen bzw. auf verschiedenen Entwicklungsstufen des Geistes sehr unterschiedlich auf das konkrete Weltverständnis 'angewandt' werden, sondern auch, daß diese Formen und Gestalten selbst erst im Erfahrungsprozeß entstehen. Pointierter als bei Cassirer wird dieser Genesis-Charakter der Erfahrungsformen in den Theorien Whiteheads und Schwemmers dargelegt, die darauf verweisen, daß jede bestimmte Erfahrung sich durch eine 'Schließung der (individuellen) Form' ergibt. Der Einzelne schafft aus dem, was ihm widerfährt, eine 'Gestalt', eine Synthese ursprünglich heterogener Wahrnehmungen, er kombiniert, selektiert und zieht Schlüsse, und er interpretiert das Wahrgenommene in einem konkreten, geschichtlich-kontingenten Akt als seine Geschichte, sein Leben, seine Erfahrung. Dies ist, theoretisch gefaßt, die Individualität der Erfahrung, die mehr ist und etwas anderes als ihr bloßer Subjektivitätscharakter. Die individuellen Erfahrungsgestalten, die sich aus Form-Schließungen ergeben, sind bis zu einem gewissen Grad — also wiederum: nicht absolut, sondern relativ — intersubjektiv verstehbar und kommunizierbar. Das sind sie freilich erst durch ihren Symbolcharakter — d.h. durch ihren die individuelle Dimension überschreitenden Allgemeincharakter. Die intersubjektiv verstehbare und kommunizierbare Erfahrung ist somit

252

Systematische Bemerkungen

ein in sich zwiespältiges Phänomen zweier Bereiche: des Unpersönlich-Allgemeinen und des Persönlich-Individuellen. Aus der untereinander vergleichbaren biologischen und kulturellen Verfassung der Einzelnen, aber auch der Sozietäten — man findet immer mehr oder minder breite Verständigungsbrücken, und neben den Inkompatibilitäten gibt es immer auch produktive Kommunikationsmöglichkeiten — resultiert, daß Erfahrungsgestalten weitgehend artikulierbar und mitteilbar sind. Unsere individuellen Erfahrungen können daher — prinzipiell zumindest — immer auch von anderen Menschen erfahren werden. Die individuelle 'Schließung der Form' kann auch so erfolgen, daß ein Einzelner eine sozial und kulturell bereits bekannte, für ihn aber bislang fremde und unbedeutende Idee plötzlich als seine ureigenste und authentische Erfahrung adaptieren kann. Dies ist z.B. der Fall, wenn ein Mensch plötzlich die ihm aus der Belletristik geläufige 'große Liebe' erfährt oder wenn ein religiöses Offenbarungs- und Bekehrungserlebnis stattfindet. Die Individualität und die Kollektivität von Erfahrung schließen demnach nicht einander aus, sondern ergänzen sich strukturell. Erfahrung ist das Wechselspiel von — nur abstrakt trennbarem — konkretem Erleben einerseits und bereits fertigen (aber stets auch wieder veränderbaren) Darstellungs- und Deutungsformen des Erlebten andererseits. Das konkrete Erleben ist der primäre, noch nicht zu Gestalten geronnene und unbestimmt-vieldeutige Erfahrungsfluß — James' pure experience — , die Darstellungsund Deutungsformen sind die Symbole und Symbolsysteme, die (wenngleich nicht definitiv und ein für allemal) Dinggewißheit, Selbstgewißheit, Verständigung und Selbstverständigung (Identität) verbürgen.

1.4.1.5

historisch/kontingent

Erfahrung, die noch nicht in eine bloße Abstraktion weiterverwandelt wurde, sondern noch weitgehend konkret ist, findet in einer unverwechselbaren Situation statt, d.h. an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit unseres Lebens. Werden diese Koordinaten verändert, dann mag man zwar trotz verschiedener Zeiten und Orte da und dort abstrakte Gleichheit feststellen können, doch ist diese gegenüber der konkreten Erfahrung und gegenüber unserem 'wirklichen Leben' stets ein Anderes, ein Sekundärprodukt. Hier ist an Bergsons und Heideggers Zeitanalysen zu erinnern und an deren zentrale These, daß wirkliche, konkrete Zeit jeweilige und nicht auswechselbare Geschichte ist, aus der wir den Charakter untilgbarer Kontingenz nicht wegdenken können. Nichtabstrakte Erfahrung 224 ist also stets an einen bestimmten historisch-individuellen Punkt geknüpft. Damit steht sie unter den Bedingungen des geschichtlichen Wandels von Sozietät, Kultur und Individuum, die das, was Erfahrung ist und sein kann, mitkonstituieren. Daß Erfahrung konstitutiv historisch und kontingent sei, besagt aber mehr als bloß: irgendwann und irgendwo zufällig geschehend. Die Begriffe des Historischen und Kontingenten ermöglichen eine nähere Bestimmung der vorhin erörterten strukturellen Indi-

253

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

vidualität von Erfahrung. Die Individualität einer Erfahrung besteht darin, daß sie unverwechselbar als je-meine Erfahrung durch die 'Schließung der Form' konstituiert wird. Indem sich Momente des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und Bewertens zur einheitlichen Gestalt meiner Erfahrung zusammenschließen, wird mir bewußt, daß diese Erfahrung erstens mit sich selbst und zweitens mit mir identisch ist und daß diese Koinzidenz einen hintergründigen Sinn von Geschichte offenbart: daß es tatsächlich — auf dem Wege des Erlebens — immer wieder 'das Neue' und Unvorhersehbare gibt, daß zwar viel Ähnliches, aber nichts Selbes sich wiederholt und daß, was real geschieht, trotz seiner Unvorhersehbarkeit und seiner Vergänglichkeit stets ein nicht zu überbietendes Besonderes darstellt, dessen Besonderheit in der Verknüpfung mit konkret-individuellen 'Lebensgeschichten' zu suchen ist. Der historisch-kontingente Charakter der Erfahrung weist auf die Abgründigkeit aller Erfahrung hin. Was uns in der Gegenwart und im Augenblick begegnet, ist Produkt und Anschlußleistung in einer langen Kette historischer Erfahrungen, die wir weder nach hinten, in die Vergangenheit, zureichend rekonstruieren, noch nach vorn, in die Zukunft hinein, vorhersehen können. Alles, was ist, könnte auch nicht oder anders sein, und von dem, was ist, erfassen wir niemals das Ganze. In der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften wurde die Zeit-Abgründigkeit der Erfahrung zumeist ignoriert. Auf diese Ignoranz haben vor allem Schelling, Nietzsche und Heidegger hingewiesen und ein 'Bewußtsein des Abgrunds' propagiert. Die geschichtsmetaphysischen Konzeptionen von Hegel und Marx, in denen von Gesetz und Ziel die Rede war, thematisierten zwar die Veränderung, sorgten aber für deren begriffliche Sedimentierung und theoretische Verharmlosung und blendeten damit das Moment des Abgründigen weitgehend aus. Sie interpretierten das Weltgeschehen nicht als kontingente (Handlungs-) Geschichte, sondern — tendenziell mechanistisch — als (Handlungs-)Block. 225

1.4.1.6

kontextuell/transitiv

Eine Erfahrung wird kaum je allein — als einzelne — gemacht. Sie verdankt sich vorangehenden Erfahrungen und grenzt sich von diesen ab, indem sie sich als gleiche oder ähnliche Erfahrung eigens wiederholt oder indem sie sich als eine andere oder auch gänzlich unvergleichbare Erfahrung davon abhebt. In dieser Weise hatte James von Kontinuität und Diskontinuität gesprochen. Eine Erfahrung steht aber nicht nur — nach rück- und vorwärts, in Richtung Vergangenheit und Zukunft — in einer zeitlichen, sondern auch in einer quasi räumlichen Dimension, d.h. sie zeigt sich je gegenwärtig vernetzt mit anderen, parallelen Erfahrungen. Sie steht also in einem Kontext bzw. in mehreren, einander überschneidenden Kontexten. Erfahrung verbleibt aber auch nicht auf dem Status ihres augenblicklichen Hier und Jetzt. Sowohl Einzelerfahrung wie auch Kontext und Kontexte verändern sich. Freilich gibt es — aber das ist nicht die Regel — einzelne Erfahrungen und auch einzelne Kontexte, die in gewisser Weise 'stehenbleiben', die nicht mehr fortentwickelt 254

Systematische Bemerkungen

werden. Hier wird darin die Einzelerfahrung zum Topos, zum Rezept. Sie geht ihres reflexiven Charakters verlustig und wird zum Requisit der bloßen Meinung. (Die klassische griechische Philosophie identifiziert die lebensweltliche Erfahrung mit der wenig geschätzten doxa und stellt ihr — als neue und andere Form von Erfahrung — die episteme gegenüber.) Da die Funktion von Erfahrungen wesentlich darin besteht, in speziellen Situationen sachangemessene Urteile zu fällen und sachangemessenes Verhalten an den Tag zu legen, sind diese erstarrten und reflexionslos gewordenen Erfahrungen, auch wenn sie manchmal nützlich sein mögen, in vielen Fällen gänzlich überflüssig und sogar kontraproduktiv. Auch ein ganzer lebensweltlicher Erfahrungskontext — eine Kultur, eine Lebensform, ein Gesamtgefüge von Wahrnehmungen, Wertungen und Normen — kann auf diese Weise erstarren und reflexionslos, inadäquat, unanwendbar und ein Hemmnis für wirkliche Erfahrung werden. Die Veränderung von Erfahrungen erfolgt naturgemäß in ihrer zeitlich-geschichtlichen Dimension, und zwar so, daß — kontinuierlich oder diskontinuierlich — eine Erfahrung in die nächste übergeht. Keine Erfahrung bleibt 'sie selbst', da sie sich als Erfahrung ja stets wieder in neuen Situationen und Zusammenhängen reproduzieren muß, und jede neue Herausforderung an die Erfahrung schafft, wenn auch oft vielleicht nur unmerklich, eine neue Erfahrungsgestalt. Dies läßt sich als die Transitivität der Erfahrung bezeichnen. Man könnte auch sagen: es ist ihre Anpassungs- und Innovationstüchtigkeit, ihre Kreativität. Die Transitivität entspricht der 'Weltoffenheit' des Menschen. Diese besteht ja nicht darin, daß der Mensch mit seiner Tätigkeit bloß einen vorläufigen Freiraum ausfüllt und dann zum 'festgestellten Tier' (Nietzsche)226 würde, daß sich der Freiraum also durch Kulturschöpfung zunehmend verengen und sich zuletzt gänzlich verschließen würde. Die Weltoffenheit als solche bleibt als ein Offenes, Veränderbares bestehen, indem sich jede Erfahrung als kontingent und vorläufig erfährt und indem sie nicht bei sich selber stehenbleibt, sondern ihre Gestalt — und damit ihre Inhalte und Verweisungszusammenhänge — verändert.

1.4.1.7 prozeßhaft/gestalthaft Der Zusammenhang der Erfahrungen untereinander, aber auch die innere Struktur einer Einzelerfahrung ist ein Prozeß. Die Erfahrungen stehen — oder, um die Metaphorik zu präzisieren: sie schwimmen — in einem Fluß. Sie und der Fluß sind aber nicht unabhängig voneinander zu denken, sondern als phänomenale Einheit, deren Komponenten sich wechselseitig bedingen. Es ist also nicht so, daß die 'Gestalten' der Erfahrung im Erfahrungs'ström' treiben und man sie aus diesem Strom herausfischen könnte. Werden sie 'herausgefischt' und 'trockengelegt', so ist dies immer schon ein phänomenologischer Mißgriff (der freilich, indem Sprache und Denken ihrer Sedimentierungstendenz nachgeben, ständig passiert). Nicht der 'Fisch', sondern die Welle ist in dieser FlußMetaphorik jenes Moment, das die Einzelerfahrung zureichend charakterisieren könnte. Denn die Welle ist selbst der Fluß, ist ein realer, jedoch nicht absonderbarer Teil von

255

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

ihm, der eine eigene Gestalt bildet, die — ohne scharfe Zäsur — in eine nächste Gestalt übergeht. Das Bild der Welle evoziert die Momente der Kontextualität und Transitivität, des Prozesses und der — stets vorübergehenden und mit allen anderen Gestalten in Verbindung stehenden — Gestalt. Die Gestalt einer einzelnen Erfahrung ist somit eine dialektische Größe: sie ist ein Eigenständiges und zugleich etwas, das zu einem Allgemeinen wird, indem es selbst Anschlußleistung ist und indem es weitere Anschlußleistungen ermöglicht. Es ist hervorzuheben, daß wir auf allen Erfahrungsbenen der Dialektik von Prozeß und Gestalt begegnen, allerdings in unterschiedlicher Deutlichkeit, unterschiedlicher wechselseitiger Verhältnisbestimmung und unterschiedlicher Funktion. Die Stufe der Imagination und des sogenannten reinen Bewußtseinsstroms — 'sogenannt' deshalb, weil man strenggenommen nur relativ und nur metaphorisch davon sprechen kann — schafft flüchtige, vorübergehende, instabile und unfaßliche Bewußtseinsgestalten. Relativ dauerhaft, verläßlich, stabil und faßbar werden die Gestalten erst durch Symbolisierung, d.h. indem sich das Bewußtsein an identifizierbare, wiederholbare und reproduzierbare materielle Zeichen bindet, die identifizierbare, wiederholbare und reproduzierbare semantische Inhalte repräsentieren. Was wir gegenständlich und kategorial wahrnehmen und denken können, ist stets nur das symbolisch Vermittelte, sind in erster Linie die Gestalten, nicht der sie tragende, generierende und destruierende Prozeß, der uns nur indirekt — eben über das Wahrnehmen und Denken der Erfahrungsgestalten — zugänglich ist. Das wird, wie wir gesehen haben, von Bergson freilich geleugnet. Der 'intuitive' Geist, meint er, erfasse die Wirklichkeit 'unmittelbar' und — ausdrücklich — ohne jegliche symbolische Vermittlung. Dem ist zu widersprechen. Unser Geist hat keineswegs — dualistisch — zwei klar trennbare Vermögen: ein 'intelligentes' bzw. 'analytisches' und ein 'intuitives'. Das Vermögen des Geistes ist ein einziges, allerdings in sich vielfältiges und in sich widerstreitendes. Der Fluß und die Gestalt — in der Terminologie des frühen Nietzsche: das Dionysische und Apollinische — bilden keine Dichotomie, sondern eine Duplizität. Es sind nicht voneinander unabhängige und autarke, sondern komplementäre und dialektische Größen. So wie es nicht möglich ist, den 'reinen' Fluß, den Prozeß als solchen, wahrzunehmen und zu denken, so ist es auch nicht möglich, nur die Gestalt jenseits des Flusses wahrzunehmen und zu denken. 227 Das Andere — die Gestalt als das Andere des Flusses und der Fluß als das Andere der Gestalt — ist stets mit gegenwärtig. Eine solche Gegenwärtigkeit kann, vor der Antifolie entweder des Prozesses oder der Gestalt, mit extrem steigerbarer Intensität gefühlt und empfunden, aber auch begrifflich symbolisiert werden. Beispiele hiefür sind einerseits Piatons Ideenhimmel (der das herakliteische und sophistische Lob der Vergänglichkeit und des Wechsels konterkariert), andererseits Nietzsches gegen 'Sein' und 'Begriff' gewendete Feier von 'Werden' und 'Leben' . Beide Beispiele stehen für eine Verzerrung des ontologischen Sachverhalts, um den es geht. Es handelt sich um spekulative Versuche, den Prozeß entweder zu leugnen oder zu verabsolutieren und die Gestalt entweder zu verabsolutieren oder zu leugnen. Daß es in der Geschichte der Philosophie — vielfach aber auch in der alltäglichen, technischen, künstlerischen, wissenschaftlichen und religiösen Welt — zu solch tenden-

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Systematische Bemerkungen

ziellen Verabsolutierungen der einen oder anderen Seite des in sich dialektischen Erfahrungsphänomens kommen kann, hängt mit dessen Kontingenz zusammen. Erfahrung hat nicht eine immergleiche und ausgewogene Struktur. Sie ist nur ausnahmsweise und augenblicksweise ein gleichsam in sich ruhendes, harmonisches Gefüge. Zwar bemüht sie sich um ein solches 'Fließgleichgewicht', und sie scheint es auch immer wieder punktuell zu erreichen. Aber ihr 'Wesen' ist Unausgewogenheit, Mangel, Übertreibung und Disharmonie, und eben darin liegt ein mächtiges Motiv dafür, daß sich jede Gestalt erneut dem Fluß und der Veränderung aussetzt, daß Erfahrung transitiv ist und über sich selbst hinauswill. Das mythische Denken — weitgehend verbindlich für traditionale, archaische Kulturen, aber auch noch verbindlich für ein archaisches Verständnis von Philosophie und Wissenschaft (nämlich: letztgültige und unrevidierbare Wahrheiten zu finden) — konzentriert sich fast zur Gänze darauf, den Fluß des 'primären' Bewußtseins zugunsten irgendwelcher Gestalten 'trockenzulegen'. Dieses Trockenlegen bedeutet einen Reflexionsstopp, der erst durch das moderne, relativierende und experimentierende Bewußtseins wieder aufgehoben wird. Ein hanebüchener Positivismus erweist sich somit als eine Spätform archaischen Mythisierens. Das aufgeklärte Bewußtsein weiß hingegen um die Duplizität von Prozeß und Gestalt, auch wenn es über keine 'goldene Regel' verfügt, dergemäß wir unsere Erfahrungen von vornherein so organisieren könnten, daß der genannten Duplizität stets sachgerecht entsprochen wird. Es wäre allzu pauschalierend, wollten wir — wie Nietzsche oder Bergson — behaupten, 'die Wissenschaften' oder 'die Sprache' könnten nur das Gestalthafte der Erfahrung ausdrücken, und sie würden den Prozeßcharakter der Erfahrung völlig ausblenden. Es gibt natürlich in den Wissenschaften und in der Sprache solche Tendenzen der Verabsolutierung und Ausblendung. Es ist aber bemerkenswert, daß wir sie viel deutlicher in von der tatsächlichen Wissenschafts- und Sprachpraxis abstrakt abgehobenen normativen Konzeptionen vorfinden — in Programmatiken der szientistischen Wissenschaftstheorie und der (älteren) sprachanalytischen Philosophie — als im tatsächlichen Wissenschaftsbetrieb und im wirklichen Sprachgebrauch. Die Rede von Fluß und Gestalt ist eine Metapher. 228 Eine Sinnstiftung durch Metaphorik ist immer sowohl sinnaufschließend als auch sinnverengend, denn die Metapher ist selbst eine Gestalt und damit ineins eine Leistung und ein Versagen gegenüber den im primären Bewußtseinsstrom implizierten Möglichkeiten von Gestaltbildung und Sinnstiftung. Eine Metapher eröffnet mitunter eine originelle Perspektive, sie ergibt aber auch zuweilen eine das Phänomen verzerrende Optik. Das gilt natürlich auch für die Metapher von Fluß und Welle. In ihr kommt die Weise, wie Erfahrung sich selbst organisiert und weitertreibt, nicht zureichend in den Blick. Erfahrung verweist nicht nur auf ein bloßes Daß, sondern auch auf ein Wie und gegebenenfalls auch auf ein Warum und Wozu. Erfahrung ist deshalb niemals nur ein bloßes Chaos von Sinnesempfindungen oder nur eine bloße Feststellung, irgendetwas 'wäre der Fall'. Sie steht in einer Ordnung und stellt selbst eine Ordnung dar, deren Prinzip ein Wie, Warum, Wozu usw. ist. Diese Ordnung bezeichnen wir als Rationalität.

257

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

1.4.1.8

rational/reflexiv

Die — umgangssprachlich verstandene — 'Rationalität' eines Handelns besteht darin, daß wir eine Situation vielleicht nicht vollständig, aber doch in ihren (für das Handeln und dessen Beurteilung) wesentlichen Strukturen überschauen und Mittel und Abfolge des Handelns oder Sichverhaltens so eruieren und organisieren, daß sie den von uns gesteckten Zielen entsprechen. Erfahrungen ergeben sich im Handeln und aus dem Handeln, sie repräsentieren mögliches Handeln und folgen in ihrer Rationalität einem ordnungsstiftenden Prinzip. Indem Erfahrungen eine sinnvolle Struktur aufweisen — eine sinnvolle Gliederung, eine sinnvolle Abfolge, eine sinnvolle Koordination von Mitteln und Zielen —, weisen sie Rationalität auf. Die Rationalität von Erfahrung wächst und stabilisiert sich, wenn derart Sinnvolles sich wiederholt und festigt, wenn es mit dem Sinn anderer Erfahrungen in Zusammenhang gebracht und wenn dieser Zusammenhang getestet, variiert und bestätigt wird. Die Rationalität einer Erfahrung geht zurück oder verschwindet, wenn die Bemühungen des Ordnens, Verbindens und Überprüfens verringert oder fallengelassen werden. Rationalität läßt sich so definieren als das methodische — und wohl auch ontologische — Prinzip des pragmatistischen Wahrheitskriteriums. Was der Erfahrung ihren 'Sitz im Leben' sichert, ist freilich nicht das Bemühen um Struktur und Ordnung allein, denn es gibt auch beliebige und phantastische Ordnungen, die man sich ausdenken kann, die mit einer realen Situation aber nichts mehr zu tun haben. Die Ordnungen' der reinen Imagination sind aufgrund ihrer Willkürlichkeit nicht rational — es sind fließende, unverbindliche Ordnungen ohne Anbindung und Anschluß an die widerständige und korrigierende 'Realität an sich'. Die Rationalität von Erfahrung stiftet und erhält sich nur dadurch, daß sie sich mit der Widerständigkeit der Realität gegenüber begrifflicher und theoretischer Vereinnahmung ehrlich auseinandersetzt. Rationalität ist also nicht beliebige Spekulation, sondern Spekulation, die sich auf Praxis einläßt und es riskiert, daß sie gegebenenfalls auch praktisch scheitert. Das Verhältnis von Theorie und Praxis nicht auszublenden, sondern es anhand konkreter Situationen immer wieder zu vergegenwärtigen, kann als die Reflexivität von Erfahrung bezeichnet werden. Sie ist das kritische, das sichernde, aber auch das abgründige Moment der Erfahrung. Die Reflexion belehrt uns darüber, daß jede sich repräsentierende Erfahrung nicht die Wirklichkeit selbst, sondern die (instabile) Doppeltheit von Interpretation und Wirklichkeit darstellt. Reflexivität motiviert — und kultiviert — daher Rationalität, und diese bleibt, um nicht zu erstarren und damit den Erfahrungscharakter als solchen zu verlieren, auf Reflexivität angewiesen. Die Erfahrung konstituiert also vom 'Ontischen', dem Gegebenen, sich abhebende Repräsentation, stellt diese aber auch wieder in Frage und oszilliert so zwischen den sedimentierenden Gestalten der Erfahrung und dem untergründigen Erfahrungs/Z«/?. Die Behauptung, daß jede (wie gesagt, als Repräsentation zu verstehende) Erfahrung kein Letztes, Unhintergehbares ist, sondern eine vorläufige Position im prozessualen Verstehen 'dessen, was ist', könnte zu der Ansicht verführen, daß es keine wirkliche Erfahrung gebe, sondern nur phantastische, willkürliche und stets auswechselbare theo-

258

Systematische Bemerkungen

retische Vorstellungen, mit denen der Mensch in seiner Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit dilettiert. Dies ist die Grundüberzeugung des radikalen Phänomenalismus, der in seiner Radikalität stets Gefahr läuft, in einen neuerlichen Fundamentalismus einzumünden. Demgegenüber ist darauf zu insistieren, daß Erfahrung eben im sachgerechten und nicht in irgendeinem idealistisch-projektiven Sinn verstanden werden muß, daß sie eben per se vorläufig und, als Repräsentation, interpretativ ist. Weiters ist darauf zu verweisen, daß Reflexivität keine endliche, sondern eine unendliche Bewegung darstellt. Wer sie — und das womöglich mit einem Schlag und in einer einzigen großen Anstrengung — zu Ende führen will, hat ihre Funktion verkannt. Reflexivität hat keinen Selbstzweck, genauso wenig wie Rationalität, die gleichfalls verselbständigt werden kann und dann ihren Sinn — nämlich: Erfahrung 'zur Form zu schließen', d.h. sie in eine strukturierte, selbstbewußte Gestalt zu übersetzen — freilich verfehlt.

1.4.1.9

spekulativ/fiktiv

Indem Erfahrung Reflexion und Repräsentation ist, ist sie auch Interpretation — und damit zwangsläufig nicht mehr 'die Sache selbst'. Trotz ihrer Bindung ans EmpirischObjektive und an Wahrheit enthält Erfahrung stets und unabdingbar auch ein interpretierendes, spekulatives Moment, das nicht zur Gänze von außen an sie herangetragen wird, sondern zu gewissen Teilen bereits von vornherein ein ihr inhärentes Strukturmoment ist. Erfahrung wird also nicht nur durch empirische, sondern auch durch spekulative Momente bestimmt. So wie es (außer in Teilen der Mathematik und der formalen Logik) keine 'reine' Rationalität gibt, so gibt es insgesamt auch keine 'reine' Erfahrung. Als Rationalitätsgebilde und als autopoietisches System enthält und entwickelt Erfahrung sich selbst strukturierende Annahmen, die nicht als abgeleitetes Resultat, sondern als inhärente Voraussetzung und inhärentes Moment zu begreifen sind. Die Ordnung, die Erfahrung sich gibt — ihre Rationalität also —, ist spekulativ. Doch darf nicht vergessen werden, daß Erfahrung nicht ausschließlich aus der formalen Ordnung, die sie darstellt, besteht, sondern auch aus dem 'Stoff bzw. Inhalt, der immer auch anders geordnet, d.h. in eine andere Gestalt von Rationalität und Spekulation gebracht werden könnte. Es läßt sich hier vom dialektischen Prinzip der Erfahrung oder von deren Transzendenz sprechen. Jede Erfahrung ist dadurch, daß Spekulation sie mitkonstituiert, selbstdistanzierend und relativ und geht — da dies eine das Fortschreiten des Erfahrungsprozesses motivierende Spannung erzeugt und diese aufrecht erhält — über sich selbst hinaus. Die Spekulation ist freilich ein Erfahrungsmoment, das sich unter Umständen völlig verselbständigen und dann die Erfahrung als solche ad absurdum führen kann. Die empirischen Momente werden dann marginalisiert oder gänzlich eliminiert. Spekulation (wörtlich: das 'Sehen') kann in Fiktion (wörtlich: das 'Erfinden') übergehen. Erfahrung kann zum Ausgangspunkt schlechthinniger Erfahrungstranszendenz und Nichterfahrung werden. Dies gilt nicht nur für gegenständliche Behauptungen, denen in der Realität 259

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

nichts korrespondiert, sondern z.B. auch für die spekulative Vorstellung einer angeblichen Totalerfahrung. Diese Totalerfahrung ist eine Fiktion, denn eine tatsächliche Erfahrung ist niemals ein Letztes und Abgeschlossenes, und daher kann es auch keine wirkliche Gesamt- oder Totalerfahrung geben. Jede Erfahrung ist Teilerfahrung. Sie ist — systemtheoretisch gesprochen — ein System, das seine Systemumwelt (und diese, inklusive das System, wäre ja der Horizont des Ganzen) nicht mit enthält, auch wenn es mit ihr in enger realer Beziehung stehen und wenn es mit ihr logisch-begrifflich verknüpft sein mag. Wirkliche Erfahrung steht demnach immer in Differenz zum Horizont der — abstrakt denkbaren, aber nie einlösbaren — sogenannten Gesamterfahrung. Daß diese — als aus der (Einzel-)Erfahrung entwickelte spekulativ-fiktive Gestalt unseres Bewußtseins — freilich nicht nur abstrakt gedacht, sondern auch konkret gefühlt werden kann, daß sie als legitime Intention in unserem Erfahrungsgeschehen wirksam sein kann und daß es mancherlei Anstrengungen gibt, sie gültig zu symbolisieren — indiziert das Problem der Mystik und wird an späterer Stelle noch zu erörtern sein. Radikalisiert man die These der konstitutiven Verbindung von Erfahrung und Spekulation, dann ist einzuräumen, daß jede Erfahrung — nicht in jedem einzelnen Element, aber in der Verbindung einzelner Erfahrungselemente — sogar fiktive Momente mitenthält. Diese fiktiven Momente stehen offensichtlich in enger Verbindung mit der oben erörterten Subjektivität, Sozialität und Kulturalität von Erfahrung. Der Einzelne hat prinzipiell einen großen Freiraum des Wahrnehmens und Nicht-Wahrnehmens, des Sooder Anders-Deutens. Und die jeweilige Gesellschaft und Kultur gibt Wahrnehmungs-, Urteils- und Wertungsweisen vor, die nur in sehr relativer Weise wirklichkeitsentsprechend sind. Man denke z.B. an die 'religiöse Erfahrung' im Vergleich verschiedener Religionstypen mit unterschiedlichen Glaubensinhalten, Erwartungen und Haltungen. Hier verschlingen sich Erfahrung und Fiktion auf geradezu unnachahmliche Weise. Das Spekulative und Fiktive ist aber nicht auf Mythos, Religion oder Kunst beschränkt. Es spielt auch eine — wenngleich unauffälligere — Rolle in der regelgeleiteten Erfahrung der modernen Wissenschaften, deren Empiriebezug bei näherem Hinsehen gleichfalls von interpretativen, spekulativen und fiktiven Momenten begleitet wird. Daß auch jede Erfahrungswissenschaft spekulativ durchsetzt sei, gilt übrigens seit langem als Binsenweisheit auch in der analytischen Wissenschaftstheorie. 229

1.4.1.10

affektiv/lebensbedeutsam

Erfahrung ist also konstitutiv rational, wobei es natürlich viele und unterschiedliche Formen von Rationalität, d.h. von organisierenden Ordnungsstrukturen der Repräsentation, gibt. Ergänzend dazu — und das bedeutet keinen Widerspruch — ist anzumerken, daß Erfahrung in gleicher Weise konstitutiv emotional bzw. affektiv ist.230 Im lebensweltlichen Kontext werden Erfahrungen nur dann registriert, wenn sie gefühlt werden und wenn sie lebensbedeutsam sind. Das Moment der Lebensbedeutsamkeit wie das Moment des Affekts gründen beide in der Identitätsstiftung des Erfahrenen als Erfah-

260

Systematische

Bemerkungen

rung, die sich als je-meinige (bzw. je-unsere) Erfahrung durch die individuierende 'Schließung der Form' konstituiert. Noch vor einer solchen Form-Schließung zu einer 'persönlichen Geschichte' bzw. Erfahrung ist es aber bereits die Transmutation der Wahrnehmung durch Kontrastbildung, die — als konstruktives Element — ein Etwas zu einem affektgetönten Gegenstand und eben damit lebensbedeutsam macht. Sofern der unmittelbare praktische Zweck, sich mit einem solchen (Denk- und Gefühls-)Gegenstand auseinanderzusetzen, zurücktritt, verblassen sowohl Affekttönung wie Lebensbedeutsamkeit. Damit vermögen Denken und Gefühl sich aus ihrer ursprünglichen phänomenalen Einheit in zwei getrennte Qualitäten auszudifferenzieren. Dennoch bleibt auch weiterhin jedes Denken — in welch verdünnter Weise auch immer — affektiv getönt, und jedes Gefühl bleibt in seinem Hintergrund durch intellektuelle Bestimmungen und Urteile motiviert und strukturiert. Daß man Denken und Fühlen ohne weiteres voneinander trennen könne, ist ein rationalistischer Topos, der einer näheren Betrachtung nicht standhält. Daß Denken und Fühlen zuweilen einander widersprechen und daß sie streckenweise sogar völlig unvereinbar scheinen mögen, ist kein stichhaltiger Einwand. In diesen Fällen von Widerspruch stehen nämlich bloß unterschiedlich rationalisierte und zur Selbstklärung gebrachte Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster einander gegenüber. Auch das elaboriert rationale Denken ist noch immer 'affektiv getönt' (Whitehead)231, und auch die sogenannte Emotion enthält eine Zielrichtung und stellt eine Struktur dar, die als (unentfaltetes) Denken beschreibbar ist. Die Affektivität des Denkens ist von seiner Lebensbedeutsamkeit nicht trennbar, sie ist vielmehr sogar deren Ausdruck. Es gibt — Husserl hat nachdrücklich darauf hingewiesen — Begriffe und Theorien (nicht nur wissenschaftlicher Art), die keine Lebensbedeutsamkeit haben und sich daher von der (lebensweltlichen) Erfahrung absondern, in ihr keine Rolle mehr spielen. Die 'affektive Färbung' solcher Begriffe und Theorien ist dann oft bis zur Unkenntlichkeit verblaßt. Ist eine Theorie — eine wissenschaftliche, religiöse, künstlerische, philosophische — jedoch lebensbedeutsam, greift sie Fragen von existentiellem Interesse auf, so verbindet sich mit ihr auch eine entsprechende Emotionalität. Zu beachten sind der Prozeßcharakter und die Geschichtlichkeit der Gefühle. Sie sind — in der Terminologie Schwemmers — nicht 'Blöcke', sondern 'Geschichten', die sich kontingent entwickeln und erst post festum, durch 'Schließung der Form', Gestalt und Identität gewinnen. Weiters ist zu beachten, daß sich mit einem bestimmten Medium und einer bestimmten symbolischen Form des Denkens bzw. der Weltorientierung auch spezifische Konstellationen und Schwerpunkte von Affektivität ergeben. Rationalität und Emotionalität sind also keine einander ausschließenden Gegensätze, sondern unterschiedliche Aspekte oder Komponenten ein und desselben Gesamtphänomens. Die Struktur der Gefühle — die Ausbildung von Kontrasten und Relevanzgefällen, von Ordnungen, die Dialektik von Fluß und Gestalt, die Anschlußleistung an Früheres und der Fortgang über sich selbst hinaus — läßt sich formal gleich beschreiben wie die Struktur der Rationalität. Könnten wir Intellekt und Gefühl wirklich trennen, wäre die genannte Strukturgleichheit wohl ein Zufall und nur formaler Natur. Doch sie ist inhaltlich bedingt. Unsere Erfahrung ist insgesamt ein Feld, das in viele Einzelfelder

261

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

— in Einzelerfahrungen — zerfällt, die wir insgesamt nicht überblicken und die teils harmonisch, teils disharmonisch interagieren. Wir können jedes dieser Felder als 'Fühlen' oder als 'Denken' bezeichnen, je nach dem Grad des Interesses, des Engagements und der Betroffenheit, die sich für uns mit der jeweiligen Erfahrung verbinden. Je stärker die Lebensbedeutsamkeit einer Erfahrung, desto affektiver scheint die Repräsentation getönt. Es stimmt freilich, daß Affekte zuweilen die zuvor rational gezeichneten Konturen einer Repräsentation verschwimmen und verschwinden lassen, aber Affekte sind ihrerseits nicht minder koTtiarenbildend als -destruierend. (Gesteigerte) Gefühle können Einsichten vermitteln, die (relativen) Gefühllosigkeiten verschlossen bleiben — man spricht dann von 'Instinkt' oder 'Einfühlung'. Gefühle können sich — wie spekulative Gedanken — der 'Realität selbst' gegenüber verschließen, sich ihr aber auch erfolgreich öffnen und mit ihr kooperieren. Das alles unterscheidet Emotion qualitativ nicht vom Intellekt. Perspektivisch gesprochen: So wie Denken konstitutiv 'affektgetönt' ist, ist Fühlen konstitutiv 'rational strukturiert'. Und beide Perspektiven koinzidieren in dem der Sache nach identischen Gesamtphänomen: in unserer Erfahrung auf all ihren verschiedenen Stufen und in all ihren verschiedenen Formen.

1.4.1.11

symbolisch/medial

Die Mittel, mit denen sich Erfahrung konstituiert und repräsentiert, sind — mit Ausnahme der untersten, gleichsam noch 'rein biologischen' Stufen — Symbolsysteme und Medien, wobei sich diese beiden Begriffe (was bei Cassirer, Whitehead, Langer und Goodman mehrfach angedeutet, bei Schwemmer hingegen dezidiert hervorgehoben wird) 232 weitgehend überschneiden. Rationalität — die Ordnung und Identifizierung von Erfahrung — organisiert sich über Zeichen und Zeichensysteme bzw. über Symbole und Symbolismen. Ein solcher Symbolismus ist z.B. die Sprache, die Religion oder die Wissenschaft. Man kann sagen: Rationalität organisiert sich über Medien, d.h. über die 'materialen Mittel' von Symbolisierung, z.B. über gesprochene, geschriebene und gedruckte Sprache, über Telekommunikation und Computer, aber auch schon über Tanz und Gebärdensprache. Als Medien in diesem Sinne sind aber auch die einzelnen Künste verstehbar: Musik, Malerei, Plastik, Architektur usf. Obwohl es leicht ist zu zeigen, daß die Begriffe Symbolismus und Medium auf ein identisches Phänomen abzielen — nämlich die Vermitteltheit unserer Erfahrung über Zeichen —, sind Symbolphilosophie und Medienphilosophie (sofern überhaupt davon gesprochen werden kann, daß letztere sich als eine eigene 'Bereichsphilosophie' konstituiert hat) bislang weitgehend getrennt betrieben worden. Vor dem Hintergrund dieser historischen und terminologischen Trennung werden Symbolizität und Medialität der Erfahrung in den beiden Folgekapiteln denn auch getrennt behandelt — freilich in der Absicht, die sachliche Konvergenz beider Begriffe deutlich zu machen. Das Symbolizitätskapitel (1.4.2) greift vor allem die cassirerschen Grundbegriffe der 'symbolischen Formen' und der 'symbolischen Prägnanz' auf und ist eine Fortsetzung der unter

262

Symbolcharakter

der

Erfahrung

1.2.2.4 begonnenen Cassirer-Darstellung in systematischer Absicht. Ich komme dabei auch noch einmal auf das Verhältnis von Symbolizität und Wahrheit zurück sowie auf die Interaktion der Symbolismen und auf die Tatsache der Polysymbolizität unserer Erfahrung — auf Problembereiche also, denen in der Symboltheorie von Goodman vergleichsweise besondere Beachtung geschenkt wird. Im Medialitätskapitel (1.4.3) soll dargelegt werden, daß die — von der traditionellen Erkenntnistheorie emanzipierte — moderne Sprachphilosophie der Sache nach die erste, freilich noch verengte und ihren eingeschränkten Gegenstand, die Sprache, nicht zureichend konzipierende Form von Medienphilosophie darstellt. Weiters wird gezeigt, daß die Frage nach Umfang und Qualität der Medienabhängigkeit des Denkens analog zu behandeln und zu beantworten ist wie die altbekannte Frage nach der sprachlichen Determiniertheit des Denkens. Das Medialitätskapitel setzt sich des weiteren mit dem Problem auseinander, inwiefern der Gegensatz von Mythos und Aufklärung mit Medien und Medienkonstellationen in Verbindung steht.

1.4.2 Aspekte des Symbolcharakters der Erfahrung Erfahrung organisiert sich als Rationalität, d.h. als eine bestimmte, in sich und nach außen stimmige Ordnung von Wahrnehmungs- und Deutungselementen. Der phänomenologische Fortschritt, den die Symboltheorie gegenüber der am Begriff orientierten klassischen Erkenntnistheorie darstellt, besteht in der Einsicht, daß die Wahrnehmungsund Deutungselemente Symbole sind und deren jeweiliger Ordnungszusammenhang ein Symbolismus. Die Symboltheorie erweitert also den Verstehenshorizont von Rationalität auf Außerbegriffliches und damit — prinzipiell — auf den Gesamthorizont der Lebenswelt und Kultur. 'Rationalität' wird nunmehr zum Synonym für 'symbolische Ordnung'. Sie ist freilich nicht 'reiner Geist' und spielt sich nicht im luftleeren Raum ab, sondern ist an materielle 'Träger' gebunden, deren spezielle Materialität die Art und Weise mitbestimmt, wie sich die 'getragene' Rationalität organisiert. Besagte Materialität ist das jeweilige Medium eines Symbolsystems. Rationalität besteht nicht nur in der internen logischen Stimmigkeit der Symbole im Symbolismus und in dessen Zweckmäßigkeit nach außen, sondern auch in den Organisationsmöglichkeiten von Bedeutung, die sich aus dem materiellen Medium ergeben, in welchem und als welches sich ein Symbolismus konstituiert. So ist z.B. die Rationalität der gesprochenen bzw. geschriebenen Sprache an die entsprechenden Systeme von Laut- bzw. Schriftzeichen gebunden. Die Laut- bzw. Schriftsymbole sind daher die Elemente und das Medium der sprachlichen Rationalität, und ein Symbolismus oder — um den terminus technicus Cassirers zu verwenden — eine symbolische Form ist eine Rationalitätsgesia/i als ganze. Erfahrungsgestalten sind somit mediengebundene Symbolsysteme, die von ihren Trägern bzw. Anwendern, den Menschen, nicht ex nihilo geschaffen, aber — mit Hilfe vorfindlicher Medien und symbolischer Traditionen — übernommen und darüber hinaus kreativ weiterentwickelt werden.

263

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Die These, daß menschliche Erfahrung in der Hauptsache Symbolorientierung sei, hat theoretische Konsequenzen für die phänomenologische und erkenntnistheoretische, anthropologische und kulturphilosophische, ontologische und ethische Behandlung des Themas. Ich gehe in vier Schritten vor: Nach einem Überblick über die cassirerschen symbolischen Formen wird gefragt, wie Symbole und Symbolismen Zustandekommen, inwiefern der symboltheoretische Ansatz die Wahrheitsfrage noch zuläßt und wie das Verhältnis der symbolischen Formen untereinander näher zu charakterisieren ist.

1.4.2.1 Symbolische Formen und die Funktionendynamik von 'Ausdruck', 'Darstellung' und 'reiner Bedeutung' Erfahrungen werden in der Lebenswelt gemacht, d.h. von bestimmten Individuen in einer bestimmten Gesellschaft und Kultur. Die Lebenswelt bzw. Kultur ist jedoch genauso wenig eindimensional wie der Einzelmensch selbst in seinem Denken, Fühlen, seinem Ausdruck und seinem Verhalten. Lebenswelt und Mensch sind eine Komposition, ein Zusammen- und auch Gegeneinanderwirken von z.T. sehr heterogenen Kräften. Wir bewegen uns in unterschiedlichen Sinn- und Bedeutungsdimensionen, die untereinander in einem Verweisungsgefüge stehen, die sich wechselseitig spiegeln und verfremden, die teilweise analog und teilweise völlig unvergleichbar sind — Dimensionen, zwischen denen es Brücken und Abgründe gibt, Dimensionen, die manchmal, aber nicht immer, miteinander koordinierbar sind, Dimensionen, die nebeneinander stehen oder auch aufeinander folgen. Sie teilen die Lebenswelt in Sphären, Ebenen und Bereiche auf, deren Klassifizierung selbst wieder eine kontingent-geschichtliche Kulturleistung darstellt. Kulturhistorisch betrachtet, setzt das Bewußtsein einer solchen Scheidung von unterschiedlichen Bereichen vermutlich mit dem Gewahrwerden ein, daß nicht nur in diesem Hier und Jetzt die eigene Sozietät existiert, sondern daß in anderen geografischen Räumen und zu anderen Zeiten andere Sozietäten existieren und existiert haben, wobei sich empirische und spekulative Vorstellungen im Zeitalter des primär-mythischen Denkens natürlich besonders stark vermengen. Nicht nur das Leben mehr oder minder unbekannter fremder Völker auf der Erdoberfläche wird — sozusagen horizontal — als das Vorhandensein unterschiedlicher 'Welten' betrachtet, es werden auch — vertikal — über und unter der Erde eigene Welten von nicht- und übermenschlichen Wesen, von Göttern und Dämonen, von Geistern und Zwergen u.dgl. angenommen. Neben diese äußere Differenzierung unterschiedlicher menschlicher (und, in analoger Projektion, nichtmenschlicher) Sozietäten bzw. Welten tritt eine innere, vermutlich vor allem durch Arbeitsteilung und Herrschaftsverhältnisse hervorgebrachte Differenzierung. Bauern, Krieger, Priester, Schmiede, Händler usw. bilden innerhalb einer Sozietät Subsozietäten und damit eigene Welten des Tuns, der Interessen, der Normen, der Rationalität und gewissermaßen auch schon des Wahrnehmens. Außer den genannten Differenzierun-

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Symbolcharakter der Erfahrung

gen können natürlich auch weitere angeführt werden: der Unterschied von Wachen und Träumen, von äußerem Sozialverhalten und Innerlichkeit, von realem und bloß gedachtem Verhalten, weiters die mit unterschiedlichen Affekten und Stimmungen verbundenen Haltungen sowie die Unterschiedlichkeit äußerer Situationen (Alltag, Feste, Grenzsituationen der Freude und der Trauer usw.), die das Leben als Abfolge bzw. als ein Nebeneinander heterogener Wirklichkeiten erscheinen lassen. Die eine Lebenswelt splittert sich so in eine Vielzahl von 'Welten' oder 'Wirklichkeiten' auf. Diese Vielzahl wird freilich durch eine jeweils spezifische kulturelle Wahrnehmung und die damit verbundene jeweilige Rationalität auf einige wenige, überschaubare und miteinander koordinierbare Welten reduziert. Die einfachste Reduktionsform ist eine duale, wie sie etwa in der Scheidung der Lebenswelt in eine heilige und eine profane Sphäre zum Ausdruck kommt. Eine handhabbare Form der Einteilung ergibt sich auch aus der Gegenüber- oder Nebeneinanderstellung der Medien, über die eine Kultur verfügt bzw. deren sie sich besonders bewußt ist. Dieses mediale Bewußtsein - das Bewußtsein bestimmter Vermittlungsformen der Wirklichkeit — ermöglicht z.B. die Differenzierung von Sprache, Religion, Kunst, Wissenschaft und Alltag. Eine bekannte philosophische Systematisierung solch medialer Differenzierung begegnet uns in Hegels Phänomenologie des Geistes, freilich in einer anfechtbaren hierarchischen Komposition, die alle anderen Medien dem Medium des (wissenschaftlichen bzw. philosophischen) Denkens unterordnet und sie nur als dessen unvollkommene Vorund Durchgangsstufen gelten läßt. Durch allzu strenge Analogisierung zum begrifflichen Denken verfehlt Hegel die Eigenart der Wirklichkeiten etwa von Religion und Kunst. In der religiösen Vorstellung und im Kunstwerk bediene sich, so Hegel, der Geist noch einer gegenüber seinen wahren Möglichkeiten inadäquaten Form. Cassirer hingegen unterläuft mit seinem Konzept der symbolischen Formen den hegelschen Versuch, jedem kulturellen Ausdruck eine ihn oftmals inadäquat normierende Begriffsform aufzuzwingen. Cassirer versteht die symbolischen Formen als in ihrer Eigenart und ihrem Eigenwert zu respektierende 'Formen des Weltverstehens', deren Gemeinsamkeit nicht in einem intellektuellen Begriffs-, sondern im viel allgemeineren Symbo/charakter allen Verstehens zu suchen ist. Jede dieser Dimensionen, die die Lebenswelt differenzieren — ich habe von Bereichen, Sphären, Ebenen, Welten, Wirklichkeiten und schließlich von Symbolismen gesprochen —, konstituiert in eigener Weise Erfahrung und Rationalität. Jede dieser Dimensionen ermöglicht bestimmte Erfahrungen und verunmöglicht andere, betont dies und vernachlässigt jenes bzw. blendet es aus. Für jede dieser Dimensionen läßt sich also eine Gewinn- und Verlustrechnung an Erfahrung und Wirklichkeitsbezug anstellen. Um dieser Konstituierung, ihrer Verschiedenheit und ihrer Gemeinsamkeit nachzugehen, bietet sich Cassirers Begriff der symbolischen Formen als geeignetes Werkzeug an. Eine symbolische Form ist — nach Cassirers bekannter Definition — eine 'geistige Energie', die an ein 'sinnliches Zeichen' eine 'geistige Bedeutung' knüpft. Dabei ist wichtig, daß diese Verknüpfung nicht arbiträr vorgenommen wird, sondern sich aus den konkret-historischen und lebensweltlich-kulturellen Bedingungen, die der symbolstiftende Mensch jeweils vorfindet, als authentische 'Schließung der Form' ergibt. Nur

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

so sind Symbol-Aneignung und Symbol-Gebrauch in Freiheit möglich, und nur so kann der Symbolbezug verinnerlicht und lebensbedeutsam werden. Diese Verinnerlichung und Lebensbedeutsamkeit ist das Kriterium, das ein Symbol von einem bloßen Zeichen unterscheidet. Denn das Zeichen wird abstrakt und willkürlich festgelegt, es kann jederzeit problemlos zurückgenommen und durch ein anderes Zeichen ersetzt werden. Die symbolischen Formen, die Cassirer im Detail erörtert, sind Sprache, Mythos/ Religion und Wissenschaft. Sie werden in den drei Bänden der Philosophie der symbolischen Formen abgehandelt. Eine breite Berücksichtigung — wenn auch nicht in einem eigenen Band zusammengefaßt •— findet außerdem die Kunst. In seinem Technik-Aufsatz von 1931 hat Cassirer schließlich noch die Technik als eine eigene symbolische Form angeführt. Sowohl den Alltag wie die Philosophie betrachtet er hingegen ausdrücklich nicht als eigene symbolische Formen, da er dem Alltag keine eigene Paradigmatik zuspricht und weil er die Philosophie letztlich — wenn auch nicht an sämtlichen Textstellen — mit der Wissenschaft identifiziert. 233 Man mag deshalb Cassirers Symbolphilosophie in die Nähe einer 'ungebrochenen Aufklärung' rücken und ihre mangelnde Differenzierung von wissenschaftlicher und wissenschaftstheoretischer Praxis einerseits und philosophischer Reflexion andererseits kritisieren. Um diese Symbolphilosophie als brauchbares Instrument für eine adäquate Systematik der Erfahrung verwenden zu können, scheint aber vor allem unabdingbar, jene Reste einer Hierarchievorstellung zurückzuweisen, die sich bei Cassirer — trotz seiner Kritik an Kants und Hegels Vorrang der Begriffsform — noch immer vorfinden. Zu erinnern ist, daß ein solcher Vorrang und eine solche Hierarchie bei Langer und Schwemmer, am deutlichsten aber vielleicht bei Goodman ausdrücklich verneint werden. Cassirer beginnt seine Darstellung der symbolischen Formen mit der Sprache. Die sinnliche Zeichenbasis ist bei der gesprochenen Sprache der Stimmlaut, bei der geschriebenen Sprache das Schriftzeichen. Während Whitehead — und in der neueren Literatur, im Anschluß an Havelock, vor allem Schwemmer — hervorhebt, daß es sich bei oraler und literaler Sprache um verschiedene Symbolsysteme handelt, trifft Cassirer eine solche Unterscheidung nicht. Es dürfte jedoch sinnvoll sein, orale und literale Sprache als genetisch aufeinander aufbauende und systematisch ineinander verschränkte Symbolismen zu betrachten. Von allen Ausdruckssystemen, die dem Menschen zur Verfügung stehen und die kulturbildend sind, ist die Sprache vermutlich das wichtigste, zumal sprachliche Artikulation in fast alle Bereiche menschlichen Wirkens hineinreicht und andere Symbolismen — Mythos/Religion, Kunst, Wissenschaft — als mehr oder minder zentrale Konstitutionsbedingung begleitet. Cassirer handelt seine Sprachphilosophie in Band I der Philosophie der symbolischen Formen (1923) ab, in seinem Vortrag "Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt" (1932/33) und in dem mit "Sprache" betitelten Kapitel in Versuch über den Menschen (1944). Dabei bezieht er sich auf die Ergebnisse der Sprachpsychologie von Karl Bühler, vor allem jedoch auf die sprachphilosophischen Überlegungen Wilhelm von Humboldts und dessen Grundbegriffe der 'inneren Sprachform' (die eine je eigene Sprachrationalität via Grammatik und Wortschatz bedingt) sowie der Unterscheidung von 'ergon' und 'energeia'. Letzteres bedeutet, daß Sprache auch und vor allem als le-

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Symbolcharakter der Erfahrung

bendiger Prozeß, als intellektuelle Entwicklung zu denken ist und daß eine adäquate Betrachtungsweise eine genetische sein muß. Dabei kommt Cassirer auf ein dreistufiges Entwicklungsschema, das die Sprache durchläuft bzw. in der Kultur bis jetzt durchlaufen hat, nämlich die Abfolge einer mimetischen, einer analogischen und einer (rein) symbolischen Phase. Diese Abfolge entspricht dem dreifach gestuften inneren dynamischen Formprinzip, das Cassirer grundsätzlich allen symbolischen Formen — die prozessual, nicht statisch zu verstehen sind — zuschreibt. Es handelt sich um den Schichtenaufbau bzw. um die Phasen von Ausdrucks-, Darstellungs- und reiner Bedeutungsfunktion. Damit charakterisiert Cassirer — und hält sich damit an eine sachlich anfechtbare aufklärerische Hierarchievorstellung — eine Stufenfolge zunehmend höherer intellektueller Wertigkeit, die sich in zunehmender Abkehr von materieller Verhaftetheit und zunehmender Freiheit der begrifflichen Gestaltung des medialen Materials manifestiert. Es handelt sich um ein immer deutlicher werdendes Selbstbewußtsein der Symbolizität. Der Name dient auf einer ersten Denkstufe der Wahrnehmungs/aierang, so daß das Wort und die durch das Wort bedeutete Sache vorläufig nicht trennbar sind. Auf einer fortgeschritteneren Entwicklungsstufe der Sprache wird der Name als arbiträres und daher austauschbares Mittel der Benennung reflektiert, was im reflektierenden Bewußtsein eine sachliche bzw. kategoriale Trennung von Signifikant und Signifikat ermöglicht, und schließlich — in der Sprache der Mathematik und der modernen Naturwissenschaften — werden reine Relationsbegriffe möglich. Jede Sprachschicht bedeutet ein je anderes Bedingungsgefiige der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Erfahrung. Der Fortschritt von Freiheit und Verfügbarkeit besteht darin, daß mit zunehmender Leichtigkeit und Kompetenz über die Sprache geredet bzw. geschrieben werden kann, daß, indem in der Sprache gedacht wird, dieses Denken seine eigene (sprachgebundene) Symbolizität und Medialität zunehmend reflektiert. Die Entwicklung der menschlichen Kultur drückt sich somit in den aufeinander aufbauenden Funktionen dieser Sprachschichten aus. Diese Schichten finden wir auch in den anderen symbolischen Formen wieder, die zueinander wiederum in einem analogen Aufbauverhältnis stehen wie die Sprachschichten. Der ältesten Sprachschicht, in der es um die mühevolle Fixierung von Wahrnehmungsgestalten und primitiven Relationen zwischen diesen Wahrnehmungsgestalten geht, entspricht der Mythos. In dieser Phase der menschlichen Kultur — der der Spracherwerb und die Entwicklung des anfänglichen Denkens beim Kind entspricht — wird alle Kraft auf die Fixierung von Wahrnehmung und deren möglichst einfacher Verknüpfung verwendet. Reflexion, die erworbene Standpunkte und erworbenes Wissen relativieren und variieren würde, kann man sich auf dieser Stufe (noch) nicht leisten. Daher werden hier Erfahrungen nicht in Frage gestellt, und die Rationalität — das Ordnen und Verknüpfen der Erfahrungen — ist gegenüber der späteren Entwicklung noch einfacher und primitiver organisiert. Cassirer spricht beim mythischen Denken beispielsweise vom 'Gesetz der Konkreszenz', das der kulturellen Geltung des Kausalgesetzes vorangeht. Die Kategorien Raum, Zeit, Zahl und Kausalität sind hier anders organisiert als später im wissenschaftlichen Denken. Sie sind untrennbar an ihre sinnliche Datenbasis, an ihr materiales Substrat geknüpft. Es

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

gibt demnach im Mythos nicht Raum, Zeit, Zahl und Kausalität 'an sich', die auf ein beliebiges Sujet 'anwendbar' wären, sondern immer nur eine konkrete Diesheit (haecceitas) — und daher im strengen Sinn auch keine Allgemeinheit der Kategorien. Daher kann ein Raum erscheinen und verschwinden, die Zeit kann stillstehen, sich dehnen oder verkürzen, der Satz vom Widerspruch ist aufhebbar, und jede Regel in der Natur kann jederzeit durch ein Wunder durchbrochen werden. Dem inneren dynamischen Formprinzip der symbolischen Formen entspricht es, daß jede Form nicht bei sich selber stehenbleibt, sondern über die Gestalt, die sie gewonnen hat, hinaustreibt und so in eine andere, 'höhere' symbolische Form übergeht. Ich bezeichne dies (mit einem nicht-cassirerschen Terminus) als die Funktionendynamik von Ausdruck, Darstellung und reiner Bedeutung. Der Übergang des Mythos in die Religion ist damit verbunden, daß die Frage nach der Wahrheit aufgeworfen wird. Der Mythos, der gesetzt und übernommen, aber nicht befragt wurde, wird in der Religion einer Beurteilung ausgesetzt, die darüber entscheidet, ob er 'wahr' oder 'falsch' ist. Cassirers Dichotomie von Mythos und Religion ist so gemeint, daß der 'mythische' Standpunkt der Position sogenannter Primitiv- oder Naturreligionen entspricht, die ihr Pantheon ohne weiteres um andere und neue mythische Vorstellungen und Kulte erweitern können, ohne sich dabei selbst in Frage stellen zu müssen. (Ein Beispiel hiefür wäre die stets problemlos erweiterbare Galerie der Götter im Imperium Romanum, in die erst der Gott der Juden und Christen — der keine anderen Götter neben sich dulden will —• Unordnung hineinbringt.) Der 'religiöse' Standpunkt in der Optik Cassirers entspricht hingegen der Position der Offenbarungs-, der Schrift- und Erlösungsreligionen, die sich untereinander als unvereinbar betrachten, einander ausschließen und sich jeweils als alleingültig verstehen. Diese Art von Konkurrenzhaltung bedingt, daß die Religionen — wenn auch nicht durchgängig konsequent und, aus einer wissenschaftlichen Perspektive heraus, völlig unhaltbar — Kriterien entwickeln, anhand deren sie sich selbst aufwerten und anhand deren sie unliebsame Konkurrenten aus dem Feld schlagen wollen. Ein solches Kriterium ist z.B. der biblische 'Beweis der Kraft', mit dessen Hilfe im Alten Testament der Prophet Elias — bei seiner Demonstration auf dem Berg Karmel — die Ohnmacht der Baalpriester aufzeigt oder mit dessen Hilfe der christliche Missionar Bonifaz die Donareiche in Geismar fällt, ohne daß der germanische Gott auftaucht und den Frevler mit seinem Hammer zerschmettert. Diese Kriterien von 'wahr' und 'falsch' und die mit ihnen verknüpften Methoden, die die Religion gegenüber dem Mythos (vielleicht besser: die Hochreligion gegenüber der Primitivreligion) ausbildet, sind die Anfangselemente der Theologie, die sich ihrerseits als elaborierte, reflexive Form des mythisch-religiösen Diskurses begreifen läßt.234 Das nicht mehr rein mythische, sondern (hoch-)religiöse Denken ist also bereits entsprechend reflexiv und stellt die Frage nach der Wahrheit — wenngleich in einer Weise, die dem darauffolgenden wissenschaftlichen Denken nicht genügen wird: Aus der Nichtverfügbarkeit einer Sache folgt noch lange nicht ihre Inexistenz, und aus dem Nichtexistieren eines X folgt noch lange nicht das Existieren eines Y. Wenn Baal und Donar nicht bei Anruf erscheinen und reagieren, so kann dies billigerweise andere Gründe haben als

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Symbolcharakter der Erfahrung

ihre Ohnmacht oder Nichtexistenz, und aus der Tatsache, daß der Provokateur ungestraft bleibt, läßt sich schwerlich ableiten, daß alles, was er — im Widerspruch zur bisherigen doxa — behauptet, wahr sei. Dergestalte Infragestellungen haben aber erst auf einer sehr fortgeschrittenen Stufe des religiösen Diskurses entsprechendes Gewicht und stellen ihn dann freilich als Diskurs in Frage. Die Wissenschaft ist nach Cassirer die nächste symbolische Form, die der Religion folgt und sie kulturhistorisch zwar nicht zur Gänze ablöst, deren lebensweltlichen Einfluß aber doch empfindlich einschränkt, weil sie die Menschen mit neuen Fragen beschäftigt und mit neuen Methoden des Wahrnehmens und Denkens vertraut macht — vor allem aber, weil sie einige (wenngleich nicht alle) der im religiösen Kontext entwickelten Fragen besser und glaubwürdiger zu beantworten weiß. Der Weltzugriff — die 'innere Form' 235 — der Wissenschaft ist anders als der Weltzugriff der Religion. Die 'innere Form' der Religion ist nicht imstande, die Frage nach der Wahrheit, die sie selbst in die Welt gesetzt hat und an der sie sich abmüht, befriedigend zu beantworten. Die Wahrheitsfrage wird von der Wissenschaft in neuer Weise, mit neuen Kriterien und Methoden aufgenommen und weitergeführt. Sie wird — in Cassirers Sicht — nun insofern befriedigend gelöst, daß auf der Denkstufe der 'reinen Bedeutung' Voraussetzung und Wesen des Wahrheitsstrebens eine prinzipielle Selbstklärung erfahren: Denken erweist sich als Symbolisieren und damit prinzipiell als Differenzleistung gegenüber der Wirklichkeit 'an sich', und durch den analysierenden Rückgang in die Genese der Symbolisierungen gewinnen wir ein Urteil über deren Authentizität und Nichtauthentizität. Im elaborierten wissenschaftlichen Diskurs gelangt, so Cassirer, der Intellekt endgültig zur Reife und wird sich selbst in adäquater Weise zum Thema. Gegenstände, Begriffe und Kategorien gelangen hier in eine Form von Allgemeinheit, die Kontinuität und Kohärenz verbürgt und sowohl der empirischen Wahrnehmung wie dem logischen Denken eine vorher nicht gekannte Sicherheit und Effizienz verbürgt. Die höchste Stufe der Wissenschaft ist das Denken in reinen, selbstreflexiven Relationsbegriffen, in denen die Symbolizität jeglichen Denkens und jeglicher Weltorientierung deutlich zum Selbstbewußtsein gelangt. Die von Cassirer vorgenommene Bestimmung von Wissenschaft ist freilich idealtypisch und enthält keine Kritik der tatsächlichen Wissenschaftspraxis, die ihre faktische und normative Beschränkung auf bestimmte Begriffe und Methoden oft nicht zu durchbrechen vermag und weder ihre gesellschaftliche Funktion begreift noch die Folgen ihrer Programmatik und ihres Handelns abschätzt. Andererseits kann unzureichende und verfehlte Praxis, die ja nicht unüberwindbar ist, nicht als prinzipielles Argument gegen die Reflexionspotenz wissenschaftlichen Denkens ins Feld geführt werden. Wissenschaft ist für Cassirer nicht — wie für Heidegger oder den späten Husserl — eine Denkform, die die Wahrheiten anderer Denkformen ausblendet. Sie ist vielmehr Inbegriff der zunehmenden Selbstreflexivität, zunehmenden Freiheit und zunehmenden Wirkmacht des menschlichen Geistes, die alle anderen Repräsentationsformen qualitativ überschreitet und hinter sich läßt und deren positive Errungenschaften ohne wirkliche Verluste in die eigene, neue Repräsentationsform von Erfahrung hinüberrettet. Damit sind Aufgabe und Leistung von Philosophie und Wissenschaft mehr oder minder iden-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

tisch. Es ist daher konsequent, wenn Cassirer der Philosophie — wie übrigens auch dem Alltag — nicht den Status einer eigenen symbolischen Form zuspricht. Es kann in Cassirers Sicht nämlich auch nicht sinnvoll sein, dem Alltagsdenken — das, aufeinanderfolgend in der Geschichte der Kultur, von Mythos, Religion und zuletzt von Wissenschaft durchherrscht wird — einen Eigenwert zuzugestehen. Heideggers Gegenüberstellung von 'Denken' und 'Wissenschaft', das die tatsächliche Verfassung der Wissenschaften und ihren 'Mangel an Weisheit' im Auge hat, ist somit auf den idealtypischen Wissenschaftsbegriff Cassirers nicht anzuwenden. Gleichwohl läßt sich an Cassirer kritisieren, daß er diese tatsächliche Verfassung nirgendwo kritisch erörtert. Heideggers Bestimmung von Wissenschaft dürfte — auch wenn sie allzu einheitlich-negativ stilisiert wirkt — dem uns real begegnenden Phänomen Wissenschaft wesentlich näherkommen. Eine realistische Beschreibung — im Gegensatz zu einer idealisierenden Normierung — der Wissenschaften zeigt diese als Dienstmägde von Ideologien und als blindes Instrument einer vielfach verselbständigten Technik. Erfahrungen und Einsichten, die Mythos und Religion, aber auch die Kunst bereitstellen, erweisen sich im Kontext wissenschaftlicher Denkweisen als ausgeblendet und in den durch sie eröffneten Erfahrungshorizonten verschüttet. Dies mag eine der möglichen Erklärungen dafür sein, daß die Wissenschaft bislang — trotz ihres historischen Siegeszugs — die Religion aus unserer Kultur nicht zu verdrängen vermochte. Beide symbolischen Formen, Wissenschaft wie Religion, existieren — entgegen allen Prognosen der klassischen aufklärerischen Religionskritik — bis heute (und wohl auch noch in absehbarer Zukunft) mehr oder minder friedlich nebeneinander, da sie in der Abdekkung unterschiedlicher menschlicher Sinnbedürfnisse einander offensichtlich nicht nur konkurrenzieren, sondern auch ergänzen können. Da jedoch eine Synthese zwischen diesen Denk- und Kulturformen kaum je befriedigend gelingt, gibt es auch ein widersprüchliches und oft beziehungsloses Nebeneinander. Die von Cassirer des weiteren angeführten symbolischen Formen Kunst und Technik passen besonders schlecht in das eben erläuterte und kritisierte Hierarchieschema. Beide begleiten nämlich — ähnlich wie die Sprache — den Menschen seit seinen frühesten geschichtlichen Anfängen bis in die Gegenwart. Kunst geht mit den mythisch-religiösen Anfängen der Kultur Hand in Hand und entwickelt sich gemeinsam mit Mythos und Religion (später auch gemeinsam mit Wissenschaft) weiter. Zum anderen setzt Kultur nicht erst mit Sprache und Mythos ein, sondern bedeutet von Anfang an ganz wesentlich und unabdingbar die Herstellung von Artefakten, den Bau und das Einrichten von Behausungen, die Ausbildung von Methoden der Nahrungsbeschaffung, des sozialen Umgangs, der Jagd und Kriegsführung u.dgl. Das alles fällt — auch wenn Cassirer es im einzelnen nicht aufgezählt und analysiert hat — unter die Anfänge der symbolischen Form Technik, es handelt sich um Symbolismen des technischen Umgangs mit der Wirklichkeit.

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Symbolcharakter der Erfahrung

1.4.2.2 Symbolische Prägnanz Um der Frage nachzugehen, wie symbolische Formen entstehen und sich durchsetzen, scheint es zielführend, die Unterscheidungen zu bemühen, die in der Diskussion um das Begriffspaar Erklären und Verstehen getroffen worden sind. Faßt man die Ergebnisse bei den klassischen Protagonisten dieser Diskussion — Windelband, Rickert, Dilthey — zusammen, so ist der Begriff des Erklärens, der den Naturwissenschaften zugeordnet wird, als stringenter, quasi mechanistischer Kalkül zu fassen, als algorithmisches Denken, während der den Geisteswissenschaften zugeordnete Begriff des Verstehens eine freie Sinnrekonstruktion konkreter, individueller Realitätsgebilde intendiert. 236 Wenn verschiedene Erkenntnisleistungen oder verschiedene Realitätsebenen, aus welch einleuchtenden Gründen auch immer, nebeneinander gestellt werden, wirft ein solches Nebeneinanderstellen jedoch alsbald die Frage auf, worin denn die Einheit und Gemeinsamkeit dieser Erkenntnisleistungen und Realitätsebenen bestehe. Denn unsere Erkenntnisweisen stehen doch in irgendeinem sachlichen Zusammenhang, und die Realitätsebenen gründen doch alle in der einen Realität, in der wir uns bewegen und die wir zu erkennen suchen. Dies gilt auch für das Problem der symbolischen Formen. Sie stellen verschiedene Erkenntnisweisen — besser: Orientierungs- und Verstehensweisen — hinsichtlich der einen Wirklichkeit, deren Repräsentationsformen sie sind, dar. Wollten wir ihre Genese im oben bezeichneten Sinn erklären, müßten sich die Bedingungen ihrer Möglichkeit aus einem vorgegebenen allgemeinen Kalkül ableiten lassen. Die Versuche, kulturelle Phänomene quasi naturwissenschaftlich erklären zu wollen, können freilich insgesamt als gescheitert angesehen werden, weil sie dem Menschen und seinem Verhalten inadäquaterweise das klassische Maschinenmodell unterstellt haben. Die Genese symbolischer Formen kann daher nicht erklärt, sondern allenfalls verstanden werden im Sinn einer individuell nachzeichnenden Rekonstruktion konkreter Kulturgestalten und -prozesse. Das heißt freilich nicht, daß die rickertsche Unterscheidung 'nomothetisch'/'idiographisch' aufrechterhalten werden müßte und daß von symbolischen Formen nur als von idiographisch darstellbaren Phänomenen gesprochen werden dürfte. Jedes Phänomen der Lebenswelt ist eine Konstellation allgemeiner und individueller Faktoren und kann daher sowohl im Hinblick auf seine Allgemeinheit bzw. seinen Gattungscharakter als auch im Hinblick auf seine Konkretheit bzw. seinen Individualcharakter betrachtet werden. Dies gilt auch für jede symbolische Form, deren Symbolizität allgemein-strukturell und zugleich als diese konkrete Gestalt hier und jetzt erscheint. Die formale Weise, der gemäß symbolische Formen entstehen, versucht Cassirer mit dem Begriff der 'symbolischen Prägnanz' 237 zu umschreiben. Diese sei "die Art [...], in der ein Wahrnehmungserlebnis, als 'sinnliches' Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen 'Sinn' in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt". 238 Sie habe nichts mit einer "bloß quantitativen Anhäufung einzelner Wahrnehmungsbilder" zu tun, sondern sei qualitativer Natur und lasse sich auch nicht "durch die Rückführung auf rein 'diskursive' Akte des Urteilens und Schließens" erklären (ebda). In ihr "erfassen wir den eigentlichen Pulsschlag des Bewußtseins, dessen Geheimnis [...] darin besteht, daß in ihm ein Schlag tausend Verbindungen schlägt." 239

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Diese Formulierungen klingen fürs erste einigermaßen geheimnisvoll. Daß Cassirer den Begriff der 'symbolischen Prägnanz' nicht detailliert ausführt und seine Erklärung bei Andeutungen bewenden läßt, hat dazu geführt, daß die 'Prägnanz' in der Cassirerliteratur weitgehend unbeachtet geblieben ist bzw. als angeblich unklarer Begriff an den Rand der Betrachtung geschoben wurde. 240 Bei näherem Hinsehen ist er jedoch von entscheidender Relevanz für das Verständnis des Begriffs der symbolischen Form. 241 Die jeder lebensweltlichen Erfahrungstheorie zugrunde liegende Frage ist, wie sich aus dem Wahrnehmungs- und Empfindungsstrom festumrissene, gestalthafte, also 'prägnante' Wahrnehmungs- und Wirklichkeitszentren herausheben. Finden wir diese Prägnanzen einfach vor oder können wir die Gesetze und Regeln, gemäß denen sie sich konstituieren, ausfindig machen? Gibt es eine formale (und in diesem Sinn apriorische) Wahrnehmung, die der materialen, konkreten Wahrnehmung zugrunde liegt und von dieser gesondert betrachtet werden kann? Die Neukantianer und in gewisser Weise auch Husserl hatten versucht, eine solch formale Ebene der Wahrnehmung zu retten, indem sie jeder Art von Wahrnehmung eine quasi begriffliche Grundweise des 'Erkennens' als Voraussetzung unterschoben bzw. mit Stufen der 'Ausklammerung' konkret-individueller Bestimmungen zu arbeiten suchten. Cassirer sieht ganz klar, daß Husserl dem transzendentalphilosophischen Dualismus von 'Stoff und 'Form' verhaftet bleibt, und er sieht ebenso klar, daß die neukantianischen Begründungsversuche von Kulturphilosophie (etwa bei Rickert) das problematische Axiom nicht loswerden, daß alle Formen des Weltverstehens auf die Form diskursiver Erkenntnis rückführbar sein müßten. Daher versucht er — und trifft sich in dieser Bemühung sachlich mit den Bemühungen Whiteheads — eine methodische Alternative, die sowohl die Eigenart der einzelnen symbolischen Formen respektiert als auch die Perspektive einer strukturellen Einheit der symbolischen Formen insgesamt nicht aufgibt. Bei den Ausdrücken 'Form' und 'Prägnanz' denkt man — vor dem Hintergrund des allgemeinen Sprachgebrauchs — an feststehende, vollendete, abgeschlossene Figuren. Diese Abgeschlossenheit, dieses Fertige ist bei Cassirer zwar auch gemeint, doch geht es ihm wesentlich darum, bei der Betrachtung von 'Form' und 'Prägnanz' überdies deren Bewegung und Prozeßcharakter zu zeigen, für die er auch den Ausdruck 'Dialektik' verwendet und für die wir im übrigen genauso gut den Ausdruck 'Transzendenz' heranziehen könnten. Es geht darum, die Form als Prozeß und den Prozeß als Form zu denken, ohne sich in ein apriorisches diskursives Begriffsnetz zu verfangen, wie dies z.B. bei Hegel geschieht. Die in unserer Kultur — in Philosophie, in Wissenschaften und Alltag — vorherrschende Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie blendet diese Dynamik aus und arbeitet mit einem Wirklichkeitsmodell der 'festen Größen', die entweder positiv 'aufgefunden' oder transzendental 'gesetzt' werden. Daher rührt die Mumifizierungstendenz des logischen Denkens und die Sedimentierungstendenz der Sprache, auf die von Nietzsche, Mauthner, Wittgenstein u.a. besonders hingewiesen wird. Das Grundgeschehen von Wahrnehmen und Erkennen — von 'Weltverstehen' — jedoch in anderer, adäquater Weise zu begreifen, ist das Anliegen der Lebensweltkonzeptionen von James, Bergson, Whitehead und insbesondere auch das Anliegen Cassirers. Für ihn genügt es nicht,

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Symbolcharakter

der

Erfahrung

"davon [zu] sprechen, daß 'Stoffe' und 'Formen', daß 'Erscheinungen' und kategoriale 'Ordnungen' sich miteinander 'verbinden'. Wohl aber [...] muß jegliches Besondere im 'Hinblick' auf solche Ordnungen bestimmt werden, wenn 'Erfahrung' als theoretisches Gefüge erstehen soll. Die 'Teilhabe' an diesem Gefüge gibt der Erscheinung erst ihre objektive Wirklichkeit und ihre objektive Bestimmtheit. Die 'symbolische Prägnanz', die sie gewinnt, entzieht ihr nichts von ihrer konkreten Fülle; — aber sie bildet zugleich die Gewähr dafür, daß diese Fülle nicht einfach verströmt, sondern sich zu einer festen, in sich geschlossenen Form rundet. " 242

Die symbolische Prägnanz ist also die apriorisch nicht konstruierbare, auch nicht apriorisch auffindbare, sondern jeweils und konkret sich vollziehende — und nur in diesem Vollzug rekonstruierbare — Verbindung einzelner Tatsachen oder Erscheinungen mit einer sie strukturierenden übergreifenden Ordnung oder Interpretation. Vom Menschen wahrgenommene und reflektierte Sinngebilde werden nicht bloß von außen interpetiert — Interpretation ist schon ihr originäres Wesensgefüge. 243 Insofern ist die symbolische Prägnanz als ein hermeneutischer Vollzug aufzufassen, als eine 'immanente Logik', die sich in Sinngebilden entfaltet. Sie entfaltet sich dadurch, daß an bestimmte sinnliche Substrate Bedeutungen bzw. Bedeutungsgefüge geknüpft werden und daß sich damit ein Symbolsystem konstituiert, das an seine sinnlichen Substrate bzw. an konkrete Medien gebunden bleibt. Symbolische Prägnanz ist somit ein jeweiliger 'Grundakt' synthetischer Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen, der für das konkrete Weltverstehen und den konkreten Weltumgang die Weichen stellt. Er stellt die Weichen für Kulturhorizonte und Lebensformen, für die Strukturierung der Realität via Wahrnehmung, Reflexion und praktischen Umgang mit ihr. Sprachen, Religionen, Wissenschaften, Künste verdanken sich jeweils einer solchen symbolischen Prägnanz und stellen erst im Hinblick auf derartige Prägnanzbildung bestimmte symbolische Formen dar. Anzumerken ist, daß die durch symbolische Prägnanz entstehenden Formen und Gestalten selbst weiteren Wandlungen unterworfen sind, daß sich die Dynamik also nicht in der Konstitutierung der Formen, die dann als vollendete Systeme dastehen würden, erschöpft. Sieht man das Symbolgeschehen primär unter der Optik der Funktion älterer Sprachschichten und/oder des Mythos, so scheint sich die Bewegung in der Fixierung von Wahrnehmungs- und Denkgestalten zu erschöpfen. Whitehead und Schwemmer sprechen hier von der 'Schließung der Form' als dem Stiften von Identität, sowohl was objektive Gegenstände wie subjektive Selbstgewißheiten anlangt. Sie betonen — in anderer Terminologie als Cassirer, der von 'Dialektik' und einem Über-sich-selbstHinaustreiben spricht —, daß solche Identitäten neuerlich zum Material weiterer Prägnanzbildung werden. Die Kunst gilt dabei als jene symbolische Form, in der Prägnanzbildungen am leichtesten, mühelosesten, anschaulichsten und in ihrer strukturellen Genese am verständlichsten erfolgen. Es wäre daher nicht abwegig, die Kunst als jene ausgezeichnete symbolische Form anzusehen, in der Symbolizität als solche am augenfälligsten zum Ausdruck (wenn auch nicht unbedingt — dies wäre wohl Aufgabe der Philosophie — zur begrifflichen Selbstreflexion) gelangt.

273

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

1.4.2.3

Die Wahrheitsfrage

Was aber, läßt sich fragen, verbürgt die Verbindlichkeit und Wahrheit der Erfahrung, die sich — folgen wir den Konzeptionen von Cassirer, Whitehead, Langer, Goodman und Schwemmer — prinzipiell immer nur über Symbolismen konstituiert und artikuliert? Wenn es verschiedene — d.h. verschieden organisierte und in mancherlei Hinsicht inkompatible — Symbolismen und ihnen entsprechende Erfahrungstypen gibt, die allesamt nicht an einem Maßstab der 'Realität an sich' gemessen werden können, sondern nur am Maßstab ihres jeweiligen 'Funktionierens', dann gibt es entweder überhaupt keine Wahrheit oder unterschiedliche, symbolismusabhängige Wahrheitstypen. Letzteres liefe auf eine relativistische und pluralistische Kohärenztheorie der Wahrheit hinaus. Am meisten Augenmerk unter den genannten Autoren wird dem Wahrheitsproblem bei Goodman geschenkt. Ihn, dem von der analytischen Philosophie herkommenden Denker, der von einer besonders methodisch verengten Version des Wahrheitsbegriffs ausgeht, den er dann schließlich durch die Alternativbegriffe 'Richtigkeit' und 'Passen' ersetzen will, beunruhigt dieser Relativismus und Pluralismus der Verbindlichkeit von Symbolismen ganz besonders. Und obwohl er zuletzt — dies ist freilich nicht seine eigene Interpretation — zu einer Art pragmatistischer Wahrheitskonzeption findet, versucht er dennoch mit bemerkenswertem Eifer, irgendeinen Maßstab der Objektivität des symbolischen Weltbezugs aufrechtzuerhalten. 244 Die Frage nach der Wahrheit der Symbolismen muß natürlich die allgemeine Diskussion um den Wahrheitsbegriff berücksichtigen. 245 Es ist ja nicht so, daß von vornherein feststünde, was Wahrheit ist, so daß dann von einer unanfechtbaren Instanz her auch über die Legitimität der Symbolismen zu entscheiden wäre. Ich habe bislang die Frage nach der Erfahrung verfolgt und diese Frage dahingehend expliziert, daß Erfahrung historisch-kontingent, kultur- und lebensweltgebunden ist und sich phänomenal nicht über eine allgemein-abstrakte Vernunft, sondern über Symbolismen wie Sprache, Kunst, Wissenschaft, Religion usw. konstituiert. Da Erfahrung letztlich nichts anderes meint und meinen kann als Erkennen der Wirklichkeit und Sich-Orientieren in ihr, also die Auseinandersetzung mit den Geltungsansprüchen von Annahmen und Aussagen über 'das, was ist', ist die Frage nach der Erfahrung in der Sache identisch mit der Frage nach der Wahrheit. Die Spezifizierung von Erfahrungstheorie als Symboltheorie engt daher die Möglichkeiten, den Begriff der Wahrheit zu verstehen, von vornherein ein. Versionen einer einfachen Abbildungs-, Korrespondenz- oder Evidenztheorie der Wahrheit sind auszuschließen, da sie eine mit der Symboltheorie unvereinbare erkenntnistheoretische Grundlage voraussetzen. Weder der weite Wahrheitsbegriff Heideggers noch der enge Wahrheitsbegriff Tarskis246 sind da brauchbar. Doch ist die Wahrheitsfrage im Rahmen einer Symboltheorie der Erfahrung nicht mit dem Hinweis abgetan, daß der Symbolismus den Kohärenzrahmen der in ihm und durch ihn vermittelten Wahrheit abgebe. Da wir ja nicht unentrinnbar in einem Symbolismus gefangen sind und auch nicht von einem zum anderen Symbolismus bloß 'springen', sondern die Symbolismen und die in ihnen ausgedrückten Wahrheiten sehr wohl, wenngleich wohl immer nur partikulär, miteinander vermitteln können und weil es 274

Symbolcharakter der Erfahrung

außerdem möglich ist, über diese Vermittlung selbst nachzudenken, bleibt auch die Frage nach der Legitimität eines Symbolismus stets legitim. Das Fragen kann ständig weitergetrieben und auf Metaebenen der Betrachtung verschoben werden. Cassirer spricht davon, daß jede symbolische Form ihre 'relative Wahrheit' habe. 247 Kriterium für die Wahrheit der einzelnen empirischen Phänomene sei die allgemeine theoretische Grundlage 248 , d.h. der Symbolismus, über den und vermittels dessen sie repräsentiert werden. Diese Symbolismen — und dadurch unterscheiden sie sich von beliebigen Zeichensystemen — können nicht dezisionistisch ausgewählt und/oder verworfen werden, sie sind nicht arbiträr und nicht bloße formale Möglichkeiten eines Realitätsbezugs. Sie sind eingebettet und sie funktionieren in einer geschichtlichen Lebenswelt, die den Maßstab für ihre Authentizität abgibt. Symbolismen haben also jene allein durch geschichtliche und soziale Wirksamkeit sich ergebende legitimatorische Kraft, die T.S. Kuhn249 den 'normalen' Paradigmen zuschreibt. Deshalb hat die relative — besser: die perspektivische — Wahrheit eines Symbolismus, ordnet man sie auf der Entwicklungslinie seiner historischen Wirksamkeit an, durchaus ihren Ort und ihre Zeit. Indem aber die lebensweltliche Entwicklung weitergeht — indem Symbolismen einander ablösen bzw. ihre (hierarchische) Konstellation verändern und indem auch der einzelne Symbolismus (z.B. die Sprache) sich qualitativ verändert —, wird die Relativität dieser symbolismusabhängigen Wahrheiten deutlich und werden sie im einzelnen obsolet. Cassirer schreibt: "Immer wieder erweisen sich die Konstanten unserer Erfahrung als nur relative Konstanten, die wiederum des Haltes und der Begründung in einem Anderen, Festeren bedürfen. So sind die Grenzen des O b jektiven' gegen das bloß 'Subjektive' nicht von Anfang an unverrückbar bestimmt, sondern sie bilden und bestimmen sich selbst erst im fortschreitenden Prozeß der Erfahrung und ihrer theoretischen Grundlegung. Es ist eine ständig erneute Arbeit des Geistes, kraft deren sich der Umriß dessen, was wir das objektive Sein nennen, stetig verschiebt, um sich in veränderter und erneuter Gestalt wiederherzustellen." 2 5 0

Wahrheit — besser wäre nun freilich, nur noch von Perspektivität zu reden — ist somit im Rahmen der Symbolphilosophie ein kritischer, immer aber auch ein vorläufiger und dialektischer Begriff. Inwiefern eine Wahrheit relativ ist, kann nur hinterher, wenn der betreffende Symbolismus relativierend objektiviert wurde, festgestellt werden. Daß jede Wahrheit relativ ist, ergibt die fortgeschrittene philosophische Reflexion, die sich vom 'natürlichen Weltbegriff', dem unbefragten Vertrauen in die Realität der wahrgenommenen Erscheinung, gelöst hat. Cassirer erläutert dies an der Abfolge von Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion, die das Denken und in gewisser Weise jede251 symbolische Form durchläuft. Ausdrucks- und Darstellungsfunktion repräsentieren den 'natürlichen Weltbegriff', in dem die theoretischen Strukturen an die Inhalte gebunden und nur gemeinsam mit ihnen darstellbar sind.252 So wird etwa in der Sprache anfänglich der Name als Teil der von ihm bezeichneten Person oder Sache angesehen. Der 'natürliche Weltbegriff' und seine Gleichsetzung von Inhalt und Symbolizität wird erst in der Kunst, vor allem aber dann im fortgeschrittenen wissenschaftlichen Denken

275

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

überwunden, das den "Übergang in den Bereich der reinen Bedeutung" ermöglicht und in dem "der endgültige Bruch mit dem bloßen Dasein und seiner 'Unmittelbarkeit' vollzogen" wird. 253 Dieser Bruch ermöglicht überhaupt erst die Frage nach der Wahrheit bzw. diese Frage ist selbst, sobald sie aufkommt, Symptom dieses Bruchs. Sie beginnt mit "den Anfängen jeder wissenschaftlichen Weltbetrachtung", in der Erkennen und Wirklichkeit "in ein neues, in ein prinzipiell anderes Verhältnis"254 treten als vordem. Es gibt kein unbedingtes Vertrauen mehr in die Realität der Erscheinung, in einzelnen Erkenntnisschritten wird die Symbolizität des Wahrnehmens und Erkennens deutlich. "Die Erkenntnis löst die reinen Beziehungen aus der Verflechtung mit der konkreten und individuell-bestimmten 'Wirklichkeit' der Dinge heraus, um sie sich rein als solche in der Allgemeinheit ihrer 'Form', in der Weise ihres Beziehungs-Charakters zu vergegenwärtigen. "255 Wahrheit ist also eine kritische Instanz, die stufenweise fortschreitet. "Der Wahrheitsbegriff birgt in sich selber eine immanente Dialektik, die ihn unerbittlich weiter und vorwärts treibt. Er drängt über jede jeweils erreichte Grenze hinaus, — er begnügt sich nicht damit, einzelne Inhalte des 'natürlichen Weltbegriffs' in Frage zu stellen, sondern er greift seine Substanz, seine Gesamtform selbst an." 256 Cassirer behandelt also die Wahrheitsfrage einerseits ähnlich wie Hegel in seiner Logik die 'Wahrheit des Seins': Der Prozeß des Sich-selbst-Erkennens der Vernunft bzw. der Erfahrung führt die Wahrheit aus Verhüllungen und Stufen heraus und hinauf in die klare Selbsterkenntnis. Andererseits ist jedoch von einer absoluten Erkenntnis bei Cassirer nirgendwo die Rede — es gibt bei ihm kein hypostasiertes 'Selbstbewußtsein' als vermeintliche Höchstinstanz jeglichen Wissens —, und somit reicht der Vergleich mit Hegel doch wieder nicht allzu weit. Zwar ist nach Cassirer alle "Begriffsbildung [...] zuletzt durch ein Grund- und Leitziel hingewiesen", nämlich "auf die Bestimmung der 'Wahrheit schlechthin' gerichtet"257, doch bleibt unklar, ob es sich um ein regulatives Erkenntnisideal handelt oder um die Vorstellung eines tatsächlich erreichbaren Ziels. 258 *

Im Gegensatz zu Cassirer sind Whitehead und Goodman von den Denkfiguren des deutschen Idealismus weit genug entfernt, um sich in der Problematik einer zu sich selbst kommenden Wahrheit nicht zu verfangen. Beide relativieren den Wahrheitsbegriff im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit der erfahrungsvermittelnden Symbolismen, indem sie in einem ersten Schritt die Wahrheit als Konkurrenzbegriff zu einem für die Erkenntnis 'wichtigeren' Begriff ansetzen — 'Schönheit' bei Whitehead, 'Richtigkeit' bei Goodman — und in einem zweiten Schritt diesen 'wichtigeren' Begriff als Oberbegriff postulieren, unter den Wahrheit als eine seiner Varianten zu subsumieren sei. Die Position Goodmans habe ich bereits im Kapitel 1.3.1 dargestellt. Whitehead hält sich in den Überlegungen, die er in Adventures of Ideas über das Wahrheitsproblem anstellt, zunächst eng an die klassische adaequatio-Formel: "Die Wahrheit ist etwas, durch das nur das Erscheinende qualifiziert werden kann. [...] Die Wahrheit ist die Anpassung (conformation) des Erscheinenden an die Wirklichkeit. Es gibt bei dieser An-

276

Symbolcharakter der Erfahrung

passung ein Mehr oder Weniger, und sie kann auf direkte oder auf indirekte Weise erfolgen. " 259 Den direkten und indirekten Typen von Wahrheit entsprechen ihre engeren und weiteren Formen. Neben die 'ungeschminkte' Wahrheit als "eine klare und distinkte Erscheinung, die der hinter ihr stehenden Wirklichkeit konform ist" 260 , tritt der Typus der 'symbolischen Wahrheit', z.B. in der Kunst. 261 Wichtiger als das Kriterium der Wahrheit und überdies deren systematische Voraussetzung ist für Whitehead das Kriterium der Schönheit.

Diese "ist ein umfassenderer

und fundamentalerer Begriff als die Wahrheit" und besteht "im Erreichen einer inneren Konformität unter den verschiedenen Komponenten des Erlebens, die ihnen ein Maximum an Effektivität verleiht". 262 Dagegen ist der Wahrheitsbegriff "in zwei Hinsichten enger. Zunächst [...] geht es bei der Wahrheit ausschließlich um die Beziehungen zwischen Erscheinung und Wirklichkeit. Die Wahrheit ist die Übereinstimmung, die Konformität zwischen Erscheinung und Wirklichkeit. Und außerdem hat der Begriff der Konformität bei der Wahrheit eine engere Bedeutung als bei der Schönheit. Denn jede Wahrheitsbeziehung zwischen zwei Dingen setzt voraus, daß es etwas gibt, was diese beiden Dinge gemeinsam haben. " 2 6 3

Whitehead transformiert im Fortgang seiner Überlegungen den Wahrheitsbegriff in den Schönheitsbegriff und nähert sich dabei — der Position Heideggers vergleichbar



einer Evidenztheorie der Wahrheit, wobei die Evidenz zugleich das Moment der Innovation und Kreativität miteinschließt. Zunächst stellt er Wahrheit und Schönheit kategorial nebeneinander: "Wahrheit und Schönheit sind die beiden großen regulativen Qualitäten, durch die sich das Erscheinende vor dem unmittelbaren Urteil des erlebenden Subjekts rechtfertigt. " 264 A n späterer Stelle schreibt er, in der Schönheit verwirkliche sich "eine tiefe und verborgene Wahrheit. Die Art von Wahrheit, die sich in solchen höchsten Formen der Schönheit manifestiert, ist immer eine Entdeckung und nie eine Wiederholung. Und ihr liegt jene Wahrheitsbeziehung zugrunde, mit deren Hilfe die Erscheinung neue Reichtümer des Fühlens aus den Tiefen der Wirklichkeit zutagefördert. Es handelt sich um eine Wahrheit des Fühlens und nicht um eine Wahrheit der Verbalisation." 2 6 5

Angemessener, als nach der Wahrheit der Symbolismen zu fragen, dürfte es sein, nach ihrer Kohärenz und pragmatischen Legitimität zu fragen. Diese Frage aber zielt erneut auf das Problem der symbolischen Prägnanz: wann, wie und warum die Weichen für eine bestimmte Symbolisierung gestellt werden. Die Antwort besteht in der Rekonstruktion der jeweiligen Symbolisierungsgenese. Somit verschiebt sich die klassische Wahrheitsfrage, die auf die Relation von Aussage und Realität bzw. von Symbol und Symbolisiertem zielt, auf eine andere Ebene. Sie verwandelt sich in die Frage nach dem genauen Wie der Erfahrung.

in

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

1.4.2.4

Die Interaktion der Symbolismen

Indem sich unsere Erfahrung über verschiedene — oft inkompatible — symbolische Formen und Symbolismen konstituiert und repräsentiert, ist sie selbst ein vielfältiges und z.T. in sich widersprüchliches Phänomen. Es gibt offensichtlich keinen archimedischen Punkt, von dem aus alle Symbolsysteme ohne unzulässige Verkürzung ihres Eigencharakters und ihrer Eigenleistung zu überblicken wären. Was sie jedoch eint, ist eine formale Grundstruktur: die Symbolizität der Erfahrung als solche. Das bedeutet, daß der menschliche Geist — die erfahrende, rationalisierende Orientierung in der Wirklichkeit — stets auf eine sinnlich-materiale Zeichenbasis, auf ein bedeutungsfähiges Medium angewiesen ist. Ob Sprachlaut, Schrift, Ritus, Tanz, Religion, Wissenschaft oder Kunst — stets gehen geistiger Inhalt und sinnliche Zeichenbasis ganz bestimmte strukturelle Verbindungen ein, die zugleich die Möglichkeiten und die Grenzen der Ausdrucks- und Darstellungsfähigkeit eines Symbolismus bezeichnen. Wenn wir von unserer 'Erfahrung insgesamt' sprechen, so meinen wir ein komplexes Gebilde von interagierenden Teilerfahrungen, u.zw. sowohl von konkreten, zeitlich und örtlich bestimmten Einzelerfahrungen als auch von Erfahrungskategorien und -dimensionen, die sich auf die Art eines Symbolismus oder Mediums beziehen. Die Qualität einer konkreten kulturellen Lebenswelt hängt von den in ihr möglichen, in ihr verfügbaren und den innerhalb ihrer Problemstellungen sich aufdrängenden Erfahrungen ab. Sie hängt eben damit ab von den Symbolismen, mit deren Hilfe die besagte Lebenswelt organisiert wird. Es geht dabei um ein Wechsel Verhältnis: Symbolismen und Lebenswelt beeinflussen sich gegenseitig.266 Symbolismen sind 'Technologien des menschlichen Geistes' (Schwemmer), die unterschiedliche Konstellationen eingehen und auf unterschiedlichem Entwicklungsstand stehen können. Wenn wir beispielsweise sprechen und schreiben können, wenn wir Wissenschaft und Kunst und darüber hinaus vielleicht auch noch Religion betreiben, ergibt sich ein anderer Erfahrungs- und Symbolismenkomplex, als wenn einzelne dieser Technologien des Geistes wegfallen. In unserer sozialen, in unserer Selbst- und Weltverständigung sind wir stets von einer Mehrzahl unterschiedlicher Symbolismen bestimmt. Einige davon sind relevanter und auffälliger als andere, einige stehen mehr im Mittelpunkt unseres Interesses, unserer Aufmerksamkeit und unserer bewußten kulturellen Pflege. Andere, die für unseren Lebensvollzug manchmal nicht minder bedeutsam sein mögen, sind uns zuweilen nur am Rande oder überhaupt nicht bewußt. 267 All diese Symbolismen — und man kann, wie gesagt, hinzufügen: all diese Erfahrungen — lassen sich als eine kulturgeschichtliche Stufenfolge ansehen, wobei ein Symbolismus sich aus dem anderen entwickelt und seinen Vorgänger durch neue Artikulationsund Verstehensleistungen übertrifft. Es spricht sicher einiges für eine solch hierarchische Entwicklungskonzeption, nach der z.B. die Wissenschaft aus der Religion und diese aus dem Mythos hervorgeht. Eine symbolismenhierarchische Konzeption stößt methodisch jedoch auf zwei Schwierigkeiten. Zum einen werden frühere Stufen — z.B. der Mythos durch die Religion oder diese durch die Wissenschaft — im allgemeinen nicht wirklich überwunden, sondern gehen lediglich neue Verhältnisse ein. Zum ande-

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Symbolcharakter der Erfahrung

ren findet sich in einer wie immer gearteten Hierarchiekonzeption in der Regel für einige (lebensweltlich höchst relevante) symbolische Formen systematisch kein sinnvoller Platz. Es ist daher naheliegend, auf eine Hierarchievorstellung gänzlich zu verzichten und stattdessen das Nebeneinander, die Gleichwertigkeit, Gleichzeitigkeit und Kontingente Interaktion der Symbolismen — ein wechselseitiges Motivieren und Beeinflussen — in den Vordergrund zu stellen. Die jeweilige konkrete Konstellation solcher Motive und Einflüsse ist eine individuelle Form-Schließung, macht also die Individualität und Identität eines (mehr oder minder komplexen, d.h. aus Subsymbolismen bestehenden) Symbolismus-Gefüges aus. Man wird in zahlreichen — freilich nicht in allen — Fällen sagen können, daß eine möglichst gesteigerte und intensivierte Interaktion zwischen möglichst vielen Symbolismen die reichste, komplexeste und entwickeltste Form von Erfahrung entstehen läßt. Das Verhältnis von Symbolismen untereinander, die sich zu einer Art Super-Symbolismus zusammenschließen, dürfte ähnlich zu denken und zu bewerten sein wie jenes Verhältnis der Symbole und Symbolgruppen untereinander, das in einem (singulären) Symbolismus statthat. Je mehr Symbole und innere Symbolkonstellationen ein Symbolismus aufweist, einen desto komplexeren geistigen Inhalt kann er ausdrücken und darstellen, und je zahlreicher verschiedene Symbolismen zueinander in Beziehung treten, umso geschmeidiger, reflexiver und theorietüchtiger wird das sich dabei ergebende neue Erfahrungsganze sein. Freilich hat die Vernetzung von Symbolismen auch ihre Kehrseite, und es sind neben allfälligen Gewinn- auch allfällige Verlustrechnungen anzustellen. Die Symbolismen können einander ergänzen und in ihrer Effizienz steigern, sie können sich aber auch in unproduktiver Weise in eine Konkurrenzsituation begeben und gegenseitig blockieren. Die Gewinnrechnung berücksichtigt die Effekte der Synopsis, der Synästhesie und Synergie. Symbolismen spiegeln ihre Strukturen ineinander und motivieren sich wechselseitig bzw. schließen sich zu einer neuen Einheit zusammen. Das gilt — vorsymbolisch — auch schon für unsere Sinne, die in einem gemeinsamen synästhetischen Raum agieren. Synästhesie ist bis zu einem gewissen Grad eine Voraussetzung der Tätigkeit der Einzelsinne, sie ist aber auch ein möglicher — bewußter oder unbewußter — Telos der Sinnentätigkeit. Verschiedene Sinne, z.B. Auge und Ohr, können sich zu einem neuen 'Gesamtsinn' vereinen und die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit insgesamt steigern. Was dabei aber ebenso gut entstehen kann und auch immer wieder tatsächlich entsteht, sind optische bzw. akustische Ausblendungen, ist die Unterdrückung einzelner Sinne bzw. ihr wechselseitiges Blockieren, sind Energitlähmungen und Reibungsverluste, die durch die Begegnung unterschiedlicher Sinne provoziert werden. Dasselbe gilt für die einzelnen Symbolismen und den ihnen zugrunde liegenden bzw. sie teleologisch übergreifenden 'synsymbolischen' Zusammenhang. Jede Symbolisierung ist von vornherein in eine Vielfalt bereits existierender anderer Symbolisierungen eingebettet. Sie setzt einerseits Akte der Selbstisolierung und Abschottung nach außen und andererseits 'synsymbolische' Akte. Es hängt natürlich von der konkreten Situation ab, ob und in welchem Ausmaß sich bei 'synsymbolischen' Prozessen eine Gewinn- und/oder Verlustrechnung erstellen läßt.

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Ich führe drei Beispiele an. (1) Daß etwa Religion und Wissenschaft einander lähmen können, ist aus der Geschichte hinlänglich bekannt, aber auch, daß sie — sind ihre Alleinvertretungansprüche revidiert und die Interessen und Kompetenzen anders abgesteckt als vordem — durchaus harmonieren können. (2) Wenn die Darstellung eines wissenschaftlichen Textes künstlerischen Ambitionen folgt, so kann dies — je nachdem — didaktische Hilfe und Anreiz sein, aber auch ebenso gut überflüssiges Beiwerk und sinnlose Ablenkung. Ein weiteres Beispiel (3) ist das sogenannte Gesamtkunstwerk, wie es Richard Wagner und andere in Szene zu setzen suchten. Die einzelnen Künste wie Poesie, Musik und Drama steigern sich zwar wechselseitig zu einem qualitativ neuen, eindrucksvollen Ganzen, das Gesamtkunstwerk erweckt aber auch verhältnismäßig schnell den Eindruck des Überladenen und der Desorganisation. Einige der partizipierenden Symbolismen werden als ein störendes Zuviel an Ausdruck, Darstellung und Bedeutung empfunden. Es handelt sich um eine Komplexität von Erfahrungsrepräsentation, die dem Rezipienten mißfallen und zur Konsequenz drängen kann, eine Verwandlung der Repräsentation in einfachere Strukturen — also eine KomplexitätsraMri/o« — zu fordern. 268 Diesem den jeweiligen kulturellen und lebensweltlichen Bedürfnissen anzupassenden Spiel von Komplexitätsstiftung und -reduktion, von Kooperation und Isolation einzelner Symbolismen begegnen wir auf sämtlichen Differenzierungsebenen sämtlicher symbolischer Formen. Dem formalen Strukturproblem des Gesamtkunstwerkes entspricht beispielsweise das Problem der Interdisziplinarität in den Wissenschaften oder das Problem des Synkretismus und der Akkumulation von Motiven in der Religion. Der Wissenschaftler, der angesichts des heute erarbeiteten und angesammelten vielfältigen Spezialwissens dennoch die Allkompetenz des klassischen Universalgelehrten beansprucht, ist ebenso ein Unding wie der Philosoph, der sich auf zu viele Denkschulen einläßt und sie allzu breit in seinen eigenen Denkentwurf zu integrieren sucht. Dasselbe gilt für den modernen Theosophen, der meint, er könne in einem universalistischen Gewaltstreich die Weisheit aller Zeiten und Völker, aller Religionen und Philosophien auf den Punkt bringen. Das Problem der Ökonomie von Kooperation und/oder Isolation von Symbolismen begegnet uns aber auch im Prozeß der Entwicklung einer Sprache im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit Nachbarsprachen. Eine Sprache kann von der anderen Vokabular und sogar grammatische Formen übernehmen — aber bis zu welchem Umfang ist dies zweckmäßig, und wann werden solche Übernahmen dysfunktional? Das hängt — genauso wie bei der Frage nach der Zweckmäßigkeit interdisziplinärer Wissenschaftsunternehmungen und genauso wie bei der Frage nach dem kulturellen Anpassungssoll einer Religion — von den konkreten Erfordernissen und Gestaltungsmöglichkeiten der jeweiligen Kultur und Lebenswelt ab. Die Kontingenz der Erfahrung spiegelt sich in der Kontingenz möglicher Symbolismus-Verbindungen und deren möglicher Interaktion. Es geht dabei um den — niemals vorweg und apriorisch entscheidbaren — Sinn der Verbindung und/oder Trennung von Repräsentationsformen nicht nur des Wissens, sondern auch des sinnlichen und künstlerischen Ausdrucks sowie technischer Möglichkeiten der Weltgestaltung. Da es — im Gegensatz zu den Prämissen, die Hegel für seine Logik voraussetzt — keinen festen,

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Mediencharakter der Erfahrung

abgeschlossenen Kanon von Symbolismen gibt, auch keine feststehenden Regeln, wie sie sich zueinander verhalten müßten, ist die Vorstellung eines absoluten Wissens, das sich aus einer Hierarchie von Wissensformen in bestimmter Weise aufbaut und entwickelt, obsolet. Das gilt für jede Hierarchie (denn man kann ja auch Kunst, Religion oder Technik als oberste symbolische Instanz ansetzen). Stets können neue Symbolismen (und neue Medien) auf den Plan treten, neue Verbindungen eingehen und bislang unvorhergesehene Möglichkeiten der Kommunikation, der Artikulation und der Weltorientierung realisieren. Sie müssen — hier ist noch einmal die Analogie zum pragmatistischen Wahrheitsbegriff zu bemühen — aber auch dann, wenn sie qualitativ neue Erfahrungen repräsentieren, so weit wie möglich zum Ensemble der bislang praktizierten Symbolwelt 'passen' und sich an diese 'anschließen'.

1.4.3

Aspekte des Mediencharakters der Erfahrung

Ich komme noch einmal auf die — von Schwemmer übernommene 269 — Feststellung zurück, daß die Symbolismen zugleich Medien darstellen und daß jede Symboltheorie — der Sache nach — zugleich Medientheorie ist. Auch Cassirer verwendet gelegentlich den Begriff 'Medien' synonym mit dem Begriff 'symbolische Formen' 270 , und seine Definition der symbolischen Form — 'geistige Energie, die an ein sinnliches Zeichen einen Bedeutungsgehalt knüpft' — läßt sich ohne Schwierigkeit als eine Definition von 'Medium' lesen. Am augenfälligsten ist die Identität von Symbolismus und Medium vermutlich am Beispiel der Sprache zu illustrieren. Allerdings handelt es sich bei besagter Gleichsetzung nicht um eine reine Tautologie, sondern um eine Akzentverschiebung in der phänomenologischen Beschreibung von Erfahrung. Bezeichnet man ein Symbolsystem wie die Sprache zuerst als Symbolismus und dann als Medium, so besteht die Akzentverschiebung vor allem darin, daß 'Symbolismus' in stärkerem Maß die gegenständlich vergegenwärtigbaren Einzelelemente — die Symbole — konnotiert, 'Medium' hingegen stärker das (pragmatische) Ganze des Symbolzusammenhangs. 'Medium' konnotiert darüber hinaus eher die kommunikationstechnologische Seite und die allgemeine Vermittlungsfunktion des Symbolsystems (Medium bedeutet wörtlich ja: Mitte und Mittel), 'Symbolismus' hingegen eher die kognitive und semiotische Seite, die Repräsentations- und Referenzfunktion des Mediums. 'Medium' betont den materiellen Träger, 'Symbolismus' die geistige Bedeutung von Zeichen und Zeichensystemen. Beide Begriffe aber umschreiben ein identisches Phänomen: nämlich daß unser Wahrnehmen, Erkennen und Denken — und damit unsere Erfahrung — zwar auf die 'Realität selbst' zielt, diese aber nur indirekt ('symbolisch'), d.h. über bestimmte Vermittlungen ('medial'), ausdrücken, darstellen und bedeuten kann. Es ist daran zu erinnern, daß in der Philosophiegeschichte und auch in der außerphilosophischen Diskussion unter den Titeln 'Symboltheorie' und 'Medientheorie' bis heute zwar systematisch und der Sache nach zusammengehörige, aber im konkreten dann doch verschiedenartige Beschreibungen des symbolisch-medialen Charakters von Den-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

ken und Erfahrung vorgelegt wurden und daß es sich historisch um zwei verschiedene 'Denkschienen' handelt, deren Synopsis in der bisherigen Diskussion nur sehr zögerlich in Angriff genommen wurde. So wird der Medienbegriff meist enger gehandhabt als der Symbolbegriff, und bestimmte Symbolismen wie Wissenschaft und Religion, bei denen die sinnliche Zeichenbasis weniger im Vordergrund steht als etwa bei Sprache und Kunst, wurden bislang noch kaum je zu Themen einer ausdrücklichen Medienphilosophie gemacht.

1.4.3.1

'Medienphilosophie'

Es scheint sinnvoll, drei Bedeutungen von 'Medienphilosophie' zu unterscheiden. Fürs erste bezeichnet der Ausdruck eine intellektuelle Modeströmung mit popularphilosophischen Zügen, die zwar vielfach oberflächlich und reißerisch betrieben wird, aber angesichts der neueren Medienrevolution ein zentrales Problem der gegenwärtigen Kultur aufgreift, das von der akademischen Philosophie weitgehend ignoriert wird. Immerhin haben die modernen Medien — Printmedien, Fernsehen, Telekommunikation und Computer — mittlerweile eine Macht erlangt, die unsere Lebenswelt, sowohl das individuelle wie das soziale Denken und Handeln, ganz zweifellos revolutioniert. 271 Die Erfahrung und das Bewußtsein der Menschen werden durch die neuen Medien offensichtlich entscheidend beeinflußt und verändert. Dies wird aber im hauptsächlichen nicht von Philosophen, sondern von Soziologen, Politologen, Literaturwissenschaftlern und Pädagogen registriert und theoriefähig behandelt. Den Fachphilosophen ist es (mit wenigen Ausnahmen) nicht gelungen, das Problem der modernen Medien als rezenten Ausdruck klassischer philosophischer Fragestellungen — nämlich des Erkenntnis- und Verstehensproblems, des Bewußtseins- und Erfahrungsproblems — wahrzunehmen und sich entsprechend mit ihm auseinanderzusetzen. Es ist offensichtlich leichter, die methodischen Schwächen der betreffenden Popularphilosophen — McLuhan, Baudrillard oder Flusser272 — anzuprangern, als sich ihrer Themen selbst in sachlicher Weise anzunehmen. Dabei liegt doch eigentlich nichts näher, als in den neuen Medien neue 'Technologien des Geistes' zu erkennen, die den 'alten' Technologien — wobei hier vor allem an die (orale und literale) Sprache zu denken ist — funktional entsprechen. Die Thematisierung dieser Technologien in philosophischer Perspektive hat also — dies ist eine zu erhebende programmatische Forderung — nicht jenseits des klassischen philosophischen Nachdenkens über den menschlichen Geist zu erfolgen, sondern analog und in Anknüpfung. 'Medienphilosophie' könnte demnach — und das wäre eine zweite, ernster zu nehmende Bedeutung — als die aktuelle Reformulierung der klassischen Geistphilosophie verstanden werden. Unterscheidet man Oralität, Literalität, Buchdruck, Telekommunikation und rechnergestütztes Denken als sukzessiv in der Kulturgeschichte auftauchende, aufeinander aufbauende und sich ineinander verschränkende Medien, so ergibt sich eine phänomenologisch und funktional wichtige Differenzierung jenes all-

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Mediencharakter der Erfahrung

gemein-abstrakten Begriffes von 'Denken', den die klassische Philosophie bis hin zu Kant und zum deutschen Idealismus (und teilweise natürlich auch darüber hinaus) gewissermaßen naiv voraussetzt. Denken ist nunmehr phänomenologisch zu differenzieren in Sprechdenken, Schriftdenken, Buchdruckdenken, Computerdenken usw., wobei jeder neu auftretende Denktypus die früheren Denktypen bis zu einem gewissen Grad integriert. Dabei sind freilich nicht nur Effizienzsteigerungen in der medialen Leistungsfähigkeit, sondern auch Effizienzverluste zu registrieren. (Was zuvor zur Interaktion der Symbolismen bemerkt wurde, gilt mutatis mutandis auch für die Medieninteraktion). Alle aufgezählten Medien haben — wie die linguistische273 und ethnologische274 Forschung gezeigt hat — einen wesentlichen Einfluß auf die Gesamtgestaltung der jeweiligen historisch-kulturellen Lebenswelt, auf deren jeweils typisches Denken, auf deren Vernunft- und Erfahrungsverständnis. Epochen und Kulturen werden also nicht nur — wie aus der älteren Kultur- und Geschichtsphilosophie (von Vico bis Hegel, Spengler, Toynbee und Cassirer) geläufig — von den sukzessiven Symbolismen bzw. Medien wie Mythos, Religion, Wissenschaft und Großtechnik geformt, sondern in nicht minderer Weise auch von jenen Symbolismen bzw. Medien, die als ausdrückliche Kommunikationstechniken zu definieren sind: Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Buchdruck usf. Medienrevolutionen — wie sie philosophisch erstmals in Piatons Phaidros275 thematisiert werden — sind als echte Revolutionen des Denkens und der Erfahrung zu begreifen, als Zäsuren und Entwicklungsstufen in der Geschichte des menschlichen Geistes. Der 'linguistic turn' in der modernen Philosophie — der mit Humboldt, Peirce und Nietzsche begonnen hat und von Mauthner, Wittgenstein, Cassirer und der sprachanalytischen Philosophie fortgesetzt wurde — bezeichnet der Sache nach wohl den ersten und entscheidenden Durchbruch von der allgemein-abstrakten Geistphilosophie zu einer konkret-differenzierenden Medienphilosophie. Freilich folgt auch die analytische Sprachphilosophie weitgehend dem Schema einer sachlich inadäquaten Generalisierung, wenn sie zwar richtigerweise die Vermitteltheit von Denken durch Sprache betont, aber die Heterogenität der Sprachen276 (auch die Heterogenität der unterschiedlichen Diskurse innerhalb einer Sprache)277 und vor allem ihre unterschiedlichen lebensweltlichpragmatischen Orientierungen und Funktionen nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Eine zureichende Phänomenologie und Theorie des sprachlich gebundenen Denkens hat diese Komplexität des Phänomens Sprache jedoch in Rechnung zu stellen. Es ist bemerkenswert, daß es die rezente Sprachphilosophie, eine für unser Jahrhundert so bedeutsame Denkströmung, nicht geschafft hat, die vor allem in Linguistik, Literaturwissenschaft und Ethnologie erarbeiteten Forschungen zur vielschichtigen — nicht nur auf Sprache bezogenen — Medialität des Denkens zur Kenntnis zu nehmen, sie in den eigenen Ansatz zu integrieren und so die Sprachphilosophie in Medienphilosophie zu transformieren. Was plakativ, aber begrifflich wenig durchgearbeitet, ohne Anknüpfung an die akademische Philosophie und methodisch unter deren Standard, im Kontext der Postmoderne an 'Medienphilosophie' angeboten wird, holt dieses Versäumnis bislang nicht nach. Ich habe bis jetzt zwei Bedeutungen von 'Medienphilosophie' erläutert: (a) eine real existierende Popularphilosophie, die sich am Nachdenken über die neuen Medien ent-

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Grundzüge einer Theorie der

Erfahrung

zündet, und (b) eine bloß in Ansätzen — z.B. bei Schwemmer — existierende, im wesentlichen aber vorerst nur normativ zu veranschlagende Fortsetzung der klassischen Geistphilosophie. Die dritte Bedeutung (c) ergibt sich als 'implizite' Philosophie aus den Resultaten der philologischen, ethnologischen und ethnopsychologischen Medienforschung. 278 Diese hauptsächlich von Altphilologen und Ethnologen seit Jahrzehnten betriebene, in der Öffentlichkeit — auch in der akademischen Öffentlichkeit — nur wenig beachtete seriöse Medienforschung — deren Arbeitsschwerpunkt zwar das Medium Schrift ist, die jedoch, ausgehend von der Schrift, auch die neueren Medien zunehmend mit berücksichtigt — führt ein disziplinares Eigenleben ohne bemerkenswerte Verbindung weder zur Fachphilosophie noch zur populären Modephilosophie. Diese philologisch-ethnologische Medienforschung enthält ein nicht unerhebliches eigenes philosophisches Potential, d.h. implizite und auch explizite Philosopheme zur Wesensbestimmung von Denken, Vernunft und Erfahrung im allgemeinen. Vor allem Eric A. Havelock ist in philosophiegeschichtlichen und philosophisch-systematischen Fragen bestens bewandert. 279 Die unter (b) vorgeschlagene Medienphilosophie, die die klassische Geistphilosophie dadurch reformulieren könnte, daß sie die Sprachphilosophie in eine plurale Medienphilosophie transformiert, ließe sich selbstverständlich mit der Bedeutung (c) verbinden. Sie fände eben darin ihr Anschauungsmaterial vor, aber auch schon ein beachtliches Stück Reflexionsarbeit, deren Ergebnisse sie aufnehmen und weiterführen könnte.

1.4.3.2 Die Theorie der Medienabhängigkeit des Denkens (Havelock) Daß die Medien, die auf uns einwirken bzw. über die wir uns ausdrücken, das Denken in vielfacher Weise mit beeinflussen, ist ein Gemeinplatz, der in seiner vagen Allgemeinheit wohl von niemandem in Frage gestellt wird, der aber zu präzisieren und konkret zu bestimmen ist, sofern er etwas Erkenntnisförderndes ausdrücken soll. Die Frage ist, ob Kategorien, Strukturen und Abläufe des Denkens durch verschiedene Medien bloß anders akzentuiert, gefördert bzw. vernachlässigt werden, oder ob ein Medium tatsächlich solche Kategorien, Strukturen und Abläufe notwendig erzeugen oder auch verhindern kann. Eine analoge — näher besehen: sogar identische - Fragestellung ist bereits seit langem in der Sprachphilosophie geläufig. 280 Humboldt fragt sich, ob unterschiedliche Sprachstrukturen das Denken determinieren, und beantwortet diese Frage — anders als Nietzsche, Mauthner und Sapir/Whorf — mit einem differenzierten Nein. 281 Das in der Diskussion um die 'Relativitätstheorie der Sprache' geläufigste Beispiel, der Hinweis auf die Subjekt-Prädikat- bzw. Subjekt-Objekt-Struktur der indogermanischen Sprachen — wodurch die Wirklichkeit stets auf einen Akteur und eine davon getrennte Aktion, auf eine Substanz und eine davon abstrahierbare Eigenschaft usw. hin interpretiert werden müsse —, ist nach Humboldt keineswegs ein stichhaltiges Argument für den Sprach-

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Mediencharakter der Erfahrung

determinismus. Seiner Ansicht nach suggerieren grammatische Strukturen bestimmte ontologische Vorstellungen, doch ist diese Suggestion keineswegs total. Zwar räumt Humboldt ein, daß flektierende Sprachformen ein höheres Reflexionsniveau ausdrücken als z.B. agglutinierende, doch heißt dies nicht, daß einzig die Flexionsgrammatik Reflexivität verbürge. Sprache ist also keineswegs, wie Nietzsche sich pointiert ausdrückte, ein 'Gefängnis', dem wir niemals entrinnen können, sondern — um im Bild zu bleiben — ein Haus, das die Pflege von Gewohnheiten ermöglicht und sogar nahelegt, das aber auch verlassen werden kann, um Anderes und Neues zu entdecken. Freilich entspricht auch das Bild des Hauses nicht ganz dem Sachverhalt, da Sprache nicht ein beliebiges Gehäuse ist, in das wir schlüpfen und aus dem wir uns auch wieder herausbegeben können. Wir können uns einerseits nicht gänzlich von den grammatischen und lexikalischen Vorgaben befreien, es bleibt uns andererseits aber doch stets ein relativer Freiraum des Variierens und Infragestellens der durch eine Sprache suggerierten Denkmuster. Dies leuchtet vor allem ein, wenn wir uns neben der internen grammatischen Logik einer Sprache und neben ihrer Abbildungsfunktion ihre pragmatische Dimension vergegenwärtigen, d.h. ihr Eingebettetsein und ihr Funktionieren in lebenspraktischen Zusammenhängen, in denen das Moment der Kognition keineswegs eine ausschließliche, oft nicht einmal eine dominierende Rolle spielt. Da das Denken und Sprechen in diese vielfältige und heterogene Lebenspraxis integriert ist, ist es selbst vielfältig und heterogen, und zu jedem Gedanken, der ein Urteil über die Wirklichkeit fällt, kann sich ein anderer Gedanke gesellen, der ihn ergänzt, ihm widerspricht und jedenfalls — auf welche Weise auch immer — den Gedankenfluß in kontingenter Weise verändernd weitertreibt. Wer diese lebensweltliche Situation und Verfaßtheit, in der und als die Denken und Sprechen statthat, ausblendet und stattdessen mit positivistischen oder transzendentalphilosophischen Theorieprämissen an das Phänomen Sprache herangeht, kann es dagegen sehr wohl als einen Mechanismus, als einen strengen Algorithmen unterworfenen Kalkül mißverstehen. Nietzsches aporetische Sprachphilosophie ist einem solchen Mißverständnis erlegen. 282 Und es ist bemerkenswert, daß auch Sprachwissenschaftler des 20. Jahrhunderts wie Sapir und Whorf die Determinismusthese anhand veränderten linguistischen Materials — z.B. im Hinblick auf Indianersprachen — im wesentlichen bloß wiederholt haben und hinter die älteren, aber ausgewogeneren Einsichten Humboldts zurückgefallen sind.283 Beim wirklichen Einfluß der Sprache aufs Denken handelt es sich also nicht um strenge Determination, sondern um Suggestion, kombiniert mit einem gewissen reflexiven Freiraum, der die Suggestion im Hinblick auf andere Strukturmöglichkeiten, Wirklichkeit zu begreifen und mit ihr umzugehen, zu relativieren vermag. Dieses bei Humboldt bereits mustergültig vorgegebene sachliche Ergebnis der Determinismusdiskussion in der Sprachphilosophie gibt einen ersten Hinweis auf die Frage, inwiefern nicht bloß die Sprache, sondern in einem allgemeinen Sinn die Medien das Denken beeinflussen.

285

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Die populäre Medienphilosophie — McLuhan, Postman, Baudrillard, Flusser — arbeitet recht unbekümmert mit der Determinationsthese.284 Demnach ist der Geist nichts Eigenständiges, sondern ganz und gar den Medien unterworfen. Nicht Korrelation von Medium und Geist heißt hier die Devise, sondern schlichte Reduktion von Geist aufs Medium. Der bei Humboldt festgestellte reflexive Freiraum wird getilgt. Daß ein solcher Reduktionismus aber nicht der Weisheit letzter Schluß sein kann, erhellt bereits aus der Tatsache, daß wir ja nicht einem, sondern einer Vielzahl von Medien ausgesetzt sind, die zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen und sich zumindest teilweise wechselseitig objektivieren und distanzieren können. Bereits Körper-, Laut- und Schriftsprache stehen in einem solch differenzierenden SpannungsVerhältnis. Wenn wir von einem jeweils qualitativ verschiedenen 'Geist' der verschiedenen Medien sprechen, so sind wir jedenfalls damit konfrontiert, daß es eine Vielzahl solcher 'Geister' in unserem Leben gibt, die insgesamt doch wieder eine — nämlich die lebensweltliche — Einheit bilden. Daher scheint es angemessener zu sein, von einem, aber in sich differenzierten und spannungsgeladenen Denken zu sprechen, dessen Einheit in seiner Kategorie als Medialität schlechthin, dessen innere Differenz und Spannung jedoch in der Vielzahl der miteinander korrelierenden Medien liegt, über die es sich vollzieht. Es ist immerhin bemerkenswert, daß eine seriöse Medientheorie wie die von Eric A. Havelock und Walter J. Ong die These von der Medienabhängigkeit des Denkens sehr vorsichtig und keineswegs totalistisch handhabt. 285 Statt fragwürdiger Pauschalurteile wird bei Havelock und Ong konkret und im einzelnen gezeigt, worin Spezifika bestimmten mediengebundenen Denkens bestehen. Leitfaden ist die GedäcÄ/m'sfunktion des Intellekts. In ihrer strukturellen Vernetzung mit den Funktionen der Wahrnehmung, der Begriffsbildung und Theorie, der Affekte und der lebensweltlich-kulturellen Bedeutung von Denken überhaupt ist die Gedächtnisfunktion ein Indikator für 'Vernunft' und 'Erfahrung' schlechthin. Die Art und Weise, wie Information 'gespeichert' wird, dient als Schlüssel für das 'Denken insgesamt' eines Individuums, einer Gruppe, einer Epoche und einer Kultur. Havelocks Verdienst, das erst seit kurzem auch von fachphilosophischer Seite anerkannt wird286 — Derridas 'Schrift'philosophie geht völlig andere Wege287 —, besteht darin, daß er (vornehmlich im Hinblick auf altgriechische Texte) die Differenz von oralem und literalem Denken herausarbeitet und damit eine weitreichende Kulturtheorie verbindet. Unter 'primärer Oralität' versteht er einen Kulturzustand, in dem es noch keine Schrift gibt, unter 'Literalität' hingegen den Kulturzustand, der über Schrift als Kommunikationstechnologie verfügt. Der Weg von der Oralität zur Literalität erweist sich als lange und vielfältige Stufenfolge unterschiedlicher Kulturzustände, in denen verschiedene Typen der Schrift — von Piktogrammen und Hieroglyphen über Silbenschriften bis hin zu dem (erst von den Griechen entwickelten) vollvokalischen Alphabet — unter recht unterschiedlichen bildungspolitischen Bedingungen verwendet werden. Die mündliche Rede, die unter literalen Bedingungen weiterhin relevant bleibt, sich in ihren Funktionen jedoch verschiebt, wird von Havelock als 'sekundäre Oralität' bezeichnet. Sie kommt — und hier knüpft Havelock ausdrücklich an McLuhan an — durch die neuen, elektronischen Medien zu neuen Ehren, indem z.B. Telefon, Hörfunk,

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Mediencharakter der Erfahrung

Film und Fernsehen die Funktion der Schrift bzw. des Buches wieder in hohem Maße durch eine neue Form von Mündlichkeit ersetzen. Die Bedeutung des Buchdrucks als eines eigenen, von der (handgeschriebenen) Schrift abzuhebenden Mediums wurde in McLuhans The Gutenberg Galaxy288 systematisch herausgestellt, wobei der Autor seine Theorie mit einer Fülle spekulativen Beiwerks befrachtet hat, was die wissenschaftliche Dignität seines Ansatzes z.T. beeinträchtigt. McLuhan macht — in seinen Ausblicken in die Zeit- und Kulturräume, die jenseits von 'Geburt' und 'Tod' der Buchkultur liegen — auch deutlich, daß der mit den neuen, elektronischen Medien vollzogene kulturelle Umbruch es ermöglicht, die Kategorie der Medialität überhaupt in den Blick zu nehmen und die Schrift — um die es Havelock vornehmlich geht — gegenüber dem vorhergehenden Medium, der (primären) Oralität, eigens zu thematisieren. In der Tat sind es die sogenannten neuen Medien, die Havelocks Arbeit — obwohl diese nicht bzw. nur ganz am Rande289 über die neuen Medien handelt — in die Diskussion gebracht haben. Die von McLuhan etwas blauäugig bejubelte 'neue Oralität' ermöglicht zweifellos eine im 'Zeitalter des Buches1 und im 'Zeitalter der Schrift' weniger gut denkbare Sensibilität dafür, daß Sprache als bloß gesprochene, als geschriebene, gedruckte und elektronisch übertragene nicht mehr dieselbe ist. So hat mehr oder minder die gesamte Sprachphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, befangen im unreflektierten Selbstverständnis der Schriftkultur, kaum zwischen oraler und literaler Sprache unterschieden und die Schrift als bloßes 'Supplement' (Rousseau) der Rede betrachtet. 290 Havelock knüpft an die von dem Altphilologen M. Parry in den 30er Jahren gewonnenen Erkenntnisse über die weitgehende Oralität der homerischen Epen an. 291 An der formelhaften Sprache von Ilias und Odyssee konnte Parry nachweisen, daß es sich um ursprünglich mündlich tradierte Dichtungen handeln muß, wobei er eine Reihe von mnemotechnischen Sprachmitteln aufwies, die nur in mündlicher Rede einen funktionalen Sinn haben. Die Funktion sprachlicher Stilmittel wie Rhythmus, Reim, Parallelismus als Mnemotechniken der mündlichen Überlieferung wurde von Parrys Schüler A. Lord in seinen Studien über die jugoslawischen Gusjaren bestätigt.292 Parrys Entstehungstheorie der homerischen Epen blieb jedoch insofern undifferenziert, als sie die in diesen Epen offenkundige Verflechtung oraler Tradition und anfänglich-literaler Bedingungen außer acht ließ. (Wie beim Nibelungenlied, so ist auch bei den homerischen Epen anzunehmen, daß sie nicht in der schriftlich überlieferten Form auch schon mündlich vorgetragen wurden, sondern daß die rein mündlichen Versionen kürzere 'Lieder' waren, die erst unter literalen Bedingungen zu einer 'Großerzählung' zusammengefaßt worden sind.) Überdies verzichtete Parry auf eine Generalisierung seiner homerischen Beobachtungen im Sinne einer Kulturtheorie bzw. einer 'oralen Noetik'. Obwohl der Ausdruck 'orale Noetik' erst von Ong geprägt wurde, trifft er ohne Einschränkung auch für die theoretische Bemühung Havelocks zu, in allgemeiner Weise die verschiedene 'Geistesverfassung' (state of mind) oraler und literaler Kulturen zu beschreiben. In dieser Beschreibung dienen Oralität und Literalität gegenseitig als Antifolie, wobei natürlich dem methodischen Problem, daß der Beschreibende — als Angehö-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

riger einer literalen Kultur — die Oralität nicht genuin, sondern nur ex negativo begreifen kann, Rechnung getragen wird. Oralität und Literalität sind Kulturverfassungen, historisch-anthropologische Verhaltensweisen, deren innere Logik sich auf die Bedingungen der jeweils dominierenden Kommunikationstechnologie zurückfuhren läßt. Was in ihnen als Erfahrung und wie solche Erfahrung begegnet, ist zum einen von den Möglichkeiten der betreffenden Kommunikationstechnik vorgezeichnet. Zum anderen hat jedoch auch die Technologie selbst — die sich ihrerseits ja weiterentwickelt und durch die Vernetzung mit anderen Technologien neue Kommunikationsmöglichkeiten aufbaut — innovativen, erfahrungsaufschließenden Charakter. Ist Oralität die ausschließliche Kommunikationstechnologie, so ist das menschliche Gedächtnis in seiner Funktion der Informationsspeicherung allein auf sich selbst angewiesen. Nur aus dem Gedächtnis selbst können also Informationen abgerufen werden. Dies zwingt zu einer Ökonomie nicht nur der Speicherang selbst, sondern auch schon der Wahrnehmung und der intellektuellen Verarbeitung des Wahrgenommenen. Das Ökonomieprinzip des nichtschriftlichen Gedächtnisses zwingt fürs erste zur Konzentration auf das konkret Verbindliche und Brauchbare. Man wird sich Uberflüssiges nicht merken und es demnach auch schon von vornherein nur in geringerem Maß wahrnehmen und zum Gegenstand seiner Überlegungen machen. 293 Ein erstes kennzeichnendes Gegensatzpaar im Hinblick auf oral-literal ist: konkreter versus abstrakter Wirklichkeitsbezug. Abstrakte Begriffe und Kategorien sind in der Oralität nur ansatzweise zu finden. 294 Ein weiteres Merkmal ist, daß sich die Informationsspeicherung nur über das Medium lebensnaher 'Geschichten' vollzieht. Auch Sachinformationen — bei Homer etwa: Anleitungen zum Schiffsbau, Ackerbau, Kriegshandwerk u.dgl. — sind in konkrete Erzählungen mit konkreten Handlungen und Personen eingepackt. Ein weiteres Merkmal ist die mit oralem Denken verbundene Emotionalität, die fehlende innere Distanz von Erzähler/Zuhörer gegenüber dem Erzählten. 295 In Piatons Phaidros macht der ägyptische König Thamus gegenüber dem Gott und Kulturheros Theut vier Bedenken gegen die Schrift geltend296: (1) daß das Gedächtnis dann nicht mehr gefordert werde und so die Qualität des Denkens nachlasse, (2) daß sie die Sprache mumifiziere und 'stumm' mache, (3) daß sie sich notwendigerweise jedwedem Mißverständnis der Interpretation des Lesers aussetze und (4) daß sie an die Stelle des Ernstes im Gespräch ein oberflächliches Spiel mit Worten und Gedanken setze.297 Lesen wir diese Aussagen — selbst wenn man sie sachlich gelten läßt — gegen den Strich, lassen sich aber auch die Vorzüge der Schrift gegenüber der Oralität formulieren, nämlich (1) Gedächtnisentlastung und dadurch Freiwerden für anderweitige intellektuelle Tätigkeiten, (2) Herausheben und Elaborieren des Denkens aus der Verflechtung mit konkreten Situationen und Problemen, (3) Ausweitung interpretativen und damit auch vergleichenden, abschätzenden Denkens und (4) Distanz zur unmittelbaren Emotionalität des Denkens. Erst die Schrift ermöglicht also — neben einer erheblichen quantitativen Steigerung speicherbaren und jederzeit abrufbaren Wissens — abstrakte Begrifflichkeit und Theorie, somit auch Theologie, Jurisprudenz, Wissenschaft und Philosophie.

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Mediencharakter der Erfahrung

Was Havelock an Erkenntnissen aus altphilologischem Quellenmaterial gewinnt, entdeckt aber auch die Ethnologie in rezenten sowie jüngstvergangenen Kulturen. Havelocks auf den geografischen und geschichtlichen Raum des alten Griechenland beschränkte Untersuchungen finden in der weltweiten ethnologischen Forschung entsprechende Parallelen. So hat z.B. Jack Goody in The Logic of Writing and the Organization of Society298 die Rolle der Schriftlichkeit für die Hochreligion, die entwickelte Geldwirtschaft, die entwickelte Bürokratie und das entwickelte Recht herausgearbeitet. Bereits in den 30er Jahren hat außerdem der russische Psychologe Aleksandr R. Lurija eine — freilich erst 1974 im russischen Original publizierte und 1986 auch auf deutsch erschienene — Untersuchung über das Denken oraler, literaler und semi-literaler Versuchspersonen in Usbekistan und Kirgisien angestellt299, deren Ergebnisse sich mit den Untersuchungen von Havelock, Ong, Goody, Watt u.a. völlig decken. Die genannten Forscher gehen davon aus, daß der Übergang von der Oralität zur Literalität zwar als intellektueller Fortschritt, nicht jedoch als einliniger und ungebrochener Fortschritt zu werten sei. Sie vertreten damit — der Sache nach — ein Konzept der 'gebrochenen' Aufklärung. Bei Medienrevolutionen sei stets eine kombinierte Gewinnund Verlustrechnung an kommunikativen, intellektuellen und auch emotionalen Fähigkeiten und Leistungen — und d.h. auch: an Erfahrungszwängen und Erfahrungsmöglichkeiten — anzustellen. Dies gilt zweifellos auch für den rezenten Umbruch in der Medienlandschaft. Schwemmer nennt als Charakteristika der neuen Medien die drei Momente der 'Nachträglichkeit', der (neuen) 'Unmittelbarkeit' und der 'Vergegenwärtigbarkeit. 300 'Nachträglichkeit' meint, daß das computerisierte Denken die direkte menschliche Wahrnehmung überspringt und uns nur noch die bereits elektronisch manipulierten Daten wahrnehmen läßt. 'Unmittelbarkeit' und 'Vergegenwärtigbarkeit' meinen, was Heidegger als die 'gleichzeitige Aufhebung von Nähe und Ferne' bezeichnet hat und was Baudrillard zu seiner 'Simulacrum'these führt: daß die 'neue Oralität' Konkretionen vorspiegelt, die keine sind, und den Unterschied zwischen Vermittlung und Vermitteltem, zwischen Medium und Inhalt sowie zwischen den Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verwischt. Anders als Baudrillard oder der Fernsehkritiker N. Postman301 interpretiert Schwemmer jedoch diese Charakteristika nicht als bloße Verluste, sondern als Ambivalenzen: Gefahren, meint er, sollen zwar erkannt, die durch sie bezeichneten Situationen aber ganzheitlich gesehen und auch als Chancen genutzt werden. 302

1.4.3.3

Medium, Mythos und Aufklärung

Medienphilosophie ist also eine Version von Kulturphilosophie. Letztere war — in ihren klassischen Konzeptionen etwa bei Spengler, Toynbee u.a. — ausgiebig mit dem Problem des Kulturpessimismus beschäftigt. Nicht nur organizistische Geschichtstheorien sind für den Gestus der Resignation anfällig. Die meisten älteren Kulturphilosophen sind — von sonnigen Gemütern wie K.R. Popper einmal abgesehen — raben-

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

schwarze Pessimisten. Dies gilt nur in sehr beschränktem Maß auch für die gegenwärtigen Medienphilosophen, so etwa für Postman, während McLuhan oder Flusser euphorische Befürworter der neuen Medien sind. Demgegenüber bilanzieren Havelock, Ong, Goody oder auch Schwemmer — der zwar nicht ausdrücklich als Medienphilosoph zu bezeichnen ist, aber die Medienthematik in seine Erfahrungstheorie integriert — eine ausgewogene Gewinn-Verlust-Rechnung. Die Frage des Kulturpessimismus bzw. -Optimismus läßt sich im übrigen auch als Frage der Affinität bestimmter Medien zu Mythos bzw. Aufklärung reformulieren. Bereits Nietzsche interpretierte — in einer Art rousseauistischer Deutung der Antike — den Schritt vom Mythos zum Logos als Kulturverfall. Aleida und Jan Assmann3m, die Havelock — in beiden Punkten, wie ich meine, nicht ganz berechtigt — sowohl Graecozentrismus als auch die Reduktion von Kulturtheorie auf eine Theorie bloßer Kommunikationstechnologie vorwerfen, sehen in Havelocks Beschreibung des Übergangs von der primären Oralität zur Literalität — und hierin ist ihnen zuzustimmen — die medientheoretische Konkretisierung der Formel Wilhelm Nestles 'Vom Mythos zum Logos'. 304 Was bei Nestle und in der gängigen Philosophiegeschichtsschreibung als immanenter, nach außen hin und von außen her unerklärlicher Wandel des menschlichen (bzw. speziell des griechischen) Geistes dargestellt werde, finde bei Havelock eine gewissermaßen materialistische Erklärung. (Eine materialistische Erklärung des Entstehens der griechischen Philosophie zu geben, hatte freilich auch schon der Marxismus versucht, der aber nicht die literale Revolution, sondern die Änderung der antiken Produktionsverhältnisse als den entscheidenden Schritt zum Logos hin verantwortlich gemacht hatte.) Havelock betont allerdings an vielen Stellen seines Werks, daß sich die kulturellen Wirkungen der Schrift nicht aus ihrer bloßen Anwendung bzw. aus ihrer bloßen prinzipiellen technischen Verfügbarkeit ergeben, sondern daß die Technologie zusätzlich ihre spezifischen politischen, sozialen, ökonomischen und religiösen — und damit: ein Ensemble von ideologischen — Bedingungen brauche, um diese Wirkungen entfalten zu können. So habe sich in Griechenland beispielsweise das Fehlen einer das Schreibmonopol beanspruchenden Priesterkaste dahingehend ausgewirkt, daß hier die Schrift — im Gegensatz etwa zur Welt des Vorderen Orients — nicht als magische und übernatürliche Kunst gewertet und gehandhabt wurde, sondern als ein profanes Werkzeug, um Texte aller Art aufzuschreiben. Daher hat nach R. Pfeiffer in Griechenland "eine 'Tyrannei des Buchs' sich nie ausbreiten können, wie es in der morgenländischen oder der mittelalterlichen Welt geschah". 305 Aufklärung — sowohl die antike wie die neuzeitliche — beruft sich auf Vernunft und definiert sich selbst als Überwindung des Mythos. Für Havelock ist primäre Oralität die uneingeschränkte Herrschaft des Mythos. Piatons Wendung gegen die Dichter, die er aus seinem Idealstaat verbannen will, ist für Havelock eine Kriegserklärung gegen den Mythos, denn die Dichter — jene Sprach- und Gedächtnisspezialisten, die in der primären Oralität das traditionelle Kulturwissen in Form von Geschichten bewahren und weitergeben — sind die Träger, die 'Funktionäre des Mythos'. Was sie in ritualisierter Sprache und auf dem Wege quasi ritueller Darbietung mitteilen, sind Inhalte, die sowohl Darsteller wie Zuhörer stark emotionalisieren, zu uneingeschränkter Identifika-

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Mediencharakter der Erfahrung

tion verleiten und so eine kognitive Autorität ausüben, der gegenüber sich Distanz, kühl-abgewogenes und persönliches Urteil und somit kritische Prüfung nicht etablieren können. Der Mensch der oralen Kultur hat keine Distanz zu den Inhalten seiner Kultur, er ist — notwendigerweise — Kollektivist. Die Schrift aber — zumal das griechische Alphabet, das geschichtlich von Anfang an vornehmlich profan verstanden und verwendet wurde — schafft derartige Distanz, schafft die Möglichkeit, daß der Einzelne sich von der Gruppe zurückzieht und unter Umständen nur noch mit Geschriebenem und mit einem durch Schrift ermöglichten individuellen Selberdenken kommuniziert. Havelock geht so weit zu behaupten, daß sich auch die Begriffe Seele und Ich erst im Zuge der Schriftkultur herausgebildet hätten. 306 Die Schrift ermögliche die Trennung des Wissenden vom Wissen, und diese Trennung bedeute nicht nur Entfremdung, sondern eben auch die Ermöglichung der souveränen, souverän denkenden Persönlichkeit, die Ermöglichung von Kritik und intellektuellem Fortschritt. Damit erweise sich die Schrift als ein Vehikel der Aufklärung und als Waffe gegen den Mythos. 307 Aufklärung freilich hat sich mit ihrer — von Horkheimer und Adorno so benannten — 'Dialektik' auseinanderzusetzen. Nicht nur ist der Mythos — der als solcher ja nicht völlig alogisch ist, sondern eine eigene Art von Rationalität darstellt — gewissermaßen eine Vorform von Aufklärung. 308 Auch die Aufklärung selbst kann in Irrationalität umschlagen und 'neue Mythen' produzieren. Bereits Horkheimer und Adorno haben diese 'neuen Mythen' mit den neuen — postliteralen — Medien wie Film und Hörfunk in Verbindung gebracht. Was Hitler und Roosevelt — bei aller Verschiedenheit — gemeinsam hatten, war, daß sie sich als Politiker der neuen Medien als mächtiger Hilfsmittel bedienten und daß sie auf die Massen eine ähnlich suggestiv-autoritäre Wirkung ausübten wie vormals die Dichter der primären Oralität.309 Die postliteralen Medien mit ihrer 'zweiten Oralität' schaffen — und dies wird von dem in gewisser Weise entfremdeten und vereinsamten Angehörigen der literalen Kultur vorerst als Fortschritt und als Befreiung empfunden — eine neue Lebendigkeit und Unmittelbarkeit der Kommunikation. Sie verringern auch den Aufwand der Kommunikation. (Ein Telefonanruf erfordert weniger Aufwand als ein Brief.) Was die postliteralen Medien aber wieder weitgehend zerstören, sind die Vorteile der Schrift: auf Distanz und in die Innerlichkeit gehen zu können, sich in Ruhe selbst ein ausgewogenes kritisches Urteil zu bilden, das Geschriebene (und damit das Eindeutige und stets Wiederholbare) zu überdenken, sich der Emotionalität des Augenblicks und der Gruppe zu entziehen. Die postliteralen Medien untergraben somit die Autonomie und die in der ('schriftgestützten') Aufklärung erworbene Vernünftigkeit des Individuums. Sie untergraben das Individuum selbst und setzen an seine Stelle wieder den kollektivierten, distanzlosen, unkritischen, für Mythen anfälligen Menschen. Dennoch ist bei einer näheren Sicht der Dinge diese Argumentation zumindest einseitig. Die These, die neuen Medien müßten zwangsläufig von der Aufklärung weg und zurück in den Mythos führen, ist nicht stichhaltig. Seit es die neuen Medien gibt, registrieren wir nämlich nicht nur die Desavouierungen der Aufklärung, die Rückfälle in den Mythos, sondern immer wieder auch neue Durchbrüche der Aufklärung und die

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Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Überwindung der neuen Mythen. Diese neuen Mythen — das hat Cassirer sehr klar gesehen310 — sind kurzlebig, da sie, bei aller Emotionalisierung, die mit ihnen verbunden sein mag, niemals die Authentizität und die ausschließliche Autorität der alten Mythen — der Mythen der primär-oralen Kultur — erreichen können. Die neuen Mythen sind Regressionen, sind Fluchtbewegungen aus einem bereits erreichten, elaborierten Bewußtseinszustand der Kultur, dem die Psyche des modernen Menschen zwar nicht immer zu entsprechen vermag, den sie aber auch nicht einfach von sich werfen kann, ohne daß sich der elaborierte, kritische Bewußtseinszustand nicht über kurz oder lang wieder zurückmelden würde. Diese Herausforderung an die moderne Persönlichkeit — daß sie den Status der Aufklärung, des autonomen Selbstbewußtseins, längst erreicht hat, ihm aber nicht durchgängig entsprechen kann, daß sie aus ihm in obskure Formen 'neuer Geborgenheit' zu flüchten sucht und daß sie dennoch nicht umhin kann, diese 'neuen Geborgenheiten' als billige Scheinwelten zu durchschauen — ist, wie gesagt, mit der Mediensituation der Gegenwart in Verbindung zu bringen. Es stellt eine von der populären Medienphilosophie propagierte Verzerrung dar, wenn von einem umstandslosen 'Tod des Buches' und einem unwiderruflichen 'Ende der Schrift' gesprochen wird, denn Schrift und Buch existieren ja neben und mit den elektronischen Medien weiter, sie gehen mit diesen eine neue und komplexe Verbindung ein. Diese Verbindung bedeutet nicht einfach die Paralyse der Errungenschaften der Buchkultur. Die Ergänzung durch die neuen Medien hat auch positive Effekte. Die Vorteile der einzelnen Medien können bis zu einem gewissen Grad summiert, ihre Nachteile paralysiert werden. Und dadurch ergibt sich eine Durchmischung und Steigerung von Erfahrungsmöglichkeiten, die es weder in der primären Oralität noch in der 'reinen' Schrift- und Buchkultur gegeben hat.

1.4.3.4

Die 'Dialektik' der Medien und Symbolismen

Ich habe darzustellen versucht, daß das am Phänomen orientierte Nachdenken über die Erfahrung — deren verzerrten Begriff man im Alltag in vager Form meist einfach voraussetzt — konsequenterweise zur Lebenswelt-, Vernunft-, Symbol- und M«fte«thematik hinführt und dann ein gegenüber tradierten Vorstellungen verändertes Wirklichkeitsbewußtsein verlangt. Unsere menschliche Wirklichkeit ist uns weder einfach vorgegeben, so daß wir sie direkt oder abbildlich erkennen und uns ihr anpassen könnten, noch ist sie gänzlich (in individueller oder kollektiver Weise) unser willkürlicher Entwurf, unsere Setzung. Empirismus und Positivismus einerseits, die verschiedenen Spielarten der Transzendentalphilosophie andererseits, die den Gegebenheitsakzent bzw. den Entwurfsakzent der Wirklichkeit entweder absolutsetzen oder doch zumindest überbetonen, haben den alltäglich-vagen Begriff der Erfahrung präzisiert und theoretisch elaboriert in einer Weise, die dem, was wir tatsächlich erfahren, nur ungenügend gerecht wird. Der philosophischen Tradition ist entgegenzuhalten, daß sie den Begriff der Erfahrung weitgehend schief dargestellt und somit die Darstellung der menschlichen Wirklichkeit, um

292

Mediencharakter der Erfahrung

die es ihr thematisch ja geht, verfehlt hat. Der Grund dafür liegt in den leitenden weltanschaulichen Paradigmen, die gewissermaßen als umfassende Großideologien eine Kultur bestimmen und an denen sich auch die Philosophie orientiert — und zwar in der Weise, daß die Maßstäbe dieser Großideologie dann auch die Maßstäbe der Philosophie darstellen. Der Glaubenstreue, die die mittelalterliche Philosophie (etwa in ihrem Bemühen um Gottesbeweise) zu demonstrieren sucht, entspricht die Wissenschaftsgläubigkeit der neuzeitlichen und der modernen Philosophie. Dem Primat der 'Glaubenserfahrung' folgt historisch der Primat der 'wissenschaftlichen Erfahrung'. Beide Erfahrungsformen treffen sich darin, daß es sich bei ihnen um verengte Ausformungen und Zurechtstilisierungen der gesamten, vielfältigen Welterfahrung handelt. Daß sie diese gesamte, vielfältige Welterfahrung ausgeklammert hat, darin besteht denn auch das schlechte Gewissen der szientistischen Philosophie. Man mag das beispielsweise darin erkennen, daß Kant gewissermaßen additiv der theoretischen Vernunft eine praktische und eine ästhetische hinzufügt. Das Ganze des Erfahrungsspektrums wird aber auch dadurch nicht wiedergewonnen, daß man — wie in der Romantik — die Kunst anstelle der Wissenschaft als die fundierende Dimension des menschlichen Daseins und Erkennens ansetzt.311 Kognitivistische Grundbegriffe durch ästhetische zu ersetzen, führt nicht aus der Sackgasse des Relativismus und sachlich unangemessener Hierarchien heraus. Auch methodische Bipolaritäten, die man ansetzt und deren doppelter Zugriff die Wirklichkeit als ganze einholen soll —· etwa eine Bipolarität zwischen Wissenschaft und Glauben oder zwischen Wissenschaft und Kunst —, stiften nicht den Gesamthorizont, um den es geht, sondern erweisen sich als verengter Wirklichkeitszugang. Die prozessual-symbolisch-mediale Theorie der Erfahrung hingegen, die auf die Überlegungen einiger Klassiker (James, Bergson, Whitehead, Cassirer), aber auch neuerer Autoren (Langer, Goodman, Schwemmer) zurückgreift, zeigt, daß es nicht einfach den — monistischen, dupliziten oder hierarchisch-pluralen — Zugang des menschlichen Denkens zur Wirklichkeit gibt, sondern vielmehr — in historisch-kontingenter Weise, verschieden nach Ort und Zeit, nach Kultur und Epoche — eine apriorisch nicht bestimmbare und abgrenzbare Vielzahl von Zugängen, die jeweils Erfahrung ermöglichen und von denen her sich Art und Reichweite von Erfahrung bestimmt. Um Erfahrung und Denken so einzuschätzen, bedarf es der Abkehr von einer pointiert kognitivistischen Weltsicht. Nicht Begriffe und Abstraktionen, wie sie das diskursive Denken ausbildet, sind die fundamentalen Zugangs-Elemente zur Wirklichkeit (sie sind nur eine Möglichkeit unter vielen), sondern verschiedenartige, vielfach auch unbewußt verwendete Symbolismen, die sich über und als Medien realisieren und dann unsere menschliche Wirklichkeit auch wirklich darstellen. Erfahrung ist somit immer eine symbolisch-medial vermittelte. In dieser Vermittlung liegt aber eine Spannung, die sich bis zur Sprengkraft — zum Zerbrechen der jeweiligen Symbolismen und Medien — steigern läßt. Kein Symbolismus und kein Medium ist der/das einzig mögliche. Dadurch sind Symbolismen und Medien stets relativ in ihrem Darstellungswert von Wirklichkeit und Erfahrung. Deren Gesamtbereich decken sie niemals ab. Unter dem Maßstab der 'Vollkommenheit' sind sie zwangsläufig mit dem 'Mangel' behaftet, daß sie nicht 'alles' darstellen können, sondern immer nur einen Teil des Ganzen.

293

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

Dieser (als 'materia prima' definierte) 'Mangel' wurde für die scholastische Philosophie zum Kriterium der Unterscheidung von Mensch und Gott, von endlichem und unendlichem Erkennen. Die scholastische Philosophie folgte dabei allerdings einer von Aristoteles eingeführten spekulativen Kategorie und nahm eine Bewertung (im Sinn einer Abwertung des besagten 'Mangels' gegenüber einem normativ veranschlagten Ideal der 'Vollkommenheit') vor, die ideologischer Natur ist und aus phänomenologischer Sicht als unhaltbar bezeichnet werden muß. Denn Phänomenologie kann immer nur unsere menschliche Wirklichkeit und unsere menschliche Erfahrung zum Maßstab nehmen, nicht die im wahrsten Sinn des Wortes erfahrungstranszendenten Attribute eines zum maximalen Intellekt stilisierten Gottes. In phänomenologischer Perspektive ist daher die 'Vollkommenheit' nicht als vermutete Eigenschaft irgendeines außermenschlichen Wesens zu beschreiben, sondern als der offene Horizont aller Endlichkeit, als die stets mögliche Transzendenz unserer jeweils-endlichen Gedanken und Handlungen, als das potentielle Darüberhinaus dessen, was jeweils 'ist'. Was jeweils 'ist', d.h. was wir konkret denken und tun, geschieht immer gleichzeitig damit, daß anderes nicht gedacht und getan, daß es verdrängt oder aufgeschoben, ausgeklammert oder einfach (auch nur in seiner Möglichkeit) nicht bemerkt wird. Jeder Gedanke und jede Tat, jedes Faktum und jedes Seiende setzt per se eine Grenze, die (positiv) eingrenzt und (negativ) ausgrenzt. Es scheint nicht notwendig zu sein, dieses Phänomen so oder so zu bewerten. Nicht zu übersehen ist aber die erwähnte — mit dem Verweis auf das 'Andere', das Jenseits der jeweiligen Grenze, gegebene — Grundspannung, in der jeder Gedanke, jede Handlung, jedes Faktum, jedes Seiende steht. Der einzelne Gegenstand, die einzelne Kategorie, der einzelne Verständniszusammenhang, das einzelne Symbol, der einzelne Symbolismus und das einzelne Medium — sie alle haben, als ein Endliches, eine solche Grenze und stehen in Spannung zum jeweils möglichen Anderen ihrer selbst. Diese Spannung impliziert auch die Spannung zum Ganzen der Wirklichkeit und Erfahrung, das als ein gegenständlich oder kategorial einholbares Ganzes zwar nicht faßbar ist, aber als offener Horizont jeden Schritt unseres Denkens und Handelns begleitet und ihn dabei zugleich rechtfertigt und relativiert. Dieses Andere-seiner-selbst zeigt sich bei jedem einzelnen Begriff, Symbolismus oder Medium schon in seiner Referenz zu anderen — geläufigen und gehandhabten — Begriffen, Symbolismen und Medien. Jeder Begriff, jeder Symbolismus und jedes Medium weisen daher über sich selbst hinaus und weisen auf größere begriffliche, symbolische und mediale Zusammenhänge, die zwar noch immer nicht das absolute Ganze der Erfahrung darstellen, aber eben doch weitere Strukturen des Wirklichkeitsverstehens erschließen: Strukturen, in denen Einzelnes durch Anderes und Mehrfaches sich spiegelt, fortführt, abrundet und ergänzt — und dabei (ganz im Sinn der differance von Derrida) 312 nie zur Ruhe kommt. Was wir als unsere Erfahrung beschreiben, hat ontologische und anthropologische Relevanz. Die Wirklichkeit des Menschen — unsere Wirklichkeit — besteht ganz wesentlich darin, sich Wirklichkeit zu vergegenwärtigen, sich Bilder und Begriffe — im weitesten Sinn: Symbole — von der Wirklichkeit zu schaffen und vermittels dieser Symbole wieder an die Wirklichkeit heranzutreten, sich mit ihr und auf sie einzulassen,

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Mediencharakter der Erfahrung

sie zu verändern und zu gestalten und sich selbst von ihr verändern und gestalten zu lassen. Denken, Vernunft und Erfahrung sind traditionelle Titel, um diese sachliche Einheit von 'Mensch und Welt', ihre wechselseitige Konstituierung und wechselseitige Dynamik, zu beschreiben. Wenn man Distanz zu Hegels begrifflichen Intentionen hält, ist es durchaus sinnvoll, diese Dynamik — wie Cassirer es tut — als Dialektik zu bezeichnen. 313 Indem sie in Spannung zu anderen, nicht realisierten Möglichkeiten der Repräsentation steht, hat jede Symbolisierung den Charakter der Begrenztheit, der Relativität und Vorläufigkeit. Jede Symbolisierung hat dadurch aber auch prinzipiell den Charakter der Transzendenz: des Hinausweisens über sich selbst, des Hinausweisens auf einen weiten, möglicherweise unabschließbaren Horizont anderer und noch möglicher Symbolisierungen. Die von uns in der Lebenswelt — in Alltag und Wissenschaft, Kunst und Religion, Sprache und Schrift — verwendeten Symbolismen sind allesamt spezielle Zugriffe auf die eine, umfassende Wirklichkeit, in der wir stehen. Wir verwenden diese Symbolismen freilich meist in einer so selbstverständlichen und abgestumpften Weise, daß ihr Transzendenzcharakter nicht sichtbar wird. Sie sind dann Repräsentationsformen der Erfahrung, die den Anschein erwecken, als seien sie die naheliegendsten, ja vielleicht sogar die einzig möglichen. Sowohl die Wirklichkeit selbst wie unser Zugriffspotential auf sie wird dadurch verarmt und verengt. Wir haben dann verlernt, auf den unendlichen Horizont der Erfahrung zu achten, unsere bisherigen Erfahrungen aufs neue einer Überprüfung auszusetzen, neue Erfahrungen zu gewinnen und die alten zu bereichern und zu ergänzen. Wir drehen uns dann in der Immanenz von Regelkreisen und treten methodisch auf der Stelle. Wenn man T.S. Kuhns Begriff der 'normal science' 314 auf die gesamte Lebenswelt überträgt, könnte man vom 'normalen', d.h. etablierten und nicht hinterfragenden, nicht problematisierenden Umgang mit Symbolismen sprechen. Man kann aber auch Heideggers daseinsanalytische Formel von der 'Verfallenheit an das Man' zur Veranschaulichung des Gemeinten heranziehen.315 Sowohl Kuhn wie Heidegger betonen, daß der Status von 'Normalität' bzw. 'Verfallenheit' keine oder zumindest nicht primär eine moralische Wertung beansprucht, sondern daß er letztlich — freilich nur als relatives Moment — sogar unverzichtbar ist für die Stabilität des Bewußtseins, für die Lebenstüchtigkeit sowohl des Einzelnen wie der Sozietät. Es geht um die Sicherheit in der Realitätsbewältigung, die vor allem für die frühen Kulturen von so großer Bedeutung ist. Mit den die 'Normalität' und 'Verfallenheit' konterkarierenden Begriffen 'Revolution' und 'Eigentlichkeit' weisen Kuhn und Heidegger freilich darauf hin, daß die Immanenz von Symbolisierungen auch aufgebrochen werden kann und unter Umständen sogar aufgebrochen werden muß. Gerade Kuhn hat gezeigt, daß dieses Aufbrechen gewohnter Paradigmen vielfältig-kontingente Gründe hat, die vor allem in sozialen Zusammenhängen zu orten sind. Hinter der historischen Entwicklung einer Wissenschaft steht keine strenge immanente Logik. Dies gilt auch für andere Symbolismen — für Kunst, Religion, Technik, Sprache. Es gibt aber auch — und dies ist eine Pointe gegen Hegel — keine die einzelnen Lebensbereiche und Symbolismen übergreifende, allgemeine geschichtliche Logik, die

295

Grundzüge einer Theorie der Erfahrung

der Entwicklung der einzelnen Symbolismen von außen oder innen her eine berechenbare, vorhersehbare Struktur aufzwingen würde. Dennoch wäre es falsch zu sagen, die Entwicklung von Symbolismen sei beliebig. Da Symbolismen die menschliche Wirklichkeit repräsentieren, da sie somit dem Maßstab von Wahrheit verpflichtet sind, diese 'Wahrheit' jedoch nichts anderes ist als die (individuelle und/oder kollektive) Authentizität des an der Repräsentation interessierten, die Repräsentation handhabenden Menschen, sind sie insgesamt zwar kontingente, nicht aber willkürliche Modelle der Wirklichkeit selbst. Das Streben nach Wahrheit und Authentizität, auch wenn es an kein Ende kommt, scheint für den Menschen konstitutiv zu sein. Diese Konstitution ist nicht durchgängig. Sie kann pausieren, sie kann gänzlich umschlagen in Stumpfsinn und in den Drang zu blinder Wiederholung des Gewohnten und Längstgewußten. Doch dieses Erstarren, dieser Abbruch der Dynamik wird allenthalben in der Kultur — auf den verschiedensten Gebieten — auch immer wieder neu überwunden. Wissenschaften und Techniken, Methoden und Tätigkeiten, Künste, Realitätsvorstellungen und Lebensformen werden immer wieder revolutioniert. Weltanschauliche Paradigmen können Jahrtausende dominieren, aber sie sind nie gänzlich unangefochten, und ihre historische Wirksamkeit geht irgendwann zu Ende. Symbolismen werden in sich verändert und lösen äußerlich einander ab. Vor allem aber treten Symbolismen untereinander in immer neue Beziehungskonstellationen, verändern und vertauschen ihre Schwergewichte und schaffen immer wieder neue Qualitäten von Weltbezug, von Erfahrung. Symbolismen und Medien sind Repräsentationssysteme, die niemals in sich abgeschlossen sind, sondern in vielfältiger kommunikativer Verbindung mit anderen Symbolismen und Medien stehen. Was den Drang zu solcher Verbindung motiviert, ist die vorhin beschriebene Spannung des einzelnen Symbolismus und Mediums zum 'Anderen seiner selbst', zur eigenen Relativität und zur möglichen Ergänzung, die Spannung zum unendlichen Horizont aller potentiellen Möglichkeiten von Repräsentation. Was die Verbindung und das Aufbrechen der Immanenz einzelner Symbolismen und Medien motiviert, ist der Transzendenzcharakter jeglichen Symbols und — gleichsinnig — jeglichen Mediums.

296

2 Das Ganze und die Grenzen der Erfahrung: Die Mystikdiskussion in der neueren Philosophie

2.1

Erfahrung, Rationalität und Mystik

Die im vorhergehenden Abschnitt erörterten lebensweit- und symboltheoretisch akzentuierten Philosophieentwürfe laufen auf 'weiche' Versionen des Vernunft- und Erfahrungsbegriffs hinaus. Vernunft und Erfahrung werden in diesen Theorien nicht als Gegensätze und auch nicht als ihrem 'Anderen' gegenüber streng abgeschüttete 'Inseln' 1 verstanden, sondern als zwei sich überschneidende Perspektiven eines Phänomens — nämlich des Grund-Phänomens allgemeinen menschlichen Existierens. Dieses Grund-Phänomen besteht — hier ließe sich denn auch der Ansatz der gadamerschen Hermeneutik bemühen2 — in einem fortlaufenden Prozeß von Verstehensakten. Es geht dabei aber nicht einseitig um die interpretative Aneignung von Welt durch ein transzendentales Subjekt, sondern durchaus um ein objektives, in der Realität selbst gegebenes Wechsel- und Zusammenspiel von 'Geist' und 'Natur', um ein ständiges gegenseitiges Einwirken und Formbilden, das in historischem Fortgang Weisen und Gestalten der Erfahrung und Weisen und Gestalten der Rationalität produziert. Erfahrung und Rationalität werden somit radikal als geschichtlich und veränderungsfähig aufgefaßt. Sie sind Träger und Resultat des in einem offenen, kontingenten Horizont sich vollziehenden Prozesses der Subjekt-Objekt-Interaktion, des Prozesses, der unsere primäre Wirklichkeit darstellt, die sich weder auf ein Reich der 'reinen Formen' (also der 'Vernunft' im klassischen Sinn) noch auf den 'Fluß selbst' (auf eine formenunabhängige Erfahrung also) reduzieren läßt. Die primäre Wirklichkeit, auf die sich Erfahrung bezieht und die sich in kontingenten Erfahrungsgeifa/ien repräsentiert, stellt dadurch immer schon ein Rationalisierungs- bzw. Vernunftgeschehen dar — dadurch nämlich, daß sie ein sich selbst organisierender Prozeß ist, der sich punktuell-teleologisch in selbstreferentiellen Ordnungsmustern der Wahrnehmung, der Interpretation und des operativen Umgangs erfüllt. Ohne diese 'kristallisierenden' Ordnungsmuster — die der naive Empirismus als die 'Wirklichkeit selbst' und die Transzendentalphilosophie als 'apriorische Formen' mißversteht — ist der 'reine' Fluß der Erfahrung letztlich nicht denkbar und wahrnehmbar. Doch führt eine solche Reflexion von Wahrnehmung und Erfahrung auch zu der Erkenntnis, daß sich die Wirklichkeit keineswegs in ihren Repräsentationsformen erschöpft, sondern daß diese prinzipiell stets wieder zur Disposition stehen und nur als 297

Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Gestalten im Fluß und als Gestalten des Flusses authentischer Ausdruck von Erfahrung sein können. Auch die Vernunft ist prozessual — als die dynamische Struktur des Erfahrungsflusses — zu denken. Sie ist das sich aus der reflexiven Struktur von Erfahrung ergebende immanente Organisationsprinzip der Erfahrung, das nicht schlechthin mit dieser identisch ist bzw. sie differenzlos abbildet (das Mißverständnis des klassischen Empirismus), das aber auch nicht von außen an die Erfahrung herangetragen wird (das Mißverständnis der Transzendentalphilosophie). Es ist daher sicher nicht verkehrt, wenn man das Phänomen Erfahrung in systemtheoretischer Terminologie als ein autopoietisches Geschehen bzw. als ein radikal offenes 'System' bezeichnet und Autopoiesis zum Rationalitätsprinzip der Erfahrung erklärt. Wie aber läßt sich unter den Bedingungen solcher Offenheit die — für eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Mystikbegriff so wichtige — Frage nach dem Ganzen der Erfahrung und/oder nach ihren Grenzen stellen und beantworten? Es scheint offenkundig: Eine ihren Gegenstand adäquat erschließende Erfahrungsphilosophie kann weder sinnvoll vom überschaubaren Ganzen noch von ein für allemal festzulegenden Grenzen der Erfahrung und der Vernunft sprechen. Sie beschreibt stattdessen die Struktur bestimmter — z.B. wissenschaftlicher, philosophischer, religiöser, künstlerischer oder alltäglicher — Erfahrungen, die alle vorläufig, revidierbar, erweiterbar und transformierbar sind, weil sie in einem prinzipiell offenen Gesamthorizont von Erfahrung stattfinden. Der Gesamthorizont kann abstrakt gedacht werden (als regulative Idee), er ist aber kaum konkret vorstellbar? Er kann allenfalls gefühlt und empfunden werden als die Vernetzung einer Erfahrung mit vielen anderen — synchron und/oder diachron untereinander verbundenen — Erfahrungen. Es ist dies freilich noch nicht die mystische Einheitserfahrung der 'unio', sondern vorerst nur das Gefühl und die Empfindung, daß wir in einer vielfältigen und vielfältig ineinander verwobenen Wirklichkeit leben. Sich diese Gesamtwirklichkeit als ein 'begrenztes Ganzes' vorzustellen4, ist sicherlich bereits eine metaphysische Idee, d.h. eine von der 'unmittelbaren' Erlebnisbasis differente Abstraktion. Es scheint nicht sinnvoll, eine solche Abstraktion um jeden Preis mit der konkreten, differenten und änigmatischen Welterfahrung zur Synthese bringen zu wollen. Das hieße nämlich nichts anderes als die Absicht, alle vorläufigen Einzelrepräsentationen der Wirklichkeit in eine abschließende Gesamtrepräsentation überzuführen. Die Frage ist, ob dies in systematischer Hinsicht überhaupt denkbar ist. Eine solche Gesamtrepräsentation hätte, selbst wenn sie als authentisches Konstrukt herstellbar wäre, nämlich zwei problematische Charakteristika: Erstens müßte sie den Repräsentierenden in die Repräsentation mit hereinnehmen, das Subjekt also im Objekt aufheben, d.h. eine differenzlose Selbstreferentialität leisten. Das aber ist rein begrifflich ein aporetisches Unterfangen. Zweitens würde eine solche Gesamtrepräsentation von Erfahrung und Vernunft die Erfahrung und Vernunft ihrerseits zum Stillstand bringen — sofern wir, in Übereinstimmung mit dem früher Dargelegten, davon ausgehen, daß Repräsentationen stets vorläufige, auf ihre eigene Überwindung hinarbeitende Kraft- und Ruhepunkte in einem unabschließbaren Prozeß sind, 'Schließungen der Form', die sich stets erneut der Dynamik von Differenz und Vielfalt aussetzen müssen.

298

Erfahrung, Rationalität und Mystik

Dennoch gibt es — innerhalb und außerhalb der akademischen Philosophie — diese Idee einer Gesamtrepräsentation. Es ist die Idee der Totalität, die zweifellos als Idee ein Faktum der menschlichen Geistes- und Kulturgeschichte darstellt. Fraglich scheint, ob und inwieweit man sie als Illusion, als in ihren Motiven vielleicht verständliche, aber logisch und/oder empirisch nicht haltbare Projektion menschlicher Repräsentationswünsche definieren kann. Die besagte Idee hat — von Verfechtern wie von Gegnern — vielfach das Etikett 'Mystik' erhalten, aber auch das Etikett 'Gnosis': teils in Anlehnung an eine vorhandene traditionelle Literatur und Terminologie, teils im Bemühen, für ein im eigenen Kontext neu und originär Gedachtes einen passenden Namen zu finden. Mit dem Problem dieser Etikettierung steht auch die Frage zur Diskussion, ob 'Mystik' eine reale, eine mögliche oder überhaupt keine Erfahrung sei und ob sie mit, ohne oder nur gegen die Vernunft behauptet werden könne. Im folgenden will ich exemplarisch auf eine Reihe neuerer philosophischer Ansätze — von Kant bis zur Gegenwart — eingehen, die nicht nur thematisch, sondern auch terminologisch an das Problem der Mystik als einer besonderen Weise von Erfahrung heranführen. Das Heranführen geschieht bei diesen Philosophen fast immer mit Hilfe einer der beiden Hauptstrategien der neuzeitlichen Vernunft, nämlich entweder als Ausgrenzung des Phänomens Mystik aus der Welt des Denk- und Erfahrbaren oder als seine Vereinnahmung vermittels eines entgrenzten Vernunft- und Erfahrungsbegriffs. Mystik wird entweder als das 'Andere' und 'Unfaßliche' gegenüber den (vermeintlich) klar abgesteckten Grenzen von Vernunft und Erfahrung veranschlagt, als das 'Undenkbare' und 'Übersinnliche', von dem billigerweise nicht mehr geredet werden dürfe (Kant, Wittgenstein, Mauthner), oder als der positiv behauptete Inbegriff allen Denkens und aller Erfahrung (Hegel, Bergson, Albert). Es gibt aber auch Interpretationsmöglichkeiten, die zwischen diesen beiden extremen Auffassungen liegen: so z.B. die Auffassung, daß Mystik eine tatsächliche und legitime, aber philosophisch unbeweisbare und daher quasi fideistische Option darstelle (Schopenhauer), oder daß es sich bei Mystik zwar um eine richtige Einsicht in das durch eine vorgegenständliche Dimension bestimmte Wesen aller Erfahrung handle, aber um eine Einsicht, die sich mit einer unhaltbaren Konsequenz verbinde — nämlich mit der Forderung nach einer neuen 'ÜberGegenständllichkeit' (Derrida). Obwohl der Großteil der genannten philosophischen Thematisierungen von Erfahrung — samt ihren Ausblicken auf die Mystik — insgesamt hinter der interpretatorischen Leistungsfähigkeit der prozessual-symbolisch-medialen Erfahrungstheorie zurückbleibt (sie handeln Erfahrung und Mystik zumeist auf einer vorwiegend begrifflichen und damit im Hinblick auf die Vielfalt der Lebenswelt allzu eingeschränkten Ebene ab), setze ich mich aus zwei Gründen mit ihnen auseinander: Zwar wird in diesen Konzeptionen in der Regel ein zu 'harter' und intellektualistischer Erfahrungs- und Vernunftbegriff angesetzt oder ein allzu 'weicher' und verschwommener. Doch sind sie für eine Analyse des Spannungsfeldes von Erfahrung und Mystik insofern von Interesse, als sie das Phänomen Geist — das Grundphänomen menschlicher Weltorientierung und Selbstverständigung — in einigen Aspekten besonders scharf herausarbeiten. Zweitens ist eine solche Ergänzung um so notwendiger, als sich innerhalb der bisherigen Symbolphiloso-

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

phie keine ausreichende, sondern nur eine marginale Thematisierung von Mystik finden läßt. Neuere Symbolphilosophen wie Langer, Goodman oder Schwemmer äußern sich zur Mystik überhaupt nicht. Bei Whitehead finden sich wenige, wenn auch durchaus erhellende Bemerkungen en passant. Cassirer freilich setzt sich — vor allem in einer längeren Passage am Schluß des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen — explizit mit Mystik auseinander, beschränkt das Thema aber auf den Erfahrungsbereich der Religion. Auch bei ihm kann man allenfalls von Ansätzen einer symboltheoretischen Mystiktheorie sprechen. *

Meine Darlegung philosophischer Mystik-Thematisierungen teilt sich in einen ersten Abschnitt (2.2), in dem exemplarisch ältere, sozusagen klassische Positionen (von Kant bis Wittgenstein) skizziert werden, und in einen zweiten Abschnitt (2.3), der zwei gegenwärtige Positionen behandelt. In beiden Abschnitten wird darauf verzichtet, Konzeptionen der populären Lebensphilosophie oder des (eng an diese anschließenden) New Age mit zu berücksichtigen. Popularphilosophen wie Rudolf Steiner, Karlfried Graf Dürckheim, Hermann Graf Keyserling, aber auch Teilhard de Chardin oder David Steindl-Rast kommen nicht zu Wort. Zwar ist das pauschale Urteil sicherlich unrichtig, diese Schriftsteller hätten nur spekulativen Unsinn bzw. — was nicht dasselbe ist — nur philosophisch Irrelevantes zu sagen. Doch ist die Auseinandersetzung mit dem von ihnen vertretenen 'Philosophie'typus, der einen eigentümlich exoterisch-esoterischen Semi-Diskurs zwischen Alltag, Religion, Wissenschaften, Ideologien und Fachphilosophie darstellt, für die Art von Philosophie, der ich mich verpflichtet fühle — eine Philosophie, die sich weder bestimmten Ideologien noch irgendwelchen schönen Gefühlen, sondern primär der Absicht auf Wahrheit verpflichtet weiß — ein gleichermaßen mühsames wie wenig ergiebiges Geschäft. Obwohl die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Diskursen — auch die zwischen sogenannter Popular- und Fachphilosophie — in einer Kultur de facto stets durchlässig sind und eine solche Durchlässigkeit auch normativ uneingeschränkt zu fordern bleibt, muß ein seriöses Philosophieren die Eigenreflexion und Eigenrelativierung des Denkens, den Verzicht auf bodenlose Spekulation und den Verzicht auf Dogmatismus aller Art wesentlich ernster nehmen, als dies den 'Weltanschauungsdenkern' notwendig erscheinen mag. Mystik geht in deren Verständnis allzu rasch und problemlos in Parapsychologie, in den obskuren Bereich höherer Offenbarungen' und damit in eine transphilosophische Geheimlehre über, die — im Unterschied zum genuinen philosophischen Diskurs — die Verbindung zum 'gesunden Menschenverstand' (den Philosophie zu elaborieren, nicht jedoch abzuschaffen hat) weitgehend abbrechen läßt.5 Was den Abschnitt 2.3 betrifft, so gibt es in der rezenten Philosophie außer den behandelten Ansätzen von Albert und Derrida keine weiteren Bemühungen um das Phänomen Mystik, die unbedingt zu berücksichtigen wären. 6 Zwar könnten sicherlich die Arbeiten von Staal, Katz, Struve und Wohlfart 7 mitbehandelt werden, doch dies wäre kaum von systematischem, sondern allenfalls von enzyklopädischem Interesse. Auch im

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Erfahrung, Rationalität und Mystik

Hinblick auf die 'klassischen' Positionen ist festzuhalten, daß es sich um eine Auswahl handelt. Schelling — der en passant bei Hegel mitbehandelt wird (2.2.2) — sowie Kierkegaard, Rickert und Jaspers könnten genauso gut als Fallbeispiele herangezogen werden. Angestrebt wird aber nicht eine vollständige und erschöpfende Darstellung der philosophischen Mystikdiskussion der letzten zwei Jahrhunderte, sondern eine exemplarische Darlegung prägnanter Denkhaltungen aus besagtem Zeitraum, die die wichtigsten Strukturtypen einer Thematisierung von Mystik und einer Auseinandersetzung mit Mystik aufzeigen. Daß diese Auswahl, diachron gesehen, erst mit Kant anhebt und nicht auf Denker zurückgreift, die — wie (in geschichtlich retrospektiver Linie) Leibniz und Spinoza, Cusanus und Eckhart, Eriugena und Plotin — hinsichtlich des Inhalts ihrer Philosophie mehr oder minder als 'Mystiker' ausgewiesen sind, hat zwei Gründe. Erstens überschreitet es die Möglichkeiten und Kompetenz eines einzelnen Autors, die gesamte Philosophiegeschichte abzuhandeln — er muß sich auf Überblickbares beschränken. Zweitens läßt sich die Beschränkung dadurch rechtfertigen, daß es nur um die Auseinandersetzung des modernen Denkens mit dem Thema Mystik geht. Ich möchte den Gründen nachgehen, warum sich gerade modernes — einschließlich postmodernes — Denken noch immer (oder auch: plötzlich wieder) für die vornehmlich im Hoch- und Spätmittelalter ausgebildete religiöse Mystik interessiert und deren Begriff für eigene Gedankengänge — für die eigene philosophische Problematik — adaptiert. 8 Nicht mehr die religiöse 'Gotteserfahrung', sondern die säkularisierte Welterfahrung wird zur Folie, auf die bezogen man in der Moderne Mystik vornehmlich thematisiert. Lautet die — auf Thomas und Bonaventura zurückgehende — Formel für die mittelalterliche Mystik: 'cognitio dei experimentalis' 9 , so muß sie für die moderne, säkularisierte Mystik sinngemäß lauten: 'cognitio realitatis experimentalis'. Es ist daran zu erinnern, daß der Begriff der mittelalterlichen Mystik ein moderner, rückwärtsgewandter Interpretationsbegriff ist, der über die Moderne, in der er geprägt wurde und noch immer verwendet wird, mindestens genauso viel aussagt wie über das von ihm ins Visier genommene Mittelalter oder auch über die mit 'Mystik' etikettierten außereuropäischen Denkweisen. Weiters ist daran zu erinnern, daß der Begriff Mystik seine historische Karriere dort beginnt, wo die Begriffe Vernunft und Erfahrung in der Moderne eine Ausdifferenzierung — d.h. eine Präzisierung und Verengung — erfahren. Demgegenüber erscheint dann der mittelalterliche Vernunft- und Erfahrungsbegriff, aber auch noch der Vernunft- und Erfahrungsbegriff bei Spinoza oder Leibniz als komplex und mehrschichtig, da er das von der modernen Vernunft und Erfahrung ausgegrenzte 'Andere' noch weitgehend mitenthält. 10 Ein 'Abarbeiten' des als Problembegriff in die philosophische Diskussion gebrachten Mystikbegriffs geschieht nicht durch ein Ignorieren der modernen Differenzierung, sondern durch eine weiterführende Auseinandersetzung mit ihr. Ältere Vernunft- und Erfahrungsmodelle zu Rate zu ziehen, mag hilfreich sein. Es verändert aber nicht die Aufgabe des prospektiven Abarbeitens — eben nicht des retrospektiven Verwischens — der modernen Problemstellung. Diese ist nicht mehr eine theologische und auch nicht mehr — im traditionellen Verständnis — ontologische, sondern eine erkenntniskritische, wobei es heute erforderlich ist, Erkenntniskritik als Sprach- und Medienkritik zu reformulieren.

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2.2 'Klassische Positionen': Sechs Fallbeispiele aus der neueren Philosophie

2.2.1 Transzendentalphilosophie: Kant. Mit einer Nachbemerkung zu Swedenborg "Mehr als vom Ganzen der Erfahrung spricht man in der neueren Philosophie von den Grenzen der Erfahrung, wobei der Erfahrungsbegriff — selbst in Strömungen, die sich 'empiristisch' nennen — oft merkwürdig unbestimmt bleibt. Daß gerade die Grenzen möglichen Wissens und möglicher Erfahrung für so wichtig gehalten werden, begründet sich aus dem Wissenschaftsanspruch und Wissenschaftsverständnis der modernen Philosophie. Man will — seit Bacon und Descartes — in erster Linie ein die exakten Wissenschaften verläßlich fundierendes, sie begleitendes und untereinander verbindendes philosophisches Wissen entwickeln, das jeden Zweifel und jede Zweideutigkeit ausschließen soll. Dies wirkt sich auch auf das Normkonzept von Erfahrung aus. Diese wird mehr oder minder umstandslos gleichgesetzt mit wissenschaftlicher Erfahrung, und das Paradigma für Wissenschaftlichkeit stellen die an der Mathematik orientierten Naturwissenschaften dar. Erfahrung wird — als 'Empirie' — eingeschränkt auf die Erfahrung des unter naturwissenschaftlichen Parametern stehenden Experiments. 12 Selbst dort, wo man sich philosophisch — wie bei Heidegger oder Scheler, beim späten Husserl oder beim späten Wittgenstein — auch für außerwissenschaftliches Wissen interessiert (vor allem hinsichtlich der Alltagspraxis, aber z.T. auch hinsichtlich künstlerischen und religiösen Wissens), bleibt dieses Interesse in nahezu schwerfälliger Weise an die Optik wissenschaftlicher bzw. wissenschaftlich sein wollender Weltbetrachtung rückgebunden. Wenn erkenntnistheoretische Anarchisten wie P. Feyerabend dann im Gegenzug wissenschaftliches Denken und wissenschaftliche Erfahrung gänzlich als nur eine beliebige Methode und Denkhaltung neben den zahllosen — z.T. vagen und obskuren — Denk- und 'Erfahrungs'typen der faktischen Lebenswelt ansetzen und ein 'anything goes' verkünden 13 , so ist darin eine verständliche, aber zweifellos überzogene Reaktion gegen den bis heute herrschenden Szientismus zu sehen. Die Gleichbewertung von Wissenschaft und Mythos, wie sie Hübner 14 , oder von Vernunft und Mystik, wie sie Mynarek 15 vornimmt, verwischt bloß reale Gegensätze und bringt keinen bemerkbaren Erkenntnisgewinn. Wer alles, was uns an Interpretationen, Behauptungen und Methoden in den Blick gerät, als 'Erfahrung' ausgibt und wer in jeder Argumentation eine wie auch immer geartete 'Vernunft' ortet, wird zwar beanspruchen dürfen, überall eine Spur von Wahrheit zu entdecken, nicht aber, auch das Trennende zwischen den Symbolsystemen, das mindestens so relevant ist wie ihre Einheit, herausarbeiten zu können.

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'Klassische' Positionen

Kant ist unter den älteren Philosophen — neben Descartes — der hauptsächliche Ahnherr des heute herrschenden szientistischen Erfahrungsverständnisses. Auf keinen anderen Klassiker beruft sich die moderne Philosophie so oft und so affirmativ wie auf ihn. Mit seiner Transzendentalphilosophie liefert er eines der klassischen Beispiele für eine szientistisch verengte Erfahrungskonzeption. Was Kant unter Erfahrung versteht, repräsentiert nur einen kleinen Teil des 'wirklichen Lebens', nicht — wie die alltägliche Bedeutung von 'Erfahrung' immerhin noch konnotiert — einen vielfältigen und offenen Horizont des Wahrnehmens, Erlebens und Sinnstiftens. 'Erfahrung' wird im Kritizismus zu einem durch vorgängige Verstandesregeln domestizierten Stück 'Natur', zu einer konstruierten Ordnung in einem Verfügbarkeitsmodell vernünftigen und — angeblich — gesicherten Wissens. Eine solche Sicherung verlangt aber — wie das vor allem die Brüder Böhme analysiert haben 16 — eine rigide Ausgrenzung des solcher stilisierter 'Erfahrung' gegenüber 'Anderen'. 1 7 Erfahrung ist für Kant erklärtermaßen ein Teil und nicht das Ganze der Erkenntnis. Diese teilt sich bei ihm in die drei 'Vermögen' der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft. Erkenntnis beginnt laut Kant auf ihrer untersten Stufe mit sinnlicher Wahrnehmung, die ihrerseits erst die subjektiv gültige Seite der Erfahrung darstellt. 18 Zur Erfahrung im terminologischen Sinn — zum "Product der Sinne und des Verstandes" (Prol., IV,300) — wird Wahrnehmung erst, wenn ihr der Verstand seine eigene, kategoriale Ordnung überstülpt. Erst das durch den Verstand und durch die sogenannten Verstandesbegriffe organisierte und geformte Sinnliche darf objektive Erkenntnisgültigkeit beanspruchen und gilt als Erfahrung. Diese ist "eine Erkenntnißart [...], die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muß, welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird, nach denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung nothwendig richten und mit ihnen übereinstimmen müssen" (KrV 2, 111,12). Erfahrung enthält neben ihrem sinnlich-aposteriorischen somit auch ein kategorial-apriorisches Moment, und Kant legt auf dieses letztere sogar das Schwergewicht seiner Darstellung. Denn primär im Erkenntnisakt ist für ihn das apriorische Moment. 19 Erfahrung ist somit eine sekundäre Größe, ist Produkt — "das erste Product, welches unser Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet" (KrV 1, IV, 17). Obgleich daher "alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung" (KrV 2, 111,27). Erfahrung im terminologischen Sinn bedeutet somit Gesetzmäßigkeit, die aber nicht aus sich selbst heraus entsteht, sondern vom Verstand — als apriorischem Vermögen — entliehen wird. Pointierter als das Wort 'entleihen' bringen die Wörter herrschen und vorschreiben das von Kant Gemeinte zum Ausdruck. Erfahrung stellt sich — gegenüber dem rohen Empfindungsmaterial — als geordnete Sinnlichkeit dar, und es ist der Verstand und es sind die Begriffe, die der Sinnlichkeit diese Ordnung vorschreiben. Analog zu seinem Erfahrungsbegriff bestimmt Kant auch den Begriff der Natur als "Inbegriff" und als Verstandes- und begriffsgeleitete "Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände der Erfahrung" (Prol., IV, 296).

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Der sekundäre Erkenntnisstatus von Erfahrung impliziert, daß sie niemals die 'Dinge an sich', sondern nur deren 'Erscheinungen' begreifen kann. Die apriorischen Anschauungsformen Raum und Zeit sowie die ebenfalls apriorischen Verstandesbegriffe, die Kant auf seiner Kategorientafel zu einem harmonischen Dutzend rundet, sind der vorgängig abgesteckte Horizont, worin die Gegenstände der Erfahrung bzw. die Gesetzmäßigkeiten der Natur überhaupt erscheinen und als Erscheinungen begriffen werden können. Obgleich die Erfahrungsgegenstände und Naturgesetzlichkeiten bei Kant — dessen Transzendentalphilosophie historisch noch weit von jedem willkürlichen Fiktionalismus eines Nietzsche und Vaihinger entfernt ist — nicht auf beliebige, sondern nur auf die eine, von der 'reinen Vernunftkritik' aufgewiesene Weise erscheinen können, ist ihre Erscheinungsweise nicht als absolutes Erkennen möglich. Was sich der Reichweite der Erfahrung und d.h. der Reichweite von Sinnlichkeit und Verstand entzieht, sind die 'Dinge an sich' und ist — als deren Einheit — das 'Ding an sich'. Dies gilt auch für die Totalität der Erfahrung, die "selbst keine Erfahrung und dennoch ein nothwendiges Problem für die Vernunft" darstellt (Prol., IV,328). Mit der Vernunft ist das dritte und für Kants weitere Philosophie, die in den Bereich der Ethik führt, entscheidende Erkenntnisvermögen angesprochen. Ist für ihn die Sinnlichkeit ein 'Anschauungs'vermögen und der Verstand ein 'Begriffs'vermögen, so ist die Vernunft das Vermögen der 'Ideen'. Diese sind, wie die reinen Verstandesbegriffe, apriorisch, aber im Gegensatz zu diesen können und dürfen sie sich nicht mit sinnlicher Anschauung vermengen. Die Ideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind für die reine theoretische Vernunft bloß regulative Ideale — notwendig denkbar, aber nicht beweisbar. Hier ist der Anknüpfungspunkt für Kants Destruktion der klassischen dogmatischen Metaphysik mit ihren Gottesbeweisen und ihren Vernunftschlüssen über psychologische und kosmologische Fragen, die nur in der täuschenden Aura 'dialektischen Scheins' eine Antwort finden. Wer der Vernunft im Bereich des Unbeweisbaren die Zügel schießen, wer sie 'schwärmen' läßt, kann nach Kant "nichts andres im Sinne haben, als die Fesseln der Wissenschaft gar abzuwerfen, Arbeit in Spiel, Gewißheit in Meinung und Philosophie in Philodoxie zu verwandeln" (KrV 2, 111,22). Kants Verdikt über die dogmatische Metaphysik — das er, wie im folgenden zu belegen sein wird, zwar nicht in gleicher, wohl aber in vergleichbarer Weise über die Mystik verhängt — hat freilich nur wenig mit der Metaphysikfeindschaft zu tun, die wir vom neueren Positivismus her kennen. Kant geht es nicht um eine Abschaffung, sondern um eine Umformung, um eine entscheidende Kurskorrektur der Metaphysik, die nunmehr in kritischer, d.h. durch die 'Kritik der reinen Vernunft' geläuterter Weise fortgeführt werden soll. Dies wird konzeptuell möglich, indem Kant die Vernunft unter zwei heterogene Perspektiven stellt: unter die Perspektive der 'reinen theoretischen' und der 'reinen praktischen' Vernunft. Diese hat es mit dem Sollen (der sittlichen Welt), jene mit dem Sein (der faktisch-natürlichen Welt) zu tun. Das Sein kann nur in der Weise der Erscheinungen — als phänomenale Welt, d.i. als Welt der Erfahrung im terminologischen Sinn — gedacht werden. Die Selbstreflexion der reinen theoretischen Vernunft erweist, daß Erfahrung und Natur durch die apriorischen Strukturen des Verstandes organisiert werden. Sie weist aber auch auf, daß diese Strukturen nur in

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'Klassische' Positionen

ihrer Anwendung auf Sinnlichkeit Sinn haben, daß sie sich nicht verselbständigen und auf die Ebene blinder und unfruchtbarer Spekulation begeben dürfen. Der Verstand bzw. die reine theoretische Vernunft (die sinngemäß zu bestimmen ist als der sich selbst in seiner Funktion und in seinen Grenzen begreifende Verstand) hat sich auf das Gebiet der Erfahrung zu beschränken und diese nicht zu verlassen. Er darf, so Kant, nicht 'schwärmen', er darf nicht Gedanken verfolgen und Behauptungen aufstellen, die "über die Gränze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probirstein der Erfahrung mehr anerkennen" (KrV 1, IV,7): "Es kann der Einbildungskraft vielleicht verziehen werden, wenn sie bisweilen schwärmt, d.i. sich nicht behutsam innerhalb den Schranken der Erfahrung hält [...]. Daß aber der Verstand, der denken soll, an dessen statt schwärmt, das kann ihm niemals verziehen werden; denn auf ihm beruht allein alle Hülfe, um der Schwärmerei der Einbildungskraft, wo es nöthig ist, Grenzen zu setzen." (Prol., IV,317)

Das für den Verstand bzw. für die reine theoretische Vernunft inhaltlich nicht Denkbare ist nach Kant aber dennoch dem menschlichen Denken nicht prinzipiell verschlossen. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind zwar keine sinnlich-kategorial vermittelten Erscheinungen und somit keine Themen der Erfahrung, wohl aber sind sie Ideen und d.h. terminologisch: seriöse Themen der praktischen Vernunft. Diese richtet sich auf das menschliche Handeln und dessen Normen, die nicht erfahren und bewiesen, sondern postuliert werden. Dem Handeln, dem es um das Befolgen von Normen und nicht um gegenständliche Erkenntnis geht, sind laut Kant die Ideen als Dinge an sich unmittelbar gegeben, und sie brauchen hier als solche nicht problematisiert zu werden. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind dann Vernunftgründe des Handelns, ihre Gewißheit ist die Gewißheit von Handlungsnormen, nicht die Gewißheit natürlicher Gegenstände oder 'reiner Erkenntnis'. Demnach können diese Ideen aber auch nicht — wie in der dogmatischen Metaphysik — mit mehr oder minder kontingentem inhaltlichem Beiwerk ausgeschmückt und konkretisiert werden: Gott ist im Kritizismus nicht mehr in konkreten Bildern vorstellbar, und die Unsterblichkeit der Seele konnotiert nicht mehr Vorstellungen wie die von Himmel und Hölle oder auch von einem durch Seelenwanderung prolongierten Erdendasein. Kants kritische Wendung der Metaphysik, die er überdies mit der Forderung nach einer reinen Vernunftreligion (die inhaltlich mit der Sittenlehre der praktischen Vernunft zusammenfällt) verknüpft, bedeutet somit eine Festlegung klassisch-metaphysischer Themen auf das Gebiet der Ethik, anders gesagt: klassisch-metaphysische Fragen werden von ihm in ethische Fragen transformiert. So und nur so bleiben sie — oder vielmehr: werden sie erst — legitim. In der Vorrede zur 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft spricht er vom "besondre[n] Schicksal" der menschlichen Vernunft: "daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft" (KrV 1, IV,7). Dieses Übersteigen, diese Transzendenz gilt freilich nicht für die praktische Vernunft.

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Denn gerade in den erfahrungstranszendenten Ideen, "welche über die Sinnenwelt hinausgehen, wo Erfahrung gar keinen Leitfaden, noch Berichtigung geben kann, liegen die Nachforschungen unserer Vernunft, die wir der Wichtigkeit nach für weit vorzüglicher und ihre Endabsicht für viel erhabener halten als alles, was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen kann, wobei wir sogar auf die Gefahr zu irren eher alles wagen, als daß wir so angelegene Untersuchungen aus irgend einem Grunde der Bedenklichkeit, oder aus Geringschätzung und Gleichgültigkeit aufgeben sollten." (KrV 2, 111,30 f.)

In der Kritik der Urteilskraft faßt Kant einiges Grundsätzliche zusammen. Zuerst steckt er das Feld ab für die Kompetenz philosophischen Denkens: "So weit Begriffe a priori ihre Anwendung haben, so weit reicht der Gebrauch unseres Erkenntnißvermögens nach Principien und mit ihm die Philosophie." (KU, V,174) Apriorismus heißt immer Gesetzgebung — seien es die Gesetze der Erfahrung bzw. Natur oder seien es die Normen des sittlichen Handelns. "Unser gesammtes Erkenntnißvermögen hat zwei Gebiete, das der Naturbegriffe und das des Freiheitsbegriffs [...]. Die Gesetzgebung durch Naturbegriffe geschieht durch den Verstand und ist theoretisch. Die Gesetzgebung durch den Freiheitsbegriff geschieht von der Vernunft und ist bloß praktisch. Nur im Praktischen kann die Vernunft gesetzgebend sein; in Ansehung des theoretischen Erkenntnisses (der Natur) kann sie nur (als gesetzkundig vermittelst des Verstandes) aus gegebenen Gesetzen durch Schlüsse Folgerungen ziehen, die doch immer nur bei der Natur stehen bleiben. [...] Verstand und Vernunft haben also zwei verschiedene Gesetzgebungen auf einem und demselben Boden der Erfahrung, ohne daß eine der anderen Eintrag tun darf." (V, 174 f.)

Die zitierte Stelle ist eine der ganz wenigen in Kants Werk, wo 'Erfahrung' nicht im zuvor erläuterten terminologischen Sinn gebraucht wird, sondern in jener weiten und grundsätzlichen Bedeutung, deren Gegenstand man auch mit 'Lebenswelt' umschreiben kann. Zu behaupten, daß auch die Welt des sittlichen Handelns und daß letztlich auch jede Form des Apriorischen auf einen gemeinsamen Boden lebensweltlicher Erfahrung bezogen bleibe, gäbe zwar durchaus Sinn, liegt aber nicht in der Intention Kants, dem hier — im Hinblick auf die von ihm sonst verfochtenen terminologischen Unterscheidungen — lediglich eine flüchtige sprachliche Unkorrektheit passiert sein dürfte. Wichtiger ist, was Kant aus dem "Zusammenbestehen beider Gesetzgebungen und der dazu gehörigen Vermögen in demselben Subject" sowie daraus, daß sie "doch [...] nicht Eines ausmachen" (KU, V,175), folgert. Die Identität der unterschiedlichen Erkenntnisvermögen und Gesetzgebungen liegt in ihrer Identität als Noumenon, als Ding an sich. Dieses ist zwar unter der Perspektive sittlichen Handelns faßbar, jedoch nicht unter der Perspektive sinnlich vermittelter bzw. erfahrbarer Gegenständlichkeit. Unter letztgenannter Perspektive ist das Ding an sich das Übersinnliche, "wovon man die Idee zwar der Möglichkeit aller jener Gegenstände der Erfahrung unterlegen muß, sie selbst aber niemals zu einem Erkenntnisse erheben und erweitern kann" (ebda.).

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'Klassische' Positionen

Kants folgende Charakterisierung des 'Übersinnlichen' ist deshalb von Belang, weil es sich um jenes 'verbotene Land' handelt, dessen Grenzen durch die 'schwärmende' dogmatische Metaphysik, aber — in noch eigens darzustellender Weise — auch von der Mystik ignoriert werden: "Es giebt also ein unbegränztes, aber auch unzugängliches Feld für unser gesammtes Erkenntnißvermögen, nämlich das Feld des Übersinnlichen, worin wir keinen Boden für uns finden, also auf demselben weder für die Verstandes- noch Vernunftbegriffe ein Gebiet zum theoretischen Erkenntniß haben können; ein Feld, welches wir zwar zum Behuf des theoretischen sowohl als praktischen Gebrauchs der Vernunft mit Ideen besetzen müssen, denen wir aber in Beziehung auf die Gesetze aus dem Freiheitsbegriffe keine andere als praktische Realität verschaffen können, wodurch demnach unser theoretisches Erkenntniß nicht im Mindesten zu dem Übersinnlichen erweitert wird." (KpV, V,175) 2 0

Mystik oder Mystizismus — beide Ausdrücke bedeuten bei Kant dasselbe — ist eine auf falschen methodischen Annahmen beruhende Denkweise. Sie ignoriert die klar abgesteckten Kompetenzen von Verstand und Vernunft und verletzt die Grenzen möglicher Erfahrung. Sie phantasiert im Bereich des Übersinnlichen, das sie sowohl mit den Sinnen als auch mit Begriffen zu erfassen sucht und von dem sie verkennt, daß es einzig im sittlichen Handeln greifbar sei. Sie macht konkrete inhaltliche Angaben über etwas, von dem nichts Gegenständlich-Positives ausgesagt werden kann. In gleicher Weise, wie Kant gegen die dogmatische Metaphysik polemisiert, polemisiert er im Streit der Fakultäten gegen den "vernunfttödtenden Mysticism" und dessen "übernatürliche Erfahrungen und schwärmerische Gefühle" (VII, 59). In der Kritik der praktischen Vernunft werden drei Verständnistypen der praktischen Vernunft — 'Rationalism', 'Empirism' und 'Mysticism' — unterschieden, von denen Kant nur den 'Rationalism' als sachentsprechend gelten läßt, indem er ihn als seine eigene Position darstellt. Die beiden anderen Verständnisse weist er als Mißverständnisse der Sache zurück. Zuerst warnt er "vor dem Empirism der praktischen Vernunft, der die praktischen Begriffe des Guten und Bösen blos in Erfahrungsfolgen (der sogenannten Glückseligkeit) setzt" (KpV, V,70), dann aber "auch vor dem Mysticism der praktischen Vernunft, welcher das, was nur zum Symbol diente, zum Schema macht, d.i. wirkliche und doch nicht sinnliche Anschauungen (eines unsichtbaren Reichs Gottes) der Anwendung der moralischen Begriffe unterlegt und ins Überschwengliche hinausschweift" (KpV, V,70 f.). Der 'Rationalism' sei insofern im Recht, als er "in die übersinnliche [Natur] nichts hineinträgt, als was umgekehrt sich durch Handlungen in der Sinnenwelt nach der formalen Regel eines Naturgesetzes überhaupt wirklich darstellen läßt. Indessen ist die Bewahrung vor dem Empirism der praktischen Vernunft viel wichtiger und anrathungswürdiger, weil der Mysticism sich doch noch mit der Reinigkeit und Erhabenheit des moralischen Gesetzes zusammen verträgt und außerdem es nicht eben natürlich und der gemeinen Denkungsart angemessen ist, seine Einbildungskraft bis zu übersinnlichen Anschauungen anzuspannen, mithin auf dieser Seite die Gefahr nicht so allgemein ist; da hingegen der Empirism die Sittlichkeit in Gesinnungen [...] mit der Wurzel ausrottet und ihr ganz etwas anderes, nämlich ein empirisches Interesse [...] statt der Pflicht unterschiebt [...]." (KpV, V,71)

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Der 'Empirism der Sittlichkeit' sei daher "weit gefährlicher [...] als alle Schwärmerei, die niemals einen dauernden Zustand vieler Menschen ausmachen kann" (KpV, V,71). An einer späteren Stelle der Kritik der praktischen Vernunft akzentuiert Kant noch einmal den negativen Aspekt, nämlich die in seinen Augen willkürlichen Träume und Phantasien der Mystik: "Mahomets Paradies, oder der Theosophen und Mystiker schmelzende Vereinigung mit der Gottheit, so wie jedem sein Sinn steht, würden der Vernunft ihre Ungeheuer aufdringen, und es wäre eben so gut, gar keine zu haben, als sie auf solche Weise allen Träumereien preiszugeben." (KpV, V,120 f.) *

In zwei kleineren Arbeiten aus den 90er Jahren kommt Kant noch einmal auf Mystik zu sprechen. Die erste dieser Arbeiten ist der Aufsatz Das Ende aller Dinge (1794)21, wo Kant über den eschatologischen Gedanken eines Endes der Welt in der Zeit nachdenkt. Der Gedanke habe "etwas Grausendes in sich: weil er gleichsam an den Rand eines Abgrunds führt, [...] und doch auch etwas Anziehendes [...]. Er ist furchtbar-erhaben", denn in ihm "stoßen wir auf das Ende aller Dinge als Zeitwesen und als Gegenstände möglicher Erfahrung" (VIII, 327). Dieser eschatologische Gedanke, der also an das für den Verstand Undenkbare rührt, bezieht seine Aura der 'Erhabenheit', des gleichzeitig 'Grausenden' und 'Anziehenden' — womit Kant Rudolf Ottos Formel des Heiligen als 'mysterium tremendum et fascinosum' vorwegnimmt 22 — von dem Thema, das er (wenngleich, gemäß den eigenen Normen, in methodisch unzulässiger Weise) anspricht: dem Thema des 'Übersinnlichen'. Die einzige methodisch zulässige Weise, das Übersinnliche zu thematisieren, wäre der Rationalismus der praktischen Vernunft. Kant schreibt, daß "die Idee eines Endes aller Dinge ihren Ursprung nicht von dem Vernünfteln über den physischen, sondern über den moralischen Lauf der Dinge in der Welt hernimmt und dadurch allein veranlaßt wird; der letztere auch allein auf das Übersinnliche (welches nur am Moralischen verständlich sei), dergleichen die Idee der Ewigkeit ist, bezogen werden kann." (VIII, 328). "Darüber geräth nun der nachgrübelnde Mensch in die Mystik (denn die Vernunft, weil sie sich nicht leicht mit ihrem immanenten, d.i. praktischen, Gebrauch begnügt, sondern gern im Transcendenten etwas wagt, hat auch ihre Geheimnisse), wo seine Vernunft sich selbst, und was sie will, nicht versteht, sondern lieber schwärmt, als sich, wie es einem intellectuellen Bewohner einer Sinnenwelt geziemt, innerhalb den Gränzen dieser eingeschränkt zu halten." (VIII, 335)

Motive wie die Vereinigung mit Gott oder mit dem Absoluten, die Auflösung des Ich ins Nichts u.dgl. sind für Kant haltlose Spekulationen. Er spottet über "das Ungeheuer von System des Laokiun [Laotse] von dem höchsten Gut, das im Nichts bestehen soll: d.i. im Bewußtsein, sich in den Abgrund der Gottheit durch das Zusammenfließen mit derselben und also durch Vernichtung seiner Persönlichkeit verschlungen zu fühlen" (VIII, 335). Kant stellt in diesem Zusammenhang Mystik, Pantheismus und Spinozismus auf eine Ebene:

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'Klassische' Positionen

"Daher der Pantheism (der Tibetaner und anderer östlicher Völker) und der aus der metaphysischen Sublimierung desselben in der Folge erzeugte Spinozismus: welche beide mit dem uralten Emanationssystem aller Menschenseelen aus der Gottheit (und ihrer endlichen Resorption in eben dieselbe) nahe verschwistert sind. Alles lediglich darum, damit die Menschen sich endlich doch einer ewigen Ruhe zu erfreuen haben möchten, welche denn ihr vermeintes seliges Ende aller Dinge ausmacht; eigentlich ein Begriff, mit dem ihnen zugleich der Verstand ausgeht und alles Denken selbst ein Ende hat." (VIII, 335 f.)

Obwohl Kant von der 'Erhabenheit' des Gedankens vom 'Ende aller Dinge' spricht, gibt er diesen, sobald er im Gewand mystischer Spekulation auftritt, der Lächerlichkeit preis. Lächerlich ist für Kant nicht die Wirklichkeitsdimension, an die der Gedanke rührt, sondern die Weise, wie er funktional verstanden wird. Es geht um die Form des Gedankens, die mit (angeblich) beliebigen Inhalten aufgefüllt wird und — da in der Mystik jede kritische Selbstbeschränkung der Vernunft fehlt — auch aufgefüllt werden muß. Für Kant ist Mystik der Sache nach — obwohl er es so nicht wörtlich definiert — eine Spielart der dogmatischen Metaphysik ä la Wolff, nur daß in ihr der Gedanke weniger streng genommen wird als im begriffsorientierten Diskurs akademischen Philosophierens und daß in ihr das Gefühl die dominierende Rolle spielt. In der um zwei Jahre jüngeren Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796)23 nimmt Kant gegen die zeitgenössischen sogenannten Gefühls- und Glaubensphilosophen Stellung, die ihrerseits die Transzendentalphilosophie als dürftigen Rationalismus kritisieren und in den Mittelpunkt ihres eigenen Denkens etwas stellen, "was gar kein Gegenstand der Sinne ist: d.i. Ahnung des Übersinnlichen" (VIII, 396). Kant schreibt: "Daß hierin nun ein gewisser mystischer Takt, ein Übersprung (salto mortale) von Begriffen zum Undenkbaren, ein Vermögen der Ergreifung dessen, was kein Begriff erreicht, eine Erwartung von Geheimnissen, oder vielmehr Hinhaltung mit solchen, eigentlich aber Verstimmung der Köpfe zur Schwärmerei liege: leuchtet von selbst ein. Denn Ahnung ist dunkle Vorerwartung und enthält die Hoffnung eines Aufschlusses, der aber in Aufgaben der Vernunft nur durch Begriffe möglich ist, wenn also jene transcendent sind und zu keinem eigenen Erkenntniß des Gegenstandes führen können, nothwendig ein Surrogat derselben, übernatürliche Mittheilung (mystische Erleuchtung), verheißen müssen: was dann der Tod aller Philosophie ist." (VIII, 398)

Kant bemerkt, daß die 'Mystik' der Gefühls- und Glaubensphilosophen mit einer bestimmten Komponente der platonischen Philosophie, insbesondere mit deren esoterischem Zug 24 , übereinstimme und daß Piaton "der Vater aller Schwärmerei mit der Philosophie" sei (VIII, 398). Den "platonisirende[n] Gefühlsphilosoph[en]" unterstellt er, daß "sie uns durch Gefühle (Ahnungen), d.i. bloß das Subjective, was gar keinen Begriff von dem Gegenstande giebt, täuschen wollen, um uns mit dem Wahn einer Kenntniß des Objectiven hinzuhalten, was aufs Überschwengliche angelegt ist" (VIII, 399). Kant kritisiert insbesondere auch die 'überschwengliche' Metaphorik in "der neueren mystisch-platonischen Sprache" (VIII, 398) und deutet sie als Flucht vor der Klarheit begrifflichen Denkens.

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Die verschiedenen Stellungnahmen Kants zur Mystik folgen einem einheitlichen Argumentationsmuster: Die Mystik thematisiere — wie die dogmatische Metaphysik bzw. indem sie, die Mystik, selbst eine Variante eben dieser Metaphysik darstelle — das Übersinnliche als ein 'Erhabenes'. Sie besetze dieses Feld jedoch in völlig unkritischer Weise mit konkreten Inhalten, die sich weder als Vernunft- noch als Erfahrungskonzeptionen ausweisen lassen. Daher produziere sie 'Ungeheuer' für die Vernunft. Mit Prätention ('Vornehmtun' und Esoterik) überspiele sie die Haltlosigkeit ihres methodischen Ansatzes. *

Obwohl dort von Mystik nicht ausdrücklich die Rede ist, ist abschließend noch an die berühmte frühe Schrift Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik zu erinnern, die Kant 1766 (zunächst anonym) herausgab und die eine Abrechnung mit Swedenborgs Arcana coelestia darstellt.25 Man kann davon ausgehen, daß das Bild des swedenborgschen Denkens, wie Kant es wahrgenommen und beurteilt hat26, zum Paradigma für sein Verständnis von 'Mystik' geworden ist. Die paranormalen Erlebnisse und Fähigkeiten, von denen Swedenborg berichtet27 — von denen jedoch in älteren klassischen Mystikertexten, etwa bei Meister Eckhart, überhaupt nicht oder kaum die Rede ist —, akzentuieren das Mystikbild des Schwärmerischen, Phantastischen, ja Bizarren. Daher ist Swedenborg für Kant "die Karikatur aller Metaphysik des Übersinnlichen: aber eben kraft dieser Entstellung und Übertreibung aller ihrer Grundzüge eignet er sich dazu, dieser Metaphysik den Spiegel vorzuhalten". 28 Die 'Träumer der Vernunft' — Wolff und Crusius — werden mit den 'Träumern der Empfindung' — Swedenborg und den Gefühlsphilosophen — dahingehend gleichgesetzt, daß sie alle, wennschon in unterschiedlicher Gewichtung, die Grenzen der Vernunft und der Erfahrung nicht im Auge behalten hätten. Seit Carl du Preis Aufsatz Kants mystische Weltanschauung29 wird gelegentlich versucht, Kants Urteil über Swedenborg zu relativieren oder sogar umzudrehen. 30 Folgt man der Argumentation du Preis und derer, die sich auf ihn berufen, ergibt sich freilich blanker Unsinn. Daß Kant in seiner Vorlesung über rationale Psychologie aus dem Jahre 1791 Swedenborgs Gedanken 'erhaben' nennt, kann nicht als Indiz dafür gewertet werden, er hätte sich in späten Jahren doch noch zu Swedenborg bekehrt. In den oben zitierten Aufsätzen aus den Jahren 1794 und 1796 — also nach 1791 — wird das schon früher über die Mystik Gesagte wiederholt, und es ist für Kant kein Widerspruch, das Interesse für das Übersinnliche 'erhaben' zu nennen und zugleich ein unsachgemäßes Herangehen an dieses Übersinnliche nicht nur abzulehnen, sondern sogar zu verspotten. 31 Sein gegen die Mystik gerichteter Spott bezieht sich stets auf deren Methode, Erfahrungserlebnisse und Vernunftschlüsse zu behaupten. Außerdem ist festzuhalten: Selbst wenn der späte Kant — was nachweislich nicht der Fall ist — den kritischen Standpunkt aufgegeben und sich zu Swedenborg und zur Mystik 'bekehrt' hätte, wäre dies kein philosophisches Argument, sondern allenfalls eine biografische Feststellung.

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'Klassische' Positionen

Kants Beurteilung der Mystik schließt nicht aus, daß er in seinem existentiellen Denken — wie dies die Brüder Böhme vermuten32 — Swedenborg als Widerpart und zugleich als ein alter ego empfunden haben kann. Wenn es ihm in philosophischen Belangen auch primär um die Methode gehen mag und wenn er aus eben diesem methodischen Interesse die Befassung mit Inhalten und deren Wertung zurückstellt und ausklammert, so läßt sich dennoch nicht ausschließen, daß ihn Fragen paranormaler Erscheinungen und der Gefühlsgehalt mystischer Spekulationen innerlich bewegt haben, ja daß er persönlich daran geglaubt haben könnte — mit der nicht unwichtigen Ergänzung, daß er intellektuell und intersubjektiv (also 'wissenschaftlich') Vertretbares von persönlichen Intuitionen und Überzeugungen strikt zu trennen suchte. Es gibt Textstellen, die auf eine solche Konstellation hindeuten, etwa wenn Kant — gemünzt auf die SwedenborgDiskussion — an Mendelssohn schreibt: "Zwar denke ich vieles mit der allerkläresten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit, was ich niemals den Mut haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen, was ich nicht denke." 33 Der Versuch solch einer strikten Trennung von seriöser Philosophie einerseits und persönlicher Glaubensüberzeugung andererseits wird uns in expliziter Weise noch bei Schopenhauer und bei Wittgenstein begegnen.

2.2.2 Deutscher Idealismus: Hegel. Mit einer Vorbemerkung zu Fichte und Schelling 34

Wenn du Prel Kant eine 'mystische Weltanschauung' unterstellt, so handelt es sich dabei um eine aus den Texten nur allzu leicht widerlegbare Wunschprojektion dieses Autors 35 , liefert doch Kant ein klassisches Beispiel der Ausgrenzung von Mystik aus den 'kritisch' bzw. transzendentalphilosophisch definierten Bereichen von Vernunft und Erfahrung. Freilich ist es historisch bemerkenswert und läßt Rückschlüsse auf den möglicherweise einseitigen und unbefriedigenden Standpunkt des Kritizismus zu, daß sich gerade aus ihm jener deutsche Idealismus entwickelt hat, der einerseits subjektiv und terminologisch eine ganz andere Haltung zur Mystik einnimmt als Kant und der andererseits auch objektiv — in seinen eigenen Konzeptionen — mystische Motive wiederholt36, so daß man ihn in gewisser Weise als 'mystische Philosophie' bezeichnen kann. Letzteres trifft insbesondere, wie K. Albert herausgestellt hat37, auf das bei Fichte und Schelling zentrale Theorem der 'intellektuellen Anschauung' zu, das der klassischen unio mystica recht nahe kommt, und auf die deutsch-idealistische Vorstellung der 'AllEinheit' 38 . Die Jugendfreunde Hegel, Schelling und Hölderlin hatten bezeichnenderweise die Formel 'hen kai pan' zu ihrem 'Losungswort' erklärt. Die zeitgenössische romantische Mystikbegeisterung (Novalis, Schlegel, v. Baader) dient den deutschen Idealisten in ihren eigenen Überlegungen zur Mystik sowohl als Stimulation (dies gilt vor allem für Schelling) wie auch als Antifolie (dies gilt vor allem für Fichte; für Hegel hingegen gilt ein Doppelverhältnis von Stimulation und Antifolie).

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Den größten Abstand zur Mystik hält unter den deutschen Idealisten Fichte, in dessen Werk sich der Terminus 'Mystik' nur an entlegener Stelle findet, nämlich in den Vorlesungen über Die Anweisung zum seligen Leben (1806). 39 Dort grenzt er sich einerseits ganz ähnlich wie Kant von der Mystik ab und kritisiert diese als eine bestimmte "Ansicht des Geistigen und Heiligen, welche, so richtig sie auch in der Hauptsache, dennoch mit einem bösen Gebrechen behaftet ist, und dadurch verunreinigt und bösartig gemacht wird". 40 Das 'Gebrechen' bestehe in "abergläubische[r] Superstition" 41 , in "Schwärmerei und Träumerei, weil ihr keine Realität entspricht". 42 Eine solche Distanzierung nimmt Fichte vor, weil er der von einigen Gegnern vorgebrachten Beschuldigung, seine Philosophie sei 'Mysticismus', begegnen und seine philosophische Lehre als den Standpunkt der 'wahren Religion' verteidigen will. Er fährt fort: "Diese, zum Theil sehr verkehrte Ansicht durch die Benennung des Mysticismus von der wahrhaft religiösen Ansicht zu unterscheiden, ist zweckmässig; ich für meine Person pflege diese Unterscheidung, des erwähnten Namens mich bedienend, zu machen; von diesem Mysticismus ist meine Lehre sehr weit entfernt und demselben sehr abgeneigt. "43 Die Abneigung Fichtes, der eine mit einer 'Religion der Tat' koinzidierende 'Philosophie der Tat' proklamiert, gilt vor allem dem von ihm hervorgehobenen quietistischen Charakter der Mystik: "Wirkliche und wahre Religiosität ist nicht lediglich betrachtend und beschauend, nicht bloss brütend über andächtigen Gedanken, sondern sie ist nothwendig thätig. Sie besteht [...] in dem innigen Bewusstseyn, dass Gott in uns wirklich lebe und thätig sei, und sein Werk vollziehe." Als passives sei das "Bewusstseyn von der Vereinigung mit Gott [...] täuschend und nichtig; ein leeres Schattenbild [...]". 44 (473). Durch "lebendige Thätigkeit unterscheidet sich die wahre Religiosität von jener Schwärmerei. "45 Werde von seinen Gegnern jedoch, räumt Fichte ein, der deutsch-idealistische Begriff des Selbstbewußtseins bzw. der 'intellektuellen Anschauung' des Mystizismus verdächtigt — werde die darin behauptete "Erfassung Gottes im Geiste und in der Wahrheit", die Behauptung vom "Daseyn eines schlechthin in keinen äussern Sinn fallenden, sondern nur durch das reine Denken zu erfassenden Geistigen" als Mystizismus bezeichnet —, dann habe er gegen den Vorwurf nichts einzuwenden: "Wir geben [dann] die ganze Beschuldigung zu, und gestehen, nicht ohne freudiges und erhebendes Gefühl, dass in diesem Sinne des Wortes unsere Lehre allerdings Mysticismus ist." 46 Fichte denkt freilich nicht ernsthaft an die Möglichkeit, seine Wissenschafts- und Religionslehre als Mystik bzw. 'Mysticismus' zu etikettieren. Die angeführten Zitate sind reaktive Bemerkungen in der Abwehr von Beschuldigungen, die sowohl die theoretischbegriffliche Qualifikation seiner Lehre als auch deren Vereinbarkeit mit der christlichen Religion in Frage gestellt hatten. Bei Fichte läßt sich außerdem keine originelle Verbindung zwischen den Begriffen Mystizismus und Erfahrung herstellen, da sein — von Schelling so bezeichneter — 'subjektiver Idealismus' für die Erfahrung, insbesondere für die Erfahrung von Natur, Kunst und Geschichte, keinen Raum aufschließt. Der 'subjektive Idealismus' ist — so läßt sich pointiert sagen — ausschließlich mit dem denkenden Subjekt und mit der Dimension des Sittlichen beschäftigt. Das fichtesche Ich setzt in einem primären Setzungsakt sich selbst und in einem sekundären Akt das Andere seiner

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'Klassische' Positionen

selbst, das Nicht-Ich — ein Begriff, der wiederum subjektbezogen als 'Material der Pflicht' aufgefaßt wird und der die Vielfalt und die eigenständige Kraft der Erfahrungswelt zu einer Abstraktion sittlicher Tätigkeit verblassen läßt. Ein völlig anderes und geradezu entgegengesetztes Bild ergibt sich hingegen bei Schelling und Hegel. Schelling, der Fichtes 'subjektiven' Idealismus durch einen 'objektiven' programmatisch ergänzen will, behandelt Natur und Kunst als eigenständige Denk- und Erfahrungsbereiche, und Hegel erschließt später dem idealistischen Denken den Bereich der Geschichte, des Rechts, des sozialen und politischen Lebens. Obwohl auch bei Schelling und Hegel Erfahrung und Natur Setzungen eines (menschlichen und göttlichen) Bewußtseins bleiben und der extrem spekulative Charakter ihres Erfahrungsbegriffs quer zu alltäglichem und fachwissenschaftlichem Denken steht, wird Erfahrung bei ihnen — im Gegensatz zu Fichte — doch immerhin eigens thematisiert. Freilich erscheint die erfahrungstheoretische Position Hegels — zumal im Zusammenhang mit seinen Stellungnahmen zur Mystik — origineller zu sein und auch schärfere idealtypische Konturen aufzuweisen als bei Schelling, dessen 'proteus'hafte denkerische Entwicklung kaum auf den Nenner einer bestimmten Position zu bringen und der einer systematischen Darstellung viel schwerer zugänglich ist als einer genetischen. Um systematische und möglichst pointierte Kurzdarstellungen geht es aber in vorliegendem Zusammenhang. Daß Schellings Philosophie insgesamt in höherem Maße 'mystische' Züge trägt als die Philosophie Hegels, daß sie mehr Affinität mit der theosophischen Tradition aufweist und von dieser (etwa im Hinblick auf den Spinozismus oder auf Jakob Böhme) auch stärker beeinflußt ist, ist freilich nicht zu bestreiten. Allerdings betreffen diese Züge vorwiegend Motive einer metaphysica specialis, die wir in der neuplatonischen und gnostisch-hermetischen Tradition vorfinden und die eben bei Schelling adaptiert werden: der 'werdende Gott', die 'Weltseele', der metaphysische Kampf von Gut und Böse bzw. von Geist und Materie, die Offenbarung des göttlichen Geistes in der Natur, die Entsprechung von Menschen- und Weltseele, von Mikro- und Makrokosmos. Es sind theologische und kosmologische Spekulationen, die zwar traditionellerweise unter dem (geistesgeschichtlichen) Begriff Mystik subsumiert werden, aber keine notwendigen Komponenten eines strukturellen Mystikbegriffs darstellen, der zu zeigen vermag, wie Spekulationen solcher Art nicht einzig und allein einer wildgewordenen Phantasie entspringen, sondern sich in ihren Motiven und ihrer Konstellation einer bestimmten Erfahrungskonzeption verdanken, deren originärer Erfahrungscharakter durch den Inhalt der Spekulationen freilich weitgehend verschüttet wird. *

Kant hatte 'Erfahrung' als eingrenzbaren Bezirk der Wirklichkeit, als 'Insel' und verläßlich festen Boden für das Denken, als das überschaubare und beherrschbare 'Reich der Erscheinungen' betrachtet, das der Erfahrung Transzendente (das Ding an sich) hingegen als 'Ozean', als den unendlich offenen Horizont des nicht mehr Begreifbaren und Gefährlich-Abgründigen. Erst in der Wendung vom theoretischen Denken zum sittlichen Handeln hatte dieser Abgrund seinen Schrecken verloren, war durch die Anerken-

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

nung des 'Sittengesetzes1 und durch die Maximen der praktischen Vernunft gewissermaßen bewohnbar geworden — als Erfahrungsgegenstand dabei allerdings unrettbar verloren gegangen. Mystik war demnach dem Gestus der Ausgrenzung zum Opfer gefallen. In Hegels Philosophie begegnen wir dem umgekehrten Gestus: Hier werden nicht mehr, wie bei Kant, Grenzpfähle errichtet, die verschiedene 'Reiche' wie das der Phainomena und Noumena, der Erfahrung und Spekulation oder der theoretischen und praktischen Vernunft ein für allemal abstecken und ein Überschreiten der so gesteckten Grenzen verbieten wollen. Hier werden theoretische und begriffliche Unterscheidungen nur getroffen, um sie im nächsten Denkschritt wieder als überflüssig und nicht mehr sachentsprechend 'aufzuheben', d.h. als bloß in einem 'relativen Recht' stehend und insgesamt transformationsbedürftig zu charakterisieren. Man kann sagen: Grenzüberschreitung — kontinuierliche Entgrenzung jeglicher begrifflicher Bestimmung — wird bei Hegel zum Prinzip. Dabei wird aber die Skepsis gegenüber jedem bestimmten Bewußtseinszustand begleitet von einem stark affirmativen Zug. Denn jeder Bewußtseinszustand hat neben seinem unwahren auch sein wahres Moment und ist — wenngleich nur relativ — 'im Recht'. Diese abwägende und kritisch-hermeneutische Würdigung aller Bewußtseinsgestalten hat entsprechende Konsequenzen für Hegels Betrachtung der Philosophiegeschichte, deren Konzeptionen als Kettenglieder einer übergreifenden dynamischen Struktur erscheinen. Und es hat auch Konsequenzen für die Betrachtung der Geschichte überhaupt, die eine Geschichte der menschlichen Denk- und Lebensformen ist. Alle diese Denk- und Lebensformen — darunter auch die Mystik — haben ihr Wahrheitsmoment. Die zwischen den philosophischen Konzeptionen, zwischen den Denk- und Lebensformen feststellbaren Gegensätze sind die Gegensätze eines einheitlichen, sich fortentwickelnden Bewußtseins. Dialektik ist bei Hegel somit nicht mehr — wie bei Kant — eine Methode des 'Scheins', sondern Realprinzip des Denkens und der Wirklichkeit selbst. Von außen betrachtet, wirkt Hegels Metaphysik weitgehend als ein großangelegtes künstliches Begriffsnetz, das der Wirklichkeit übergestülpt wird und sie via Theorie so domestiziert, daß der offene Horizont von Erfahrung aus dem Blick gerät. Wer sich jedoch auf die lebendige Bewegung des dialektischen Denkens einläßt und Hegels Begriffe nicht als Dogmen, sondern als heuristische Stützen nimmt, wer den von ihm beschriebenen Prozeß von Denken und Wirklichkeit nicht als mechanischen Ablauf oder 'Handlungsblock', sondern als kontingent-strukturierte 'Handlungsgeschichte' auffaßt, wird gewahr, daß zwar wohl kaum die konkrete Gestalt der hegelschen Dialektik, wohl aber ihr Grundgedanke durch eine Phänomenologie der Erfahrung gerechtfertigt wird. Das Fragwürdige der Gestalt korreliert mit Hegels nahezu pathologischer Selbstüberschätzung, worin er sich als den Vollender der Philosophie aller Zeiten und Völker betrachtet, und besteht hauptsächlich in seinem 'Panlogismus' — in seinem, wenn man will, gleichermaßen erkenntnistheoretischen wie metaphysischen 'Intellektualismus'. 47 Die Prätention, der 'Weltgeist' könne, indem er seine Eigenreflexion auf einen absoluten Gipfelpunkt führe, all seine Stufen durchlaufen und zu restloser Selbsterkenntnis und vollkommen authentischem An-und-für-sich-Sein gelangen, führt Hegels erfahrungs-

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'Klassische' Positionen

trächtigen Ansatz einer Phänomenologie des Geistes letztlich über in eine maßlos spekulative, erfahrungsblinde Ideologie des Geistes. Doch ist festzuhalten: der prinzipielle Gestus der hegelschen Philosophie ist eine Dynamisierung und Entgrenzung von Erfahrung und Vernunft. Erfahrung erscheint schlechthin als die Weise —• oder, besser, im Plural: als die Weisen — des offenen, sich verändernden und dadurch vielfältigen menschlichen Daseins, das — als immer schon verstehendes und d.h. relativ-erkennendes — in idealistischer Terminologie Bewußtsein bzw. (im Hinblick auf seine konstitutive Selbstreferentialität) Selbstbewußtsein genannt wird. Es gibt bei Hegel also vorerst nicht die schlechthinnige Erfahrung, sondern viele — höchst unterschiedliche, sogar gegensätzliche, ja auch einander völlig widersprechende — Erfahrungen. Was jeweils als 'Erfahrung' angenommen wird, korreliert mit dem jeweiligen Bewußtseinsstand, und jede Erfahrung kann und muß sich sogar — mit der Änderung des Bewußtseinsstandes — ebenfalls wieder ändern. Das Bewußtsein ist die subjektive, unmittelbare Seite des 'Geistes' und dabei unmittelbarer Ausdruck von Erfahrung. In der Phänomenologie des Geistes von 1807 beschreibt Hegel die dynamische Stufenfolge von 'Bewußtseinsgestalten' als eine strukturell ineinandergreifende Abfolge von 'Erfahrungstypen'. Ich führe zunächst eine Stelle aus der Phänomenologie des Geistes an, in der die Dynamik, der Gestaltwandel der Erfahrung, ihre prinzipielle Reflexivität und ihre Identität mit dem Bewußtsein hervorgehoben werden: "Das unmittelbare Dasein des Geistes, das Bewußtsein,

hat die zwei Momente des Wissens und der dem

Wissen negativen Gegenständlichkeit. Indem in diesem Elemente sich der Geist entwickelt und seine Momente auslegt, so kommt ihnen dieser Gegensatz zu, und sie treten alle als Gestalten des Bewußtseins auf. Die Wissenschaft dieses Wegs ist Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht; die Substanz wird betrachtet, wie sie und ihre Bewegung sein Gegenstand ist. Das Bewußtsein weiß und begreift nichts, als was in seiner Erfahrung ist; denn was in dieser ist, ist nur die geistige Substanz, und zwar als Gegenstand ihres Selbst. Der Geist wird aber Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein Anderes, d.h. Gegenstand

seines Selbsts zu werden und dieses Anderssein aufzuheben. Und die Erfahrung wird

eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare, das Unerfahrene, d.h. das Abstrakte, es sei des sinnlichen Seins oder des nur gedachten Einfachen, sich entfremdet und dann aus dieser Entfremdung zu sich zurückgeht und hiermit jetzt erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des Bewußtseins ist." (3, 38 f.) Etwas später heißt es zusammenfassend: "Diese dialektische

Bewegung,

welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt,

ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt

wird." (3, 78)

Es wird also — die folgenden Zitate stammen aus der Wissenschaft der Logik, aus der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie — "die Erfahrung nicht gelassen, wie sie ist, sondern verändert" (6, 43). Es stehe im Widerspruch zur Erfahrung selbst, sich auf die Kategorie einer angeblich immergleichen Erfahrung zu berufen. Dementsprechend kritisiert Hegel denn auch den Erfahrungsbegriff im Kritizismus und im englischen Empirismus: Kant lasse unzutreffenderweise die Erfahrung "nicht für Wahrheiten, sondern nur für Er-

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

kenntnisse von Erscheinungen gelten" (8, 112), und Bacon, der "Heerführer der Erfahrungsphilosophie", stelle das "Wissen aus Erfahrung" in einen viel zu scharfen Gegensatz zum "Wissen aus dem Begriff, aus dem Spekulativen" (8, 78). Schärfer fällt dann die Kritik an Locke aus: "Lockes Räsonnement ist ganz seicht; es hält sich ganz nur an die Erscheinung, an das, was ist, nicht was wahr ist." Zwar sei zu konzedieren, "daß das Bewußtsein allerdings alle Vorstellungen, Begriffe aus der Erfahrung und in der Erfahrung hat; es kommt nur darauf an, was man unter Erfahrung versteht. Gewöhnlich, wenn so gesprochen wird, versteht man gar nichts darunter; so spricht man davon als von etwas ganz Bekanntem. Erfahrung aber ist nichts als die Form der Gegenständlichkeit [...]. Da ist nun gar keine Frage davon, daß, was man weiß, von welcher Art es sein wolle, erfahren werden müsse; das liegt im Begriff der Sache. Das Vernünftige ist, d.h. es ist als ein Seiendes für das Bewußtsein, oder es erfährt es; es muß gesehen, gehört, als Welterscheinung dasein oder dagewesen sein, — die Verbindung des Allgemeinen mit dem Gegenständlichen. Aber dies ist nicht die einzige Form; die des Ansich ist ebenso absolut und wesentlich, — d.h. das Begreifen des Erfahrenen oder das Aufheben dieses Scheins des Andersseins und das Erkennen der Notwendigkeit der Sache durch sich selbst. Es ist nun ganz gleichgültig, ob man dies nimmt als etwas Erfahrenes, als eine Reihe von Erfahrungsbegriffen, wenn man so sprechen kann, oder Vorstellungen, oder dieselbe Reihe als Reihe von Gedanken, an sich Seienden." (20, 214 f.)

Insgesamt verwendet Hegel den Begriff Erfahrung sowohl in einer weiteren wie in einer engeren Bedeutung. Ersteres trifft dort zu, wo er 'Erfahrung' — wie in der zitierten Stelle aus der Phänomenologie des Geistes — synonym zum entfalteten Standpunkt der dialektischen Philosophie gebraucht: Die 'Wissenschaft der Erfahrung' ist nicht nur Wissenschaft (qua absolute Philosophie), sondern zugleich Erfahrung eben dieser Wissenschaft auf dem 'Standpunkt ihrer selbst'. Sie ist dann vollendete 'Erfahrung der Erfahrung', d.h. Erfahrung der in sich vollendeten Vernunft. Im engeren Sinn verwendet Hegel 'Erfahrung' hingegen dort, wo sie nicht mit dem übergreifenden Prozeß der Bewußtseinsgestalten, sondern mit einer bestimmten, anfänglichen Bewußtseinsgesta/i gleichgesetzt wird. So werden im § 24 der Enzyklopädie verschiedene 'Weisen' und 'Formen' der Wahrheitserkenntnis — darunter die 'Erfahrung' — nebeneinandergestellt: "So kann man allerdings das Wahre durch Erfahrung erkennen, aber diese Erfahrung ist nur eine Form. Bei der Erfahrung kommt es darauf an, mit welchem Sinn man an die Wirklichkeit geht. Ein großer Sinn macht große Erfahrungen und erblickt in dem bunten Spiel der Erscheinung das, worauf es ankommt. [...] Das Fernere ist sodann, daß man das Wahre auch in der Reflexion erkennen kann und es durch Verhältnisse des Gedankens bestimmt. Das Wahre an und für sich ist indes in diesen beiden Weisen noch nicht in seiner eigentlichen Form vorhanden. Die vollkommenste Weise des Erkennens ist die in der reinen Form des Denkens. [...] Daß die Form des Denkens die absolute ist und daß die Wahrheit in ihr erscheint, wie sie an und für sich ist, dies ist die Behauptung der Philosophie überhaupt." (8, 87)

Hier also wird 'Erfahrung' eingeschränkt auf Sinnenerfahrung und bedeutet eine untergeordnete Stufe im hierarchisch-teleologisch konzipierten Gesamtprozeß des Geistes, eine Stufe, auf der dieser Geist noch nicht zu 'sich selber' gekommen ist, sich aber auf dem Weg dorthin befindet. Daher ist jede Erfahrung als 'Form des Gegenstandes' kein

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'Klassische' Positionen

Fertiges, Ruhendes, In-sich-Abgeschlossenes, sondern eine 'Gestalt im Fluß', die sich selber transzendiert. Das Organ dieses Prozesses der sich selbst transzendierenden Bewußtseinsgegenstände bzw. Erfahrungen ist die als (höchste) Wissenschaft verstandene Philosophie. Sie "hat die Erfahrung,

das unmittelbare und räsonierende Bewußtsein, zum Ausgangspunkte.

Dadurch als

einen Reiz erregt, benimmt sich das Denken wesentlich so, daß es über das natürliche, sinnliche und räsonierende Bewußtsein sich erhebt in das unvermischte Element seiner selbst und sich so zunächst ein sich entfernendes, negatives Verhältnis zu jenem Anfange gibt." (8, 55 f.)

Dies ist die Stufe der abstrakten Reflexion oder des 'formellen' Begreifens, die ihrerseits weitergetrieben wird und weitertreibt zur Stufe des absoluten, die Gegensätze der früheren Stufen versöhnenden (absoluten) 'Denkens'. Dort kehrt die Sinnenerfahrung in geläuterter Weise, indem sie das Moment ihrer Unwahrheit hinter sich gelassen hat, ins Selbstbewußtsein zurück. Nunmehr, meint Hegel, habe "der Geist die Versöhnung seiner mit sich selbst gefeiert" — wobei er sich gegen das 'üble Vorurteil' ausspricht, daß sich Philosophie prinzipiell "im Gegensatz befände gegen eine sinnige Erfahrungskenntnis" (8, 15). Ihre "Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und Erfahrung" sei selbstverständlich notwendig, da "ihr Inhalt kein anderer" sein könne als "die Wirklichkeit selbst [...]. Das nächste Bewußtsein dieses Inhalts nennen wir Erfahrung." (8, 47) Philosophie nehme diese als ihren Leitfaden auf. Hegels Erfahrungskonzeption kann folgendermaßen resümiert werden: In beiden Versionen — in der weiteren wie in der engeren Bedeutung — wird sie der kantischen Konzeption gegenüber radikal entgrenzt. Erfahrung als 'Wissenschaft' meint die Gesamtentfaltung und Einheit alles Wissens; sie ist identisch mit dem absoluten Selbstbewußtsein bzw. mit der zu sich selbst gekommenen Vernunft. 48 Erfahrung als 'Stufe' des unmittelbaren, des sinnlichen und räsonierenden, mit 'Gegenständen' befaßten Bewußtseins hingegen ist eine eingeschränkte Erkenntnisweise. Doch spricht ihr Hegel die Kraft der Selbstüberwindung, des Weiterschreitens zur Stufe der Abstraktion und des 'Formellen' und schließlich zur Stufe des absoluten Denkens zu. Erfahrung ist somit auch in ihrem eingeschränkten Verständnis ein transcendens, das sich nicht in irgendwelchen vorgegebenen Grenzen hält, sondern diese prinzipiell überschreitet. Ob dieses Überschreiten tatsächlich an einen End- und Ruhepunkt gelangt oder ob es sich in unaufhörlicher Bewegung fortsetzt, ist von den hegelschen Texten her nicht eindeutig entscheidbar. Die Frage wird in der Hegelrezeption bis heute lebhaft diskutiert. *

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungskonzeption nehme ich nunmehr Hegels Äußerungen über die (bei ihm — wie schon bei Kant — synonym verwendeten) Begriffe Mystik und Mystizismus in den Blick, die sich vor allem in seinen Vorlesungen zur Religionsphilosophie und zur Philosophiegeschichte finden. Im Gegensatz zur historisch

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

orientierten Darstellung bei K. Albert49 beschränke ich mich auf den systematischen Zusammenhang dieser Äußerungen, die zwar z.T. zeitlich weit auseinanderliegen, dabei aber dennoch nicht verschiedenen Theorien angehören, weil sie stets auf die Grundthese von der dialektischen, stufenweisen Entwicklung des 'Geistes' bezogen bleiben. Wenn auch Hegel keine ausdrücklichen etymologischen Überlegungen zur Verwandtschaft von 'Mystik' und 'Mysterium' anstellt, so verwendet er diese beiden Begriffe doch so, daß ihr etymologischer und thematischer Zusammenhang deutlich wird. Daß 'Erfahrung' eine 'Form des Gegenstandes' sei, bindet sie nach Hegel an die Sinne und an den Verstand, denen die Wirklichkeit — bei Hegel: die 'Substanz' — als endlich, unterschieden und vielgestaltig erscheinen muß: eine 'Notwendigkeit', die sich aus der intellektuellen Beschränkung einer Erfahrungsstufe, die noch nicht zur 'Allgemeinheit der Idee' bzw. zur Stufe der 'Vernunft' vorgedrungen ist, ergibt. Die sich selbst transzendierende Erfahrung muß ihrerseits zu dieser neuen Stufe vordringen, indem auf der Stufe des 'gegenständlichen' Denkens eben diese Gegenständlichkeit als unzureichend und fragwürdig, als mit einem 'unwahren Moment' behaftet, erfahren wird. Vorerst drückt sich die Erfahrung der Unzureichendheit und Fragwürdigkeit darin aus, daß ein 'geheimnisvoller' gemeinsamer Ursprung und/oder ein 'geheimnisvoller' untergründiger Zusammenhang, ja eine Identität des Vielen und Gegenständlichen in einer universalen und ungegenständlichen Wirklichkeit eigener Art 'geahnt' wird. Gegen die romantische Schwärmerei für solche 'Ahnungen' und das auf weitere Reflexion verzichtende Stehenbleiben bei ihnen spricht sich Hegel allerdings entschieden aus50, denn für ihn ist die Gegenständlichkeit eben nicht — wie für Kant — eine unübersteigbare Grenze des Denkens, sondern ein Durchgang. Das Übersinnliche und Übergegenständliche, das den Verstand Überschreitende kann, ja es muß sogar — will der 'Geist' seiner aufs Absolute zielenden Disposition entsprechen — gedacht und begriffen werden. Das 'Geheimnis' des Absoluten muß nicht und darf sogar nicht ein Geheimnis bleiben, es offenbart sich vielmehr auf dem geschichtlichen Weg, den der 'Geist' zurücklegt. Kants Erfahrungsphilosophie — die beim 'Verstand' stehenbleibt und das Übersinnliche zwar als faktisch existierende geheimnisvolle Wirklichkeit anerkennt, sie jedoch als für das spekulative Denken unzugänglich erklärt — ist für Hegel lediglich die philosophische Stilisierung jenes 'gewöhnlichen' und beschränkten Denkens, das sich brüstet, als 'gesunder Menschenverstand' den 'höheren Blödsinn' der Spekulation nicht nötig zu haben. Für dieses Denken ist die 'spekulative Idee' — das Bewußtsein, das die Endlichkeit, Vereinzelung und Gegenständlichkeit seines Inhalts 'aufhebt' und alles Besondere mit der neuen Erfahrung einer es relativierenden universal-allgemeinen Kategorie vermittelt — ein Geheimnis, vor dem es entweder achselzuckend innehält und es ignoriert oder vor dem es als vor dem unbekannten und unbegriffenen 'Heiligen' wohl auch erschauert. In seinen Vorlesungen zur Religionsphilosophie — freilich nicht nur dort—identifiziert Hegel die 'spekulative Idee' mit dem Gottesbegriff und adaptiert die theologische Trinitätsspekulation51 für seine eigene Konzeption, indem er die strukturelle Gleichzeitigkeit von Einheit und Verschiedenheit der drei göttlichen Personen — die Aufhebung des

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'Klassische'

Positionen

Satzes vom Widerspruch also — als ein adäquates Erfassen der absoluten Wirklichkeit des Geistes interpretiert. Diese Adaptation kann, denke ich, freilich eingeklammert werden, ohne daß deshalb der Grundgedanke Hegels unverständlich würde. 5 2 Im folgenden führe ich ein längeres Zitat aus der Religionsphilosophie "Diese spekulative Idee ist dem Sinnlichen

an:

entgegengesetzt, auch dem Verstände;

sie ist daher ein Ge-

heimnis für die sinnliche Betrachtungsweise und auch für den Verstand. Für beide ist sie ein

mysterion,

d.h. in Absicht auf das, was das Vernünftige darin ist. Ein Geheimnis im gewöhnlichen Sinn ist die Natur Gottes nicht [...]. Aber ein Geheimnis ist es für das sinnliche Wahrnehmen, Vorstellen, für die sinnliche Betrachtungsweise und für den Verstand. Das Sinnliche überhaupt hat zu seiner Grundbestimmung die Äußerlichkeit, das Außer einander; im Raum sind die Unterschiede neben-, in der Zeit nacheinander: Raum und Zeit ist die Äußerlichkeit, in der sie sind. Die sinnliche Betrachtungsweise ist gewohnt, so Verschiedenes vor sich zu haben, das außereinander ist. Da liegt zugrunde, daß die Unterschiede so für sich, außereinander bleiben. Für sie ist so das, was in der Idee ist, ein Geheimnis; denn da ist eine ganz andere Weise, Verhältnis, Kategorie, als die Sinnlichkeit hat. Die Idee ist dies Unterscheiden, das ebenso kein Unterschied ist, das nicht beharrt bei diesem Unterschied. Gott schaut in dem Unterschiedenen sich an, ist in seinem Anderen nur mit sich selbst verbunden, ist darin nur bei sich selbst, nur mit sich zusammengeschlossen, er schaut sich in seinem Anderen an. Das ist dem Sinnlichen ganz zuwider; im Sinnlichen ist eines hier und das andere da. Jedes gilt als ein Selbständiges;

es gilt dafür, nicht so zu sein, daß es ist, indem es sich selbst in einem

Anderen hat. Im Sinnlichen können nicht zwei Dinge an einem und demselben Orte sein; sie schließen sich aus. In der Idee sind die Unterschiede nicht sich ausschließend gesetzt, sondern so, daß sie nur sind in diesem Sichzusammenschließen

des einen mit dem anderen. Das ist das wahrhaft Übersinnliche, nicht

das gewöhnliche Übersinnliche, das droben sein soll; denn das ist ebenso ein Sinnliches, d.h außereinander und gleichgültig. Sofern Gott als Geist bestimmt ist, so ist die Äußerlichkeit aufgehoben; darum ist das ein Mysterium für die Sinne. Ebenso ist diese Idee über dem Verstand, ein Geheimnis für ihn; denn der Verstand ist dies Festhalten, Perennieren bei den Denkbestimmungen

als schlechthin

außereinander,

verschieden, selbstän-

dig gegeneinander bleibender, feststehender. Das Posititve ist nicht, was das Negative, Ursache [nicht] Wirkung. Aber ebenso wahr ist es auch für den Begriff, daß diese Unterschiede sich aufheben. Weil sie Unterschiedene sind, bleiben sie endlich, und der Verstand ist, beim Endlichen zu beharren, und beim Unendlichen selbst hat er auf der einen Seite das Unendliche und auf der anderen das Endliche. Das Wahre ist, daß das Endliche und das Unendliche, das dem Endlichen gegenübersteht, keine Wahrheit haben, sondern selbst nur Vorübergehende sind. Insofern ist dies ein Geheimnis für die sinnliche Vorstellung und für den Verstand, und sie sträuben sich gegen das Vernünftige der Idee. Die Gegner der Dreieinigkeitslehre sind nur die sinnlichen und die Verstandesmenschen." (17, 227—229)

Die letzten Sätze der Religionsphilosophie

lauten:

"Wir haben die Idee rein spekulativ zu betrachten und sie gegen den Verstand zu rechtfertigen, gegen ihn, der sich gegen allen Inhalt der Religion überhaupt empört. Dieser Inhalt heißt Mysterium, weil er dem Verstände ein Verborgenes ist, denn er kommt nicht zu dem Prozeß, der diese Einheit ist: daher ist alles Spekulative dem Verstände ein Mysterium." (17, 535)

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Das 'Mysterium' der über Sinne und Verstand hinausgehenden 'spekulativen Idee' ist für Hegel also der Inhalt sowohl der Religion wie der Philosophie, wobei diese das Anliegen jener auf den 'Begriff bringt, d.h. es aus der Beschränkung sinnlicher und verstandesmäßiger Vorstellungen befreit. Insofern ist für Hegel Philosophie eine legitime Fortführung und ein Zu-sich-selber-Kommen der Religion, die ihrerseits freilich "für die, welche nicht über Gefühl und Vorstellung hinausgekommen sind" (17, 534), in ihrer traditionellen und volkstümlichen Form durchaus weiterbestehen soll. 53 Religion befaßt sich nach Hegel zwar thematisch mit der 'spekulativen Idee', bringt sie aber noch nicht zur adäquaten Darstellung. Dies gelingt erst der Philosophie, die sich selbst als Religion in deren vollendeter Gestalt betrachtet. Den Philosophen, die unbeirrt der Entwicklung des 'Geistes' folgen (und dabei selbst diese Entwicklung sind, denn der Weltgeist realisiert sich ja nicht außerhalb und über den Menschen, sondern in ihnen und durch sie), lüftet sich das 'Geheimnis', indem sie den "Ruck des Menschengeistes, der Welt, des Weltgeistes" (19, 488) durchführen und mitmachen, wofür Hegel die Terminologie der antiken Mysterien bemüht: "Die Philosophen sind die mystai, die beim Ruck im innersten Heiligtum mit und dabeigewesen" (19, 489). *

Das gilt — in Hegels Perspektive — freilich nur für jene Philosophen, die auf dem Niveau seiner Konzeption angelangt sind — es gilt nicht für die zeitgenössische Romantik, die in 'begriffsloser' Weise für das Absolute schwärmt, und es gilt auch nur in beschränkter Weise für die philosophische Tradition, sofern diese den Versuch unternimmt, das zur Gegenständlichkeit — zu Verstand und Sinnlichkeit — Andere namhaft zu machen. Wichtig ist für Hegel, daß das Denken die Kategorien der Vereinzelung, des Individuellen, des Hiatus zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Teil und Ganzem ernstgenommen, durchlebt und durchlitten hat und erst nach dieser Erfahrung von Subjektivität und Entfremdung die Wirklichkeit als Totalität, als Vermittlung aller Gegensätze, begreift. Der im Neuplatonismus Gestalt gewordene Ausgang der antiken Philosophie habe jedoch historisch verfrüht und begrifflich unzureichend eine Perspektive der Totalität aufgenommen: "Die Alexandriner sind konkrete Totalität an sich; sie haben die Natur des Geistes aufgefaßt. Sie sind aber nicht a) ausgegangen von unendlicher Subjektivität, der Tiefe, dem absoluten Bruch, haben nicht b) die absolute (abstrakte) Freiheit, das Ich, den unendlichen Wert des Subjekts." (19, 488) Der Neuplatonismus ist für Hegel eine bemerkenswerte, aber auch unvollkommene Vorwegnahme der eigenen Philosophie. Daß jene Richtung der mittelalterlichen Philosophie, die man in neuzeitlicher Retrospektive als 'Mystik' bezeichnet, neuplatonische Gedanken weitergeführt hat, ist Hegel durchaus geläufig, wobei er in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie nur einen sehr kurzen Abschnitt über "Mystiker"54 bringt, in dem neben Gerson und anderen — sonderbarerweise — Roger Bacon genannt wird, nicht aber Meister Eckhart. 55 Hegel klassifiziert die 'Mystiker' als

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'Klassische'

Positionen

"große Scholastiker [...] — zu unterscheiden von den eigentlichen kirchlichen Scholastikern, obgleich verflochten damit. Diese haben weniger Anteil an diesem Disputieren und Beweisen genommen und haben sich in Ansehung der Kirchenlehre und der philosophischen Betrachtung rein erhalten. Es sind teils fromme, geistreiche Männer gewesen, die das Philosophieren in der Weise der neuplatonischen Philosophie fortgesetzt haben: früher Scotus Eriugena. Bei solchen findet man echtes Philosophieren, was man auch Mystizismus nennt; es geht bis zur Innigkeit fort, hat mit dem Spinozismus die größte Ähnlichkeit." (19, 583 f.)

Von Belang ist fürs erste, daß hier der Begriff 'Mystizismus' positiv verwendet und mit 'echtem Philosophieren' gleichgesetzt wird. Daß Hegels Vorstellung von 'Mystizismus' aber durchaus mit einer Thematisierung des den 'spekulativen Gedanken' betreffenden 'Mysteriums' koinzidiert, geht aus seiner relativ breiten Darstellung56 der Lehre Jakob Böhmes hervor, die er ausdrücklich als "Mystizismus" bezeichnet (20, 91). 57 Böhme sei "lange vergessen und als ein pietistischer Schwärmer verschrien" gewesen, doch "in neueren Zeiten wieder zu Ehren gekommen". Abwägend meint Hegel, "daß er jene Verachtung nicht verdient, aber auch andererseits nicht die hohen Ehren, in die er hat erhoben werden sollen" (ebda.). Bei aller Kritik drückt Hegel gegenüber Böhme aber große Achtung und Anerkennung aus: "Es ist uns wunderbar zumute beim Lesen seiner Werke; und man muß mit seinen Ideen vertraut sein, um in dieser höchst verworrenen Weise das Wahrhafte zu finden." (20, 94) Dieses Wahrhafte bestehe in der ihrem Inhalt nach richtigen "Grundidee", die Böhme am Leitfaden der Trinitätsspekulation verfolge: "das Streben, alles in einer absoluten Einheit zu erhalten, — die absolute göttliche Einheit und die Vereinigung aller Gegensätze in Gott". Böhme suche in "der Idee Gottes auch das Negative zu fassen, ihn als absolut zu begreifen" (20, 98). Doch in der Form seines Denkens — das noch nicht terminologisches 'Denken' nach hegelschem Maßstab ist, sondern "Anschauung und inneres Gefühl, Beten und Sehnen", "Bildlichkeit der Gedanken", "Allegorien und dergleichen" — sei Böhme "vollkommen Barbar, — ein Mann, der bei seiner rohen Darstellung ein konkretes, tiefes Herz besitzt" (20, 92). "Im Hintergrunde ist der spekulativste Gedanke, der aber nicht zu seiner ihm angemessenen Darstelltung kommt." (20, 97) Doch es sei "nur der Begriff, das Denken, worin die Philosophie ihre Wahrheit haben, worin das Absolute ausgesprochen werden kann" (20, 92). "Die spekulative Wahrheit, die er [Böhme] vortragen will, bedarf, um sich selbst zu fassen, wesentlich des Gedankens und der Form des Gedankens." (20, 95) Immerhin aber sei Böhme "der erste deutsche Philosoph", der "das protestantische Prinzip" verkörpert. Dieses bestehe darin, "die Intellektualwelt in das eigene Gemüt hereinzulegen und in seinem Selbstbewußtsein alles anzuschauen und zu wissen und zu fühlen, was sonst jenseits war" (20, 94). Böhmes Philosophie stellt sich in dieser Perspektive zwar als ein das Ungegenständliche und Übersinnliche der Wirklichkeit intendierendes Denken dar, das aber gleichwohl ziemlich hilflos um die rechte Art der Mitteilung und Darstellung ringt. Es erfindet — unfreiwillig, indem es Gegenständlichkeit und Sinnlichkeit in ihrer Beschränktheit und Partikularität überwinden möchte — erneut gegenständliche und sinnliche Vorstel-

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

lungen, in die es sich in seinem Fortgang nur immer tiefer verstrickt. Zwar identifiziert Hegel 'das Spekulative1 und 'das Mystische' 58 — doch diese Identifikation gilt nur für die Sache, für die inhaltliche Dimension, nicht jedoch für die gedankliche Ausführung und für die Repräsentation. Schärfer als mit Böhme und der philosophischen Tradition geht Hegel mit seinen romantischen Zeitgenossen ins Gericht. Ein Dokument solcher Auseinandersetzung ist eine 1828 in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik erschienene Rezension59 von Solgers nachgelassene[n] Schriften und Briefwechsel, deren Herausgabe Ludwig Tieck und Friedrich v. Raumer besorgt hatten. Hegels Kritik richtet sich gegen die romantische Schule, deren Vertreter — Novalis, Tieck, Schlegel — den Mystikbegriff in affirmativem Sinn zu adaptieren suchen und mit ihrer Berufung auf Mystik gleichzeitig eine Ablehnung der Begriffsphilosophie verbinden. Über Friedrich Schlegel äußert Hegel, "daß ihm das Bedürfnis der denkenden Vernunft und damit das Grundproblem derselben und einer bewußten und gegen sich ehrlichen Wissenschaft der Philosophie fremd geblieben" sei (11, 234). Die Frühromantiker bezeichnet er als einen "Kreis von Poeten [...], die es darauf anlegten, sich gegenseitig und das Publikum mit den morgenrötlichen Produkten der neuen poetischen Poesie, mit einer kometarischen Welt aus Duft und Klang ohne Kern zu mystifizieren" (11, 214). Hegel knüpft hier offenkundig mit Absicht an den aufklärerisch-pejorativen Sprachgebrauch an, wenn er der "mystischen Tendenz jener Periode" (11, 216) das Zeugnis 'schlechten Denkens' ausstellt. Auch für das literarische Werk Heinrichs v. Kleist wird der "Hang zu einem willkürlichen Mystizismus" festgestellt. Gemeint ist mit solcher 'Willkür' der "Wert, den dieser Dichter auf gesuchte Situationen und Effekte legte, das absichtliche Streben, über das Gegebene und Wirkliche hinwegzugehen und die eigentliche Handlung in eine fremde geistige und wunderbare Welt zu versetzen". Dieser "willkürliche Mystizismus verdrängt die Wahrheit des menschlichen Gemüts durch Wunder des Gemüts, durch die Märchen eines höher sein sollenden inneren Geisteslebens." (11, 218) Der zentrale Adressat der hegelschen Polemik ist freilich Tieck, dessen "Standpunkt zur Philosophie [...] das mit der Zeitbildung des Verstandes gemeinschaftliche negative Verhalten gegen sie" darstelle, sofern Tieck nämlich die 'Arbeit des Begriffs' ablehne und an dessen Stelle eine schwammige Gleichung von 'Poesie', 'Phantasie', 'Philosophie', 'Ahnung' und 'Mystizismus' setze. Wenn Tieck — nach eigener Angabe — "die Liebe zur Poesie, zum Sonderbaren und Alten [...] zu den Mystikern, vorzüglich zu J. Böhme" geführt und wenn er sich bei letzterem dem "Zauber des wundersamsten Tiefsinns und der lebendigsten Phantasie" hingegeben hat, so meint Hegel, es gehe Tiecks "mystischem Bedürfnis nur um den allgemeinen Sinn, die abstrakte Idee [...], nicht um das Denken als solches". Tiecks Böhme-Begeisterung sei nicht ernstzunehmen: "die ebenso ungeheure Mangelhaftigkeit in diesem Mystizismus", die Tieck verborgen bleibe, werde "allerdings nur dem Bedürfnisse des Gedankens auffallend" (11, 227). "Aber jenes negative Verhalten zur Philosophie bringt zugleich eine Einseitigkeit in das Prinzip selbst, das sich für die Mystik der Religion und Poesie hält und gibt, weil dieses Prinzip ein Produkt der Reflexion, nicht unbefangene Religiosität und Poesie geblieben ist." (11, 225)

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'Klassische'

Positionen

Für Hegel sind "der Mystizismus und dessen Gestaltungen zu historischen Erscheinungen" geworden (11, 227), d.h. Mystik kann im Zeitalter des zu sich selbst gekommenen philosophischen Begriffs nicht mehr ohne weiteres restituiert werden. Wer hinter den 'erreichten Begriff' zurückwill, macht sich eines Anachronismus schuldig und verzichtet auf mittlerweile unverzichtbar gewordene intellektuelle Standards. Während Hegel also die alte Mystik als Vorläufer seiner eigenen Philosophie durchaus gelten läßt, spottet er im Hinblick auf die Romantiker über das "mit der philosophischen Erkenntnisweise [...] unverträgliche trübe Gären und die Phantasmagorie des Mystizismus" (11, 228). Er findet indessen -— mit Ausnahme seines Urteils über die Inder60 — lobende Worte für den "Mystizismus anderer Völker und Religionen". Dieser nämlich sei "reich an geistigen Produktionen, und oft höchst reinen, erhabenen und schönen, gewesen; denn er ist in der äußerlich stillen Seele zugleich ein Ergehen derselben in sich und ein Entwickeln des reichen Gegenstandes, zu dem sie sich verhält, und ihrer Beziehungen auf denselben." (11, 161)

Schließlich kommt Hegel noch in seinen Vorlesungen über die Ästhetik auf Mystik zu sprechen. Wie in der Religion, so realisiert sich der Geist auch in der Kunst auf eigene, der Philosophie freilich vor- und untergeordnete Weise. Der Geist selbst ist "der absolute Gegenstand, den die Kunst nicht aus sich selbst schafft und offenbart, sondern den sie von der Religion empfangen hat und zu dem sie mit dem Bewußtsein, daß er das an und für sich Wahre sei, herantritt, um ihn auszusprechen und darzustellen" (14, 169). Gemäß dieser Zuordnung berühren sich Hegels religions- und kunstphilosophische Überlegungen aufs engste. So enthält denn die Ästhetik im Hinblick auf Mystik auch keine prinzipiell neuen Gedanken, sondern nur Applikationen der bisher referierten Thesen auf spezielle Erscheinungen der Religions- und Kunstgeschichte. Fürs erste wird Mystik im Kapitel über "Die Symbolik der Erhabenheit" 61 unter das Phänomen der 'Erhabenheit' subsumiert. Als 'erhabene Kunst' bezeichnet Hegel "die Kunst der Substantialität", die als historisch neue Entwicklungsphase der Kunst "an die Stelle bloß symbolisch-phantastischer Andeutungen, Verunstaltungen und Rätsel" trete. Als 'substanz'bezogene Kunst hat sie nicht mehr einzelne Gegenstände zum Inhalt der Darstellung, sondern die Gegenständlichkeit in ihrer Spannung mit dem universalen Zusammenhang, der Totalität, angesichts deren der Gegenstand relativ und als ein 'Nichts' erscheint. "In dieser Rücksicht sind hauptsächlich zwei Standpunkte zu unterscheiden, welche in dem verschiedenen Verhältnis der Substanz als des Absoluten und Göttlichen zur Endlichkeit der Erscheinung ihren Grund finden." (13, 415) Das Verhältnis sei entweder positiv oder negativ. In ersterem Fall sei "dies Verhältnis so gefaßt, daß die Substanz als das von jeder Partikularität befreite All und Eine den bestimmten Erscheinungen als deren hervorbringende und belebende Seele immanent ist und nun in dieser Immanenz als affirmativ gegenwärtig erschaut und von dem sich selbst aufgebenden Subjekt durch die liebende Versenkung in diese allen Dingen einwohnende Wesenheit ergriffen und dargestellt wird. Dies

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

gibt die Kunst des erhabenen Pantheismus, wie wir ihn seinen Anfangen nach schon in Indien, sodann aufs glänzendste ausgebildet im Mohammedanismus und seiner Kunst der Mystik sowie endlich in vertiefterer subjektiver Weise in einigen Erscheinungen der christlichen Mystik wiederfinden werden." (13, 415 f.) 6 2

Während Mystik somit als Gestalt des positiv gefaßten Verhältnisses interpretiert wird, wird das Alte Testament — die 'hebräische Poesie' — als Beispiel des negativen Verhältnisses genannt. In der jüdischen Religion werde nämlich an die Stelle einer positiv gestimmten Identität von Gegenstand und Substanz das Verhältnis einer unaufhebbaren und vorwiegend negativ gestimmten Differenz gesetzt. Nichts in der geschaffenen Welt gleicht dem bildlosen Schöpfer, obwohl alles auf ihn bezogen bleibt und obwohl sich der Mensch im Drang nach seinem göttlich-differenten Ursprung verzehrt. 63 Orientalische und okzidentalische, persisch-islamische und christliche Mystik sind nach Hegel freilich verschieden akzentuiert. Ich zitiere aus der Ästhetik den kurzen, aber prägnanten Abschnitt über "Christliche Mystik": "Die pantheistische Einheit nun in bezug auf das Subjekt hervorgehoben, das sich in dieser Einheit mit Gott und Gott als diese Gegenwart im subjektiven Bewußtsein empfindet, gibt überhaupt die Mystik,

wie

sie in dieser subjektiveren Weise auch innerhalb des Christentums ist zur Ausbildung gekommen. Als Beispiel will ich nur Angelus Silesius anführen, der mit der größten Kühnheit und Tiefe der Anschauung und Empfindung das substantielle Dasein Gottes in den Dingen und die Vereinigung des Selbsts mit Gott und Gottes mit der menschlichen Subjektivität in wunderbar mystischer Kraft der Darstellung ausgesprochen hat. Der eigentliche morgenländische Pantheismus dagegen hebt mehr nur die Anschauung der einen Substanz in allen Erscheinungen und die Hingebung des Subjekts heraus, das dadurch die höchste Ausweitung des Bewußtseins sowie durch die gänzliche Befreiung vom Endlichen die Seligkeit des Aufgehens in alles Herrlichste und Beste erlangt." (13, 478)

Auch im Kontext der Ästhetik ist Mystik für Hegel also keine letztgültige und höchste, sondern eine — die Ahnung des Ziels freilich vorwegnehmende — unvollkommene Stufe auf dem Weg des Kunstwerks zu sich selbst. Das 'positive' Verhältnis des Gegenstands zum Absoluten, das die Mystik ausdrückt, ist genetisch nur die Vorstufe des für die Konstitution des Gesamtprozesses notwendigen 'negativen' Verhältnisses, und auch das negative Verhältnis ist, wie das positive, noch dadurch als vorläufiges gekennzeichnet, daß es — in Hegels Terminologie — 'symbolisch' ist. Dem Symbol entspricht ein 'undeutlicher', d.i. nicht ausreichend begriffener und zur Darstellung gebrachter Inhalt. Kunst in ihrer Vollendung hat daher aus der Sphäre des 'Symbolischen' mit "seinem undeutlichen Inhalt" herauszutreten und überzugehen in "die Bedeutung

als solche und deren klares Verständnis [...], und das Kunstwerk wird nun der Erguß des

reinen Wesens als des Bedeutens aller Dinge, des Wesens aber, das die Unangemessenheit der Gestalt und Bedeutung, die im Symbol an sich vorhanden war, als die im Weltlichen sich über alles Weltliche hinweghebende Bedeutung

Gottes selber setzt und deshalb in dem Kunstwerk, das nichts als diese an und

für sich klare Bedeutung aussprechen soll, erhaben wird." (13, 479 f.)

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'Klassische' Positionen

Insgesamt läßt sich Hegels Einstellung zur Mystik folgendermaßen resümieren: Thema der Mystik ist das 'Mysterium' des — die Gegenständlichkeit und damit die Beschränkung von Sinnlichkeit und Verstand transzendierenden — 'spekulativen Begriffs', der seinerseits den spannungsgeladenen Zusammenhang von Einzel- und Gesamtwirklichkeit zur souveränen Darstellung und eben darin den Geist zur Selbsterkenntnis zu bringen vermag. Die Darstellungsmittel und das Selbstverständnis der Mystik entsprechen aber noch nicht dem Niveau und der Klarheit des philosophischen Begriffs. Der spekulative Inhalt der Mystik bleibt undeutlich und verworren, und so ist sie eine unvollkommene Votform der Philosophie. Die Romantiker, die sie wiederherstellen und, wie Tieck, zur höchsten und wahren Form von Philosophie erklären wollen, verfallen also einem Irrtum und einem Anachronismus. Mystik hebt — indem sie logische Widersprüche zuläßt, sie sogar pointiert behauptet und überdies Widersprüchliches als Identisches ausgibt — die beschränkte Kategorie des Gegenständlichen auf. Insofern ist sie eine bestimmte Repräsentation des dialektischen Prozesses des absoluten Geistes. Sie ist aber nicht 'Wissenschaft', nicht 'Philosophie', sie hat keine strenge Methode und keine klaren Begriffe. Mystik — als eine vor-begriffliche, vor-methodische, intuitive Gestalt von Philosophie — hat die 'Wahrheit' auf ihre Weise erfaßt, hat die Gegenständlichkeit 'überwunden', aber nicht 'durchgearbeitet' — und dieser Mangel ist ihr 'unwahres Moment'. Sie ist also nur historisch und relativ zu rechtfertigen. Diese historisierende, bloß retrospektive Würdigung unterscheidet Hegels Rechtfertigung der Mystik von der Mystik-Apologie eines F. v. Baader, der — als traditionsbezogener katholischer Denker — eine 'philosophia perennis' annimmt und in solchem Zusammenhang das Wahrheitsmoment der Mystik auch noch für die Gegenwart und Zukunft gelten lassen will. Indem Baader sich jedoch nicht, wie die meisten anderen Romantiker, in Schwärmerei ergeht, sondern eher nüchtern den 'wissenschaftlichen Inhalt' vergangener Denkentwürfe herauszuarbeiten sucht, wird er von Hegel als Gesprächspartner akzeptiert.

2.2.3 Willensmetaphysik: Schopenhauer. Mit einer Nachbemerkung zum 'Nachidealismus' 64

Schopenhauer hat — sowohl terminologisch als auch dem Inhalt seiner Philosophie nach — ein besonders enges Verhältnis zur Mystik. Dennoch wäre es unrichtig, ihn umstandslos als 'Mystiker' einzuordnen65, denn seine Position, die man systematisch als einen komplizierten Mittelweg zwischen deutschem Idealismus, Kritizismus und Materialismus ansehen kann, ist auch im Hinblick auf das Thema Mystik durchaus differenziert. Zum einen drückt Schopenhauer mehrfach und nachdrücklich seine Zustimmung zu den Gedanken der mystischen Tradition aus (zu Böhme, Tauler, zur Theologia deutsch, zu Angelus Silesius, Mme. de Guyon und Eckhart — in dieser Reihenfolge lernt er die Mystiker kennen66) und betont deren Übereinstimmung mit seiner eigenen Philosophie der Willens Verneinung. Zum anderen aber versucht er dezidiert, sich vom

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Selbstverständnis und Darstellungsstil der Mystik abzugrenzen. Philosophie und Mystik konvergieren für ihn in ihrem Gegenstand, doch unterscheiden sie sich radikal in ihrem jeweiligen methodischen Zugang zu diesem Gegenstand. Somit sind sie keineswegs 'dasselbe'. Mystik ist nach Schopenhauer im Gegensatz zur Philosophie nicht intersubjektiv, sie argumentiert nicht und kann daher auch nicht argumentativ überzeugen. Sie teilt lediglich Ansichten und Erlebnisse mit, die der Rezipient gegebenenfalls aus eigener Ansicht und eigenem Erlebnis bestätigen kann. Im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung heißt es: "Mystik, im weitesten Sinne, ist die Anleitung zum unmittelbaren Innewerden Dessen, wohin weder Anschauung noch Begriff, also überhaupt keine Erkenntniß reicht. Der Mystiker steht zum Philosophen dadurch im Gegensatz, daß er von innen anhebt, dieser aber von außen. Der Mystiker nämlich geht aus von seiner innern, positiven, individuellen Erfahrung, in welcher er sich findet als das ewige, alleinige Wesen u.s.f. Aber mittheilbar ist hievon nichts, als eben Behauptungen, die man auf sein Wort zu glauben hat: folglich kann er nicht überzeugen. Der Philosoph hingegen geht aus von dem Allen Gemeinsamen, von der objektiven, Allen vorliegenden Erscheinung, und von den Thatsachen des Selbstbewußtseyns, wie sie sich in Jedem vorfinden. Seine Methode ist daher die Reflexion über alles Dieses und die Kombination der darin gegebenen Data: deswegen kann er überzeugen. Er soll sich daher hüten, in die Weise der Mystiker zu gerathen und etwan, mittelst Behauptung intellektualer Anschauungen, oder vorgeblicher unmittelbarer Vernunft Vernehmungen, positive Erkenntniß von dem vorspiegeln zu wollen, was, aller Erkenntniß ewig unzugänglich, höchstens durch eine Negation bezeichnet werden kann. Die Philosophie hat ihren Werth und ihre Würde darin, daß sie alle nicht zu begründenden Annahmen verschmäht und in ihre Data nur Das aufnimmt, was sich in der anschaulich gegebenen Außenwelt, in den unsern Intellekt konstituierenden Formen zur Auffassung derselben und in dem Allen gemeinsamen Bewußtseyn des eigenen Selbst sicher nachweisen läßt. Dieserhalb muß sie Kosmologie bleiben und kann nicht Theologie werden." (SW 3, 701 f.)

Wenn die Mystiker von einer Aufhebung der individuellen Vereinzelung, einer Aufhebung von Raum, Zeit und Kausalität sprechen, so stimmt dies nach Schopenhauer freilich mit jenen kategorialen Negationen überein, zu denen auch die Philosophie — als rational argumentierender Diskurs — dann findet, wenn sie bei wachsender Einsicht in 'das, was ist' nicht mehr die Erscheinungen bedenkt, sondern den dahinterliegenden Willen, der sich 'wenden' kann. Philosophie vermag nach Schopenhauers Ansicht an einen letzten und höchsten Punkt zu gelangen, an dem sie zwar nicht den Willen in seiner Qualität als Ding an sich, ihn aber doch ex negativo denken kann. Sie vergewissert sich an diesem Punkt der Grenze, die ihr gesteckt ist, und blickt dabei zugleich über diese Grenze hinaus. Das Diesseits der Grenze ist Wille, Leiden und, als Inbegriff kategorialen Denkens, der 'Satz vom Grund' — drei Bestimmungen, die Schopenhauer als unauflösliche Einheit denkt. Das Jenseits der Grenze ist der sich selbst verneinende Wille, ist die Aufhebung des Leidens und eine sogenannte 'bessere Erkenntnis'. 67 So wie Wille, Leiden und Erkenntnis sich 'wenden' können, so ist eine 'Wendung' der Erfahrung insgesamt möglich. Neben dem Philosophen ist es der Künstler und der Heilige, dessen Einsicht und Lebensform eine solche Wendung markiert. Solange der Intellekt bloßes Werkzeug des Willens ist, bewegt er sich im Raum kategorialer Erfah-

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'Klassische' Positionen

rung (d.h. der 'Erfahrung' im Sinne Kants). Tritt er aber — im Zuge beginnender Selbstverneinung des Willens — aus dieser Dienstbarkeit heraus in die ihm grundsätzlich mögliche Freiheit und Selbständigkeit, wird er zur 'besseren Erkenntnis', die die Möglichkeit einer transkategorialen Erfahrung von All-Einheit und Entindividualisierung sichtbar werden läßt. Der 'höchste Punkt', den Philosophie erreichen kann, erlaubt ihr nur, vom 'Anderen' der Erscheinung, der Anschauung und des Satzes vom Grund — dessen Konstitutionscharakter zugleich der Konstitutionscharakter von Denken und auch von Sprache ist — negativ zu sprechen. Philosophie kann (und muß, will sie konsequent sein) zwar festhalten, daß es eine Wirklichkeits- und Erfahrungsebene gibt, auf der begrifflichkategoriale Unterscheidungen nicht mehr gelten, aber sie kann diese Wirklichkeits- und Erfahrungsebene selbst nicht mehr zum Thema näherer Betrachtung und rationalen Argumentierens machen. Die Mystiker aber, sagt Schopenhauer, reden positiv vom Ding an sich, vom Jenseits der Erscheinung, also vom Jenseits möglicher Erkenntnis. Die Philosophie hingegen führt an das Thema der Mystik heran — aber sie selbst kann und darf nicht, will sie Philosophie bleiben, in Mystik übergehen. Die Abgrenzung zwischen Philosophie und Mystik nimmt Schopenhauer durch eine Berufung auf den kantischen Erfahrungsbegriff vor, der bei ihm allerdings — was auch methodische Konsequenzen für die Taxierung des Mystikbegriffs hat — eine nicht unerhebliche Transformation erfährt. Diese Transformation zielt auf eine Kant gegenüber alternative — und gleichwohl nicht mit der deutsch-idealistischen Version kongruente — Verhältnisbestimmung von Erfahrung und Metaphysik. Schopenhauers Metaphysik ist als W;7/e«imetaphysik eine neue und originelle Konzeption in der Geschichte des Denkens. Sie verdankt sich — nach Schopenhauers eigener Angabe — den drei (unter historischem Gesichtspunkt ziemlich heterogenen)68 'Wurzeln' Piaton, Kant und den Upanishaden, wobei sie diese drei Wurzeln freilich in eigenwilliger Weise adaptiert und zurechtstilisiert, so daß ein weitgehend homogenes Gedankengebäude entsteht, das von der Kraft eines zentralen Grundgedankens zusammengehalten wird. 69 Dieser 'eine' Gedanke besteht in der Vorstellung von einer einzigen, aber in sich doppelten Wirklichkeit: Die Welt sei gleichzeitig 'Wille' und 'Vorstellung' — zwei Bereiche, die aufeinander verweisen und in ihrem Ursprung dasselbe sind, sich aber als ausdifferenzierte niemals decken und zwischen denen somit eine Spannung besteht, die nicht ohne weiteres aufzulösen, aber auch nicht einfach als ein unlösbares Problem ad acta zu legen ist. Schopenhauer beruhigt sich nicht — wie später die Neukantianer — bei dem Gedanken der Unhintergehbarkeit transzendentalphilosophischer Vermittlung: daß uns die Wirklichkeit 'an sich' nun einmal einzig und allein über die subjektiven Formen des Bewußtseins gegeben sei. Andererseits will er die Vermittlung auch nicht einfach weginterpretieren und nicht mit einem Sprung — einem 'Glaubenssprung' oder einer (wie er sie den deutschen Idealisten vorwirft) unseriösen 'begrifflichen Erschleichung' — zur Wirklichkeit als solcher übersetzen. Worum er sich bemüht, kann der Sache nach — wie Volker Spierling das, freilich gegen die von Schopenhauer verwendete Terminologie, vorgeschlagen hat70 — als Dialektik bezeichnet werden, als Versuch eines 'Abarbeitens' der Gegensätze von unmittelbarer und mittelbarer Erfahrung. 71

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Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

Der Ausgang bzw. das Fundament des schopenhauerschen Systems ist unmißverständlich die Transzendentalphilosophie. Bevor darüber zu reden sei, was wir denken und erkennen können, sei das Instrumentarium des Denkens und Erkennens auf seine Möglichkeiten und Grenzen hin zu überprüfen. So lesen sich denn die Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde und das erste Buch der Welt als Wille und Vorstellung wie nur wenig abgeänderte Wiederholungen der reinen Vernunftkritik Kants. Schopenhauer übernimmt in den ersten Schritten der Darlegung seines 'Systems' im wesentlichen Kants eingeschränkten Erfahrungsbegriff, verbindet ihn jedoch im Fortgang seiner Argumentation mit einem völlig anderen Metaphysikbegriff, als Kant ihn ansetzt, und stellt damit auch die kantische Erfahrungskonzeption in einen neuen, veränderten Kontext. 72 In einer frühen Notiz (von 1815) verspricht Schopenhauer, seine Philosophie werde "nie im Mindesten das Gebiet der Erfahrung, d.h. des Wahrnehmbaren, im ganzen Umfang des Begriffs, überschreiten. Denn sie wird, wie jede Kunst, bloß die Welt wiederholen. "73 Es kommt nun freilich darauf an, was Schopenhauer unter Erfahrung 'im ganzen Umfang des Begriffs' und was er unter 'wiederholen' näher versteht. Stellt man das Zitat in den Kontext der späteren, systematisch ausgeführten Philosophie Schopenhauers, so schließt 'Erfahrung' die Reflexion über Erfahrung mit ein. Und 'die Welt wiederholen' meint deren Repräsentation durch Begriffe, die ihrerseits sich empirischen Quellen — näherhin: der Anschauung - verdanken. Das Insistieren auf Anschauung — das Geltenlassen apriorischer Begriffe nur für Logik und Mathematik — ist in Schopenhauers Philosophie ein eigenwilliger und im Kontrast zu Kant ein quasi empiristischer Zug. Schopenhauer entwickelt seine eigene Konzeption einer 'Erfahrungsmetaphysik' also einerseits im kritisch-modifizierenden Anschluß an Kant, andererseits in Kontrast zur apriorischen 'Metaphysik aus Begriffen', die er bei Fichte und Schelling74 — später auch bei Hegel75 — registriert. Von Belang ist, daß er — konträr zu Kant, der sie im Hinblick auf die 'Erfahrung' für unzuständig hält — die Metaphysik als 'Erfahrungswissenschaft' definiert und daß er — konträr zu Schellings Behauptung, man könne Erfahrung als solche apriorisch herleiten76 — davon ausgeht, auch metaphysische Grundbegriffe wie Wesen, Sein, Substanz, Vollkommenheit usw. seien "wie alle Begriffe, aus Anschauungen abgezogen". Sie seien keinesfalls apriorisch, sondern stammten zumindest indirekt aus der Erfahrung. Somit liege "die Quelle, oder das Fundament der metaphysischen Erkenntniß" niemals "in bloßen Begriffen" (SW 3, 199). Was Schopenhauer gegen eine bloße Begriffsphilosophie setzt, ist aber nicht eine auf Intuition sich berufende Glaubens- oder Gefühlsphilosophie, für die Erfahrung etwas Unmittelbares und Begriffsfosei wäre. Schopenhauer hält Begriffe — und zwar klare Begriffe — für das Denken unentbehrlich, bestimmt dieses aber so, daß es auf einer ersten Stufe — der Stufe des 'Verstandes' — Anschauliches verallgemeinert und auf einer zweiten Stufe — der Stufe der 'Vernunft' — aus diesen primär gewonnenen Abstraktionen weitere, sekundäre Abstraktionen entwikkelt. 77 Demnach gibt es Begriffe primärer und sekundärer Ordnung, doch auch die sekundär gewonnenen (zu denen er die philosophischen Begriffe zählt) sind — indirekt — Erfahrungsbegriffe, da sie sich auf den Ursprung direkter Anschauung zurückführen

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'Klassische' Positionen

lassen. Daraus leitet Schopenhauer seine These vom "Ursprung der Metaphysik aus empirischen Erkenntnißquellen" ab (SW 3, 201). Metaphysik im Verständnis Schopenhauers ist allerdings keine Super-Erfahrungswissenschaft, die die konkreten Einzelerfahrungen, die wir machen, als solche enthielte und aus der sich diese deduzieren ließen, sie leistet aber ein qualitatives Verständnis dessen, was Erfahrung als solche und im Ganzen ist. "Die Aufgabe der Metaphysik ist zwar nicht die Beobachtung einzelner Erfahrungen, aber doch die richtige Erklärung der Erfahrung im Ganzen." (SW 3, 201) Das Ganze der Erfahrung baut sich aus dem Zusammenspiel von äußerer (anschaulicher) und innerer (reflexiver) Erfahrung auf — ein Zusammenspiel, das auch den systematisch ineinander verschränkten Gegensatz von Erscheinung und Ding an sich beinhaltet. Erscheinung und Ding an sich sind Korrelationsbegriffe, und daraus folgert Schopenhauer, daß — auch wenn unsere Erkenntnis prinzipiell auf Erscheinung beschränkt ist — das Ding an sich als Antifolie der Erscheinung mit dieser notwendig m/igedacht werden muß, daß das Ding an sich also mehr als ein Grenzbegriff sei und mehr als ein völlig unbekanntes X, das uns weiter nicht zu beschäftigen bräuchte. Sofern Erscheinung ein Gegenstand unseres Denkens ist, geht dieses Denken der Erscheinung auf den Grund und stellt sie in einen Zusammenhang mit jenem Gegenstand, von dem sie Erscheinung ist. Das Selbstbewußtsein also ist der Ort, wo die Erscheinung auf das Ding an sich rückbezogen und als Gegenstand sui generis gedacht wird und gedacht werden muß. Schopenhauers 'Selbstbewußtsein' ist also ein in gewisser Weise dem cartesischen 'cogito' vergleichbarer Reduktionspunkt, von dem aus die gesamte Wirklichkeit neu zu denken unternommen wird, nur ist für Schopenhauer dieser Reduktionspunkt keine idealistische Dimension des reinen Denkens, sondern der in konkreter Identität mit seinem Leben und seinem Leib sich wissende Mensch. Diese leib- und lebensbezogene Identität des Selbstbewußtseins gibt ihm die Gewißheit, daß das Ich nicht bloß Erscheinung, nicht bloßes Spiel der Reflexion sein kann, sondern daß es darüber hinaus auch Ding an sich ist: absolute Realität. Dieses An-sich bestimmt Schopenhauer als den menschlichen Willen, den er per Analogieschluß vom Menschen her als wesenhaft für die gesamte, auch außermenschliche Wirklichkeit ansetzt. Dort erhält der 'Wille' — als 'bewußtloser' — freilich eher die Bedeutung von 'Trieb' und 'Lebensdrang'. Zwar räumt Schopenhauer ein, daß der 'Wille' das Ding an sich nur in einem relativen Sinn bezeichne, daß es sich dabei nicht um eine absolute Erkenntnis handle. Der Wille selbst ist nicht mehr hintergehbar und erklärbar, er ist die letzte und höchste 'qualitas occulta'. Doch kann er in seinen entscheidenden Wesenszügen sehr wohl beschrieben werden. Schopenhauers methodischer Schritt, der von einer rein formalen Bestimmung des Dings an sich (wie Kant sie vornimmt) hinüberführt zu einer inhaltlichen Bestimmung als 'Wille', bedeutet in der Perspektive des Kritizismus zweifellos einen Schritt zurück in die dogmatische Metaphysik — mit dem Unterschied freilich, daß die inhaltliche Bestimmung nicht einen theoretischen Begriff (wie 'Substanz' oder 'höchste Idee') bemüht, sondern vielmehr die (wenngleich begrifflich elaborierte) konkret-leibliche Erfahrung. Deshalb verbleibe seine Metaphysik, meint Schopenhauer, in der Immanenz des Erfahrbaren — sie werde nicht 'transzendent' (in der Terminologie Kants).

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

"Denn sie reißt sich von der Erfahrung nie ganz los, sondern bleibt die bloße Deutung und Auslegung derselben, da sie vom Dinge an sich nie anders, als in seiner Beziehung zur Erscheinung redet." Sie geht "nie eigentlich über die Erfahrung hinaus, sondern eröffnet nur das wahre Verständniß der in ihr vorliegenden Welt. [...] sie ist ein Wissen, geschöpft aus der Anschauung der äußern, wirklichen Welt und dem Aufschluß, welchen über diese die intimste Thatsache des Selbstbewußtseyns liefert, niedergelegt in deutliche Begriffe. Sie ist demnach ErfahrungsWissenschaft: aber nicht einzelne Erfahrungen, sondern das Ganze und Allgemeine aller Erfahrung ist ihr Gegenstand und ihre Quelle. [...] Demnach ist die Philosophie nichts Anderes, als das richtige, universelle Verständniß der Erfahrung selbst, die wahre Auslegung ihres Sinnes und Gehaltes." (SW 3, 204)

Metaphysik oder Philosophie — beides ist bei Schopenhauer synonym — ist also Auslegung der Erfahrung. Als Auslegung geht sie zwar über die Erfahrung hinaus — und in diesem Hinausgehen qualifiziert sie sich als Metaphysik (die nach Schopenhauer per definitionem nicht die 'Erfahrung selbst' sein kann), doch sie bleibt ihrer Herkunft und ihrer Absicht nach auf Erfahrung bezogen. Sie 'wiederholt' die Welt 'in Begriffen', wie der Künstler sie im künstlerischen Werk wiederholt — es ist eine beschreibend-auslegende, keine setzend-normative Tätigkeit. "Das Ganze der Erfahrung gleicht einer Geheimschrift, und die Philosophie der Entzifferung derselben, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden Zusammenhang bewährt. Wenn dieses Ganze nur tief genug gefaßt wird und an die äußere die innere Erfahrung geknüpft wird; so muß es aus sich selbst gedeutet, ausgelegt werden können." (SW 3, 202 f.)

Nicht nur als Erscheinung ist uns also die Wirklichkeit gegeben, sondern auch — erfahrbar über den Leib — als Wille. Die Identität unseres Selbstbewußtseins mit unserem Leib läßt den Schluß auf die Identität von Wille und Erscheinung zu. Somit ist eine Deutungsebene gewonnen, auf der sich die Erscheinung bzw. die (die Erscheinung als solche hervorbringende und konstituierende) Erkenntnis — der Intellekt also, das kategorialbegriffliche Denken — als Gestalt und Ausdruck des Willens interpretieren läßt. In der Welt der Erscheinung — in Anschauung, Verstand und Vernunft, in den Gegenständen und Kategorien der Erfahrung und des Denkens — repräsentiert sich der Wille selbst. Freilich erschöpft sich der Begriff der Wirklichkeit nicht im Begriff des Erkennens und Erkanntwerdens. Letzteres ist sekundär, erfaßt weder in der Breite noch in der Tiefe die Wirklichkeit im ganzen. Da aber der Wille mit der Wirklichkeit gleichgesetzt wird, ist der Wille der Erkenntnis gegenüber ontologisch primär. Das Denken ist eine bestimmte und begrenzte Weise, in der und über die sich der Wille ausdrückt. Der Intellekt ist ein Instrument des Willens, nicht aber sein einziges Instrument. Das Begehren, die Gefühle, die leiblichen Organe — insbesondere die Geschlechtsorgane — sind in einem noch viel fundamentaleren Sinn die Instrumente dieses Willens.

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'Klassische' Positionen

Schopenhauer geht davon aus, er habe auf induktivem Weg — auf dem Weg der Erfahrung — den Willen als 'Wesen' der Wirklichkeit entdeckt. Da Erfahrungen sich auf Wirklichkeit beziehen müssen, sind sie demnach Erfahrungen des Willens. Was uns nun die Erfahrung — hier verknüpfen sich bei Schopenhauer Metaphysik und Pessimismus — insgesamt lehrt, ist ein wollend-strebender, nie ans Ziel gelangender, unglücklicher, Leid empfangender und Leid austeilender Grundcharakter all unseres Daseins und (per analogiam) des Daseins alles Lebendigen überhaupt. Daß es demgegenüber auch Erfahrungen der Freude, des Glücks, der Heiterkeit und der Hoffnung gibt, läßt Schopenhauer nur als vordergründige Einschränkung gelten. Sein Argument ist, daß kein Mensch bei solchen Glücksmomenten stehenbleiben könne, weil sie alle vorübergehen und in neue Momente des Unglücks oder bestenfalls der Langeweile einmünden, so daß sie nur punktuelle Erleichterungen im konstitutiven Unglücklichsein darstellen. Der eine Wille in seinen vielen Gestalten — in der Vielheit der Lebewesen — sei in sich zerrissen, leidvoll, unglücklich. Ziehe das Bewußtsein Bilanz, müsse es sich eingestehen, daß es besser wäre, nicht zu sein. Sein, Wirklichkeit, Wille, Unglück und Leid sind — dieser Perspektive zufolge — eins. Auch die pessimistische Gesamtdeutung der Welt, die die Metaphysik liefert, ist für Schopenhauer eine Sache der Erfahrung und keineswegs eine willkürlich-spekulative Interpretation, die genausogut gegenteilig ausfallen könnte — nämlich als Theodizee oder Kosmodizee. Der Pessimismus Schopenhauers ist sowohl in seiner methodischen Begründung wie seinem Inhalt nach durchaus problematisch, doch ist er ein besonderes Charakteristikum dieser Philosophie, ohne das Schopenhauers weitere 'soteriologische' Überlegungen, die zur 'Dimension' der Mystik hinführen 78 , nicht verständlich sind. Der unglückliche Wille, sagt Schopenhauer, sehnt sich nach Erlösung. Diese stellt sich aber nicht dadurch ein, daß der Wille aus eigener Absicht und Kraft die Erlösung bewerkstelligen könnte, denn jeder Willensakt schafft neues Leid. Das gilt auch für den Suicid. 79 Erlösung gibt es nur dann, wenn der Wille sich gegen sich selber wendet und — nicht in einem schnellen und verzweifelten Gewaltakt, sondern in weiser Überlegung — sich selbst als Willen abtötet und vernichtet. Voraussetzung dafür ist, daß wir den ausweglosen Charakter des Willens erkennen: daß sein Grundübel in der Vereinzelung, in der Individuation liegt und daß, so lange er dem 'natürlichen' Prinzip der (individuellen) 'Selbsterhaltung' folgt, das Übel ohne Aussicht auf ein Ende reproduziert wird. Wir haben — in aufeinanderfolgenden Schritten auf dem Weg zur Erlösung — unsere Identität nicht mehr in unserer Individualität zu sehen, sondern in der Identität der Gattung, des Lebendigen und schließlich des Seins — des Willens — überhaupt. Die Stufen dieses Identitätswandels beschreibt Schopenhauer — im dritten und vierten Buch seines Hauptwerks — als Lebensformen der (Ideen-)Ästhetik und (Mitleids-)Ethik. In der Kontemplation des Naturschönen und im künstlerischen Werk ist eine erste, vorübergehende Entindividualisierung möglich. 80 Der kontemplative Rückgang auf die 'Ideen', die Schopenhauer (in einer eigenwilligen Platon-Interpretation) als Gattungsbegriffe qualifiziert, vermittelt ein erstes und vorübergehendes Quietiv für den quälenden und gequälten Willen. Solch 'vorübergehende Erlösung' via Kontemplation ist nach Schopenhauers Auffassung die Aufgabe der Kunst, die aber nur einen flüchtigen Vor-

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Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

Schein auf die wahre, dauernde Erlösung bringt. Diese ist erst auf dem Boden der Ethik möglich. Deren 'Fundament' ist die metaphysische Einsicht in den Willens-, Leidensund All-Einheits-Charakter der Wirklichkeit. Indem wir die Individuation als Ausdruck des in sich zerrissenen Willens, als 'Schein' des willensbestimmten Intellekts und als soteriologisch aufzuhebendes Übel 'erkennen', wird Mitleid — der Verzicht auf Egoismus — als entscheidende Quelle einer altruistisch-solidarischen Moral begriffen. Die Mitleidsmoral aber ist nur die Vorstufe einer allgemeinen und radikalen Verneinungsmoral. Das in der Sanskritformel tat tvam asi ausgedrückte Wiedererkennen unserer selbst im Anderen — das Erkennen der All-Einheit des Lebendigen — ist erst die Vorstufe zur letzten Erkenntnisstufe, die schließlich die Trennung von Subjekt und Objekt endgültig aufhebt: die Erkenntnis der Identität mit dem Nichts. Der Intellekt, der seiner Natur nach Ausdruck und Gestalt des Willens ist und bislang (als 'instrumentelle Vernunft') in dessen Diensten stand, tritt auf der Erlösungsstufe aus dieser Dienstbarkeit heraus und betreibt — durch passiven Widerstand — Willensdestruktion. Dies geschieht durch die Tugenden 'Kontemplation', 'Askesis' und 'Mystizismus'. Der vom 'gewendeten' Intellekt durchdrungene, von ihm langsam durchsetzte, zersetzte und schließlich substantiell ersetzte Wille, wie er sich im Einzelmenschen individuiert hatte, löst sich auf. Die Welt des Willens und zugleich die Welt der Erscheinung — das Streben und Wollen nach Triebbefriedigung und nach weltlichen Gütern, aber auch das begriffliche Denken im Dienste des Willens — werden gleichgültig und gehen in ein 'Nichts' über. Dieses 'Nichts' ist kein 'nihil absolutum', sondern — weil es auf Wille und Erscheinung bezogen bleibt — ein 'relatives' Nichts. Es ist das auf die Geltung von Individualität und Vereinzelung, von Zeit und Raum, von Kausalität und Gegenständlichkeit, von Wille und Leid bezogene Nichts. Die Geltung dieser Kategorien schwindet für den, der ihre Nichtigkeit 'erkennt'. Wer sich dem Nichts nähert, kann und will nicht mehr argumentieren. Er überzeugt mit seinem Beispiel nur den, der selbst diesen Weg geht bzw. in dem die Intuition aufblitzt, daß dieser Weg praktisch möglich und daß es möglicherweise auch der (absolut) richtige Weg sei, den wir als wollend-unglückliche und erlösungsbedürftige Lebewesen gehen können. Zeugnis dafür, daß dieser Weg möglich und daß er zudem schon vielfach gegangen worden sei, sind für Schopenhauer die 'Heiligen' und 'Mystiker 1 : "Diese predigen neben der reinsten Liebe auch völlige Resignation, freiwillige gänzliche Armuth, wahre Gelassenheit, vollkommene Gleichgültigkeit gegen alle weltlichen Dinge, Absterben dem eigenen Willen und Wiedergeburt in Gott, gänzliches Vergessen der eigenen Person und Versenken in die Anschauung Gottes." (SW 2, 457) 81

Schopenhauer gibt zu, daß die Weisheit mancher Mystiker mit abergläubischen Vorstellungen vermengt sei, doch er plädiert diesbezüglich für Nachsicht. Was zähle, sei die von den Mystikern in ihrer Lebenspraxis beispielhaft demonstrierte 'Überwindung der Welt'. Über deren Dignität findet er am Schluß des vierten Buches der Welt als Wille und Vorstellung nahezu lyrische Worte:

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'Klassische' Positionen

"Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf Diejenigen, welche die Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntniß gelangt, sich in Allem wiederfand und dann sich selbst frei verneinte, und welche dann nur noch seine letzte Spur, mit dem Leibe, den sie belebt, verschwinden zu sehn abwarten; so zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Ueberganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Raphael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist: nur die Erkenntniß ist geblieben, der Wille ist verschwunden." (SW 2, 486)

Was die Heiligen und Mystiker 'Gott' nennen, bezeichnet Schopenhauer — der es außerdem mit Brahman und Nirwana gleichsetzt82 — als das (relative) Nichts bzw. als das Ding an sich jenseits der Erscheinung und des Willens.83 Den schon früh erwogenen, noch einmal 1832 in einer Notiz wiederholten Gedanken, auch in philosophischer Terminologie das Nichts als 'Gott' zu bezeichnen, verwirft Schopenhauer allerdings, da der alte Name dadurch ja nur — bei Verlust all seiner 'positiven' Attribute — die bislang mit ihm verknüpfte Bedeutung verlöre und daher bloß zu Mißverständnissen Anlaß gäbe. 84 Im übrigen ordnet er die Mystiker — freilich in einer etwas gewaltsamen Interpretation, indem er sie nämlich gegenüber den 'optimistischen' Pantheisten absondert — insgesamt dem Pessimismus zu. Diesen sieht er im 'echten Christentum' — d.i. bei ihm: im Neuen Testament und bei Luther, im Augustinismus und im Jansenismus — verwirklicht. 85 *

Für Schopenhauer bleibt Mystik freilich ein religiöses Phänomen. Nur der religiöse Diskurs habe ein — relatives — Recht, vom Ding an sich 'positiv' zu reden. Die — mit dem Ding an sich in seiner nicht-gegenständlichen Negation gleichzusetzende — Dimension des Heiligen aber sei kein religiöses Monopol: auch der Philosoph und der Künstler erfahren von dorther die Sinnstiftung des Denkens und des künstlerischen Schaffens, und der Kunstrezipient empfängt von dorther den Sinn der ästhetischen Betrachtung. Was nun aber die Religion betrifft, so ist sie für Schopenhauer in ihrem Wert für den Weg der Erlösung ambivalent: einerseits enthalte sie — in unterschiedlicher Dosierung — tiefe 'allegorische Wahrheiten' und, damit verknüpft, ethische Anleitungen, andererseits aber auch blinde Spekulation, Aberglauben und die amoralische Tendenz zu Fanatismus, Intoleranz und Gewalt. Mystik aber zählt zur 'wahren' und ethisch produktiven Komponente der Religion. Schopenhauer setzt die Religion in einen klaren Gegensatz zur Philosophie und hält jede Vermischung für unzulässig. Daher gibt es für ihn strenggenommen keine 'philosophische Mystik' oder 'mystische Philosophie', auch wenn Philosophie zu jener Dimension hinführt, deren Ausdruck Mystik ist. Der Religion streitet er grundsätzlich die Fähigkeit ab, Philosophie zu verstehen und zu akzeptieren — nur umgekehrt sei das möglich: Philosophie könne sehr wohl die in der Religion enthalte-

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Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

nen, dort mit Aberglauben und priesterlichen Herrschaftsansprüchen kontaminierten 'allegorischen Wahrheiten' auf den Begriff bringen. Schopenhauer, obwohl vom Pietismus und von der religionsfreundlichen Romantik stark beeinflußt, nimmt also in der Beurteilung von Religion weniger eine romantische als vielmehr eine aufklärerische Position ein, dergemäß er auch an ein absehbares historisches Ende der Religion glaubt. In einer Art 'Euthanasie' werde das Christentum sanft entschlafen und einem wissenschaftlichen Weltbild Platz machen. 86 Schopenhauer teilt mit Hegel die Einschätzung der Mystik als eines anachronistischen religiösen Phänomens, das gleichwohl den philosophisch überaus relevanten Grundgedanken einer meta-gegenständlichen und meta-kategorialen Erfahrung enthalte, und er teilt mit Hegel die Ablehnung jeder zeitgenössischen philosophischen Adaptierung von Mystik, ja — über Hegel hinaus — einer philosophischen Adaptierung überhaupt. Anders als Hegel ist ihm die Religion nämlich keine Vorstufe zur Philosophie und ist ihm die Philosophie keine Vollendung der Religion, sondern beide sind und waren seit je miteinander unvereinbare Denkweisen und Haltungen eigener Prägung. Schopenhauers Liebe zur Mystik ist nicht das Interesse für eine dem Philosophen offenstehende Existenzmöglichkeit, es ist vielmehr die Liebe zu einer für ihn unmöglichen, zu einer vergangenen und fremden, hier und heute nicht mehr wiederholbaren Möglichkeit. Die Lebensform des 'Heiligen' und des 'Weisen' ist, bei aller Überschneidung, niemals dieselbe. Und so zieht Schopenhauer zumindest methodisch — und hierin wieder in der Tradition des Kritizismus — eine scharfe Trennlinie zwischen Mystik und Philosophie. Nachdem er am Ende des vierten Buches der Welt als Wille und Vorstellung den in der Mystik sich ausdrückenden 'umgekehrten Standpunkt' erläutert hat, zieht sich Schopenhauer wieder auf philosophisches Terrain zurück, das er als seine Position kenntlich macht: "Wir aber, die wir ganz und gar auf dem Standpunkt der Philosophie stehn bleiben, müssen uns hier mit der negativen Erkenntniß begnügen, zufrieden den letzten Gränzstein der positiven erreicht zu haben." (SW 2, 485 f.) Wo begriffliche und kategoriale Trennungen wie Subjekt und Objekt, Raum und Zeit, Kausalität und Gegenständlichkeit nicht mehr gelten, darf sich die Philosophie keinen weiterführenden Spekulationen hingeben. Hier ist keine Argumentation, keine klar verstehbare Sprache mehr möglich. Gerade darüber aber spekuliert der Mystiker, und darüber spricht er. Somit kann er philosophisch nicht überzeugen. Philosophie führt diskursiv an die Grenze des Denk- und Sagbaren. Mystik weiß sich intuitiv bereits jenseits dieser Grenze. Wovor die Philosophie sich zu hüten habe, sind aber auch die apriorischen Vernunftideen der deutschen Idealisten. Philosophie muß 'Rationalismus' bleiben und darf nicht in 'Illuminismus' umkippen. Letzterer sei "wesentlich nach innen gerichtet", habe "innere Erleuchtung, intellektuelle Anschauung, höheres Bewußtseyn, unmittelbar erkennende Vernunft, Gottesbewußtseyn, Unifikation u.dgl. zum Organon" und schätze den Rationalismus "als das 'Licht der Natur' gering". Lege der Illuminismus "dabei eine Religion zum Grunde, so wird er Mysticismus. Sein Grundgebrechen ist, daß seine Erkenntniß eine nicht mittheilbare ist; theils weil es für die innere Wahrnehmung kein Kriterium der Identität des

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'Klassische' Positionen

Objekts verschiedener Subjekte giebt; theils weil solche Erkenntniß doch mittelst der Sprache mitgetheilt werden müßte, diese aber, zum Behuf der nach außen gerichteten Erkenntniß des Intellekts, mittelst Abstraktionen aus derselben, entstanden, ganz ungeeignet ist, die davon grundverschiedenen innern Zustände auszudrücken, welche der Stoff des Illuminismus sind, der daher sich eine eigene Sprache zu bilden hätte, welches wiederum, wegen des ersteren Grundes, nicht angeht. Als nicht mittheilbar

ist nun eine

dergleichen Erkenntniß auch unerweislich; worauf denn, an der Hand des Skepticismus, der Rationalismus wieder ins Feld tritt." (SW 6, 10)

Die historischen Gestalten des Rationalismus, so Schopenhauer, seien Dogmatismus, Skeptizismus und Transzendentalphilosophie, "welche davon ausgeht, daß ihr nächster und unmittelbarer Gegenstand nicht die Dinge seien, sondern allein das menschliche Bewußtseyn von den Dingen, welches daher nirgends außer Acht und Rechnung gelassen werden dürfe". Auf dieser Stufe komme "der Rationalismus zu der Erkenntniß, daß sein Organon nur die Erscheinung erfaßt, nicht aber das letzte, innere und selbsteigene Wesen der Dinge erreicht" (SW 6, 10). Das Wissen um diese Differenz sei nun für den Illuminismus das Einfallstor in die Philosophie. Er sei "ein natürlicher und insofern zu rechtfertigender Versuch zur Ergründung der Wahrheit" (SW 6, 11). Nur führe er eben nicht ans Ziel und habe nicht Wahrheit, sondern bloße intellektuelle Anmaßung zum Resultat. Doch "die Philosophie soll mittheilbare Erkenntniß, muß daher Rationalismus seyn" (ebda.). Schopenhauer sieht seine eigene Willensmetaphysik als Gestalt des Rationalismus. In ihr habe er "zwar, am Schluß, auf das Gebiet des Illuminismus, als ein Vorhandenes, hingedeutet, aber mich gehütet, es auch nur mit Einem Schritte zu betreten, dagegen denn auch nicht unternommen, die letzten Aufschlüsse über das Daseyn der Welt zu geben, sondern bin nur so weit gegangen, als es auf dem objektiven, rationalistischen Wege möglich ist. Dem Illuminismus habe ich seinen Raum freigelassen, wo ihm, auf seine Weise, die Lösung aller Räthsel werden mag, ohne daß er dabei mir den Weg verträte, oder gegen mich zu polemisiren hätte." (SW 6 , 1 1 )

Hier meint Schopenhauer offensichtlich nur den (vorhin als 'Mysticismus' definierten) religiösen Illuminismus. Ihn läßt er als eine seriöse Alternative zu, während er den philosophischen Illuminismus, obgleich er ihn in seiner Motivation verständlich findet, entschieden ablehnt. Den historischen Ursprung des philosophischen Illuminismus ortet er — wie schon Kant den Ursprung des philosophischen 'Schwärmertums' — bei Piaton, und er zieht eine geistesgeschichtliche Linie von Piaton, Neuplatonismus und Gnosis über die hochmittelalterliche deutsche Mystik bis zu Jacobi, Schelling und zum späten Fichte. Historisch sei in der Philosophie eine 'Pendel'bewegung zwischen Rationalismus und Illuminismus zu beobachten. Der letztgenannte "tritt allemal auf, wann der Rationalismus ein Stadium, ohne das Ziel zu erreichen, durchlaufen hat" (SW 6, 10 f.). Indessen macht Schopenhauer an der betreffenden Stelle eine Anmerkung, die seinen strikten Trennungsversuch von Philosophie und Mystik, von Rationalismus und Illuminismus, aber auch das für seine eigene Metaphysik postulierte klare Verhältnis von Inhalt und Methode wieder in Frage stellt:

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

"Inzwischen mag oft genug dem Rationalismus ein versteckter Illuminismus zum Grunde liegen, auf welchen dann der Philosoph, wie auf einen versteckten Kompaß, hinsieht, während er eingeständlich seinen Weg nur nach den Sternen, d.h. den äußerlich und klar vorliegenden Objekten, richtet und nur diese in Rechnung bringt. Dies ist zulässig, weil er nicht unternimmt, die unmittheilbare Erkenntniß mitzutheilen, sondern seine Mittheilungen rein objektiv und rationell bleiben. Dies mag der Fall gewesen seyn mit Plato, Spinoza, Malebranche und manchem Andern: es geht niemanden etwas an: denn es sind die Geheimnisse ihrer Brust." (SW 6, 11)

Mystik als 'versteckter Kompaß' läßt sich — überblickt man den Fortgang der philosophischen Argumentation vom kritizistischen Beginn des ersten Buchs bis zur 'Epiphilosophie' des vierten Buchs der Welt als Wille und Vorstellung — sicherlich auch für Schopenhauer selbst behaupten. Es gibt — wenngleich geringere — Indizien dafür, einen solchen Kompaß sogar bei Kant anzunehmen. 87 Trotz dieser inneren Orientierung sind aber weder Kant noch Schopenhauer als 'Mystiker' klassifizierbar, denn wollte man dies tun, kehrte man ihr ausdrückliches Bemühen um den rationalen Diskurs der Philosophie — um Objektivität in der Sache des Denkens und um Intersubjektivität in der Weise der Mitteilung — unter den Tisch. Das Spezifische der schopenhauerschen Mystikkonzeption besteht darin, daß Erfahrung und Rationalität zwar zur Mystik hinführen, sich von dieser Grenze aber wieder auf den 'festen Boden' der Anschauung und der Begriffe zurückbegeben. Mit einem solchen Hin- und Rückgang wird eingeräumt und zugegeben, daß es jenseits von Anschauung und Begriff eine reale Wirklichkeit gebe, in der auch Erfahrung in einem weiteren, einem nicht mehr transzendentalphilosophisch eingeschränkten Sinn möglich sei. Dabei handelt es sich dann freilich um eine Erfahrung jenseits von Anschauung und Begriff, d.h. jenseits aller Darstellungsmöglichkeit von Denken und Sprache. Der junge Schopenhauer hatte diese Erfahrung mit dem — später nicht mehr verwendeten und durch 'Nichts' und 'Verneinung' ersetzten — Begriff des 'besseren Bewußtseins' umschrieben. 88 *

Anzumerken bleibt, daß Schopenhauers 'innerer Kompaß' gelegentlich — auf Kosten der Kohärenz seines Systems — allzu kräftig ausgeschlagen hat. In seiner Schrift Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängti9 erörtert er ganz ernsthaft okkulte Phänomene wie Telepathie, Hellsehen und Hypnose und will sie vor dem Hintergrund seiner Willensmetaphysik rational erklären. Dabei verläßt er — ohne dies selbst zu merken, zumindest ohne daß er darauf aufmerksam macht — den Boden der transzendentalphilosophischen Grundlegung seines Systems und ergeht sich — um mit Kant zu sprec h e n — in 'transzendenten' Spekulationen. Es verliere das sogenannte 'Hellsehen' "seine absolute Unbegreiflichkeit, wenn wir wohl erwägen, daß [...] die objektive Welt ein bloßes Gehimphänomen ist: denn die auf Raum, Zeit und Kausalität (als Gehirnfunktionen) beruhende Ordnung und Gesetzmäßigkeit desselben ist es, die im somnambulen Hellsehn in gewissem Grade beseitigt wird. Nämlich in Folge der kantischen Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit begreifen wir, daß das Ding

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'Klassische' Positionen

an sich [...] den Unterschied von Nähe und Ferne, von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht kennt; daher die auf jenen Anschauungsformen beruhenden Trennungen sich nicht als absolute erweisen, sondern für die in Rede stehende, durch Umgestaltung ihres Organs im Wesentlichen veränderte Erkenntnißweise, keine unübersteigbare Schranken mehr darbieten." (SW 5, 280)

Und weiter heißt es: "Jede Mantik, sei es im Traum, im somnambulen Vorhersehn, im zweiten Gesicht, oder wie noch etwan sonst, besteht nur im Auffinden des Wegs zur Befreiung der Erkenntniß von der Bedingung der Zeit." (SW 5, 281) Die okkulten Phänomene 'beweisen' nach Schopenhauer aber nicht nur die reale Möglichkeit einer 'visio in distans', sondern — wie der 'animalische Magnetismus' als "unmittelbares Wirken des Willens auf Andere und in die Ferne" (SW 5, 281) — auch einer 'actio in distans'. Mit Hilfe okkulter Fähigkeiten "leisten wir daher unabhängig von den Beschränkungen, welche Raum, Zeit und Kausalität herbeiführen, was wir sonst und alltäglich nur unter diesen vermögen. In ihnen hat also unser innerstes Wesen, oder das Ding an sich, jene Formen der Erscheinung abgestreift und tritt frei von ihnen hervor." (SW 5, 282) Nicht erst am Ende, wenn der Wille 'sich gewendet' hat, und nicht nur in den weltentrückten Augenblicken der ästhetischen Erfahrung, sondern schon mitten in den weltlichen Geschäften unseres Denkens und Handelns würden demnach die Eigenschaften des Intellekts und des Willens gelegentlich außer Kraft treten und würde eine "andere Ordnung" in Erscheinung treten, die "eine tiefer liegende, ursprünglichere und unmittelbarere" sei als die Ordnung von Raum, Zeit und Kausalität (SW 5, 282). Der Denkfehler Schopenhauers in seiner Befassung mit okkulten Phänomenen — zumal beim 'animalischen Magnetismus' — dürfte darin liegen, daß er hier eine Wirksamkeit von Kausalität überhaupt leugnet und in vorschnellem Rückgriff auf eine allerletzte 'qualitas occulta', nämlich auf das kausalfreie Ding an sich, die Möglichkeit einer Kausalität eigener Art, d.h. einer Kausalität bisher ungenügend erkannter, aber realer Faktoren, unbeachtet läßt. Schopenhauer hatte sich in seiner Metaphysik — mit welch bezweifelbarem Erfolg auch immer — um eine Synopsis von idealistischer Erkenntnistheorie und materialistisch orientierten Realwissenschaften bemüht. Folgt man seiner idealistischen Perspektive, bedeutet Mystik die Verneinung der durch den Willen — den Lebenstrieb — und die (von diesem instrumenteil gebrauchten) Kategorien bzw. Anschauungsformen Kausalität, Raum und Zeit faktisch konstituierten Welt. Mystik ist demnach Verneinung des Seienden, das freilich nicht die letzte Ebene der Wirklichkeit darstellt. Es ist eine Ebene, in der man nicht mehr wollen und denken kann — ein zu allem positiv Gegebenen 'relatives Nichts'. Folgt man der materialistischen Perspektive in Schopenhauers Werk, dann ist Mystik hingegen nicht das eben bezeichnete schlechthinnige 'X' der Wirklichkeit, sondern die metaphysische Einheit des Willens vor seiner Verneinung, die sich auf einer ersten Stufe als Einheit einer Idee oder Gattung und auf einer zweiten Stufe als Einheit alles Lebendigen bzw. des Seins überhaupt repräsentiert. Was die okkulten Phänomene nach Schopenhauer real zeigen, ist also eine direkte Repräsentation der Idee bzw. des Willens überhaupt. In der idealistischen Perspektive hingegen liegt der Versuch vor, die

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Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

Ebene der Repräsentation als solche hinter sich zu lassen. Eben weil Denken, so wie alle Gestalten des Willens, Repräsentation ist, bleiben nur noch negative Aussagen übrig. Es sind also auch keine Aussagen über Einheit und Identität mehr möglich. Während somit Schopenhauers materialistische Perspektive einen in sich positiven 'Grund' der Wirklichkeit ansetzt, formuliert seine idealistische Perspektive die Erfahrung eines 'Abgrunds'. Ob die Wirklichkeit zuletzt als 'Grund' oder 'Abgrund' zu sehen sei, bleibt bei Schopenhauer — wie bei Hegel — unentschieden. Ihrer Systemform nach tendiert diese Philosophie zum 'Grund', ihrem Anspruch auf Erfahrung nach tendiert sie zum 'Abgrund'. *

Erst bei jenen 'nachidealistischen' Problemdenkern, die — wie Kierkegaard oder Nietzsche — das System als Denkform ablehnen, wird das bei den idealistischen Systemphilosophen vielfach beobachtbare Kokettieren mit dem 'Abgrund' zum bitteren existentiellen Ernst. Man kann, wie Jaspers dies getan hat, Kierkegaard und Nietzsche unter diesem Aspekt als 'Existenzphilosophen der ersten Generation' ansehen. Bei ihnen verschiebt sich freilich die Spannung zwischen 'Grund' und 'Abgrund' ganz zugunsten des letzteren, wobei sich Kierkegaard in den tertullianischen 'Glaubenssprung', Nietzsche in den 'amor fati' des Wiederkehrgedankens rettet — offensichtlich zwei (durchaus wieder ihrerseits als Illusionen interpretierbare) Reaktionsmöglichkeiten auf eine extrem illusionslose Erfahrung des 'Abgrunds'. Bezeichnenderweise bemühen sich Kierkegaard und Nietzsche jedoch nicht um den Ausdruck Mystik90 und auch nicht um die unter dem Namen Mystik geläufige Tradition — ein Indiz dafür, daß Mystik auch dann aus dem Blick gerät und an Relevanz verliert, wenn nicht der 'Grund', sondern der 'Abgrund' in seiner ontologischen Geltung verabsolutiert wird. Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus bedeutet historisch in mehrfacher Weise eine Zäsur, und das 'nachidealistische' Denken geht verschiedene und vielfach miteinander unvereinbare Wege. 91 Was für den 'Nachidealismus' nicht mehr gilt, was er als Negation abzuarbeiten bemüht ist und wofür er nach Alternativen sucht, kann — grob gesagt — auf drei miteinander zusammenhängende Momente konzentriert werden. Zusammengebrochen ist mit dem deutschen Idealismus erstens der systematisch-enzyklopädische Anspruch der Philosophie, ihr Anspruch auf Fundierung und/oder überhöhenden Abschluß alles (auch und im besonderen des wissenschaftlichen) Wissens; zweitens das Selbstverständnis von Philosophie als Fortsetzung der Religion, ja als deren eigentliches Telos; und drittens das Vertrauen in den Intellekt als Ort einer allumfassenden, nicht mehr revidierbaren Wahrheit. Mit der Skepsis am Medium des Denkens — welches Materialismus und Positivismus auf Physiologie oder Ökonomie hin relativieren wollen, der romantisch-religiöse Spiritualismus hingegen auf eine transmundane Göttlichkeit — werden Leistungsfähigkeit und Wirklichkeitsgehalt des Intellekts zunehmend fragwürdig. Den tiefsten Punkt erreicht die Einschätzung des Intellekts schließlich in der Psychoanalyse, deren Begriff 'Rationalisierung' eine — prinzipiell 'verkehrte' — Ersatzhandlung bezeichnet. 92

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'Klassische'

Positionen

Wenn das Denken über die Wirklichkeit in besonderer Weise fragwürdig wird, bedeutet dies auch eine zunehmende Fragwürdigkeit der Wirklichkeit selbst, denn diese ist uns primär über das Denken gegeben. Selbst wenn wir Gefühl und Intuition als tieferen Zugang zur Wirklichkeit ansetzen als das diskursive Denken, so sind wir doch immer auch mit anderen, widersprechenden Gefühlen und Intuitionen konfrontiert, die unsere nichtdiskursive Weltgewißheit in Frage stellen und erneut auf das diskursive Element des Verstehens als mögliche Vermittlungs- und Entscheidungsinstanz verweisen, die den Streit der Gefühle und Intuitionen beilegen soll. Somit wird das für den Nachidealismus vielfach charakteristische Mißtrauen am Intellekt erneut zur Disposition gestellt. Was soll 'Erfahrung' eigentlich bedeuten? Der Positivismus nimmt eine radikale Einschränkung des Erfahrungsbegriffs vor, indem er diesen intersubjektiv auszuweisen und zu operationalisieren sucht. Er zieht eine scharfe Trennlinie zu Religion und Metaphysik und gesteht — als klassischer Positivismus (denn der spätere und der heutige Positivismus gehen hier ganz andere Wege) — dem 'Unbeweisbaren' keinen Erfahrungs- und Wirklichkeitswert zu. Der Spiritualismus des 19. Jahrhunderts hingegen entgrenzt den Erfahrungsbegriff radikal und bereitet damit historisch den Boden für den Dezisionismus und Irrationalismus der späteren Lebensphilosophie, den Lukäcs — in übertriebener und kritisierbarer Weise, im Ansatz aber doch zu Recht — als ein Absinken unter bereits erreichte philosophische Standards dargestellt hat. 93 Die Spiritualisten und einige Vertreter der Lebensphilosophie kennen keine Grenzen, wohl aber kennen sie ein verschwommenes und unbestimmtes Ganzes der Erfahrung. Daher verwenden sie auch — im Gegensatz zum Positivismus, der damit nur Dummheit und Obskurantismus assoziiert — den Ausdruck Mystik in affirmativer Weise und nehmen affirmativ auf die ältere Mystiktradition Bezug. Doch bedeutet nun Mystik — bei Joseph v. Görres etwa94 — nur ein Synonym für das unnennbare 'Geheimnis' hinter allen Dingen und/oder ein Synonym für die Willkür der Phantasie, die dem Intellekt alle Zügel schießen läßt und sich dem Okkultismus öffnet. Wer diese wildgewordenen Spekulationen Mystik nennt, hat einen Namen adaptiert, der vormals — in retrospektiver Anwendung auf die germanischmittelalterliche und romanisch-gegenreformatorische Mystik — eine einigermaßen präzise Bedeutung hatte, welche aber nunmehr ihre Konturen verliert. Stellt man sich auf den kritizistischen Standpunkt, so handelt es sich um krude Rückfälle hinter die reine Vernunftkritik. Stellt man sich jedoch auf den Standpunkt eines Hegel, Schelling oder Schopenhauer, so ist — wenngleich in veränderter Perspektive — ebenfalls der Verlust einer (diesmal positiven, nicht, wie im Kritizismus, negativen) Anbindung des Mystikbegriffs an den Vernunftbegriff zu beklagen. Signifikant für das 'nachidealistische' Denken ist, daß eine solche Anbindung jetzt auf lange Sicht kaum noch als eine mögliche interpretative Bewältigung des Problems erscheint. Die kritizistische Ausgrenzung ist obsolet, wenn der kritizistische Vernunftund Erfahrungsbegriff nicht mehr gilt. (Der Neukantianismus sucht freilich — Rickert etwa — eine den Anforderungen der Lebenswelt, d.i. der konkreten Kultur, angemessenere Modifikation des Kritizismus: Mystik wird bei ihm systematisch, wenngleich in domestizierter Form, wieder zugelassen.) Aber auch die deutsch-idealistische Vereinnahmung der Mystik, ihre Eingemeindung in den umfassenden dialektischen Vernunftbe339

Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

griff, ist obsolet geworden, denn der Vernunft wird im Nachidealismus nicht mehr zugetraut, das in der Mystik (angeblich) unklar Gedachte in eine befriedigend geklärte Form überzuführen. Eine Vernunft, die alles leisten, die alle Erfahrungen und auch die mit diesen Erfahrungen verbundenen Empfindungen und Gefühle ins Licht der Selbstgewißheit bringen soll, erweist sich eben als Wunschprojektion und, will man die in Aussicht gestellten Ergebnisse einfordern, als ein leerer Popanz. Bei solch doppelter intellektualistischer Enttäuschung — daß zum einen der Kritizismus nicht ein für allemal die Grenzen des Denkens festlegen konnte und daß zum anderen der deutsche Idealismus die gesamte Wirklichkeit nicht in ein intellektuell kontrollierbares Ganzes überzuführen vermochte — muß im Hinblick auf Mystik geradezu eine gewisse Orientierungslosigkeit Platz greifen. Positivismus und Materialismus auf der einen Seite, der romantische Spiritualismus auf der anderem Seite bezeugen in gegensätzlicher Weise diese Orientierungslosigkeit. Sie zeigt sich im romantischen Spiritualismus als völlige Negation des Vernunftbegriffs — dieser wird geleugnet oder fungiert nur noch als das kritiklose 'Vernehmen' beliebiger Botschaften — und als Geltenlassen beliebiger 'Erfahrungen'. Im Positivismus hingegen zeigt sie sich als übertriebene — und im Festhalten an dieser Übertreibung ihrerseits wieder unbescheidene — Selbstbescheidung des Denkens, das nur das 'Gegebene' gelten lassen will und dabei die eigenen Begriffs- und Theorierestriktionen mit dem erfahrungsmäßig tatsächlich Gegebenen verwechselt. Der Habitus der Bescheidenheit geht im Positivismus schnell verloren und verwandelt sich in die Präpotenz einer mit groben Scheuklappen versehenen, sehr eingeschränkten Wirklichkeitsgewißheit. Das gilt im Prinzip sowohl für den klassischen Positivismus eines Comte, der noch der Utopie eines abgesicherten enzyklopädischen Gesamtwissens nachjagt, als auch für den in bezug auf solche Erkenntnisziele skeptisch gewordenen späteren Stückwerk-Positivismus eines Popper, der für jeden Versuch, das 'Undenkbare' zu denken, nur Spott und Unverständnis übrig hat. 95 Aber mit dem 'Versuch, das Undenkbare zu denken', ist der Problemtitel genannt, unter dem die nachidealistische Philosophie — vom späten Schelling, der den Panlogismus deutlich verabschiedet, bis hin zu Heidegger, der in der 'ontologischen Differenz' Seiendes und Sein zu denken sucht — verstanden werden kann. 96 Wolfram Hogrebe interpretiert demgemäß das Metaphysikverständnis des späten Schelling als 'Fundamentalheuristik'. 97 Dieser späte Schelling ist freilich zu keiner nennenswerten historischen Wirksamkeit mehr gekommen, und er hat — im Hinblick auf unsere Untersuchung — auch weder eine prägnante neue Erfahrungskonzeption noch eine prägnante Mystikkonzeption ausgearbeitet. Insofern dürfen wir ihn hier übergehen. Eine im Hinblick auf Kant, Hegel und Schopenhauer vergleichbare originelle Position, die jedoch ganz klar in einem nachidealistischen Kontext anzusiedeln ist, findet sich — soweit ich sehe — erst wieder im amerikanischen Pragmatismus bei William James.

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'Klassische'

2.2.4

Positionen

Pragmatismus: James98

In den Bostoner und New Yorker Pragmatismus-Vorlesungen von 1906/07" versucht James, das Verhältnis von Philosophie und Religion systematisch zu bestimmen. Für ein Verständnis seiner Konzeption von Mystik ist dies insofern von Belang, als er Mystik primär — wenngleich nicht ausschließlich — als ein religiöses Phänomen ansieht. Als religiöses Phänomen handelt er sie freilich schon in den Edinburgher ReligionsVorlesungen von 1901/02 (Gifford Lectures) — The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature100 — in relativ breiter Form ab. Ich gehe im folgenden zuerst auf diese Gifford-Lectures ein, stelle ihre Ergebnisse dann in den Rahmen der Pragmatismus-Vorlesungen und komme abschließend auf die — bereits im Kapitel 2.2.1 behandelten — Essays in Radical Empiricism101 zurück. James betrachtet seine Religionsvorlesungen ausdrücklich nicht als eine philosophische, sondern als psychologische Abhandlung. Sein Psychologiebegriff bewegt sich freilich in engster Nachbarschaft und Kompatibilität mit seinem Philosophiebegriff; ihr gemeinsamer Nenner ist die pragmatische Methode. 102 Für psychologische wie für philosophische Aussagen gelte das gleiche pragmatische 'Wahrheitskriterium': Ein Begriff und eine Theorie hätten nur dadurch eine Bedeutung und seien 'wahr', daß ihre Annahme oder ihre Verwerfung für das praktische Leben unterscheidbare Wirkungen zeitigt. Ihre Annahme rechtfertige sich aber nicht allein durch den Bezug auf die als positiv erachteten praktischen Zielsetzungen (denn in solcher Einseitigkeit liefe sie auf ein durch Praxis leicht widerlegbares Wunschdenken hinaus und wäre bloße Ideologie), sondern dadurch, daß der betreffende Begriff und die betreffende Theorie neue und vorerst unmittelbare Erfahrungen ebenso zum Ausdruck bringen, wie sie maximal auf den Vorrat bisheriger Erfahrungen Rücksicht nehmen und geschichtlich ein Kontinuum des Wirklichkeitsverständnisses garantieren. 103 Auf diese Weise konstituieren und verändern sich unsere Erkenntnis, unser Glaube, unsere Anschauung und unsere Ansicht der Welt, d.i. die Gesamtheit und die Ordnung unserer Erfahrungen. Dies kann vorerst — und darauf beschränkt sich James in den Gifford Lectures — als psychischer Prozeß verstanden werden. Geht man jedoch davon aus, daß uns die denkbare Wirklichkeit, in der wir stehen und die wir mitgestalten, einzig und allein über diesen psychischen Prozeß gegeben ist, läßt sich die psychologische Perspektive ohne Schwierigkeit in eine erkenntnisphilosophische und sogar in eine ontologische überführen. James verwahrt sich freilich gegen ein rein idealistisches Philosophie Verständnis, das eine bewußtseinsunabhängige Realität negieren würde. Die Kritik an dieser Art von Idealismus trägt er unter den Titeln 'Monismus' und 'universalistischer Super-Naturalismus' vor. 104 Das Muster der — psychologisch und erkenntnistheoretisch als ein Gestaltbildungsprozeß von Erfahrungen beschreibbaren — Konstituierung von Begriffen und Theorien wird dann im radikalen Empirismus zum naturalistisch verstandenen Realitätsprinzip überhaupt, und Bewußtseinsprozesse werden schließlich als Spezialfall des (in den meisten Fällen bewußtlos sich vollziehenden) ontologischen Prozesses interpretiert. Am Ende von James' Denkweg — und Whiteheads Naturphilosophie und Metaphysik werden hier anknüpfen105 — steht also eine ontologische Konzeption, die sich

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

zugleich als eine der Gesamtheit unserer bisherigen historischen Erfahrungen adäquate Erfahrungstheorie versteht. Dieser Anspruch auf Erfahrungsadäquanz wird aber schon in der jamesschen Psychologie und in seiner philosophischen Pragmatismuskonzeption erhoben. Religion ist für James vorerst ein Sammelbegriff, der höchst Unterschiedliches — Vorstellungen, Gefühle, Theorien, Institutionen — zusammenfaßt, also nicht ein in seiner Gesamtheit genau bestimmbarer und abgrenzbarer Faktor des menschlichen Lebens und der Kultur. Demgemäß lehnt James auch die Annahme eines spezifischen und in sich kohärenten 'religiösen Gefühls' ab. Doch habe sich die Psychologie vorurteilslos mit den unter dem üblichen Religionsbegriff subsumierten Phänomenen auseinanderzusetzen und diese als Gestalten menschlicher Erfahrung zu lesen. Indem sich James auf Psychologie beschränken will, glaubt er die institutionelle Seite der Religion ausklammern und sich auf den Bereich subjektiver Religiosität beschränken zu können. 106 Trotz solcher Beschränkung wird — auf eben dieser subjektiven Ebene — eine Vielfalt (variety) möglicher Erfahrungen aufgewiesen, die sich alle über das religiöse Medium — oder, vorsichtiger formuliert, im Rahmen religiöser Traditionen — artikulieren. James verwendet — im Rückgriff auf Heiligenviten, vor allem aber auf autobiografische Texte und Fallbeschreibungen zeitgenössischer Psychologen (er bezieht sich dabei besonders oft auf Leuba)107 — eine beeindruckende Fülle empirischen Materials. Es sind 'Dokumente des persönlichen Lebens' verschiedenster Menschen aus verschiedensten Zeiten und Gegenden, wobei sich aus ihren Berichten Gefühls-, Erlebnis- und Vorstellungsstrukturen von relativer Allgemeinheit herausarbeiten lassen. James behandelt diese 'documents humains' als glaubwürdige 'Erfahrungen', deren 'Wahrheitswert' sich pragmatisch aufweisen lasse, und zwar gleichermaßen aus ihrer durch das empirische Material verbürgten Häufigkeit wie aus ihrer Kompatibilität zur restlichen, nichtreligiösen Welterfahrung. Unter diesen Strukturen von relativer Allgemeinheit spielt die Mystik eine besondere Rolle. Ihr gilt nicht nur ein eigenes Kapitel (V 358 ff.), James kommt im Verlauf der Abhandlung immer wieder auf sie zu sprechen und weist ihr insgesamt eine Schlüsselstellung für das Verständnis von Religion überhaupt zu. Methodisch geht James so vor, daß er die Typen religiöser Erfahrung vor allem anhand ihrer originalen und zuweilen extremen Ausprägungen herausarbeitet. Da nämlich der Durchschnittsgläubige nur ein 'religiöses Leben aus zweiter Hand' besitze, so daß bei ihm die Konturen religiöser Erfahrung oft nicht mehr greifbar seien, müsse man "nach den Originalerfahrungen suchen, die das Grundmuster für diese ganze Masse anempfundenen Gefühls und nachgeahmter Lebensführung festgesetzt haben" (V 18). Der Pragmatist James maßt sich nicht an, von irgendeinem theoretischen Apriori und äußeren Standpunkt her die menschliche Praxis zu bewerten. Indem er die Praxis selbst zum Kriterium von Wert und Wahrheit erklärt, verschwendet er — ganz im Gegensatz zur klassischen deutschen Religionskritik (Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud) — auch keinen Gedanken auf eine relativistische Erklärung des Phänomens Religion. Er sucht nach keinem archimedischen Punkt der Betrachtung, sondern lediglich nach einer je vorläufigen Synopsis neuer und alter Erfahrungen. Religion gehört zum 'alten', überlieferten Erfahrungsbestand in unserer Kultur, und daß es bis heute neue, 'unmittelbare' 342

'Klassische' Positionen

religiöse Erfahrungen gebe, wird nach wie vor von nicht wenigen Menschen behauptet. Deshalb — und weil im Pragmatismus die Kontinuität mit traditionellen Meinungen sogar als Teilkriterium von Wahrheit gilt — verdächtigt James die Religion nicht von vornherein dahingehend, ein großangelegter Irrtum zu sein, eine Illusion und Verführung, er akzeptiert sie vielmehr als ein gegebenes kulturelles Faktum. Er sucht — um eine leiden- schaftslos-neutrale Sicht bemüht, aber eher in Affirmations- denn in Denunziationsabsicht — die psychologischen Motive zu erforschen, von denen her die Religion sich speist. Wo sie im pragmatischen Sinn ihren 'Nutzen' und ihre 'Paßform' zum Rest der Welterfahrung hat, wird sie nicht in Frage gestellt. Nur wo religiöse Uberzeugungen mit Wissenschaftsergebnissen unzweifelhaft kollidieren, bestreitet James ihre Glaubwürdigkeit. Er ist also Agnostizist, ohne den Agnostizismus zum Programm zu erheben. Denn religiöse Überzeugung, meint er, kann erstens mit Wissenschaft schon dadurch vereinbar sein, daß sich beide auf Unterschiedliches beziehen und so wechselseitig erst gar nicht ins Gehege kommen, und zweitens bemißt sich ihr Wert und ihre Wahrheit — wie der Wert und die Wahrheit jeglicher Überzeugung — nach pragmatistischem Kriterium auf die praktische Wirkung, die sie im Gesamtzusammenhang des Lebens hervorruft. So hält James beispielsweise auch "die Hypothese Gott [für] wahr, wenn sie im weitesten Sinne des Wortes befriedigend wirkt" (P 192). Mit dem Kriterium der praktischen Wirkung wendet sich James gegen jede 'Ursprungsphilosophie', die — bei Nietzsche und Freud etwa — Wert und Wahrheit einer Überzeugung mit deren Entstehung und Entwicklung in Zusammenhang bringen möchte. Das ermöglicht ihm eine vergleichsweise unbefangene Thematisierung der Affinität von Heiligkeit und Exzentrik sowie der Affinität von Neurose und Religion. Neurotische Begleiterscheinungen oder gar neurotischer Ursprung religiöser Gefühle und Überzeugungen würden, sagt er, deren Wert und Wahrheit keineswegs widerlegen. Es gehe einzig um die Wirkung, und sei diese positiv zu bewerten, dann werde jeder mögliche Ursprung gerechtfertigt oder zumindest vergleichgültigt. James geht von dem Faktum aus, daß viele, ja die meisten Menschen — wenngleich in unterschiedlicher Intensität und auf unterschiedlichem intellektuellem Niveau — an Religion Interesse zeigen. Er bemüht dafür aber weder eine anthropologische noch eine kulturgeschichtliche Erklärung. Er verknüpft Religion weder mit der conditio humana, noch ist sie für ihn eine historisch gewachsene und folglich historisch beendbare Illusion. Sie wird als ein Gegebenes hingenommen, das gleichwohl im offenen Horizont stets möglicher neuer und weiterer Erfahrungen steht. Um die wesentlichen religiösen Erfahrungen — er nennt: Bekehrung, Reue, Heiligkeit, Mystik, Gebet usf. — zu analysieren, arbeitet James mit einem ausdrücklich empirischen Ansatz. Er geht davon aus, "daß eine umfangreiche Kenntnis von Einzelerscheinungen uns häufig mehr Einsicht vermittelt als der Besitz von abstrakten Formeln" (V 11). Aus einer Fülle empirischen Materials werden Erlebnis- und Gefühlsstrukturen von relativer Allgemeinheit herausgearbeitet, werden religiöse Motive — Wesenszüge und Erfahrungstypen von Religion — dargestellt. Obwohl diese Motive vorerst nicht in einen strengen Verweisungszusammenhang gestellt werden und obwohl sie sowohl innerhalb des Christentums wie auch im Vergleich verschiedener Religionen untereinander viele

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verschiedene Ausformungen erfahren, ordnen sie sich für James schließlich zu einem Muster, das sowohl eine fundamentale psychische Problemlage ausdrückt als auch eine bestimmte Bewegung und Methode der Psyche, die dieser Problemlage Rechnung zu tragen und einer Lösung zuzuführen sucht. In der 8. Vorlesung wird sie unter dem Titel "Das geteilte Selbst und der Prozeß seiner Vereinheitlichung" (V 165 ff.) beschrieben. Der Mensch, so James, stelle seine Nichtidentität fest und wolle Identität gewinnen. Er strebe nach einer 'Vereinheitlichung' oder 'Unifikation' seines Charakters und seiner Lebensumstände. Religion sei hiefur nicht der einzig mögliche, aber ein naheliegender und gern begangener Weg. Vor diesem psychologischen Hintergrund ist Religion für ihn eine Reaktion des Menschen auf seine fundamentale existentielle Problemlage. Sie ist nicht von vornherein eine Flucht in Illusion, denn um eine solche Flucht handelt es sich nur dann, wenn Religion mit dem Rest der Lebenserfahrung in einen nicht mehr auflösbaren Konflikt gerät. 'Unpassende' Religionen werden, so James, von der Gesamterfahrung her ohnehin 'eliminiert'. Religion sei — wenngleich in unterschiedlichen Formen und keineswegs für alle Menschen (sie ist also kein notwendiger Teil von Anthropologie) — eine 'biologische Reaktion'. Psychische und kulturelle Erscheinungen auf 'Biologie' im Sinn eines vorpsychischen und vorkulturellen 'Lebens' zu beziehen, hat James nicht nur mit Bergson, sondern auch mit Nietzsche gemeinsam. Doch steht diese Ähnlichkeit mit Nietzsches Kultur- und Lebenstheorie in einem gänzlich anderen Bewertungskontext. Eine völlig differente Bewertung liegt vor, wenn James vom Gegensatz 'gesunder' bzw. 'robuster' (healthy-minded) und 'kranker' bzw. 'schwacher' (morbid-minded) Psyche spricht. James meint, den jeweiligen — gesunden oder kranken — Bedürfnissen entspreche ein gesunder oder kranker Typus von Religion. Die gesunde Psyche habe kein ausgeprägtes Verlangen, die Vielheit und Unbestimmtheit lebensweltlicher Erfahrungen nicht auszuhalten. Sie affirmiere demnach die Vielfalt, Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit der Erfahrungen und tendiere in ihrem religiösen Verhalten zu Formen des Polytheismus. Sie könne gegebenenfalls aber auch gänzlich ohne Religion auskommen. Die kranke Psyche hingegen verlange nach einer Durchrationalisierung und Vereinheitlichung aller Erfahrungen, deren Vielfalt und Unverfügbarkeit als Bedrohung empfunden werde. Sie tendiere weltanschaulich zum Monismus und religiös entsprechend zum Monotheismus. Die kranke Psyche fühle sich unglücklich und wünsche Erlösung. In den Pragmatis7«i«vorlesungen heißt es: "Wir alle erleben Augenblicke der Entmutigung, wo wir krank an uns selbst und des vergeblichen Kämpfens müde sind, unser eigenes Leben bricht zusammen, und wir kommen in die Lage des verlorenen Sohnes. Wir vertrauen nicht mehr auf eine glückliche Wendung der Dinge. Wir brauchen dann eine Welt, wo wir uns preisgeben, wo wir unserem Vater um den Hals fallen können, um aufzugehen im Absoluten, so wie ein Wassertropfen im Strome oder im Meere zerfließt. Der Friede und die Ruhe, die Sicherheit, die wir in solchen Augenblicken ersehnen, ist die Sicherheit vor den auf uns einstürmenden Zufällen der endlichen Erfahrung. [...] Zu Menschen in solcher Stimmung kommt nun der religiöse Monismus." (P 187)

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Da Gefühle wie Unglücklichsein und Wunsch nach Erlösung selbst Teil der menschlichen Wirklichkeit sind und in der praktischen Gestaltung des menschlichen Lebens reale, wirksame Faktoren darstellen, dürfen sie nach James nicht ignoriert oder bloß denunziert werden, sondern sind zu akzeptieren. Der Schwache und Kranke soll nicht, wie Nietzsche fordert, 'zugrundegehen', sondern er soll sich auf seine Weise verwirklichen. Wenn er die Vielfalt der Erfahrungen vereinheitlichen möchte, soll er — wenn ihm dies nach dem Kriterium der 'Wahrheit' gelingt, also wenn er die 'Paßform' seiner Religion zu seinen übrigen Erfahrungen findet — an einer solchen Vereinheitlichung und Erlösung nicht gehindert werden. Aus seiner Erfahrung, seiner Wahrheit und seiner Religion darf er aber nicht eine Verbindlichkeit für alle anderen Menschen ableiten. So wie James in den Religionsvorlesungen vom Gegensatz der 'robusten' und 'kranken' Psyche spricht108 (und dabei betont, diese Unterscheidung sei idealtypisch und lasse in der Realität zahlreiche Formen von 'Penetration' und 'Kombination' zu), spricht er in den Pragmatismusvorlesungen vom Gegensatz zweier philosophischer Temperamente: 'grobkörnig' (tough-minded) und 'zartfühlend' (tender-minded). 109 Auch diese Unterscheidung zielt auf den oben genannten Gegensatz. Unter philosophischem Gesichtspunkt seien die Robusten eher Anhänger des Empirismus und eines ontologischen Pluralismus, die Kranken eher Anhänger des Rationalismus und eines ontologischen Monismus. Die Robusten seien die 'einmal geborenen' (once-born) Charaktere, d.h. sie finden den Maßstab ihrer Authentizität gewissermaßen von vornherein in sich vor und verlangen nicht nach einer wesentlichen Änderung ihrer Existenz. Die Kranken hingegen bezeichnet James als die 'zweimal Geborenen' (twice-born), die ihre Authentizität erst im Verlauf einer für sie dramatischen Entwicklung von Gedanken und Gefühlen erlangen, wobei der Gewinn dieser Authentizität gewissermaßen als 'Neugeburt' ihrer Existenz empfunden werde, d.h. als Änderung der Persönlichkeit und des gesamten Lebensgefühls. *

Bei der Erörterung polytheistischer Religionsformen hält sich James nicht lange auf, denn sein hauptsächliches Interesse gilt dem Monismus und Monotheismus, somit der 'kranken' oder 'zartfühlenden' Religionsform. Er behauptet (hier wiederum mit Nietzsche konform), "daß die kränkliche Geistesart sich über die weitere Erfahrungsskala erstreckt und daß ihr Überblick der übergreifende ist" (V 162). Und wenn er sich in allgemeinen Definitionen über Religion versucht, so hat er fast immer nur die 'kränkliche' Version im Auge. So spricht er davon, es gebe "eine gewisse einheitliche Botschaft, in der sich alle Religionen zu treffen scheinen". Religion bestehe "aus zwei Teilen", einem Leiden und dessen Auflösung: "1. Das leiden, auf seinen einfachsten Ausdruck gebracht, ist ein Gefühl, daß irgend etwas verkehrt an uns ist, wie wir natürlich dastehen. 2. Die Auflösung ist ein Gefühl, daß wir von der Verkehrtheit dadurch geheilt sind, daß wir in richtige Verbindung mit höheren Kräften treten." (V 463) Der Religion liege das Bewußtsein zugrunde, "daß es eine unsichtbare Ordnung gibt und daß unser höchstes Gut in einer harmonischen Anpassung an diese liegt" (V 63),

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das Bewußtsein, es gebe einen 'Verkehr' zwischen den Menschen und 'höheren Mächten', "mit denen sie sich selbst verbunden fühlen" (V 457). Bei 'entwickelteren Geistern' nehme "die Verkehrtheit einen moralischen Charakter und die Errettung eine mystische Tönung an" (V 463). Mystik mache "das Wesen der religiösen Erfahrung" aus (V 464) und bestehe in einem "Zustand des Geistes, der religiösen Menschen, aber niemandem sonst bekannt ist, in dem unser Wille zur Selbstbestätigung und Selbstbehauptung ersetzt ist durch eine Willigkeit, unseren Mund zu schließen und zu sein wie nichts in den Fluten und Wassergüssen Gottes. In diesem Geisteszustand ist dasjenige, was wir am meisten gefürchtet haben, zum Wohnsitz unserer Sicherheit geworden, und die Stunde unseres moralischen Todes hat sich verwandelt in den Tag unserer geistlichen Geburt. Die Zeit der Anspannung ist in unserer Seele vorbei und diejenige einer seelischen Erleichterung, einer tief atmenden Ruhe, einer ewigen Gegenwart ohne unharmonische, ängstigende Zukunft ist eingetreten." (V 57)

Für James ist der mystische Zustand keineswegs eine Projektion oder Halluzination, sondern die Wahrnehmung einer anderen Realität als diejenige, die wir mit den Sinnen wahrnehmen und die sich als eine zeitlich, räumlich, kausal und gegenständlich distinkte Welt darstellt. Die mystische Wahrnehmung bestehe in einem Gefühl der Unwirklichkeit eben dieser sinnlich-distinkten (und in solcher Distinktion auch verstandesgeleiteten) Welt, in einem Gefühl harmonischer Allgegenwart und Gleichzeitigkeit alles Distinkten. Hier gelange das 'geteilte Selbst' in eine 'Vereinheitlichung' besonderer Art, die in ihrer Intensität, in der überwältigenden Kraft ihrer Emotionalität nur im Rahmen der Religion möglich sei. Indem der Mensch sein 'unteres' oder vorläufiges Selbst aufgibt und indem sich sein Persönlichkeitszentrum in ein umfassenderes, höheres Selbst — nämlich in das All-Gefühl, die Einheit mit Gott — verlagert, gelangt er zu einer Identität und Authentizität, die er als Ergebnis und Frucht einer Entwicklung — eines Kampfes mit seiner ursprünglichen 'Geteiltheit' und als deren Uberwindung — genießen kann. Es ist die (in der Religion meist 'Gott' genannte) Vereinigung mit einer 'höheren Macht', die nun als das eigentliche und wahre Selbst erfahren wird. Da es in der Religion um die Unifikation des geteilten Selbst geht und da die Unifikation am reinsten und nachdrücklichsten in der mystischen Erfahrung gegeben ist, ist diese für James eine Schlüsselerfahrung in der Welt religiöser Erfahrungen überhaupt. Diese haben "ihre Wurzel und ihr Zentrum in mystischen Bewußtseinszuständen" (V 358). Deren vier charakteristische Merkmale seien 'Unaussprechlichkeit', 'noetische Qualität', 'Flüchtigkeit' und 'Passivität' (V 359 ff.). Die vier Kriterien werden folgendermaßen erläutert: (1) Mystik könne einem anderen nicht mitgeteilt und nicht auf ihn übertragen, sie müsse direkt erfahren werden, und insofern sei sie primär ein Gefühl. (2) Für den Erfahrenden sei Mystik dennoch ein Erkenntniszustmd, auch wenn er nur ßr ihn - und für niemand anderen — Autorität und Verbindlichkeit beanspruchen könne. (3) Mystische Zustände seien im Gedächtnis nur unvollständig reproduzierbar, doch es gebe ein Wiedererkennen. Als ein nicht Verfugbares, aber dennoch Erinnerbares lasse Mystik sich immer wieder identifizieren. (4) Mystik sei ein Zustand der 'Gnade', nicht Ergebnis einer gezielten Aktivität.

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Von der Mystik aus können, so James, Erfahrungen wie die der Bekehrung, des Gebets und des Heiligen adäquat beschrieben werden. Diese religiösen Erfahrungen und Praktiken "lassen das geteilte Selbst und den Kampf zu; sie schließen den Wechsel des Persönlichkeitszentrums und die Aufgabe des unteren Selbst ein; sie drücken den Anschein von Exteriorität der helfenden Macht aus und tragen unserem Gefühl der Einheit mit ihm Rechnung, und sie rechtfertigen voll unsere Gefühle von Geborgenheit und Freude." (V 464) "Aus dem Alltagsbewußtsein heraus gelangen wir in mystischen Zuständen als aus dem Weniger in das Mehr, als aus dem Kleinen in das Ungeheure und zur gleichen Zeit als aus einer Unruhe in eine Ruhe." (V 386 f.) Auch der 'grobkörnigen' Psyche sei der mystische Zustand nicht völlig fremd, doch habe sie ihn nicht in der Weise nötig wie die 'zartfühlende', und sie werde ihn nie in jener Gewalt und Faszination erleben wie diese. Das mystische Bewußtsein sei 'kosmisches Bewußtsein', das entweder plötzlich und unmittelbar oder gradweise und kontinuierlich vom Menschen Besitz ergreifen könne. Es könne — mehr oder minder folgenlos — in einer "sporadischen Form" auftreten, aber auch — wie in manchen Religionen (James nennt Vedanta, Buddhismus und Katholizismus) — "methodisch kultiviert" werden (V 373). Mystik bedeute universale Versöhnung, indem sie das 'niedere Selbst' in ein 'höheres Selbst' transformiere. Sie sei mit dem Insgesamt einer Lebenspraxis durchaus vereinbar und führe vielfach auch zu verändertem menschlichem Gesamtverhalten. Daher sei sie nicht nur zulässig, sondern überdies — in pragmatischem Sinne — ' nützlich' und 'wahr'. Mystische Zustände, sagt James, artikulieren eine besondere Region des menschlichen Bewußtseins, die der gewohnten und gewöhnlichen Region gegenübersteht oder, besser gesagt, diese in gewisser Weise fundiert. Mystik drücke sich, da sie die gewohnte Bewußtseinsregion transzendiert, vorwiegend durch Negationen aus, habe für den Erfahrenden aber kräftigende Wirkungen, indem sie die Empfindung der Vereinigung mit dem Absoluten ermöglicht. Obwohl der — für die Botschaft der Mystik in erster Linie empfängliche — 'zartfühlende' Charakter zum Pessimismus neige, finde er auf dem Wege der Mystik zu einer Umkehr seiner Persönlichkeit, die ihm eine neue, optimistische Haltung erlaube. Dieser Optimismus könne oberflächlich und sporadisch sein und stelle sich in dieser Form bei 'niedrigen Graden' der Mystik ein — etwa bei Alkoholgenuß. Bei 'höheren' und 'klassischen' Mystikformen sei der Optimismus jedoch nicht mehr ein unverläßlich-rauschhaftes, sondern ein verläßlich-abgeklärtes Lebensgefühl, von dem sich eine (nunmehr) 'unifizierte', harmonische Persönlichkeit in all ihren Wahrnehmungen, Zielsetzungen, Reaktions- und Handlungsweisen leiten lasse. Gemeinsam sei jedoch sowohl den niederen wie den höheren Mystikformen — und hier steht James in einer gewissen Nähe zu Freuds Narzißmustheorie — der Rekurs auf das 'unterbewußte Selbst'. James unterscheidet eine bewußte, rationale Ά-Region' und eine unterbewußte, vorrationale 'B-Region' der Persönlichkeit, wobei jene von dieser getragen sei. James ist nicht nur der Ansicht, "daß wir bei der Religion vor einem Sektor der menschlichen Natur stehen, der ungewöhnlich enge Beziehungen zur transmarginalen oder subliminalen Region besitzt" (V 446), sondern auch, daß die B-Region den weitaus größeren und insgesamt wichtigeren Teil des menschlichen Lebens be347

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stimme. Daher erscheint ihm Religion als ein nicht ohne weiteres verzichtbares Instrument der Lebensbewältigung und Mystik als eine ausgezeichnete Erfahrung, die von der B-Region veranlaßt werde und zugleich eine Methode darstelle, diese B-Region namhaft zu machen und zu erschließen. Wenn James vom 'Unterbewußten' spricht, so engt er dieses nicht — wie Freud sein 'Unbewußtes' — auf Regression ein, sondern versteht darunter ganz allgemein "die unterbewußte Fortsetzung unseres bewußten Lebens", eine Fortsetzung, die das geteilte Leben zu einem Ganzen macht und jenes "MEHR" ausmacht, "mit dem wir uns in religiöser Erfahrung verbunden fühlen" (V 467) und das vielfach 'Gott' genannt wird. Dieses — von James in Großbuchstaben und Anführungszeichen geschriebene — "MEHR" werde als eine Macht erfahren, die "sowohl etwas anderes als auch etwas Größeres ist als unser bewußtes Selbst" (V 479). Solange wir uns auf unser vorläufiges und niederes Selbst beziehen, ignorieren wir das 'MEHR', begegnen ihm mit Unverständnis und empfinden es zumindest als ein uns fremdes, entgegenstehendes Anderes. Erst wenn wir unser vorläufiges und niederes Selbst aufgegeben und das Andere und Ganze als unser wahres Selbst erkannt und akzeptiert haben, ist es kein Anderes und Fremdes, kein uns Gegenüberstehendes mehr. Die "allgemeine Basis aller religiösen Erfahrung" liege in der "Tatsache, daß der Mensch eine doppelte Natur hat und mit zwei Sphären des Denkens verbunden ist, einer hohleren und einer gewichtigeren Sphäre" (V 104 f.). James übernimmt in dieser Argumentation — die an Kants Bestimmung des Menschen als 'Bürger zweier Welten' erinnert — von Α Daudet den Begriff des homo duplex. (V 166) Gemeint ist die Duplizität zweier Formen sowohl der Wahrnehmung wie des Denkens. Die gewohnte und gewöhnliche Region unseres Bewußtseins (die Α-Region) zerstückelt, den einzelnen Sinnen und der auf die entsprechenden Sinneseindrücke aufbauenden Verstandestätigkeit folgend, die Wirklichkeit in eine heterogene Vielheit von Gegenständen, Begriffen, Theorien und Einzelgeschichten. Dies ist die Wirklichkeit des Alltags, der Wissenschaften und des gegenständlich-distinkten Wahrnehmens und Denkens überhaupt. Auf der anderen Seite gibt es die B-Region, den "großen subliminalen oder grenzjenseitigen Bereich, dessen Existenz die Wissenschaft zuzugeben beginnt, aber von dem so wenig wirklich bekannt ist" (V 396). Man könne sehr wohl "den Vordergrund der Existenz durchstoßen und hinabreichen bis zu jenem merkwürdigen Sinn für den ganzen übrigen Kosmos als einer andauernden Gegenwart — vertraut oder fremd, schrecklich oder ergötzlich, Hebens- oder hassenswert —, den in irgendeinem Maße jedermann besitzt" (V 45). James spricht von der Existenz eines "undifferenzierten Sinnes für Realität" (V 68), davon, "daß in unserer geistigen Maschinerie ein Sinn für gegenwärtige Realität existiert, der durchgängiger und allgemeiner ist als der, den unsere Einzelsinne gewähren" (V 72). Die 'unsichtbare' oder 'mystische' Welt — die vom 'marginalen' oder 'rationalen' Bewußtsein ignoriert wird, weil dieses keinen eigenen Zugang zum Ganzen der psychischen Wirklichkeit hat — ist der Gegenstand des 'transmarginalen Bewußtseins', das (in einer vorläufig paradoxen Formulierung) als 'Bewußtsein des Unterbewußten' zu bezeichnen ist. (Die Paradoxie verschwindet mit der Erkenntnis, daß dieses neue Bewußt-

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sein ein anderes ist als dasjenige, das wir normalerweise als Bewußtsein bezeichnen.) Das Unterbewußte ist nicht schlechthin unzugänglich. Wir können erkennen, "daß unser normales waches Bewußtsein, das rationale Bewußtsein, wie wir es nennen, nur ein besonderer Typ von Bewußtsein ist, und überall jenseits seiner, von ihm durch den dünnsten Schirm getrennt, mögliche Bewußtseinsformen liegen, die ganz andersartig sind" (V 366). Da nach dem pragmatistischen Wahrheitskriterium nur die 'Paßform' zum Insgesamt aller wirksamen Erfahrungen ausschlaggebend ist, brauchen sich diese 'anderen' Bewußtseinsformen nicht am Maßstab des rational-gegenständlichen Denkens auszuweisen. Überall, wo die 'Paßform' mit subjektiver Überzeugung zusammengeht, kann von Evidenz gesprochen werden: "Unsere eigenen 'rationalen' Überzeugungen basieren auf Evidenz, die in ihrer Natur derjenigen vollkommen ähnlich ist, die die Mystiker für ihre Überzeugungen bemühen." (V 393) Mystik ist nach James also eine Form des 'Bewußtseins des Unterbewußten'. Es sei ein allgemeiner Aspekt des religiösen Lebens, "daß seine Manifestationen sich so häufig mit dem unterbewußten Teil unserer Existenz verbinden" (V 442), und mystische Erfahrungen seien die anschaulichste und — weil sie tatsächlich Erlösungs- und Vollkommenheitsempfindungen ermöglichen — wohl auch faszinierendste derartige Manifestation. Sie zeigen — sowohl erkenntniskritisch wie auch in ihrer moralischen Bedeutung — die Relativität des gewohnten und gewöhnlichen Lebens. "Auf jeden Fall verbieten sie einen voreiligen Abschluß unserer Rechnung mit der Realität." (V 366) "Sie zerstören die Autorität des nicht-mystischen oder rationalen Bewußtseins, das allein auf d e m VerStande und den Sinnen basiert. Sie zeigen, daß dies nur eine Art des Bewußtseins ist. Sie e r ö f f n e n die Möglichkeit von anderen Ordnungen der Wahrheit, denen wir, sofern ihnen irgend etwas lebendig in uns antwortet, freimütig fortfahren können, Glauben zu schenken." (V 392)

Dieses Glauben-Schenken werde durch drei Kriterien gerechtfertigt: 'unmittelbares Einleuchten 1 , 'philosophische Verständlichkeit' und 'moralische Nützlichkeit' (V 27). Sofern sich Philosophie mit Religion auseinandersetzt, hat sie nach James als 'Wissenschaft der Religion' zu fungieren. Sie beschäftigt sich dann mit religiösen Vorstellungen als möglichen Hypothesen, und sie prüft deren innere Konsistenz, sie prüft die äußere Verträglichkeit mit den anderen, nichtreligiösen Erfahrungen sowie die praktische Wirksamkeit. Sie kann und will aber Religion, deren Primat das Gefühl und deren Element die Überzeugung sei, nicht ersetzen. Philosophie als 'Wissenschaft der Religion' kann religiöse Hypothesen — z.B. die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele und ihre moralische Verantwortlichkeit — nicht in gesichertes wissenschaftliches Wissen überführen, wohl aber als 'nützliche' Annahmen rechtfertigen. Die Forderung Kants, Philosophie habe sich mit gegenständlichen Inhalten des 'subliminalen' Bewußtseins nicht auseinanderzusetzen, wird von James also nicht unterstützt. Spekulation ist für ihn durchaus legitim, sofern sie pragmatisch relevant ist. Es gibt für ihn keine Grenze, wo das Denken haltmachen und das Feld dem bloßen Glau-

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ben überlassen müßte, denn Denken und Glauben werden bei ihm in gleicher Weise pragmatisch fundiert — man kann freilich auch sagen: relativiert. Unsere Verstandestätigkeit erstreckt sich nicht nur auf die Α-Region, sondern auch — sofern sie in den Bereich unserer Wahrnehmung und Artikulation eintritt — auf die B-Region. James geht also davon aus, daß wir zwangsläufig alle unsere Gefühle und Erfahrungen rationalisieren, also verstandesmäßig — mit Begriffen, Kategorien und Theorien — bearbeiten, und somit auch die Erfahrungen des ins Bewußtsein tretenden Unterbewußten. Nun beruhe zwar Religion auf dem Primat des Gefühls, Philosophie und Theologie hingegen stellten eine sekundäre Schicht des religiösen Denkens dar, die von der Gefühlsschicht getragen werde und diese nicht außer Kraft setze, sondern ihr vielmehr — als "Übersetzungen eines Textes in eine andere Sprache" (V 400) — einen veränderten Ausdruck verleihe. Doch die Menschen "intellektualisieren unwillkürlich [auch] ihre religiösen Erfahrungen" (V 457). Den Schritt einer solchen Rationalisierung können wir prinzipiell nicht vermeiden. Demnach "konstituieren wir unsere Gefühle verstandesmäßig", und die "religiösen und mystischen Erfahrungen müssen in einer Weise interpretiert werden, die mit der Szenerie in unserem denkenden Geiste kongruent ist". Folglich "sind Begriffe und Konstruktionen ein notwendiger Teil unserer Religion" (V 401). James verwendet hiefür den Ausdruck 'Über-Glaube' und behauptet, "daß Formen von Über-Glaube in verschiedenen Richtungen absolut unverzichtbar sind und daß wir sie mit Verständnis und Toleranz behandeln sollten, solange sie nicht selber intolerant sind". Desungeachtet hätten wir "in der Tatsache, daß der Mensch des Bewußtseins in Kontinuität mit einem weiteren Selbst steht, von dem Erfahrungen von Rettung ausgehen, einen positiven Inhalt von religiöser Erfahrung, der [...] in seinem ganzen Umfang buchstäblich und objektiv wahr ist." (V 469) Der religiöse 'Inhalt' wird von James mit seiner praktischen Bedeutung und daher — obwohl er diesen Ausdruck vermeidet — mit seiner Funktion gleichgesetzt. Nicht die Gottesvorstellung als solche also, wohl aber die Funktion dieser Vorstellung ist — da sie im Leben der Menschen zu praktischen Konsequenzen fuhrt — pragmatisch 'wahr'. Denn "was in einer anderen Realität Wirkungen hervorbringt, muß selber eine Realität genannt werden". Daher sei es "philosophisch unentschuldbar, die unsichtbare oder mystische Welt nicht real zu nennen" (V 470). James will sogar "die Meinung des Theologen, daß der religiöse Mensch von einer äußeren Macht bewegt wird", rechtfertigen, "denn es ist eine der Eigentümlichkeiten von Einbrüchen aus der unterbewußten Region, daß sie eine objektive Erscheinung annehmen und dem Subjekt eine Kontrolle von außen suggerieren. Im religiösen Leben wird die Kontrolle als 'höhere' erlebt; aber weil es [...] primär die höheren Fähigkeiten unseres eigenen verborgenen Geistes sind, die die Kontrolle ausüben, ist das Gefühl der Vereinigung mit der Macht jenseits unserer selbst ein Gefühl von etwas, was nicht nur anscheinend, sondern buchstäblich wahr ist." (V 467 f.)

Freilich wird die 'Wahrheit' religiöser Überzeugungen und damit auch der Mystik an die Bedingung geknüpft, daß sie mit der übrigen Welterfahrung kompatibel ist. Daß sie 350

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aus dem Unterbewußten kommt, "ist keine untrügliche Beglaubigung. Was kommt, muß sortiert und geprüft werden und den Spießrutenlauf der Konfrontation mit dem Gesamtkontext der Erfahrung durchmachen, ganz ebenso wie alles, was aus der äußeren Welt der Sinne kommt." (V 396) Von Belang ist, daß James die Mystik ausdrücklich nicht nur als ein religiöses Phänomen betrachtet, auch wenn sie primär in der Religion eine eigene Tradition ausgebildet und eigene Pflege und Kultivierung erfahren hat. Religiöse Mystik sei "nur die eine Hälfte der Mystik. Die andere Hälfte hat keine gesammelten Traditionen, außer denen, welche die Textbücher des Wahnsinns bereitstellen." (V 395) Mit dieser Äußerung bezieht sich James auf psychiatrische Fälle. Während die 'robusten' Seelen für Mystik wenig Empfänglichkeit zeigen, ist sie für die 'morbiden' Seelen zugleich Verlockung und Gefahr. Religiöse Mystik stellt eine durch Tradition und lange Erfahrung relativ bewährte Form der Begegnung mit dem Unterbewußten dar und steht in einem geordneten Zusammenhang mit dem praktischen Leben. (Viele der klassischen Mystiker — wie Eckhart oder Teresa von Avila — sind ja ausgesprochen tatkräftige und praktisch talentierte Menschen.) Die religiöse Form vermag auch 'schwache' und 'kranke' Seelen — Seelen mit einem besonders zerrissenen 'Selbst', das nach einer Unifikation in 'zweiter Geburt' strebt — zu organisieren. Fehlt hingegen eine solche Organisation, fehlen dogmatische, institutionelle und soziale Stützen, sind einer völligen Desorganisierung der 'kranken' Seele Tür und Tor geöffnet. Quasi-mystische Zustände 'niederer' Provenienz wie Alkohol oder Drogen drücken, da sie verheerende praktische Konsequenzen haben können, keine pragmatische 'Wahrheit' aus. Sie indizieren ein verfehltes Leben, eine verfehlte Wirklichkeit. *

Es gibt für James aber auch eine philosophische Mystik. Im Kapitel "Einheit und Vielheit" seiner Pragmatismus^orlesungen110 kommt er erneut auf Mystik zu sprechen. Ob die Welt monistisch oder pluralistisch, ob sie als Einheit oder als Vielheit aufzufassen sei — diese beiden philosophischen Hypothesen stehen, sagt James, "vollkommen gleichberechtigt nebeneinander", und keine von ihnen sei "ursprünglicher, wesentlicher oder erhabener" als die andere (P 86). Ob man Monist/Intellektualist/Rationalist sei oder Pluralist/Sensualist/Materialist/Empirist — James ordnet Identität und Differenz dieser Ismen in der genannten Weise an —, hänge vom 'Temperament' des Betreffenden ab, davon, ob es sich um die Bedürfnisse eines 'zartfühlenden' oder 'grobkörnigen' Charakters handelt. In den Religionsvorlesungen hatte James den 'theoretischen Zug' der Mystik hervorgehoben: "Unbeschadet ihrer Ablehnung einer artikulierten Selbstbeschreibung behauptet sich in mystischen Zuständen im allgemeinen ein ziemlich deutlicher Zug zum Theoretischen. " (V 386) Das drücke sich in einer Begünstigung optimistischer und monistischer Hypothesen aus. Bevor James aber nun — in den Pragmatismusvorlesungen — auf diesen Zusammenhang von Monismus und Mystik zurückkommt, geht er der Frage nach, was unter dem Begriff 'Einheit' denn überhaupt zu verstehen sei.

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Er unterscheidet insgesamt acht Bedeutungen von 'Einheit' 1 " — und erst die achte und letzte Bedeutung wird mit Mystik in Zusammenhang gebracht: (1) Die Welt könne zuvörderst einmal als einheitlicher Gegenstand des Denkens betrachtet werden; dies verbürge aber keineswegs eine sachliche Einheit des Wirklichen. (2) Einheit könne des weiteren als irgendein Kontinuum gedacht werden, etwa als Raum- und Zeitkontinuum. Aber auch dies sei keine innere und an sich gegebene Einheit. (3) Man könne irgendwelche Wirkungslinien durch die Realität hin verfolgen und dabei beispielsweise (4) eine kausale, (5) eine generische, (6) eine teleologische oder (7) eine ästhetische Einheit solcher Wirkungslinien feststellen. Aber es sei nicht möglich, durch die Begriffe einer 'ersten Kausalität', einer 'obersten Gattung', eines 'letzten Zwecks' oder eines höchsten Ordnungsprinzips ein Totalitätsmodell der Wirklichkeit, einen in sich stringenten Zusammenhang der Welt, zu entwerfen. Die umfassendste und 'extremste' Bedeutung von 'Einheit' ortet James jedoch (8) im "Begriff der allumfassenden noetischen Einheit", im "Begriff des einen Denkers", wie er sich im spekulativen Idealismus Hegels ausdrückt. Der 'eine Denker' ist das im denkenden Menschen sich vollziehende Selbstbewußtsein der ganzen, selbstreferentiellen Wirklichkeit, ist der vom Philosophen repräsentierte 'Weltgeist', das absolute Bewußtsein, für das es kein Außen und kein Anderes und folglich auch keine Vielheit mehr gibt. Der 'eine Denker' ist zugleich sein Gedachtes; er ist alles, was denkbar ist; und denkbar ist alles, was ist. Der 'eine Denker' ist also Totalität, ist hen kai pan. Die Totalität wird nicht mehr als dem Bewußtsein differenter Gegenstand gedacht, sondern sie selbst vollzieht sich mittels Denken. (Diese Gedankenfolge ist konsequent, denn die Totalität kann per definitionem nicht als ein Anderes gedacht werden: sie kann — selbstreferentiell — allenfalls sich selber denken und ist zugleich und ineins mit diesem Denken.) Für den 'einen Denker' gilt: "Die Vielheit existiert nur als Gegenstand seines Bewußtseins [...]; so, wie er die Dinge denkt, haben sie einen einheitlichen Zweck, bilden sie ein System und erzählen nur eine einzige Geschichte." (P 91) James behandelt diese Konzeption, die er 'absoluten Monismus' nennt, als eine mögliche Hypothese und steht ihr überaus reserviert gegenüber. Er fragt nach dem möglichen Motiv für die Überzeugungskraft des spekulativen Idealismus, die dieser auf nicht eben wenige philosophische Gemüter ausgeübt hat und noch immer ausübt. Dabei rekurriert er auf die bereits in seinen Religionsvorlesungen dargelegte Ansicht, daß nicht begriffliche und theoretische Konzeptionen als solche, sondern die ihnen zugrunde liegenden und sie motivierenden Geßihle ausschlaggebend seien: "daß philosophische und theologische Formeln sekundäre Produkte sind, Übersetzungen eines Textes in eine andere Sprache ähnlich" (V 400), und daß auch in der Metaphysik "artikulierte Gründe für uns nur dann zwingend sind, wenn unsere unartikulierten Gefühle für die Realität schon einen Eindruck zugunsten eben derselben Konklusion empfangen haben" (V 83). Daher vermutet er, "die Autorität, die der absolute Monismus zweifellos besitzt [...], habe ihre Kraftquelle nicht im Verstände, sondern ruhe vielmehr auf mystischer Grundlage. " Man müsse "ein Mystiker sein, um den absoluten Monismus richtig zu deuten. Mystische Seelenzustände führen, wie die Geschichte zeigt, wenn auch nicht immer, so doch meistens zu einer monistischen Weltanschauung." (P 95)

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'Klassische' Positionen

Als "Muster aller monistischen Systeme" führt James die Vedantalehrc an und illustriert "die mystische Methode" anhand einiger Zitate aus den Schriften Vivekanandas: "Man argumentiert nicht, sondern wenn man eine bestimmte Schulung durchgemacht hat, dann sieht man, und wenn man gesehen hat, kann man die Wahrheit verkünden." (P 96) Die 'mystische Methode' ist in James' Augen somit keine philosophische Methode. Obwohl also der philosophische Monismus "auf mystischem Weltgefühl ruht" (P 176), stellt er strenggenommen nicht selbst Mystik dar. Diese ist für James "zweifellos eine Religion, die, gefühlsmäßig betrachtet, einen großen pragmatischen Wert hat: sie verleiht eine geradezu verschwenderische Fülle von Sicherheit." (P 96) "Wir haben alle ein Ohr für diese monistische Musik; sie erhebt und beruhigt. Wir tragen alle den Keim des Mystizismus in uns." (P 97) James betrachtet nicht nur theoretisch den Monismus als eine mögliche und legitime Form von Philosophie, die durch Mystik motiviert sei und auf Mystik hinziele, er äußert auch immer wieder persönlich Verständnis und Sympathie für diese Weise der Wirklichkeitsbetrachtung — auch wenn er die eigene Position als 'empiristisch' und somit als der Vielheits-Hypothese verpflichtet definiert. Gegenüber einem allzu 'grobkörnigen' Empirismus, aber auch gegenüber dem absoluten Monismus will er — wie schon gegen Ende der Religionsvorlesungen deutlich geworden war — einen 'piecemeal-supernaturalism' vertreten, der sich als ein für idealistische und insbesondere mystische Haltungen aufgeschlossener Empirismus umschreiben läßt. Eine solche Position ist nicht nur James' individuelle philosophische Entscheidung, mit der er auf die Bedürfnisse der eigenen Persönlichkeitsstruktur antwortet. Die Position ist von den Prämissen der pragmatischen Methode her auch deshalb möglich und in sich stimmig, weil den unterschiedlichen 'psychischen Charakteren' und 'Temperamenten', die eine Religion und Philosophie und deren 'Wahrheit' bestimmen, zugestanden wird, daß sie sich in concreto auf vielfache Weise mischen und gegenseitig durchdringen können. *

Werfen wir abschließend noch einen Blick auf das für James' Spätphilosophie zunehmend relevant werdende Programm des radikalen Empirismus. In den Essays in Radical Empiricism werden zwar Fragen der Religion und der Mystik nicht eigens thematisiert, doch ist zu betonen, daß die vorhin referierten Überlegungen zu Religion und Mystik zur Konzeption des radikalen Empirismus nicht in Widerspruch stehen. Was für jede Art einer Verbegrifflichung von Erfahrung — des Übergangs von percepts in concepts — gilt, muß sinngemäß auch für die Verbegrifflichung religiöser und mystischer Erfahrung gelten: Dem 'reinen Erfahrungsstrom' nachzugehen heißt den Prozeß zu rekonstruieren, in dem sich Begriffe und Theorien aus der Erfahrung selbst als deren 'bedingt Anderes' konstituieren. Begriffe und Theorien sind nicht ein schlechthin Anderes zur Erfahrung als solcher, sie sind aber auch nicht diese (sinnliche) Erfahrung selbst. Sie bilden sich anhand und gemeinsam mit der Erfahrung aus, indem sie diese organisieren und als organisierte weiterwirken lassen. Neue Begriffe und Theorien 'überholen' alte Begriffe und Theorien, in denen sich bislang die Erfahrung organisiert hat. In-

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Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

dem neue sinnliche Erfahrung an die bislang gemachten und bislang begrifflich-theoretisch geordneten Erfahrungen herantritt, wird ein 'Überholen' — die deutsche Übersetzung von 'supersede' akzentuiert neben der Bedeutung des Hinter-sich-Lassens auch die Bedeutung des Erneuerns und Adaptierens — notwendig. Der 'Überholversuch' gelingt oder mißlingt, und er kann auch teilweise gelingen oder mißlingen. Keiner dieser 'Überholversuche' — also keine dieser Begriffs- und Theoriebildungen — ist aber endgültig, sondern immer nur ein weiterer, vorläufiger Brückenkopf im sich fortbewegenden Erfahrungsstrom. Die letzte ontologische Ebene, die James im radikalen Empirismus konzipiert, ist nicht der Strom des Bewußtseins (es ist hier noch einmal an seine Skepsis gegenüber dem Bewußtseinsbegriff zu erinnern und an seinen Vorschlag, statt von 'consciousness' nur noch von 'knowing' zu sprechen), nicht der Strom des Unterbewußten, sondern der Strom der Erfahrung, der mit dem Strom der Realität, mit der 'objektiven Natur' gleichgesetzt wird. Die Gestaltbildung in der Natur vollzieht sich nach dem beschriebenen Bewegungsmuster des 'Überholens'. Sowohl be wußte wie unterbewußte Prozesse sind gleichermaßen Unterarten des Naturprozesses, die prinzipiell dem gleichen Grundmuster folgen. Religiöse Vorstellungen und Überzeugungen sind also durchaus 'natürliche' Gestaltbildungsprozesse im menschlichen Leben: keine unverrückbaren anthropologischen Bestimmungen, wohl aber eine durchaus mögliche und in der bisherigen Gattungsgeschichte vielfach praktizierte Weise der Gestaltbildung, mit deren Hilfe der Mensch sich seine Wirklichkeit verständlich macht, mit ihr umgeht, sie selbst — die Wirklichkeit — und damit auch sich selbst — den Menschen — verändert. Wo solche Gestaltbildung 'erfolgreich' ist (wo sie zu den neuen Erfahrungen und zum alten Erfahrungs- und Begriffsbestand optimal 'paßt'), ist sie auch 'wahr'. Demnach hält James — in kantischer Terminologie — 'Spekulationen im Übersinnlichen' für legitim. Von seinem pluralistischen Erkenntnisstandpunkt aus sind sie aber relativierbar, denn es gibt viele 'Wahrheiten', und sie alle sind vorläufig. Mystik stellt freilich mehr als nur ein gleichermaßen tolerierbares wie stets auch zweifelhaftes Feld für Spekulationen dar. Indem sie gegenüber der gewohnten Realitätsauffassung, der gemäß die Welt in viele, unterscheidbare Gegenstände und Kategorien zerfällt, eine andere Realitätsauffassung geltend macht — eine monistische, transgegenständliche und transkategoriale Auffassung —, trägt sie zum Fortschritt und zur Verfeinerung unseres Erkennens und unserer Realitätsbewältigung insgesamt bei.

2.2.5

Lebensphilosophie: Bergson112

James läßt Mystik als eine subjektive Realitätserfahrung gelten, und er betrachtet sie als Indikator für die Relativität gegenständlich-kategorialen Denkens, als Indikator für eine gleichzeitig und darüber hinaus geltende 'andere' Wirklichkeit. Damit thematisiert er, wenngleich nur im Ansatz und überaus vorsichtig, das 'skeptische Potential' der Mystik, das man dem — im gängigen Verständnis von Mystik meist im Vordergrund ste-

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'Klassische' Positionen

henden — 'spekulativen Potential' ergänzend zur Seite stellen kann. 113 Doch ist dieser kritisch-skeptische Aspekt der Mystik bei James nicht dominant. Wir haben es bei ihm mit einer bestimmten Version der platonischen Vorstellung zu tun, die eine Wirklichkeit, in der wir leben, bestehe aus zwei Welten, deren Grenzen wir — wenngleich nur auf mehr oder minder geheimnisvolle Weise — in beide Richtungen hin überqueren könnten. James' Doppelwelt-Vorstellung steht aber nicht in einer notwendigen systematischen Verbindung mit der allgemeinen und prinzipiellen Struktur des Erfahrungsvollzugs, wie er sie im radikalen Empirismus darlegt. Er behauptet nirgends, Mystik sei Ursprung oder Ziel oder auch nur ein notwendiger Bestandteil des Erfahrungsprozesses als solchen. Wenn Bergson von Mystik (mysticite, mysticisme) spricht, bezieht er sich zwar mehrmals beiläufig auf James, doch steht seine eigene Mystikkonzeption unter einem ganz anderen Vorzeichen: dem einer allgemeinen — biologischen und kulturellen — Evolution114. Bergsons zentrale Aussagen zur Mystik finden sich in seinem Spätwerk Les deux sources de la morale et de la religion (1932), das an die bereits Jahrzehnte früher erarbeitete Erfahrungskonzeption 115 anschließt und sie ergänzend weiterführt. In Les deux sources knüpft Bergson ausdrücklich an die Lehre von Intuition und 'Lebensschwung' (elan vital) an, bezieht das Thema Mystik systematisch in diese Lehre mit ein und behauptet, "daß die mystische Erfahrung jene Erfahrung fortsetzt, die uns zu der Lehre vom Lebensschwung geführt hat" (DS 249). Angesichts der früheren Beschreibung, die Bergson von Intuition und 'Dauer' (duree) vorgenommen hat, leuchtet der thematische Brückenschlag zur Mystik nahezu problemlos ein — auch wenn die Verbindung dann in concreto eine andere ist, als man anfangs vielleicht vermuten würde. Die nichtkategoriale, gegen Raum und verräumlichte Zeit gewendete Wesensbestimmung der Intuition legt die Vermutung nahe, Bergson könnte eine schlechthinnige Gleichsetzung von Intuition und Mystik erwägen. Stattdessen vertritt er jedoch die These, die Intuition stelle nur eine Vorstufe zur Mystik dar. Um diese These zu erläutern, muß ich vorerst auf den (unter 2.2.2 erläuterten) Intuitionsbegriff zurückkommen. Zur 'Intelligenz', die sich in der auf die gegenständlichkategoriale Welt abzielenden Tätigkeit der Sinne und des Verstandes ausdrückt, ist die Intuition das entgegengesetzte Vermögen des Geistes. Sie bezieht sich auf die von der Intelligenz nicht zureichend thematisierbare Erfahrung der 'Dauer', d.i. einer "Kontinuität, die weder Einheit noch Vielheit ist und in keine unserer Denkschablonen eingeht" (PM 24). Mit den 'Denkschablonen' meint Bergson die Kategorien, wobei die Raumkategorie — ähnlich wie die Kausalkategorie bei Schopenhauer — den Inbegriff und Zentralbegriff von Kategorialität überhaupt darstellt. Kategorialität als solche verschleiert den Blick auf die 'Dauer' und entfremdet so den Geist (esprit) von sich selbst, d.h. von der Möglichkeit, authentisch zu sein. In der intuitiven Erfahrung der Dauer hingegen erschließt sich für den Geist sein eigenes Wesen, daher ist diese Erfahrung für ihn eine Se/bsffindung, eine Se/torückkehr: "Wenn wir diesen trennenden Schleier [der Kategorien] entfernen, dann kehren wir zum Unmittelbaren zurück und berühren ein Absolutes, ein Unbedingtes." (PM 39)

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Diese Berührung ist also unmittelbar und selbstreferentiell: "ein unmittelbares Bewußtsein", eine "Schau, die sich kaum von dem gesehenen Gegenstand unterscheidet, eine Erkenntnis, die Berührung und sogar Koinzidenz ist" (PM 44). Die Intuition bringt daher eine Aufhebung der Dichotomie von Subjekt und Objekt mit sich: Erkennendes und Erkanntes werden im Akt des Erkennens eins. Die Einheit aber ist keine statische, sondern eine grenzenlos-bewegte: "die unteilbare und daher substantielle Kontinuität des inneren Lebensstromes" (PM 44). Intuition ist nach Bergson nicht bloße Empfindung, nichts Irreflexives, sondern die wohlüberlegte 'Methode der Metaphysik'. Doch trifft sie ihre Aussagen und vermittelt sie sich sprachlich auf eine Weise, die strukturell wiederum weitgehend der mystischen Rede entspricht: Die Intuition könne sich "nur durch die Intelligenz mitteilen". Dabei werde sie sich "vorzugsweise den konkreten Ideen zuwenden, die noch einen Anflug von Bildhaftigkeit besitzen. Vergleiche und Metaphern werden hier das suggerieren, was man nicht wird ausdrücken können. Das bedeutet keinen Umweg; sondern man wird damit nur gerade aufs Ziel losgehen." (PM 58) Zwar ist nicht von Paradoxien und auch nicht vom Schweigen die Rede, wohl aber von der Möglichkeit nur indirekter Mitteilung über ein unumgänglich inadäquates Medium. Dennoch wird in der Intuitionslehre der älteren Schriften Bergsons kaum je ausdrücklich von Mystik gesprochen, und auch in Les deux sources hat Bergson nicht einfach eine Gleichsetzung von Intuition und Mystik im Sinn. Er betrachtet Mystik als Weiterführung und Fortsetzung der Intuition, beschreibt sie dabei allerdings nicht, wie bislang die Intuition, primär aus der subjektiven — psychologischen und erkenntnistheoretischen — Perspektive. Er behandelt sie vielmehr aus der Perspektive einer 'objektiven' Kulturphilosophie, die — einem (weitgehend spekulativen) Evolutionsmodell folgend — Gesellschaft, Moral, Religion und 'Seele' in zwei mögliche Typen einteilt: in 'statische' und 'dynamische' bzw. in 'geschlossene' und 'offene' Typen. Dieses kulturelle Evolutionsmodell bleibt unverständlich, wenn man nicht die — hauptsächlich in Matiere et memoire (1896)116 und L'evolution criatrice (1907)117 dargelegte — Naturphilosophie Bergsons berücksichtigt, in der der Dualismus von Intelligenz und Intuition mit dem Dualismus von Leib und Seele, von Materie und Geist in Verbindung gebracht wird. Die Prinzipien Intelligenz/Materie und Intuition/Geist sind einerseits, sagt Bergson, sui generis verschiedene Sphären der Wirklichkeit und der Erfahrung, andererseits wirken sie in der prozessualen Realität, die sie gemeinsam bilden, vielfältig aufeinander ein. Wenn sich die Intuition der Intelligenz gegenüber frei macht und sich auf sich selbst besinnt, vollzieht sie einen Bruch mit der Materie — dem beharrenden, trägen Prinzip mechanischer 'Notwendigkeit' — und repräsentiert dann in reiner Weise den 'Lebensschwung' (elan vital), der aller Wirklichkeit, auch der Materie, als dynamisches Prinzip zugrunde liegt und sich in Akten selbstbestimmter Freiheit verwirklicht: "der Geist denkt den Geist nur, indem er mit allen Denkgewohnheiten bricht, die er im Kontakt mit der Materie angenommen hat" (PM 96). Intuition bedeutet "den Geist, der nicht von der Materie absorbiert wird, der gleichsam überschießt und seine Aufmerksamkeit auf sich selbst richtet. Diese nach innen gerichtete Aufmerksamkeit kann methodisch gepflegt und

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'Klassische' Positionen

entwickelt werden. So baut sich eine Wissenschaft des Geistes auf, eine wirkliche Metaphysik, die den Geist positiv definiert und nicht durch Negationen in bezug auf das, was wir von der Materie wissen." (PM 97)

Materie, so Bergsons normative Vorstellung, soll durch den Geist beherrscht und — als einseitiges Prinzip, das dazu tendiert, Denken auf 'Intelligenz' einzuschränken — überwunden werden. (Dabei ist freilich stets die subsidiäre Funktion der Materie bzw. der Intelligenz im Blick zu behalten. Bergson fordert nicht deren Tilgung, sondern deren Subordination unter den Geist bzw. unter die Intuition.) Nur durch solche Überwindung gelangt der Geist sowohl zum Pulsschlag des Lebens — zum elan vital — als auch zu den eigenen höchsten Möglichkeiten: zur freien Entfaltung seiner selbst. Bei dieser proklamierten Überwindung von Materie und mechanischer Notwendigkeit handelt es sich aber weniger um ein regulatives Ideal als vielmehr um eine in die Zukunft gewendete Geschichtsspekulation, die ihrerseits in einer naturphilosophischen (in Bergsons Terminologie: 'biologischen') Spekulation gründet. Die evolutionäre Verfassung der Wirklichkeit — der 'Lebensschwung' in seinen vorläufigen Ergebnissen und Metamorphosen — tendiert nach Bergsons Ansicht eigengesetzlich zu solch einem Triumph des Geistes und der Freiheit — und eben diesen Triumph beschreibt er nun in Les deux sources terminologisch als 'Mystik'. Andeutungsweise heißt es freilich schon in La pensee et le mouvant: "Bis wohin geht die Intuition? Sie allein wird es sagen können. Sie greift einen Faden wieder auf: es ist ihre Aufgabe zu sehen, ob dieser Faden bis zum Himmel steigt oder in einiger Entfernung von der Erde aufhört. Im ersten Fall vereinigt sich die metaphysische Erfahrung mit der der großen Mystiker: wir glauben unsererseits festzustellen, daß hier die Wahrheit liegt." (PM 65)

Was in La pensie et le mouvant marginal vermerkt wird, erfährt in Les deux sources eine ausgiebige Darstellung. Dort ist mehrmals und in verschiedenen Zusammenhängen — z.B. unter den Überschriften "Dressage et mysticite"118 oder "Mecanique et mystique" 119 — von Mystik und der Erfahrung der 'großen Mystiker' die Rede. Freilich fällt auf, daß sich der Autor nirgends der Mühe unterzieht, diese mystische Erfahrung grundsätzlich, vollständig und zusammenfassend zu beschreiben — ganz im Gegensatz zu James, der solche Beschreibungen geradezu in Hülle und Fülle liefert. Man kann jedoch davon ausgehen, daß Bergson das gängige Mystikbild — gerade wie es in den von James beigebrachten Dokumenten zum Ausdruck kommt — vor Augen hat, dem er im Rahmen seines Evolutionsmodells freilich eine neue, von James (noch) nicht ins Auge gefaßte Funktion zuschreibt. In Les deux sources führt Bergson die psychologische, erkenntnistheoretische und naturphilosophische Konzeption seiner früheren Schriften über in eine kultur- und gesellschaftstheoretische, gewissermaßen anthropologische Konzeption. 120 Darin werden der Moral und der Religion eine bestimmende Grundfunktion für das menschliche Leben zugeschrieben. Sowohl Religion als auch Moral seien — in den geschichtlichen Gestalten, in denen sie uns faktisch begegnen — als in sich heterogene Phänomene zu betrach-

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

ten. Es gebe zwei qualitativ verschiedene, in concreto freilich eng vermischte Formen von Moral und Religion, die der Dualität von Materie und Geist, Intelligenz und Intuition, mechanischer Notwendigkeit und schöpferischer Freiheit entsprechen — aber auch der Dualität von Gesellschaft und Individuum: die Formen der 'Geschlossenheit' und Offenheit' bzw. des 'Statischen' und 'Dynamischen'. Der genannte Gegensatz läuft nicht auf einen strengen Dualismus hinaus, sondern auf eine Art von Dialektik: Er drückt sich in einer Reihe begrifflicher Oppositionen aus, die jeweils aufeinander verwiesen bleiben und deren gemeinsame Bewegung und Weiterentwicklung die Gesamtheit der in sich verschränkten, einheitlichen Wirklichkeit ergibt. Materie und Intelligenz, meint Bergson, sollen in ihrer Auseinandersetzung mit Geist und Intuition nicht restlos verschwinden, sondern sollen durch Geist und Intuition vielmehr auf eine höhere Ebene der Entwicklung gehoben werden. Und es soll auch nicht die Gesellschaft — als der soziale Körper, der ein geordnetes Zusammenleben garantiert — zugunsten eines sozial entpflichteten Individualismus aufgehoben werden; es geht vielmehr um einen höheren und humaneren Typ von Gesellschaft, in dem die moralische und soziale Verpflichtung aus der Freiheit entfalteter Individuen erwächst, nicht jedoch den stumpfsinnigen Tribut des Einzelnen gegenüber einem kollektiven Zwang darstellt. Gemäß dieser Dualität unterscheidet Bergson — und er nimmt damit eine Terminologie vorweg, die anderweitig durch Karl R.Popper populär wurde121 — eine 'geschlossene' und 'offene' Gesellschaft (societe close/ouverte). Diese funktioniert durch den moralisch-vernünftigen 'Appell' (appel), d.i. durch das Prinzip der Freiheit (liberie), jene durch 'Verpflichtung' (obligation) bzw. durch das Prinzip von 'Druck und Stoß' (pression), d.i. mechanischer Notwendigkeit. Die geschlossene Gesellschaft folgt einseitig nur dem 'intelligenten' 122 , die offene Gesellschaft aber auch und vor allem dem 'intuitiven' Prinzip. Der offenen Gesellschaft entspricht eine 'offene', der geschlossenen Gesellschaft eine 'geschlossene' Moral und Religion. Das Begriffspaar offen/geschlossen ist kongruent zu dem Begriffspaar dynamisch/statisch (dynamique/statique). Bergson spricht auch von einer geschlossenen und offenen Seele (äme close/ouverte). Wenn er auf die vergangene und gegenwärtige Verfassung der Menschheit blickt, ist sich Bergson natürlich im klaren darüber, daß wohl geschlossene, nicht aber offene Gesellschaften real existieren und daß auch Religion, Moral und psychische Grundverfassung der meisten Menschen eher dem geschlossenen als dem offenen Typus entsprechen. Die offene Gesellschaft kann demnach — ganz im Gegensatz zur Bedeutung, die Popper 123 dem Begriff gegeben hat — nicht als Faktum und Realität, sondern nur als regulative oder utopische Konzeption gelten. Dennoch ist Bergson davon überzeugt, daß diese offene Gesellschaft im Werden begriffen sei und daß sie eine reale Zukunftschance habe. Es gibt dafür seiner Meinung nach zwei Indizien: Zum einen sei die moderne Industriegesellschaft mit ihren entwickelten demokratischen und humanistischen Ansprüchen nicht ausschließlich eine geschlossene Gesellschaft, sondern enthalte auch Elemente und Tendenzen der offenen Gesellschaft. Die Forderungen nach Freiheit und individueller Selbstbestimmung, nach Menschenwürde und sozialer Gerechtigkeit verkörperten solche Elemente und Tendenzen. Zum anderen gebe es schon seit langem

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'große Einzelne', die 'Ausnahmemenschen' verschiedenster Zeiten und Völker, die in individuellem Maßstab schon seit je die offene Gesellschaft antizipierten. 124 Bergson spricht von "den Religionsstiftern und -reformatoren, von den Mystikern und den Heiligen" (DS 46), er nennt neben "den christlichen Heiligen" auch "die Weisen Griechenlands", "die Propheten Israels" und "die Aharanten des Buddhismus" (DS 29). Was in diesen 'Ausnahmemenschen' wirksam wird, ist der 'schöpferische Geist' (esprit creatrice), der Aufbruch zu neuen Ufern. Sie verkörpern eine hochentwickelte Gestalt des elan vital, die es erlaubt, über die Vorstellungen und Normen der Durchschnittsmenschen — diese bilden das Gros der Gesellschaft und sind Träger des herrschenden 'geschlossenen' Typs von Moral und Religion — hinauszugehen. Der elan vital der Ausnahmemenschen erlaubt es, besagte Vorstellungen und Normen zu durchbrechen und zu zeigen, daß diese einem bornierten, zurückgebliebenen, unterentwickelten Standard des Menschseins entsprechen. Wo 'pression' und 'obligation' — mechanische Notwendigkeit und Zwang — das Denken, Wollen und Tun des Menschen beherrscht, verbleibt dieser auf einem Niveau seines Daseins, das dessen ureigensten Möglichkeiten nicht entspricht und das sich daher prinzipiell transzendieren lassen muß. Voraussetzung dafür ist freilich, daß man sich der reichen und umfassenden Wirklichkeit des Lebens tatsächlich öffnet — daß man hinter und über dem Prinzip von zwanghaft-mechanischer Verpflichtung das Prinzip des schöpferisch-freien Appells als Lebensgrund und authentische Daseinsmöglichkeit entdeckt. Gelingt diese Entdeckung und führt sie zur Aneignung des Entdeckten, hat man einen Bruch mit der 'Natur' (seiner bisherigen Wirklichkeit) und mit der 'Materie' (dem Verhaftetsein in Regelzwängen) vollzogen. Man ist dann ein Anderer geworden, ein 'neuer Mensch'. Es ist hier nicht der Ort, der (geistesgeschichtlich durchaus relevanten) Frage näher nachzugehen, inwiefern Bergson in seiner Konzeption der 'Ausnahmemenschen' ein zeitgenössisches Klischee wiederholt, inwiefern er dem romantischen Genieglauben und der für das 19. Jahrhundert (man denke an Carlyle, Burckhardt und Nietzsche) so typischen und kaum je hinterfragten Geschichtsmetaphysik der 'großen Männer' verpflichtet ist. Jedenfalls schreibt er diesen 'Ausnahmemenschen' — für die er immer wieder beispielhaft die Mystiker anführt — den Willen und die Fähigkeit zu, die Masse der Menschen zumindest punktuell aus ihrem Trott und ihrer dumpfen Gewohnheit emporzureißen, ihnen die Augen für ein anderes und höheres Leben zu öffnen und sie für dieses zu begeistern. Die "Stifter und Reformatoren der Religionen, Mystiker und Heilige, obskure Helden des ethischen Lebens" (DS 46) eröffnen dem menschlichen Leben "neue, ungeahnte Gefühlsresonanzen" (DS 36). Sie arbeiten an einer "tiefgreifenden Umwandlung des Menschen" (DS 266). "[...] durch ihr Beispiel mitgerissen, schließen wir uns ihnen an, wie einer Armee von Eroberern. Sie sind in der Tat Eroberer: sie haben den Widerstand der Natur gebrochen und die Menschheit zu neuen Geschicken erhöht" (DS 46). Doch zeigen diese Ausnahmemenschen nur eine in der bisherigen Menschheitsgeschichte für die ganze Gesellschaft und für alle Menschen noch nicht realisierte Möglichkeit auf. Unsere Gattung war bisher noch nie imstande, eine solche Möglichkeit in eine gelebte Realität auch nur für die meisten Menschen umzusetzen. An einigen Stellen 359

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von Les deux sources hat man den Eindruck, daß Bergson eine gesamtgesellschaftliche Umsetzung des Existenztyps der 'großen Einzelnen' nur als regulative Idee betrachtet. 125 Insgesamt läßt er sich aber doch von der Vorstellung leiten, daß es sich um eine durchaus realisierbare Utopie handle, die in der 'biologischen' Gesamtentwicklung des Lebens selbst angelegt sei und den Abschluß von deren innerer 'Logik' darstelle. Menschliches Denken und menschliche Erfahrung bauen sich, wie gesagt, aus zwei Strängen auf: aus Intelligenz und Intuition. Letztere ist ein Zu-sich-selber-Kommen des elan vital auf einer hochreflexiven Ebene, von der aus die Intelligenz als integrativer Teil und als eine bestimmte Gestalt des 'Lebensschwungs' verstanden wird. Darüber hinaus — oder vielmehr: davor — gibt es nach Bergson aber auch, und zwar gleichermaßen beim Tier wie beim Menschen, den Instinkt. Dieser ist nicht sosehr auf das Individuum als vielmehr auf die Gattung, die Gemeinschaft, gerichtet. Der Instinkt suggeriert dem Lebewesen — sei es Tier oder Mensch — die Selbstverständlichkeit sozialer Pflichten, denen gegenüber die individuellen Bedürfnisse hintanzustellen seien, und zielt so auf eine 'geschlossene Gesellschaft'. Eine in ihrer komplex-differenzierten Organisation sehr hoch entwickelte 'geschlossene Gesellschaft aus Instinkt' stellen nach Bergson — ein übrigens in der gesamten philosophischen Anthropologie oft angeführtes Vergleichsobjekt zum Menschen — die Hautflügler dar. In der Sozialform von Ameisen- und Bienenvölkern hat der 'Lebensschwung' auf der Ebene des Instinkts eine einzigartige Leistung erbracht und eine hochinteressante Gestalt angenommen. Indem der Lebensschwung hier freilich ganz und gar Instinkt bleibt126, ist er aber auch in eine evolutionäre Sackgasse geraten. Die Welt der Hautflügler ist nach Bergson nämlich schlechthin eine Welt der Determination und Unfreiheit in jeglichem Verhalten, eine Welt von 'Druck und Stoß' (pression). Bei sogenannten höheren Tieren — die dem Menschen unter anderem auch dadurch mehr ähneln, daß sie sozial 'unvollkommener' sind als die Hautflügler, in ihrem individuellen Verhalten aber unvergleichlich entscheidungsbefugter und innovationstüchtiger — wird hingegen der Instinkt durch einen 'Saum von Intelligenz' ergänzt, d.h. ihre Sinneswahrnehmung wird durch eine (zumindest ansatzweise) freie und kontingente Verstandestätigkeit begleitet und führt so zu gewissen Formen intelligenten Verhaltens. Diese Intelligenz höherer Tiere — auch mit dieser Ansicht liegt Bergson ganz auf der Linie der an empirischer Verhaltensforschung orientierten klassischen philosophischen Anthropologie — spielt in ihrem Leben, ihrem Gesamtverhalten freilich nur eine marginale Rolle, denn primär bleibt ihr Verhalten instinktbestimmt. Was nun den Menschen auszeichnet, ist eine weitgehende Marginalisierung des Instinkts zugunsten einer fast ausschließlichen Bestimmtheit des Lebens durch Intelligenz. Der 'Lebensschwung' hat hier — im Gegensatz sowohl zu Hautflüglern wie zu höheren Tieren — zu einer neuen und fortgeschrittenen Gestalt und Leistung gefunden. Die Intelligenz folgt nicht den (fast zur Gänze biologisch vorprogrammierten) Wahrnehmungsund Verhaltensmustern des Instinkts, sondern kann die Realität in vielen Variationen und mit einem hohen Maß an Freiheit immer wieder anders in Elemente zerlegen und zu neuen Ganzheiten aufbauen. Freilich ist die Intelligenz als solche strukturell genauso mechanisch wie der Instinkt. Das Moment der Freiheit und des Schöpferischen kommt

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'Klassische' Positionen

in die Menschenwelt nicht durch die genuine Leistung der Intelligenz herein, sondern dadurch, daß diese — so wie sich der Instinkt der höheren Tiere durch einen 'Saum von Intelligenz' ergänzt —- durch einen 'Saum von Intuition' auf eine qualitativ neue Ebene gehoben wird. Nicht das Tier, nur der Mensch ist fähig zur Intuition. Zwar kann das Tier den Lebensschwung vielleicht unmittelbarer, weil nicht oder nur wenig gebrochen durch Intelligenz, repräsentieren, doch findet im Tier der elan vital nicht zu sich selbst. Er vollbringt dort keine Eigenberührung, wird sich selbst nicht durchsichtig. Intuition und Lebensschwung sind also nicht uneingeschränkt dasselbe, denn Intuition ist ein — historisch spätes — Evolutionsprodukt des Lebensschwungs.127 Es hat — damit eröffnet sich bei Bergson der Horizont von Mystik — keine abgeschlossene, fertige Gestalt. Es ist kein sicherer Besitz des Menschen, keine ihn gänzlich und durchgängig bestimmende Dimension, sondern ein seltener bzw. punktueller 'biologischer' Zustand. Wäre dieser Zustand durchgängig erreicht, wäre Mystik unsere menschliche Verfassung. Dennoch kündigt sie sich geschichtlich schon seit langem im religiösen und moralischen Verhalten des Menschen an, und sie ist dort mehr als ein bloßes Aufleuchten. Bergson glaubt, gerade in der gegenwärtigen Kultur breite Anzeichen einer diesbezüglichen Richtungsänderung der Evolution bemerken zu können. Um die Richtungsänderang zu kennzeichnen, ist die bisherige Richtung in den Blick zu nehmen. Instinkt, sagt Bergson, zielt auf gelingendes Sozialverhalten im Sinn einer geschlossenen Gesellschaft, Intelligenz hingegen auf individuellen Egoismus und Asozialität. Würde ausschließlich die Intelligenz das Sozialverhalten der Menschen bestimmen, wären diese zu überhaupt keiner Gesellschaft fähig, weder zu einer offenen noch zu einer geschlossenen. Doch der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Es ist ihm verwehrt, seine Intelligenz einfach außer Kraft zu setzen und sich einzig vom geringen Potential seines Instinkts bestimmen zu lassen. Was ihn aus diesem Dilemma zumindest vorläufig befreit, ist die 'fabulatorische Funktion' (fonction fabulatrice) seines Geistes: die Erfindung der 'statischen Religion' (religion statique).128 Das heißt: Die sozialen Normen, die eine Gesellschaft ermöglichen, die sich jenseits des Instinkts organisiert, werden auf religiösem Wege formuliert und akzeptiert. Nicht die Menschen als solche, sondern Götter — 'erfundene' übermenschliche Mächte — stellen Richtlinien des Verhaltens auf, erlassen Gebote und Verbote, offenbaren diese den Menschen, und das so Geoffenbarte wird geglaubt. Wenn Bergson — hier ganz in aufklärerischer Manier — Religion als 'fabulatorische Erfindung' ansetzt, meint er freilich nicht das Gesamtphänomen Religion, und er verbindet damit auch keinen Atheismus. Was er relativiert und in gewissem Grad wohl auch abwertet, ist nur die statische, nicht jedoch die dynamische Religion (religion dynamique). Die statische Religion besteht — analog zur geschlossenen Moral, Gesellschaft und Seele — wesentlich darin, daß sie den Glauben an eine starre, unverrückbare Regel- und Gesetzmäßigkeit im menschlichen Dasein verkörpert. Damit ist sie auf einer Ebene angesiedelt, der auch die Begriffe 'Materie', 'mechanische Notwendigkeit' und 'Intelligenz' zuzuordnen sind. Statische Religion und geschlossene Moral sind notwendige Strukturelemente der geschlossenen Gesellschaft und ermöglichen diese allererst. Dabei wird Moral wesentlich

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durch Religion vermittelt. Statische Religion ist "als eine Verteidigungsmaßnahme der Natur gegen die zersetzende Macht der Intelligenz" (DS 119) anzusehen. Sie immunisiert gegen Egoismus, Todesfurcht und Hoffnungslosigkeit. Der Preis für diese Sicherheit aber ist, so die These Bergsons, Unfreiheit. Die statische oder geschlossene Seele — samt der entsprechenden Moral, Religion und Gesellschaft — folgt einem in seinen Möglichkeiten eingeschränkten Typ des Denkens, der von sich aus keinen Zugang zur Ebene der Intuition hat. Einen solchen Zugang besitzt hingegen die dynamische oder offene Seele, Moral, Religion und Gesellschaft. Während das Statisch-Geschlossene zwar eine erhebliche Leistung, aber auch eine offenkundige Sackgasse des Lebensschwungs bzw. der Evolution darstellt, bedeutet das Dynamisch-Offene den Lebensschwung auf der Höhe seiner möglichen Entwicklung zu sich selbst oder, anders gesagt, es bedeutet die Evolution auf dem Niveau ihres tatsächlich erreichbaren Fortschritts, den wir heute in Ansätzen registrieren können und der als universale Möglichkeit in die Zukunft der Gattungsgeschichte weist. Indem der Lebensschwung zu sich selbst kommt, tritt das dynamisch-offene Individuum aus der Beschränktheit der statisch-geschlossenen Sphäre heraus und findet zu einer — begründet im universalen Lebensschwung und in der alles Getrennte verbindenden Intuition — Einheit mit den anderen Individuen. Aus diesem neuen Selbstverständnis des Individuums — nämlich Repräsentant des universalen Lebensschwungs zu sein — konstituiert sich eine kooperative und solidarische Moral, die aus dem Bewußtsein der Freiheit heraus agiert, nicht aus Furcht, Zwang und eingetrichtertem Reglement. Diese Moral ist offen und dynamisch, indem sie jeweils auf neue Situationen eingeht, diese authentisch mitgestaltet und schöpferisch meistert. Sie folgt nicht starren Prinzipien und Regeln, sondern den konkreten Erfordernissen des jeweiligen Geschehens, das als solches stets evolutionär auf die Entfaltung unserer intuitiven Fähigkeiten zielt und damit auf die harmonische Selbstberührung des Geistes. Offene Moral und dynamische Religion gehen Hand in Hand, bedingen sich wechselseitig und gehen weitgehend sogar ineinander über. Sie erwachsen aus der Hochschätzung und dem Innewerden von Intuition. Diese weist alles Gegenständliche und Kategoriale als eine sekundäre Realitätsform zurück und besinnt sich auf den universalen — transgegenständlichen und transkategorialen — Erfahrungsfluß. Durch diesen Bezug zur Intuition fallen für die offene Moral alle starren Prinzipien und Regeln weg, und für die dynamische Religion werden konkrete Glaubensinhalte, -erzählungen und -Offenbarungen unwichtig. Die Intuition verbindet sich mit der Aura und dem Gefühl des 'Heiligen', 'Gott' wird zum Inbegriff des in seine höchste Möglichkeit gelangenden Lebensschwungs. *

Nicht die Intuition, sondern die dynamische Religion ist es, die Bergson in Les deux sources ausdrücklich mit Mystik identifiziert. Hatte James die Mystik vornehmlich subjektiv-psychologisch als emotionale und intellektuelle Verfassung des Einzelmenschen beschrieben, die Verweischarakter auf eine Erfahrungsdimension jenseits von Gegen-

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ständlichkeit und Kategorialität besitze, so wird sie bei Bergson gewissermaßen objektiv-ontologisch — als evolutionäre Kulturschöpfung, als soziale Gestalt des Lebensschwungs — dargestellt. Es handelt sich also nicht mehr um eine deskriptive Beschreibung von Bewußtseinszuständen, sondern um eine spekulative Interpretation bzw. um eine Utopie der sozialen Realität. Medium dieser Interpretation ist die Lehre vom elan vital, in deren Verständnis die Mystik "an einem Punkte liegt, bis zu dem [in der Vergangenheit] der durch die Materie geschleuderte Strom des Geistes wahrscheinlich gehen wollte, aber nicht konnte" (DS 211). Mystik bzw. dynamische Religion hat eine Pionierfunktion in der Evolution — und sie ist deren Ziel. Sie ist (noch) nicht Allgemeingut, sondern bislang immer bloß die private Errungenschaft großer Einzelner gewesen, auch wenn jeder Mensch die Disposition zu ihr hin hat. Zwar stehen uns die Beispiele der großen Einzelnen — sei es in kultureller Überlieferung oder in persönlicher Begegnung — vor Augen und zwar beeindrucken uns diese Beispiele, doch ist die Wirkung auf das Gros der Menschen sehr abgeschwächt. Es handelt sich daher — vorläufig — nur um sehr kleine Evolutionsschritte für die menschliche Gattung, die durch 'große Einzelne' bewirkt werden. Daß demzufolge "die wahre Mystik etwas Seltenes" ist, kann nicht verwundern. Mystik ist "ein seltener Saft", dem man "meistens in verdünntem Zustande begegnet" (DS 211). "Aber wenn sie spricht, so zeigt sich in der Tiefe der meisten Menschen etwas, das ihr unmerklich antwortet. Sie enthüllt uns, oder besser, sie würde uns eine wundervolle Perspektive enthüllen, wenn wir wollten: wir wollen es nicht und meistens könnten wir es nicht wollen; die Anstrengung würde uns zerbrechen." (DS 212) Obwohl "in uns ein Mystiker wohnt, der nur schlummert und nur auf eine Gelegenheit wartet, um zu erwachen" (DS 97), wird dieses Erwachen durch die biologische Gesamtkonstitution des Menschen, wie sie sich in der bisherigen Geschichte herausgebildet hat, weitgehend verhindert. Materie und Intelligenz stehen quer zu Geist und Intuition. Die meisten Menschen nehmen zwar den um die Intelligenz gebildeten 'Saum von Intuition' mehr oder minder deutlich wahr und bringen dieser Erfahrung eine gewisse Wertschätzung und Hochachtung entgegen, doch wird die Intuition nicht zur neuen, beherrschenden Lebensqualität. Es bleibt beim Wahrnehmen und Genießen kurzer Morgenröten, denen kein heller Tag folgt. Es bleibt bei vorübergehenden Gedanken und Gefühlen, die aber nicht bestimmend werden für die Gesamtheit und den Grundcharakter von Lebensauffassung und Lebensgestaltung. "Schöpfung", sagt Bergson, "bedeutet vor allem Emotion." (DS 41). Das gilt auch und ganz besonders für die Mystik. Um die Qualität der mystischen Emotion zu verstehen, ist auf Bergsons allgemeine Gefühlstheorie129 einzugehen. Gemäß dieser Theorie sind Gefühl und Gedanke zwar nicht qualitativ dasselbe, sie können aber auch nicht voneinander isoliert werden. (Dies erinnert an die 'affektive Tönung', die Whitehead jeglichem Denken zuschreibt.)130 Es besteht auch keine Kausalstruktur dahingehend, daß durchgängig entweder der Gedanke das Gefühl oder das Gefühl den Gedanken hervorrufen und bestimmen würde. "Man muß [aber] zwei Arten von Gemütsbewegungen unterscheiden, zwei Varietäten des Gefühls [...]. Im ersten Falle folgt die Gemütsbewegung einer Idee oder einem vorgestellten Bild; der sensible Zustand resultiert aus 363

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einem intellektuellen" (DS 39). Doch "neben der Emotion, die die Wirkung der geistigen Vorstellung ist und sich dieser noch hinzufügt, gibt es eine andere, die der Vorstellung vorangeht, sie virtuell enthält und bis zu einem gewissen Punkte ihre Ursache ist." (DS 43) Es ist die kreative, von Freiheit getragene Emotion. Sie allein "kann Erzeugerin von Ideen werden" (DS 40) und ist Möglichkeitsbedingung von Mystik. Diese darf weder als bloßes Gefühl noch als bloßer Gedanke, sondern muß vielmehr als 'Idee' verstanden werden, d.h. als eine kreative (Selbst-)Schöpfung des menschlichen Geistes: "Für uns ist der Höhepunkt der Mystik eine Fühlungnahme, und damit ein teilweises Einswerden mit der schöpferischen Anstrengung, die vom Leben offenbart wird. Diese Anstrengung ist von Gott, wenn nicht geradezu Gott selbst. Der große Mystiker wäre demnach eine Individualität, die die Grenzen überschreitet, die der Spezies durch ihre Stofflichkeit gezogen sind, und so das göttliche Wirken fortsetzt und verlängert. Das ist unsere Definition." (DS 218) "Wir meinen die mystische Erfahrung in ihrer Unmittelbarkeit, außerhalb aller Interpretation. Die wahren Mystiker öffnen sich nur der Flut, die sie überschwemmt. Ihrer selbst sicher, weil sie etwas in sich fühlen, das besser ist als sie, enthüllen sie sich als große Männer der Tat, zum Erstaunen derer, für die die Mystik nur Vision, Überschwang, Verzückung bedeutet." (DS 96)

Mystik bedeutet "einen Sprung aus der Natur heraus" (DS 221), aber nicht einen Sprung hinein in reine Kontemplation und Nichthandeln, sondern hinauf auf eine höhere Stufe des Lebensschwungs, auf der qualitativ anders, nämlich der Intuition folgend, gehandelt wird. Mystik ist Praxis, die sich von dem seiner selbst bewußt gewordenen universalen Lebensschwung geleitet und verantwortet weiß. Sie ist "Handlung, Schöpfung, Liebe". Daher stellt für Bergson "der Buddhismus keine vollkommene Mystik" dar (DS 223). Das Fehlen des Willens zum Handeln einerseits, das Fehlen einer umfassenden und radikalen Form von Liebe andererseits veranlaßt ihn zu dem Urteil, "daß es weder in Griechenland noch im antiken Indien vollkommene Mystik gegeben" habe (DS 224). Die indische Mystik sei eine steckengebliebene, blockierte Mystik. Und von Plotin, der die griechische Mystik repräsentiert, heißt es: "Es war ihm vergönnt, das gelobte Land zu sehen, nicht aber, seinen Boden zu betreten. Er kam bis zur Ekstase [...]; doch überschritt er diese Etappe nicht und kam nicht bis zu dem Punkt, wo die Schau in der Handlung versinkt [...]. Kurz, die Mystik in dem absoluten Sinne, in dem wir sie verstehen wollten, ist vom hellenischen Denken nicht erreicht worden." (DS 219)

Mit Berufung auf Delacroix und Underhill131 erklärt Bergson die christliche Mystik zum vollkommenen Mystik-Typ: Die "vollständige Mystik" sei die "der großen christlichen Mystiker." (DS 225) Gegenwärtig und künftig aber sei der Philosoph dazu aufgerufen, "die Idee zu Ende zu führen, die der Mystiker ihm suggeriert, die Idee eines Weltalls, das nur der sichtbare und fühlbare Aspekt der Liebe und des Bedürfnisses zu lieben ist, mit allen Konsequenzen, die diese schöpferische Emotion nach sich zieht" (DS 254). Die "mystische Liebe zur Menschheit", die für die voll entwickelte 'offene Moral' kennzeichnend ist, stellt Höhepunkt und Ziel der 'evolution creatrice' dar:

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"Sie setzt nicht einen Instinkt fort, sie stammt nicht aus einer Idee. Sie ist weder etwas Empfindungsmäßiges noch etwas Rationales. Sie ist implizite beides, und ist doch viel mehr. Denn eine solche Liebe steht an der Wurzel von Empfindung und Verstand, wie aller Dinge überhaupt. Da sie mit der Liebe Gottes zu seinem Werk zusammenfällt, der Liebe, die alles gemacht hat, würde sie dem, der sie zu befragen wüßte, das Geheimnis der Schöpfung ausliefern. Sie ist noch mehr metaphysischer als ethischer Wesensart. Sie würde mit Gottes Hilfe die Erschaffung der menschlichen Art vollenden und aus der Menschheit das machen, was sie sofort gewesen wäre, hätte sie sich ohne die Hilfe des Menschen selbst endgültig konstituieren können. Oder [ . . . ] : ihre Richtung ist die des Lebensschwunges selbst; sie ist dieser Lebensschwung selbst, der in seiner Ganzheit bevorzugten Menschen übermittelt wurde; diese möchten ihn dann der ganzen Menschheit verleihen und, das Unmögliche möglich machend, jenes erschaffene Etwas, das eine Spezies doch ist, in eine schöpferische Kraft verwandeln, oder das in eine Bewegung verwandeln, was der Definition nach ein Innehalten ist. Wird das gelingen? Wenn die Mystik die Menschheit umformen soll, so kann das nur geschehen, indem sie allmählich, langsam, einen Teil ihrer selbst weitergibt. Die Mystiker fühlen es wohl. Das große Hemmnis, auf das sie stoßen werden, ist dasselbe, das die Erschaffung einer göttlichen Menschheit verhindert hat." (DS 2 3 2 f.)

Es geht also "für die großen Mystiker darum, die Menschheit grundlegend zu ändern, wobei sie zuerst selbst das Beispiel geben" (DS 237). Sie empfinden ihre Erfahrung "als ein Schwingen der Liebe", als "ein ganz neues Gefühl [...], das das menschliche Leben in eine andre Tonart zu transponieren vermag". Und sie verspüren "das Bedürfnis, das Empfangene um sich herum weiter zu verbreiten" (DS 96). Das freilich ist erst die subjektive Seite der Mystik. Nach ihrer objektiven Seite läßt sich die Gesamtrealität "auf ein Einheitliches zurückführen", nämlich "auf einen Schwung, der zunächst geschlossene Gesellschaften ergeben hatte, weil er die Materie nicht weiter fortreißen konnte, der aber später, da eine Gattung sich nicht bietet, von der oder jener bevorzugten Persönlichkeit aufgesucht und wieder aufgenommen wird. Dieser Schwung setzt sich durch das Medium gewisser Menschen fort, von denen jeder sich als eine nur aus einem einzelnen Individuum bestehende Gattung erweist. Wenn das Individuum sich dessen voll bewußt ist, wenn der Saum von Intuition, der seine Intelligenz umgibt, so breit wird, daß er sich über sein ganzes Objekt erstreckt, dann haben wir das mystische Leben." (DS 2 6 7 )

Den Zugang zur Mystik sieht Bergson vornehmlich in interpersonalem Kontakt gegeben. Unter dem Titel "Dressur und Mystik" 132 stellt er — vor dem Hintergrund des Gegensatzes von Materie und Geist — zwei Wege der Erziehung

einander gegenüber:

"Nach der ersten Methode prägt man eine aus unpersönlichen Gewohnheiten bestehende Moral ein; nach der zweiten erreicht man die Nachfolge einer Person, und sogar eine seelische Vereinigung, ein mehr oder weniger vollständiges Einswerden mit ihr." (DS 94) An dieser Stelle hat Bergson die "bescheidenste Bedeutung" von Mystik vor Augen. (DS 94) Doch trifft es den Sinn seiner Mystikkonzeption, wenn man die Mystiker als die großen Erzieher der Menschheit betrachtet. Sie sind es, "die die zivilisierten Gesellschaften in ihre Bewegung hineingezogen haben und noch hineinziehen. Die Erinnerung an das, was sie gewesen sind, was sie getan haben, hat sich im Gedächtnis der Menschen

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niedergeschlagen. Jeder von uns kann es wieder beleben, besonders wenn er sie dem — in ihm lebendig gebliebenen — Bilde einer Person nähert, die dieser Mystik teilhaftig war, und sich mit ihrem Glänze umgeben hat." ( D S 80 f . )

Und weiter heißt es: "Unstreitig steht die Mystik am Beginn der großen sittlichen Wandlungen." (DS 290) Sie ist die zu einem besonderen Ausdruck gelangte Selbstgewißheit der dynamisch-offenen Grundbeschaffenheit des Lebens, sie ist die vollendete Kulturgestalt des Lebensschwungs. Sie zu denken und auszudrücken heißt, mit den Konventionen der Sprache — die ihrerseits der Intelligenz und damit einem statischen Weltbild verpflichtet sind — zumindest teilweise zu brechen. Wenn man die Dynamik "in die Sprache des Statischen und des Unbewegten übersetzen will, wird man zu Formeln gelangen, die das Widerspruchsvolle streifen" (DS 56). Die mystische Sprache "übersetzt lediglich das in Vorstellungen, was die besondere Emotion einer Seele ist, die sich öffnet und die mit der Natur bricht, welche sie gleichzeitig in sich selbst und in der Gemeinschaft eingeschlossen hielt." (DS 48) Rhetorisch stellt Bergson die Frage, ob die Mystik einzig intensivierter religiöser Glaube sei — dann wäre sie für eine genuin philosophische Fragestellung von keinem besonderen Interesse — "oder ob sie — mochte sie sich auch möglichst viel von dieser Religion assimilieren, von ihr Bestärkung verlangen und von ihr die Sprache entleihen — nicht dennoch einen originalen Inhalt habe, der direkt aus dem Quell der Religion geschöpft wäre, unabhängig von dem, was die Religion der Tradition, der Theologie, den Kirchen verdankt [ . . . ] . Im zweiten Falle aber würde es genügen, die Mystik in reinem Zustande zu nehmen, losgelöst von den Visionen, den Allegorien, den theologischen Formeln, in denen sie sich ausdrückt, und w i r erhielten ein mächtiges Hilfsmittel der philosophischen Forschung." ( D S 248)

Die faktisch existierende Religion, die sich auf heterogene Weise sowohl aus statischen wie dynamischen Elementen zusammensetzt, stellt also eine Mischform dar, aus der sich 'reine' Mystik extrahieren läßt. Die 'gemischte Religion' enthält demnach eine unreine, verwässerte, populäre Form von Mystik. 133 A m Schluß von Les deux sources erreicht Bergsons Geschichtsspekulation ihren Höhepunkt. Der Autor demonstriert eine geradezu chiliastische Haltung. Im Kapitel "Mechanik und Mystik" 134 stellt er die These auf, daß die moderne Technik, in der sich die menschliche Intelligenz auf so mächtige Weise ausdrücke, kompensatorisch nach einem 'Mehr an Mystik' verlange, da Technik und Mystik in einem Korrelationsverhältnis stünden: "Der Mensch wird sich nicht über die Erde erheben, wenn nicht ein mächtiger Apparat von Werkzeugen ihm den Stützpunkt liefert. Er wird auf der Materie ruhen müssen, wenn er sich von ihr lösen will. Mit andern Worten: die Mystik ruft die Mechanik herbei." (DS 309) Technische Werkzeuge und Maschinen seien die verlängerten Organe des Menschen, die technische Zivilisation stelle demnach die Fortsetzung und Ausgestaltung seiner biologischen Konstitution dar. "In diesem ungeheuer vergrößerten Körper bleibt nun aber

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die Seele so wie sie war, jetzt zu klein um ihn zu füllen, zu schwach um ihn zu leiten." (DS 309) Bergson meint, "daß der vergrößerte Körper auch ein Mehr an Seele erwartet und daß die Mechanik eine Mystik einfordern würde". Die Ursprünge der Mechanik seien "vielleicht mystischer als man glaubt" (DS 310). Somit erklärt er die moderne Technik zum möglichen Auslöser für eine Mutation der Menschheit. Dafür erhofft er das Auftauchen eines neuen 'Ausnahmemenschen': "Wenn jetzt ein mystisches Genie auftaucht, dann wird es eine Menschheit mit sich reißen, die einen schon ungeheuer vergrößerten Körper und eine durch ihn umgeformte Seele hat. Es wird aus ihr eine neue Gattung machen wollen, oder vielmehr sie der Notwendigkeit entheben wollen, eine Gattung zu sein: wer Gattung sagt, sagt kollektives Stehenbleiben, und die vollkommene Existenz ist Beweglichkeit in der Individualität." (DS 311) 1 3 5

Was Bergson also unter 'Mystik' versteht, ist die am weitesten in der Evolution fortgeschrittene Bewußtseinsform: 'dynamische Religion' als die allgemeine Bewußtseinsform der gattungsgeschichtlichen Zukunft. Es handelt sich um eine gegenüber der hegelschen Mystikkonzeption — an die die bergsonsche sonst in manchem erinnert — umgekehrte zeitliche Zuordnung. War für Hegel Mystik eine vergangene und überholte Form, so ist sie für Bergson im wesentlichen eine erst zukünftige, von der Gattung — nicht nur von antizipierenden Individuen — erst zu erarbeitende und zu realisierende Bewußtseins- und Lebensform. Die rückwärts gewendete Spekulation Hegels ist durch eine vorwärts gewendete ersetzt. Hegel und Bergson haben aber gemein, daß sie Mystik und Vernunft — durch einen gleichermaßen entgrenzten Vernunft- und Mystikbegriff — inhaltlich gleichsetzen. Sie haben gemein, daß sie ihrem mit Mystik koinzidierenden Vernunftbegriff den eingeschränkten Begriff des bloßen 'Reflexionsdenkens' bzw. der 'Intelligenz' gegenüberstellen, der niemals das Ganze und Eigentliche der Erfahrung ausdrücken könne. Es gebe, sagt Bergson, "keine andere Erkenntnisquelle als die Erfahrung" (DS 246), es gebe aber Erfahrungen 'von unten' wie 'von oben'. Ob sie je restlos zueinander finden können, müsse offen bleiben, doch habe sich die Philosophie um "eine Fortführung und Vertiefung der beiden Erfahrungen" (DS 263) zu bemühen.

2.2.6 Sprachphilosophie: Wittgenstein.136 Mit einer Nachbemerkung zu Mauthner137 Kaum ein anderer moderner Philosoph hat sich in seinem veröffentlichten Werk so spärlich über Mystik geäußert wie Wittgenstein und ist mit diesen spärlichen Äußerungen dennoch auf so große Resonanz gestoßen. Bekanntlich hat Wittgenstein zeitlebens nur ein einziges Werk, den Tractatus logico-philosophicus, veröffentlicht, auf dessen letzten Seiten sich nur drei knappe, vorerst kryptisch anmutende Sätze finden, in denen

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zweimal vom 'Mystischen' und einmal vom 'mystischen Gefühl' die Rede ist.138 In den vom Autor noch selbst für eine Veröffentlichung vorbereiteten, aber erst posthum erschienenen Philosophischen Untersuchungen und im übrigen Nachlaß wird das Thema nicht wieder aufgenommen. Eine Ausnahme bilden hier freilich die Tagebücher aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Diese werden jedoch erst seit kurzem in der WittgensteinRezeption zur Kenntnis genommen und bieten überdies keine überraschenden Zusatzinformationen zum Tractatus. Sie enthalten zum Thema Mystik einige die TractatusÄußerungen paraphrasierende, sie jedoch kaum näher erläuternde bzw. systematisch fortführende Gedanken. Diese Tagebuchnotizen sind eher von biografischem denn von philosophischem Interesse. Sie zeugen davon, daß Wittgenstein Schopenhauer und Kierkegaard, aber auch klassische Mystiker wie Angelus Silesius und Johannes vom Kreuz gelesen hat, doch führt von diesen Notizen nur selten ein gerader Weg zu den systematischen Überlegungen des Tractatus. Bemerkenswert mag aber immerhin sein, daß Wittgenstein selbst von mystischen bzw. quasi-mystischen Erlebnissen berichtet, die ihn tief beeindruckt haben139, und daß die Lektüre von lames' The Varieties of Religious Experience auf ihn einen nachhaltigen persönlichen Eindruck hinterlassen hat. Die Resonanz der Bemerkungen Wittgensteins zum 'Mystischen' beruht — von neueren Arbeiten wie denen von Janik/Toulmin140 oder von W. Baum141 abgesehen — fast durchgängig auf einer oberflächlichen, exoterischen Rezeption.142 Ihr steht der breite Strom der fachphilosophischen Rezeption gegenüber, die Wittgensteins frühe Theoreme von logischem Atomismus, Abbildtheorie, Idealsprache einerseits, die späteren Theoreme von Sprachspiel, Paradigma und Lebensform andererseits aufnimmt und dabei den Äußerungen über 'das Mystische' nur wenig Beachtung schenkt.143 Dies gilt sowohl für den logischen Empirismus oder Neopositivismus wie für die sprachanalytische Philosophie, die als die beiden Zweige der ernsthaften Wittgenstein-Rezeption gelten dürfen. Wie dies schon bei den Cambridger (vor allem bei Russell)144 und bei den Wiener Gesprächspartnern Wittgensteins (vor allem bei Carnap und Waismann)145 der Fall war, wird Wittgensteins 'Mystik' als irrelevant übergangen oder als persönliche Schrulle gewertet, der keine systematische Rolle im philosophischen Kontext zuzuschreiben sei. Für programmatische Rationalisten wie Carnap146 und Popper 147 , die Mystik mit Irrationalismus gleichsetzen und diesen mit weltanschaulichem Eifer bekämpfen, stellen die betreffenden Tractatus-Sätzc eine Verlegenheit oder sogar ein Ärgernis dar. Demgegenüber erklärt der Theologe W. Baum, der Herausgeber von Wittgensteins Geheimen Tagebüchern, in allerdings wieder übertriebener Weise den Philosophen "zu einem der bedeutendsten Mystiker des 20. Jahrhunderts". 148 Für diese strittige und unausgewogene Rezeptionslage dürften zwei Faktoren ausschlaggebend sein. Zum einen ist die Textgestalt des wittgensteinschen Werkes zu nennen: es handelt sich fast durchgängig um Aphorismen, die eine immanente Interpretation stark erschweren. Der andere Faktor wurde von Janik/Toulmin in ihrem Gemeinschaftswerk Wittgenstein 's Vienna — einem eindrucksvollen Kultur- und Sittengemälde der Wiener Moderne — namhaft gemacht: Wittgensteins eigenes Denken und seine Rezeption waren und sind inkohärent. Die geistigen Wurzeln und eine ursprüngliche Problemstellung, die man als 'metaphysisch' und/oder 'existentiell' bezeichnen kann, ver368

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dankt Wittgenstein einer genuin kontinentaleuropäischen Tradition; seine philosophische Entfaltung verdankt er hingegen der rationalistischen englischen Philosophie. Beide Momente aber verschlingen sich bei ihm, bilden insgesamt eine konkrete 'Gestalt' des Denkens, die nicht schnell und problemlos rational rekonstruierbar ist. Wenn es um Methoden und Normen des Philosophierens geht, orientiert sich Wittgenstein an Frege und Russell. Geht es aber um den persönlichen und lebensweltlichen Sinn von Philosophie, um ihre Fundierung im konkreten Leben, um ihre Verknüpfung mit dem Menschsein als Ganzes, dann bezieht er sich auf eine dem Diskurs der Logiker und Empiristen angelsächsischer Provenienz fremde und diesen nahezu unverständliche Tradition und Haltung. Sowohl das Eigenverständnis Wittgensteins wie seine Rezeption repräsentieren somit das Problem des Aufeinandertreffens zweier philosophischer und kultureller Paradigmen, die offenkundig nicht reibungslos miteinander zu vermitteln sind und bei deren Begegnung sich zwar Verfremdungs- und Überraschungseffekte ergeben mögen, dies aber ineins mit der Ausblendung und dem Verschwinden älterer, jeweils als besonders wichtig empfundener Perspektiven. 149 Diese Interpretationsschwierigkeiten mögen dafür verantwortlich sein, daß das Thema Mystik in seiner Struktur und Bedeutung für Wittgensteins Denken keineswegs von vornherein klar zutage liegt und daß ausgerechnet bei einem Philosophen, der programmatisch so viel Wert auf Klarheit und Eindeutigkeit der Mitteilung legt, in dieser Beziehung noch einiges im dunkeln bleibt. In vorliegendem Kapitel geht es freilich nicht um eine nach allen möglichen Seiten hin methodisch abgeschirmte und erschöpfende Darstellung des Mystikverständnisses Wittgensteins, auch nicht um die Rolle der Mystik in seiner Biografie, sondern bloß um eine idealtypische, gegenüber anderen philosophischen Idealtypen abgrenzbare und mit diesen vergleichbare Darstellung. Ich beginne mit einer hinsichtlich des Tractatus immanenten Darlegung der drei besagten Sätze über Mystik, ergänze diese Darlegung dann mit einer Berücksichtigung der Tagebuch-Äußerungen über Mystik (die allesamt aus der Zeit des Tractatus stammen) und konfrontiere diese Mystikkonzeption zuletzt mit der späteren Denkentwicklung Wittgensteins, wie sie im Vortrag über Ethik von 1929 anklingt und sich schließlich in reifer Weise in den Philosophischen Untersuchungen ausdrückt. Dabei nehme ich sporadisch auf die einschlägige Sekundärliteratur Bezug. Die drei Mystik-Sätze des Tractatus lauten: "Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist." (T 6.44) "Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als-begrenztes-Ganzes. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische." (T 6.45) "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische." (T 6.522)

Was läßt sich aus diesen Sätzen herauslesen? Man mag vorerst bemerken, daß nicht vom Substantiv 'Mystik' 150 die Rede ist, sondern nur vom Adjektiv 'mystisch', das einmal attributiv ('mystisches Gefühl') und zweimal als Nominalisierung verwendet wird, wobei eine Gleichsetzung mit dem Daß-Sein der Welt sowie mit dem 'Unaus-

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sprechlichen, das sich zeigt", erfolgt. Es scheint Wittgenstein nicht oder zumindest nicht primär um die Anknüpfung an die als 'Mystik' ausgewiesene religiöse und/oder philosophische Tradition zu gehen, sondern um einen terminus technicus für einen bestimmten Aspekt seines eigenen philosophischen Entwurfs. Für eine erste immanente Interpretation sind daher die kontextualen Ausdrücke Welt, Daß-Sein, Gefühl, unaussprechlich und zeigen in den Blick zu nehmen. Der Weltbegriff des Tractatus gehört bekanntlich zu den schwierigsten Partien in diesem Werk. Es handelt sich zum einen um einen gegenüber dem Weltbegriff der traditionellen Philosophie methodisch eingeschränkten Begriff; zum anderen wird man davon ausgehen müssen, daß 'Welt' nicht überall im Tractatus in der gleichen Bedeutung verwendet wird, daß man also an verschiedenen Stellen darunter Verschiedenes zu verstehen hat — auch wenn dieses Verschiedene in einem argumentativen Zusammenhang steht. Das zeigt sich gerade in der Rekonstruktion des Verhältnisses von 'Mystischem' und Welt. Die berühmte Eingangsdefinition lautet: "Die Welt ist alles, was der Fall ist." (Τ 1) Was 'der Fall ist', sind 'Tatsachen', deren Abbilder — in isomorphem Sinn — als 'Gedanken' vorstellbar und zugleich sprachlich sinnvoll ausdrückbar sind. Demnach besteht die Welt aus abbildbaren qua ausdrückbaren Tatsachen und aus nichts anderem. Unter Tatsachen sind die Elemente der empirisch feststellbaren und sprachlich artikulierbaren Wirklichkeit zu verstehen, die Wittgenstein ausdrücklich nicht mit der Welt der 'Dinge' gleichsetzen will. Die Tatsachen-Welt ist die Wirklichkeit des SoSeins, des Wie der Welt bzw. der Tatsachen. Die Welt qua Einheit der Tatsachen ist gleichzusetzen mit dem durch Erfahrung aufweisbaren und in einer streng wissenschaftlichen Sprache abbildbaren 'Wie' der Wirklichkeit. Dieses Wie ist zugleich das Zufällige. 151 Wenn wir sprechen, haben wir uns — so die Norm des Tractatus, die Wittgenstein später freilich gründlich revidiert hat — auf dieses Zufällige zu beschränken. Über das, was es darüber hinaus geben mag (die andere Wirklichkeit gegenüber der Wirklichkeit der Tatsachen und Sachverhalte, nämlich die Wirklichkeit der 'Dinge' und des — angeblich — Unaussprechlichen), wird ein rigoroses Schweigegebot verhängt: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." (Τ 7)152 Wenn Wittgenstein also unter Τ 6.44 — am Schluß des Tractatus — das 'Daß-Sein' der Welt als 'das Mystische' bezeichnet, so hat sich der eingangs eingeführte Weltbegriff, der sich auf das 'Wie' beschränkte, im Fortschreiten der Argumentation verändert. Es gibt nunmehr auch die Welt als ein 'Daß', und als solches ist sie 'mystisch'. Das 'Daß' kann freilich, insofern bleibt Wittgenstein folgerichtig, nicht ausgesprochen werden, denn es ist keine Tatsache und kein Sachverhalt. Was aber ist es dann? Wittgenstein sagt, daß ihm ein 'Gefühl' korrespondiere (6.45) und daß es sich, obgleich unaussprechlich, 'zeigt' (6.522). Auf das Paradox, daß Wittgenstein hier vom 'Daß' spricht, obwohl es 'unaussprechlich' sei, sei hier nur beiläufig hingewiesen. Festzuhalten ist, daß das sprachlich 'Unausdrückbare' laut Wittgenstein also doch, wenngleich auf eine andere Weise, zum Vorschein kommt: nämlich als ein 'Sich-Zeigen'. Unterstellt man der Argumentation Wittgensteins innere Kohärenz und folgt man seinen begrifflichen Zuordnungen, so muß das 'Sich-Zeigen' des 'Daß' in engster Nähe zum Gefühl stehen bzw. es muß über ein Gefühl oder als ein Gefühl erfolgen. Gemäß

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den Voraussetzungen des Tractatus kann es keine Erkenntnis des 'Daß' bzw. des 'Mystischen' geben, denn Erkenntnis beschränkt sich auf Tatsachen, auf das Wie der Welt, auf das Zufällige und sprachlich Ausdrückbare. Tatsachen können erkannt, Erkenntnis kann sinnvoll verbalisiert werden. Das 'Daß' hingegen 'zeigt sich' im Gefühl, das seinerseits weder erkennbar noch sinnvoll verbalisierbar ist. Dabei bleibt freilich offen, ob das Gefühl die einzig mögliche Form des mystischen Sich-Zeigens darstellt. Wittgenstein erweitert also seinen anfänglichen Weltbegriff, der sich auf das Wie beschränkte, auf die Dimension des Daß. In Τ 6.45 identifiziert er die "Anschauung der Welt sub specie aeterni" mit ihrer "Anschauung als-begrenztes-Ganzes", dessen "Gefühl [...] das mystische" sei. Der Ewigkeits- und Totalitätsaspekt der Welt, der hier formuliert wird, widerspricht der Welt als Inbegriff der Tatsachen, denn diese sind ja zufällig und zeitlich. In ihrer Synopsis legen die Mystik-Sätze Wittgensteins die Lesart nahe, daß es in unserem Bewußtsein jenseits der zufälligen Tatsachen-Welt eine absolute, ewige, totale, unveränderliche und unbedingte Welt gebe und daß diese Welt die Welt des 'Daß' — nicht des relativen, zeitlichen, partiellen, veränderlichen und vielfach bedingten 'Wie' —darstelle. Diese 'zweite' Welt — oder, vielleicht weniger mißverständlich, die eine Tatsachen-Welt unter anderem, nicht-tatsächlichem Aspekt — ist sprachlich nicht sinnvoll ausdrückbar. Es sei angemessen, so Wittgenstein, über diese Dimension der Wirklichkeit zu schweigen. Das Schweigegebot impliziert kein negatives Werturteil, im Gegenteil. Gerade dem Bereich, über den zu schweigen sei, werden die 'eigentlichen' Lebensprobleme zugewiesen. Der Tractatus will, wie es am Schluß des Vorworts heißt, zeigen, "wie wenig getan ist, daß die [wissenschaftlichen, sprachlich sinnvoll artikulierbaren] Probleme gelöst sind". 153 Besser, als von einer 'zweiten Welt' neben der Tatsachen-Welt zu sprechen, ist es, gemäß Τ 6.41 vom 'Sinn' oder 'Wert' der Welt zu sprechen, der nicht in, sondern außerhalb der Welt anzusiedeln sei: "Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert — und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. — Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig. — Was es nicht-zufallig macht, kann nicht in der Welt liegen; denn sonst wäre dies wieder zufällig. — Es muß außerhalb der Welt liegen." (T 6.41)

Sinn und Wert, wie Wittgenstein sie versteht, haben mit der Sphäre der Tatsachen nichts zu tun. Sie sind — wie aus einer Reihe weiterer Textstellen hervorgeht — ein Absolutes, Unbedingtes, Nicht-Relativierbares. Sie entziehen sich der philosophischen Argumentation, weil sie sich der Kompetenz der Sprache entziehen. Über Sinn und Wert reden heißt Unsinn reden. Der philosophische und sprachliche Unsinn ist aber der Sache nach, die als solche nicht zur Sprache gebracht werden kann und darf, nicht nur kein Unsinn, sondern der höchste Sinn. Er ist das 'Höhere', das sich in Sätzen prinzipiell nicht ausdrücken läßt.154

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Nach Sinn und Wert kann man, weil sie unaussprechbar sind, nicht fragen, und auf die sogenannte 'Frage nach Sinn und Wert', die als solche zurückzuweisen ist, läßt sich keine Antwort geben: "Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. — Das Rätsel gibt es nicht. — Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch beantwortet werden." (T 6.5) Denn die Möglichkeit von Frage und Antwort gibt es nur in der Sprache, d.h. nur in der TatsachenWelt. Indem wir deren Maßstäbe — nämlich sprachliche (und das heißt hier immer: gemäß der im Tractatus vorausgesetzten 'Satzform') 155 — verfehlterweise auf die Sinn- und Wertsphäre anwenden, ergeben sich metaphysische Scheinprobleme. Diese sind Scheinprobleme dadurch, daß die 'Metaphysiker' versuchen, ihren Inhalt überhaupt sprachlich auszudrücken und nach dem Frage-Antwort-Schema zu behandeln. 'Lebensprobleme' werden nur dadurch 'gelöst', daß sie sich in ihrem absoluten Charakter 'zeigen' und als Fragen verschwinden. "Wir fühlen", heißt es in Τ 6.52, "daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort." Es scheint nun freilich eine gewisse Skepsis angebracht, ob Wittgenstein hier nicht einer Äquivokation aufsitzt. Auch den Tatsachen ist natürlich ein Daß-Sein zuzusprechen — und eben deshalb haben auch sie eine 'mystische' Dimension. Aber dieses DaßSein gehört nicht unbedingt zur gleichen Kategorie wie die — nur in ihrem Daß-Sein sich zeigenden — Lebensprobleme. Dennoch setzt Wittgenstein auf der gleichen Sinn- und Wert-Ebene wie 'das Mystische' auch das Problem der Ethik an, und einiges spricht dafür, 'das Mystische' und die Ethik zu identifizieren. Wittgenstein kommt im Anschluß an den oben zitierten Satz Τ 6.41, worin Sinn und Wert außerhalb der Welt angesetzt werden, auf Ethik zu sprechen: "Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken." (T 6.42) "Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt. — Die Ethik ist transcendental." (Τ 6.421) 'Transcendental' hat an dieser Stelle vermutlich eine ähnliche Bedeutung wie die mittelalterlichen Transzendentalien (ens, unum, bonum, verum usw.), die absolute und höchste Kategorien des Seins darstellen und sich jeder Relativierbarkeit und Kontingenz entziehen.156 Das 'Höhere', das den 'Sätzen' verschlossen bleibt, ist eben dieses nicht mehr Übersteigbare, 'Transcendentale'. Der Ethikbegriff Wittgensteins ist denkbar rigoros. Er läßt sich nicht argumentativ begründen, ja nicht einmal aussprechen (obwohl, wie auch hier anzumerken bleibt, Wittgenstein sehr wohl über Ethik spricht).157 Ethik gilt absolut und 'zeigt' sich, jenseits von Sprache und argumentativem Denken, in ihrer Absolutheit. Was für die Ethik gilt, gilt ebenso für die Ästhetik. Wittgenstein setzt nämlich ausdrücklich Ethik und Ästhetik ineins.158 Daß in diese Gleichsetzung auch 'das Mystische' hereingehört, ergibt sich zwar nicht expressis verbis aus den Sätzen des Tractatus, doch bedeutet eine solche — nunmehr dreifache — Gleichsetzung keinen immanenten Widerspruch, ja sie drängt sich einer hermeneutisch-rekonstruktiven Lektüre geradezu auf. Daß es sich hiebei nicht um eine willkürliche Zuordnung handelt, erhellt aus einer Tagebuchnotiz vom 7.10.1916:

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'Klassische'

Positionen

"Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aetemitatis gesehen; und das gute Leben ist die Welt sub specie aetemitatis gesehen. Dies ist der Zusammenhang zwischen Kunst und Ethik. Die gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Gegenstände gleichsam aus ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aetemitatis von außerhalb. So daß sie die ganze Welt als Hintergrund haben. Ist es etwa das, daß sie den Gegenstand mit Raum und Zeit sieht statt in Raum und Zeit? Jedes Ding bedingt die ganze logische Welt, sozusagen den ganzen logischen Raum. (Es drängt sich der Gedanke auf): Das Ding sub specie aetemitatis gesehen ist das Ding mit dem ganzen logischen Raum gesehen."159

Im Tractatus bedeuten Anschauung und Gefühl der 'Welt sub specie aeterniftatis]' deren Anschauung und Gefühl 'als — begrenztes — Ganzes'. Damit definiert Wittgenstein auch das Adjektiv 'mystisch' (T 6.45). Des weiteren gehört die 'logische Form' der Tatsachen und Sachverhalte zum 'Was', das 'Mystische' hingegen zum 'Daß' der Welt. In der Synopsis mit obiger Tagebuchnotiz ergeben sich daraus vier Thesen: (1) die Gleichsetzung des 'Mystischen' mit dem 'guten Leben' (also mit dem zentralen Thema der Ethik); (2) das mystische 'Gefühl' als Grundstimmung für Ethik (die die ganze Welt thematisiert) und Ästhetik (die den einzelnen Gegenstand thematisiert); (3) das für das Mystische, für Ethik und Ästhetik gleichermaßen gültige Außerkraftsetzen der Zeitkategorie und (4) der Zusammenhang von Mystik und Logik. Dieser Zusammenhang besteht darin, daß beide nicht der empirisch-'zufälligen' Kategorie der 'Tatsachen/ Sachverhalte' angehören und daß beide 'unaussprechlich' sind. Ein auf den ersten Blick unauffälliger Zusammenhang der Tatsachenwelt mit dem Mystischen und der Logik besteht weiters darin, daß natürlich auch die Tatsachen neben ihrem 'Wie' (ihrer Zufälligkeit und Beschreibbarkeit) und neben ihrem 'Was' (der 'logischen Form') ein 'Daß' haben. Darüber, ob Wittgenstein unter dem 'Mystischen' allgemein das Daß als solches (also auch das 'Daß' einzelner Gegenstände, die Domäne der Kunst) oder speziell nur das Daß des Weltganzen verstanden wissen will, gibt der Text keine Auskunft. *

Die referierten Zusammenhänge ergeben sich auch aus der Lektüre des die Aussagen des Tractatus ergänzenden, erläuternden und z.T. weiterführenden Vortrags über Ethik von 1929. Dort versucht Wittgenstein eingangs, das Wesen der Ethik durch eine Synonymenreihe zu charakterisieren. Ethik sei "die allgemeine Untersuchung dessen, was gut ist" (er wiederholt hier die Ethik-Definition von G.E. Moore) bzw. "dessen, was Wert hat, bzw. dessen, was wirklich gut ist". Der Ethik gehe es darum, "den Sinn des Lebens zu erkunden, zu untersuchen, was das Leben lebenswert macht, oder zu erforschen, welches die rechte Art zu leben ist" (VE 10 f.). Bei all diesen Kennzeichnungen und Ausdrücken sei auffallend, so Wittgenstein, "daß jeder von ihnen eigentlich in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Einerseits [...] im hausbackenen oder relativen Sinn, andererseits im ethischen oder absoluten Sinn". In der zweiten Bedeutung habe man es "mit einem absoluten Werturteil zu tun" (VE 11).

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Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

Wenn sich Wittgenstein "nun darauf konzentrieren möchte, was ich unter absolutem oder ethischem Wert verstehe", stößt er auf "die Vorstellung eines ganz bestimmten Erlebnisses", nämlich "daß ich [...] über die Existenz der Welt staune". Ein vergleichbares zweites Erlebnis sei "das Erlebnis der absoluten Sicherheit" (VE 14), des fraglosen Geborgenseins, und ein "drittes Erlebnis der gleichen Art ist das des Schuldgefühls" (VE 16). Diese "drei genannten Erlebnisse (denen ich noch weitere hätte hinzufügen können)" haben nun "für diejenigen, die sie — wie ich selbst etwa — aus eigener Erfahrung kennen, allem Anschein nach gewissermaßen einen inneren absoluten Wert" (VE 17). Doch stellt Wittgenstein ausdrücklich fest, "daß der sprachliche Ausdruck dieser Erlebnisse Unsinn ist! Wenn ich sage: 'Ich staune über die Existenz der Welt, mißbrauche ich die Sprache. [...] denn ich kann mir gar nicht vorstellen, daß sie nicht existiere" (VE 15). Alle drei genannten Erlebnisse entziehen sich nach Wittgenstein der sinnvollen sprachlichen Artikulation. Es sind — das gilt insbesondere für das zweite Erlebnis der 'absoluten Sicherheit' — Standardmotive der klassischen mystischen Literatur. Diese Erlebnisse vermitteln sich über Gefühle oder, anders gesagt, sie sind als Gefühle wirksam, sie zeigen sich als Gefühle. Sprachlich ausdrückbare Tatsachen-Welt einerseits und im Gefühl sich zeigende Daß-Welt (die 'Sinn' und 'Wert', die absolute Dimension — Ethik, Ästhetik und Mystik — repräsentiert) andererseits verdeutlichen in ihrem Gegensatz, daß die Welt entweder logisch-diskursiv 'beschrieben' oder gefühlsmäßig 'erlebt' werden kann, nicht aber beides zugleich. Zwischen beiden Dimensionen klafft ein Hiatus. In der Sekundärliteratur wird das Verhältnis beider Dimensionen des öfteren mit Kants Unterscheidung von reiner bzw. theoretischer und praktischer Vernunft in Zusammenhang gebracht. Außerdem rekonstruiert man dreierlei Verwendungsweisen von 'zeigen'. Man unterscheidet neben dem 'mystischen' Zeigen ein 'externes' und 'internes' Zeigen. 160 Das externe Zeigen ist ein sprachlich artikulierbares Zeigen, nämlich die Abbildung einer Tatsache oder eines Sachverhalts. Das interne Zeigen hingegen, das nicht mehr sprachlich ausdrückbar sein soll, betrifft die 'logische Form' der Tatsachen bzw. der Welt. Auf diese 'logische Form' und ihren Zusammenhang mit dem 'Mystischen' ist im folgenden näher einzugehen, denn es läßt sich die Frage stellen, ob die dreifache Rekonstruktion von 'zeigen' denn auch stichhaltig ist oder ob nicht vielmehr 'mystisches' und 'internes' Zeigen dasselbe bedeuten könnten. Eine Tatsache ist, folgen wir dem Tractatus, durch ihre 'logische Form' charakterisiert. Die logische Form gehört zum Was der Welt: "Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen." (T 5.61) Doch Logik und Welt sind nicht identisch; die Welt als solche besteht aus den (Erfahrungs-)Tatsachen, und nur deren Form ist die der Logik. Diese "ist vor jeder Erfahrung — daß etwas so ist. Sie ist vor dem Wie, nicht vor dem Was." (T 5.552) Man könnte demnach sagen: Logik ist die Struktur der Erfahrung und somit, als deren Bedingung, ihr vorgeordnet. Man könnte auch sagen: Logik ist die Metasprache der Erfahrung, die Metasprache des auf dem Boden der Tatsachen Ausdrückbaren. Doch der Tractatus kennt programmatisch — obwohl er sie de facto handhabt — keine Metasprache. Er anerkennt Sprache nur auf 374

'Klassische' Positionen

der einlinigen Ebene der Tatsachen und Sachverhalte. Daher ist auch die Logik gemäß der Argumentation des Tractatus kein möglicher Gegenstand sinnvollen Sprechens. Sie 'zeigt sich' vielmehr intern — und genauso stumm, wie sich das Mystische, wie sich Ethik und Ästhik, wie sich Sinn und Wert bloß 'zeigen' — in den Tatsachen. Die Logik und 'das Mystische' scheinen aber dennoch nicht identisch zu sein — und demgemäß unterscheiden Stenius und andere Interpreten denn auch das interne (oder logische) vom mystischen Zeigen. Karl Leidlmair hingegen erwägt in seiner Dissertation Die hermeneutischen Grundlagen Wittgensteins eine mögliche Gleichsetzung. 161 Freilich läßt sich einwenden, daß im Tractatus die logische Form das Was der Welt, das Mystische hingegen das Daß der Welt bezeichnet und somit — in scholastischer Terminologie — die Unterscheidung von essentia und existentia zu berücksichtigen sei. Logisches und mystisches Zeigen haben aber jedenfalls gemeinsam, daß beides außerhalb der Sprache stattfindet, außerhalb des Denkbaren und sinnvoll Ausdrückbaren. Sie haben gemeinsam, daß von ihnen zu reden 'Unsinn' bedeuten muß. Sie sind es, die — das gilt gleichermaßen vom Daß wie vom Was der Welt — das Wie der Welt, also die Tatsachen und das Sagbare, erst ermöglichen und fundieren. Bekanntlich tritt die traditionelle Philosophie — genauer: die klassische Metaphysik — mit dem Anspruch auf, eine systematische Lehre solcher Fundierungsverhältnisse zu sein. Demgegenüber bestimmt Wittgenstein seinen Begriff von Philosophie als eine methodische 'Tätigkeit'. Sie ist keine inhaltliche 'Lehre', denn eine solche steht seiner Meinung nach einzig und allein in der Kompetenz der Naturwissenschaften. Philosophie habe nur auf die Legitimität des jeweiligen Sprechens/Denkens zu achten, auf die Logik der Gedanken (die nur als logische Abbilder der empirischen Tatsachen legitim sind). Aufgrund der Abbildtheorie des Tractatus ist die logische Form das der Sprache und den Tatsachen Gemeinsame. Philosophie hat "die logische Klärung der Gedanken" (T 4.112), d.h. sie hat 'Sprachkritik1 (T 4.0031) zur Aufgabe. "Sie soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare. — Sie soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen." (T 4.114) Der Tractatus "will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr — nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt). Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein. " (T, Vorwort) 162

Die Philosophie des Tractatus ist somit ein Diskurs der Grenzziehung und damit gewissermaßen eine Wiederholung des transzendentalphilosophischen Unternehmens Kants unter sprachphilosophischer Perspektive. Das Daß und das Was der Welt — das Mystische und die logische Form — sind laut dem Programm dieser Philosophie nicht ausdrückbar. Dennoch ist ihr Sich-Zeigen — das ist gegen Leidlmairs Erwägung einer Gleichsetzung einzuwenden — jeweils verschieden. Die Logik zeigt sich in den Tatsachen, nicht aber im Gefühl. Sie ist eine — wenngleich implizite — kognitive Größe.

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Das Mystische hingegen zeigt sich im Gefühl des absoluten, nicht hintergehbaren und nicht modifizierbaren Daß der Wirklichkeit. Es zeigt sich nicht in den Tatsachen, nicht in der Struktur des Denkens und Sprechens — also nicht 'intern' in der Differenz von Gegenstand und Kategorie. Allerdings kann es sich gleichzeitig mit der Logik und gleichzeitig mit den Tatsachen zeigen. Das mystische Gefühl bezieht sich auf Ewiges und Unbedingtes. Und da Ethik und Ästhetik, Sinn und Wert bei Wittgenstein als ewig und unbedingt aufgefaßt werden, bezieht sich das mystische Gefühl auch und vor allem auf die 'Lebensprobleme'. *

Was im Tractatus nur angedeutet ist, läßt sich aus den Tagebüchern und aus dem sonstigen biografischen Material, das über Wittgenstein vorliegt, noch deutlicher ablesen: Wittgenstein ist ein 'existentieller' Denker auf der Linie eines Pascal, Kierkegaard und Weininger, der aber seine ihn persönlich tief bewegenden Existenzprobleme nicht ausdrücklich zum Gegenstand seiner Philosophie macht. Sie sind eher indirekt und nur am Rande für sein Philosophieren wirksam. Sie breiten über dieses Philosophieren allerdings eine streng-feierliche Stimmung, die dem modernen Rationalismus und Positivismus der Cambridger Schule und des Wiener Kreises ziemlich fremd ist. Der knappe, aphoristische Stil Wittgensteins und sein Versuch, das Unsagbare dem Schweigen zu verpflichten, seine Forderung, Askese zu üben im Sprechen und Denken, kann als Reaktion eines ernsthaften und unbedingten Charakters auf das bildungsbürgerliche Allerweltsgeschwätz verstanden werden, das Wittgenstein im Wien der Jahrhundertwende ausgiebig kennenlernte. 163 "Wenn gesagt wird, ein Satz sei sinnlos", heißt es — in Fortfuhrung der Tractatus-Argumentation — in den Philosophischen Untersuchungen, "so ist nicht, quasi, sein Sinn sinnlos. Sondern eine Wortverbindung wird aus der Sprache ausgeschlossen, aus dem Verkehr gezogen." (PU 500) Wer vom Unsagbaren schweigt bzw. wer im Hinblick auf das Unsagbare Schweigen proklamiert, kann von diesem Unsagbaren tief erfüllt sein. Wittgenstein ist der Meinung, daß dem Unsagbaren erst dadurch, daß im Denken und in der Sprache die Grenzen gezogen werden, sein Recht und seine Würde zuteil werden. Er ist überzeugt, daß mit dem Sagbaren und Gesagten das Unsagbare und Ungesagte gewissermaßen mitschwingt, mit anwesend ist — und gerade seine stumme Anwesenheit ist die adäquate Anwesenheitsform. Die Philosophie soll "das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt" (T 4.115), und paraphrasierend dazu heißt es in einem Brief Wittgensteins an Paul Engelmann: "Wenn man sich nicht bemüht, das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist — unaussprechlich — in dem Ausgesprochenen enthalten. "164 Ähnlich äußert sich Wittgenstein in dem bekannten Brief an Ludwig v. Ficker, in dem von zwei Teilen des Tractatus die Rede ist, von einem geschriebenen und ungeschriebenen — und der ungeschriebene sei der wichtigere. W. Baum zufolge "bildet der Tractatus eine moderne Variante der uralten 'negativen Theologie', die schon immer den Weg zu Gott freilegte, indem sie die Transzendenz aus dem Bereich des Sagbaren ausklammerte". 165 Folgt man dieser Einschätzung, so ist

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Positionen

freilich auch anzumerken, daß sich bei Wittgenstein eine alte Crux der negativen Theologie wiederholt: Uber das Unnennbare wird letztlich doch mehr gesagt, als dies nach den eigenen programmatischen Vorstellungen eigentlich sein sollte. Bereits Russell war aufgefallen, "Wittgenstein bringe es trotz seiner scharfen Abgrenzung des Sagbaren fertig, eine ganze Menge über das zu sagen, was nicht gesagt werden könne". 166 Wenn Philosophie allgemeine Aussagen trifft, wie dies im Tractatus geschieht, wenn sie sich also nicht darauf beschränkt, bestimmte konkret gebrauchte Ausdrücke und Sätze zurückzuweisen, produziert sie selbst jenen sprachlichen Unsinn, den sie prinzipiell zu bekämpfen gedenkt. Am Schluß des Tractatus heißt es freilich: "Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie — auf ihnen — über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) — Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig." (T 6.54)

Nimmt man Wittgenstein wörtlich, so desavouiert er hier mit eigenen Worten sein philosophisches Anliegen: Er hätte sowohl von der logischen Form der Welt wie vom Mystischen — vom Was wie vom Daß der Welt — genaugenommen nirgendwo sprechen dürfen. Betrachtet man die Argumentation des Tractatus als statisches Begriffsfeld, so ist der genannte Widerspruch eklatant, und es läge nahe, die Konzeption insgesamt zu verwerfen. Liest man den Tractatus hingegen — und das scheint wohl sinnvoller — als Dokumentation eines lebendigen Klärungsprozesses, einer sukzessiven und sukzessiv sich verändernden Gedankenfolge, ergibt sich ein anderes Bild: Die zitierten Schlußsätze deuten dann auf eine Revision und Modifikation, nicht auf eine gänzliche Verwerfung der vorangehenden Prämissen. Man könnte schließen: Es hat durchaus 'Sinn', wenn die Philosophie — und möglicherweise auch die Religion, die Kunst und die Moral — 'Unsinn' redet. Die Unsinnsrede hätte dann aber die Funktion, nicht bei sich selbst stehenzubleiben, sondern über sich hinauszuführen, sich selbst zu negieren und überflüssig zu machen. Sie kann nicht als 'Aussage' (im Sinn eines Tatsachen-Abbildes) 'stehenbleiben 1 , sondern ist gewissermaßen eine besondere Art von performativem — d.h. unmittelbar im 'Leben' und in praktischem Handeln verwurzeltem — Sprechakt. 167 Das wird von Wittgenstein selbst zwar so nicht formuliert, wohl aber gehen seine späteren revisionistischen Überlegungen in diese Richtung, und das kritische Potential dieser Revisionen ist z.T. schon im Tractatus angelegt. *

Mit dem Begriff des pragmatisch zu verstehenden Sprachspiels und der dem Sprachspiel zugrunde liegenden kontingenten Lebensform stellt der spätere Wittgenstein seine Sprachphilosophie auf eine weitgehend veränderte Basis. An die Stelle voluntaristischszientistischer Programmatik — wie sie sich in der Forderung nach einer ein für allemal klaren und eindeutigen Wissenschaftssprache ausgedrückt hatte — tritt der Primat der Beschreibung, des geduldigen und auf Überraschungen gefaßten Hinsehens auf das

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

tatsächliche Funktionieren von Sprechen und Denken. Wittgenstein erkennt, daß die Grenze zwischen dem Sagbaren und Unsagbaren, zwischen Sinn und Unsinn nicht ein für allemal festzulegen ist. "Wir kennen die Grenzen nicht", heißt es jetzt, "weil keine gezogen sind." (PU 68) "Wenn man aber eine Grenze zieht, so kann das verschiedenerlei Gründe haben." (PU 499) Man habe "radikal mit der Idee [zu] brechen, die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck" (PU 304). Und: "Ein Wort ohne Rechtfertigung gebrauchen, heißt nicht, es zu Unrecht gebrauchen." (PU 289) Die Aufgabe der Philosophie wird in den Philosophischen Untersuchungen freilich im Prinzip ähnlich bestimmt wie im Tractatus. Philosophie habe konkrete Fehlleistungen der Sprache zu korrigieren, der naturwüchsigen Sprachverhexung des Verstandes entgegenzuwirken. Doch soll sie das jetzt nicht mehr im Hinblick auf ideale logische Normen tun, sondern im Hinblick auf die Beobachtung faktischer (Sprach-)Situationen, die als 'Urphänomene' vorgestellt werden. Diese müssen in ihrer Funktionsweise und in ihren Regeln keineswegs schon bekannt sein, sondern können auch neu und unvermutet auftreten. Es gehe nur darum festzustellen, welches Sprachspiel jeweils gespielt werde (PU 654). Die Theorie der Sprachspiele und Lebensformen hat entsprechende Konsequenzen für die Betrachtung von Religion und Mystik, von Ethik und Ästhetik. Es zeichnet sich nun eine neue Möglichkeit ab, religiöse, mystische, ethische und ästhetische Sprachspiele zu legitimieren. "Die Vorstellungen der Religion und Ethik sind keine Verlängerungen des in anderen Bereichen üblichen Denkens. Sie ruhen nur in sich selbst." 168 Ein wichtiger Übergangstext zwischen Tractatus und Philosophischen Untersuchungen ist, wie erwähnt, der 1929 vor einem kleinen Interessentenkreis in Cambridge gehaltene Vortrag über Ethik. Wittgenstein spricht dort von den Erlebnissen des Staunens über die Existenz der Welt, der absoluten Sicherheit und der Schuld, deren sprachlicher Ausdruck Unsinn und Sprachmißbrauch sei. In der ethischen und religiösen Sprache würden ständig 'Gleichnisse' verwendet, doch ein Gleichnis müsse "ein Gleichnis für etwas sein", d.h. für Tatsachen (VE 16). Diese aber seien im gegenständlichen Fall nicht auffindbar. Obwohl Wittgenstein auf der angeblichen Unsinnigkeit der erwähnten Beispiele beharrt, geht er aber doch einen wichtigen Schritt weiter als im Tractatus. Er erörtert die Motivation solcher 'Sprachspiele' (dieser Ausdruck findet sich hier freilich noch nicht) und wertet sie als Zeugnis einer achtunggebietenden Tendenz der menschlichen Natur: "Ich sehe jetzt, daß diese unsinnigen Ausdrücke nicht deshalb unsinnig waren, weil ich die richtigen Ausdrücke noch nicht gefunden hatte, sondern daß ihre Unsinnigkeit ihr eigentliches Wesen ausmacht. Denn ich wollte sie j a gerade dazu verwenden, über die Welt — und das heißt: über die sinnvolle Sprache — hinauszugelangen.

Es drängte mich, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen, und dies ist,

glaube ich, der Trieb aller Menschen, die je versucht haben, über Ethik oder Religion zu schreiben oder zu reden. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist völlig und absolut aussichtslos. Soweit die Ethik aus dem Wunsch hervorgeht, etwas über den letztlichen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann sie keine Wissenschaft sein. Durch das, was sie sagt, wird unser Wissen in keinem Sinne vermehrt. Doch es ist ein Zeugnis eines Dranges im menschlichen Bewußtsein,

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'Klassische' Positionen

das ich für mein Teil nicht anders als hochachten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde." (VE 18 f.)

Die Schlußsätze erinnern an die Hochachtung, die Kant gegenüber dem metaphysischen Fragen als einer Naturanlage des Menschen und gegenüber der Dimension — wenn auch nicht gegenüber den konkreten Antworten — des Vernunftjenseitigen bezeugt hat. Daß das 'Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs' eine aussichtslose Sache sei, ist eine Behauptung, die der späte Wittgenstein fallenläßt. In den Philosophischen Untersuchungen wird auch ausdrücklich das Bild von der Sprache als Käfig zurückgewiesen. Der — vor dem Hintergrund der Erfahrungstheorien eines James oder Whitehead — wichtige Gedanke, daß das intendierte Transzendieren einer Sinnsphäre nicht unbedingt als Methodenfehler, sondern als produktive Veränderung und Weiterentwicklung unserer Intellektualität zu werten sei, wird hier im Ansatz zwar ebenfalls gedacht, aber nicht entfaltet und auch nicht ausdrücklich gutgeheißen. Auch der späte Wittgenstein denkt noch zu statisch und zu normativ, um die Erfahrungsdynamik von Begriff und Sprache voll anzuerkennen und zu würdigen. *

Es läßt sich zusammenfassen: Mystik als Thema der Philosophie Wittgensteins kommt nur in der Phase und im Umkreis des Tractatus vor. Von einer Theorie der Mystik kann freilich auch da nicht gesprochen werden, wohl aber von einer charakteristischen Verwendung des Begriffs 'mystisch', die sich vom oft ungenauen und inflationären Wortgebrauch anderer Philosophen deutlich unterscheidet und eine systematische Funktion in der Welt- und Sprachkonzeption des Tractatus benennt: das 'Daß' der Welt, ihren Ewigkeits- und Unbedingtheitscharakter und das der Sprache und dem Denken sich Entziehende. Dieser prinzipielle Entzugscharakter wird jedoch in der Spätphilosophie Wittgensteins nicht mehr behauptet. Allerdings enthält diese Spätphilosophie auch keine Bemerkungen mehr über Mystik bzw. über 'das Mystische'. 169 Die Frage nach der 'Identität' von mystischem und internem Zeigen, von Mystik und Ethik, von Ethik und Ästhetik usw. läßt sich am Modell der Systemtheorie und deren Unterscheidung von 'System', das seinem Wesen nach bestimmt, und 'Systemumwelt', die ihrem Wesen nach unbestimmt sein muß, erörtern. 170 Die Umwelt eines Systems — z.B. des Systems der Sprache — ist in diesem Modell selbst kein System, ist indifferent von ihren möglichen Bestimmungen her und kann deshalb nicht eigens in den Blick genommen werden. Die Systemumwelt ist zwangsläufig eine 'Restgröße' — dies aber immer nur in methodischer Hinsicht. Es wird also nicht der Wirklichkeits- und Wirksamkeitscharakter dessen, was außerhalb des Systems liegt, geleugnet. Aber es wird abgeblendet. In Anwendung auf die Idealsprachkonzeption des frühen Wittgenstein ist also die Sprache ein System, das durch die Sprache nicht Ausdrückbare hingegen eine Systemumwelt, deren verschiedene Komponenten — das Mystische und die Ethik, Ethik und Ästhetik usw. — zwar nicht realiter 'dasselbe' sein müssen, aber unter der Per-

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spektive des betreffenden Systems vorläufig und bis auf weiteres 'dasselbe' sind. Der frühe Wittgenstein leugnet freilich den für die Systemtheorie selbstverständlichen Vorläufigkeitscharakter jeder Systemkonstituierung, und er leugnet die Möglichkeit, daß man auch Ästhetik oder Ethik ihrerseits als System konstituieren könnte. Es wurde bereits erwähnt, daß die postivistische und analytische Philosophie — unter die Wittgenstein meist subsumiert wird und in der er denn auch seine historische Wirksamkeit entfaltet hat — seiner Mystikkonzeption im wesentlichen ablehnend gegenübersteht. Diese Ablehnung mag dafür verantwortlich sein, daß innerhalb dieser beiden (vielfach ineinander verzahnten) philosophischen Strömungen der Gedanke des 'Mystischen' nirgendwo produktiv aufgenommen und weitergeführt wurde. Erwähnt habe ich auch Wittgensteins Inter-Esse zwischen der angelsächsischen Denktradition und der von kontinentaleuropäischen Traditionen bestimmten 'Wiener Moderne', die sich ihrerseits rege mit Mystik beschäftigt und diese Beschäftigung an die Dimension von Sprachkritik gebunden hat. Das gilt z.B. für Hofmannsthal und Rilke, für Kafka und Kraus, für Musil und Broch. Sie alle thematisieren in unterschiedlicher Weise die Erfahrung, daß Sprache und Realität wesensmäßig differieren und daß die Sehnsucht danach, die Differenz zu überbrücken, zu mystischen Behauptungen und Hoffnungen führt. 171 Kraus und einige der genannten Dichter streben nach einer differenzlos 'reinen' Sprache, die mit der mittelalterlichen Konzeption einer 'Sprache der Engel' (Wilhelm von St. Thierry) Ähnlichkeiten aufweist. So aufgeschlossen der Mensch und der Literaturfremd Wittgenstein solchen Gedankengängen gegenüber gewesen sein mag, so sehr schließt er als Philosoph derartiges aus dem Bereich des Sagbaren aus. *

Fritz Mauthner (1849—1923) zählt nicht zu den klassischen Philosophen. Er hat aber die Wiener Moderne maßgeblich beeinflußt, und in seinem Werk findet sich eine Reihe von Motiven, die bei Wittgenstein wiederkehren: so z.B. die 'Leitermetapher' zur Bestimmung der eigenen Methode, die 'Stadtmetapher' als Beschreibung für die Genese der Sprache, die Auffassung vom Handlungs-, Sozial- und Spielcharakter der Sprache. 172 Zentral für eine Synopsis mit Wittgenstein sind jedoch vor allem zwei Philosopheme: sein Grundsatz, Philosophie müsse Sprachkritik sein, und seine Mystikkonzeption, die er als Konsequenz aus der Einsicht ins Wesen der Sprache betrachtet. 'Philosophie als Sprachkritik' und 'Mystik' haben bei Wittgenstein und Mauthner aber eine gänzlich andere Gestalt. Wittgenstein distanziert sich im Tractatus von Mauthner, ohne dabei auf dessen Konzeption näher einzugehen: "Alle Philosophie ist 'Sprachkritik'. (Allerdings nicht im Sinne Mauthners.)" (T 4.0031) Dieser hatte programmatisch formuliert: "Kritik der Vernunft muß Kritik der Sprache werden. Alle kritische Philosophie ist Kritik der Sprache." 173 Mauthner unterscheidet drei Funktionen der Sprache: als Verständigungsmittel im täglichen Leben, als Ausdrucksmittel der Dichter und als Werkzeug der Erkenntnis. Während er die beiden ersten Funktionen im Hinblick auf praktische und ästhetische Zwecke gelten läßt, betrachtet er die dritte Funktion als Illusion der von der Sprache verführten Metaphysiker, deren Irrtum von

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einer neuen, sprachkritisch gewendeten Philosophie gründlich zu revidieren sei. Als Werkzeug der Erkenntnis, lautet seine These, sei die Sprache dysfunktional, denn sie stehe — und hier setzt er die radikale, sprachkritisch gewendete Transzendentalphilosophie Nietzsches fort — in keiner wie immer gearteten Relation zur Wirklichkeit selbst. Mauthner vertritt also einen konsequenten Skeptizismus, der von der (für jede radikale Skepsis konstitutiven) Aporie begleitet wird, daß konsequenterweise auch die eigenen Aussagen dem Verdikt des Unbeweisbaren und der Willkür verfallen müssen. Eine solche Folgerung zieht Mauthner selbst freilich nicht. Was sein Denken im Bann hält, ist das 'Geheimnis', das 'Rätsel' der Wirklichkeit an sich selbst, für die in der Sprache — aber auch nirgendwo sonst — kein adäquater Ausdruck zu finden sei. Einen solchen Ausdruck dennoch, wenngleich ohne Aussicht auf Erfolg, zu suchen, dafür gebe es im Menschen aber einen unverzichtbaren Drang. Indem der Mensch der Versuchung, "ein Bild von der einen Welt zu gewinnen", nachgebe, zeichne er "voneinander getrennt ein adjektivisches, ein substantivisches und ein verbales Bild von der Welt" (DB, 189). Es gebe gemäß den drei in den Grundwortarten Adjektiv, Substantiv und Verb sich ausdrückenden Wahrnehmungsweisen drei 'Gesichtspunkte' oder 'Bilder', mit denen wir uns — im Endeffekt vergeblich — der 'Wirklichkeit selbst' zu nähern versuchen. "Es hängt nur von dem Blickpunkte unserer Aufmerksamkeit ab, ob wir dieses unbekannte Etwas als eine Eigenschaft, als ein Ding oder als ein Geheimnis des Werdens sehen wollen." (A IV, 241) Doch keiner dieser drei Zugänge führe ans intendierte Ziel, noch gelinge es uns je, "die drei Bilder der Welt zu einem gemeinsamen, wahren Bilde zu vereinigen" (DB 254). Nichtsdestoweniger ist das Erreichen der 'translinguistischen Realität' (G. Weiler)174 für Mauthner einzig als Erkenntnisprogramm unmöglich, er hält es hingegen für durchaus möglich — und sogar vielfach bezeugt durch die mystische Tradition sowohl Europas wie des Nahen und Fernen Ostens — in einem schweigenden, sprachlosen Gefühl und Erlebnis. Was Mauthner als 'Mystik' bezeichnet175, "ist nur persönliche Stimmung, nur individuelles Gefühl, läßt sich nur erleben, nicht mitteilen; darüber täuscht nur die Tatsache hinweg, daß die Schlagworte der sprachgewaltigen Mystiker mitgeteilt, vererbt werden konnten, also scheinbar eine Geschichte hatten" (A I, 217). Es gebe also — und damit sind wir auch schon bei der Kritik Mauthners an der traditionellen, mittelalterlichen Mystik, die er insbesondere bei Meister Eckhart repräsentiert sieht — in Wahrheit keine mystische Lehre im Sinn eines tradierbaren Erkenntnisprogramms und einer tradierbaren Begrifflichkeit. Dies hängt mit der von ihm behaupteten Unausdrückbarkeit und vor allem mit der Endlichkeit und Punktualität des mystischen Erlebens zusammen. Mystik sei immer nur ein vorübergehender Zustand, ein Augenblick, der sich nicht festhalten und abbilden lasse. Jene Sprachschöpfungen, die bei Eckhart 'Symbole' für sein unaussprechliches Erleben darstellen, würden bei den Nachfolgern — schon bei Tauler und Seuse — zu leeren Worthülsen. Es sei aber schon ein bei Eckhart beobachtbarer Fehler, erstens überhaupt einen adäquaten Ausdruck für seine Mystik zu suchen und diese Suche zweitens auf das Gebiet substantieller bzw. substantivischer Begriffe zu konzentrieren. So sei "für Meister Eckhart [...] die substantivische Welt wahrer als die adjektivische [...], so daß [...] diese reinste Mystik ein heimlicher Rationalismus

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

war" (DB 197). Eckharts Anliegen ist für Mauthner aber durchaus nachvollziehbar. Eckhart, meint er, würde "im Banne der Sprache, weil wir immer das Unsagbare sagen möchten, die Sehnsucht nach Dingen-an-sich [...] tief empfinden und die Symbole der substantivischen Welt für solche Dinge-an-sich nehmen; in diesem Sinne könnte man die substantivische Welt auch die Welt der Mystik nennen." (W, 201). Es sei das allerdings "die [inadäquate] philosophische Mystik, die [vergeblicherweise] das Unaussprechliche aussprechen will" (W II, 123). Diesem alten, 'substantivischen' Mystikbegriff, den Mauthner zwar für verfehlt hält, dem er aber dennoch große Hochachtung zollt 176 , setzt er seine eigene Konzeption einer aus der Sprachkritik erwachsenden 'gottlosen Mystik' entgegen. 177 "Nach rückwärts blickend ist Sprachkritik alles zermalmende Skepsis, nach vorwärts blickend, mit Illusionen spielend, ist sie eine Sehnsucht nach Einheit, ist sie Mystik." (A IV, 253) D.h. die Sprachkritik gelangt an einen Punkt der Reflexion und Erfahrung, an dem sie die Inadäquanz der Sprache für die Erkenntnis restlos eingesteht und dennoch einräumt, daß sich die Wirklichkeit unseres Daseins nicht in Sprache und Denken — die Mauthner gleichgesetzt hat — erschöpft: "Was noch übrig bleibt nach der vernunftgemäßen Erledigung aller und jeder äußeren Religion, das ist für uns, die wir letzten Fragen nicht ausweichen und deren Beantwortung von den nächsten bis vorletzten Wissenschaften nicht erwarten, das Weltgefühl, das Einsgefühl der gottlosen Mystik, das man gern ein 'religiöses' Gefühl nennen mag, weil ein Gefühl zuletzt nur geschwiegen werden kann, nicht in harten Worten ausgedrückt. Diese Rettung der ewigen Sehnsucht in die uralte Mystik, bei bewußter Preisgabe des Gottesbegriffs, ist nur für das Abendland neu, ist für das Morgenland Urväterweisheit." (A IV, 250)

Mauthner erläutert im folgenden den Begriff des Tao, wobei er den Taoismus — neben dem Buddhismus — als besonders gelungene Gestalt einer gottlosen Mystik betrachtet. Wichtig ist ihm aber vor allem, den Unverfügbarkeitscharakter des mystischen Erlebnisses zu betonen. Dieses kann nicht in ein besitzbares Bild, nicht in einen abrufbaren Begriff überführt werden. Es entzieht sich als ein 'wortloses Begreifen' den Zwängen der Sprache. Mauthner zieht eine Parallele zur Kunst: "Überall wo echte Kunst waltet [...], begreift ein Genie die eine Welt ohne Begriffe, ohne Sprache. Vielleicht gibt es auch im echten Denken, der sogenannten Philosophie, solche Weihestunden des wortlosen Begreifens. Morgenstunden des Erwachens, wo plötzlich der Schleier des Tages fällt und wie in tagheller Nacht der Zugang zu dem Geheimnisse des All-Einen offen steht. Der Zugang schließt sich wieder, sobald der Sucher den ersten Schritt auf dem geschauten Wege zu gehen wagte. Die Helle wird wieder dunkel, sobald er die Augen öffnet. Das Begreifen zerfällt, sobald er es für sich oder andere in Begriffe oder Worte bannen will. Das All-Eine war nur im schweigenden Ich verbunden; beim ersten lauten Worte verschwindet herabstürzend jede Einheit, auch die des Ich. Nichts läßt sich mehr sagen." (DB 255) 1 7 8

So findet Mauthner, schreibt G. Weiler, "jenseits aller Begriffe das Schweigen, und in diesem Schweigen gelangte er zu einer unaussprechbaren Einheit, zu einer Art magischem Zustand der Gnade, in welchem der Intellekt —jenseits aller Worte — vollkomme-

382

'Klassische'

Positionen

ne H a r m o n i e und v o l l k o m m e n e s Verstehen erfährt." 1 7 9 D i e s e s Verstehen m i n o l o g i s c h d e m Wissen

m u ß m a n ter-

entgegensetzen. M y s t i k ist ein Punkt des 'Aussetzens'

des

Intellekts aus der Kontinuität des S p r e c h e n s / D e n k e n s , e i n Punkt der Katharsis g e g e n über a l l e m W i s s e n , W o l l e n und Für-wahr-halten. D i e Eingangsdefinition v o n 'Mystik' in Mauthners Wörterbuch

lautet: "Mystik,

Mystizismus

m a g vorläufig e i n e n S e e l e n z u -

stand bedeuten, in w e l c h e m m a n sich zur g e h e i m n i s v o l l e n V e r e i n i g u n g mit d e m All h i n g e z o g e n fühlt und das Unwißbare zu w i s s e n glaubt über solche V e r e i n i g u n g . " ( W 115 f ) D o c h 'Wissen' — das immer e i n W i s s e n wollen bedeutet — soll nun durch die Kateg o r i e e i n e s 'Verstehens im Erleben' ersetzt werden. Mauthner schildert d i e s e s Versteh e n - i m - E r l e b e n im genannten Wörterbuch-Artikel

folgendermaßen:

"Ich will es versuchen, wieder einmal das Unsagbare zu sagen, mit armen Worten auszusprechen, was ich etwa frommen Ungläubigen zu geben habe an nominalistischer Mystik, an skeptischer Mystik. Eindringen in die Psychologie der theologischen Mystik muß — so meine ich — zu solcher Kontemplation führen, über cogitatio und meditatio hinweg. Wir drücken es anders aus, wir meinen es ebenso, wie man's vor 600 Jahren meinte. Die Welt ist nicht zweimal auf der Welt. Es gibt nicht den Gott neben der Welt, es gibt nicht die Welt neben dem Gott. Pantheismus hat man diese Überzeugung genannt, pedantisch auch wohl (um den persönlichen Gott scheinbar zu retten): Panentheismus. Warum nicht? Es sind ja nur Worte. In der höchsten mystischen Ekstase empfindet das Ich, daß es Gott geworden ist. Angelus Silesius und Eckharts Beichtkind Kathrei haben das empfunden. Warum nicht? Soll ich um Worte streiten? Seit zehn Jahren lehre ich: das Ichgefühl ist eine Täuschung, die Einheit des Individuums ist eine Täuschung. Wenn ich nicht Ich bin, trotzdem aber bin, dann darf ich wohl auch von allen andern Wesen glauben: sie sind nur scheinbar Individuen, sie unterscheiden sich nicht von mir, ich bin Eins mit ihnen, sie und ich binnen Eins. Sind das bloß philosophische Wortfolgen? Spiele der Sprache? Nein. Was ich erleben kann, ist nicht mehr bloß Sprache. Was ich erleben kann, das ist wirklich. Und ich kann es erleben, für kurze Stunden, daß ich nichts mehr weiß vom principium individuationis, daß der Unterscheid aufhört zwischen der Welt und mir. "Daß ich Gott geworden bin." Warum nicht? Freilich, die oberste Tugend aller bessern Religionen und Morallehren hält nicht stand in solchen Stunden der Ekstase. Was ist denn noch Güte für einen Menschen, der nichts mehr weiß vom principium individuationis? Güte ist Aufgeben der eigenen Individualität, ist aber Anerkennung der fremden. "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Nicht mehr. Habe ich mein eigenes Selbst nicht mehr, dann hat es auch mein Nächster nicht. Wer noch gut ist, ist noch nicht frei. In den heiligen Stunden der Ekstase ist man nicht gut. Güte ist nicht möglich ohne Unterscheid. Mitleid? Ja. Wenn wir unter leiden das verstehen, was es ursprünglich hieß; passiv erleben, ohne Schmerz miterleben. Alle Kreatur erlebt die Eine Welt. Jeder einzelne erlebt sie mit, miterleidet sie. Nimmt sie wahr, soviel seine Wimper hält: der Mensch, das Tier, die Pflanze, der Regentropfen. Wir wollen mitleidig sein, wie die Blumen und der Regentropfen mitleiden. Das Mitleiden ist die Freude der Blume und des Regentropfens. Hast du solche Stunden der Ekstase niemals gehabt? Ärmster! Dann hast du die Freude nicht gekannt. Du liegst an einem stillen Sommertag im hohen Grase. Tief unten fließt der Ganges oder der Rhein. Neben dir nur noch dein Hund, dem du den Kopf kraust, der dir die Hand leckt. Spielst du mit ihm? Spielt er mit dir? Der Unterscheid ist aufgehoben. Und alle andern Unterscheide. Der Unterscheid des Geschlechts. Weil du alt geworden bist? Einerlei. Vielleicht ist darum Mystik, das Aufhören alles Unterscheids, die Weisheit der Greise. Das Motiv der Liebe hat seine Kraft verloren. Und legt sich still ins Grab neben das Motiv der Güte.

383

Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Der Unterscheid von Mein und Dein. Du willst j a nichts, gar nichts. Du bist j a froh. Und das Motiv des Hungers hat seine abscheuliche Kraft verloren, für die kurze Stunde der Ekstase. Du denkst gar nicht daran, den Hasen drüben zu schießen, dem Baume da seine Frucht zu nehmen. Du lachst. Tausendfältig um dich kriechen und schwirren Würmer und Insekten, im Banne der Liebe und des Hungers. Spinnen und Fliegen. Sie wissen's nicht besser. Da! Wieder ein Käfer. Verliebt und hungrig. Armesle! Und du weißt nicht, du ekstatischer Mensch, selbst Armesle, daß du unaufhörlich, regelmäßig den Sauerstoff der Luft einsaugst, der doch auch leben wollte, der sich doch auch für Einen hielt. Armer Sauerstoff! Weil er so dumm ist, sich für Einen zu halten. Der Unterscheid der Menschen hört auf, der schwerste Unterscheid, und mit ihm verliert das Motiv der Eitelkeit seine Kraft. Du hast es nie für möglich gehalten, jetzt aber, in dieser heiligen kurzen Stunde, hast du es erfahren: die Menschen können dir nicht mehr wehe tun, weil du sie auf einmal so ansiehst, als wären sie Tiere, oder Pflanzen, oder Regentropfen. Oder die Wellen des Stromes da unten, des Ganges oder des Rheins. Der Hund kann dich beißen, der Baum kann dich im Sturze erschlagen, die Wellen können dich hinunterziehen. Aber weh tun kann dir niemand und nichts, seitdem die Motive der Liebe, des Hungers, der Eitelkeit schweigen. Was kümmert es den Mond, wenn ihn der Hund anbellt? Was kümmert es dich, wenn die Tiermenschen, die Pflanzenmenschen, die Wellenmenschen vor dir etwas bellen oder rauschen? Die Armen! Jedes von ihnen glaubt noch, es wäre Eins. Jawohl. Solange, bis auch über die andern deine Stunde kommt und aller, aller Unterscheid aufhört. Wie er jetzt aufgehört hat zwischen dir und der Sonne. Gelt? Schwester Sonne, Messer lo frate Sol, wir gehören zusammen? Wer Liebe, Hunger und Eitelkeit nicht mehr kennt, der ist Sonne, Gott, Grashalm. Habe ich dir nicht einmal noch von andern Motiven menschlichen Lebens gesprochen als von diesen drei argen? Nicht vom Wissensdurst und von dem Ruhebedürfnis, der Todessehnsucht? Schweigen jetzt auch die, in der seligen kurzen Stunde der Ekstase? Sie schweigen beide. Sie werden geschweigt. Du willst ja nichts, gar nichts, nicht einmal wissen willst du mehr. Weil du erfahren hast, daß auch der Unterscheid zwischen dem Wissenden und dem Wißbaren vergangen ist mit dem Unterscheide zwischen dir und der Welt. Du hast erfahren, daß du nicht zum Wissen eingerichtet bist, die Welt nicht zum Gewußtwerden. Ist j a alles nur so ein bißchen Herumfahren, wie eine Raupe um ihr Blatt herumfährt. Du hast keinen Durst mehr nach dem bißchen Wissen, das andre Leute getrunken und wieder ausgespieen haben; du weißt, daß es ein Wissen der letzten, tiefsten Gründe nicht gibt. Dich dürstet nicht nach Pfütze. Und gar das Ruhebedürfnis schweigt, weil du ruhig geworden bist, ganz ruhig, wohl gar tot. Du willst j a nichts. Und wie die doctissima ignorantia dein abgründiges Wissen ist, besser als das ausgespieene Wissen aller Weisen der Vorzeit, so ist deine Ruhe jetzt lebendiger als alle deine alte Vitalität, dein Tod jetzt lebendiger als all dein früheres Handeln. Alle Motive des Lebens schweigen dir. Da. Noch nicht still? Mörder! Räuber! Jetzt erst bemerkst du es, daß du mit jedem Atemzuge Luft schluckest, um dich mit dem Sauerstoffe der Luft zu nähren, der doch so gerne selber leben und Einer sein möchte. Mörder! So willst du noch etwas. So hast du noch nicht getan nach deiner Erkenntnis. So bist du noch nicht ruhig. So bist du gar nicht einmal gut, du Mörder des Sauerstoffs. Du tust nach deiner Erkenntnis. Du atmest nicht einmal mehr. Und du bist endlich eins geworden mit der Welt, welche einst Gott genannt worden ist, eins geworden mit dem Bruder Sol, der einst ein Gott genannt worden ist. Schön ist's. Tausend Farben, tausend Töne. Harmonie. Himmlische Heerscharen. Auch die Heiligen, die du für ein Märchen hieltest, fehlen nicht. Sie sammeln sich u m dich und flüstern dir stumme Worte zu. An ihren geschwiegenen und schweigenden Worten errätst du, wie sie einst hießen im Scheine des Lebens. Cakhia Muni, der Buddha, flüstert mit dir, und Franziskus und Goethe und der Novalis und Meister Eckhart und ein Bauer lacht dazu und schreit: "Es kann dir nix g'schehn! Selbst die größt' Marter zählt nimmer, wann vorbei is! Ob d' jetzt gleich sechs Schuh tief da unterm Rasen liegst, oder ob d' das vor dir noch viel tausendmal siehst — es kann dir nix g'schehn! Du g'hörst zu dem all'n, und dös all g'hört zu dir! Es kann dir nix g'schehn!"

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'Klassische' Positionen

Hätte er doch nicht so laut geschrien. Seine Menschenstimme legt sich wie ein Alp auf deine Brust. Luft! Du willst nicht, aber du mußt. Nur einen Atemzug. Mörder! Unsinn. Das ist ja das Leben. Nehmen, was man braucht. Leben wollen. Vorüber ist die kurze Stunde heiliger Mystik. Du bist zurückgekehrt zum Scheine des Lebens, zu seinen Motiven, zu seinem Wissen. Armesle." (W II, 131—134)

Bei diesem mauthnerschen Text handelt es sich um das besonders eindrucksvolle Dokument einer modernen und nichttheistischen Mystik, die sich zwar in der Tradition der mittelalterlichen Mystik weiß, aber dennoch eine radikal veränderte Wirklichkeitsauffassung ausdrückt. Ist der 'mystische Zustand' für die mittelalterliche Mystik die unvollkommene Vorwegnahme eines bleibenden Zustandes der Seele im Jenseits, so handelt es sich bei Mauthner ausdrücklich um die vorübergehende 'kurze Stunde heiliger Mystik' im Diesseits, in der endlichen, vergänglichen Welt, die nicht mehr religiös und metaphysisch zweigeteilt ist. Der hier als unhintergehbar veranschlagte Endlichkeitscharakter bezeichnet die wesentliche Differenz zwischen alter und moderner Mystik. Diese ist für Mauthner — hier steht er ganz auf der Linie Schopenhauers — eine Negation aller Motive und Strebungen des Lebens und damit eine Negation des Lebens selbst. Wenn Schopenhauer, der sich als Nachfolger sowohl Piatons wie des (augustinischen) Christentums versteht, das Leben prinzipiell und als ganzes negiert, kann er dies nur vor der Folie eines 'anderen' und 'besseren', jedenfalls aber 'unbekannten Lebens' tun. Für ihn sind ästhetische und mystische Erlebnisse nur ein Vor-Schein der anderen Wirklichkeit. So ist Schopenhauer geradezu idealtypisch ein halbmoderner Denker: modern in seinem Atheismus, traditionalistisch in seiner Zweiweltenkonzeption. Worin ihm Mauthner folgt, ist der Atheismus, aber auch die Überzeugung, daß Mystik nicht eine durchgängig praktizierbare Lebensform und ein anhaltender Erlebniszustand sein könne, eben weil sie die tragenden Voraussetzungen des Lebens negiert. In der Mystik würden Wille, Erkenntnis und Ich — das Individuationsprinzip und das Streben nach Selbsterhaltung — verworfen. Aber für Mauthner kann die 'Hinterwelt 1 (Nietzsche), die für die traditionelle, theistische Mystik, aber auch noch für Schopenhauers Mystik die entscheidende Bezugsebene bildet, nicht einmal mehr eine mögliche Metapher für das menschliche Bedürfnis darstellen, hinter dem Schein das Sein, hinter dem Signifikanten das Signifikat, hinter der Sprache die Wirklichkeit selbst zu suchen. Für ihn ist die 'wahre Welt', wie für Nietzsche, endgültig zur 'Fabel' geworden. 180 Demgemäß versetzt er Mystik zurück ins eine, ungeteilte, endliche und vergängliche menschliche Leben als dessen konstitutiv vorübergehender Kontra- und zugleich Höhepunkt. Sie stellt einen Erlebnispunkt dar, an dem das Leben in Gestalt seiner eigenen Destruktion, d.h. in seiner nichtgegenständlichen und nichtkategorialen Totalität und im Transzendieren all seiner konstitutiven Grenzen und Begrenzungen, aufblitzt und gewissermaßen an- und innehält. Doch ist dieses An- und Innehalten kein gnoseologischer und ontologischer Endpunkt, keine letzte Wahrheit und Wirklichkeit, sondern ein beschreibbares Phänomen der Endlichkeit, deutbar als kontingentes Moment einer (ebenfalls kontingenten) Rhythmik und Dialektik menschlichen Lebens und Erlebens.

385

2.3 Mystikphilosophie der Gegenwart: Zwei Fallbeispiele

2.3.1 Philosophie der 'ontologischen Erfahrung': Karl Albert. Mit einer Vorbemerkung zu Lavelle Mit Albert und Lavelle wende ich mich einem Sonderweg der neueren Philosophie zu, der mit den philosophischen Hauptströmungen der Epoche — auch mit der in Abschnitt 1 referierten Erfahrungs- und Symbolphilosophie — und mit den dort diskutierten Problemen nur wenig zu tun hat. Albert und Lavelle sind dezidierte Platoniker und Verfechter einer philosophia perennis, für die die Zäsuren der neueren Philosophie — der cartesische Zweifel, Kants 'kopernikanische Wende', Nietzsches 'Tod Gottes' und der 'linguistic turn' — keine wirkliche Herausforderung darstellen.181 Die menschliche Erfahrung, die kulturelle Wirklichkeit insgesamt und den philosophischen Diskurs im besonderen als radikal geschichtlich und veränderungsfähig, als geworden und noch immer werdend zu begreifen, ist ihnen ein fremder und nahezu abstruser Gedanke. Sie stehen objektiv — wenn auch nicht unbedingt in ihrem subjektiven Eigenverständnis—der Neuscholastik nahe und stellen einen quasi scholastischen Seinsbegriff in den Mittelpunkt ihres Denkens. Während Lavelle der Tradition des französischen Spiritualismus verpflichtet ist und sich ausdrücklich als christlicher Denker versteht, versucht Albert — obwohl er umfangreiche religionsphilosophische Studien betreibt182 und obwohl er den philosophischen Diskurs als genealogische Fortführung des religiösen Diskurses betrachtet183 — jenseits der Religion und unabhängig von dieser zu philosophieren. Auch sein Mystikbegriff beschränkt sich nicht auf das Gebiet der Religion. Lavelle, auf den sich Albert besonders häufig beruft und von dem er den zentralen Begriff 'experience ontologique' übernimmt, ist nicht die einzige und ausschließliche, wohl aber die entscheidende Quelle seiner 'Philosophie der ontologischen Erfahrung'. Ich beginne deshalb mit einer kurzen Darstellung Lavelles.184 Louis Lavelle veröffentlichte Ende der 20er Jahre, fast gleichzeitig mit Heideggers Sein und Zeit, das Buch De l'etrem und legte darin eine gegenüber dem geschichtsbezogenen Ansatz Heideggers gänzlich andere, als 'äternalistisch' bezeichenbare Seinsphilosophie vor, die zugleich Bewußtseinsphilosophie ist. Auch Lavelle will den im damaligen philosophischen Diskurs an den Rand gedrängten Seinsbegriff wieder ins Zentrum des philosophischen Nachdenkens stellen, doch bezieht er das Sein nicht auf den Horizont der kontingenten Zeit, sondern auf den Horizont der Ewigkeit und Zeitlosigkeit. Die Präsenz — das Gegenwärtig-haben-Wollen der Wirklichkeit im Hier und Jetzt — 386

Mystikphilosophie der Gegenwart

kritisiert er nicht als 'Seinsvergessenheit' und Fehlhaltung der platonischen Tradition abendländischen Denkens, sondern wertet sie ganz im Gegenteil zum zentralen affirmativen Begriff auf: Das Sein, das allem Partikular-Seienden vorgeordnet sei und über dieses hinausgehe, sei jprejence totale.1*6 Lavelle geht freilich dahingehend mit Heidegger konform, daß er das Sein gleichfalls nicht als abstrakten Begriff, sondern als Gegenstand einer konkreten, das Welterleben des Menschen bestimmenden und durchgreifenden Erfahrung auffaßt. Aber diese Erfahrung ist kein 'geschichtliches Geschick', sondern kann Lavelle zufolge im Sinn einer ungeschichtlichen Ontologie oder auch Anthropologie als un- oder übergeschichtliches Phänomen beschrieben werden. Sie schlummere, meint er, in jedem Menschen in irgendeiner Weise — zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Sie bewußt und explizit zu machen, sei Aufgabe der Philosophie. Die Seinserfahrung sei eine den Menschen zutiefst in seinem 'Wesen' berührende Angelegenheit, sie sei Indikator seiner Authentizität. In dieser Verknüpfung von Philosophie und Lebensbedeutsamkeit finden sich Anklänge an die Haltung Bergsons.187 Im Zentrum des lavelleschen Denkens stehen die — synonym gebrauchten — Ausdrücke 'Seinserfahrung', 'metaphysische Erfahrung' und 'ontologische Erfahrung' (Γexperience de l'etre, experience metaphysique, experience ontologique). Für das Gemeinte verwendet Lavelle außerdem die Ausdrücke 'experience initiale' und 'experience parfaite'. Er setzt demnach Metaphysik und Ontologie — in der allgemeinen Bedeutung von 'Seinslehre' oder 'Seinsdenken' — begrifflich gleich und läßt sie in einer Erfahrung gründen, die eine erste und anfängliche, allen anderen Erfahrungen zugrunde liegende Zentralerfahrung sei: "Es gibt eine erste Erfahrung, die in allen anderen Erfahrungen eingeschlossen ist und ihnen ihr Gewicht und ihre Tiefe verleiht: die Erfahrung der Gegenwart des Seins." 188 Die Seinserfahrung sei eine anfängliche, aber auch eine abschließende und teleologische Erfahrung. Sie führe zu einem 'Ende', zu einem bestimmten Resultat: "Kein Denken kann an Kraft übertreffen und kein Gefühl an Tiefe jene Vollkommenheit erreichen, in der das Denken, das Fühlen und das Sein sich nicht mehr unterscheiden, da wir vor einer realen Gegenwart stehen. Wenn diese Erkenntnis gegeben ist, so hat das Bemühen der Erkenntnis seine letzte Stufe erreicht." 189 Erkenntnis, meint Lavelle, vollziehe sich über Stufen, und die letzte und vollkommene Stufe sei die bewußte (oder explizite) Seinserfahrung, in der die vorbewußte (oder implizite) Seinserfahrung, die immer und überall — vor jeder Reflexion — da sei, gewissermaßen 'zu sich selber' komme. Dieses Zu-sich-selber-Kommen bedeute Authentizität, Selbstfindung und sei gekennzeichnet durch eine Aufhebung bzw. Verschmelzung der Kategorien Denken und Gedachtes, Subjekt und Objekt, vereinzelter Mensch und umfassendes Sein. Aufgehoben sei hierbei auch die geläufige Unterscheidung von Gefühl und Intellekt. Entscheidend für die philosophische Darlegung der Seinserfahrung bei Lavelle sind drei Grundbegriffe: Sein, Ich und Partizipation (etre, ego, participation). Obwohl von Lavelle-Interpreten wie Gouhier oder Albert eine Gleichsetzung mit Piatons methexisBegriff abgelehnt wird, scheint doch offenkundig zu sein, daß der platonische TeilhabeGedanke beim Partizipationsbegriff Pate steht.190 Hervorzuheben ist, daß Lavelle, der die Partizipation ausdrücklich als 'dialektisch' bestimmt, in gewisser Weise eine hegel-

387

Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

sehe Denkfigur wiederholt. Die Partizipation — die Teilhabe des Ich am Sein — habe eine 'negative' und eine 'positive' Seite. Die negative Seite bestehe darin, daß sich das Ich gegenüber dem Sein — irrigerweise — als ein Selbständiges und Anderes konstituiert, daß es also dem Sein gegenüber einen Bruch vollzieht und sich von ihm durch einen Abgrund getrennt sieht. Dieser Abgrund kann als Ausgesetztheit des Ich, als bodenloses Nichts, als Verlust an Geborgenheit und Heimat empfunden werden. Die positive Seite der Partizipation hingegen besteht darin, daß sich das Ich nicht als Differenz, sondern als Identität zum allumfassenden und allbegründenden Sein konstituiert. Es negiert sich dann zwar als das der Welt und den Dingen gegenüber selbständigandere Ich und entgrenzt sich ins hen kai pan, doch findet es ' paradoxerweise 1 eben in dieser Entgrenzung und All-Einheit sein 'wirkliches' und 'wahres' Ich. Die Nähe dieser lavelleschen Gedanken zur platonisch-neuplatonischen Stufentheorie des Denkens, zur Konzeption einer 'höchsten', transkategorialen Erkenntnis und zur Koinzidenzlehre von Sein und Einheit, von Ich und Realität — und damit die Nähe zur überlieferten Mystik — ist offenkundig. Für das Ganze der Erfahrung — also sowohl für die Summe aller möglichen Einzelerfahrungen verschiedenster Provenienz als auch für die allgemeine Kategorie Erfahrung — ist die Seinserfahrung konstitutiv. Lavelle sagt, sie schwinge, meist unausdrücklich, in jeglicher Erfahrung mit und könne mit Hilfe der Reflexion aus diesem 'impliziten' , vorbewußten in einen 'expliziten', bewußten Status gebracht werden. Das 'Personwerden' und 'Selbstwerden' des Menschen geschehe in dieser Reflexionsbewegung, die als kreativer Akt, als Schöpfungsakt aufzufassen sei. In dieser Reflexion schaffe sich das 'wahre' und 'eigentliche' menschliche Ich, analog zum göttlichen Schöpfungsakt, selber. Es stehe dabei aber nicht im Gegensatz zu Gott bzw. zum allgemeinen Sein, sondern sei mit diesem identisch. Durch die Selbst-Aufhebung als partikulares Ich und seine Entgrenzung ins universale Sein partizipiere es — indem es nun nicht mehr das Andere und Entgegengesetzte sei — am 'Göttlichen' und habe sich dergestalt selbst 'vergöttlicht'. Die 'Tätigkeit des Ich' bestehe darin, "im Verlauf seiner ganzen Entwicklung [...] durch stets erneute Bemühungen, durch Aufmerksamkeit und Liebe [...] immer sich selbst zu suchen dadurch, daß es sich bemüht, die Gegenwart des actuspurus zu entdecken. Gewiß wird es nur in seltenen Augenblicken diesem begegnen können, und die Erinnerung an solche Begegnungen erhellt alle Ereignisse seines künftigen Lebens. Aber alles Streben des Menschen geht dahin, diese vollkommene Erfahrung zu einer bleibenden zu machen, d.h. in der Erkenntnis, daß seine Person sich in derselben Handlung aufhebt und in selbständiger Weise verwirklicht, sich zu vergöttliehen." 191

Der Weg der Seinserfahrung — für Lavelle: die Denkbewegung der Philosophie — führt also von einem unbewußten zu einem bewußten Status des Inneseins von Wirklichkeit. Auf diesem Weg begrenzt sich das Ich (in seiner 'negativen' Phase) und konstituiert sich dabei als ein Partikulares, und es entgrenzt sich (in seiner 'positiven' Phase) hinein in das universale Sein, das Lavelle als "ein wirkliches universales Ich" versteht, "in dessen Innern wir unser individuelles Ich bilden". 192 Ich und Sein sind somit Korrela388

Mystikphilosophie

der

Gegenwart

tionsbegriffe, deren Gehalt in der Bewegung des Denkens austauschbar wird: Das Ich erschöpft sich nicht im principium individuationis, sondern findet seine Wahrheit in dessen Aufhebung. Und das Sein erschöpft sich nicht in der Summe des partikular Seienden, sondern erfüllt sich erst in seiner Qualität als Daß-Sein dieses Seienden, wodurch sich die Perspektive der Einheit zuallererst ergibt. Aus dem Daß-Sein des Vielen folgt dessen Einheit im 'einen Sein', das als Einheit den Charakter von Harmonie, Geborgenheit, Glück und Freude annimmt. Lavelle setzt beide Seiten der Partizipation als konstitutiv für das Wesen des Menschen an, indem er diesen als ein Inter-Esse zwischen Vereinzelung und Universalisierung bestimmt: "Es ist die Eigenart des Bewußtseins, zwischen diesen beiden Extremen als zwischen den beiden entgegengesetzten Polen der Partizipation zu schwanken. "193 Wie dieses Schwanken näher zu charakterisieren sei, kann nun freilich zum Ausgangspunkt unterschiedlicher philosophischer Konzeptionen gemacht werden. Man kann (wie z.B. Goethe) von einem harmonischen Gleichgewicht der beiden Pole — Trennung vom Sein, Einheit mit dem Sein — ausgehen und eine 'ruhige' Dialektik der Abfolge und Abwechslung beider Phasen veranschlagen. Man kann (wie z.B. Heidegger) die Dialektik als Abfolge geschichtlicher Epochen der 'Nähe' oder 'Ferne' zum Sein auffassen. Man kann aber auch einen der beiden Pole weitgehend unterbelichten oder ihn gänzlich ausblenden. Letzteres ist nach Lavelle im Existentialismus der Fall, der sich ganz auf den 'negativen' Aspekt der Seinserfahrung festlege. 194 Eine solch negative Festlegung gelte aber auch, wenngleich weniger dramatisch akzentuiert, für positivistische und transzendentalphilosophische Konzeptionen. Lavelle interessiert fast ausschließlich nur die positive Seite der Seinserfahrung. Als mögliche Zugänge nennt er den Gedanken des Gegensatzes von Seiendem und Nichts und den Gedanken der Einheit des Seienden im Sein. Der Einheitsgedanke sei eine 'Intuition', die, dem diskursiven Denken vorgeordnet, als Erfahrung auftrete. Von ihr nehme die Philosophie ihren Ausgang und von ihr werde sie zur Reflexion motiviert, und auf sie hin — nun freilich in ihrer bewußten Gestalt — würden sich Ziel und Zweck der Philosophie richten. Albert195 rekonstruiert ßnf Merkmale der lavelleschen Seinserfahrung: es sei eine 'geistige' Erfahrung, eine Erfahrung der 'Gegenwart', der 'Teilhabe', des 'Aktes' sowie 'Werterfahrung'. Die letztgenannte Bestimmung wird so erläutert, daß die Selbstbejahung des Seins — die im Akt der Ich-Entgrenzung und des 'Personwerdens' des Menschen geschieht — als 'absoluter Wert' aufgefaßt wird. Gegenwart — presence totale — meint die mit emotionaler Hochstimmung verbundene Aufhebung aller zeitlichen (und darüber hinaus aller anderen kategorialen) Bestimmungen der Erfahrung. *

Der deutsche Gegenwartsphilosoph Karl Albert (* 1921) ist kein unmittelbarer Schüler Lavelles, aber ein Fortsetzer der lavelleschen Philosophie, um deren Verbreitung in Deutschland er sich neben einer Reihe von Aufsätzen und einer eigenen Lavelle-Monografie 196 auch durch die Übersetzung und doppelsprachige Edition der Schrift Introduc389

Mystikdiskussion und neuere Philosophie

tion ä l'ontologie197 verdient gemacht hat. Im übrigen ist Albert seit den 50er Jahren mit ästhetischen und philosophiehistorischen Arbeiten — insbesondere mit Untersuchungen zu Piaton und Meister Eckhart — hervorgetreten, in denen er Eckhart nicht von vornherein als 'Mystiker' apostrophierte, sondern ihn vorerst nur als genuinen mittelalterlichen Scholastiker behandelte. 198 Erst nach seiner Begegnung mit dem Ansatz Lavelles zeigte Albert den Zusammenhang der eckhartschen Gottes- und Seinslehre ('esse est deus') mit der 'ontologischen Erfahrung' und mit der Mystik auf. 199 Für die Ausbildung seines systematischen Ansatzes sind zwei seiner Bücher von besonderer Bedeutung: Die ontologische Erfahrung (1974) sowie Mystik und Philosophie (1986). 200 In Die ontologische Erfahrung ist von Mystik noch nicht die Rede. Dort vergleicht Albert zu Anfang Lavelles 'experience ontologique' mit ähnlichen Ansätzen bei Heidegger, Scheler, Fink, Lötz, Weischedel, Max Müller u.a. Er zitiert und interpretiert aber auch eine Fülle von Zeugnissen aus Literatur und Kunst, die ebenfalls — thematisch und vielfach sogar in verwandter Terminologie — die 'ontologische Erfahrung', wie Lavelle sie beschrieben hatte, oder zumindest Teilaspekte von ihr ausdrücken. Obwohl Alberts Darstellung eng an die Konzeption Lavelles anknüpft, gibt es ein paar Unterschiede, die zusammengenommen eine veränderte Konzeption ergeben. Es handelt sich um eine veränderte Akzentuierung des Seinsbegriffs einerseits durch die Ausblendung einiger für Lavelle wichtiger Charakteristika, andererseits durch die Verknüpfung mit bei Lavelle unbeachtet gebliebenen Anwendungsbereichen. Was Albert ausblendet, ist erstens die christliche und theistische Dimension, zweitens die explizit wertphilosophische Akzentuierung und drittens die Denkfigur der Dialektik. Albert hält zwar eine christliche und theistische Interpretation der 'ontologischen Erfahrung' für möglich und zulässig, nicht aber für notwendig. Was die neuen Verknüpfungen betrifft, die Albert vornimmt, so handelt es sich zuerst einmal darum, daß er die 'ontologische Erfahrung' nicht nur als den Grundgedanken der Philosophie und der Religion darlegt, sondern auch als den Grundgedanken der Kunst sowie weiterer Lebensbereiche, und des weiteren darum, daß er sie — inMystik und Philosophie — ausdrücklich in die Nähe der 'mystischen Erfahrung' rückt. Dadurch wird die Philosophie der ontologischen Erfahrung zu einer Philosophie der Mystik. Es muß freilich klargestellt werden, daß in Alberts Texten nirgendwo expressis verbis eine schlechthinnige Identität von mystischer und ontologischer Erfahrung behauptet wird, sondern daß stets nur von 'mystischem Ursprung' oder 'mystischen Zügen' die Rede ist. Bei begrifflich-systematischen Zuordnungen zeigt sich Albert insgesamt sehr vorsichtig und zögerlich. Doch ist zu vermerken, daß er ontologische und mystische Erfahrung in ihren Merkmalen nicht nur als ähnlich, sondern als gleichlautend beschreibt und daß aus diesen Beschreibungen — ich werde sie im folgenden noch zitieren — zumal in hermeneutischer Rekonstruktion schwerlich etwas anderes zu verstehen sein kann als Selbigkeit. 201 Jedenfalls hält Albert die "Annahme einer wesensmäßigen Verbindung von Mystik und Philosophie" 202 für gerechtfertigt und möchte "zeigen, daß Mystik und Philosophie seit zweieinhalb Jahrtausend nicht nur zufällig und gelegentlich miteinander verbunden sind, sondern daß ihre Verbindung eine ganz enge ist und daß sie fast ununterbro-

390

Mystikphilosophie der Gegenwart

chen besteht. Das scheint damit zusammenzuhängen, daß der Philosophie schon sehr früh eine Erfahrung von der Art der mystischen zugrunde liegt und daß auch das Ziel einer bis zur letzten Konsequenz gehenden Philosophie ins Gebiet der Mystik gehört." 203

Ersetzt man 'ontologische' durch 'mystische' Erfahrung, so lassen sich gleichermaßen Ursprung wie Ziel der Philosophie als 'mystisch' bestimmen. Mystik ist dann — in Lavelles Terminologie •— im Hinblick auf Philosophie sowohl experience initiale wie experience parfaite. Wenn Albert Philosophie generell "als eine Lehre vom Einen oder als Lehre von der Einheit alles Seienden im Sein"204 definiert, so legt er sich freilich auf eine nicht unproblematische Einschränkung fest, denn materialistische Konzeptionen und solche, die — wie der Aristotelismus — eine konstitutive Ontologie der Vielheit behaupten, sind dann nicht mehr subsumierbar. Wird der Einheitsgedanke, wie hier, zum ausschließlichen Kriterium der Philosophie erklärt, kann man zwar zu Recht auf einen jahrtausendealten Traditionsfluß in und außerhalb Europas verweisen, doch können dann alle Vielheitskonzeptionen bzw. Konzeptionen, die eine Eigenständigkeit auch nur des Subjekts behaupten, nicht mehr in die Philosophie einbezogen werden oder — dies ist bei Albert offensichtlich der Fall — sie werden als quasi 'seinsvergessene' Konzeptionen205 abgewertet, da sie sich ausschließlich im 'negativen' Bereich der Seinsbeziehung bewegen. Auch wenn man diese Ausgrenzung und die damit verbundene Bewertung problematisch findet, wird man Albert darin zustimmen müssen, daß in der gesamten platonischneuplatonisch beeinflußten Philosophie die 'ontologische' bzw. 'mystische' Erfahrung vielfach aufweisbar ist und daß es sich in der Tat um ein zentrales Philosophen! handelt, das vielfach auch außerhalb der Fachphilosophie entsprechende Ausdrucksformen findet. Albert — der nur an zwei Stellen seiner umfangreichen Schriften den Mystikbegriff einigermaßen zusammenfassend-systematisch darlegt206, im übrigen aber stets nur bestimmte einzelne Charakteristika als 'mystisch' bezeichnet und historische Definitionen wie die von Evelyn Underhill207 als nützliche Näherungsformeln empfiehlt — beruft sich auf Nietzsches Frühschrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873)208, wo der Einheitsgedanke als Zentralgedanke der Philosophie behauptet wird. Thaies, heißt es bei Nietzsche, gelte zu Recht als geschichtlicher Ahnherr der Philosophie. Daß in einem einheitlichen Grundstoff, dem Wasser, die arche alles Seienden zu finden sei, enthalte den Gedanken 'alles ist eins'. Dies sei "ein metaphysischer Glaubenssatz, der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat und dem wir bei allen Philosophien sammt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen — der Satz 'Alles ist Eins'. 1,209 Nietzsche, der somit die Philosophie mit einer 'mystischen Intuition' beginnen läßt und diese inhaltlich als den All-Einheits-Gedanken bestimmt, ist freilich der Ansicht, daß der Ausdruck dieser Intuition gegenüber der Intuition selbst prinzipiell unangemessen bleiben müsse, weil diese in einem vorsprachlichen Erlebnisraum stattfinde. Der Philosoph, sagt Nietzsche, greife nach dem 'dialektischen Denken' — Nietzsche meint damit: begriffliches, argumentatives Denken —, "um seine Verzauberung festzuhalten, um sie zu petrificiren". 210 So sei

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"der Ausdruck jeder tiefen philosophischen Intuition durch Dialektik und wissenschaftliches Reflektiren zwar einerseits das einzige Mittel, um das Geschaute mitzutheilen, aber ein kümmerliches Mittel, ja im Grunde eine metaphorische, ganz und gar ungetreue Übertragung in eine verschiedene Sphäre und Sprache. So schaute Thaies die Einheit des Seienden: und wie er sich mittheilen wollte, redete er vom Wasser!" 211

Nietzsches Lehre von der prinzipiellen Unangemessenheit jeglichen Ausdrucks gegenüber der 'Wirklichkeit an sich', die der Ausdruck zu repräsentieren vorgibt, läßt sich bekanntlich als konsequenter Phänomenalismus oder Fiktionalismus darstellen. 212 Diese radikal-relativistische Erkenntnis- und Sprachkonzeption liegt jedoch außerhalb der Perspektive, die Albert an Nietzsche wahrnimmt. An einem konsequenten Nominalismus — als dessen geschichtlich späte Version Nietzsches Phänomenalismus betrachtet werden kann — hat der Platoniker Albert kein Interesse. Er hält an der von moderner Sprachkritik unberührten Konzeption einer erheblichen kognitiven Reichweite des Intellekts fest und glaubt an einen Erlebnisbereich vor der Sprache und über die Sprache hinausgehend, wobei das Darüberhinaus eine Erkenntnisqualität beinhalte. Letzteres heißt, daß es eine Erkenntnis — nämlich die 'höchste Erkenntnis', die bewußte und vollkommene Seinserfahrung — jenseits der Sprache gebe, daß Erkenntnis also nicht grundsätzlich an Sprache bzw. allgemein an Zeichensysteme gebunden sei.213 In ihrer Albert-Monografie rekonstruiert Elenor Jain214 "vier Stufen der ontologischen Erfahrung" und faßt damit die bei Albert über seine verschiedenen Schriften hinweg verstreuten Beschreibungen zusammen. Von diesen vier Stufen betont Jain, daß die Übergänge zwischen ihnen fließend seien. Es handle sich um "1. die unbewußte, jedem Menschen innewohnende Seinserfahrung, 2. die vorbewußte (implizite), deren Erfahrung höchstens durch Phänomenbeschreibungen (sprachlich) ausgedrückt wird, 3. die bewußte (explizite), in der die Sprache als Mittel die 'Entdeckung' im Bewußtsein 'greifbar' macht, indem sie das Ganze des Seienden im Seinsganzen begrifflich werden läßt, 4. die bewußte (explizite), die nicht mehr auf die Sprache angewiesen ist, weil sie bereits den höchsten Bewußtseinsgrad mittels der Sprache erreicht hat ('sprechendes Schweigen' bzw. Sprache des Schweigens)." 215

Obwohl die Seinserfahrung für Albert nicht prinzipiell sprachlich gebunden ist, so hält er Sprache doch — auf den Stufen 2 und 3 — durchaus für ein adäquates Medium. Als Beispiel für einen Übergang zwischen der zweiten und dritten Stufe sei hier die bekannte, von Albert mehrmals zitierte216 Stelle aus Hölderlins Hyperion angeführt: "Eines zu sein mit allem, das ist das Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen. Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht.

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Eines zu sein mit allem, was lebt! Mit diesem Worte legt die Tugend den zürnenden Harnisch, der Geist des Menschen den Zepter weg, und alle Gedanken schwinden vor dem Bilde der ewigeinigen Welt, wie die Regeln des ringenden Künstlers vor seiner Urania, und das eherne Schicksal entsagt der Herrschaft, und aus dem Bunde der Wesen schwindet der Tod, und Unzertrennlichkeit und ewige Jugend beseliget, verschönert die Welt." 2 1 7

Die vielen weiteren Beispieltexte, die Albert in Die ontologische Erfahrung aus Philosophie und Literatur anführt — etwa von Whitman, Broch, Kazantzakis, Ionesco, Sillanpää u.a. —, sind vorwiegend hymnisch-affirmative Texte. Es finden sich darunter nicht die aus der klassischen Mystikliteratur bekannten dramatischen und dissonanten Gedankengänge, die auch die Ferne und den Verlust der mystischen Erfahrung beklagen bzw. die Glück und Schmerz als untrennbares Ganzes vorstellen, und es finden sich demgemäß auch kaum sprachliche Beispiele, in denen in besonderer Weise mit Paradoxien und Hyperbeln gearbeitet und ein 'Zusammenbruch der Sprache' vorgeführt würde. Das auf die harmonische Rede folgende harmonische Schweigen, das bei Albert eine Rolle spielt, wird nicht als ein Versagen der Sprache als solcher (und des Denkens als solchen) gewertet. Es ist vielmehr die letzte und 'vollkommene' Stufe des Denkens und Sprechens, die problemlos und nahezu unmerklich ins 'erfüllte Schweigen' übergeht. 218 Dieses charakterisiert Albert — in Übereinstimmung mit Lavelle — als höchstes, vollkommenes, alle anderen Wissensformen enthaltendes und sie absorbierendes Wissen. Dabei vermeidet er freilich den hegelschen Terminus des 'absoluten Wissens', vor allem wohl deshalb, weil Hegel dieses Wissen als eine geschichtliche Kategorie denkt, wogegen Albert eine Ungeschichtlichkeit der ontologischen Erfahrung behauptet. Eine nächste wesentliche Modifizierung des Seinsbegriffs, die Albert gegenüber Lavelle vornimmt, besteht in der Applikation der 'ontologischen Erfahrung' auf außerphilosophische und außerreligiöse Bereiche des Lebens, z.B. auf die Bereiche Erziehung und Gemeinschaft, vor allem jedoch auf den Bereich der Kunst. Insgesamt ergibt sich an ihrem Leitfaden eine — von Albert ursprünglich nicht eigens beabsichtigte — umfassende, nahezu alle wichtigen Lebensbereiche berücksichtigende Kulturphilosophie. Sie umfaßt allerdings nicht den wichtigen Bereich von Wissenschaft und Technik, und sie setzt sich nicht mit deren Problematisierungen und Normierungen des Erfahrungsbegriffs auseinander. Doch arbeitet sie heraus, daß 'philosophische', 'religiöse', 'ästhetische', 'Gemeinschafts-' und 'pädagogische Erfahrung' 219 als Spezifikationen der einen, alle Lebensbereiche und Kulturgebilde bestimmenden ontologischen Erfahrung zu begreifen seien. Der vorherrschende Gestus ist demnach eine Analogisierung aller Lebensbereiche im Hinblick auf den zentralen Gedanken der Seinserfahrung, so daß stets die Gemeinsamkeiten der philosophischen, religiösen, ästhetischen usw. Erfahrung ungleich mehr betont werden als ihre Unterschiede. Wenn Albert in Mystik und Philosophie die ontologische und mystische Erfahrung schließlich als koinzident beschreibt, so hat das entsprechende Konsequenzen für den Mystikbegriff, der sich nun in allen genannten Bereichen des Lebens — in Philosophie, Religion, Literatur, Kunst, Erziehung und Sozialität —• wiederfindet. Die dort leitenden 'Grunderfahrungen' können als Gestalten der 'mystischen Erfahrung' reformuliert 393

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werden. Am ungewohntesten mag eine solche Synopsis für die Bereiche Pädagogik und Sozialität erscheinen. Für Religion, Literatur und Kunst kann sich Albert hingegen auf eine vielfältige geistesgeschichtliche Tradition von Zeugnissen berufen, in denen der Mystikbezug religiöser, literarischer und ästhetischer Erfahrung erahnt, erwogen oder auch ganz direkt behauptet worden ist. Zeugnisse der ontologisch-mystischen Erfahrung findet Albert nicht nur bei modernen Dichtern, sondern auch bei modernen Malern, Komponisten, Bildhauern und Architekten. Es gehe der modernen Kunst, meint er, gegenüber der zeitgenössischen, von Technik und Wissenschaft, von Subjektivität und Gegenständlichkeit bestimmten Welt (die also ganz von der 'negativen' Seite der Seinsbeziehung vereinnahmt werde) um eine Rückgewinnung der 'positiven', einheitlich-entgrenzenden Seinserfahrung und eben darin um eine Rückgewinnung menschlicher Authentizität. Folglich habe die moderne Kunst eine besondere Funktion. Wenn die Philosophie als Träger und Vermittler des Seinsgedankens 'versage' — und ein solches Versagen ortet Albert in der neueren und gegenwärtigen Philosophie, die einseitigerweise nur noch Erkenntnis- und Gesellschaftskritik betreibe —, dann werde diese 'Mission' eben von den Dichtern und Künstlern übernommen. 220 So findet sich eine Zusammenstellung der prägnanten Merkmale der mystischen Erfahrung denn auch in einer ästhetiktheoretischen Schrift Alberts, in der zuerst von der ästhetischen Erfahrung die Rede ist, im Anschluß daran von der mystischen und schließlich von der Koinzidenz beider Erfahrungstypen. 221 Es sind fünf Charakteristika, die sich jedoch nur teilweise mit den zuvor bei Lavelle genannten Charakteristika222 dekken: 'Einheit', 'Zeitlosigkeit', 'Plötzlichkeit', 'Ichlosigkeit' und 'Ruhe'. Sie werden des näheren wie folgt erläutert: "Hauptmerkmal aller mystischen Erfahrung ist die Erfahrung der Einheit des erkennenden Bewußtseins mit dem erkannten Ganzen des Seienden oder dem Seinsgrund. Diese Erfahrung findet sich wohl schon bei Parmenides und Piaton, gelangt bei Plotin zum klarsten Ausdruck und bleibt von daher im Platonismus der Spätantike, des Mittelalters und der Neuzeit bis in die Gegenwart hinein wirksam." 2 2 3

Das zweite Merkmal sei die "Erfahrung der Zeitenthobenheit, [...] der Zeitlosigkeit oder Überzeitlichkeit" 224 , also der Präsenz Lavelles: "Die Erfahrung des Stillstehens der Zeit ist eine Erfahrung der Gegenwart, und zwar der Gegenwart schlechthin als das dem Zeitfluß Enthobene und damit als das, was die Mystik des Mittelalters als das 'nunc stans' der Ewigkeit, das 'ewige Nu' bezeichnet hat. Die Erfahrung der Zeitenthobenheit geschieht jedoch plötzlich. Diese Plötzlichkeit in Verbindung mit der Zeitenthobenheit ist ein drittes Merkmal sowohl der mystischen als auch der ästhetischen Erfahrung." 2 2 5

Die Plötzlichkeit226 bezieht sich nicht nur auf den Beginn, sondern auch auf das Ende der Erfahrung bzw. des Erlebnisses. Sowohl mystischer Gefühls- bzw. Erkenntniszu-

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stand wie auch ästhetische Kontemplation können "nicht dauerhaft beibehalten werden" 211 Doch bleibe eine Erinnerung an solche Erlebnisse, auch im Sinn einer verbleibenden harmonischen Grundstimmung. — Das vierte Merkmal nennt Albert 'Ichlosigkeit': "Im Alltag erfährt sich ja das Ich als Ich in seinem Gegensatz zur Welt des Du und des Es, es erfahrt sich als Subjekt gegenüber der Welt der Objekte. Im ästhetischen und im mystischen Erfahren ist dieser Gegensatz jedoch aufgehoben. Subjekt und Objekt sind einsgeworden. Voraussetzung dieses Einswerdens ist dabei, daß das Subjekt sich in seiner Selbstbezogenheit aufgibt, daß das Ich auf diese Weise selbstlos und damit gewissermaßen ichlos geworden ist." 2 2 8

Das fünfte Merkmal schließlich sei "eine Erfahrung des Am-Ziel-Seins, des Gestilltseins der Unruhe, des Ausruhens, der Ruhe schlechthin". 229 Albert erinnert an dieser Stelle an Eckharts Predigt In omnibus requiem quaesivi und an den programmatischen Quietismus in Schopenhauers Ästhetik. *

In seiner Einführung in die Religionsphilosophie230 charakterisiert Albert die mystische Erfahrung unter dem eingeschränkten Aspekt der Religion. Auch hier führt er — der in seinen Resümees stets eine Vorliebe für die Fünfzahl an den Tag legt — wieder fünf Charakteristika an. Es gehe der religiösen Mystik — Albert bewegt sich mit der folgenden Aufzählung im Rahmen geläufiger Charakterisierungen der älteren Mystikliteratur, z.B. bei Underhill — erstens "um die Erfahrung Gottes oder des Absoluten [...], wobei das letzte Ziel die Erfahrung der Einswerdung mit Gott" sei.231 Zweitens gebe es "sehr oft bestimmte Methoden, wie diese Einswerdung von Ich und Gott zu erreichen" sei. Albert verweist vor allem auf den Dreischritt von katharsis, photismos und henosis bzw. via purgativa, illuminativa und unitiva. Drittens sei "das Charakteristische dieser Wege die Wendung nach innen, die Abwendung von der Außenwelt". Die Innenwendung gelte aber nicht dem individuellen Ich, sondern dem absoluten Sein. Viertens sei die Mystik "eine um das Individuum zentrierte Form von Religiosität", und fünftens finde sich "häufig eine Geringschätzung oder sogar Ablehnung aller äußeren religiösen Handlungen, auch des Kults, sowie auch eine Distanz zu den festen religiösen Institutionen". 232 Daß es über die religiöse Mystik hinaus auch eine außerreligiöse und sogar eine 'Mystik ohne Gott' geben könne, ist für Albert kein problematischer Gedanke. Nicht Gott — mit dem man das 'Sein' gleichsetzen kann, aber nicht muß — gehört zu den "fundamentalsten und elementarsten Erfahrungen des Menschen" 233 , sondern die Seinserfahrung, die sich allerdings unter dem Namen 'Gott' formulieren läßt. Wenn Metaphysik, die primär — aber nicht ausschließlich — mit begrifflichen Mitteln, und Mystik, die primär — aber gleichfalls nicht ausschließlich — mit emotiven Mitteln arbeitet, sich von demselben 'Gegenstand' (der kein wirklicher Gegenstand, d.h. nichts Par-

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tikulares ist) motivieren lassen und auf denselben 'Gegenstand' hinzielen, dann ist der Mensch nicht nur ein 'metaphysisches Wesen', sondern im gleichen Wortsinn auch ein 'mystisches Wesen', d.h. Mystik gehört zu seiner Konstitution. Denn metaphysischontologische und mystische Erfahrung sind letztlich dasselbe. Besagte Erfahrung ist in latenter oder impliziter Weise immer und überall da, doch sie "begegnet dem Menschen in besonderer Stärke im Angesicht der Natur [...], in der Liebe und im Denken an das Sterben als den Vorgang des Aufgehens des indivduellen Ich im universalen Sein". 234 Im Rahmen der Religionsphänomenologie Alberts, die sich sehr stark an Mircea Eliade und dessen Konzept einer 'ontologischen' Interpretation des Heiligen orientiert235, ist (religiöse) Mystik eines der flinf Grundelemente von Religion. Die vier anderen Elemente sind Mythos, Kult, Gebet und Prophetie. Das Christentum, sagt Albert, entspreche — im Gegensatz zu den asiatischen Religionen — eher dem prophetischen als dem mystischen Religionstyp. Wichtiger als die biblisch-jüdische Tradition sei für die historische Herausbildung der christlichen Mystik die zweite Komponente des Christentums, die griechische Philosophie (insbesondere Piaton), gewesen. So ist für Albert insgesamt die platonische Philosophie im abendländischen Kontext der Hauptträger des mystischen Gedankens. Und Albert wird nicht müde, an einzelnen Denkern — von Piatons Vorläufer Parmenides bis zu Philosophen des 20. Jahrhunderts (z.B. Buber, Heidegger, Lavelle, Bergson) — mystisches Gedankengut, vor allem den berühmten Dreischritt, interpretativ aufzuweisen. 236 Die Mystikphilosophie, die Albert — im Anschluß an Lavelle, aber auch im Anschluß an asiatisches und griechisches Denken — ausgearbeitet hat, stellt eine eindeutige, ja geradezu krasse Form von Identitätsphilosophie dar. Es handelt sich um eine Philosophie, die die metaphysikkritische Zäsur der Moderne — von Kant über Nietzsche bis zu Heidegger und Derrida — bewußt ignoriert und die ungebrochene Aktualität der platonisch-neuplatonischen philosophia perennis behauptet. Es ist durchaus konsequent, wenn in dieser Konzeption Mystik und philosophischer Logos koinzident gedacht werden: Der 'Weg der Vernunft' und der 'mystische Weg' weisen nach Albert die gleiche Struktur auf, nämlich den klassischen Dreischritt von katharsis, photismos und henosis,237 Die unüberbietbare Höchsterfahrung und das Höchstwissen — bei Kant zur 'regulativen Idee' verblaßt, im Positivismus zum 'Unsinn' erklärt und bei Heidegger für ein imaginäres Morgen geschichtlich erhofft — gilt hier als das realistisch erreichbare Ziel sowohl für die Mystik wie auch für die Vernunft. Es fragt sich allerdings, ob Alberts Philosophie tatsächlich diesen Anspruch einlösen kann, ob sie tatsächlich die Grundlage für das Insgesamt unserer vielfältigen und komplexen Welterfahrung namhaft zu machen vermag — ob sie nicht vielmehr entscheidende Seiten dieser Welterfahrung ausblendet und mit ihrer hierarchischen Darlegung und Bewertung der 'Erkenntnisstufen' ein inadäquates Gesamtbild menschlicher Erfahrung zeichnet.

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2.3.2 Dekonstruktivismus und negative Theologie: Derrida. Mit einer Nachbemerkung zu Heidegger 238

Stellt man die philosophia-perennis-Konzeption von Lavelle und Albert dem sogenannten Dekonstruktivismus von Derrida gegenüber, so handelt es sich um zwei so ausgeprägte Extreme eines möglichen philosophischen Ansatzes, daß die meisten der in der Gegenwartsphilosophie vorgeschlagenen und diskutierten Erfahrungstheorien im breiten Zwischenbereich dieser beiden Extreme angesiedelt und diese gewissermaßen als polare Idealtypen angesehen werden können. Sie entsprechen dem alten, vorsokratischen Gegensatz von 'Seins-' und 'Werdensphilosophie'. Bei Albert/Lavelle wiederholt sich das Insistieren auf feste Bedeutungen und Ungeschichtlichkeit, bei Derrida das Insistieren auf prinzipielles Fluktuieren von Bedeutung und radikale Geschichtlichkeit, die jede Metaerzählung einer fixierbaren Geschichte ebenso ausschließt wie jede Metaerzählung einer fixierbaren Natur. Gemeinsam ist den beiden Konzeptionen freilich die jeweilige — und jeweils höchst unterschiedliche — Thematisierung von Mystik. Um die Unterschiedlichkeit fürs erste zu kennzeichnen, sei mit einem Vergleich der Erfahrungskonzeptionen begonnen. Erfahrung ist für Albert insgesamt ein eher unproblematischer Begriff und auf zwei Ebenen anzutreffen: auf einer bewußten und einer vorbewußten. Die vorbewußte Erfahrung äußere sich in Stimmung und Gefühl, in Kult und Mythos und nicht zuletzt in den Werken der Kunst. Bewußte Erfahrung hingegen verbleibe nicht auf der Ebene des Ausdrucks, sondern sei begrifflich-reflexiv. Die Differenz und Verdoppelung, die durch Reflexion gestiftet wird, denkt Albert als gesteigerte Identität von Erfahrung: Denken (und Sprechen) bleibe grundsätzlich referentiell, es gebe keine 'sprachliche Zwischenwelt' (Weisgerber). 239 Daher führe die Reflexion nicht von ihrem Gegenstand weg, sondern gehe gleichermaßen von ihm aus wie auf ihn zu. Das Entfremdungsmoment des 'Wegs' sei unerheblich, die Negation keine eigenständige Größe. Reflexion suche nach feststellbarer Bedeutung, und die Erfahrung der Reflexion bleibe nicht auf sich selbst — auf die Bewegung — bezogen, sondern auf das zu erreichende Erkenntnisziel. Albert verweist darauf, daß die Etymologie von 'er-fahren' auf ein tatsächlich erreichbares Ziel, auf die Ankunft bei einer wirklichen Erkenntnis hindeute, und er wendet sich strikt gegen alle fiktionalistischen Erkenntnistheorien und gegen solche, die Erkenntnis auch nur als relative oder regulative Größe ansehen.240 Fortschreitende Reflexion habe demnach berechtigte Hoffnung auf die reale Erfüllung ihrer Wahrheitssuche, und am höchsten Erkenntnispunkt handle es sich keineswegs um ein Jenseits der Erfahrung, sondern um deren Koinzidenz mit der Vernunft. Der höchste Erkenntnispunkt aber sei der mystische All-Einheits-Gedanke, der den Ausgangs- wie den Endpunkt aller Erfahrung darstelle. Die mystische oder 'ontologische' Erfahrung liege — unbewußt — allen Phänotypen möglicher Welterfahrung zugrunde, und diese ließen sich weiter- und überführen in die bewußte Form dieser fundamentalen Ausgangserfahrung, die dergestalt — als bewußte — zur Enderfahrung werde. Der Weg des Logos und der Weg der Mystik seien in der Sache, in ihrem Anliegen und ihrem Ergebnis derselbe Weg, Vernunft und Mystik demnach — wie schon, in anderer

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Weise freilich, bei Hegel und Bergson vorgedacht — koinzident. Wer an der Vielheit der Erfahrungen einerseits, wer an der prinzipiellen Differenz von Vernunft und Erfahrung, von Vernunft und Mystik andererseits festhalte, habe die höheren Regionen der Reflexion verfehlt, habe das im Wesen des Denkens und der Erfahrung vorgegebene Ziel nicht erreicht, sei in Mißverständnissen der Welterfahrung steckengeblieben, die dem Denken 'unterwegs' auflauern. Ist also Albert der idealtypische Vertreter einer Identitäts- und Harmoniephilosophie, so ist Derrida der extreme Denker von Differenz und Disharmonie. Für ihn ist der Begriff der Erfahrung alles andere denn eine gegebene und/oder im Denken real erfüllbare Größe. Der Erfahrungsbegriff ist vielmehr — im Kontext der dekonstruktivistischen Metaphysikkritik — gleichermaßen problematisch wie unverzichtbar und jedenfalls, wie es in der Grammatologie heißt, "außerordentlich verwirrend", und zwar aus folgendem Grund: "Wie alle hier von uns verwendeten Begriffe gehört auch er der Geschichte der Metaphysik an, und wir können von ihm nur als einem durchstrichenen Gebrauch machen. Seit je hat 'Erfahrung'

das Verhältnis

zu einer Präsenz charakterisiert, gleichgültig ob es die Form des Bewußtseins annehme oder nicht. Dennoch sind wir durch die unvermeidliche und eigentümliche Verzerrung und Anstrengung dieses Diskurses gezwungen, die Möglichkeiten des Begriffs der Erfahrung voll auszuschöpfen, ehe wir ihn durch die Arbeit der Dekonstruktion in seinem Grund getroffen haben. Allein unter diesen Bedingungen können wir es vermeiden, dem 'Empirismus' und der 'naiven' Kritik der Erfahrung zu erliegen." (G 106)

Der letzte Satz zielt auf eine Alternative jenseits des als 'empiristisch' bezeichneten platten Erfahrungsverständnisses auf der einen Seite, das Erfahrung als unvermittelt und 'gegeben' hinnimmt, und der transzendentalen Erfahrungskonzeption des Kritizismus auf der anderen Seite, der die reflexive Ordnung der Vermitteltheit von Erfahrung als gegenständlich-kategorial faßbaren Metadiskurs aufzuweisen glaubt. Das angeführte Zitat enthält ein paar wichtige Grundbegriffe der Philosophie Derridas: Metaphysik, Präsenz, Diskurs, Verzerrung, Durchstreichung, Dekonstruktion. Diese Aufzählung ist zu ergänzen durch weitere Grundbegriffe: Phono- und Logozentrismus, Schrift, Text, Differenz (diffirance) und Spur. Einige dieser Begriffe bezeichnen das von Derrida kritisierte Paradigma der unter dem Namen 'Metaphysik' zusammengefaßten Denktradition, andere — vor allem der Begriff der difference — kennzeichnen die durch die Metaphysik verdeckte und verzerrte Wahrheit des menschlichen Lebens, die nunmehr der 'Dekonstruktivismus', der sich sowohl als anti-empiristische wie als anti-kritizistische Methode versteht, adäquat zu beschreiben sucht. Im Bemühen um solche Adäquanz steht der Dekonstruktivismus in der phänomenologischen Tradition Husserls und — mehr noch — Heideggers. In der generellen Bestimmung der menschlichen Existenz und des menschlichen Denkens als eines semiotischen Geschehens steht er andererseits in der strukturalistischen Tradition. Sowohl an der Phänomenologie als auch am Strukturalismus bekämpft er freilich das — beiden Richtungen unterstellte — Prinzip der 'Identitätslogik'. 241 Behauptet wird, daß es keine identischen Gegenstände des Denkens und der Erfahrung gebe und daher auch keine konsistenten Begriffe und Theorien.

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Die verschiedenen Formen — die Weisen, Systeme oder Paradigmen — des menschlichen Denkens und Sprechens, die (im Sinne Wittgensteins) in einer Lebensform verankert und daher niemals im Vollsinn des Wortes selbstreflexiv sind, nennt Derrida Diskurse. Den Diskurs der abendländischen Metaphysik, der bis in das Selbstverständnis des modernen Alltags und der modernen Wissenschaften hineinwirkt, nennt er logound phonozentrisch. Was in der Metaphysik als Realität und als Wahrheit genommen werde — als Sein contra Schein —, sei eine verengte Form von Vernunft als das 'Vernehmen hier und jetzt'. Dieses Hier-und-Jetzt, das Gegenwärtig-Haben, die Unmittelbarkeit, das Anwesend-Sein ist gemeint, wenn Derrida von Präsenz spricht. Als wahr und wirklich gelte im metaphysischen Diskurs nur dieses Präsente. (Man denkt hier natürlich an Heideggers Formel von der 'ständigen Anwesenheit' als dem Seinsverständnis der Metaphysik.) Und der — dem ersten Anschein nach so unverdächtige — Begriff der Erfahrung zielt, in den Koordinaten des metaphysischen Diskurses, ebenfalls auf diese Präsenz. Daher heißt es in How to Avoid Speaking?: "Aber bereits das Wort Erfahrung scheint gewagt. Der Bezug zu dem Ort, von dem wir sprechen werden, wird vielleicht nicht mehr die Form der Erfahrung haben, zumindest, wenn diese noch das Antreffen oder die Durchquerung einer Anwesenheit (prisence) unterstellt." (W 51) Aber lassen sich — so der Einwand Derridas (und zuvor schon Heideggers) — unsere Erfahrung und unser Denken tatsächlich auf Präsenz festlegen? Ist Präsenz nicht eine inadäquate Norm? Spannt sich der Diskurs nicht immer schon zwischen Vergangenem und Künftigem aus, umfaßt diese mit und läßt die Gegenwart zu einem kaum noch identifizierbaren Punkt auf der Linie einer geschichtlichen Bewegung, die weder einen bestimmten Anfang noch ein bestimmtes Ende aufweist, zusammenschrumpfen? Die von der Präsenzvorstellung bestimmte metaphysische Vernunft habe sich, so Derrida weiter, am gesprochenen (göttlichen) Wort orientiert. Dieses sei — im Hinblick auf die Materialität der Stimme — eine Ausdrucksform und ein Bedeutungsträger, der als unmittelbar, suggestiv und autoritativ empfunden werde (es in Wahrheit aber genauso wenig sei wie das Schriftzeichen) und nur so lange 'real' sei wie die Aktualisierung der Stimme bzw. des Sprechens. Durch die Orientierung der Vernunft (die ihrerseits bestimmt, was als Erfahrung gelten darf und was nicht) am gesprochenen Wort und an der Präsenz — also an der (bloß suggerierten) Unmittelbarkeit artikulierter Bedeutung — unterstelle die Metaphysik eine Gleichsetzung von Realität und Gegenwart und damit eine Wirklichkeitsauffassung, die einer tieferen und gründlicheren Erfahrung nicht standhalte. Die Metaphysik suche nach Fixpunkten des Seins und der Erfahrung, die sich bei näherem Zusehen aber stets als imaginär erweisen. Wichtig ist für Derrida, daß das metaphysische Paradigma der Präsenz die Vermittlung von Denken und Erfahrung durch Sprache ignoriert bzw. daß es von einer inadäquaten Referenztheorie der Sprache ausgeht. Da die klassische Sprachtheorie — verkörpert bei Saussure — nahezu unreflektiert vom Primat der Oralität, der gesprochenen Sprache, ausgehe242, verkenne sie den für das menschliche In-der-Welt-Sein konstitutiven Charakter der Schrift. Der Schriftbegriff wird bei Derrida — in Entgrenzung seiner bisherigen Bedeutung — zum Inbegriff des menschlichen Ausdrucks-, Verständigungsund Orientierungsgeschehens erklärt. Er wird zur Metapher für das semiologische Da399

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sein, die spezifische menschliche Weltwirklichkeit, die referenzlos metaphorisch sei. Diese referenzlose Metaphorizität ist 'Schrift' oder — in Abgrenzung zum bisherigen Wortgebrauch, der nun als sekundäre Schrift bezeichnet wird — die primäre Schrift. 'Schrift' und 'schreiben' bedeutet in solcher Entgrenzung nun jede Art von Diskurs, jede Art von Ausdruck und Bezeichnen, jedes elementare Setzen und Verknüpfen von Bedeutung. 'Schreiben' — mündliches Sprechen wird jetzt zu einer der vielfältigen Möglichkeiten und Materialisationen des 'Schreibens' erklärt — ist die Matrix aller menschlichen Weltorientierung. Diese tätige Orientierung ist das eigentliche Realitätsgeschehen, die eigentliche Wirklichkeit. Es gibt keine Semantik, nur Semiotik.w Entscheidend für Derrida ist aber, daß diese Semiotik keine starren Begriffs- und Kategoriensysteme und keine statischen Bilder und Bildzusammenhänge schafft und daß sie offensichtlich keine teleologische Struktur besitzt. Sie ist vielmehr — in einem ganz extremen Sinn — dynamisch und selbstdestruktiv, und sie bewegt sich in einem radikal offenen Entwicklungshorizont. Da Derrida den System- und Referenzgedanken ablehnt, charakterisiert er das Schriftgeschehen als offene, disteleologische Bewegung und als 'Spiel' der Signifikanten ohne Signifikat. Eine Bedeutung koinzidiert niemals mit dem Bedeuteten als einem realen Gegenstand, und eine — in der Bewegung des Diskurses emergierende — Bedeutung bleibt, da sie dem weiteren Fortgang der Diskursbewegung ausgesetzt ist, auch niemals sie selbst. Es gibt also keine Identität des Signifikanten: weder mit der diskurstranszendenten Realität noch mit sich selbst. Was es einzig gibt, ist Differenz (differance). Damit stehen wir beim zentralen Begriff des Dekonstruktivismus. 244 Der Gedanke, daß einzig und allein Differenz das 'Wesen' der Wirklichkeit darstelle — was, konsequent weitergedacht, natürlich impliziert, daß ein solches 'Wesen' (als eine zumindest begriffliche Identität) nicht feststellbar und auch der Differenzbegriff (als Begriff) nicht haltbar sei —, markiert den entscheidenden Bruch, den Derrida der von der 'Identitätslogik' beherrschten Metaphysik gegenüber vollzieht. Zwar hätten Hegel, vor allem aber Nietzsche, Freud und Heidegger die Differenz gedacht, aber nicht radikal genug, weil sie letztlich doch immer wieder nach Identitätskonzeptionen 'höherer Ordnung' geschielt hätten (absolutes Wissen, Wille zur Macht/ewige Wiederkehr, Ich und Sein/Ereignis/Geviert). Derridas differance aber kennt keine wie immer geartete Rückkehr zu irgendeiner Identität. Auch die difference selbst sei nicht mit sich identisch. Es gebe sie nicht als Begriff, sondern nur als konkretes, kontingentes, unwiederholbares Geschehen der differierenden Schreibbewegung je und je. Daher ersetzt Derrida den Ausdruck difference im Verlauf seiner Argumentation durch eine — prinzipiell endlos iterierende — Kette substitutiver Ausdrücke: Spur, Hymen, Pharmakon, Supplement, 'X' usw. Es geht dabei immer um die streng individuelle, endliche Bewegung des Geschriebenen, des 'Textes', der niemals gegenständlich werden darf, sondern immer nur in der Bewegung des Schreibens/Geschriebenwerdens 'ist'. Jede menschliche Artikulationsweise ist ein solcher 'Text', ist eine solche Bewegung, ein solches Spiel der referenzlosen Bedeutungen und der unabschließbaren Differierung von Bedeutung.

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Difference und Schrift erhellen sich wechselseitig. In dem berühmten Aufsatz La diffirance (1968) erläutert Derrida den Differenzbegriff dahingehend, daß er die beiden Bedeutungen des Verbs 'differer' herausstellt und als sachliche Zusammengehörigkeit deutet: zeitliches Verschieben, Verspäten, Hinauszögern einerseits und räumliches Unterscheiden plus Abweichen von Bedeutungen andererseits. Differance ist demnach das gleichermaßen in eine zeitliche wie räumliche Dimension hinauswachsende und in solcher Bewegung kontingent 'abbrechende' Konstruieren und Konstituieren einer Bedeutung. Diese erleidet gleichzeitig mit ihrem Werden ihre eigene Destruktion dahingehend, daß die emergierende Bedeutung ihrer Identität mit sich selbst beraubt wird, weil die Repräsentation des Bedeuteten diesem (zeitlich) hinterherhinkt und topisch (räumlich) von ihm getrennt ist. (Dies erinnert an den ähnlichen Gedanken Hegels von der 'Verspätung' und inneren Dialektik des Begriffs.) Die Gesamtbewegung dieses Bedeutens und gleichzeitigen Nicht-Bedeutens nennt Derrida Dekonstruktion. Sie findet 'immer schon' — auch im Diskurs der Metaphysik, wenngleich dort 'verzerrt' und selbstmißverständlich — statt. Als von der Metaphysikkritik erkannte und bewußt gewordene Bewegung wird sie zur eigenen philosophischen Methode, zur reflektierten Struktur des Schreibens und der Schrift. Die zeitliche und räumliche differance des Signifikanten werde, sagt Derrida, durch die (sekundäre) Schrift augenfällig. Das (sekundär) Geschriebene ist — schon bei der Niederschrift und erst recht bei der Lektüre — immer sowohl eine verspätete als auch eine in Medium und Materialisation fremde Wiedergabe des ehemals Erlebten, Gesehenen, Gehörten und Gesprochenen. Die (sekundäre) Schrift zerstört somit den falschen Schein der Unmittelbarkeit und Präsenz, den das gesprochene Wort erwecken mochte, bevor dieses vom Dekonstruktivismus als Variante der (primären) Schrift deklariert wurde. So wird die differance zur 'Spur' des Wirklichen inmitten des verwirrenden Spiels der zahllosen referenzlosen Signifikanten — zu einer Spur freilich, die sich selbst immer wieder auslöscht und die doch immer wieder auftaucht. Die Spur weist stets auf die dem Signifikantenspiel transzendente Wirklichkeit hin, aber sie führt in diese Wirklichkeit dennoch nie hinein. Und doch hält sie den Gedanken an sie und die Sehnsucht nach ihr wach. Die Spur ist — in der Terminologie der Grammatologie — eine 'Furche' und ein 'Parcours' des Wirklichen und der (tatsächlichen, von der Metaphysik unverzerrten) Erfahrung im Kontext des imaginären und unverbindlichen Signifikantenspiels. Sie weist auf keinen gesicherten Fußweg im Sinn des Empirismus und auf keine gesicherte Leiter im Sinn der Transzendentalphilosophie, sie drückt sich weder in einem Fundamental- noch in einem Metadiskurs aus. Die Spur ist etwas Unbeherrschbares, Unverfügbares und gleichzeitig Notwendiges, Unverzichtbares. Wir folgen ihr nicht dadurch, daß wir die das Geschehen der differance verzerrende Tradition des bisherigen Denkens — die Metaphysik — achtlos beiseite schieben und uns einem gänzlich neuen Paradigma verpflichten. Ein solcher Bruch, ein solcher Neubeginn wäre schlechthin unmöglich. Wir stehen mit unserem heutigen Diskurs — mit unseren Möglichkeiten und Begrenzungen, Wünschen und Ablehnungen, Erkenntnissen und Blindheiten — in einer geschichtlichen Bewegung, die wir mitvollziehen und partiell verändernd weiterführen, nicht aber zum Stillstand bringen und durch eine tabula rasa und einen genuinen Neuanfang des Diskur-

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Philosophie

ses beenden können. Daher bleiben wir auf die Metaphysik verwiesen. Wir verwenden die metaphysischen Begriffe — die Vorstellung fixer Bedeutungs- und Orientierungsgrößen — in der Weise, daß wir ihre Bedeutung 'durchstreichen' und in 'durchstrichenen' Bedeutungen denken. Eben diese Weise des Denkens nennt Derrida 'dekonstruktivistische Methode'. Von einer solchen Uminterpretation überlieferter Begriffe im Sinne eines 'Durchstreichens' hat bekanntlich Heidegger gesprochen245, der bei Derrida stets — hier und an vielen anderen Stellen, entweder direkt zitiert oder in indirekter Anknüpfung — im Hintergrund steht. Bei Heidegger kommt die Deutung des Durchstreichens als Symbol für das 'Geviert' hinzu. Der Kreuzungspunkt im Geviert — das 'Ding' 246 — ist einerseits (als Punkt) eine selbständige Größe, andererseits (als Moment einer Linie bzw. zweier sich schneidender Linien) der 'Transzendenz', d.h. seiner eigenen Entgrenzung ausgesetzt. An diesem Gedankengang läßt sich vermutlich die Differenz der Ansätze Heideggers und Derridas aufzeigen. Der Punkt (das Ding) und die Durchstreichung (das Geviert) lassen sich, bei aller Betonung ihrer Dynamik, in gewisser Weise noch immer gegenständlich und somit als Identitäten denken. Derrida hingegen, könnte man sagen, akzeptiert nur die in den Linien sich ausdrükkende Bewegung, nicht den Punkt. Dieser — die Gegenwart — ist für ihn nur ein 'semiologischer Effekt'. Seine 'semiologische Differenz' will radikaler sein als Heideggers 'ontologische Differenz'. Freilich ist, sosehr ihre Intention berechtigt sein mag, eine Radikalisierung des Differenzdenkens, wie Derrida sie vornimmt, insofern problematisch, als — darauf weist Heidegger in seiner kleinen Spätschrift Identität und Differenz hin, auf die sich Derrida sowohl affirmativ wie kritisch mehrfach bezieht247 — beide Begriffe komplementär aufeinander bezogen sind, so daß eine differenzlose Identität ebenso wenig denkbar ist wie eine identitätslose Differenz. Der 'Signifikant ohne Signifkat' ist daher genauso ein Widerspruch wie der 'Schein ohne Sein' in Nietzsches Phänomenalismus. Darauf, inwiefern Heideggers Spätphilosophie einen entscheidenden Hintergrund für den Dekonstruktivismus darstellt und wie das Verhältnis beider Philosophien näher zu bestimmen ist, werde ich am Ende dieses Kapitels noch zurückkommen. *

Für Alberts identitätslogische und ungebrochen-metaphysische Position ist seine Interpretation des Dionysius Areopagita kennzeichnend: die 'negative Theologie' wird — ganz im Sinn des ersten Schritts im klassischen Dreischritt der 'via mystica' — ausschließlich als katharsis/purgatio und somit als Durchgangsstufe auf dem Weg zur höchsten Erkenntnis der All-Einheit, letztlicher Identität also, gesehen. 248 Obwohl diese Interpretation natürlich historisch richtig ist, läßt sie sich relativieren, wenn man der Eigendimension der Negativität größeres Gewicht verleiht oder wenn man das gedankliche Experiment durchführt, den Horizont der Transzendenz, in den die Negativität mündet, nicht als erfüllte Einheit, sondern als eine Fortsetzung des disparaten 'Spiels der Signifikanten' zu erwägen. Mystik bzw. negative Theologie wäre dann nicht sosehr ein geradliniger Weg und ein Gestaltwandel von der Vielheit zur Einheit, von der Dif-

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ferenz zur Identität, von der Entfremdung zur Eigentlichkeit, sondern das Einschwingen in ein ständiges, konstitutives Oszillieren zwischen diesen Polen des Denkens und Empfindens, wobei — in der klassischen Mystik — freilich der Identitätspol mehr Schwergewicht aufweist als der Differenzpol. Eine derartige Interpretation ist dann möglich, wenn man den mystischen Prozeß — wie es die Literaturwissenschaftler Haug und Wagner-Egelhaaf tun — primär als Sprachgeschehen (das das Schweigen als eine 'Fortsetzung der Rede mit anderen Mitteln' inhäriert) auffaßt. 249 Man könnte demnach sagen: Mystik bzw. negative Theologie ist ein Gestus des Denkens, der nicht auf jeden Fall und notwendigerweise in eine neue Identität und versöhnende Einheit einmünden muß, sondern gegebenenfalls auch in sich selbst verharren kann. Der Umschlag des Negativen ins Positive muß nicht zwangsläufig geschehen. Aus der Verneinung des Vielen und Defizienten muß nicht notwendig die Bejahung des Einen und Vollkommenen folgen. Die unio mystica kann ausbleiben — sowohl innerhalb wie außerhalb der Theologie. Es ist sicher richtig zu sagen, daß der Gottesglaube im theologischen Denken einen hermeneutischen und vielleicht sogar einen logischen Zirkel bedingt. Gott kann gemäß der positiven Theologie, folgt man deren Denkvoraussetzungen, erkannt und erfahren werden. Gemäß der negativen Theologie, wie Dionysius Areopagita sie versteht, können Erkenntnis und Erfahrung Gottes auch ausbleiben. Aber Gott ist, solange wir prinzipiell im theologischen Kontext verbleiben, im einen wie im anderen Fall, sei es im Vorder- oder im Hintergrund des Denkens, da: seine Existenz gilt als ebenso sicher wie seine Essenz. Wird diese theologische Grandüberzeugung und petitio principii, daß Gott ist, jedoch — und das kann bekanntlich auch schon innerhalb des religiösen Horizonts geschehen — aufgegeben, kann der Ausdruck negative Theologie in einem entgrenzten bzw. übertragenen Sinn verstanden werden: als vom Gottesglauben und von der Theologie unabhängiger Gestus prinzipieller Skepsis, ja als 'Textpraktik', als Weise von Rhetorik und (apophatischer) Darstellung beliebiger Inhalte. In einem dergestalt entgrenzten Verständnis kann einerseits das kritische Potential der Mystik bzw. der negativen Theologie herausgearbeitet werden, andererseits läßt sich aber auch der Vorwurf des Schweigens als Versagen und der fortdauernden Rede als leeren, referenzlosen Geschwätzes erheben. Eben in dieser Spannweite der möglichen Auffassungen von negativer Theologie wurde dem Dekonstruktivismus von Seiten einiger Kritiker — neben Habermas sind da vor allem die amerikanischen Literaturwissenschaftler Harold Bloom und Susan Handelman zu nennen250 — ein 'mystischer' bzw. 'negativ-theologischer' Charakter attestiert. Habermas bezeichnet Derrida deshalb, weil dieser einen völligen Bruch mit der metaphysischen Tradition ablehnt und besagte Tradition 'durchstreichen', d.h. abarbeiten will, als verkappten Metaphysiker, der insgeheim der Identitätslogik verhaftet bleibe.251 Bloom und Handelman hingegen sehen im Dekonstruktivismus eine Wiederholung der Kabbala mit ihrer Zeichenlehre, die — in der Darlegung Blooms vor allem — einer prinzipiellen Negativität verpflichtet sei. Derrida hat auf diese interpretatorischen Zuweisungen in dem 1986 in Jerusalem gehaltenen Vortrag How to Avoid Speaking? geantwortet. 252

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Philosophie

Dieser Text ist in mehrfacher Weise bemerkenswert. Anhand von Texten des Dionysius Areopagita und Meister Eckharts versucht Derrida eine Charakteristik der negativen Theologie zu geben, die einerseits deren enge Nachbarschaft zum Dekonstruktivismus, aber auch die unüberbrückbare Differenz zwischen den beiden Ansätzen behauptet — aber dergestalt, daß beide aufeinander verwiesen bleiben, eine strenge Abgrenzung nicht möglich ist und beide Paradigmen durch Uminterpretation jederzeit ineinander überführbar sind. Negative Theologie erscheint, wie schon in La differance, als eine besondere Gestalt des Textes der Metaphysik, der "von seiner Grenze nicht umgeben, sondern durchzogen, in seinem Inneren von der vielfachen Furche seines Randes markiert" wird (R 49). Derrida behauptet also zweierlei. Erstens: Der Dekonstruktivismus wiederhole das Problem der negativen Theologie, und eine seiner Möglichkeiten, sich selbst zu realisieren, bestehe in der Dekonstruktion des negativ-theologischen Textes. Zweitens: In der negativen Theologie präludiere bereits das Thema des Dekonstruktivismus, sie sei so etwas wie dessen erste, unzureichende Realisierung. Ist aber — diese Grundfrage läßt sich an Derridas Philosophie stellen und problematisiert ihren Ansatz — die Dekonstruktion tatsächlich die sich selbst zu Ende denkende Metaphysik, die in ihrer Form als negative Theologie am radikalsten und dennoch unzureichend an die eigene Grenze rührt? Ist die Dekonstruktion tatsächlich die adäquate Antwort auf das Ungedachte der Tradition — oder ist sie eine Wiederholung der Mystik, vielleicht eine, die deren Tiefgang gar nicht erreicht? In How to Avoid Speaking? stellt sich Derrida diese Frage selbst, und er versieht sie mit einem doppelten Kommentar, der einen sehr persönlichen, bekenntnishaften Ton annimmt. Es handle sich hier, sagt er, um eine Frage, die ihn persönlich tief berühre, und er habe sie — oder vielmehr: das Versprechen ihrer Antwort — seit langem 'hinausgezögert' und 'verschoben'. Es handle sich somit um einen idealtypischen Fall von differance. Der Ort des Vortrags — Jerusalem, die 'heilige Stadt' mit der Konnotation des 'himmlischen Jerusalem' in Meister Eckharts Texten — ist für Derrida (der sich als einen Grenzgänger zwischen arabischer, jüdischer und christlicher Überlieferung betrachtet) ein Faszinosum, mit dem er freilich ebenso rhetorisch kokettiert, wie er es dann doch in der Sache ernstnimmt. Derrida kommt — und das liegt vermutlich auch in der Logik der dekonstruktivistischen Methode — zu keinem 'sauberen Ergebnis', das sich in einer einfachen, plakativen These darlegen ließe. Der Vortragstext ist selbst ein Stück Dekonstruktion. *

Derrida greift das Thema Mystik in How to Avoid Speaking? freilich nicht zum erstenmal auf. So heißt es schon in der Grammatologie (1967), es herrsche "eine gewisse Komplizität zwischen Rationalismus und Mystizismus. Beide besetzen die Schrift des Anderen mit vertrauten Schemata." (G 143) Die genannte Passage bezieht sich auf die Spekulationen Leibniz' und Kirchers im Hinblick auf die chinesische und altägyptische Schrift, in denen jeweils das geheimnisvolle Walten einer Universallogik (im Sinne der mathesis universalis) vermutet wurde. Mystizismus wird somit als die komplementäre

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Mystikphilosophie der Gegenwart

Gestalt der rationalen Metaphysik gesehen, die sich im 17. Jahrhundert zur Metaphysik des Selbstbewußtseins und der Selbstpräsenz — der Subjektivität also — entwickelt hat. Eine mehr als flüchtige Bemerkung zur negativen Theologie enthält der Text La diffirance (1967). Was in How to Avoid Speaking? detailliert und mit konkretem Bezug auf klassische Mystiktexte ausgeführt wird, findet sich hier bereits in komprimierter Weise vor. Derrida spricht sowohl von der Ähnlichkeit zwischen Dekonstruktivismus und negativer Theologie als auch vom grundsätzlichen Unterschied. Dem Dekonstruktivismus gehe es um die Negation, präziser: um den spielerischen, nicht-essentiellen Umgang mit gegenständlich-kategorialen Vorstellungen. Darauf ziele auch die negative Theologie, doch mit einer anderen Absicht und in einer anderen Stimmung. Postuliere der Dekonstruktivismus einen prinzipiell offenen Horizont des Denkens, so postuliere die negative Theologie eine Teleologie neuer Gegenständlichkeit und Kategorialität, die über dem 'normalen', vielheitlichen Sein angesetzt werde: eine 'Hyper-Essentialität', die entweder als Ziel einer progressiv-linearen Entwicklung oder als Rückkehr zu einem vollkommenen Ursprung gedacht werden könne. Eine solche Ziel- oder Ursprungsvorstellung mit dem Gefühl der Hoffnung oder Nostalgie aber, die mit der Suche nach dem richtigen 'Namen' der Wirklichkeit einhergehe, sei dem Dekonstruktivismus fremd. Dieser eile disteleologisch und ohne irgendein Pathos des 'Anfangs' von Zeichen zu Zeichen, von Signifikant zu Signifikant, indem er der — sich jeweils gleichzeitig konstituierenden und destruierenden — differance folge. Er verbrauche ein Substitut nach dem anderen für die unnennbare Wirklichkeit. Mit dieser, obwohl sie sich (begrifflich, namentlich) nicht fixieren läßt, gehen wir — so Derrida — nur adäquat um im Gestus des die Benennungen stets wieder zurücknehmenden (dekonstruierenden) Benennens. Die Notwendigkeit des Benennens sei unsere unaufgebbare Bindung an die Metaphysik — an den Diskurs der die Erfahrung und das Denken inadäquat fixierenden Vorstellungen. Die Inadäquanz des Benennens aber sei das Motiv des Dekonstruktivismus. Und die differance sei nicht in ihrer metaphysischen Gestalt (als Substanz, Sein, Gott u.dgl.) zu denken, sondern in einer dynamisch-offenen Bewegung durch die Metaphysik hindurch und über sie hinaus —

"So daß die Umwege, die Perioden, die Syntax, auf die ich häufig werde rekurrieren müssen, denen der negativen Theologie manchmal zum Verwechseln ähnlich sehen. Es war bereits zu vermerken, daß die differance nicht ist, nicht existiert, kein gegenwärtig Seiendes (on) ist, was dies auch immer sei; und wir müssen ebenfalls alles vermerken, was sie nicht ist, das heißt alles; und daß sie folglich weder Existenz noch Wesen hat. Sie gehört in keine Kategorie des Seienden, sei es anwesend oder abwesend. Und doch ist, was derart mit differance bezeichnet wird, nicht theologisch, nicht einmal im negativsten Sinne der negativen Theologie, welche bekanntlich stets eifrig darum bemüht war, über die endlichen Kategorien von Wesen und Existenz, das heißt von Gegenwart, hinaus, eine Supraessentialität herauszustellen und daran zu erinnern, daß Gott das Prädikat der Existenz nur verweigert wird, um ihm einen Modus höheren, unbegreiflichen, unaussprechlichen Seins zuzuerkennen. Hier geht es nicht um eine solche Bewegung [...]. Nicht nur läßt sich die differance auf keine ontologische oder theologische — onto-theologische — Wiederaneignung zurückfuhren, sondern, indem sie selbst den Raum eröffnet, in dem die OntoTheologie — die Philosophie — ihr System und ihre Geschichte produziert, umfaßt sie diese, schreibt sich in sie ein und übersteigt sie unwiederbringlich." (R 32)

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Die difference ist also dem Thema nach sehr wohl eine philosophia prima, der Diskurs über sie ein Fundamentaldiskurs aller weiteren Diskurse, einschließlich dem der Metaphysik. Doch die Rede von einem Fundament suggeriere ein falsches, statisches Bild und unterdrücke die Unfaßlichkeit und Dynamik, die der differance entspricht. "Für uns bleibt die

differance

ein metaphysischer Name und alle Namen, die sie in unserer Sprache er-

hält, sind immer noch qua Namen metaphysisch. [...] Eine solche diffirance,

'älter' noch als das Sein,

hat keinen Namen in unserer Sprache. Aber wir 'wissen bereits', daß sie nicht nur vorläufig unnennbar ist, weil unsere Sprache diesen Namen noch nicht gefunden oder empfangen hätte, oder weil er in einer anderen Sprache, außerhalb des begrenzten Systems der unseren, gesucht werden müßte. Denn es gibt keinen Namen dafür, selbst nicht den der differance,

die kein Name, die keine reine nominale Einheit ist

und sich unaufhörlich in eine Kette von differierenden Substitutionen auflöst. [...] Dieses Unbenennbare ist kein unaussprechliches Wesen, dem kein Name nahekommen könnte: Gott zum Beispiel. Dieses Unbenennbare ist jenes Spiel, das nominale Effekte bewirkt, verhältnismäßig einheitliche und atomare Strukturen, die man Namen, Ketten von Namenssubstitutionen nennt, und in denen zum Beispiel der nominale Effekt

'durance'

selbst

herbeigeführt,

wiedereingeschrieben wird, als blinder Einstieg oder blinder

Ausgang immer noch Teil des Spieles, Funktion des Systems ist." (R 51)

Die Philosophie der differance —• oder: Urschrifi, Urspur, Verräumlichung, Reserve, Supplement, Pharmakon, Hymen, Marke usw. (R 38) — widerspricht der Sache nach einer Ursprungsphilosophie. Die differance ist kein Erstes und kein Grund, genauso wenig wie sie ein Letztes und ein Ziel darstellt. Sie kann nicht einmal als 'das Geheimnis' festgeschrieben werden. Sie produziert sich — als irgendein vorläufiger Name — innerhalb des ursprungslosen und endlosen Spiels der Signifikanten. Ausgehend davon, "daß es ein einzigartiges Wort, einen Ober-Namen nie gegeben hat, nie geben wird", ist sie "keine erste Bestimmung und auch keine prophetische Ankündigung einer bevorstehenden und noch unerhörten Benennung. Dieses 'Wort' hat nichts Kerygmatisches mehr" (R 51). An dieser Stelle von La diffirance kommt Derrida — wie so oft in seinen Texten — auf Heidegger zurück. "So müßte denn die Sprache", zitiert er aus Der Spruch des Anaximander, "um das Wesende des Seins zu nennen, ein einziges, das einzige Wort finden." 253 Rechter Name (den das 'Sein' 'zuschickt'), Anfänglichkeit, Geheimnis, Kerygma, Nostalgie und Hoffnung — das sind für Derrida die Atavismen jener Ontotheologie, die in Heideggers Denken, trotz seiner metaphysikkritischer Stoßrichtung, überleben. Kein anderer der philosophischen Vorgänger kommt offensichtlich der differance so nahe wie Heidegger, und in der Frage, ob dessen Philosophie 'noch immer' oder schon 'nicht mehr' metaphysisch sei, schwankt Derridas Urteil — über seine verschiedenen Schriften hinweg — beständig und bleibt oft ausdrücklich unentschieden. 'Ontologische' und 'semiologische' Differenz seien nicht dasselbe, und doch werden die Grenzen zwischen beiden Konzeptionen von Derrida selbst vielfach verwischt.

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Mystikphilosophie der Gegenwart

Die in How to Avoid Speaking? erfolgende explizite Auseinandersetzung mit der negativen Theologie setzt, wie erwähnt, die Argumentation in La diffirance bruchlos fort, obwohl zwischen der Abfassung beider Schriften fast zwei Jahrzehnte liegen. Auch hier konzediert Derrida in einem ersten Schritt die Ähnlichkeit und Verwechselbarkeit von Dekonstruktivismus und negativer Theologie, macht in einem zweiten Schritt den Unterschied geltend und kommt in einem dritten Schritt — vor dem Hintergrund der These, daß die differance bereits in der Metaphysik (unter welche die negative Theologie subsumiert wird) da sei und daß sie auch im Kontext der Dekonstruktion nicht losgelöst von der Metaphysik gedacht werden könne — auf die Unmöglichkeit einer klaren und distinkten Abgrenzung zu sprechen. Zuallererst 'dekonstruiert' Derrida freilich den Begriff der negativen Theologie: "Wie angemessen von der negativen Theologie sprechen? Gibt es eine solche? eine einzige? ein regulatives Modell für weitere? Kann man daran eine Rede ausrichten? Gibt es eine Rede nach ihrer Maßgabe? Ist man nicht genötigt, von der negativen Theologie gemäß den Modi der negativen Theologie in einer zugleich ohnmächtigen, erschöpfenden und unerschöpflichen Weise zu sprechen? Gibt es je anderes als eine 'negative Theologie' der 'negativen Theologie'?" (W 26)

Man könne "niemals sicher sein, [...] daß man überhaupt jemandem ein Projekt negativer Theologie als solche zuschreiben kann". In einem weiten Sinn könne man sie als 'Textpraktik' verstehen, als "eine bestimmte Sprachform — mit ihrer besonderen Weise, in Szene zu setzen, ihren spezifischen Modi in Rhetorik, Grammatik und Logik, ihren Vorgehensweisen in der Darstellung und Beweisführung" (W 9). In diesem Sinn könne man "die Familienähnlichkeit der negativen Theologie wiedererkennen in jedem Diskurs, der in beharrlicher und regelmäßiger Weise bei dieser Rhetorik der negativen Bestimmung Zuflucht zu nehmen scheint". Dies gelte auch für "dies, was X geheißen wird (z.B. der Text, die Schrift, die Spur, die diffirance, das Hymen, das Supplement, das Pharmakon, das Parergon, u.s.w.)" (W 11). Doch "die generelle Berufung auf die 'negative Theologie' deckt vielleicht Verwechslungen zu und gibt zuweilen verkürzten Interpretationen statt

(donne... lieu).

Vielleicht gibt es da verborgen, regsam, verschieden-

artig und heterogen in sich selbst, eine Vielfalt von Möglichkeiten, für die der — allzu massive und allzu schwammige — einzige Ausdruck 'negative Theologie' noch inadäquat bliebe." (W 24)

Wenn dem Dekonstruktivismus von verschiedener Seite eine Nähe zur Mystik bescheinigt werde, handle es sich um drei Typen von Zuweisungen bzw. Vorwürfen, die offenkundig mit unterschiedlichen Beurteilungen und Bewertungen von Mystik zu tun haben. Der erste Vorwurf (1) sei der des Nihilismus und Obskurantismus, die aus der vom Dekonstruktivismus betriebenen prinzipiellen Verneinung jeder positiven Erkenntnis und Aussage angeblich resultierten bzw. die ihm bereits als Absicht zugrunde lägen. Der nächste Vorwurf (2) fasse negative Theologie als Textpraktik auf und spreche vom "Mißbrauch mit einer Technik, deren Handhabung ein leichtes ist" und die "darauf hin-

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aus[läuft], daß man spricht, um nichts zu sagen". Diese zweite Kritik scheint Derrida "bereits interessanter und hellsichtiger zu sein als die erste: sprechen um zu sprechen, die Erfahrung dessen machen, was dem Sprechen durch das Sprechen selbst geschieht, in der Spur einer Art Quasi-Tautologie, das ist etwas ganz anderes als ohne Nutzen zu sprechen und mit dem Ziel, nichts zu sagen." (W 13) Die Kritik rekurriere aber (3) noch darüber hinaus auf "eine dritte, weniger offensichtliche, aber zweifellos interessantere Möglichkeit. Der Verdacht nimmt darin eine Form an, die imstande ist, den Vorgang der Anklage umzukehren: wenn sie nicht einfach nur unfruchtbar, wiederholend, verdunkelnd, mechanisch ist, so gibt uns die apophatische Rede — ist sie erst einmal in ihrem logisch-grammatischen Typus analysiert — vielleicht das Theologisch-Werden einer jeden Rede zu denken. Sobald eine Proposition eine negative Form annimmt, genügt es, die sich darin bekundende Negativität bis an ihre Grenze zu treiben, derart, daß sie einer theologischen Apophatik zumindest ähnelt. Jedes Mal, wenn ich sage: X ist nicht dieses noch jenes, noch das Gegenteil von diesem oder jenem, noch die einfache Neutralisierung von diesem oder jenem, mit denen es nichts gemeinsam

hat,

denen gegenüber es absolut heterogen oder inkommensurabel ist, würde ich schließlich anfangen, von Gott zu sprechen — unter diesem Namen oder unter einem anderen. Der Name Gottes wäre dann der hyperbolische Effekt dieser Negativität beziehungsweise aller in ihrem Diskurs daran anschließenden Negativität. Der Name Gottes träfe auf alles zu, was einen Angang, eine Annäherung, eine Bezeichnung nur in indirekter und negativer Weise zuläßt. Jeder negative Satz wäre bereits heimgesucht von Gott oder vom Namen Gottes — wobei der Unterschied zwischen Gott und dem Namen Gottes überhaupt erst den Raum dieses Rätsels eröffnet." (W 14)

Diese dritte Argumentation enthält mehr als nur eine theologische petitio principii, die jeden weltlichen Bezug auf einen göttlichen und jedes Wort der menschlichen Sprache auf das Schöpfungswort zurückführt. Sie geht vielmehr aus von der Überzeugung, daß es — erstens — reine Negativität ohne dialektischen Umschlag in ein Positives nicht geben könne und daß — zweitens — dieses Positive ein letztes und höchstes Sein, eine letzte und höchste Einheit sei, die über alle vielfältig und vordergründig gegebene Wirklichkeit hinausgehe und einzig und allein auf dem Weg absoluter Negativität zu erkennen oder zumindest zu ahnen sei. Die erstgenannte Überzeugung — kein Negatives ohne ein Positives — ist auch die Überzeugung Derridas, wenngleich er all seine Energie dafür einsetzt zu erweisen, daß das Positive keine selbständige Größe sei, sondern nur Effekt der Negativität. Die zweitgenannte Überzeugung jedoch, die die Negativität in ein universal-einheitliches Positives ('Gott') münden läßt, ist für ihn ein Stein des Anstoßes. Im Dekonstruktivismus sei Gott eben nicht "die Wahrheit aller Negativität", und es komme in ihm eben nicht "zu einer Art Gottesbeweis" (W 15). Zwar will Derrida Begriffe grundsätzlich nicht festlegen und folglich auch nicht den Begriff der negativen Theologie, doch wendet er sich gegen einen allzu entgrenzenden Gebrauch, der dann auch auf den Dekonstruktivismus Anwendung fände. In Eingrenzung auf klassische Beispiele (Dionysius Areopagita, Meister Eckhart) lasse sich negative Theologie durch ein Hauptkriterium kennzeichnen, das darin bestehe "anzunehmen, jedes Prädikat, ja alle prädikative Sprache, bleibe dem Wesen, in Wahrheit der Überwesentlichkeit Gottes, inadäquat, und infolgedessen könne allein eine negative ('apo-

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phatische') Attribution den Anspruch erheben, sich Gott anzunähern, uns auf eine schweigend erfahrene Anschauung Gottes vorzubereiten." (W 10) Schweigen und Intuition als Ende der differance bzw. der Apophasis und die Gleichsetzung von negativer Theologie und Dekonstruktivismus hatte Derrida bereits in La differance ausdrücklich zurückgewiesen. Nun wiederholt er, er "würde davor zurückschrecken, das, was ich vorzubringen habe, unter dem geläufigen Titel der negativen Theologie einzuschreiben", denn in dieser gehe es nicht um eine tatsächliche Rücknahme der ontotheologischen Konzeption, sondern um deren "ontologische Überbietung durch die Hyper-Essentialität", die Gott, dem 'Gegenstand' der Apophasis, zugesprochen werde (W 17). Derrida belegt seine These in ausreichender Weise durch Dionysius- und Eckhart-Zitate. Der Dekonstruktivismus sei nicht negative Theologie, da "diese dem prädikativen oder judikativen Raum der Rede, ihrer strikt propositionalen Form angehört und nicht nur die unzerstörbare Einheit des Wortes privilegiert, sondern auch die Autorität des Namens", und da sie "jenseits aller positiven Prädikation, jenseits jeglicher Verneinung, jenseits gar noch des Seins, irgendeine Überwesentlichkeit, ein Sein jenseits des Seins zurückzubehalten scheint" (W 17). Negative Theologie sei "stets damit befaßt [...], eine Supra-Essentialität jenseits der endlichen Kategorien des Wesens und der Existenz, das heißt der Gegenwärtigkeit, freizulegen, und stets eifrig darum bemüht [...], ins Gedächtnis zu rufen, daß Gott das Prädikat der Existenz nur verweigert wird, um ihm einen Modus höheren, unbegreiflichen, unaussprechlichen Seins zuzuerkennen." (W 114)

In den Anmerkungen zu How to Avoid Speaking? diskutiert Derrida die Frage, ob diese Hyper-Essentialität der Konzeption des Dionysius Areopagita tatsächlich wesentlich ist. Dies wird ja von manchen Dionysius-Interpreten wie z.B. von J.-L. Marion bestritten. 254 Derrida spricht sich — und kann sich dabei auf den Wortlaut der infrage stehenden Texte berufen — gegen eine Unterbewertung aus. Zugleich gesteht er aber zu, daß Dionysius und Eckhart den metaphysischen Diskurs denkbar weit an die Grenze — an eine 'einzigartige Grenze' — der Negation und Überwindung seiner selbst getrieben haben. Durch die Dekonstruktion der Mystik könne die ungeheure Abgründigkeit und Dynamik dieser Grenze verdeutlicht werden. Der Zugang zu Gott bei Dionysius ist ein doppelter und sowohl über die positive wie über die negative Theologie möglich. Beide Theologien und beide Zugänge — aporreton und apodeiktiken - haben aneinander ihre Grenze. "Dionysius erkennt, daß jeder dieser beiden Modi mit dem anderen sich 'durchkreuzt'/'schneidet' (s"'entrecroise")." (W 45 f.) Aber in welchem Modus, fragt Derrida, werde "diese Rede hier gefuhrt [...]? Muß sie nicht notwendig in diesem Ort gehalten werden — der kein unteilbarer Punkt sein kann —, an dem die beiden Modi sich kreuzen, derart, daß die Kreuzung selbst [...] eigentlich zu keinem dieser beiden Modi gehört und zweifelsohne sogar noch deren Verteilung vorangeht? Welches ist — in der Kreuzung von Geheimnis und Nicht-Geheimnis — das Geheimnis?" (W 46) Aber Derrida besteht darauf, es gebe "kein Geheimnis als solches" (W 48), denn die Rede über das Geheimnis erreiche dieses nie,

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und wenn sie glaubt, es erreicht zu haben, komme die Rede — gemäß der nicht-identischen Konstitution der differance — immer schon 'zu spät': "In dem Moment, wo die Frage 'Wie nicht sprechen?' [...] sich stellt und sich in allen ihren Modalitäten artikuliert [...], ist es bereits, wenn man das sagen kann, zu spät. Es stellt sich gar nicht mehr die Frage, nicht[s] zu sagen. Selbst wenn man spricht, um nichts zu sagen, selbst wenn eine apophatische Rede sich des Sinns oder des Gegenstands benimmt, findet sie Statt. Das, was diese eingeleitet/verpflichtet (engagέ) oder möglich gemacht hat, hat Statt gefunden."

(W 52)

Schweigen ist demnach nur eine vordergründige Alternative zum Reden. Es geht um das platonische Problem des 'triton genos', nämlich "daß es da etwas gibt, das weder ein Seiendes noch ein Nichts (niant) ist, das indes keine Dialektik, kein Schema der Teilnahme und keine Analogie mit irgendeinem Philosophem [...] zu reartikulieren gestatten könnte [...]. Das weder — noch läßt sich nicht mehr in ein sowohl — als auch zurückverwandeln." (W 67) Das 'dritte Geschlecht' — die Wirklichkeit jenseits von Gegensatzpaaren wie Sein und Nichts, Sinnlichkeit und Intelligibilität, Bejahung und Verneinung usf. — werde bei Piaton, sagt Derrida, im 'epekeina tes ousias' (Politeia) und in der 'chora' (Timaios) ansatzweise gedacht — so, daß es thematisch aufblitzt, aber im Gang des metaphysischen Diskurses (der sich bei Piaton paradigmatisch ausbildet) zwangsläufig auch wieder verschüttet wird. Zwangsläufig deshalb, weil sich die Metaphysik um Aussagen bemüht und weil auch die Metapher, bei der Piaton Zuflucht sucht, diesen propositionalen Charakter nicht abstreift. Die Durchkreuzung von Geheimnis und Nichtgeheimnis, von Sein und Nichts, von Ja und Nein tritt lebendiger vor Augen, wenn man sie — wie Dionysius in dem seine theologischen Schriften begleitenden Gebet — 'anruft'. Derrida spricht von einer 'performativen Dimension' (W 76) des dritten Geschlechts, die in christlicher Version bei Dionysius deutlich werde und gegenüber der antiken Version, die über eine propositionale Dimension nicht hinausgekommen sei, einen Fortschritt hin zur 'Sache selbst' bedeute. Doch das Problem dieser christlichen Version bestehe darin, daß sie ihre 'Logik des Ohne' in eine 'Logik des Über' verwandelt und damit die Grenze, den 'Ort der Durchkreuzung', fehlbestimmt: "[...] so gibt diese einzigartige Grenze nicht einfach neutralen oder negativen Bestimmungen, sondern einer Hyperbolisierung

genau dessen Statt, jenseits dessen das Gute zu denken, zu erkennen und zu sein

vorgibt. Die Negativität dient der Bewegung in das sie hervorbringende, sie anziehende oder sie führende Hyper."

(W 60)

Die differance werde hier also zurückgebogen in die Voraussetzungen der Ontotheologie. Die differance jenseits ontotheologischer Zurechtstilisierungen hingegen "wäre 'vor' dem Begriff, dem Namen, dem Wort, 'etwas', das nichts wäre, das nicht mehr dem Sein, der Anwesenheit oder der Gegenwärtigkeit des Gegenwärtigen, nicht einmal mehr der Abwesenheit und

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Mystikphilosophie

der

Gegenwart

noch weniger irgendeiner Hyperessentialität angehörte. Doch dessen onto-theologische Wiederaneignung ist stets möglich und freilich unvermeidlich,

solange man eben genau im Element der onto-theologi-

sche[n] Logik und der onto-theologischen Grammatik spricht." (W 19)

Das heißt nichts anderes als: Wenn wir den auf Aussagen abzielenden Diskurs der Metaphysik beibehalten, können wir die difference nicht anders denn als Begriff — und damit: als Identität — denken. Erst ein geänderter, die 'performative Dimension' in geeigneter Weise berücksichtigender Diskurs — eine (im Gebrauch, nicht unbedingt in ihren Formen) geänderte Sprache also und ein geändertes Wirklichkeitsverständnis — ermöglicht dem Denken das Abstreifen des ontotheologischen Korsetts. Solange dieses Korsett — die Selbstverständlichkeit der propositionalen Norm und des Abzielens auf Identität und Einheit — uns beherrscht, denken wir die difference nur defizient-negativ bzw. immer nur im Hinblick auf ein ausstehendes Positives. Daher kann bis auf weiteres — aufgrund der geschichtlich retardierenden Ontotheologie — der Dekonstruktivismus von der Identitäts-, Ursprungs- und Substanzphilosophie stets neu vereinnahmt und umgedeutet werden. Umgekehrt jedoch steht auch die Ontotheologie, durch den Dekonstruktivismus historisch mehr denn je herausgefordert, am Abgrund ihrer eigenen Unwahrheit und kann mit Leichtigkeit in diesen Abgrund hinabgestürzt werden. Was vorläufig bleibt, ist ein instabiles Verhältnis zwischen Metaphysik und Dekonstruktivismus und die ständige Möglichkeit ihrer wechselseitigen Aneignung. 255 *

Derrida legt Wert auf die Destruktion des 'Anfangs'. Hegel, der dialektische Identitätsdenker, hatte den Anfang des Denkens mit seinem Ende kurzgeschlossen und die Unendlichkeit des Geistes in die antike Vorstellung der Kugelform, die Ganzheit und Vollkommenheit bedeutet, zurückgebogen. Derridas Geschichtsverständnis hingegen ist linear und disteleologisch — auch in der Retrospektive. Dabei geht es nicht um eine Linie, sondern um ein Geflecht und Gestrüpp von Linien, denen kein Ausgangs/?««^ entspricht. Daher gibt es im Dekonstruktivismus keinen Ursprung, keinen ersten Gedanken, kein fundamentum inconcussum und keine tabula rasa. Es gibt nur immer schon einen geschichtlich gewordenen und geschichtlich werdenden Text — besser: eine Vielzahl von Texten —, an dem bzw. an denen wir, um im etymologischen Bild zu bleiben, 'weiterweben'. Dekonstruieren heißt immer: einen älteren, bereits gegebenen, aber seiner Konstitution nach noch im Fluß befindlichen Text abarbeiten und weiterschreiben. Daher legt Derrida nur wenig Wert auf den Gedanken der Originalität. Er hat keine Schwierigkeiten, Bezugspersonen und Anknüpfungen beim Namen zu nennen: Piaton, Hegel, Nietzsche, Freud, Husserl, Heidegger und Levinas sind — im klassisch-philosophischen Kontext — hier die bekannteren Namen, mit denen sich das konzeptuelle Anknüpfungspotential bei Derrida jedoch noch lange nicht erschöpft. Ich habe im Verlauf dieses Kapitels mehrmals auf Heidegger verwiesen — sowohl auf Ähnlichkeiten wie auf Unterschiede von Seinsdenken und Dekonstruktivismus. In der

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Tat ist Heideggers Philosophie nicht die einzige, wohl aber eine besondere Anknüpfung für Derrida. Dieser nimmt zahlreiche heideggersche Motive auf, vor allem den Gedanken einer 'Verwindung' der Metaphysik auf dem Weg einer 'Destruktion der abendländischen Ontologie', die Kritik des Zeitbegriffs, das 'Durchkreuzen' von Begriffen und die 'ontologische Differenz'. Die Schrift Identität und Differenz (1957) bildet offenkundig einen bedeutsamen Hintergrund für das Konzept der radikalen, identitätslosen difference. Heidegger ist aber nicht nur Motivquelle und Stichwortgeber für Derrida, sondern auch sein Reibebaum. Derrida leugnet, daß das Seinsdenken den 'Absprung von der Metaphysik' wirklich geschafft habe, und stellt darüber hinaus die Frage, ob ein solcher — definitiv zu denkender — Absprung denn überhaupt möglich sei. Heidegger nimmt in seinen Augen den Dekonstruktivismus zum Teil vorweg, zum Teil fällt er jedoch ausdrücklich wieder in die Metaphysik zurück. Das geschieht überall dort, wo er von verschüttetem Ursprung und Anfang oder von noch ausstehendem Sein und Ereignis redet sowie dort, wo er dem propositionalen Charakter des metaphysischen Diskurses verpflichtet bleibt. Auch die Schlußpartie von How to Avoid Speaking? bezieht sich auf Heidegger, genauer: auf den Gedanken einer Durchstreichung des Wortes 'Sein' und auf den Bezug dieses Gedankens sowohl zur negativen Theologie wie zur difference. Heidegger, der wie Hegel das Begriffspaar Sein und Nichts dynamisch, d.h. in der Bewegung einer wechselseitigen Ergänzung und Aufhebung denkt, ist nicht dem Korsett der dialektischen Methode verpflichtet, die Hegel zum Resultat einer letztlichen Option für das Sein auf Kosten des Nichts zwingt. Aber auch Heidegger denkt für Derrida das Nichts nicht radikal genug. Er tue das, was er programmatisch verbiete, und betreibe eine ständige Rückkehr aus der Differenz in die Identität. Versucht man eine Beurteilung der Auseinandersetzung Derridas mit Heidegger aus der Distanz, so ergibt sich in der Tat, daß der Dekonstruktivismus das Seinsdenken in seinen grundsätzlichen Motiven aufnimmt und noch einmal radikalisiert. Bezieht man ältere Positionen wie die Metaphysikkritik Nietzsches mit ein, so ergibt sich des weiteren, daß es sich bei all diesen Kritikern der Metaphysik, die jeweils an einen Vorgänger anknüpfen, um eine Kette von Überbietungsversuchen handelt. Jeder konzediert seinem Vorgänger Fortschritte, und jeder stellt den Vorgänger wieder mehr oder minder deutlich in die metaphysische Tradition zurück. Gegenüber Nietzsche und Heidegger zeichnet sich Derrida freilich dadurch aus, daß er den eigenen Ansatz nicht mehr als eine großangelegte kopernikanische Wende, als neuen Äon u.dgl. ankündigt, sondern in der Abgrenzung von Paradigmen wesentlich vorsichtiger vorgeht. Für die spezielle Frage von How to Avoid Speaking? — die Frage nach dem Stellenwert der negativen Theologie im Rahmen der dekonstruktivistischen Metaphysikkritik — bietet das Werk Heideggers zwar indirekt ein vielfältiges Illustrationsmaterial (das von Derrida denn auch ausgiebig herangezogen und bearbeitet wird), jedoch keine deutliche Antwort. Dies hängt damit zusammen, daß Heidegger die Frage der Mystik bzw. der negativen Theologie nirgendwo besonders präzise oder in größerem Umfang behandelt. Zwar lassen sich schon in Sein und Zeit — wie das John D. Caputo herausgearbeitet hat256 — und noch viel mehr im Spätwerk thematische und terminologische Bezüge zur mystischen Tradition aufweisen ('Eigentlichkeit', 'Tod', 'Abgrund', 'Nichts', 'Fülle',

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Mystikphilosophie der Gegenwart

'Nähe'/'Ferne', 'Gelassenheit', 'Reigen', 'Spiegel-Spiel' usw.)· Ein solcher Aufweis — die Rekonstruktion einer Philosophie aus Motiven, die der mystischen Tradition zugehören — läßt sich aber z.B. auch bei Nietzsche durchführen 257 , der Mystik gleichfalls nicht ausdrücklich und systematisch zum Gegenstand seines Philosophierens gemacht hat und der gleichfalls keinen eigenen Beitrag zu einer Philosophie der Mystik erarbeitet hat. Nach Otto Pöggeler 258 weisen Heideggers als 'mystisch' klassifizierbare Motive einerseits auf die christlich-mittelalterliche Mystik zurück, andererseits auf die fernöstliche Weisheitstradition. 259 Seit der Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 gibt es eine japanische Rezeption Heideggers vor dem Hintergrund der eigenen, japanischen Philosophie (insbesondere des Zen), auf die der späte Heidegger wiederum seinerseits reagiert hat. 260 Wenn wir uns jedoch darauf beschränken, Heideggers faktischer Verwendung des Ausdrucks 'Mystik' nachzugehen, so fallt das Ergebnis denkbar mager aus. Die wenigen Eckhart-Zitate klingen eher beiläufig und werden namentlich nur an einer Stelle mit 'Mystik' in Zusammenhang gebracht. In der bekannten Marburger Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie vom SS 1927261 ist einmal ohne Wertung, aber mit Achtung, und zweimal abwertend-polemisch von 'Mystik' die Rede. Die polemischen Stellen wenden sich gegen schwärmerisch-halbintellektuelle Zeitmoden, gegen die Heidegger seine — damals gleichfalls zur Mode werdende und damit durch eine trivialisierte Rezeption bedrohte — phänomenologische Philosophie abgrenzen möchte. "Wer seine Informationen der Phänomenologie", heißt es da, "aus der 'Vossischen Zeitung' oder aus dem 'Uhu' bezieht, der muß sich einreden lassen, Phänomenologie sei so etwas wie Mystik, so etwas wie die 'Logik des indischen Nabelbeschauers.'" 262 Heidegger polemisiert in den 20er Jahren auch gegen Gerda Walthers Phänomenologie der Mystik,263 Walther ist zwar Husserl-Schülerin, aber anthroposophisch beeinflußt und verbindet mit dem Begriff Mystik vornehmlich parapsychologische Phänomene. Das alles ist für Heidegger 'schlechte Mystik'. Eine neutral-achtungsvolle Bewertung nimmt er jedoch gegenüber der philosophischen Mystik des Mittelalters ein, die er — ähnlich wie Derrida — unter die Metaphysik subsumiert und die er gegenüber dem sich als Mystik etikettierenden modernen Schwärmertum verteidigt:

"Es ist das Charakteristische der mittelalterlichen

Mystik,

daß sie versucht, das ontologisch als das eigent-

liche Wesen angesetzte Seiende, Gott, in seiner Wesenheit selbst zu fassen. Dabei kommt die Mystik zu einer eigentümlichen Spekulation, eigentümlich deshalb, weil sie die Idee des Wesens überhaupt, d.h. eine ontologische Bestimmung des Seienden, die essentia entis, zum Grund eines Seienden, seine Möglichkeit, sein Wesen, zum eigentlich Wirklichen macht. Dieser merkwürdige Umschlag der Wesenheit zu einem Seienden selbst ist die Voraussetzung für die Möglichkeit dessen, was man mystische Spekulation nennt. Daher spricht Meister Eckhart meist von dem 'überwesentlichen Wesen', d.h. ihn interessiert nicht eigentlich Gott — Gott ist für ihn noch ein vorläufiger Gegenstand —, sondern die Gottheit. Wenn Meister Eckhart 'Gott' sagt, meint er Gottheit, nicht deus, sondern die deitas, nicht das ens, sondern die essentia, nicht die Natur, sondern was über die Natur, d.h. das Wesen ist, das Wesen, dem man noch gleichsam jede Existenzbestimmung absprechen, jede additio existentiae fernhalten muß. [...] So ist Gott für sich selbst sein Nicht, d.h. er ist als das allgemeinste Wesen, als die reinste noch unbestimmte Möglichkeit alles Möglichen, das reine Nichts. Er ist das Nichts gegenüber dem Begriffe aller Kreatur,

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Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

gegenüber allem bestimmten Möglichen und Verwirklichten. Auch hier finden wir [...] eine merkwürdige Parallele zu der hegelschen Bestimmung des Seins und der Identifizierung mit dem Nichts. Die Mystik des Mittelalters, genauer gesprochen die mystische Theologie ist nicht mystisch in unserem Sinne und im schlechten Sinne, sondern in einem ganz eminenten Sinne begrifflich. 1,264 *

Das Thema 'Heidegger und Mystik' ist noch durch den Hinweis auf eine neuere Publikation zu ergänzen. Für das Wintersemester 1918/19 hatte Heidegger in Freiburg eine Vorlesung mit dem Titel Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik angekündigt, die dann allerdings nicht gehalten wurde. Heideggers eher marginale Notizen zu dieser geplanten Vorlesung sind nunmehr durch ihren Abdruck in Bd. 60 der Gesamtausgabe (M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens < e d . M. Jung, Th. Regehly, C. Strube>, Frankfurt a.M. 1995, 301 ff.) zugänglich geworden. Heidegger interessierten damals "die metaphysischen Voraussetzungen, die erkenntnistheoretischen Anschauungen, die ethischen Grundlagen und vor allem der wissenschaftliche Aspekt von der Erlebnissphäre, die psychologischen Positionen der mittelalterlichen Mystik", wobei er diese "sowohl als Erlebnisform wie als und besonders als Theorie und Lehre dieser und zugleich [als] metaphysische Deutung und Erklärung auf Grund ihrer" aufgefaßt wissen wollte (op.cit., 303). Es sollte um die "phänomenologische Erforschung des religiösen Bewußtseins" (304) gehen, um Mystik als ein "Stück Ontologie der Religion" (309), aber auch um ihren "vollen Einbau in die allgemeinen Erlebnisstrukturen" (307), also um "das originäre Ursprungsproblem der Erlebnis weiten" (310). Phänomenologisch — Heidegger spricht in seiner damaligen Terminologie von "phänomenologische[m] Urverstehen" (305) — wollte er im "mittelalterlichen mystischen Erleben die Konstitutionsmomente herausholen" (306), wobei er postulierte, "das reine Erlebnis als solches, der Ausdruck (die ausdrückenden Elemente), die 'Erklärung' (Deutung), die Verwendung" seien voneinander klar zu unterscheiden (307). Diese Bemerkungen Heideggers — sie drücken allerdings vorwiegend nur Fragestellungen und Absichtserklärungen aus, keine Ausarbeitung und Einlösung — skizzieren ein nicht uninteressantes Arbeitsprogramm: Mystik — eingeschränkt allerdings auf ihre christlich-mittelalterliche Gestalt — sollte im Spannungsfeld von Erlebnis und Begriff und vor dem Horizont der allgemeinen Rationalitäts- und Erfahrungsproblematik untersucht werden. Am zentralen Beispiel Meister Eckharts wollte Heidegger — in Auseinandersetzung mit den religionsphilosophischen Theorien Schleiermachers, R. Ottos, W. Windelbands und A. Reinachs — der Möglichkeit einer 'rationalen Bewältigung des Atheoretischen' nachgehen und sowohl Motivation wie Ursachen eines derartigen philosophischen Projekts, dessen Wurzeln bis zurück zu Aristoteles und Piaton zu verfolgen seien, erforschen.

414

2.4 Unterwegs zu einer symboltheoretischen Mystikkonzeption

2.4.1 Philosophische Mystiktheorien und prozessualsymbolisch-mediale Erfahrungstheorie Die bislang referierten Philosophen — von Kant bis Derrida, vom Kritizismus bis zur Postmoderne — haben meist in ausdrücklichem Zusammenhang mit dem Problem der Erfahrung über den Begriff der Mystik nachgedacht und im Spannungsfeld dieser beiden Begriffe und Themen verschiedene — dem jeweiligen inhaltlichen und methodischen Kontext ihres Denkens entsprechende — Konzeptionen von Rationalität entwickelt. Freilich unterläuft und vergleichgültigt die früher dargelegte prozessual-symbolisch-mediale Erfahrungs- und Rationalitätstheorie einen erheblichen Teil der Fragestellungen, der Prämissen und Resultate besagter Denkentwürfe. Doch habe ich im vorhergehenden zu zeigen versucht, in welcher Bandbreite und in welchen hauptsächlichen Versionen die Diskussion über das Mystik-Erfahrungs-Problem in der neueren und gegenwärtigen Philosophie erfolgt. Kant, Schopenhauer und der frühe Wittgenstein nehmen, indem sie sich am klassisch-modernen naturwissenschaftlichen Denkmodell orientieren, eine unverrückbare Grenze möglicher Erfahrung und möglichen Wissens an. Mystik ist für sie dasjenige, was hinter dieser Grenze und somit unerkennbar ist, seien es nun bestimmte, dem Wissen sich prinzipiell entziehende Teilbereiche der Realität, sei es das Ganze der Realität schlechthin (die in eben dieser Ganzheit auch das Unerkennbare miteinschließt und somit selbst unerkennbar bleibt) oder sei es auch nur das dem Satz vom Grund sich entziehende Daß der (nur in ihrem Wie als erkennbar veranschlagten) Realität. Hier treffen wir auf den berühmten, für das moderne Denken so geläufigen und vielfach selbstverständlichen Gestus der Grenzziehung, der insbesondere für Transzendentalphilosophie und Positivismus charakteristisch ist und der als Reaktion bei Menschen, die diesem Gestus mißtrauen, Haltungen und Hoffnungen gewollter Esoterik und angeblichen Geheimwissens, das über oder jenseits des 'normal' Denk- und Sagbaren anzusiedeln sei, hervorruft. Die Esoteriker sind freilich fast durchwegs inkonsequente und philosophisch nur begrenzt ernstzunehmende Denker: Intuitionisten (nicht im elaborierten Sinne Bergsons oder der mathematischen Grundlagendiskussion, sondern im gängigen Verständnis dieses Begriffs), die fehlende Schlüssigkeit im Denken durch Apodiktik und prophetisches Gehabe wettzumachen suchen. Wer solche Formen von Esoterik kennengelernt hat, kann dann auch zur umgekehrten Reaktion neigen und sich bedingungslos

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

auf kritizistische oder positivistische Überzeugungen festlegen. In einer solchen Reaktion mag auch der Affekt begründet sein, mit dem sich Kant — nach anfänglichem Interesse — polemisch gegen Swedenborgs 'Geistersehen' gewandt hat. Eine differenzierte Position im Kreis der 'Ausgrenzer' nimmt Mauthner ein, der den Kritizismus in eine Theorie umfassend-radikaler Skepsis transformiert. Für ihn gibt es 'adjektivische', 'substantivische' und 'verbale' Formendes Wissens, die aber alle nicht imstande sind, zur 'Realität selbst' vorzustoßen. Diese 'Realität selbst' öffnet sich für den Menschen einzig, so Mauthner, in den Augenblikken der Mystik, in denen die Verbindlichkeit aller Wissensformen aufgehoben und die Realität als ganze und unmittelbar 'empfunden' wird. Mystik selbst ist keine Erkenntnis, aber sie ist ein Erlebnispunkt, an den die Erkenntnis im Zuge ihres Scheiterns, d.h. ihrer Selbstkritik gelangt. Der andere, zweite Gestus der modernen Philosophie verkörpert sich bei Hegel und Bergson: der Optimismus, daß unsere Vernunft die Fähigkeit habe, sich auf das Insgesamt der Realität einzulassen und sie zu durchleuchten. Dies sei dadurch möglich, daß Denken — jeweils legitim — auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Weisen stattfinde und daß es überdies Denkformen gebe, die zwischen diesen unterschiedlichen Ebenen und Weisen vermitteln und so einen Horizont der Totalität herstellen. Bei beiden Philosophen verbindet sich mit diesem Optimismus ein evolutionistisches Konzept. Für sie ist Mystik eine — bei Hegel vergangene, bei Bergson zukünftige — Gestalt eben dieses universalen, totalen Denkens. Da es für sie kein prinzipielles, sondern immer nur ein vorläufiges (oder falsch verstandenes) Außerhalb der Vernunft und der Erfahrung gibt, wird Mystik unter die Vernunftgestalten subsumiert. Mystik wird bei Hegel zur unvollkommenen und historisch überwundenen, bei Bergson zur optimalen und historisch erst zu verwirklichenden Gestalt der Metaphysik. Was wir hier vor uns haben, ist der — dem Ausgrenzungsgestus diametral entgegengesetzte — Gestus der Vereinnahmung des Mystikbegriffs durch den Vernunftbegriff, was nur möglich wird durch dessen problematische Entgrenzung. Eine zumindest implizite Gleichsetzung von Vernunft und Mystik erfolgt auch in der ihrem Charakter nach gänzlich anti-modernen Philosophie Alberts, die sich als Version eines vorkritischen und ahistorischen Piatonismus lesen läßt. In ihr gibt es weder Evolution noch eine Vermittlung verschiedener Denkformen. Das zentrale Thema 'der' Philosophie ist hier die 'bewußte Seinserfahrung', und deren un- und vorbewußte bzw. in nichtbegriffliche Bilder und Formen gekleidete Gestalten sind Erlebnismöglichkeiten, die in allen anderen, nichtphilosophischen Lebensbereichen stattfinden können — ganz besonders in Kunst und Religion. Ästhetische Erfahrung und mystisch-religiöse Erfahrung sind demnach als vor-bewußte Gestalten 'der' Philosophie anzusehen. Hat die Philosophie den Grundgedanken der 'Seinseinheit' einmal klar erfaßt, dann 'weiß' sie auch, was Mystik ist. Auch hier gibt es, wie bei Hegel und Bergson, kein Außerhalb der Vernunft mehr, wohl aber — dies entspricht der platonischen Hierarchievorstellung von den Stufen des Wissens — ein Unterhalb der Vernunft bzw. der Mystik. Das Unterhalb ist das gegenständlich-kategoriale Wissen, die 'gewöhnliche', d.h. alltägliche und wissenschaftliche Erfahrung. Zwischen diesen Stufen des Denkens und der Erfahrung gibt es nirgends eine Leiter, sondern immer nur einen Hiatus. Den Gedanken der

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Symboltheorie und Mystik

Seinseinheit faßt man — künstlerisch, religiös, aber auch philosophisch — allein durch eine von den 'niederen' Wissensformen abgehobene Intuition. Auch für James ist Mystik ein gegenüber der gegenständlich-vielheitlichen Erfahrung der Naturwissenschaften alternativer Typus von Erfahrung. Doch bemüht er sich um eine Vermittlung, die programmatisch einem beobachtenden, 'empirischen' Erfahrungsbegriff folgt und nicht einer vorgängig spekulativen Methode. Die verschiedenen Erfahrungstypen existieren nebeneinander und sind einander weder über- oder untergeordnet, noch schließen sie einander prinzipiell aus. Erfahrung ist für James eine vielfältige und heterogene Größe — dies gilt bereits für das Bedeutungsbündel 'religiöser Erfahrung', aber auch darüber hinaus — und nicht auf einen einzigen abstrakten Nenner zu bringen. Und jeder Erfahrungstypus, so auch der mystische, rechtfertigt sich durch das Kriterium 'pragmatischer Wahrheit'. Zweifellos erreichen die Mystikbegriffe James' und Bergsons — jener Philosophen also, die ich bereits im Abschnitt 1 als Referenzautoren für die Ausarbeitung einer adäquaten Erfahrungstheorie herangezogen habe — eine besonders weitgehende Kompatibilität zu besagter Erfahrungstheorie. Den Interpretationszusammenhang zwischen Mystik und Intuition bzw. elan vital hat Bergson in Les deux sources selbst herausgearbeitet. Bei James läßt sich ebenfalls — wenngleich nur in einer hermeneutischen Rekonstruktion — die systematische Verbindung zwischen Mystik und radikalem Empirismus herstellen: Mystik ist dann eine mögliche Form von Erfahrungskonstitution. Obwohl James und Bergson einen nicht unerheblichen Beitrag zur 'neuen' Erfahrungstheorie leisten, arbeiten sie — im Gegensatz zu Whitehead und Cassirer — den wichtigen Aspekt des Symbolcharakters der Erfahrung nur indirekt und ansatzweise aus, und auch ihre jeweilige Mystikkonzeption nimmt noch nicht ausdrücklich auf den Symbolcharakter aller Erfahrung Bezug. Das ist erst bei Whitehead und Cassirer der Fall. Für eine symboltheoretische Mystikkonzeption sind aber auch die Theorien von Mauthner und Derrida von Belang. Mauthners scheiternde 'Weltzugänge' des Substantivischen, Adjektivischen und Verbalen können nämlich als Symbolisierungen reformuliert werden, die im Spannungsfeld zum Nicht-Symbolisierbaren stehen und die aus dem Gewahrwerden dieser Nicht-Symbolisierbarkeit in ihrer Abgründigkeit deutlich werden. Mystik ist dann jener Punkt des Welterlebens, an dem der Intellekt sein Scheitern eingesteht und seine Symbolsysteme als ungültig zurücknimmt, allerdings mit einer wichtigen Konsequenz: Er weiß, daß dieses Außerkraftsetzen der 'Weltzugänge' nur punktuell möglich und sinnvoll ist und eine Rückkehr zu ihnen unumgänglich. Von symboltheoretischem Belang ist schließlich Mauthners spezielle Interpretation der mittelalterlichen Mystik, die den 'substantivischen' Weltzugang als Vehikel dafür genommen habe, die Referenzlosigkeit sämtlicher Weltzugänge auszudrücken. Diese These ist reformulierbar als These vom mystischen Symbol, das den Abgrundchrakter aller Symbolizität zum Ausdruck bringt. Während Mauthner einen systematischen Mystikbegriff behauptet, der — egal unter welchen zeitlichen und kulturellen Bedingungen sowie unabhängig von religiösen oder nichtreligiösen, theistischen oder atheistischen Kontexten — ein fundamentales Reflexionsproblem zum Ausdruck bringt, behandelt Derrida die Mystik als eine historische

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Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

Gestalt der Metaphysik bzw. als ein historisches Fehlverständnis der differance. Sprechen die Symboltheoretiker vom 'Symbolcharakter' der menschlichen Wirklichkeit, so spricht Derrida von deren 'Signifikantencharakter' und steht damit — indem er in seinen Schriften auch ausdrücklich auf Peirce Bezug nimmt, für den Symbole eine Untergruppe von Zeichen darstellen265 — in der Tradition der hauptsächlich vom Pragmatismus und Strukturalismus her entwickelten Semiotik. Symbol- und Zeichentheorie verfolgen ja vielfach eine gemeinsame Thematik und Methode. So können Derridas 'Signifikanten' ohne besondere Schwierigkeiten auch als 'Symbole' bezeichnet werden. Wir können demnach die differance als jenes sprachlich-schriftliche 'Symbolgeschehen' bezeichnen, das in seinem Dahinfließen ständig Fixierungen ausbildet, die sich zugunsten neuer und weiterer Fixierungen wieder auflösen. Was fixiert und wieder aufgelöst wird, ist Bedeutung. In der negativen Theologie, sagt Derrida, werde der Gesamthorizont des Abgrunds aller und jeglicher Bedeutung thematisiert — aber mit der (für den Dekonstruktivismus unhaltbaren) Konsequenz, diesen Horizont mit einer neuen Bedeutung auszustatten, die über oder jenseits aller Bedeutungen liegen soll. Zugleich räumt Derrida jedoch für die klassische Mystik ein Oszillieren zwischen dem Offenhalten des Abgrunds und seiner Stilisierung zur 'Hyperessentialität' ein.

2.4.2 Der Zusammenhang von Mystik, Philosophie und Kunst nach Whitehead266 Was Alfred N. Whiteheads Äußerungen über Mystik betrifft, so finden wir in seinen Hauptschriften nirgendwo eine ausdrückliche Thematisierung, sondern nur marginale Bemerkungen, in denen das Adjektiv 'mystisch' einige Male im pejorativ-umgangssprachlichen Sinn von 'dunkel' und 'obskurantistisch' verwendet wird. Dennoch läßt sich bei ihm auch ein 'positiver' Mystikbegriff nachweisen, der mit den Grundlinien der Prozeßphilosophie nicht nur kompatibel ist, sondern dem man — rekonstruktiv — in dieser Philosophie sogar einen nicht unerheblichen systematischen Stellenwert zubilligen kann. So heißt es in der Schlußpartie von Modes of Thought (1968)267 über den Zusammenhang von Philosophie und Mystik: "The use of philosophy is to maintain an active novelty of fundamental ideas illuminating the social system. It reverses the slow descent of accepted thought towards the inactive commonplace. If you like to phrase it so, philosophy is mystical. For mysticism is direct insight into depths as yet unspoken. But the purpose of philosophy is to rationalize mysticism: not by explaining it away, but by the introduction of novel verbal characterizations, rationally coordinated." (MT 174)

Philosophie und Mystik sind demnach nicht ein und dasselbe, aber auch nicht gänzlich unvergleichbare Größen. Gemeinsam ist ihnen die 'unmittelbare Einsicht in noch nicht zur Sprache gebrachte Tiefen' der menschlichen Erfahrung. Die Mystik als solche

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Symboltheorie und Mystik

bleibt — so läßt sich aus obigem Zitat folgern — bei dieser Einsicht stehen, die Philosophie hingegen — das betont Whitehead ausdrücklich — hat dieser Einsicht gegenüber eine 'Rationalisierungsaufgabe'. Sie darf nicht 'wegerklären', sondern hat für das bislang Nichtverbalisierte den geeigneten sprachlichen Ausdruck zu finden — aber nicht, wie man im Hinblick auf die klassische Mystik zu betonen hat, auf stammelnde und paradoxe Weise, sondern in 'rationaler Koordination'. Aus dem genannten Zitat ergeben sich keine weiterführenden Aufschlüsse darüber, was Whitehead unter 'Mystik' als einer eigenen, der Philosophie gegenüberstehenden Gestalt des menschlichen Geistes versteht, doch fährt der Autor mit einem Hinweis auf das Verhältnis von Philosophie und Poesie fort, aus dem auf die Mystik Rückschlüsse gezogen werden können: "Philosophy is akin to poetry, and both of them seek to express that ultimate good sense which we term civilization. In each case there is reference to form beyond the direct meanings of words. Poetry allies itself to metre, philosophy to mathematic pattern." (MT 174)

Der Zivilisationsprozeß ist für Whitehead ein — vielfältiger und komplexer — Symbolisierungsprozeß. 268 Philosophie und Poesie bedienen sich des gleichen Mediums, der Sprache, um Symbolisierungen zu schaffen und diesen Prozeß voranzutreiben. Doch die 'symbolische Referenz' — die Spannung zwischen Symbol und Bedeutung — drückt sich in Philosophie und Kunst ungleich schärfer und problematischer aus als in anderen Diskursen, etwa denen des Alltags oder der Wissenschaften. Ihre Form- bzw. Symbolgebung — d.h. vorerst: ihre sprachliche Artikulation — ist 'beyond the direct meanings of words'. Neue Bedeutungen sind da allererst zu erschaffen. Philosophie und Poesie sind deshalb — wenn das, was sie tun, gelingt — kreativ im emphatischen Sinn. Doch verbinden sie sich mit unterschiedlichen Typen sprachlicher Gestaltung: die Poesie mit 'Metrik' (d.h. wohl allgemeiner: mit sämtlichen Formalressourcen sprachlicher Rhythmik und Topik), die Philosophie hingegen mit logisch-mathematischen Denkmustern. Setzen wir beide Zitate miteinander in Beziehung, so ist in Whiteheads Verständnis zweifellos nicht nur der Philosophie, sondern auch der Poesie — und möglicherweise den Künsten insgesamt — eine 'mystische' Dimension zu attestieren. Sie alle sprechen je und je das bislang Unausgesprochene aus — und sind damit Geburtshelfer für 'Ideen', d.h. sie schaffen ein Neues, ein bislang nicht Dagewesenes. Damit treiben sie den Symbolisierungsprozeß der menschlichen Kultur vorwärts. Philosophie und Poesie sind 'mystisch' , weil sie sich vom Bekannten, Gewohnten und längst Ausgesprochenen (commonplace) ab- und dem Unbekannten, Ungewohnten und noch Unausgesprochenen zuwenden, um dieses zu symbolisieren. Man kann daher sagen: der Symbolisierungsprozeß als solcher ereignet sich in und aus einer 'mystischen' Verfassung der Wirklichkeit unseres Geistes. Die bislang — in der Interpretation des angeführten Textes aus Modes of Thought — ins Auge gefaßte Bedeutung von Mystik weist freilich kaum einen Bezug zu den besonderen Charakteristika der klassischen Mystik auf (All-Einheit usf.), sondern konnotiert

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Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

vornehmlich das 'Geheimnis' der Wirklichkeit im weitesten Wortsinn. Ein stärkerer Bezug zur 'eigentlichen' Mystik läßt sich in einem Gespräch aufzeigen, das Whitehead im Juni 1941 mit L. Price geführt hat und das von diesem in seinen Dialogues aufgezeichnet wurde. 269 In diesem Gespräch ist zuerst von der Relation von Endlichem und Unendlichem bei Piaton die Rede und davon, daß wir prinzipiell in einem offenen Horizont der Sinn- und Bedeutungsstiftung leben, dessen Offenheit, so Whitehead, als Herausforderung und Aufgabe zu begreifen sei: "This relationship between the infinite and the finite is what I was coming to. Our minds are finite, and yet even in these circumstances of finitude we are surrounded by possibilities that are infinite, and the purpose of human life is to grasp as much as we can out of that infinitude. I wish I could convey this sense I have of the infinity of the possibilities that confront humanity — the limitless variations of choice, the possibility of novel and untried combinations, the happy turns of experiment, the endless horizons opening out. As long as we experiment, as long as we keep this possibility of progressiveness, we and our societies are alive; when we lose them, both we and our societies are dead, no matter how externally active we and they may be, no matter how materially prosperous they and we may appear. And nothing is easier to lose than this element of novelty. It is the living principle in thought, which keeps all alive." (D 163)

L. Price, der Gesprächspartner, setzt dieses whiteheadsche 'Lebensprinzip des Neuen' in Verbindung zur mystischen Erfahrung der All-Einheit und stellt die Frage: "How much validity do you give that sense of oneness which we sometimes have — that sense of our individuality being merged into the all? One is anxious not to talk moonshine about this, the more if, like me, he is neither a metaphysician nor a psychologist. And yet I know that those moments are so memorable, the sense of it is so strong, that years later, ten, perhaps, one can reach back into it as if it were only yesterday or today and create out of it something living and new." (D 163 f.)

Whitehead äußert sich daraufhin detaillierter über Mystik, die er als 'Kommunikation mit dem Unendlichen' bezeichnet und als eine Erfahrung, die mit einer Absicht verbunden sei und aus der Folgen entstehen und die sich selbst als einen erinnerbaren Faktor in die sich weiterentwikkelnde Erfahrung einbringen möchte: "Mysticism [...] leads us to try to create out of the mystical experience something that will save it, or at least save the memory of it. Words don't convey it except feebly; we are aware of having been in communication with infinitude and we know that no finite form we can give can convey it. [...] Out of this effort to save the mystical experience [...] in the hope of creating a form which will preserve the experience for ourselves and possibly for others, comes clarification — in a thought or perhaps an art-form; and that clarification is then turned into some form of action. ... Mysticism, clarification, action; I have never put it in that form before; but that is the order in which I would state it." (D 164)

Die Abfolge 'mysticism/clarification/action' wirft auf die Funktion, die Whitehead der mystischen Erfahrung zuschreibt, ein erhellendes Licht. Die Abfolge der drei Aus-

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Symboltheorie und Mystik

drücke beschreibt die sich stufenweise selbst organisierende Erfahrung, sofern sie ihren Ausgang aus der All-Einheitserfahrung nimmt. Diese tendiert zwar dazu, das Ich und jede einzelne Gewißheit zu entgrenzen und aufzulösen, doch sieht sie sich dazu veranlaßt, sich selbst — die All-Einheitserfahrung — für den Erlebenden und für die anderen, mit denen er kommuniziert, begreifbar und memorierbar zu machen. Das heißt unter den Voraussetzungen der whiteheadschen Prozeßphilosophie: Die Mystik, deren spezielle Erfahrung am Grund und Abgrund aller denkbaren Symbolisierung und damit gewissermaßen am Anfang der Kultur und des menschlichen Geistes steht, will sich selber symbolisieren. Dabei stößt sie auf Symbol- bzw. Sprachgrenzen, die aber nicht ein für allemal als Grenzen feststehen und die nicht prinzipiell undurchdringlich sind, sondern nur eine im Hinblick auf andere Erlebnissituationen verschärfte und problematisierte Herausforderung des Symbolisierungsbemühens darstellen. 'Clarification' meint offenkundig nicht nur 'begriffliche Klärung', sondern ist — da Klärung im Kontext nichts anderes bedeutet als Form- bzw. Symbolgebung — am prägnantesten wohl mit 'Symbolisierung' zu übersetzen. Die Symbolisierung des Entstehungskontextes von Symbolisierung — so ließe sich Mystik demnach umschreiben — kann nun verschiedene Wege gehen. Eine Möglichkeit, sagt Whitehead, sei die Kreation künstlerischer Formen (Price hatte vorher die Rede auf das Medium Musik gebracht). 270 Eine andere Möglichkeit wurde in Modes of Thought erwähnt: nämlich die Philosophie als 'Rationalisierung' der Mystik. Eine dritte Möglichkeit — von Whitehead im Zusammenhang mit Mystik zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber in den Zusammenhang passend — wäre die Religion. 271 Wenn wir 'clarification' also mit 'Symbolisierung' wiedergeben, so wäre diese Whitehead-Interpretation mit einer nicht unwichtigen Klärung des Symbolbegriffs verbunden. Symbolisierungen entstehen aus einem vor-symbolischen Kontext ('mysticism') und drängen zu welthaften, lebenspraktischen Handlungen ('action'). Damit ist das Spannungsfeld der Autopoiesis von Symbolisierung bezeichnet. Hinter und vor aller Symbolisierung steht der Kontext der mystischen Erfahrung, die — sobald sie in unserem Nachdenken über die Erfahrung ausdrücklich wird — selbst zu Symbolisierung und daraus folgender Aktion drängt. Wo diese Aktivität nicht mehr oder nur noch unzureichend stattfindet — wie, Whiteheads Urteil zufolge, in den Kulturen Indiens und Chinas272 — bleibt das Leben, bleiben die Symbolisierungen und daher die Kultur insgesamt hinter ihren Möglichkeiten zurück und gefährden, durch den Verzicht auf das 'Prinzip des Neuen', sich selbst. Mystik im Sinne Whiteheads, so läßt sich resümieren, ist ein konstitutives Moment des Symbolisierungsprozesses selbst. Dieser zielt stets auf die kreative Hervorbringung von 'Neuem' ab. Das Neue ist zugleich das Authentische in unserem Erleben, in dem sich — durch 'Schließung der Form' — eine Erfahrung in eine vorläufige Gestalt, d.h. zu einem vorläufigen Ergebnis und Abschluß bringt. Die 'Schließungen der Form' — seien es nun philosophische oder wissenschaftliche Begriffe und Theorien, seien es Kunstwerke oder religiöse und moralische Ideen — können (und sie tun das auch in der Regel) ihres authentischen Charakters verlustig gehen und zu stumpfen Gebrauchsmustern menschlichen Weltverhaltens absinken. Das Gewohnte, Geläufiggewordene und Längst421

Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Artikulierte in der Kultur ist 'geronnene' Symbolisierung, die keine nennenswerte Spannung mehr zu ihrer 'Bedeutung' — die man ja problemlos zu kennen glaubt — aufweist. Nur wo um Symbole und ihre Bedeutungen gerungen wird, wo Symbole das Ergebnis und der Ausdruck ernsthafter Rückbesinnung auf den vor-symbolischen Grund aller Bedeutung sind, gibt es Erfahrung im emphatischen Sinn und gibt es wirklichen Fortschritt. Aufgabe der Philosophie ist es daher, dem Absinken der Ideen zu Gemeinplätzen und dem tendenziellen Sichverschließen des Innovationshorizontes reflexiv und kreativ entgegenzuwirken.

2.4.3 Cassirers Überlegungen zur Mystik: Die 'Dialektik des mythischen Bewußtseins'273 Whitehead steht in der Tradition des englischen Denkens, das — im Gegensatz zum kontinentaleuropäischen — niemals einen scharfen Schnitt zwischen Religion und Philosophie gemacht hat. Demgemäß befaßt sich Whitehead nicht nur guten Gewissens auch noch im 20. Jahrhundert mit Fragen der metaphysica specialis, sondern stuft auch das religiös-mystische Erlebnis als historisch nach wie vor gegebene Möglichkeit ein — abgesehen davon, daß er Mystik offenbar nicht auf die religiöse Ebene beschränkt, sondern sie als Grund jeglicher Symbolisierung betrachtet. Für Cassirer, der in Kants Transzendentalphilosophie die bedeutsame Zäsur in der Geschichte des Denkens sieht und der darüber hinaus dem hegelschen Modell der einander abfolgenden Geschichtsepochen und Denkstile verpflichtet ist, ergibt sich ein mit Whiteheads Taxierung zwar verwandter, aber in entscheidenden Punkten dennoch abweichender Mystikbegriff. Für Cassirer ist Mystik fast durchgängig nur ein religiöses und außerdem ein historisch vergangenes bzw. ein Phänomen, dessen Problemstellung von der Philosophie mittlerweile durchschaut und — der Religion gegenüber — mit geeigneteren Denkmitteln einer Lösung zugeführt werden kann. Diese Ansicht hängt mit Cassirers Verhältnisbestimmung von Religion und Philosophie zusammen. Diese bringt jene zwar nicht — im Sinne Hegels — 'auf den Begriff', und jene geht auch nicht — wiederum im Sinne Hegels — aus dieser auf der Bahn einer gemeinsamen Entwicklungslinie hervor. Die symbolischen Formen entstehen vielmehr wie die Blätter einer Rosette274 aus dem gemeinsamen Mittelpunkt der Symbolisierungstendenz des menschlichen Geistes und stehen nicht in einer gemeinsamen Hierarchie. Dennoch gelangt die Religion — wie Cassirer im Schlußteil des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen (PhSF II) ausführt — an immanente Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, das von ihr gestellte 'religiöse Problem' auf einen befriedigenden Punkt der Betrachtung hinzuführen. Worin dieses 'religiöse Problem' — oder, wie sich Cassirer bevorzugt ausdrückt: die 'religiöse Form' — besteht, soll im folgenden referiert werden. Cassirers These über Mystik besteht — das sei vorweggenommen — darin, daß Mystik eine letzte Gestalt in der Entwicklung des mythisch-religiösen Denkens sei, die dessen Grundproblematik in besonderer Weise verdeutliche — eine Gestalt, die jedoch der aus dem Vergleich verschiedener symbolischer Formen sich ergebenden Erfahrung nicht

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Symboltheorie und Mystik

standhalte und deren Problemstellung philosophisch reformuliert und aufgelöst werden könne. Zu bemerken ist, daß sich Cassirer — wie die meisten Philosophen — nicht eigens und explizit mit Mystik beschäftigt, sondern im Rahmen der von ihm gestellten (historischen wie systematischen) Fragestellungen auf Mystik zu sprechen kommt. Hinsichtlich des Verhältnisses der historischen und systematischen Arbeiten Cassirers ist zu bemerken, daß diese nur schwer voneinander zu trennen sind, da er zum einen in seinen systematischen Arbeiten ausgiebig auf historisches Illustrationsmaterial zurückgreift und zum anderen in seinen historischen Studien die 'Philosophie der symbolischen Formen' als Rekonstruktionsmethode verwendet. Dies gilt durchgängig für alle Arbeiten seit Anfang der 20er Jahre. Schließlich ist noch anzuführen, daß Cassirers frühe und späte Äußerungen zur Mystik nahtlos zueinander passen, so daß diesbezüglich von einem Standpunkt, nicht aber von einer Entwicklung dieses Standpunkts mit allfälligen Revisionen gesprochen werden kann. Es ist daher nicht nötig, daß ich mich in der folgenden Darstellung streng an die Chronologie der Äußerungen Cassirers halte. Ich beginne mit seiner Studie von 1927 zur Renaissancephilosophie, erörtere anschließend seine mystikbezogenen Überlegungen aus dem Anfangskapitel von Der Mythus des Staates sowie aus dem Schlußkapitel des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen, und ich nehme darüber hinaus — zum Zweck der Verdeutlichung und Illustration — auch auf einschlägige Stellen aus weiteren cassirerschen Schriften Bezug. *

Zwar gibt es für Cassirer eine "Mystik aller Zeiten und aller Völker" (WS 137 und PhSF II, 277), aber wenn er von Mystik spricht, hat er fast immer die christlich-mittelalterliche Mystik mit Referenzautoren wie Dionysius Areopagita, Eckhart und Seuse im Blick. Diese Mystik setzt er gleich mit 'negativer Theologie' und sieht sie nicht im strengen Sinn als eine Form philosophischer Reflexion an, sondern als eine Form religiösen Gefühls, das — dem Denken gegenüber — zugleich auch die Grenzen dieser Form bezeichne. In seiner Studie über Cusanus275 formuliert er den Grundgedanken der negativen Theologie in einer sehr gängigen, keinesfalls originellen Fassung. Die negative Theologie behaupte, "daß Gott, daß das absolute Sein über jede Möglichkeit der positiven Bestimmung hinausliegt, daß er nur durch negative Prädikate zu bezeichnen und nur in dem Hinausgehen, in der Transzendenz über alle endlichen Maße, Proportionen und Vergleichungen zu fassen sei" (IK, 8). Cusanus nehme, so Cassirer, diesen Gedanken der traditionellen Mystik auf, verändere ihn aber in zweifacher Richtung, die "auf eine völlig neue geistige Gesamtorientierung" (IK 8) hinauslaufe, so daß Cusanus zwar als Fortsetzer, nicht aber mehr als eigentlicher Vertreter der mittelalterlichen Mystik gelten könne: Er verabschiede — erstens — die (bei Dionysius Areopagita im Zentrum seiner Ontologie stehende) Hierarchiekonzeption zugunsten der Konzeption einer unmittelbaren Beziehung aller Dinge und Schöpfungsformen zu Gott:

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Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

"Für die mystische Gedankenstimmung kann schlechthin jeder Punkt des Seins zum Anknüpfungspunkt für diese Beziehung werden: denn in jeglichem einzelnen läßt sich die "Spur Gottes" erkennen, läßt er selbst sich, im Abglanz des Endlichen, erschauen." (IK, 57) "Wenn die neue Form der Kosmologie uns darüber belehrt, daß es in der Ordnung des Kosmos kein absolutes Oben oder Unten gibt, daß kein Körper dem göttlichen Urquell des Seins ferner oder näher steht, sondern daß jeder 'unmittelbar' zu Gott ist, — so entspricht diesem Gedanken jetzt eine neue Form der Religion und der religiösen Gesamtstimmung." (IK, 29)

Und — zweitens — solle nunmehr der "Gegensatz zwischen dem Sein des Absoluten und des Empirisch-Bedingten, des Unendlichen und des Endlichen [...] nicht mehr dogmatisch gesetzt, sondern [...] aus den Bedingungen der menschlichen Erkenntnis begriffen werden" (IK 8). Diese Bedingungen seien von den Mystikern für unerkennbar gehalten, von den Scholastikern hingegen inadäquat — durch falsche Abstraktionen — verbegrifflicht worden. (Cassirer hält, wie hier ersichtlich wird, an der problematischen Dichotomie von Mystik und Scholastik fest.) Das 'wahrhafte Organ' der Erfassung der GottMensch-Beziehung sei bei Cusanus nicht das Gefühl, sondern "die intellektuelle Schau, die 'visio intellectualis'" (IK, 14). Dieser — bekanntlich von Fichte und Schelling wieder aufgenommene — Begriff weise 'über die traditionelle Mystik hinaus'. Cassirer meint, das Problem der Mystik finde seine Lösung erst in der idealistischen Philosophie. 276 Gefühlslastigkeit und Verzicht auf Reflexion wird auch der franziskanischen, auf die gesamte Natur sich erstreckenden Liebesmystik vorgeworfen. Ihr "fehlt die Erkenntnis, die dieser Art von Liebe gemäß ist, und die ihr gerecht zu werden vermöchte", während Cusanus "auch die spekulative Rechtfertigung der Natur fordert und sucht" (IK, 56). Cusanus reklamiere — das sei seine neue, in die Moderne weisende Forderung — die mathematische Logik als Symbolisierungsmittel für die Gott-Mensch-Beziehung: "Sie soll fortan das Mittel abgeben, kraft dessen wir uns über die Sphäre des mystischen Gefühls in die des intellektuellen Schauens erheben. Hier erst gelangt die Gottesliebe des Mystikers zu ihrer Erfüllung und zu ihrem wahrhaften Ziel: denn es gibt für Cusanus keine wahrhafte Liebe ohne einen Akt der Erkenntnis, auf den sie sich stützt." (IK, 56)

In der Cusanus-Studie steht der Begriff der Mystik also ganz im Zeichen seiner — angeblichen — historischen Überwindung durch die moderne idealistische Philosophie, als deren Antizipator Cusanus dargestellt wird. Cassirers evolutives Philosophieverständnis zielt freilich insgesamt nicht auf eine prinzipielle Abwertung, sondern auf die Betonung des 'relativen Rechts' vergangener Denk- und Kulturformen. So findet sich bei ihm der aufklärerisch-polemische Gebrauch der Vokabel Mystik nur an entlegener Stelle.277 Wenn er im Versuch über den Menschen Levy-Bruhls These vom 'prälogischen' qua 'mystischen' Denken referiert, ohne diese Gleichung ausdrücklich zu kritisieren 278 , so geht aus dem — etwa um die gleiche Zeit verfaßten — Eingangskapitel von Der Mythus des Staates deutlich hervor, daß für Cassirer Mystik nicht ein erstes, ursprüngliches und primitives Denken ist, sondern — auch wenn sie den Primat des Ge-

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Symboltheorie und Mystik

fiihls und des Glaubens gegen den Primat des Denkens und der Philosophie verteidigt — die Gestalt einer fortgeschrittenen Kulturentwicklung und eine Gestalt subtiler (wenngleich vorphilosophischer) Reflexion. Das Eingangskapitel des Spätwerks Der Mythus des Staates ("Was ist Mythus?") 279 resümiert — aus der Distanz von zwei Jahrzehnten und in knapper Weise, wenngleich deutlich vermehrt um philosophiehistorische Bezüge — die Ergebnisse des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen (1925), handelt also über die symbolische Form Mythos/Religion. Obwohl — im Gegensatz zur (im folgenden noch eigens zu referierenden) Darstellung der PhSF II — nicht mehr von der 'Dialektik des mythischen Bewußtseins' und von Mystik als einer prägnanten Gestalt dieser Dialektik die Rede ist, wird Mystik mehrfach erwähnt und insbesondere zur philosophischen Reflexion in Beziehung gebracht. Sie sei zwar, sagt Cassirer, durch Gefühl und Einheitsspekulation charakterisiert, doch nicht auch schon mit diesen Motiven identisch. Es gebe — das hatte bereits James herausgearbeitet — recht unterschiedliche Einheitskonzeptionen: "In allen menschlichen Tätigkeiten und in allen Formen menschlicher Kultur finden wir eine 'Einheit in der Vielfalt'. Kunst gibt uns eine Einheit der Intuition; Wissenschaft gibt uns eine Einheit des Denkens; Religion und Mythus geben uns eine Einheit des Fühlens. Kunst öffnet uns das Universum der 'lebenden Formen'; Wissenschaft zeigt uns ein Universum von Gesetzen und Prinzipien; Religion und Mythus beginnen mit dem Gewahrwerden der Universalität und grundsätzlichen Identität des Lebens." (MS, 53)

Dabei sei es "nicht nötig, daß dieses alles durchdringende Leben in einer persönlichen Form erfaßt werden muß" (MS 53). Unpersönliche Götter und selbst das Gleichgültigwerden und Verschwinden der Götter aus der Religion sei möglich. Im Dionysoskult der Griechen zeige sich "ein Urgefühl der Menschheit, ein Gefühl, das den primitivsten Riten und den verfeinertsten, vergeistigtesten mystischen Religionen gemeinsam ist. Es ist die tiefe Sehnsucht des Individuums, von den Fesseln seiner Individualität befreit zu werden, sich in den Strom des universalen Lebens zu tauchen, seine Identität zu verlieren, im Ganzen der Natur aufzugehen — dieselbe Sehnsucht, die in den Versen des persischen Dichters Maulana Jalal-eddin Rumi ausgedrückt ist: 'Wer die Macht des Tanzes kennt, wohnt in Gott.' Die Macht des Tanzes ist für den Mystiker der wahre Weg zu Gott. In dem delirienhaften Wirbel des Tanzes und der orgiastischen Riten verschwindet unser eigenes bestimmtes und begrenztes Selbst. Das Selbst, der 'dunkle Herr', wie es bei Rumi genannt wird, stirbt; der Gott wird geboren." (MS, 58)

Hier handelt es sich nach Cassirer um 'primitive Gefühle', die zwar in der weiteren Kultur- und Religionsentwicklung fortwirken, zu denen die Religion aber 'nicht einfach zurückkehren' kann. Sie muß sich im Laufe ihrer Entwicklung, die verstärkte und verfeinerte intellektuelle Ansprüche mit sich bringt, um eine subtilere Form des Umgangs mit dem All-Einheitsgefühl bemühen, als es im archaischen Ritus geschieht. Dies erreicht sie — was in Der Mythus des Staates freilich nicht näher ausgeführt wird — vor allem in den Formen der Mystik.

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Bemerkenswert ist, daß Cassirer in seinen Ausführungen kaum je von 'philosophischer Mystik' spricht, sondern Mystik im wesentlichen stets als Domäne der Religion betrachtet — daß er innerhalb der Philosophie zwar eine Auseinandersetzung mit mystischen Tendenzen stattfinden sieht, niemals aber eine Festlegung der Philosophie auf eben diese Tendenzen gutheißt. Philosophie, meint er, behaupte sich vielmehr in der Abwehr und Überwindung dieser Tendenzen. Dies gelte bereits für Piaton, der "trotz seiner tiefen Sehnsucht nach der unio mystica, nach einer vollständigen Einheit der menschlichen Seele mit Gott, [...] nie ein Mystiker im Sinne von Plotin und den anderen Denkern der neuplatonischen Schule" (MS 85) gewesen sei. Plotin und der Neuplatonismus schneiden in Cassirers philosophiegeschichtlicher Bewertung besonders schlecht ab. Schon 1926 (in IK) hieß es dazu: "Plotin und der Neuplatonismus suchen das Grundmotiv des Platonischen und des Aristotelischen Denkens zu vereinen; aber sie bringen es, systematisch betrachtet, nur zu einer eklektischen Mischung beider. Das Neuplatonische System ist beherrscht vom Platonischen Gedanken der 'Transzendenz' — des absoluten Gegensatzes zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen, der ganz in Platonischen Wendungen beschrieben, j a der dem Ausdruck nach noch überboten wird. Aber indem nun gleichzeitig der Aristotelische Entwicklungsbegriff aufgenommen und angeeignet wird, löst sich die dialektische Spannung, die für das Platonische System unaufheblich war. Die Platonische Kategorie der Transzendenz und die Aristotelische der Entwicklung zeugen miteinander den Bastardbegriff der 'Emanation'. Das Absolute bleibt als das Über-Endliche, als das Über-Eine und Über-Seiende, rein in sich selbst; aber nichtsdestoweniger tritt es kraft des in ihm bestehenden Überflusses aus sich heraus und erzeugt in diesem Überfluß die Mannigfaltigkeit der Welten bis herab zur formlosen Materie, als der äußersten Grenze des Nicht-Seins. Die Betrachtung der Pseudo-Dionysischen Schriften hat uns gezeigt, wie das christliche Mittelalter diese Voraussetzung aufnahm, und wie es sie in seinem Sinne umbildete. Was es daraus gewann, war die Grundkategorie der stufenweisen Vermittlung, die auf der einen Seite die göttliche Transzendenz bestehen ließ, um sie auf der andern Seite, im Gedanken einer Hierarchie der Begriffe und einer Hierarchie der geistigen Kräfte, theoretisch wie praktisch zu bewältigen. Im Wunder der kirchlichen Heils- und Lebensordnung war jetzt die Transzendenz sowohl anerkannt wie besiegt — in ihm war für den Menschen das Unsichtbare sichtbar, das Unbegreifliche faßbar geworden." (IK, 19)

Wesentlich für den Neuplatonismus und die Mystik insgesamt sei also die Aufhebung der bei Piaton maßgeblich bleibenden Spannung zwischen Dies- und Jenseits, das Zuschütten und Verschwinden des chorismos zugunsten eines — wie man sagen könnte — bloß 'erschlichenen' Gefühls der Einheit und Homogeneität des Wirklichen. Bei Piaton hingegen gebe es durchgängig "eine andere Macht, um der Macht des mystischen Denkens und Fühlens die Waage zu halten. Piaton läßt keine mystische Ekstase zu, durch welche die menschliche Seele die unmittelbare Vereinigung mit Gott erreichen kann. Das höchste Ziel, die Erkenntnis der Idee des Guten, kann auf diesem Wege nicht erreicht werden. Es bedarf sorgfältiger Vorbereitung und langsamen methodischen Aufstiegs. Das Ende kann nicht durch einen Sprung erreicht werden. Die Idee des Guten in ihrer vollkommenen Schönheit kann nicht in einer plötzlichen Begeisterung des menschlichen Geistes geschaut werden. Um sie zu schauen und zu verstehen, muß der Philosoph den 'längeren Weg' wählen, den Weg, der ihn von Arithmetik zu Geometrie, von Geometrie zu Astronomie, von Mathematik zu Dialektik führt. Keiner dieser

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Symboltheorie und Mystik

Zwischentritte kann ausgelassen werden. Das mystische Denken in Piaton war sowohl durch sein logisches wie durch sein politisches Denken gehemmt. Seine Logik schrieb ihm eine bestimmte Ordnung vor — einen regelmäßigen Anstieg und Abstieg. Seine Ethik und seine Politik befahlen ihm immer, von dem 'Himmlischen Staat' zu dem menschlichen und irdischen Staate zurückzublicken, dessen Aufgaben zu erfüllen und für dessen Bedürfnisse zu sorgen." (MS 86)

Cassirer zeichnet hier ein Bild der Mystik, wonach diese zwar aus der Spannung zwischen Dies- und Jenseits, zwischen sinnlich-empirischer und idealer Welt entsteht, aber nicht innerhalb dieser — für unsere Welterfahrung schlechthin konstitutiven und von der Philosophie aufrecht zu erhaltenden — Spannung verbleibt, sondern diese ausblendet und so zum Verschwinden bringt. Mystik ist nach Cassirer eine Haltung reiner Kontemplation und des Verzichts auf Handeln. Ekstase statt Reflexion, unvermittelter Sprung in die Transzendenz statt geordnetem, stufenweisem 'Weg' dorthin seien für die Mystik — im Gegensatz zur Philosophie — charakteristisch. Das 'itinerarium mentis in deum' der mittelalterlichen Spekulation sei "grundverschieden von der platonischen Beschreibung des Aufstieges der Seele zur intelligiblen Welt" (MS 113). "Kategorisch und kompromißlos" seien die Mystiker, sagt Cassirer im Zusammenhang mit Bernhard von Clairvaux, "in ihrer Verurteilung der Vernunft" (MS, 125). Daß Cassirer hier seinen Mystikbegriff nicht ausreichend durchdenkt, daß er hier vielmehr die widersprüchlichen Momente des geläufigen 'geistesgeschichtlichen' Mystikbegriffs ohne Rücksicht nebeneinanderstellt, ist offenkundig. Bernhard von Clairvaux ist, wie viele andere Mystiker — einschließlich des von Cassirer vielfach als Gewährsmann für die Mystik angeführten Meister Eckhart — unbezweifelbar ein 'Tatmensch' und demonstriert das gerade Gegenteil von Weltflucht und Passivität. Und wer wollte ernsthaft behaupten, Eckhart bemühe sich nicht ausdrücklich und in positiver Weise um den Begriff der Vernunft, und sein Reden und Denken lasse sich einzig und allein von Gefühlen leiten? Diese Ungenauigkeiten und Einseitigkeiten Cassirers bei seinen historischen Zuweisungen schließen aber nicht aus, daß seine systematische Placierung der Mystik, wie er sie vor allem in der Philosophie der symbolischen Formen sowie in einigen kleineren Arbeiten der 20er Jahre vornimmt, sowohl für eine allgemeine Phänomenologie der Mystik als auch für das systematische Verständnis der Philosophie der symbolischen Formen von erheblichem Interesse ist.280 *

In der Philosophie der symbolischen Formen ist von Mystik zum ersten Mal in Band I am Schluß der Einleitung die Rede, und zwar im Zusammenhang mit der allgemeinen Frage, inwiefern die symbolischen Formen authentischer Ausdruck von Realität seien. Wir erfassen die Realität, sagt Cassirer, prinzipiell nur über Symbole, denn das Strömen der reinen Empfindung ergibt für uns keinerlei Haltepunkt und keinerlei Orientierung. Jede Symbolisierung ist eine Gestalt der Erfahrung, die andere Erfahrungsgestalten ausblendet oder zumindest verzerrt. Jede Symbolisierung bedeutet Entfremdung und damit ein gewisses Maß an Unwahrheit gegenüber dem reinen Empfindungsstrom. Und 427

Mystikdiskussion und neuere Philosophie

doch ist dieser Empfindungsstrom nicht eigentlich und unmittelbar zu erfassen, weder im Denken noch im Gefühl, weder in einer symbolischen Form noch außerhalb ihrer. Demnach sei die Intuition und Unmittelbarkeit, von der die moderne Lebensphilosophie — in der sich die neuzeitliche Subjektivitätsphilosophie zuspitze — spreche, eine Fiktion. Es gebe die Spannung zwischen Vermittlung und Unmittelbarkeit, zwischen Symbol und Erfahrungssubstrat, doch drücke sich diese Spannung im Symbol und über das Symbol aus. Es gebe kein 'Außerhalb' des Symbols. 281 Zu erinnern ist daran, daß Cassirer die symbolische Form ja von vornherein als Dynamik einer mehrfachen Relation definiert: als 'geistige Energie', die ein materiell-sinnliches 'Zeichen' mit einer 'geistigen Bedeutung' versieht. Dieses Bedeutung-Verleihen ist ein Grundakt, der nicht mit den bereits fertigen Größen von Zeichen und Bedeutung operiert, sondern vielmehr in einer lebendigen Bewegung — einer Orientierungsbewegung des menschlichen Geistes — sich selbst und diese Größen erst konstituiert. Das Entstehen und der Gebrauch von Symbolen erfolgt in einem offenen Horizont der Konstituierung von Bedeutung und verändert laufend den Horizont selbst. Es gibt daher — ganz im Sinn der von Whitehead beschriebenen 'symbolischen Referenz' — niemals eine starre und vollständige Entsprechung von Symbol und Bedeutung, sondern immer nur eine veränderliche und unvollständige. Es ist dies der systematische Punkt, an dem Cassirer später — im Versuch über den Menschen — eine terminologische Scheidung von Symbol und Zeichen vornehmen wird: Zeichen bzw. Signale haben eine 'geschlossene', Symbole eine 'offene' Bedeutung. Jene erscheinen determiniert und sind auch im Tierreich anzutreffen, diese sind Ausdruck eines Freiheitsgeschehens und spezifisch menschlich. Dennoch, meint Cassirer, sei das Problem der Repräsentation, auch wenn es prinzipiell nicht aufgehoben werden könne, in seiner Entfremdungsdimension ernstzunehmen, denn "je weiter wir in der Richtung auf das Symbolische, auf das bloß-Signifikative fortschreiten, um so mehr trennen wir uns vom Urgrund der reinen Intuition" (PhSF I, 49). Die Repräsentationsfrage müsse als Problem behandelt und dürfe nicht einfach übersprungen werden. Mit "diesem Problem und diesem Dilemma" habe sich unter anderem "die philosophische Mystik" — hier begegnet ausnahmsweise das Epitheton 'philosophisch' — auseinandergesetzt, aber "auch die reine Logik des Idealismus hat es wiederholt aufs schärfste erfaßt und bezeichnet" (ebda.). Cassirer nennt Piaton, Leibniz und Kant als Gewährsmänner, die allesamt dafür plädierten, die Kluft zwischen der Repräsentation und ihrem Substrat offenzulassen und dennoch die Spannung zwischen den beiden Welten dies- und jenseits der Kluft nicht außer Kraft zu setzen, denn diese Spannung sei das Lebenselixier der Repräsentation. Hier nun knüpft Cassirer mit seiner eigenen Symbolphilosophie an, deren Aufgabe er als klare Alternative gegenüber der Strategie der Mystik beschreibt. Für diese ergebe sich folgende Diagnose der durch Zeichen bestimmten Wirklichkeit: "Die Fülle der Bilder bezeichnet nicht, sondern verdeckt und verhüllt das bildlos-Eine, das hinter ihnen steht und auf das sie, wenngleich vergeblich, abzielen. Nur die Aufhebung aller bildlichen Bestimmtheit, nur die Rückkehr zu dem 'lauteren Nichts', wie es in der Sprache der Mystik heißt, kann uns zu dem echten Ur- und Wesensgrund zurückführen." (PhSF I, 50)

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Symboltheorie und Mystik

Mystik sei demnach der Versuch, das Repräsentationsproblem durch die Zurücknahme aller 'Bilder', d.h. jeglicher Symbolik, zu lösen. Das aber führe zu einem Ende der Wirklichkeitserfassung selbst. "Die Negation der symbolischen Formen würde [...], statt den Gehalt des Lebens zu erfassen, vielmehr die geistige Form zerstören, an welche dieser Gehalt sich für uns notwendig gebunden erweist." Die Philosophie müsse "den umgekehrten Weg" gehen und dürfe "nicht das Ideal einer passiven Schau der geistigen Wirklichkeiten" verfolgen, sie habe sich vielmehr "mitten in ihre Aktivität selbst" hineinzuversetzen (PhSF I, 51). In diesem Zusammenhang kritisiert Cassirer die Lebensphilosophie und dabei im besonderen — wie aus einer Parallelstelle in Zur Logik der Kulturwissenschaften deutlich wird 282 — Simmeis Entgegensetzung von 'Kultur' und 'Leben'. Cassirer, der seine 'Philosophie der symbolischen Formen' ausdrücklich als 'Kulturphilosophie' bezeichnet, will die Kultur — das Insgesamt der Symbolsysteme — nicht als einen wegnehmbaren Schleier über dem Leben betrachtet wissen: "Die eigentliche, die tiefste Aufgabe einer Philosophie der Kultur, einer Philosophie der Sprache, der Erkenntnis, des Mythos usf. aber scheint eben darin zu bestehen, diesen Schleier aufzuheben — von der vermittelnden Sphäre des bloßen Bedeutens und Bezeichnens wieder in die ursprüngliche des intuitiven Schauens zurückzudringen. Aber auf der anderen Seite widerstreitet gerade das eigentümliche

Organ,

über welches die Philosophie allein verfügt, der Lösung dieser Aufgabe. Für sie, die sich erst in der Schärfe des Begriffs und in der Helle und Klarheit des 'diskursiven' Denkens vollendet, ist das Paradies der Mystik, das Paradies der reinen Unmittelbarkeit, verschlossen. Hier bleibt daher für sie kein anderer Ausweg, als die Richtung der Betrachtung umzukehren. Statt den Weg zurückzutun, muß sie versuchen, ihn nach vorwärts zu vollenden." (PhSF I, 51)

Dieses Vorwärtsgehen und Vollenden meint: Es gehe nicht darum, einen vor-symbolischen Bereich zu erkunden, der angeblich mit der Symbolik noch nichts zu tun hat, sondern darum, die Symbolik in ihrem Gesamtprozeß nach allen Seiten hin und in allen Dimensionen zu bedenken. Die Forderung nach unvermittelter Erkenntnis sei obsolet. In der vorhin erwähnten Parallelstelle — sie steht im Aufsatz "Die 'Tragödie der Kultur' "283 — sagt Cassirer über den Lebensphilosophen Simmel 284 , dieser spreche

"in Wahrheit die Sprache des Mystikers. Denn es ist die geheime Sehnsucht aller Mystik, sich rein und ausschließlich in das Wesen des Ich zu versenken, um in ihm das Wesen Gottes zu finden. Was zwischen dem Ich und Gott liegt, das empfindet sie nur als eine trennende Schranke. Und dies gilt nicht minder von der geistigen Welt, als es von der physischen Welt gilt. Denn auch der Geist besteht nur dadurch, daß er sich ständig entäußert. Er schafft unaufhörlich neue Namen und neue Bilder; aber er begreift nicht, daß er sich in dieser Schöpfung dem Göttlichen nicht nähert, sondern mehr und mehr von ihm entfernt. Die Mystik muß all die Bildwelten der Kultur verneinen, sie muß sich von 'Name und Bild' befreien. Sie fordert von uns, daß wir auf alle Symbole verzichten und daß wir sie zerbrechen. Sie tut dies nicht in der Hoffnung, daß wir damit das Wesen des Göttlichen erkennen können. Der Mystiker weiß, und er ist tief davon durchdrungen, daß alles Erkennen sich immer nur im Kreise von Symbolen bewegen kann. Aber er stellt sich ein anderes und höheres Ziel. Er will, daß das Ich, statt den vergeblichen Versuch zu machen, das Göttliche zu begreifen und zu ergreifen, sich mit ihm verschmilzt und mit ihm zu

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

eins wird. Alle Vielheit ist Täuschung — gleichviel ob es sich um die Vielheit der Dinge oder um die der Bilder und Zeichen handelt." (LK, 107)

Die Lebensphilosophie erliegt also in Cassirers Augen den in ihr wirksamen mystischen Tendenzen und gerät damit philosophisch in eine — der mittelalterlichen Mystik vergleichbare — Sackgasse. Das gemeinsame Ziel von Mystik und Lebensphilosophie, nämlich das 'Paradies der reinen Unmittelbarkeit' zu erreichen, sei eine Chimäre. Mit dieser Kritik wendet sich Cassirer selbstverständlich nicht nur gegen Simmel, sondern auch gegen den Intuitionsbegriff Bergsons, den dieser bekanntlich 'symbolfrei' zu denken sucht. 285 Mystik ist also nach Cassirer der — nicht zielführende — Versuch des menschlichen Geistes, alle Symbolisierungen in einen angeblichen Grund der reinen Unmittelbarkeit zurückzunehmen — zurück also in den (hypostasierten) Bereich vor aller symbolischen Prägnanz. Hinsichtlich der Frage, wie der Entstehungskontext der symbolischen Formen, das Reich der symbolischen Prägnanz, im einzelnen zu denken sei, läßt Cassirer vieles im unbestimmten. Auf diese Unbestimmtheit hatte die Cassirer-Kritik Heideggers, die in der Rezension Heideggers 1928 und in dem Davoser Disput von 1929 vorgetragen wurde 286 , besonders hingewiesen: Cassirer berücksichtige nur den 'terminus ad quem', also die Dimension der Begriffe, nicht den 'terminus a quo', die Dimension des den Begriffen in ihrer Spannung zur Realität Zugrundeliegenden. Teilweise ist diese Kritik ein MißVerständnis, denn Cassirer will ja gerade nicht mit 'fertigen Begriffen' arbeiten, sondern den Entstehungs- und Entwicklungszusammenhang von Begrifflichkeit auch in den Bereich hinein, der sich der Darstellbarkeit entzieht, verfolgen. Und wenn Heidegger annehmen würde, seine Fundamentalontologie sei keine bereits von vornherein entfremdete Symbolik, sondern bringe die Verfassung des Daseins unmittelbar zum Ausdruck, wäre dies ein leicht zurückzuweisender Irrtum. Andererseits hat Cassirer später Heideggers Kritik — vor allem in den Manuskripten zu einem vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen287 — in ihrem relativen Recht durchaus ernstgenommen und versucht, mit einer Phänomenologie der korrelierenden 'Urphänomene' des 'Ich', des 'Wirkens' und des 'Werkes' den dunklen Bereich der symbolischen Prägnanz näherhin zu erschließen. Dieses Bemühen hat allerdings Werkstattcharakter und hat nicht zu einer in sich abgerundeten Darstellung geführt. Immerhin arbeitet Cassirer in den besagten Manuskripten deutlich heraus, daß der mit dem Wechselspiel von Ich, Wirken und Werk umschriebene Bereich der symbolischen Prägnanz ein dynamisches Geschehen der Gleichursprünglichkeit von Symbolik und Nichtsymbolik darstellt, wobei — wie dies schon in Band I der PhSF behauptet wurde — die Nichtsymbolik als solche nicht eigens gedacht werden kann. Das hier berührte Problem gilt zweifellos für alle symbolischen Formen. Nichtsdestoweniger beschränkt sich Cassirer — und dies ist ein möglicher Kritikpunkt — in seiner Darlegung von Mystik einzig auf die symbolische Form Mythos/Religion. Lediglich auf die Philosophie überträgt Cassirer auch terminologisch, wenn er von 'philosophischer Mystik' oder von 'mystischen Tendenzen' der Philosophie spricht, besagte Problemstel-

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Symboltheorie und Mystik

lung. Im folgenden soll noch genauer Cassirers Placierung des Mystikphänomens innerhalb des religiösen Kontextes referiert werden. Dazu ist nötig, auf das Verhältnis von Mythos und Religion — die als zwei ineinanderlaufende Stränge innerhalb einer symbolischen Form angesehen werden —, auf die Eigenart der 'religiösen Form' sowie auf die 'Dialektik des mythischen Bewußtseins' einzugehen. Dabei beziehe ich mich auf die beiden Schlußkapitel in PhSF II — "Kultus und Opfer" 288 und "Die Dialektik des mythischen Bewußtseins"289 — sowie auf Cassirers Abhandlung "Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen" von 1925.290 *

Nach Cassirer ist der Mythos — neben der (urtümlichen) Sprache sowie zugleich und ineins mit dieser — die in der kulturellen Entwicklung der Menschheit älteste symbolische Form, die vorerst — als bloßer Ausdruck bzw. als schwerfällige Darstellung der menschlichen Erfahrung — noch kein Bewußtsein des eigenen Symbolcharakters erkennen läßt. So wie auf der ältesten Sprachstufe Wort und Ding, Rede und Wirklichkeit differenzlos gleichgesetzt werden, so erschafft das mythische Denken Inhalte und 'Erfahrungsgestalten' , ohne diese irgendwie in Frage zu stellen. Archaische Kulturen scheinen ihre ganze Energie darauf zu verwenden, angesichts der 'fließenden' Wirklichkeitserfahrung überhaupt irgendwelche Orientierungen zu finden und zu behaupten, und sind daher weder willens noch fähig, die von ihnen vorgenommenen und übernommenen Symbolisierungen mit relativierender Kritik zu belasten. Das mythische Denken, sagt Cassirer, sei 'magisch', und in ihm gelte das 'Gesetz der Konkreszenz'. Dieses besagt, daß alles, was de facto funktional miteinander in Beziehung steht, als substantiell identisch angesehen wird. Daher werden Zeichen und Bedeutung gleichgesetzt: das Zeichen ist das Bezeichnete — und umgekehrt. Dem Zeichen wird die gleiche Kraft zugeschrieben wie der Wirklichkeit selbst. Wie mühsam es für das archaische Denken ist, das Änigma der primären Erfahrung in fixierbare, wiederholbare Gestalten — in Symbole also — überzuführen, zeigt Cassirer in seiner Auseinandersetzung mit Hermann Useners Studie über die 'Götternamen'. 291 Aber wie die Sprache aus einem 'mimetischen' Selbstverständnis in ein 'analogisches' und schließlich in ein 'rein bedeutungshaftes' übergeht292 — und zwar aufgrund einer (als 'Autopoiesis' rekonstruierbaren) eigenen, inneren Dynamik —, so bricht auch im mythischen Denken schließlich das Differenzbewußtsein von Zeichen und Bedeutung als Problem auf, das sich mit zunehmender Schärfe artikuliert und zur Destruktion der mythischen Symbolisierung als solcher führt. Am Anfang dieses Differenzbewußtseins steht der Übergang des Mythos in Religion, an seinem Ende steht — als extreme Konsequenz der innerhalb des religiösen Kontextes sich verstärkenden Symbolskepsis — die Mystik. Was — über alle ihre inneren Entwicklungsstufen hinweg — in der symbolischen Form Mythos/Religion konstant bleibt, ist nicht ein bestimmter Inhalt, sondern eine 'Grundform' : nämlich die Scheidung der Wirklichkeit in eine profane und heilige, menschliche und göttliche, zeitliche und ewige, diesseitige und jenseitige Sphäre. Was wechselt,

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Mystikdiskussion und neuere Philosophie

sind sowohl konkrete inhaltliche Besetzungen dieser Sphären als auch die Art und Weise ihrer Relation. Der in Religion transformierte Mythos hat das Zeitalter der fraglosen Akzeptanz mythischer Symbolik beendet und gerät — nach wie vor eigendynamisch — in eine 'Dialektik' einander widerstreitender Positionsbestimmungen der (religiösen) Wirklichkeit. Zeichen und Bedeutung, Ich und Du, Gott und Mensch, Gott und die Welt treten einerseits — im Sinn einer krassen Polarität — auseinander, andererseits erzeugt diese (im Hinblick auf die Einheit der Erfahrung) zentrifugale Bewegung zugleich eine gegenläufige Tendenz: eine Bewegung der Koinzidenz, ja der Identität des also Getrennten. Zeichen und Bedeutung, Ich und Du, Gott und Mensch, Gott und die Welt werden erneut — und radikaler als je zuvor — als Einheit zu fassen gesucht. Für die symbolische Form Mythos/Religion, sagt Cassirer, sei es charakteristisch, daß sie sich ständig und gewissermaßen ergebnislos in dieser Dialektik bewege. Die 'Kluft' zwischen dem Heiligen und dem Profanen werde ständig aufgerissen und ständig wieder zu überbrücken und zuzuschütten versucht. Mystik stelle den Versuch des radikalen Zuschüttens dar bzw. den Versuch, die Kluft von vornherein zu ignorieren: "Für sie lautet die Frage nicht mehr, wie die Kluft zwischen Gott und Mensch zu schließen sei, da sie eine solche Kluft nicht kennt, da sie sie schon in ihrer religiösen Grundeinstellung negiert. Im Verhältnis von Mensch zu Gott gibt es für sie kein bloßes Auseinander mehr, sondern nur noch ein Mit- und Füreinander. Hier ist Gott ebenso notwendig und unmittelbar auf den Menschen, wie dieser auf jenen bezogen. In dieser Hinsicht spricht die Mystik aller Völker und aller Zeiten, sprechen etwa Dschelal ed-din Rumi und Angelus Silesius, die gleiche Sprache. 'Es hat zwischen uns aufgehört' — so heißt es z.B. bei dem ersteren — 'das Ich und Du. Ich bin nicht Ich, Du bist nicht Du, auch bist Du nicht Ich. Ich bin zugleich Ich und Du, Du bist zugleich Du und Ich.' Die religiöse Bewegung [...] ist hier an einen Abschluß gelangt: — was zuvor als rein physische oder ideelle Vermittlung erschien, das hebt sich jetzt in eine reine Korrelation

auf, in welcher sich der spezifische Sinn des Göttlichen wie der des Menschlichen erst be-

stimmt." (PhSF II, 276 f.)

Charakteristisch für die Mystik sei, daß sie das Korrelationsmodell zwar anstrebe, aber dadurch immer wieder hinter es zurückfalle, daß sie erneut die — der mythischen Denkweise gemäße — substantielle Identität von Mensch und Gott, von Zeichen und Bedeutung usw. behaupte. Die radikalste Form einer Selbstdestruktion der mythisch-religiösen Denkweise finde im Buddhismus statt, der sämtliche Korrelationsgrößen — zuerst das Sein bzw. die Natur, dann die Götter bzw. Gott und schließlich auch noch die Seele bzw. das Ich — auflöse. In der christlichen Mystik hingegen — das wiederholt Cassirer auch noch in den nachgelassenen Manuskripten — bleibe das Ich, wenngleich marginal, als selbständige Größe erhalten, und sei es nur als Erinnerungs-Funken an die mystische Erfahrung. Die Mystik stelle den Versuch dar, "den reinen Sinn der Religion als solchen, unabhängig von jeder Behaftung mit der 'Andersheit' des empirisch-sinnlichen Daseins und der sinnlichen Bild- und Vorstellungswelt, zu gewinnen. In ihr wirkt sich die reine Dynamik des religiösen Gefühls aus, die alle starre und äußere Gegebenheit abzustreifen und aufzulösen bestrebt ist. Das Verhältnis der menschlichen Seele zu Gott findet weder in der Bildersprache der empirischen oder mythischen Anschauung, noch im Umkreis des 'tatsächlichen' Daseins oder

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Symboltheorie

und

Mystik

des empirisch-realen Geschehens seinen adäquaten Ausdruck. Nur wenn das Ich sich völlig aus dieser Sphäre zurückzieht, wenn es in seinem Wesen und Grunde wohnt, um sich in ihm von dem einfachen Wesen Gottes anrühren zu lassen, ohne Vermittlung eines Bildes: nur dann erschließt sich ihm die reine Wahrheit und die reine Innerlichkeit dieses Verhältnisses. Demgemäß stößt die Mystik wie die mythischen, so auch die historischen Elemente des Glaubensinhalts von sich. Sie strebt nach der Überwindung des Dogmas, weil auch im Dogma, selbst wenn dasselbe in rein gedanklicher Fassung sich darstellt, noch das Moment des Bildhaften vorherrscht. [...] So rücken, vom Standpunkt der Mystik aus gesehen, Bild und Dogma, der 'konkrete' wie der 'abstrakte' Ausdruck des Religiösen, auf die gleiche Linie. Die Menschwerdung Gottes soll nicht länger als ein, sei es mythisches, sei es geschichtliches Faktum gefaßt werden: sie wird als Prozeß gefaßt, der sich immer aufs neue im menschlichen Bewußtsein vollzieht. Hier findet nicht die nachträgliche Einswerdung zweier an sich vorhandener gegensätzlicher 'Naturen' statt, sondern hier bricht aus der Einheit der religiösen Beziehung, die für die Mystik das allein bekannte und ursprüngliche Datum ist, die Zweiheit der Elemente dieser Beziehung hervor. [...] Dieser Grundgedanke einer Polarität, die sich in reine Korrelation aufzulösen strebt und die doch nichtsdestoweniger als Polarität erhalten werden muß, bestimmt den Charakter und den Weg der christlichen Mystik. Wieder ist dieser Weg durch die Methode der 'negativen Theologie' bezeichnet. [...] Um zur Erfassung des Göttlichen zu gelangen, müssen zuvor alle Bedingungen des endlichen und empirischen Seins, des ' W o ' , des 'Wann' und des 'Was' abgestreift werden. [...] So bleibt für ihn [Gott] nur die 'namenlose Nichtigkeit', die Gestalt der Gestaltlosigkeit. Immer wieder droht auch für die christliche Mystik die Gefahr, daß diese Nichtigkeit und Gehaltlosigkeit wie das Sein, so auch das Ich ergreift. Und doch bleibt hier zuletzt eine Schranke zurück, die sie, im Gegensatz zur buddhistischen Spekulation, nicht überschreitet. Denn im Christentum, in dem das Problem des individuellen Ich, das Problem der Einzelseele im Mittelpunkt steht, kann die Befreiung vom Ich immer nur so gedacht werden, daß sie zugleich die Befreiung für das Ich bedeutet. Auch dort, wo Eckhart und Tauler bis an die Grenze des buddhistischen Nirwana heranzugehen scheinen, wo sie das Selbst in Gott erlöschen lassen, sind sie daher bemüht, gewissermaßen diesem Erlöschen selbst noch seine individuelle Form zu wahren: es bleibt ein Punkt, ein 'Fünklein' zurück, mit dem das Ich eben dies Aufgeben seiner selbst weiß." (PhSF II, 298 f.)

Aber das religiöse Denken kann sich, wie gesagt, auch beim Modell der Mystik nicht beruhigen, denn "das Ineinander und Gegeneinander von 'Sinn' und 'Bild' [gehört] zu den Wesensbedingungen des Religiösen". Würde an dessen Stelle "jemals das reine und völlige Gleichgewicht treten, so wäre damit auch die innere Spannung der Religion aufgehoben, auf der ihre Bedeutung als 'symbolische Form' beruht" (PhSF II, 311). Der Dialektik von Sinn und Bild entspricht auch eine Dialektik der Vielheit und Einheit göttlicher Attribute. Die Mystik aber versucht das Moment des Sinns und das Moment der Einheit in einseitiger Weise festzuschreiben. In ihr gelangt "das mythisch-religiöse Denken an einen Punkt, an dem ihm die Mannigfaltigkeit, die Verschiedenheit, die konkrete Fülle der göttlichen Attribute und der göttlichen Namen nicht mehr genügt, sondern an dem die Einheit des Wortes ihm zum Mittel wird, kraft dessen es zur Einheit des Gottesbegriffs d u r c h z u r i n gen sucht. Aber selbst über diese Stufe dringt nun dieses Denken noch weiter hinaus: bis zu einem Sein, das, wie es in nichts Einzelnen mehr beschränkt ist, so auch mit keinem Namen mehr zu nennen ist. Der Kreislauf des mythisch-religiösen Bewußtseins hat sich damit vollendet: denn wie am Anfang steht jetzt das Bewußtsein dem Göttlichen als einem 'Namenlosen' gegenüber." (WS 136)

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Mystikdiskussion

und neuere

Philosophie

Mit dem 'Namenlosen' des 'Anfangs' meint Cassirer die mana-Vorstellung, die nicht das Ergebnis, sondern der tastende Anfang begrifflich elaborierten Denkens darstellt. Er fährt fort: "Aber Anfang und Ende gleichen sich nicht: denn aus der Sphäre der bloßen Unbestimmtheit sind wir nunmehr in die Sphäre echter Allgemeinheit eingetreten. Statt in die unendliche Vielfältigkeit von Eigenschaften und Eigennamen, statt in die bunte Welt der Erscheinungen einzugehen, sondert sich das Göttliche als ein Eigenschaftsloses von ihr ab. [...] Es ist vor allem die Mystik aller Zeiten und aller Völker, die immer wieder mit dieser geistigen Doppelaufgabe ringt: mit der Aufgabe, das Göttliche in seiner Totalität, in seiner höchsten konkreten Innerlichkeit zu fassen und von ihm doch zugleich jede Besonderheit des Namens und des Bildes fernzuhalten. So zielt alle Mystik auf eine Welt jenseits der Sprache, auf eine Welt des Schweigens. Gott ist, wie es bei Meister Eckhart heißt, der 'einveltige grünt, die stille

wueste,

die einveltic stille'; denn 'das ist sin nature, daz er äne nature si.'" (WS 136 f.) *

Ich versuche abschließend eine Kritik und Würdigung des cassirerschen Ansatzes. Cassirer verwendet einen gängigen und nicht ganz konsistenten, noch dazu einen thematisch auf den religiösen Kontext eingeschränkten Mystikbegriff. Doch beschreibt er innerhalb seiner Darlegung der besonderen Problemstellung und Dynamik, der die symbolische Form Mythos/Religion folgt, doch prägnant die Funktion der (religiösen) Mystik. Die 'Grundform' von Mythos/Religion ist nach Cassirer ein — dynamisch zu verstehendes — Realitätsmodell, das für Denken und Erfahrung des mythisch-religiösen Menschen die Zweiheit eines menschlichen und eines göttlichen Bezugspols annimmt. Diese beiden Pole kontrastieren und spiegeln sich gegenseitig und gelangen so in ein (austauschbares) Verhältnis von Symbol und Bedeutung: das Göttliche ist Kontrast oder Spiegelung des Menschlichen und umgekehrt. Das Heilige 'bedeutet' das Profane und umgekehrt. Durch verschiedene inhaltliche Besetzungen der beiden Pole und durch ihre unterschiedliche Verhältnisbestimmung — sie können z.B. als zwei getrennte Wesenheiten gelten, oder eine der Dimensionen kann auf die andere reduziert und von dieser absorbiert werden — ergeben sich nicht nur viele mögliche Gestalten religiöser Symbolisierung, es ergibt sich daraus auch die Dynamik, der die einzelnen religiösen Symbolprozesse einem 'inneren Gesetz' gemäß folgen. Die 'Dialektik' zwischen den beiden Polen fördert im Verlauf der Religionsgeschichte zunehmend die Erfahrung des Symbolcharakters alles Religiösen, d.h. sie fördert zunehmende religiöse Symbolskepsis, die gleichwohl nicht (nur) zu nüchtern-distanzierter Betrachtung führt, sondern (auch) mit einer extremen Steigerung der Gefühlswelt und des religiösen Engagements Hand in Hand gehen kann. Cassirer definiert nun Mystik als eben diese gesteigert-emotionalisierte Symbolskepsis, die die Pole des Heiligen und des Profanen gleichsetzt und damit die für das religiöse Leben konstitutive Spannung vernichtet. Dadurch aber durchbricht sie das 'innere Gesetz', die 'Grundform' der mythisch-religiösen Symbolwelt und ist entwicklungslogisch deren letzte Gestalt. Wesentlich ist, daß Cassirer Mystik nicht als in sich tragfähige Lebensform ansieht, sondern — im Gesamtzusammenhang der lebensweltlichen Erfordernisse, die auf das

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Symboltheorie und Mystik

Symbolische und seine Spannung zum offenen Horizont der Bedeutungen nicht verzichten können — als praktisch undurchführbar ansieht. Der Mystiker 'sprengt' bloß die religiöse Symbolform, er selbst bietet zu ihr keine 'lebbare' Alternative, da er bloß der Chimäre der Unmittelbarkeit und Symbollosigkeit nachjagt. Den Gedanken Mauthners, daß die mystische Erfahrung notwendigerweise punktuell bleiben müsse und daß gerade hierin ihr eigener Realitätsgehalt und ihre Legitimität im Gesamtzusammenhang des (symbolkonstitutiven) menschlichen Lebens liegen könnte, greift Cassirer eigentümlicherweise nicht auf. Von diesen Einwänden abgesehen läßt sich aber auch fragen, ob sich — indem man den für die Religion ausgearbeiteten Ansatz Cassirers weiterführt und ihn in gewisser Weise für die Gesamtheit der symbolischen Formen reklamiert — eine vergleichbare 'Form' wie die (religiöse) Mystik auch in der Sprache, der Kunst, der grundlagenforschenden Wissenschaft usw. aufweisen läßt. Die — z.T. recht eigenwillig und außerhalb der akademischen Disziplin — philosophierenden Literaten, Künstler und Physiker des 20. Jahrhunderts, deren Hinwendung zum Begriff der Mystik und zur mystischen Tradition Albert, Zimmermann, Wagner-Egelhaaf u.a. dargestellt haben 293 , lassen eine solche Analogisierung höchst plausibel erscheinen. Die Spannung zwischen den Polen von Symbol und Bedeutung, eine innere 'Dialektik', Symbolskepsis und die Möglichkeit einer Stillegung der Spannung ist — wenngleich sicher in unterschiedlicher Weise — auch in den anderen symbolischen Formen gegeben. Demnach wäre möglicherweise jeder symbolischen Form ihre 'Mystik' zuzuerkennen, d.h. es gäbe eben nicht nur eine religiöse Mystik, sondern auch eine Sprach-, Kunst-, Wissenschafts- und (was Cassirer denn auch selber einräumt) eine philosophische Mystik. Alle — oder, vorsichtiger formuliert: neben der Religion auch andere — symbolischen Formen kämen, dieser Analogisierung zufolge, zumindest potentiell im Lauf ihrer Entwicklung an einen Punkt, an dem sie sich, dem prinzipiellen Zweifel am Zeichen und dem Drang nach 'unmittelbarer' Wirklichkeitserfassung folgend, als symbolische Formen selbst zu destruieren beginnen. Das würde aber auch implizieren, daß die innere Dynamik oder — anders gesagt — der Autopoiesis-Charakter jeder symbolischen Form als tendenzielle Selbstüberwindung, als tendenzielle 'Selbsttranszendenz' zu begreifen sei. Die hier, im Anschluß an Cassirer, ins Auge gefaßte Ausweitung des Mystikbegriffs ins Allgemeine der symbolischen Form 'als solcher' wäre — begriffsgeschichtlich — nichts Neues, denn im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Mystikbegriff ja längst entgrenzt. Neu wäre die Art und Weise der systematischen Beschreibung und der Funktionszuweisung. Es stünde nicht, wie in Alberts vergleichbarer Systematisierung 'mystisch-ontologischer' Erfahrungsweisen, das Motiv des hen-kai-pan einseitig im Vordergrund. Trotz der Entgrenzung des Mystikbegriffs über den Bereich der Religion hinaus und trotz des Fehlens eines gemeinsamen 'Inhalts' wäre Mystik auch nicht eine Sammelbezeichnung für jegliches 'Geheimnisvolle' und 'Irrationale', sondern ein ziemlich klar definierbarer Funktionsbegriff. Nicht nur das Phänomen Mystik in und außerhalb der Religion ließe sich so einer allgemeinen Klärung zuführen, es ergäben sich zweifellos auch nähere Rückschlüsse auf die einzelnen symbolischen Formen und auf das 'Wesen', d.h. die Wirklichkeit des Symbolischen als solchen. 435

Mystikdiskussion und neuere Philosophie

Eine solche Aufnahme und Revision des cassirerschen Mystikbegriffs brauchte keineswegs im engen Sinn dem Rationalitätskonzept Cassirers zu folgen, dem gemäß die symbolische Form 'Erkenntnis' — unter die Wissenschaft und Philosophie gleichermaßen zu subsumieren sind — als einzige zur Selbstreflexion als 'reiner Bedeutung', d.h. zur Selbst-Durchsichtigkeit als Symbolik, gelangt. Es kann vermutlich gezeigt werden, daß auch die Sprache und die Kunst, ja selbst die Religion zu solch symbolkritischer Selbstreflexion fähig ist. Es wäre dabei zu fragen, ob Cassirer die Grenzen zwischen den verschiedenen symbolischen Formen — etwa zwischen 'Sprache' und 'Erkenntnis' — überall sinnvoll gezogen hat. Auch wäre wohl stärker, als dies bei Cassirer der Fall ist, zu betonen, daß die Gestalten symbolischer Selbstreflexion — auch in der sogenannten 'Erkenntnis' und in deren elaboriertesten Formen — in sich zwiespältig, ambivalent sind: daß es sich jeweils um eine extreme Gratwanderung zwischen skeptischer Klarheit und einem neuen Bedürfnis, zu symbolisieren (und dabei dem Symbol vermögen alle Zügel schießen zu lassen), handelt. Mit der Betonung dieser Ambivalenz ließe sich dann wohl auch die vielfach beobachtbare Nähe der Mystik zu bodenloser Spekulation, ihre oftmalige Vermengung mit dem Obskurantistischen und Abstrusen, verstehen. Es ließe sich das Problem der 'Dialektik der Aufklärung' auf dem Boden und im Bereich der mystischen Erfahrung noch einmal reformulieren. Es wäre klar, warum die Mystik gleichermaßen ein kritisch-skeptisches und ein naiv-spekulatives Potential hat. Es scheint, von der Beschränkungsfrage abgesehen, zweifelhaft, ob man — wie Cassirer es tut — die Mystik generell als eine Sackgasse der Symbolisierungstätigkeit des menschlichen Geistes interpretieren darf. Und es scheint zweifelhaft, ob es mit einer adäquaten phänomenologischen Beschreibung unserer Welterfahrung vereinbar ist, Cassirers einseitig aufklärerisch-optimistischem Philosophiebegriff, der ja als Alternative zur Mystik und als deren Überwindung angeboten wird, ohne weiteres zu vertrauen. Es wäre demgegenüber durchaus denkbar, daß nicht nur die Mystik von der Philosophie, sondern daß auch die Philosophie von der Mystik durch wechselseitige Anreicherung jeweils gemachter Erfahrung lernen kann — daß sich durch eine rationale Untersuchung der Mystik nicht nur die Mystik außlären läßt, sondern daß eine solche Untersuchung auch wesentlich zur Selbstaufklärung der Philosophie beiträgt.

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3 'Implosionen' des symbolisch-medialen Prozesses: Grundzüge einer Theorie der Mystik

3.1 Die Methodenschritte einer phänomenologischen Theorie der Mystik: Deskription, Analyse, Theorie, 'Ethos' Ich habe in der Einleitung dargelegt, in welchem Sinn sich die vorliegende Untersuchung als eine phänomenologische versteht. Wie die Schulen der 'transzendentalen' und 'hermeneutischen' Phänomenologie gehe ich davon aus, daß Phänomene 'als solche' zumindest im Anfang nicht 'rein' gegeben sind, sondern daß sie im Kontext konkreter Wahrnehmungsfelder, bereits vorgegebener Theorien und praktischer Lebensstrategien auftreten und daß sie durch diesen historisch-kontingenten Kontext erheblich mitgeformt sind. Im Gegensatz zu den Hermeneutikern — Heidegger denkt das 'Sein' grundsätzlich, wenngleich abstrakt, aus der menschlichen Praxis 1 — war Husserl der Ansicht, durch formale Reduktionsschritte das 'Wesen' der Phänomene als kontemplative Entitäten freilegen zu können. Eine solche Option ist freilich in keiner Weise aufrechtzuerhalten. Statt dem Phantom eines 'reinen Wesens' der Phänomene nachzujagen, aber auch statt — wie Heidegger — die Phänomene 'seinsgeschichtlich' zu relativieren, unternehme ich den Versuch, die theoretischen, praktischen und lebensweltlich-kulturellen Kontexte als Konstituenten der Phänomene in prinzipieller Vorläufigkeit eines gültigen Erkenntnisanspruchs mitzubedenken. Das heißt: Ich gehe davon aus, daß Phänomen und Kontext einander bedingen und daß ihrer methodischen Trennbarkeit eine sachliche Untrennbarkeit entspricht. Der Weg (hodos) des Denkens, der ein selbstreflexiver Weg (methodos) ist, auf dem sich uns die Phänomene erschließen — indem sie wahrgenommen, beschrieben, interpretiert, in neue Zusammenhänge gestellt und in praktischer Hinsicht beurteilt werden —, ist nicht identisch mit dem Aufbau und der inneren Struktur der Phänomene selbst, auch wenn wir auf dem Weg dieses Nachdenkens über Aufbau und Struktur der Phänomene zunehmend adäquate Einsichten gewinnen mögen. Ein 'Weg' — bei diesem Ausdruck handelt es sich bekanntlich um eine der ältesten Metaphern, die in der Geschichte der Philosophie zu deren Selbstverständigung verwendet werden 2 — teilt sich stets in Abschnitte und enthält Punkte der Rast, des Überblicks und der inneren Sammlung. Diese Abschnitte und Punkte können wir bis zu einem ge437

Grundzüge einer Theorie der Mystik

wissen Grad willkürlich wählen, sie ergeben sich aber auch vielfach und 'ereignen sich' aus dem Wechselspiel und der Gleichzeitigkeit der Vorstellungen des subjektiven Wollens und des objektiv sich Aufdrängenden. 'Phänomenologie' nun bezeichnet den gesamten Weg des Denkens, auf dem Phänomene begegnen und auf dem man sie dadurch näher kennenlernt, daß man zu ihnen in eine Beziehung tritt, in deren Verlauf sich beide Korrelationsgrößen — man selbst und die Phänomene — ändern.3 Der Verlauf dieser Beziehung ist durch die erwähnten Abschnitte, Pausen und Ruhepunkte des 'Wegs' rekonstruierbar. Phänomenologie, läßt sich daher sagen, beinhaltet konstitutiv immer schon Interpretation, allerdings versucht sie diese so weit wie möglich kritisch-reflektierend auf ihre Grundlagen und Grenzen hin einzuholen. Phänomenologie bewegt sich einerseits in einem Vorfeld von Theorie, führt aber andererseits auch zu Theorie hin und über sie hinaus zu neuen vortheoretischen Wahrnehmungen sowie zu neuen theoretischen Konzeptionen. Sie selbst ist ein Erfahrungsprozeß und kann ihre Perspektiven ständig ändern. Für diesen 'Weg der Phänomenologie' habe ich in der Einleitung ein heuristisches Modell von vier Methodenschritten skizziert: Deskription, Analyse, Theorie und 'Ethos'. Ich werde sie im folgenden näher erläutern. *

Der erste Schritt — Deskription (oder: 'Proto-Phänomenologie') — versucht sich auf das Moment der Wahrnehmung bzw. des 'ersten Erscheinens' und 'ersten Sich-Zeigens' (phainestai) des Phänomens zu beschränken. Obwohl es keine interpretationsfreie Wahrnehmung und dementsprechend auch keine interpretationsfreie Deskription geben kann, soll das Interpretationsmoment als solches — also die Momente der Analyse und Theorie — auf dieser Ebene so weit wie möglich ausgeschaltet werden. Das ist freilich ein Postulat, das nur näherungsweise erfüllt werden kann, dessen Nützlichkeit aber darin besteht, den Blick auf das 'unverfälschte' Phänomen — in Abwehr gegenüber möglichen Aus- und Überblendungen — weitgehend freizuhalten. Allerdings: Wenn Wahrnehmung ausdrücklich und damit reflexiv wird, so vollziehen sich Ausdruck und Reflexion eben darin, daß die Wahrnehmung in irgendeiner Weise beschrieben wird, wobei sich der Blick — weitaus stärker als auf der 'primären' Wahrnehmungsebene — zunehmend auf die möglichen Gliederungen, Einteilungen und Übersichten richtet, die das Phänomen (mit-)bestimmen. Dies aber nun ist der zweite, auf die Deskription folgende phänomenologische Schritt, der sich als Analyse bezeichnen läßt. Diese macht Teile und Relationen, Aufbauelemente und Funktionen des Phänomens namhaft. In ihrem Verlauf werden die beschreibenden Elemente immer mehr mit erklärenden Momenten verbunden bzw. die beschreibenden Elemente werden in erklärende übergeführt. Sobald aber die Analyse neben zergliedernden Erklärungen auch konstruktiv-synthetische, übergreifende und die Einzelstrukturen in internen und externen Zusammenhängen verdeutlichende Perspektiven der Betrachtung einführt, verwandelt sie sich — und das ist der dritte Schritt — in das Bemühen um Theorie. Diese verbindet Deskription und Analyse dahingehend, daß sie das Phänomen — so wie die Deskription, aber nicht mehr naiv, sondern reflexiv — als eine 'Gestalt', als eine 438

Die Methodenschritte

Einheit darstellt und es außerdem — so wie die Analyse, aber nicht mehr partiell, sondern ganzheitlich —funktional erklärt. Ist aber, läßt sich pointiert fragen, eine 'phänomenologische Theorie' nicht deshalb unmöglich, weil Theorie spekulativ ist und Phänomenologie sich an die Erfahrung zu halten hat? Diesem Einwand ist entgegenzuhalten, daß Rationalität und Spekulation nicht nur die Erfahrung begleiten und mitformen, sondern aus dem Erfahrungsprozeß selbst entspringen und sich zudem als Konsequenz aus der Aufeinanderfolge von Erfahrungsschritten ergeben. Theorie ist ohne Zweifel spekulativ: sie entfernt sich aber prinzipiell nur deshalb von der Empirie, um diese übersichtlich interpretieren zu können, und sie ist nur dann 'schlechte Theorie', wenn sie sich dieser (notwendigen) Distanzierung, d.h. ihres spekulativen Charakters, nicht bewußt bleibt. Als 'gute Theorie' bleibt sie aber auch nicht bei sich selber stehen. Vielmehr sieht sie sich — in der Reflexion auf ihren Empirie- und d.h. auf ihren Realitätsbezug — rückgebunden an die theoretisch stets nur unvollständig einholbare Praxis und Lebenswelt.4 Sie reflektiert — und dies ist nun der vierte phänomenologische Schritt — über ihren geschichtlichen, kulturellen und praktischen 'Aufenthalt' (ethos), d.h. darüber, welcher Haltung und welchem Handeln sie sich verdankt und welche Haltung und welches Handeln sie ihrerseits — tendenziell zumindest — normiert und motiviert. ('Ethos', so verstanden, impliziert also auch 'Ethik'.) In der Reflexion auf ihren Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext, die ich hier mit dem — in der Methodendiskussion bislang so nicht eingebürgerten — Begriff Ethos umschreibe, stellt sich also die phänomenologisch gewonnene Theorie selbst wieder in Frage und eröffnet so neue Vorfelder für neue Phänomenologien. *

Gemäß dem skizzierten Verständnis von Phänomenologie ist deren Weg somit vierfach gestuft: Das Phänomen erscheint (a) im primären Wahrnehmungskontext und wird dort möglichst vorurteilsfrei beschrieben (Deskription). Die beschreibende Darstellung geht darauffolgend (b) in eine erklärende über, die das bloße Daß der aufgewiesenen Strukturen in das Verstehen ihres Was überführt und das Gesamtphänomen dabei weitgehend in Einzelperspektiven auflöst (Analyse). Die daraus resultierende Aufgabe besteht (c) in der —· nunmehr freilich ausreichend reflektierten — Wiedergewinnung des Phänomens als einheitlicher und kohärenter 'Gestalt', die im Zusammenspiel ihrer Teile funktional zu erklären ist (Theorie). Zuletzt (d) stellt sich die Theorie jedoch — im Hinblick auf ihre gewachsene Distanz gegenüber den vorhergehenden Stationen des phänomenologischen Wegs — selbst wieder in Frage. Sie wird in gewisser Weise selbst wieder zu quasi-ursprünglichem ' Wahrnehmungsmaterial', aus dem sich die Folge der Bewegung von (a) bis (d) neu und in anderer inhaltlicher Besetzung aufbauen läßt (Ethos).5 Es sei wiederholt, daß es sich bei alldem um eine methodische, nicht um eine Einteilung in der Durchführung einer Phänomenologie handelt. Selbstverständlich beginnt die Wahrnehmung nicht an einem Punkt null, sondern enthält vielmehr bereits von vornherein analytische und theoretische Elemente. Doch bedeutet sie eine Stufe, auf der sich die Phänomenkonstitution noch auf einer relativ offenen und unbestimmten Weise voll-

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

zieht. Auf späteren Stufen wird die Wahrnehmung und Deutung sukzessive und immer stärker in ein begriffliches und theoretisches Meinen bzw. Wissen übergeführt, das sich von der sinnlichen Wahrnehmungsebene entfernt, indem es sich konzeptionell verengt. Die Phänomenkonstitution ist ein kontinuierlicher Prozeß, der auf allen Stufen (Deskription, Analyse, Theorie, Ethos) noch einmal eigens stattfindet. Während dabei Präzision und Übersichtlichkeit — der Begriffs- und Theoriewert also — zunehmen, nehmen Wahrnehmungs- und Interpretationsmöglichkeiten ab. Obwohl also eine offenkundige Verarmung 'ursprünglicher' Rezeptions- und Deutungsfähigkeit zu diagnostizieren ist, kann, um diese Defizienz zu vermeiden, dennoch nicht einfach auf eine vermeintliche Ursprungsebene zurückgegangen werden. Denn diese ist ja nicht eine selbständige, klar abgrenzbare Schicht der Erfahrung, sondern nur ein — per definitionem irreversibles — zeitliches Moment der Erfahrung, die ihrerseits 'im Fluß' ist und keinen normierbaren Anfangs- und Endpunkt hat. 'Ursprung' ist also eine bloße Metapher. Die Tatsache, daß es andererseits auch keinen Ziel- und Endpunkt gibt, läßt jede Theorie als vorläufige 'Gestalt' des Erfahrungsprozesses und Phänomenologie als prinzipiell unabschließbares Geschäft erscheinen. Wir müssen davon ausgehen, daß es keinen Ursprung, keinen ersten Konstitutionsakt der Erfahrung gibt, sondern immer nur einen ersten Einstieg in sie, der als erster Einstieg ausdrücklich gemacht werden kann, der aber niemals die Erfahrung als solche konstituiert.6 Den Schritt eins, die Deskription oder Proto-Phänomenologie der mystischen Erfahrung, habe ich bereits im Ersten Buch — den Prolegomena zu einer Theorie der mystischen Erfahrung — durchgeführt. Die jetzt folgenden Kapitel behandeln die Schritte zwei bis vier: Analyse (3.2), Theorie (3.3) und 'Ethos' (3.4).

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3.2 Analyse: Symboltheoretische Bemerkungen zu den Charakteristika der mystischen Erfahrung

In den Prolegomena habe ich zwölf Charakteristika der mystischen Erfahrung genannt und beschrieben: (1) All-Einheit und Ich-Entgrenzung, (2) Transkategorialität (Negation von Zahl, Vielheit, Gegenständlichkeit, Raum, Zeit und Kausalität), (3) gesteigerte Emotionalität (Liebe, Ekstase), (4) Metanoia (Authentizität, Harmonie, Seligkeit), (5) Freiheit, Gelassenheit, Willenlosigkeit, (6) Augenblicklichkeit, Unverfügbarkeit, Passivität, (7) Leiden, Einsamkeit, Todesnähe, (8) der 'mystische Weg' (Stufenprozeß, Vorbereitung und Methode), (9) Schweigen, paradoxes und apophatisches Sprechen, (10) Negation von 'Bild' und 'Weise', (11) Esoterik und Innerlichkeit, (12) parapsychologische Phänomene. Im folgenden erörtere ich diese Motive vor dem Hintergrund der Abschnitte 1 und 2, also der prozessual-symbolisch-medialen Erfahrungstheorie und der philosophischen Mystik-Diskussion von Kant bis Derrida. Die zwölf Charakteristika liegen z.T. auf verschiedenen kategorialen Ebenen. So lassen sich (1), (2), (8), (9) und (10) eher auf einer strukturell-kognitiven Ebene, die übrigen Charakteristika eher auf einer strukturell-psychologischen Ebene abhandeln. Zwar kann auch die erstgenannte Gruppe psychologisch verstanden und interpretiert werden, doch läßt sie sich darüber hinaus eben auch als kognitives Prozeßgeschehen rekonstruieren, während die andere Gruppe das mit diesem Prozeßgeschehen verbundene bzw. durch es ausgelöste Umfeld psychischer Faktoren bezeichnet.

3.2.1 All-Einheit und Ich-Entgrenzung Welchen Sinn ergibt die Rede, 'alles sei eins' und 'dasselbe'? 7 Die Welt unserer Wahrnehmung ist — dem gewohnten Verständnis zufolge — zweifellos eine Welt heterogener Vielheit, und dies trifft auch für die alltägliche und wissenschaftliche Welt unseres Verstandes zu, der die Wirklichkeit nach verschiedenen Kategorien — die ihrerseits eine Vielheit darstellen und keineswegs ohne weiteres auf eine einzelne, letzte Kategorie rückführbar sind — ordnet. Zwar sind sowohl diese kategoriale Verstandesordnung als auch der Wahrnehmungsakt als Einheit begreifbar, doch handelt es sich dabei stets um eine Vielheit-in-der-Einheit bzw. um eine Einheit-in-der-Vielheit. Einheit und Vielheit, wie auch immer sie verstanden werden, sind offensichtlich unaufhebbare Korrelationsbegriffe. 8 Dies trifft auch für den — von W. James neben anderen Einheitsbegriffen aufgezählten 9 — extremsten aller Einheitsbegriffe zu, die spekulativ-idealistische Konzeption des 'einen Denkers'. Einheit ist immer die Einheit eines Zusammenhangs. Spricht man von unterschiedlichen und von einander ausschließenden Einheits-

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und Vielheitskonzeptionen, so handelt es sich jeweils nur um die nähere Bestimmung eines Zusammenhangs von Einheit und Vielheit. Von einer — formellen oder materiellen — arche zu sprechen, setzt bereits die Anerkennung voraus, daß es sich dabei um eine Beziehungsgröße gegenüber der vorfindlichen pluralen Wirklichkeit handelt. In den als 'Monismus', 'Dualismus' oder 'Pluralismus' bezeichneten Wirklichkeitsmodellen wird diese Beziehungsgröße lediglich variiert. Gemäß der symbolisch-prozessualen Erfahrungstheorie sind all diese Wirklichkeitsmodelle — sofern sie als Modelle eine für das menschliche Begreifen fixierbare und wiederholbare Gestalt darstellen (z.B. eine Gestalt der Sprache, des Mythos, der Wissenschaft usw.) — Symbolisierungen des menschlichen Geistes. Sie finden dann Anerkennung als authentische Erkenntnis und authentische Erfahrung, wenn sie von einem Subjekt — sei es einem Individuum oder einer kulturellen bzw. sozialen Gruppe — als 'Schließung der Form' 10 angeeignet und — erst dann wird die Form-Schließung zum Symbol — in eine fixierbare, reproduzierbare Zeichengestalt übergeführt werden. Zur qualitativen Steigerung der Symbolkonstitution ist vermutlich die Sprache — das gesprochene und, noch verläßlicher, das geschriebene Wort — eine unabdingbare Voraussetzung. Aufgrund der in der Sprach- bzw. Schriftreferenz gewonnenen kognitiven Sicherheit sind weitere darauf aufbauende Symbolisierungen möglich. Die vormals fließenden und kaum fixierbaren Gestalten der Imagination werden auf dem Umweg über ihre (schrift-) sprachliche Fixierung zunehmend deutlicher referierbar. Auch bloße Vorstellungen — wie in Religion, Wissenschaft und Philosophie — können jetzt als in sich kohärente und konsistente Gedanken fixiert und somit zu Symbolen werden. Demnach vermag das vorhin genannte 'Subjekt' — das Individuum oder die Gruppe — in einem bestimmten Wirklichkeitsmodell, d.h. in einer bestimmten Symbolisierung des Zusammenhangs all seiner Lebensumstände, das in eine Gestalt übergeführte Ergebnis des Prozesses seiner Wahrnehmungen, Erfahrungen und Spekulationen zu finden. Das Wirklichkeitsmodell kann auf eine 'Formel' hin verdichtet werden als den knappen (sprachlichen) Ausdruck der Schließung der Form. Um solch eine Formel handelt es sich auch bei der Rede 'alles ist eins', die ich im folgenden als hen-kai-pan-Formel bezeichne." Betrachten wir die hen-kai-pan-Formel als eine zum Symbol gewordene Schließung der Form, so handelt es sich, wie bei jeder Form-Schließung, keineswegs — obwohl die Mystiker selbst das vielfach so auffassen — um eine Einsicht in die 'Realität', um das Innewerden einer bislang verborgenen, geheimnisvollen Ordnung der Wirklichkeit. Jede Form-Schließung ist vielmehr eine Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten, daß wir uns — im Zuge des Erfahrungsprozesses — ein Bild bzw. eine Orientierung der Wirklichkeit verschaffen. Der Erfahrungsprozeß kann stets auch zu ganz anderen Form-Schließungen führen. Es besteht nun Erklärungsbedarf dahingehend, warum die hen-kai-pan-Symbolisierung (a) vielfach ungemein höhere Emotionen entfesselt als andere Symbolisierungen, warum sie (b) als Gipfel möglicher Authentizität ausgegeben wird und warum sie (c) in einem besonders schroffen Gegensatz zu anderen Symbolisierungen steht. Schließlich ist (d) nach dem strukturellen Zustandekommen dieser Form-Schließung zu fragen. Die 442

Symboltheoretische

Bemerkungen

genannten vier Fragen beziehen sich unter anderem zwar auf in späteren Kapiteln (3.2.3 und 3.2.4) noch eigens zu behandelnde Motive, doch sind sie strukturell in besonders enger Weise mit dem Motiv von All-Einheit und Ich-Entgrenzung verbunden. Sie werden daher schon jetzt referiert und in den späteren Abschnitten nur noch entsprechend ergänzt. *

Zu (a): Jegliches Denken — von der primären, vorsymbolischen Wahrnehmungsebene bis zu den höchsten Graden der Symbolisierung und Spekulation — ist emotional getönt (Whitehead). Die geläufige und nur selten hinterfragte begriffliche Trennung von Fühlen und Denken ist abstrakt, denn beide Größen sind korrelativ verschränkte Strukturmomente eines Phänomens12: des Phänomens unseres komplexen Erfahrungsprozesses. Jede sogenannte Empfindung und jedes sogenannte Gefühl ist bereits ein Moment unserer Wahrnehmung und — wie diese — fließend in dem Sinn, daß sie Wahrgenommenes, in welch rudimentärer Weise auch immer, verarbeitet und somit den Erfahrungsprozeß als solchen weiterfuhrt. Wenn wir von Emotionen sprechen, so handelt es sich um dieselben Brückenköpfe im Erfahrungsstrom wie bei den sogenannten Kognitionen — es handelt es sich nur um eine andere Formulierung und einen anderen Aspekt. 'Gefühl' und 'Kognition' sind also unterschiedliche, aber analoge Formeln für das gleiche Phänomen. Daher bedeutet es phänomenologisch dasselbe, wenn wir entweder behaupten, Denken sei mehr oder minder emotional, oder: Emotion sei mehr oder minder kognitiv. Wie aber lassen sich die hier behaupteten Gradabstufungen näherhin rechtfertigen? Vermutlich gilt: Je enger das Denken mit den eigenen, persönlichen Interessen und Lebensbedürfnissendes Denkenden zusammenhängt, d.h. je 'lebensbedeutsamer' (Husserl) es ist, umso intensiver wird die 'affektive Tönung' ausfallen. Kann aber ein — dem ersten Eindruck nach — so abstrakter Gedanke wie das hen-kai-pan denn überhaupt 'lebensbedeutsam' sein? Besagte Lebensbedeutsamkeit ist nicht einfach und schlechthin gegeben, sondern wird gestiftet, d.h. sie ergibt sich gemeinsam mit bestimmten Form-Schließungen. Auch die Inhalte mythischen und religiösen Denkens, die bekanntlich sehr oft mit ungemein hoher Emotionalität befrachtet sind, stellen solche Stifungen dar. Dasselbe gilt aber auch für philosophische und quasi-philosophische Gedanken (die man übrigens mit guten Gründen als Ausformungen und als Weiterführungen religiöser Symbolisierungen ansehen kann). Der Grad der mit einem Gedanken verbundenen Emotionalität entspricht also vermutlich dem Grad der Konzentration des existentiellen Interesses an diesem Gedanken. Mit einer emotional besonders getönten Form-Schließung verbindet sich ein besonderes persönliches Interesse. James hat anschaulich herausgestellt13, daß monistische und mystische Konzeptionen ein höheres und intensiveres persönliches Interesse beanspruchen als pluralistische. Wenn sich nämlich in der hen-kai-pan-Formel das Ich mit dem Ganzen identifiziert — wenn die Einheit des Ich dieselbe Einheit ist wie die Einheit des Ganzen —, wird das Ganze gewissermaßen zum lebensbedeutsamen Ich. 443

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Hingegen wird ein tendenzieller — erkenntnistheoretischer und/oder ontologischer — Pluralismus in der Regel die mit dem Denken prinzipiell mitgegebenen Emotionen abschwächen und 'gleichmäßiger' verteilen als ein tendenzieller Monismus. Darüber hinaus ist eine Behauptung wie 'alles ist eins' als ein Sprachspiel anzusehen, das nur vor dem Hintergrund des sprachlich-spekulativen Prozesses verständlich gemacht werden kann, aus dem es — als prägnante Formel, d.i. als Form-Schließung — erwachsen ist. Die im Erfahrungsprozeß auf all seinen Ebenen vorgenommenen Kontrastierungen, Prägnanzbildungen und Form-Schließungen sind immer zugleich 'Relevanzgefälle', und als solche sind sie Gefühlsstrukturen.14 Die primär gesetzten bzw. angeeigneten Prägnanzen sind in fundamentaler Weise interessenbedingt und daher in fundamentaler Weise emotiv, und die Gefühlsqualität der Prägnanzen kann sich zwar verringern, sie kann sich aber wieder — auch auf höheren Stufen des Erfahrungsprozesses — intensivieren. Monistische und pluralistische Wirklichkeitsmodelle unterscheiden sich graduell durch stärkere oder schwächere Betonung des Zusammenhangs aller Wirklichkeitselemente. Sie werden erst durch die entsprechende Steigerung der einen oder anderen Tendenz zu begrifflichen Gegensätzen. Daher ist die Negativfolie für die hen-kai-panFormel eine — mehr oder minder ausdrückliche — ontologische Vielheitsoption, die das Einheitsmoment des Vielen — also dessen Zusammenhang — konzeptionell minimiert. Diese Minimierung bzw. die Unzufriedenheit mit ihr ist aber dann offenkundig der Stachel für die ausdrückliche und eigenständige Konstituierung der hen-kai-panFormel, die darauf insistiert, daß die Wirklichkeit eben nicht schlechthin vielheitlich und zusammenhanglos sei. Die Formel trifft allerdings — in ihrer allgemeinen Gestalt — noch keine Aussage über die genauere Art der Einheit bzw. des Zusammenhangs. Die Formelprägung des hen-kai-pan, die andere, anderslautende Formeln über das Wesen der Wirklichkeit zurückweist, ist schon aufgrund dieses Zurückweisens — das einem Interesse entspricht — emotional besetzt, und die Emotionalität steigert sich entsprechend, je ausdrücklicher im hen-kai-pan das Insgesamt der Realität, also die Breite und Tiefe der Lebensumstände des 'die Form Schließenden', thematisiert wird. Im henkai-pan geht es nicht nur um ein abstraktes Insgesamt der Wirklichkeit, sondern vor allem auch um die Integration des Denkenden/Sprechenden selbst in diese Gesamtwirklichkeit. Es geht weder um Teile der Welt noch um Teile des Ich neben anderen Teilen der Welt und des Ich, sondern um das — in eine symbolisierte Einheit gebrachte — Ganze. Dieses umschließt alles Lebensbedeutsame, das vormals im (partikular verstandenen) Ichbegriff auf eine Formel gebracht wurde, und steigert es durch engste Verschränkung mit der gesamten übrigen Realität. Durch diese Verschränkung wird auch der übrigen Realität die gleiche Lebensbedeutsamkeit zugesprochen. Mit der Ausdehnung der Lebensbedeutsamkeit von Teilen aufs Ganze wird offensichtlich ein doppelter und dialektischer Effekt ausgelöst: Nicht nur das Ganze erscheint nun lebensbedeutsam, sondern es wird auch die Lebensbedeutsamkeit als solche noch einmal intensiviert. Wenn ich alltagssprachlich sage: 'es geht mir ums Ganze', so verbindet sich damit die Vorstellung eines Maximums des mir möglichen Interesses, meines Ernstes, meiner Betroffenheit, meines engagierten Fühlens und Wollens. Durch die

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Selbstreferentialität des hen-kai-pan — die versuchte Integration des Denkenden in das Gedachte — ist diese Struktur des 'es geht mir um...' gegeben. 15 Die hen-kai-panFormel ist daher nicht nur eine abstrakte Repräsentation des Ganzen, also nicht nur ein aussagender Sprechakt, sondern eine Engagement- und Betroffenheitsformel und somit ein konkretes Erlebnis und ein performativer Sprechakt. Sie ist, so gesehen, kein möglicher neutraler Gedanke. Indem es ihr um alles geht, führt sie auch zu einer maximalen Steigerung der Emotionalität. *

Zu (b): Die Steigerung der allgemeinen Emotionalität im hen-kai-pan ist zugleich eine Steigerung des speziellen Gefühls der Authentizität: durch die Entgrenzung ins All-Eine wird das Ich 'es selbst' — und das, obwohl es sich als Ich (im gewohnten Verständnis) nunmehr negiert. Wenn das Ich von seiner Negation spricht, so kann man auch hier — wie schon bei der All-Einheit — nach dem Sinn einer solchen Rede fragen. Zweifellos begegnet uns das Ich im gewohnten begrifflichen Verständnis als eine relativ problemlose, feststehende Größe. Ich kann z.B. mein 'ego cogito' genauso feststellen und von anderen Denkinhalten isolieren, wie ich das mit meinem Leib, meiner Biografie, meinen Empfindungen, Gefühlen und Handlungen zu tun vermag. Als Subjekt stehe ich gewissermaßen per definitonem den Objekten, als Individuum den allgemeinen Zusammenhängen gegenüber. 16 Dennoch ist die klare Abgrenzung von Ich, Subjekt und Individuum gegenüber der Welt — mit Toulmin zu sprechen: ihre Dekontextualisierung17 — eine Abstraktion, die sich nur in jener Denkweise bewährt, die mit festen, statischen Größen und Beziehungen rechnet. Doch diese Denkweise ist eine Stilisierung, der wir zwar verschiedentlich folgen, die aber in keiner Weise unsere gesamte Lebenswelt beherrscht. 18 Denkt man die Wirklichkeit als Prozeß und als dynamisches Kontinuum, gibt es keine klaren und vor allem keine durchgängigen begrifflich-kategorialen Abgrenzungen mehr. Zwar werden auch im dynamischen Weltverständnis ständig Abgrenzungen gesetzt oder vorgefunden, doch sie werden auch ständig wieder aufgelöst, verändert und überwunden. Ich, Subjekt und Individuum sind abstrakte Korrelationsbegriffe zu Welt, Objekten und Allgemeinem. In der konkreten Wahrnehmung und Erfahrung gehen jedoch all diese begrifflichen Oppositionen — und sie nähern sich damit wieder dem Status der vor-symbolischen Prägnanzen und Form-Schließungen — ineinander über. Wie steht es dann aber um die Authentizität des Ich bzw. um die Authentizität des Erfahrungsprozesses? Bekanntlich ist nicht der Erfahrungsstrom als solcher authentisch, sondern die Form-Schließung, deren Fixierung die Symbolisierung ist. Nun stellt freilich auch das Ich eine Form-Schließung und Symbolisierung dar. Das Ich ist authentisch, es wird — als Resultat eines Individuationsprozesses — zum Individuum, wenn das, was unter Ich verstanden wird, für den Denkenden ein Gesamtbild und einen vorläufigen Abschluß seiner Erfahrung darstellt. Dabei wird diese Selbst-Setzung — oder, vielleicht weniger mißverständlich: Selbst-Aneignung — des Ich immer wieder neu und anders vollzogen, d.h. der Denkende versteht unter seinem 'wahren' Ich auf den 445

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verschiedenen Stationen seines Denk- und Erfahrungswegs nicht durchgängig dasselbe. Er revidiert — in der Regel mehrfach und wohl auch prinzipiell unabschließbar — sein Ichbild und damit seine Authentizität. Der Prozeß der menschlichen Selbsterfahrung ist der Prozeß einander ablösender Ichbilder und Authentizitäten. Jedes Ichbild und jede Authentizität ist ein Akt der Erfahrung. Er weist alle Strukturmomente der Erfahrung (cf. 1.2.4) — vom ontologischen und objektiven bis hin zum spekulativen und fiktiven Moment — auf. Jedes Ichbild und jede Authentizität ist ein Brückenkopf der Erfahrung, der eine alte, nicht-mehr-authentische Erfahrung 'überholt' und, sofern er sich nicht unangemessenerweise verhärtet und so dem Erfahrungsfluß entfremdet, auch sich selbst diesem Strom und dem eigenen 'Überholtwerden' aussetzt. Jeder Form-Schließung — vorausgesetzt, daß sie weiterhin der Erfahrungsdynamik, aus der sie entstanden ist, verpflichtet bleibt und sich nicht aus der sich weiterentwickelnden Erfahrung hinwegzustehlen sucht — folgt ihre ganz natürliche Selbstdestruktion. Das gilt auch für Ichbilder und Authentizitäten. Es geschieht aus dem gleichen Bedürfnis, aus dem die Symbolisierungen entstanden sind: nämlich um Erfahrungsfixierungen zu finden, die 'dem, was ist', entsprechen, d.h. dem, was tatsächlich sowie hier und jetzt wahrgenommen, empfunden, gefühlt und gedacht wird. Bei sensibler Betrachtung der Ichbilder und Authentizitäten erweisen sich diese als überaus zerbrechliche Gebilde. Die religiöse und philosophische Geschichte des Ichbegriffs zeigt, daß die Selbstverständlichkeit von Ich, Subjekt und Individuum immer nur eine vorläufige und scheinbare ist.19 Nicht nur Umfang, sondern auch Struktur und Qualität des Ichbegriffs sind variabel. Die völlige Entgrenzung des Ich an die Welt, die völlige Aufhebung der Dichotomie von Subjekt und Objekt und die völlige Auflösung der Relation von Individuellem und Allgemeinem stellt einen äußersten und extremen Grenzfall der Exhaustion des Ichbegriffs dar, der entsprechend emotional aufgeladen ist und der ein extrem gesteigertes Gefühl der Authentizität eben dieser Symbolisierung vermittelt. *

Zu (c): Beim hen-kai-pan handelt es sich um eine Symbolisierung der Erfahrung, die zu den übrigen Symbolisierungen — die immer nur Einzelnes innerhalb einer umweltlichen Vielheit thematisieren — kognitiv und emotional in einem extremen Gegensatz steht. Daß die Gegenstände und Strukturen der Welt nicht eine genuine Vielheit, sondern eine genuine Einheit darstellen sollen, ist dem gewohnten Denken ebenso befremdlich wie der Gedanke einer 'Durchstreichung' des Ich. Dennoch ist das hen-kai-pan auch dem gewohnten, alltäglichen Denken — obwohl fürs erste paradox und befremdlich — kein völlig inakzeptabler Gedanke. Das gewohnte Denken hält sich zwar an Gegenständlichkeit und Vielheit und hält diese auch ontologisch für wahr, doch ist es mehr oder minder unbewußt auch von der Relativität dieser gewohnten Ordnung überzeugt. So wie sich in gewohnten Einheiten — jede Konzeptualisierung ist eine solche — oftmals eine später entdeckbare Vielheit verbirgt, so verbirgt sich auch in gewohnten Vorstellungen von Getrenntheit und Vielheit zuweilen eine vorerst nicht erkennbare Ein-

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heit. Daher ist der mystische bzw. metaphysische Gedanke, daß alles mit allem zusammenhänge und daß es hinter den Dingen eine letzte und höchste Einheit zu entdekken gebe, nur eine äußerste Radikalisierung eben dieser alltäglichen Einsicht. Aus dem genannten Grund ist das gewohnte Denken weder prinzipiell metaphysikfeindlich noch prinzipiell mystikfeindlich. Es hält sich die Einheitsoption offen, und sei es nur als kritisch-pragmatischen Kontrapunkt zur — pragmatisch akzeptierten — Ontologie der Vielheit und der Trennung von Ich und Welt. Die Befremdlichkeit, mit der vor allem das wissenschaftliche, aber auch das — von diesem stark beeinflußte — 'normale', alltägliche und lebensweltliche Denken der henkai-pan-Formel begegnet, wird durch eine gewisse von vornherein gegebene Vertrautheit mit dem Sinn dieser Formel wettgemacht. Das mehr oder minder bewußte Mißtrauen gegenüber jeglicher symbolischer Fixierung schafft ein labiles Gleichgewicht der Akzeptanz pluralistischer und monistischer Optionen. Die Sprache freilich und damit die Kultur insgesamt tendiert in ihrer Entwicklung zur Ausdifferenzierung ihrer Inhalte und Formen und damit zu vermehrter Gegenständlichkeit und Kategorialität. 20 Auf einer ausdifferenzierten Stufe der Sprachentwicklung wird daher die Denkweise der Mystik verstärkt als paradox empfunden, da diese die Ausdifferenzierung ja in Frage stellt. Mystik wird dann zuweilen nicht als hochreflexives Phänomen einer fortgeschrittenen Sprach- und Kulturentwicklung verstanden, sondern als Regression, als Flucht aus den bislang erarbeiteten Standards der Vernunft und Erfahrung. Vor der modernen Verwissenschaftlichung der Welt und damit der weitgehenden Festschreibung der Vielheitsoption im menschlichen Bewußtsein gibt es historisch aber auf einer älteren, weniger ausdifferenzierten Entwicklungsstufe von Sprache und Kultur — Cassirer hat dies nachdrücklich gezeigt21 — eine andere Fragestellung, in der es hinsichtlich der Wirklichkeitselemente noch nicht um ein Entweder-Oder von Identität und Heterogenität geht. So sind in der 'primitiven' mana-Vorstellung Personen, Dinge und Ereignisse zugleich identisch und nichtidentisch, ohne daß diese Gleichzeitigkeit — wie das im Diskurs der Mystiker oder auch in der Philosophie Hegels ausdrücklich geschieht — eigens thematisiert und reflektiert würde. Die Gleichzeitigkeit ist vielmehr eine rekonstruktive Größe, sie ergibt sich allein daraus, daß in verschiedenen Sprechsituationen der gleiche sprachliche Ausdruck — mit jeweils variierender Bedeutung — verwendet wird. Auf der Denkstufe der mana- Vorstellung gibt es noch keine Mystik im terminologischen Sinn, sondern nur Motive, die später in der Mystik — in verändertem Kontext und in veränderter Funktion — wiederkehren. Hier wird eben noch nicht explizit gesagt und gedacht, daß 'alles eins' sei — genauso wenig wie explizit gesagt und gedacht würde, die Realität sei eine konstitutive Vielheit. Es ist ein diesbezüglich indifferentes Bewußtsein, in dem der hen-kai-pan-Gedanke zwar keimhaft da, wo er aber noch keineswegs zur Formel geworden ist. Er wird weder ausdrücklich negiert, noch gilt er als generelles ontologisches 'Gesetz', und zudem ist er noch nicht durchgängig selbstreferentiell. Daher steht die mana-Vorstellung in keinem wirklichen Gegensatz zur Vielheitsontologie, sie ist vielmehr ein Oszillieren zwischen den konzeptionell noch nicht realisierten Möglichkeiten des Monismus und Pluralismus. Anders gesagt: es ist ein quasi-pragmatisch orientiertes, gleichzeitiges Geltenlassen beider Möglichkeiten.

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Erst wenn eine dieser Konzeptionen in der Kultur explizit 'festgeschrieben' wird, wenn sie in ein Symbol übergeführt wird, muß sich die andere Konzeption als Irrtum bekennen oder ihrerseits den ausschließlichen Wahrheitsanspruch für sich erheben. Werden Ontologien der Einheit und Ontologien der Vielheit als einander logisch ausschließende Modelle ausdifferenziert und stehen sie einander — statisch — als Wahlmöglichkeiten gegenüber, dann kann es nur die Wahl der einen und die Verwerfung der anderen Möglichkeit geben, nicht aber eine Versöhnung. Versöhnung jedoch ist nicht nur in einem primitiv-pragmatischen, sondern auch in einem theoretisch-begrifflichen Denken möglich: dann nämlich, wenn die Konzeptionen — wie dies (der Sache nach) bei Hegel gedacht wird22 — als historisch-vorläufige Schließungen der Form angesehen werden, die zwar Teil-Wahrheit, nicht aber ausschließliche und totale Wahrheit beanspruchen. Als unversöhnlicher Gegensatz zur gewohnten (d.h. an Vielheit orientierten) Weltauffassung wird das hen-kai-pan nur dann empfunden, wenn sich die ontologischen Modelle statisch gegenüberstehen. *

Zu (d): Wie aber kommt es strukturell — im Kontext unseres Erfahrungsprozesses — zu dem Gedanken des hen-kai-pan? Wie kommt es zu dem Versuch, eine differenzlose Identität alles Wirklichen zu behaupten und dabei das Ich in diese All-Identität hinein zu entgrenzen? Wie läßt sich die Entwicklung zu dieser — extrem selbstreferentiellen — Symbolisierung der Gesamtwirklichkeit rekonstruieren? Um eine Antwort auf diese Fragen vorzubereiten, ist auf den besonderen erkenntnistheoretischen und sprachfunktionalen Status der Ausdrücke 'Ich' und 'Gesamtwirklichkeit' bzw. auf den Status von 'Ichaussagen' 23 und 'Allaussagen' einzugehen. Wenn Wittgenstein im Tractatus behauptet, das Ich sei 'kein Sachverhalt' und daher kein Gegenstand einer möglichen sinnvollen Aussage — es sei immer schon die Grenze einer Welt, zu der es selbst nicht gehöre24 —, so ordnet er den Ichbegriff jener metasprachlichen Ebene zu, die gemäß den Voraussetzungen des Tractatus 'außerweltlich' und nur eine Sprosse der schließlich 'wegzuwerfenden' Leiter ist. Mit dieser Zuordnung leugnet Wittgenstein keineswegs die ontologische Realität des Ich, wohl aber seine Ausdrückbarkeit in der Sprache und seine objektive Denkbarkeit. Er reformuliert mit seiner Zuordnung freilich — in veränderter Form — die 'funktionale' Ichkonzeption von Hume und Kant, die der ' substantialen' Ichkonzeption, wie sie von Descartes und Leibniz vertreten wurde, gegenübersteht. Die 'substantial' Konzeption betrachtet das Ich — wie das auch noch in Peirces Theorie der indexikalischen Ausdrücke der Fall ist, wo die Regel der Substituierbarkeit des Ich durch Eigennamen gilt — gewissermaßen als 'Ding unter Dingen' und übersieht damit die besondere Reflexionsstruktur des Ich, die nicht in einem materiellen oder ideellen Substrat zu finden ist, sondern in einer bestimmten Funktion des Wirklichkeitsgeschehens. Kant hatte diese Funktion als Einheit der transzendentalen Apperzeption bestimmt, durch die allein ein sinnvoller logisch-kategorialer Zusammenhang des Denkens und damit der Wirklichkeit gewährleistet sei. Auch für — den frühen — Wittgenstein wird, wie für Kant, der Zusammenhang der

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denk- und sagbaren Welt von außen bzw. von ihrer Grenze her konstituiert, wobei sich Außen und Grenze allerdings dem sinnvollen Sprechen und Denken entziehen. Wittgenstein geht — wie vor ihm Hume — davon aus, daß wir in der Erfahrungswelt keinen 'sich selbst denkenden Gegenstand' vorfinden. Demnach ist das Ich also kein Gegenstand, sondern eine kognitive Funktion und als solche aus dem Erkenntnis- und Wirklichkeitsgeschehen — also dem Zusammenspiel von Ich und Welt, von Ich und Gegenständen — nicht eliminierbar. Von einer derartigen Nicht-Eliminierbarkeit des Ich spricht — wenngleich noch einmal in veränderter und differenzierter Weise — auch H.N. Castaneda, der für das Ich eine 'Beziehungspriorität' gegenüber allen anderen Namen und Kennzeichnungen annimmt. 25 Zwar könne das Ich, so Castaneda, in den meisten Fällen gegenständlich gedacht und dann auch durch Eigennamen substituiert werden, doch gebe es wichtige Fälle von Aussagen, die keine Substitution zulassen. Diese besondere Funktion des Ich wird unter transzendentalphilosophischer Prämisse — wie sie Fichte gegenüber Kant noch einmal radikalisiert hat — als Konstitutionscharakter für die gesamte Wirklichkeit definiert: Ohne Ich gebe es keine Wirklichkeit, keine Welt, keine Gegenstände, keine Kategorien. Das Ich 'setze' alles, sogar sich selbst. Die Ichkonzeptionen von Schopenhauer, Kant, aber auch bereits von Leibniz können als Varianten dieser Konstitutionstheorie gelesen werden. Besonders Leibniz' Monadenlehre ist hier — das gilt generell für ein Strukturverständnis der Mystik — von Interesse. 26 Die Monade bzw. das einzelne Ich repräsentiert das Ganze, d.i. die Einheit aller Monaden, und zwar nicht in passiver, sondern in aktiv-schöpferischer Weise. Als Monade — d.h. als Form oder Gestalt (denn in materieller Hinsicht kann die Monade durchaus heterogen sein) — ist sie die Einheit des Ganzen (und daher auch fensterlos, eben weil sie keine Fenster braucht), wenngleich unter einer bestimmten Perspektive. In Leibniz' Monadenlehre liegt nicht nur eine Reformulierung der alten hermetischen Lehre von der Einheit des Mikro- mit dem Makrokosmos vor, sondern auch eine Antizipation der Transzendentalphilosophie, in der das Ich als die Bedingung der Möglichkeit von Realität überhaupt gedacht wird. 27 Was in der späteren Transzendentalphilosophie gegenüber der Monadenlehre freilich verloren geht, ist der Gedanke der Reversibilität von Ich und Welt. Ich und Welt sind also, wie Teil und Ganzes, Korrelationsbegriffe. Der Begriff des Ganzen bzw. der Gesamtwirklichkeit hat mit dem Begriff des Ich den Status der prinzipiellen Andersheit gegenüber den 'Dingen' — d.i. der gegenständlichen, in eine Vielheit von Objekten sich aufspaltenden Realität — gemein. Auch die Gesamtwirklichkeit ist ein Grenzbegriff, ein — in Wittgensteins Diktion — 'sinnloser' metasprachlicher Ausdruck. Die 'Welt-als-begrenztes-Ganzes' wird im Tractatus als das 'Mystische' bezeichnet, das undenkbar und unausdrückbar und außerhalb des Welt-Sinns bleibt. 28 Wie das Ich, so ist auch der Begriff der Gesamtwirklichkeit — der Totalität — selbstreferentiell. Aus diesem Grund wird deren prinzipielle Denkbarkeit nicht nur von Wittgenstein, sondern auch von einem ganz anders orientierten Philosophen wie Jaspers bestritten: Das Ganze als solches sei nicht denkbar, weil es den Denkenden, von dem es, und den Denkakt, in dem es gedacht wird, nicht miteinschließen könne. Diese Argumentation stimmt freilich nur, wenn man die Wirklichkeit nur als Gegenstand und

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Akt denkt, nicht aber als prozessuale Beziehung. Bekanntlich hat Heidegger in Sein und Zeit die — von Jaspers als unüberwindlich angesetzte — Subjekt-Objekt-Spaltung durch den sehr einfachen, aber plausiblen Gedanken des Ίη-der-Welt-Seins' außer Kraft gesetzt. Wenn die Gesamtwirklichkeit nicht als Gegenstand — und damit als aus dem logischen Ganzen herausgeschnittener logischer Teil — betrachtet wird, sondern als Voraussetzung und als Horizont aller Subjekt-Objekt-Beziehungen, so ist sie ein legitimer Begriff, der, wenngleich nicht abgegrenzt gedacht, so doch problemlos thematisiert werden kann. Das unterstreicht auch Luhmann in seiner Systemtheorie29: Der Gedanke des Ganzen sei ein 'Schnitt', der durchaus vollzogen werden könne. Indem er vollzogen werde, sei dieser Schnitt freilich ein Konstrukt, das mit dem Gedachten — der Gesamtwirklichkeit als solcher — nicht mehr identisch sei und sie nur noch in 'schiefer' Weise repräsentiere. Doch könnten jederzeit neue und weitere 'Schnitte' hinsichtlich einer Repräsentation des Ganzen gemacht werden. Übertragen wir diese Überlegungen auf das Raster der symbolisch-prozessualen Erfahrungstheorie, so ist festzuhalten, daß es sich bei 'Ich' und 'Gesamtwirklichkeit' um Symbolisierungen besonderer Art handelt. Sie entstehen offenkundig erst auf einer sehr späten Ebene des Erfahrungsprozesses. Zu erinnern ist an die Sprach- und Denkentwicklung beim Kind 30 , wo es sehr lange weder eine bewußte Selbstreferenz noch eine Vorstellung der Gesamtheit der Dinge gibt — eine Beobachtung, die sich bei der Betrachtung der allgemeinen Kultur- und Sprachentwicklung wiederholt. Das Ich wird erst dann als solches bewußt, wenn auch seine Konstitutionsfunktion für die Erfahrung — für die Differenzierung und Ordnung der Welt — bewußt wird. Diese Konstitutionsfunktion muß übrigens nicht kantianisch oder deutsch-idealistisch gedacht werden, also nicht unbedingt als rein-spontane 'Setzung', sondern läßt sich auch als wie immer geartete Mit-Formung der bereits gegebenen Wirklichkeit begreifen. Damit gelangt das Symbolisierungsgeschehen auf eine zunehmend reflexiver werdende Ebene, d.h. die Symbolisierung verwechselt sich selbst nun immer weniger mit der Realität an sich, sondern lernt sich als — revidierbare — Symbolisierung begreifen. Doch kann sich dabei — außer in programmatischen metaphysischen Entwürfen, die (wie bei Descartes oder Kant) auf Dekontextualisierung abzielen — das Ich keineswegs als festen Pol begreifen, von dem aus die übrige Realität sowohl gesetzt als auch wieder zurückgenommen werden könnte. Die Skepsis gegenüber den Setzungen bzw. gegenüber den Perzeptionen wirkt auf das setzende bzw. perzipierende Ich zurück. Ein radikaler Sensualismus — wie von Mach oder vom späten Nietzsche vertreten — leugnet das Ich, freilich ohne die damit verbundenen Konsequenzen zureichend zu bedenken, als eine leere intellektuelle Fiktion. Doch gilt die Regel: Je problematischer die Welt für das Denken wird, desto problematischer wird auch das Ich. Betrachtet man den Ichbegriff pragmatisch, so wirft er deshalb nur geringe Probleme auf, weil pragmatischerweise — je nach Verwendung und Sprachspiel — Verschiedenes darunter verstanden werden kann. Sobald eines dieser Verständnisse aber festgeschrieben und in ein umfassend-kohärentes intellektuelles System eingeordnet wird, verliert der Ichbegriff an Authentizität. So handelt es sich etwa bei einem religiösen Ich, das als unsterbliche Seele verstanden wird, oder bei einem juristischen Ich, das durch

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seine klar zu definierende Verantwortlichkeit bezeichnet wird, genauso um 'erfahrungsschiefe' Stilisierungen wie beim philosophischen Ich Kants, das sich selbst seine transzendentale Setzungskompetenz und seine sittliche Autonomie bescheinigt. Solche Stilisierungen müssen, um nicht jeglichen Bezug zur Erfahrung und zu pragmatischer Handhabbarkeit zu verlieren, wieder relativiert werden. Dennoch entspringen die Stilisierungen als solche keiner anderen Größe als dem Erfahrungsprozeß selbst, der darin besteht, am laufenden Band Form-Schließungen zu produzieren. Nur in diesen F o r m Schließungen geschieht Authentizität: die Anerkennung und Aneignung der Wirklichkeit als meiner Wirklichkeit. So wie die Form-Schließung ist aber auch die damit verbundene Authentizität punktuell und transitiv, d.h. sie kann nicht bei sich selber stehenbleiben, sondern muß sich selbst überführen in eine neue Form-Schließung und damit in eine neue Authentizität. Es kann daher kein 'bleibendes' authentisches Ichbild geben, sondern nur eine Sukzession von Fixierungen, die in ihrem Konstitutions- und Destruktionsablauf eine Dialektik von Authentizität und Entfremdung mit sich führen und auch selbst von dieser bestimmt werden. Entfremdung ist der Stachel, um neue Authentizität zu suchen, und jede neue Authentizität schlägt offensichtlich wieder in Entfremdung um. Was den Begriff der Totalität angeht, so ist er keine in pragmatischen Lebenszusammenhängen antreffbare Größe, sondern eine Symbolisierung aus dem Bereich der Metaphysik — wenn wir unter Metaphysik die (in der Kultur erst spät vorgenommene) Anstrengung verstehen, die Wirklichkeit 'als solche und im ganzen' auf den Begriff zu bringen. Wie aber kommt es zu dieser Vorstellung? Welt begegnet in unserer Erfahrung zuerst als Umwelt, d.h. als Orientierungs- und Handlungsfeld mit offenem Horizont. Diesen Horizont begrifflich abzuschließen, dafür gibt es — auf frühen Entwicklungsstufen der Kultur (und, analog dazu, auch noch bei jedem Kind) — keine zwingenden Gründe. Diese treten offenkundig erst auf, wenn das Handlungs- und Orientierungsfeld begrifflich und theoretisch systematisiert wird und wenn sich dabei eine gewisse Verselbständigung der Systematisierung herausbildet. Begriffe und Theorien sind dann nicht mehr zur Gänze an ihre pragmatische Relevanz rückgebunden, sondern beginnen ein Eigenleben zu führen. Die Verselbständigung des Symbolischen geht so weit, daß die Wirklichkeit als solche schließlich nur noch in Begriffen und Theorien vorstellbar ist. Diese haben — ihrem Anspruch nach — das Ganze der Wirklichkeit einzuholen. Eine solche Tendenz äußert sich bereits in der vorsokratischen arche- und kosmos-Vorstellung, sie bildet sich aber vollends erst in der griechischen Schulphilosophie aus. Mit Hilfe theoretischer Allaussagen wird der Versuch unternommen, das 'Wesen' der Realität festzuschreiben. *

So wie die verschiedenen Modelle der Metaphysik verschiedene Symbolisierungen serer Erfahrungsdynamik darstellen, so handelt es sich auch bei der Mystik um eine che Symbolisierung. Die Mystik ist freilich nicht auf das Medium philosophischer grifflichkeit beschränkt. Erblickt man jedoch im hen-kai-pan den Zentralgedanken

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Mystik, so ist offenkundig, daß wir es prinzipiell mit einem philosophischen bzw. metaphysischen Gedanken zu tun haben. Wie lassen sich jedoch Metaphysik und Mystik auseinanderhalten? Der auffälligste Differenzpunkt liegt wohl in der Rolle der Emotion. In der Philosophie ist das hen-kai-pan ganz offensichtlich in erster Linie ein abstrakter Gedanke, der auch ohne besondere Emotion gedacht werden kann. In der Mystik ist das hen-kai-pan hingegen primär ein Gefühl und ein Erlebnis, d.h. eine persönliche und persönlich relevante Schließung der Form, die — wiewohl im Grunde genauso abstrakt wie der philosophische Gedanke — als konkret, lebendig und unmittelbar empfanden wird. Daher ist zwar das philosophische hen-kai-pan weitgehend emotionslos denkbar, sofern es eine (gleichberechtigte) Option unter anderen Optionen darstellt, nicht aber das mystische hen-kai-pan, das sich als notwendige und einzig-mögliche Schließung der Form ereignet. Allerdings handelt es sich bei dieser Gegenüberstellung von 'philosophisch' und 'mystisch' um idealtypische Gegensätze. In concreto gehen beide Formen meist ineinander über und sind nicht genau voneinander zu trennen. Mystik ist immer in gewisser Weise philosophisch, d.h. rekurriert auf einen in der Philosophie sehr wichtigen abstrakten Gedanken, doch auch der philosophische Diskurs kann Züge des mystischen Erlebnisses, einschließlich der emotionalen, annehmen. 31 Für die Erklärung des strukturellen Zustandekommens der hen-kai-pan-Symbolisierung in der Mystik scheint es notwendig zu sein, die geläufige Ansicht zurückzuweisen, daß die Wirklichkeitsmodelle, die der menschliche Geist als Form-Schließungen und Symbole setzt und anerkennt, immer nur als neutrale Entscheidungsmöglichkeiten im Raum stünden. Sofern jeweils dieses Modell gesetzt und anerkannt wird und nicht ein beliebiges anderes Modell, geschieht dies aus dem Bedürfnis nach Authentizität, d.h. nach authentischer Fixierung des jeweiligen Erfahrungsstandes, und ist schon deshalb entsprechend 'affektiv getönt'. Die vielen unterschiedlichen Ichbilder, die sich der Mensch im Lauf seiner intellektuellen Entwicklung macht, sind Authentizitäts-Punkte. Der radikalste Versuch, ein authentisches Ichbild zu gewinnen, besteht sicherlich darin, nicht nur alle bisherigen Ichbilder, sondern auch die Möglichkeit des Ichbildes als solche zu negieren. Dieser Versuch ist freilich in sich paradox, da die — den Realitätsbezug differenzierende — Funktion des Ich im Erfahrungsprozeß nicht tilgbar ist. Der Gedanke der prinzipiellen Ichnegation ist aber zumindest formell durchführbar, indem man an die Stelle des Ich den — gleichermaßen einen Grenzbegriff darstellenden und gemäß der gegenständlich-kategorialen Vorstellungsweise paradoxen — Gedanken der All-Einheit setzt. Indem versucht wird, die Kategorie des Ganzen zu denken und dies mit einer Gleichsetzung von Ganzem und Ich zu verbinden, entsteht eine 'Erfahrungs-Super-Struktur' 32 , die gewissermaßen eine Hyperbel aller vorangehenden und wohl auch aller möglichen Erfahrungsstrukturen darstellt: Sie beansprucht, alle Grenzen — alle Teil-Erfahrungen — hinter sich zu lassen und die Grenzen selbst mit darzustellen. Sie löst, indem sie das Ich zur Welt und die Welt zum Ich erklärt, die Schranke zwischen Erfahrungssubjekt und Erfahrungswelt auf. Sie entgrenzt damit auch den Begriff der Erfahrung selbst. Sie verläßt zwar nicht die Ebene des symbolischen Erfahrungsprozesses, doch verwandelt sie Erfahrung in ein Gebilde extremer Spekulation, das gleichwohl leibhaft und

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Symboltheoretische Bemerkungen

intensiv empfunden und gefühlt wird. Diese 'Erfahrungs-Super-Struktur' ist auch die denkbar radikalste Form von Selbstreferentialität. Die mit dem Ichbegriff mitgegebene Lebensbedeutsamkeit, die Emotionalität und das existentielle Interesse erstrecken sich nun auf die Gesamtwirklichkeit. Wird daher das hen-kai-pan nicht als blasser, abstrakter Gedanke genommen, sondern als persönliche und persönlich-notwendige Schließung der Form, so ist auch die mitgegebene Authentizität prinzipiell nicht mehr steigerbar. Damit ist eine Erklärung angedeutet dafür, warum die Mystiker so nachdrücklichen Wert darauf legen, daß nur der 'Inspirierte', der 'Selbsterfahrende' sinnvoll über Mystik sprechen könne. Dies wird nämlich nur allzu oft als das Beharren auf einem logischen (oder zumindest einem hermeneutischen) Zirkel gedeutet. Die hen-kai-pan-Erfahrung ist aber durchaus auch von außen strukturell beschreibbar und erklärbar. Für den Mystiker selbst ist die extreme Emotionalität, der er sich ausgesetzt sieht, zuweilen eine Art 'Wahrheitsbeweis' hinsichtlich der 'objektiven' Gültigkeit seiner Form-Schließung (ein 'Beweis der Kraft'). In der vorliegenden Strukturanalyse bleibt die Frage von Wahrheit und Irrtum durch die Emotionalisierung jedoch unberührt. Offensichtlich ist die hen-kai-pan-Formel der Strukturkern des Gesamtkomplexes der mystischen Erfahrung. Die übrigen Strukturmomente sind demgegenüber sekundär und eher als Umfeld- und Verlaufsbeschreibungen des hen-kai-pan-Prozesses zu interpretieren. Daher fallen die nun folgenden Abschnitte über die Charakteristika (2) bis (12) kürzer aus. Es geht vorwiegend um Ausgestaltungen und Ergänzungen des bislang Erörterten und um seine Wiederholung unter anderen Aspekten. Festzuhalten ist, daß sich der Gesamtkomplex der mystischen Erfahrung um das hen-kai-pan herum gruppiert und daß alle Charakteristika mit dem hen-kai-pan im Sinn einer funktionalen Gesamtordnung verbunden sind.

3.2.2 Transkategorialität: Die Negation von Zahl, Vielheit, Gegenständlichkeit, Raum, Zeit und Kausalität Im Gegensatz zu den zahlreichen und ständig wiederholten Negationen, die uns in den Mystikertexten begegnen, ist die hen-kai-pan-Formel ein 'positiver' Begriff. Mit jeder positiven Aussage ist aber auch die Möglichkeit ihrer Negation mitgegeben — man denke an Spinozas 'omnis determinatio est negatio'. Jede Bejahung von irgendetwas beruht auf der Verneinung des Gegenteils. Dies gilt für jede Prägnanz, jede Form-Schließung, jedes Symbol. Die hen-kai-pan-Formel negiert den ontologischen Pluralismus oder besser: sie bedeutet den Versuch und die Anstrengung einer solchen Negation. Das Resultat des Bemühens ist nämlich fragwürdig. Denn: Sind die Negation der Pluralität und das Postulat einer schlechthinnigen Einheit — einer Einheit ohne Vielheit — nicht deshalb schon ein aussichtsloses Unterfangen, da es sich um Korrelations- und Komplementärbegriffe handelt? Allgemein gilt: Einheit bedingt Vielheit — und umgekehrt. Wir können von Einheit nur dann sprechen, wenn wir sie einem Anderen ihrer selbst gegenüberstellen. Mit dem 453

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Anderen ist aber der Begriff des Mehr-als-eins und damit der Vielheit mitgegeben. Wenn wir versuchen, die Gesamtwirklichkeit zu denken, können wir sie weder zeitlich noch räumlich begrenzen; es bleibt uns nur die vage und kompakte Vorstellung eines maßlosen Kontinuums. Dieses ist strukturlos, hat somit kein Relevanzgefälle und erzeugt daher auch keine Emotion. Es ist dies noch nicht die Einheit der hen-kai-panFormel. Sobald wir besagtes Kontinuum in einen Raum disparater und distinkter Gegenstände und Strukturen verwandeln, sobald wir also irgendwelche Grenzen ziehen, haben wir Vielheit. Die Vielheit ihrerseits besteht aus — prinzipiell zahllosen — Einheiten. Diese konstituieren sich durch Akte des Begrenzens. Die vielen Einheiten sind nicht nur abstrakt gedachte, sie können auch — z.B. als gesehene, gehörte, ertastete Einheiten — durch verschiedene Sinne und Sinn-Kombinationen konstituiert werden. Jede im Verlauf des Erfahrungsprozesses begegnende bzw. konstruierte Prägnanz ist eine dergestalte Einheit. Aber gibt es neben diesen vielen, die Vielheit als solche konstituierenden Einheiten auch eine die Vielheit übergreifende Einheit? Gibt es die Einheit der Totalität ?33 Der Erfahrungs- und Symbolisierungsprozeß als solcher kommt als Träger einer solchen Totalität nicht in Frage, denn er zeigt sich als ein offener Horizont mit einer Vielheit von Prägnanzen. Doch die erste Möglichkeit (a) für einen Totalitätsbegriff besteht darin, daß man eine Einheit des bloßen Daß-Seins ansetzt. Allerdings beinhaltet diese Einheit des Daß — wie zuvor schon das 'maßlose Kontinuum' — keinen Strukturzusammenhang. Sie impliziert in ihrer formalen Leere auch das Daß-Sein aller negativen Sachverhalte — also all desjenigen, was 'nicht ist' — und hat keine Lebensbedeutsamkeit. — Eine zweite Möglichkeit (b) besteht darin, die übergreifende Einheit als — inhaltlich wie auch immer näher zu bestimmenden — Ordnungszusammenhang des Vielen anzusetzen. Eine solche Struktur anerkennt die Vielheit als solche. Sie formiert diese bloß, negiert sie aber nicht. — Eine dritte Möglichkeit (c) besteht schließlich darin — und mit ihr nähern wir uns nicht nur erneut der Monadenlehre Leibniz', sondern auch der Rede von Einheit im mystischen Diskurs —, Einheit als Isomorphic oder Analogie innerhalb einer konstitutiven Vielheit zu denken. Man stellt dann die Gleichheit oder Verwandtschaft der Struktur einer Einheit mit einer anderen fest, in stärkeren Versionen: man unterstellt die Isomorphic oder Analogie aller Einheiten untereinander und/ oder zwischen der einzelnen Einheit und dem Insgesamt aller Einheiten. Während die erste (a) dieser drei Möglichkeiten, denen gemäß eine die Vielheit übergreifende Einheit denkbar ist, wohl kaum als persönlich und existentiell relevante (und somit auch emotional bedeutsame) Form-Schließung in Frage kommt, ist dies bei den Möglichkeiten (b) und (c) anders. Eine Ordnung in irgendeinem Teilbereich unseres Lebens wahrzunehmen oder zu imaginieren, ist im wörtlichen Sinn ein ästhetischer, d.h. von den Sinnen durchgeführter und die Sinne ergreifender Akt, dem sehr wohl Lebensbedeutsamkeit zukommen kann. Eine Ordnung der gesamten Wirklichkeit wahrzunehmen oder zu imaginieren, muß zwangsläufig in besonderer Weise lebensbedeutsam sein. Dies bezeugen nicht nur die von einer ' Weltformel' sprechenden modernen Physiker, sondern auch — seit dem Auftreten der prophetischen Religionen — jene durch Offenbarung Ergriffenen, denen sich die kosmische Natur und/oder die Weltge-

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Symboltheoretische Bemerkungen

schichte als singuläres Wunderwerk göttlicher Schöpfung und Planung darstellt. Die mit solchen Vorstellungen einer universalen Ordnung verknüpften großen Emotionen und ihr Abstand zu den kleinen Emotionen des alltäglichen Lebens sind bekannt. — Die dritte Denkmöglichkeit einer übergreifenden Einheit aber (c), die wohl der Intention des mystischen hen-kai-pan am nächsten kommt, verbindet sich gelegentlich mit einer Emotionalität, die jene der Denkmöglichkeit (b) sogar noch übertrifft. Hier liegt ein Begriff von Einheit vor, der weder das nichtkonturierte 'maßlose Kontinuum' meint, noch das triviale Daß-Sein aller Einheiten, noch eine die Vielheit als solche erneut legitimierende Weltordnung. Es handelt sich nun um einen transitiven, gewissermaßen 'vagabundierenden' Einheitsbegriff, der eine kontingente endliche Einheit — prinzipiell unabschließbar — in andere kontingente endliche Einheiten überführt und in der Bewegung dieses Überfiihrens das (nunmehr vielheitlich und konturiert bleibende) Ganze sowohl voraussetzt wie auch noch einmal eigens thematisiert. Das Ganze ist jetzt nicht mehr statisch-begrenzt und ein objektivierbarer Gegenstand des Denkens, sondern dynamisch-offen und gleichermaßen Bedingung, Motor, Vollzug und Ergebnis des Denkens bzw. — allgemeiner — des sich orientierenden, form-schließenden und symbolisierenden menschlichen Daseins. Von einem solchen Verständnis von Einheit ist auszugehen, wenn wir das in den Mystikertexten so häufig auftretende Motiv der Transkategorialität analysieren wollen. In den Texten wird von einem 'Zustand der Seele' bzw. von einer 'anderen' oder 'eigentlichen' Wirklichkeit gesprochen, wo Zahl, Vielheit, Gegenständlichkeit, Raum, Zeit und Kausalität irrelevant sind bzw. wo sie sowohl gnoselogisch wie ontologisch nicht mehr existieren. Für Eckhart sind diese Kategorien die Bestimmungen der 'Kreatürlichkeit', also: der Geschaffenheit der Wirklichkeit und des Menschen durch Gott. Das Geschaffene wird aber nicht — wie bei manchen Gnostikern —• als reine Defizienz angesehen, sondern als notwendiger Prozeß dafür, daß sich die Wirklichkeit (die bei Eckhart gemäß seiner Formel 'esse est deus' eine göttliche ist) selbst realisiert. Sie realisiert sich — hier ist zweifellos ein neuplatonisches Denkmuster wirksam — durch kategoriale Differenzierung, also durch die Konstituierung von Zahl und Vielheit, Raum und Zeit, Kausalität und Gegenständlichkeit (zäl, menige, stät, zit, warumbe, liplicheit). Doch die Selbst-Realisierung der Wirklichkeit bleibt nicht bei dieser Konstitution und Differenzierung stehen. Diese ist vielmehr ein Mittel — in der mehrfachen Bedeutung des Wortes: ein Medium —, um dasjenige, was die Kreatürlichkeit nicht ist, zu erfahren. Dieses der Kreatürlichkeit gegenüber Andere ist bei Eckhart die Dimension Gottes (genauer: der 'Gottheit'). In ihr sind die Bestimmungen der Kreatürlichkeit hinfällig — und eben im Hinblick auf die Kategorien wird die Gottheit apophatisch umschrieben als nicht-geschaffen, nicht-vielheitlich, nicht-zählbar, nicht-gegenständlich, räum- und zeitlos und 'ohne Warum'. Dazu kommen weitere Negationen wie 'bildlos' und 'willenlos', die noch näher zu analysieren sein werden. Die Dimensionen des Kreatürlichen (d.i. aller geschaffenen Dinge — und vor allem: des Menschen) und des Ewigen (d.i. der Gottheit) stehen bei Eckhart nicht bezuglos neben- und auch nicht gegeneinander, sondern werden korrelativ gedacht. Zwar geht der christliche Theologe Eckhart, der zeitlebens um Orthodoxie bemüht ist34, nicht so 455

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weit wie andere Mystiker, daß er behaupten würde, Gott sei schlechthin auf die Welt bzw. auf den Menschen angewiesen. Was er aber vorrangig thematisiert, ist das Geschehen und ist die Dynamik der Korrelation, die im Menschen bzw. in der menschlichen Seele statthat. Diese Dynamik — im Rückgriff auf die Trinitätsspekulation als 'Gottesgeburt in der Seele' beschrieben — ist die vorhin genannte Selbstrealisierung der Wirklichkeit, und ihre Stätte ist der Mensch, die Kreatur also (abstrakt gesprochen: die Kategorialität). Der Mensch ist ein Doppelwesen: zeitlich-ewig, endlich-unendlich, kreatürlich-göttlich. Die Selbstrealisierung ist ein Prozeß der Freiheit und der Gnade — mit ungewissem Ausgang. Der Mensch kann weitgehend seiner Kreatürlichkeit verfallen. Dann mag er zwar 'die Welt erkennen', d.i. die kreatürlichen Bestimmungen bzw. die Kategorien begreifen und ihnen folgen, er ist aber dann blind für die Dimension des Göttlichen. Er kann jedoch die Kreatürlichkeit — im Gegensatz zu Gott freilich nicht zur Gänze - abstreifen und immer tiefer in die Dimension des Göttlichen eintreten. Er kann — wie Eckhart formuliert — dieses Leben mit einem anderen Leben vertauschen. Ein solcher Tausch vollzieht sich in der unio. Deren Ermöglichung ist das 'Fünklein', das 'Bürglein' oder die 'Spitze' in der Menschenseele. Gemeint ist damit eine Disposition dafür, bereits in diesem Leben, also unter den Bedingungen der Kreatürlichkeit, um das andere, nichtkreatürliche Leben nicht nur zu wissen, sondern es mit allen Kräften des Geistes, des Gefühls und der Sinnlichkeit — und durch diese Kräfte hindurch — sozusagen leibhaftig zu erfahren. Die Mystiker legen Wert auf die Feststellung, daß die unio eine Erfahrung sei und nicht 'bloße' Spekulation. Das spekulative Moment, obwohl untrennbar mit dem mystischen Erleben verbunden, ist sicherlich nicht der eigentliche Kern der Mystik. Die Spekulation speist sich nicht nur aus der sinnlich-konkret ausgewiesenen Erfahrung und ist nicht nur die abstrakte Transformation des Bildes dieser Erfahrung, sondern steht — und sie entfernt sich damit prinzipiell von der konkreten Erfahrungsebene — im Zusammenhang mit kulturell vorgegebenen philosophischen und theologischen Diskursen. Daraus ergeben sich zuweilen sowohl Zweideutigkeiten in der Terminologie des Mystikers wie auch Schwierigkeiten bei der Theoretisierung des Erlebten. Der Grundgedanke der Transkategorialität ist immerhin klar formulierbar. Er besagt: Die Seele hat zwei einander zugleich konträre wie komplementäre Erkenntnisweisen — 'zwei Antlitze' (Avicenna) bzw. ein 'inneres' und ein 'äußeres Auge' (Augustin). Diese gnoseologische Behauptung bezieht sich ontologisch auf die doppelte Realität, in der der Mensch steht: Kreatürlichkeit und Ewigkeit. Die Erkenntnisweisen blenden sich gegenseitig gewissermaßen aus: das Licht der einen ist die Finsternis der anderen, das Wissen dieser ist das Nichtwissen jener. Das Negative der einen ist das Positive der anderen und umgekehrt. Obwohl für Eckhart — wie für die gesamte christliche und monotheistisch-hochreligiöse Mystik überhaupt — die göttliche Dimension die zweifellos wertvollere ist, wird dennoch der kreatürlichen Dimension ein relatives Recht zugesprochen. Der moderne Gedanke, daß die Sprache als solche dem menschlichen Denken unüberwindliche Grenzen setze, ist Eckhart fremd. Zwar geht er — implizit — von einer Gleichsetzung von Denken und Sprache aus, doch sind Denken/Sprache für ihn genauso doppeldimensional wie die Seele: Der 'normalen' oder kreatürlich-menschlichen Spra-

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Symboltheoretische Bemerkungen

che korrespondiert die göttliche und Engelsprache. Freilich verzichtet letztere — und damit ist sie im mystischen Diskurs konkret nicht einlösbar, sondern hat den Charakter einer regulativen Idee — auf Kategorialität und damit auch auf eine (endliche Ordnungen evozierende) Grammatik. Ebenso verzichtet sie auf Gegenständlichkeit und somit auf mögliche Begriffsbestimmungen. Allerdings vermag die 'normale' Sprache durchaus metaphorisch die Funktion der göttlichen zu übernehmen. Die im mystischen Diskurs veranschlagte Transkategorialität kann, da sich Kategorien auf eine plurale und gegenständlich-distinkte Welt beziehen, als eine stimmige Konsequenz der hen-kai-pan-Formel betrachtet werden. Wichtiger als die substantielle Negation der Vielheit — die, wie noch zu zeigen sein wird, eine überzogene Forderung und nicht einlösbar ist — scheint die isomorphe oder analoge Fassung des Einheitsbegriffs: Was die Kreaturen untereinander gemeinsam haben, ist ihre Kreatürlichkeit, und was sie mit Gott gemeinsam haben, ist der Ort der Selbstrealisierung der Wirklichkeit: die menschliche Seele, in der die Dynamik und der Doppelcharakter der Realität wirksam sind und im Denken und Sprechen der Seele — wir können auch sagen: in ihrem Erfahrungsdiskurs — eigens in Erscheinung treten. Psychologisch und erkenntnistheoretisch ist zu fragen, ob die Kategorienverneinung eine unbegründete Fiktion und Wunschvorstellung ist oder ob hier tatsächlich die Kategorien außer Kraft treten. Unter den Prämissen der symbolisch-prozessualen Erfahrungstheorie ist diese Frage sekundär. Zudem muß sie dort anders formuliert werden: Form-Schließungen können prinzipiell 'nur' subjektive Wahrheit beanspruchen, sind also in erster Linie Überzeugungen, und Symbolisierungen — die im allgemeinen sozial kontrolliert und legitimiert werden — gründen, wie jede Prägnanz, zwar z.T. auf Elementen sinnlich-konkreter Erfahrung, enthalten aber konstitutiv auch ein spekulatives und fiktives Moment, das sich unter Umständen völlig verselbständigen und die Symbolisierung sogar dominieren kann. Es ist also jeweils zu fragen — und diese Frage kann immer nur pragmatisch beantwortet werden —, in welchem Grad sich eine Symbolisierung von der Basis der sinnlichen Wahrnehmung entfernt und welchen Grad von Spekulation bzw. Fiktion sie angenommen hat. Dabei ist freilich die sinnliche Wahrnehmungsebene keineswegs ein verläßlicher Indikator für die Gradeinschätzung an Realismus, ist — formal gesehen — auf ihr doch der gleiche Ablauf von prägnanzbildender Komplexitätsreduktion und -Stiftung gegeben wie auf den späteren, diskursiven Erfahrungsstufen, wo das spekulative Moment sukzessiv zunimmt. Wenn die Frage nach der 'Wahrheit' der Transkategorialität also nur pragmatisch zu beantworten ist, so ist sie folgendermaßen reformulierbar: Ist die transkategoriale Konzeption 'nützlich' und 'geeignet' in dem Sinne, daß sie eine 'neue' Erfahrung auf den Begriff bringt und zugleich in maximaler Kohärenz zu unseren 'alten' Erfahrungen steht? Transkategorialität ist jedenfalls immer wieder — für viele Menschen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten — ein Gedanke und vor allem auch ein Gefühl, das die Betreffenden existentiell bewegt und das Konsequenzen für ihre gesamte Haltung zeitigt. Die Transkategorialität ist — unter kognitivem Aspekt — keine Regression in das 'maßlose Kontinuum', sondern der Versuch einer konstruktiven Weiterbildung des in Kategorien sich ausdifferenzierenden Wirklichkeitsmodells. Der transka-

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

tegoriale Diskurs versucht zu zeigen, daß die kategoriale Welt nicht die letztmögliche und letztgültige ist, sondern daß es zugleich mit der Geltung der Kategorien auch deren Nichtgeltung gibt, die wir — als eine sinnvolle und in gewisser Weise sogar notwendige Form-Schließung — eigens erfahren können. Sind die Kategorien und die Kategorienwelt also eine Form-Schließung (und, spätestens in der philosophischen Begrifflichkeit, auch eine Symbolisierung), so gilt dies in gleicher Weise für das transkategoriale Modell. Jede Negation eines Modells ist ein Ausdruck von Skepsis. Die Verneinung der Kategorien drückt daher Kategorienskepsis aus. Diese verbindet sich in der Regel freilich sofort wieder mit konstruktiven und spekulativen Überlegungen. Demnach ist Mystik nicht ausschließlich und nicht in erster Linie Skepsis, auch wenn sie ein — in der Mystikforschung meist unterschätztes — 'skeptisches Potential' (Wagner-Egelhaaf) aufweist.

3.2.3

Gesteigerte Emotionalität: Liebe, Ekstase

Das Charakteristikum der gesteigerten Emotionalität wurde in den beiden vorhergehenden Kapiteln bereits in einigen wesentlichen Punkten analysiert. Jegliches Denken, wurde gesagt, ist 'affektiv getönt' und vollzieht sich durch die Schaffung oder — besser — den Vollzug von Form-Schließungen (Prägnanzen), d.h. von Formen und Mustern der Orientierung und Sinnbildung, die sich nicht durch Kreation aus einem Nichts oder aus einem schlechthinnigen Chaos von Empfindungen konstituieren, sondern durch Umformung bereits vorhandener Formen und Muster. Die Prägnanzen sind daher transformative Größen, sie haben eine kontingente Geschichte und sind selbst prinzipiell weiterer Transformation fähig. Sie reduzieren — systemtheoretisch gesprochen — vorhandene Komplexität und stiften im Zuge dieser Reduktionsakte gleichzeitig neue Komplexität. Dies geschieht durch Negation, Verstärkung, Trennung, Betonung und Neuverbindung vorfindlicher Wahrnehmungselemente, und es geschieht aus fundamentalen persönlichen Interessenlagen heraus wie angenehm-unangenehm, lustvoll-schmerzhaft, harmonisch-disharmonisch usf. So werden — in den Akten der Wahrnehmung gleichermaßen wie in den Akten der Wahrnehmungsverarbeitung — sogenannte Relevanzgefälle erzeugt, die sich als Gefühlslagen äußern. Es ist also die mit der Prägnanzbildung verbundene Wertung, die auch die 'affektive Tönung' des Denkens und der Weltorientierung überhaupt konstituiert. Die kognitiven Prägnanzen sind — mehr oder minder augenscheinlich — immer zugleich emotionale Prägnanzen. Die Prägnanzbildung selbst ist ein sowohl emotionsbedingter wie emotionsstiftender Akt, so daß von einer Gleichzeitigkeit oder Gleichursprünglichkeit von Prägnanz und Emotion gesprochen werden kann. Erst die weitere Dynamik des Erfahrungsprozesses, in dem sich die Prägnanzen gegenüber ihrer eigenen Prägungsgeschichte, d.h. aus ihrer lebensweltlichen Einbettung heraus, zunehmend verselbständigen und 'dekontextualisieren', führt zu einer Trennung der Prägnanz in ihrem kognitiven Gehalt von dem damit verbundenen Gefühl. Der Ab-

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Symboltheoretische

Bemerkungen

koppelung kognitiver Gehalte aus dem integrativen Erfahrungsprozeß entspricht eine Abkoppelung von Gefühlen (die im psychologischen Diskurs dann als 'reine Gefühle' mißverstanden werden können). Je persönlicher und existentieller die Interessenlage bei der Prägnanzbildung ist, desto höher fällt vermutlich die Emotionalität der Prägnanzen aus. Kommt es nun in der hen-kai-pan-Formel zu einer Prägnanzbildung des Inhalts 'Gesamtwirklichkeit', die — selbstreferentiell — mit dem Begriff des prägnanzbildenden Ich gleichgesetzt wird, so ist es naheliegend, daß sich damit eine maximal gesteigerte affektive Tönung verbindet. Dieses Resümee ist freilich für eine Analyse des emotionalen Moments in der mystischen Erfahrung noch keineswegs ausreichend. Bis jetzt ist noch nicht einsichtig, warum es sich bei der mystischen Emotion — wie vor allem die christlichen Mystiker nicht müde werden zu betonen — zentral um Liebe handelt und nicht um irgendwelche anderen Gefühle. Weiters ist noch nicht einsichtig, warum sich diese Liebe bis zur Ekstase steigert und inwiefern diese — als ein (wörtlich:) 'Außer-sich-Sein' und als ein Sich-selbst-Vergessen — strukturell eine Konsequenz aus der selbstreferentiellen henkai-pan-Formel darstellt. Schließlich wurde bislang der Unterschied zwischen 'bloßer' Prägnanz bzw. Form-Schließung und dem Akt der Symbolkonstituierung zwar dargelegt, nicht aber in seiner Bedeutung sowohl für die Individuation und das Persönlichkeitsbewußtsein wie auch für die Aus- und Fortbildung von Gefühlsstrukturen eigens erläutert. Ich beginne mit diesem letzten Punkt. Vorläufige Prägnanzen bzw. vorläufige Gestalten der Weltorientierung gibt es — als Leistungen primitiver sinnlicher Rezeptivität und primitiver Imagination — bereits auf den untersten Stufen der Wahrnehmung. Diesen Prägnanzen fehlt freilich noch das Kriterium ihrer Identität: es sind instabile, im Bewußtsein aufblitzende, aber nicht fixierbare Form-Schließungen, die sich rasch wieder auflösen und dem Bewußtsein entgleiten. Cassirer hat dieses Phänomen in seiner umfangreichen Rezension zu H. Useners 'Entstehung der Götternamen' am Beispiel der 'Augenblicksgötter' erläutert 35 , und Cassirer hat außerdem betont, daß mythologische und allgemein-sprachliche Entwicklung in dieser Beziehung Hand in Hand gehen. 36 Eine Identität von Vorstellungen, also: durchgängige Selbigkeit, ergibt sich erst, wenn sich die Vorstellung an ein materiales Substrat mit relativ einfachen Formeigenschaften knüpft und somit fixierbar und reproduzierbar wird. Dieses materiale Substrat oder Medium ist z.B. in der gesprochenen Sprache der (gemäß seinen Formeigenschaften identifizierbare und unterscheidbare) Laut und in der geschriebenen Sprache der Buchstabe. Die mana-Vorstellung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie ihre Prägnanzen eben noch nicht fixiert, so daß dem 'mana' keine durchgängige Identität zukommt, also keine sich-durchhaltende und gleichbleibende Bedeutung. Diese ist erst durch und mit der Symbolisierung gegeben, d.h. durch und mit der dauerhaften Bindung der Bedeutung an ein materiales Substrat. Erst auf der Basis entsprechender materiell abgesicherter Symbolsysteme wie Sprache, Schrift, Musik, bildende Kunst und Technik können sich später Symbolsysteme 'höherer' oder — besser — abstrakterer Ordnung wie Mythologie, Religion, Philosophie und Wissenschaften aufbauen, deren Prägnanzen nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch in einer abgeleiteten und kompliziert-vermittelten Weise auf materielle Substrate verwiesen sind. 37

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

Die mit der Symbolisierung gegebene Identitätsleistung hat fürs erste affirmativen und konservierenden Charakter. Dies mag auch für die emotionale Seite dieser 'gerinnenden' oder 'sedimentierenden' Form-Schließung gelten. Durch Symbolisierung wird die menschliche Gefühlswelt bestimmter, beständiger, unterscheidbarer und reproduzierbarer als vordem. Zwar sind auch Symbole — wie die vorsymbolischen Form-Schließungen — keine äternalistischen, d.h. ein für allemal mit sich selbst identischen Größen, sondern Brückenköpfe im — weiterfließenden — Erfahrungsstrom. Auch Symbole sind transitiv. Denn die Medien und Symbolsysteme gehen untereinander zahlreiche und veränderliche Verhältnisse ein, die ihrerseits wieder nichts anderes sind als neue, übergreifende Form-Schließungen — also Akte, die das vorhandene komplexe Wahrnehmungs- und Denkmaterial vereinfachen, Akte, die prägnante Linien ziehen sowie Figuren zeichnen und die daher Gegebenes und Vorfindliches verstärken und ausblenden, analogisieren und kontrastieren. Diese Akte kreieren das 'Neue'. 38 Symbole und ganze Symbolsysteme treten in neue Konstellationen, sie verschieben und verändern ihre Form, Funktion und Bedeutung. 39 Doch zweifellos richtet sich der Großteil der kulturellen Anstrengung in der frühen Menschheitsentwicklung darauf, eine verläßliche Symbolwelt zu gewinnen und zu erhalten. Da diese Gewinnung und Erhaltung als ein existentielles Interesse wirksam ist, verbindet sie sich mit entsprechenden Emotionen, die sich an die Gewinnung und Erhaltung von Symbol weiten heften. Wer in einer archaischen Gesellschaft (bzw. im archaisch gebliebenen Milieu einer modern-pluralistischen Gesellschaft) 'primäre Pflichten' 40 verletzt, büßt dies nicht nur mit unmittelbarer rigoroser Bestrafung von Seiten der Gemeinschaft, sondern lenkt auch enorm gesteigerte Aggressivität auf sich. Erst wenn Symbolsysteme genügend etabliert, eingeübt und als selbstverständlich akzeptiert sind, vergleichgültigt sich dieser Wille zur Sekurität, dieses archaische Streben nach Gewinnung und Erhaltung von das Denken und Weltverhalten normierenden Symbolen. Eines der identitätsstiftenden Symbole, die im — gesamtkulturellen wie individuellen — Erfahrungsprozeß gesucht und gewonnen werden und die im weiteren Verlauf dieses Prozesses eine zentrale Funktion übernehmen, ist der Begriff des Ich oder der Seele. (Havelock bindet diesen Begriff an die Ausbildung der Schrift als gegenüber der reinen Oralität neuer Kommunikationstechnologie.) 41 Damit symbolisiert der Mensch sich selbst: das Subjekt, also den Spiegel und Motor des gesamten Erfahrungsprozesses, und vollzieht damit eine selbstreferentielle Form-Schließung, die auf der Ebene des rein objektivierenden Wahrnehmens und Denkens niemals einholbar ist und so zu einem Wahrnehmungs- und Abstraktionsphänomen der Grenze möglichen Symbolisierens wird. Mit der Selbst-Objektivierung und der Selbstreferentialität dieses neuen Symbols schafft der Mensch eine Grenze seiner Grundtätigkeit, der Symbolisierung, und stößt auf Unübersteigbares, das er aber — der Prägnanzbildungs-Logik des Erfahrungsprozesses folgend — dennoch durch neue und weitere Symbolisierungen einholen möchte. Das Ich ist seinem Umfang, seiner Intensität, Gestalt und Funktion nach durchaus variabel. 'Geist', 'Seele', 'Subjekt' und 'Individuum' sind verschiedene Titel für mögliche Variationen des Ichbegriffs, d.h. des menschlichen Selbstverständnisses.42 Immer aber geht es dem Ich — das ist im neuzeitlichen Philosophem der 'Selbsterhaltung'

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Symboltheoretische Bemerkungen

richtig ausgedrückt — um es selbst, auch dann, wenn es sich (angeblich) 'an die Welt verliert'. Somit ist der Selbstbezug, ob eingrenzend oder entgrenzend, auch eine besondere Quelle von Emotionalität. Der Grad der Emotionalität bemißt sich nach dem Grad des existentiellen Interesses, das sich mit einer Form-Schließung verknüpft. Das Verlieren-an-etwas-anderes ist aber nur eine Variante des Selbstbezugs. Das ist nicht so zu verstehen, als ob dieser Selbstbezug primär wäre und der Bezug auf anderes erst sekundär, sondern so, daß eben jeder Bezug auch Selbstbezug ist. Wird dieser Selbstbezug — was historisch erst in den prophetischen Religionen und in der Philosophie geschieht — ausdrücklich, so ist ein Symbol geschaffen, das von nun an die Entwicklung jeglicher Symbolisierung mit beeinflußt. Das Ich — ob es konzeptionell so oder anders gefaßt wird, ob es in der Einschätzung seiner prägnanzbildenden Funktion Überoder unterbetont wird — ist historisch von nun an ein untilgbarer Faktor jeder Symbolreflexion. Der archaische Wille zur Gewinnung und Erhaltung von Symbolen ist mit dem Gefühl des besonderen Ernstes und der Ausschließlichkeit verbunden. Wenn in der fortgeschrittenen Kultur die Spannung dieses Willens nachläßt, treten hingegen Gefühle der neugewonnenen Freiheit, der Heiterkeit und Verspieltheit zutage. Das gilt auch dann, wenn — wie in der Philosophie Nietzsches — ein durch die Tradition schwer erkämpfter und von ihr rigoros verteidigter Ichbegriff wieder zur Disposition steht. Schließlich aber können bestimmte Gefühle nicht nur in gegenteilige Gefühle umschlagen, sondern sie können — dafür liefert die postmoderne Kulturdiagnostik ihre Belege — auch abklingen, zurücktreten und verschwinden. Letzteres geschieht offensichtlich dann, wenn die Lebensbedeutsamkeit der mit den entsprechenden Gefühlen verbundenen Symbole nachläßt. Dies ist — wiederum im Hinblick auf Nietzsche und die Postmoderne — nicht nur an der philosophischen Entwicklung des Ichbegriffs, sondern auch am historischen Schicksal des Gottesbegriffs demonstrierbar. Allerdings ist ergänzend zu bemerken, daß sowohl Nietzsche wie die Postmoderne in den beiden Fragen des Ichbegriffs und des Gottesbegriffs wahrscheinlich keine historischen Schlußpunkte darstellen, sondern eher nur Stationen auf einem weiterhin spannungs- und abwechslungsreichen Orientierungsweg unserer Kultur. 43 Mit dem Ichbegriff verknüpft sich also gesteigerte Emotionalität. Dem Ich geht es um das Wichtigste — um es selbst. Es konzentriert auf sich selbst, in welcher Version es immer auftreten mag, sein maximales Interesse. Dieses Ich ist in den frühen Kulturen ein Kollektiv-Ich und wird erst sehr spät — und auch dann noch instabil — zu einem Individual-Ich. Dementsprechend verlagert sich historisch die mit dem Selbstbezug gegebene Emotionalität vom Kollektiv aufs Individuum — und sie wird radikalisiert im selbstreflexiven Individuum (wie es sich vor allem in der Romantik ausbildet) aufgrund der neuen, schärferen Prägnanzbildung des 'Ich'. So wie sich die Ich-Prägnanz aber verdichten und verengen kann, so kann sie sich auch erweitern und auf vormals 'Anderes' übertragen — auf einen anderen Menschen, auf eine Gruppe, die Gattung, alles Lebendige oder, noch radikaler, auf die gesamte Wirklichkeit. Die letztgenannte Erweiterung ist in der mystischen hen-kai-pan-Formel ausgedrückt. Wenn wir das Ganze denken/fühlen, müssen wir das Ich mitdenken/mitfühlen — insofern ist das

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

hen-kai-pan selbstreferentiell. Und wenn wir Ich und Ganzes gleichsetzen, wird der Begriff der Gesamtwirklichkeit zur Formel für Selbstreferenz schlechthin und darüber hinaus für die generelle Austauschbarkeit aller Begriffe und Dinge. Das hen-kai-pan symbolisiert die Vorstellung: Ich bin alles, d.h. ich bin jedes Einzelne, und jedes Einzelne spiegelt alle anderen Einzelnen so, wie jedes dieser Einzelnen alles in allem spiegelt. Es ist dies keineswegs eine nivellierende und indifferent-kompakte, sondern die denkbar komplexeste 'Einheit', die der prägnanzbildende Erfahrungsprozeß überhaupt zu konstruieren vermag. Die mit der hen-kai-pan-Symbolisierung gegebene rigorose Vereinheitlichung aller Vorstellungen einerseits, ihre verbleibende Komplexität andererseits schafft eine geballte Gesamt-Emotionalität, in der die — mit den Teilsymbolisierungen mitgegebenen — Teil-Emotionen koordiniert sind und sich somit nicht gegenseitig lähmen und behindern, sondern synergetisch steigern. Die Gesamt-Koordination schafft das Gefühl der Harmonie, die nunmehr gegebene Universalität des Ich vermittelt das Gefühl allumfassender Authentizität. Alles ist 'es selbst', da es 'ich' ist und ich 'alles' bin. Es gibt keine Differenz im Sinne von Disharmonie und Entfremdung — und damit auch keinen Schmerz, sondern nur noch Seligkeit und namenloses Glück. Das mit dem hen-kai-pan-Gedanken verbundene Gefühl ist nicht zufälligerweise, sondern notwendigerweise das Gefühl der Liebe. Gefühle lassen sich — als Prägnanzen — genauso rekonstruieren wie Gedanken. Wesentlich für das Gefühl der Liebe, und das teilt sie mit dem (kognitiven) Ichbegriff, scheint ihre selbstreferentielle Struktur zu sein. Der Liebe geht es zwar um ihren Gegenstand bzw. um die andere, geliebte Person, doch in und mit dieser Liebe findet eine entsprechende Ich-Erweiterung statt.44 Demnach ist also — in vorreflexiver Weise — die Ichliebe primär, und sie wandelt und verändert sich gemeinsam mit den Wandlungen und Veränderungen des Ichbildes. Das 'größte', umfassendste und komplexeste Ichbild — das hen-kai-pan — ist mit-konstituiert und begleitet von einem Maximum an Liebe, von einem Maximum dieses spezifischen Gefühls und nicht irgendeines anderen. Selbstverständlich hat man sich bewußt zu sein, daß hier nicht jedes umgangssprachliche Verständnis von 'Liebe' gemeint sein kann und subsumierbar ist. In der Mystik handelt es sich um das Gefühl der uneingeschränkten Zuneigung, Anziehung, Solidarität und Identifikation mit dem Ganzen oder 'Eigentlichen' der Wirklichkeit (das im religiösen Kontext meist 'Gott' genannt wird). Dieses Gefühl ist vermutlich — historisch gesehen — nicht eine lineare Fortentwicklung der Geschlechtsliebe. Letztere verdankt vielmehr eher umgekehrt ihre spezielle Stilisierung in der höfischen Kultur des Mittelalters — ihre Intensivierung, Purifizierung und Abstrahierung — dem Vorbild der christlich-religiösen Gottesliebe. Die Liebe des christlichen Gottes zur Welt und zu den Menschen ist so ganzheitlich, radikal und bedingungslos, daß er sich selbst für Welt und Menschen opfert — und reziprok erwartet er von diesen, daß sie ihm die gleiche ganzheitliche, radikale und bedingungslose Liebe entgegenbringen. In der religiösen Konzeption der Welt- und Heilsgeschichte, in der das Ganze der Wirklichkeit als letzte, unübersteigbare Einheit gedacht wird, wird historisch der spätere philosophische Totalitätsgedanke antizipiert, und auch diese Antizipation ist eine selbstreferentielle

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Symboltheoretische Bemerkungen

Größe, sofern nämlich der die Weltgeschichte Schaffende und Vorantreibende (nämlich Gott) und der sie Erleidende und Erkennende (nämlich der Mensch) selbst Teil dieser Weltgeschichte sind. Ebenso ist es kein Zufall, sondern eine notwendige Konsequenz der vorangehenden Überlegungen, wenn die Liebe auf der Erfahrungs- und Symbolisierungsstufe des henkai-pan — wo es keine Differenz mehr zwischen Ich und Anderem gibt und damit auch keine Differenz mehr zwischen der Liebe und ihrem Gegenstand (denn das liebende Ich ' ist' nunmehr ja die geliebte Gesamtwirklichkeit) — die Form der Ekstase annimmt, die Form des Außer-sich-Seins und des Sich-Verlierens. Der Mystiker, der nicht mehr bei 'sich' ist, sondern bei 'Gott' (dem Symbol der Gesamtwirklichkeit), hat dort sein wahres 'Ich' gefunden, das nicht mehr 'er selbst' ist, sondern eben 'Gott'. In solch paradoxen Redewendungen drückt sich nichts anderes aus als eine Transformation des Ichbildes hin aufs Ganze der Wirklichkeit, von dem aus es kein Gegenüber, kein Anderes mehr gibt, sondern nur noch reine Selbst-Identität und Austauschbarkeit aller Namen und Dinge. Wenn in manchen mystischen Texten nicht oder nur am Rande von Ekstase berichtet wird, so haben wir freilich nicht die soeben erörterte letzte und radikalste Form von Mystik vor uns, sondern eine 'schwächere Version' derselben.

3.2.4 Metanoia und Erlösung: Authentizität, Harmonie, Seligkeit Warum sich mit dem hen-kai-pan die Gefühle der Authentizität, Harmonie und Seligkeit einstellen, wurde bereits im vorhergehenden Kapitel aus der Dynamik von Ich und Liebe erklärt. Die authentischen Ichbilder sind Form-Schließungen bzw. Symbolisierungen, in denen das Denken und Fühlen — man kann als deren komplementären Aspekt auch das Wollen hinzunehmen — eines Subjekts sich selbst als seine Handlungsgeschichte und seine Identität erfährt. Damit ist nicht nur die Einheit und Identität eines Gegenstandes oder Ereignisses, sondern außerdem eine selbstreferentielle Einheit und Identität gestiftet. Diese Identitäten sind freilich transitiv und gehen in neue Identitäten über, deren letzte Möglichkeit — in systematischer Hinsicht — die Identifizierung mit dem Ganzen der Wirklichkeit darstellt. Die mit dieser Identifizierung mitgegebene Authentizität kann daher — wiederum in systematischer Hinsicht — als die höchstmögliche Authentizität einer Ichkonzeption interpretiert werden. Authentizität bedeutet Selbst-Identität — also jene Form-Schließung, in der meine Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Erfahrungen als eine einheitliche Gestalt — als die Einheit meiner persönlichen, also mich betreffenden und mein Selbst ausdrückenden Erfahrung — konstituiert werden. Diese Selbst-Identität als Erfahrungs-Gestalt ist üblicherweise partikular und steht neben bzw. im Gegensatz zu anderen Wirklichkeiten und Erfahrungen. Durch diese für die Partikular-Symbolisierung konstitutiven Außenfaktoren ist ihre Selbstreferenz prinzipiell eine beschränkte und gebrochene. Im hen-kai-pan jedoch wird alles Außen in ein universales Innen hereingenommen: die Selbstreferenz wird zu einer

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

uneingeschränkten, ungebrochenen und universellen. Als solche ist sie eine Steigerung und Vervollkommnung ihrer partikularen Vorläufer, und daher vermittelt sie das Gefühl maximaler, vollendeter Authentizität. Die Symbolisierung des Ganzen der Wirklichkeit weicht qualitativ von allen anderen Symbolisierungen, die stets Teil-Symbolisierungen sind, erheblich ab. Auch diese Total-Symbolisierung ist transitiv, wenngleich transitiv nur noch im Sinn einer möglichen (und notwendigen) Rückkehr des Erfahrungsprozesses zu seinen Teil-Symbolisierungen. Wie haltbar und fixierbar, wie kohärent und konsistent die Total-Symbolisierung auch immer sein mag: indem sie gedacht bzw. indem von ihr gesprochen und indem sie — gleichursprünglich zu solchem Denken und Sprechen — gefühlt wird, ist sie eine reale Gestalt des Erfahrungsprozesses. Jede Symbolisierung ist ein Resümee der bisherigen Erfahrung, und in ihr ist deren Reichtum versammelt und verdichtet. Was — durch die Komplexitätsreduktion jeder Symbolisierung — an früheren Erfahrungen verloren geht, kann prinzipiell durch weitere Teil-Symbolisierungen zurückgewonnen werden. Die Aussicht auf den sukzessiven Fortgang des Symbolisierungsprozesses verdeutlicht einerseits die Endlichkeit und Borniertheit der bisherigen Symbolisierungen, andererseits aber auch das weite Feld künftig möglicher, neuer Symbolisierungen. Dieses Bild unabschließbarer Iterierbarkeit des Symbolischen wird durch die hen-kai-pan-Formel aufgehoben. Für sie gibt es kein Außen, keine Begrenzung, keine Endlichkeit und damit auch keine mögliche zukünftige Entwicklung zu einem zu vollendenden Telos mehr. Sie selbst ist das mögliche Telos. Neben allen anderen Kategorien hat in ihr auch die zentrale Kategorie der Zeit aufgehört, wirksam zu sein. Sie spielt keine Rolle mehr. An ihre Stelle tritt das nunc stans, die — nur noch im übertragenen Sinn als solche zu bezeichnende — 'Kategorie' der Ewigkeit. Mit dieser verbindet sich ein völlig verändertes Weltgefühl: das Gefühl, 'alles zu sein', und damit ineins das Gefühl nicht mehr übersteigbarer Authentizität. Der Mensch ist — nach Cassirers Formel — ein animal symbolicum. 45 Sein 'Wesen' besteht darin, Symbolwelten zu schaffen und sich selbst — in spontan-rezeptivem Wechselbezug — von diesen Symbolwelten formen zu lassen. Jede neue Symbolwelt schafft, ob dies nun für die Betroffenen ausdrücklich und bewußt wird oder nicht, einen 'neuen Menschen', d.i. einen Menschen mit neuen Möglichkeiten, aber auch mit neuen Grenzen des Denkens, Fühlens und Wollens sowie der Gesamtorientierung in seinem Weltbezug. Der neue Mensch ist sich des Neuen, das er erfährt und darstellt, nur durch die Abgrenzung gegenüber dem Alten, Überwundenen bewußt. In der christlichen Mystik spricht man — analog zum buddhistischen satori — von der metanoia: der Überwindung Adams, des unerlösten 'alten Menschen', durch Christus, den erlösenden und erlösten 'neuen Menschen'. Wer die unio erfährt, erfährt die metanoia und hat 'diese Welt' überwunden — nicht Teile dieser Welt, sondern die Welt als solche und im ganzen. Die Rede von 'dieser Welt' im Christentum hat vorwiegend moralische Bedeutung. Sie hat — meist sekundär — aber auch die Bedeutung der in ihr wirksamen Naturgesetze und ihrer kategorialen Ordnung. Die metanoia setzt also die Kategorien der 'normalen' Wahrnehmung, Denktätigkeit und Erfahrung außer Kraft. Das — mit unserem ge-

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Symboltheoretische Bemerkungen

wohnten Denken und der ihm folgenden Sprache nur unzureichend formulierbare — andere Wahrnehmen, Denken und Erfahren entspricht der Orientierung eines anderen und 'höheren' Menschen. Anders gesagt: der Mensch entdeckt in sich — bzw. er entdeckt sich selbst als — zwei Erfahrungsebenen, zwei Weltverständnisse, zwei Daseinsweisen. Von diesen nimmt er — fälschlicherweise — an, daß nur eine die wahre, seinem Wesen gemäße, authentische sei. Viele Mystiker halten unzutreffenderweise das hen-kai-pan für 'wahr' und die Welt der Vielheit und Vergänglichkeit für 'falsch'. Ihr Verdienst besteht jedoch darin — das wird besonders bei W. James hervorgehoben 46 — zu zeigen, daß die letztgenannte Welt nicht die einzige und ausschließlich geltende ist. Das hen-kai-pan ermöglicht also einen 'neuen Menschen'. In unterschiedlichen Formen und Intensitäten verbindet sich mit der metanoia das Motiv der Erlösung. Eckhart zeichnet von der 'Kreatur' insgesamt ein durchaus positives Bild. Sie ist für ihn kein Übel, wohl aber — im Interesse höherer Möglichkeiten des Menschseins — ihrer Überwindung wert. Manichäisch und gnostisch inspirierte Mystiker hingegen verstehen die metanoia nicht als einen Überstieg vom Guten ins Bessere, sondern als den Umschlag vom schlechthin Defizienten zum absoluten Heil. In dieser manichäisch-gnostischen Tradition steht vor allem Schopenhauer, der kategoriale Erkenntnis (bei ihm: die dem 'Satz vom Grund' unterworfene 'Welt als Vorstellung'), Wille und Leiden als konzeptionelle und sachliche Einheit betrachtet, die er der alternativen Einheit von transkategorialem Erkennen, Willensverneinung und Erlösung gegenüberstellt.

3.2.5

Gelassenheit, Freiheit, Willenlosigkeit

Die philosophische Tradition nennt drei Zugänge zur Wirklichkeit: Denken, Fühlen und Wollen. Allerdings wurden diese drei Zugänge kaum je in der Geschichte des Denkens als gleichwertig betrachtet. Die meisten Philosophen gingen — und gehen heute noch — von einem Primat des Denkens aus, dem gegenüber Fühlen und Wollen als nachgeordnete Größen veranschlagt werden. Gegen solch einseitigen Kognitivismus gibt es freilich seit langem eine voluntaristische Gegenströmung, die im späten Mittelalter mit Duns Scotus beginnt, sich über Leibniz und Kant fortsetzt, bei Schopenhauer und Nietzsche ihren Höhepunkt erreicht — hier ist der Intellekt nur noch ancilla voluntatis — und auch in der Existenzphilosophie noch wirksam ist. Demgegenüber wird ein Primat des Gefühls — von der sogenannten Gefühlsphilosophie des späten 18. Jahrhunderts und der Romantik einmal abgesehen — nur selten behauptet. H. Fink-Eitel und G. Lohmann betonen zu Recht, daß diese in der Philosophiegeschichte beobachtbare Ausblendung oder zumindest Unterbelichtung der emotionalen Dimension der Wirklichkeit zu deren konzeptioneller Verzerrung geführt habe. 47 Eine solche Verzerrung liegt beispielsweise vor, wenn man Gefühl und Willen gleichsetzt und einen Dualismus konzipiert, bei dem besagte Gleichsetzung dem Intellekt gegenübergestellt wird. Eine Verzerrung liegt aber auch vor, wenn man die drei Zugänge — Denken, Fühlen, Wollen — als voneinander isolierte 'Grundkräfte' konzipiert und dabei übersieht, daß sie ge465

Grundzüge einer Theorie der Mystik

meinsam und als eine funktionale Einheit die Wirklichkeit des menschlichen Daseins ausmachen. Hatte schon Leibniz in seiner appetitus-Leiire die funktionale Koinzidenz von Wille und Intellekt deutlich gemacht, so zeigt Whitehead in seiner Prozeßphilosophie — auf sie und auf ihre Fortführung bei Schwemmer bezog sich die Analyse des Gefühls in den vorangehenden Abschnitten —, daß emotive, kognitive und voluntative Prägnanzen dasselbe Phänomen der 'Prägnanz schlechthin' darstellen und daß es sich hiebei nicht um realontologische Distinktionen handelt, sondern um unterschiedliche Aspekte und unterschiedliche Beschreibungen eines identischen Phänomens. Der Begriff des Intellekts impliziert also die Begriffe des Willens und der Emotion, und jeder dieser drei Begriffe erlaubt, von ihm her die beiden anderen zu erschließen. Eckhart ist angesichts seines philosophischen Werkes — man denke an die Quaestiones und das Opus tripartitum — sicherlich als Kognitivist zu klassifizieren. Anzumerken ist jedoch, daß sein Intellektbegriff reicher und vielfältiger ist als der neuzeitlich verengte, daß er somit voluntative und emotive Komponenten mit enthält, die dem modernen Begriff des 'Denkens' verloren gegangen sind. In den Predigten werden zuweilen unterschiedliche Hierarchien der 'obersten Kräfte' genannt (einmal ist da z.B. die Liebe die 'oberste Kraft', ein andermal die Erkenntnis). Für eine hermeneutische Rekonstruktion sind solche terminologischen Widersprüche aber sekundär, da diese 'Kräfte' thematisch in einem engen Verweisungszusammenhang stehen und durchaus als Aspekte einer 'Gesamtkraft' gelesen werden können. In den vorhergehenden Kapiteln habe ich die mystische Erfahrung primär unter kognitivem und emotivem Aspekt analysiert. Dabei wurde gezeigt, daß die besondere Erkenntnis des hen-kai-pan eine Negation des 'normalen' Erkenntnisbegriffs darstellt, indem dessen Wesenselement, die Kategorien, nicht mehr gelten. Kategorien schaffen Vereinzelung, sie negieren ihrerseits das hen-kai-pan, und daher werden sie in der Mystik durch ein nicht- oder metakategoriales Wirklichkeitsmodell ersetzt. Des weiteren wurde gezeigt, daß das besondere Gefühl der unio, die (göttliche) Liebe, jedes partikulare und auf partikulare Personen und Gegenstände sich richtende Gefühl der Liebe negiert, indem sie es zur All-Liebe hin übersteigt. Symboltheoretisch gesprochen, geht es in beiden Fällen um die — einmal um eine kognitive, einmal um eine emotive, in der Sache aber um dieselbe — besondere Symbolisierung, die eine Hyper-Struktur und Hyper-Symbolisierung darstellt, dadurch nämlich, daß sie ausnahmslos alle früheren Symbolisierungen mit zu umfassen und zu verarbeiten sucht und aufgrund ihres Totalitätsanspruchs sich selber als entwicklungslogischen Endpunkt des Erfahrungsprozesses postulieren muß. Ganz analog zu diesem totalisierten Erkenntnis- und Liebesbegriff verhält es sich mit dem eckhartschen Willensbegriff. Der 'normale' Willensbegriff ist per definitionem partikular: Der Wille geht von einem partikularen Willenssubjekt aus und richtet sich auf partikulare Ziele. Der Wille hat — wie die Erkenntnis und wie das Gefühl (und eben dadurch erweist er sich in unserer Analyse als dasselbe wie Erkenntnis und Gefühl) — eine intentionale Struktur. Er ist also zwangläufig nie 'bei sich selbst' und bei dem, was 'ist', sondern — seiner Intention nach — bei anderem und bei dem, was nicht 'ist' bzw. was seinen Wünschen gemäß sein soll. Er ist also an Gegenständlich466

Symboltheoretische Bemerkungen

keit, Vielheit und Zeit gebunden. Er braucht, um der Dynamik seiner intentionalen Struktur zu folgen, die Kategorien. Der Wille ist somit vorerst ganz und gar eine 'kreatürliche' Größe. Er wird jedoch dadurch überwunden, daß er sich in den 'Willen Gottes' — d.i. in den Willen zum Ganzen, das keine Differenz (und somit keinen Willen) mehr kennt — hinein aufhebt. Der Wille Gottes ist die Willenlosigkeit des Partikularen, und sofern das Partikulare als Wille bestimmt war, handelt es sich jetzt um die Aufliebung des Partikularen und des Willens als solchen. Das läßt sich am deutlichsten am Beispiel des Ichbegriffs zeigen: Das als Wille bestimmte Ich, das sich in die — als 'Wille Gottes' bestimmte — All-Einheit entgrenzt, entgrenzt damit den Willensbegriff als solchen. Arbeitet man mit einem statisch-gegenständlichen Begriffsverständnis, so sind diese Negationen und Entgrenzungen problematisch, da sie die Frage aufwerfen, ob denn nun die eine oder die andere Konzeption 'wahr' oder 'falsch' sei, und weil die Konzeptionen unter Umständen auch beziehungslos nebeneinander zu stehen kommen. Interpretiert man dieses Negations- und Entgrenzungsphänomen jedoch im Rahmen der symboltheoretischen Erfahrungskonzeption, so handelt es sich um eine Form-Schließung, die in der Dynamik einer langen Kette von vorhergehenden Form-Schließungen steht, auf die sie denn auch bezogen bleibt und von der her sie — allerdings nur zur Hälfte — zu verstehen ist. Sie erwächst aus den vorhergehenden Form-Schließungen als deren — freilich nicht mechanische, sondern kontingente — Konsequenz. Ihre neu arrangierten und in die Gestalt einer neuen Einheit gebrachten Elemente, aus denen sie sich aufbaut, sind die früheren Prägnanzen, die im Erfahrungsfluß als Brückenköpfe der Erfahrung gebildet wurden. Die andere Hälfte, der gemäß die hen-kai-pan-Symbolisierung zu verstehen ist, ist aus den älteren Prägnanzen freilich nicht ableitbar, denn es handelt sich hier um das Moment der Neuheit und um den schöpferischen Aspekt, der mit jeder Form-Schließung verbunden ist. Insofern stellt eine 'Gestalt' stets mehr dar, als ihre Aufbauelemente darstellen können. Dieses 'Mehr' ist das -— gegenüber der Welt des partikularen Ich, des Willens, der Vielheit und der Kategorien — qualitativ Andere des hen-kai-pan. In analoger Weise wie 'Erkenntnislosigkeit' und Abkehr von der Gefühlsbindung zum Ich und zu jedem Partikularen verlangt also die unio auch die Willenlosigkeit des Erfahrenden, die Eckhart mit dem berühmten Wort 'Gelassenheit' umschreibt. Alles Partikulare 'lassen' heißt: es nicht mehr eigens wollen. Damit ist verbunden, daß das Partikulare als solches nicht mehr eigens symbolisiert und daß damit seine Gegenständlichkeit und Identität zur Disposition gestellt wird. Die Symbolisierung wird zurückgeformt in 'bloße' Form-Schließung oder Prägnanz. In dieser Weise sind die älteren TeilPrägnanzen in der neuen Total-Prägnanz enthalten, ohne deren real abtrennbare Teile zu sein und ohne das Totalitätsmodell — das als einzige Symbolisierung Übriggeblieben ist — zu konkurrenzieren. Aus eben diesem Grund kann der durch die unio 'Erleuchtete' weiterhin seinen alltäglichen praktischen Geschäften nachgehen und nach wie vor 'kreatürlich' denken und handeln. Alltagspraxis und kreatürliches Denken und Handeln haben jetzt aber einen veränderten — höchst relativierten — Stellenwert, sie haben im Gesamthorizont des Lebens des 'Erleuchteten' eine veränderte Funktion. 467

Grundzüge einer Theorie der Mystik

Was Gelassenheit und Willenlosigkeit des weiteren implizieren, ist das Gefühl der Freiheit. Diese ist ein Korrelationsbegriff und bedingt — als Antifolie — den Begriff der Notwendigkeit, der seinerseits wieder eng — diesmal aber nicht mehr gegensätzlich, sondern analog — an den Kausalitätsbegriff, eine Kategorie des 'Kreatürlichen' also, geknüpft ist. Von dort aus ist Freiheit nur negativ bestimmbar als 'Freiheit von... 1 . Die im hen-kai-pan gegebene Freiheit ist also die Freiheit von allen Gegebenheiten und Zwängen des Ich, der Kategorialität und des Willens. Daher sind Freiheit, Gelassenheit und Willenlosigkeit koinzident. Freiheit ist somit zum ersten ein Akt der Befreiung aus den Bedingungen und Beschränkungen der 'Kreatürlichkeit'. Sie verbindet sich mit dem Gefühl, daß Entfremdung aufgehoben und Authentizität hergestellt sei. Zum zweiten ist Freiheit aber auch ein anhaltendes Gefühl und eine anhaltende Stimmung, die das Losgelöstsein aus der 'Kreatürlichkeit' begleitet. Sie ist aber sicherlich kein — genauso wenig wie das hen-kai-pan in der Gesamtheit seiner Aspekte — möglicher bleibender Zustand, in dem sich der Mensch vollends einrichten und von dem aus er die kreatürliche Welt zur Gänze verabschieden könnte. Dies fuhrt uns zum nächsten Charakteristikum der Mystik, ihrer ta/ros-Struktur.

3.2.6

Augenblicklichkeit, Unverfügbarkeit, Passivität

Der Wille ist spontan: als ein Streben bedeutet er Aktivität und Verfügenwollen. Jede Symbolisierung und schon jede vorsymbolische Form-Schließung kann als ein Willensakt beschrieben werden. Das gilt auch für die hen-kai-pan-Symbolisierung. Allerdings wird in ihr die Dynamik des Willens gestoppt, obwohl sie selbst Ergebnis dieser Willensdynamik ist. Der Wille kann im hen-kai-pan, weil es sich hier um das selbstreferentielle Totalobjekt handelt, über den Horizont der All-Einheit nicht hinaus, und er bricht daher in sich zusammen. Er kann sich, indem er sich als alles erkennt, auf nichts anderes mehr richten als auf sich selbst. Damit wird seine intentionale Struktur sowohl radikalisiert — er ist nun der letzte und höchste, der 'göttliche Wille' — als auch, da er mit seinem Intendum zusammenfällt, paralysiert. Im Horizont der Totalität wird der Wille als Wille, die Aktivität als Aktivität, das Verfügen als Verfügen dysfunktional. 48 Freilich wäre es voreilig zu behaupten, das hen-kai-pan sei — im Gegensatz zu allen anderen Prägnanzen — kein 'transcendens', doch geht es zweifellos nicht in gleicher Weise über sich selbst hinaus zu neuen Prägnanzstiftungen, wie das bei anderen FormSchließungen der Fall ist: aus ihm ergibt sich nämlich nicht die Fortsetzung eines (partikular bestimmten) Willens. Eben dieser ist ja aufgehoben. Was im hen-kai-pan wahrgenommen und gedacht wird, ist vielmehr das Ende des Willens. Von dessen Bestimmungen her wird das Wahrgenommene und Gedachte eben nicht nur als ich- und gegenstandslos, als räum- und zeitlos, als grund- und ziellos usf. empfunden, sondern auch als passiv und unverfügbar. Gemeint ist nun freilich eine Passivität, die über die geläufige Dichotomie von aktiv-passiv hinausgeht. Denn aktiv-passiv ist eine Korrelation aus der Welt der Kategorien. Dennoch gibt es nach wie vor auch im hen-kai-pan

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Symboltheoretische

Bemerkungen

gewissermaßen 'Beziehungen', 'Dinge' und 'Tätigkeiten'. Es ist keine leere, sondern eine in sich bewegte Einheit, innerhalb deren weitere Form-Schließungen (die keine Symbolisierungen mehr sind) stattfinden. Aber die — nunmehr als 'postsymbolisch' bezeichenbaren — neuen Formschließungen innerhalb der hen-kai-pan-Prägnanz erhalten einen eigentümlichen ontologischen Status: sie sind im gegenständlich-kategorialen Sinn weder als 'Sein' noch als 'Nichtsein' bestimmbar. Sie existieren weder aus sich selbst, noch sind sie Geschöpfe des Ich oder eines anderen Subjekts. Sie sind also weder substantiell noch subjektiv. All diese Bestimmungen stellen kreatürliche Perspektiven dar, deren Notwendigkeit und Brauchbarkeit im hen-kai-pan nicht mehr gegeben ist. Die dem Mystiker widerfahrende 'Gnade' Gottes ist daher in ihrem Grunde keine Fremdbestimmung, der 'göttliche Wille' kein dem Menschen aufgezwungener. Insofern koinzidieren Unverfügbarkeit und Freiheit. Ein gegenüber Passivität und Unverfügbarkeit schwieriger zu analysierendes Moment der mystischen Erfahrung ist ihre Plötzlichkeit und Augenblicklichkeit. All-Einheit, Ich-Entgrenzung und Transkategorialität lassen sich weder aus der Normalerfahrung ohne 'Bruch' ableiten, noch sind sie dieser gegenüber logisch-apriorisch postulierbar. Sie ergeben sich dennoch aus dem Gesamtzusammenhang des Erfahrungsprozesses und sind ein Punkt und eine Stufe in dessen Entwicklung, sie widersprechen aber zugleich in besonders augenfälliger Weise den vorhergehenden Punkten und Stufen der Erfahrung. Sie sind also innerhalb des Erfahrungsprozesses eine Art dialektischer Umschlag. Dieser Umschlag ist nicht kalkulierbar — er kann eintreten oder ausbleiben. Beschreiben läßt sich allerdings das Wie des Umschlags, der nicht ganz und gar unvermittelt aus der 'Kreatürlichkeit' hinein in die 'Ewigkeit' stattfindet. Die Kategorien lösen sich auf, indem sie extrem radikalisiert und dadurch paralysiert werden: Der ins Unendliche gedehnte Raum, die alle Zeitdimensionen versammelnde Zeit, die alle TeilLiebe absorbierende Universal-Liebe, der alle Teil-Willen absorbierende Gesamt-Wille, das all seine möglichen Objekte integrierende Subjekt ergeben Super-Strukturen, die — koinzident gedacht — eine letzte und höchste Superstruktur ergeben. Es sind Symbolisierungen, die durch ihre grenzenlose Verallgemeinerung eine Grenze des Symbolisierens überhaupt darstellen. Symbolisieren heißt nämlich immer neben ihrer Verallgemeinerungsfunktion: auch und gerade Grenzen setzen. Ein entgrenzter Symbolismus aber paralysiert die Tätigkeit des Symbolisierens als solche. Die Entgrenzung vernichtet den Symbolismus, weil dieser dem menschlichen Geist dann gleichgültig wird, oder — und darum handelt es sich in der Mystik — sie steigert die Lebensbedeutsamkeit des betreffenden Symbolismus derart ins Maßlose, daß diese Lebensbedeutsamkeit aufgrund ihrer Maßlosigkeit nur mehr augenblicksweise wirksam sein kann und sich dann wieder — durch Vergleichgültigung und/oder Rückkehr auf die Ebene des normalen Symbolisierens — auflöst. Vor der Folie des christlichen Jenseitsglaubens ist die unio der irdische Vor-Schein des 'ewigen Lebens' in Gott. Eine empirisch-strukturelle Analyse muß von einer solchen Folie absehen und sich auf das Phänomen als solches beschränken, von dem erst einmal — ohne diese Beobachtung sogleich mit weitreichenden Deutungen und Erklärungen zu befrachten — festzustellen ist, daß es sich der Machbarkeit und Verfügbar-

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

keit unseres Willens entzieht, daß es gewissermaßen nur passiv erfahrbar ist und daß der Erfahrende weder darüber entscheiden kann, ob die unio überhaupt stattfindet, noch darüber, wann und wie lange sie währt. Der Augenblick ist ein Gegenbegriff sowohl zum Begriff eines bleibenden Zustands wie zum Begriff eines kontinuierlichen Zeitflusses. Alle drei Konzeptionen sind, obwohl miteinander offensichtlich inkompatibel, Form-Schließungen der zeitbezogenen Erfahrung. Im Augenblick — das wird in der Philosophie seit der Zeitanalyse Augustins immer wieder hervorgehoben49 — treffen sich die Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an einem Nullpunkt, der gleichwohl nicht leer ist, sondern die Gesamtheit der Zeit und damit die Ewigkeit in sich versammelt. Im alltäglichen Denken wird der Augenblick als 'kurze Gegenwart' mit unbestimmbaren Rändern gegenüber Vergangenheit und Zukunft veranschlagt. Im heilsgeschichtlichen Denken der christlichen Theologie gibt es den ausgezeichneten Augenblick, den kairos, in dem angeblich Offenbarungen und besondere Handlungen Gottes geschehen, wobei das Ganze der Geschichte in ihrem Ursprung und Ziel, in ihrem Plan und Verlauf aufblitzt. Hier knüpft die christliche Mystik an, die stets bis zu einem gewissen Grad gnostisch getönt ist, indem sie an die unio die Heilserwartung des Glaubens knüpft. Doch ist der kairos — der ausgezeichnete Augenblick mit seiner Referenz aufs Ganze der Wirklichkeit — nicht ein spezifisch christliches, sondern ein allgemeines Charakteristikum von Mystik: Das hen-kai-pan existiert nur im Augenblick und als Augenblick. Dieser ist offensichtlich eine Konsequenz der Superstruktur, die sich durch die All- und Letztsymbolisierung ergibt.

3.2.7

Leiden, Einsamkeit, Todesnähe

Die Charakteristika Leiden und Todesnähe widersprechen vordergründig den vorhin genannten Motiven der Liebe, des Glücks, der Authentizität, Harmonie und Seligkeit — und Einsamkeit widerspricht von vornherein dem Gefühl der All-Einheit. Doch gehören diese Motive nicht der unio selber an, sondern dem Gesamtprozeß, in den die unio eingebettet ist. Sie sind Stationen auf dem Weg zur unio, und sie kontrastieren diese. Vielfach erscheinen sie in den mystischen Texten — vor allem, wenn dort ein komplizierter und ausgeklügelter 'Weg' beschrieben wird — sogar als unausweichliche und notwendige Bedingung dafür, die unio zu erreichen. Freilich wird die unio vielfach auch als etwas beschrieben, das den Erfahrenden sozusagen aus heiterem Himmel überfallt. Dann freilich spielen Leiden, Einsamkeit und Todesnähe keine vorbereitende Rolle für das Zustandekommen der unio. Wenn wir den 'mystischen Weg' symboltheoretisch betrachten, so erfüllen die genannten drei Motive vornehmlich die Funktion des Kontrasts — und zwar nach zwei verschiedenen Seiten hin: einmal nach der Seite des 'normalen', kreatürlichen Lebens, das Glück, Gemeinschaft und Lebensfreude — die Gegenpole der drei Motive — durchaus kennt, freilich nur in partikularer Qualität. Leiden, Einsamkeit und Todesnähe machen, werden sie eigens bedacht, die Fragwürdigkeit, Vorläufigkeit, Eingeschränkt-

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Symboltheoretische Bemerkungen

heit und prinzipielle Defizienz des kreatürlichen Lebens deutlich. Indem sie gewissermaßen das gesamte kreatürliche Leben unter eine negative Perspektive stellen, bedeuten sie aber auch zugleich eine Antifolie für das maximale Glück der unio. Es sind also Emotionen, die als Kontrast einerseits innerhalb einer Bewertung der Kreatürlichkeit fungieren, andererseits aber auch — indem sie zum Inbegriff eben dieser Kreatürlichkeit geworden sind — als Kontrast gegenüber der Super-Emotion der All-Liebe. Die genannte Doppelfunktion als Antifolie — sowohl gegenüber den haltlosen Verlockungen 'dieser Welt' als auch gegenüber der unio — hat die Funktion der katharsis oderpurgatio. Es ist die Erfahrung der 'Wüste' und der 'Einöde', in der die Bedeutung der kreatürlichen Welt und die (kreatürliche) Liebe zu ihr weggefegt und vernichtet werden, eine Erfahrung, in der sich der menschliche Geist aber zugleich jenen notwendigen Freiraum schafft, in dem die unio — das Andere der Kreatürlichkeit — erscheinen und stattfinden kann. Das 'Lassen' der weltlichen Dinge ist die Voraussetzung für das Innewerden des All-Einen. Dieses Lassen muß nicht unbedingt Leiden bedeuten, es kann aber mit Leiden verbunden sein und wird unter Umständen erst durch Leiden möglich. Wird das absolute Glück der unio erfahren, so erscheint das von der mystischen Erfahrung abgetrennte Leben zwangsläufig defizient: es wird als unvollkommen und entfremdet betrachtet. Eine analoge kathartische Funktion hat die Einsamkeit. Wer sich auf den 'mystischen Weg' begibt, vereinsamt gegenüber den Gemeinschaften 50 und — allgemeiner — gegenüber der Vielfalt der kreatürlichen Welt. Gerade das Einsamwerden schafft aber die Voraussetzung für eine neue, bessere Gemeinschaft: die der unio. Die Todesnähe wiederum kontrastiert das gewohnte, oberflächliche Bild der Lebensbejahung. Das memento mori stellt einerseits das kreatürliche Leben in seiner Selbstverständlichkeit und positiven Bewertung in Frage, es sorgt also für existentiellen Ernst, andererseits wird der Verlust des kreatürlichen Lebens — der kreatürliche Tod — als Sieg eines anderen und höheren Lebensprinzips gedeutet. Daß die Begriffe Tod und Leben in vielen — besonders in christlichen — Mystikertexten die ursprüngliche Bedeutung tauschen, hängt mit der damit verknüpften Metaphysik des 'irdischen' und 'ewigen' Lebens bzw. des 'zeitlichen' und 'ewigen' Todes zusammen. Die Rede von Leben und Tod verblaßt hier vielfach zur bloßen Metaphorik. Sie drückt aber dennoch nichts anderes aus als den Gedanken der metanoia: daß aus diesem nunmehr ein anderer Mensch werde, der die Kreatürlichkeit abgestreift habe. Die Metaphorik von 'Leiden', 'Einsamkeit' und 'Tod' kann mit dem ursprünglichen und konkreten Erfahrungsgehalt dieser Begriffe in einem loseren, aber auch in einem engeren Zusammenhang stehen. Bei Schopenhauer etwa wird die Vernichtung der kreatürlich-kategorialen Willenswelt durchaus real verstanden: das Absterben des Willens bedeutet das Absterben des Lebens selbst, dessen Alternative ein 'relatives Nichts' und schlechthinniges 'X' ist.51 Schopenhauers These von der Überwindung des Willens — die zweifellos als systemphilosophische Reformulierung einer klassischen Mystikkonzeption gelesen werden kann — zielt, strukturell vergleichbar mit der christlichen Jenseitskonzeption, auf einen sich durchhaltenden 'anderen Zustand' der Wirklichkeit. Für Mauthner hingegen sind mystische Erfahrungen stets nur Höhepunkte in diesem Leben.

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

Leiden, Einsamkeit und Todesnähe werden bei vielen christlichen Mystikern — in modifizierter Weise auch bei Schopenhauer — als Ausdruck menschlicher Schuld gedeutet: Durch Sünde habe sich der Mensch von Gott entfernt, durch Leiden, Läuterung und — im Extremfall — durch Opfertod könne er sich ihm wieder nähern. Diese Deutung von Tod und Leiden ist für die historische Verfassung christlicher Weltsicht und christlichen Gefühlslebens kaum zu überschätzen. Sie ist aber für die symboltheoretische Analyse sekundär. Ihr geht es vor allem darum, daß die Super-Struktur der Totalsymbolisierung, die den Höhepunkt im Prozeß der mystischen Erfahrung darstellt, geeigneter Kontraste bedarf, die dem Repertoire der lebensweltlichen Normalerfahrung entnommen und dabei z.T. erheblich stilisiert und in ihrem ursprünglichen Bedeutungsgehalt verändert werden.

3.2.8 Der mystische 'Weg' als Stufenprozeß und die Praxis, mit ihm umzugehen (Vorbereitung und Methode) Kurt Ruh und andere Mystikexperten weisen darauf hin, daß uns das Phänomen der Mystik fast ausschließlich nur in der Vermittlungsform schriftlicher Texte zugänglich ist52, die (a) ein — gegenüber der reinen Oralität — Medium zweiter und d.h. komplexerer Ordnung darstellen, die (b) vielfach längst vorgegebenen literarisch-rhetorischen Mustern folgen — so daß sie nicht immer 'primäre' Erlebnisse ausdrücken — und die (c) kaum je die als solche ja 'unbeschreibliche' unio schildern, sondern bloß den Weg zu ihr hin bzw. (weniger oft und weniger ausfuhrlich) auch den Weg von ihr zurück in die Kreatürlichkeit. Die unio selbst auszudrücken, bleibt — im Verständnis der mit der christlichen Mystik verbundenen theologischen Metaphysik — eine Domäne der göttlichen bzw. der Engelsprache. Nur sofern der Mensch im Zuge seiner metanoia an dieser göttlichen bzw. Engelsprache teilhat und sie zumindest teilweise passiv versteht — er kann in dieser Hinsicht niemals ein aktiver Sprecher sein —, ist eine Botschaft über die unio selbst möglich. In der Welt- und Menschensprache ist diese Botschaft nur indirekt — durch Negationen, Paradoxa und durch Schweigen — ausdrückbar. So beschränkt sich die (Menschen-)Sprache hinsichtlich der unio im wesentlichen nur auf das Davor und Danach, also — unter Ausklammerung seines Ziels und Höhepunkts — auf den 'Weg' als solchen. Das ist nun freilich bereits eine inhaltliche Deutung der mystischen Erfahrung, die zwar im Hinblick auf die subjektive Wahrnehmung und die Verarbeitung des Wahrgenommenen durch den christlichen Mystiker zutreffen mag, jedoch das Phänomen nicht befriedigend erklärt. Das ontologische Muster, das bei einer solchen Deutung im Hintergrund steht, ist eine christliche metaphysica specialis. Diese muß auf eine formalontologische Ebene — auf eine metaphysica generalis — rückführbar und von dort her noch einmal reformulierbar sein. Gemäß der prozessual-symbolischen Erfahrungstheorie entstehen Symbolisierungen aus dem Erfahrungsprozeß selbst und sind weiterhin — in ihrer lebensweltlichen Funk472

Symboltheoretische Bemerkungen

tion — auf Erfahrung angewiesen, da sie sonst — als 'reine' Spekulationen und Fiktionen — vergleichgültigt werden. 53 In den geschichtlichen Zeiten und Räumen, in denen die Mystik als eigene Erlebnisform für den Menschen ausdrücklich gemacht, anerkannt und gepflegt wird, hat sie eine lebenspraktische Funktion. Im christlichen (und islamischen) Mittelalter ist sie ein Weg, das Heil der Seele zu erlangen. In buddhistischen Klöstern ist sie das Mittel, die — als solche abgelehnte — Realität der Welt außer Kraft zu setzen. In der Form, die Mauthner ihr gegeben hat — und die im säkularisierten 20. Jahrhundert bis in das Selbstverständnis populärer transzendentaler Meditationsübungen hineinreicht — ist sie eine Möglichkeit punktueller Persönlichkeitsregeneration und Selbstfindung. Wo freilich eine ausschließliche und rastlose vita activa zur Lebensnorm erhoben und jede Kontemplation als unproduktive und/oder gefährlich-lähmende Abirrung von dieser Norm denunziert wird, gibt es für die Mystik keine Anerkennung und keine Pflege. Diese lebensweltliche Funktion und Bedingtheit mag erklären, daß Symbolisierungen stets in eine Kette anderer Symbolisierungen eingebunden sind, die als Brückenköpfe für den Fortgang der mit dem Symbol verknüpften, das Symbol aber auch transzendierenden Erfahrung fungieren. Nicht nur der Erfahrungs- und Symbolisierungsprozeß als ganzer, sondern auch bestimmte Teilstrukturen dieses Prozesses sind der Ermöglichungsgrund für ein bestimmtes Symbol. Eine Erfahrung, die sich wiederholt, ist nur aufgrund reproduzierbarer Elemente, die sie aufweist, möglich. Je verläßlicher diese Reproduktion sein soll, desto unzweideutiger hat sie sich an Medien im Sinne materialer Substrate zu binden. Religiöse Vorstellungen — insbesondere Vorstellungen der Gottesbegegnung, um die es in der religiösen Mystik ja hauptsächlich geht —, die im Kult mimisch gelebt und in den Mythen sprachlich erzählt werden, sind solche Medien, an die sich die mystische Erfahrung knüpfen und durch die sie sich vielleicht auch allererst ausdrücken kann. Jeder Kult und jede Erzählung hat mehr oder minder deutlich ein teleologisches Muster: die einzelnen Schritte und Stationen des Kults und der Erzählhandlung stehen fortschreitend in einem Verweisungszusammenhang. Jedes neue Moment kontrastiert oder verstärkt das vorhergehende und ist Ausgangspunkt für die weiteren Handlungsmomente. Mystische Erlebnisse entstehen — im kulturhistorischen Kontext gesehen — nicht oder wohl doch nur sehr selten spontan. Sie knüpfen fast immer an tradierte Erfahrungsmuster an, die sie dann reproduzieren. Von Plotin bis Mauthner beziehen sich die Mystiker immer schon auf eine von ihnen zur Kenntnis genommene, geachtete und ausgiebig benützte Mysüklradition. In der abendländischen Welt ist es primär nicht — wie in der ostasiatischen — eine Tradition der mündlichen Mitteilung und der Praxis sozialer Kleingruppen, sondern eher eine Tradition von Individuen, die sich mit überlieferten Texten auseinandersetzen. (Damit ist ein Schwerpunkt genannt, der nicht ausschließlich zu verstehen ist, denn selbstverständlich arbeitet man auch in Ostasien mit Texten und auch im Abendland mit mündlicher Unterweisung und Gruppenerfahrung.) Was aber die Tradition jedenfalls produziert, sind Formeln — Symbolisierungen also, die eine Erfahrung darstellen, verdichten und überliefern und dabei zwangsläufig in eine mehr oder minder große Distanz und Entfremdung zur Erfahrung selbst treten. Die Formeln 473

Grundzüge einer Theorie der Mystik

sind sowohl die Überbringer wie auch die Verfälscher — oder, weniger polemisch gesprochen: die Veränderer — der Erfahrung. Nicht nur 'hen-kai-pan' und 'unio' sind solche Formeln, sondern auch die Rede vom 'gestuften Weg', der dazu hinführen soll. Die Formeln sind für den, der sich ihrer bedient, Hilfe und Störfaktor zugleich. Diese Gleichzeitigkeit und Ambivalenz ist aber ein Konstitutivum der Symbolbildung und der Erfahrung überhaupt.

3.2.9

Schweigen, apophatisches und paradoxes Sprechen

Das materiale Substrat oder Medium, an das sich die Form-Schließung des hen-kai-pan zwar nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend bindet und in welchem sie — durch solche Anbindung — zum Symbol und zur Formel wird, ist die Sprache. In den Prolegomena habe ich die — vorwiegend von Altgermanisten geführte — Theoriediskussion über die 'mystische Sprache' erörtert. Während Josef Quint und die ältere Tradition der Mystikforschung mystisches Erlebnis und mystische Sprache glauben trennen zu können, lehnen Walter Haug und die meisten neueren Forscher die These von der Nachträglichkeit der Sprache gegenüber dem Erlebnis ab und nehmen an, daß sich das mystische Erlebnis in und durch Sprache vermittelt. Martina Wagner-Egelhaaf, die als methodischem Leitfaden dem Dekonstruktivismus folgt, verallgemeinert die Sprachauffassung Haugs in Richtung auf eine generelle, sprachübergreifende Zeichentheorie: Ihr gemäß führen die Zeichen selbst, nicht ein zeichenunabhängiger Inhalt, zum Erleben und zum Affekt. Diese sind 'Effekte' des Zeichens.54 Sprachproduktion wird als Spezialfall von Zeichenproduktion überhaupt angesehen. Sowohl Quints wie Haugs Auffassung der mystischen Sprache leiden darüber hinaus unter zwei anderen perspektivischen Verengungen, deren erste sich freilich aus der methodischen Selbstbegrenzung der Geisteswissenschaft und Ideenhistorie ergeben hat: Sie binden ihr Verständnis von Mystik allzu eng an christlich-theologische Inhalte. So gibt sich Haug in seinen Überlegungen zum flottierenden und austauschbaren Charakter der Bedeutung aller einzelnen Weltdinge im mystischen Diskurs mit der Erklärung zufrieden, es handle sich um eine radikalisierte Form der heilsgeschichtlichen Allegorese: In jedem Ding und Ereignis 'dieser Welt' spiegelten und wiederholten sich Dinge und Ereignisse der — bereits bekannten und gedeuteten — Heilsgeschichte. Die ganze Wirklichkeit sei demnach in einem hermeneutischen Zirkel angeordnet und durch den der Heilsgeschichte Kundigen hermeneutisch erschließbar. Da jeder Ausschnitt das Ganze impliziere, impliziere jedes einzelne, allegorisch deutbare Stück der Wirklichkeit, deren Totalität in der Heilsgeschichte symbolisiert sei, die Gesamt-Allegorie und damit auch die gesamte Wirklichkeit. Das aber führe zu einer Auflösung jeder gegenständlich deutbaren Ordnung: Indem nämlich die totalisierend-allegorische Deutung die partial-konkrete Wahrnehmung und Erfahrung durchdringe, sie dominiere und schließlich überflüssig mache (weil als 'eigentlich' immer die Deutung gelte und nicht das Gedeutete), würden die Verweisungen austauschbar und würde jede beliebige Wahrnehmung zum

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Symboltheoretische Bemerkungen

Einstieg in die flottierende Zeichen-Welt, die nichts anderes mehr spiegle und darstelle als die Heilsgeschichte. Was Haug in diesem Zusammenhang nicht weiter ausführt, ist der reziproke Charakter dieses Flottierens zwischen Teil und Ganzem, das die Mystik offenkundig von der Metaphysik unterscheidet. Diese zielt auf ein erstes oder letztes Fundament des Denkens, jene zielt auf — oder vielmehr: es ergibt sich aus ihrer Bewegung — die paradoxe Gleichzeitigkeit von Fundament und Auflösung, von Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit des Vorgestellten und Gedachten. Die zweite gemeinsame Blickverengung bei Quint und Haug besteht darin, daß sie die Sprache gemäß ihren unterschiedlichen Dimensionen als mündliche und schriftliche Sprache nicht differenzieren. Erst diese Differenzierung läßt aber den in sich mehrschichtigen Medien- und Symbolcharakter der Sprache deutlich hervortreten. So richtig — wenngleich unvollständig — die Darstellung Haugs für die christliche Mystik sein mag, so sehr verdeckt sie die hier mit konkreten Inhalten besetzte allgemeine Struktur der mystischen Symbolstiftung. Sie gibt auch keine Auskunft über die Genese dieser Symbolstiftung und über ihren Zusammenhang mit jener allgemeinen Symbolisierungstätigkeit, die immer schon im Prozeß der allgemeinen menschlichen Erfahrung — ob sich diese nun sprachlich oder über andere Medien herausbildet — stattfindet. Die Konzeption einer austauschbaren und flottierenden Zeichen-Welt, die gleichwohl — und damit unterscheidet sie sich diesmal nicht von der Metaphysik, sondern vom 'endlosen Spiel der Signifikanten1 bei Derrida — den Anspruch auf Einheit aufrechterhält, scheint nämlich auch in allgemeiner Weise und ohne speziellen Bezug auf das christlich-theologische Paradigma rekonstruierbar. Die Verweisungen vom Einzelereignis auf andere Ereignisse und auf die gesamte Heilsgeschichte, also vom Teil auf alle anderen Teile und aufs Ganze, sind in der — im Christentum, Judentum und Heidentum gleichermaßen einflußreichen — hermetischen Lehre der Einheit von Mikro- und Makrokosmos ebenso vorzufinden wie in der leibnizschen Monadenlehre. Abgesehen von solchen Analogien kann aber auch gezeigt werden, wie sich diese allgemeine Konzeption strukturell aus der Symbolisierungskette des allgemeinen Erfahrungsprozesses ergibt: als eine neue und besondere Symbolisierung, in der — wie in keiner anderen Symbolisierung sonst — das Problem der Symbolisierung als solcher zum Ausdruck gebracht und einer bestimmten Lösung zugeführt wird. Der Fortgang der Erfahrung — Whitehead und Cassirer haben das nachdrücklich betont — ist identisch mit dem Fortgang der Kultur, d.i. der qualitativen und quantitativen Leistung und Orientierung menschlichen Denkens und Handelns. Cassirer interpretiert die Symbolsysteme dahingehend, daß sie — idealtypisch — nacheinander die Funktion des 'Ausdrucks', der 'Darstellung' und der 'reinen Bedeutung' übernehmen. 55 Aufbau und Fortgang dieser Funktionen sind gleichbedeutend mit Aufbau und Fortgang der mit dem Symbolprozeß verknüpften Reflexion und Selbstreflexion. Die (von Cassirer einseitigerweise nur in den modernen Naturwissenschaften und in der Philosophie lokalisierte) Funktion der 'reinen Bedeutung' meint einen Höchstgrad an Selbstreflexion darüber, daß Symbolisierungen Symbolisierungen sind, d.h. weder 'nackte Tatsachen' noch 'bloße Konstrukte'. Dabei ist offenkundig, daß solche Symbolismen 'höherer Ordnung' — selbstreflexive Symbolismen also — mit ihrer Funktion 'reiner Bedeu475

Grundzüge einer Theorie der Mystik

tung' von außen her stets als bloßer Ausdruck oder bloße Darstellung mißverstanden werden können, da die materiale, mediale Seite des Symbolischen ja niemals unmißverständlich das mit einem Symbolismus 'höherer Ordnung' mitgegebene reflexive Potential ausdrücken kann. Dieses Potential erschließt sich erst im lebensbedeutsamen und sachgerechten Umgang mit dem betreffenden Symbolismus. Nehmen wir hiefür das Medienbeispiel der Sprache, so kann diese sowohl Ausdruck wie Darstellung wie auch reine Bedeutung sein, ohne daß an der Symbolgestalt als solcher — der Laut- bzw. Schriftgestalt — von vornherein ablesbar wäre, um welche Funktion es sich handelt. Man kann daher sagen: Je entwickelter und reflexiver ein Symbolismus ist, desto mehr reflexiven Überschuß weist er gegenüber seiner materialen Gestalt auf und desto schwieriger ist es, ihn 'von außen' — d.h. ohne sich in der Selbstverständlichkeit jener Lebensform, in der er gewachsen und in der er wirksam ist, zu bewegen — richtig zu interpretieren. Das hier Skizzierte ist dem vergleichbar, was Leo Weisgerber — in der Nachfolge der Sprachphilosophie Humboldts — als 'sprachliche Zwischenwelt' bezeichnet hat: das Potential an Interpretationsfreiheit und kaum vermeidbaren Mißverständnissen, das jede Kommunikation und jede Interpretation mit konstituiert.56 Sprechen ist — auf welcher reflexiven Ebene auch immer — eine Symbolisierung, die in unterschiedlicher Weise über den eigenen Symbolcharakter Bescheid weiß und dieses Bescheidwissen in die Symbolisierung mit einbringt. 57 Da die materiale Sprachgestalt ihre 'geistige Bedeutung' (Cassirer) aber nur in der lebendigen kulturellen und lebensweltlichen Funktion des betreffenden Symbolismus zur Gänze an sich binden kann, da also Zeichen und Bedeutung grundsätzlich ein labiles Gleichgewicht bilden, differieren so oft — auch im Selbstverständnis des Sprechenden — Gesagtes und Gemeintes. Je höher der Reflexionsanspruch ist, umso leichter 'versagt' das Medium und umso leichter werden Teile der Symbolisierung als unzureichend oder mißverständlich zurückgenommen, oder sie werden neu und paradox arrangiert. Dies ist — da Sprache jener Symbolismus ist, von dem her wir fundamental unseren Weltbezug aufbauen und der die meisten anderen Symbolismen objektiviert und integriert — zuerst und vor allem als Sprachgeschehen beobachtbar und darstellbar. Welche Symbolisierungsfunktion haben nun Schweigen, apophatisches und paradoxes Sprechen? Es sind offenkundig Funktionen, die sich an bestimmten Grenzen des Symbolisierungsprozesses und damit an den Grenzen eines autopoietischen Systems ergeben. Die erste und entscheidende Anstrengung dieses Systems besteht darin, aus dem vorläufig haltlosen Spiel vergänglicher Form-Schließungen fixierbare Prägnanzen, Symbole also, zu etablieren. Die Fixierung aber ist nur möglich durch die Bindung des 'geistigen Gehalts' an ein materiales Substrat, das seinerseits durch diese Bindung zum Medium wird. Das Medium ist der materiale Aspekt eines Symbolsystems. Dieses kann sich prinzipiell auch an andere Medien binden, so wie sich jedes Medium an unterschiedliche Symbolsysteme binden läßt. Jede spezifische und konkrete Verbindung von Symbolsystem und Medium schafft jedoch ein einmaliges und unverwechselbares Strukturfeld, in dem ganz bestimmte Möglichkeiten der Darstellung und der Reflexion sowohl gegeben als auch ausgeschlossen sowie erleichtert oder auch erschwert sind. Man 476

Symboltheoretische Bemerkungen

denke beispielsweise an die Übertragbarkeit, aber auch an die Übersetzungsschwierigkeiten und -Unmöglichkeiten zwischen den Botschaften, die Musik, Sprache oder bildliche Darstellung vermitteln können, aber auch an die entsprechenden Schwierigkeiten, die sich intern zwischen unterschiedlichen Musikformen ergeben, zwischen unterschiedlichen Sprachen und zwischen unterschiedlichen Stilen bildlicher Darstellung. Das (selbstreflexive) Bewußtsein, daß den Repräsentations- und Reflexionsmöglichkeiten sowohl eines Symbolsystems wie eines Mediums prinzipiell Grenzen gesetzt sind, ergibt sich vermutlich erst aus dem disharmonischen Zusammentreffen verschiedener Symbolsysteme und Medien. Ein harmonisches Zusammentreffen hat bloß synergetischen Effekt und schließt unter Umständen sogar die bisherigen Einzelsymbolismen und -medien zu einer neuen Synthese, d.h. zu einem umfassenderen neuen Symbolismus und Medium zusammen. Jene Symbolismen, die sich besonders dazu eignen, andere und unterschiedliche Symbolismen zu integrieren, lassen sich als 'Brückensysteme' (Schwemmer) bezeichnen. 58 Das eindrucksvollste und leistungsfähigste dieser Brückensysteme ist zweifellos die — gesprochene wie geschriebene — menschliche Sprache. Sie gilt — in ihrer qualitativ gesteigerten Leistungsfähigkeit gegenüber den Tiersprachen — zu Recht als ausgezeichnetes Anthropinon und als eigentliches Ferment der Kultur. Besagte Leistungsfähigkeit ergibt sich aber — und das hat die klassische Anthropologie weitgehend ignoriert — vor allem daraus, daß die gesprochene Sprache verschriftlicht werden kann und daß sich damit für die Reflexion ein neuer, extrem weiter Möglichkeitsraum erschließt. In ihm entstehen — unter anderem — Wissenschaft und Philosophie. Indem die Sprache die meisten anderen Symbolismen integriert und/oder ersetzt, entwickelt sie aber auch eine sich selbst totalisierende — und damit den anderen Symbolismen gegenüber totalitäre — Tendenz. Ist diese Tendenz voll wirksam geworden, handelt es sich — wenn wir uns an Schwemmers Schema der sechs Erfahrungsstufen 59 orientieren — um die Erfahrungsstufe der 'ansatzweisen Vollversprachlichung'. Sprache erhebt hier den Anspruch, zu jener Superstruktur im Erfahrungsprozeß zu werden, die alle anderen Strukturen unter sich subsumiert, sie in die eigene Struktur überführen und damit voll durchleuchten und beherrschen kann. Wirklichkeit wird mit Sprache gleichgesetzt — und alles, was noch nicht Sprache ist, soll zumindest in Zukunft noch Sprache werden. Damit wird eine völlige Einheit und Selbst-Durchsichtigkeit der Wirklichkeit postuliert, die zwar tendenziell vorangetrieben, aber aus verschiedenen Gründen niemals zur Gänze realisiert werden kann. Maßgeblich für das Scheitern der totalen Versprachlichung unserer Erfahrung ist einerseits, daß diese sich nicht auf einen einzigen Symbolismus und auf ein einziges Medium einschränken läßt, und andererseits, daß kein Symbolismus die Erfahrung qualitativ und quantitativ zur Gänze an sich binden und total absorbieren kann, sondern daß immer ein widerständiger Rest der Erfahrung bleibt, der in der Symbolisierung nicht aufgeht. Eben dadurch bleibt jede Symbolisierung — und damit auch: jede Versprachlichung — unzureichend, fragwürdig und relativ. Es ist also der von einem einzelnen Symbolismus, der Sprache, ausgehende Totalitätsanspruch, der die — auf angemessene und wahre Erfahrungsfixierung abzielende — 477

Grundzüge einer Theorie der Mystik

Symbolisierung als solche in Frage stellt. Im Fortschritt ihrer Eigenreflexion entwickelt die Sprache den besagten Totalitätsanspruch, im weiteren Reflexionsfortschritt muß sie ihn jedoch wieder aufgeben. Sie muß erkennen, daß es ihr eben doch nicht möglich ist, die anderen, nichtsprachlichen Symbolismen völlig zu absorbieren. So lassen sich etwa bildliche und musikalische Strukturen eben doch nicht zur Gänze in sprachliche Strukturen übersetzen. Und wir müssen sogar erkennen, daß sich innerhalb des Zusammenhangs verschiedener Sprachen und innerhalb des Zusammenhangs einer einzigen Sprache60 niemals eine völlige Übersetzbarkeit ergibt. Dennoch bleibt — trotz dieser Einsichten — Sprache der fundamentale und integrale Symbolismus unserer Erfahrung, und auch dann, wenn das Scheitern der Vollversprachlichung erfahren und akzeptiert wird, bleibt diese als regulative Idee oder einfach auch nur als unerfüllte und unerfüllbare Sehnsucht bestehen. Diese Sehnsucht, die als Komponente in den weiteren Erfahrungsprozeß eingeht, richtet sich darauf, die Gesamtwirklichkeit zu symbolisieren, doch gleichzeitig wird sie von der Gewißheit begleitet, daß dies nicht möglich ist. Apophatisches und paradoxes Sprechen — das ausdrückliche Negieren von Symbolisierungen und ihre 'unsinnige' Verwendung — sind mögliche Sprachspiele, um dieser Situation und diesem zugleich angespannten und widersprüchlichen Bewußtsein Ausdruck zu verleihen. Ein diesem Bewußtsein adäquates Sprachspiel ist aber auch das Schweigen, das ja nicht nur gegenüber dem Sprechen als qualitatives Anderes verstehbar ist, sondern auch als eine 'Fortsetzung der Kommunikation mit anderen Mitteln' .61

3.2.10

Negation von 'Bild' und 'Weise'

Die Formeln unio und hen-kai-pan stellen eine Symbolisierung der 'letzten' und 'ganzen', der 'ursprünglichen' und 'authentischen' Wirklichkeit dar. Sie fußen auf der Voraussetzung anderer und gegensätzlicher Symbolisierungen, vor deren Antifolie sie sich abheben und die sie als 'Brückenköpfe der Erfahrung' benützen, um sie zu 'überholen'. Die 'überholten' Symbolisierungen sind Konzeptionen der Subjektivität, der Pluralität, der Gegenständlichkeit, der Kategorialität. Was 'überholt' wird, sind aber nicht nur die genannten Größen, sondern auch der Kontext, in dem sie stehen. Mit dem Subjekt wird auch das zu ihm komplementäre 'Objekt' negiert, mit der Vielheit auch die (begrenzte) Einheit, mit der Gegenständlichkeit und Kategorialität auch die Vorstellung schlechthinniger Nichtgegenständlichkeit und Nichtkategorialität. Intendiert wird keine bloße Umkehrung bisheriger Konstruktionen, sondern eine neue Ebene des Wirklichkeitsverständnisses, auf der die Struktur aller Erfahrung — also: aller Prägnanz- und Symbolkonstruktion — nicht einfach vernichtet, sondern in eine andere Funktion übergeführt wird. Diese neue Funktion kann man — freilich nur in einem modifizierten Verständnis — mit Cassirers Terminus der 'reinen Bedeutung' identifizieren und als das selbstreflexive Wissen um den Symbolcharakter aller Erfahrung definieren. Die neue Ebene des Wirklichkeitsverständnisses unterscheidet sich von den früheren Verständnisebenen gleichermaßen durch ihren Bezug auf die G&jamiwirklichkeit wie

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Symboltheoretische Bemerkungen

durch ihre fortgeschrittene Selbstreflexivität als symbolisches Verständnis. Keiner anderen Symbolisierung aber stellen sich entscheidendere Hindernisse in den Weg als einer Symbolisierung des Ganzen, das sich ja gewissermaßen per definitionem der Konstruierbarkeit entzieht, und einer Symbolisierung des Symbolcharakters als solchen. Die Symbolisierung des Ganzen gibt es — strenggenommen — nur als den Versuch einer solchen Symbolisierung. Das Subjekt kann immer nur programmatisch, niemals de facto in die subjektive Konstruktion mit hereingenommen werden, und eine aufs Ganze der Wirklichkeit zielende Konstruktion kann dieses Ganze gleichfalls immer nur programmatisch einholen. Was aber real immerhin stattfindet, sind der Versuch, die Intention, die Programmatik. Das Ganze kann weder gesehen noch gehört noch gegenständlich gedacht, wohl aber kann es gedanklich thematisiert und darüber hinaus einem synästhetischen Empfinden deutlich werden. Das synästhetische Empfinden ist eine dem Erfahrungsprozeß immer schon zugrunde liegende und ihn bestimmende Funktion, die aber durch die Aufmerksamkeit, die wir den Einzelsinnen widmen, verdeckt wird und erst durch die den Einzelsinnen entgegengebrachte Skepsis wieder eigens in Erscheinung tritt. 'Synästhetisch' meint, daß uns die Wirklichkeit über eine Mehrzahl von sinnlichen Wahrnehmungsweisen — im weiteren Sinn aber auch: über eine Mehrzahl von Seh- und Denkweisen, von Symbolismen und Medien — gegeben ist, die mehr oder minder erfolgreich ineinandergreifen und zusammenarbeiten und so jenes komplexe VermtiAxingsgeschehen ergeben, als das sich uns die Wirklichkeit darstellt. Das Vermittlungsgeschehen ist nicht einholbar, weil der Akt des Einholens selbst Teil des Vermittlungsgeschehens ist und das Ganze in seiner versuchten Gesamtrepäsentation daher stets zu falscher Gegenständlichkeit gerinnt. Das gedachte bzw. symbolisch dargestellte Ganze ist also nie das Ganze selbst, sondern immer dessen Abbild. Abbildlichkeit und Nicht-Authentizität sind aber zweifellos eine Grundbestimmung jeglichen Symbols. Insofern unterscheidet sich die versuchte Symbolisierung des Ganzen nicht von den — ihrem ersten Anschein nach weitaus unproblematischeren — Symbolisierungen des Partikularen. Auch die Partikular-Symbolisierung stellt niemals das dar, was sie ihrer Intention nach darstellen sollte: nämlich ein Stück Wirklichkeit als solche. Die Teil-Symbolisierungen schaffen jedoch in der Welt Einteilungen, Ordnungen und Funktionen, an denen man sich orientieren kann und mit denen sich pragmatisch arbeiten läßt. Diese Einteilungen, Ordnungen und Funktionen der Stückwerk-Welt nennt Eckhart 'Weisen' und 'Bilder'. Ihnen setzt er eine Wahrnehmung der Wirklichkeit gegenüber, die er als 'Weise ohne Weise' und als 'Bild ohne Bild' bezeichnet. Mit diesen paradoxen Formulierungen kann aber letztlich weder eine zusätzliche 'neue Weise' bzw. ein zusätzliches 'neues Bild' gemeint sein, noch eine völlige Eliminierung von 'Weise' und 'Bild'. Die Weisen und Bilder sind auf der veränderten Wahrnehmungsebene der unio nicht schlechthin ungültig, sondern vielmehr gleichgültig geworden. Sie erweisen sich jetzt weder als der einzige noch als der wichtigste Zugang zur Wirklichkeit. Neben ihnen gibt es — und eben das wird erst durch ein Überschreiten der einzelnen Sinnesund Denkleistungen und durch einen neuen Bezug auf die synästhetische 'Grundkategorie' der Erfahrung deutlich — ein Innesein des Wirklichen als eines unendlich-bewegten 479

Grundzüge einer Theorie der Mystik

Ganzen, das vor allen Bildern und Weisen bereits existiert — eines Ganzen, das die Bilder und Weisen als solche aus sich entläßt und das auch nach jedem Gerinnen der Welt zu Bildern und Weisen als eigenständige Dimension weiterwirkt. Dieses Innesein ist 'in gewisser Weise' immer schon da und jedem Weltverhalten mitgegeben — aber so unausdrücklich, daß es mißverstanden werden bzw. unverstanden bleiben kann. Das Vermittlungsgeschehen, das das Ganze der Wirklichkeit darstellt, ist die Voraussetzung dafür, daß wir in unserem Erfahrungsprozeß Bilder und Weisen produzieren und anwenden. Es ist aber nicht jenseits der Bilder und Weisen als ein eigenes Bild und als eine eigene Weise faßbar. Gerade dort aber, wo sich die Bilder und Weisen den Anschein geben, sie seien die Wirklichkeit selbst, erweist sich die Unangemessenheit eines solchen Anspruchs, und das vorerst unausdrücklich vorausgesetzte und beanspruchte Vermittlungsgeschehen läßt sich dann als solches thematisieren und erörtern. Dadurch wird es aus einer vorsymbolischen zu einer symbolischen Gegebenheit. Synästhesie wird so aus einer wirkenden Dimension zu einem ausdrücklichen Symbol. Anders gesagt: Das Vermittlungsgeschehen wird als Symbolismus gefaßt, der aufgrund seines spezifischen 'geistigen Gehalts' das — nach dem bisherigen Verständnis der Symbolisierangstätigkeit, die sich immer auf Partikulares richtete — nicht symbolisierbare Ganze symbolisieren möchte. Zwar ist diese Total-Symbolisierung nun nicht in gleicher Weise durchführbar wie die früheren Symbolisierungen. Sie wird aber als scheiternder Vollzug erprobt. Wenn manche Mystiker — auch bei Eckhart finden sich solche Formulierungen — behaupten, die Wirklichkeit als schlechthinnige 'Bildlosigkeit' und 'Weiselosigkeit' rezipieren zu können, so dürfte es sich dabei um ein Selbstmißverständnis der zugrunde liegenden Erfahrung handeln. Es geht in der Mystik sicher nicht darum, Bilder und Weisen schlechthin und ersatzlos zurückzunehmen, auf jede Konstruktion zu verzichten und sich völlig passiv der Rezeption 'überweltlicher' Erscheinungen hinzugeben, die aus einer 'anderen Wirklichkeit' kommen bzw. von 'höheren Mächten' zugeschickt werden. Sicherlich ist dies in der Selbstinterpretation vieler Mystiker so der Fall. Eine an der symbolisch-prozessualen Erfahrungstheorie orientierte Strukturanalyse der Mystik zeitigt aber ein anderes Ergebnis: Das Zurücknehmen von Symbolisierungen — wie es sich sprachlich in Schweigen, Apophasis und Paradoxalität ausdrückt — ist selbst ein Akt der Symbolisierung, und die Symbolisierung selbst ist ein mehrschichtiges, reflexives und entwicklungsfähiges Phänomen, das sich selber im 'scheiternden Vollzug' einer letzten und radikalen Möglichkeit von Symbolisierung thematisieren kann. In der Rede von 'Bild ohne Bild' und 'Weise ohne Weise' geht es gleichzeitig um eine Intensivierung wie auch um eine Destruktion von Symbolik. Das betrifft nicht nur die Sprache, sondern auch andere Symbolisierungen. Es ist angebracht, hier noch einmal auf eine sinnvolle Unterscheidung von Zeichen und Symbol zurückzukommen. Zeichen sind willkürliche und konventionelle Zuordnungen, die jederzeit durch andere Zeichen zu ersetzen sind, Symbole hingegen sind lebensweltlich-kulturell 'gewachsene' und verinnerlichte Orientierungen, die nicht austauschbar erscheinen, ohne daß ein solcher Austausch mit existentieller Irritation und Krise verbunden wäre. Irritation und Krise gehören aber, anthropologisch gesehen, ebenso zur menschlichen Grundverfas-

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Symboltheoretische Bemerkungen

sung62 wie Fixierung und Sekurität. Der Austausch von Symbolen und Symbolsystemen findet in der Geschichte ebenso oft und notwendig statt wie der Austausch willkürlicher Zeichen. Irritation und Krise sind daher nicht etwas prinzipiell Vermeidbares, sondern gehören zur Grundverfassung von Wirklichkeit und Erfahrung. Die Mystik — als Selbst-Thematisierung des Symbolisierens als solchen und im ganzen — befaßt sich der Sache nach mit dem Problem der 'symbolischen Prägnanz' (Cassirer), d.i. dem Ursprung und der ursprünglichen Sinngebung von Symbolismen. Die symbolische Prägnanz ist jener vorerst geheimnisvoll anmutende Punkt in der Entwicklung von Wahrnehmen und Denken, in dem sich eine Form-Schließung vollzieht, durch den sich eine symbolisch-mediale Gestalt der Weltwahrnehmung und -deutung aufbaut und der die Weichen für ein auf den hier gelegten Gleisen fortlaufendes weiteres Wahrnehmen und Denken stellt. Die Transzendentalphilosophie hat diesen Punkt mit ihrem Theorem der 'transzendentalen Setzung' aufgefüllt, der einer phänomenologischen Theorie der Erfahrung freilich nicht standhält. Die symbolische Prägnanz unterliegt keiner wie immer gearteten Gesetzes- und Regelhaftigkeit. Sie ist aber auch nicht einfach vorgegeben. Sie ist jene konkrete geschichtliche Kontingenz, in der sich Zeichen, die nicht 'bloße' äußerliche Zeichen sind, sondern verinnerlichte Symbole, mit einem lebensbedeutsamen 'geistigen Gehalt' verknüpfen. Wo sich dann aber dieser Zeichencharakter sowohl auf das Ganze der Wirklichkeit ausdehnen möchte und wo er sich in seiner Zeichenhaftigkeit selbst einsichtig wird, kommt die Reflexion zwangsläufig wieder auf den Ausgangspunkt des Prozesses, die symbolische Prägnanz, zurück. Insofern ist die unio — in symboltheoretischer Perspektive — sowohl ein Telos wie ein Ursprung, beides aber in einem höchst relativen Sinn. Denn kein Ursprung ist der erste Ursprung und kein Telos das letzte Telos. 'Ursprung' und 'Telos' sind vielmehr symbolische Konstruktionen innerhalb des Erfahrungsprozesses.

3.2.11 Esoterik und Innerlichkeit Eckharts Hinweis, daß derjenige, der die mystische Rede adäquat aufnehme, selbst — als Mensch (gemeint ist: als gereifte Persönlichkeit) — der mystischen Botschaft 'gleich' sein müsse, verweist grundsätzlich auf die hermeneutische Struktur jedes Sprachspiels, jeder Lebensform, jedes kulturellen und lebensweltlichen Systems — man kann auch sagen: jedes Symbolismus. Cassirer definiert die symbolische Form als lebendige, dynamische Beziehung, deren entscheidendes Moment im Verknüpfungsakt von Zeichen, Medium und geistig-schöpferischer 'Energie' zu suchen sei. Um diese Verknüpfung konkret zu wissen und zu vollziehen, ist eine maximale Vertrautheit mit der symbolischen Prägnanz, um die es sich jeweils handelt, erforderlich. Je reflexiver ein Symbolismus ist, je mehr Ungesagtes, aber strukturell Wichtiges bei ihm mitgegeben ist — wie das in der Mystik zweifellos der Fall ist —, desto mehr wächst die Möglichkeit von MißVerständnissen auf der Seite derer, die nicht fähig oder willens sind, in den hermeneutischen Zirkel des betreffenden Phänomens einzutreten.

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Eckhart und Bonaventura plädieren allerdings dagegen, solch hermeneutisch gegebene Grenzen als hermetische anzusehen und die Kommunikation mit den 'Grobsinnigen' abzubrechen bzw. erst gar nicht zu versuchen. Die mystische Erfahrung ist eine Erfahrung, zu der prinzipiell jeder Mensch fähig ist.63 Nimmt man den Menschen — wie Cassirer — als symbolbildendes Wesen, so wird der Topos von der Universalität der Mystik anthropologisch plausibel: Wenn jeder Mensch seinem Wesen nach, indem er denkt und fühlt, lebt und schafft, sich und die umgebende Wirklichkeit symbolisiert, stößt er auch auf die Grenzen dieser Symbolisierungstätigkeit und hat zumindest die Möglichkeit der mystischen Erfahrung. Freilich ist offenkundig, daß Symbolisierungen 'höherer Ordnung' — solche, die sich der Funktion der 'reinen Bedeutung', d.h. der maximalen Selbst-Reflexivität, nähern — keineswegs von allen und nicht einmal von den meisten Menschen vorgenommen werden. Daher bleibt die Mystik — psychologisch und soziologisch gesehen — vermutlich immer, wie schon in der Vergangenheit, ein esoterisches Phänomen. Wer den Erfahrungsprozeß frühzeitig abbricht, für den ist es möglich, daß er den Erfahrungspunkt, den die Mystik darstellt, nie kennenlernt.

3.2.12 Parapsychologische Phänomene (Para-Mystik) Die populäre Mystikliteratur, die sich — vielfach zu Recht — dem Vorwurf des Obskurantismus ausgesetzt sieht, zieht im allgemeinen keine Grenze zwischen der mystischen Erfahrung, wie wir sie bislang beschrieben und analysiert haben, und paranormalen bzw. parapsychologischen Erlebnissen. Alles 'Geheimnisvolle', das über die 'normalen' , also die gewohnten und als selbstverständlich geltenden psychischen Strukturen hinausgeht bzw. diesen widerspricht, wird als eine Restgröße zusammengefaßt und unter den gemeinsamen Titel 'Mystik' subsumiert. Das mystische Moment der Symbolskepsis erscheint in dieser Perspektive nur als Mittel, um der Symbolspekulation alle Zügel schießen zu lassen und eine phantastische 'andere Welt' des Übernatürlichen, der Akausalität, Synchronizität usw. zu etablieren. Nun ist die Paranormologie bzw. Parapsychologie eine eigene Wissenschaft bzw. Grenzwissenschaft 64 , die zwar bekanntlich kaum über allgemein anerkannte methodische Standards verfügt und dadurch gegenüber haltloser Spekulation stets genügend Einfallstore bereithält, die sich im übrigen aber doch auch mit ernstzunehmenden und empirisch ausweisbaren Phänomenen beschäftigt, die in anderen Wissenschaften entweder ignoriert werden oder für die man einfach meint, prinzipiell oder zumindest bis dato keine plausible Erklärung finden zu können. Es fällt auf, daß um die Seriosität ihrer (Grenz-)Wissenschaft bemühte Parapsychologen, selbst wenn sie — in einer meist vagen Bedeutung — den Ausdruck Mystik verwenden, im allgemeinen nicht versuchen, eine geschlossene Theorie der Mystik anzubieten. 65 Umgekehrt gibt es kaum seriöse Mystikliteratur, die nicht versuchte, sich gegen die sogenannte 'Para-Mystik' abzugrenzen, dabei aber das ab- und ausgegrenzte Feld gleichfalls keiner Erklärung zuführt. Eine Ausnahme bildet — neben Dinzelba-

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Symboltheoretische Bemerkungen

chers Lexikon der Mystik, das in der Berücksichtigung seiner Stichworte sämtliche 'para-mystischen' Phänomene anfuhrt 66 — die sich als Phänomenologin im Sinne Husserls verstehende Gerda Walther, die ab der 2. Auflage ihres bekannten Mystikbuches67 die paranormalen Phänomene sehr stark in ihre Untersuchungen mit einbezieht und sie als konstitutive Faktoren des mystischen Erlebens betrachtet. In der Rezeption Walthers bedeutete dies freilich, daß sie gewissermaßen zwischen alle Stühle zu sitzen kam: Husserl und Heidegger haben ihren Ansatz (vor allem auch ihre Nähe zur Anthroposophie) abgelehnt, ja verspottet, und den ausgewiesenen Parapsychologen war und ist ihr Werk auch heute noch 'zu philosophisch'. 68 In der Tat zeigt Walthers 'Phänomenologie' erhebliche Schwächen. Allzu sehr beruft sie sich auf religiös-spekulative Hintergründe, um das empirisch vorliegende Material zu 'erklären'. Doch zeigt das Schicksal ihrer Rezeption, daß Mystikforscher und Parapsychologen 'zunftmäßig' nicht gern an einem Strang ziehen und daß sie die interdisziplinäre Arbeit den — in der Sache wenig berufenen — 'populären' Autoren überlassen. Es ist überaus schwierig, den ontologischen Status para-mystischer Phänomene wie Audition, Elevation, Prophetie usf. zu bestimmen. Inwieweit verselbständigt sich hier die empirisch nicht abgestützte Einbildungskraft des Menschen, wie weit symbolisieren die Ergebnisse der Imagination aber doch die Realität als solche? Über die Stichhaltigkeit parapsychologischer Ergebnisse und Methoden will ich hier kein pauschales Urteil abgeben. Es bleibt aber festzuhalten, daß die para-mystischen Phänomene weder als notwendiger und unumgänglicher Bestandteil der mystischen Erfahrung betrachtet werden müssen — gerade in klassischen Mystikertexten begegnen wir ihnen nicht oder nur am Rande —, noch aber auch, daß sie von der mystischen Erfahrung gänzlich zu scheiden und, sofern sie überhaupt ernstzunehmen wären, einen 'anderen Wirklichkeitsbereich' beträfen. Berichte über paranormale Erfahrungen — man denke an die Arbeiten aus der jungschen und transpersonalen Psychologie69 — zeigen vielmehr auffällige Parallelen, wenn nicht sogar z.T. identische Strukturen wie die Mystikerberichte. Es geht hier um das in den Erfahrungsberichten — ob sie nun als 'Mystikertexte' oder als parapsychologische 'Fallbeispiele' bezeichnet werden — oftmals beobachtbare Umkippen der auf dem 'mystischen Weg' radikalisierten Symbolskepsis in schrankenlose Spekulation und Phantastik. Von einem kategorial-realistischen Standpunkt aus kann es sich bei der paranormalen 'Aufhebung von Naturgesetzen' nur um reine Imagination handeln, der kein reales Korrelat entspricht. Eine gnostisch-idealistische Position hingegen, die die Korrelationsthese von Symbol und in sich eigenständiger Realität aufgegeben hat und Wirklichkeit nur noch in den Symbolen selbst verankert sieht, kann die sogenannten Naturgesetze als nicht oder nur beschränkt gültige Konstruktionen abtun und der 'neuen' und 'anderen' Realitätsauffassung ihre mögliche Gültigkeit bestätigen. Die symbolisch-prozessuale Erfahrungstheorie allerdings kann und braucht hier keine Entscheidung zu fällen. Aufgrund ihrer nicht metaphysisch-apriorischen, sondern empirischen Ausgangsbedingungen wird sie sich aber eher im Lager der Skeptiker befinden als im Lager der (alten oder neuen) 'Gläubigen'. Aus der Perspektive der Symboltheorie ist die Frage nach der 'Wahrheit' der Symbole — d.h. die Frage ihrer tatsächlichen und letztinstanzlichen Entsprechung zur Realität an sich — nicht entscheidbar. 483

Grundzüge einer Theorie der Mystik

Auch wenn man die paranormalen Phänomene — ganz oder teilweise — nicht von vornherein als Hirngespinste abtut, sondern zumindest die Möglichkeit einräumt, daß sie eine 'reale Symbolisierung' darstellen, so bleibt doch unbestritten, daß sich die Mystik mit Spekulationen verbinden kann bzw. daß sie zuweilen tatsächlich in Spekulationen ausmündet, die keinerlei Halt in der 'normalen' Wirklichkeit mehr haben und demnach 'Erfahrungstypen' sind, in denen sich das spekulative und fiktive Moment, das in jeder Erfahrung mitgegeben ist, extrem verselbständigt, ja verabsolutiert hat. Die Frage ist, in welchen Strukturzusammenhang das skeptische und spekulative Potential der Mystik zu stellen ist bzw. an welchem Punkt des 'mystischen Wegs' das Umkippen von Skepsis in Spekulation erfolgen kann. Es scheint kaum sinnvoll, Mystik einzig auf Skepsis oder einzig auf Spekulation festzulegen. Es scheint aber genauso wenig sinnvoll, von einer notwendigen und unabdingbaren Verbindung zu sprechen. Das Umkippen kann, aber es muß nicht geschehen. Eine skeptische Mystik unterscheidet sich von einer 'nüchternen' und 'banalen' Skepsis, die einfach den Wahrheitswert von Aussagen in Frage stellt und damit nicht oder kaum ein existentielles, lebensbedeutsames Problem verbindet, dadurch, daß sie jenseits des Verneinten und durch dieses hindurch ein 'Geheimnis' offenhält. Dies ist, bei allem Unterschied, die gemeinsame Position Wittgensteins und Mauthners — aber auch die Position jener christlichen Mystiker, die ausdrücklich auf eine Beschreibbarkeit des Jenseits verzichten. Eine nur-spekulative Mystik hingegen, die das Jenseits der Kategorialität in 'positiver' Weise als 'neue' und 'andere' Kategorialität fassen möchte, sollte wohl besser als 'schlechte Metaphysik' bezeichnet werden, denn in ihr wird die — sowohl für die Metaphysik als auch für die Mystik konstitutive — Spannung zwischen 'dieser' Welt und ihrer Negation unterlaufen und aufgehoben. Nur aus dieser Spannung aber erhält sich Mystik als ernstzunehmendes und lebensbedeutsames Phänomen. Nur aus dieser Spannung ergibt sich die grundsätzliche Dichotomie von Erfahrung und Wirklichkeit, von Wirklichkeit und Symbol. Wenn wir den Erfahrungsprozeß in seinen Anfängen — d.h. in seinen untersten Stufen — bedenken, so ist der Imagination eine bedeutende Funktion zuzuweisen. Noch bevor Sinneseindrücke als Wahrnehmungen der Umwelt erkannt und verarbeitet werden, ist das Ganze der Beziehung zwischen erfahrendem Subjekt und erfahrener Umwelt als imaginäre Konstruktion gegeben. Diese Konstruktion wird erst durch die Etablierung und Ausdifferenzierung der Kategorien gesprengt, die — nicht absolut, aber doch relativ — durch weitere Welterfahrung bestätigt werden und dadurch eine Identität mit den Strukturen der Wirklichkeit an sich suggerieren. Entwicklungspsychologisch ist dies — nach Freud — als Ausbildung von Ichpersönlichkeit und realistischer Haltung bzw. als Überwindung des primären Narzißmus beschreibbar. Erklärt der Erfahrende auf späteren Erfahrungsstufen die Ungültigkeit der Kategorialisierung, stellt sich dies in der Perspektive Freuds ausschließlich als Regression, Infantilisierung und Realitätsuntüchtigkeit dar. Zweifellos liegt letzteres bei gewissen psychischen Erkrankungen vor, die sich als Krankheiten aber nicht der symbolskeptischen Reflexion verdanken, sondern die allenfalls von vereinzelten symbolskeptischen Reflexionselementen begleitet sind. Die Mystik ist insgesamt nicht unter den Bereich psychischer Krankheiten subsu-

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Symboltheoretische Bemerkungen

mierbar — sie ist vielmehr ein Phänomen der oberen, entwickelteren Erfahrungsstufen, deren Konstruktionen sie nicht regressiv, sondern progressiv hinter sich läßt, d.h. die sie aufnimmt und in einen veränderten Kontext einbringt. Gerade die 'großen' Mystiker beweisen ihre Realitätstüchtigkeit. Sie beweisen, daß die Anerkennung der Kategorialität und deren Negation gleichzeitig möglich sind. Bei psychischer Krankheit hingegen verdrängt das nichtkategoriale Weltbewußtsein das kategoriale. Dies ist besonders im Fall der Schizophrenie gegeben — die Verdrängung erfolgt dann in einem hin- und herspielenden, aber nicht kontrollierbaren Rhythmus. Psychische Krankheit läßt den Reflexionsprozeß, in dessen Zusammenhang Mystik sich konstituiert, abbrechen. Mystische Erfahrung hingegen treibt den Reflexionsprozeß weiter. Es ist also wichtig zu betonen, daß es sich bei Mystik um ein hochreflexives Phänomen handelt, das die kategoriale Erfahrung nicht ausschaltet, sondern voraussetzt und gleichzeitig zur Kategorialität deren Negation so aufbaut, daß beide in eine extreme, sich gegenseitig steigernde Spannung gelangen. Mystik ist also nicht die einfache Rücknahme von Symbolisierung, sondern ein Forttreiben der Symbolisierung in Richtung 'reiner Bedeutungsfunktion'. Diese neue Symbolfunktion verlangt sowohl eine radikale Skepsis gegenüber der Symbolisierungstätigkeit als solcher wie auch die Einsicht, daß Symbole unverzichtbar sind. Besagte Einsicht zeitigt nicht eine plumpe Wertschätzung der Symbole im Sinn einer Tabuisierung von Symbolreflexion, sondern ein Fortschreiten des Erfahrungsprozesses dahingehend, daß Symbole gleichzeitig zu intensivieren und zu destruieren seien. Was daraus resultiert, ist eine spannungsreiche gleichzeitige Nähe und Ferne des Symbolisierenden zur Symbolisierung — und damit auch eine spannungsreiche gleichzeitige Nähe und Ferne des Symbolisierenden zur Realität selbst. Die in der Mystik angestrebte reine Bedeutungsfunktion des Symbolischen kann als eine Art Nullfunktion oder Leerstelle mißverstanden werden, die angeblich nach inhaltlicher Auffüllung verlangt. Da die sinnliche und kategoriale Erfahrung in ihrer Ausschließlichkeit eben erst überwunden wurde, kann, um die vermeintliche Leerstelle zu füllen, statt auf sie auch auf die reine Imagination zurückgegriffen werden. Diese kann jetzt — durch die Kategorialität und durch empirische Verbindlichkeiten nicht mehr gehemmt — das gesamte Bewußtseinsfeld beanspruchen wollen. Solch unkontrollierter Anspruch bedeutet aber de facto Regression — genauso wie eine bloße, unreflektierte Rückkehr zur Kategorialität und ihrer Ausschließlichkeit Regression bedeuten würde. Offenkundig bietet sich auf dem höchsten und entscheidenden Punkt des mystischen Wegs der Absturz in bloße Spekulation geradezu an. Der radikalste Punkt der fortgeschrittenen Skepsis stellt zugleich das Einfallstor für den Obskurantismus dar. Die ängstliche und reglementierte Reflexion des 'NormalWissenschaftlers' (T.S. Kuhn), die diesen möglichen Abgrund des mystischen Weges ahnt, versucht daher ein Verbot aufzustellen, den Weg überhaupt zu gehen. Aber der Geist, der auf dem Weg der Erfahrung stehenbleiben will, um seinem Sekuritätsbedürfnis Genüge zu tun, wird — wie das schon Hegel richtig dargelegt hat — zur unwahren Gestalt. Die freie und schöpferische Reflexion hingegen vertraut sich dem weiterführenden Erfahrungsprozeß an, der ja nicht mechanisch abläuft, sondern autopoietisch in dem Sinn, daß der Erfahrende selbst wesentlicher Mitschöpfer und Mitgestalter seiner Erfahrung ist. Der Weg der fortschrei-

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

tenden Erfahrung ist somit immer auch der Weg fortschreitender Selbstfindung. Dieses Selbst findet die seiner Erfahrung und Wirklichkeit gemäßen Form-Schließungen und Symbole, indem es sich in seiner Welt, diese und sich selbst verändernd, fortbewegt — d.h. indem es nicht stehen bleibt und nicht zurück geht, sondern eben vorwärts in die Richtung der 'reinen Bedeutungsfunktion'. Diese ist ein Höchstpunkt der Reflexion, der — wie noch darzustellen sein wird — nicht nur einzig über die Symbole der Philosophie und der Wissenschaft erreichbar ist, sondern auch über andere Symbole, z.B. die der Religion oder Kunst. Aber gerade der reflexive Höchstpunkt ist schwer zu erreichen, und vermutlich ist es noch schwieriger, wenn nicht unmöglich, auf diesem Punkt zu verweilen. Aus diesen Gründen wird der Punkt als solcher vielfach für imaginär gehalten, für eine nicht realisierbare intellektuelle Konstruktion. 70 Und daher ist stets die Möglichkeit gegeben, daß die Erfahrung entweder in die Kategorialität oder auch in die vorkategoriale Imagination zurückfällt.

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3.3

Konturen einer Theorie der Mystik

3.3.1 Mystik als ' Diskurs der Grenze': Das Strukturproblem des Symbolischen Ich bin nunmehr an einen Punkt der Untersuchung gelangt, an dem ein zusammenfassender Rückblick auf Deskription und Analyse des Phänomens der mystischen Erfahrung es erlaubt, den Umriß einer Theorie zu zeichnen, die erklärt, worum es sich bei den kognitiven und emotiven Prozessen handelt, die — vor allem in der theologischen, philosophischen und geistesgeschichtlichen Literatur — als 'Mystik' bezeichnet werden. Selbstverständlich bleibt dabei zu beachten, daß im Sprachgebrauch unserer Kultur der Ausdruck Mystik im allgemeinen nach wie vor inflationär gehandhabt wird und daß daher nicht alle Verwendungen und Zuordnungen mit dem koinzidieren, was Gegenstand der hier zu skizzierenden Theorie ist. Dennoch sollen zumindest die geläufigsten und grundsätzlichsten Bedeutungen von 'Mystik' in einen Erklärungszusammenhang gebracht werden. Dieser Zusammenhang ist aus dem gemeinsamen Strukturproblem zu entwickeln, das im reflexiven Fortschritt verschiedener Symbolsysteme und Medien analog zu Tage tritt: das Problem der Grenzen jeglicher Symbolisierung bzw. das Problem der gleichzeitigen Intensivierung und Destruktion von Symbolik, die dann erfolgt, wenn der menschliche Geist versucht, seine eigene Grundtätigkeit, das Symbolisieren, als solches und im ganzen 'zurückzunehmen'. Dieser — selbst symbolische — RücknahmeVersuch führt zu einem besonderen Symbolgeschehen, das sich vom 'normalen' Symbolisieren in einigen Punkten erheblich unterscheidet. Der Symbolprozeß will sich hier selber zur Gänze einholen und symbolisieren, und er will zugleich dieses Einholen negieren und rückgängig machen. Man kann auch umgekehrt formulieren: Der menschliche Geist — der, wie nochmals betont sei, identisch ist mit dem Erfahrungsprozeß des Form-Schließens und Symbolisierens — versucht hier seine eigene Struktur, das Symbolische, zu destruieren, kann diesen Versuch einer Selbstdestruktion aber nur durchführen, indem er eine Selbst- und Totalsymbolisierung alles Symbolisierbaren unternimmt. Das Motiv dieser in sich paradoxen Anstrengung ist der Wunsch, die für jegliches Symbolisieren konstitutive Differenz zwischen Symbol und Wirklichkeit aufzuheben. Dieser Versuch gelingt nicht wirklich, er ist aber selbst eine Erfahrung, die sich als Konsequenz einer reflexiv fortgeschrittenen 'normalen', partikularen Symbolisierungstätigkeit ergibt, über diese hinausgeht, aber auch wieder zu ihr zurückkehrt. Es ist ein Gang des Denkens über seine Grenzen hinaus und wieder hinter sie zurück, ein Grenzgang des Symbolischen, der vorübergehend alle Grenzpfähle verrückt, durchein-

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

anderwirft und sogar unkenntlich werden läßt. Man kann das Geschehen der mystischen Erfahrung — die gleichzeitige, in sich paradoxe Intensivierung und Destruktion von Symbolik — metaphorisch als 'Implosion' des Symbolischen umschreiben. So stellen z.B. der philosophische, religiöse, ästhetische Diskurs — das Wort, das Bild oder der Klang — symbolisch-mediale Prozesse dar, die im Zuge ihrer Selbstreflexion dergestalt 'implodieren' können. Mystik ist also ein Strukturproblem der Rationalität und Erfahrung selbst. Sie ist nur insofern deren 'Anderes', als Rationalität und Erfahrung nicht einlinige und homogene Prozesse darstellen, sondern in sich vielschichtig und dialektisch sind. Diese 'Dialektik' können wir auch als den Transzendenzcharakter des Symbolischen bezeichnen: jede Form-Schließung und jedes Symbol und Symbolsystem treibt im Zuge seiner autopoietischen Bewegung über sich hinaus und wandelt so in stets neuen Form-Schließungen seine 'Identität'. Auf dem 'mystischen Punkt' will das Symbolisieren seinen Transzendenzcharakter — und damit seinen eigenen, unabschließbaren Möglichkeitshorizont — einholen und zur Darstellung bringen. Diese Darstellung muß aus den Konstitutionsgründen, denen das Symbolische unterworfen ist, scheitern. Dennoch kann ein partikulares Symbol — sei es die göttliche Trinität oder das poetische Wort — Umfang und Intensität seiner Bedeutung so sehr steigern, daß in ihm Totalität und Selbstreferenz des Symbolisierens gewissermaßen 'aufblitzen'. Dies ist die Augenblicklichkeit — die kairos-Struktur — des Mystischen. Es ist ein Punkt, an dem die 'reine Form' des Symbolischen deutlich wird, die — weil sie als reine Form nicht gegenständlich-kategorial zu denken ist — alle Inhalte hinter sich gelassen hat, aber damit gewissermaßen auch alle Inhalte repräsentiert. Jede Repräsentation im mystischen Kontext ist deshalb eine extreme Metapher, eine Chiffre für das 'Unsagbare' und 'Unbeschreibliche', das an bestimmten (endlichen und kontingenten) Repräsentationen — sozusagen als deren 'unendlicher Schatten' — für Augenblicke aufleuchtet. Dieses Aufleuchten hat — weil sich seine Bedeutung vorübergehend mit einem Medium, einem materiellen Zeichen, verbindet — quasi-symbolischen Charakter. Es ist ein Endpunkt des Symbolischen, der erfahrbar ist, sich aber nicht fixieren läßt. Deshalb sind auch im mystischen Bewußtsein (das immer nur ein BewußtseinspMnfcf ist) die Begriffe Sein und Nichts 'dasselbe'. Wer — als konkreter Mensch in der konkreten Welt — bei dieser Erfahrung innehalten und sie in eine dauerhafte Lebensform verwandeln möchte, verfiele einer schlechthinnigen Orientierungslosigkeit. Eben deshalb gibt es als weitere Konsequenz nur die Alternative zwischen einem Eintauchen in den Wahnsinn einerseits und der Rückkehr auf die Ebene 'normalen' Symbolisierens andererseits. Man kann dieses Strukturproblem aller Symbolisierung natürlich ignorieren oder inadäquat deuten. In beiden Fällen stehen wir dann aber der Mystik als einem lebensweltlich immer wieder und unter verschiedenen Vorzeichen begegnenden Phänomen ratlos gegenüber. Da unser (kulturelles) Leben aus einem Geflecht von Symbolsystemen und Medien — dynamisch gesprochen: aus einem in sich vielfältigen Strom von symbolisch-medialen Prozessen — besteht, führt die 'Logik' dieser Systeme bzw. Prozesse immer stets neu zum Punkt mystischer Erfahrung. Wir können auf diesen Punkt verschieden reagieren — und eben aus dieser Verschiedenheit der Reaktion ergeben sich 488

Konturen

unterschiedliche Mystikkonzeptionen, ergeben sich aber auch methodische Haltungen, die Mystik grundsätzlich negieren oder affirmieren wollen. Die Transzendentalphilosophie geht, dem neuzeitlichen Ausgrenzungsgestus folgend, mit dem Strukturproblem der Mystik so um, daß sie es zum 'Undenkbaren' erklärt, zum verbotenen Land für das Denken, und indem sie diesen nunmehr tabuisierten Bereich — allzu vorschnell — der alleinigen Kompetenz religiöser oder ästhetischer Gefühle und Institutionen zuordnet. Demgegenüber ist darauf zu insistieren, daß es jeweils faktisch zwar Grenzen des Denkens gibt, diese aber nicht ein für allemal feststehen, sondern stets neu verschiebbar sind. Dennoch stellt die Mystiktheorie, die ich vorschlage, eine 'schwache' Version des Theoriebegriffs dar. Jede Theorie — jeder Annäherungs- und Rekonstruktionsversuch — bleibt gegenüber der Wirklichkeit, die sie zur Darstellung bringen will, different. Sie bleibt ein begriffliches Modell und ist niemals die Realität selbst. Die für die mystische Erfahrung angebotene Erklärung ist — weil an einem idealtypischen Phänomen orientiert — selbst idealtypisch, d.h. sie ist eine Erklärung, aus der sich nicht jede konkrete mystische Erfahrung ohne weiteres ableiten läßt. Die Theorie soll lediglich die — stets modifizierbar bleibende -— allgemeinen Rahmenbedingungen für die Herausbildung konkreter mystischer Erfahrungen herausstellen sowie deren formalen Strukturprozeß. Um jeweils den einzelnen individuellen und konkreten Gehalt einer mystischen Erfahrung zu erschließen, bedürfte es — über die durch eine 'schwache' Theorie zu leistende Erstellung eines allgemeinen Verständnisrahmens hinaus — genauer historischer Felduntersuchungen, die aber nicht mehr Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein können. Allgemein läßt sich formulieren, daß Mystik — sei es religiöse, philosophische, künstlerische oder anderweitige Mystik — durch den (jeweils mit unterschiedlichen symbolischen und medialen Mitteln unternommenen) Versuch gekennzeichnet ist, im Zuge des Symbolisierungsprozesses, der konstitutiv ist für menschliche Rationalität und Erfahrung, jegliche Symbolisierung als solche und im ganzen zurückzunehmen. Dabei oszilliert das 'mystische Bewußtsein' zwischen zwei möglichen Täuschungen, nämlich (a) einen schlechthin symbolfreien Raum der Erfahrung zu postulieren oder (b) nach einer letztgültigen Super-Symbolisierung zu suchen. Letzteres ist eine 'positive', erste res eine 'negative' ontologische Stilisierung der Symbolizität. Beide Stilisierungen sind inadäquat, Ausdruck unzureichender ·— naiver oder skeptizistischer — Spekulation. Beide Täuschungen mißverstehen die menschliche Symbolisierungstätigkeit und stehen in Analogie zu jenen klassischen Mißverständnissen, die uns in der philosophischen Diskussion über Sinn und Möglichkeit von Metaphysik begegnen. Auch hier stehen sich die beiden extremen Meinungen gegenüber, es handle sich um ein erreichbares 'höchstes' bzw. 'absolutes' Wissen oder ein für allemal um ein schlechthinniges Nichtwissen. Mystik ist also nicht jenseits des Symbolprozesses zu orten, sondern vielmehr dessen Ausdruck und Konsequenz. Motiviert wird Mystik dadurch, daß — verknüpft mit der existentiellen Sinnfrage — das Symbolisieren als solches einer radikalen Skepsis ausgesetzt wird. Hier drückt sich das kritische und skeptische Potential der Mystik aus. Der Versuch der Rücknahme von Symbolizität ist eine — äußerste und überaus gewagte — Form-Schließung des Erfahrungs- und Rationalitätsprozesses, die aber doch, auch und

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

gerade in dieser negativen Bewegung, nach deren Fixierung und d.h. Symbolisierung strebt, die einen Status über oder außerhalb des 'immanenten' Kontextes 'normaler' Symbolisierungen hat. Dieser Status ist — intendiertermaßen — 'transzendent', da er die Ebene der Symbolisierungen verlassen will. Jedes Verlassen einer Symbolebene hinüber in ein 'Nichts' erweist sich aber über kurz oder lang als Ankunft in einem neuerlich (und anders) symbolbezogenen 'Etwas'. Wir leben in einer vielfältigen und dynamischen Welt relativ gültiger Symbolsysteme, deren 'Anderes' oder 'Nichts' keineswegs in einer eigenen, positiven Wirklichkeit symbolfreier Provenienz liegt, sondern — wenn diese Ausdrücke einen phänomenologischen Sinn haben — einzig und allein in der Relativität jedes einzelnen Symbolsystems. Diese Relativität ist als solche unhintergehbar. Denn jede Symbolisierung und jedes Medium läßt sich zwar — mit kommunikationstechnischen Gewinnen und Verlusten — in eine andere Symbolisierung und in ein anderes Medium 'übersetzen' und auch auf dieses Andere reduzieren, doch immer nur vorläufig und niemals wirklich zufriedenstellend. Das Symbolisieren geschieht nicht in einem beliebigen, wohl aber in einem prinzipiell unabgeschlossenen Horizont stets neuer möglicher Darstellungsebenen. Völlige Beliebigkeit ist deshalb ausgeschlossen, weil jedes Symbolisieren nicht ex nihilo erfolgt, sondern eine Anschlußleistung an Gegebenes (an vorweg und extrasubjektiv gegebene Symbolsysteme) darstellt. Eine letzte Ebene des Denkens bzw. Symbolisierens ist — aller bisherigen Erfahrung zufolge — eine ideologische Chimäre. Eben deshalb ist es auch nicht angemessen, zwischen 'Immanenz' und 'Transzendenz' eine genaue Grenze zu ziehen. Denn das Immanente — das Vorhandene, Verfügbare, Begegnende — ist nur im Modus der transzendierenden Prozeßbewegung unserer Erfahrung, d.h. unseres Form-Schließens und Symbolisierens. Wenn wir vom 'Anderen' oder vom 'Nichts' des Symbolprozesses sprechen, so handelt es sich dabei um ein — wenngleich wesentliches — Moment des Symbolprozesses selbst. Es ist daher auch besser, von einer Bewegung und nicht von einem Status der mystischen Erfahrung zu reden. Zur Frage der Trennbarkeit von Phänomen und Deutung, von Erfahrung und Interpretation in der Mystik ist anzumerken, daß die Trennbarkeit nur abstrakt zu denken ist, nicht jedoch als ein konkretes und zeitliches Hintereinander. Da Mystik ein Reflexionsphänomen ist, gibt es in ihr keinen deutungs- und interpretationsfreien Raum, der erst nachträglich mit irgendwelchen Inhalten zu besetzen wäre. Die mystische Erfahrung tritt vielmehr immer schon als Deutung und Interpretation des Erfahrenen auf, somit als ein Bündelphänomen abstrakter und konkreter, kognitiver und emotiver, primärer und sekundärer Elemente, deren konkrete Konstellation die konkrete Gestalt 'dieser' Mystik ergibt. Der Analyse bleibt es vorbehalten aufzuzeigen, daß dasselbe Phänomen auch in anderer Bündelung und anderer Konstellation — mit anderen Erlebnismomenten und anderen Interpretationen — auftreten kann. Eben dadurch ist es dann freilich nicht mehr im strengen Sinn 'dasselbe' Phänomen, sondern nur in einem sekundären oder analogen Sinn.71 Nachträgliche Interpretationen gibt es freilich dahingehend, daß der (zur Erfahrung gleichzeitigen sowie die Erfahrung durchdringenden und sie mitformenden) 'primären' Interpretation eine 'sekundäre', 'tertiäre' usw. Interpretation hinzugefügt wird. Es handelt sich dann jedoch um interpretative Anreicherungen,

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Konturen

Überformungen und Substituierungen, die nichts daran ändern, daß Mystik von vornherein — als Produkt fortgeschrittener Symbolisierung — kein 'bloßes Erlebnisphänomen1 , sondern auch und vor allem ein Reflexionsphänomen ist.72 Reflektieren ist fortschreitendes, transformierendes Symbolisieren. Dieses braucht nicht immer und ausschließlich begrifflich-theoretischer — also philosophischer — Natur zu sein. Philosophie ist nur eine Möglichkeit des Symbolisierens. Doch gerade deshalb läßt sich das Reflexionsproblem — wir können auch sagen: das Problem der Rationalität — als das allgemeine Problem der Symbolisierung reformulieren.

3.3.1.1

Vom archaischen zum modernen Bewußtsein

Unsere Symbolisierungen und unsere Medien haben eine autopoietisch-prozessuale Struktur, die sie an Grenzen der eigenen Bewegung stoßen lassen, an Grenzen, die nicht statisch 'gegeben' sind, sondern sich aus der Symbolisierungs- und Mediendynamik ergeben und — weil Symbolisieren die schlechthinnige menschliche Grundtätigkeit ist — sich mit der Sinnfrage des menschlichen Lebens verknüpfen lassen. Dieses 'Problem der Grenze und des Sinns' wird nicht von außen an den betreffenden Symbolismus herangetragen, sondern ist eine Konsequenz des jeweiligen Symbolprozesses und — weil menschliche Erfahrung sich über Symbole vollzieht — der Erfahrung selbst. Mystik ist daher ein Phänomen, das (anthropologisch gesprochen) zum Menschsein gehört. Symbolisierung ist — das wurde in Abschnitt 1 dargelegt — die genuin menschliche Fortführung und zugleich eine erhebliche qualitative Veränderung der 'bloßen' FormSchließung. Dieser letzteren sind zweifellos auch die 'höheren Tiere' fähig. Doch beim Menschen geht es nicht nur darum, daß er Prägnanzen bildet, sondern auch darum, sie symbolisch-medial zu fixieren und diese Fixierungen in der Lebenswelt als Orientierungen 'höherer Ordnung' zu verwenden. In eben diesen Fixierungen besteht die primäre Kulturarbeit, durch die Weltbilder, Wissens- und Verhaltensformen etabliert werden. Der Mensch, das animal symbolicum, erweist sich als ein 'Künstlicher von Natur' (Plessner), wobei freilich die alte, in der Kulturdiskussion geläufige und wohl auch überstrapazierte Gegenüberstellung von Natürlichkeit versus Künstlichkeit mehr zur Verdunkelung der Problematik beiträgt als zu ihrer Erhellung. Denn es gibt innerhalb der Spezies des animal symbolicum keinen 'Naturmenschen', und es gibt auch keinen klar abgrenzbaren ' Naturanteil' an der Gesamtkonstitution des (Kultur-)Menschen, auf den man rekurrieren und von dem aus man den 'Beginn' der Kultur festlegen könnte. Ein Mensch ohne Symbolisierungstätigkeit — das wäre z.B. das noch nicht sprachkundige bzw. einer sozialen Verständigung und einer Darstellung seiner Wahrnehmung und seines Willens noch nicht fähige Kleinkind, aber auch der geistig extrem Behinderte — ist weder Mensch im Vollsinn des Wortes, noch steht er freilich auf dem Niveau eines Tieres (als des dem Menschen nächstverwandten Lebewesens). Es handelt sich hier vielmehr um einen (noch oder mittlerweile) symbolisierungsunfähigen Menschen, der in

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

Disposition zum Menschen im Vollsinn des Wortes steht.73 Die — anthropologisch konstitutive — Symbolisierungstätigkeit geschieht nämlich als Sprache, als Mythos und Religion, als Wissenschaft, Kunst, Technik und Philosophie. Im archaischen Bewußtsein gelten diese Symbolsysteme nicht als konstruktive Symbolismen, sondern als Realitäten an und für sich. Sie erscheinen diesem Bewußtsein so, als seien sie im wesentlichen nicht entwickelbare, sondern fertig vorgegebene und anzuwendende Systeme. In den alten Mythen werden sie den Menschen von 'Kulturheroen' (Prometheus, Theut usw.) 'geschenkt'. Diese Systeme in ihrer Gegebenheit in Frage zu stellen — sie verändern, verbessern oder grundsätzlich verwerfen zu wollen —, gilt als abstruses Unterfangen. Man reagiert auf ein solches Wollen einzelner Individuen in archaischen Gesellschaften verständnislos und/oder hemmungslos aggressiv. Hinter solch starrem Konservatismus der Gesinnung steht die — dem heutigen, reflexionsgewohnten Bewußtsein kaum noch verständliche — gewaltige Anstrengung des archaischen Symbolisierens, d.i. des Übergangs von der vorsymbolischen Form-Schließung in die symbolische. Bevor die Fixierungen geschichtlich problematisiert werden können, bevor die aufklärerische Norm des kritischen Infragestellens von 'Gegebenem' überhaupt erhoben werden kann, wird über lange Generationen hinweg eine immense psychische und soziale Energie darauf verwendet, die Fixierungen allererst einmal zu konservieren und sie vor einem Verschlungenwerden durch das 'Chaos' vorsymbolischer Daseinsverfassung zu bewahren. 74 Dies ist — abgesehen von der Schicht primärer, biologisch bedingter und gesteuerter Grunderfahrungen — die erste, archaische Stufe der (symbolischen) Erfahrung, die der Mensch — ontogenetisch (als sich vom Kleinkind zum Erwachsenen entwickelndes Individuum) und phylogenetisch (als kollektive Genese einer Kultur) — erobert und behauptet. Die Erfahrung selbst treibt jedoch — autopoietisch — über diese Stufe hinaus. Die zweite, reflexive Stufe besteht darin, daß die erste Stufe als Ensemble unbewußter und/oder vergessener symbolischer Konstruktionen erkannt, gedeutet und bewertet wird. Für die Ermöglichung der Freiheit solchen Erkennens, Deutens und Bewertens ist offensichtlich eine besondere Synthese sozialer, politischer und medientechnischer Faktoren notwendig, durch die sich eine geschichtlich neue, nicht mehr archaische, sondern 'moderne' Lebenswelt und Lebensform konstituiert. Eine wesentliche Rolle spielt dabei — wie Havelock gezeigt hat — die Schrift. Diese ist ein Medium, das es weitaus mehr erleichtert als die mündliche Sprache, daß das Bewußtsein Symbole als Symbole begreifen lernt, sie jederzeit verfügbar hat, sie austauschen und verändern und solchen Austausch und solche Veränderung selber dokumentieren und festhalten kann. Insofern ist die Schrift ein besonderer Meilenstein im Selbstreflexionsprozeß des Symbolischen. 75 Erst jetzt kann es Theologie, Philosophie und theoretische Wissenschaft geben — also Symbolsysteme, die das Problem einer ausdrücklichen Begründung und Rechtfertigung ihrer eigenen Symbolik kennen. 76 In der archaischen Kultur gibt es zwar Skepsis, doch nur gegenüber dem Fremden, Ungewohnten und Unbekannten. In der reflexiven Kultur hingegen bezieht sich Skepsis auch auf das Eigene, Gewohnte und Längstbekannte. Die sich entwickelnde Reflexion — die vorwiegend, aber keineswegs ausschließlich über das Medium philosophischen und wissenschaftlichen Denkens abläuft — problematisiert

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Konturen

das in der Tradition 'positiv Gegebene' und wird — dialektischerweise — mit der Problematisierung der Tradition schließlich zuletzt auch selbst zum Problem. Dies ist die Situation Sokrates' und Piatons, die gegenüber der relativistischen Sophistik Wert und Wahrheit reflexiv (letzt-)begründen wollen. Der Ansatz der klassisch-griechischen Philosophie ließe sich als 'fortschrittlicher Konservatismus' bezeichnen. Als 'reaktionär' hingegen wäre dann jene prinzipielle Intellektfeindschaft zu verstehen, die Skepsis und aus der Skepsis erwachsendes Begründenwollen gleichermaßen verwirft: z.B. der Gestus der athenischen Richter, die Sokrates im Asebieprozeß zum Tod verurteilen. Das selbständige kritische Denken von Individuen und Gruppen — ihre Autonomie - wird von der 'Reaktion' als Gefahr für die ganze Herde (d.h. für den status quo und dessen Nutznießer, die Anführer der Herde) erkannt. Kritik und Autonomie werden — am Ende der archaischen Kultur und über sie hinaus — gefordert und zugleich bekämpft. Der Umgang mit dem Skepsis- und Reflexionsproblem ist — von Typisierungen wie 'fortschrittlich', 'konservativ' und 'reaktionär' einmal abgesehen — auf höchst unterschiedliche Weise möglich und zeitigt höchst unterschiedliche Strategien, Methoden und Erwartungshorizonte. Einer dieser Erwartungshorizonte — typisch dafür sind die monotheistischen Hochreligionen oder ist ein dogmatisches, rechthaberisches Wissenschaftsverständnis — besteht in dem Glauben, daß es unter den verschiedenen, miteinander konkurrierenden Symbolsystemen ein wahres gebe, dem gegenüber alle anderen als falsch zu klassifizieren seien. Um die Entscheidung zwischen wahr und falsch zu ermöglichen, bemüht man sich um erste und letzte Wahrheitskriterien. Ein solches Kriterium ist z.B. der 'Beweis der Kraft', mit dem Elias, Jahwe anrufend, die Baalspriester außer Gefecht setzt. Der Glaube an eine solche Wahrheit kann aber auch so beschaffen sein, daß er in einigen (oder auch in allen) dieser Symbolsysteme einen 'wahren Kern' ausfindig machen und eigens zur Darstellung bringen möchte. (Ein Beispiel hiefür ist Lessings Ring-Parabel, deren Botschaft von der 'einen Wahrheit in unterschiedlichen Gestalten' sich bei Cusanus und Friedrich II., dem letzten HohenstaufenKaiser, vorgebildet findet.) Der Wahrheits-Glaube kann schließlich aber auch dahin gehen, daß die Wahrheit noch gänzlich unbekannt sei und daß sie, indem sämtliche bisherigen Konzeptionen als Irrtümer beiseite zu schieben seien, erst jetzt oder in irgendeiner Zukunft gefunden oder hergestellt werden könne. Der Erwartungshorizont der 'Wahrheit' — welcher in der (für die gesamte Wahrheitsdiskussion verbindlichen und nicht übersteigbaren) Formel 'adaequatio intellectus et rei' seinen Ausdruck findet 77 — ist aber nur ein möglicher und relativer Horizont, um sich dem Problem der Symbolskepsis zu stellen. Man kann den Anspruch auf 'die' richtige Version der Weltdarstellung zurücknehmen oder erst gar nicht erheben, man kann sich mit einer pragmatischen Geltung von Symbolsystemen zufriedengeben oder auch — in der Haltung von Neugier und Abenteuer — die Vielfalt nicht-verifizierbarer Konzeptionen eigens begrüßen und mit dieser Vielfalt ästhetisch-spielerisch umgehen. 78 Auf einer fortgeschritten reflexiven Erfahrungsstufe bilden sich — auf lange Strecken hin begleitet von besagtem Problem der 'Wahrheit' — die Fragestellungen der Rationalität, der Erfahrung, aber auch der Mystik eigens heraus. Es sind Fragestellungen,

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

die sich einer fortschreitenden Symbolskepsis verdanken — und damit dem Fortschritt einer vielschichtigen, vielstufigen Gesamterfahrung, die sich über Symbolisierungen und über die (ihrerseits wieder erneut symbolisierende) Infragestellung von Symbolisierungen vollzieht. Die Infragestellung bezieht sich vorerst natürlich auf bestimmte, konkrete Symbolsysteme, sie weitet sich aber schließlich auf das allgemeine und abstrakte Problem von Symbolisierung überhaupt — Symbolizität als solche und im ganzen — aus. Damit stößt die fortgeschrittene Erfahrung auf zwei nicht identische, wohl aber kompatible Optionen: auf die Möglichkeit der Metaphysik — d.i. einer 'ersten Wissenschaft' — und auf die Möglichkeit der Mystik. Ich versuche im folgenden, die Eigenart der mystischen Erfahrung — sie gipfelt in der 'Implosion' des symbolisch-medialen Prozesses — vor der Folie ihrer Analogie zur Metaphysik darzulegen.

3.3.1.2 Metaphysik und Mystik; 'Implosionen' des Symbolischen Wenn ich davon ausgehe, daß Metaphysik und Mystik zueinander im Verhältnis einer Analogie stehen, so heißt dies, es gibt zwischen ihnen sowohl Momente der Identität wie der Differenz. Was sie gemeinsam haben, ist ihr Anspruch, die Symbolisierung 'als solche und im ganzen' einzuholen. Verschieden aber sind (a) existentielle Zielsetzung, (b) methodische Haltung und (c) sowohl Anteil und Rolle der emotionalen Komponente wie auch die Art der Bindung ans Medium. Daraus ergibt sich, daß ein Verständnis von Mystik niemals auf ein Verständnis von Metaphysik reduzierbar sein kann und umgekehrt, daß die Untersuchung des einen Phänomens aber dennoch Verweischarakter auf das andere Phänomen hat. Ihre Gemeinsamkeit — der Versuch, Symbolisierung 'als solche und im ganzen' einzuholen — verweist sie (in der Typologie Schwemmers) auf die sechste und letzte Erfahrungsstufe, die der 'ansatzweisen Vollversprachlichung'. 79 Schwemmer beschreibt diese Erfahrungsstufe so, daß sie in ihrer Realisierung prinzipiell ein Torso bleiben muß, d.h. sie gelingt teilweise und mißlingt insgesamt. Das Moment des Gelingens besteht darin, daß — vor dem Erwartungshorizont der zu leistenden Vollversprachlichung — tatsächlich immer wieder neue Erfahrungsbereiche verbal erschlossen und terminologisch fixiert werden können, daß also die 'Grenzen der Sprache' (Wittgenstein) stets neu verschoben — teleologisch gesprochen: vorgeschoben — werden können. Das Moment des Mißlingens aber besteht erstens darin, daß solche Grenzverschiebungen und Bereichserschließungen stets auch — neben Erfahrungsgewinn — mit Erfahrungsverlust verbunden sind: Ein Teil der bislang erfolgreich versprachlichten Erfahrungen wird ausgeblendet oder deformiert, Worte und Wendungen werden vergessen oder semantisch ausgehöhlt. Zweitens besteht das Moment des Mißlingens aber auch darin, daß keine Konzeptualisierung und sprachliche Erschließung ihre 'absolutistische' Intention zur Gänze einlösen kann, so daß stets ein nichtaufgeklärter, nichtkonzeptionalisierter und nichtverbalisierter Rest an Erfahrung, an 'nichtkolonialisierter Wirklichkeit', verbleibt. Da Vollversprachlichung in der Sache soviel be494

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deutet wie Vollkonzeptualisierung, kann zur Veranschaulichung des Problems Pascals Parabel von der 'Wissenskugel' herangezogen werden. Diese besagt, daß sich mit dem wachsenden Volumen des Wissens auch die Berührungspunkte zum Unbekannten und Unerschlossenen entsprechend vermehren. 80 Außerdem impliziert das Postulat der Vollversprachlichung das deutsch-idealistische Kognitionsproblem einer 'Selbsteinholung des Subjekts'. Die Metaphysik versucht — ob sie sich nun als hyperbolisches Systemdenken oder als bescheidenes Problemdenken versteht —, diese letzte Erfahrungsstufe der ansatzweisen Vollversprachlichung mit diskursiven Mitteln als Thema zu behandeln. Vor der geschichtlichen Zäsur des linguistic turn spricht sie freilich nicht von 'Sprache' und 'Metasprache', sondern von 'Erkenntnis', 'Wissen' und 'Vernunft'. Ihr Medium ist der Begriff und ist die begriffliche Theorie. Beim Begriffsdenken handelt es sich — wie wir heute, durch die neuere Mediendiskussion belehrt, sehen — um ein komplexes Medium, das nicht nur auf die (gesprochene) Sprache, sondern in besonderer Weise auch auf das Teilmedium der Schrift angewiesen ist.81 Nicht ausschließlich, aber doch weitgehend erfolgen die Konzeptualisierungen der Metaphysik — ihre Symbolisierungen — im Schreiben und in der Auseinandersetzung mit Geschriebenem. Erst als geschriebenes wird das gesprochene Wort 'be-greif-bar' — im Sinn einer besonders verläßlichen, besonders dauerhaften, besonders leicht abrufbaren Fixierung — und so zum 'Begriff. Was wir hören, ist um ein vielfaches flüchtiger, vergänglicher und unfaßbarer als dasjenige, was wir sehen und was wir uns, wie ein Schriftstück, immer wieder und beliebig oft in gleicher Weise vor Augen führen können. Sicherlich vermag auch die orale Tradition in begrenzter Weise Begriffe zu bilden und zu bewahren — sie kann ihre Gedanken aber nicht jener komplexen Reflexionsarbeit aussetzen, deren das literale Medium fähig ist: jenem weitausholenden Dekontextualisieren und Rekontextualisieren, Abstrahieren und Modifizieren, das dennoch nicht ins Unbestimmte der freien Assoziation verfließt, da es stets erneut auf die fixierte Symbolgestalt hin verpflichtet werden kann. So gesehen ist die Schrift eine mediale Voraussetzung dafür, daß Metaphysik — wenn man darunter nicht das Tradieren eines gegebenen, fertigen Weltbildes versteht, sondern das lebendig-kritische, um Selbstreflexion bemühte Philosophieren82 — als Tätigkeit möglich wird. 83 Metaphysik erweist sich so als ein Symbolismus, dessen Form-Schließungen Begriffe und Theorien sind, die sich im Medium eines schriftlich abgesicherten SprachDenkens herausbilden und die, als transitive Größen und 'Brückenköpfe der Erfahrung', innerhalb der weiter fortschreitenden Erfahrung auch wieder zur Disposition stehen. Damit ist die symbolisch-mediale Verfassung der Metaphysik bezeichnet — nicht die Palette all ihrer mehr oder minder glaubwürdigen, mehr oder minder problematischen Varianten, in denen sie ihren kognitiven Anspruch erhebt, ihn totalisiert oder ihn auch so oder anders begrenzt. Jedenfalls stellt sie einen Symbolismus dar, der — in teilweisem Gelingen und teilweisem Mißlingen — die Funktion der 'reinen Bedeutung', d.h. der maximalen (aber nicht vollständigen)84 Selbstreflexivität und Selbstdurchsichtigkeit eines bestimmten Mediums — nämlich des diskursiven, begrifflichen Denkens — ausbildet. Darum geht es freilich auch der Mystik — wenngleich mit erheblichen Abwei495

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chungen, die zuvor durch die Punkte (a), (b) und (c) benannt wurden. Ich gehe auf diese Punkte im folgenden näher ein. *

Zu (a): Die Mystik verfolgt im allgemeinen eine andere existentielle Zielsetzung als die Metaphysik. Es geht ihr nicht primär um Erkenntnis, d.h. um Abstraktion, sondern um 'Erfüllung' — also darum, eine Erfahrung zu machen und zu vergegenwärtigen, die die menschliche Existenz — vermittels welcher Medien und Symbolismen auch immer — in ihrer 'Tiefenstruktur' berührt und aufschließt. Die 'Tiefenstruktur' meint jenes — vor aller Ausdifferenzierung in Kognition, Gefühl, Willen usw. anzusiedelnde — Feld oder vielmehr Geschehen der 'symbolischen Prägnanz' (Cassirer), in dem sich Sinn und Selbst-Sinn des Symbolischen konstituiert. An diesen Punkt der 'ursprünglichen' und 'eigentlichen' Wirklichkeit zu gelangen, ist auch das Ziel der Metaphysik. Diese setzt jedoch in einseitiger Betonung — und nicht selten ausschließlich — auf kognitive Mittel, also auf einen Symbolismus und ein Medium, das alle anderen Symbolismen und Medien entweder ausblendet und als nicht relevant betrachtet oder sie einseitig und verkürzt als Verkleidungen einer kognitiven Struktur interpretiert. Religion, Kunst, Alltag usw. werden in dieser Optik zu Vor- oder Nebenformen der sogenannten wissenschaftlichen Weltbetrachtung. Dieser mehr oder minder stark ausgeprägte Kognitivismus der Metaphysik färbt auch ihr existentielles Ziel: die 'letzte Erfahrung', die 'Identität' und 'eigentliche Natur' des Menschen werden kognitiv verstanden bzw. mißverstanden. Die 'Erfüllung' des menschlichen Daseins wird als eine Erfüllung im Wissen betrachtet. Paradigmatisch fur eine solche Position ist Hegels Panlogismus, in dem alles Nichtkognitive dem — begrifflich entgrenzten — Kognitiven subsumiert wird. Wo aber in der Metaphysik anstelle einer solchen Subsumption und Vereinnahmung der Gestus der kognitiven Selbstbeschränkung und der dazu komplementären Ausgrenzung des Nichtkognitiven tritt, verzichtet sie vorschnell darauf, dieses Nichtkognitive eigens zu bedenken. Sie blendet die Möglichkeit aus, daß es neben dem Herrschafts- und Verfügungswissen auch eine bescheiden-kooperative Weise der Kognition geben kann, die den eigenen Symbolismus und das eigene Medium nicht den anderen Symbolismen und Medien einfach überstülpt, sondern mit ihnen einen interpretatorisch gewaltfreien Umgang versucht. Zu (b): In der Mystik verkörpert sich eine der Metaphysik gegenüber alternative methodische Haltung. Da es primär nicht um Wissen und Erkenntnis geht, stehen auch nicht deren Kriterien und Normen — vor allem das Postulat des 'clare et distincte', der Eindeutigkeit und Intersubjektivität — im Vordergrund. Diese Kriterien führen bekanntlich zu einem extrem stilisierten Wahrnehmen und Denken, die der Erfahrung ein mehr oder minder starres Begriffs- und Theorienetz überwerfen und den Erfahrungsprozeß so zwar erfolgreich zu einem vorläufigen Abschluß und in eine 'Gestalt' bringen, ihn jedoch in seinen Möglichkeiten stark verkürzen und seine dynamische Wirklichkeit in ein statisches Modell transformieren. Diese Transformation ist nur möglich durch eine besondere Akzentuierung der Absicht und des Willens, zu einer solchen

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Stilisierung zu gelangen. Mit ihr ist eine Werthaltung verknüpft: wahrnehmungs- und denk-würdig ist nur, was als kognitive Größe begegnet bzw. was in eine kognitive Größe übergeführt werden kann. Erfahrung als solche kann — selbst wenn sie (in ihrer Stilisierung als 'Empirie' 85 ) zum zentralen Begriff einer philosophischen Theorie erhoben wird — dann nicht mehr auf den 'ganzen' Menschen wirken, und der Mensch kann auch nicht mehr von seiner 'ganzen' Erfahrung sprechen. Erfahrung ist dann nur mehr ein begrenzt-linearer und nur-spontaner Zugriff im beengten Rahmen vorgegebener Methoden, nicht jedoch ein vielfältiges und gelassenes Rezipieren des tatsächlich Begegnenden. Metaphysik — genauso wie die ihr methodisch verpflichtete und historisch nachfolgende moderne Wissenschaftlichkeit — verdankt sich und ihre Ergebnisse einer voluntativen Anstrengung. Daher bleibt auch ihr Versuch, zur 'Tiefenstruktur' der menschlichen Daseinsverfassung zu gelangen, voluntaristisch. Nur wo sie — wie beispielsweise bei Wittgenstein, Heidegger und Levinas — im sich selbst in Frage stellenden Fortgang des Denkens 'abbricht' und 'schweigen' lernt und wo sie dieses Abbrechen und Schweigen dennoch als Fortsetzung ihres — bislang diskursiv betriebenen — thematischen Anliegens begreift, überwindet sie ihre symbolisch-mediale Beschränkung und Beschränktheit. Sie nimmt dann ihren Voluntarismus und ihren Kognitivismus zurück und nähert sich — im Vollzug ihrer eigenen, der philosophischen Erfahrung oder, wenn man will, auf der Ebene der nunmehr postphilosophischen Erfahrung — der Mystik. In den Augen jener Philosophen, die nicht imstande sind, den Zirkel ihres voluntativ-kognitiven Denkens zu durchbrechen, handelt es sich dabei freilich um einen 'Verrat an der Vernunft' und um ein unverständliches Abgleiten in den 'Irrationalismus' ,86 Mystische Erfahrung will nicht eigens und ausdrücklich zur 'Tiefenstruktur' bzw. in das Geschehen der 'symbolischen Prägnanz' vorstoßen, sie sieht sich jedoch mit dieser Größe unmittelbar konfrontiert, und sie reagiert auf ihre Weise auf diese Konfrontation. Deren Unmittelbarkeit ergibt sich nicht durch einen bewußten und geplanten Rückgang auf einen vorsymbolischen Erfahrungsstatus und ebenso wenig durch einen bewußten und geplanten Vorgriff auf ein vermeintliches Ende aller Erfahrung. Die Unmittelbarkeit ist keine ontologische oder erkenntnistheoretische Gegebenheit, sondern eine Empfindung und eine Interpretationsweise im Zuge des Erfahrungsprozesses. Sie ist innerhalb der Entwicklung und Dynamik dieses Prozesses ein Bewußtseinspunkt, an dem der Mensch sich selbst radikal und plötzlich als animal symbolicum bewußt wird: daß seine Wirklichkeit darin besteht, zu symbolisieren, und daß es keine Alternative, kein Außerhalb zu dieser fir ihn konstitutiven Symbolisierungstätigkeit gibt: daß Symbolisieren also gleichermaßen Grund wie Abgrund all seiner Orientierung darstellt. Ein solches Bewußtwerden braucht nicht begrifflich-theoretisch zu geschehen. Es 'zeigt sich' gegebenenfalls auch als Kunsterlebnis, als religiöses Erlebnis, als Naturerlebnis oder als zwischenmenschliche Begegnung. Macht das animal symbolicum mit seiner Selbsterkenntnis Ernst, dann umfaßt der Symbolcharakter das Ganze der menschlichen Wirklichkeit. Eine andere als diese menschliche, d.h. symbolische Wirklichkeit, eine dem Menschen gegenüber nicht-relationale, ist zwar thematisch denkbar, doch kann sie ihm existentiell nichts bedeuten.

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

Auch als eine ihm unzugängliche, von ihm radikal verschiedene Wirklichkeit bleibt sie — als eben dieser Begriff — auf ihn bezogen. Es gibt daher für das Denken und Weltverhalten keine Ebene, auf die sich rekurrieren ließe, um das Symbolische als solches und im ganzen zu objektivieren bzw. zu symbolisieren. Auf diesen Akt einer Objektivation bzw. Symbolisierung muß daher entweder von vornherein verzichtet werden — dies bezeichnet die nüchterne, methodisch-restriktive Haltung der Transzendentalphilosophie —, oder er geschieht als eine Art 'Implosion' des Symbolischen. Der Versuch, das Symbolische in seiner gleichermaßen absoluten Totalität und Relativität zu begreifen, ist selbst ein Symbolisierungsakt, ist selbst ein form-schließender Symbolismus, der sich in diesem speziellen — dem mystischen — Form-Schließen nicht mehr auf einen anderen Symbolismus als Ausgangs- oder Zielpunkt stützen kann. Daher ist die mystische Symbolisierung eine 'Symbolisierung im Bodenlosen', eine maximal intensivierte Symbolisierung, die nicht 'dauern' kann und die — veranschaulichbar im Bild einer Implosion — wieder in sich zusammenbricht. Was auf dem Höhepunkt der mystischen Erfahrung 'implodiert', ist die zur Totalität — zur Welt-als-begrenztes-Ganzes (Wittgenstein) — stilisierte Gesamtheit symbolisierbarer Erlebnis Wirklichkeit: das hen kai pan oder, mit anderen Worten, die unio mystica. Diese ist ein zugleich kognitives und emotionales Konstrukt, das wir nicht aus der bisherigen Erfahrung kennen, das aber im Zuge der autopoietischen Bewegung eben dieser Erfahrung entsteht: als Gefühl und als Gedanke. Damit aber wird die mystische Erfahrung zu einem Teilmoment unserer Gesamterfahrung. Nicht ihre Deutung, ihre Auslegung und Stilisierung ist wirklich und erfahrbar, wohl aber sie selbst. Sie ist ein BewußtseinspMn&f, der, weil er die Relativität aller symbolischen Fixierungen deutlich macht, auch sich selbst einer solchen Fixierung verweigert. Daher ist die unio im Sinne des normalen, partiellen Symbolisierens nicht beschreibbar, nicht ausdrückbar. Die Repräsentation, die sie sich gibt — z.B. eben das Wort 'unio mystica' — ist nicht identisch mit dem Repräsentierten, sondern steht — als Symbol — zu ihm in schärfster Differenz. Das mystische Symbol hat nur noch Verweischarakter und stellt eben dadurch einen Höchstpunkt im Reflexionsprozeß des Symbolischen dar. Zugleich aber wird der Reflexionsprozeß an diesem Höchstpunkt abgebrochen und stürzen alle bislang aufgebauten und aufrecht erhaltenen Symbolordnungen in sich zusammen. Alle bisherige Gegenstands- und Kategoriengeltung — auch die Unterscheidung von Ich und Welt, von Sein und Nichts — tritt außer Kraft. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit höchster Irritation und die Versuchung, den Zusammenbruch als 'positive' Neuordnung der Welt zu interpretieren. Hier zeigt sich das naive und spekulative Potential der Mystik, das sich unter Umständen mit haarsträubendem Obskurantismus verbinden kann. So ist Mystik in mehrfachem Sinn eine Erfahrung und ein Diskurs der Grenze: eine Gratwanderung zwischen extremer Skepsis und extremer Illusion — aber eine Wanderung, die nur Augenblicke dauert und die nicht in ein von vornherein bestimmbares Ziel mündet. Daß Totalität, hen kai pan, unio — oder wie immer die Formeln für die mystische Erfahrung lauten mögen — nicht selbst symbolisierbar seien, wird in den Mystikertexten stets betont. Die Transzendentalphilosophie zeigt — vielleicht am deutlichsten bei Schopenhauer — den Weg, der zum mystischen Punkt hinführt, tabuisiert jedoch den

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Punkt als solchen. In der religiösen Mystik des christlichen Mittelalters wird gleichfalls der W e g hin zur unio beschrieben, diese selbst jedoch 'unbeschreiblich' genannt. Beschreibung, Ausdruck, Symbol können sich nur auf das um die unio herum verteilte, sie implizierende Ensemble

vorbereitender und folgender Erfahrungen beziehen —

oder

auf den Erlebniskontext (den philosophischen, künstlerischen, religiösen, Natur- oder Kommunikationskontext), in dem der 'raptus', die Plötzlichkeit und Unverfügbarkeit des mystischen Augenblicks, geschieht. Dieses Ensemble bzw. dieser Erlebniskontext kann nun freilich selbst zum Symbol der mystischen Erfahrung werden, das aber — wie jedes Symbol höherer, selbstreflexiver Ordnung — das Symbolisierte nicht schlechthin und vollständig, nicht jederzeit und unmißverständlich verfügbar hält, sondern sich der konstitutiven Spannung zwischen Erfahrungsfluß und Form-Schließung ausgesetzt sieht. Daher können all diese mystischen Symbole mißverständlich nach außen und sogar selbstmißverständlich sein (und das sind sie sogar recht häufig). Sie sind 'Brückenköpfe' und Vermittler zwischen der 'normalen' und der mystischen Erfahrung in einem nicht eindeutigen Sinn: sie können zur unio hinführen, sie können aber auch den W e g dorthin versperren. In diesem Zusammenhang ist analog auch an die Zen-Praxis zu denken, in der alle Worte und Handlungen, jedes Tun und Nichttun Ausdruck

extremer

symbolskeptischer Reflexion ist, ohne daß diese Reflexion auf einen abschließbaren Punkt gebracht würde; keine Geste ist hier eindeutig und mit einer 'letzten' Bedeutung kongruent. Der mystische W e g und die methodischen Vorbereitungen, die zur unio hinführen sollen, bezeichnen keine Methodologie im wissenschaftlichen Sinn.

Der

Mystiker

rekurriert nicht auf eine im Hinblick auf Bedingungen und Regeln streng formulierbare Kausalität,

der gemäß der mystische Zustand 'herzustellen' wäre. D o c h vermag sich

der Mystiker an den Punkt einer oder mehrerer seiner früheren unio-Erfahrungen zu erinnern. Er weiß, daß sie in einer kontemplativen Lebensform eher zustande kommen als in einer durchgängigen vita activa. Er weiß, daß die gewohnte und 'normale' Weltorientierung — mit ihrer Ausrichtung auf Gründe und Z w e c k e , auf den Willen, die Vielheit, die Gegenständlichkeit und Kategorialität — den Blick auf die andere Wirklichkeit, die gleichzeitig

da ist und gefühlt und gedacht werden kann, verdeckt. Und er weiß zudem,

daß die unio — wenngleich nur augenblickshaft, aber doch auch als Grundgestimmtheit weiterwirkend — Authentizität verbürgt. Daher treten — als reflexive und als soziale Komponente —

neben die mystische

meist auch mystologische

Erfahrung, sofern sie eine Darstellung erfährt,

und mystagogische

Bemühungen 87 , d.h. die Erfahrung wird

gedeutet und erklärt, und sie wird überdies anderen Menschen zu vermitteln versucht. Die Deutungen und Erklärungen — ob religiöser, philosophischer oder ästhetischer Art — geschehen, genauso wie die 'praktischen Anleitungen' (die 'Methoden' und 'Techniken') innerhalb bestimmter geschichtlich-kultureller Kontexte. Werden sie als Anleitungen eines Herrschafts- und Verfügungswissens fehlinterpretiert, handelt es sich jedoch um Magie und Scharlatanerie. Zu (c): Was drittens zwischen Mystik und Metaphysik verschieden ist, sind Anteil und Rolle der Emotion sowie die Art der Bindung ans Medium. mal an das gemeinsame Ausgangsproblem:

Ich erinnere noch ein-

die Absicht einer Selbst-Symbolisierung des

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

Symbolischen. Deren Möglichkeit wird von der Metaphysik, sofern sie sich selbst nicht (mehr) als absolutes Wissen mißversteht, entweder — methodologisch argumentierend — prinzipiell verneint oder dadurch in Angriff genommen, daß sie ihren eigenen Symbolismus und ihr eigenes Medium — den begrifflich-theoretischen Diskurs — verläßt und ihr Anliegen in anderen Diskursen, z.B. in Kunst oder Religion, verwirklicht sieht. Mystik hingegen ist von vornherein nicht auf den begrifflich-theoretischen Diskurs festgelegt, auch wenn sie ihn als einen der ihr möglichen Symbolismen gelegentlich benützen mag. Sie braucht sich weder angestrengt auf einen bestimmten Symbolismus zu beschränken, noch stellt für sie die Konversion von einem zu einem anderen Symbolismus eine sinnvolle Option dar. Mystik ist eben nicht, wie die Philosophie, von vornherein einem bestimmten Symbolismus verhaftet. Sie ist eine vagabundierende Form in und zwischen allen möglichen Symbolismen und Medien. Ihre Allgemeinheit besteht darin, daß sie in jedem Symbolismus als dessen je eigene Grenzerfahrung möglich ist. Daher ist sie auch, aber nicht nur philosophisch formulierbar. Was den philosophischen Diskurs unter allen übrigen Diskursen freilich auszeichnet, ist ein — zumindest intendiertes — Höchstmaß an Reflexivität, an formulierbarer — und damit: symbolisch fixierbarer — Skepsis, das der Begriff gegenüber den der Kunst und der Mythologie möglichen (bildlichen, rhythmischen, erzählerischen usw.) Ausdrucksformen aufweist. Die Philosophie vermag alle anderen Symbolismen in ihrem eigenen, dem philosophischen Symbolismus, zu reformulieren. Daher gibt es eine 'Religionsphilosophie ', ' Kunstphilosophie', ' Technikphilosophie', ' Alltagsphilosophie' usw., die sich freilich gegenüber Religion, Kunst, Technik, Alltag usw. schnell auch als Fremdkörper etablieren können. Das in der Philosophie bemühte Höchstmaß an reflexiver Beweglichkeit ist aber auch verantwortlich für die folgenreiche Ausdifferenzierung von Kognition und Gefühl, die im begrifflich-theoretischen Diskurs stattfindet und die eine Weise des Denkens ermöglicht, die eine der Existenz und ihren Lebensbedeutsamkeiten gegenüber distanzierte und unverpflichtete Orientierungsweise darstellt. Die Ausdifferenzierung von Kognition und Gefühl aus einem ursprünglich einheitlichen Erfahrungskern muß nicht, kann aber zur Verselbständigung und Vergleichgültigung des begrifflich-theoretischen Diskurses führen. Natürlich ist in diesem eine Synthese von Kogni- tion und Gefühl immer wieder aufs neue möglich. Doch scheint die Synthese — oder vielmehr: die ursprüngliche Einheit (deren Ursprünglichkeit sich aus der Nähe zum Grundgeschehen der 'symbolischen Prägnanz' ergibt) — in jenen Symbolismen stärker und beeindruckender zu sein, wo eine Ausdifferenzierung des 'Gefühls als solchen' (und damit auch der 'Kognition als solcher') noch gar nicht stattgefunden hat. Dies gilt sowohl für Ästhetik wie für Religion, die — in philosophischer Rekonstruktion — zuweilen sogar (vor der Antifolie kognitiver Orientierungen) als 'Gefühl' definiert werden. 88 Die Emotionalität der Mystik — insbesondere die Rolle der Liebe und Ekstase — wurde als eines ihrer besonderen Charakteristika herausgestellt. Was ich als 'Implosion des Symbolischen' bezeichne, ist auch — analog im Begriff und identisch in der Sache — als 'Implosion des Gefühls' beschreibbar. Die Liebe, die sich auf alles (einschließlich auf sich selbst) bezieht, bedeutet eine maximale Intensivierung ihrer selbst — eine 500

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sich extrem aufladende Gefühlsbewegung, die auf ihrer Spitze zugleich abbricht und in eine maximale Distanz und Gelassenheit gegenüber allen einzelnen Dingen, Personen und Ereignissen umschlägt. Die All-Liebe gibt es — abgesehen von ihrem 'Schatten' als nachwirkender Gestimmtheit — nur im besonderen, nicht fixierbaren Augenblick. In diesem Augenblick tritt das Ich zu sich selbst und zur gesamten Wirklichkeit sowohl in engste Beziehung wie auch in größte Distanz. Die Relationalität als solche und im ganzen — der Abgrundcharakter des Symbolischen — wird deutlich. Mit der Einsicht in die absolute Relationalität und Symbolizität verknüpft sich, indem Ich und Allheit koinzidieren, die Frage nach Sinn und Lebensbedeutsamkeit. Die Abgründigkeit des Symbolischen wird zum existentiellen Erlebnis. Also geht es in der Mystik um die Existenz, die sich als unabschließbares Symbolisieren begreift und deren bisherige Ordnung in diesem Begreifen — im Augenblick dieses Begreifens — 'implodiert'. Die Implosion intensiviert und destruiert gleichzeitig jede Symbolik. Sie verbindet das höchste emotionale Engagement — die Ekstase — mit vollkommener Gelassenheit und Gleichgültigkeit. Auch wenn nach dem mystischen Erlebnis der 'normale', partikulare Symbolisierungsprozeß weiterläuft, ist er nunmehr dennoch verwandelt. Er ist in ein neues Licht getaucht. Sein affektiver Grundton hat sich geändert. Er ist durch einen Punkt hindurchgegangen, an dem das Symbolgeschehen gleichzeitig in seiner Relativität und in seiner Unabwendbarkeit deutlich wurde. 89 *

Die mystische Erfahrung besteht also im Versuch einer ganz besonderen und einzigartigen, von allen anderen Symbolisierungen abweichenden Symbolisierung: Die Symbolisierung — der Grundcharakter der menschlichen Daseinsverfassung — soll als solche und im ganzen in ihrem Symbolcharakter erkannt und zurückgenommen werden. Der Versuch dieser Zurücknahme bezieht sich auf alle Symbolismen und damit auf Symbolizität schlechthin. Jedes Ummünzen dieser Zurücknahme in einen neuen Symbolismus bedeutet, daß eine neue Metaphysik — ein neues 'positives' Weltbild — gestiftet wird. Darum aber geht es in der Mystik nicht — auch wenn viele Formen sogenannter 'Mystik' diesen Weg einschlagen. Es geht vielmehr darum, die Symbolisierungsgrenze, die sich mit und in diesem Rücknahme-Versuch zeigt, als Grenze zu erfahren, d.h. im Zuge der Symbolisierungsbewegung einen Punkt zu erreichen, der als solcher nicht festgehalten, aber dennoch — durch Vergegenwärtigung des Kontexts, in dem er entsteht und vergeht - ins Gedächtnis eingeschrieben werden kann. Die Bewegungslinie, auf der dieser Punkt begegnet, führt über ihn hinaus: zurück zu den 'normalen', d.h. auf Vielheit, Gegenständlichkeit und Kategorialität bezogenen Symbolisierungen. Mystik ist keine Lebensform, sondern ein außerordentliches Erlebnis — bzw. eine Anzahl wiederholbarer derartiger Erlebnisse —, das sich auf einer bestimmten, fortgeschrittenen Erfahrungs- und Reflexionsstufe ereignet und ein Wissen und ein Gefühl hinterläßt, die als eine Art Grundstimmung alles weitere Erleben 'affektiv tönen' und mitbestimmen. Diese Grundstimmung erleichtert eine Wiederholung, ist aber niemals imstande, sie herzustellen. Die unio 'überfällt' den Erlebenden — mit oder ohne 'Vorbereitung'. Sie

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

ist der höchstmögliche Punkt menschlicher Selbstreflexion — nicht einer gefahrlosen, methodisch abgesicherten Reflexion, sondern das kontingente, dem Willen und der Planung entzogene Brechen und Durchbrechen der Symbolisierungstätigkeit90, die sich im Zuge der autopoietischen Bewegung des Symbolisierens ergibt. Es wird also nicht geplant, nicht hergestellt, sondern es ist ein unverfügbares Ereignis. Indem dieses Durchbrechen selbst als Symbolisierung bzw. als Symbolisierungsversuch geschieht, bleibt es im Zirkel der anthropologisch konstitutiven Symbolisierungstätigkeit, bringt diese aber dennoch an ihre eigene, äußerste Grenze. Durch Selbst-Intensivierung und Selbst-Destruktion eines Symbolismus, der sich in seiner Allgemeinheit als Stellvertreter aller Symbolismen begreift, erfolgt die 'Implosion' des betreffenden Symbolismus und des Symbolischen schlechthin. Die Implosion ist ein Befreiungs-, Authentizitäts- und Metanoia-Erlebnis, das auf einen Augenblick beschränkt bleibt, der sich nicht fassen und halten läßt und der daher den Anschein erweckt, er sei überhaupt keiner symbolischen Fixierung fähig. Aus diesem Anschein resultiert die — falsche — These der Nichtmitteilbarkeit und die — ebenso falsche — Vorstellung einer symbolisch nicht besetzten Nullfunktion oder Leerstelle, in die das Symbolische zurückgenommen werden könnte. *

Die Implosion des Symbolischen, die in der Mystik geschieht, bedeutet nicht nur das Ende jeder kontrollierten Methodologie, sondern auch die Unmöglichkeit, Begriffe, Gegenstände und Kategorien zu sondern, auseinanderzuhalten und auf eine bestimmte gemeinsame Ordnung hin festzulegen. Die Implosion setzt für den Augenblick, in dem sie geschieht, die sondernde und zuordnende Tätigkeit des Intellekts genauso außer Kraft wie die Funktion eines planenden, zielbewußten Willens. Die Implosion ist eine restlose, schlechthin undistanzierte Auslieferung des Symbolisierenden an das ihn in allen Fasern seiner Existenz ergreifende und berührende Symbolgeschehen. Daher verschwinden Ich und Kategorien, daher verschmelzen Subjekt und Objekt und gibt es nur das Gefühl und Bewußtsein der All-Einheit. Dennoch ist das mystische Erlebnis nicht identisch mit dem 'ozeanischen Gefühl' (Freud) 91 , in dem sich der Mensch vorwiegend im Gestus des Schreckens und Staunens einer völligen Entgrenzung all seiner Orientierungsfähigkeit ausgeliefert sieht. Die differentia specifica zwischen dem 'ozeanischen' und dem mystischen Erlebnis besteht darin, daß sich in ersterem das Ich der abgründigen Wirklichkeit als eine verbliebene und dadurch umso mehr bedrohte Identität gegenübersieht, während in der Mystik dieses Gegenüber aufgehoben ist durch die in die AllEinheit mündende Ich-Entgrenzung. Während sich das Ich im 'ozeanischen' Erlebnis in sich selbst verschließt, öffnet und verliert es sich im mystischen Erlebnis. Die Aufhebung der Differenz zwischen Ich und Gesamtwirklichkeit ist auch die Aufhebung aller Dissonanz, so daß es sich um ein Grundgefühl der Identität, Authentizität und Harmonie handelt. Das 'Ozeanische' bedeutet den Schrecken, die Mystik bedeutet das Glück der Erfahrung, daß es keine Verbindlichkeit und keine Orientierung mehr gibt. Der Schrecken verdankt sich jedoch der — verbliebenen oder neu aufgerichteten — Distanz

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des Ich gegenüber dem 'Chaos', während die distanzlose Mystik die Alternative Chaos oder Kosmos — damit aber auch: Sein oder Nichtsein des Subjekts und des Individuums — hinter sich läßt. Dabei findet freilich, wie Cassirer mehrfach richtig bemerkt, keine restlose Tilgung der Ichstruktur statt, sondern nur deren extreme Marginalisierung. Die 'Rest-Struktur' des Ich stellt die Disposition dar, um in das 'normale' Symbolisieren wieder zurückzufinden. Mystik ist ein hochreflexives Phänomen, kein Rückfall in eine ursprüngliche und primitive Indifferenz. Wenn sie die dem 'gewohnten' Denken selbstverständlichen Kontrollen und seine methodischen Beschränkungen außer acht läßt, so deshalb, weil sie über dieses Denken hinausgegangen ist, weil sie die — begrenzten und auf Einzelnes gerichteten — Symbolisierungen in ihrer Relativität durchschaut hat. Mystik ist keine 'höhere Erkenntnis', die 'immer schon' neben der 'normalen' oder vor dieser existiert hätte. Sie ergibt sich vielmehr aus der Einsicht in die Grenzen des Symbolisierens und ist Resultat eines langen Erfahrungs- und Reflexionsprozesses, in dem Symbolisierungen, aufeinander Bezug nehmend und aufeinander aufbauend, fortlaufend einander ablösen und schließlich zu dem besagten Punkt einer Implosion aller Symbolisierung gelangen. Auch diese Implosion ist ein die bisherige Erfahrung organisierender Akt, eine für den Symbolisierenden identitätsstiftende Form-Schließung, in der er diese — von ihm in eine Form gebrachte — Wirklichkeit als seine Erfahrung und seine Wirklichkeit anerkennt. Dabei ist es vielleicht noch mißverständlich zu sagen, der Symbolisierende hätte die Implosion 'in eine Form gebracht'. Besser ist zu sagen, daß sich der Symbolisierende und Implodierende selbst als Form-Schließung erfährt und ereignet. Denn er selbst wird zum Geschehen und steht nicht einem Zustand, Ereignis oder Geschehen als ein Anderer — als säuberlich abgegrenztes Ich — gegenüber. Die Implosion ist so lebensbedeutsam, daß sie — um diese Lebensbedeutsamkeit nicht wieder entgleiten zu lassen, sondern um sie festzuhalten und zu konservieren — sofort mit den aus den früheren Symbolisierungsstufen verfügbaren Requisiten einer möglichen 'substantiellen', inhaltlichen Interpretation in Zusammenhang gebracht wird: z.B. (im religiösen Bewußtsein) als Begegnung mit Gott als der 'höchsten', 'tiefsten' und 'letzten' Wirklichkeit, als Rückkehr in einen nicht-entfremdeten Ursprung oder als progressive Erlösung. Hier — und die religiöse Mystik geht fast immer diesen Weg — wird das mystische Erlebnis rückinterpretiert in bereits vorhandene, gegenständlich und kategorial bestimmte Erklärungsschemata. Dabei geht das kritische und skeptische Potential der mystischen Erfahrung weitgehend verloren zugunsten der Dominanz ihres naiven und spekulativen Potentials. Zweifellos läßt sich hier ein Einfallstor für den Obskurantismus lokalisieren. Mystik ist eine Gratwanderung zwischen bedingungsloser Skepsis und (altem oder neuem) Glauben. Ist der Glaube 'alt' — d.h. ist er eine kulturbestimmende Größe, stellt er Selbstverständlichkeitsmaßstäbe für eine etablierte Tradition und eine etablierte Sozietät dar —, so kann man von einer Einbettung des mystischen Erlebnisses in eine kulturell anerkannte Interpretation sprechen. Allein dieser Charakter einer etablierten und weithin anerkannten Tradition ist es allerdings auch, der Glauben vom Aberglauben unterscheidet.92 Die Gefühlsintensität der unio vermag sich prinzipiell genauso mit neuen, 503

Grundzüge einer Theorie der Mystik

noch nicht allgemein und nur vereinzelt, entlegen und subkulturell anerkannten Spekulationen zu verbinden. In diesem Fall pflegt man umso schneller und umstandsloser von Obskurantismus zu sprechen. Was dieser mit der orthodoxen 'Glaubensmystik' gemeinsam hat, ist jedoch die — weitgehende oder totale — Exstirpation des skeptischen zugunsten des spekulativen Moments.

3.3.2

Die Isomorphic von Symbol- und Mystikformen

Mystik, so wurde dargelegt, ist weder an einen bestimmten Symbolismus noch an ein bestimmtes Medium gebunden. Sie ist aber offensichtlich in all jenen Symbolismen und Medien — auf je eigene Weise — möglich, in denen der Symbolisierungsprozeß höhere Stufen der Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion auszubilden vermag. Eine solche These geht weit über das Mystikverständnis Cassirers hinaus, ist aber auch nicht identisch mit dem Mystikverständnis Whiteheads. Für diesen ist Mystik kein Endpunkt des Symbolisierungsprozesses, sondern dessen Ausgang, ein Zustand des menschlichen Geistes, der — und dies bestimmt Whitehead als die Aufgabe der Philosophie — zur Rationalisierung, also zur Form-Schließung und Symbolisierung drängt. Eine Analogie zu solcher Rationalisierung sieht Whitehead in den Formbemühungen der Poesie. So marginal Whiteheads Bemerkungen zum Thema auch sind, so drücken sie doch die — bei Cassirer nicht deutlich hervorgehobene — Überzeugung aus, daß es Mystik oder Quasi-Mystik nicht nur in der Religion gibt, sondern auch in anderen Symbolismen. Cassirers Verdienst jedoch besteht in einer etwas genaueren Analyse der religiösen Mystik — die er als Steigerung und Selbstdestruktion der 'religiösen Grundform' interpretiert — sowie darin, daß er Mystik als progressive, sich aus dem Symbolisierungsprozeß erst ergebende Symbolisierung darlegt, während Whitehead sie als eine vor die eigentliche Rationalisierungs- und Symbolisierungsarbeit zu placierende Bewußtseinsform behandelt. Für Cassirer — hier bleibt er konsequenter Kantianer — ist Mystik zuletzt freilich nichts anderes als ein vermeidbares SelbstmißVerständnis des symbolisierenden Geistes. Diese Ansicht ist konsequent, da sie sich auf eine Definition von Mystik bezieht, die besagt, es gehe ihr um die schlechthinnige und unwiderrufliche Rücknahme aller Bilder und Symbole und um die Etablierung einer symbolfreien 'Nullfunktion'. Cassirer weist zu Recht darauf hin, daß der Entgrenzungsprozeß des Ich niemals restlos durchgezogen werden kann, sondern daß zumindest ein 'Funken' des Ich als des Trägers dieses Entgrenzungsprozesses zurückbleiben müsse. 93 Er mißinterpretiert hier freilich den eckhartschen Begriff des 'Fünkleins', indem er dessen Bedeutung umkehrt: aus der (bei Eckhart gemeinten) Disposition zur unio wird das Beharren auf einem (wenngleich verschwindend kleinen) Rest von Ichheit. Eben dadurch, meint Cassirer, sei das Programm der Mystik eine Illusion. Doch er mißversteht dieses Programm offenkundig als das Programm einer Ontologie, also einer Darlegung dessen, was ist, vor der Antifolie dessen, was nicht ist (anders gesagt: als Bild eines 'Seins', das sich vom 'Schein' abhebt).

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Es ist aber wohl zutreffender, das Problem der Mystik als das Problem der Selbsterfahrung des Symbolischen zu bestimmen, die im Verlauf ihrer Autopoiesis auf einen höchstgesteigerten Erfahrungspunkt kommt, der aber keinen Endpunkt und keinen Endzustand darstellt, sondern einen 'maximalen' und sich dennoch selbst wieder transzendierenden Durchgangspunkt im — sich fortsetzenden — Symbolisierungsprozeß. Meine These, alle der Selbstreflexion fähigen Symbolismen könnten — gemäß einer allgemeinen Bewegungsstruktur des Symbolprozesses — eigene Arten von Mystik ausbilden, geht ebenfalls über die cassirersche Interpretation hinaus. Auch in der Kunst, der die eigenen Darstellungsmittel zum Identitätsproblem werden, und in den Wissenschaften, die ihre Grundlagen in Frage stellen und sich dem abgründigen Spiel eines Paradigmenwechsels aussetzen, gibt es der religiösen und philosophischen Mystik gegenüber analoge Strukturprozesse und analoge Synthesen von Kognition und Gefühl. Gerade dies hat Cassirer — der eine Ästhetik der ontologisch unverbindlichen Formen und eine streng dem Objektivitätsideal verpflichtete Wissenschaftskonzeption verfolgt — nicht gesehen. Dennoch sind für die These, es gebe eine Vielfalt analoger symbolischer und Mystikformen, einige wichtige Rückgriffe auf Cassirers Darstellung nötig. Für Cassirer ist Mystik ein Reflexionsphänomen, in dem eine vorreflexive Bewußtseinsform — wie sie sich z.B. in der mana-Vorstellung ausdrückt — in verwandelter Weise wiederkehrt. 'Mana' ist ein Ausdruck, der, je nach Situation, dies oder jenes bezeichnen kann, der aber selbst — als dekontextualisierter Ausdruck — keine durchgängige Bedeutung besitzt und deshalb auch kein Begriff ist. Erst ein der Selbstverständlichkeit von Begriffen — von sich durchhaltenden Bedeutungen — folgendes Denken interpretiert 'mana' als Bezeichnung für eine 'Einheit', die in 'allem' zu finden sei, bzw. als eine 'Allheit', die sich in jedem Einzelnen manifestiere. Die mana-Vorstellung kennt keine Abstraktionen wie (ausnahmslose) Allheit oder (mit sich selbst identische) Einheit. Sie kennt nur die konkrete Tätigkeit der sprachlichen Zuordnung in bestimmten praktischen Kontexten, und die Identität des immer wieder in ganz verschiedenen Bezügen gebrauchten Ausdrucks 'mana' ist eine (unbewußte und unreflektierte) Technik des menschlichen Geistes, in wiederholbarer und — in Ansätzen — identifizierbarer Weise mit der Realität umzugehen, sich in ihr zu orientieren. Diese Technik der Wiederholung schafft das (noch vorreflexive) Bewußtsein von Verweisungszusammenhängen in der Wirklichkeit und — radikalisiert auf einer späteren Kulturstufe — von einem universalen Verweisungszusammenhang. Diese universale und schlechthinnige Einheitsvorstellung wird erst in der ausdrücklichen Reflexion — unter den medialen Bedingungen der Schriftlichkeit — zu einer Konzeption oder begrifflichen Theorie von Einheit. Der im Begriff eines 'vollständigen Ganzen' sich ausdrückende Gedanke 'der' (per definitionem dann auch 'begrenzten') Welt — der Gedanke der Totalität oder Gesamtwirklichkeit — entsteht am Leitfaden der (Schrift-)Sprache als einer medialen Technik. Da sich das menschliche Leben grundsätzlich als Vollzug medialer Techniken bzw. Symbolismen vollzieht, sind sich in der Reflexion entwickelnde Konzeptionen wie die Welt nicht nur Abstraktionen, sondern darüber hinaus auch existentiell relevant oder, anders gesagt, lebensbedeutsam. Sie sind zwar nicht Ausdruck einer vom Menschen unabhängigen Realität an sich, doch beziehen sie sich auf die einzige Realität, die

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dem Menschen zugänglich und fir ihn von Bedeutung ist: nämlich auf die Interaktion zwischen der menschlichen und nichtmenschlichen Wirklichkeit, zwischen Symbol und Symbolisiertem. Die kulturell frühe — die archaische — Weise, in der sich der Mensch in seiner Wirklichkeit Orientierung verschafft, ist die mythische. Er legt sich und seine Umwelt in eine Vielzahl — vorerst anonymer und wenig konturierter, später identifizierbarer und durchgängig geltender — mythischer Kräfte und Personen auseinander. Es sind dies Form-Schließungen und Symbolisierungen, die sich nicht aus einer schlechthinnigen Indifferenz oder einem völlig unübersichtlichen Chaos heraus entwikkeln, sondern immer schon an ältere Prägnanzen — diese 'überholend' und selbst zunehmend zu schärferer Formbestimmung gelangend — anschließen. Die mana-Vorstellung bezeichnet eine sehr frühe Stufe des mythischen Bewußtseins — die Stufe der 'Augenblicksgötter' (Usener) —, die gerade in jener historischen Phase, da sich ein polytheistisches Bewußtsein herauszubilden beginnt, den Keim einer universalen Einheitsvorstellung in sich trägt. Daraus entwickelt sich — auf zahlreichen Umwegen und über vielerlei symbolische Metamorphosen hinweg (zu nennen sind Henotheismus und Monotheismus) — die abstrakte philosophische Idee einer strukturellen Einheit alles Seienden. Ohne Zweifel ist die Philosophie — sowohl in ihrem kognitiven wie in ihrem emotionalen Anspruch — historisch eine Nachfolgerin der Religion. 94 Diese schafft, indem sie einen konsequenten Monotheismus mit einer immer abstrakter werdenden Gottesvorstellung ausbildet, den Begriff universaler Einheit. Dieser Begriff ist in besonderer Weise emotional besetzt — und zwar dadurch, daß besagte Einheit vorerst nicht als abstrakte Seinseinheit, sondern als göttliche Einheit gedacht wird. Die Rede vom Göttlichen und das mit ihm verbundene Gefühl des Heiligen aber verdankt sich einer anfänglichen Stiftung des mythischen Bewußtseins: der Scheidung der Welt in eine heilige und profane Sphäre. 95 Es ist dies eine Komplexitätsreduktion, eine überaus einfache Prägnanz, die die gesamte Wirklichkeit umfaßt und diese in ein überschaubares und handhabbares Relevanzgefälle bringt. Zwar ist das Profane ebenso lebensbedeutsam wie das Heilige, aber dieses ist die entscheidende, die eigentliche Dimension. Die profane Dimension ist von der heiligen abhängig und auf diese ausgerichtet. Und je mehr, je ausschließlicher und konzentrierter sich Wertung, Interesse und Identifikationsgefühl auf das Heilige richten, umso stärker wird das Relevanzgefälle, das in einer Bewegung innerer Dialektik auch umgekehrt wieder zu einer entsprechenden Intensivierung des Fühlens, Denkens und Wollens führt. Cassirer, der dies als 'Dialektik des mythischen Bewußtseins' bezeichnet 96 , interpretiert die in der Entwicklung des religiösen Symbolismus immer stärker auftretende Symbolskepsis, die zuletzt zur Mystik führt, als Ergebnis dieses Relevanzgefälles zwischen Heiligem und Profanem. Der Aufwertung der einen Dimension korreliert die Abwertung der anderen, so daß das Profane — in einem ersten Schritt — der Skepsis anheimfällt und sich die Skepsis — in einem zweiten Schritt — dann auch auf das Heilige ausdehnt. Daraus erfolgt, solange der religiöse Diskurs seinen Rahmen nicht sprengt, vorerst aber keineswegs eine schlechthinnige Destruktion der Dimension des Heiligen, sondern vielmehr eine produktive innere Arbeit an dieser Dimension: eine

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Arbeit immer schärferer, immer konsequenterer Symbolisierung, die Widersprüche und Unklarheiten zunehmend ausschaltet und Argumente und Erfahrungen zunehmend einbindet. Am Ende dieser Entwicklung, so Cassirer, steht eine rigoros-moralische und monotheistische Religion und eine Zuspitzung des Wirklichkeitsverständnisses auf die reine und ausschließliche Beziehung zwischen Ich und Gott. Es ist dies der letzte, 'reinste' und spannungsreichste religiöse Symbolismus, der sich denken läßt. Die aus ihm sich entwickelnde neuerliche Symbolskepsis bleibt zwar im Rahmen der 'religiösen Grundform', d.h. sie negiert nicht die Religion als solche, doch vertauscht sie die Relation von Ich und Gott. Dieser wird zum Symbol für jenes und umgekehrt, beide koinzidieren in der unio mystica und verschwinden in deren behaupteter 'Bildlosigkeit'. Dadurch werde, so Cassirer, die 'Grundspannung' des Religiösen, die Dichotomie von Heiligem und Profanem, aufgehoben und der religiöse Symbolismus dysfunktional. Auf der 'bildlosen' Ebene gebe es keine Differenz zwischen Bedeutung und Bedeutetem und daher auch keine Tätigkeit des Symbolisierens mehr. In der Mystik finde also die Religion als Lebensform, als eine Möglichkeit menschlicher Weltorientierung, ihr Ende. In ihr, meint Cassirer, zeigten sich die Grenzen der Leistungsfähigkeit dieses speziellen, nämlich des religiösen Symbolismus. Kunst und Wissenschaft hingegen könnten die Symbolskepsis und die Entwicklung hin zur Symbolfunktion der 'reinen Bedeutung' in geeigneterer Weise fortsetzen. Obwohl diese Konzeption Cassirers wichtige phänomenologische Einsichten enthält, folgt sie doch dem abstrakten — an Hegel orientierten — Schema der aufeinander aufbauenden, aber auch einander ablösenden symbolischen Formen. Daraus ergeben sich hinsichtlich des Phänomens der mystischen Erfahrung Ausblendungen, die eine adäquate Phänomenologie teilweise behindern. Wenn in einer Religion mystische Formen an Boden gewinnen, so handelt es sich historisch kaum je um das Ende dieser Religion und darum, daß sie darauffolgend — als Lebens- und Kulturform — durch Kunst oder Wissenschaft ersetzt würde. Religiöse Mystik kehrt fast immer mehr oder minder problemlos in die weniger reflexiven Gefilde des religiösen Lebens zurück und bleibt ein — weitgehend affirmativ wirkendes — Element innerhalb der Religion. Der historisch tatsächlich beobachtbare religiöse Symbolisierungsprozeß entwickelt sich nicht linear hin zum Endpunkt der Mystik, sondern reproduziert sich eher als endlose Kette unterschiedlicher Symbolisierungen, die meist unter der Ebene der Mystik verbleiben und sich nur gelegentlich auf diese Ebene — die Ebene einer letzten Radikalisierung religiöser Symbolskepsis — emporschwingen, und wenn sie es tun, dann nur, um anschließend wieder zu weniger radikalen Symbolisierungen zurückzukehren. Man könnte auch sagen, die religiöse Symbolisierung bewege sich im Kreis, indem sie einmal zu konkret-sinnlichen Vorstellungen, dann wieder zu Abstraktionen hinneige und umgekehrt. Nur dort, wo die Tendenz zur — kognitiven oder moralischen — Abstraktion unumkehrbar geworden ist, wird der religiöse Symbolismus tatsächlich von einem anderen Symbolismus, dem künstlerischen oder wissenschaftlichen, abgelöst.97 Zutreffender dürfte es sein, religiöse Mystik als eine höchste und radikalste Form religiös-symbolischer Selbstreflexion zu interpretieren, die sich punktuell aus dem 'normalen' religiösen Symbolisierungsgeschehen erhebt, aber dann wieder auf die 'Normal-

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

ebene' des Symbolisierens 'begrenzter Reichweite' zurückkehrt. Sie muß zurückkehren, da sie auf ihrem eigenen Punkt nicht verharren kann. Denn sie symbolisiert — in der Formel der 'Vereinigung der Seele mit Gott' — die ganze Wirklichkeit: eine FormSchließung, die nur im Akt und als Akt wirksam ist und sich jeder normal-symbolischen Darstellung und Konservierung entzieht. Der mystische Akt reproduziert also in gewisser Weise den vorsymbolischen Prozeß der noch 'flüssigen' Prägnanzbildung — aber er hat den Prozeß der fixierenden Symbolisierung hinter sich und blickt auf ihn zurück. Dieser Rückblick bleibt ein Augenblick, auf den das neuerliche Einschwenken in das 'normale' Symbolisieren folgt. In diesem Augenblick hat sich der Symbolismus freilich selber transzendiert, und diese Selbsttranszendenz wirkt als Stimmung gelassener Symbolskepsis nach. Alles Symbolisieren, das nach der mystischen Erfahrung und in Erinnerung an diese vorgenommen wird, ist in gesteigerter Weise selbstreflexiv und hält eine harmonische Balance zwischen dem Wissen um die Relativität und Nichtigkeit aller Symbole einerseits und dem Wissen um die Unabdingbarkeit und Unverzichtbarkeit des Symbolisieren-Müssens andererseits. D.h. das skeptische Moment der Weltorientierung steht in Balance zum spekulativen Moment: beide sind als komplementär zu erachten und gleichzeitig zu akzeptieren. Die Interpretation, die ich vorschlage, impliziert also eine andere Bewertung der Mystik, als Cassirer sie vorgenommen hat. Sie betrachtet die unio als eine reflexive und kathartische Möglichkeit, als eine kulturelle Erfahrung, die nicht im Widerspruch zur Rationalität unseres Denkens und Handelns steht, sondern sich aus der vollständig durchdachten Rationalität sogar ergibt und diese bereichert und ergänzt. Dies gilt nicht nur für die Rationalität des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens, sondern auch für die analoge 'Rationalität' der Religion, der Kunst, des Alltags und anderer Symbolsysteme. *

Wenn Cassirer von 'symbolischen Formen' spricht, nennt er dafür nirgends einen vollständigen Katalog aller symbolischen Formen. Im Zentrum seines Interesses stehen Sprache, Mythos/Religion, Kunst und Wissenschaft. In dem bekannten Aufsatz von 1930 wird die Technik als weitere symbolische Form dazugenommen 98 , und spätere Aufzeichnungen Cassirers zeigen eine zunehmende Entgrenzung des Begriffs der symbolischen Form an. Bevor hier aber eine Inkonsistenz in seinem Denken zu vermuten ist, sollte man erwägen, ob sich nicht einfach seine Perspektive verschoben hat: Ausgehend vom klassischen Konzept einer inhaltlichen Systematik der 'Erscheinungsformen des Geistes', wie sie vor allem Hegel versucht hat, gewinnt für ihn der Begriff der symbolischen Form offenkundig immer mehr formalen Charakter, d.h. er begreift ihn immer entschiedener als ein Konstrukt und wendet ihn auch einem konstruktiven Verständnis gemäß an. Der Begriff deckt nunmehr nicht einen materialen Bereich der Erfahrung neben anderen, genau abgrenzbaren materialen Bereichen ab, sondern fungiert als selektierend-formierender Zugriff auf die Wirklichkeit. Faßt man ihn nicht als Etikett für einen gegebenen Gegenstandsbereich, sondern als — relativ gültiges und relativ

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brauchbares — formales Instrument einer orientierenden Hermeneutik, so kann gemäß wechselnder Perspektiven stets erneut von einer symbolischen Form gesprochen werden, ohne daß Abgrenzungsprobleme zwischen den einzelnen Symbolformen entstehen und ohne daß der Anspruch auf einen vollständigen Katalog noch sinnvoll wäre. So verschwindet dann auch das 'Rätsel' der 'untergründigen Verwandtschaft' zwischen Mythos und Sprache. Beide, werden sie im formalen und konstruktiven Sinn als symbolische Formen verstanden, sind Organisationsweisen des Symbolisierungsgeschehens und beziehen sich auf eine identische Erfahrungsstruktur. Zweifellos ist bei Cassirer die Frage, ob symbolische Formen primär inhaltlich oder nur formal zu verstehen seien, nicht restlos geklärt. Mein methodischer Rückgriff bezieht sich aber jedenfalls auf die formal-konstruktive Version, der wir ja auch — eindeutiger noch als bei Cassirer — in der Symbolphilosophie Goodmans begegnen. Auch für Goodman gibt es keinen vollständigen Symbolismen-Katalog. Jede neue Betrachtungsweise der Realität konstituiert bei ihm einen neuen Symbolismus." Für ein Verständnis sowohl von Rationalität wie von Mystik hat die formal-konstruktive Orientierung nun folgende Konsequenz: Rationalität ist genauso wenig — wie zuweilen unterstellt — auf die Wissenschaft beschränkt wie Mystik auf die Religion. In beiden Fällen handelt es sich um Begriffe, die analog — also: nicht gleich, wohl aber vergleichbar — auch auf andere Symbolismen anzuwenden sind. Es kann von einer 'Rationalität' und 'Mystik' der Kunst, der Technik und anderer Symbolsysteme gesprochen werden, genauso wie eine 'Rationalität der Religion' und eine 'Mystik der Wissenschaft' möglich ist. Werden die Begriffe Rationalität und Mystik dergestalt analog gebraucht, dann ist allerdings zu fragen, wie weit solche Analogisierungen sinnvollerweise vorangetrieben werden können und ob wirklich jeder Symbolismus 'seine' spezielle Rationalität und Mystik hat. Denkbar wäre schließlich auch, daß es da und dort zwar Rationalität, nicht aber unbedingt Mystik gebe. In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf das Problem einer möglichen Hierarchie der symbolischen Formen zurückzukommen, das bekanntlich bei Cassirer ebenfalls nicht eindeutig entschieden wird. Dem (an Hegel orientierten) Bild der Stufenpyramide, wo die wissenschaftliche Rationalität die Spitze und den Orientierungspunkt aller Symbolismen bildet, steht das (von Schwemmer gebrauchte) Bild der Rosette gegenüber, dem gemäß die Symbolismen als 'Blütenblätter' nebeneinanderstehen und gleichberechtigt und gleichursprünglich aus einem gemeinsamen Mittelpunkt erwachsen. 100 Dieser Mittelpunkt ist die Funktion der symbolischen Prägnanz, die selbst nur als Punkt bezeichenbar und nicht vergegenständlichbar ist, auf die aber alle Symbolismen bezogen bleiben. Zwar wird auch dieses Bild dem Phänomen nicht zur Gänze gerecht, da es die Interaktion zwischen den Symbolismen und die genetischen und funktionalen Abhängigkeiten zwischen ihnen unberücksichtigt läßt, doch konterkariert es das Pyramidenbild in dessen entscheidendem Element: daß nämlich eine Teleologie des gesamten, vielfältigen Symbolisierungsprozesses in der Ausbildung der wissenschaftlichen Rationalität bestehe und daß alle anderen Symbolismen nur vorläufige Stufen auf diesem Weg darstellten.

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

Die Gleichwertigkeit von Symbolismen bedeutet keine Gleichartigkeit ihrer Leistungsfähigkeit, sondern die Irreduzibilität des Ensembles an Funktionen, die unterschiedliche Symbolsysteme wie Wissenschaft, Kunst, Religion u.dgl. ausbilden. So kann z.B. die Klarheit und Deutlichkeit mathematisch-naturwissenschaftlicher Symbolismen von religiösen oder künstlerischen Symbolismen niemals erreicht werden, genauso wie die Verbindung von Kognition und Gefühl, die in der Religion statthat, in der Wissenschaft oder Kunst nicht wiederholbar ist. Und wiederum ist das für die (moderne) Kunst so wesentliche spielerische Moment der Weltorientierung nur sehr begrenzt auf Wissenschaft oder gar auf Religion übertragbar. Es sind also unterschiedliche Funktionen, die im Rahmen bestimmter Symbolismen in unterschiedlicher Gewichtung und Konstellation entwickelt werden und dann für den Symbolismus eine zentrale Rolle spielen. Hierarchien, die die Symbolismen so oder anders ordnen und interpretieren, lassen sich nur gemäß einer leitenden Wertvorstellung konstruieren, z.B. dahingehend, daß entweder begrifflich-theoretisches Denken oder Gefühl oder das Spielprinzip den höchsten Wert darstellen, dem alle anderen Werte unterzuordnen seien. Wie läßt sich aber, wenn ein hierarchisch orientierter Wertmaßstab abzulehnen ist, das Analogieprinzip der Begriffe Rationalität und Mystik genauer darlegen? Welcher Maßstab ist heranzuziehen, um z.B. wissenschaftliche und religiöse Rationalität oder religiöse und künstlerische Mystik sowohl miteinander zu vergleichen als auch voneinander abzugrenzen? Gibt es eine Art formaler Grundstruktur von Rationalität — und/oder auch von Mystik —, die eigens darstellbar wäre und von der aus man die besonderen Konstitutionsprinzipien des jeweiligen Symbolismus bestimmen könnte? Eine solche Problemformulierung erinnert an Husserls Programm der Unterscheidung von (einer grundlegenden) Formalontologie und (mehreren kontingenten) Regionalontologien, das sich vor allem deshalb nur unbefriedigend durchführen läßt, weil es einen nicht einlösbaren kognitiven Essentialismus unterstellt. Worum es geht, kann auch sprachphilosophisch erläutert werden: Die semantischen Leistungen der verschiedenen Sprachen können bekanntlich nicht systematisch und restlos auf die Semantik einer Grund- oder Universalsprache bezogen werden. Jede Universalgrammatik bleibt ein abstraktes Postulat. Das hat schon Humboldt — und darin folgt ihm Cassirer — klar gesehen. Die 'universale Grammatik' gibt es — genauso wie die 'allgemeine symbolische Form' — immer nur als Analogie. Diese kann nicht gedacht werden ohne Bezugnahme auf eine konkrete Grammatik bzw. symbolische Form. Letztere ist in ihrer Individualität beschreibbar und mit anderen konkreten Grammatiken bzw. Symbolismen vergleichbar, nicht aber auf eine vorausliegende formale Grammatik bzw. auf einen formalen Symbolismus reduzierbar oder aus ihm ableitbar. Die Idee eines allgemeinen formalen Symbolismus ist dennoch kein Unsinn, sondern offensichtlich nützlich und vielleicht sogar notwendig als ein regulatives Prinzip, um Symbolismen als solche unterscheiden und vergleichen zu können. Der allgemeine formale Symbolismus ist aber, wie gesagt, unabhängig von konkreten Symbolismen nicht thematisierbar. Er ist ein methodischer Hilfsbegriff und ein Grenzbegriff', den man vermutlich immer dann konzipiert, wenn man an die Grenzen eines konkreten Symbolismus stößt. Man stößt auf solche Grenzen vor allem dadurch, daß ein Symbolismus ge-

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wisse erwartete Leistungen nicht erbringt, die jedoch in anderen Symbolismen, die dann freilich auch ihrerseits wieder neue und andere Nachteile aufweisen, möglich sind. Die Endlichkeit, die jeden Symbolismus charakterisiert, und der Abgrund, der ihn umgibt bzw. der in ihm selbst aufbricht, sowie die Tatsache seiner — stets mit einer Gewinn- und Verlustrechnung an Leistungen verbundenen — Transitivität, die Überführbarkeit in einen anderen und neuen Symbolismus, legt den Gedanken des 'allgemeinen formalen Symbolismus' nahe. Versteht man diesen nicht als eine essentielle Größe, sondern als eine Funktion des Denkens bzw. unserer Gesamtorientierung (er muß als Gedanke nicht ausdrücklich

sein

bzw. er muß nicht als theoretischer Begriff auftreten), verliert er auch den Charakter eines essentiellen 'Geheimnisses' oder 'Rätsels'. Nimmt man von einer kurzsichtigen Ontologisierung sprachlicher Abstraktionen Abstand und akzeptiert deren alleinigen Funktionsch&rakter,

so ist die allgemein-formale Grundstruktur unseres Daseins, das

Symbolisierungsgeschehen, zwar keine unproblematische und unmißverständliche, aber doch eine selbstverständliche

Größe: Sie ist weder ein ewig Verborgenes noch ein erst

zu Entdeckendes noch auch ein immer schon Vorhandenes, sondern eine historisch-kontingente Reflexionsgestalt.

Sie ist nicht von vornherein gegeben, sondern ergibt sich erst

im Prozeß des Denkens. Sie kann in diesem Prozeß mißverstanden und sogar verdrängt und vergessen werden. Sie begleitet unser Symbolisieren nicht mit der Gewißheit einer 'transzendentalen Apperzeption', wohl aber begleitet sie es als eine Möglichkeit des Rekurses. 101 Wir können diesen Grenzbegriff nicht ständig festhalten, weil unser Denken nicht auf der Grenze zwischen dem von ihm Abgedeckten und dem noch nicht Abgedeckten verweilen kann. Die Grenze selbst ist eine Abstraktion.

Doch kommen wir

auf die Reflexionsgestalt des 'Symbolisierens als solchen' je und je in veränderter Weise dann zurück, wenn wir uns der konkreten Reflexion einzelner Symbolsysteme zuwenden. Diese jeweilige konkrete Reflexion ist als Autopoiesis beschreibbar, d.h. als Selbsttätigkeit eines Symbolismus, der sich im Zuge dieser Selbsttätigkeit auch selbst objektiviert und sich dabei des eigenen Symbolcharakters bewußt wird. Freilich geschieht dies in unterschiedlicher Weise. So ist die Selbstreflexivität des archaischen Denkens — des Mythos und der ihm entsprechenden frühen Stufen der Sprachentwicklung — denkbar gering, und die Rationalisierungsstrategien dieser Symbolismen richten sich primär auf den Aufbau und die (Selbst-)Behauptung des Symbolischen. Der konstatierbare Mangel an Reflexivität ist nur dann abwertend zu beurteilen, wenn maximale Reflexivität als oberster Wert angesetzt wird. Solche Wertungen lassen sich jedoch umkehren — dies geschieht z.B. in den Nostalgien, die die Moderne dem Mythos gegenüber an den Tag legt — oder auch (worauf eine Kritik des modernen Szientismus sinnvollerweise wohl eher hinauslaufen sollte) völlig anders ansetzen. Wenn die Reflexionstendenz bei Mythos und frühen Sprachstufen wenig ausgebildet ist, dann heißt dies aber auch, daß hier von Mystik — die ich als relativ spätes und elaboriertes Reflexionsprodukt dargelegt habe, das eng an eine entsprechende Reflexionskultur gebunden ist — noch nicht (oder allenfalls in Ansätzen und Spuren) die Rede sein kann. 102

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

Jeder konkrete Symbolismus geschieht also als ein sich entwickelnder Symbolprozeß, der — will man ihn phänomenologisch rekonstruieren — eigens aufzusuchen und gemäß den Regeln und Stufen des phänomenologischen 'Wegs' zu rekonstruieren ist. Jeder Symbolismus ist ein autopoietisches System, das sich und seine Umwelt — beides ist untrennbar und ergibt die eine und grundlegende Wirklichkeit der Interaktion — eigens organisiert. Jeder dieser Symbolismen hat eine eigene — je eigens zu rekonstruierende — Hermeneutik, d.h. einen (nicht geschlossenen, sondern offenen) 'Mechanismus' des Verstehens und Selbstverstehens, der jedoch nicht schlechthin für sich steht, sondern in einem dynamischen Kontext anderer Symbolismen und anderer Hermeneutiken, die miteinander verbunden sind und die ineinandergreifen. Diese Verbundenheit und dieses Ineinandergreifen macht die (symbolisch verfaßte) Lebenswelt aus: den Boden, auf dem Symbolismen überhaupt entstehen und gedeihen können. Wäre die Lebenswelt — das Insgesamt aller Symbolismen — als solche noch einmal in einem Super-Symbolismus faßbar, wäre die Hoffnung auf einen gemeinsamen Schlüssel für jegliches Weltverständnis realistisch. Die Erfahrung mit der Philosophiegeschichte und jeder eigenständige Versuch in dieser Richtung lehren uns freilich, daß eine solche Hoffnung unerfüllbar bleibt. Unsere gesamte Welterfahrung lichtet sich nirgends zum logischen 'Kristall', von dem Wittgenstein gesprochen hat103 und den, der Sache nach, schon Leibniz mit seinem Weltkalkül und seiner Monadenlehre im Auge hatte. Zwar spiegeln, wie die Monaden, auch die einzelnen Symbolismen einander — und sie brauchen, wie die Monaden, deshalb keine 'Fenster', da sie nur jeweils anders die eine, gemeinsame Wirklichkeit repräsentieren —·, doch sind sie weder eigene, einzelne 'Substanzen', noch sind sie kalkulatorisch auf einen realen 'Ursymbolismus' und auf einen begrenzt-ganzen Horizont hingeordnet. 104 Weder im Sinn von Leibniz, noch im Sinn von Hegel oder — hier freilich zweideutig bleibend — von Cassirer ist also der Gedanke einer Hierarchie der Symbolismen aufrecht zu erhalten. Wir können daher von einem 'Ursymbolismus' oder von einem 'allgemeinen formalen Symbolismus' immer nur in einem metaphorischen Sinn sprechen. Gemeint ist damit die — an den Grenzen konkreter Verfaßtheiten 'sich zeigende' (Wittgenstein) — Grundverfassung des In-der-Welt-Seins, die sich einer eigenen positiven Darstellbarkeit entzieht. Ihre Symbolisierung geschieht immer nur im Augenblick, und sie geschieht immer nur als scheiternder Versuch — wobei insofern von einem Scheitern zu sprechen ist, als die Symbolisierung sich nicht festhalten läßt, sich der manipulativen Beherrschung und Verfügbarkeit entzieht. Als punktuelle, zeitlich-endliche Erfahrung und als Erlebnis ist dieser Augenblick und dieser Versuch aber durchaus eine positive Größe. Sowohl in der klassischen Metaphysik wie in der Mystik — vor allem der christlich-neuplatonischen — ging und geht es um dieses Problem des 'Ursymbolismus', das sich in der kognitiven und/oder emotionalen Suche nach dem 'Einen', 'UrEinen' und 'Über-Seienden' ausdrückt. Die Rationalität unseres 'normalen' Denkens wird hier zu transzendieren versucht: entweder indem man sie in einen vorrationalen 'Urgrund' zurücknehmen will oder indem man sie 'über sich selbst' hinaustreiben möchte zu einer Meta- Rationalität, die als Quelle oder Ziel auch die 'normale' Rationa-

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lität inkludiert. W o immer in der Philosophie ein solches Bemühen wirksam ist, handelt es sich um philosophische

Mystik oder mystische Philosophie.

W o das 'Eine' mit Gott

gleichgesetzt wird, verschränken sich religiöses und philosophisches Paradigma ineinander. W o das 'Eine' nicht begrifflich-theoretisch gedacht, sondern in mythischen Bildern 'geschaut', erlebt und gefühlt wird, handelt es sich um religiöse oder — geschichtlich später — um Naturmystik oder um die Mystik künstlerischen Schaffens und Empfindens. W o aber eine prinzipielle Undenkbarkeit und Unsagbarkeit des 'Ursymbolismus' behauptet wird, ist er — wie bei Wittgenstein — nur indirekt bzw. negativ im Diskurs anwesend oder wird — wie bei den Neopositivisten — als Problem verdrängt. Wenn die — bei Albert, Zimmermann und Wagner-Egelhaaf reich zitierten —

Do-

kumente moderner Künstler davon sprechen, 'die Mystik' bzw. (synonym dazu) 'die Metaphysik' habe sich aus Religion, Philosophie und Wissenschaft zurückgezogen und finde nunmehr ihre wahre und eigentliche Heimat in der Kunst, so haben wir es erneut mit einer Version des 'Pyramidenmodells' zu tun. A n deren Spitze steht nunmehr



statt Religion oder Wissenschaft — das ästhetische Schaffen und Erleben, das zum leitenden Paradigma für das Verständnis aller anderen Symbolismen wird, die dann freilich ungelenk und unentwickelt erscheinen. Die Kunst bringt zweifellos —

wenn sie

sich aus dem (für sie lange Zeit verbindlichen) Dienst an Religionen und Ideologien befreit hat — in besonderer Weise das relative, spielerische und experimentelle Moment des Symbolisierens als solchen zur Darstellung und vermag, spätestens als 'abstrakte' und 'ungegenständliche' Kunst, in die selbstreflexive Symbolfunktion der 'reinen Bedeutung' zu gelangen. Dabei hat sie gegenüber dem begrifflich-theoretischen Denken, das gleichfalls (und in Cassirers Sicht: sogar einzig) zur reinen Bedeutungsfunktion vorstoßen kann, den Vorteil, sich von der sinnlich-emotionalen Erfahrungsebene nicht weitgehend abkoppeln zu müssen, sondern sie vielmehr einzubeziehen und sogar eigens zur Geltung zu bringen. (Jede Wahrnehmung und jede menschliche Kreation kann die Aura des 'Besonderen' und 'Welterschließenden' erhalten, wenn sie zum ästhetischen Gegenstand oder Ereignis wird.) Allerdings bezahlt die Kunst ihre verbleibende Nähe zur

sinnlich-emotionalen

Erfahrung

mit

einem

Verlust

an

intersubjektiver

Ver-

bindlichkeit und Klarheit dessen, was sie ausdrücken, darstellen und bedeuten will. Sie bedarf hiezu der Hilfe eines anderen Symbolismus, mit dem sie interagiert: des diskursiven Denkens. Es ist kein Zufall, daß die moderne Kunst kaum ohne begleitende Interpretation auskommt und daß manchmal — z . B . wenn ein Aktionskünstler bloß seinen eigenen Körper als Kunstwerk zur Schau stellt —

nur noch die Interpretation allein

übrigbleibt. In der ästhetischen Erfahrung blitzt der 'Ursymbolismus' immer dann auf, wenn ein konkreter Symbolismus — ein Gedicht, ein Gemälde, eine Architektur oder irgendein Aktionismus — zugleich in seiner Relativität und Unverbindlichkeit und in seinem Analogiecharakter zu anderen Symbolismen deutlich wird, wenn er also an seine Grenzen gelangt und wenn dabei bewußt wird, daß das Symbolische als solches unverzichtbar bleibt, weil unser Dasein in nichts anderem besteht als darin, ein vielheitlicher und komplexer Symbolprozeß zu sein.

Dies ist der Grund dafür, warum das

'Sein' zum Gegenstand moderner Kunst werden und diese sich selbst zuweilen expressis verbis als 'metaphysisch' und/oder 'mystisch' begreifen kann. 105

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Aber nicht nur in Kunst, Philosophie und grundlagenreflektierender Wissenschaft findet — nicht peripher, sondern in zentraler Weise und das 'Wesen' dieser Symbolismen betreffend — eine Auseinandersetzung mit dem Problem des 'Ursymbolismus' statt, sondern auch in symbolischen Formen wie Religion, Technik und Alltag. Bei dieser Aufzählung wird erneut deutlich, daß symbolische Formen nicht einfach materiale Bereiche der Lebenswelt bezeichnen, sondern — inhaltlich sich überschneidende und methodisch ineinandergreifende — Orientierungssysteme oder Konstrukte. Die Symbolismen der Technik sind nichts anderes als Symbolismen der (angewandten) Naturwissenschaft, die wiederum — vermengt mit und konkurrenziert durch religiöse und andere Symbolismen — in die Symbolismen des Alltags Eingang finden. Was die Religion betrifft, so beherrschen ihre Symbolismen in der archaischen Kultur beinah die Gesamtheit der dortigen Lebenswelt, sie finden aber auch heute noch — als Einzelelemente, als Versatzstücke und als Hintergrund — Eingang in die Philosophie, in die Wissenschaften und, wie gesagt, in den Alltag. All diese Kultur- und Lebensbereiche, die sich als symbolische Formen konstituieren und sich gleichermaßen einer inneren wie äußeren Dynamik ausgesetzt sehen, durch die sie sich der 'reinen Bedeutungsfunktion' nähern, müssen nicht, können aber den 'Ursymbolismus' erfahren und ihn je auf ihre Weise 'scheiternd symbolisieren'. Bezeichnet man dieses 'scheiternde Symbolisieren des Ursymbolismus' terminologisch als Mystik — damit ergibt sich eine strukturelle und funktionelle Definition dieses Begriffs, die ihn aus der Eingrenzung auf Religion oder allenfalls auch Philosophie befreit —, so muß bewußt bleiben, daß es sich um einen analogen Begriff handelt, um eine 'vagabundierende Struktur', die (a) weder auf einen einzigen oder nur auf ein paar bestimmte Symbolismen beschränkt ist, noch (b) unabhängig von einem konkreten Symbolismus einfach 'für sich' existiert, noch (c) in ausnahmslos allen Symbolismen in Erscheinung tritt bzw. eine identische Struktur in zwei oder mehreren Symbolismen darstellt. Mystik tritt — als Reflexionsphänomen — nur in reflexiv fortgeschrittenen Symbolismen auf. Sie kann dabei eine der 'reinen Bedeutungsfunktion' gerecht werdende 'taghelle Mystik' (Musil) sein, sie kann aber auch eine plötzliche Flucht vor den Anstrengungen der Reflexion bedeuten und eine 'dunkle', obskurantistische Mystik sein. Der hier vorgeschlagene Mystikbegriff bezeichnet eine Problemlage und Reflexionssituation, auf die verschiedene Antworten und verschiedene Reaktionsweisen möglich sind. Daß der Mystikbegriff genealogisch der religiösen Symbolform entstammt und ursprünglich nur in dieser beheimatet ist, stellt keinen Einwand dar gegen seinen analogen Gebrauch im Zusammenhang mit anderen Symbolformen wie Philosophie oder Ästhetik. Der analoge Gebrauch wird — ohne daß der Begriff freilich systematisch geklärt worden wäre — in der Geschichte des Wortes 'Mystik' ohnehin seit langem praktiziert. Seit den Transformationen und Entgrenzungen des Religionsbegriffs, die das 18. Jahrhundert in Gang gebracht und das 19. Jahrhundert fortgesetzt und radikalisiert hat, und seit der expliziten Mystikrezeption moderner Philosophen, Dichter und bildender Künstler ist er ohnehin zur kulturellen Tatsache geworden. Was bei einer ersten Betrachtung des vielfach unbestimmten allgemeinen Sprachgebrauchs von 'Mystik' wie eine Entleerung jeglichen Inhalts aussah, zeigt sich nun als untergründiger Sachzusammenhang, 514

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den die nicht reglementierte und 'naturwüchsig' sich fortentwickelnde Sprache zuweilen — freilich nicht immer — zum Ausdruck bringt, wenn sie sich eines identischen Ausdrucks für verschiedene Dinge bedient.106 Eine Lebenswelt- und Kulturtheorie, die sich als komplexe Symboltheorie versteht, vermag den Zusammenhang zwischen den 'Mystiken' verschiedener Provenienz aufzuklären, indem sie zeigt, daß Symbolismen dynamische Rationalitätsgebilde sind, die jeweils Mystik als Problemlage und Reflexionssituation produzieren. Theologische oder auch philosophische Alleinvertretungsansprüche haben in einer solchen Interpretation keinen Platz.

3.3.3 Medienmystik: Oralität, Literalität, Buchdruck, Telekommunikation, Computer Am Ende des Abschnitts 1 habe ich versucht, das Verhältnis von Symbolismus und Medium zu klären. Dabei wurde dargelegt, daß beide Begriffe in der Sache dasselbe meinen, wenngleich sie unterschiedliche Aspekte akzentuieren. Das Medium kann als die materiale Seite des Symbolismus definiert werden und umgekehrt der Symbolismus als die geistige Seite des Mediums. Sinnlich-materielle Substrate — Töne und Geräusche, Bewegungen und Gesten, Bilder und Buchenstäbe, Einritzungen auf Wachs, Ton, Stein usw. — 'sind' nicht von vornherein bereits Medium, sondern werden es erst dadurch, daß sie einem Symbolismus als dessen materieller Träger und Ausdruck dienen. Und ein Symbolismus — selbst ein so abstrakter wie der mathematische — kann zwar losgelöst von jeglichem Medium gedacht werden, doch hätte er historisch wohl niemals entwickelt werden können, ohne sich in seinen Anfängen doch auf sinnliche Wahrnehmung und vor allem auf die (immer an ein materielles Substrat gebundene) Schrift stützen zu können. Man könnte, Kant abwandelnd, sagen, daß 'medienfrei' gedachte Symbolismen leer und 'symbolfrei' gedachte sinnlich-materielle Substrate blind seien. Der Rückgang auf die Etymologie von 'medium' kann zur Veranschaulichung beitragen: Das Medium kann als eine 'Mitte' zwischen (abstrakt denkbarem) 'reinem' Symbolismus bzw. Bedeutung und (gleichfalls nur abstrakt denkbarer) 'reiner' Sinnlichkeit und Materialität, die vor aller Bedeutungsstiftung liegt, begriffen werden, zweitens aber auch als das 'Mittel' bzw. die Tätigkeit der 'Vermittlung', durch die beide Seiten eine funktionale Einheit bilden und darstellen. Die Koinzidenz der Begriffe Symbolismus und Medium kann besonders deutlich am Beispiel der Sprache dargelegt werden. Sie wird nämlich seit je als 'Gegenstand' sowohl von der Symbol- und Zeichenphilosophie wie auch von der Medienphilosophie beansprucht. An ihr wird der Konnex von Symbol-, Zeichen- und Medienproblem augenfällig. Daß Sprache gleichermaßen ein Symbolismus undein Medium sei, leuchtet — folgt man dem üblichen Sprachgebrauch — unmittelbar ein. Freilich oszilliert 'Medium' im üblichen Sprachgebrauch zwischen der Bedeutung 'reine, unorganisierte und vor-bedeutungshafte sinnliche Materie' und der Bedeutung 'Symbolismus'. Die mediale 515

Grundziige einer Theorie der Mystik

Betrachtungsweise des Symbolismus hebt den Einfluß des sinnlich-materiellen Trägers auf den Symbolismus hervor. Eine Prosaerzählung oder eine Bildergeschichte, ein gesungenes oder ein auf einem Instrument gespieltes Lied können 'dasselbe' — dieselbe Erzählung, dieselbe Melodie — niemals identisch, sondern immer nur analog ausdrücken. Sie stellen 'dasselbe' über verschiedene sinnlich-materielle Zeichen, d.h. also über verschiedene Medien dar und sind — eben durch ihre unterschiedliche mediale Verwirklichung — dann auch verschiedene Symbolismen. Versteht man also Medium nicht als äußerliche materiale Bedingung für einen Symbolismus, dem es als unabhängige Größe gegenüberzustellen sei, sondern als den Symbolismus selbst, so handelt es sich um eine Metonymie: Ein Aspekt des Symbolismus — der materiale — steht dann für das gesamte, komplexe Phänomen. Da dieser Aspekt, wenn er in seinem sachlichen Verweisungszusammenhang zureichend begriffen wird, die anderen Aspekte des Phänomens impliziert, erscheint eine solche Sprachregelung durchaus legitim. Wenn ich also gleichzeitig die Sprache als Symbolismus und als Medium bezeichne, so meine ich mit zwei unterschiedlichen Ausdrücken — wenngleich sich dabei voneinander abweichende Konnotationsfelder eröffnen — denselben Begriff und dasselbe Phänomen. Gerade die unterschiedlichen Konnotationsfelder der beiden Ausdrücke, die mit ihrer Etymologie und mit ihrer historisch primären Anwendung in der Sprache zusammenhängen, sind jedoch für eine Phänomenologie des identischen Phänomens Symbolismus/Medium aufschlußreich. Denn 'Medium' rückt nicht nur die materielle Bindung und Bedingtheit jedes Symbolismus ins Blickfeld, sondern auch dessen artifiziellen und technischen Charakter. Jeder Symbolismus ist eine informations- und kommunikationstechnische Konstruktion. Das vielfältige Organisieren der Realität, das der menschliche Geist vornimmt und wodurch er Orientierung schafft und Bedeutung stiftet, kann — in einem prinzipiellen und weiten Sinn — als Technik verstanden werden. 107 Dabei setzt man das Wissen über Eigenschaften und Verwendbarkeiten materieller Substrate in operationaler Weise ein. Im gängigen Sprachgebrauch ist Technik die bewußte, methodengeleitete Herstellung von Gegenständen und Verfaßtheiten, die möglichst durchschaubar und beherrschbar bleiben sollen. Aber auch unbewußte und organische Tätigkeiten wie unsere Verdauung oder unser Atmen sind, genau besehen, Techniken. Sie organisieren materielle Substrate derart, daß man — zumindest im übertragenen Sinn — auch hier von Symbolismen sprechen kann. Freilich scheint es sinnvoll, den Begriff, den ich in meiner Untersuchung bisher ausschließlich auf die kulturelle Dimension des menschlichen Daseins bezogen habe, nicht allzu umstandslos auf die biologische Dimension auszudehnen und ihn damit, seinen Erklärungswert mindernd, zu entgrenzen. Jeder Symbolismus stiftet und sichert Bedeutung — und entwickelt diese, sich selber entwickelnd, weiter. Bedeutung aber bedeutet Information und diese Kommunikation. Daher sind Symbolismen Informations- und Kommunikationssysteme. Auch das ist wiederum am Beispiel der Sprache besonders offenkundig. Doch auch Kunst teilt mit und will mitteilen, und auch der religiöse Ritus ist eine Möglichkeit sozialer Verständigung. Aber nirgendwo springt der technisch-mediale Aspekt des Symbolismus unmittelbarer ins Auge als in jenen — eigens so bezeichneten — Kommunikationstechnologien,

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die wir als 'alte' und 'neue' Medien etikettieren: z.B. Schrift und Buchdruck, Computer und Telekommunikation. Diese Medien sind — genauso wie die (gesprochene) Sprache, auf die sie als 'Ausgangssystem' angewiesen bleiben — Technologien des menschlichen Geistes, und wenn man den Symbolbegriff formal faßt, gibt es keinen Einwand, sie ohne Wenn und Aber auch als Symbolismen zu betrachten. Gemeinsam mit der (nunmehr sekundären) Oralität bilden sie ein die moderne Kultur und Lebenswelt weithin bestimmendes Kompositum von Symbolismen, die wie ein interagierendes 'Gesamtkunstwerk' fungieren. Zwar kann jeder dieser Symbolismen methodisch für sich isoliert werden, doch funktionieren sie alle in mehr oder minder stark ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnissen. So wie die Oralität die Literalität historisch weiterhin begleitet, so begleiten Oralität und Literalität auch den Buchdruck und — gemeinsam mit diesem — die Telekommunikation und den Computer. Der jeweilige Charakter eines Mediums — die Möglichkeiten und Grenzen seiner Leistungsfähigkeit — ist nicht 'an sich' bestimmbar, sondern — im Sinn einer phänomenologischen Beschreibung — nur auf einem bestimmten historischen Punkt seiner Entwicklung, von dem aus seine Vorgeschichte rekonstruiert und seine Zukunft prognostiziert und von dem aus die Konstellation der gesamten zeitgenössischen Medienlandschaft dargestellt werden kann. So wie — aufgrund einer weitreichenden historischen Verschiebung der Medienlandschaft — die heutige sekundäre mit der primären Oralität nur sehr begrenzt vergleichbar ist, so ist auch die mediale Funktion des Buchs am Beginn und am Ende des 'Gutenberg-Zeitalters' nicht dieselbe und wird sich auch künftig — wenn z.B. demnächst alle wichtigen Klassikertexte in EDV erfaßt und am Bildschirm abrufbar sein werden — noch wandeln. Da, wie in Abschnitt 1 gezeigt wurde, jeder Symbolismus 'seine' Rationalität hat — seine spezifische Methode der Orientierung und Kommunikation —, bildet auch jedes der genannten Kommunikationsmedien einen eigenen Rationalitäts- und, wie ergänzend hinzuzufügen ist, Erfahrungstyp aus. Von Lurija, Havelock, Goody, Ong u.a. wird der Wandel von Rationalität und Erfahrung, wie er sich beim Übergang von Oralität in Literalität, aber auch von der Gutenberg-Galaxis in die Welt der 'neuen Medien' ergibt, detailliert beschrieben. Kognitive und emotionale Fähigkeiten vergrößern und verkleinern, verändern und verschieben sich, entstehen und vergehen in diesen medialen Transformationsprozessen. Doch insgesamt ergibt sich sukzessive doch eine symbolisch-mediale Funktionsito'gerang dadurch, daß sich immer mehr und immer neue Symbolismen/Medien zu einem komplexen Gebilde zusammenschließen, sich wechselseitig spiegeln, in ihrer Effizienz steigern und dabei das Reflexionspotential, das den einzelnen Symbolismen/Medien innewohnt, erhöhen. Gerade die neuere Kunst und die neuere Naturwissenschaft erreichen einen früher nicht denkbaren Grad an Selbstreflexion und Selbstdurchsichtigkeit und bewegen sich in ihrer Symbolisierungstätigkeit auf der Ebene der 'reinen Bedeutung'. Ich habe im vorhergehenden mehrmals dementiert, daß überall dort, wo Rationalität entsteht, zwangsläufig auch Mystik entstehen müsse — und zwar deshalb, weil Rationalität nicht zwangsläufig eine selbstreflexive Ebene erreichen muß und weil Selbstreflexivität zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür ist, daß sich der

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Symbolisierungsprozeß 'als solcher und im ganzen' radikal in Frage stellt. Wenn wir den Blick auf die klassische abendländische Mystik richten, so ist zu fragen, welcher Kommunikationstechnologien sich diese Texte bedienen und ob die Aussagen dieser Texte mit der symbolisch-medialen Eigendynamik der besagten Technologien in einem Zusammenhang stehen. Für die Kommunikationstechnologien Schrift, Buchdruck, Telekommunikation und Computer, die sich sämtlich als Fortschreibungen und Metamorphosen der (im Ursprung rein mündlichen) Sprache begreifen lassen, gilt jene strukturelle Darstellung, die Cassirer im ersten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen von der Sprache gegeben hat. Diese ist demnach eine symbolische Form, die sich fortlaufend über unterschiedliche Stufen des Gebrauchs und des Eigenverständnisses entwickelt und sich dabei funktional verändert — über Stufen, die Cassirer 'Ausdrucks-', 'Darstellungs-' und 'reine Bedeutungsfunktion' genannt hat. Anfangs und in Parallele zum Mythos (exakter wäre zu formulieren: als Mythos) geht es der Sprache nur um die Etablierung des archaischen Bewußtseins, das die eigenen Schöpfungen nicht in Frage stellt, sondern sie als gegeben hinnimmt und mit der Realität selbst gleichsetzt. In den Anfängen der Sprache gilt das Wort gleich viel wie die Sache, die es bezeichnen soll — und die Sprachmagie versucht eben unter dieser (sachlich natürlich unhaltbaren) Voraussetzung, Wirklichkeit und Sprache gleichermaßen zu manipulieren. Auf dieser Ebene kann sich noch keine Mystik ausbilden. Doch die Sprache gewinnt zunehmend Distanz zur eigenen Symbolisierungstätigkeit und nähert sich schließlich der 'reinen Bedeutungsfunktion'. Erreicht der Sprachprozeß diese Ebene, kann sich Sprachmystik ergeben. Sprache stilisiert sich dann — hier sind vornehmlich die Dichter der Wiener Moderne zu nennen — zu dem unter sämtlichen Symbolismen ausgezeichneten Super-Symbolismus, zum Welt-Symbolismus schlechthin, der alle anderen Symbolismen durchdringt und sie unter sich subsumiert. Sprache und Wirklichkeit werden dann gleichgesetzt, und mit der Relativität und Intensität der Sprache koinzidieren Relativität und Intensität der Wirklichkeit. Sprache und Wirklichkeit gehen ineinander über, beide spiegeln sich wechselseitig und können nicht mehr trennbar voneinander gedacht werden. Was ist, ist Sprache. Sie bezieht sich jetzt nicht mehr auf eine zwar durch sie repräsentierte, aber eigenständige Wirklichkeit, sondern sie 'ist' jetzt diese Wirklichkeit selber. Dadurch entsteht totale Reversibilität aller Worte, Dinge und Bezüge. Jeder Gedanke und jeder sprachliche Ausdruck ist mit jedem anderen vertauschbar, und jeder Gedanke und Ausdruck ist ein möglicher Zugang, um das Ganze aller Gedanken und Ausdrücke zu erschließen. Ein solch mystischer Sprachgestus läßt sich vor allem in den Zeugnissen des Dadaismus sowie des Früh- und Spätexpressionismus aufweisen. Das 'Zerbrechen' des Wortes und der Rückgang ins Schweigen indizieren die 'mystische Situation', in die sich die (poetische) Sprache begeben hat. Sprache — als der Symbolismus schlechthin — 'versagt' und 'scheitert', weil sie gänzlich selbstreferentiell geworden ist.108 Sie kann und soll jedoch durch keinen anderen Symbolismus ersetzt werden — auch nicht durch die Flucht in das 'praktische Leben' und in die politische Aktion. 109 Sprachlosigkeit ist nur die andere Seite der Sprache selbst. Wenn sich aber der Symbolismus Sprache 'als solcher und im ganzen' zurückzunehmen sucht, so ist dieser Versuch selbst symbolisch:

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Die versuchte Rücknahme von Sprache vollzieht sich als sprachliche Symbolstiftung. 110 Wenn wir die hier entwickelte Perspektive mit der Struktur der religiösen, monotheistischen Mystik vergleichen, so wiederholt sich die dort vorgenommene Gleichsetzung von Gott und Seele nunmehr in der Gestalt einer Gleichsetzung von Sprache und Welt. Ist in der klassischen abendländischen Mystik die Sprache als solche ein verhältnismäßig unreflektiertes Mittel, um die Gleichung Gott=Seele voranzutreiben und 'zerbrechen' zu lassen, so spricht man dort dennoch — paradox — von der 'Bildlosigkeit' und vom 'höchsten Bild', die beide im Akt des Zerbrechens aller Bildlichkeit — d.h. aller Symbolik — koinzidieren. Sofern die mythisch-religiöse Symbolik als letztgültige Realitätsstruktur betrachtet wird, bildet sie — über das Mittel der Sprache — das inhaltliche Thema besagter Mystik. In der säkularisierten Moderne gerät hingegen die Sprache selbst ins Blickfeld. Die Gleichung Sprache=Welt wird — analog zur Gleichung Gott= Seele — bis zu ihrem Zerbrechen vorangetrieben, und zwar — auf einem Höchststand medialer Selbstreflexion — mit sprachlichen Mitteln. Bereits die mittelalterliche Mystik arbeitet mit einem abstrakten und theoretisch-begrifflichen Vokabular, das sich — wie die Theologie und Philosophie — nur in einer Schriftkultur entwickeln konnte. Eine orale Kultur kann solche Abstraktionen nicht hervorbringen — und daher auch keine Mystik. Man kann dennoch sagen: Wenn das religiöse Denken die Stufe jener Selbstreflexivität erreicht hat, auf der religiöse Mystik möglich wird, so hat sie dies am Leitfaden und mit Hilfe des Schriftmediums getan. Und die säkularisierten Mystiker des 20. Jahrhunderts, denen wir vor allem unter den Dichtern begegnen, formulieren ihre Gedanken desgleichen — und sogar noch entscheidender — unter den Bedingungen der schriftgestützen Sprache, die durch Buchdruck und weitere Medienrevolutionen einen immer größeren Spielraum an Selbstreflexion und möglichen Experimenten erhalten hat. 'Gott', 'Natur' oder 'Liebe' sind besonders gängige Mystikformeln, die nur als Bewegung zu denken sind, weil sich in ihnen das Symbolisieren 'als solches und im ganzen' gleichermaßen intensiviert wie destruiert. Für solche Mystikformeln werden aber schon lange vor den modernen kommunikationstechnischen Revolutionen auch die Namen der jeweils im Zentrum des kulturellen Interesses stehenden Kommunikationstechnologien verwendet: denken wir an das (göttliche) 'Wort', an die (heilige) 'Schrift' oder an das 'Buch', das alles grundlegende Wirklichkeitswissen enthält: an Bibel oder Koran als das Buch der göttlichen Weisheit und Offenbarung, aber auch an das 'Buch der Natur', das seit der Renaissance für die Naturmystik eine zentrale Rolle spielt.111 Aber auch eine 'Filmmystik' oder 'Computermystik' läßt sich — wenn wir die Reflexionskapazität dieser Medien in Rechnung stellen — genauso denken wie die eben erörterte Sprach-, Schrift- und Buchmystik. Wenn das Buch zur Weltmetapher wird — wie dies Blumenberg detailliert beschrieben hat — oder die filmische und digitale Simulation der Wirklichkeit, die von entsprechenden Metaphern aufgesogen und paralysiert wird, dann ergeben sich analog dieselben Symbolisierungseffekte, die ich im Hinblick auf die klassische Mystik beschrieben habe. Scholem hat also recht, wenn er behauptet, es gebe niemals Mystik als etwas Eigenständiges, sondern immer nur eine Mystik 'von etwas'. Dieses 'Etwas' ist nichts anderes als ein Symbolismus bzw. ein 519

Grundzüge einer Theorie der Mystik

Medium auf einem hohen Reflexionsniveau seines autopoietischen Prozesses. Ein derartiger Symbolismus bzw. ein derartiges Medium — sei es Religion oder Philosophie, Kunst oder Sprache in all ihren Metamorphosen: von den Anfängen der Literalität bis zum rechnergestützten Denken — begreift sich dann als das Medium schlechthin und will der Einsicht Rechnung tragen, daß es in der Wirklichkeit nichts außer diesem Medium gibt: alle Wirklichkeit ist durch und als dieses Medium vermittelt. Jedes mediale Element — jedes Symbol in besagtem Symbolismus — indiziert und spiegelt das Ganze und ist daher austauschbar mit jedem anderen Element. Das Einzelne ist nichts und zugleich alles. Indem die durch symbolische Objektivierung vormals geschaffene Distanz zwischen Mensch und Wirklichkeit zurückgenommen wird, wird auch die — gleichfalls durch Objektivierungsarbeit geschaffene — Differenzierung zwischen Kognition und Gefühl zurückgenommen. Es kommt zu einer Koinzidenz 'höchster Einsicht' und intensivsten Gefühls. Das Symbolisieren wird selbstreferentiell und — in extremer Steigerung — dysfunktional. Daher geschieht die Symbolisierung der 'höchsten Koinzidenz' grundsätzlich als Scheitern. Sie besteht in einem Augenblick höchster kognitiv-emotionaler Anspannung, die zur 'Implosion' führt. Die mystische Erfahrung kann auf dem Punkt, auf dem sie statthat, nicht verweilen. Möglich ist nur der Schritt hinein in Wahnsinn und Obskurantismus oder der Schritt zurück in das 'normale', d.h. nichtselbstreferentielle und nicht-totale Symbolisieren.

3.3.4 Zwischenbetrachtung: Genese und Struktur der mystischen Erfahrung Die Mystiktheorie, die ich vorschlage, geht davon aus, daß sich Kultur und Lebenswelt aus unterschiedlichen Symbolisierungsleistungen aufbauen, die — einzeln und im Zusammenspiel — als autopoietische Systeme und Systemkonstellationen fungieren und mehr oder minder hohe Grade an Selbstreflexivität erreichen. Die Autopoiesis dieser Systeme führt zu stets neuen Form-Schließungen und Symbolisierungen und zuletzt zur Form-Schließung und zur — versuchten — Symbolisierung der mystischen Erfahrung. Von einem solchen Versuch ist dann zu sprechen, wenn ein selbstreflexiv gewordener Symbolismus (a) sich prinzipiell in seinem Symbolcharakter begreift, d.h. in seiner unaufhebbaren Differenz zu jener Wirklichkeit, die adäquat und realistisch abzubilden er ursprünglich angetreten ist; (b) zugleich einsieht, daß es außerhalb der — anthropologisch konstitutiven — Symbolisierungstätigkeit keine menschliche Wirklichkeit gibt, also keinen Leerbereich im Denken oder Erleben, der auf 'nichtsymbolische' Weise bewohnbar wäre; (c) sich selbst als den ausschließlichen und 'totalen' Symbolismus interpretiert, d.h. als Super-Symbolismus, der alle anderen möglichen Symbolismen mit repräsentiert, so daß sämtliche Symbole und Symbolismen untereinander austauschbar werden;

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(d) in diesem Zusammenhang alle symbolischen Differenzierungen wie Ich, Gegenstände und Kategorien zurückzunehmen versucht und dadurch — freilich nur vorübergehend — eine Aufhebung der Differenz von Symbol und Wirklichkeit, Sein und Nichts, Einheit und Vielheit usw. suggeriert; (e) die konstitutiven Grenzen jeglichen Symbolisierens erreicht und überschreitet, indem er gleichzeitig eine Gesamtsymbolisierung der Wirklichkeit und eine prinzipielle Zurücknahme des Symbolisierens als solchen und im ganzen anstrebt; (f) dadurch, daß der Rücknahme-Versuch selbst symbolischer Natur ist (und, weil der Mensch ein animal symbolicum und seine Grundtätigkeit das Symbolisieren darstellt, sein muß), eine Selbstdestruktion — metaphorisch: eine Implosion — des Symbolischen auslöst; (g) daher auf dem 'mystischen Punkt' nicht verharren kann und — im Normalfall — in das gewohnte und realistisch mögliche, nämlich partielle Symbolisieren zurückfindet (das, nachdem es die mystische Erfahrung als eine Prägnanz 'überholt' hat, von dieser nunmehr mitbestimmt wird); (h) sich das Scheitern seines Totalitätsanspruchs in unterschiedlicher Weise eingesteht oder verdrängt und mißversteht. Hier handelt es sich um jene Mystikinterpretationen post hoc, die z.T. die Mystiker selbst, aber vor allem die verschiedenen Theorien der objektivierenden Mystikforschung vornehmen. Eine Verdrängung liegt vor, wenn man Mystik nicht für eine Erfahrung und nicht für eine Konsequenz von Rationalität hält, sondern für gedanklichen und/oder emotionalen Unsinn. Ein Mißverständnis liegt aber auch dann vor, wenn das notwendigerweise punktuelle und endliche mystische Erlebnis für einen Zustand bzw. für eine eigene symbolische Form und Lebensform gehalten wird. 112 Sowohl die philosophischen Mystikkonzeptionen, die ich in Abschnitt 2 behandet habe, als auch das Selbstverständnis religiöser Mystiker und deren theologische Interpretationen folgen vielfach den genannten Mißverständnissen.

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3.4 'Ethos': Der Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext von Mystik

Die vorgeschlagene formale Definition von Mystik — 'symbolisierender RücknahmeVersuch des Symbolischen als solchen und im ganzen1 — bietet zwar einen Verständnisschlüssel für die meisten Formen von Denken, Erfahrung und Orientierung in der Lebenswelt, die gemeinhin als 'mystisch' bezeichnet werden, doch sind diese speziellen Erscheinungsformen von Mystik oft in hohem Maß von unterschiedlichen — zuweilen miteinander unvereinbaren — Komponenten mitbestimmt. Es sind dies lebensweltliche und kulturelle, historische, soziale und psychische Komponenten, die in ihrer jeweiligen Konstellation das jeweils spezielle Phänomen einer 'speziellen Mystik' mit darstellen. Die Mystik eines einzelnen religiösen Mystikers, eines mystischen Philosophen oder Künstlers, aber auch die im Alltag, im Naturerleben oder in der Liebe irgendeines Menschen aufbrechende Mystik ist jeweils wirklich und ganz verständlich nur durch eine je konkrete phänomenologische Beschreibung und Erklärung. Unsere formale Definition bietet dafür wohl eine notwendige, aber noch keine hinreichende Hilfestellung. Sie ist keine höchste Abstraktion, aus der sich die konkreten Phänomene deduzieren ließen, sondern eine idealtypische und analoge Größe, die aus der Betrachtung mystischer Texte gewonnen wurde, deren Grundgedanken rekonstruiert und dieses Konstrukt als Theorie dafür anbietet, sich — über die Referenztexte hinaus — verstehend mit den konkreten Zeugnissen mystischer Erfahrung auseinanderzusetzen. Die Theorie der Mystik, wie ich sie bis jetzt dargestellt habe, ist keineswegs erschöpfend und läßt noch immer viele Fragen offen. Es geht vor allem darum, sie in jenen geschichtlichen, kulturellen und praktischen Kontext zu stellen, aus dem heraus jede sogenannte Theorie abstrahiert wird, in den sie eingebettet bleibt, von dem sie weiterhin bestimmt wird und auf den sie mehr oder minder effizient zurückwirkt. Es widerspräche allem, was in Abschnitt 1 über die Möglichkeiten von Theorie und Erfahrung gesagt wurde, wollten wir annehmen, diesen Außenkontext der Mystiktheorie selbst noch einmal theoretisch einholen und zum Gegenstand einer Supertheorie machen zu können. Dies hieße — systemtheoretisch gesprochen — ja nichts anderes, als ein (per definitonem unmögliches) 'System' zu fordern, das die Gesamtheit der 'Systemumwelt' mit umfaßt. Wenn ich im folgenden dennoch von besagtem 'Kontext der Theorie' und von lebensweltlichen Komponenten spreche, so handelt es sich erklärtermaßen um vorläufige, unabgeschlossene und weiterhin ergänzungsbedürftige Überlegungen. Es sind gewissermaßen nur Streifzüge in die Vielfalt der Lebenswelt und in die Vielfalt möglicher Ereignisformen von Mystik und Reaktionsformen auf Mystik. Was dabei freilich

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'Ethos': Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext

nicht mit geleistet werden kann — dies würde den Rahmen der Untersuchung hoffnungslos sprengen — sind Fallstudien über die Mystik ganz bestimmter Epochen und Personen. Im folgenden geht es um die Erörterung des Einflusses unterschiedlicher Kulturen, aber auch der Stimmung, der Erwartung, des Handelns und der Geschichte auf Mystik. Daran schließt eine Kritik des — die bisherige Mystiktradition und das bisherige Mystikverständnis weithin bestimmenden — Neuplatonismus, dem eine 'schiefe' Erfahrungskonzeption zu bescheinigen ist. Zuletzt folgen programmatische Überlegungen zu einer 'lebensgerechten' und erfahrungs-adäquaten Mystik.

3.4.1 Mystik und Kultur: Das Eurozentrismusproblem Das Wort Mystik ist — in seiner adjektivischen Form — griechisch-lateinischer Herkunft und — als Substantiv — eine Sprachschöpfung der religiösen Kultur des neuzeitlichen Europa. Christliche Theologen versuchen zuweilen, mit Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Begriffs auch das Phänomen Mystik allein für den christlichen Glauben — allenfalls auch noch für die verwandten monotheistischen Religionen Islam und Judentum — zu reklamieren. Wer 'Gott' oder, noch enger gefaßt, 'Christus' oder auch die 'Trinität' zum Mittelpunkt der Mystik erklärt, wird sich auf zahlreiche Texte vom Mittelalter bis heute berufen können, die man durchaus so zu lesen vermag und deren Autoren dies auch subjektiv so zum Ausdruck bringen wollten. Als mögliche inhaltliche Interpretation ist gegen eine theologische und frömmigkeitsgeschichtliche Auslegung auch durchaus nichts einzuwenden. Sie ist legitim. Eine allgemein formale und strukturelle Interpretation, die also die generelle Form und Struktur des in diesen Texten mitgeteilen Erfahrungs- bzw. Symbolisierungsprozesses herausarbeitet, kümmert sich jedoch nur sekundär um religiöse (oder auch andere) Inhalte. Ihr Erkenntnisinteresse bezieht sich auf jede Form von Mystik und koinzidiert daher nicht mit dem Erkenntnisinteresse jener Theologen, die ihr Denken ausschließlich als klärende und systematisierende Stütze des Glaubens betrachten und dann, wenn es in der Mystikforschung nicht mehr um den Primat des Glaubens geht, von 'falsch verstandener' oder sogar von 'After'mystik sprechen. 113 Derartige Theologen-Vorwürfe richten sich nicht nur gegen die Konkurrenz, die den etablierten Kirchen seit geraumer Zeit durch neue Glaubensgemeinschaften und neuerlich prosperierende alte Sekten entstanden ist, und nicht nur gegen Formen des 'Aberglaubens', die jenseits der Toleranzschwelle des von den Großkirchen gezogenen Glaubensrahmens liegen, sondern auch gegen rein 'humanistische' und 'anthropozentrische' Mystikkonzeptionen, wie sie z.B. von der jungschen oder transpersonalen Psychologie vertreten werden. Diese sprechen von einer Erfüllung menschlicher Daseins- und Wertorientierung in der Immanenz des Irdischen, von Persönlichkeitsentfaltung und Selbstfindung, wobei das religiöse Vokabular und die religiösen Inhalte jener klassischen Mystiktexte, die man zur Veranschaulichung mit heranzieht, nur noch metaphorisch ausgelegt werden. Der alte, auch heute erst in Ansätzen überwundene Streit zwi-

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sehen Religion und Psychoanalyse114 hat in der Frage, wie Mystik legitim zu interpretieren sei, einen ganz zentralen Zankapfel. An einer affirmativen Interpretation von Mystik interessierte Psychologen — aber auch Theosophen sowie 'Freireligiöse' im Umkreis der Theosophie, die eine Wahrheit in allen Religionen aufzuweisen suchen und diese ihre These besonders am Phänomen der Mystik exemplifizieren wollen — haben kein Problem damit, den Mystikbegriff auf andere, ja selbst auf atheistische Religionen (für die vor allem der Buddhismus steht) auszudehnen. Von dieser Position aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, den Begriff auch auf nichtreligiöse Gebiete wie Literatur, Kunst und Philosophie anzuwenden — wobei sich das auch in den 'säkularen' Mystikformen auftretende extreme Gefühl von Eigentlichkeit und Authentizität sehr leicht als 'religiöses Gefühl' 115 bzw. als Gefühl des 'Heiligen' 116 reinterpretieren läßt. Die formal-strukturelle Definition von Mystik — 'symbolisierender RücknahmeVersuch jeglicher Symbolisierung als solche und im ganzen' — macht weder an den Grenzen zwischen einzelnen Religionen halt, noch an den Grenzen zwischen einzelnen Kulturen, noch an den Grenzen zwischen Religion und außerreligiösen Kultur- und Lebensformen. Der Religion kommt nur insofern eine besondere Rolle zu, da in ihr der Begriff Mystik ursprünglich entwickelt wurde und da in ihr das Phänomen der (religiösen) Mystik seit je in besonderer Augenfälligkeit in Erscheinung tritt. Religiöse Mystik liefert das Paradigma für alle anderen Mystikformen. Religion ist ein Symbolismus, der geschichtlich lange Zeit die gesamte Lebenswelt dominiert hat und der die daraus sich später ausdifferenzierenden Symbolismen wie Philosophie, Wissenschaft und Kunst zum Teil weiterhin und bis heute — allerdings nur partikular — beeinflußt. Diese Symbolismen haben den Symbolismus Religion als eine Form-Schließung historisch 'überholt', so daß er als Baustein und als weiterwirkendes Ferment in ihrer Genese zu betrachten ist. Der christlich-europäischen Mystik kommt in meiner Theorie kein sachlich, sondern nur methodisch zu begründender Vorrang vor außereuropäischen Mystikformen zu. Die christlich-europäische Kultur — einschließlich ihre historische Fortsetzung, die weitgehend säkularisierte neuzeitlich-moderne Kultur — war für meine Untersuchung der nächstliegende methodische Ausgangspunkt. Sie lieferte die Referenztexte für eine Phänomenologie, die nicht von einem fundamentum inconcussum 'des' allgemein-abstrakten menschlichen Geistes ausgehen durfte, sondern diese Abstraktion erst im Ausgang von einer seiner konkreten historischen Gestalten gewinnen konnte. Diese konkrete historische Gestalt war die europäische Mystik, für die Meister Eckhart genauso repräsentativ ist wie — als einer ihrer säkularen Fortsetzer — F. Mauthner. Aus den konkreten Bestimmungen eben dieser eigenen, nächstliegenden Kultur wurde die Theorie abstrahiert. Deren transkultureller Anspruch ist ein vorsichtig-programmatischer. Die Prozeßund Symboltheorie, die für die Mystiktheorie die allgemeine Folie bildet, ist zugleich ein Stück kulturenübergreifender Anthropologie. Die Struktur und Dynamik des Symbolisierungsprozesses gilt für jeden Menschen und jede Menschengruppe und daher auch für jede Kultur. Es ist also — zumal eine Reihe hochqualifizierter vergleichender Arbeiten z.B. zwischen östlicher und westlicher, christlicher und buddhistischer Mystik

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'Ethos': Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext

bereits vorliegt117 — überaus wahrscheinlich, daß sich die Theorie auch auf außereuropäische Mystikformen anwenden läßt. Freilich ist die Anwendung der Theorie auf 'neues Material' grundsätzlich mit Schwierigkeiten verknüpft. Wir haben uns dabei mit dem komplexen Problem der interkulturellen Verständigung auseinanderzusetzen. Man muß in der Interkulturalitätsdiskussion zwei extreme Thesen zurückweisen und doch jeweils deren 'wahren Kern' herausheben. Die erste These — z.B. von Spengler vertreten — ist die These der prinzipiellen Inkommensurabilität unterschiedlicher Kulturen. Völlig verschiedene Grundbegriffe, Denkweisen, praktische Haltungen und 'Logiken' seien niemals auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, und es gebe zwischen den Kulturen nur Mißverständnisse. Die andere These ist die These einer angeblich problemlosen Kommensurabilität. Es ist offenkundig, daß keine der beiden Thesen richtig ist, denn es dürfte dann — im ersten Fall — auch keine partielle Verständigung geben, und tatsächliche Verständigungsschwierigkeiten wären — im zweiten Fall — stets schnell und restlos zu überwinden. Das hier angesprochene kulturhermeneutische Problem ist am Beispiel unterschiedlicher Sprachen demonstrierbar. Jede Sprache wächst, gedeiht und funktioniert im Zusammenhang mit bestimmten Lebensformen, deren Welt- und Selbstverständnis sich unter anderem grammatisch und lexikalisch niederschlägt. Die (niemals völlig verbalisierte) jeweilige Lebenswelt bildet nicht nur den denotativen, sondern vor allem auch den konnotativen Hintergrund der jeweiligen Sprache. Sie stellt die Weichen für Erwartungen, Hoffnungen, Ängste, für Selbstverständlichkeiten und Ausblendungen in der Wahrnehmung, für Selektionen und Wertungen, für Gefühlslagen und Stimmungen. Umgekehrt prägt aber auch die solcherart komplex strukturierte Sprache ihrerseits die Lebenswelt, so daß von einer Wechselwirkung zu sprechen ist. Daher kann man weder Lebenswelt auf Sprache reduzieren noch umgekehrt. Was auf dem Feld dieser Wechselwirkung entsteht, sind nicht nur praktische und theoretische Zwänge und Festlegungen, sondern auch ein produktiver Freiraum: d.h. das Verhältnis von Lebenswelt und Sprache ist zwar äußerst eng, nicht aber determiniert. Der Symbolismus Sprache, der in der Lebenswelt mit vielen anderen Symbolismen interagiert, ist ein sich selbst — seine Lexik und Grammatik sowie seine Relationen zur Lebenswelt — prinzipiell veränderndes autopoietisches System.118 Überträgt man diese Beschreibung auf eine gesamte Kultur, so ist klar, daß wir es auch dort nicht mit einem starren, monolithischen Gefüge möglichen Weltverstehens zu tun haben, sondern mit einem komplexen Prozeß, der auch Synthesen mit anderen — gleichfalls dynamischen — Kulturen eingehen kann. Solche Synthesen müssen weder stattfinden, noch finden sie in der Regel vollständig statt. Verschiedene Sprachen sind üblicherweise ineinander übersetzbar, doch die Übersetzungen erscheinen — je unterschiedlicher Aufbau und Sprachschatz sowie dahinterstehende Lebensformen sind, desto augenfälliger — niemals vollkommen. Man denke, um das Beispiel eines klassischen Mystiktextes zu nennen, an die Schwierigkeiten, das Tao-te-king ins Englische oder Deutsche übersetzen zu wollen. Die deutschen Übersetzungsvorschläge für 'Tao' — Weg, Geist, Logos, Anschluß usw. — sind Ausdrücke, die jeweils völlig andere, im

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Chinesischen nicht oder kaum geläufige Konnotationen mitführen und andererseits die original-chinesischen Konnotationen von 'Tao' weitgehend abschneiden. 119 Oder denken wir an das 'satori' im Zen, das gängigerweise mit 'Erleuchtung' übersetzt, damit jedoch eindeutig aus seinem originalen Verweisungszusammenhang gerissen und in einen ganz anderen, nämlich christlich-gnostisch inspirierten Verweisungszusammenhang gebracht wird. 120 Dennoch wäre es sinnlos, eine Übersetzung zu verbieten. Selbst wenn wir uns der Mühe unterziehen, die fremde Sprache ausreichend zu lernen, um sozusagen aus dem speziellen 'Sprachgeist' heraus die dortigen Mystiktexte zu interpretieren, so können wir unser bisheriges Verständnis ja doch nicht einfach überspringen. Jedes Lernen einer neuen Sprache ist eine Neuadaptierung jener Semantik, über die wir vermittels bereits gegebener Kenntnis von Sprachen verfügen. Spracherwerb ist Transformation von Sprachbesitz. Dieser bietet — wie jede hermeneutische Voraussetzung — sowohl Hilfestellungen wie auch Hemmnisse dafür, sich den 'Geist' einer anderen Sprache verstehend anzueignen. Wer aber einzig die Hemmnisse im Auge hat, darf sich dem Lernprozeß erst gar nicht aussetzen. Das heißt: Die Übersetzung muß in ihrer Vorläufigkeit und Unvollkommenheit bewußt bleiben und kann das Studium der Originalsprachen und die lebensnahe Auseinandersetzung mit den Originalkulturen nicht ersetzen. Eine spezielle Phänomenologie z.B. des Taoismus oder Zen ist, wenn wir nur Übersetzungen kennen, ein unabdingbar dilettantisches Unterfangen. 121 Was aber Übersetzungen — mit ihrer Konfrontation von Leitbegriffen und Konnotationen — sehr wohl in die Wege leiten können, ist ein produktives Mit-, Zu- und Gegeneinander von Sprachen, Kulturen und Lebenswelten. So zeigt etwa die europäische Indienrezeption des 19. und 20. Jahrhunderts zwar eine Reihe von (mittlerweile identifizierbaren) Mißverständnissen und Fehlinterpretationen, doch wer wollte bestreiten, daß sie sowohl in ihrer Wirkung innerhalb Europas als z.T. auch in ihrer Rückwirkung auf Indien durchaus produktiv war. 122 Die Ausgangsthesen des kulturhermeneutischen Theoriediskurses — die These der Μc/zrtcommensurabi 1 ität und die These der problemlosen Kommensurabilität — können also beiseite geschoben werden. Sie stellen die extreme Vereinfachung zweier ineinander verschlungener und keineswegs einander ausschließender Aspekte der Interkulturalität dar: des Aspekts der Differenz und des Aspekts der Identität kultureller Semantiken. Sprachen, Kulturen und Lebenswelten — und damit auch: Mystikformen — sind mehr oder minder deutlich analog. Ihre Analogie räumt als Kommunikationsbedingung und Kommunikationseffekt beides ein: Verstehen und Mißverstehen. Was sich ergibt, ist teilweises Verstehen und — im Glücksfall — wechselseitige Anregung und Bereicherung. Die europäische Mystik eines Eckhart erhält durch den Vergleich mit der Sprachpraxis und den Denkfiguren des Zen schärfere Konturen — und umgekehrt. 123 Aber obwohl Eckhart und Zen in einigen — auch in seriösen — Untersuchungen in engste Nähe rücken, so läßt sich doch nur in einem sehr relativen Sinn behaupten, sie lehrten 'dasselbe'. 124 Sie lehren allenfalls Analoges. Dieses Analoge kann vor der Folie der prozessual-symbolisch-medialen Erfahrungstheorie strukturell dargelegt werden.

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Handlungskontext

Interkulturalität — in unserem Fall: der Vergleich kulturell unterschiedlicher Mystikformen — ist also zweifellos möglich. Sie ist freilich ambivalent, weil zugleich defizient und produktiv. Da es keine 'Sprache jenseits der Sprachen', keine 'Kultur jenseits der Kulturen' und auch keine 'Mystik jenseits der Mystikformen' gibt, sind stets die eigene Sprache, die eigene Kultur und auch die eigene — die in der uns primär geläufigen und uns primär bestimmenden Tradition vorfindliche — Mystik der nächstliegende methodische Ausgangspunkt für ein interkulturell orientiertes theoretisches Unternehmen. Unser Eurozentrismus ist also nur dann ein methodischer Fehler, wenn er eurozentrisch bleibt, wenn er Außereuropäisches entweder nicht wahrnimmt oder glaubt, über es ohne die Mühe verständigen Lernens — ohne die Mühe neuer FormSchließungen und eines 'Überholens' bislang erreichter Prägnanzen des Wirklichkeitsverständnisses — Bescheid zu wissen. Recht verstanden ist Eurozentrismus nichts anderes als eine mögliche Ausgangsposition für den interkulturellen Verständigungsprozeß, der nicht auf einer tabula rasa, sondern — um im Bild zu bleiben — an einem bereits reichlich gedeckten 'Kulturtisch' beginnt. Eurozentrismus wäre dann nichts anderes als die methodische Voraussetzung dafür, daß wir über ihn hinausgelangen können. Dieses Hinausgelangen ist kein schlechthinniges Verlassen, sondern besteht in Anschluß- und Übersetzungsleistungen gegenüber außereuropäischer Semantik. Man kann sagen, daß es außerhalb konkreter Kulturzusammenhänge keinen Symbolismus gibt. Scheint er kulturunabhängig — wie mathematische und naturwissenschaftliche Symbolismen —, so besteht diese Unabhängigkeit in einem Maximum an Transformierbarkeit und Transportierbarkeit zwischen unterschiedlichen Kulturen, sie bezieht sich aber niemals auf die historische Genese. Die Entstehung der von Religion emanzipierten Wissenschaft und Philosophie im antiken Griechenland ist ein griechisches Phänomen. Je weniger abstrakt und transformierbar ein Symbolismus ist, umso abhängiger ist er von einer speziellen Kultur: in seinen formalen Aufbauelementen, in seinem Medienbezug, in seinem Verweisungszusammenhang mit anderen Symbolismen, im Tempo und in der Art seiner Selbstverwandlung und seines prozessualen Fortschreitens. Offenkundig ist auch Mystik abhängig von einer speziellen Kultur. Doch sind Kulturen — und mutatis mutandis auch Mystikformen — analog. Daß der Mensch — d.h. der Mensch jeder Kultur — ein animal symbolicum sei, ein symbolisierendes Wesen, ist ein anthropologischer Leitgedanke, den wir im Blick auf außereuropäische Kulturen nirgendwo widerlegt, sondern immerzu nur bestätigt sehen. Daher können wir sagen: Es gibt analoge Mystikformen überall dort, wo der dafür nötige Reflexionsgrad erreicht wurde, daß Symbolismen sich als Symbolismen erkennen. Analogie bedeutet nicht nur Differenz, sondern auch Identität. Das hermeneutische Problem der Verständigung begleitet jede Kommunikation. Was bei einer Gegenüberstellung völlig verschiedener Sprachstämme (z.B. Chinesisch und Deutsch) ganz und gar offenkundig ist, wiederholt sich — wenngleich abgeschwächt — in der Gegenüberstellung nah verwandter Sprachen und — nochmal abgeschwächt — in der inneren Mehrsprachigkeit einer einzigen Sprache (Wandruszka). 125 Auch das Gespräch mit dem nächsten und vertrautesten Menschen enthält Verständnisse und MißVerständnisse, und letztere lassen sich niemals zur Gänze ausräumen, auch wenn die Situation eigens reflek-

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

tiert und auch wenn an ihr unermüdlich gearbeitet wird. Es ist schwierig und manchmal sogar unmöglich, in einer Sprache sich über Erfahrung, Rationalität und Mystik zu verständigen. Und daher darf es nicht verwundern, daß uns das Verständigungsproblem im intersprachlichen und interkulturellen Diskurs noch ungleich stärker und auffälliger begegnet.

3.4.2 Mystik und Stimmung: Die religiöse, künstlerische, wissenschaftliche und alltägliche Psyche Religion, Kunst, Wissenschaft und Alltag sind Lebensbereiche, die nicht nur eine je eigene Symbolik beanspruchen, sondern auch einen je eigenen Umgang mit dem Symbolischen. Sie erschließen, jeder für sich, die ganze Wirklichkeit des Denkens, Fühlens, Wollens und Erlebens. Dieses Erschließen ist, wie Heidegger überzeugend dargelegt hat, mit einer die Gesamtheit tragenden und von ihr getragenen Stimmung verbunden. 126 Stimmungen sind historisch und kulturell bedingt. Sie 'färben' ein Zeitalter, eine historische Gruppe und ein historisches Individuum. Sie erschließen und bestimmen — zwar nicht 'total', aber doch weitgehend — eine 'ganze Welt'. Nicht jedem der genannten Lebensbereiche ist allerdings von vornherein eine bestimmte Stimmung zuzuordnen. Die Religion ist nicht immer und durchgängig weitflüchtig und apokalyptisch gestimmt. Die Kunst ist nicht ständig heiter und verspielt, die Wissenschaft nicht immer ernst und logisch-konsequent, der Alltag nicht ausnahmslos leer, grau und phantasielos. Dennoch bilden sich in diesen Bereichen — zu bestimmten Zeiten, in bestimmten Gruppen und verkörpert durch bestimmte Personen — typische Stimmungslagen aus. Wenn irgendein Symbolismus als der letztgültige und welterschließende Symbolismus veranschlagt wird, breiten solche Stimmungslagen über das menschliche Dasein gewissermaßen ein Netz und einen Schleier aus, ziehen dieses Dasein in ihren Bann und beherrschen es. Stimmung kann gleichgesetzt werden mit lang anhaltendem Gefühl. Wenn ich an meine früheren Erörterungen zur Analyse des Gefühls anknüpfe, so ist Stimmung freilich kein Äußerliches, das uns einfängt und (fremd-)bestimmt, sondern sie ergibt sich — schon in der Weichenstellung der symbolischen Prägnanz — mit und aus dem Symbolismus selbst. Sie entsteht in und aus der indifferenten Anfangsgemeinschaft mit Wollen und Kognition. Erst als phänomenal und begrifflich ausdifferenzierte Größe kann sie als ein Selbständiges und Äußerliches empfunden werden. Wenn ein Symbolismus — ein religiöser, künstlerischer, wissenschaftlicher oder alltäglicher — in seiner Dynamik an die eigenen Symbolisierungsgrenzen und damit an den Punkt mystischer Erfahrung gelangt, intensiviert er auch die ihm zugrunde liegende und ihn begleitende Stimmung bis zu einem höchsten Punkt der Anspannung und 'Implosion' . Freude kann so zu namenlosem Glück gesteigert werden und gleichzeitig umkippen in unendliche Trauer, und es kann sich ein angespannter Schwebezustand von Freude und Trauer ergeben. Ernst kann sich steigern und umkippen in Heiterkeit, und

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Ernst und Heiterkeit können sich dann ineinander verschlingen. Liebe und Besorgtheit schlagen um in Gleichgültigkeit und schwingen gemeinsam mit dieser in einer paradoxoszillierenden Bewegung. Solchermaßen läßt sich die Gefühlsdimension der Mystik als Dimension der Stimmung beschreiben. Die Frage nach dem Zusammenhang von Stimmung und Mystik kann man von zwei Seiten her stellen: Erstens können wir fragen, in welchen Stimmungslagen Mystik entsteht, anders formuliert: welche Stimmungen Mystik begünstigen und welche sie nicht begünstigen. Zweitens können wir fragen, von welchen Stimmungen Mystik — wie sie bislang beschrieben wurde — begleitet ist. Was die zweite Frage betrifft, so habe ich sie bereits dort behandelt, wo eine Beschreibung und Erklärung des Gefühlsaspekts der Mystik vorgenommen wurde (3.2.3). Dabei war vor allem vom Gefühl der Liebe und der Harmonie, von Freude und Geborgenheit die Rede. Diese betreffen die unio und jene Gestimmtheit, die nachwirkend von ihr ausgeht. Der Weg hin zur unio hält allerdings ganz andere, sogar gegensätzliche Gefühle und Stimmungen bereit: Furcht und Schrecken, Verlassenheit und Todesnähe. Die Gesamtbeschreibung des mystischen Wegs zeigt, daß diese so unterschiedlichen Gefühle und Stimmungen in einem dynamischen Abfolgeverhältnis zueinander stehen. Die 'Leere' der purgatio-Stufe ist die Voraussetzung für die 'Fülle' der unio, die Dissonanz und der Schmerz der Vielheit sind die Voraussetzung dafür, um darauffolgend Harmonie und Freude der Einheit zu erfahren. Allerdings sind Harmonie und Freude in einer Weise gesteigert, daß sie auch ihre bisherigen Gegensätze in sich aufgenommen haben. Dadurch entsteht eine Zusammenballung symbolischer Energien, die — auf dem Punkt höchster symbolischer Anspannung — zu einer 'Implosion' führt, zu einem vorübergehenden und unkontrollierbaren Selbst-Zerbrechen des Symbolischen. Im Hinblick auf die Frage nach den Stimmungen, die die Mystik begleiten, läßt sich sagen, daß es sich um die Skala einer ganzen Reihe von Stimmungen handelt, die insgesamt eine Funktion der Kontrastierung und der Komplexitätsstiftung erfüllen, die auf der Peripetie ihrer Dynamik jedoch in eine Meta-Stimmung besonderer Art münden. Es ist die Stimmung des 'erfüllten Schweigens', aber auch der über sich selbst hinausweisenden Rede, die die Möglichkeiten und Gegensätze jeglicher Rede in sich aufgenommen hat und mitträgt. Gerade hier scheint es aber sinnvoll zu sein, terminologisch eine Unterscheidung zwischen Stimmung und Gefühl zu treffen. Die 'Stimmung der Peripetie' ist eine Stimmung, die sich aufgrund ihrer maximalen Anspannung und Steigerung und aufgrund ihres totalen Synthese-Versuchs aller Stimmungen — die nicht in einen 'stimmungslosen Grund' zurückzunehmen sind, die sich aber genauso wenig in eine 'oberste Stimmung' integrieren lassen — nicht durchhält. Es ist eine Stimmung, die 'implodiert' und zusammensackt. Es ist ein 'Spitzenerlebnis' (peak experience), das eher als Gefühl oder — noch besser — als Affekt charakterisierbar ist.127 Wenn wir den Ausdruck Stimmung auf die Bedeutung von 'anhaltendem Gefühl' festlegen, wäre also das Gefiihl oder der Affekt der unio von den Stimmungen zu unterscheiden, die vor ihr liegen und die, von ihr beeinflußt und 'grundgestimmt', ihr folgen. Damit ist freilich die zuerst gestellte Frage noch offen, unter welchen Stimmungen sich Mystik eher entwickelt und unter welchen nicht. In diesem Zusammenhang ließe

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

sich von 'kulturellen Stimmungen' sprechen. Die neuzeitlich-moderne Kultur Europas steht z.B. weitgehend unter der aktivistisch-optimistischen Stimmung des technisch-materiellen Aufbruchs. Sie konzentriert sich auf praktische Ziele gegenständlicher Herstell- und Beherrschbarkeit und versteht Theorie nicht in der alten Bedeutung von theoria, der gemäß es sich um Kontemplation und 'reines' Denken handelt, sondern in der modernen Bedeutung einer die technische Praxis fundierenden und sie begleitenden abstrakten Modellbildung. 128 In dieser modernen Kultur begreift sich das menschliche Symbolisieren entweder — in der älteren naturwissenschaftlichen Weltauffassung — als Rekonstruktion des materiell Gegebenen oder — in Folge der neueren Grundlagenkrisen in Mathematik, Physik und Biologie — als artifizielles Strukturieren eines subjektiv-transzendentalen Weltzugriffs. Während es in der älteren naturwissenschaftlichen Weltauffassung — paradigmatisch bei Leibniz, Kepler und Newton — noch um die letztgültige Erforschung des quasi-religiösen Geheimnisses der Natur geht, versteht sich die spätere und heutige Naturwissenschaft nur noch als ein nüchternes Experimentieren und Problemlösen — eine Haltung, die auch von Geistes- und Sozialwissenschaften und weitgehend auch von Politik und Alltag übernommen worden ist. Die 'Stimmung einer Kultur' bestimmt sich also von ihrer tatsächlichen Praxis und von den damit verknüpften Erwartungen her. Wenn der Umgang mit Werkzeugen und Begriffen — mit Symbolisierungen also — in seinen Zielen so klar definiert und selbstverständlich ist wie in der modernen technischen Kultur, kommt es nicht ohne weiteres zu einer grundsätzlichen Problematisierung der Werkzeuge und der Begriffe 'als solcher und insgesamt'. Aktuell wird die Problematisierung meist nur in den Krisen dieser Kultur, in denen entsprechende Selbstbesinnung geübt wird. Für Europa bezeichnen die Romantik, die Lebensphilosophie und die Postmoderne solche Krisen, die zugleich Besinnungsphasen über den prinzipiellen Gestus der eigenen Kultur sind. Diese Besinnungsphasen, in denen die oberflächlich-optimistische Grundstimmung umschlägt, sind auch die Konjunkturphasen der Mystik — der 'seriösen' genauso wie der 'dummen' Mystik. Es sind zugleich auch die Phasen, in denen sich das europäische Denken anderen — insbesondere den ostasiatischen — Kulturen zu öffnen und deren (in der Rezeption dann freilich vielfach stilisierte und verfälschte) 'Grundstimmung' als kulturelle Alternative zu erwägen sucht. Ohne in die bekannten — und bekannt falschen — groben Klischees von 'Kulturtypen' zu verfallen, kann doch festgehalten werden, daß bestimmte außereuropäische Kulturen insgesamt von einer anderen Grundstimmung geprägt sind als Europa. Sie sind geprägt von einem Kunst- und Philosophieverständnis, das nicht nur der Religion, sondern auch der Mystik nähersteht. Es ist ein Verständnis, das nicht sosehr in äußerlichtätiger Perspektive, sondern in innerlich-kontemplativer Weise dem Problem der Symbolisierung nachgeht. Daß die fernöstliche Mystik im Vergleich zur europäischen das 'mystische Prinzip' — die beabsichtigte Rücknahme aller Symbolisierung — viel grundsätzlicher und differenzierter zur Darstellung bringt, ist möglicherweise nicht nur ein Topos, sondern könnte sich — in der Durchführung einer Phänomenologie konkreter ostasiatischer Denkformen — bestätigt sehen.

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'Ethos': Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext

Mystik vollzieht sich, so können wir resümieren, in Stimmungen und als Stimmung. Die Grundstimmung einer Kultur — aber auch die Grundstimmung eines Kulturbereichs, z.B. des religiösen, philosophischen, künstlerischen oder alltäglichen Bereichs — kann der Mystik förderlich oder hinderlich sein, kann sie begünstigen oder auch nahezu verunmöglichen. Es hängt davon ab, ob die Stimmung die Selbstreflexivität des Symbolisierens fördert und wie sie sie fördert. Der Alltag beinhaltet in der Regel die selbstverständliche und auch weitgehend triviale Reproduktion all unserer Lebensverhältnisse, insbesondere der materiellen Subsistenz. Hier ist wenig Veranlassung, Symbolisierungen zu hinterfragen. Religion, Kunst, Philosophie und Wissenschaft — sofern letztere den Blick von ihren praktisch-technischen Zielen zurücklenkt auf den Grundlagenbereich ihrer symbolischen Prägnanzen — bieten sich eher als Bereiche an, in denen Symbolskepsis und Mystik gedeihen können. Symboloptimismus, Symbolroutine und Symbolskepsis sind in gewisser Weise selbst Stimmungen. Die Art des Selbstverständnisses des Symbolisierens ist — wenn wir der anthropologischen Leitvorstellung des Menschen als animal symbolicum folgen — die Art des menschlichen Welt- und Eigenverständnisses. Die Stimmung, die mit Symbolgebrauch und Symbolauffassung verknüpft ist, ist demnach auch die Stimmung, die zur Möglichkeit von Mystik hin- oder von ihr wegführt.

3.4.3

Mystik und Heilserwartung: Affinität zur Gnosis

Mystik kann den, der sie erfährt, unvorbereitet 'überfallen'. Er sieht dann sich und die Realität, in der er steht, 'verwandelt' im Sinn einer zuvor nicht gekannten Erfüllung, Harmonie und Authentizität. Das Moment der Überraschung und Nichtvorbereitetheit verbürgt — zumindest subjektiv — in besonderer Weise die Realitätsbezogenheit des mystischen Erlebnisses, das nicht ohne weiteres als bloße Projektion vorhandener Wünsche und als bloßes Phantasieprodukt abgetan werden kann. Der Erfahrende hat zuvor — zumindest bewußt — nichts derartiges erwartet und erhofft. Wer hingegen bereits von der Möglichkeit mystischer Erfahrung weiß oder selbst auf ein oder mehrere solcher Erlebnisse zurückblicken kann, bildet zwangsläufig eine — mehr oder minder bewußte — Erwartungshaltung aus. Er will zu neuen mystischen Erlebnissen kommen, und selbst wenn er sich darüber im klaren ist, daß sie nicht verfügbar und herstellbar sind, sucht er sie doch — durch Berücksichtigung jener Faktoren, die sie offensichtlich begünstigen — herbeizufuhren. Solche Faktoren sind die bekannten Techniken der Konzentration, Kontemplation und Meditation, in denen man sich vom Zweck- und Gegenstandsdenken zu lösen und für eine 'andere' Erfahrung empfänglich zu machen sucht. Es wäre nun freilich nicht sinnvoll zu leugnen, daß es auch unbewußte Erwartungen gibt und daß eine Grenzziehung zwischen bewußtem und unbewußtem Willen stets problematisch bleibt. Ohne daß diese Grenze genau zu bestimmen wäre, indiziert sie dennoch die Unterscheidung zweier Typen von Erwartungshaltung. Wer von der mysti531

Grundzüge einer Theorie der Mystik

sehen Erfahrung 'überfallen' wird, kann sicher sein, daß er sie nicht selbst willentlich herbeigeführt hat. Wer hingegen bewußt auf sie hofft, für den ist es eine naheliegende Versuchung, über sie zu reden, sie zu verbegrifflichen und sie praktisch herbeiführen zu wollen. Während der 'Überfallene' vermehrt der Gefahr ausgesetzt ist, seine nunmehrige Erfahrung völlig inadäquat zu interpretieren, da er ihren Zusammenhang mit seiner früheren, gewohnten Erfahrung nicht herzustellen weiß, ist der 'Vorbereitete' vermehrt der Gefahr ausgesetzt, die Mystik in ihrem Unverfügbarkeitscharakter zu mißachten, aber auch der Gefahr, das Ziel der Mystik mit anderen Zielen des menschlichen Lebens zu vermengen und sich so eine hybride Zielvorstellung zurechtzulegen. Eine solch hybride Zielvorstellung scheint in den verschiedenen Formen der Gnosis vorzuliegen. Diese ist von der Struktur der Mystik zu unterscheiden und in ihrem Verhältnis zur Mystik zu bestimmen. Mystik habe ich dargelegt als den Versuch, die menschliche Grundtätigkeit des Symbolisierens zurückzunehmen, diese Rücknahme jedoch in einer umfassenden und höchsten Form-Schließung zu symbolisieren. Es ist ein Versuch, der mit einem Maximum emotionaler Anspannung verbunden ist und sich nur auf einem 'Erlebnispunkt' scheiternd realisiert. Das Paradox der 'scheiternden Realisierung' läßt sich paradoxfrei verstehen, wenn wir die mystische Erfahrung nicht als 'Handlungsblock' mit den Koordinaten der vorhergehenden Zielsetzung, der Mittel wähl und der Zielerreichung bzw. -Verfehlung interpretieren, sondern als 'Handlungsgeschichte': d.h. als einen Prozeß, dem nicht eine statische Struktur zugrundeliegt und von der er determiniert ist, sondern in dessen Verlauf sich eine dynamische Struktur historisch-kontingent ergibt. In dieser Perspektive ist Mystik nicht — und braucht es auch nicht zu sein — eine gegenständlich fixierbare Gestalt, sondern eine aus dem Symbolisieren selbst sich ergebende Bewegung. Es ist eine Bewegung, die zwar nicht geschichtsunabhängig entstehen und verlaufen kann — denn alles Symbolisieren geschieht im historischen Raum und schafft selbst gewissermaßen erst die Konturen von Geschichte —, die aber jede menschliche Kultur und Geschichte begleitet und (in diesem abstrakten Sinn) 'geschichtsunabhängig' ist. Sie ist also auch nicht an die Konzeption einer 'Weltgeschichte' gebunden. Eben diese Bindung an eine Konzeption der 'Weltgeschichte', die auf ein Ziel zustrebt, das nur durch Kampf und Entscheidung und durch ein 'höheres Wissen' über die adäquaten Mittel und Strategien dieses 'Weltkampfes' zu erreichen sei, charakterisiert jedoch die Gnosis. Was die Gnosis mit der Mystik teilt, ist die Skepsis gegenüber den gewohnten Weisen des Weltbezugs: in beiden Fällen wird unser 'normales' Wissen als unzureichend oder falsch klassifiziert. Gemeinsam ist ihnen zweitens die Überzeugung, daß das alternative 'höhere' Wissen ganz oder teilweise ein Werk der 'Gnade' sei, d.h. daß es sich niemals allein menschlichem Willen und menschlicher Absicht verdankt. Eine dritte Gemeinsamkeit besteht darin, daß Mystik und Gnosis sich von einem Wandel des Denkens und der Erfahrung jene Verwandlung von Mensch und Gesamtwirklichkeit erhoffen, die mit dem Ausdruck metanoia bezeichnet werden kann und worin Disharmonie in Harmonie sowie Entfremdung in Authentizität umschlägt. Neben diesen drei Gemeinsamkeiten von Gnosis und Mystik treffen wir aber auf Unterschiede, die bei genauerem Hinsehen auch die genannten Gemeinsamkeiten diffe532

'Ethos': Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext

rent akzentuieren und die es erlauben, bei Gnosis und Mystik (a) von unterschiedlichen Phänomenen und (b) von der Möglichkeit zu sprechen, daß Mystik der Fehldeutung einer 'gnostischen Selbstinterpretation' erliegen kann. Zur differenten Akzentuierung der drei Gemeinsamkeiten: Gnosis will die 'normale' Erfahrung gänzlich überwinden und einen bleibenden Zustand, eine bleibende WirklichkeitsVerfassung anderer Qualität herstellen und sichern. Mystik dagegen — es sei denn, sie erliegt einem gnostischen SelbstmißVerständnis — erreicht die 'andere Qualität' des Wissens und Erfahrens nur punktuell. Das Bisherige ist nicht auch schon von vornherein das Schlechte, sondern allenfalls das weniger Gute und das Vorläufige, das man zwar punktuell überwinden kann, zu dem man möglicherweise aber auch wieder rhythmisch zurückkehren muß. Mystik schließt die Möglichkeit einer Verfügbarkeit und Herstellbarkeit des 'anderen Zustands' völlig aus, während die Gnosis dem Paradigma der Machbarkeit um vieles nähersteht und sich sogar ganz diesem Paradigma verpflichten kann. Dies aber hat für die Auffassung der metanoia zur Konsequenz, daß sie eben 'machbar' und durch Kampf, Mittelwahl und Planung erreichbar sei. Damit verschreibt sich die Gnosis — im Gegensatz zur Mystik — einer vergegenständlichenden, voluntaristischen und kausal-teleologischen Denkweise. 'Gnostische Gelassenheit' und 'gnostische Kategorienverneinung' sind, so gesehen, unmöglich. Statt einem Sich-Überantworten an ein mögliches unverfügbares Wissen, das in der Mystik stattfindet, tritt ein überzogener, rein voluntativer Anspruch auf 'höheres (Macht-)Wissen' und auf ein damit verbundenes 'praktisches Heil'. Das neue Wissen soll alle Probleme im universalen Maßstab ein für alle Male lösen. Gnosis ist also ein utopisch-normatives Denken, nicht, wie die Mystik, der Vollzug einer beschreibbaren tatsächlichen Erfahrung. Daher ist Gnosis auch — im Gegensatz zur Mystik — ein besonders günstiger Nährboden für Ideologie. Doch der Ausgangspunkt der mystischen Erfahrung ist, wie gesagt, eng mit den Entstehungsbedingungen der Gnosis verschränkt, und die mystische Erfahrung kann sich — als eine mögliche Interpretation ihrer selbst — als Gnosis mißverstehen. Sie kann gnostisch werden, muß es aber nicht. Die mit der Gnosis verbundene Grundstimmung — daß 'diese' Welt nichts und eine 'andere' Welt alles bedeute — kann zu einem mächtigen Stimulans dafür werden, sich auf den mystischen Weg zu begeben. Mystik muß sich wieder in die gegenständlich-kategoriale Welt zurückbegeben. In Erinnerung an das mit der Mystik verbundene 'Spitzenerlebnis' kann sich das kategoriale Denken dazu verleitet sehen, seinen Sinn in den — utopisch bleibenden — Versuch der Herstellung eines realen Bedingungsgefüges zu setzen, das die Erlebnisspitze in ein bewohnbares Erlebnisptoeaw verwandeln soll. Hier können dann auch Gnosis und Magie besondere Synthesen eingehen. Das Problem der möglichen 'Gnostifizierung' von Mystik ist also mit dem Problem der Interpretation der mystischen Erfahrung und mit dem Problem der mit der Mystik verbundenen Notwendigkeit einer 'Rück-Vergegenständlichung1 und 'Rück-Kategorialisierung' verbunden. Es ist ein naheliegender Gedanke, die metanoia vom Individuum auf eine ganze Gruppe, auf die ganze Menschheit, die ganze Geschichte und ganze Natur und zuletzt auf den Totalbegriff der Wirklichkeit als solcher auszudehnen. In der Mystik, die alle begrifflichen Unterscheidungen auflöst, findet diese Entgrenzung der 533

Grundzüge einer Theorie der Mystik

metanoia ja auch tatsächlich statt — allerdings nur auf einem vergänglichen 'Punkt', nicht auf der konzipierten Breite eines tatsächlichen historischen Zustands. Individuum, Gruppe, Menschheit, Geschichte, Natur und Seinstotalität sind in der Mystik FormSchließungen, die gleichzeitig mit ihrer Symbolisierung — besser: mit dem Versuch ihrer Symbolisierung — auch schon wieder zerbrechen. In der Gnosis hingegen werden sie zu Entitäten stilisiert, mit denen entweder der Mensch selbst oder Gott oder das Schicksal 'rechnet', sie 'einsetzt' und 'manipuliert'. Die gnostische Wirklichkeit ist ein universal gedachter 'Handlungsblock', nicht eine universal gedachte 'Handlungsgeschichte' .

3.4.4

Mystik und Handeln: Quietismus, Askese, Nekrophilie

Ich habe Mystik als eine Erfahrung bestimmt, die nicht nur in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen begegnet, sondern sich im konkreten Fall auch mit unterschiedlichen praktischen Konsequenzen verbindet. Alle geläufigen Behauptungen, Mystik führe generell zu Passivität und Weltflucht und/oder zu Institutionenfeindlichkeit und Individualismus, können durch Beispiele untermauert, aber auch durch Gegenbeispiele entkräftet werden. Vor allem die für das christliche Mittelalter und die katholische Gegenreformation repräsentativen Mystiker — wie Bernhard von Clairvaux und Meister Eckhart oder Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz — sind kirchliche Reformatoren und 'Tatmenschen'. Sie sind keineswegs Vertreter und Verfechter einer 'vita contemplativa', sondern ganz ausdrücklich einer 'vita mixta': Kontemplation ist ihnen eine Kraftquelle auch für praktisches Handeln. Der Institution Kirche stehen sie zwar kritisch gegenüber, nicht aber feindlich — nicht einmal indifferent, denn ihre Reformabsichten gelten einer Stärkung dieser Institution. Es geht allerdings nicht um eine Stärkung als Selbstzweck und um jeden Preis, sondern um die Perspektive einer 'Reinigung' der Institution und einer Konzentration auf ihre 'eigentlichen Aufgaben'. Die Kirche und ihre Lehre sind für diese Mystiker jener theoretische und praktische Symbolismus, der die mystische (Glaubens-)Erfahrung in ihrer besten und höchsten Gestalt ermöglicht — eine Einschätzung, der konfessionsfreie und säkulare Mystiker natürlich nicht mehr folgen können. Ebenso stellt jene klassisch-christliche Interpretation der Mystik, der gemäß sie eine diesseitige Antizipation des jenseitigen Himmels sei, eine spezielle und konkret-geschichtliche Selbstdeutung dar, die nicht dem Abstraktum der 'Mystik als solcher' zukommen kann. Auf eher institutionsfeindliche Züge treffen wir allerdings bei Teilen der protestantischen und indischen Mystik. In einer reinen vita activa ist Mystik — es sei denn als folgenloses und unverstandenes Augenblickserlebnis — nicht möglich. In einer reinen vita contemplativa kann sie dann allerdings zu Quietismus und Weltflucht hinführen. Sie vermag aber, wie gesagt, auch eine koordinierende und harmonisierende Rolle in einer vita mixta zu spielen. Es ist also nicht die mystische Erfahrung als solche, die zwangsläufig zu diesem oder 534

'Ethos': Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext

jenem langfristigen Weltverhalten und zu dieser oder jener praktischen Grundeinstellung hinführt, es kommt vielmehr darauf an, in welchem Zusammenhang sie interpretiert und ob diese oder jene Interpretation zum Ausgangspunkt für lebenspraktische Entscheidungen gemacht wird. Mystik bedeutet Einsicht in den zerbrechlichen Symbolcharakter all unseres Erkennens, Handelns und Fürwahrhaltens — eine Einsicht, die im weiteren Erfahrungsverlauf verzerrt und verschüttet werden kann. Daher kann selbst noch die rasende Bewegung einer reinen vita activa zur praktischen Konsequenz von Mystik werden — dann nämlich, wenn 'gnostisch' interpretiert wird und sich der Mensch tatendurstig in den 'universalen Schicksalskampf' stürzt. Auch bei mystischer Askese und mystischer Nekrophilie, die oft — und es gibt dafür anschauliche Beispiele in der Mystikliteratur — als von Mystik unabtrennbar angesehen werden, handelt es sich um kontingente Synthesen. Die für jegliche Mystik unabdingbare 'Reinigung' muß nicht mit Askese identifiziert werden. Es geht um das Gleichgültigwerden von Ich, Wille, Zielsetzung und Kategorialität, nicht darum, das dergestalt Gewohnte substantiell nicht mehr zu denken und nicht mehr zu tun. Es geht um das Wie des Weltbezugs, nicht um das Was. (Das Was verwandelt sich dann freilich qualitativ durch das Wie.) In der mystischen Abkehr von 'Welt' und 'Leben' geht es inhaltlich nicht zwangsläufig um eine Abwertung und Beendigung sogenannter weltlicher Geschäfte und/oder — wie allerdings bei Schopenhauer — um ein Ende des organischen und individuellen Lebens. Es geht grundsätzlich nur um die Anerkennung einer 'anderen Welt' und eines 'anderen Lebens'. Demgemäß werden jedenfalls die Metaphern 'Tod' und 'Leben', ob sie nun der konkreten lebensweltlichen Bedeutung dieser Ausdrücke ferner- oder näherstehen, austauschbar. Dennoch zeigen manche mystischen Konzeptionen — und hier ist noch einmal Schopenhauer zu nennen — eine geradezu nekrophile Einstellung.129 Für Schopenhauer ist sowohl der Wille wie das kategoriale Bedingungsgefüge — Raum, Zeit und Kausalität — das 'principium individuationis', das auch das Prinzip des Lebens ist. Leben, Wille, Kategorialität und Individualität bedingen einander, und keine dieser Bestimmungen kann aus diesem Ensemble herausgenommen werden. Das Ensemble bedeutet aber — innerhalb seiner Struktur — nur Entfremdung, Torheit und Leiden. Indem sich der Intellekt jedoch aus dem 'Dienst am Willen' befreien und besagtes Ensemble transzendieren kann, ist Erlösung möglich. Diese Erlösung — Schopenhauer rekurriert ausdrücklich auf den Begriff der metanoia — ist eine Erfahrung und ein Wissen, das Leiden, Torheit und Entfremdung aufhebt, aber auch das Ensemble von Individualität, Kategorialität, Wille und Leben. Askese ist einer der Schritte zu solcher Aufhebung des Lebens. Sie ist bei Schopenhauer nicht das Plädoyer für ein genügsames und weises Leben130, sondern ein Plädoyer für den realen Tod. Der Tod ist freilich kein absolutes, sondern ein relatives Nichts. Es geht um eine Umkehrung der Vorzeichen. Schopenhauer postuliert ausdrücklich, daß das Leben nicht gelebt werden sollte. Wenn er den Selbstmord ablehnt, dann nur deshalb, weil dieser die Entwicklung des Intellekts hin zur erleuchteten Selbstverneinung durch einen gewaltsam-voluntativen Akt unterbricht. Es ist also die Vorstellung eines zu Ende zu führenden Reifungsprozesses, dem er in seiner Ablehnung des Selbstmordes folgt. Seine — christlichen Motiven entstammende

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

und durch fernöstliche Motive bestätigte — Nekrophilie ist offenkundig. Der mystische Akt der Selbstverneinung des Willens antizipiert für ihn nicht nur metaphorisch, sondern ganz konkret den leiblich-organischen Tod. In dieser Haltung fühlt sich Schopenhauer der Leib- und Lebensfeindlichkeit des (von ihm so bezeichneten) 'wahren Christentums' verwandt. 131

3.4.5

Mystik und Geschichte: Kritik des Neuplatonismus

Die Fragen nach dem Zusammenhang von Mystik mit Kultur, Stimmung, Erwartung und Handeln lassen sich in die Frage bündeln, wie denn letztlich das Verhältnis von Mystik und Geschichte zu bestimmen sei. Der Topos, Mystik sei 'allen Zeiten und allen Völkern gemeinsam' und daher un- und übergeschichtlich, ist genauso leer und nichtssagend und im Grunde unrichtig wie der Topos von den angeblich 'ewig gleichen Fragen der Philosophie' oder wie die Behauptung, die Geschichte wiederhole sich ständig in gleicher Weise, denn sie habe es immer mit Menschen und ihren Handlungen zu tun. Die Menschen und ihre Handlungen, ihre Philosophie und ihre Mystik machen in der Entwicklung über historische Zeiten und kulturelle Räume hinweg, auch wenn man tatsächlich zahllose Wiederholungen und Ähnlichkeiten einräumt, eben doch auch deutlich registrierbare Veränderungen durch, wenngleich diese oft langsam und beinah unmerklich vonstatten gehen. Lange Zeit wirksame und gepflegte Traditionen erwecken zwar den Anschein, sie wären 'ewig' oder sie beinhalteten zumindest ewige Fragen, Problemstellungen, Erfahrungen, Einsichten und Antworten. Doch bricht eine solche Einschätzung der menschlichen Kultur bei näherem Hinsehen in sich zusammen. Ruhe und Konstanz scheinen nur Grenzphänomene der für alle Wirklichkeit — für die geistige und materielle, naturhafte und geschichtliche — konstitutiven Struktur der Bewegung und der Veränderung zu sein. Manche kulturellen Phänomene muten zwar äternalistisch an, doch ist es sachgemäß, sie als 'relativ ewig' bzw. als 'langzeitlich' zu klassifizieren. Das gilt auch für jene Mystiktraditionen, die ihre Referenzautoren und -texte in historisch fernen Zeitaltern finden und auf eine lange geistesgeschichtliche 'Identität' ihrer Grundannahmen und zentralen Motive zurückblicken. Die prozessual-symbolisch-mediale Erfahrungstheorie, die die Folie für unsere Mystiktheorie bildet, läßt alle klassischen Vorstellungen über statische, mit sich selbst uneingeschränkt identische Strukturen — Strukturen sowohl der Wirklichkeit als solcher wie auch Strukturen des menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens — obsolet erscheinen. Die Wirklichkeit und unsere Erfahrung sind — oft in unterschiedlichem Tempo und in unterschiedlicher Konsequenz, aber unabdingbar — dynamisch. Was ist, das ändert sich auch, und das Moment der Beharrung, der relativen Identität, ergibt sich nur in den Perspektiven oder Form-Schließungen, die ein autopoietisches System im Zuge seiner Dynamik einerseits selbst vornimmt und die andererseits auch von außen, von möglichen Betrachtern her, vorgenommen werden. Daher sind der 'Fluß' der Wirklichkeit und die 'Gestalten' seiner Selbst- und Fremdrepräsentation keine 536

'Ethos': Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext

einander ausschließenden Gegensätze — ein Topos, der sich geistesgeschichtlich im Streit zwischen den Vertretern der herakliteischen und eleatischen Schule herausgebildet hat —, sondern komplementäre Beschreibungsmomente 'dessen, was ist'. Symbole — die Elemente materiell abgesicherter Form-Schließungen — sind genauso wenig statisch wie die Realität, auf die sie sich beziehen. Die klassische Metaphysik — in ihrem Ausgang entweder von Piaton oder von Aristoteles und in ihrem Abzielen entweder auf Ideen oder auf Substanzen als letzte Elemente der Wirklichkeit — war weitgehend diesem statischen Realitätsmodell verpflichtet132, genauso wie auch noch die klassisch-neuzeitliche Wissenschaft. In diesem Zusammenhang wurden Rationalität und Erfahrung im Sinne der statischen Grundorientierung stilisiert und interpretiert und dabei, wenn wir die Prozeß- und Symboltheorie zum Maßstab nehmen, mißverstanden. Unter autopoietischer Perspektive kann man auch sagen: Rationalität und Erfahrung haben sich selbst in dieser Weise stilisiert, interpretiert und mißverstanden. Es ist kein Wunder, daß sich auch die mystische Erfahrung unter solchen historischen Bedingungen weitgehend statisch stilisiert, interpretiert und mißverstanden hat. Ein statisches Grundmißverständnis liegt nicht nur im reinen Eleatismus vor, der Bewegung, Veränderung und Geschichte in so offensichtlich widerlegbarer Weise leugnet, sondern auch in den meisten Syntheseversuchen von 'Fluß-' und 'Gestalt'Perspektive, wo Dynamik gegenüber dem Statischen zwar als zusätzliches, nicht aber als gleich-ursprüngliches Moment mit eingebracht wird. Dies gilt für Piatons Dialektik genauso wie für die hegelsche (auch wenn man in beiden Konzeptionen das Bewegungsmoment interpretatorisch dem Gestaltmoment überordnen kann; insgesamt scheint doch letzteres zu dominieren). Das statische GrundmißVerständnis liegt aber offenkundig auch — und damit sind wir bei der geschichtlichen Interpretation und Selbstinterpretation der abendländischen Mystik — dem Neuplatonismus zugrunde. Auch wenn, diesem gemäß, die Wirklichkeit stets in Bewegung ist, indem sie vom 'Einen' weg- und wieder zu ihm hinführt, so schaffen doch — primär — dieses 'Eine' selbst und — sekundär — seine 'Stellvertreter' im Prozeß, die zahlreichen Hypostasen, eine Dominanz des statischen Moments gegenüber dem dynamischen. Nicht der Weg, sondern das Ziel wird als Wert veranschlagt, und das Ziel ist die 'Einung'. Der Neuplatonismus ist also ein religiös-philosophischer Symbolismus mit einem Relevanz- und Wertgefälle, aufgrund dessen das Eine gegenüber dem Vielen, das Spirituelle gegenüber dem Materiellen und das Ewige gegenüber dem Zeitlichen klar bevorzugt wird, auch wenn der jeweilige Zweitbegriff in diesen drei Begriffspaaren nicht — wie in der Gnosis — völlig abgewertet und zum Objekt einer geplanten Vernichtungsaktion erklärt, sondern als Möglichkeitsbedingung für den jeweiligen Erstbegriff relativ gerechtfertigt wird. 133 Die statische Interpretation und Selbstinterpretation von Erfahrung, Rationalität und Mystik ist freilich — das muß gegenüber der philosophischen und mystischen Tradition in ihren faktischen Gestalten eingeräumt werden — kein durchgängiger, eindeutiger und ausschließlicher Charakterzug. Es ist vielmehr eine deutlich vorherrschende Tendenz, die sich, wenn Interpretationen und Selbstinterpretationen zwischen einem dynamischen und einem statischen Verständnis oszillieren, immer wieder durchsetzt. Selbstverständlich gibt es in den alten Texten genügend Antizipationen eines prozessual-sym-

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

bolischen Verständnisses von Erfahrung. Die Grundstimmung und Grundhaltung der abendländischen Kultur ist aber — bis herauf gegen Ende des 19. Jahrhunderts und vielfach auch noch späterhin — eine, wie Nietzsche, Heidegger und Derrida richtig diagnostiziert haben, Stimmung und Haltung programmatischer Sekurität. Man will sich an Fixierungen orientieren, man will sie schaffen oder zumindest verteidigen. Der Grund hat Priorität gegenüber dem Abgrund, das Sein gegenüber dem Werden. Man könnte dabei wohl auch von — psychologisch durchaus verständlichen und vielfach rechtfertigbaren — Altlasten und Atavismen einer archaischen Kulturnorm sprechen, die weit bis in die Moderne herein nachwirkt. Die offensichtliche Ambivalenz der modernen Kultur — ihre Öffnung für die dynamisch-abgründige Perspektive von Rationalität und Erfahrung einerseits, ihr Bemühen um die Sicherung und Verteidigung alt-neuer Fixierungen andererseits — prägt offensichtlich auch die Ambivalenz der Rolle, die die Mystik — ihre Erfahrung, das Sprechen über sie, ihre Einordnung und Bewertung — in dieser Kultur spielt. Einerseits wird das skeptische Potential der Mystik vielfach aktiviert und begrüßt, andererseits wird aber eben dieses skeptische Potential auch mißtrauisch betrachtet und des schrankenlosen, destruktiven Relativismus verdächtigt. Was das spekulative Potential der Mystik betrifft, so wird es einerseits als eine mögliche Neufundierung von Wissen und Weltverhalten betrachtet, andererseits als unrealistisch und die theoretisch-wissenschaftlichen Standards der Moderne unterlaufend denunziert.134 Unter den relativen Zwängen solcher Beurteilungsmuster kommt es natürlich auch zu unterschiedlichen und z.T. fragwürdigen Selbstrepräsentationen der Mystik. Eine der verbreitetsten dieser Repräsentationen ist die — bei Huxley genauso wie bei Albert noch deutliche135 — enge Anlehnung oder gar Identifizierung mit dem neuplatonischen Realitätsmodell: das Selbstmißverständnis, Mystik sei die Ausdrucksform einer ahistorischen 'ewigen Wahrheit'. Aber Mystik ist — wie alle anderen Gestalten von Erfahrung und Rationalität — eine historische und veränderliche Größe. So wie die 'Identität' zeitgenössischer mystischer Erfahrungen in einer Kultur und die 'Identität' der Mystikformen in verschiedenen zeitgenössischer Kulturen immer nur Analogien darstellen (also: keine Identitäten im Vollsinn des Wortes), so trifft dieses Analogieprinzip auch für die Mystik verschiedener Zeiten zu. Was für den synchronen Querschnitt gilt, gilt auch für den diachronen Längsschnitt. Nur in einem sehr eingeschränkten Sinn läßt sich von einer 'gleichen Botschaft' des Hier und Dort, des Gestern und Heute sprechen. Die Botschaft ist erstens inhaltlich nicht gleich, weil Mystik in religiösen und außerreligiösen Kontexten auftritt. (Und selbst wenn man sie auf Religion beschränken wollte, ist offenkundig, daß eine Religion sich im Lauf ihrer Geschichte sehr verändern kann und daß verschiedene Religionen zumeist auch verschiedene Orientierungen und Fixierungen ausbilden.) Die 'Botschaft der Mystik' ist zweitens aber auch formal nicht immer die gleiche, weil in der Regel kein Symbolismus — als dessen Radikalisierung, Destruktion und Neuverwandlung sich Mystik ja vollzieht — in Aufbau, Bewegung und Selbst(miß-)verständnis völlig dem Muster anderer Symbolismen folgt. Freilich wäre es wiederum übertrieben, so wie der Dekonstruktivismus von schlechthinniger Nichtidentität zu sprechen: es geht vielmehrum 'relative Gleichheit' und 'relative Andersheit'.

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'Ethos': Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext

3.4.6

Gibt es eine 'lebensgerechte' Mystik?

Was Mystik jeweils ist bzw. als was sie betrachtet wird, steht im Konnex mit dem, was Rationalität und Erfahrung jeweils sind bzw. als was sie betrachtet werden. Keine der drei Größen ist ein für allemal in ihrer Identität bestimmbar, sie ergeben sich vielmehr als eine Kette, als eine 'Handlungsgeschichte' historisch-kultureller Form-Schließungen, begleitet von Stimmungen und Erwartungen und eingebettet in eine historisch-kontingente Lebenswelt. Erfahrung läßt sich nicht auf die Dimension des 'Gegebenen', Rationalität nicht auf einen formalen Kalkül und Mystik nicht auf das 'Geheimnis' einer durch Vernunft und/oder Erfahrung angeblich nicht erschließbaren Rest-Wirklichkeit reduzieren. Mystik, Vernunft und Erfahrung sind vielmehr einander wechselseitig bestimmende Selbstinterpretationen des menschlichen Geistes, die in ihren historischen Gestalten dem historischen Entwicklungsgang eben dieses Geistes folgen. Dieser Entwicklungsgang ist weder ein einziger — es gibt ja, mit mehr oder minder engem Kontakt untere,inander, eine Vielzahl von Kulturen nebeneinander —, noch verlaufen diese Entwicklungsgänge stets nach einem gleichbleibenden Gesetz oder Schema. Die Analogie von Rationalitäts-, Erfahrungs- und Mystikformen jedoch, die es erlaubt, von ihnen überhaupt abstrakt und im allgemeinen zu sprechen, besteht in der formalen Identität einer 'vagabundierenden' dynamischen Struktur: Es handelt sich um Symbolismen bzw. um autopoietische Systeme, die die Wirklichkeit als 'ihre' Welt organisieren und dabei Stufen der Selbstreflexion erreichen, die — nicht immer und nicht zwangsläufig, aber doch wiederholt und in unendlich vielen geschichtlichen Beispielen dargeboten — zu einer letzten und radikalen Symbolisierungs-Anstrengung hinführt, in der die Symbolisierung als solche zerbricht und das Zerbrechen eine neue, nämlich skeptisch-gelassene Grundstimmung für alles weitere Symbolisieren und Weltverhalten zur Folge hat. Diese an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gelangende Symbolisierung habe ich als Mystik definiert, und ich habe sie als eine Bewegung charakterisiert, auf die vielerlei theoretische und praktische Antworten möglich sind, als eine Bewegung, die sich in ihrem weiteren Fortgang und im Rückblick auf sich selbst höchst unterschiedlich verstehen und würdigen kann. Die Geschichte der Mystik zeigt sich demnach als eine besondere Perspektive in der allgemeinen Geschichte der menschlichen Erfahrung und in der Geschichte der Selbstdeutung, der Ein- und Ausgrenzung menschlicher Rationalität. Kultur- und Geistesgeschichte ist eine Geschichte der Deutungen, die ihrerseits bedingt sind durch den eigenen Erfahrungshorizont der Deutenden und den — kritischen wie spekulativen — Einbezug fremder Erfahrungen, d.h. des Erfahrungsschatzes an Urteilen und Vorurteilen, den die Kultur und der geschichtliche Punkt, an dem man jeweils steht, bereithält. 136 Was gedeutet wird, ist freilich nicht ein Ahistorisches, ständig Gleichbleibendes. Erfahrung, Rationalität und Mystik sind keine vom Prozeß der Deutung unabhängigen Referenzobjekte. Sie selbst existieren als Deutung, als Interpretation. Für sie — wie für kulturelle Phänomene überhaupt — ist ihre Deutungsgeschichte zugleich ihre Wesensgeschichte. Daher ist die Darstellung von Erfahrung, Rationalität und Mystik, die in dieser Untersuchung vorgenommen wurde, selbst ein Beitrag zur Deutungs- und

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

Wesensgeschichte von Erfahrung, Rationalität und Mystik. Eine Mystik, die sich als Konsequenz aus prozeß- und symboltheoretisch ausgelegter Rationalität und Erfahrung versteht, als eine Erfahrungsstruktur, die sich kontingent mit unterschiedlichen ontologischen, gnoseologischen und ethischen Deutungen verbinden kann, wird aufgrund dieser Einsichten andere theoretische und praktische Konsequenzen ziehen und sich mit anderen Stimmungen und Erwartungen verbinden als eine Mystik, die sich — wie die neuplatonisch orientierte — als Erkenntnis- und Gefühlsvehikel für 'ewige Wahrheiten' und für ein substantielles 'letztes Geheimnis' betrachtet. Diese älteren Deutungen und Selbstdeutungen der Mystik können aus prozeß- und symboltheoretischer Perspektive in ihren Bedingungen und Voraussetzungen, in ihren Wahrnehmungs- und Wertungsmustern, in ihren Erwartungen und Konsequenzen zwar durchaus verständlich gemacht und als Prozeßgestalten eines möglichen Verstehens von Wirklichkeit rekonstruiert werden. Es ist aber offenkundig, daß diese Deutungen als solche nicht dem Erkenntnisstand entsprechen, den die Prozeß- und Symboltheorie vermittelt, sondern daß sie 'schief zu besagten Einsichten stehen, daß sie diese, wenn überhaupt, nur verzerrt wiedergeben. Die Formen der Mystik, denen wir in der Geschichte begegnen, sind — aus der Sicht der Prozeß- und Symboltheorie — vielfach Gestalten einer mißverständlichen und sich selbst mißverstehenden Wirklichkeitsdeutung, nicht zuletzt deshalb, weil sie in engem Verweisungszusammenhang mit philosophischen und religiösen Annahmen stehen, die neben kontingenten Inhalten, die zu akzeptieren keine Veranlassung (mehr) besteht, vor allem jener statischen Realitätsauffassung verpflichtet sind, die eben inadäquate Vorstellungen von Erfahrung, Vernunft und Mystik zur Folge hat. Wenn wir nicht den Tod, sondern das Leben zum Maßstab 'richtiger Einsicht' machen, dann erscheint vor allem jene Form von Mystik inadäquat, die in Nekrophilie ausmündet. Es ist offenbar aber auch ein ΜißVerständnis, wenn sich Mystik als höchste und eigentliche Form des Lebens begreift, der gegenüber die 'Normalform 1 des Lebens abzuwerten sei. Mystik — in welcher Auslegung und Selbstauslegung auch immer — bedeutet jedenfalls eine höchste Krise des Symbolisierens und d.h. des Menschseins, eine Gratwanderung zwischen extremen positiven Möglichkeiten und extremen Gefahren. Es muß daher programmatisch nach einer 'lebensgerechten' — den Einsichten der Prozeß- und Symboltheorie adäquaten — Mystik gefragt werden. Eine Antwort auf diese Frage wird freilich nur sehr allgemein und vage ausfallen, denn angesichts der Vielfalt der uns bekannten (und der noch unbekannten) Symbolismen ist keine allzu genaue Festlegung möglich. Wir haben auszugehen von dem Grad der Selbstreflexion, den die dargestellte Prozeß- und Symboltheorie, wenn sie ihrerseits als ein auf die Möglichkeit mystischer Erfahrung zustrebender Symbolismus betrachtet wird, bietet. Es handelt sich dabei um eine neue Form-Schließung des philosophischen Denkens, das die Positionen von klassischer Metaphysik, Transzendentalphilosophie und Positivismus 'überholt' hat und dessen entscheidende Spezifika die These der symbolisch-selbstreflexiven Dynamik und die These der Gleichberechtigung unterschiedlicher Diskurse bzw. kultureller Symbolismen sind. Unter den genannten Voraussetzungen gilt, daß Mystik — dem gewonnenen Verständnis nach — keinen Sprung in eine andere Welt oder in eine andere 540

'Ethos': Kultur-, Geschichts- und Handlungskontext

Wirklichkeit darstellen kann, sondern eine Konsequenz der einen, uns bekannten Wirklichkeit darstelllt, die freilich vielschichtiger und spannungsreicher ist, als sie uns ehedem erschienen sein mag. Und weiters gilt, daß Mystik nicht das Privileg irgendeines bestimmten Symbolismus sein kann — sei es der Religion, der Philosophie oder der Kunst —, sondern daß sie in allen reflexiv elaborierten Symbolismen möglich ist. Wenn wir daher Hierarchien der Kulturbereiche nicht anerkennen und uns dogmatischen Verengungen dessen, was uns den Zugang zur Gesamtwirklichkeit des Lebens eröffnet, verweigern, sehen wir uns vielfaltigen Möglichkeiten gegenüber, Erfahrungen zu sammeln und uns weiteren Erfahrungen zu öffnen. Damit verbindet sich die Möglichkeit, viele und unterschiedliche Formen adäquater Mystik zu erfahren. Die Anerkennung dieser Vielfalt macht Mystik freilich auch relativ, lockt sie heraus aus der feierlich-ernsten Dimension des Heiligen, in der sie früher vornehmlich beheimatet war, und bringt sie eher mit der Dimension des Spiels und des schöpferischen Experimentierens in Verbindung. Sie ist dann nicht mehr ein definitives Ziel des Lebens, sondern ein vorübergehender, endlicher Reinigungs- und Kraftpunkt, an dem wir immer wieder und — in wechselnden Medien — stets neu an die Grenzen unserer vielfältigen Symbolisierungstätigkeit stoßen, diese in Frage stellen und in geläuterter Weise wiederaufnehmen. Mystisches Erleben ist dann — synchron und diachron — eine Vielzahl von Symbolisierungskrisen, denen wir uns in bewußter Gelassenheit und Experimentierfreude aussetzen: ohne Gewähr, sie zu meistern, aber in der Hoffnung, weiser und stärker aus ihnen hervorzugehen, belehrt durch eine Kette historischer, kultureller und medialer Erfahrungen, die prinzipiell niemals abgeschlossen sein wird. Das Setzen auf Vielfalt und Experiment aber geht zweifellos auf Kosten der Intensität der einzelnen mystischen Struktur: es ist eine vervielfachte, verdünnte und sozusagen 'homöopathische' Mystik, die sich nunmehr ergibt. Sie konzentriert sich weder einseitig auf ihr skeptisches noch einseitig auf ihr spekulatives Potential. Sie ist eine Instanz, die unsere Skepsis gegenüber dem Symbolisieren pflegt und aufrecht erhält, die aber auch — aus der Einsicht, daß es dazu keine Alternative gibt — den Mut zur Spekulation und sogar den Mut zu gewissen Naivitäten des Weltzugriffs fördert. Es ist eine Mystik des gelassenen Spielens und Experimentierens. Nur so entspricht sie dem neuen Verständnis von Rationalität und Erfahrung.

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3.5 Konsequenzen für den Philosophiebegriff: Die Einheit von philosophia mystica und philosophia rationalis

Nach diesen programmatischen Überlegungen, wie eine 'lebensgerechte1 und 'erfahrungsadäquate' Mystik möglicherweise aussehen könnte, will ich abschließend darlegen, welche Konsequenzen sich aus der gesamten Untersuchung für den Philosophiebegriff ergeben. In der Einleitung wurde die Hoffnung formuliert, daß eine adäquate Theorie der Mystik, die auf einer adäquaten Theorie der Rationalität und Erfahrung aufbaut, selbst einen klärenden und ergänzenden Beitrag zu dieser Rationalitäts- und Erfahrungstheorie liefern könnte. Diese Hoffnung hat sich insofern erfüllt, als Mystik strukturell als Konsequenz aus prozessual-symbolisch verfaßter Rationalität und Erfahrung und als deren Fortführung dargelegt werden konnte. Da Vernunft seit je als das Thema kat exochen der Philosophie gilt und da diese als schlechthinnige Theorie der Welterfahrung definiert werden kann, wurde Mystik somit als ein zentrales philosophisches Thema legitimiert. Die spezielle Prozeß- und Symboltheorie der Mystik ist eine Anschlußleistung an die allgemeine Prozeß- und Symboltheorie der Rationalität und Erfahrung. Der gemeinsame Schlüssel ist die Beschreibung und Erklärung des Symbolisierungsprozesses, der sich in unterschiedlichen Diskursen und Lebensbereichen je eigens organisiert. Mystische Erfahrung ist ein Sonderfall von Erfahrung allgemein. In der gewonnenen Perspektive erscheinen Mystik, Rationalität und Erfahrung nicht mehr als voneinander isolierte Begriffe, deren Zusammenhang erst künstlich und nachträglich herzustellen wäre. Rationalität wird begriffen als das autopoietische Prinzip der Erfahrung, die sich selbst als Erfahrung — inklusive eigener Deutung und Normierung, aber auch eigener Infragestellung und Selbstbestätigung — strukturiert. Beide bilden eine funktionale Einheit, von der sich metaphorisch — und damit: unzureichend — sagen läßt, Erfahrung bilde den 'Stoff' und Rationalität die 'Form'. Unzureichend und möglicherweise mißverständlich ist diese Metaphorik deshalb, weil Stoff und Form im traditionellen und alltäglichen Verständnis statisch-gegenständliche Begriffe sind, die sich relativ leicht als voneinander isoliert denken lassen. Worum es in solch metaphorischen Versuchen geht, ist die Benennung der funktionalen Einheit des Phänomens Rationalität/Erfahrung. Wir können selbstverständlich niemals den 'Stoff und die 'Form' der Erfahrung, genauso wenig wie 'Tatsachen' und 'Interpretationen', in säuberlicher Trennung einander gegenüberstellen und als Bindeglied womöglich einen vermittelnden 'Geist' bzw. eine Vernunfttätigkeit dazunehmen. Was in Begriffen der genannten Art statisch-abstrakt auseinandergelegt wird, ist de facto immer schon eine konkret-dynamische Einheit, die unsere Erfahrung als solche

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Konsequenzen für den Philosophiebegriff

und eben damit auch unsere Wirklichkeit — die menschliche Wirklichkeit, d.h. die einzige, die uns betrifft und über die wir kompetent sprechen können — ausmacht. Daher läßt sich sagen: Das Symbolisieren — die Grundtätigkeit des Menschen — ist nicht nur 'Prinzip' und 'Tiefenstruktur' der Erfahrung, sondern — gleichsinnig — auch 'Prinzip' und 'Tiefenstruktur' der Wirklichkeit selbst. Auch Spekulation und Imagination — ja selbst das Moment des Fiktiven — sind Teil dieser komplexen Wirklichkeit, deren Komplexität dennoch von einem — prinzipiell labilen — umfassenden Ordnungsrahmen zusammengehalten wird. Dieser Ordnungsrahmen ist die Rationalität der Erfahrung, d.h. die jeweilige (und jeweils veränderliche) Struktur der Symbolisierung. Symbolisierungen organisieren sich vermittels unterschiedlicher Diskurse, Tätigkeiten, Kulturbereiche und Medien. Wenn wir in Philosophie, Wissenschaft, Religion, Kunst, Technik, Alltag usw. von unterschiedlichen Symbolismen sprechen, so können wir, indem wir den der Philosophie entstammenden Terminus analog auf die anderen Symbolismen übertragen, auch von unterschiedlichen Rationalitäten sprechen. Viele dieser Symbolismen erweisen sich als hochgradig reflexionsfähig, sie können sich selbst thematisieren und können Entwicklungspunkte maximaler 'Selbstdurchsichtigkeit' bzw. 'reiner Bedeutungsfunktion' erreichen. Damit sind sie imstande, jeweils eigens eine mystische Erfahrungsstruktur auszubilden. Mystik zeigt sich als ein allgemeines und vielgestaltiges Kulturphänomen, das uns überall dort begegnet, wo die Autopoiesis des Symbolisierens eine fortgeschrittene Qualität erreicht hat. Sie ist kein Ursprungs-, sondern ein Fo/gephänomen der Rationalität, eine — obwohl und weil sie die Grenzen 'normaler' Reflexivität in Frage stellt — hochreflexive Bewegung. Philosophie, die sich auf diese Bewegung einläßt und sich ihr nicht von vornherein verweigert, ist zugleich 'rationale' und 'mystische' Philosophie. Wenn sie sich außerdem der breiten Palette der kulturellen und lebensweltlichen Formen, in denen sich Mystik findet, zuwendet, ist sie kein verengt-disziplinärer Diskurs mehr, sondern vielfältige Kulturphilosophie. Sie ist dann ein Diskurs, dessen Besonderheit darin besteht, daß er zwischen den Diskursen, mit denen er (als einzelner und spezieller Diskurs) in Kontakt tritt und die er — im eigenen Symbolismus und Medium — objektiviert, das Analogieprinzip sämtlicher Symbolprozesse entdeckt hat. Diese Entdeckung symbolischer Analogie ermöglicht ihm besondere Anschlußleistungen an andere Diskurse. Diese sind nunmehr im (kultur-)philosophischen Symbolismus allesamt rekonstruierbar und erscheinen als die besonderen Teile eines allgemeinen Ganzen. Die Analogie der Diskurse, die sich aus der Analogisierung von Rationalitäts- und Mystikformen ergeben hat, provoziert aber nach wie vor — und ich muß noch einmal darauf zurückkommen — die Frage nach einer möglichen Hierarchie. Ist das philosophisch-begriffliche Denken, das zweifellos geschmeidiger, schneller, erfolgreicher, distinkter und umfassender als andere Diskurse zwischen den Diskursen zu vermitteln und sie bei sich zu versammeln vermag, der beste, wertvollste, höchstentwickelte Diskurs? Kann Philosophie — in welcher Modifikation auch immer — die Rolle einer Grund- oder Dachwissenschaft, eines alles andere fundierenden oder überhöhenden Super-Diskurses beanspruchen?

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

Diese Frage fuhrt noch einmal zurück zum näheren Zusammenhang von Begriff und Symbol. Der (philosophische) Begriff ist ein mögliches Symbol, das einer Palette anderer, außerbegrifflicher symbolischer Möglichkeiten gegenübersteht. Hegel war der Ansicht, der Begriff könne die Leistungsfähigkeit und den Erfahrungsbezug sämtlicher anderer Organisationsformen des menschlichen Geistes in sich aufnehmen und (wenngleich nicht total, so doch weitgehend) bewahren. Daher ist für Hegel die Philosophie die 'Erfüllung' und letztlich auch die schlechthinnige 'Realisierung' von Religion und Kunst. Für eine solche Hierarchie der Symbolismen gibt es aber — dies ist der Eitelkeit der idealistischen Philosophie entgegenzuhalten — kaum ein zureichendes Argument. Zwar kann Philosophie ohne Zweifel über alles sprechen und alles in den eigenen Symbolismus überführen, um es dort noch einmal eigens zu repräsentieren, doch hat sie damit die Eigenwirklichkeit dieser anderen Symbolismen noch lange nicht absorbiert und in sich aufgenommen. Hegels Rede vom 'Einverleiben' beruht demnach auf der bloßen Suggestion einer Metapher. Der philosophische Logos ist — adäquat verstanden — kein Machtspruch und Machtanspruch, der das Außerphilosophische erobern und beherrschen könnte, sondern ein analoger Logos, d.h. ein prinzipieller Diskurs der Grenze, der Grenzen aufzeigt und sie dennoch — aber als Forscher, nicht als Eroberer — überschreitet, ein Diskurs der relativen und stets unvollkommenen Vermittlung zwischen dem, was nicht gleich, aber doch ähnlich ist und zwischen dem, was man zwar vergleichen kann, was aber dennoch verschieden bleibt. Es wäre eine Untertreibung, die Besonderheiten und damit auch die spezielle Leistungsfähigkeit des philosophischen Diskurses zu leugnen. Seine Besonderheit liegt in seiner Universalität. Er kann über Diskurse sprechen, die — ihrerseits — von ihm nicht sprechen können und die auf ihre Weise und in ihren Symbolismen seine Elemente, die Begriffe, per analogiam nur sehr undeutlich repräsentieren können. Doch wenn Philosophie in ihrem eigenen Medium diese anderen Symbolismen repräsentiert, wenn sie sich also zum 'Symbolismus dieser Symbolismen' macht, erfährt sie auch die prinzipielle Defizienz allen Symbolisierens: nämlich daß sie das, was sie repräsentieren will, niemals zur Gänze repräsentieren kann, weil die Repräsentation in nichts anderem besteht, als selektierend eine neue und andere Wirklichkeit zu schaffen, die gleichfalls eine endliche und vorläufige bleibt. Symbolisieren — und daher auch im speziellen: Philosophieren — ist ein Transformationsprozeß des Wirklichen, der, genauso wie jede mediale Transformation, eine gleichzeitige Gewinn- und Verlustrechnung darstellt. Systemtheoretisch gesprochen ist jede neue Symbolisierung ein neuer Schnitt, eine neue Komplexitätsreduktion und -Stiftung. Das Symbolisieren schafft einerseits neue Perspektiven (und damit: neue Erfahrung und neue Wirklichkeit), andererseits blendet es alte Sichtweisen — Erkenntnisse, Erfahrungen und Gefühle — aus. Die philosophische Repräsentation nichtphilosophischer Symbolismen ist daher ambivalent. Philosophie ist nicht der 'Diskurs der Diskurse', sie ist kein Königsweg, sondern lediglich ein relativ leistungsfähiger Diskurs der Grenze und der Vermittlung: zwischen sich selbst und den anderen Diskursen sowie auch zwischen diesen Diskursen untereinander. Doch besteht kein Zweifel daran, daß Philosophie zu jenen Symbolismen zählt, die einer hochgradigen Selbstreflexion fähig sind und daher auch die Disposition zur Ausbil544

Konsequenzen für den Philosophiebegriff

dung mystischer Strukturen besitzen. Philosophische Mystik wird in ihrer Möglichkeit freilich durch die hohe Reflexionsfähigkeit des begrifflichen Mediums auch gehemmt. Denn dieses erlaubt der Philosophie eine maximale Selbstdistanzierung, die auf Kosten der Gefühlsbindung an die gedachten Inhalte und auf Kosten der Intensität der Symbolisierung gehen kann (und vielfach auch tatsächlich geht). Es ist dies der distanzierende und dekontextualisierende Geist insbesondere der neuzeitlich-modernen Philosophie und Wissenschaft. Gerade Intensität und Gefühlssteigerung sind aber Kennzeichen des 'mystischen Punkts', der ein Erlebnis, eine alle Distanz vorübergehend aufhebende Erfahrung ist und nicht nur ein gedankliches Konstrukt. Die im philosophischen Diskurs so naheliegende und stets greifbare Möglichkeit weitgehend emotionsloser Selbstdistanzierung eröffnet weite Symbolisierungsräume, die jenen Punkt von Totalisierung, Steigerung und Implosion, den die Mystik darstellt, immer wieder in weite Ferne rücken lassen. Dennoch zeigt die Geschichte der Philosophie — im Abschnitt 2 habe ich dies an einigen Fallbeispielen für den kleinen historischen Ausschnitt von zwei Jahrhunderten (und zudem eingeschränkt auf Europa und Amerika) erörtert — eine ständige Auseinandersetzung mit dem Problem der Mystik. Metaphysik findet sich, wenn sie die Wirklichkeit als ganze zu symbolisieren und sich selbst in diese Symbolisierung mit hereinzunehmen bestrebt ist, am beschriebenen Ort der 'versuchsweisen Rücknahme von Symbolisierung' wieder. Das heißt nicht, Philosophie hätte einen 'mystischen Ursprung' und ein 'mystisches Ziel', wie K. Albert behauptet.137 Es heißt aber, daß mit dem Philosophieren —- das weder vor dem Ort der Mystik stehenbleibt noch am Ort der Mystik verharrt und verharren kann — auch das Problem der Mystik mitgegeben und eine besondere Mystik, eine auf den Symbolismus Philosophie abgestimmte, möglich ist. Es folgt aus meiner Untersuchung also keineswegs die These, daß sich Philosophie in Mystik verwandeln oder daß sie ihr Hauptthema in der Mystik finden solle. Philosophie hat begrifflich und phänomenologisch 'dem, was ist' nachzugehen, jener komplexen Wirklichkeit, in der eben auch Mystik vorkommt — oder besser: in der viele unterschiedliche Formen von Mystik vorkommen. Die Philosophie und das allgemeine kulturelle Bewußtsein haben in der Vergangenheit das Phänomen Mystik vielfach ignoriert, unverstanden stehengelassen oder in voreiliger und der tatsächlichen Erfahrung gegenüber 'schiefer' Weise theoretisch erklären wollen. Sie haben es im Zuge weit ausgreifender, jedoch nichtadäquater Konzeptionen von Rationalität und Erfahrung vereinnahmt oder — und das sogar wesentlich öfter — aufgrund zu enger und zu bornierter Rationalitäts- und Erfahrungskonzeptionen ausgeblendet. Die Prozeß- und Symboltheorie jedoch zeigt, wie Erfahrung strukturell verläuft, wie sie im Vollzug der Symbolisierungsdynamik Rationalität erzeugt und wie diese Rationalität zum 'Punkt' der Mystik gelangt, den sie aus strukturellen Gründen auch wieder verlassen muß. Damit ist (philosophische) Mystik als Teil des (philosophischen) Symbolisierungsprozesses ausgewiesen: sie ist weder ein Anathema noch ein geheimnisvoller 'Ursprung' oder 'Telos' der Wirklichkeit, kein letzter 'Realitätskern', keine letzte 'Wahrheit', aber auch kein unentdeckbares 'Geheimnis'. Sie öffnet uns vielmehr — sowohl im mystischen Erlebnis selbst wie aus der interpretativen Distanz — die Augen für die fundamentale und

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Grundzüge einer Theorie der Mystik

in sich komplexe Realität unseres Symbolisierens und damit, weil Symbolisieren die menschliche Grundtätigkeit ist, für die Realität des menschlichen Lebens. Daß in dieser Weise sowohl das kritisch-skeptische wie das naiv-spekulative Potential der mystischen Erfahrung als einander bedingende Größen gleichzeitig zu würdigen seien, ist eine Einsicht und eine Forderung, die sich in der bisherigen Diskussion über Mystik kaum auffinden lassen. Bezogen auf die Grenzen und Möglichkeiten des menschlichen Wissens, ist das Bewußtsein der genannten Ambivalenz freilich — geht man von den Maßstäben der Prozeß- und Symboltheorie aus — nahezu eine Selbstverständlichkeit. Schlechthinniger Kritikverzicht ist für ein realistisch sein wollendes Denken ebenso unmöglich wie der Totalverdacht gegenüber jeder begrifflichen Formulierung und spekulativen Annahme. Wenn die Philosophie — genauso wie das alltägliche Denken — zwischen diesen beiden unmöglichen Extremen die 'vernünftige Mitte' sucht, so ist sie durchaus im Recht — vorausgesetzt allerdings, daß sie nicht der statischen Grundauffassung verhaftet bleibt, die annimmt, das Denken habe es mit (abbildlichen oder konstruktiven) Gegenständen zu tun, die mit sich selbst identisch wären, nicht aber mit Prozessen und mit einer Dynamik einander 'überholender' Form-Schließungen, die niemals eine 'ruhige Mitte' zwischen 'reiner' Kritik und 'reiner' Spekulation zu erreichen und zu halten vermögen. Das philosophische Denken hat sich der Bewegung dieser Prozesse auszusetzen. Es ist — jenseits der Festlegungen und Einengungen des Begriffs Dialektik, wie sie vornehmlich Piaton und Hegel vorgenommen haben — durch und durch dialektisch. Es durchschreitet Positionen, die — als Bruch oder Verbindung oder als beides zusammen — einander bedingen und die immer nur Durchgangsstationen sind. Wenn sich die Philosophie dieser dialektischen Bewegung nicht aussetzt, verkümmert sie, verhärtet sie sich — vermittels sedimentierender Begrifflichkeit — in sich selbst, verschließt sie ihre Augen und Ohren vor dem, was zu sehen und zu hören ist, und verwechselt die ungenügende Stilisierung, die sie von sich und von der Wirklichkeit entworfen hat, mit 'dem, was ist'. Sie postuliert dann den Vorrang, wenn nicht die ausschließliche Geltung einer auf Empirie reduzierten 'Erfahrung' und einer weltjenseitigen 'Rationalität', die dekretieren möchte, was sein soll, die sich aber faktisch von der Wirklichkeit des menschlichen Lebens ständig außer Kraft gesetzt sieht. Eine Philosophie, die jedoch auf ihre eigenen — begrenzten — Bedingungen und Möglichkeiten achtet, kann solche Selbstmißverständnisse umgehen oder, wenn sie sich in ihnen vorübergehend gefangen hat, wieder über sie hinausgelangen. Sie wird dann in ihrem Diskurs Mystik als eines der für sie zentralen Phänomene mit thematisieren, ohne es in seiner Rolle für den Symbolisierungsprozeß über- oder unterzubewerten. Eine Philosophie, die ihre eigene Symbolisierungsfunktion adäquat einschätzt, wird auf den 'mystischen Punkt' zugehen und sich von ihm bestimmen lassen, ohne seiner entmündigenden Suggestion zu verfallen. Im Durchgang der mystischen Erfahrung kann sich Philosophie der eigenen Möglichkeiten und Grenzen bewußt werden. Wenn sie ihre 'normale' Reflexion als rational bezeichnet, den Versuch, diese Normalität zu transzendieren, jedoch als mystisch, dann wird sie ihre Eigenreflexivität und ihre Doppelrolle vielleicht terminologisch so darstellen, wie sich die mittelalterliche Theologie in ihrem Eigenverständnis dargestellt hat: nämlich zugleich als philosophia rationalis und 546

Konsequenzen für den Philosophiebegriff

als philosophia mystica, d.h. als die funktionale und komplexe Einheit zweier Dimensionen des Zugangs zur Wirklichkeit, die im Vollzug der Erfahrung ineinandergreifen und prinzipiell zueinander komplementär sind. Bei Dionysius Areopagita138 sind positive und negative Theologie, theologia rationalis und theologia mystica keine einander ausschließenden, sondern vielmehr einander funktional zugeordnete Diskurse. Diese christlich-mittelalterliche Theologie ist (mit Heidegger zu sprechen) eine Gestalt der Ontotheologie', d.h. sie ist — gemäß ihren historisch-kulturellen Parametern — aus heutiger Sicht eine Metaphysik oder Philosophie. Sie stellt eine Gesamtdeutung der Wirklichkeit 'als solcher und im ganzen' dar, und diese Deutung intensiviert sich und 'zerbricht' gleichermaßen im Schweigen des mystischen Erlebnisses. Gemäß dieser Analogie zum theologischen Diskurs können wir auch — jenseits des christlichen und neuplatonischen Paradigmas, dem Dionysius verpflichtet ist, und jenseits seiner Hierarchievorstellungen und seiner statischen Grundauffassung — von der gleichzeitigen Möglichkeit und Notwendigkeit einer philosophia rationalis und einer philosophia mystica sprechen. Es sind dies dann jene beiden Seiten der Philosophie, die zueinander in fruchtbarer und zuweilen auch feindlicher Spannung stehen und von denen zuweilen die eine oder die andere dominieren mag, die jedoch sachlich eine nicht trennbare Einheit bilden: keine statische und in sich abgeschlossene Einheit, sondern eine dynamische, offene und in sich vielfältige. Rationalität und ihr 'Anderes', die Mystik, sind dann zwar methodisch und vorläufig trennbare, aber niemals wirklich und endgültig zu isolierende, sondern — bei aller Divergenz — komplementäre und stets wieder aufeinander zustrebende Pole der einen, in sich differenten Philosophie.

547

Zusammenfassung

Wer sich in den Wald begibt, verliert den Wald aufgrund der vielen Bäume, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nur allzu leicht aus dem Blick. Das gilt auch für die vorangegangenen Erörterungen. Daher versuche ich abschließend, das Phänomen der 'mystischen Erfahrung' noch einmal kurz — in dreiundzwanzig Punkten — zu resümieren: (1) Mystik besteht in einem — selbst symbolischen — Rücknahme-Versuch von Symbolisierung als solcher und im ganzen. (2) Da der Mensch 'animal symbolicum' und seine Grundtätigkeit das Symbolisieren ist, rührt dieser Rücknahme-Versuch ans 'Wesen' des Menschen. (3) Der Versuch vollzieht sich jeweils in und an einem bestimmten Symbolismus und Medium, z.B. Sprache, Religion, Philosophie, Kunst. (4) Dieser Symbolismus und dieses Medium begreifen sich dann als Repräsentanten der Gesamtheit aller Symbolismen und Medien. (5) Daraus folgt im mystischen Bewußtsein die Reversibilität aller Symbolsysteme und Medien, aller Dinge und Bezüge. (6) Die Gleichzeitigkeit zweier widersprüchlicher Intentionen — nämlich: völlige Symbollosigkeit und (eben damit) einen Total-Symbolismus zu konstruieren — führt (bildlich gesprochen) zu einem Zerbrechen (einer Implosion) des Symbolischen als solchen. (7) Die Implosion erfolgt, weil die für alle normale, partikulare Symbolik konstitutive Differenz zwischen Symbol und Wirklichkeit einerseits und zwischen verschiedenen Symbolsystemen andererseits ausgelöscht ist. (8) Symbol und Wirklichkeit sowie die einzelnen Elemente der Wirklichkeit werden vorübergehend ununterscheidbar. (9) Aus dieser totalen Koinzidenz aller Dinge und Bezüge resultiert das Gefühl der Harmonie und All-Einheit, der Gleichzeitigkeit von 'Sein' und 'Nichts', sowie die Entwirklichung symbolischer Grundorientierungen wie Ich, Gegenständlichkeit und Kategorialität. (10) Der Rücknahme-Versuch aller Symbolisierung ist ein Rücknahme-Versuch aller gewohnten Orientierung und Sinnstiftung. Er kann daher sowohl als Erfüllung wie als Bedrohung der menschlichen Existenz empfunden werden. Er zeigt ineins den Grund und den Abgrund menschlichen In-der-Welt-Seins. (11) Hieraus erklären sich die existentielle Relevanz und der extreme Gefühlsgehalt der mystischen Erfahrung. 548

Zusammenfassung

(12) Mystik ist — als Grenzgang des Symbolisierens und als Symbolisierung der Grenze von Weltverstehen überhaupt — eine Konsequenz des Rationalitäts- und Erfahrungsprozesses, als welcher sich die menschliche Wirklichkeit vollzieht. (13) Unser 'verstehendes In-der-Welt-Sein' läßt sich als autopoietischer Symbolisierungsprozeß darstellen, der von vornherein auf Selbstbezug und Selbstreflexion angelegt ist. Dieser Prozeß tendiert zur selbstreferentiellen Total-Symbolisierung von Ich und Welt, die aber — gemessen an der Struktur 'normaler' Symbolisierung — nur 'scheiternd' erfahren werden kann. (14) Diese 'scheiternde Erfahrung' fördert die Einsicht in die Phänomenkonstitution des Symbolischen und eben darin in die Phänomenkonstitution nicht nur von Mystik, sondern auch von Rationalität und Erfahrung. (15) Besagte Einsicht kann selbst nicht mehr symbolisch fixiert werden, da nur TeilSymbolisierungen durchführbar sind. (16) Die Form-Schließung der mystischen Erfahrung geschieht als Quasi-Symbolisierung, als eine nur 'aufblitzende', nicht aber fixierbare Symbolisierung. (17) Daraus resultiert der Unverfügbarkeits- und Augenblickscharakter der Mystik. (18) Die paradoxen Effekte der mystischen Erfahrung ergeben sich daraus, daß der Rücknahme-Versuch des Symbolischen selbst symbolischer Natur ist. (19) Dies ist zwangsläufig so, da jeder geistige Akt — jeder Akt von Welt- und Selbstverstehen — eine Form-Schließung bzw. Symbolisierung darstellt. (20) Die Grenzen der Symbolisierung zeigen sich darin, daß es kein Jenseits des Symbolischen gibt, obwohl der Transzendenzcharakter des Symbolprozesses auf ein solches Jenseits hinauswill. Es gibt immer nur die Transformation von einem Symbolsystem und Medium in ein anderes Symbolsystem und Medium. (21) MißVerständnisse und SelbstmißVerständnisse der Mystik ergeben sich aus ungenügender Einsicht in die Natur des Symbolprozesses bzw. aus dessen Fehldeutung. (22) Der Rücknahme-Versuch alles Symbolischen ist selbst unkontrollierbar und ambivalent. Er kann sowohl ein kritisches wie ein naives, ein skeptisches wie ein spekulatives Potential des menschlichen Symbolvermögens aktivieren. (23) Deshalb ist Mystik einerseits ein Einfallstor ins menschliche Denken für Obskurantismen aller Art, andererseits aber auch die Möglichkeit reflektierter Einsicht in das 'Nichts des Symbolischen', in die unauflösbare und unhintergehbare Differenz zwischen Symbol und Wirklichkeit, in die Abgründigkeit des Symbolisierens als solchen — und damit in die Abgründigkeit menschlicher Existenz.

549

Anmerkungen

Einleitung und Erstes Buch: Prolegomena zu einer Theorie der mystischen Erfahrung 1

Zum plakativen Titel 'Das Andere der Vernunft' cf. Böhme/Böhme 1983. Dort wird zwar nicht expressis verbis, wohl aber der Sache nach von Mystik gesprochen, wenn das 'Andere' als "die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle — oder besser: all dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können" (a.a.O., 13) bestimmt und mit der hermetisch-gnostischen Tradition in Zusammenhang gebracht wird.

2

Hier und im folgenden werden die Begriffe Vernunft und Rationalität synonym verwendet, d.h. es wird nicht eigens zwischen Verstand und Vernunft, ratio und intellectus unterschieden, obwohl diese Unterscheidung — in ihren

keineswegs übereinstimmenden historischen Varianten (cf. dazu

Volpi 1982) — natürlich im Hinblick auf die Komplexität und Mehrschichtigkeit des Phänomens Denken

nicht irrelevant ist. Der vom Verstandesbegriff unterschiedene Vemunftbegriff zeigt in

seiner auf die kantische Konzeption zulaufenden historischen

Entwicklung eine zunehmende

se-

mantische Verengung, die — im Hinblick auf die Reflexion menschlicher Welterfahrung — den Bereich (und auch die Bedrohung) des 'Irrationalen' immer mehr ausweitet und zur Geltung kommen läßt. Demgegenüber überschreitet der mittelalterliche Vemunftbegriff — etwa bei Meister

Eckhart

(cf. Waldschütz 1978) — immer wieder diese Grenze zum (im Mittelalter nicht eigens benannten, weil in die Erfahrungskonzeption weitgehend integrierten) Begriff der 'Irrationalität'. 3

Zur gegenwärtigen philosophischen Rationalitätsdiskussion cf. beispielsweise

Schnädelbach 1984

und 1992, Scheffczyk 1989, Elster 1987, Schwemmer 1987 und 1990 sowie Rescher 1993. 4

Dieser Topos kann dem Phänomen Mystik gegenüber polemisch, wie bei Kant, oder — im Sinn einer Zustimmung zu angeblich unumgehbarem

Irrationalismus

— freundlich

gemeint

sein.

Letztgenannte Position findet sich z.B. bei dem bekannten Religionsphänomenologen R. Otto (cf. Otto 1963 und 1971). 5

Zur These der 'Sonder-' oder 'Eigenwelt' von Philosophie cf. Schwemmer 1990, 25 f.

6

Ich übernehme den Ausdruck 'Lebensbedeutsamkeit' von Husserl (cf. Husserl 1992, Bd. 8).

7

Der Philosophie geht es um die Wirklichkeit im Gegensatz zum Begriff der Täuschung

als solcher und im ganzen, u m einen Begriff also, der in Wahrnehmung und Denken dessen, was 'ist', steht.

Die Wendung 'das, was ist' wird hier von Heidegger übernommen, der einen Vortragszyklus aus dem Jahr 1949 mit 'Einblick in das, was ist' betitelt hat. Cf. Heidegger 1994. 8

Cf. Moritz 1988 und Mall/Hülsmann 1989.

9

Diese Behauptung darf durch die ethnologische Forschung — auch für diejenige, die alle kulturchauvinistischen und rassistischen Vorurteile verabschiedet hat schen' Eigenart des 'primitiven'

und die alte These von der 'prälogi-

Denkens (Levy-Bruhl) ablehnt — als gesichert gelten. Selbstver-

ständlich kann man den in schriftlosen bzw. in noch kaum literalisierten Gesellschaften anzutreffenden Typus des 'Weisen' als eigene oder als Vorform des 'Philosophen'

ansehen, doch ergibt sich

dann ein zunehmend verschwommener werdender Philosophiebegriff. Es dürfte von Belang sein,

551

Anmerkungen:

S. 21 — 23

sich bewußt zu halten, daß die Abstraktionsleistungen der Philosophie (wie sie in Griechenland, Indien und China entstanden ist) eine Weiterentwicklung religiöser, u. zw. hochreligiöser Spekulation darstellen, daß die Hochreligionen aber die Schrift und damit einen entwickelteren 'Status des Geistes' (Havelock 1992) voraussetzen. Nicht jedes 'weise' und in seinen Anfängen selbstreflexive Denken sollte demnach sinnvollerweise als 'Philosophie' bezeichnet werden. Zur Theorie Havelocks und zur Literalitätsforschung allgemein cf. Ong 1987, zum Verhältnis von Schrift und Hochreligion cf. Goody 1990. 10

Das christliche (und natürlich auch das jüdische und islamische) Mittelalter haben hier einen Sonderstatus, denn einerseits steht die mittelalterliche Philosophie im Dienst der Theologie ('ancilla theologiae'), andererseits erkämpft sie sich — gerade auch als Theologie — intellektuelle Freiräume, die wiederum als Dispositionen für eine moderne und d.h. säkularisierte Gesellschafts- und Geistesentwicklung fungieren. Im islamischen Raum sind diese Dispositionen freilich historisch 'steckengeblieben', da das Ensemble der gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen ein anderes war als im christlichen Europa.

11

Dieses Bemühen um Selbstverständigung braucht nicht mit Hegels 'absolutem Begriff vielmehr eine überspitzte Utopie dieses Anliegens darstellt — gleichgesetzt zu werden.

12

Das Bild vom 'Wanderweg' der Philosophie, der durch Täler und Wälder (d.h. durch alte und neue Ausblendungen und Blindheiten) immer wieder zu Höhen und Lichtungen mit freiwerdender Aussicht führt, gebraucht Ortega y Gasset (Ortega 1967). Philosophisches Denken als 'Weg' ist freilich ein altes und immer wieder bemühtes Motiv: vom 'Tao' des Laotse bis zum 'Denkweg' Heideggers. Cf. aber auch das damit verwandte Motiv der (schamanistischen) 'Fahrt' bei Parmenides und Piaton.

13

Zum Begriff des Paradigmenwechsels cf. Kuhn 1967. Die von Kuhn genannten Charakteristika des wissenschaftlichen Paradigmas sind weitgehend ontologischer und damit philosophischer Natur. Es geht dabei um Fragen wie: "Welches sind die fundamentalen Entitäten, aus denen sich das Universum zusammensetzt? Wie wirken sie aufeinander und auf die Sinne ein? (a.a.O., 22). Kuhn — der in Ergänzung zu seinem wissenschaftshistorischen Werk ein (unausgeführt gebliebenes) philosophisches Buch schreiben wollte, das philosophische Paradigmenwechsel hätte darlegen sollen — verwendet denn auch, wenngleich marginal, den Ausdruck 'philosophisches Paradigma' (a.a.O., 163, 171).

14

Beispielhaft für solch ein Pathos des 'neuen Anfangs' sind Bacon, Hobbes, Descartes, Kant, Nietzsche und Heidegger. Zu Kant und Nietzsche cf. Margreiter 1988, 113 ff.

15

Z.B. Scholem 1967 oder Underhill 1928. Cf. auch die meisten Wörterbüchern.

16

Der Ausdruck 'Todeserfahrung' ist, folgt man dem Todesbegriff Wittgensteins (dem gemäß der Tod innerhalb des Lebens nicht vorkomme, so daß über ihn nicht zu reden sei), sinnlos und sollte vielleicht durch den Ausdruck 'Sterbeerfahrung' — Erfahrung beim Sterben — ersetzt werden. Einzuräumen ist freilich, daß Wittgenstein den Todesbegriff unzulässig verengt: was wir erleben und erfahren, kann auch eine Möglichkeit, eine Gewißheit und ein Horizont sein; es muß sich nicht unbedingt um ein zu-Ende-Vollzogenes handeln. Zur Todesproblematik cf. Macho 1987.

17

Die Ansicht, daß indogermanische Sprachen mit ihrer Subjekt-Objekt-Struktur mystisches Denken erschweren würden, dürfte kaum haltbar sein, da die Grammatik — wie bereits Humboldt un-

— der

Mystikdefinitionen in gängigen

mißverständlich hervorhob (Humboldt 1973) — das in einer Sprache sich vollziehende Denken zwar beeinflußt, aber nicht streng determiniert. Kulturen und Geistesströmungen, die mystischem Denken strukturell entgegenkommen, sind z.B. Hinduismus, Buddhismus, der Spinozismus und die Romantik. 18

Ein solch denunziatorischer Wortgebrauch findet sich z.B. bei Marx. Cf. den Mystik-Artikel im 'Marxistisch-leninistischen Wörterbuch der Philosophie' ( = Klaus/Buhr 1974).

19

Cf. Comoth 1986.

552

Anmerkungen: S. 24 —- 38

20

Eine entsprechende Revision des Rationalitätskonzeptes ist auch seit längerem

in der analytischen

Philosophie im Gange (cf. die Arbeiten von Putnam, Toulmin, Rorty und Goodman). 21

C f . Lakoff/Johnson 1980.

22

Zu den beiden Postmoderne-Konzeptionen cf. Ottmann 1991.

23

A u f f a l l i g ist, daß in den letzten Jahren zwar viele philosophische

Arbeiten über den Mythos, aber

kaum über Mystik publiziert wurden. 24

Diese Ungeschichtlichkeit

ist überhaupt eine strukturelle Schwäche der klassischen

gie. Sie wird durch ihre Thematisierung in der — Hermeneutik

aber keineswegs

de Kulturtheorie, 25 26

Phänomenolo-

aus der Phänomenologie hervorgehenden



grundsätzlich behoben, solange Hermeneutik nicht in eine umfassen-

die sich zugleich als Anthropologie

versteht, einmündet.

C f . beispielsweise Scholem 1967, 6. C f . die Grundbedeutung von 'legein' als (Ähren-)Lesen und die Bedeutungserweiterung: Sammeln — Ordnen — Erkennen.

27

Schwemmer 1990 (41 f f . ) fordert "Interdisziplinarität als Denkform".

28

C f . beispielsweise Bernhart 1922 und Albert 1986.

29

Die Identifizierungsposition wird vielfach (aber nicht durchgängig) von katholischen, die Verketzerungsposition von evangelischen Theologen

eingenommen.

30

Nietzsche 1980 ( = K S A ) Bd.I, 24.

31

Bei vielen Künstlern, vor allem Dichtern, wird dieses Scheitern des Ästhetizismus reflektiert und führt zu einer Hinwendung zu anderen Wertmustern. Für Brecht die Politik,

für Hofmannsthal

etwa

ist dieses neue Wertmuster

die Religion. Es kann aber auch die Philosophie oder eine Wissen-

schaft sein oder — wie bei Goethes Wilhelm Meister

— die Hinwendung zum Alltag, zu einer kon-

kreten lebenspraktischen Tätigkeit. Wilhelm Büschs Balduin Bählamm

freilich

Transformation des Ästhetizismus in eine

er wird von der Widerstän-

andere

symbolische Form,

ist nicht

fähig zur

digkeit des Alltags überrollt und versinkt in reine Banalität. 32

C f . aber auch 'idealistische' Philosophen w i e Ortega y Gasset, der 'die philosophische Intuition

33

Kohut 1973.

34

Dies ist v o r allem für die moderne Physik belegt. C f . die bei Dürr 1986 gesammelten Berichte über

scharf gegen "Mythos und M a g i e " abgrenzen will (Ortega 1967, 126).

mystische und quasi-mystische Erlebnisse und Empfindungen bei Bohr, Einstein,

Heisenberg,

Schrödinger, v . Weizsäcker u.a. 35

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hiefür ist zweifellos die Religion, die in älteren Zeiten die gesamte Kultur beherrscht hat, die heute jedoch als Teilsystem b z w .

als residuales Nischensystem

in Kooperation mit bzw. neben anderen Teilsystemen der Lebenswelt in durchaus vitaler Weise fortexistiert. Religionskritiker w i e Comte, Feuerbach, Marx, Schopenhauer, Nietzsche und Freud sind in der Annahme, das 'religiöse Zeitalter' könne und werde insgesamt verschwinden, offensichtlich fehlgegangen. 36 37

C f . Husserl 1992, Bd. 8. Ein plattes und positivistisches Verständnis von Phänomenologie legen vor allem einige Historiker an den T a g , die sich, in Abwehr gegenüber bestimmten (vor allem hegelianischen, marxistischen und psychoanalytischen) Geschichtstheorien, auf 'Phänomenologie' berufen. C f . etwa Nolte 1963.

38

U m eine szientistische Metaphysik handelt es sich bei der

'naturwissenschaftlichen

Weltanschau-

ung' des Materialismus im 19. Jahrhundert, aber auch beim klassischen und neueren Positivismus, sofern er unbewiesene bzw. unbeweisbare

Grundannahmen über die Realität und ihre Erkennbar-

keit voraussetzt. Setzt Metaphysik ihre Grundannahmen dogmatisch voraus, so handelt es sich um dogmatische 39

Metaphysik.

Ein dezidierter philosophischer Atheismus wie der von Russell erkennbares Außenseitertum. William James

und

bleibt

im angelsächsischen Bereich

A . N . Whitehead dagegen setzen sich zu einem

Zeitpunkt, da 'Gott' in der kontinentalen Philosophie kaum noch vorkommt, weiterhin recht unbe-

553

Anmerkungen:

fangen mit den Themen der metaphysial

S. 41 —

specialis

48

auseinander (cf. James 1979 und Whitehead

1990). 40

Der für diese Meinung wohl am häufigsten zitierte Referenztext sind die Schlußsätze (6.522 bis 7) in Wittgensteins

41

Tractatus.

Hier orientiere ich mich an Oswald Schwemmers These von "Rationalität" als "Prozeß

der

For-

melprägung" (Schwemmer 1990, 72 ff.): Rationalität in der Sprache drückt sich dadurch aus, daß sie Wahrnehmung und Erfahrung in mehr oder auch minder klar strukturierten Formeln zusammenfaßt und diese untereinander in Beziehung setzt. 42

Diese Ideologien und Weltanschauungen sind freilich nicht ohne weiteres mit den Entwürfen der Philosophie

gleichzusetzen, auch wenn

sie in vielem deren vergröberte Abbilder darstellen und

auch wenn vielfache Interdependenzen — nämlich ideologisch-weltanschauliche Implikationen, Affektionen und Instrumentalisierungen von Philosophie einerseits, philosophische Elaboration

und

begriffliche Zurüstung von Ideologie und Weltanschauung andererseits — festzustellen sind. 43

Cf. die von W . R . Inge gesammelten und im 'Anhang' seines Werkes

Christian Mysticism

aufgeli-

steten Mystikdefinitionen, die unmöglich auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können (Inge 1899). Dazu paßt auch die — in der Mystikliteratur oft zitierte — Behauptung von G. Scholem, daß es zwar konkrete religionshistorische

Formen,

aber keinen gemeinsamen Inhalt 'der'

Mystik — keine "sozusagen chemisch reine Mystik, die an keine bestimmte Religion gebunden ist" (Scholem 1967, 7) — gebe. 44

Cf. beispielsweise die "Einführung. Vielfalt und Einheit der mystischen Erfahrung" bei Ruhbach/ Sudbrack 1989, 17 ff.

45

Die Möglichkeit, mit einem inflationär gewordenen Begriff umzugehen, indem man nicht jeder Einzelbedeutung nachstellt, sondern aufgrund sachlicher Problemstellungen den 'untergründigen zusammenhang' zu rekonstruieren sucht, demonstriert O. Schwemmer am Beispiel des

Sach-

Naturbe-

griffs. (Cf. Schwemmer 1987a, darin: "Einleitung des Herausgebers", 7 ff.). 46

Einen Überblick zur populären Mystikliteratur der Gegenwart — die zahlreiche,

auch von einem

großzügigen Wissenschaftsverständnis her höchst unseriöse Varianten mit einschließt — gibt B. Martin (cf. Martin 1985). 47

Hegels Versuch, die Begriffe und Bedeutungen mit Hilfe der von ihm spezifizierten

dialektischen

Methode zu dynamisieren, ist nicht die einzige Möglichkeit, diesem Sachverhalt gerecht zu werden. Ein alternatives Beispiel bietet die Prozeßphilosophie von A . N . Whitehead. 48 49

Cf. Schwemmer 1987, bes. Kap. 1.3.2: "Der historische Handlungsbegriff", 53 ff. Die hier angesprochene Möglichkeit einer 'Phänomenologie der Mystik' geht von anderen Voraussetzungen aus als die klassische — und umstrittene — Phänomenologie

der mystischen

Erfahrung

der Husserl-Schülerin G. Walther, die unter Mystik das Feld einer 'regionalen Ontologie' versteht (Walther 1923). In meiner Intention geht es um eine allgemeine Theorie der Erfahrung, die auf in der 'mystischen Erfahrung' beobachtbare Charakteristika näher eingeht und

so, rückkoppelnd,

Mystik als einen Spezialfall allgemeiner Erfahrung verstehen möchte. 50

Einen solch allgemeinen Erfahrungsbegriff verwenden z.B. W. James

und

— unter zeitgenössi-

schen philosophischen Autoren — K. Albert (cf. James 1979 und Albert 1976). 51

Bouyer1974.

52

So z.B. Haas 1986.

53

Burkert 1990.

54

Bertholet 1962, 377.

55

Flew 1979, 222.

56

Dazu cf. Zimmermann 1981, Böhme 1982 und Wagner-Egelhaaf 1989.

57

Der nationalsozialistische Ideologe Rosenberg widmet in seinem Buch Der Mythus des XX.

Jahr-

hunderts Meister Eckhart ein eigenes Kapitel und glaubt in der deutschen Mystik die Grundform einer "arteigenen' deutsch-germanischen Religion zu erkennen (Rosenberg 1930). Die Dimension

554

Anmerkungen:

S. 49 — 56

politischer Inanspruchnahme und Trivialisierung von Mystik ist freilich nicht auf die 'völkische' Aneigung beschränkt, sondern findet sich auch am anderen, dem linken Ende des politischen Spektrums, z.B. bei G. Landauer und E. Bloch (Landauer 1923 und Bloch 1968). 58

Zu Dionysius Areopagita cf. Ruh 1987 und 1990.

59

Ich halte es für vertretbar, den erst im 19. Jahrhundert (durch Dilthey u.a.) philosophisch elaborierten Erlebnisbegriff retrospektiv auch auf den Bereich mittelalterlicher Frömmigkeit anzuwenden.

60

Burkert 1990.

61

Cf. Albert 1980. Transformation bedeutet, daß sich Elemente des Bruchs mit einer Tradition und Elemente der Kontinuität vermischen.

62 63

Burkert 1990, 76. Der Ausdruck'Antirationalismus'ist natürlich eine grobe Kennzeichnung, denn diese Bewegungen — Romantik, Lebensphilosophie, New Age — beanspruchen nicht selten, die 'eigentliche' oder eine 'höhere' Vernunft zu repräsentieren. Sie wenden sich aber auf alle Fälle gegen eine jeweils gängige und ausschließliche Vernunftkonzeption, die als der falsche, in der Kultur herrschende Maßstab oder als die Kultur bedrohende Alternative bekämpft wird.

64

Eine Aufzählung von Substituten für 'Gott' findet sich bei Sudbrack 1988, bes. Kap. V, 89 ff. Sudbrack bewertet — von einem dogmatisch-theistischen Standpunkt aus — solche Substitute freilich als Fehlleistungen des menschlichen Geistes und rubriziert sie a l s ' f a l s c h e ' i m Gegensatz zur angeblich 'wahren' ('Gottes'-)Mystik.

65

Die Frage der Trennbarkeit bzw. Nichttrennbarkeit von Philosophie und Theologie im Mittelalter wird in der Fachwelt nach wie vor kontroversiell diskutiert. Die 'Bochumer' Mediävistenschule um K. Flasch und B. Mojsisch, die für eine Trennung plädiert (cf. Mojsisch 1988), vertritt jedoch eine Minderheitenposition, gegen die der Vorwurf erhoben werden kann, sie projiziere rückwärtsgewendet kantische Kategorien auf Meister Eckhart und Dietrich von Freiberg.

66

Solche Überlegungen verstehen sich hier freilich nur als hinweisend und heuristisch, da eine genaue Ausarbeitung der Problematik nur durch arbeitsteilige fachwissenschaftliche Bemühungen (psychologische und linguistische Feldforschung, Kommunikationsforschung, Literatur- und Religionswissenschaft) zu leisten ist.

67

Stellvertretend seien hier A.M. Haas und G. Wehr genannt, für die Eckhart als 'Maßstab' (Haas) und 'Leitstern' (Wehr) christlicher Mystik gilt (cf. Haas 1989, 45 ff. und Wehr 1988, 39 ff.).

68 69 70

So der Titel eines Aufsatzes von Flasch (cf. Flasch 1988). Assmann 1987. Assmann 1987, 11 ff.

71

Assmann 1987, 28 ff.

72

Assmann 1987, 38 ff.

73

Zur Rezeption des Hohen Liedes in der mittelalterlichen Mystik cf. Ruh 1990 (Kap. 8, 226 ff.) und Ruh 1990a.

74

Cf. Waldschütz 1989, bes. Abschnitt 2.1.: "Zur Bedeutung der Verurteilungsbulle 'In Agro Dominico' für das Leben Eckharts und das Weiterwirken seiner Lehre", 17 ff.

75

Das — nur in einigen Details überholte — Standardwerk über die Beziehungen zwischen Mystik und Häresien ist nach wie vor H. Grundmanns Religiöse Bewegungen im Mittelalter (Grundmann

76

Die neuzeitliche Entwicklung des Vernunftbegriffs zielt auf eine Präzisierung im Sinne einer Operational isierung gegenständlich-machbarer Inhalte und auf eine Verengung im Hinblick auf den

1935).

Gesamtprozeß des Denkens, aus dem die halb- und nichtbelichteten Bereiche — die Dimension des 'Geheimnisses' (mysterium) — eliminiert werden. Paradigmatisch hiefür ist der englische 'Freidenker' und Schüler Lockes J. Toland mit seinem Werk Christianity not Mysterious. Or a Treatise Shewing, that there is nothing in the Gospel Contrary to Reason, nor Above it. And that no Chri-

555

Anmerkungen:

S. 56 — 61

stian Doctrine can be properly call'd Mystery, London 1696. Der mittelalterlich-scholastische Vernunftbegriff dagegen ist, auch noch bei Leibniz und Spinoza, durchaus mehrschichtig und vor allem nicht zur Gänze verfügbar. Dafür, daß die abgeblendeten Bereiche des Denkens erneut in den Blick treten und artikuliert werden, ist bezeichnend, daß der im Rationalismus neugeschaffene Begriff 'Bewußtsein' im 19. Jahrhundert wieder durch die Begriffe des 'Unbewußten' und 'Unterbewußten' ergänzt wird. 77

Böhme/Böhme 1983, 250 ff.

78

Cf. Buber 1909 und Huxley 1987. Bubers Sammlung erschien in mehreren Auflagen, zuletzt — wohl aus verkaufstechnischen Gründen, aber durch die neue Einleitung von P. Sloterdijk kaum gerechtfertigt — unter verändertem Titel, nämlich: P. Sloterdijk (Hg.), Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker, gesammelt von M. Buber. München 1993. Huxleys Buch wurde fünf Jahre nach seinem Erscheinen (engl. 1944) auch in deutscher Übersetzung publiziert (1949, Neuausgabe 1987).

79

Cf. Buber 1962—64.

80 81 82

Buber 1909, xvii (Vorwort). Huxley 1987, 5 (Einleitung). Ebda.

83 84

Cf. Zimmermann 1981, Böhme 1982, Albert 1986 und Wagner-Egelhaaf 1989. Cf. Dürr 1986. Bei Zimmermann 1981 wird auch der Physiker W. Heisenberg berücksichtigt (a.a. O., 202 ff.). Aus populärer New-Age-Perspektive wird der Zusammenhang von Mystik und Physik erörtert bei Capra und Talbot (Capra 1977, 1983 und 1987, Talbot 1980).

85 86

Zimmermann 1981. Zimmermann schreibt den Namen des 'Vaters der abendländischen Dionysos statt Dionysios/Dionysius.

87

Ein weiteres Verdienst der Zusammenstellung und des Kommentars von Zimmermann besteht darin, daß er die — von anderen Autoren meist gedankenlos oder auch wider besseres Wissen ausgeklammerte — jüdische Mystik als integralen Bestandteil der europäischen Mystiktradition mit berücksichtigt.

Mystik' durchgehend falsch:

88

Ruhbach/Sudbrack 1989.

89 90

Cf. Karrer 1926 und Bernhart 1926. Görres 1879. Dabei handelt es sich um die 2., ergänzte Auflage. Band 1 der 1. Auflage erschien bereits 1836.

91

Detaillierter als in der Einleitung zu vorliegendem Sammelband ist diese Mystikkonzeption dargestellt in: Sudbrack 1988, Kap. V, 89 ff.

92

Cf. Peters 1988. In dieser Untersuchung wird anhand der mittelalterlichen Quellen der verbreitete Topos der 'naiven' Frauen, die von geistlichen Beratern ermuntert werden, 'ihre' Erfahrungen aufzuzeichnen, gründlich destruiert. Peters zeigt, daß es sich um ein im Mittelalter gängiges — vielfach als Fiktion einzustufendes — Klischee literarischer Selbstdarstellung handelt, wenn 'ungebildete' Frauen erst von ihrem Beichtvater zum Aufschreiben ihrer 'unmittelbaren' Erlebnisse ermuntert und legitimiert werden. 'Ungebildetheit' und 'Unmittelbarkeit' des religiösen Erlebens erweisen sich vielfach als bloße Stilisierung. Dahinter steht oft eine verhältnismäßig fundierte theologische Bildung dieser Frauen sowie die Kenntnis literarischer Frömmigkeitsvorbilder, die als formprägende Wahrnehmungs- und Interpretationsraster die 'Unmittelbarkeit' des Erlebens stark relativieren.

93

Cf. beispielsweise Otto 1926, wo im 6. Kapitel (82 ff.) die 'gemeinsame' Mystik Eckharts Schankaras gegen 'Illuminaten'-, 'Empfindungs'- und 'Naturmystik' abgegrenzt wird.

und

94

Cf. Denifle 1886. Denifles These war, daß Eckharts Denken weder eigenständig noch speziell als Mystik zu veranschlagen sei, sondern daß es sich — im Vergleich zu Thomas von Aquin — um epigonale und somit zweitrangige zeitgenössische Scholastik handle. Diese abwertende Einschätzung ist angesichts späterer und auch neuester philosophischer Rekonstruktionen freilich nicht auf-

556

Anmerkungen:

S. 61 — 65

recht zu erhalten (cf. Welte 1979, Mojsisch 1983, Waldschütz 1989). Verdienstvoll an der Deutung Denifles ist jedoch, daß sie die Eckhart-Rezeption in einen elaborierten philosophischen Kontext zurückgeführt und dem halbintellektuellen Schwärmertum, das in Eckhart einen umstürzend 'genuinen' Denker wahrnehmen wollte, eine nüchterne Alternative gegenübergestellt hat. 95

Flasch 1984 und 1988.

96

Den Ausdruck 'deutsche Mystik' prägte der Hegelianer Karl Rosenkranz in seiner Besprechung der Diepenbrockschen Seuse-Ausgabe, erschienen in den Berliner Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik 1831 sowie in seiner Geschichte der deutschen Literatur, Königsberg 1836 (cf. Haas 1989, 9). Durch die nationalistische und — als deren Zuspitzung — die 'völkische' Rezeption ist der Ausdruck 'deutsche Mystik' heute mit der Last historischer und ideologischer Fehldeutungen befrachtet. Der von jüngeren Forschem bevorzugte Ausdruck 'rheinische Mystik' hat den Vorteil, unzutreffende nationale Raster zu vermeiden und die kulturelle und geistesgeschichtliche Einheit der deutschen, französischen und niederländischen Mystik des Mittelalters zu betonen.

97

Cf. Haas 1989, 45—58 und 2 3 - 4 4 .

98

Cf. Gadamer 1960.

99 James 1979. Die folgenden Zitate beziehen sich auf die deutsche Ausgabe. 100 James 1979, 358. 101 James 1979, 359. 102 James 1979, 367. 103 James 1979, 366. 104 Dt. 1928. 105 Cf. Inge 1899 und 1907. 106 Underhill 1928, 557. 107 Albert 1986. 108 Albert 1989. Cf. insbesondere Teil 4 (339 ff.). 109 Albert 1989, 373 110 Albert 1989, 374. 111 van Praag 1990. 112 van Praag 1990, 169. 113 van Praag 1990, 173. 114 Karl Albert konstatiert auf Eckharts Denkweg ein vorübergehendes Abweichen von der grundlegenden Lehre esse est deus, die bereits Denifle als den "Ausgangspunkt in Eckeharts System" (Denifle 1886, 436) namhaft gemacht hatte. Spätestens im Opus tripartitum jedoch, so Albert, finde Eckhart "wieder zu der allgemein-scholastischen Lehre von der Identität Gottes und des Seins zurück" (Albert 1976, 131 f.). Dabei hat Eckhart, wie er immer wieder durch eine Differenzierung zwischen 'esse formale' und 'esse hoc et hoc' einerseits sowie durch weitere innere Differenzierung des 'esse formale' andererseits zu zeigen bemüht ist, keinen Pantheismus im Sinn, obwohl ihm dieser von seinen Gegnern und auch in der päpstlichen Verurteilungsbulle unterstellt wird. Die zur Abgrenzung gegenüber dem Pantheismus so wichtige scholastische Unterscheidung zwischen ens creatum und ens increatum ist jedoch, denke ich, auch ohne theologischen Hintergrund strukturell denkbar: nämlich als Duplizität von kategorialer und nichtkategorialer Wirklichkeitserfahrung. 115 Ich behaupte nicht, daß die anzuführenden Merkmale transkulturell verallgemeinerbar sind — darüber können erst vergleichende Studien befinden —, sondern nur, daß sie sich unter Umständen als verallgemeinerbar erweisen könnten. 116 Behn 1957, 8. 'Mystisch' ist demnach die unmittelbare mystische Erfahrung, 'mystologisch' das (theoretische) Reden über Mystik und 'mystagogisch' das Bemühen, andere Menschen im Hinblick auf Mystik vorzubereiten und zu erziehen. 117 Eckhart 1993.

557

Anmerkungen:

S. 65 —

86

118 Diese Numerierung ist nicht identisch mit der Numerierung der von übersetzten Predigten und Traktate Eckharts, die Quint Eckhart-Ausgabe stehenden Band — Meister Eckehart,

in einem Deutsche

Quint ins Neuhochdeutsche

eigenen, außerhalb der großen Predigten

und Traktate — pub-

liziert hat (cf. Eckehart 1963). Eine Konkordanz findet sich am Schluß der Largier-Ausgabe. 119 Ruhbach/Sudbrack 1989. 120 Zur islamischen Mystik cf. die Arbeiten von Tor Andrae Mystik die Arbeiten von Gershom

Scholem,

und Annemarie

Schimmel,

zur jüdischen

neuerdings auch von Moshe Idel und Eveline

Good-

man-Thau. 121 Hegel, Werke 5, 93: "Sein und Nichts ist dasselbe." Der Satz drückt laut Hegel ein 'Werden' und eine 'Bewegung' aus, die zu seinem eigenen 'Verschwinden' führt. 122 Cf. vor allem Eckharts Opus tripartitum

und dazu: Albert 1976a und 1987.

123 Cf. Waldschütz 1989. Dort wird d a s ' D e n k e n und Erfahren des Grundes' in der Philosophie Eckharts folgendermaßen resümiert: Der Grund ist "der Durchherrschende,

Freigebende,

zu

Selbst-

sein-Ermächtigende, gleichzeitig aber dieses Selbst-Sein über sich Hinaustreibende — in den Grund hinein. So erscheint er als Grund, der immer schon sein läßt und nur so ist, und als Ziel des Seins, welches erst und nur in einem Gründen, also im Vollzug des Grund-Seins 'erreicht' ist, sich aber gerade als 'Erreichtes' nie haben läßt." (12) 124 Daher ist die These d e r ' B o c h u m e r Schule'(Flasch u.a.), die Eckhart a l s ' r e i n e n '

Philosophen und

dezidierten Nicht-Mystiker interpretiert, sachlich kaum haltbar. Bei Philosophen

wie Hegel, -

Schopenhauer oder Jaspers, die dieses 'mystische' Problem der schlechthinnigen Transzendenz von Kategorialität nur auf der Ebene abstrakter Überlegungen abhandeln, also nicht zugleich über mystische Erlebnisse berichten, wäre zudem zu fragen, inwiefern ihre

Problemstellung — in mehr

oder minder entfremdeter Weise — nicht doch auch von einer (teilweise verschütteten)

Erlebnisdi-

mension her bestimmt sein könnte. 125 Cf. Gregor von Nyssas Kommentar zum Hohen Lied (RS, 65 ff.) 126 Zur Grund-Problematik bei Eckhart cf. Waldschütz 1989. 127 Langer 1987, cf. insbesondere Teil 2. 128 Cf. Buber 1909, 226 ff. und Thurston 1956. 129 Cf. Buber 1984, 226 ff. 130 Der Ausdruck metanoia

wird in diesem Zusammenhang von Schopenhauer aufgegriffen,

dessen

Lehre von der Selbstdestruktion des Willens vermittels 'Erkenntnis' (die sich aus der Dienstbarkeit gegenüber dem Willen emanzipiert hat und bemüht ist, eine gegenüber Gegenständlichkeit und kategorialer Vielheit 'andere Welt' zu erschließen) zweifellos als quasi-mystische Metaphysik zu betrachten ist. 131 In diesem Punkt dürfte Heidegger in seinem Versuch, den eigenen

Begriff der 'Gelassenheit' ge-

genüber Eckhart abzugrenzen, einem Mißverständnis erlegen sein. Cf. Heidegger, "Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem

Feldweggespräch über das Denken", in: ders. 1959, 27-71. Indem

Heidegger kritisiert, "daß auch die Gelassenheit noch innerhalb des Willensbereiches gedacht

wer-

den kann, wie dies bei älteren Meistern des Denkens, z.B. dem Meister Eckhart, geschieht" (33 f.), verkennt er die radikale Transzendenzbewegung der eckhartschen Begriffe von 'Gott' und 'göttlichem Willen'. Dieser nämlich bedeutet j a eine Aufhebung jeglichen partialen

Willens und somit

des Willensbegriffes überhaupt. In der unio steht der göttliche Wille (als nunmehrige

contradictio

in adjecto) dem (ausgelöschten) menschlichen Willen nicht mehr gegenüber, da beide eins geworden sind. 132 Z u m Augenblickscharakter der Mystik cf. Wohlfart 1982 und Girndt 1992. 133 Der

fajiras-Begriff

wird — als 'Schnittpunkt von Zeit und Ewigkeit' — besonders auch bei S.

Kierkegaard bemüht. Cf. Der Begriff Angst u.a. 134 Cf. Haas 1989.

558

Anmerkungen:

S. 87 —

105

135 Dieses Leiden wird von einigen Mystikern analog zum weltlichen Liebesleid gedacht,

wie es auch

im höfischen Minnesang formuliert wird. Hauptsächlicher Referenztext in der mystischen Literatur bleibt dabei freilich das alttestamentarische

Hohe Lied, in dem das Motiv der (vorübergehenden)

' F e m e des Geliebten' in emotional gesteigerter Rede dargestellt wird. Cf. Hadewijch

(RS, 141

ff.). 136 Cf. Langer 1987a. 137 Cf. Haas 1989 und Fuchs 1989. 138 Zur Darstellung von Mystik als 'sozialem Tod' cf. Macho 1987. 139 Cf. SuZ §§ 46—53. 140 Diese spielt eine besondere Rolle z.B. bei Johannes vom Kreuz (cf. Lorenz 1991). 141 Cf. Dionysius Areopagita (D, 163 f.), aber auch schon Origenes und Gregor von Nyssa (cf. Viller/ Rahner 1989). 142 Cf. Dionysius Areopagita (D, 163 f.). 143 Albert 1986, 57 ff. und 70 ff. 144 Zum folgenden cf. den Artikel "Aufstiegsschemata" von U. Köpf in: Dinzelbacher 1989, 35—37. 145 Cf. RS, 150 ff. 146 Die lateinische und die mittelhochdeutsche Fassung wurden von M. in Geschichte und Gegenwart.

Schmidt in der Reihe Mystik

Abteilung I: Christliche Mystik ( = Bde. 1 und 2) neu herausgegeben

(cf. Biberach 1985). 147 Köpf 1989, 37. 148 'Vorkonzeptuell' ist hier natürlich nicht im strengen Sinn gemeint, sondern dahingehend, daß die mystische Erfahrung nicht immer schon ausdrücklich

auf eine theoretische Mystikkonzeption be-

zogen sein muß und auf dieser Stufe einen größeren Interpretationsspielraum offenläßt. 149 Cf. beispielsweise Zimmermann 1981, Vorwort. 150 Über das Verhältnis von Mystik und Poesie gab es in den 20er und 30er Jahren eine lebhafte Diskussion. Neben P. Claudel und J. Maritain cf. vor allem Bremond 1929, aber auch Merton 1974 und die Beiträge von W. Frühwald, G. Mayer und O. Pöggeler in: Böhme 1987, 229 ff. 151 Ausführlicher zur Theoriediskussion cf. Abschnitt 3. 152 Quint 1928 und 1953. 153 Haug 1986. 154 Die sprachliche und mediale Dimension der Mystik nicht oder

unzureichend zu

berücksichtigen,

ist ein Defizit der älteren philosophischen Mystikforschung. Dieser Vorwurf trifft auch die Arbeiten von K. Albert (Albert 1986). 155 Cf. Kutschera 1975, 289 ff. und Koller 1988, 212 ff. Die Auffassung von 'Sprache als Gefängnis' vertreten insbesondere Nietzsche und Mauthner, in abgeschwächter Weise auch B.L. Whorf, die alle im methodologischen Niveau ihrer Überlegungen zu Freiheit und Determiniertheit von

Spra-

che/Erfahrung hinter Humboldt zurückzufallen scheinen. 156 Eine genauere Darlegung des Symbolbegriffs und seiner

Bedeutung

sowohl für eine allgemeine

Erfahrungstheorie wie für eine philosophische Anthropologie findet sich bei den Autoren E. Cassirer, S.K. Langer, A . N . Whitehead, Ν. Goodman und O. Schwemmer. 157 So z.B. in einer Vision der 'Liebe', wie Seuse sie beschreibt: "Sie war fem und nah, hoch und niedrig, sie war gegenwärtig und doch verborgen. Sie ließ mit sich umgehen und doch vermochte niemand sie zu greifen. Sie reichte über den obersten Kreis des höchsten Himmels und berührte das Tiefste des Abgrundes. Sie verbreitete sich von einem Ende zum andern gewaltiglich und richtete alle Dinge süßiglich aus. Wenn er jetzt wähnte eine schöne Jungfrau zu haben, fand er alsbald einen edlen Jüngling. Sie gebärdete sich zuweilen als eine weise Meisterin, zuweilen hielt sie sich wie eine gar stattliche Minnerin." (RS, 217) 158 Cf. Luhmann/Fuchs 1989, 46 ff. und Watts 1984.

559

Anmerkungen:

S. 106 —

117

159 Κ. Albert hat den mystischen Weg mit seinen Stufen und seiner Endabsicht auf einleuchtende Weise als 'pädagogisches Konzept' mittelalterlicher Bildung rekonstruiert (cf. Albert 1990, 39—45). 160 Eckharts Orthodoxie wird neuerlich betont bei: Stimimann/Imbach 1992. 161 Sofern man sich um einen einigermaßen stringenten Mystikbegriff bemüht, wird die 'Paramystik' meist ausdrücklich oder unausdrücklich ausgeklammert. Anders hingegen bei Walther 1923. 162 Cf. Hildegard von Bingen (RS, 123 ff.) 163 Cf. die bei Christine Ebner überlieferten'Gnadengeschichten' (RS, 194 ff.). 164 Cf. Christine von Stommeln (RS, 170 ff.). 165 Dies trifft für die Mehrzahl der Mystikertexte zu, die J. Lanczkowski

in ihre Sammlung

Erhebe

dich, meine Seele (Lanczkowski 1988) aufgenommen hat. 166 Über die Berührungspunkte von Mystik und Parapsychologie cf. Resch 1983. 167 Zur Terminologie 'statisch-dynamisch' cf. Bergson 1980. 168 Dies

zeigt sich augenfällig auch in Dinzelbachers Wörterbuch

der

Mystik (Dinzelbacher

1989),

das sich — im Widerspruch zu seinem Titel und abgesehen von einigen Randbemerkungen — völlig auf die christliche

Mystik beschränkt. Mystik wird vorweg definiert als "das Streben des Men-

schen nach unmittelbarem Kontakt mit Gott vermittels persönlicher Erfahrung schon in diesem Leben sowie seine Empfindungen und Reflexionen auf diesem Weg und endlich die Erfüllung dieses Strebens" (a.a.O., VI). 169 Cf. Brunner 1924. 170 Cf. Schwarz 1984 und 1987 sowie Oberman 1986, 45 ff. 171 Preger 1874—93. 172 Cf. Sudbrack 1988, Kap. VII, 133 ff. 173 Zitiert nach Dinzelbacher 1989, 311 f. 174 Liebe ist in der Mystikkonzeption des katholischen Theologen A. Mager

— wohl im Anschluß an

Augustin — der zentrale Begriff (cf. Mager 1934 und 1946 sowie Salmann 1978). 175 So M. Figura in: Dinzelbacher 1989, 37. 176 Viller/Rahner 1989. 177 Viller/Rahner 1989, 22. 178 Cf. beispielsweise Dinzelbacher/Bauer 1985 und 1988, Böhme 1987 und Schmidt 1987. M . Schmidt und H. Riedlinger geben seit 1985 bei frommann-holzboog die Reihe "Mystik in Geschichte und Gegenwart" heraus. 179 Cf. Sudbrack 1988, 17; Wehr 1988, 10 f.; Haas 1989, 7. 180 Im Rahmen der großen Eckhart-Ausgabe bei Kohlhammer (Stuttgart) sind mittlerweile die schen Werke (DW) zwar abgeschlossen, aber noch immer nicht die Lateinischen

Werke

Deut-

(LW).

181 Cf. Görres 1879 und Preger 1874—93. 182 Kolbenhey er thematisiert die deutsche Mystik aus einer faschistischen bzw. präfaschistischen Optik in seinen Romanen Das gottgelobte

Herz: Roman aus der Zeit der deutschen

Mystik (1938), einer

schwülstigen Lebensbeschreibung der Mystikerin Margarethe Ebner, sowie Meister Joachim

Pau-

sewang: Ein Roman aus der Zeit Jakob Böhmes (1910). Cf. dazu: Wagner-Egelhaaf 1989, Kap. V, 148 ff. 183 Landauer 1923. 184 Inge 1899 und 1907, Underhill 1911 (dt. 1928). Diese religiösen Schriftsteller dürften indirekt auch die Mystikkonzeptionen bei Russell und Wittgenstein beeinflußt haben. 185 Cf. Lämmert 1967. 186 Ein Beispiel solch interdisziplinärer Bemühung der Germanistik bietet: Ruh 1986. 187 Cf. Haas 1989, darin insbesondere die Aufsätze "Was ist Mystik?" (a.a.O., 23—44, zuerst erschienen in: Ruh 1984, 319—341) und "Von der Eigenart christlicher Mystik: Meister Eckhart als Maßstab" (45—58). 188 Haas 1989, 46.

560

Anmerkungen:

S. 118 —

124

189 Haas 1989, 51. 190 Haas zeichnet Grundlinien einer Theorie der Mystik, die auch für die philosophische Reflexion von Bedeutung sind. Allerdings differenziert er nicht zwischen

(ontologischer)

'Leere' und (morali-

scher) 'Sünde', und er sichert seine Heteronomie-These nirgendwo gegen die Möglichkeit ab,

sie

für einen blinden Autoritätsglauben und für eine pauschale Zurückweisung jeglichen Autonomiegedankens zu mißbrauchen. 191 Cf. Ruh 1984, VII ff. 192 Cf. Schmidt/Bauer 1986 sowie Dinzelbacher/Bauer 1985 und 1988. 193 Dinzelbacher 1989, 175 ff. 194 Daß solche Topoi auch von namhaften Forschern aufrecht erhalten

werden, ist ein Indiz für die

mangelnde Interdisziplinarität der Forschung. A. Schimmel hat z.B. für die islamische Mystik das Wirken und den Einfluß zahlreicher Frauen nachgewiesen. 195 Auf dem Symposium Abendländische

Mystik im Mittelalter

(Ruh

1984) war einer der fünf Tage

dem Thema Eckhart gewidmet (cf. a.a.O., 1 ff.). 196 Langer 1987. Der Autor vertritt die These, daß nicht nur Eckhart die Frauenmystik beeinflußt habe, sondern daß ein solcher Einfluß auch umgekehrt zu verzeichnen sei. 197 Cf. dazu Ruh 1985, Haas 1984, Albert 1987 und Waldschütz 1989. 198 Cf. Mojsisch 1983 und 1988. 199 Cf. die Einführung (13 ff.) in: Ruh 1990. 200 D. Schmidtke weist in der 'Einleitung' zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband chiu gotes erkennusse"

"Minnichli-

(Schmidtke 1990) darauf hin, daß J. Gerson ( + 1429) den Ausdruck Mystik

bereits als einen "Allgemeinbegriff, der der heutigen umgangssprachlichen Verwendung nahekommt" (a.a. O., 8) verwendet habe. Wichtiger als solche vorerst folgenlose Antizipationen eines späteren allgemeinen Sprachgebrauchs, den Einzelne vorgenommen haben

mögen,

ist jedoch,

wann dieser allgemeine Sprachgebrauch in der Sprachgemeinschaft zur tatsächlich wirksamen und verbreiteten Gepflogenheit geworden ist. 201 Zum Wandel des Eckhartbildes cf. Degenhardt 1967 und Waldschütz 1991. 202 Cf. Waldschütz 1989. 203 Wagner-Egelhaaf 1989 und 1991. 204 Cf. hierzu die Beiträge von H . D . Zimmermann und P.K. Kurz in: Böhme 1982, 9 ff. und 59 ff. 205 Cf. den Mystik-Artikel im Philosophischen

Wörterbuch

von G. Klaus und

M. Buhr, 12. Aufl.,

Leipzig 1974, sowie Seidel 1990 und Bloch 1968. 206 Hier sei auf die — auch von marxistischer Seite vielfach angefochtenen — Beurteilungen wiesen, die G. Lukäcs in Die Zerstörung

hinge-

der Vernunft, Neuwied-Berlin 1962, vorgetragen hat.

207 Z.B. Peters 1988. 208 Grundmann 1935. 209 Luhmann/Fuchs 1989. 210 Tractatus,

§ 6.41 ff.

211 Cf. Luhmann/Fuchs 1989, 7 ff. 212 Luhmann/Fuchs, 84. 213 Luhmann/Fuchs 1989. Cf. insbesondere die Beiträge "Die Weltflucht der Mönche.

Anmerkungen

zur Funktion des monastisch-aszetischen Schweigens" (21 ff.) und "Vom Zweitlosen: Paradoxe Kommunikation im Zen-Buddhismus" (46 ff.). 214 Zur Soziologie des Schweigens cf. Bellebaum 1992. 215 Zur Anwendung der Systemtheorie auf Religion cf. Luhmann 1977. 216 Cf. Eliade 1982. 217 Zu Aberglauben

cf. Albertz 1987, zu Magie Petzold 1978 und

Malinowski 1973.

Magie wird

auch bei Bergson und Cassirer im Zusammenhang mit Mythos, Religion, Rationalität und

Erfah-

rung eigens diskutiert (cf. Bergson 1980, Cassirer 1964/11).

561

Anmerkungen:

S. 124 — 135

218 Cf. Eliade 1957. 219 Albert 1991, 46 ff. 220 Zu den Eigenarten mythischen Denkens cf. Cassirer 1964/11. 221 Cf. Havelock 1992. 222 Cf. Havelock 1963. 223 Z.B. Delacroix 1908, Marechal 1924 oder Mager 1946. 224 Dies trifft z.B. für die Arbeiten von C. Albrecht zu (Albrecht 1951 und 1958). 225 Cf. Weismayer 1990. 226 Sudbrack 1988, 90 ff. 227 Albrecht 1951 und 1958. 228 Zitiert nach Sudbrack 1988, 99. 229 Ebda. 230 Cf. die Beiträge von L. Müller/Th. Seifert und M.L. von Franz in: Zundel/Fittkau 1989, 247 ff. und 263 ff. 231 James 1979, 358 ff. 232 Cf. Freud 1969 ff., insbesondere Bd. IX: Fragen der Gesellschaft.

Ursprünge der

Religion.

233 Freud 1969 ff., Bd. IX, 197 f.: "Ich selbst kann dies 'ozeanische Gefühl' nicht in mir entdecken." Der Ausdruck 'ozeanisches Gefühl' erinnert an das Bild des vom 'Ozean' des Ungewissen und Undenkbaren umspülten 'Eilandes der reinen Vernunft' bei Kant. Kants Vorbehalte gegenüber dem 'Ozean' können retrospektiv natürlich leicht als Angst vor dem 'Es'-Zustand interpretiert werden (cf. Böhme/ Böhme 1983). 234 Pfister 1911. 235 Zitat aus dem Artikel "Psychologie der Mystik" von V. Satura in: Dinzelbacher 1989, 428. 236 Zur Gnosis cf. unten Kap. 4.1. 237 Silberer 1914. 238 Zu Silberer cf. M. Wagner-Egelhaaf 1989, 52 f. 239 Cf. vor allem Jungs Schriften Psychologische Typen (1921) sowie Psychologie (1944).

und

Alchemie

240 Zur Gnosis bei Jung cf. Evers 1988. 241 Cf. Zundel/Fittkau 1989. 242 Freiburg i.Br. (10. Aufl.) 1975, 78. 243 Zur Pathognostik cf. Heinz 1986/1987/1990. 244 Deikman 1986. 245 "Religion und Mystik beschäftigen sich beide mit dem Bereich des Heiligen, doch die meisten Religionen assoziieren das Heilige mit einer Gottheit, während die Mystik das Heilige mit dem unerkannten Wahren Selbst in jedem Menschen gleichsetzt." (Deikman 1986, 13) 246 Zimmermann 1981 (Vorwort) und 1982. 247 Zimmermann 1982, 9. 248 Albert 1976 und 1989. Einen Gesamtüberblick über die Philosophie Alberts und insbesondere auch über seine Arbeiten zur Ästhetik gibt Jain 1986. 249 Der Zusammenhang der Begriffe 'ontologische' und 'mystische' Erfahrung ist bei Albert selbst nicht gänzlich geklärt. Folgt man Alberts konkreten Erläuterungen, handelt es sich jedoch zweifellos um eine synonyme Verwendung. 250 Rosenberg 1930. 251 Ein Beispiel aus Rosenbergs unbedarfter Interpretation: Wenn Eckhart im christologischen Kontext vom 'Wert des Blutes' (Christi) spricht, deutet Rosenberg dies als Vorausahnung der 'Wahrheit' des modernen rassistischen 'Mythos vom Blut'. Degenhardt 1967 geht auf Rosenbergs 'Aneignung' Meister Eckharts näher ein: a.a.O., 261—276.

562

Anmerkungen:

S. 135 — 142

252 Eines dieser 'Führer'-Gedichte Schirachs lautet: "Ihr seid viel tausend hinter mir,/ und ihr seid ich, und ich bin ihr./Ich habe keinen Gedanken gelebt,/der nicht in euren Herzen gebebt./Und forme ich Worte, so weiß ich keins,/das nicht mit eurem Wollen eins./ Denn ich bin ihr, und ihr seid ich,/ und wir alle glauben, Deutschland, an dich!" Oder ein anderes: "Das ist an ihm das Größte: daß er nicht/ nur unser Führer ist und vieler Held,/ sondern er selber: gerade, fest und schlicht,/ daß in ihm ruhn die Wurzeln unserer Welt/ und seine Seele an die Sterne strich/ und er doch Mensch blieb, so wie du und ich..." (Zitiert nach: Deutsches Lesebuch für Volksschulen. Vierter Band. Hg. v.d. Reichsstelle f.d. Schul- und Unterrichtsschrifttum u.d. Reichsverwaltung des Nationalsozialistischen Lehrerbundes. Leipzig 1943, 427 und 502). 253 Wagner-Egelhaaf 1989 sieht in dieser modernen Differenzerfahrung die eigentliche Motivation, sich im 20. Jahrhundert mit Mystik zu befassen. Dies betrifft nicht nur die 'völkische' Mystikrezeption. In ihren Fallstudien zu Rilke, Musil und Handke zeigt die Autorin, daß der Rekurs auf 'verlorengegangene' bzw. 'wiederzugewinnende' Einheit auch auf intellektuell und moralisch weitaus anspruchsvollerem Niveau als bei Rosenberg möglich ist. Ein fragwürdiger Fall ist freilich der 'völkische' Romanschriftsteller E.G. Kolbenheyer, dem Wagner-Egelhaaf in ihrem genannten Werk eine vierte Fallstudie widmet (a.a.O., 148—171). 254 Zu den 'modernen Mythen' cf. Cassirer 1985a, besonders das Schlußkapitel: "Die Technik der modernen Mythen", 360 ff. 255 Voegelin 1966. 256 Cf. Bloch 1918. Trotz der gravierenden Unterschiede sowohl im intellektuellen Niveau wie in der humanistischen bzw. völlig antihumanen Zielsetzung ist Rosenberg mit Bloch darin vergleichbar, daß beide Mystik als Gegeninstanz zum 'seelenlosen' Rationalismus der Moderne bzw. des Kapitalismus anrufen. Zu dieser Analogie cf. auch Wagner-Egelhaaf 1989, Kap. II.2: "Die Vision am metaphysischen Abgrund (Bloch, Klages, Rosenberg" (a.a.O., 38—43). 257 Landauer 1923. 258 Cf. Cassirer 1985a, Schlußkapitel. 259 Dürr 1986. Der Band enthält Beiträge von M. Planck, J. Jeans, A. Einstein, M. Born, A. Eddington, N. Bohr, E. Schrödinger, W. Pauli, P. Jordan, C.F.v. Weizsäcker, D. Böhm und W. Heisenberg. 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273

274 275 276 277

Dürr 1986, 17. Dürr 1986, 11. Cf. Heisenbergs Text "Der Teil und das Ganze", in: Zimmermann 1981, 202—232. Cf. Capra 1977, 1983 und 1987 sowie Talbot 1980. Dürr 1986, 8. Zitiert nach Dürr 1986, 195. Dürr 1986, 205. Dürr 1986, 195. Zitiert nach: Dürr 1986, 239. Kuhn 1967. Derrida 1989. Cf. Wagner-Egelhaaf 1991. Albert 1986. Cf. Struve 1969 und 1983. Struve war — ohne Affinität zu dessen Philosophie — ein Schüler und Freund Heideggers, habilitierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg an der Universität Freiburg i.Br. und bekleidete dort später einen philosophischen Lehrstuhl. Schneider 1983. Schneider 1983, 10. Schneider 1983, 27. Schneider 1983, 120.

563

Anmerkungen:

S. 142 — 150

278 Schneider 1983, 67. 279 Schneider 1983, 135. 280 Schneider 1983, 148. 281 Schneider 1983, 138. 282 Schneider 1983, 100. 283 Es gibt freilich Äußerungen Nietzsches, vor allem im Frühwerk, die den 'mystischen Gedanken' der All-Einheit zum philosophischen 'Grundgedanken' schlechthin erklären. Für eine immanente, am Text orientierte Nietzsche-Interpretation ist es aber wohl kaum zulässig, diese Stellen als Schlüsselstellen für sein gesamtes Denken verstehen zu wollen. 284 Macho 1987. 285 Macho 1987, 348. Er bezieht sich auf Meyer 1982, 44. 286 Macho 1987, 347 f. 287 Sommer 1990, 111—118. 288 Sommer 1990, 111. 289 Sommer 1990, 112. 290 Ebda. 291 Sommer 1990, 114. 292 Otto 1917. 293 Sommer 1990, 14. 294 Sommer 1990, 116. 295 Ebda. 296 Wundt 1914, 147. 297 Sommer 1990, 117. 298 Ebda. 299 Sommer 1987. 300 Eine spätere Zusammenfassung dieser Ausführungen gibt Sommer in einem Aufsatz (cf. Sommer 1988). 301 Sommer 1988, 293. 302 Koslowski 1988a und 1989, besonders 143 ff. 303 Koslowski 1988a, 9. 304 Koslowski 1988a, 11. 305 Koslowski 1988a, 12. 306 Koslowski 1989, 145. Koslowskis Aneignung des Namens 'Postmoderne' für seine kirchlich-fundamentalistisch orientierte Philosophie ist natürlich mißverständlich. Daher wird sie hier auch unter Gänsefußchen gesetzt. 307 Mynarek 1991. 308 HWPh Bd. 6, 268 ff. 309 Die Religionsphilosophie bei H. Cohen und F. Rickert ist hier freilich differenzierter zu betrachten. Mystik wird zwar aus dem rationalen Diskurs ausgegrenzt, als Lebensform jedoch emstgenommen. 310 Zu Jaspers cf. Goslich 1991a, zu Heidegger cf. Vetter 1991. 311 Camus 1978. 312 Cf. Morris 1971, Stace 1960, Staal 1975, Katz 1978. 313 Dies gilt — mit Einschränkungen — auch für die jüdische Philosophie. 314 Zum Neuplatonismus cf. Zintzen 1977 sowie die Arbeiten von W. Beierwaltes, vor allem: Beierwaltes 1985. 315 Zu Plotin cf. Beierwaltes 1987, zu Proklos Beierwaltes 1979. 316 Enneade II 9. 317 Zu Dionysius Areopagita cf. Ruh 1990, Kap. 1.

564

Anmerkungen:

S. 151 — 159

318 In der Literatur zur christlichen Mystik wird meist unterschlagen, daß diese Hohelied-Auslegung der Kirchenväter aus der jüdisch-rabbinischen Tradition übernommen wurde. 319 320 321 322

Ruh 1990a. Albert 1986. Cf. Mieth 1969 und Haas 1989. Zur Gnosisforschung cf. Jonas 1934/1954, Rudolph 1975 und 1990, Brumlik 1992. Um eine (positiv bewertete) Aktualisierung von Gnosis im Kontext der Postmoderne-Diskussion bemühen sich Sloterdijk/Macho 1991 sowie Koslowski 1988 und 1989.

323 An diese Unterscheidung knüpft auch P. Koslowski an, wenn er ('wahre') Gnosis und ('falschen') Gnostizismus auseinanderhalten will (Koslowski 1988a). 324 Voegelin 1966. Cf. diesbezüglich auch Taubes 1984. 325 Zu Müntzer cf. Langer 1993. 326 Eine synoptische Interpretation von Mystik, Gnosis und Alchemie findet sich bei C.G. Jung. Man geht im übrigen sicher nicht fehl, wenn man den modernen Mythos des ungebremsten technologischen Fortschritts nicht nur aus dem cartesisch-rationalistischen Ansatz begreift, sondern ihn auch als säkularisierte Fortsetzung der alchemistischen Utopie interpretiert. Die heutige 'Computermystik', die sich im Kontext der Künstlichen-Intelligenz-Forschung die Möglichkeit ausmalt, der menschliche Geist werde sich demnächst in seiner Struktur und in seinen Potenzen selbst erkennen, selbst herstellen und sich selbst sogar transzendieren können, ist demnach — im Sinn der vorangegangenen Erörterung — begrifflich genauer und sachlich angemessener als ' Computergnoii's' anzusprechen. 327 G. Wehr betitelt in seiner Darstellung der deutschen Mystik deren neuzeitlichen Abschnitt mit: 'Christliche Theosophie' (Wehr 1988, 217 ff.). 328 Zur modernen Theosophie cf. die Darstellung von Figl 1993, 14 ff. 329 Von den Exponenten einer konfessionell gebundenen Mystik — z.B. von J. Sudbrack — wird die Theosophie freilich als eine unvollkommene und z.T. abwegige "Mystik des ('bloßen') Selbst", die die wahre "Gottesmystik" verfehle, kritisiert. Als entscheidend gilt hiefür, daß Gott in solchen Konzeptionen nicht transzendent genug aufgefaßt und daß der 'Seelenfunke' nicht als Hinweis auf Gott, sondern als das Göttliche selbst aufgefaßt werde. Gibt man sich — intellektuell wie emotional — mit dem 'Gott in uns' zufrieden, spielen 'objektive' Instanzen wie die Lehrautorität der Kirche natürlich keine notwendige Rolle mehr. 330 Wehr 1988, 220. 331 Cf. Russell 1910. Die Analogien zu Wittgensteins Mystikverständnis werden herausgestellt bei: McGuinness 1989. 332 Otto 1963, 25. 333 Man kann hier das Fortwirken einer oralen Mnemotechnik vermuten, in der das formale Moment der Alliteration als Indiz für inhaltliche Zusammengehörigkeit gewertet und — aufgrund der Verschwommenheit der mit den Wörtern verbundenen Vorstellungen — auf eine kritische Überprüfung der so zustande gekommenen Assoziation verzichtet wird. 334 Neuere 'Mythosphilosophen' wie Cassirer und Hübner betrachten den Mythos gleichsam als eigenständige Vernunftform (mit eigenen quasi-vernünftigen Kategorien und Anwendungsregeln) neben der wissenschaftlich-rationalen Vernunft (Cassirer 1964/11, Hübner 1985). Andere — wie Levi-Strauss oder Blumenberg — betonen noch ungleich stärker den Analogiecharakter von Mythos und Rationalität, indem sie für beide die Gemeinsamkeit einer Formalstruktur binärer Oppositionen (Levi-Strauss 1973) oder die Gemeinsamkeit unhintergehbarer Metaphern (Blumenberg 1979) unterstellen. Zur Geschichte und Gegenwart der philosophischen Mythosdiskussion cf. Jamme 1991 und 1991a. 335 Wilson 1993. 336 Dupre 1973.

565

Anmerkungen: S. 159 — 164

337 Koslowski 1989. 338 Cf. Albert 1982, 72 ff. 339 Cf. Imamichi 1985. 340 Eine Interpretation der Philosophie Piatons aus der Perspektive des Streites zweier Kommunikationstechnologien — Oralität und Literalität — unternimmt der englische Altphilologe E.A. Havelock (Havelock 1963, 1978, 1984). Eine umfassende Darstellung zum Thema liefert: Szlezäk 1985. 341 Ich folge hier den Mythosinterpretationen von Eliade und Cassirer. 342 Cassirer 1964/11. 343 Eine ethnologische Studie über den Zusammenhang von Literalität und Religion liefert: Goody 1990 (Kap. 1, 25—88). 344 Zum Zusammenhang von Mythos und Kult cf. Eliade 1957 und Albert 1982. 345 Cf. Lord 1965. 346 Horkheimer/Adorno 1980. 347 Cassirer 1985a. 348 Cf. Imamichi 1985. 349 Cf. Jung/Kerenyi 1951. 350 Lehmann 1985. 351 Lehmann 1985, 8. 352 Lehmann 1985, 12. 353 Lehmann 1985, 11. 354 Cassirer befaßt sich — vor allem im 2. Band der Philosophie

der

symbolischen

Formen — immer

wieder mit dem Thema und beruft sich in der psychologischen Charakterisierung auf Freuds Totem und Tabu und Hegels Religionsphilosophie. der

Den "Kern der magischen Weltansicht" sieht Cassirer in

"Übersetzung und Umsetzung der Welt der subjektiven Affekte und Triebe in ein sinnlich-ob-

jektives Dasein [...]. Die erste Kraft, mit der der Mensch sich als ein Eigenes den Dingen gegenüberstellt, ist die Kraft des Wunsches.

und Selbständiges

In ihm nimmt er die Welt, nimmt er die

Wirklichkeit der Dinge nicht einfach hin, sondern in ihm baut er sie für sich auf. Es ist das erste primitivste Bewußtsein der Fähigkeit zur Gestaltung

des Seins, das sich im Wunsche regt. Und in-

dem dieses Bewußtsein die gesamte 'innere' wie 'äußere' Anschauung durchdringt,

erscheint

nun

alles Sein ihm schlechthin unterworfen. Es gibt kein Dasein und kein Geschehen, das sich nicht zuletzt der

'Allmacht

des Gedankens' und der Allmacht des Wunsches fügen müßte. So übt in der

magischen Weltansicht das Ich über die Wirklichkeit eine fast schrankenlose Herrschaft aus: es nimmt alle Wirklichkeit in sich selbst zurück." Allerdings werde in dieser "Hypertrophie des Wirkens [...] nur ein Scheinbild des Wirkens hervorgebracht" (Cassirer 1964/11, 187 f.). 355 Zu dieser Unterscheidung cf. Cassirer 1910. 356 Buber 1909, Vorwort.

566

Anmerkungen:

S. 174—

176

Zweites Buch: Zur Phänomenologie und Theorie von Erfahrung und Mystik Abschnitt 1: Lebenswelt, Prozeß, Symbol und Medium: Grundzüge einer Theorie der Erfahrung 1

Ein so verstandenes phänomenologisches Programm hat zweifellos gewisse Ähnlichkeiten mit Derridas Programm des Dekonstruktivismus (cf. Derrida

1972, 1983 und 1988). Mit der

differance

wird j a nichts anderes beschrieben als die fließende Bewegung wahrgenommener und gedachter Bedeutungen und damit die fließende Bewegung des Denkens selbst. Zentral für Derrida ist

jedoch

nicht die Wahrnehmungs-, sondern die Deutungsperspektive der Signifikanten, so daß der

Dekon-

struktivismus nur sehr entfernt als Erfahrungstheorie angesehen werden kann. Indem darüber hinaus die prozessuale Bedeutungsverschiebung zu einer ausschließlichen Fluchtbewegung der Bedeutung verabsolutiert wird, verschließt sich der dekonstruktiven Methode die Möglichkeit, auf das rekonstruktive und konstruktive Moment 'des 'Spiels der Signifikanten' gebührend zu achten und auch neue Phänomene zu entdecken. Die Gesamtperspektive bleibt unvollständig, wenn der Dekonstruktion nicht doch auch wieder eine Rekonstruktion entspricht. 2

Cf. auch ital. 'esperienza' und span, 'experiencia'.

3

Schwemmer 1990, 147.

4

Die Gedächtnisfunktion des Intellekts ist es denn auch, die im ersten aus der

Philosophiegeschichte

bekannten Versuch — dem des Aristoteles — , den Erfahrungsbegriff zu präzisieren und zu systematisieren, zum Ausgangspunkt der Untersuchung genommen wird. Cf. Kambartel 1972. 5

Die Streitfrage, ob es tatsächlich 'unbewußte' Erfahrungen geben kann, soll hier nicht entschieden werden. Ihre Beantwortung hängt sicherlich davon ab, wie man den Begriff des Bewußtseins ansetzt. Da jedoch zweifellos die unterste und fundamentale Schicht von Erfahrung mit Wahrnehmung und diese mit Lernen zu tun hat, ist es sinnvoll, auf die von Bergson in Materie und

Gedächtnis

getroffenen Unterscheidungen aufmerksam zu machen — von voraufmerksamer und aufmerksamer, von motorisch-organismischer und aufmerksam-bewußter Wahrnehmung, von praktischer und theoretischer Erfahrung. Diese Unterscheidungen sind auch lichen Diskussion von Belang.

Als

in der gegenwärtigen wissenschaft-

gemeinsamer Nenner aller unterschiedlicher Erfahrung kann

vielleicht gelten, daß sie — als Vorstellungsbild, als Reflexionsgebilde, als Handlung, als Gefühl oder als was auch immer — reproduzierbar

sein muß. Reproduzierbarkeit setzt ihrerseits Repräsen-

tation voraus, und diese wird sich meist über Symbolstrukturen realisieren. 6

Cf. die Stichworte "Erfahren" und "Erfahrung" in: Duden

Bd. 7

(Das

Herkunftswörterbuch.

Etymologie der deutschen Sprache), Mannheim 1989, 60 sowie in: Grimm 1862, Sp. 788—791. 7

Cf. das Stichwort "Rationalisierung" in: Laplanche/Pontalis 1972, 418 f. Von Gefühlen als 'Enkeln von Urteilen' spricht hingegen Nietzsche in Menschliches,

8 9

Allzumenschliches.

Cf. Gadamer 1960. Das lebensweltlich-alltägliche Erfahrungsverständnis arbeitet nicht mit der transzendentalphilosophischen Unterscheidung von 'naiv' und 'reflexiv'. Diese Unterscheidung wird auch von Philosophen wie W. James oder S.K.

Langer ausdrücklich

bestritten.

Langers Grundkategorie des

'feeling'

unterläuft die besagte Dichotomie (und steht dabei in gewisser Weise in der Tradition von Leibniz, der Unbewußtes und Bewußtes, Perzeption und Apperzeption nicht als Dichotomie, sondern als Punkte auf der Linie eines Kontinuums von Denken/Erfahrung ansetzt (cf. Langer 1965 und 1988). 10

Nach Grimm 1862 (Sp. 791) ist "ein erfahrner mann [...] der an viel orte gelangt ist, viel mit angesehen hat". Nicht

ein bewährter, einsichtsvoller

mann,

uninteressant ist die bei Grimm ver-

zeichnete, mittlerweile verlorengegangene passive Bedeutung von 'erfahren' als Ereiltwerden, Eingeholtwerden von irgendetwas.

567

Anmerkungen:

11

S. 177—

184

Wie sehr sich bestimmte lebensweltliche Grund-Erfahrungen und Grund-Bilder in der Sprache etablieren und metaphorisch auf andere Lebens- und Erfahrungsbereiche übertragen werden, zeigen Lakoff/Johnsonl980, aber auch — reduziert auf den Diskurs der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte — die verschiedenen Publikationen von H. Blumenberg (ders. 1960, 1979, 1979a und 1981).

12

Diese Gleichsetzung findet sich bei Langer, aber auch schon bei H. Bradley (cf. Hampe/Maaßen 1991, Bd. I).

13

Cf. Rod 1992, der den Zusammenhang freilich nur aus transzendentalphilosophischer Sicht erörtert und daher den methodischen Vorrang von Reflexion gegenüber Erfahrung postuliert.

14

Cf. Kambartel 1972, Kessler/Schöpf/Wild 1973 und Mittelstraß 1980a.

15

Cf. Jaeger 1954. Die Frage nach der Lehrbarkeit der Philosophie ist natürlich eng mit der — hier nicht zu diskutierenden — 'Esoterik'-Frage bei Piaton verbunden.

16

"Und es scheint die Erfahrung nahezu etwas Ähnliches wie Wissenschaft und Kunst zu sein. Wissenschaft und Kunst aber ergeben sich für die Menschen aus der Erfahrung." (Aristoteles, Met. I < A > , 981a).

17

"Cognitio dei experimentalis" gilt mittlerweile als die klassische Formel für die christlich-mittelalterliche Mystik (cf. Wagner-Egelhaaf 1989, 7). Die intellektuelle Erfahrung bei Thomas darf allerdings nicht neuplatonisch interpretiert werden.

18

Nestle 1941.

19 20

Havelock 1963, 1990 und 1992. Cf. Cassirer, PhSF II.

21

Dies ist eine Grundthese der Kulturtheorie des mittleren Nietzsche, sie findet sich aber auch — mit enger Einbeziehung fachwissenschaftlichen Forschungsmaterials aus Kulturgeschichte, Ethnologie und Sprachwissenschaft — bei Cassirer (insbesondere in PhSF II) und neuerdings bei Schwemmer 1991 (cf. dort insbesondere die beiden Schlußkapitel über Ethik und darin den Begriff der 'primären Pflichten').

22

Cf. Schwemmer 1987, Kap. 3: "Empirie und Erfahrung in den Kulturwissenschaften", 135 ff. Die Spannung zwischen 'Empirie' und 'Erfahrung' wird auch herausgearbeitet im Sammelband von Schneider/Inhetveen 1993.

23

Zur Kritik an Kants Erfahrungsbegriff cf. Schwemmer 1986 (IV: "Die praktische Ohnmacht der reinen Vernunft" und "Das 'Faktum' der Vernunft und die Realität des Handelns", 153 ff.) und 1988.

24

Eine neuere, mit dem Diskussionsstand der analytischen Philosophie vermittelte Version der kantischen Erfahrungskonzeption findet sich bei Rod 1992.

25 26

Husserl wird zitiert nach: Husserliana, Den Haag 1950 ff. Husserls Ausführungen zur Lebenswelt finden sich am detailliertesten und konzentriertesten im 3. Teil der Km/i-Schrift (cf. Husserl 1954, 105 ff.: "A. Der Weg in die phänomenologische Transzendentalphilosophie in der Rückfrage von der vorgegebenen Lebenswelt aus"). Falsch ist aber der gängige Topos, Husserl greife den Lebensweltbegriff erst in diesem seinem letzten Werk auf, und zumindest einseitig ist der weitere (mit dem erstgenannten meist verschränkte) Topos, Husserls Spätphilosophie sei schlechthin Lebensweltphilosophie. Mindestens so wichtig wie die Lebenswelt ist in der Krisis-Schriil die von Husserl bis dato vernachlässigte Auseinandersetzung mit der Geschichte (cf. Janssen 1970 oder neuerdings Bernet/Kern/Marbach 1989, Kap. 9, 199—208 und Ströker 1992, Kap. V, 105—116).

27

Habermas 1981, Bd. 2, Kap. VI: "Zweite Zwischenbetrachtung: 171—294.

System

und Lebenswelt",

28

Nach R. Welter "hat die Karriere der Wortschöpfung 'Lebenswelt' [allerdings] nicht nur bedenkliche Seiten: erst in den anthropologischen, soziologischen und wissenschaftstheoretischen Nachfolgegestalten der Husserlschen Phänomenologie der Lebenswelt treten diejenigen Momente

568

der

Anmerkungen:

S. 184 — 189

Thematisierung außerwissenschaftlicher Welt wieder in ihrer genuinen Bedeutung ans Licht, die Husserls Ontologie der Lebenswelt' eher zum Verschwinden gebracht hat." (Welter 1986, 14) 29

Welter 1986, 14.

30

Welter 1986, 15.

31

Husserl 1954 ( = Husserliana VI).

32 33

Husserl 1954, 50. A.a.O., 49.

34

A.a.O., 130.

35

A.a.O., 148.

36

A.a.O., 158.

37 38

A.a.O., 141. A.a.O., 145.

39

A.a.O., 137.

40

A.a.O., 3.

41

A.a.O., 100.

42 43

A.a.O., 102. A.a.O., 101.

44

"Es fehlte also und fehlt noch fortgesetzt", schreibt Husserl, "die wirkliche Evidenz, in welcher der Erkennend-Leistende sich selbst Rechenschaft geben kann nicht nur über das, was er Neues tut und womit er hantiert, sondern auch über alle durch Sedimentierung bzw. Traditionalisierung verschlossenen Sinnesimplikationen, also über die beständigen Voraussetzungen seiner Gebilde, Begriffe, Sätze, Theorien." (a.a.O., 52)

45

A.a.O., 151.

46 47

Bemet/Kem/Marbach 1989, 199 ff. Husserl 1966 ( = Husserliana X), 55.

48 49

A.a.O., 56. Den Terminus 'natürlicher Weltbegriff' übernimmt Husserl von R. Avenarius (cf. Bernet/Kern/ Marbach 1989, 199).

50

Geist und Natur ist der Titel einer — für seine Entwicklung der Lebensweltproblematik

51

— Vorlesung Husserls von 1927, die allerdings noch unpubliziert ist [ = Ms. F I 32], Husserl, Ms. F I 32, 3 9 b ^ » 0 a (zitiert nach: Bernet/Kern/Marbach 1989).

52 53

A.a.O., 108b. Husserl 1954, 148.

54

Cf. Welter 1986, 13, Anm. 2 und Fellmann 1983, 120 f.

55

Einen hervorragenden Überblick über die verschiedenen bermas bietet: Welter 1986.

56

Im § 2 der Krisis-Schnit definiert Husserl "Die 'Krisis' der Wissenschaft als Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit" (Husserl 1954, 3). Cf. Janssen 1970, Brand 1971, Ströker 1979 und 1992, Fellmann 1983 und Welter 1986.

57 58

relevanten

Lebenswelttheorien von Husserl bis Ha-

Für eine Symboltheorie ist Husserls Werk nicht ergiebig. Seine frühen, in der Nähe zu F. Brentano stehenden Ansätze einer Symboltheorie (cf. dazu Münch 1993) sind zum einen unausgeführt geblieben, zum anderen sind sie einem ungeschichtlich-statischen Denken verpflichtet, in dessen beschränktem Horizont das Prozeßgeschehen der Lebenswelt keinen Platz hat. In der ifmw-Schrift — genauer: im Galilei-Kapitel (§ 9) — bezeichnet Husserl die neuzeitliche "Mathematik und mathematische Naturwissenschaft" als ein "Ideenkleid" bzw. ein "Kleid der Symbole", das "die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet. Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist [...]" (Husserl 1954, 52). Im übrigen findet keine systematische Bemühung um den Symbolbegriff statt. Freilich schließt dies aber nicht die Möglichkeit aus, daß sich Husserls Philosophie symboltheoretisch rekonstruieren ließe.

569

Anmerkungen:

S. 189 — 193

59

Cf. Welter 1986, 116—140.

60

Im Hinblick auf Cassirer sind Nähe und Distanz zum transzendentalphilosophischen Paradigma nach wie vor umstritten. Während Krois 1987 Cassirers Symbolphilosophie vorwiegend als Bruch interpretiert, ist sie für Knoppe 1992 — in Übereinstimmung mit dem mainstream der bisherigen Cassirer-Rezeption — im wesentlichen eine Fortsetzung neukantianischer Bemühungen. Die besseren Argumente sprechen aber wohl — was sich freilich nur durch eine immanente Rekonstruktion darstellen läßt — für die von Krois vertretene Diskontinuitätsthese.

61

Als eine Fortsetzung des romantischen Denkmusters können, so gesehen, auch Teile der phänomenologischen Philosophie angesehen werden, denen gegenüber sich neostrukturalistische DifferenzPhilosophien als rektifizierende Reaktion verstehen. Cf. Descombes 1981, bes. 161 ff.

62

Die Interpretation der Machtwillenlehre als eine neue Form von Metaphysik — wie sie Heidegger, Jaspers, Löwith u.a. vertreten — ist eine Rekonstruktion, die Nietzsche — der sich von der Tradition der Metaphysik ja ausdrücklich loslösen wollte — in diese Tradition wieder zurückstellt und einordnet. In Nietzsches Selbstverständnis sind sowohl Wille zur Macht wie auch die Ewige Wiederkehr des Gleichen zwar Intuitionen, aber nicht solche, die sich gegen die Wissenschaft richten würden. Gerade die Nachlaßaufzeichnungen mit ihrem Versuch, große Mengen naturwissenschaftlicher Literatur zu adaptieren, zeugen von Nietzsches Ansicht, seine (Spät-)Philosophie sei gleichermaßen Ausdruck wie Fortführung wissenschaftlichen Denkens. Zur Geschichte der philosophischen Nietzsche-Rezeption cf. Salaquarda 1980.

63

Der aufschlußreichste Text diesbezüglich, dessen zentrale Aussagen sich im Spätwerk wiederfinden, ist natürlich die Zweite der Unzeitgemäßen Betrachtungen·. "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (Nietzsche, KSA Bd. 1, 243—334).

64

Zu Nietzsches Perspektivismus cf. Kaulbach 1980 (bes. Kap. 2, 59—130) sowie Müller 1982. Zum Zusammenhang von Perspektivismus und 'Experimentalphilosophie' cf. neben Kaulbach, a.a.O., auch Gerhardt 1988, 163—187.

65 66 67

Cf. Müller-Lauter 1971 und — als kurze Zusammenfassung — ders. 1980. Eine breit angelegte vergleichende Studie zu Wittgenstein und Heidegger bietet: Rentsch 1985. Merleau-Ponty 1966.

68

Ich beziehe mich in der folgenden Darstellung hauptsächlich auf das posthum (1912) veröffentlichte Werk Essays in Radical Empiricism ( = James 1976), für das noch keine deutsche Gesamtübersetzung vorliegt. Es handelt sich bei diesem Werk jedoch nicht um eine 'Spätphase' der Jamesschen Philosophie, die chronologisch nach den berühmten Pragmatismus-Vorlesungen anzusetzen wäre, welche James 1906/07 am Lowell Institut in Boston und an der Columbia Universität in New York gehalten hat [James 1977]. Die Essays sind vielmehr eine Sammlung von Aufsätzen, die schon wesentlich früher einzeln publiziert worden waren (so der berühmte Aufsatz "Does Consciousness Exist?" im Journal of Philosophy, Psychology, and Scientific Methods 1904). Der 'radikale Empirismus' ist in James' Selbstverständnis mit dem Pragmatismus zwar methodisch vereinbar, aber mit diesem nicht identisch (cf. James 1977, XI).

69

Cf. James 1977.

70

Vor allem dann, wenn man James vor dem Hintergrund seiner Gemeinsamkeit mit Whitehead rezipiert — es gibt historisch und systematisch zwischen den Konzeptionen dieser beiden Philosophen eine Reihe markanter Bezugspunkte — und nicht sosehr vor dem (eher geläufigen) Hintergrund seiner Gemeinsamkeit mit Peirce und den übrigen Pragmatisten, ergibt sich als Hauptlinie seines Denkens ein 'evolutionärer Naturalismus'. Neben den diesbezüglichen Ausführungen bei Hampe 1991, 10 ff., cf. Lowe 1941, Schmidt 1959 und Eisendraht 1971.

71 72 73

Cf. Herms 1991. Herms 1991, 88. Ganz parallel äußert sich später Whitehead über den'Erfahrungsstatus'dessen, was die Transzendentalphilosophie als das 'apriorische'

570

Moment des Denkens veranschlagt. Bereits in Concept of

Anmerkungen:

S. 193 — 199

Nature [Whitehead 1990] spricht er von 'experienced relations'. Das heißt: die Relationen werden im Erfahrungsprozeß konstitutiert und werden — als Elemente des prozessualen Erfahrungsgefüges — selbst erfahren. Sie sind demnach weder mit dem 'reinen' Erfahrungsfluß identisch, noch stellen sie zu diesem, als ein Vor- oder Nachgeordnetes, ein 'Außerhalb' dar. 74

James 1976, 22. (Eine — übrigens nicht vollständige — Übersetzung des Aufsatzes "Does Consciousness Exist?" liegt vor in: Hampe/Maaßen 1991, Bd. 1, 191—206.)

75

James 1976, 4.

76

Herms 1991. Von diesem Autor liegt auch eine ältere und umfangreichere Monografie über James vor: Herms 1977. Er ist zudem Herausgeber der (zweiten) deutschen Übersetzung von The Varieties of Religious Experience [James 1979]. (Die deutsche Erstübersetzung dieses Werkes erschien 1907.)

77

James 1976, 3—20.

78

James 1976, 3.

79

Hier verstrickt sich James freilich — indem er einen so traditionell belasteten und konnotationsreichen Begriff wie den des Willens ins Spiel bringt — hinsichtlich seiner Naturontologie in ernste methodische Schwierigkeiten, denen jedoch an dieser Stelle nicht weiter nachzugehen ist.

80

Der Psychologe James will erklärtermaßen die freie Persönlichkeit retten. Die — von ihm noch durchaus rezipierte — Grundlagenkrise der Jahrhundertwende in Mathematik und Physik, die sich von Mechanismus und Determinismus verabschiedet, sieht der späte James dann als Bestätigung seiner anti-dualistischen Ontologie an. Daß der Mensch frei und die Natur determiniert sei (und damit auch: daß der Mensch, weil Geist- und Naturwesen zugleich, in sich gespalten sei) — eine Konzeption, die bei Leibniz, Kant und Schopenhauer in klassischer Form gedacht wurde —, erweist sich vom modernen wissenschaftlichen Naturverständnis her als obsolet.

81

Der Genauigkeit halber ist hier zu ergänzen, daß James die Frage nach einer 'wirklichen' Einheit oder Vielheit der Welt unter Berufung auf den 'gegenwärtigen Stand' des Wissens als 'noch nicht entscheidbar' offenläßt, daß er jedoch der 'Hypothese' einer in sich pluralen Welt aus Gründen der anschaulichen und der pragmatischen Erfahrung vorläufig den Vorzug geben will. (Cf. das Kapitel "Einheit und Vielheit" in: James 1977, 79 ff.)

82

James 1976, 8.

83

Vorgreifend auf meine Interpretation der Mystik im letzten Abschnitt der vorliegenden Untersuchung ist der Gedankengang von James systematisch wie folgt weiterzuführen: Indem Erfahrung ein die Dimensionen versammelndes Ereignis und indem sie ein Übergang ist, ist sie ein Schnittpunkt vieler Dimensionen und Kategorien und läßt sich — zeitlich — als Augenblick beschreiben.

84

Cf. Müller-Lauter 1971.

85

Vom 'Fluß' heißt es: "Its purity is only a relative term, meaning the proportional amount of unverbalized sensation which it still embodies." (James 1976, 46).

86

James 1976, 9. Über den Fortgang 'from percepts to concepts' cf. James 1968, 47—112.

87

Eine Rückbesinnung auf James und auf sein — insbesondere von Seiten der analytischen Philosophie bislang vielfach abgelehntes — Methodenverständnis fordert neuerdings auch H. Putnam (Putnam 1993).

88

Hier ist der systematische Punkt, wo die Prozeßphilosophie in eine Philosophie der — dynamisch, nicht statisch zu verstehenden — symbolischen Formen überführbar scheint. Während bei James und Bergson diese Transformation nicht wirklich in Angriff genommen wird, wird sie bei Cassirer und, deutlicher noch, bei Whitehead ausdrücklich zum philosophischen Programm.

89 90

James 1976, 71. Ich berücksichtige in diesem Kapitel weder die thematische Bandbreite

der Philosophie Bergsons

noch die Verschiebung der Nuancen des Grundgedankens, die sich auf seinem jahrzehntelangen 'Denkweg' beobachten lassen. Die Darstellung hält sich primär an die Essaysammlung La pensέe et le mouvant [Denken und schöpferisches

Werden] ( = Bergson 1985), die kleinere Arbeiten Berg-

571

Anmerkungen:

S. 200 — 206

sons aus den Jahren 1903—1923 und auch den berühmten Aufsatz "Einführung in die Metaphysik" (erstmals 1903 in der Revue de metaphysique et de morale erschienen) enthält. Der Band wird im folgenden mit 'PM' abgekürzt, die Zitate sind im fortlaufenden Text ausgewiesen. 91

92

Im frz. Original lauten die Termini: intuition, analyse, intelligence, metaphysique, science, matiere, memoire, relatif, absolu, espace, temps/duree. Mit Ausnahme des letztgenannten Begriffspaares brauchen wir das Konnotationsfeld des originalen Ausdrucks nicht eigens zu problematisieren, da die französischen und deutschen Konnotationsfelder im wesentlichen äquivalent sind. Cf. das Zweite Buch der Welt als Wille und Vorstellung. In Matiere et memoire, wo Bergson seine 'Bilder'lehre entwickelt, schreibt er schon anfangs: "Jedoch ist eines unter ihnen [nämlich: den mir begegnenden Bildern], das sich von allen anderen dadurch abhebt, daß ich es nicht nur von außen durch Wahrnehmungen, sondern auch von innen durch Affektionen kenne: mein Leib." (Bergson 1991, 1)

93

Zu Bergsons Lehre von den unterschiedlichen 'Bildern' (image-perceptions, image-affections, image-souvenirs) cf. Bergson 1991.

94

Sowohl Heidegger wie Havelock machen den Vorrang des Sehens für die Ausbildung von Metaphysik und Wissenschaft bzw. für die Ausformung des schriftsprachlich orientierten Denkens verantwortlich (cf. Heidegger, "Piatons Lehre von der Wahrheit" [1930/ 31], in: Heidegger 1967, 109—144; Havelock 1963 und 1992).

95 96

Cf. Bergson 1980 und das zweite Bergson-Kapitel (3.2.5) der vorliegenden Untersuchung. Im Vergleich zu anderen, in Rezeption und Einfluß vergleichbaren Denkern gibt es zu Bergson kaum nennenswerte Sekundärliteratur und schon gar nicht eine Bergson-Philologie, die diesen Namen verdiente. Es gibt daher für seine Philosophie auch kaum zusammenhängende und zusammenfassende kritische Darstellungen. Für die deutsche Rezeption ist Pflug 1959 eine Ausnahme. Cf. weiters: Kolakowski 1985.

97

Die Whitehead-Zitate dieses Kapitels werden im Text selbst ausgewiesen. Ich verwende die in der Whitehead-Literatur üblichen Abkürzungen: AI = Abenteuer der Ideen [Adventure of Ideas] ( = Whitehead 1971); PR = Prozeß und Realität [Process and Reality] ( = Whitehead 1987); S = Symbolism. Its Meaning and Effect ( = Whitehead 1927 — bislang nicht ins Deutsche übersetzt); FR = Die Funktion der Vernunft [The Function of Reason] ( = Whitehead 1974); RM = Wie entsteht Religion? [Religion in the Making] ( = Whitehead 1985); SMW = Wissenschaft und moderne Welt [Science and Modern World] ( = Whitehead 1984).

98 99

Cf. dazu vor allem S sowie PR, Kap. VIII: "Symbolischer Bezug", 314 ff. Lotter 1991 kritisiert die Tendenz vornehmlich der deutschen Whiteheadrezeption, die Veränderungen seines 'Denkwegs' — die kontinuierliche Verschiebung der Bedeutung gleichbleibender Grundbegriffe — zu ignorieren. Für unseren kurzen, problembezogenen Aufriß ist aber ein solches Absehen sicherlich legitim.

100 101 102 103

Vorliegende Darstellung hält sich vor allem an PR, AI, FR und S. Cf. die Anmerkung des Whitehead-Übersetzers E. Bubser in: AI 325. Zur Kantkritik Whiteheads cf. Wiehl 1990. E. Bubser, dessen dt. Übersetzung wir hier folgen, gibt 'experience' mit 'Erleben' wieder. Dies ist eine wenig glückliche Bedeutungsverengung. Jene Übersetzer — das trifft auch für G. Holl und J.v. Hasseil zu —, die Whiteheads Schlüsselbegriffe jeweils anders im Deutschen wiedergeben, beachten nicht die unterschiedlichen Konnotationsfelder im Deutschen und Englischen und führen den Leser eher in die Irre, als daß sie ihm Verständnishilfen böten. Dieses Problem betrifft allerdings einen verbreiteten Blindfleck in der allgemein üblichen Übersetzerpraxis. Vermutlich wäre es sinnvoller, die englischen Schlüsselbegriffe beizubehalten bzw. sie in Klammer den — nach Meinung des Übersetzers jeweils relativ angemessensten — deutschen Termini beizufügen. Die derzeit vorliegenden deutschen Übersetzungen Whiteheads können jedenfalls nicht ohne ständigen Vergleich mit den engl. Originaltexten benützt werden.

572

Anmerkungen:

104 105 106 107

S. 206 — 212

Cf. Whitehead 1990. Cf. Leibniz 1954. Dazu cf. Franklin 1990, Kap. 1 (2 ff ). Von Belang ist Whiteheads Unterscheidung von 'reality' (als das 'actuality' (als das prozeßhaft Werdende).

prozeßhaft Gewordene) und

108 "Akte des Fühlens (feelings) bilden den positiven Typ des Erfassens (prehensions). In den Akten des positiven Erfassens bleibt das ursprünglich 'Gegebene' als ein Teil des abschließenden komplexen Objektes erhalten, das den Prozeß der Selbstgestaltung (self-formation) 'erfüllt' und zu etwas Vollständigem macht." (AI 415) 109 "The act of concrescence is a drive for identity." (Franklin 1990, 36) 110 Whitehead selbst beruft sich mehrfach affirmativ auf den im vorhergehenden Kapitel angeführten Aufsatz "Does Consciousness Exist?" von James. 111 Dieses ausdrückliche Berücksichtigen der 'Widerständigkeit der Materie' gegenüber allen Versuchen, sie denkend zu erfassen, ist eine der Trennungslinien, die Whiteheads Metaphysik vom deutschen Idealismus unterscheidet. Zur Widerständigkeit cf. auch Schwemmer 1990, der von der "autarke[n] Gegebenheit", "Widerspenstigkeit" und "überraschenden Andersheit und Neuheit" lebensweltlicher Erfahrungen spricht (a.a.O., 111). 112 Obwohl sich Whitehead vom Wahrheitsbegriff des Pragmatismus — Kohärenz alter und neuer Einsichten sowie praktische Effizienz (cf. James) — distanziert, kommt er diesem mit seinen eigenen Überlegungen recht nahe. 113 Hier liegt sicherlich eine enge thematische Verwandtschaft mit der — gleichfalls intentional und gleichfalls vor-erkenntnistheoretisch aufzufassenden — 'Sorge'-Struktur in Heideggers Daseinsanalyse vor (cf. Sein und Zeit, §41). 114 "Die Wirklichkeiten des Universums sind Erlebensprozesse, und jeder dieser Prozesse ist ein individuelles Faktum. Das Universum im ganzen ist die in ständigem Fortschritt begriffene Gesamtheit dieser Prozesse." (AI 357) 115 Im Original: together, creativity, concrescence, prehension, feeling, subjective form, dates, actuality, becoming, process (AI 419). 116 Die Ergebnisse von S wurden nahezu vollständig in PR übernommen, stehen dort allerdings in einem thematisch weitaus komplizierteren Kontext (cf. in PR vor allem Teil 2, Kap. VIII). 117 Cf. dazu Rust 1987 (124 ff.) und 1990, Hampe 1990, Lotter 1991. 118 Daß Whitehead die 'symbolische Referenz' ausschließlich der menschlichen Welt vorbehält, entspricht der These Cassirers vom Menschen als 'animal symbolicum'. 119 Beelitz 1991, 68. Die oft kritisierte Vagheit des Erfahrungsbegriffs wird auch bei Lotter 1991 als produktive Ausgangsposition für ein vielfältiges und offenes Denken gewertet: "[...] daß es gerade eine gewisse Vagheit der anfänglichen Fragestellung ist, die zur Triebfeder von Gedankenentwicklungen wird, die die Grenzen der Ausgangsproblematik weit überschreiten und Whitehead dazu veranlassen, ganz neue Wege einzuschlagen." (a.a.O., 235) 120 Franklin 1990, 58, unterscheidet 'process' und 'change'. Zeit ergibt sich nach Whitehead erst dadurch, daß wir (überzeitliche) 'Ereignisse' kausal verknüpfen. Whiteheads Gegenüberstellung einer zeitlich-kausalen und einer ewig-ideellen Wirklichkeitsdimension ist, historisch gesehen, eine eigenwillige Reformulierung der platonischen Metaphysik. Dem entspricht auch die Hochschätzung, die Whitehead — in Kombination mit seiner Abwertung der neuzeitlichen Philosophie — immer wieder Piaton gegenüber äußert. 121 Cassirer-Zitate werden zum Großteil im fortlaufenden Text ausgewiesen. Ich verwende folgende Abkürzungen: PhSF I—III = Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I—III (Cassirer 1964); VM = Versuch über den Menschen ( = Cassirer 1990);, WS = Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs ( = Cassirer 1956); ST = Symbol, Technik, Sprache ( = Cassirer 1985).

573

Anmerkungen:

S. 212 — 213

122 Cf. Anmerkung 60. 123 Die am öftesten zitierte Definition lautet: "Unter einer 'symbolischen Form' soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird." (WS 175) 124 In der Cassirer-Literatur wird — in Anlehnung an die aus der semiotischen Schule des amerikanischen Pragmatismus geläufige dreistellige Relation des Zeichens — meist von einer Dreierrelation gesprochen, was insofern nicht ausdrücklich falsch ist, da das Moment der Verinnerlichung (das eine Differenz von lebensbedeutsamem Symbol und bloßem konventionellem Zeichen stiftet) bei Cassirer eher umschrieben als deutlich ausgesprochen wird. In Cassirers eigener Terminologie ist der Unterschied von Symbol und Zeichen übrigens unklar. Während er in PhSF I—III die beiden Begriffe weitgehend synonym gebraucht, will er sie in VM sorgsam unterschieden wissen. 125 PHSF I ist der Sprache, PhSF II Mythos und Religion, PhSF III der Wissenschaft als einzelnen symbolischen Formen gewidmet. Die ausführlichste Zusammenfassung über die symbolische Form Kunst enthält das Kap. IX in VM, 212—261. Cassirers Überlegungen zur Technik als symbolischer Form beschränken sich auf den Aufsatz "Form und Technik" (1930) in: ST, 39—89. 126 PhSF I handelt zur Gänze von der 'symbolischen Form' Sprache; cf. darüber hinaus: VM, Kap. VIII: "Sprache", 171—211 und "Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt", in: ST 121—160. 127 Die Anwendung dieser Trias auf die konkreten Phänomene in Sprache, Mythos/Religion, Kunst, Wissenschaft usf. beinhaltet gewisse Schwierigkeiten, insbesondere die genaue Abgrenzung der einzelnen Stufen bzw. Funktionen. Für die reine Ausdrucksfunktion gibt es keine prinzipielle Trennung von Form und Inhalt; beide werden (nach dem mythischen 'Gesetz der Konkreszenz') identifiziert. Die Darstellungsfunktion vermag Inhalt und Form zu trennen und impliziert das Bewußtsein, daß Inhalte über Formen organisiert werden und daß Formen auf unterschiedliche Inhalte anwendbar sind. Die reine Bedeutungsfunktion schließlich eliminiert die Vorstellung, es könne formunabhängige Inhalte geben, und betrachtet die Wirklichkeit nur noch als das über Formen und durch Formen sich vollziehende menschliche Handlungsgefüge angesichts einer Welt, die nur als dieses Handlungsgefüge begegnet. Die reine Ausdrucksfunktion ordnet Cassirer dem Mythos zu, die reine Bedeutungsfunktion den fortgeschrittenen Naturwissenschaften. Die Sprache hingegen entwikkelt in historischem Hintereinander alle drei Funktionen. 128 Diese Kritik findet sich in den Entwürfen zu einem Bd. IV der Philosophie der symbolischen men [Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte. Band 1, Hamburg 1995].

For-

129 "Cassirers eigener Gebrauch von 'Metaphysik' ist schwankend, im ganzen gesehen aber eher kritisch gemeint, nämlich zur Bezeichnung des Versuchs — und zwar gegen ihn —, einen begrenzten Phänomenbereich zum ausschließlichen Fundament eines umfassenden Welt- und Selbstverständnisses zu erheben und sich dabei notwendig in Widersprüche zu verwickeln. Tatsächlich gibt es bei Cassirer aber auch den affirmativen Bezug auf die Metaphysik, wenn diese nämlich nur eine umfassende Theorie unserer Erfahrung und des in ihr ausgebildeten Welt- und Selbstverständnisses sein will, ohne sich dogmatisch auf nur eine begriffliche oder phänomenale Unmittelbarkeit zu stützen." (Schwemmer 1992, 234 f., Anm. 19). 130 PhSF IV (zitiert nach: Schwemmer 1992, 230). 131 Gegen Kant macht Cassirer allerdings geltend: "Gegen diese Formulierung [nämlich: daß Sinnlichkeit und Verstand vermutlich in einer gemeinsamen, aber unbekannten Wurzel eins seien] des Problems aber ist vor allem einzuwenden, daß eben die Entgegensetzung, die hier vorgenommen wird, erst ein Werk der Abstraktion, der logischen Schätzung und Bewertung der einzelnen Erkenntnisfaktoren ist, während die Einheit der Bewußtseins-Materie und der Bewußtseinsform, des 'Besonderen' und des 'Allgemeinen', der sinnlichen 'Gegebenheitsmomente' und der reinen 'Ordnungsmomente' eben jenes ursprünglich-gewisse und ursprünglich-bekannte Phänomen bildet, von dem jede Analyse des Bewußtseins ausgehen muß." (PhSF I, 40)

574

Anmerkungen:

S. 214 —

220

132 In dieser verkürzten Form ist die Darstellung des Verhältnisses

der verschiedenen symbolischen

Formen untereinander freilich anfechtbar. Cassirers Wissenschaftsbegriff impliziert — im Gegensatz etwa zum Wissenschaftsbegriff Heideggers — dessen Selbstreflexion, seine Verflüssigung im Sinne eines vollendeten Relationalitätsdenkens. Kunst ist somit nicht schlechthin das,

wohl aber

ein — u.zw. ein sehr wichtiges — Korrektiv für Wissenschaft, sofern diese die ihr nach Cassirer mögliche höchste Stufe der Eigenreflexion nicht erreicht hat. 133 "Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal

rationale,

sondern als animal symbolicum

definieren." (VM 51)

134 Das anschaulichste Beispiel für die ' Selbsttranszendenz' einer symbolischen Form, das Cassirer im Detail beschreibt, ist die 'Dialektik des mythischen Bewußtseins', die — so Cassirers These — in der Mystik zur Selbstaufhebung der mythisch-religiösen Symbolform fuhrt und sich in neuen

Sym-

bolformen wie Kunst und/oder Wissenschaft fortsetzt (cf. PhSF II, 281 ff.). 135 Eine eindringliche Darstellung dieser Thematik liefert Cassirer in seinem Aufsatz

"Sprache und

Mythos. — Ein Beitrag zum Problem der Götternamen", in: WS 71—167. 136 Cf. PhSF III, 230. 137 An diesem Punkt, in der Erinnerung an das Vergessen menschlicher Setzung, wenden sich Nietzsche und Heidegger gegen die Herrschaft der Begriffswelt. 138 Auf diese Traditionslinie machen beispielsweise O. Schwemmer (in seinen Publikationen etwa ab 1987, cf. Literaturverzeichnis) und Hampe/Maaßen

1991 (cf. die dortigen Einleitungen) aufmerk-

sam. 139 Während für James und Bergson die Zuordnungen 'Pragmatismus' und 'Lebensphilosophie' immerhin noch sinnvoll erscheinen (auch wenn diese Klassifikationen nicht aufeinander verweisen), ist die Zuordnung Cassirers zum 'Neukantianismus' besonders problematisch. Cf. Krois 1987, Einleitung. 140 Hampe 1991, 11. 141 Bei dieser Unterscheidung ist das — bei Hegel, Cassirer und Derrida besonders hervorgehobene — Moment der 'Verspätung' als Kriterium inhalt erst 'spät', d.h. nach

heranzuziehen. Verspätung heißt, daß ein Bewußtseins-

dem Durchgang durchbegriffliche Vermittlung bzw. Theoretisierung,

seine Gestalt gewonnen hat. Die Verspätung bzw. Vermittlung kann unterschiedlich lang sein. Der graduelle Unterschied in der Länge der Verspätung bedeutet dann den

Grad der Unmittelbarkeit

bzw. Mittelbarkeit (die begrifflich also nicht als einander ausschließende Gegensätze anzusehen sind, sondern als zwei polare Enden einer Kontinuität). 142 Diese radikale begriffliche Gleichsetzung von Erfahrung und Rationalität ist in erster Linie aus der Philosophie Whiteheads abzulesen, cf. FR. Bei den drei ausdrücklichen Form, wohl aber thematisch

anderen Denkern ist sie nicht in dieser

gegeben.

143 Der — in Zusammenhang mit Systemtheorie und radikalem Konstruktivismus

— in den

letzten

Jahren populär gewordene Begriff der Autopoiesis wird bei James, Bergson, Whitehead und Cassirer nicht ausdrücklich erwähnt. Ich verwende ihn hier als hermeneutisches Konstrukt. 144 James, Bergson und Whitehead konzentrieren ihre diesbezügliche Kritik auf die Transzendentalphilosophie Kants. Nietzsche und Heidegger weiten diese Kritik auf die gesamte abendländische Denktradition aus und verwenden dafür die (wohl allzu pauschalierende) Etikettierung 'Piatonismus'. 145 Die hegelsche Rede von der'Anstrengung des Begriffs' ist in unserem Zusammenhang sinngemäß zu reformulieren als die 'Anstrengung des Symbols'.

So kann

z.B. die Kunst

durch nichtbe-

griffliche, sich selbst in Frage stellende Symbolik die Dialektik von 'Strom' und 'Gestalt' in beeindruckender Weise verdeutlichen. Dies veranschaulicht R. Bubner (cf. ders. 1989, Kap. 2, 52—69) anhand der "Frage nach der Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung" (a.a.O., 52).

575

Anmerkungen:

S. 220 —

225

146 Zur Konzeption einer — an Heideggers Spätphilosophie orientierten

— 'gelassenen Vernunft' cf.

Schirmacher 1983 und 1990. 147 Begriffe a l s ' S y m b o l e im K o p f ' z u klassifizieren, ist ein Gedanke, den ich aus einem unveröffentlichten Manuskript von K. Leidlmair entlehne. Cf. ders., Kognition, Untersuchungen

über Möglichkeiten

und Grenzen des Symbolbegriffs

Symbol und Referenz. in der

Kritische

Kognitionswissenschaft

(Manuskript in Ausarbeitung). 148 Cf. Schwemmer 1990, 29 ff. 149 Cf. James 1977. Dort anerkennt James ausdrücklich Peirces Auktorschaft für den Begriff Pragmatismus. 150 Zur neueren deutschsprachigen Peirce-Rezeption cf. Nagl 1993. 151 Cf. Morris 1971. Für die Mystikdiskussion ist insbesondere von Interesse: Kap. IV: "Mysticism and its Langugage", 456—466. 152 Auch die semiologische Variante des französischen Poststrukturalismus bezieht sich teilweise auf Peirce (cf. Derrida 1972 und 1983). Was den älteren strukturalistischen Ansatz von R. Jakobson

be-

trifft, so lassen sich auch hier enge inhaltliche und methodische Parallelen zu Cassirer ziehen, doch gibt es keine direkte wechselseitige Beeinflussung. (Daß Cassirer und Jakobson auf ihrem Weg ins amerikanische Exil das gleiche Schiff benutzten und daß es dabei zu einer persönlichen Begegnung und ein paar anregenden Gesprächen kam, ist für beide nur von marginalem biografischem Interesse.) 153 Eine 'Rehabilitierung' der Philosophie James', insbesondere seiner holistischen und direkt-realistischen Theoreme, von Seiten der analytischen Denkschule fordert seit kurzem H. Putnam,

der sich

seit Jahren ohnehin in besonderer Weise um das Gespräch zwischen angloamerikanischen und kontinentalen, analytischen und hermeneutisch-phänomenologischen Traditionen bemüht. Über James meint Putnam, "daß seine Art zu philosophieren Möglichkeiten eröffnet, die viel zu lang vernachlässigt wurden, und daß sie Wege aus alten philosophischen Verstrickungen weist, die uns bis heute nachhaltig belasten" (Putnam 1993, 190). 154 Zu Langers Philosophie cf. den Überblicksartikel (mit Bibliografie) bei Lachmann 1993. 155 Nur das erste der drei genannten Werke ist ins Deutsche übersetzt

(cf. Langer

1965). Das drei-

bändige Werk Mind wurde von G. van den Heuvel auch in einer gekürzten Fassung einbändig herausgegeben (cf. Langer 1988). 156 Cf. Langer 1965, Kap. 4, 86 ff. 157 Die Autorin gebraucht den Ausdruck 'mystical' in der allgemein-verschliffenen Bedeutung von 'geheimnisvoll'. Zu dieser Verwendung von 'mystical' und 'mysticism' cf. Langer 1965, 259. 158 Langer 1965, 33. 159 Langers Philosophy

in a New Key wurde zwei Jahre früher veröffentlicht als Cassirers An Essay

on Man. Obwohl Cassirer erst in diesem letztgenannten Werk seine Philosophie der symbolischen Formen ausdrücklich als philosophische Anthropologie darlegt, formuliert Langer in ihrem Buch — in expliziter Anlehnung an Cassirers frühere Arbeiten — die Symbolphilosophie bereits als philosophische Anthropologie. Weite Partien des Werkes widmet sie der klassisch-anthropologischen Frage nach der Abgrenzung Mensch-Tier, wobei sie

dem

Tier (was mittlerweile der ethologischen

Forschungslage wohl nicht mehr angemessen ist) das Symbolvermögen generell abspricht. 160 Langer 1965, 145. 161 Langer 1965, 9. 162 Cf. dazu Langer 1965, 286 f. In Mind verwendet Langer viel Mühe auf

die detaillierte Untersu-

chung biologisch-physiologischer Bedingungen der Wahrnehmung und Erkenntnis. 163 Cf. Langer 1965, Kap. 3, 61 ff. 164 Langer 1965, 50 f. 165 Cf. Langer 1965, Kap. 10, 261 ff.

576

Anmerkungen:

S. 226 — 228

166 Langer 1965, 279 f. Das Kreuz ist für Langer nur eines für eine

Mehrzahl möglicher derartiger

Beispiele: "Es gibt in unserem Denken viele bedeutungsgeladene Symbole, obgleich wenige mit so vielverbreiteten Rollen wie das Kreuz." (a.a.O., 280) 167 Auch das Schiff konnotiert — nicht zuletzt in biblisch-christlichem Kontext: denken wir an die Arche Noah und an die Kirche als das 'Schiff Petri', das, von seinen geistlichen Hirten gesteuert, durch die Zeiten und auf die Ewigkeit zufahrt — den (von Langer, wie gesagt, nicht ausdrücklich hervorgehobenen) Begriff des Erfahrungsganzen. Von hier aus ließe sich der Ansatz Langers natürlich mit Blumenbergs 'Metaphorologie' und mit Jungs 'Archetypenlehre' — beide Konzeptionen sind durch Cassirers Symboltheorie beeinflußt — vergleichen. 168 Cf. Haug 1986. 169 Zu den deutschen Übersetzungen der genannten Titel cf. Goodman 1973, 1984, 1987 und Goodman/Elgin 1989. 170 Goodman bekennt sich ausdrücklich zu einem Konstruktivismus (cf. Goodman/Elgin 1989, 218). 171 Goodman/Elgin fordern, "daß die Künste als Modi der Entdeckung, Erschaffung und Erweiterung des Wissens — im umfassenden Sinne des Verstehensfortschritts — ebenso ernst genommen werden müssen wie die Wissenschaften und daß die Philosophie der Kunst mithin als wesentlicher Bestandteil der Metaphysik und Erkenntnistheorie betrachtet werden sollte" (Goodman/Elgin 1989, 127). Schon in Languages of Art heißt es: "The difference between art and science is not that between feeling and fact, intuition and inference, delight and deliberation, synthesis and analysis, sensation and cerebration, concreteness and abstraction, passion and action, mediacy and immediacy, or truth and beauty, but rather a difference in domination of certain specific characteristics of symbols." (Goodman 1968, 264) 172 Goodman 1984, 10. "The objective", heißt es schon in Languages neral theory of symbols." (Goodman 1968, xi)

of Art, "is an approach to a ge-

173 "Cassirer sucht danach [d.i. nach der Einheit der Konstruktionen/Versionen/Symbolsysteme] auf dem Wege einer transkulturellen Erforschung der Entwicklung von Mythos, Religion, Sprache, Kunst und Wissenschaft. Mein Weg hingegen ist der einer analytischen Erforschung von Typen und Funktionen von Symbolen und Symbolsystemen." (Goodman 1984, 18) Indirekte Cassirer-Einflüsse bei Goodman gibt es vermutlich über dritte Autoren, so z.B. über E. Gombrich, mit dem sich Goodman in seinen kunstphilosophischen Arbeiten auseinandersetzt. J.M. Krois schreibt in seiner Cassirer-Monografie: "The closest that any recent philosopher has come to a position like Cassirer's is Nelson Goodman's work on 'worldmaking'." (Krois 1987, 140) 174 Cf. Putnam 1992 und Toulmin 1991. 175 Goodman/Elgin 1989, 19. 176 Goodman 1984, 126 f. 177 Goodman/Elgin 1989, 167. 178 Goodman 1984, 117. 179 Goodman/Elgin 1989, 44. 180 Dies wird durch die klassische Wahrheitsformel 'adaequatio intellectus et rei' ausgedrückt, die die Bereiche des Denkens und der Realität per definitionem in zwei verschiedene Sphären trennt und der mehr oder minder eng alle Wahrheitstheorien verpflichtet sind (cf. Puntel 1974 und 1978). Wenn Realität, wie bei Goodman, nichts anderes als Denk- bzw. Symbolproduktion sein kann, ist allenfalls noch ein kohärenztheoretischer und d.h. gegenüber dem traditionellen Wahrheitsverständnis extrem minimierter Wahrheitsbegriff denkbar. 181 Über echte und unechte Systeme cf. Goodman/Elgin 1989, 24. 182 Goodman/Elgin 1989, 19. 183 Goodman 1984, 168. 184 Nicht haltbar erscheint mir die Ansicht Krois', sirer, Symbolsysteme als arbiträr (Krois 1987, 140).

Goodman

betrachte,

anders

als

Cas-

577

Anmerkungen:

S. 228 — 244

185 Ebda. 186 Goodman/Elgin 1989, 214. 187 Goodman 1984, 132. 188 "Manche Wahrheiten sind trivial, unerheblich, unverständlich oder redundant, zu umfassend, zu eng, zu langweilig, zu abwegig, zu kompliziert oder entstammen einer anderen Version als der in Frage stehenden, wie zum Beispiel dort, wo der Wachsoldat auf den Befehl hin, jeden Gefangenen zu erschießen, der sich bewegt, sofort alle erschoß und erklärte, daß sie sich mit hoher Geschwindigkeit um die Erdachse und um die Sonne bewegten." (Goodman 1984, 147) 189 Goodman/Elgin 1989, 40. 190 Cf. Goodman/Elgin 1989, 24 ff. 191 Cf. Goodman 1984, 20 ff. 192 Goodman 1984, 121. 193 Cf. beispielsweise Goodman 1984, 149 f. und Goodman/Elgin 1989, 209. 194 Goodman/Elgin 1989, 217. Im Original lauten die Ausdrücke: truth, certainty, knowledge — Tightness, adoption, understanding. 195 Schwemmers Arbeiten Handlung und Struktur [Schwemmer 1987] und Die Philosophie und die Wissenschaften [Schwemmer 1990] werden in diesem Kapitel mit 'HS' und 'PhW' abgekürzt. Die meisten Zitate werden im fortlaufenden Text ausgewiesen. 196 Schwemmer 1971. 197 Schwemmer 1986. 198 HS 54 ff. u.ö. 199 Den Gedanken der Individuation und Identität durch 'Schließung der Form' übernimmt Schwemmer von Whitehead. 200 "Der Gegenstand der Kulturwissenschaften", 183 ff. 201 Es ist eine in der Philosophie zumindest seit Fichtes Identifizierung des Denkens mit einem 'Tathandeln' geläufige, aber noch immer produktive Vorstellung, den Begriff des Handelns aus seiner alltagssprachlichen Beschränkung zu entgrenzen und ihn auf jegliches (also auch auf sogenanntes 'passives') Verhalten anzuwenden. Cf. beispielsweise Waidenfels 1980. 202 Cf. Habermas 1981, Bd. II, Kap. VI: "Zweite Zwischenbetrachtung", 171 ff. 203 Cf. Bateson 1981. 204 HS 168—171. 205 Schwemmer sieht die Parallelität von Handeln und Denken in beider "Versuch, die tatsächliche Komplexität des jeweiligen Weltganzen als eine möglichst einfach strukturierte Handlungssituation zu verstehen und auch zu behandeln" (HS 82). 206 Cf. Havelock 1963, 1978, 1990, 1992 sowie Ong 1967 und 1987. 207 Schwemmer 1990a, 18. 208 Schwemmer 1990b, 104. 209 Cf. Böhmes (an Paracelsus anknüpfende) Schrift: De signatura rerum oder Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen, in: Böhme 1957, Bd. VI. 210 Cf. dazu vor allem die beiden letzten, sich mit ethischen Fragen befassenden Kapitel von PhW. 211 Dies geschieht heute natürlich nicht mehr mit den Mitteln der 'wissenschaftlichen Weltanschauung', die der Vulgärmaterialismus des 19. Jahrhunderts ausgebildet hat, sondern in jenen Varianten, die in Bezug auf neueste Informationstechnologien den Geist quasi-mechanistisch definieren, so etwa in Bezug auf den (Neo-)Konnektionismus in der KI-Forschung. Der Computer wird dabei an eine Simulation neurophysiologisch beobachtbarer Gehirnprozesse herangeführt, und eben dieses Simulationsbild wird zur Norm und zum Paradigma des menschlichen Denkens als solchen erklärt. 212 Dieses Thema wird in PhW vorwiegend im 1. Kapitel (17 ff.) behandelt.

578

Anmerkungen:

S. 244 —

253

213 "In eine einzelne Erfahrung sind natürliche und kulturelle Entwicklungen unseres Organismus und unserer Umwelten, unserer Symbolismen und Institutionen eingelagert.

Unsere

Erfahrungen sind

nie nur isolierte Einzelereignisse, sondern Realisierungen von komplexen Verweisungszusammenhängen angesichts der jeweiligen konkreten Situation. Mit ihnen werden jeweils auch andere Erfahrungen — und zwar auch die Erfahrungen anderer, soweit sie in die auch unsere Erfahrungen prägenden Symbolismen und Institutionen eingegangen sind — vergegenwärtigt. Durch diesen vergegenwärtigenden Bezug auf andere Erfahrungen entsteht ihre Bedeutung, d.i. ihre besondere Position im Netz der vielfältigen Verweisungen, die einer Erfahrung erst ihre volle Identität

verleiht."

(PhW 112 f.) 214 Mit dieser Charakterisierung vereinfache ich das Denken sowohl Nietzsches wie Derridas auf vielleicht unzulässige Weise. Es ist aber sicherlich richtig zu behaupten, daß bei den beiden genannten Denkern die

Tendenz,

mals eliminierbaren)

den

(zum Irrtumsbegriff korrelativen und eben dadurch sachlich nie-

Wahrheitsbegriff abzuschaffen, augenfällig ist.

215 Zur Einarbeitung der uexkuellschen Überlegungen in eine Konzeption philosophischer Anthropologie cf. Cassirer 1990, 47 ff. 216 Auf die verschiedenen Problemstellungen der philosophischen Anthropologie gehe ich hier im Detail nicht ein. Als 'neue Disziplin' der Philosophie wurde sie von Scheler und Plessner in den 20er Jahren begründet und von Gehlen in scharfsinniger Weise — wenn auch z.T. mit einer fragwürdigen, militant-antidemokratischen Ideologie verquickt — systematisiert (cf. Scheler Plessner 1928 und Gehlen 1955 [1940]). Der indirekte Beitrag, den

1976

Philosophen wie

[1928], Bergson,

Cassirer und Langer zur philosophischen Anthropologie geleistet haben, wird in den einschlägigen Darstellungen zur Geschichte und Systematik dieser 'Disziplin' meist übersehen (cf. hingegen Schwemmer 1993). Es ist anzumerken, daß vor allem im sozial- und humanwissenschaftlichen Diskurs der Anthropologiebegriff ideologisch belastet ist und daher — vielfach als Ausdruck

kurz-

schlüssiger 'Soziobiologie' verstanden — abgelehnt und bekämpft wird. Hier wird Anthropologie als Konzeption einer menschlichen 'natura perennis' (miß)verstanden, die beansprucht, für das politische und gesellschaftliche Leben 'objektive' normative Vorgaben zu diktieren. Mein argumentativer Bezug auf Biologie und Anthropologie enthält freilich keine derartigen normativen Implikationen. 217 Cf. Scheler 1976. 218 Diese Problematik gilt wohl auch für Cassirers und Langers immer wieder hervorgehobene These, der Symbolgebrauch

stelle die entscheidende Zäsur zwischen

menschlichem und

tierischem

Weltbezug dar. Es gibt — in der Terminologie Langers — zweifellos eine breite Grauzone zwischen der 'Anzeichen-' und 'Symbolfunktion', und es ist vermutlich eine dogmatisch-spekulative Behauptung, den höheren Primaten jegliches

Symbol vermögen abzusprechen.

219 Cf. Humboldt 1968 und die historisch-systematische Darstellung bei Koller 1988. Von allen Klassikern der philosophischen Anthropologie wird das Problem der Sprache am ausführlichsten bei Cassirer behandelt (cf. PhSF I). 220 Cf. Plessner 1928. 221 Die Frage des Verhältnisses Individuum—Gruppe wird am Methodendiskussion behandelt —

produktivsten

in der ethnologischen

z.B. in der Auseinandersetzung um den 'Sozialdeterminismus'

bei M . Mead. (Cf. Freeman 1983 und die differenzierende Kritik an Mead und Freeman in: Nagl 1985). 222 Cf. Riedel 1989. 223 Cf. Schwemmer 1988. 224 Man müßte hier freilich präzisieren: nicht vorwiegend oder ausschließlich

abstrakte Erfahrung (denn

jede Erfahrung beinhaltet natürlich Abstraktionen; Erfahrung als Symbolvermittlung ist ohne Abstraktion nicht denkbar).

579

Anmerkungen:

225

S. 254 —

Diese Tendenz (die freilich nicht rein artikuliert wird,

273

sondern

genz- und freiheitsfreundlichen Tendenz einhergeht) wird

mit einer gegenläufigen, kontin-

z.B. bei Hegel deutlich, wenn dieser

Freiheit als 'Einsicht in die Notwendigkeit' definiert. 226 Cf. Nietzsche 1980 < = K S A > IV (Also sprach

Zarathustra).

227 Ich wende mich also gegen die bei Bergson vorgenommene strenge Dichotomisierung von 'intelligentem' und 'intuitivem' Denkvermögens und behaupte demgegenüber, daß in jedem einzelnen konkreten Denkakt beides,

Intuition und Intelligenz, transkategoriales und kategoriales Denken,

wirksam ist, auch wenn die eine oder die andere Komponente so dominieren kann, daß

der

An-

schein von Ausschließlichkeit entsteht. 228 Zur Metaphorik als grundlegender Technik für jegliches Sinnverstehen cf. Lakoff/Johnson 1980 und Blumenberg 1960. 229 Cf. Frey 1970, 98 ff. 230 Ich verwende die Begriffe Emotion und Affekt synonym. Dies entspricht auch Gebrauch. Eine genauere terminologische

Unterscheidung findet

dem landläufigen

sich — mit sehr unterschiedli-

chen inhaltlichen Bestimmungen — in speziellen psychologischen Theorien. Aber es gibt innerhalb des fachwissenschaftlich-psychologischen Diskurses keine einheitliche Festlegung (cf. Goller 1992, Einleitung, 11 ff.). 231 Cf. Whitehead 1971 < = A I > 326. 232 Cf. Schwemmer 1990a, 18. 233 Die Frage, ob es systematisch zulässig ist, Philosophie und Alltag als eigene

symbolische

Formen

anzusehen, ist schwierig zu beantworten. Cassirer selbst lehnt eine solche Möglichkeit ab. Allerdings läßt sich argumentieren, daß

(a) die von ihm genannten symbolischen Formen

Idealtypen

(im Sinn Max Webers) darstellen, die jeweils faktisch auch Heterogenes zusammenfassen, daß (b) die Zuordnung faktischen Materials unter diese oder jene symbolische

Form nicht immer streng

entscheidbar, sondern manchmal willkürlich ist und daß (c) bei Cassirer keine kanonische Begrenzung der Zahl und der Arten symbolischer Formen vorgesehen (oder auch nur in hermeneutischer Rekonstruktion sinnvoll) ist. Zumindest in der (verengten) Stilisierung der Lebenswelt als wie sie von einigen Richtungen der Lebensweltphilosophie nach Husserl

Alltag,

vorgenommen wurde

(z.B. von Schütz und Habermas), und in der (gleichfalls verengten) Stilisierung, den die Begriffe Philosophie

und 'Denken' z.B.

bei Heidegger erfahren, wäre es demnach nicht abwegig, Alltag

und Philosophie als selbständige Symbolformen anzusehen. Allerdings ist festzuhalten, daß Cassirer den Begriff der symbolischen Form nicht einfach mit dem Begriff des Symbolismus oder Symbolsystems gleichsetzt. Symbolische Form ist die grundsätzliche Weise, Welt zu erschließen, der Typus — nicht die konkrete Kombination von

Symbolismus und Medium — der Verstehensbil-

dung. 234 Inwiefern die Genese der Theologie — allgemeiner: die Genese der Hochreligion — in der Kultur sich durchsetzenden neuen Medium, der Schrift,

mit

einem

zusammenhängt, wird anhand vielfa-

chen ethnologischen Materials gezeigt bei: Goody 1990, Kap. 1, 25 ff. 235 Den Begriff der 'inneren Form' übernimmt Cassirer, indem er ihn auf alle symbolischen

Formen

anwendet, aus der Sprachphilosophie Humboldts (cf. PhSF II). 236 Zur neueren Diskussion des Erklären-Verstehen-Problems

insbesondere

in der analytischen Ge-

schichtsphilosophie cf. von Wright 1974 und Schwemmer 1976. 237 Cf. PhSF III, Kap. V: "Symbolische Prägnanz", 222 ff. 238 PhSF III, 235. 239 PhSF III, 236. 240 Cf. beispielsweise Orth 1988. 241 'Symbolische Form' und 'symbolische Prägnanz' sind übrigens die beiden einzigen terminologischen Neuschöpfungen, die Cassirer vorgenommen hat. 242 PhSF III, 237.

580

Anmerkungen:

S. 273 — 283

243 Hier treffen sich die Intentionen der Symbolphilosophie mit Gadamers Hermeneutik (Gadamer 1960), aber auch mit dem 'Interpretationismus' G. Abels (Abel 1993), der einen 'dritten Weg' gegenüber Essentialismus und Relativismus gehen möchte. 244 245 246 247

Cf. das vorhergehende Kapitel über Goodman (2.3.1). Cf. dazu Puntel 1978. Cf. Puntel, a.a.O. Hübners Titel Die Wahrheit des Mythos (Hübner 1985) ist also ganz in Cassirers Sinn formuliert. Cf. Cassirer, PhSF II, 18. 248 Cf. PhSF II, 42. 249 Kuhn 1967. 250 PhSF II, 42. 251 Das gilt freilich nur eingeschränkt. Zwar durchläuft nach Cassirer jede symbolische Form eine innere Entwicklung, doch gelangt nicht jede Form in dieser Entwicklung gleich weit. Dem Mythos z.B. ist der Übergang in die reine Bedeutungsfunktion versagt. 252 Cf. PhSF III, 329. 253 PhSF III, 332. 254 PhSF III, 330. 255 256 257 258

PhSF III, 332 f. PhSF III, 330. PhSF III, 333. Zum Wahrheitsbegriff Cassirers cf. Krois 1987, 106 ff. und Graeser 1994, 163 ff. Graeser nimmt an, "daß Cassirer Wahrheit als Kohärenz dachte" (a.a.O., 168). Wegweisend für eine die immanente Begrifflichkeit Cassirers überschreitende Rekonstruktion scheint mir H. Paetzolds Ansicht zu sein, daß 'Wahrheit' bei Cassirer dem nahekomme, was Peirce darunter versteht: ein regulativ in die Zukunft gerichtetes Prinzip von 'ultimate opinion' bzw. 'consensus omnium' (cf. Paetzold 1994).

259 260 261 262 263 264 265 266

Whitehead, AI 423 f. AI 439. Cf. AI 435 ff. AI 462. AI 462 f. AI 423. AI 464. Das Wechselverhältnis kann in kantischer Terminologie so formuliert werden: Symbolismen ohne Lebenswelt sind leer, Lebenswelt ohne Symbolismen ist blind. Ein Beispiel hiefür sind sicherlich die Traumsymbole. Zur diesbezüglichen Kritik von Synästhesie und Gesamtkunstwerk cf. Cramer/Kaempfer 1992, 196 ff. Cf. Schwemmer 1990a, 18 und meine Darstellung unter 1.3.2.2. Z.B. PhSF I, 7. Von den in jüngster Zeit zahlreich erschienenen Sammelbänden, die aus interdisziplinärer Sicht das Problem der neuen Medien erörtern, seien hier nur drei genannt: Bredow 1990, Schwartländer/ Riedel 1990, Weingarten 1990.

267 268 269 270 271

272 Cf. McLuhan 1968 und 1969, Baudrillard 1982, Flusser 1987. 273 Die linguistische Medienforschung wird vor allem durch E.A. Havelock und W.J. Ong repräsentiert. Cf. Havelock 1963, 1978, 1990, 1992 und Ong 1967 und 1987. 274 Die ethnologische Medienforschung wird vor allem von J. Goody repräsentiert. Cf. Goody 1977, 1981, 1987, 1990. In den Umkreis der Ethnologie ist aber auch der Psychologe A.R. Lurija zu zählen (Lurija 1986).

581

Anmerkungen:

S. 283 —

287

275 Phaidros, 274 b — 277 a. 276 Die Heterogenität der Sprachen in ihrem logischen Aufbau bezüglich Grammatik und Wortschatz wird in der Sapir/Whorf-These, die auch als 'sprachliches Relativitätsprinzip' bezeichnet wurde, besonders betont. Koller 1988 stellt sehr klar die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Sapir/ Whorf und Humboldt — dem eigentlichen Begründer der sprachlichen Relativitätsthese — heraus (a.a.O., 240 ff. und 265 ff.). Humboldts methodische Überlegungen stehen auf einem höheren Niveau als die allzu deterministischen Thesen von Sapir/Whorf. 277 Wandruszka 1979 formuliert die einleuchtende These, daß auch schon der Benutzer einer Einzelsprache insofern 'vielsprachig' sei, als er nicht nur einen einzigen Diskurs innerhalb dieser Sprache, sondern eine Pluralität von Sprachspielen, von unterschiedlichen Diskursen, von Sondersprachen und Fachsprachen versteht und verwendet. 278 Zur Ethnopsychologie cf. Lurija 1986. 279 Cf. Havelock 1963 und 1978. 280 Cf. Kutschera 1975, Kap. 4, 289 ff. und Koller 1985, Kap. X, 212 ff. 281 Cf. Humboldt 1968 und 1973. 282 Zu Nietzsches Sprachphilosophie cf. Simon 1980. Dort wird allerdings mehr Wert darauf gelegt, die — eher vordergründigen — Widersprüche in Nietzsches Sprachkonzeption offenzulegen, als darauf, die Gesamtintention Nietzsches hermeneutisch zu rekonstruieren. Diese Gesamtintention zielt einerseits auf eine Destruktion des Wahrheitsbegriffs und damit auch des Wahrheitsanspruchs der Sprache, andererseits jedoch auch auf eine positive Rekonstruktion des metaphorisch-symbolischen menschlichen Weltbezugs. Es ist aber einzuräumen, daß Nietzsche diese beiden Absichten theoretisch nicht zureichend vermittelt. 283 Cf. Whorf 1963. 284 Am extremsten findet sich die Determinismusthese bei Baudrillard, der mit seiner Theorie vom 'Simulacrum' eine durch die neuen Medien hervorgerufene UnUnterscheidbarkeit von Schein und Wirklichkeit behauptet (Baudrillard 1982). 285 Diesbezüglich ist die — anderweitig sehr instruktive — Einleitung von A. und J. Assmann zur deutschen Übersetzung von Havelocks The Origins of Western Literacy zu kritisieren, da Havelock hier einer reduktionistischen — von ihm vor allem in The Muse Learns to Write ausdrücklich abgelehnten — Position geziehen wird. (Cf. Assmann 1990). Havelocks Theorie der kulturbestimmenden Macht von Kommunikationsmedien mit vulgärmarxistischen Annahmen einer Determiniertheit des 'Überbaus' durch die 'Basis' der ökonomischen Produktionsmittel in Analogie zu stellen, beruht auf einer ungenauen Lektüre. Havelock behauptet weder, daß Kommunikationsmedien die einzige und allein entscheidende Kraft der Kulturgestaltung seien, noch vertritt er einen Determinismus. 286 Cf. Schwemmer 1990 und 1990a. 287 Zum Verhältnis von Havelock und Derrida cf. Assmann 1990. In der Perspektive der Philosophie Derridas (cf. Derrida 1972 und 1983) befaßt sich Havelock nur mit der 'sekundären Schrift', d.h. dem Kommunikationssystem der Schriftzeichen im engeren (und normalsprachlichen) Sinn. Derrida verwendet den Schriftbegriff hingegen für jede Art von Informationskodierung und nennt diesen entgrenzten Schriftbegriff'primäre Schrift'. Damit wird der Ausdruck natürlich zur Metapher und der ursprüngliche Wortsinn von Schrift radikal entgrenzt — eine Entgrenzung, die aber auch zur Nivellierung der Unterschiede, die die Medien zueinander aufweisen, führt. 288 McLuhan 1968. 289 Havelocks Metier ist die klassische Philologie, und seine Bücher befassen sich fast ausschließlich mit der Rolle der Schrift und der Oralität im antiken Griechenland. W.J. Ong hat in Orality and Literacy (Ong 1987) Havelocks Ansatz aufgenommen und auf die gesamte Mediengeschichte angewendet. Havelock wiederum dankt in The Muse Learns to Write (Havelock 1992) Ong für diese Weiterführung und nimmt in der genannten Arbeit zum Thema nach-schriftlicher Medien Stellung.

582

Anmerkungen:

S. 287 — 295

290 Cf. die Darstellung dieser Problematik — von Rousseau bis Saussure — bei Derrida 1983 (Teil II, 171 ff.)· Freilich ist diese Gleichsetzung nicht durchgängig. Bei Whitehead (in Adventures of Ideas) und bereits bei Humboldt finden sich im Hinblick auf eine Differenzierung zumindest marginale Überlegungen. 291 Parry 1971. 292 Lord 1965. Auf die methodischen Probleme, die sich durch die Beiziehung dieses modernen Anschauungsmaterials ergeben — die Gusjaren des 20. Jahrhunderts sind gewissermaßen Vertreter einer Subkultur und existieren neben bzw. unterhalb der kulturellen Realität fortgeschrittener Schriftlichkeit — kann hier nicht eingegangen werden. 293 Die Kategorien des 'Überflüssigen' und des 'Notwendigen' sind in frühen Kulturen inhaltlich natürlich anders besetzt als heute. Zum 'Notwendigen' gehört auch durchaus der Umgang mit Göttern, Geistern und Dämonen. Doch wird dieser 'numinose' Bereich in den frühen Kulturen bezeichnenderweise noch nicht in Richtung Theologie und Philosophie theoretisch ausgestaltet. Theologie und Philosophie — als Diskurse jenseits der (mündlichen) Erzählung — sind erst Produkte der Schriftkultur. (Cf. Goody 1990, Kap. 1). 294 Havelock hat dies exemplarisch am Begriff der dike (Gerechtigkeit) aufgewiesen. Cf. Havelock 1978 und — Havelocks Thesen bestätigend — Lurija 1986. 295 Eine Übersicht oraler Charakteristika findet sich bei Ong 1987 (Kap. III: Die Psychodynamik der Oralität, bes. 39—60). 296 Phaidros, 274 b — 277 a. 297 Ong weist darauf hin, daß diese Vorwürfe gegen die Schrift beinah identisch sind mit den von konservativen Verteidigern der Schriftkultur gegen die neuen Medien erhobenen Vorwürfen (Ong 1987, 82). 298 Goody 1990. 299 Lurija 1986. 300 Schwemmer 1990a, 23 ff. 301 Postman 1985. 302 Schwemmer 1990a, 37 f. 303 Assmann 1990. 304 Cf. Nestle 1941. 305 R. Pfeiffer, Geschichte der Klassischen 1990, 12).

Philosophie

/, München 1978, 52 (zitiert bei Assmann

306 Havelock 1963. 307 In dieser Perspektive kann das christliche Mittelalter mit seinem Rückgang der allgemeinen Schriftkundigkeit und seiner Identifizierung von Schrift (als Technologie) und göttlichem Wort (als Ideologie) — letztere zwingt das Individuum unter die Heteronomie des göttlichen Wortes, also des Mythos — nur als eklatanter Rückschritt hinter die Errungenschaften der antiken Aufklärung angesehen werden. 308 Zu dieser These cf. Cassirer: PhSF II, Horkheimer/Adorno 1980 und Hübner 1985. Die Problematik Mythos/Aufklärung wird in ihren historischen und systematischen Verweisungsbezügen übersichtlich abgehandelt bei Jamme 1991 und 1991a. 309 Cassirer, der in seinem Spätwerk Der Mythus des Staates die neuen Mythen als Herrschaftstechnologie beschreibt, geht auf neuere Medien als solche nicht näher ein. 310 Cassirer 1985a, 360 ff. 311 Dies führt zu einer dysfunktionalen Entgrenzung des Ästhetischen. Cf. Bohrer 1992. 312 Cf. Derrida 1988. 313 Cf. Cassirer, "Die Dialektik des mythischen Bewußtseins", in: PhSF 11,281—311. 314 Kuhn 1967. 315 Cf. Sein und Zeit, §§ 27 und 38.

583

Anmerkungen:

S. 297—

303

Zweites Buch, Abschnitt 2: Das Ganze und die Grenzen der Erfahrung: Die Mystikdiskussion in der neueren Philosophie 1

Cf. die Insel-Metapher bei Kant: Das durch reine Vernunft Erkennbare sei eine Insel und das unerkennbare Ding an sich der die Insel umflutende Ozean.

2

Cf. Gadamer 1960. Conill 1993 will "Gadamers ontologische Hermeneutik hauptsächlich als eine Theorie der Erfahrung lesen" und konzipiert den Begriff einer 'erfahrenden Vernunft', die er folgendermaßen charakterisiert: "Die erfahrende Vernunft ist eine Vernunft, die schwanger geht mit der Geschichte und mit der Sprache, die schwanger geht mit der Realität, mit Gefühlen und Werten. Die erfahrende Vernunft kennt keine Zäsur zwischen Fühlen und Begreifen." (a.a.O., 422, 433)

3

Cf. Kants Werke, Bd. IV, 328 (Prolegomena). Ich zitiere Kant nach der Akademieausgabe in 11 Bänden ( = Kant 1968).

4

Cf. Wittgenstein, Tractatus 6.45, wo freilich nicht von einem Begriff, sondern von einem 'Gefühl' gesprochen wird.

5

Dies gilt auch für G. Walthers 'Phänomenologie der Mystik' (cf. Walther 1923).

6

Mynarek 1992 liefert eine New-Age-Weltanschauungsphilosophie. Die nicht uninteressanten Ansätze von Deikman und der transpersonalen Psychologie (cf. Deikman 1986, Zundel/Fittkau 1989 und Wilber 1990) würden eine Darstellung in ihrem eigenen, dem psychologischen Fachdiskurs erfordern.

7

Staal 1975; Katz 1978; Struve 1969 und 1983; Wohlfart 1982, 1991 und 1992.

8

Wagner-Egelhaaf 1989 verfolgt dieses Problem im Hinblick auf die moderne deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts und interpretiert die von Dichtern wie Rilke, Musil, Kolbenheyer, Handke u.a. vorgenommenen Rückgriffe auf Mystik als — in sich unterschiedliche — Lösungsversuche eines modernen Problems: nämlich des Umgangs mit dem semiologischen und zugleich existentiellen Abgrund aller Zeichenhaftigkeit.

9

Cf. Wagner-Egelhaaf 1989, 7 ff.

10

Cf. dazu: de Vries 1980.

11

Ich zitiere Kant nach der Akademie-Textausgabe in 11 Bänden ( = Kant 1968) und verwende folgende Siglen: KrV 2/1 = Kritik der reinen Vernunft, 2. bzw. 1. Auflage ( = Bd. III und IV); KpV = Kritik der praktischen Vernunft (in: Bd. V); KU = Kritik der Urteilskraft (in: Bd. V); Prol. = Prolegomena (in: Bd. IV). Bd. VII enthält den Streit der Fakultäten, Bd. VIII die Aufsätze Das Ende aller Dinge und Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. Die Zitate werden im fortlaufenden Text mit Sigle, Band- und Seitenzahl ausgewiesen.

12

Cf. Schneider-Invetheen 1992.

13

Feyerabend 1976.

14

Hübner 1985.

15

Mynarek 1992.

16

Böhme/Böhme 1983.

17

"Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle — oder besser: all dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können." (Böhme/Böhme 1983, 13). Zur diesbezüglichen Kritik an Kant cf. auch Schwemmer 1986 und 1988. Zur allgemeinen Kritik am neuzeitlichen Rationalismus cf. Toulmin 1991.

18

Kant: Prol., IV,298.

19

Der philosophiegeschichtliche Topos, Kant habe die beiden Hauptströmungen der neuzeitlichen Philosophie, Empirismus und Rationalismus, zur Synthese gebracht, ist also durchaus problematisch, denn durch die Betonung des Apriorischen ist Kant eher ein Fortsetzer des Rationalismus. Außerdem ist der klassische Empirismus vom klassischen Rationalismus nur sehr bedingt trennbar,

584

Anmerkungen:

20 21 22 23 24

25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

S. 307—

319

da auch jener im Grunde einem rationalistisch-apriorischen und ungeschichtlichen Denkmodell verpflichtet ist. Auch hier sei noch einmal an die Stelle vom 'Eiland der reinen Vernunft' resp. Erfahrung erinnert, wo Kant freilich die Mystik nicht explizit erwähnt. VIII, 325—340. Otto 1917, 13 ff. und 42 ff. VIII, 387—406. Kant spielt hier auf den Siebten Piatonbrief und Piatons 'esoterische Lehre', das Ungesagte und Unsagbare seiner Philosophie, an und bemerkt dazu: "Wer sieht hier nicht den Mystagogen, der nicht bloß für sich schwärmt, sondern zugleich Klubbist ist und [...] mit seiner vorgeblichen Philosophie vornehm thut!" (VIII, 398). Etwas später spricht er von der "Preisung der Kunst des Afterplato" (VIII, 399). Die Arcana coelestia erschienen in acht Bänden zwischen 1749 und 1756 (Reprint 1975). Zu den raren seriösen religionsgeschichtlichen Darstellungen Swedenborgs cf. Benz 1948. Eine Auswahl aus den Schriften Swedenborgs bietet der Band Homo maximus (Swedenborg 1962). Dazu zählen Auditionen, Visionen, Geistergespräche u.ä. Cassirer 1975, 83. Cf. du Prel 1964. (Der Aufsatz erschien erstmals 1889.) So etwa bei Schwab 1975, neuerdings auch bei Florschütz 1992. Zum Stellenwert der Vokabel 'erhaben' in diesem Kontext cf. nochmal Kant KrV 2, III, 30 f. Böhme/Böhme 1983, Kap. IV, 231 ff. Brief vom 8. April 1766 (zitiert nach Cassirer 1975, 82). Hegel wird nach der Suhrkamp-Ausgabe zitiert ( = Hegel 1971). Die Zitate werden im fortlaufenden Text ausgewiesen (röm. und arab. Ziffern = Band- und Seitenzahl). Eine solche Wunschprojektion liegt auch anderen gewaltsamen Uminterpretationen diverser Philosophen zugrunde: etwa wenn Marxisten Spinoza als 'Materialisten' oder wenn manche Theologen Nietzsche als konsequenten 'Gottsucher' veranschlagen oder wenn Heidegger als 'Gesellschaftskritiker' vorgestellt wird.

36 37

Cf. Benz 1952. Albert 1986, 158 ff.

38 39 40 41 42

Dazu cf. Gulyga 1990, 233 ff. In: Bd. 5 (Zur Religionsphilosophie) der Sämtlichen Werke Fichtes, ed. I.H. Fichte (1845/46). A.a.O., 427. A.a.O., 428. A.a.O., 473.

43 44 45 46 47 48

A.a.O., 427. A.a.O., 473. A.a.O., 474. A.a.O., 428. Über den Begriff 'Intellektualismus' cf. Borsche 1976. Paraphrasierend dazu heißt es in Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Aristoteles-Kapitel): "das Empirische, in seiner Synthesis aufgefaßt, ist der spekulative Begriff." (19, 172)

49 50

Albert 1986, 162 ff. Cf. Hegels Solger-Rezension (11, 205—274, bes. 214 ff.), erschienen 1828 in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik. Cf. dazu vor allem: Comoth 1986. Ich wende mich hier gegen eine bestimmte 'ideologiekritische' Hegelinterpretation, wie sie z.B. E. Topitsch verfolgt, die zwar verdienstvollerweise den geistesgeschichtlichen Hintergrund der hegel-

51 52

585

Anmerkungen:

S. 320 — 325

sehen Konzeption und ihrer Terminologie darlegt, jedoch in den Fehler verfällt, den systematischen Gehalt historisierend zu relativieren. Sie reduziert die hegelsche Philosophie, ohne sie als Erfahrungskonzeption auch nur ansatzweise begriffen zu haben, auf angeblich 'längst Bekanntes' und historisch Erledigtes. Auch hier liegt offenkundig ein Fall von Präpotenz des auf beschränkte 'Gegenstände' beschränkten 'Verstandes' vor, dem die Dynamik von Vernunft und der Gestaltwandel von Erfahrung verschlossen bleiben. (Cf. Topitsch 1958) 53

Hier berührt sich Hegels Religionsphilosophie teilweise mit der Religionslehre Schopenhauers. Dieser bejaht Religion nicht so umstandslos wie Hegel, sondern betrachtet sie im Hinblick auf die durch sie gleichzeitig vermittelten 'allegorischen Wahrheiten' und 'Superstitionen' als ambivalent. Als 'Piatonismus fürs Volk' hält er sie für notwendig. Allerdings legt sich Schopenhauer in weiteren Überlegungen auf eine einseitig aufklärerische Perspektive fest und hält eine 'Euthanasie' der Religion, deren ersatzlosen Übergang in eine wissenschaftliche Denkweise auch bei den Massen für wahrscheinlich.

54

19, 183—187.

55

Zu berücksichtigen ist, daß zu Hegels Zeit die moderne Eckhart-Rezeption erst ansatzweise beginnt. Es gibt, außer vereinzelten Hinweisen, in seinen Texten keine ausführliche Passage über Eckhart, der Hegel durch Baader freilich bei dessen Besuch in Berlin nahegebracht wurde. Baader las Hegel damals aus Eckhart-Texten vor, die Hegel als mit seiner Philosophie übereinstimmend angeblich 'begeistert aufnahm. Nach K. Rosenkranz gibt es allerdings bereits "am Ausgang der Schweizerperiode [...] Hegels [...] Exzerpte von Stellen aus Eckart und Tauler, die er sich aus Literaturzeitungen abschrieb" (zitiert nach Comoth 1986, 29, Fußnote 43). — Systematisch über das Verhältnis Hegels zu Eckhart handeln: Degenhardt 1967, Brunner 1973, Kolb 1992, Schoeller 1992.

56 57

In: 20, 91—119. Cf. Comoth 1986, 28: "Böhme ist der deutsche Mystiker Hegels."

58

Hegel: "Das Innere, das Spekulative ist das Mystische." (Hier zitiert nach: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Ausg. Lasson, 177.)

59

11,205—274.

60

Hegels Beurteilung des indischen Denkens ist bekanntlich in besonderer Weise unvollkommen, schematisch und ungerecht. Darauf ist hier aber nicht näher einzugehen. Zur Fehlinterpretation indischen Denkens durch europäische Begrifflichkeit cf. Gestering 1986.

61 62

13,466—484. Cf. dazu den Abschnitt "Mohammedanische Poesie" (13, 473—476), wo Hegel auf Dschelal edDin Rumi und Hafis eingeht und deren Poesie folgendermaßen charakterisiert: "Indem sich nämlich der Dichter das Göttliche in allem zu erblicken sehnt und es wirklich erblickt, gibt er nun auch sein eigenes Selbst dagegen auf, faßt aber ebensosehr die Immanenz des Göttlichen in seinem so erweiterten und befreiten Inneren auf, und dadurch erwächst ihm jene heitere Innigkeit, jenes freie Glück, jene schwelgerische Seligkeit, welche dem Orientalen eigen ist, der sich bei der Lossagung von der eigenen Partikularität durchweg in das Ewige und Absolute versenkt und in allem das Bild und die Gegenwart des Göttlichen erkennt und empfindet. Solch ein Sichdurchdringen vom Göttlichen und beseligtes trunkenes Leben in Gott streift an die Mystik an." (13, 474)

63

Bemerkenswert ist hier, daß Hegel — indem er sie in Richtung pantheistischer Weltfrömmigkeit akzentuiert — zwar eine christliche und eine islamische (mit Einschränkungen auch noch eine indische), nicht aber eine jüdische Mystik anerkennt — ein Beispiel für die unterschiedliche und arbiträre Verwendung dieses Terminus. Cf. die bei Scholem dargestellten Formen jüdischer Mystik (Scholem 1967).

64

Ich zitiere Schopenhauer nach der 4. Auflage der von A. Hübscher herausgegebenen Sämtlichen Werke in 7 Bänden ( = Schopenhauer 1988, Abkürzung: SW) und nach dem gleichfalls von A. Hübscher herausgegebenen Handschriftlichen Nachlaß in 5 Bänden ( = Schopenhauer 1985, Abkürzung: HN).

586

Anmerkungen: S. 325 — 328

65

Ε. Seiliiere z.B. nennt Schopenhauer einen "christlichen Mystiker [...], der nur die Fesseln des Dogmas gesprengt und die Bürde der kirchlichen Zucht abgeworfen hat" (zitiert nach Schmidt 1986, 60).

66 67

Cf. Hübscher 1985, Kap. 1: "Die zerbrochene Schale", 9—29. Den Ausdruck 'bessere Erkenntniß' verwendet nur der frühe Schopenhauer (cf. HN). Später wird der Ausdruck vermutlich aufgrund der Überlegung fallengelassen, daß Erkenntnis dem Satz vom Grund (d.i. der Kategorialität) verpflichtet sei und daß die mit der 'höheren' oder 'besseren' Erkenntnis verbundene Negation des Satzes vom Grund die 'Erkenntnis' als solche aufhebe. Dennoch fährt Schopenhauer fort, von 'Einsicht' oder 'Intuition' zu sprechen — er behauptet, trotz aller terminologischer Verlegenheit, also auch weiterhin, daß eine andere Erkenntnis als die gegenständlich-kategoriale möglich sei. Die Schwierigkeit — sie wiederholt sich im Begriff des sich wenden könnenden Willens — besteht darin, daß es Schopenhauer ablehnt, seine Grundbegriffe dialektisch zu denken (cf. Spierling 1977).

68

Albert 1986 (über Schopenhauer: 173—182) attestiert Schopenhauer ein 'zwiespältiges' Verhältnis zur Mystik und macht dafür die 'heterogenen Wurzeln' seiner Philosophie verantwortlich. Dies ist freilich nur eine äußerlich bleibende Erklärung des bei Schopenhauer in seinem Grundgedanken — Welt als Wille und Vorstellung — angelegten Zwiespalts, in dem sich m.E. die Sache der Dialektik ausdrückt, nicht aber ein Eklektizismusproblem. Zum 'einen Gedanken' Schopenhauers cf. die großangelegte Studie von Malter 1991. Spierling 1977. In seinen späteren Arbeiten (z.B. Spierling 1984) läßt auch Spierling den Terminus 'Dialektik' wieder fallen und spricht lieber von einer 'Drehwende'. Schopenhauer zählt — trotz seiner immensen Wirkungsgeschichte in unserer Kultur — nicht zu den klassischen Denkern, die von der philologisch-rekonstruktionistisch orientierten akademischen Philosophie zureichend aufgearbeitet worden wären. In den Publikationen des Schopenhauer Jahrbuchs und im Umkreis der sich vorwiegend als 'gläubiger Gemeinde' verstehenden Frankfurter Schopenhauer-Gesellschaft — etwa bei deren langjährigem Präsidenten A. Hübscher (cf. Hübscher 1985) — wird ein harmonisierendes Schopenhauer-Bild angeboten, das Widersprüche vorschnell zu glätten sucht und auch kaum je einen Standpunkt einnimmt, der über Schopenhauer stehen und ihn aus einem im Denken fortgeschritteneren Standpunkt beleuchten möchte. Da wird gnadenlos paraphrasiert und exegiert, aber nicht produktiv weitergedacht. Aus dieser Perspektive ist Schopenhauers Gedankenarbeit rundweg wohl gelungen. Von akademischen Philosophen — insbesondere von Kantianern, die Schopenhauers Abweichung und Kritik der Transzendentalphilosophie als Rückfall hinter die Errungenschaften Kants betrachten — wird Schopenhauer hingegen oft nicht ernst genommen und als 'Popularphilosoph' abgetan. Sie betonen die Widersprüchlichkeit seiner Thesen auch dann, wenn sich diese bei einer eingehenderen hermeneutischen Rekonstruktion der Texte (weitgehend) auflösen lassen.

69 70 71

72 73 74

75

Eine eingehende Darstellung des Verhältnisses von Erfahrung und Metaphysik bei Schopenhauer findet sich in: Malter 1991, 27 ff. sowie in: Weimer 1982, 47 ff. und 61 ff. HN 1,256 (Nr. 406). In den Studienheften 1811—18 kritisiert Schopenhauer Schellings Ideen zu einer Philosophie der Natur: Schelling wolle sein "System der gesammten Erfahrung aus Principien abgeleitet" haben, doch "der bloße Begriff Erfahrung sagt schon die Unmöglichkeit hievon aus". Weiters: Philosophie kann nach Schopenhauer nur "das bedingte Wissen vom Absoluten" sein, kein unbedingtes Wissen, das ebenfalls eine contradictio in adiecto sei. (HN 2, 315 f.) Mit Hegel befaßt sich Schopenhauer — übrigens rein polemisch und für eine seriöse Hegelkritik nur indirekt verwendbar — erst zu einem Zeitpunkt, als er sein eigenes System längst abgeschlossen hat. Die (nicht nur polemische, sondern z.T. auch aneignend-produktive) Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling hingegen fällt in die Zeit der Genese eben dieses Systems.

587

Anmerkungen:

S. 328 —

333

76 77

Cf. dazu ΗΝ 2, 315. Über das Verhältnis von Verstand und Vernunft bei Schopenhauer vor dem Hintergrund der kantischen und der vorangehenden dogmatisch-rationalistischen Philosophie cf. Volpi 1982.

78

Der 'soteriologische' Grundzug der Philosophie Schopenhauers wird bei Malter 1991 gebührend hervorgehoben. Die allzu kantianisierende Grundperspektive des Autors erlaubt es ihm aber nicht, diesen Grundzug ausdrücklich mit dem Thema Mystik in Verbindung zu bringen. Malter widmet in seinem großangelegten Werk — das im übrigen als bislang unübertroffenes Standardwerk der neueren Schopenhauer-Lliteratur gelten darf — der Mystik weder ein eigenes Kapitel, noch kommt 'Mystik' auch nur als Schlagwort im Register vor. (Anders dagegen: Hübscher 1985, Kap. 1 oder Schmidt 1986.)

79

Schopenhauer erörtert den Selbstmord unter: SW 6, 325 ff. Das Suicidproblem ist ein schwieriges Kapitel der Schopenhauerinterpretation. Der Selbstmord wird mit der Begründung abgelehnt, daß hierdurch kein 'wirkliches' Ende des Willens erreicht werde, sondern nur ein neuer Gewaltakt des Willens vorliege. Dabei scheint Schopenhauer freilich davon abzusehen, daß der Suicid immerhin ein faktisches Ende des individuierten Willens herbeiführt. Seine Argumentation wäre m.E. nur dann gerechtfertigt, wenn wir an die Unsterblichkeit der Seele oder an die Seelenwanderung glauben, was freilich auf eine — von Schopenhauer andernorts bestrittene — Ausblendung des Wirklichkeitscharakters unseres Leibes und unseres konkret-individuellen Lebens hinausliefe. Die Spekulation, daß unsere individuelle Existenz nicht nur Erscheinung, sondern auch Schein, d.h. nicht substantielle Gestalt einer anderen Identität — der Identität eines kollektiven Weltgeistes oder einer Weltseele — wäre, läßt sich nach Schopenhauers eigenen methodischen Prinzipien zwar glauben, aber niemals argumentativ beweisen. Im Hintergrund der Ablehnung des Suicids steht bei Schopenhauer jedoch eine wichtige und ernstzunehmende Intuition, die gleichwohl bei ihm nicht zum ausgearbeiteten Gedanken wird: daß unser Dasein trotz und wegen seines Leidcharakters eine Herausforderung und eine Aufgabe darstelle, der wir uns zu stellen und an der wir zu arbeiten haben und daß wir, wenn wir uns 'davonstehlen', unsere Identität verfehlen.

80

Zum Zusammenhang von Ästhetik und Mystik bei Schopenhauer cf. Jain 1989 und Knodt 1991. Jain arbeitet die weitgehende Identität von ästhetischer und mystischer Erfahrung heraus, Knodt spricht von Schopenhauers Ästhetik als einer 'gesteigerten Form von Transsubjektivität' und kritisiert die seiner Ansicht nach zu scharfe Grenzziehung, die Schopenhauer zwischen Ästhetik und Ethik vornimmt.

81

Schopenhauer nennt in diesem Zusammenhang Fenelon, Meister Eckahrt, die Theologia deutsch, Tauler und verweist des weiteren auf die Verwandtschaft des (vom 'jüdischen Dogmatismus' unberührten) 'wahren Christentums' mit dem Hinduismus (SW 2, 458 f.).

82

Schopenhauer unterscheidet nicht genau zwischen Brahmanismus und Buddhismus und setzt folglich auch Brahman und Nirwana gleich. Cf. SW 6, 108: "Wenn unter den Theisten welche sind, die unter dem Namen Gott das Nirwana verstehen; so wollen wir um den Namen mit ihnen nicht streiten. Die Mystiker sind es, welche es so zu verstehn scheinen." HN 4/1, 103. Cf. dazu auch: Schmidt 1986, 63. Cf. SW 6, 412: "Der Mittelpunkt und das Herz des Christenthums ist die Lehre vom Sündenfall, von der Erbsünde, von der Heillosigkeit unsers natürlichen Zustandes und der Verderbtheit des natürlichen Menschen, verbunden mit der Vertretung und Versöhnung durch den Erlöser, deren man theilhaft wird durch den Glauben an ihn. Dadurch nun aber zeigt dasselbe sich als Pessimismus, ist also dem Optimismus des Judenthums, wie auch des ächten Kindes desselben, des Islams, geradezu entgegengesetzt, hingegen dem Brahmanismus und Buddhaismus verwandt. — Dadurch, daß in Adam Alle gesündigt haben und verdammt sind, im Heiland hingegen Alle erlöst werden, ist auch schon ausgedrückt, daß das eigentliche Wesen und die wahre Wurzel des Menschen nicht im Individuo liegt, sondern in der Species, welche die (platonische) Idee des Menschen ist, deren aus-

83

84 85

588

Anmerkungen:

S. 334 — 345

einandergezogene Erscheinung in der Zeit die Individuen sind." In diesem Sinn enthält das Christentum eine tiefgreifende 'allegorische Wahrheit'. 86 87

Die ausführlichste Darstellung über Religion gibt Schopenhauer im Kunstdialog zwischen 'Demopheles' und 'Philalethes' in den Parerga und Paralipomena (SW 6, 343—419). Cf. Böhme/Böhme 1983.

88 89 90

Darüber cf. ΗΝ 1, 22 f., 27, 42, 44. SW 5, 239—330. Über Nietzsches — peripheres — Verhältnis zur Mystik cf. Colli 1982, Schneider 1983 und Albert 1986. Colli verwendet einen überaus schwammigen Mystikbegriff und sieht im esoterischen Zug der Philosophie Nietzsches den entscheidenden Mystikbezug. Schneider weist eine Vielzahl klassischer mystischer Motive im Zarathustra auf und rekonstruiert überdies den Begriff des Dionysischen als eine quasi-mystische Struktur. Zu Alberts Rekurs auf den frühen Nietzsche, der das hen kai pan als Ursprungsmotiv der griechischen Philosophie behauptet und dieses Motiv 'mystisch' nennt, cf. Kapitel 2.3.1.

91

H.M. Schmidinger sieht als gemeinsamen Nenner des nachidealistischen Denkens "die Frage nach der Denk- oder Erfahrbarkeit dessen, was absolut vor dem Denken kommt" (Schmidinger 1985, 11) — eine Frage, die zwangsläufig (nach wie vielen Wendungen und Umwegen auch immer) auf die idealistische Frage der Vermittlung von Realität durch das Denken zurückkommen muß. Man kann daher sagen: der sogenannte Nachidealismus nimmt das Problem des Idealismus lediglich in gewandelter Weise wieder auf.

92

Cf. Laplanche/Pontalis, 418 f.

93 94 95

Lukäcs 1962. Görres 1879. Cf. Popper 1992. Für diesen Autor fallen auch Wittgenstein und Whitehead unter die Rubrik der 'Irrationalisten'. Cf. Schmidinger 1985. Hogrebe 1989. Die James-Zitate werden in diesem Kapitel großteils im fortlaufenden Text ausgewiesen und wie folgt abgekürzt: Ρ = Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden ( = James 1977); V = Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur ( = James 1979).

96 97 98

99

James 1977 [zuerst engl. 1907]. Abkürzung: P.

100 James 1979 [zuerst engl. 1903]. Abkürzung: V. 101 James 1976 [zuerst engl. 1912]. 102 James übernimmt den Begriff des Pragmatismus kurz vor den Gifford-Lectures von Ch. S. Peirce, so daß sein Selbstverständnis als Pragmatist nicht erst für die Vorlesungen über Pragmatismus von 1907/08 gilt, sondern bereits für die Religionsvorlesungen. 103 Zum pragmatischen Wahrheitsbegriff, bei dessen Explikation sich James sehr eng an Peirce, vor allem aber an Schiller und Dewey anschließt, cf. besonders die 6. und 7. Pragmatismusvorlesung (P 123 ff.). Die Ausführungen in Ρ decken sich inhaltlich völlig mit den (weniger ausführlichen) Bemerkungen zum Wahrheitsproblem in V. 104 Cf. beispielsweise Ρ 79 ff. (4. Vorlesung) oder V 474 ff. (Nachschrift). 105 Cf. Hampe 1990. 106 Eine solche Beschränkung ist natürlich fragwürdig, da die Psyche durch das Fehlen oder das Vorhandensein von Institutionen — und in letztgenanntem Fall: von deren Beschaffenheit (man denke an einen Extremfall wie die Inquisition) — wennschon nicht ausschließlich bestimmt, so doch jedenfalls mitbestimmt wird. 107 Cf. Leuba 1925. 108 Cf. V, die Vorlesungen IV—VII, 87 ff. 109 Cf. Ρ, 1. Vorlesung (1 ff.).

589

Anmerkungen:

S. 351 — 359

110 4. Vorlesung (P 79—102). 111 Ρ 83 ff. 112 Bergson wird in diesem Kapitel wie folgt zitiert: PM = Denken und schöpferische Entwicklung [La pensee et le mouvant] ( = Bergson 1985); DS = Die beiden Quellen der Religion und der Moral [Les deux sources de la morale et de la religion] ( = Bergson 1980). Zum frz. Original cf. Bergson 1959: 1249 ff. ( = PM) und 979 ff. ( = DS). Die Zitate werden zum Großteil im fortlaufenden Text ausgewiesen. 113 Zum 'skeptischen Potential' cf. Wagner-Egelhaaf 1989, 208 ff. 114 Zu Bergsons Evolutionskonzept cf. vor allem Bergson 1967 und — in philosophisch-anthropologischer sowie geschichtsphilosophischer Perspektive — Bergson 1980 ( = DS). Zu Bergsons Mystikbegriff (im Vergleich zu Lavelle) cf. Vieillard-Baron 1991. 115 116 117 118 119 120

Cf. oben das Kapitel 2.2.2.2. Bergson 1991. Bergson 1967. DS 95 ff. DS 305 ff. Wenige Jahre vor Les deux sources sind bekanntlich von Scheler und Plessner die ersten Hauptwerke zur philosophischen Anthropologie erschienen. Auffällig sind die Analogien der Problemstellungen, der Beispiele und der Antworten, so daß es verwunderlich ist — oder besser: ein Resultat allzu schmalspuriger Rezeption —, daß Bergsons Les deux sources (genauso übrigens wie Cassirers An Essay on Man) gewöhnlich nicht zu den Klassikern der philosophischen Anthropologie gezählt werden.

121 Popper 1992 schreibt in einer Anmerkung (Bd. 1, 241 f.): "Die Ausdrücke 'offene Gesellschaft' und 'geschlossene Gesellschaft' wurden meines Wissens nach zuerst von H. BERGSON [...] verwendet. Trotz des beträchtlichen Unterschieds zwischen der Verwendungsweise der Ausdrücke bei Bergson und bei mir (dieser Unterschied geht zurück auf eine verschiedene Einstellung zu fast jedem philosophischen Problem) besteht zweifellos auch eine gewisse Ähnlichkeit, die ich anerkennen möchte. [...] Der wichtigste Unterschied ist jedoch dieser. Meine Begriffe verweisen gleichsam auf eine rationalistische Unterscheidung; die geschlossene Gesellschaft wird durch den Glauben an magische Tabus gekennzeichnet, während es die Menschen der offenen Gesellschaft gelernt haben, in gewissem Ausmaß den Tabus kritisch gegenüberzustehen und die Entscheidungen (nach der Diskussion) auf die Autorität ihrer eigenen Intelligenz zu gründen. Hingegen hat Bergson eine Art religiösen Unterschieds vor Augen. Darum kann er seine offene Gesellschaftsform als das Produkt einer mystischen Intuition ansehen, während ich der Ansicht bin [...], daß sich der Mystizismus als der Ausdruck des Verlangens nach der verlorenen Einheit der geschlossenen Gesellschaft deuten läßt und damit als eine Reaktion gegen den Rationalismus der offenen Gesellschaft." 122 Dies ist vorerst eine nur grobe Kennzeichnung. Die 'geschlossene Gesellschaft folgt nach Bergson nämlich allererst dem Instinkt und erst in zweiter Linie der Intelligenz, die ihrerseits — ohne Kombination mit dem (sozialen) Instinkt, aus dem sie erwächst — egoistisch und desintegrativ wirkt. 123 Popper 1992 setzt die offene Gesellschaft mit der westlichen Demokratie gleich, die geschlossene mit (linker und rechter) Diktatur. Dieser ordnet er als Ideologieträger die 'irrationalistische', jener die 'rationalistische' Philosophie zu. Dies führt nicht nur zu groben Vereinfachungen, sondern auch zu einer dubiosen Verweisungsmatrix. Bergson, Whitehead und sogar Wittgenstein werden des Irrationalismus und 'Mystizismus' bezichtigt, ohne daß es freilich dem Autor opportun erschiene, sie dann auch als Apologeten der 'geschlossenen Gesellschaft' zu charakterisieren. 124 An anderer Stelle äußert Bergson freilich, daß die 'offene Seele' sozial unauffälligen Menschen anzutreffen sei.

590

auch und gerade bei einfachen,

Anmerkungen:

S. 360 —

368

125 Cf. Bergson, DS 80: "Eine mystische Gesellschaft jedoch, die die ganze Menschheit umfassen würde, und die, von einem gemeinsamen Willen beseelt, zur unaufhörlich erneuerten Schöpfung einer vollkommeneren Menschheit fortschritte", werde es offenbar nie geben. "Der reine Aufschwung ist ebenso ein idealer Grenzfall wie die nackte Verpflichtung." ['Nackte Verpflichtung' meint das reine, ungebrochene Verharren in den Zwängen der geschlossenen

Gesellschaft. Cf. DS, Teil 1, 3—

98: 'Die moralische Verpflichtung'.] 126 Bergson bezeichnet — einigermaßen mißverständlich — den Instinkt auch als eine degradierte Form der Intuition: "Der Instinkt war intuitiv, die Intelligenz reflektierte und argumentierte. Es ist richtig, daß die Intuition sich degradieren mußte, um Instinkt zu werden; sie hatte sich am Interesse für die Gattung hypnotisiert, und was sie an Bewußtsein bewahrt hatte, hatte eine somnambule angenommen. Aber ebenso wie der tierische Instinkt von einem Saum von

Form

Intelligenz umgeben

blieb, so behielt die menschliche Intelligenz eine Aureole von Intuition." (DS 247) 127 Gegen diese gewissermaßen 'rationale Rekonstruktion' der bergsonschen Begrifflichkeit lassen sich freilich Texte ins Feld führen, die etwas anderes auszusagen scheinen — es handelt sich m . E . dabei jedoch lediglich um sprachliche Ungenauigkeiten, die den Sinn nicht in Frage stellen. 128 Cf. den 2. Abschnitt von DS: "Die statische Religion", 99—206. 129 Cf. Bergson, DS 38 ff. 130 Cf. Whitehead 1971, 326. 131 Cf. Delacroix 1908 sowie Underhill 1928 und 1913. 132 Bergson, DS 94—98. 133 Dazu DS 236: "Wir stellen uns also die Religion als die Kristallisierung vor, die zustande kommt durch ein gelehrtes Zum-Erkalten-bringen dessen, was die Mystik glühend in die Seele der Menschheit gelegt hatte. Durch die Religion können nun alle ein wenig von dem erhalten, was völlig nur einige Auserwählte besaßen. [...] In diesem Sinne ist die Religion für die Mystik, was die Popularisierung für die Wissenschaft ist." 134 DS 265 ff. 135 Man wird diese Stelle — zumal im Blick auf die Zeit, in der sie geschrieben wurde — mit einigem Mißtrauen und Unbehagen lesen. Das die Geschicke der Menschheit in die Hände nehmende Genie, das im 20. Jahrhundert die Gattung beglücken soll, wurde auch von Leuten wie Goebbels unter ganz anderen Erwartungen als jenen, die Bergson hegt, herbeigesehnt. Freilich steht außer Zweifel, daß der Inhalt der von Bergson erhofften Mutation der Menschheit totalitärer Entmündigung meint. Bergson setzt auf den demokratischen

das klare Gegenteil

Fortschritt als Vehikel der

'Mystik'. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch ausdrücklich Pseudoformen — z.B.

der Mystik, die

als extremer Nationalismus — nur Gestalten der 'statischen Religion' darstellen würden.

(Es geht u m die Gleichsetzung von 'Imperialismus' und 'Mystik' bei E. Seiliiere.) Cf. DS 310. 136 Ich zitiere Wittgenstein nach der Suhrkamp-Werkausgabe in 8

Bänden

und nach dem Band Vortrag Uber Ethik und andere kleine Schriften

( = Wittgenstein

1984)

( = Wittgenstein 1989, Abkür-

zung: VE), dessen Texte in der Werkausgabe unberücksichtigt geblieben sind. Band 1 der Werkausgabe enthält neben den Tagebüchern suchungen

1914—16 den Tractatus ( = T) und die Philosophischen

( = PU). Ich zitiere Τ und PU — soweit möglich — nicht nach der

Unter-

Seitenzählung,

sondern nach der von Wittgenstein vorgenommenen Notation. 137 Mauthners wichtigste Werke sind — ich stelle die von mir verwendeten Siglen in Klammern voran —: < B I—III > Beiträge zu einer Kritik der Sprache. der Philosophie.

3 Bde. (1901/02); < W I — I I >

2 Bde. (1910); < A I — I V > Der Atheismus

und seine Geschichte

im

Wörterbuch Abendlande.

4 Bde. (1920—23). Vorliegend berücksichtige ich des weiteren: < D B > Die drei Bilder der Welt (1925) sowie < S D > , d.i. Mauthners Beitrag in R. Schmidt (Hg.), Die Philosophie in Selbstdarstellungen.

Bd. III, 123—146 (1924).

der

Gegenwart

Eine Zusammenstellung der wichtigsten Texte

Mauthners in Auszügen besorgte G. Weiler in einem

Band mit dem Titel Sprache und Leben ( =

Mauthner 1986). Ich zitiere Mauthner — mit Ausnahme des 'Mystik'-Artikels im

Wörterbuch

591

Anmerkungen:

< W > — aus dem Reader Sprache

S. 368 — 369

und Leben, gebe dabei aber die ursprünglichen Textquellen un-

ter den zuvor genannten Siglen an (Β, A, DB und SD). Zur Sekundärliteratur über Mauthner cf. Weiler 1971, Kühn 1975, Arens 1984 und das Kapitel V in Janik/Toulmin 1984. 138 Cf. Τ 6.44, 6.45 und 6.522. 139 Wittgenstein berichtet von einem solchen Erlebnis, das er mit 21 Jahren bei einer Aufführung des Anzengruber-Stücks Die Kreuzelschreiber hatte. Die Zentralfigur dieses Stücks, der 'Steinklopferhans', hat eine 'Eingebung'. Eine innere Stimme spricht zu ihm: "Du g'hörst zu dem all'n, und dös all g'hört zu dir. Es kann der nix g'schehn!" (Cf. Baum 1985, 15 f.) Auf diese Anzengruber-Stelle nimmt übrigens auch Mauthner in seiner Darlegung der Mystik Bezug (cf. W II, 134). 140 Janik/Toulmin 1984. 141 Baum 1985. 142 Sie kommt vor allem von jener Seite, die Wittgenstein als metaphysikfeindlichen 'Positivisten' klassifiziert (was eine in der Sache richtige, wenn auch unvollständige Standortbestimmung Wittgensteins ist), die aber — ohne sich sonderlich in seinen prinzipiellen philosophischen Ansatz zu vertiefen — sich dankbar auf die in den drei Mystik-Sätzen des Tractatus ausgedrückte gegenläufige, 'antipositivistische' Tendenz seines Denkens konzentriert. 143 Von ausdrücklichen Wittgenstein-Kennern wurde das Thema Mystik m.W. nur zweimal eigens thematisiert (Zemach 1964 und McGunness 1989). 144 In einem Brief um 1920 schreibt Russell über Wittgenstein: "Aus seinem Buch [gemeint ist der Tractatus] hatte ich schon einen Anflug von Mystik herausgespürt, war aber doch erstaunt, als ich herausfand, daß er ganz zum Mystiker geworden ist. Er liest solche Leute wie Kierkegaard und Angelus Silesius und denkt ernsthaft darüber nach, Mönch zu werden. Dies alles hat mit William James' "Varieties of Religious Experience' angefangen [...]. Er ist tief in mystische Denk- und Empfindungsweisen eingedrungen, aber ich glaube (obgleich er dem nicht zustimmen würde), daß er an der Mystik am höchsten ihr Vermögen schätzt, ihn vom Denken abzuhalten." (Zitiert nach Baum 1985, 47 f.) 145 Nach Meinung Waismanns war Wittgenstein "völlig ins Lager der (zitiert nach Baum 1985, 70).

Dunkelmänner übergegangen"

146 Cf. Carnap 1934, 208 f. 147 An mehreren Stellen von Die offene Gesellschaft und Ihre Feinde (Popper 1992) kommt Popper abwertend auf Wittgensteins 'Mystizismus' zu sprechen. Mystizismus ist für den Autor gleichbedeutend mit 'Irrationalismus' (den er übrigens auch dezidiert an Whitehead kritisiert, cf. a.a.O., Bd. 2, 289 ff.), darunter fällt jede 'holistische' Interpretation der Welt. Wittgensteins Rede von der 'Welt als begrenztes Ganzes' (T 6.45) genügt Popper — der dabei übersieht, daß Wittgenstein hier von einem 'Gefühl' spricht, über das keine sinnvolle Rede möglich sei —, um den Verfasser des Tractatus gleichermaßen des Holismus, Mystizismus und Irrationalismus zu bezichtigen (Popper 1992, Bd. 2, 288 und 444 f.). 148 Baum 1985, 31. 149 Es muß sich also — zumal wenn man der an Wittgenstein anschließenden Beschreibung eines Paradigmenwechsels bei T.S. Kuhn folgt (cf. Kuhn 1967) — um eine differenzierte Gewinn-VerlustRechnung an Problemstellungen, Methoden und Ergebnissen handeln. Zwar ist die Interpretation Janik/Toulmins als aufschlußreich und tragfähig einzustufen, doch sollte ein mögliches Mißverständnis vermieden werden: Der Hinweis auf verschiedene Kulturkreise, hinsichtlich deren Wittgenstein gewissermaßen 'zwischen den Stühlen sitzt', sollte nicht in Richtung auf eine dogmatische Gegenüberstellung angeblich 'unvermittelbarer' Kulturseelen oder Volksgeister verengt werden. Frege oder der 'Wiener Kreis' können schwerlich als angelsächsische Fremdkörper in der deutschösterreichisch-kontinentalen Kultur apostrophiert werden. Für den englischen Kontext muß auf die Rolle der anglikanischen Erweckungsbewegung hingewiesen werden, die sich — das gilt vor allem für Inge und Underhill — auch in philosophisch emstzunehmender Weise mit Mystik befaßt

592

Anmerkungen:

S. 369 — 382

hat und die ebenfalls nicht als vermeintlich deutscher oder kontinentaler Fremdkörper in der englischen Kultur zu betrachten ist. Die jeweiligen nationalen 'Geisteswelten' bilden demnach nur sehr bedingt j e eine idealtypisch geschlossene Einheit; sie sind jeweils in sich komplex und widerspruchsvoll. 150 Im folgenden werden d e n n o c h ' M y s t i k ' u n d ' d a s Mystische' synonym gebraucht. 151 Τ 6.41: "Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig." 152 Über das Schweigen bei Wittgenstein cf. Scheier 1991 und 1991a. 153 Wittgenstein 1984, 10. 154 Τ 6.24: "Sätze können nichts Höheres ausdrücken." 155 Cf. Τ 3.318 und 4.5. 156 In der Zuordnung wittgensteinscher Termini zu Termini der philosophischen Tradition ist freilich prinzipiell Vorsicht geboten — hier scheint jedoch die Analogie deutlich zu sein. 157 Wittgenstein rechtfertigt dies erst in den Schlußsätzen des Tractatus (cf. Τ 6.54). 158 Cf. Τ 6.421: "Ethik und Ästhetik sind Eins." Er wiederholt dies im Vortrag über Ethik: "Ich werde nun den Ausdruck 'Ethik' in etwas weiterem Sinne gebrauchen, ja in einem Sinne, der den nach meiner Überzeugung wesentlichsten Teil dessen mit umfaßt, was man im allgemeinen Ästhetik nennt." (VE, 10) 159 Wittgenstein 1984, Bd. 1, 178. 160 Cf. dazu die Darstellung bei Leidlmair 1978, 28 ff. und die dortigen Verweise auf die einschlägige Sekundärliteratur (Stenius, Stegmüller, Schulz, Zimmermann, Fahrenbach u.a.). 161 Leidlmair 1978, 34 ff. 162 Wittgenstein 1984, 9. 163 Cf. Janik/Toulmin 1984, Kap. V und VI. 164 Zitiert nach Baum 1985, 37. 165 Baum 1985, 38. 166 Baum 1985, 48. 167 Die Überlegung, daß der 'Sinn' metaphysischer Begriffe und Sätze als performativer Sprechakt zu fassen sei, findet sich in Derridas How to Avoid Speaking? (Derrida 1989) im Zusammenhang mit seiner Kritik an Piaton, Dionysius Areopagita und Heidegger. 168 Baum 1985, 71. 169 G. Wohlfarts Erwägung, "ob die frühen Gedanken zur Ästhetik und Mystik beim späten Wittgenstein nicht in veränderter Gestalt wiederaufgenommen und weiterentwickelt werden" (Wohlfahrt 1987, 87), kann dennoch zugestimmt werden. Für eine Theorie der Mystik sind diese Transformationen — wie sie auch G. Goslich herausarbeitet (Goslich 1991) — aber nicht von nennenswertem Belang. 170 Cf. Luhmann/Fuchs 1989, bes. Kap. 1, 7 ff. 171 Cf. Zimmermann 1981 und 1982 sowie — präziser in der Darstellung — Wagner-Egelhaaf 1989. 172 Zu dieser Auffassung Mauthners cf. Β I: 1 f., 11, 17, 25 f. 173 Mauthner 1986, 101 (aus: SD). 174 Cf. Weiler 1986, 27. 175 Neben den vielen verstreuten Bemerkungen in den einzelnen Werken Mauthners cf. vor allem den — weiter unten zitierten — Artikel 'Mystik' in: W II, 115—134. 176 Diese Hochachtung steht im Gegensatz zu seiner Abwertung des Spiritismus, den er als "die Mystik des dummen Kerls" kennzeichnet (W II, 121). 177 Trotz seines dezidierten Atheismus hält Mauthner eine akzeptable Fassung des Gottesbegriffs für möglich, in der "die Befreiung vom substantivischen Gotte [...] durch gottlose Mystik" (A IV, 238) ausgedrückt ist, denn "Gott wurde in der Denkarbeit der christlichen Mystiker und der unchristlichen Materialisten langsam so umgeformt, daß er schließlich (im sogenannten Pantheismus) wieder zu einem Stoffnamen wurde, zu der Bezeichnung des einzigen Urstoffs" (a.a.O., 245). Demnach

593

Anmerkungen:

ließe sich auch die in der gottlosen

S. 382 — 390

Mystik erlebte All-Einheit als 'Gott' oder 'Vereinigung mit

Gott' bezeichnen. 178 Mauthners Wendung 'taghelle Nacht' erinnert an Musils Rede von 'tagheller Mystik'. Cf. Musil 1981, Zweites Buch, Kap. 12 und 13 ("Heilige Gespräche"). 179 Weiler 1986, 27. 180 Cf. Nietzsche, KSA 6, 80 f. 181 Dieses Urteil bezieht sich keineswegs darauf, daß sich die beiden Denker etwa nicht mit Descartes, Kant oder Nietzsche auseinandergesetzt hätten, sondern auf das Wie dieser Auseinandersetzung. Lavelle war ein begeisterter Schüler des an Kant orientierten A. Hannequin, der aber bereits selbst den Kritizismus "in Richtung auf eine spiritualistische Metaphysik" überschreitet (Albert 1975, 10). 182 Cf. Albert 1989. 183 Cf. Albert 1980 und 1982. Letzteres ist eine Studie über kultische Ursprünge und Elemente (neben mythischen und mystischen Ursprüngen und Elementen) der Philosophie. 184 Bei dieser Darstellung halte ich mich vor allem an Lavelles Die Gegenwart und das Ganze [La presence totale] ( = Lavelle 1952) und an Alberts Lavelle-Monografie ( = Albert 1975). 185 Paris 1928 (in neuer und erweiterter Fassung: Paris 1947). De l'etre wurde als Bd. 1 des dreibändigen Werkes La dialectique de l'eternel present vorgelegt (Band 2: De l'acte. 1937, Bd. 3: Du temps et de l'eternite. 1945). Eine eher populär gehaltene Zusammenfassung der Gedanken dieses Werkes liegt vor in: La presence totale, Paris 1934 ( = Albert 1952). 186 Cf. den gleichnamigen Buchtitel (Lavelle 1952 [1934]). 187 Lavelle hörte zwar Vorlesungen bei Bergson und erhielt später einen zuvor von Bergson innegehabten Lehrstuhl, er kann aber keinesfalls als Bergson-Schüler angesehen werden. Bergsons Revision des Metaphysikbegriffs, seine Wahrnehmungs- und Erfahrungslehre, seine Orientierung an naturwissenschaftlichen Fragen, seine programmatische Gleichbewertung der Denkmethoden von Metaphysik und Wissenschaft sowie sein — auch die Geschichtsbetrachtung einschließendes — evolutionäres Konzept werden von Lavelle gänzlich ignoriert. Pointiert ließe sich sagen: Was Lavelle von Bergson gerade nicht übernimmt, ist dessen O h r am Puls der Zeit'. 188 Lavelle 1952, 9 (cf. Albert 1975, 30). 189 Lavelle 1952, 45 (cf. Albert 1975, 33). 190 Eine Interpretation von 'participation' als platonische methexis wird mit dem — nicht gänzlich einleuchtenden — Argument abgelehnt, daß Lavelle eine universale Ontologie im Blick habe, nicht eine Ontologie unterschiedlicher Seinssphären. H. Gouhier schreibt: "Das Wort 'Partizipation' meint weder einen Platonischen Begriff noch eine Anspielung auf ihn: es hat nur Sinn in seiner Bezogenheit auf eine innerlich empfundene und immer gegenwärtige Realität." (Zitiert nach: Albert 1975, 36) 191 Lavelle 1952, 92 (cf. Albert 1975, 40 f.). 192 Lavelle 1952, 138 (cf. Albert 1975, 31). 193 Zitiert (aus De l'etre) nach Albert 1975, 38. 194 Am Beispiel der 'radikalen Freiheit' in der Philosophie Sartres ist diese Charakterisierung sicherlich gut nachvollziehbar. 195 Cf. Albert 1975, 25 ff. und Albert 1986, 203 ff. 196 Albert 1975. 197 Lavelle 1970. 198 Cf. Albert 1976. 199 Cf. Albert 1986 (Kap. III/9, 122 ff.) und 1987. Obwohl er den Mystikbegriff nur als sekundäres Interpretationsraster für Eckhart verwendet, steht Alberts Darlegung dennoch in deutlichem Gegensatz zur Eckhart-Interpretation der 'Bochumer Schule', die den Mystikbegriff zur Gänze zurückweist (cf. Flasch 1984 und 1988, Mojsisch 1983 und 1988).

594

Anmerkungen:

S. 390 —

393

200 Cf. Alben 1974 und 1986. 201 Albert liefert in seinen Texten nirgends eine zusammenfassende und exakte Definition von 'Mystik', so daß nicht klar ersichtlich wird, welche Merkmale er dem Phänomen Mystik als notwendig und/oder kontingent zu- bzw. abspricht. 202 Albert 1986, 11. 203 Ebda. 204 Albert 1986, 12. 205 Der Ausdruck Seinsvergessenheit wird von Albert nicht verwendet, doch paßt er — zieht man die (bei Heidegger wichtige) geschichtliche Bedeutungskomponente ab — für Alberts Beurteilung all jener Philosophien, die das Sein nicht im Blick haben. Da eine 'Vergeschichtlichung' der Philosophie zwangsläufig den perennis-Charakter der ontologischen Erfahrung leugnen muß, wäre der Vorwurf der Seinsvergessenheit dann aber natürlich auch auf Heidegger anwendbar, der — in Alberts Sicht ·— zwar ausdrücklich vom Sein spricht, aber nicht in adäquater Weise. 206 Albert 1989, 373 ff. und 1991, 92 ff. Die erste Stelle behandelt die mystische Erfahrung analog zur ästhetischen, die zweite Stelle resümiert Mystik ausschließlich unter der Optik eines religiösen Phänomens. Für ein zureichendes Verständnis des albertschen Mystikbegriffs sind deshalb die Charakterisierungen der 'ontologischen Erfahrung' mit heranzuziehen (cf. besonders: Albert 1988, 195 ff). 207 Albert zitiert Underhills Mystik-Definition (Underhill 1928, 94): "In der Mystik vereinigt sich der Wille mit dem Gefühl in dem leidenschaftlichen Verlangen, über die Sinnenwelt hinauszukommen, damit das Selbst in Liebe eins werde mit dem einen ewigen und letzten Gegenstand der Liebe, dessen Dasein von dem, was wir jetzt lieber als den 'kosmischen' oder 'transzendentalen' Sinn bezeichnen wollen, intuitiv wahrgenommen wurde." (Zitiert nach: Albert 1986, 13) 208 Nietzsche, KSA 1, 799—872. 209 Cf. Albert 1986, 18 und Nietzsche, KSA 1, 813. 210 Nietzsche, KSA 1, 817. 211 Ebda. 212 Cf. Nietzsches Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen ff.].

Sinne (1872) [KSA 1, 891

213 Im Hinblick auf Nietzsche ist anzumerken, daß er eine solche Auffassung später radikal verwirft, daß sie also nur für das 'romantisch-idealistische' Frühwerk — vor allem für Die Geburt der Tragödie — gilt. Auf Nietzsches Revision des eigenen Ansatzes geht Albert jedoch nicht ein. 214 Jain 1986, 35. 215 Ebda. Nach Jain "könnte [man] noch eine fünfte Phase hinzudenken, nämlich die, in der das Zerrinnen der gemachten Erfahrung auftritt. [...] Jede weitere nun folgende Seinserfahrung setzte dann aber auf einer höheren Stufe ein, zumindest aber der zweiten. Die ontologische Erfahrung bewegt sich folglich dann zwischen den Polen der vorbewußten Stufe (Unwissen) und der bewußten (Wissen)." (Jain 1986, 35 f.) — Mit dieser Anmerkung liefert Jain eine nicht unwesentliche Ergänzung zu Alberts phänomenologischer Beschreibung. 216 Albert 1988, 146 f. u.ö. 217 Hölderlin 1957, Bd. III, 8 f. 218 Hieraus erklärt sich auch die Ablehnung, die Albert der sprachkritisch-experimentellen modernen Literatur entgegenbringt. Daß Dadaismus und Konkrete Poesie z.T. einen 'mystischen' Problemhintergrund haben könnten — daß sie eine bestimmte Reaktionsweise auf und Umgangsweise mit dem Problem der Seinseinheit und der mit ihm gleichzeitig gegebenen Differenzerfahrung sein könnten —, ist für ihn eine eher unsinnige Vorstellung (cf. Albert 1990, Teil 3: "Über Spirituelle Poesie", 241 ff.). 219 Gemeint ist damit: die Erfahrung der Persönlichkeitsfindung im Prozeß einer umfassenden und prinzipiellen Orientierungssuche des Einzelnen (cf. Albert

1990). Albert verwendet den Ausdruck

595

Anmerkungen:

S. 394 —

397

'pädagogische Erfahrung' nicht wörtlich. Der Ausdruck scheint mir aber das in seiner Philosophie der Erziehung — die sich übrigens in polemischer und argumentativ verkürzter Weise gegen alle Theorien sozial-kommunikativer Bedingtheit des menschlichen Lebens richtet — leitende Bemühen treffend wiederzugeben: Durch behutsames Hinführen zur Seinserfahrung, durch Wecken vorhandener Dispositionen, sich auf diese Erfahrung einzulassen, und durch Hilfestellung, sich ihrer bewußt zu werden, sollen das Kind und der Jugendliche eine pädagogische Betreuung erfahren. Bei Albert wird dieses pädagogische Konzept als unvereinbar mit einer sozial, kommunikativ und emanzipativ orientierten Pädagogik angesehen. Albert argumentiert hier nicht philosophisch, sondern ideologisch. 220 Albert bezieht sich hier auf die Nobelpreisrede von Saint-John Perse. 221 Albert 1989, 373 ff. 222 Albert faßt die ontologische Erfahrung wie folgt zusammen: Sie sei erstens apriorisch, da "sie allen anderen Erfahrungen als der sie tragende Grund vorausliegt"; sie sei "zweitens allgemein: sie kommt jedem Menschen als Menschen zu"; drittens sei sie konstant, d.h. in latenter Weise, obwohl "zumeist nicht beachtet", immer im Selbstbewußtsein da; viertens sei sie fundamental, d.h. "für das Bewußtsein wesentlich und notwendig"; das fünfte Merkmal sei ihre Nicht-Objektivierbarkeit, d.h. aufgrund ihres universalen Charakters könne sie nicht wie irgendein beliebiger Gegenstand unserer Welterfahrung betrachtet werden, nötig sei vielmehr eine Betrachtungsweise eigener Qualität. (Albert 1989, 195—198) 223 Albert 1989, 373. 224 Albert 1989, 374. 225 Albert 1989, 375. 226 Zur Plötzlichkeit cf. auch Wohlfart 1982, der allerdings nicht auf Albert Bezug nimmt. Andernorts (Albert 1986, 94) verweist Albert auf den Zusammenhang von Plötzlichkeit und ihrer Deutung durch sogenannte 'Lichtmetaphysik'. 227 Albert 1989, 376. 228 Albert 1989, 377. 229 Albert 1989, 378. 230 Albert 1991, 11—111. 231 Albert 1991, 92. 232 Albert 1991, 92 f. 233 Albert 1988, 150. 234 Ebda. 235 Cf. Eliade 1957 und Albert 1991, 56 ff. 236 Cf. die einzelnen Kurzdarstellungen in Mystik und Philosophie (Albert 1986). Mystische Themenstellung und die Gestalt des mystischen Dreischritts wird folgenden Denkern zugeschrieben: Parmenides, Piaton, Plotin, Augustin, Dionysius Areopagita, Eckhart, Cusanus, Böhme, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Buber, Heidegger und Lavelle. Als Beispiele außereuropäischer Mystik nennt Albert Vedanta, Taoismus und Zen. 237 Dies verdeutlicht Albert auch in einem Aufsatz über die mittelalterliche Bildungskonzeption (cf. Albert 1990, 3 9 ^ 5 ) . 238 Derrida wird wie folgt zitiert: SD = Die Schrift

und die Differenz [L'ecriture

et la

difference]

( = Derrida 1972); G = Grammatologie [De la grammatologie] (= Derrida 1983); R = Randgänge der Philosophie [Marges de la philosophie] ( = Derrida 1988); W = Wie nicht sprechen. Verneinungen [How to Avoid Speaking?/Comment nepas parier. Denegations] ( = Derrida 1989). 239 Zu Weisgerber cf. Koller 1988, 251 ff. Sprache ist für Albert kein ausdrückliches philosophisches Problem. Das Ausblenden des Sprachproblems verkürzt naturgemäß auch die Perspektive der albertschen Mystikkonzeption. 240 Cf. dazu besonders: Albert 1989a.

596

Anmerkungen:

S. 398 —

419

241 Als problemorientierte Darstellung des Dekonstruktivismus im Kontext seiner historischen Hintergründe cf. die Studie von Descombes 1981, Kap. 5, 161 ff. 242 Cf. Derrida

1983 (G), Teil 1: "Die Schrift vor dem Buchstaben", 9 ff. Exemplarisch wird J.-J.

Rousseau (aus Fragment inedit d'un essai sur les langues) zitiert: "Die Schrift ist nur die Repräsentation des gesprochenen Wortes [...]." (G 49) 243 Derrida schreibt, "daß der 'eigentliche' Sinn der Schrift der einer ersten

Metapher ist. [...] der

'eigentliche' Sinn der Schrift müßte als die Metaphorizität selbst bestimmt werden." (G 31) 244 Zur Grundlegung dieses Begriffs cf. SD (1967), vor allem jedoch den Aufsatz "La difference" (1968) in: R 29—52. 245 Cf. Heidegger 1967, 238 ff. u.ö. 246 Cf. den Vortrag "Das Ding", in: Heidegger 1978, 157—180. 247 Heidegger 1957. 248 Cf. Albert 1986, Kap. III/8, 111—121. 249 Cf. Haug 1983 und 1986 sowie Wagner-Egelhaaf 1989 und 1991. 250 Habermas 1985, 191—247; Bloom 1989; Handelman 1983. Zu dieser Diskussion cf. die luzide Studie von Wagner-Egelhaaf 1991. 251 Habermas 1985, darin: "Überbietung der temporalisierten Ursprungsphilosophie: Derridas Kritik am Phonozentrismus", 191—247. 252 Derrida 1989. 253 Heidegger 1980, 361 f. 254 Marion 1977. Cf. dazu: Derrida 1989 ( W ) , 113 ff ( = Endnote 9). 255 Cf. Wagner-Egelhaaf 1991,351. 256 Cf. Caputo 1974/75, 1978 und 1982. 257 Cf. Schneider 1983. 258 Pöggeler 1982. 259 Zum Fernostbezug Heideggers cf. auch May 1989. 260 Cf. Heidegger 1982, 83 ff. 261 Heidegger 1989. 262 Heidegger 1989, 161. Über den 'Weltbezug des Daseins' heißt es im gleichen

Buch:

"Alltäglich

versteht man sich und seine Existenz aus dem, was man betreibt und besorgt. Man versteht sich selbst von da her, weil das Dasein sich zunächst in den Dingen findet. Es bedarf nicht einer eigenen Beobachtung und einer Spionage gegenüber dem Ich, um das Selbst zu

haben,

sondern

in

unmittelbarem leidenschaftlichen Ausgegebensein an die Welt selbst scheint das eigene Selbst des Daseins aus den Dingen wider. Das ist keine Mystik und setzt keine Beseelung der Dinge voraus, sondern ist nur der Hinweis auf einen elementaren phänomenologischen Tatbestand des Daseins [...]" (a.a.O., 227). 263 Walther 1923. 264 Heidegger 1989, 127 f. Die hier zitierten Stellen aus den

Grundproblemen der

Phänomenologie

werden auch angeführt und in ihrem Kontext interpretiert bei: Vetter 1991. 265 Zur komplizierten peirceschen Zeichenlehre cf. Schönrich 1990. 266 Ich verwende folgende Abkürzungen: M T = Modes of Thought

(=

Whitehead 1968); D =

Dial-

ogues of A.N. Whitehead, ed. L. Price ( = Whitehead 1977). 267 Modes of Thought ist Whiteheads letztes Buch (die späteren Bücher fassen nur noch früher geschriebene Aufsätze zusammen). Das Schlußkapitel "The Aim of Philosophy", aus dem das vorliegende Zitat stammt, ist die Bearbeitung einer kurzen Adresse für den jährlichen Empfang der graduierten Studenten des Harvard and Radcliffe Philosophical Department aus dem Jahr 1935. 268 Die Akzentuierung der Prozeßphilosophie als Symbolphilosophie kommt vor allem in Symbolism. Its Meaning and Effect (1927) und in Process and Reality (1929) zum Ausdruck, die Akzentuierung als Kulturphilosophie vor allem in Adventures

of Ideas (1933). Die kulturphilosophische

597

Anmerkungen:

S. 420 — 435

Komponente kann — dies ist gegen R. Low einzuwenden, der behauptet, zwischen Naturphilosophie einerseits und Metaphysik/Kosmologie andererseits habe Whitehead, systematisch gesehen, "eine Lücke übrig[ge]lassen", nämlich "die Anthropologie" (Low 1990, 173) — auch als Komponente einer philosophischen Anthropologie gelesen werden. Nicht wörtlich (wie Cassirer), wohl aber sinngemäß definiert Whitehead den Menschen als'animal symbolicum'. 269 Whitehead 1977 ( = D). 270 Cf. D 164. 271 In Religion in the Making (1926) wird Mystik nicht erwähnt. Aus der Perspektive der zitierten Äußerungen (1935 bzw. 1941) hätte sich der Zusammenhang jedoch vermutlich auch für Whitehead selbst zwanglos ergeben. 272 Cf. D 164. 273 Mit "Die Dialektik des mythischen Bewußtseins" betitelt Cassirer das Schlußkapitel in PhSF II (281—311), in dem er am gründlichsten und detailliertesten auf das Thema Mystik eingeht. — Ich verwende im folgenden die bereits früher gebrauchten Abkürzungen (PhSF I—III, WS, ST, LK, MS, VM) und darüber hinaus: IK = Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance ( = Cassirer 1927). 274 Das Bild der Rosette stammt von O. Schwemmer (aus einem mündlichen Gespräch im Sommer 1992). 275 IK, Kap. 1 und 2 (7—76). 276 PhSF II, 308 u.ö. 277 Z.B. heißt es in WS im Zusammenhang mit Astrologie: "Die Exaktheit des mathematischen Denkens grenzt hier überall unmittelbar an eine phantastische und abstruse Mystik an." (WS, 52). 278 VM 127 f. 279 MS 7—69. 280 Es gibt in der Sekundärliteratur zu Cassirer m.W. bislang keine Spezialuntersuchung zum Begriff Mystik. In der religionsphilosophischen Cassirer-Studie von Stensland 1986 wird der Mystikbegriff z.B. nur beiläufig erwähnt (a.a.O., 124 f.). 281 Daß die Spannung nicht zwischen Symbol und Symbolisiertem stattfindet, sondern zwischen Symbol(gestalt) und Bedeutung, wird in gleicher Weise — aber deutlicher als bei Cassirer — in Whiteheads Konzept des 'symbolischen Bezugs' (symbolic reference) ausgedrückt (cf. Whitehead, PR 314 ff.). 282 283 284 285

LK, 106 f. In: LK, 103—127. Cf. Simmel 1911. Cf. hiezu meine Ausführungen über Bergsons Erfahrungslehre (1.2.2.2). Zu Cassirers Auseinandersetzung mit Bergson cf. PhSF III, 214—221 sowie die (nachgelassenen) Manuskripte für PhSF IV. 286 Die 5. Auflage von Heideggers Kant-Buch enthält im Anhang neben einem Protokoll des Davoser Disputs auch die (zuerst in der Deutschen Literaturzeitung erschienene) Rezension Heideggers über PhSF II (Heidegger 1991, 274—296 und 255—270). 287 Zu PhSF IV cf. Schwemmer 1992. 288 289 290 291 292

PhSF II, 262—277. PhSF II, 279—311. In: WS 71—167. Cf. WS 71—167 und Cassirers Referenztext: Usener 1986. Cf. dazu insbesondere Cassirers Aufsatz "Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt" (1932/33), in: ST 121—151. 293 Albert 1974 und 1989, Zimmermann 1981 und 1982, Wagner-Egelhaaf 1989.

598

Anmerkungen:

S. 437 — 445

Zweites Buch, Abschnitt 3: 'Implosionen' des symbolisch-medialen Prozesses: Grundzüge einer Theorie der Mystik 1

Cf. die in der Heidegger-Literatur oft übersehene Nähe Heideggers zu Aristoteles, insbesondere die Nähe der existentialen Bestimmungen aus Sein und Zeit mit den Grundbestimmungen der aristotelischen Ethik. Den Zusammenhang mit Kants praktischer Philosophie erörtern Gethmann 1988 und Prauss 1988.

2

Cf. Bojadjew 1993.

3

Cf. M. Heidegger, "Vom Wesen der Wahrheit", in: Heidegger 1967, 73—98.

4

Zur Unterscheidung zwischen (allgemeinem) Erfahrungsbegriff und (wissenschaftstheoretisch stilisiertem) Empiriebegriff cf. Schneider/Inhetveen 1993. Die hier bezeichneten vier Schritte orientieren sich — mit einigen Abwandlungen und indem sie den Schritt 'Fragestellung' nicht berücksichtigen — an den fünf bei Schwemmer 1990 (109 ff.) genannten Methodenschritten: 1. Fragestellung, 2. Phänomenologie, 3. Analyse, 4. Theorie, 5. Konsequenzen.

5

6

Zur Kritik von Identität und Ursprung cf. die Postmoderne-Diskussion, insbesondere im Zusammenhang mit Foucault und Derrida, die für ihr Denken den Status einer Theorie ablehnen. Diese Ablehnung ist in ihrem Motiv einsehbar und wohl auch überzeugend, in ihrem tatsächlichen Anspruch jedoch kaum nachvollziehbar, sofern man Theorie als einen prinzipiell in der Reflexion unaufgebbaren Funktionsbegriff ansieht. Die Überlegungen Foucaults und Derridas führen freilich zur Einsicht, daß es — zumal in den Kulturwissenschaften — nur sogenannte 'schwache' Theorien geben sollte.

7

Cf. hier nochmals Nietzsches Formel von der 'mystischen' Spekulation des Alles-Eins, die der vorsokratischen Philosophie zugrunde liege.

8

Zur allgemeinen philosophischen Erörterung der Einheit-Vielheit-Problematik cf. Gloy 1981 und Marquard 1990.

9

Cf. James 1977, Kap. 4, 79 ff.

10 11

Cf. in Abschnitt 1 die Kapitel über Whitehead und Schwemmer. Cf. die entsprechenden Formeln in Indien (tat-twam-asi) und Japan (ichi-soku-issai).

12

Zur Emotions-Kognitions-Diskussion cf. die Sammelbände: Huber/Mandl 1983, Eckensberger/Lautermann 1985 und Roth 1989. Wie Roth in seiner Einleitung darlegt, werden in der psychologischen Forschung zahlreiche Theorien aufgestellt, in denen die Ausdrücke Gefühl, Emotion, Affekt, Empfindung usw. in höchst unterschiedlicher und inkompatibler Weise terminologisch festgelegt werden, während man sie im alltäglichen Sprachverständnis weitgehend synonym verwendet. Auch in der vorliegenden Untersuchung werden diese Ausdrücke gleichgesetzt, da ich keinen Grund sehe, mich auf irgendeine nicht einmal innerhalb der Fachgrenzen der Psychologie allgemein anerkannte sondersprachliche Regelung festzulegen.

13

James 1977, 95 ff. und James 1979.

14 15

Cf. Schwemmer 1990, Kap. 4. Hier läßt sich an zwei Analogien denken: an Heideggers 'Sorge'-Struktur des Daseins (in Sein und Zeit, Kap. 6, §§ 41—43) und an Whiteheads Anknüpfung in Adventures of Ideas an die QuäkerFormel 'to be concerned...' (cf. oben: Kapitel 1.2.2.3).

16

Auf eine Differenzierung von Ich, Subjekt und Individuum wird hier verzichtet. Zur historischen Rekonstruktion diesbezüglicher Differenzierungen cf. Riedel 1989.

17

Toulmin 1993.

18

Cf. hier nochmals Schwemmers Gegenüberstellung von wissenschaftlicher und alltäglicher Erfahrung (Schwemmer 1990, Kap. 4, 103—130).

599

Anmerkungen:

19

S. 446 — 460

Cf. die Lexikonartikel 'Ich' von C.F. Gethmann in: Mittelstraß 1984, 160—165 und 'Individuum' von A. Pieper in: Krings/Baumgartner/Wild 1973, 728—737.

20

Cf. Kapitel 1.2.1 der vorliegenden Untersuchung und die Darstellung der Ausdifferenzierung in den Lebenswelttheorien von Husserl und Habermas (Husserl 1954, Habermas 1981).

21

Cf. hauptsächlich PhSF II.

22 23

Cf. Hegels Einordnung der Mystik in sein 'System' (Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Untersuchung). Cf. Gethmann 1984.

24 25

Cf. Abschnitt 3.2.6. Nach Castaneda ist 'Ich' in zwei Fällen nicht eliminierbar: wenn es sich (a) um eine oratio recta oder (b) um eine oratio obliqua nach dem Modus 'ich glaube/weiß/behaupte, daß...' handelt. 'Ich' hat in diesen Fällen eine durch andere Ausdrücke nicht ersetzbare Referenz. Neben dieser 'Beziehungspriorität' nennt Castaneda auch eine 'ontologische' und 'epistemologische' Priorität. Cf. Castaneda 1982, 57—71.

26

Cf. Heinekamp 1988.

27

Wobei die Transzententalphilosophie freilich — im Gegensatz zu Leibniz — das Ich ausdrücklich nicht hypostasiert. Für Leibniz ist das Ich hingegen zweifelsfrei eine'Substanz'.

28

Cf. Kapitel 2.2.6.

29

Luhmann-Fuchs 1989, Kap. 1.

30

Cf. die bekannten diesbezüglichen Untersuchungen aus den 20er Jahren von Piaget und Vygotskij.

31

Man denke an Spinozas amor dei intellectualis und an Kants Beziehung zum 'gestirnten Himmel', aber auch an das Pathos des heideggerschen Diskurses. Auch Staal 1975 spricht im Zusammenhang mit Mystik von 'Superstrukturen' der Erfahrung, meint damit jedoch die (religiöse, philosophische oder anderweitige) Interpretation der mystischen Erfahrung, die er von dieser auf klare Weise sondern zu können glaubt. Ich verstehe in vorliegendem Kontext unter einer 'Superstruktur' jedoch den formalen Prozeß dessen, daß Erfahrung (als begrenzte, partikulare) über sich selbst hinaustreibt ins Unbegrenzte, Totale. Letzteres ist selbst nicht mehr Erfahrung, aber Konsequenz aus dem Erfahrungsprozeß, der — in seiner Eigendynamik — den Boden der Erfahrung verlassen muß.

32

33

Cf. hiezu die Diskussion unterschiedlicher Einheitsbegriffe bei James 1977, 83 ff.

34

Eckharts Orthodoxie wird neuerlich hervorgehoben in: Stimimann/Imbach 1992.

35

Cf. Usener 1896 und dazu Cassirers Aufsatz "Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen" [1924], in: Cassirer 1956, 71—158.

36

Cf. Cassirers — an K. Bühler orientierten (cf. Bühler 1969) — Aufsatz "Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt" [1932/33], in: Cassirer 1985, 121—151.

37

Hiezu ein veranschaulichendes Beispiel: Die identische Vorstellung eines Gottes oder einer Göttin — Name, Aussehen, 'Biografie', Eigenschaften, Kompetenzen usf. — ist vermutlich erst dann möglich, wenn es von diesem Gott oder dieser Göttin zuvor bildliche, kultische, erzählerische usw. Darstellungen gibt. Wer zu einem solchen Gott oder einer solchen Göttin betet, reproduziert dabei das von den bildlichen, kultischen, erzählerischen usw. Darstellungen Übernommene.

38

Cf. Kapitel 1.2.2.3.

39

Diesen Verschiebungsprozeß ins Bewußtsein zu rücken, ist das Verdienst des Dekonstruktivismus, ihn mit der These von der unaufhörlichen 'Flucht der Signifikanten' zu verabsolutieren, hingegen

40

Cf. Schwemmer 1990, Kap. 6 (154 ff.). Die Darstellung Schwemmers koinzidiert in vielem mit der spekulativen Metaerzählung in Nietzsches Genealogie der Moral [Nietzsche, KSA 5, 245—

der blinde Fleck dieser philosophischen Richtung.

412], 41

Cf. Havelock 1963.

42

Anzumerken ist, daß dieses Problemfeld ausgiebig auch in der 'Philosophie der Person'

('Persona-

lismus') — wie sie namentlich von der neueren französischen Philosophie christlicher Prägung ent-

600

Anmerkungen:

S. 461 —

482

wickelt worden ist — eine Thematisierung erfährt. 43 44

Cf. dazu Margreiter 1991c. Für eine diesbezügliche 'Phänomenologie der Liebe' sind vor allem die Überlegungen von S. Weil von Interesse. Cf. dazu Albert 1981, Kap. 4 und 5, 47—59 (nochmals abgedruckt in: Alben 1992, Teil 2, Kap. 9 und 10, 219—232).

45

So Cassirers grundsätzliche These in: Versuch über den Menschen (Kap. II, 47 ff.).

46

Cf. Kapitel 2.2.4.

47

Fink-Eitel/Lohmann 1993, Einleitung.

48

Von diesen Überlegungen aus ergäbe sich eine interessante Nietzsche-Interpretation hinsichtlich einer 'Selbstaufhebung' des Willens zur Macht.

49

Richtungweisend sind vor allem die Zeitanalysen bei Bergson, Husserl und Heidegger. samtdarstellung aus einer Heidegger-Perspektive bietet: Herrmann 1992. Zur Interpretation der Mystik als 'sozialem Tod' cf. Macho 1987, Kap. VII, 408 ff.

50

Eine Ge-

51

Cf. das Schlußkapitel des 4. Buches der Welt als Wille und

52

Cf. Ruh 1990, Einleitung, 13 ff und Peters 1988. Wenn 'Erleuchtete' mündlich von ihren Erfahrungen berichten, so reproduzieren auch sie meist die aus der Mystikliteratur bereits bekannten Darstellungs- und Mitteilungsmuster. Der aus dieser Tatsache zu ziehende Schluß ist ambivalent: Einerseits scheinen die tradierten literarisch-rhetorischen Muster Ausdruck eines gleich oder ähnlich sich wiederholenden Repertoires der unmittelbaren Erfahrung zu sein (wie das C.G. Jung in seiner Archetypenlehre behauptet), andererseits erweisen sich nur wenige Mystiker — bei näherer Prüfung ihrer Bildungsbiografie — als der bereits existierenden Mystiktradition gegenüber unwissend. Sie übernehmen also vielfach auch die vorhandenen'Erfahrungsberichte'und geben sie als ihre eigenen aus bzw. sie kleiden ihre unmittelbaren eigenen Erfahrungen in die verfügbaren Darstellungs· und Deutungsmuster. — Wenn Ruh diesbezüglich gegen die Darstellung von Peters polemisiert und auf dem 'tatsächlichen Erfahrungsgehalt' der betreffenden Berichte beharrt (Ruh 1993), so geht er davon aus, daß Peters diesen 'tatsächlichen Erfahrungsgehalt' nicht bloß relativieren, sondern zur Gänze leugnen möchte. Letzteres wird bei Peters aber so nicht behauptet.

Vorstellung.

53

Im religionsgeschichtlichen Bereich ist hiefür der Typus des 'deus otiosus' Griechen oder Ziu bei den Germanen) ein anschauliches Beispiel.

54 55 56 57

Wagner-Egelhaaf 1991. Cf. oben die Kapitel über Cassirer (1.2.2.4 und 1.3.1). Cf. Koller 1988, Kap. X.6: "Die inhaltsbezogene Grammatik", 251 ff. Man könnte — in Anlehnung an die Peirce-Deutung bei Schönrich (Schönrich 1990) — von einer 'transzendentalen Apperzeption' des Zeichenbewußtseins sprechen. Der Hinweis auf diesen kan-

(z.B. Kronos bei den

tischen Terminus kann freilich nur mit Vorbehalt ernstgenommen werden, da es für Kant kein — zumindest kein diskursfähiges — Unbewußtes gibt, die Selbstreflexivität des Symbolischen jedoch offensichtlich in den meisten Fällen unbewußt oder halbbewußt ist. Für Schönrich bezeichnet die 'Mitrepräsentation der Repräsentation' in jedem Repräsentationsbemühen eine spezifische 'Problemlage der Moderne', die — neben Kant — in besonderer Weise in der Bildtheorie des späten Fichte und im 'Überbietungsversuch' bei Derrida zum Ausdruck komme. 58

Cf. Schwemmer 1990a.

59 60

Schwemmer 1990, 121—124. Gemeint ist hier die Vielschichtigkeit bzw. die Vielheit verschiedener Codes innerhalb einer Sprache. Cf. M. Wandruszkas These von der 'Vielsprachigkeit innerhalb einer Sprache' (Wandruszka 1979).

61

Neben Luhmann/Fuchs cf. Bellebaum 1992.

62 63

Cf. Wisser 1974. Dieser anti-esoterische Zug findet sich auch bei K. Albert, der jedem Menschen prinzipiell die Fähigkeit zu 'ontologischer Erfahrung' zuschreibt. Cf. Kapitel 2.3.1.

601

Anmerkungen:

S. 482 — 495

64

Cf. Resch 1990.

65

Cf. beispielsweise Resch 1975.

66 67

Dinzelbacher 1989. Cf. meine diesbezügliche Rezension (Margreiter 1992, 163 f.). Cf. Walther 1923 (veränderte und erweiterte 2. und 3. Auflage 1955 und 1976).

68

Über Walther cf. Resch 1983.

69 70

Cf. Zundel/Fittkau 1989. Hier wäre noch einmal die Frage aufzuwerfen, inwiefern die 'intellektuelle Anschauung' Fichtes und Schellings eine Gestalt der unio-Erfahrung ist. Falsch ist jedenfalls der Versuch der deutschen Idealisten, die intellektuelle Anschauung — das 'sich selbst wissende Bewußtsein' — zum Ausgangspunkt des Bewußtseins zu erklären und von ihm aus die Wirklichkeit deduzieren zu wollen. Versetzt man den Begriff der Anschauung jedoch an jene Stelle des Erfahrungsprozesses, die in meiner Darstellung die Mystik einnimmt, so könnte er möglicherweise vom Verdacht des 'Unsinns' und der 'Fehlkonstruktion' befreit werden.

71

Hier wiederholt sich die aristotelische Fragestellung nach dem Verhältnis von 'erster' und 'zweiter' Substanz.

72

Bei der Rede von Mystik als einem 'Reflexionsphänomen' muß auch hier noch einmal auf die Unzulässigkeit hingewiesen werden, Reflexion und Emotion grundsätzlich voneinander trennen zu wollen. Die Emotionalität mystischer Erfahrung ist also kein Einwand gegen ihre Darlegung als Reflexionsphänomen.

73

Von hier aus wäre eine 'advokatorische Ethik' — die sich mit dem Status sogenannter Unmündiger (Un- und Neugeborener, Schwerstbehinderter, Sterbender usw.) und den ihnen gegenüber anzuwendenden Handlungsnormen beschäftigt — zu entwickeln. Cf. Brumlik 1986.

74

Cf. hiezu die vor allem in den griechischen Kosmogonien vorgenommene Gegenüberstellung von 'Kosmos' und 'Chaos'.

75

Eben diese strukturelle Betrachtung und Bewertung der Schrift ist der legitime Ausgangspunkt für Derridas metonymische Verwendung des ('primären') Schriftbegriffs anstelle des bloßen Zeichenbegriffs. Das derridasche Prinzip der Schrift ist das Prinzip der symbolischen Fixierung, die über die bloße Form-Schließung qualitativ hinausgeht. Die augenfälligste Art des Zeichens, die Schrift, wird zur Bezeichnung des Zeichens.

76 77

Cf. Goody 1990. Cf. in Abschnitt 1 das Kapitel über das Wahrheitsproblem (1.4.2.3). Heideggers Wahrheitskonzeption, die sich von der adaequatio-Formel distanziert, verläßt den Erwartungshorizont, in dem das Wahrheitsproblem überhaupt gestellt und ernstgenommen werden kann, durch den 'Rückgang in dessen Grund'. Dieser Rückgang ist phänomenologisch konsequent, denn er zeigt, daß die Wahrheitsfrage kein 'Urphänomen' ist, sondern eine aus dem Problem der 'Paßform' (Goodman) abgeleitete Größe. Es wäre freilich weniger mißverständlich, wenn Heidegger in seinem Diskurs terminologisch nicht mehr von Wahrheit sprechen würde.

78

Diese spielerische Haltung wird vor allem von Nietzsche propagiert — freilich nicht durchgängig. Denn der 'fröhlichen Wissenschaft' korrespondiert die 'tragische Haltung', die den Verlust der 'Wahrheit' (d.i. bei Nietzsche koinzident mit dem 'Tod Gottes') nicht als Befreiung empfindet, sondern als Abgrund und Ausgesetztsein der menschlichen Existenz. Cf. Margreiter 1991c.

79

Schwemmer 1990, 123 f.

80

Cf. Pascal 1978, 41 ff. (Fragment 72).

81 82

Cf. Havelock 1963. Hier ist noch einmal auf die verschiedenen Verwendungsweisen des Ausdrucks 'Metaphysik' zurückzukommen. Cf. Margreiter 1991b.

83

Diese Ermöglichung durch Schrift gilt selbstverständlich nicht nur für Philosophie, sondern auch für komplexere und elaborierte Formen von Religion, Geldwirtschaft, Bürokratie und Rechtswesen (cf. Goody 1990).

602

Anmerkungen:

S. 495 — 512

84

Der Anspruch auf Vollständigkeit drückt sich in Hegels 'absolutem' Begriff und 'absolutem' aus — ein Anspruch, der auf einer Selbsttäuschung des Denkens gegenüber seinen eigenen lichkeiten beruht. Eine genauere Lektüre Hegels, besonders seiner Rechtsphilosophie, jedoch, daß besagter Anspruch dort nicht nur deutlich erhoben, sondern auch wieder deutlich viert wird.

85 86

Cf. Schwemmer 1987, Kap. 3 (135—182) und Schneider/Inhetveen 1993. Das Gros der 'kritischen' Heidegger-Rezeption ist hier ebenso beispielhaft wie der Umgang mit dem Moment des 'Mystischen' in der (positivistischen) Wittgenstein-Rezeption. Zur terminologischen Differenzierung von mystisch, mystologisch und mystagogisch cf. Behn 1957, 8. Besagte Unterscheidung wird von H.U.v. Balthasar, A.M. Haas und J. Sudbrack übernommen.

87

Geist Mögzeigt relati-

88 89

Zur Religion cf. vor allem Schleiermacher, zur Ästhetik cf. Kant. Auf diesen Punkt der 'Verwandlung des Ganzen' und der 'Nachwirkung' weist auch K. Albert hin, den allerdings nicht das Motiv der Symboldestruktion interessiert, sondern — fast ausschließlich — das Motiv eines die Vielheit und Kategorialität transzendierenden 'positiven' Einheitsgefühls.

90

In der Mystikliteratur wird immer wieder auf die 'Sprengmetapher' hingewiesen, mit deren Hilfe die zur Normalerfahrung 'ganz andere' mystische Erfahrung ausgedrückt werden soll. Sowohl das Bild der 'Implosion', das ich gebrauche, als auch das Bild der 'Gottesgeburt der Seele' verweisen auf die Struktur energetischer Entladung, die mit einem Gestaltwandel des Ausgangsmaterials verbunden ist. Eckhart und J. Böhme, die ausgiebig auf das Bild der Gottesgeburt rekurrieren, nennen diese an vielen Stellen ihres Werks ein 'Durchbrechen' [der Gottheit],

91 92 93 94

Cf. Freud, "Das Unbehagen in der Kultur" [1930], in: Freud 1972, 65. Zur Gegenüberstellung von Wissen, Glauben und Aberglauben cf. Albertz 1987. Cf. PhSF II (Schlußkapitel). Diese Genealogie drückt W. Nestle in seinem gleichnamigen Buch [1940] mit der berühmten Formel 'Vom Mythos zum Logos' aus. K. Albert fügt dem ergänzend die weitere Formel 'Vom Kult zum Logos' hinzu (cf. Albert 1982). Mit der Bestimmung als 'Nachfolge' bleibt offen, ob die Philosophie — wie Hegel meint — eine Transformation der Religion darstellt oder ob sie — wie K. Held behauptet (Held 1990) — ihr Profil dadurch gewinnt, daß sie sich dem Mythos gegenüber klar als ein 'Anderes' abzusetzen versucht.

95

Diese Zweiteilung, deren Nachwirkung man auch in der Zweiweltenkonzeption der platonischen Ontologie (ontos on und me on) ausfindig machen kann und die für Cassirer gewissermaßen ein Axiom seiner Religionsbetrachtung darstellt, wird in der Religionswissenschaft des 20. Jahrhunderts besonders nachdrücklich von M. Eliade betont. Cf. Eliade 1957.

96 97

Cf. PhSF II, Schlußkapitel. Die klassische Religionskritik (Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud) unterstellt der gesamten Religion diese lineare Entwicklung — eine, wie die Religionsgeschichte der letzten 150 Jahre beweist, haltlose Annahme.

98 99 100 101 102 103 104

"Form und Technik" [1930], in: Cassirer 1985, 39—92. Goodman 1984 und Goodman/Elgin 1989. Zum Bild der Rosette cf. Kapitel 2.4.3. Cf. Schönrich 1990. Cf. die Überlegungen Cassirers zur Antizipation des Einheitsbegriffs im mana-Denken. Cf. Scheier 1991. Wollte man die leibnizsche Monadologie symboltheoretisch reformulieren, so wäre ihr nicht nur die Substantialität der Monaden abzusprechen. Auch Gott, die 'Urmonade', würde dann aus einem ontologischen in einen Funktionsbegriff verwandelt.

603

Anmerkungen:

S. 513 —

529

105 Cf. Albert 1974 und 1989. 106 Damit ist freilich nicht gemeint, daß jeder vage gebrauchte identische Ausdruck einen untergründigen Sachzusammenhang anzeigt. 107 Einen solch weiten Technikbegriff — dem man natürlich leicht Entgrenzung vorwerfen kann — verwendet W. Schirmacher, der 'Technik' als eine Art zentrales Existential im Sinne Heideggers ansieht. Cf. Schirmacher 1983 und 1990. 108 Cf. Pöggeler 1982. 109 Diese Flucht wird von einer Anzahl moderner Dichter angetreten, die so ihre 'ästhetisierende Periode' überwinden wollen — man denke (in unterschiedlicher Weise) an Hofmannsthal und Brecht. 110 Neben Pöggelers Darstellung über Celan cf. die in den 20er und 30er Jahren diskutierte These H. Bremonds über die angebliche Identität von Mystik und Poesie (Bremond 1929). 111 Zum Buch als "Metapher für das Ganze der Wirklichkeit" cf. Blumenberg 1981, insbesondere Kap. I—III (a.a.O., 9 ff.). 112 Die — nunmehr zurückgewiesene — Möglichkeit, Mystik als eigene symbolische Form zu interpretieren, habe ich in zwei früheren Aufsätzen noch für durchführbar gehalten (Margreiter 1991 und 1991a). 113 Sudbrack 1988, Kap. II.4, 36 ff. 114 Dieser Streit wird im Überblick dokumentiert in: Fromm 1966. Fromm versucht den Streit allerdings zu entschärfen und schlägt eine koinzidente Lesart von Religion und Psychoanalyse vor. 115 Eine solche Reinterpretation ist natürlich eine Form von historisierendem Relativismus. Aus der Tatsache, daß ein Begriff bzw. ein Phänomen in einem bestimmten historischen Kontext entstanden ist, wird abgeleitet, daß der Begriff bzw. das Phänomen, die längst in andere Kontexte eingegangen sind und in diesen ein 'Heimrecht' erworben haben, nach wie vor nur religiös verstanden werden dürften. Es ist eine ähnliche Verkürzung wie die Hegel-Interpretation E. Topitschs, wonach der deutsche Idealismus 'nur' Theologie sei (cf. Topitsch 1958). 116 Zum Begriff des 'Heiligen' in der Moderne cf. Kamper/Wulf 1987. 117 Hier ist besonders hinzuweisen auf: Ueda 1965. 118 Dies geschieht auch dann, wenn sich eine Sprache lange Zeit nicht zu ändern scheint, z.B. weil sie als 'tote Sprache' gilt — wie etwa das Spätlatein, das jedoch als Sondersprache weiterlebt und noch immer, wenngleich bescheiden, produktiv ist. 119 Zur Übersetzungsproblematik des Tao-te-king cf. Wilhelm 1978. 120 Zur Zenliteratur cf. vor allem Watts 1984. 121 G. Wohlfart ist demnach im Recht, wenn er selbst seine Arbeiten zum Zen bereits im Titel als 'dilettantisch' bezeichnet. Cf. Wohlfart 1991 und 1992. 122 Zur europäischen und insbesondere deutschen Indienrezeption cf. die methodischen Überlegungen zur interkulturellen Hermeneutik in: Gestering 1986, 1 ff. und 261 ff. 123 Cf. A.M. Haas, "Das Ereignis des Wortes: Sprachliche Verfahren bei Meister Eckhart und im ZenBuddhismus", in: Haas 1989, 201—240. 124 Die plakative Formel, Eckhart und Zen lehrten 'dasselbe', stammt von D.T. Suzuki (cf. Suzuki 1960). 125 Cf. Wandruszka 1979. 126 Neben den entsprechenden Partien in Heideggers Sein und Zeit cf. die daran anschließenden Untersuchungen von O.F. Bollnow (Bollnow 1941). 127 Wie 'bereits erwähnt, werden im fachpsychologischen Diskurs die Begriffe Stimmung, Emotion, Gefühl, Affekt usw. nirgendwo allgemeinverbindlich unterschieden, sondern sehr oft — ganz oder teilweise — gleichgesetzt. Damit spiegelt die Disziplin die Auffassungen des allgemeinen Sprachgebrauchs, der nur ad hoc differenziert. Spezielle Theorien nehmen hingegen genaue Unterscheidungen vor, die als interne sondersprachliche Festlegungen anzusehen sind und entsprechend artifiziell bleiben.

604

Anmerkungen:

S. 530 — 547

128 Dabei ist es ein Selbstmißverständnis dieser Kultur, die Fundierung von Praxis eben einzig und allein in solch abstrakter Modellbildung zu vermuten. 129 Über den Zusammenhang von Mystik und Tod cf. Macho 1987, 347 ff. 130 Am immanenten Maßstab der Philosophie Schopenhauers ist demnach die Interpretation W. Schirmachers abzulehnen, die — in Bezug auf das Hauptwerk, nicht etwa auf die populären Aphorismen zur Lebensweisheit — Schopenhauer als einen 'positiven' Lebenslehrer darzustellen sucht (cf. Schirmacher 1987 und 1987a). Schirmachers Interpretation stellt jedoch eine Möglichkeit dar, Schopenhauer 'gegen den Strich' zu lesen und für andere Denk- und Lebensziele, als Schopenhauer selbst sie vertreten hat, fruchtbar zu machen. 131 Zum Todesbegriff bei Schopenhauer cf. die Beiträge von P. Kampits und Y. Ledure in: Schirmacher 1982, 113 ff. und 121 ff. 132 Für Piaton selbst ist diese Klassifizierung — wie sie vornehmlich von Nietzsche und Heidegger vorgenommen wird — freilich fragwürdig, doch trifft sie ohne Zweifel weitgehend auf Platonrezeption und Piatonismus zu. (Als Fallbeispiel denke man an die Adaptation der platonischen Ideenlehre in Schopenhauers drittem — über Ästhetik handelndem — Buch der Welt als Wille und Vorstellung.) 133 Cf. Beierwaltes 1985. 134 Dies zeigt sich besonders auffallig in den Beurteilungen, die in der Grundlagendiskussion der Physik über die 'metaphysischen' und 'mystischen' Ambitionen eines Schrödinger, Heisenberg oder H.P. Dürr gefällt werden. 135 Huxley und Albert sind einer 'philosophia perennis' verpflichtet, die sie — bei ersterem expressis verbis, bei letzterem in Umschreibungen — mit Mystik gleichsetzen. Cf. Huxley 1987 und Albert 1986. 136 Cf. hiezu Whitehead, AI. 137 Albert 1986, Einleitung und Schluß (11 ff. und 215 ff.). 138 Zu Dionysius Areopagita cf. Ruh 1990, Kap. 1 sowie Neidl 1976, Gandillac 1984 und Derrida 1989.

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Namenverzeichnis

Adam, 49, 82, 464 Adorno, T.W., 131, 161, 291, 566, 583 Agrippa, 157 Aktaion, 159 Albert, K., 62—64, 92, 124, 134, 141, 146, 151, 169, 299 f., 311, 318, 386 f., 387, 389—398, 402, 416, 435, 513, 538, 545, 553—563, 565 f., 585, 587, 596— 598, 601, 603—605 Albertz, J., 561, 603 Albrecht, C., 127, 562 Anaximander, 406 Andrae, T., 558 Angela v. Foligno, 93 Angelus Silesius, 58, 117, 324 f., 368, 383, 432 Aristoteles, 28 f., 178 f., 243, 294, 414, 537, 567 f., 585, 599 Assmann, A./J., 54 f., 290, 555, 583 Augustin, 41, 62, 73, 75, 77, 92, 98 f., 150, 456, 470, 560 Avenarius, R., 193, 569 Avicenna, 73, 456 Baader, F.X., 311, 325, 586 Baal, 268 Bacon, F., 204, 302, 316, 552 Bacon, R., 320 Balthasar, H.U., 113, 120, 603 Baron, V. 590 Barth, K., 112 Bateson, G., 234 Baudrillard, J., 282, 286, 289 Bauer, D.E., 560 f. Baum, W., 368, 376 Baumgartner, H.M., 600 Beelitz, T., 573 Behn, I., 65, 557, 603 Beierwaltes, W., 564, 605 Bellebaum, Α., 561, 601 Benz, E., 585 Berdjajew, N.A., 154 f.

Bergson, H., 16, 141, 152, 169, 182 f., 187, 190 f., 193, 199, 200—206, 212, 217 f., 223, 246, 253, 256 f., 272, 293, 299, 344, 354—367, 387, 396, 398, 415—417, 430, 560 f., 567, 571 f., 575, 598, 601 Bernet, R., 186, 568 f. Bernhard v. Clairvaux, 55, 61 f., 74, 78, 83, 85, 93, 106, 151, 427, 534 Bernhart, J., 553, 556 Bertholet, Α., 47, 554 Bloch, E., 58, 136 f., 146, 555, 561, 563 Bloom, H., 403, 597 Blumenberg, H., 519, 565, 568, 604 Böhm, D., 138 f., 563 Bohr, N., 137 f., 553, 563 Bohrer, K.H., 582 Bojadjew, Z., 599 Bollnow, O.F., 604 Bonaventura, 93, 107, 179, 301, 482 Bonifaz, 268 Born, M., 563 Borsche, T., 585 Bouyer, L., 46, 50, 113, 120, 554 Böhme, G./H., 303, 311, 551, 556, 562, 584 f., 589 Böhme, J., 56, 58, 81, 92, 113, 117, 154 f., 239, 313, 321 f., 325, 560, 578, 586, 596, 603 Böhme, W., 554, 556, 559—561 Bradley, Η., 568 Brand, G., 569 Brecht, B., 553, 604 Bremond, H., 559, 604 Brentano, F., 213, 215, 569 Broch, H., 120, 134, 380, 393 Brumlik, M., 565, 602 Brunner, Α., 586 Brunner, E., 112, 560 Bruno, G., 159 Buber, M., 47, 57—60, 164, 396, 556,

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558, 566, 596 Bubner, R., 575 Bubser, E., 572 Buddha, 384 Buhr, M., 552, 561 Bulgakow, M.A., 155 Burkert, W., 49 f., 554 f. Burckhardt, J., 359 Busch, W., 553 Bühler, K., 266, 600 Cakhia Muni, 384 Camus, Α., 147, 564 Capra, F., 138, 556, 563 Caputo, J.D., 412, 597 Carlyle, T., 359 Carnap, R., 213, 226, 368 Cassirer, E., 24, 28, 32 f., 141, 147, 159—161, 169—171, 183, 187, 189 f., 192, 204 f., 212—218, 221, 223 f., 227, 236, 238—240, 242, 246, 252, 262 f., 265—276, 281, 283, 292 f., 295, 300, 417, 422—436, 447, 459, 464, 475 f., 478, 481 f., 496, 503—510, 512 f., 518, 559, 561—563, 565 f., 568, 570 f., 573—575, 583, 585, 598, 600 f., 603 Castaneda, H.N., 449, 600 Cezanne, P., 134 Christine ν. Stommeln, 560 Christus, 48, 82, 94, 107, 113 f., 118, 121, 129, 151, 153, 156, 226, 464, 523, 562 Claudel, P., 559 Cohen, H., 564 Comoth, K., 552, 585 f. Comte, Α., 159, 181, 340, 553 Conill, J., 584 Constant, L.A., 157 Correggio, 333 Crusius, C.A., 310 Cusanus, N., 301, 423 f. Daudet, Α., 348 Degenhardt, I., 561 f., 586 Deikman, A.J., 133, 562, 584 Delacroix, Η., 364, 562 Denifle, H.S., 61, 556 f. Derrida, J., 16, 24, 120, 141, 146 f., 169, 248, 286, 294, 299 f., 3 9 6 - ^ 1 3 ,

638

415, 417 f., 441, 475, 538, 563, 567, 575 f., 583, 596 f., 599, 601 f., 605 Descartes, R., 95, 181, 193, 206, 210, 302 f., 448, 450, 552 Descombes, V., 570, 597 Dietrich v. Freiberg, 555 Dilthey, W., 183, 271, 555 Dinzelbacher, P., 482, 559—562, 602 (Pseudo-)Dionysius Areopagita, 49, 55 f., 61 f., 65 f., 71 f., 75—78, 86, 90, 94, 96 f., 99 f., 105, 107, 148, 150, 154 f., 402—404, 408—410, 423, 547, 555 f., 559, 564, 605 Dionysos, 58, 425, 556 Donar, 268 Duns Scotus, 465 Dupre, W., 159, 565 Dürckheim, K., 116, 300 Dürr, H.P., 137, 139, 553, 556, 563, 605 Ebner, C., 560 Ebner, M., 106, 129, 560 Eckensberger, L., 599 (Meister) Eckhart, 36, 54—58, 61 f., 64—66, 68—70, 72—77, 79, 81—84, 86—92, 94—99, 102— 104, 106 f., 109 f., 112, 115—119, 135, 148, 150 f., 154, 164, 170, 301, 310, 320, 325, 351, 381—384, 390, 395, 404, 408 f., 413 f., 423, 427, 433 f., 455 f., 465—467, 4 7 9 - 4 8 2 , 504, 524, 526, 534, 551, 554—558, 560—562, 586, 600, 603 f. Eddington, Α., 137, 563 Einstein, Α., 553, 563 Eisendraht, C.R., 570 Elgin, C.Z., 226, 603 Eliade, M., 124 f., 140, 396, 561 f., 566, 603 Elias, N., 268, 493 Elster, J., 551 Emerson, R.W., 146 Engelmann, P., 376 Eriugena, 301 Euagrius Pontikus, 93 Eucken, R., 187 Evans-Prichard, E., 234 Evers, T., 562

Fellmann, F., 569 Feuerbach, L., 38, 129, 342, 553, 603 Feyerabend, P., 234, 302, 584 Fichte, J.G., 141, 169, 185, 311—313, 328, 335, 424, 585, 587, 601 f. Ficker, L., 376 Figl, J., 565 Figura, M., 113, 560 Fink, E., 390 Fink-Eitel, H., 465, 601 Fittkau, B., 562, 584, 602 Flasch, K., 54, 61, 118 f., 555, 557 f. Flew, Α., 47, 554 Florschütz, G., 585 Flusser, V., 282, 286, 290 Foucault, M., 599 Franklin, S.T., 573 Franz, M.L., 562 Franziskus, 384 Freud, S., 31, 38, 128—130, 132, 137, 161, 342 f., 347, 348, 400, 411, 484, 502, 553, 562, 566, 603 Freyer, H., 187 (Kaiser) Friedrich II., 493 Fromm, E., 129, 604 Frühwald, W., 559 Fuchs, G., 559 Fuchs, P., 121—123, 559, 561, 600 f. Gadamer, H.G., 176, 557, 567, 584 Galilei, G., 569 Gandillac, M., 605 Gerhardt, V., 570 Gerson, J., 320, 561 Gestering, J., 586, 604 Gethmann, C.F., 599 f. Girndt, H., 558 Gloy, K., 599 Goethe, J.W., 384, 389, 553 Goodman, N., 169, 204, 223, 226—229, 246, 262 f., 266, 274, 276, 293, 300, 509, 553, 559, 602 f. Goodman-Thau, E., 558 Goody, J., 289 f., 517, 552, 566, 583, 602 f. Goslich, G., 564 Gouhier, H., 387 Görres, J., 59, 115, 339, 556, 560 Gregor d.Gr., 85, 97, 114, 558 f.

Grof, S., 128 Grundmann, H., 121, 555, 561 Gulyga, Α., 585 Gurwitsch, Α., 188 Guy on, J.M., 325 Haas, A.M., 114, 117 f., 120, 140, 554 f., 557—561, 565, 603 f. Habermas, J., 184, 188, 233, 403, 568 f., 597, 600 Hadewijch, 80, 164, 559 Hahn, Α., 55 Hahn, M., 155 Hamann, J.G., 58 Hampe, M., 568, 570 f., 573, 575 Handelman, S., 403, 597 Handke, P., 120, 563, 584 Hassell, J., 572 Haug, W., 101, 105, 119, 226, 403, 474 f., 559, 597 Havelock, E.A., 125 f., 169, 179, 203, 237, 266, 284, 286 f., 289—291, 460, 492, 517, 552, 562, 566, 568, 572, 583, 600, 602 Hegel, G.W.F., 16, 23, 29, 33 f., 56, 67, 112, 122 f., 141, 155, 169, 182, 189, 194, 206, 254, 265 f., 272, 276, 280, 283, 295, 299, 301, 311, 313—325, 328, 334, 338—340, 352, 367, 393, 398, 400 f., 411 f., 416, 422, 447 f., 485, 496, 507—509, 512, 544, 546, 552, 554, 557 f., 566, 575, 585—587, 600, 603 f. Heidegger, M., 45, 58, 87, 127, 131, 147, 169, 183, 189, 192, 200, 203, 217, 232, 253 f., 269 f., 274, 277, 289, 295, 302, 340, 386 f., 389 f., 396—400, 402, 406, 411—414, 430, 437, 450, 483, 497, 528, 538, 547, 551 f., 558, 563 f., 570, 572 f., 575 f., 585, 596—599, 601—605 Heinekamp, Α., 600 Heinrich v. Nördlingen, 106 Heinz, R., 562 Heisenberg, W., 58, 137 f., 553, 556, 563, 605 Held, K., 603 Herakles, 41 Herms, E., 194, 195, 570 f. Herodes, 153 Herrmann, F.W., 601

639

Hesse, Η., 116, 120 Hildegard ν. Bingen, 58, 108, 560 Hitler, Α., 135, 291 Hobbes, Τ., 181, 552 Hofmannsthal, Η., 120, 380, 553, 604 Hogrebe, W., 340 Holl, H.G., 572 Homer, 288 Horkheimer, M., 161, 291, 566, 583 Hölderlin, F., 311, 392 Huber, G.L., 599 Humboldt, W., 101, 266, 283—286, 476, 510, 552, 559, 583 Hume, D., 193, 206, 210, 448 f. Husserl, E., 24, 29, 32, 34 f., 144, 169, 183—192, 215—217, 223, 225, 232 f., 241, 246, 261, 269, 272, 302, 398, 411, 413, 437, 443, 483, 510, 551, 553 f., 568 f., 600 f. Huxley, Α., 57—59, 538, 556, 605 Hübner, Κ., 159, 302, 565, 583 f. Hübscher, Α., 586 f. Hülsmann, H., 551 Idel, M., 558 Ignatius v. Loyola, 94, 114, 116 Imamichi, T., 566 Imbach, R., 560, 600 Inge, W.R., 63, 554, 557, 560 Inhetveen, R., 568, 599, 603 Ionesco, E., 393 Jacobi, F.H., 335 Jaeger, W., 568 Jahwe, 493 Jain, E., 392, 562 James, W., 62 f., 128, 141, 146, 169, 182 f., 187, 190, 193—199, 202, 204— 207, 212, 215, 217 f., 223, 229, 240, 246, 253 f., 272, 293, 340—355, 357, 362, 368, 379, 417, 425, 441, 443, 465, 553 f., 557, 562, 567, 570 f., 573, 575 f., 599 f. Jamme, C., 565, 583 Janik, Α., 368 Janssen, P., 568 f. Jaspers, K., 146, 301, 338, 449 f., 558, 564, 570 Jeans, J., 563

640

Jesus, 73, 91, 93 f., 102, 107 f. Johannes v. Kreuz, 78, 87, 93, 106, 116, 368, 534, 559 Johnson, M., 553, 568 Jonas, H., 565 Jordan, P., 563 Jung, C.G., 31, 129—132, 137, 162, 562, 565 f., 601 Jung, M., 414 Kafka, F., 58, 120, 380 Kambartel, F., 567 f. Kamper, D., 604 Kampits, P., 605 Kandinsky, W., 58, 134 Kant, I., 16, 19, 29, 44, 56, 95, 98, 138, 141, 158, 169, 182, 187, 189 f., 193, 199, 208, 210, 212 f., 215, 220, 230, 232, 238, 266, 283, 293, 299—315, 317 f., 327—329, 335 f., 340, 348 f., 374 f., 379, 386, 396, 415 f., 422, 428, 441, 448—451, 465, 515, 551 f., 562, 568, 571 f., 574 f., 584 f., 587, 598—601, 603 Karrer, O., 556 Katz, S.T., 147, 300, 564, 584 Kaulbach, F., 570 Kazantzakis, N., 134, 393 Kepler, J., 58, 530 Kerenyi, K., 566 Kern, I., 186, 568 f. Kessler, Α., 568 Keyserling, H., 300 Kierkegaard, S., 181, 301, 338, 368, 376, 558 Kircher, Α., 404 Klages, L., 203, 563 Klee, P., 134 Kleist, H., 231, 322 Knoppe, T., 570 Kohut, H., 31, 553 Kolakowski, L., 572 Kolb, D., 586 Kolbenheyer, E.G., 116, 560, 563, 584 Koslowski, P., 145, 159, 564—566 Koller, W., 559, 596, 601 Köpf, U., 559 Kraus, K., 380 Krings, H., 600

Krois, J.Μ., 570, 575 Kronos, 601 Kuhn, T.S., 22, 140, 275, 295, 485, 552, 563, 583 Kurz, P.K., 561 Kutschera, F., 559 Lacan, J., 129 Lakoff, G., 553, 568 Lanczkowski, J., 560 Landauer, G., 47, 58, 65, 116, 136 f., 147, 555, 560, 563 Langer, Ο., 79, 118, 558 f., 565 Langer, S.K., 169, 204, 206, 223—228, 236, 246, 262, 266, 274, 293, 300, 561, 567 f. Laotse, 58, 308, 552 Laplanche, J., 567 Largier, N., 65, 558 Lautermann, E.D., 599 Lavelle, L., 141, 169, 386—391, 393 f., 396 f., 596 Lämmert, E., 560 LeSaux, H. 115 Ledure, Y., 605 Lehmann, Α., 162, 566 Leibniz, G.W., 29, 181 f., 207, 301, 404, 428, 448 f., 454, 465 f., 512, 530, 556, 567, 571, 573, 600 Leidlmair, K., 375, 576 Lessing, H.U., 146, 493 Leuba, J.H., 128, 342 Levinas, E., 411, 497 Levi-Strauss, C., 122, 565 Levy-Bruhl, L., 159, 424, 551 Locke, J., 206, 210, 316, 555 Lohmann, H.G., 465, 601 Lord, Α., 287, 565, 583 Lorenz, E., 559 Lotter, M.S., 572 f. Lötz, J.B., 390 Lowe, V., 570 Low, R., 598 Löwith, K., 570 Lubac, H., 113, 120 Luckmann, T., 55 Luhmann, N., 121—123, 140, 450, 559, 561, 600 f. Lukäcs, G., 339, 561

Lurija, A.R., 289, 517, 583 Luther, M., 113, 333 Lyotard, F., 24, 146 Maaßen, H., 568, 571, 575 Mach, E., 145, 193, 450 Macho, T., 143, 552, 559, 564 f., 601, 605 Mager, Α., 113, 560, 562 Mahler, G., 134 Mahomet, 308 Maine de Biran, F.P., 146 Malebranche, N., 336 Malinowski, B., 561 Mall, R.A., 551 Malter, R., 587 f. Mandl, H., 599 Marbach, E., 186, 568 f. Marc, F., 134 Marcuse, H., 129 Marechal, J., 562 Margreiter, R., 552, 601 f., 604 Marion, L., 409, 597 Maritain, J.L., 559 Marquard, O., 599 Martin, B., 554 Marx, K., 38, 129, 158, 254, 342, 552 f., 603 Maslow, Α., 128 Mauthner, F., 15, 23, 47, 58, 65, 131, 147, 169, 272, 283 f., 299, 367, 380— 383, 385, 416 f., 435, 471, 473, 484, 524, 559 Maximos d. Bekenner, 89 May, R., 597 Mayer, G., 559 McGuinness, B., 565 McLuhan, M., 282, 286 f., 290 Mechthild v. Magdeburg, 65, 80, 117 f., 164 Mendelssohn, M., 311 Mensching, G., 47 Merleau-Ponty, M., 183, 192, 217, 570 Merton, T., 115, 559 Messiaen, O., 134 Meyer, J.E., 143, 564 Mieth, D., 565 Mittelstraß, J., 568, 600 Mojsisch, B., 118, 555, 557, 561

641

Mommaers, P., 113 Mondrian, P., 134 Moore, G.E., 373 Moritz, R., 551 Morris, C., 141, 147, 223, 564, 576 Moses, 76 f., 90 Musil, R., 15, 23, 47, 58, 65, 120, 132, 147, 172, 380, 514, 563, 584 Müller, L., 562 Müller, Μ., 390 Müller, S., 570 Müller-Lauter, W., 192, 570 f. Münch, D., 569 Müntzer, T., 154, 565 Mynarek, H., 145 f., 302, 564, 584 Nagl, L., 576 Neidl, W.M., 605 Nestle, W., 179, 290, 568, 583, 603 Newton, I., 530 Nietzsche, F., 30, 38, 101, 128 f., 141—143, 183, 191 f., 197, 248, 2 5 4 — 257, 272, 283—285, 290, 304, 338, 342—345, 359, 381, 385 f., 391 f., 396, 400, 402, 411—413, 450, 461, 465, 538, 552 f., 559, 564, 567 f., 570, 575, 585, 599—603, 605 Nolte, E., 553 Novalis, 15, 311, 322, 384 Oberman, H.A., 560 Oetinger, F.C., 113, 155 Ong, W . J . , 237, 286 f., 289 f., 517, 552, 583 Origenes, 559 Ortega y Gasset, J., 552 f. Ottmann, H., 553 Otto, R., 139, 144, 158, 308, 414, 551, 556, 564 f., 585 Paracelsus, 157 Parmenides, 92, 394, 396, 552 Parry, Μ., 287, 583 Pascal, Β., 181, 376, 602 Pauli, W., 139, 563 Paulus, 62, 79, 97, 114 Peirce, C.S., 223, 283, 418, 448, 570, 576, 601 Peters, U., 556, 561, 601

642

Petzold, L., 561 Pfeiffer, R., 290, 583 Pfister, O., 129, 562 Pflug, G., 572 Philonv. Alexandrien, 150 Piaget, J., 600 Pieper, J., 600 Planck, M., 563 Piaton, 28 f., 50, 62, 92, 126, 139, 149, 153, 159—161, 309, 327, 331, 335 f., 385, 387, 390, 394, 396, 410 f., 414, 416, 420, 426—428, 493, 537, 546, 552, 566, 568, 572 f., 585, 605 Plessner, H., 251, 491 Plotin, 57, 58, 62 f., 66, 94, 148—151, 301, 364, 394, 426, 473, 564 Pontalis, J . B . , 567 Popper, K.R., 289, 340, 358, 368 Porete, M., 61, 83 f., 89, 93, 107 Postman, Ν., 286, 289, 290, 583 Pöggeler, Ο., 413, 559, 597, 604 Praag, Η. van, 62, 64, 557 Prauss, G., 599 Preger, J., 113, 115, 560 Prel, C. du, 310 f., 585 Price, L., 420 f. Proklos, 62, 66, 148 f. Prometheus, 492 Putnam, Η., 227, 553, 571 Quint, J., 65, 73, 101, 105, 119, 474 f., 558 f. Rahner, H., 113 Rahner, K., 113 f., 120, 132, 559 f. Raphael, 333 Raumer, F., 322 Regehly, T., 414 Reich, W., 129, 132 Reinach, Α., 414 Rentsch, T., 570 Resch, Α., 560, 602 Rescher, N., 551 Rickert, F., 271 f., 301, 339, 564 Riedel, C., 599 Riedlinger, H., 560 Rilke, R.M., 120, 380, 563, 584 Ritsehl, T., 113 Roosevelt, F.D., 291

Rorty, R., 553 Rosenberg, Α., 48, 116, 135 f., 554, 562 Rosenkranz, Κ., 557, 586 Rothacker, Ε., 188 Rousseau, J.J., 287, 583, 597 Rod, W., 568 Rudolf v. Biberach, 93 Rudolph, K., 565 Ruh, Κ., 117—119, 472, 554, 555, 560 f., 564 f. 601, 605 Ruhbach, G., 59, 66, 554, 556, 558 Rumi, D., 425, 432, 586 Russell, B., 141, 158, 368 f., 377, 553, 560, 565 Rust, Α., 573 Ruusbroec, G., 106 Saint-John Perse, 134 Salaquarda, J., 570 Salmann, E., 560 Sapir, E., 284 f. Satura, V., 562 Saussure, F., 399, 583 Schankara, 556 Schapp, W., 188 Scheffczyk, L., 551 Scheier, C.A., 603 Scheler, M., 203, 248, 302, 390 Schelling, F.W.J., 15, 56, 141, 159, 161, 169, 185, 194, 254, 301, 311—313, 328, 335, 339 f., 424, 587, 602 Schimmel, Α., 558, 561 Schirach, B., 135, 563 Schumacher, W., 576, 604 f. Schlegel, F., 311, 322 Schleiermacher, F., 414, 603 Schmidt, Α., 587 Schmidt, H., 570 Schmidt, M., 559 f., Schmidtke, D., 561 Schmitz, H., 142 Schnädelbach, H., 551 Schneider, H.J., 568, 584, 599, 603 Schneider, U., 141 f., 563 f., 597 Schoeller, D., 586 Scholem, G., 519, 552—554, 558, 586 Schopenhauer, Α., 16, 38, 112, 129, 141, 169, 182, 201, 299, 311, 325—340,

355, 368, 385, 395, 415, 449, 465, 471 f., 498, 535 f., 553, 558, 571, 586— 588, 605 Schönberg, Α., 134 Schönrich, G., 597, 601, 603 Schöpf, Α., 568 Schrödinger, E., 137, 553, 563, 605 Schütz, Α., 188 Schwab, E., 585 Schwarz, R., 560 Schweitzer, Α., 113 Schwemmer, O., 169, 204, 229—246, 252, 261 f., 266, 273 f., 278, 281, 284, 289 f., 293, 300, 466, 477, 494, 509, 551, 553 f., 559, 567 f., 573—576, 583 f., 598—603 Seifert, J., 562 Seilliere, E., 587 Seuse, H., 61, 65, 78, 80, 99, 164, 381, 423, 557, 559 Silberer, H., 130, 562 Sillanpää, F.E., 393 Simmel, G., 187, 429 f., 598 Sloterdijk, P., 556, 565 Sokrates, 159, 178, 180, 493 Solger, K.W.F., 322, 585 Solowjew, W., 154 f. Sommer, M., 143—145, 564 (Jungfrau) Sophia, 102, 108, 156 Spee, F., 78 Spengler, O., 181, 283, 289, 525 Spierling, V., 327, 587 Spinoza, B., 56, 155, 301, 336, 453, 556, 585, 600 Staal, F., 147, 300, 564, 584, 600 Stace, W.T., 147, 564 Steindl-Rast, D., 115, 300 Steiner, R., 48, 116, 155, 300 Stensland, S., 598 Stirnimann, H., 560, 600 Strauß, B., 120 Strawinsky, I., 134 Strube, C., 414 Struve, W., 141, 300, 563, 584 Sudbrack, J., 59, 66, 113 f., 120, 127, 554—556, 558, 560, 562, 565, 603 f. Suzuki, D.T., 604 Swedenborg, E., 56, 108, 113, 155, 169, 302, 310 f., 416

643

Symeon, 57, 94 Talbot, Μ., 138, 556, 563 Tarski, Α., 274 Tart, W.S., 128 Tauler, J., 61, 72, 86, 325, 381, 433, 586 Teilhard de Chardin, P., 115, 300 Teresa v. Avila, 106, 116, 351, 534 Thaies, 107, 391 f. Thamus, 288 Therese v. Konnersreuth, 59, 113, 147 Theut, 288, 492 Thomas v. Aquin, 179, 301, 556, 568 Tieck, L., 322, 325 Timotheus, 71, 107 Toland, J . , 555 Topitsch, E., 585 f., 604 Toulmin, S., 227, 368, 445, 553, 584, 599 Toynbee, Α., 283, 289 Tritsch, W., 66 Ueda, S., 604 Uexkuell, J., 248 Underhill, E., 62 f., 364, 391, 395, 552, 557, 560 Usener, H., 431, 459, 506, 598, 600 Vaihinger, H., 304 Vetter, H., 564, 597 Vico, G., 181, 283 Viller, M., 113 f., 559 f. Vivekananda, 353 Voegelin, E., 136 f., 154, 563, 565 Volpi, F., 551, 588 Vries, J. de, 584 Vygotskij, L . S . , 600 Wagner, R., 280 Wagner-Egelhaaf, M., 119 f., 403, 435, 458, 474, 513, 554, 556, 560—563, 568, 584, 597 f., 601 Waismann, F., 368 Waldschütz, E., 551, 555, 557 f., 561 Walther, G., 413, 483, 554, 560, 584, 597, 602 Wandruszka, M., 527, 601, 604

644

Watt, I., 289 Watts, Α., 559, 604 Wehr, G., 114, 156, 555, 560, 565 Weigel, V., 155 Weil, S., 147, 601 Weiler, G., 381 f. Weimer, W., 587 Weininger, O., 376 Weischedel, W., 390 Weisgerber, L., 397, 476, 596 Weismayer, B., 562 Weizsäcker, F . , 139 f., 553, 563 Welte, B., 557 Welter, R., 184, 568—570 Whitehead, A.N., 24, 33, 147, 169— 171, 182 f., 187, 189 f., 193, 204—212, 215, 217 f., 220, 223—225, 236, 2 3 8 — 240, 246, 252, 261 f., 266, 272—274, 276 f., 293, 300, 341, 363, 379, 4 1 7 — 422, 428, 443, 466, 475, 504, 553 f., 559, 570—573, 575, 583, 597—599, 605 Whitman, W., 134, 393 Whorf, B.L., 284 f., 559 Wilber, K., 128 Wild, C., 568, 600 Wilhelm v. St. Thierry, 75, 106, 151, 380 Wilhelm, R., 604 Wilson, J . E . , 565 Windelband, W., 271, 414 Wisser, R., 601 Wittgenstein, L., 16, 58, 104, 122, 141, 143, 145, 158, 169, 183, 192, 217, 223, 272, 283, 299 f., 302, 311, 367—380, 399, 415, 448 f., 484, 494, 497 f., 512 f., 552, 554, 560, 565, 570, 584, 603 Wohlfart, G., 300, 558, 584, 604 Wolff, C., 208, 309 f. Wulf, D., 604 Wundt, M., 144, 564 Zenon v. Elea, 202 Zimmermann, H.D., 58 f., 134, 435, 513, 554, 556, 559, 561—563, 598 Zintzen, C., 564 Ziu, 601 Zundel, E., 562, 584, 602

Nachwort

Das vorliegende Buch geht auf ein geisteswissenschaftliches Forschungsprojekt zurück, das ich in den Jahren 1990—93 mit Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Wien) durchführen konnte. Eine überarbeitete Fassung des Manuskripts wurde im November 1994 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin als Habilitationsschrift akzeptiert. Für den Druck habe ich weitere Korrekturen und Änderungen vorgenommen. Einer Reihe freundlicher Mitmenschen sei für Anregung, Hilfe, Ermutigung und Kritik herzlich gedankt: in erster Linie Oswald Schwemmer, der mir inhaltlich und methodisch die entscheidenden Hinweise gab, das Thema Mystik erfahrungs- und symboltheoretisch zu behandeln. Die Lektüre seiner post-konstruktivistischen Arbeiten und die Gespräche mit ihm seit 1986 haben mich zu einer grundsätzlichen philosophischen Neuorientierung hingeführt. Ich danke aber auch Karl Leidlmair, Karl Albert, Martina Wagner-Egelhaaf, Elenor Jain, Georges Goedert, Rudolf Heinz und Claus-Artur Scheier, mit denen ich einzelne Kapitel produktiv diskutieren konnte, sowie Wolf gang Schirmacher, Arno Baruzzi und Claus Barsch, von denen ich für mein Thema nützliche Ratschläge und Informationen erhielt. Ein besonders verpflichtendes und freundschaftliches Andenken bewahre ich dem am 18. September 1995 allzu früh verstorbenen Eckhart-Spezialisten Erwin Waldschütz. Nicht zuletzt gilt mein Dank dem Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Wissenschaftsforschung an der Universität Graz, Johann Götschl, der das Forschungsprojekt organisatorisch betreute, sowie seinen Mitarbeiterinnen Angelika Höber und Birgit Rauch. Den Verantwortlichen des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung danke ich für die gewährte Projektförderung, Karl Leidlmair für seine freundliche Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage.

Reinhard Margreiter

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Meister Eckhart: Lebensstationen, Redesituationen Herausgegeben von Klaus Jacobi Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens.

1997. Ca. 300 Seiten - 6 Abb. Gb, ca. DM 1 2 8 - / öS 9 3 4 - / sFr 1 2 2 ISBN 3-05-003127-1 Die uns überlieferten Texte Meister Eckharts sind Niederschlag von Unterweisungen, Vorlesungen und Predigten. Ihnen liegt Rede zugrunde: Ansprache an bestimmte Hörerschaften in bestimmten Situationen. In diesem Band werden die Lebensstationen Eckharts - Erfurt, Paris, Straßburg, Köln, Avignon - vergegenwärtigt. Dabei ist zu fragen, wie weit Eckharts Denken situativ durch Lehraufgaben und Hörerwartungen geprägt ist, aber auch, welche Gedanken das gesamte Werk wie Leitmotive durchziehen. Hinsichtlich der kirchlichen Lehrverfahren gegen Meister Eckhart ist zu überdenken, wie weit die inkriminierten Einzelsätze noch als Ausdruck Eckhartscher Gedanken gelten können, wenn sie aus dem Meditationszusammenhang, in welchem sie standen, gelöst sind.

Neue Folge Band 7

Aus dem Inhalt: K. Jacobi: Einleitung I. Eckhart in Erfurt R. Margreiter: Meister Eckhart zwischen Literalität und Oralität. Ein Anwendungsfall für Erich A. Havelocks Theorie medialer Noetik? W. Wackernagel: Apologie du redemeister: Discours et discernement dans les Instructions spirituelles. M. Enders: Die ,.Reden der Unterweisung". Eine Lehre vom richtigen Leben durch einen guten und vollkommenen Willen II. Eckhart in Paris E.-H. Weber: L'argumentation philosophique personelle du theologien Eckhart ä Paris en 13021303. M. v. Perger: Eckharts frühe Pariser Quästionen - in situ und als Predigtmotiv III. Eckhart in Straßburg E. Hillenbrand: Der Straßburger Konvent der Predigerbrüder in der Zeit Eckharts. O. Langer: Meister Eckhart und sein Publikum am Oberrhein. Zur Anwendung rezeptionstheoretischer Ansätze in der Eckhart-Forschung. M.-A. Vannier: Der edle Mensch - eine Figur in Eckharts Straßburger Werk IV. Eckhart in Köln W. Senner: Meister Eckhart in Köln. R. Schönberger: Wer sind „grobe liute"? Eckharts Reflexion des Verstehens. J. Kreuzer: Gottesgeburt und Rückkehr zur eigenen Endlichkeit. Überlegungen zu Meister Eckhart. R. Manstetten: Meister Eckharts Stellungnahme zur Predigt „Intravit Iesus in quoddam cestellum" im Kölner Häresieprozeß. Ein Essay über Wahrheit und Nachvollzug. N. Largier: Figurata locutio. Hermeneutik und Philosophie bei Eckhart von Hochheim und Heinrich Seuse V. Eckhart in Avignon W. Trusen: Das Häresieverfahren in Köln und das Zensurverfahren in Avignon. J. Miethke: Der Prozeß gegen Meister Eckhart im Rahmen der spätmittelalterlichen Lehrzuchtverfahren gegen Dominikanertheologen.

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Statt einer Konklusion W. Goris: Eckharts Entwurf des Opus tripartitum und seine Adressaten.

Oswald Schwemmer

Ernst Cassirer Ein Philosoph der europäischen Moderne

Ernst Cassirer wird in diesem Buch als ein Denker vorgestellt, der geistig in der philosophischen Tradition wurzelt und sich gleichzeitig den Herausforderungen durch die europäische Moderne stellt. Über die Analyse von Grundbegriffen des Cassirerschen Entwurfs einer „Philosophie der symbolischen Formen" versucht der Autor, die Spannungen sichtbar zu machen, die diesem Entwurf die Modernität geben und ihn offen machen für Weiterentwicklung. In einer abschließenden Analyse zeigt Oswald Schwemmer die Bedeutung des Cassirerschen Entwurfs für die philosophische Diskussion der Gegenwart.

Aus dem Inhalt: - Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes - Der Werkbegriff Ernst Cassirers - Ausdruck und symbolische Prägnanz - Die ethische Dimension des symbolischen Handelns - Das Denken der Renaissance und die Wurzeln der Moderne

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Akademie Verlag

Lynkeus Studien zur Neuen Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Die Reihe LYNKEUS will den Blick der Leser erneut auf die Phänomene richten. Gefragt wird: Was ist etwas? Wie läßt es sich beschreiben? Sie geht in die Lebenserfahrung hinein und gibt dadurch Gelegenheit zu neuen Einsichten, die die Verengung der üblichen Perspektiven der Begriffsbildung korrigieren. Zugleich öffnet sie durch diese Betrachtung einen neuen Blick auf andere Kulturen. Bereits erschienen sind: Band 1

Leib und Gefühl Beiträge zur Anthropologie Michael Großheim (Hg.) 1995. 306 Seiten - 26 Abb. - Gb, DM/sFr 98,- / öS 715,ISBN 3-05-002715-0 Band 2 GUIDO RAPPE

Archaische Leiberfahrung Der Leib in der frühgriechischen Philosophie und in außereuropäischen Kulturen 1995. 541 Seiten - Gb, DM/sFr 120,- / öS 876,ISBN 3-05-002714-2 Band 3

Das Herz im Kulturvergleich Georg Berkemer / Guido Rappe (Hg.) 1996. 261 Seiten - Gb, DM 98,- / öS 715,- / sFr 89,ISBN 3-05-002742-8 Band 4 PHILIPP T H O M A S

Selbst-Natur-sein Leibphänomenologie als Naturphilosophie 1996. 219 Seiten - Gb, DM 98,- / öS 715,- / sFr 94,ISBN 3-05-002978-1 Band 5 JENS SOENTGEN

Das Unscheinbare Phänomenologische Beschreibungen von Stoffen, Dingen und fraktalen Gebilden 1997. 272 Seiten - Gb, DM 79,- / öS 577,- / sFr 71,ISBN 3-05-003093-3 Bestellungen richten Sie bitte an Ihre Buchhandlung.