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German Pages 242 Year 2015
Ralf Schnell, Georg Stanitzek (Hrsg.) Ephemeres
Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Ralf Schnell.
Ralf Schnell, Georg Stanitzek (Hrsg.)
Ephemeres Mediale Innovationen 1900/2000
Medienumbrüche | Band 11
Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
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INHALT Ralf Schnell/Georg Stanitzek
Ephemeres. Mediale Innovationen 1900/2000............................................... 7 Martina Dobbe
Ephemeres sehen – ephemeres Sehen. Skulpturenfotografie als Bildtheorie ............................................................ 13 Walburga Hülk/Marijana Erstiü
Vom Erscheinen und Verschwinden der Gegenstände. Futuristische Visionen.................................................................................. 43 Gabriele Lück
Der ‚Körper‘ des Unsichtbaren. Medienfiktionen bei Mynona und Eco ..... 63 Jens Schröter
Das ephemere Detail und das Maschinelle. Die äußerste Grenze der künstlerischen Fotografie bei Garry Winogrand und William Eggleston .................................................. 85 Joseph Garncarz
Wanderkinos in Deutschland: Eine ephemere Medieninstitution.............. 109 Michael Lommel
Überlegungen zur Aktualität des Episodenfilms........................................ 123 Sonja Weber-Menges
Fluktuation auf dem Ethnomedienmarkt. Beispiele und Hintergründe ..... 139 Matthias Uhl
Der Klatsch der Yellow-Press – immer neu und doch das Gleiche ........... 157 Andreas Käuser
Medienumbrüche und Sprache................................................................... 169 Gisela Hüser/Manfred Grauer
Technologischer Wandel und Medienumbrüche ....................................... 193 Peter Gendolla
Auf 50 Meter genau. Die neueren Ephemeriden........................................ 217 Autorenverzeichnis .................................................................................... 237
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EPHEMERES. MEDIALE INNOVATIONEN 1900/2000 Medienumbrüche lassen sich als Neu-Konfigurationen ganzer MedienEnsembles verstehen. Dass solche Vorgänge mit Turbulenzen und abrupten, transitorischen Dynamiken verbunden sind, ist evident und daher in dieser allgemeinen Formulierung zunächst weniger eine These als eine Tautologie. Denn ganz offenbar unterliegen die an historischen Umbruchskonstellationen beteiligten Einzelmedien wie die mit ihnen verknüpften Mediensettings – von den Institutionen über die Technologien bis zu den Theorien – selber der Kategorie des Vorübergehenden und Flüchtigen, Fluktuierenden und Oszillierenden, wenn sie einmal jenem impact unterworfen sind, der mediengeschichtlich eine neue Epoche ankündigt. Von Interesse ist hierbei freilich die Vielfalt und Vielgestalt solcher Medien(umbruchs)konstellationen, die der Begriff des ‚Ephemeren‘ im vorliegenden Band zu umschreiben versucht. Während das Medium als solches dynamisierten Zeitstrukturen gegenüber mehr oder weniger indifferent oder invariant bleibt und daher auch aus der ‚Peripherie‘ einschlägiger Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse nur selten, das heißt nur im Fall anderweitiger ‚Störungen‘ ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, lässt sich das Ephemere als ein entscheidendes Kriterium und als eine differentia specifica gegenüber Normalverläufen verstehen, innerhalb derer die jeweils in Medien realisierten Formen auftauchen und wieder verschwinden. Selbst wenn das Einzelmedium strukturell gegenüber transitorischen Zeitstrukturen mehr oder weniger indifferent und invariant bleibt, können die in Medien jeweils realisierten Formen verloren gehen. Deshalb erscheinen in Phasen eines Medienumbruchs die überkommenen Medien in gewisser Weise kontingent – bis hin zur Möglichkeit ihres Verschwindens, zumindest des Verschwindens ihrer vertrauten Funktion. Ein Phänomen, das zugleich tief verwurzelte Arbeits-, Kommunikations- und Wahrnehmungsweisen betrifft, anthropologische An-
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nahmen1, generationelle Erfahrungs- und Erwartungshorizonte ebenso wie konventionalisierte Medienmentalitäten und Medienkulturen, ja selbst involvierte Gerätschaften und ganze Geräteparks bzw. die mit ihnen befassten Industrien und Berufszweige2, soweit sie sich in Relation zu bestehenden Mediengefügen und deren in der Regel impliziten ideologischen bzw. Wert-Hierarchien bestimmen.3 Hier sind Um-, nicht selten auch Abwertungsphänomene in Rechnung zu stellen, die sich als Kehrseite emphatischer Ankündigungsdiskurse verstehen lassen, wie sie sich mit neuen Medien zu verbinden pflegen – ein durch die propagierten Innovationsdiskurse regelmäßig abgeschatteter Phänomenbereich4, dem bei der Untersuchung von Medienumbrüchen besonderes Augenmerk zu schenken ist. Dabei ist zu beachten, dass man auf diese Weise, beobachtend also, nicht zufällig zu jenem Modus von Medienbeobachtung beiträgt, den die Avantgarden als prägnante Reaktionsweise ausgearbeitet haben, insbesondere in Antwort auf den ersten der hier zur Diskussion stehenden Medienumbrüche ‚um 1900‘. Zur Erinnerung sei beispielhaft auf den Surrealismus verwiesen – darauf, wie dieses Epochenphänomen „sich der veralteten Dinge annimmt“5 (Walter Benjamin), oder auch auf Aragons allgemeine Apotheose des „goût de l’éphemère“6, mit der die Kategorie des Ephemeren programmatisch den Status eines Leitbegriffs erlangt hat. Von einer im Zusammenhang mit Medienumbrüchen konstatierbaren Karriere flüchtiger und ephemerer Sachverhalte zeugt nicht zuletzt 1 Krausse, Joachim: „Ephemerisierung. Wahrnehmung und Konstruktion“, in: Dotzler, Bernhard J./Müller, Ernst (Hrsg.): Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur Aisthesis materialis, Berlin 1995, S. 135-163. 2 Vgl. Müller, Christoph: „Verurteilt zur Innovation. Zum Absturz der Neuen Ökonomie“, in: Merkur 57, 645 (2003), S. 16-23; Candeias, Mario: Neoliberalismus – Hochtechnologie – Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik, Hamburg 2004, S. 198. 3 Sloterdijk, Peter: Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000. 4 Hierzu die exemplarischen, aber zugleich grundsätzlichen Überlegungen von Holert, Tom: „Vorbeihuschende Bilder. Das archivierte Virtuelle als Sozialfall und Politikum“, in: Ernst, Wolfgang/Heidenreich, Stefan/Holl, Ute (Hrsg.): Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven, Berlin 2003, S. 135-143 u. 172-173. 5 Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. 2, erster Teil, Frankfurt a.M. 1977, S. 295-310, hier S. 299. 6 Aragon, Louis: Le paysan de Paris (1926/1953), Paris 1998, S. 111.
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die Tatsache, dass es die Temporalstruktur ist, welche in einschlägigen Mediendiskursen zuvörderst thematisiert wird. Entsprechende Diagnosen besitzen ihrerseits gerade keinen ‚ephemeren‘, sondern – betrachtet man die kultur-diagnostischen und -kritischen Reaktionen auf einige wichtige mediale Innovationen von 1900 bis 2000 – einen geradezu durchgehenden und erwartbaren Charakter: Das Zeitmedium Film mit der von ihm nahe gelegten zerstreuten Rezeptionsweise wird ebenso als Terminator des traditionellen auratischen Kunstwerks oder auch der Schauspielkunst verstanden wie das Telefongespräch als Ende des Briefs, das Fernsehen als flüchtiges, sofort vergessendes und vergessen machendes Medium und schließlich der Computer als Kontext, in dem selbst noch der Text den Status eines überaus veränderlichen, in vielem unzuverlässigen und ‚verletzlichen‘7 Hypertextes erhält. Nimmt man als ‚Vorgeschichte‘ den Journalismus und seine Kritik seit dem 19. Jahrhundert hinzu, erkennt man leicht, dass es sich hier um eine Konstante von Mediendiskursen in der Moderne schlechthin handelt. Der Tatsache, dass ein Kommunikationsbegriff, dem zufolge jede Einzelkommunikation als flüchtiges Ereignis zu begreifen ist8, im Rahmen der Kulturwissenschaften zu einer diskutablen Kategorie werden konnte, kommt in diesem Zusammenhang zumindest ein Indizienwert zu. Denn selbstverständlich oder erwartbar ist dieser Vorgang keineswegs im Kontext einer Tradition, die den kulturellen Wert gerade in der Opposition des Bleibenden gegenüber dem insignifikanten Tagesgeschehen sah und sieht – von der klassisch-gebildeten Unterscheidung einer ‚stehenden‘ Literatur gegenüber der ‚fließenden‘, „a tempo zu lesenden“ modisch-alltäglichen Produktion9 bis hin zu jüngsten Fortschreibungen dieser Konzeption.10 Dass Kommunikation mit ihrem flüchtigen Ereignischarakter demgegenüber als genuin kulturelle Operation verstanden werden kann, dürfte ebenso im Zusammenhang der einschlägigen Medienumbrüche seinen Grund haben wie darin, dass die Künste diese Zeitstrukturen – spätestens seit den historischen Avantgarden und bis in
7 Miller, J. Hillis: „The Ethics of Hypertext“, in: Diacritics 25, 3 (1995), S. 27-39. 8 Vgl. Luhmann, Niklas: „Zeit und Handlung – Eine vergessene Theorie“, in: Zeitschrift für Soziologie 8 (1979), S. 63-81. 9 Schopenhauer, Arthur: „Ueber Lesen und Bücher“, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Arthur Hübscher, Bd. 6: Parerga und Paralipomena II, Wiesbaden 1962, § 290-297, S. 588-598, hier: § 295. 10 Assmann, Aleida: „Was sind kulturelle Texte?“, in: Poltermann, Andreas (Hrsg.): Literaturkanon – Medienereignis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung, Berlin 1995, S. 232-244.
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die Gegenwart11 – als Bedingungen nicht nur erkannt, sondern in Experimenten mit dem Provisorischen und Nicht-Feststellbaren operativ aufgenommen haben. Generell ist jeder Forcierung von ‚Ereignissen‘ ein Strukturbezug eigen, der Medienumbrüche ‚quer‘ zu den einzelnen Sozialsystemen situiert. Ihre wie immer problematischen und/oder produktiven Effekte sind deshalb entsprechend ihrer jeweiligen Systemreferenz zu differenzieren: Was unter bestimmten Aspekten als Problemlösung erscheinen mag, kann in anderer Hinsicht neue Probleme aufwerfen oder problemverschärfend wirken. Die medien-induzierte Karriere ephemerer, flüchtiger Phänomene und Operationsweisen dürfte etwa im Zusammenhang von Wirtschaft und Massenmedien anders zu bewerten sein als in dem der Liebe oder der Erziehung und wieder anders in Sachen Kunst oder Literatur respektive der mit ihnen befassten Wissenschaften. Wenn beispielsweise in Adornos Ästhetik das Feuerwerk als Paradigma des Kunstwerks erwogen wird12, so ist damit bereits eine Kopplung vorgesehen, in welcher das Ephemere sich mit Phänomenen der Sensation und des Spektakels verbindet, um auf diese Weise den Fokus der Aufmerksamkeit zu besetzen. Das Ephemere ‚als solches‘ ist insofern schwerer zu fassen bzw. stellt besondere Anforderungen an seine Theoretisierung, als es alltäglichen Charakter besitzt, als isoliertes Phänomen der Wahrnehmung zu entgleiten pflegt und deshalb in einem ganz unspektakulären Sinn sich als flüchtig darstellt – wenn es sich denn überhaupt ‚darstellt‘.13 Insofern liegt der Akzent hier weniger auf dem Moment des ‚Erscheinens‘ oder der ‚Apparition‘, als vielmehr auf dem des Verschwindens, des ‚Aus-den-Augen-Verlierens‘ und Vorübergleitens, fast ohne Spur, ohne Rest, mit einem Wort: ohne Rekursion, die jedes ‚Verweile doch!‘ im Ansatz ja bereits einleitet. Das Ephemere realisiert sich, grundsätzlich gesprochen, weniger im anfänglichen Bemerken und Thematisieren von Bemerkens- und Thematisierenswertem als vielmehr im
11 Chi, Immanuel/Düchting, Susanne/Schröter, Jens (Hrsg.): ephemer_temporär_provisorisch, Essen 2002. 12 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, hrsg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1974, S. 125f.; vgl. S. 264f.; vgl. auch Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981. 13 Zintzen, Christiane: „Vom Glück im Ephemeren. Zwischenzeitliche Überlegungen auf den Spuren des Flüchtigen“, in: Neue Zürcher Zeitung, 21./22.12.2002, Nr. 297, Internationale Ausgabe, S. 53.
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fast unbemerkten Verschwinden, Veralten, ‚In-den-Abfall-Geraten‘14 von Wahrnehmungen, Dingen, Werten und Relationen. Methodologisch impliziert diese widerspruchsvolle Konstellation eine Problemlage, deren reflexive Bearbeitung ein Desiderat kulturwissenschaftlicher Forschung darstellt. Deren cultural studies-Variante kommt das Verdienst zu, dass in ihrem Kontext das Problem in dankenswerter Klarheit exponiert – wenn auch kaum reflektiert – wird, zumindest im Rahmen jener Ansätze, welche sich der Untersuchung von Medienrezeptionsprozessen der popular culture zuwenden, die geradezu durch ihr schließliches ‚spurloses‘ Verschwinden definiert sind.15 Das damit verbundene Problem stellt nichts Geringeres als die Sicherung eines Gegenstandsbezugs dar, der unter dem Blickwinkel der Philologie immer eine Art von Textbezug impliziert – und damit zu seiner Bearbeitung letztlich den Modus ‚gepflegter‘ Wiederholungslektüren erfordert. Diese Haltung aber fällt in Anbetracht von – in einem strikten Sinn! – ephemeren Gegenständen entweder aus, oder sie führt zu dem paradoxen Resultat, dass der Gegenstand, präziser: das Ephemere am Gegenstand verschwindet. In rhetorischer Terminologie16 gesprochen: Verbrauchsreden mit ihrem ephemeren Bestimmungsgrund verwandeln sich unter der Hand, als Gegenstände ‚statarischer‘ Aufmerksamkeit, in Wiedergebrauchsreden.17 Rein kursorisch-flüchtige Lektüren jedoch sind als seriöse medien- und literaturwissenschaftliche Verfahren kaum vorstellbar, sondern stellen vielmehr traditionell, aus guten Gründen, deren Gegenbild dar. Sicher nehmen gewisse ästhetisierende Ansätze beim Traktieren des Ephemeren eine Lizenz in Anspruch, die man als Selbstermächtigung essayistisch-philosophierender Diskurse mit einem mehr als ‚freien‘ Gegenstandsbezug bezeichnen kann; vermutlich eröffnen sich 14 Thompson, Michael: Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Stuttgart 1981. Culler, Jonathan: „Rubbish Theory“, in: ders.: Framing the Sign. Criticism and Its Institutions, London 1988, S. 168-187. 15 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988. Fiske, John: „Popular Culture“, in: Lentricchia, Frank/McLaughlin, Thomas (Hrsg.): Critical Terms for Literary Study, Chicago/London 1995, S. 321-335; Stäheli, Urs: „Die Wiederholbarkeit des Populären: Archivierung und das Populäre“, in: Pompe, Hedwig/Scholz, Leander (Hrsg.): Archivprozesse: Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 73-83. 16 Vgl. Lausberg, Heinrich: Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, München 1982, §§ 11ff. 17 Derrida, Jacques: „Biodegradables. Seven Diary Fragments“, in: Critical Inquiry 15 (Summer 1989), S. 812-873.
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hier auch unerwartete Anschlussmöglichkeiten zwischen cultural studies-Interessen und im engeren Sinn empirisch verfahrenden Medienund Literaturwissenschaften. Materiale Untersuchungen, die unter dem Gesichtspunkt von Medienumbruchsphasen erfolgen, können insoweit durch mitlaufende methodische Reflexion unter dem Aspekt medialer Innovationen hierzu beitragen. Den Facetten solcher Medien(umbruchs)konstellationen versucht dieser Band anhand unterschiedlicher Phänomene des Ephemeren nachzugehen. Die Beiträge verbindet die Absicht, die Bezüge innerhalb eines sich dynamisch verändernden Medienensembles differenziert zu entfalten und differenzierend wie vergleichend auf die Medienumbrüche ‚um 1900‘ und ‚um 2000‘ zu beziehen. Sie gruppieren sich um Probleme der Kunst und der Kunsttheorie (Martina Dobbe, Walburga Hülk/Marijana Erstiü, Gabriele Lück), um entwicklungs- und gattungsgeschichtliche Fragen der Fotografie und des Films (Jens Schröter, Joseph Garncarz, Michael Lommel), um spezifische Aspekte der TV- und Printmedien (Sonja Weber-Menges, Matthias Uhl), um Fragen der Theorie- und Begriffsbildung (Andreas Käuser) und um technologische wie medienästhetische Entwicklungen des digitalen Zeitalters (Gisela Hüser/Manfred Grauer, Peter Gendolla). Was an der Vielfalt dieser Aspekte auf den ersten Blick disparat erscheinen mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Ausdruck der Sache selbst: Das Ephemere ist, als transitorisches Phänomen, methodologisch angemessen nur exemplarisch – das heißt: anhand ausgewählter Vermittlungsinstanzen, in denen es sich zur Geltung bringt – darstellbar.
MARTINA DOBBE
EPHEMERES
SEHEN
–
EPHEMERES
SKULPTURENFOTOGRAFIE
ALS
SEHEN.
BILDTHEORIE
L’Éphémère – L’Éternel Die Auffassung, dass die Wahrnehmung in der Moderne in besonderer Weise von den Phänomenen des Flüchtigen, des Transitorischen bzw. des Ephemeren gekennzeichnet ist, gehört zu den zentralen Bestimmungen jenes ersten Medienumbruchs, der gemeinhin, wie auch immer datiert und konkretisiert, noch als Bezugspunkt für die Charakterisierung der jüngsten Entwicklung einer allgemeinen Ephemerisierung der Wahrnehmung im sog. zweiten Medienumbruch herangezogen wird. „Vom Ephemeren zur Ephemerisierung – Fluchtlinien postmoderner Erfahrung“1 – so hat Joachim Krausse einen einschlägigen Artikel im Lexikon „Ästhetische Grundbegriffe“ überschrieben, um darin nachzuzeichnen, wie die „Prädominanz des Ephemeren“2 als Konsequenz der Modernisierung bzw. der Industrialisierung und zugleich als Ausgangspunkt für die postmoderne Konzeptualisierung des Ephemeren (im Sinne einer Ephemerisierung) zu begreifen ist. Dabei führte Krausse die Rede vom Ephemeren konkret auf Charles Baudelaires Erläuterungen der modernité im Essay „Le Peintre de la vie moderne“ (1863) und auf Louis Aragons „Le Paysan de Paris“ (1926), die Rede von der Ephemerisierung hingegen auf Richard Buckminster Fuller (1938) und von dort aus auf die Rezeption von dessen Thesen im Rahmen der künstlerischen intermedia-Diskussion seit den 1970er Jahren zurück. „Der Vorzug des Begriffs“ [des Ephemeren, M.D.], so Krausses Diagnose, „scheint darin zu liegen, daß die bezeichneten Phänomene einschließlich ihrer Wahrnehmungs- und Erkenntnismodalitäten behandelt werden können“3, wobei offensichtlich für die historiografische Lesart wiederum Unterscheidungen dahinge1 Krausse, Joachim: „Ephemer“, in: Barck, Karlheinz (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 240-260. 2 Krausse (wie Anm. 1), S. 242. 3 Krausse (wie Anm. 1), S. 241.
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hend geltend gemacht werden sollen, dass sich das Ephemere – im Zuge seiner fortschreitenden Ephemerisierung – immer weniger „als wahrnehmbare Eigenschaft des einzelnen Artefakts“4, hingegen immer stärker im Sinne eines Wahrnehmungsprozesses am Artefakt, ja als prozessuale Entgrenzung von Artefakten und Medien in der Wahrnehmung erschließt. Folgt man der mit Krausse zunächst nur grob skizzierten historiografischen Lesart des Ephemeren, so ergibt sich die Notwendigkeit, das Ineinsfallen von Phänomen und Wahrnehmungs- bzw. Erkenntnismodalität an konkreten Beispielen – Artefakten und Medien – nachzuvollziehen. Dies soll im Folgenden in der Auseinandersetzung mit der Fotografie und dem Film geschehen, mithin gerade an jenen seinerzeit neuen Medien, die in besonderer Weise der Erfahrung des Vorübergehenden, Vergänglichen, Flüchtigen und Transitorischen verpflichtet sind. Genauer wird es aber vor allem um ein besonderes, schon früh nachweisbares Genre der Fotografie gehen, das die notwendigerweise dialektische Konzeption des Ephemeren exemplarisch anschaulich machen kann: um die Skulpturenfotografie. Auf die Skulpturenfotografie scheint zuzutreffen, was Baudelaire im Sinne einer „Kunsttheorie des Ephemeren“5 und in der Absicht, den Neologismus la modernité zu fassen, definitorisch festgehalten hat: „La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable“6, wobei mit l’éternel und l’immuable je nach Auffassung der Baudelaire-Interpreten entweder das Klassische im Sinne einer überzeitlich verstandenen Einheit des Kunstwerks qua Komposition oder aber die selbst als abgeschlossen und vergangen aufgefasste Klassik als Epoche oder Stil angesprochen ist. Man muss die Baudelaire-Philologie im einzelnen aber gar nicht bemühen7, um die Gegenüberstellungen fugitif – éternel bzw. transitoire – immuable gerade im Genre der Skulpturenfotografie als produktive Kontrastkoppelung wieder zu erkennen, haben doch die frühen Fotografen, weil sie um den flüchtigen Blick der Kamera und die technischen Schwierigkeiten langer Belichtungszeiten wussten, 4 Krausse (wie Anm. 1), S. 253. 5 Krausse (wie Anm. 1), S. 244. 6 Baudelaire, Charles: „Le Peintre de la vie moderne“ (1863), in: Oeuvres complètes, hrsg. v. Claude Pichois, Paris 1961, S. 1163. 7 Die einschlägigen Positionen in dieser Debatte beziehen Hans Robert Jauß („Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität“, in: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, S. 7-66) und Karlheinz Stierle („Baudelaires ‚Tableaux Parisiens‘ und die Tradition des ‚Tableau de Paris‘“, in: Poetica, 6 (1974), S. 285-322).
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die unbewegten, ‚ewigen‘, klassischen bzw. antiken Skulpturen als ideales Sujet ihrer Fotoexperimente erkannt8; wie umgekehrt gerade diejenigen Bildhauer, die vor dem Hintergrund impressionistischer Erfahrungen gegen die ‚tote‘, ‚erstarrte‘ Leblosigkeit der Skulptur votierten, für die flüchtige Momentfotografie und vor allem für die chronofotografischen Ansätze von Marey und Muybridge besonders aufgeschlossen gewesen sind. Aus der vielfältigen Geschichte der Skulpturenfotografie werden im Folgenden zwei Punkte herausgegriffen, an denen, so die These, die Reflexion auf den ephemeren Status des ,Fotografischen‘ in besonderer Weise zur Klärung dessen, was das ,Skulpturale‘ heißen kann, beigetragen hat. Dabei geht es um die Frage, wie – einerseits im Rahmen des Modernismus, andererseits im Rahmen des Post/Minimalismus – grundlegende medienästhetische Aussagen zur Skulptur über die Fotografie gewonnen werden können, d.h. wie sich das Skulpturale einerseits in der Fotografie und andererseits als Fotografie artikuliert. Offensichtlich konnte gerade das spannungsvolle Verhältnis von Fotografie und Skulptur, wie es der Skulpturenfotografie inhäriert, für grundlegende Fragestellungen nach dem Status der Form und der Abstraktion in der Skulptur fruchtbar gemacht werden, wurden in der Fotografie die unterschiedliche Geltung der Essenz und der Präsenz skulpturaler Formen im Modernismus und im Post/Minimalismus artikuliert.9 Dabei zeigt sich, dass der Modernismus das Skulpturale im Medium der Fotografie problematisiert und reflektiert, während der Post/Minimalismus das Skulpturale so nach8 Zu den diversen, pragmatischen und rhetorischen Gründen für diese Objektwahl vgl. Dobbe, Martina (Hrsg.): „Bildwerke im Bild“, in: Winter, Gundolf/Dobbe, Martina/Steinmüller, Gerd: Die Kunstsendung im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1953-1985. Teil 1, Potsdam 2000, S. 335ff. 9 Zur Terminologie: Da im Folgenden vor allem die amerikanische Lesart der Moderne verhandelt wird, spreche ich meist, aber nicht durchgehend vom Modernismus, in dem Sinne wie Alex Potts (The Sculptural Imagination. Figurative, Modernist, Minimalist, New Haven/London 2000, S. 103) ihn definiert hat: „Modernist sculpture […] could roughly be defined chronologically as work produced after Rodin and before the shake-up of sculptural practice in the 1960s and early 1970s […].“ Eine terminologisch exakte Festlegung des ‚Modernismus‘ im Unterschied zur ‚Moderne‘ ist nicht intendiert, läßt sich m. W. auch nur unzureichend aus der Literatur / den Übersetzungen ableiten. Gleiches gilt für den adjektivischen Wortgebrauch (modernistisch/modern). Vom Post/Minimalismus wird gesprochen, weil im Hinblick auf die Frage nach dem Skulpturalen im vorliegenden Zusammenhang gerade die Schnittstelle zwischen Minimalismus und Postminimalismus interessiert.
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haltig in das Fotografische überführt, dass er – ausgehend von der Kategorie des spezifischen Objekts – bereits die Auflösung des Skulpturalen im Sinne der modernistischen Medienspezifik formuliert. Es wird zu prüfen sein, inwieweit mit dem Fotografischwerden der Skulptur im Post/Minimalismus jene Ephemerisierung des Skulpturalen eingeleitet wurde, die sich – nicht zuletzt bedingt durch die Instrumentierung der ‚ephemeren‘ Medien Film und Video – in den intermediären Tendenzen der 1970er Jahre programmatisch vollzieht.
Die moderne Skulptur und das Ephemere der Fotografie Anders als für den Bereich der Malerei, ist für den Bereich der Skulptur die Frage, wie die Moderne bzw. der Modernismus in medienästhetischer Hinsicht charakterisiert werden könne, nicht wirklich geklärt. Clement Greenberg, auf den zahlreiche wesentliche Bestimmungen der modernistischen Malerei zurückgehen, tat sich mit der Skulptur und dem Skulpturalen bekanntlich schwer.10 Hatte er die Moderne in der Skulptur, die seines Erachtens von Rodin ausgehend über Brancusi zu Picasso und zur konstruktivistischen Plastik führte, 1949 noch als vielversprechenden Anfang einer Neuen Skulptur aufgefasst, die – den Reduktions- und Abstraktionstendenzen der modernistischen Malerei vergleichbar – immer ausschließlicher und immer reiner ihr konkretes Medium gemäß Form, „Oberfläche, Umriß und räumlichem Intervall“ 11 artikuliere, so konnte er rund zehn Jahre später eine gewisse Ernüchterung angesichts der zeitgenössischen Skulptur kaum verhehlen, um – wiederum eine Dekade später – der im Minimalismus immer offensiver betriebenen, alleinigen Selbstaussprache des Mediums lediglich einen negativen Gewinn12 zuzugestehen. Dabei hatte Greenbergs Frage nach den medienästhetischen Spezifika der Skulptur in einer seiner rigiden, aber meist produktiv pointierten 10 Die einschlägigen Texte Greenbergs zur Skulptur sind: „Die neue Skulptur“ (1949), „Skulptur in unserer Zeit“ (1958) und „Neuerdings die Skulptur“ (1967). Vgl. auch das „Vorwort“ von Karlheinz Lüdeking in der deutschen Edition von Greenbergs Schriften, das die Entwicklung von Greenbergs Thesen zur Skulptur kurz skizziert. 11 Greenberg, Clement: „Neuerdings die Skulptur“ (1967), in: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hrsg. v. Karlheinz Lüdeking, Dresden 1997, S. 367. 12 „Die Malerei hatte ihre Führungsposition eingebüßt, weil sie so unausweichlich Kunst war, und nun lag es an der Skulptur oder etwas ihr Ähnlichem, die Fortentwicklung der Kunst anzuführen.“ Greenberg (wie Anm. 11), S. 365.
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‚Kehren‘ dem dreidimensionalen Medium anfangs sogar mehr Entwicklungsspielraum als der Malerei zugestanden, ausgehend von der Überzeugung, dass die Abstraktion, und das hieß für Greenberg die Ent-Literarisierung und Ent-Illusionierung im Medium der Skulptur zwar schwieriger zu erreichen, dann aber vielfältiger auszuformulieren sei: „Derselbe Prozeß, durch den die Malerei verarmt ist, hat die Skulptur bereichert“, heißt es in „Die neue Skulptur“, ja „die Bildhauerei, die ursprünglich die transparenteste Kunst war, weil sie der physischen Natur ihres Sujets am nächsten kam, genießt heute den Vorteil, die Kunst zu sein, der die wenigsten Assoziationen von Fiktion und Illusion anhaften.“13 Der vermeintliche Nachteil der Skulptur – „daß das Medium der Skulptur scheinbar die geringste Distanz zum Existenzmodus ihres Sujets aufwies“14, die Optizität des Skulpturalen folglich schnell zugunsten der Faktizität eines Motivs durchsehen wurde – entpuppte sich unter den Vorzeichen der Abstraktion als Vorteil, insofern die Faktizität des Dreidimensionalen – d.h. das Konkrete der abstrakten Skulptur – zugleich deren unbedingte Optizität im modernistischen Sinne garantiert. Im Hinblick auf diese modernistische Optizität sah Greenberg im Bereich der Skulptur größere Spielräume, denn „das Sehen hat in drei Dimensionen mehr Bewegungs- und Erfindungsfreiheit als in zweien“15. Die ersten, deutlichen Hinweise auf diese besondere skulpturale Konkretion im Rahmen der Moderne hat Greenberg – wie andere Autoren gleichermaßen – im Oeuvre Constantin Brancusis erkannt. Denn Brancusi war jener Bildhauer, der das geschlossene Volumen, die traditionellerweise figurativ aufgefasste Form, im Zuge konsequenter Abstraktionen von allem Literarischen und Motivischen befreite, „indem er das Abbild der menschlichen [und der tierischen, M.D.] Gestalt auf geometrisch vereinfachte, ovoide, zylindrische und kubische Massen reduzierte“16, wie man dies, Schritt für Schritt, an der Entwicklung des Themas Vogel nachvollziehen kann. 29 Vogelskulpturen sind erhalten bzw. bekannt, von „Maiastra“ (1910-1912) und „Maiastra“ (1915-1918) über „L’Oiseau jaune“ (1919) und „L’Oiseau d’or“ (1919) bis zu „L’Oiseau dans l’espace“ (1922ff.), der am weitesten abstrahierten Variante, an der 13 Greenberg, Clement: „Die neue Skulptur“ (1949), in: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hrsg. v. Karlheinz Lüdeking, Dresden 1997, S. 170f. 14 Greenberg, Clement: „Skulptur in unserer Zeit“ (1958), in: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hrsg. v. Karlheinz Lüdeking, Dresden 1997, S. 257. 15 Greenberg (wie Anm. 14), S. 261. 16 Greenberg (wie Anm. 14), S. 258.
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Brancusi über zwei Jahrzehnte hinweg gearbeitet und von der er insgesamt 3 Gruppen mit 6 Marmor-, 9 Bronze- und diversen Gipsvarianten hinterlassen hat. Wie immer man Brancusis Anknüpfen an impressionistische Formauffassungen sowie die Einflüsse kubistischer17 und primitivistischer18 Tendenzen auf sein Werk in diesem Zusammenhang einschätzen mag, der Schritt in die Abstraktion implizierte etwas grundlegend Neues, insofern der für die traditionelle Bildhauerei übliche Prozess der Transformation allgemeiner stereometrischer Grundformen in individuelle Formfindungen nicht nur umgekehrt, d.h. Individuelles auf Abstraktes hin durchsehen, vielmehr das Individuelle als Abstraktes sichtbar und dabei als gleichermaßen aktuell wie prinzipiell gültig ausgewiesen wird. So lässt sich in der frühen Vogelskulptur „Maiastra“ (Abb. 1) und in den sie vorbereitenden Zeichnungen durchaus noch erkennen, dass Brancusi von der Kombination einzelner, dem individuellen Vogel abgesehener Formfragmente ausgegangen ist, um „in einem einzigen Vogel das Wesen aller Vögel“19 wiederzugeben. Aufrecht, erhaben und in äußerster Wachsamkeit sitzt der mächtige Vogel ruhig und konzentriert auf einem ursprünglich dreiteiligen Sockel, wobei das kräftige Gefieder, das von vorn wie ein dreieckig zugeschnittenes Schild erscheint, als Stütze verstanden ist, die hinter und gemeinsam mit den Beinen, die zu einer konisch zulaufenden, umgekehrten T-Form zusammengenommen sind, die Figur insgesamt basiert. Den Korpus des Vogels bildet ein unregelmäßiges Ovoid, das, kräftig und zugleich weich hervorgewölbt, die aufgeplusterte Brust des Vogels vertritt. Darüber sind Hals und Kopf in einer einzigen röhrenartigen Form verschmolzen, die am oberen Ende deutlich nach vorn gebogen ist und durch Inzisionen bzw. Einschnitte mit Augen und einem geöffneten Schnabel versehen ist. Brancusi stellt 17 Die Vorgeschichte der modernistischen Theorie der Skulptur à la Greenberg, die deutlich vom Paradigma des Kubismus und der kubistischen Collage als ‚Schnittstelle‘ zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, zwischen Flächenbild und Raumbild ausgeht, muß hier vorausgesetzt werden. Diesbezüglich wären insbesondere die Positionen von Hildebrand, Einstein und Kahnweiler zu rekapitulieren. Vgl. Bois, Yve-Alain: „Kahnweiler’s Lesson“, in: ders.: Painting as Model, Cambridge/Mass. 1990, S. 65-97 und S. 280-293. 18 Sowohl die archaische rumänische Plastik als auch die in den französischen Avantgarde-Kreisen gepflegte Auseinandersetzung mit der primitivistischen Kunst wären zu berücksichtigen. Vgl. Rubin, William (Hrsg.): Primitivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München 1984, insbes. S. 354-377. 19 Dumintresco, Natalia/Istrati, Alexandre: „Brancusi“, in: Hulten, Pontus/ dies.: Brancusi, Stuttgart 1986, S. 84.
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„Maiastra“ – den mythischen Vogel seiner rumänischen Heimat, der als kosmischer Wächter auf Erden erscheint und in dessen Auffassung zugleich archaische Urbilder wie etwa der falkenähnliche ägyptische Hauptgott Horus integriert sein mögen – folglich durch die Kombination einzelner einfacher Volumina dar, in denen zugleich abbildliche Formen (Füße, Beine, Brust, etc.) und stereometrische Grundformen erkennbar sind, wobei letztere, da sie nie regelmäßig, d.h. mathematisch exakt auftreten, nur schwer benennbar sind.
Abb. 1: Constantin Brancusi, „Maiastra“, 1912
Abb. 2: Constantin Brancusi, „Goldener Vogel“, um 1919
Die Reduktion individueller Formen auf einfache Grundformen hat Brancusi weiter beschäftigt. Mit der ersten Reihe der „Vögel“ (Abb. 2) sind – bis auf den geöffneten Schnabel – alle naturalistischen Details eliminiert. Füße, Beine, Schwanzfedern, Korpus, Brust, Hals und Kopf können als solche nicht mehr unterschieden werden, denn alle ehemals kombinierten Elemente sind in eine einzige, durchgehende, in die Länge gezogene Form integriert. Zeigte „Maiastra“ einen gewichtigen, ruhenden Vogel voller Aufmerksamkeit, so sind die „Vögel“ durch ihre verstärkte Vertikalisierung, die Verschlankung und den gleitenden Kontur deutlich dynamisiert, noch dazu unterstützt durch die Tatsache, dass die Standfläche der Figur auf dem Sockel verkleinert, ja bei einer Gesamthöhe von rund 90 cm bis auf ca. 10 cm reduziert worden ist. Wenn überhaupt noch von einem abbildlichen Verweis auf einen Vogel zu sprechen ist, so entsteht der Eindruck eines Tiers, das im Moment des Abflugs nicht als feste Form, die sich bewegen wird, sondern bereits als Form in Bewegung gesehen ist, umso mehr, wenn in den polierten Bronzefassun-
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gen durch den reflektierenden Hochglanz des Materials Oberfläche und Kontur der Figur entmaterialisiert erscheinen.
Abb. 3: Constantin Brancusi, „Vogel im Raum“, 1931-36
Abb. 4: Constantin Brancusi, „Vogel im Raum“, 1930
Mit dem „Vogel im Raum“ (Abb. 3) sind schließlich alle Reminiszenzen an eine abbildlich verstandene Vogelgestalt ausgeschlossen. Die Gesamtform ist noch entschiedener gelängt, sie erreicht allein eine Höhe von 184 cm und ist auf zusätzliche 136 cm Sockelhöhe hin konzipiert. Ihr Impuls in die Höhe wird durch eine Einschnürung im unteren Fünftel der Figur verstärkt. Von der schmalen Standfläche ausgehend ergibt sich so zunächst der Eindruck einer labilen, in sich beweglichen Haltung, die dann jedoch in einer Art Kontraktion im Bereich der Einschnürung festigend zusammen- und in die aufstrebende, an- und schließlich wieder abschwellende Gesamtform überführt wird. Die Energie, die der Formspannung innewohnt, kulminiert schließlich an der Spitze und scheint sich jenseits der materiellen Form in den Raum hinein fortzusetzen. So wie in der gleitenden Formbewegung, dem „fliehenden“20 Kontur und in der matt polierten Oberfläche des Marmors kein Fixpunkt der Bewegung mehr festlegbar ist, so wenig lässt sich die optische Transformation der Figur fixieren, jenes „Leichtwerden des Schweren, das Energiewerden
20 Brancusis Umgang mit dem Kontur erfüllt in idealer Form, was Albertis Malereitraktat Apelles und Protogenes zugestand: „Man beobachte, daß die Linien des Umrisses von größter Freiheit seien, so beschaffen, als flöhen sie gleichsam gesehen zu werden.“ Alberti, Leone Battista: Kleinere kunsttheoretische Schriften, hrsg. v. Hubert Janitschek, Osnabrück 1970, S. 100.
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der Masse“21, das für Brancusis Arbeit an der Abstraktion in der Skulptur so kennzeichnend ist. „Man kann nicht sagen, ob es sich um einen sitzenden, einen sich zum Flug aufreckenden oder einen fliegenden Vogel handelt. Die Evokation des Fluges ist an einer äußerst klaren und gespannten materiellen Form erreicht, die selbst keine tautologische Identität mit sich selbst eingeht […]. Der Vogel […] ist kein Nachbild der Gestalt eines Tieres, sondern er ist anschauliches Modell für komplexe Erfahrungen von Flug und Lebewesen.“22 Eben diese optische Transformation der Form in Bewegung, des Schweren ins Leichte, der Masse in Energie, des Wesens in ‚bloße‘ Erscheinung gilt es, als Brancusis Konsequenz modernistischer Formabstraktion und -reduktion zu beschreiben. Wie hoch dabei der Anteil einer essentialistischen bzw. idealistischen Formkonzeption auf der einen, der Anteil einer perzeptualistischen bzw. kontextualistischen Objektkonzeption auf der anderen Seite zu veranschlagen ist, bleibt freilich umstritten. Hatte Greenberg für ein essentialistisches Verständnis von Brancusi votiert, dem gemäß die modernistische Reduktion die Skulptur von allen abbildlichen Anspielungen zugunsten der rein visuellen Essenz abstrakter Formen befreit23, so hat ihm Rosalind Krauss gerade hier widersprochen und den „Mythos der idealen Form“24 kritisiert. Für sie beginnt mit Brancusi jene Neudefinition des skulpturalen Objekts, die das Ideal der reinen, prinzipiellen Form („increasing purity“25) preisgibt und anstelle dessen die je aktuelle Erscheinung von Skulptur, d.h. die Präsenz des Skulpturalen setzt. „In place of a part-by-part formal dynamic, there is in Brancusi’s sculpture something one might call the deflection of an ideal geometry.“26 Gerade weil Brancusi nie die ideale, geometrisch bzw. stereometrisch exakte Form sucht, sondern – aus der Sicht der Mathematik – mit Deformationen operiere, gelinge ihm jene Transformation der Form in Bewegung, der Masse in Energie, die Krauss – an einer anderen Figur, aber auf die Vogelskulpturen übertragbar – als eine von surface and structure analysiert: „What is normally structural about the 21 Boehm, Gottfried: „Plastik und plastischer Raum“, in: Skulptur. Ausstellung in Münster, Bd. 1, Münster 1977, S. 37. 22 Boehm (wie Anm. 21), S. 35. 23 Vgl. Greenberg (wie Anm. 14), S. 260. 24 Krauss, Rosalind: „Brancusi and the Myth of Ideal Form“, in: Artforum, VIII, 5 (1970), S. 35-39. 25 Krauss, Rosalind: Passages in Modern Sculpture, London 1977, S. 3. 26 Krauss (wie Anm. 25), S. 86. Die Konfrontation zwischen Greenberg und Krauss wurde von Bois in seiner Rezension des Buches von Krauss ausführlich kommentiert, vgl. Bois, Yve-Alain: „The Sculptural Opaque“ in: Sub/ stance, 31 (1981), S. 23-48.
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body is transformed into a rhythmic cascade of undulant curving gesture, while what is explicitly gestural in the real body […] all become the visual phenomenona of structure.“27 „If Brancusi’s work is radical, it is not in its reductiveness as an inert formal proposition. It is in its reversal of the priorities of meaning – by which I mean that gesture is shown to exist prior to shape or structure.“28 „The deformation is great enough to wrench the volume out of the absolute realm of pure geometry and install it within the variable and happenstance world of the contingent.“29 Interessanterweise ist es aber nun gerade diese Polarität einer essentialistischen und einer kontextualistischen Konzeption von Skulptur, der die Fotografie von Brancusis Arbeiten nachfragt, die ihrerseits in polaren Positionen argumentiert, insofern einerseits die auch hier in den Abbildungen 1-3 verwendete sachlich-objektive, kunstreproduzierende Fotografie existiert, andererseits Brancusis eigene ‚kunstreproduzierende‘ Fotografie, die gleichwohl eher als kunstinszenierende Fotografie anzusprechen ist. Brancusi selbst hat sich jedenfalls von Anfang an dezidiert nicht nur gegen die künstlerische, piktorialistische Fotografie seiner Skulpturen gewandt, die seiner Meinung nach das Skulpturale allzu malerisch werden lasse, ja das Formhafte der Skulptur restlos eliminiere30, sondern gleichermaßen deutlich die seinerzeit professionelle Skulpturenfotografie abgelehnt, insofern diese die „absolute Form“31 stillstelle und dabei in unzulässiger Form fixiere. Die von Isac Pascal überlieferte und durch Friedrich Teja Bach in die Brancusi-Literatur eingebrachte Anekdote mag das belegen: Eines Tages kam ein Photograph (zu Brancusi) und bat ihn darum, die polierten Arbeiten aus Metall photographieren zu dürfen. Brancusi erlaubte es ihm und kümmerte sich dann weiter um seine Arbeit. Als er nach einiger Zeit einen Blick auf das warf, was der Photograph machte, bemerkte er, daß seine Skulpturen keinen 27 28 29 30
Krauss (wie Anm. 24), S. 35. Krauss (wie Anm. 24), S. 37f. Krauss (wie Anm. 25), S. 86. Vgl. die Argumentation von Paret, Paul: „Sculpture and Its Negative. The Photographs of Constatin Brancusi“, in: Johnson, Geraldine A. (Hrsg.): Sculpture and Photography. Envisioning the Third Dimension, Cambridge 1998, S. 105ff, der Steichens Fotografie von Brancusis „Vogel im Raum“ unter diesem Gesichtspunkt kritisiert. 31 Bach, Friedrich Teja: Constantin Brancusi. Metamorphosen plastischer Form, Köln 1987, S. 15. Bach weist darauf hin, dass Brancusi selbst in einigen wenigen Formulierungen einem gewissen ‚Platonismus‘ anhing. Die kontextualistische Brancusi-Lesart à la Krauss hat diesen Formulierungen denn auch konsequent widersprochen.
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Glanz mehr hatten und fragte den Photographen, was denn geschehen sei. Dieser erklärte, er habe die Werke mit einem Puder bedeckt, um jeglichen Lichtreflex zu vermeiden. Brancusi war empört, wurde wütend und warf den Photographen aus dem Atelier. Danach machte er fast alle Photographien selbst.32
Nachdem der umfangreiche Bestand an Negativen bzw. Fotografien seit den 1970er Jahren gesichtet und in mehreren Ausstellungen veröffentlicht wurde33, darf als gesichert gelten, dass Brancusi in programmatischerer Weise an der Skulpturenfotografie bzw. der Fotografie seiner Skulpturen interessiert gewesen ist als andere Bildhauer der Moderne, die das ‚neue‘ Medium gleichwohl ebenfalls unter künstlerischen Gesichtspunkten instrumentierten. Denn anders als Rodin, für den die Fotografie vor allem ein sekundäres Medium der öffentlichen Kommentierung seiner Arbeiten gewesen ist, mit der er, im Lauf der Zeit, stilistisch sehr unterschiedlich agierende Fotografen beauftragte, und anders als Rosso, für den die Fotografie primär ein Arbeitsmedium war, ein Medium zur Kontrolle des in den Skulpturen materialisierten fotografischen Blicks34, hat Brancusi die Skulpturenfotografie zu medienästhetischen 32 Bach (wie Anm. 31), S. 26. 33 Allein Brancusis fotografischer Nachlaß am Pariser Musée National d’Art Moderne umfasst ca. 560 Negative und 1300 Abzüge; aus der umfangreichen Literatur zum Thema, Brancusi und die Fotografie‘ sei hingewiesen auf: Partenheimer, Jürgen: Die Skulptur Brancusis in der Deutung seiner Photographie, Diss., München 1976; Tabart, Marielle/Monod-Fontaine, Isabelle (Hrsg.): Brancusi photographe, Paris 1977; Brancusi. The Sculptor as Photographer, mit einem Essay von Hilton Kramer, London 1980; Bach, Friedrich Teja: „Brancusis Photographie – Die Kunst der Übersetzung“, in: Holländer, Hans/Thomsen, Christian W. (Hrsg.): Besichtigung der Moderne, Köln 1987; Brown, Elizabeth Ann: Through the Sculptor’s Lens. The Photographs of Constantin Brancusi, Phil. Diss., Columbia University (unveröff.), New York 1989; Bach, Friedrich Teja: Brancusi. Photo réflexion, Paris 1991; Frizot, Michel: „Les photographies de Brancusi, une sculpture de la surface“, in: Cahiers du Musée national d’art moderne, 54 (1995); Penders, Anne-Francoise: Brancusi. La Photographie ou l’atelier comme „groupe mobile“, Brüssel 1995; Brown, Elizabeth A.: Constantin Brancusi Photographer, Paris 1995; Bach, Friedrich Teja: „La photographie de Brancusi“, in: ders./Rowell, Margit/Temkin, Ann (Hrsg.): Constantin Brancusi 1876-1957, Paris 1995; Brancusi als Fotograf. Ein Bildhauer fotografiert sein Werk. Die Schenkung Carola Giedeon Welcker im Kunsthaus Zürich, Bern 1996; Paret (wie Anm. 30); Philip, Annette: Photographie interpretiert Skulptur – Auguste Rodin, Constantin Brancusi, Alberto Giacometti, Berlin 2000. 34 Vgl. Dobbe, Martina: „Wie man Skulpturen aufnehmen soll. Kategorien und Konzepte der kunstreproduzierenden Fotografie“, in: Winter, Gundolf/Dobbe, Martina/Steinmüller, Gerd (Hrsg.): Die Kunstsendung im
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Grundsatzüberlegungen genutzt. Jedenfalls könnte man aus seinen Skulpturenfotografien jene Kunst- bzw. Bildtheorie35 herauslesen, die der eher wortkarge Rumäne, zum Leidwesen seiner Interpreten, in schriftlicher Form fast gänzlich schuldig geblieben ist. Ein Blick auf Brancusis Fotografien von ,Vogel im Raum‘ kann das verdeutlichen. Unter ihnen sind Aufnahmen, die erkennen lassen, dass sich Brancusi bildsprachlich wenn überhaupt an einem seiner FotoKollegen, dann am ehesten an seinem Freund Man Ray und dessen Licht-Schatten-Experimenten der späten 1910er und frühen 1920er Jahre orientiert hat, nachdem dieser Brancusi offensichtlich im Jahr 1921 zumindest mit den technischen Grundlagen der Fotografie vertraut gemacht hatte.36 Jedenfalls argumentieren Brancusis Fotografien nachdrücklich mit Licht-Schatten-Situationen, die die essentialistisch verstandenen Formgegebenheiten seiner Skulpturen dematerialisieren, indem sie das Prinzipielle aktualisieren, ja als notwendigerweise Ephemeres inszenieren. So zeigt die berühmte Aufnahme von 1930 (Abb. 4) den Vogel im Raum tatsächlich schwebend, als habe sich die Figur zusammen mit ihrem Sockel in die Höhe und in die Tiefe des Raumes begeben. Brancusi erreicht diesen Effekt zum einen durch die Sockelinszenierung, d.h. dadurch, dass der untere Teil des Sockels bis zur Bodenfläche durch eine Holzkiste verstellt ist, so dass der zylindrische Stein, der die Figur insgesamt basiert, in der Luft zu stehen scheint. Zum anderen aber arbeitet Brancusi mit der gezielten Ausleuchtung der Figur, die das von oben kommende Licht an zwei Stellen bündelt, auf der Deckplatte des Steinsockels und im oberen Bereich des Vogels, der dadurch an der Fessel verdunkelt und verdichtet, nach oben hin aber immer lichter und leichter wird. Darüber hinaus präsentiert Brancusi die Figur vor einem dunklen Vorhang, der jedoch gerade nicht – wie in manchen kunstreproduzierenden Fotografien – eine ‚tote‘ schwarze Hintergrundfläche ist. Der Vorhang in Brancusis Atelier ist vielmehr ein raumschaffendes Element, inFernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1953-1985. Teil 1, Potsdam 2000, S. 49-58. 35 Ich übernehme die titelgebende Formulierung „Skulpturenfotografie als Bildtheorie“ von Philip 2000, S. 8, die ihre Untersuchung Photographie interpretiert Skulptur – Auguste Rodin, Constantin Brancusi, Alberto Giacometti der Frage widmet, „inwieweit ein Bild ein Bild deuten kann“ (S. 7). Die hier im Vordergrund stehende medienästhetische Frage nach der Bildlichkeit des Skulpturalen wird bei Philip jedoch nicht weiter problematisiert. 36 Da die Aussagen zu diesem Zusammenhang retrospektiv von Man Ray gemacht wurden, sind sie nicht unumstritten. Eine genauere Untersuchung zum Verhältnis Man Ray – Brancusi steht noch aus.
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sofern er mit Abstand zur abschließenden Wand gehängt und für die Aufnahme in Bewegung versetzt wurde.
Abb. 5 a-b: Constantin Brancusi, „Vogel im Raum“, 1927
Wird schon in dieser vergleichsweise nüchternen Aufnahme die Beleuchtung der Figur in ein Leuchten bzw. Strahlen überführt, so zeigen Brancusis Experimente mit der Positiv-Negativ-Umkehrung (Abb. 5 a und b) bzw. mit Fotofolgen (Abb. 6 a-d) um so deutlicher, wie der Bildhauer weniger die Form, als vielmehr die Form unter den Bedingungen ihres Gesehenseins im Lichtbild inszeniert. Sein Atelier in der Impasse Ronsin Nr. 11 bot dazu beste Voraussetzungen. Eine Raumecke des Ateliers, die an der einen Seite von einem Fenster (mit Vorhang) bestimmt und an der anderen Seite durch eine leere Wand gebildete wurde, hatte Brancusi als Präsentations- und Aufnahmeort hergerichtet. Durch das seitwärts eintretende und durch das Oberlicht konnten an dieser Stelle unterschiedliche Beleuchtungseffekte erzielt werden. Sowohl in Abb. 5 als auch in Abb. 6 dürften die parallelogrammartigen Lichtformen im Hintergrund als Projektion dieser Fensteröffnungen zu verstehen sein. Mit ihnen erzeugt Brancusi einen rückwärtigen Lichtraum, vor dem die Figur des Vogels, jeweils gedoppelt durch ihren Schatten, freigestellt wird. Während die Fotofolge (Abb. 6 a-d) den Verlauf der Sonne in der Weise wiedergibt, dass die Lichtraute im Hintergrund Stück für Stück herabsinkt, die scheinbare Erhebung des Vogels dadurch umgekehrt Schritt für Schritt gesteigert und in 6 d mit drei Lichtreflexen auf der Figur – an der ‚Fessel‘, am Ansatz des Abschwellens der Form und an der oberen Spitze – pointiert wird, sucht Brancusi das Licht in Abb. 5 a und b bis zur optischen Entgrenzung, ja bis zur Transzendierung von Form,
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Masse, Material und Oberfläche zu intensivieren. Als gleißende Blendung der bronzenen Figur tritt es im Positiv-, als geheimnisvolle Verdunklung im Negativabzug in Erscheinung, beide mal so instrumentiert, dass die Materie der Skulptur überwunden und, wie Bach feststellte, qua Vibration aufgelöst wird. „Vibration erfordert die Präsenz der Skulptur. Photographie kann darauf nur verweisen. […] Die Photographien […] des im Licht vibrierenden ‚Vogels im Raum‘ zeigen, was nur im Akt des Blickes ist, sie übersetzen, was sich nur in der Aktivität des Sehens ereignen kann.“37 Entscheidend für die hier fotografisch ‚abgebildete‘ Transformation des Vogels im Blick ist deshalb auch, dass der Sockel der Figur von dieser Transformation gänzlich ausgenommen ist.38 Er bleibt was er ist, ein steinerner Sockel, gegen dessen physische Präsenz die Verwandlung der Skulptur in Vibration und materielose Energie39 umso wirkungsvoller ist.
Abb. 6 a-d: Constantin Brancusi, „Vogel im Raum“, 1930
Tatsächlich versucht Brancusi also weder die skulpturale Form in der Fotografie zu reproduzieren, noch ihre Essenz, ihr ,Wesen‘ als ‚absolute Form‘ zu fixieren. Vielmehr verlässt er sich ganz auf das situational inszenierte Sehen der Form in der Fotografie. So sehr die objektivierende, kunstreproduzierende Fotografie den Essentialismus der Brancusi-Interpretation stützt, so sehr stützt Brancusis eigene Fotografie die kontextualisierende Lesart seiner Skulpturen, insofern sie immer wieder und in je 37 Bach (wie Anm. 31), S. 154. 38 Vgl. Paret (wie Anm. 30), S. 106. 39 Untersuchungen zur Ikonographie des Energetischen bei Brancusi hat Bach (wie Anm. 31), S. 154ff., angestellt, ausgehend davon, daß sich in Brancusis Nachlass sowohl Texte von Bergson und Poincaré als auch zahlreiche esoterische Schriften fanden.
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neuen Lichtsituationen je aktuelle Ansichten einer Form in ihrer vom Sehen abhängigen Vergänglichkeit realisiert. Im konsequenten Vertrauen auf den Ereignischarakter der Licht-Schatten-Inszenierung in einer als ephemer verstandenen Fotografie hat Brancusi schließlich ganze Fotoserien seiner Skulpturen entwickelt, in den späten 1920er Jahren, ausgehend von ,Leda‘, auch die Serienfotografien des Films für seine Zwecke genutzt. Als ein Bildhauer, der selbst in Serien arbeitete und der seine Skulpturen, auch was die Frage des Sockels betraf, in je neuen Kombinationen seriell erprobte, bot die Fotografie die Möglichkeit, die Skulptur im je aktuellen, ephemeren Blick selbst – gleichsam probeweise – zu ephemerisieren. Freilich blieb Brancusi Bildhauer, hat er die Fotografie als ephemeres Medium zur Beantwortung skulpturaler Fragestellungen genutzt, insofern die Skulpturenfotografie für ihn zum ausgezeichneten Ort der Reflexion auf die medialen Bedingungen der Skulptur in der Moderne geworden ist.
Die serielle Fotografie und das Skulpturale im Post/Minimalismus Die Debatten um den essentialistischen und den kontextualistischen Anteil des Skulpturalen, die für Brancusi in der Literatur nahezu alternativlogisch zugespitzt und im Genre der Skulpturenfotografie anschaulich ausgetragen wurden, haben sich mit dem Post/Minimalismus nur scheinbar überlebt. Anknüpfend an Brancusi40 haben zunächst die Minimalisten die vollendete Abstraktion – nunmehr freilich ausschließlich mit stereometrisch exakten, streng symmetrischen Formen wie Würfel, Quader und Zylinder arbeitend – als Ausgangspunkt ihrer Suche nach dem sog. spezifischen Objekt bestimmt. Dabei ging die Neuformulierung des skulpturalen Unterfangens demonstrativ mit der Preisgabe des ‚alten‘ Mediums Skulptur einher, wie an der berühmt gewordenen Formulierung aus Donald Judds manifestartiger Veröffentlichung41 „Specific Objects“ deut40 Bekannt ist, dass sich die Minimalisten gerne auf Brancusi bezogen haben, wobei sie diesen Bezug insbesondere über die ,Unendliche Säule‘ hergestellt haben, die am ehesten mit den minimalistischen, seriellen Arbeiten in Verbindung steht. Carl Andre hat in seinem Frühwerk von Brancusi die Vorliebe für die taille directe übernommen und die Sockel Brancusis geschätzt. Vgl. genauer zur Beziehung zwischen Brancusi und den Minimalisten: Bach, Friedrich Teja: „Brancusi et l’art américaine des années 60“, in: Paris – New York, Paris 1977, S. 637ff. 41 Neben Judds enigmatischem Text gehören zu dieser Programmatik vor allem Robert Morris’ „Anmerkungen über Skulptur“ (1966/67) und – aus
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lich wird: „Mindestens die Hälfte der besten neuen Arbeiten, die in den letzten Jahren entstanden sind, gehört weder zur Malerei noch zur Skulptur.“42 Dass aber auch die Post/Minimalisten – ihrerseits die Kategorie des Objekts jenseits der Idee der modernistischen Medienspezifik der Skulptur konzeptualisierend – um eine neu akzentuierte Verhältnisbestimmung einer essentialistischen und einer kontextualistischen, einer idealistischen und einer perzeptualistischen Auffassung des Skulpturalen rangen, wird deutlich, wenn man die Bestimmungen des post/minimalistischen Objekts im einzelnen untersucht. So hatte im Zentrum von Judds Überlegungen die Beobachtung gestanden, dass das spezifische Objekt jeden modernistischen Form-Idealismus ablehne, grundsätzlich anti-metaphysisch argumentiere, nämlich buchstäblich (literalistisch) sich selbst präsentiere, d.h. selbstreferentiell bis zur tautologischen Verleugnung seines Kunstcharakters sei. Das spezifische Objekt, so Judds Devise, ist ausschließlich das, was es ist. Anschließend an Judd, jedoch auf der Basis gestalttheoretischer und phänomenologischer Überlegungen fußend, hat sich der Post/Minimalismus um eine weiterreichende Bestimmung des neuen Objektcharakters bemüht. Dadurch, dass das spezifische Objekt nicht nur die traditionellerweise abbildliche, literarische oder illusionistische Bedeutung vermeide und darüber hinaus im Sinne der Abstraktion reduziere, sondern die vollendete Abstraktion exekutiere und dabei jede Referentialität negiere, entfalte es für die Wahrnehmung gerade jene Unmittelbarkeit, Direktheit und Präsenz der Erscheinung, die als Garant seiner aktuellen, phänomenologisch begründeten Komplexität zu verstehen sei, gemäß dem von Stella geprägten Motto: „What you see is what you see.“ In welcher Weise mit dem Post/Minimalismus der traditionelle Begriff der Skulptur überwunden oder doch zumindest grundlegend revidiert wurde, zeigt sich auch in den seit den 1960er Jahren neu entwickelten Formen einer intermedialen Verschränkung von Skulptur und Fotografie, im Bereich der Skulpturenfotografie also, wenn man diesen Begriff entsprechend tradieren will. Während auf der einen Seite die
der kritischen Distanz einer Clement Greenberg verpflichteten Perspektive – Michael Frieds „Kunst und Objekthaftigkeit“ (1967), in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 92-120 und 334-374. 42 Judd, Donald: „Spezifische Objekte“ (1965), in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 59.
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Skulptur seit dem Post/Minimalismus im erweiterten Feld43 operiert, d.h. insbesondere die Kategorie des – formbestimmten – Werks zur Installation überschritten und also presence und place als kontextabhängige Variablen der Rezeption werkrelevant wurden, hat sich auf der anderen Seite die Fotografie aus ihrer engen Bindung an die Flächenkünste befreit und als künstlerisches Medium konzeptualisiert. Intermediäre Kunstformen wie die fotografische Installation (oder Foto-Installation) und die fotografische Skulptur (oder Foto-Skulptur)44 sind die Folge, Kunstformen, in denen von der traditionell dienenden Rolle der Fotografie – als kunstreproduzierendem oder auch, wie bei Brancusi, als kunstinszenierendem Medium – keine Rede mehr ist. Anders als im Rahmen des Modernismus, wo die Fotografie, wie am Beispiel Brancusi gezeigt werden konnte, zum Ort der Reflexion auf das Skulpturale geworden ist, ist das Skulpturale im Post/Minimalismus selbst genuin fotografisch geworden, weshalb für einen bestimmten Bereich der post/minimalistischen Skulptur immer öfter nicht von „der Fotografie“ im Verhältnis zur Skulptur, sondern von „dem Fotografischen“ 45 im Verhältnis zum Skulpturalen die Rede ist. Dieser engen Verschränkung des Skulpturalen und des Fotografischen soll im Folgenden am Beispiel Sol LeWitts nachgegangen werden46, für den bezeichnenderweise die serielle Fotografie der 43 Krauss, Rosalind: „Skulptur im erweiterten Feld“, in: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hrsg. v. Herta Wolf, Dresden 2000, S. 331-346. 44 Diese beiden Formen unterscheidet Philippe Dubois („Fotografische Installationen und Skulpturen“, in: Wolf, Herta (Hrsg.): Skulpturen. Fragmente. Internationale Fotoarbeiten der 90er Jahre, Zürich 1992, S. 91) anlässlich eines Ausstellungsprojektes, das sich speziell dem Verhältnis von Fotografie und Skulptur in der zeitgenössischen Fotokunst widmet. 45 Die zahlreichen Publikationen zum Fotografischen in der Kunst seit den 1960er Jahren, darunter jüngst beispielsweise der Ausstellungskatalog The Last Picture Show. Artists Using Photography 1960-1982, Minneapolis 2003, widmen sich dieser dezidiert auf das Verhältnis von Fotografie und Skulptur zugeschnittenen Frage kaum. Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang stellen allein die Veröffentlichungen zum Werk von Robert Smithson dar, der das Verhältnis von Fotografie und Skulptur und mehr noch das Verhältnis von Film und Skulptur in den 1960er Jahren selbst kritisch kommentiert hat. 46 Die folgenden Überlegungen zielen – ähnlich wie hinsichtlich der Fotografien Brancusis – auf die Frage nach dem künstlerischen Umgang von Bildhauern mit der Fotografie, nicht auf die kunstreproduzierende Fotografie. Diesen Zugang wählt mit Gewinn der Aufsatz von Alex Potts „The Minimalist Object and the Photographic Image“, in: Johnson, Geraldine A. (Hrsg.): Sculpture and Photography. Envisioning the Third Dimension, Cambridge 1998, S. 181-198. Potts untersucht die „installation shots“ der
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Ausgangspunkt einer Konzeptualisierung des Skulpturalen in der FotoInstallation ist. Dass LeWitt dabei – wie andere Post/Minimalisten gleichermaßen – von den Foto-Experimenten Eadweard Muybridges und also von jener Fotografie inspiriert wurde, die in besonderer Weise das flüchtige, ephemere Sehen repräsentiert, könnte schließlich ein erster Hinweis darauf sein, dass sich mit dem neuen Verhältnis des Fotografischen und des Skulpturalen seit den 1960er/1970er Jahren die Skulptur qua Wahrnehmung des Objekts insgesamt ephemerisiert. Der Muybridge-Rezeption der 1960er Jahre dürfte die Neuedition von dessen Fototafeln am Ende der 1950er Jahre zugrunde liegen.47 Seit 1962 geben Sol LeWitts Arbeiten – wie die Arbeiten anderer Minimalisten und Konzeptualisten auch – explizite Hinweise auf Eadweard Muybridges Fotoexperimente, beispielsweise das Gemälde „Run I-IV“ sowie die Foto-Objekte „Muybridge I und II“. Muybridges „Twisting Summersault“ aus „Animal Locomotion“ von 1881 gehörte früh zur LeWitt Collection.48 Für Mel Bochner, der 1967 die grundlegenden künstlerischen Definitionen des Seriellen formulierte49, ist ebenfalls der Ankauf einer Fotografie aus „Animal Locomotion“ zu belegen. Dan Graham, der 1967 die Wiederentdeckung von Muybridge im „Arts Magazine“ kommentierte, hat sich in Filmen und Foto-Sequenzen wie „Eleven Sugar Cubes“ (1970) – die Arbeit dokumentiert, wie 11 ins Meer geworfene Zuckerwürfel vom anflutenden Wasser überschwemmt und mehr und mehr aufgelöst werden – auf Muybridge bezogen50; Carl Andre nahm die Auseinandersetzung mit Muybridges Biografie zum Ausgangspunkt seiner umfangreichen Textarbeit „Stillanovel“ (1972), einer Zusammenstellung von 98 „plastic poems“, in denen die serielle Abfolge von Buchstaben einerseits zu lesbarem Text, andererseits zu Feldformen im Sinne seiner späteren minimalistischen Arbeiten zusam-
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Minimalisten, um Aufschluß über das „staging“ der Objekte in der Fotografie zu erhalten. Vgl. den Hinweis von Lisa Kurzner, zit. in: Zevi, Adachiara: „Sol LeWitt in Two and Three Dimensions“, in: dies. (Hrsg.): Sol LeWitt. Critical Texts, Rom 1995, S. 35. Vgl. Baume, Nicholas: „The Music of Forgetting“, in: ders. (Hrsg.): Sol LeWitt. Incomplete Open Cubes, Hartford/Connecticut 2001, S. 23. Bochner, Mel: „The Serial Attitude“, in: Artforum, 6, 12 (1967), S. 28-33. Graham, Dan: „Muybridge Moments. From Here to There?“, in: Arts Magazine, 41, 4 (1967), S. 23f.; vgl. auch Graham, Dan: „Photographs of Motion“, in: Dan Graham. End Moments, New York 1969, S. 31-38; große Teile dieser Texte wurden 1970 in die selbständige kleine Veröffentlichung Two Parallel Essays. Photographs of Motion. Two Related Projects for Slide Projectors, New York 1970, übernommen.
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mengestellt ist.51 Und Hollis Frampton, der 1958-1963 die Skulpturen seines Freundes Carl Andres fotografierte52 und ab 1966 minimalistische bzw. strukturelle Kurzfilme realisierte53, rezensierte mit „Eadweard Muybridge. Fragments of a Tesseract“ (1973) jene Muybridge-Retrospektive, mit der der Fotograf endgültig in die Ahnenreihe der Post/Minimalisten aufgenommen worden ist.54
Abb. 7: Sol LeWitt, „Serial Project No. 1 (ABCD)“, 1966
Welche Impulse die Fotografie Eadweard Muybridges für die Neukonzeption des Skulpturalen in den 1960er/1970er Jahren geben konnte, zeigt sich konkret bei Sol LeWitts Bestimmung dessen, was ein post/minimalistisches Objekt als serielle Struktur im Unterschied zur tra51 Carl Andre in: Andre, Carl/Frampton, Hollis: 12 Dialogues 1962-1963, hrsg. v. Benjamin W. Buchloh, New York 1980, S. 38. 52 Offensichtlich war Framptons fotografisches Ideal in dieser Zeit vor allem die ‚skulpturale Fotografie’ à la Edward Weston; dies geht zumindest aus den Gesprächen mit Carl Andre hervor. Die Fotografien der Werke Andres zeigen diesen Einfluss allerdings nicht, sie sind rein werkdokumentarischer Natur. 53 Vgl. die Werkliste seiner Filme unter: www.film-makerscoop.com/catalog/f.html. 54 Frampton, Hollis: „Eadweard Muybridge. Fragments of a Tesseract“, in: Artforum, 3 (1973), S. 43-52. Vgl. insgesamt zur Aufarbeitung der Bezüge zwischen Muybridge und dem Post/Minimalismus die Dokumentation der Ausstellung „Still/A Novel“, in: Witte de With – Cahier # 5, Düsseldorf 1996, S. 14-83. Enger gefaßt, weil ausschließlich auf die Wirkungsgeschichte im Bereich der Fotografie bezogen, argumentierte die Ausstellung Motion and Document – Sequence and Time. Eadweard Muybridge and Contemporary Photography, hrsg. v. James J. Sheldon und Jock Reynolds, Andover 1991.
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ditionellen Form als Skulptur sei. Seit Mitte der 1960er Jahre entwarf LeWitt systematische Variationen über den Würfel, zu denen auch „Serial Project No. 1 (ABCD)“ von 1966 (Abb. 7) gehört. „Serial Project No. 1 (ABCD)“ ist „keine Skulptur, sondern ein stereometrisch bestimmtes Objekt“55, freilich eines, das grundlegende Fragestellungen der modernen Skulptur – wie das Verhältnis von offenem und geschlossenem Volumen, von Masse und Raum, von Abstraktion und Konkretion – problematisiert. Jenseits einer Skulptur als – idealisierter – Form realisiert LeWitt ein Objekt, das auf nichts anderes als auf sich selbst verweist, wobei entscheidend ist, dass „die Kombination von Kuben [...] systematisch erdacht [ist]; das Objekt veranschaulicht sie nur“56. Gerade weil LeWitt jenseits der skulpturalen Form einen neuen, konzeptuell begründeten Objekttypus sucht, greift er wiederholt und gern auf den Kubus als Basiseinheit zurück. Denn der Kubus ist vergleichsweise ‚wenig‘ Form, seine interessanteste Eigenschaft ist gerade die, „daß er relativ uninteressant ist. [...] Durch die Verwendung des Würfels vermeidet man die Notwendigkeit, eine andere Form zu erfinden“57. Der Würfel ist gleichsam eine apriorische Form, die in der Regel gewusst, nicht gesehen wird. Als Objekt zieht „Serial Project No. 1 (ABCD)“ mit dem Kubus den Blick konsequent von der Form in die Differenz, d.h. in die Struktur von Unterscheidungen hinein, die sich für den Betrachter im logischen Nachvollzug des seriellen Charakters erschließt: „Serielle Kompositionen sind mehrteilige Arbeiten mit regulierten Abwandlungen. Die Unterschiede zwischen den Teilen sind das Thema der Komposition.“58 Die leitende Prämisse der Serie von „Serial Project No. 1 (ABCD)“ ist die, „eine Form innerhalb einer anderen zu plazieren und alle relevanten Variationen in zwei und drei Dimensionen zu erfassen“59. So einfach diese Prämisse klingt, so komplex sind ihre Folgen. Anschaulich erschließt sich dem Betrachter, einem Bausatz einfachster Formen vergleichbar, eine Abfolge von offenen und geschlossenen geometrischen und stereometrischen Formen, deren Modul oder Maßeinheit im Grundriss das 55 Franz, Erich: Die Verflüchtigung des Sichtbaren. Werke nach 1945 im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Münster 1999, S. 94. 56 Franz (wie Anm. 55), S. 94f. 57 LeWitt, Sol: „Der Kubus“ (1966), in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 185. 58 LeWitt, Sol: „Serial Project No. 1 (ABCD)“ (1966), in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 181. 59 LeWitt (wie Anm. 58), S. 182.
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Quadrat ist. Auf einer quadratischen Platte, die in 25 x 25 gleichgroße Quadrate gitterartig unterteilt ist, treten neben dem Quadrat selbst Würfel und Quader mit quadratischer Grundfläche auf, teils als geschlossene Flächen oder Körper, teils als bloß umrandete Flächen oder offene (Hohl)Körper, teils mit der Grundfläche eines Quadrats, teils mit der Grundfläche von 3 x 3 Quadraten. Unterschiedliche Lese- und Folgeformationen bieten sich an, die alle gleichermaßen logisch, systematisch und endlich sind. So kann man die Gesamtkonstellation von offenen und geschlossenen Formen in vier Gruppen unterteilen – sie geben der Arbeit mit den vier Buchstaben A, B, C, D den Titel –, insofern die Teile der Gruppe A innen offen und außen offen sind, die Teile der Gruppe B innen geschlossen und außen offen sind, die Teile der Gruppe C innen offen und außen geschlossen sind, die Teile der Gruppe D innen geschlossen und außen geschlossen sind. Zugleich sind die Teile, wie Sol LeWitt selbst in seinem die Arbeit begleitenden Text notiert, „in drei Reihen zu je drei Formen angeordnet. Jede Reihe enthält drei verschiedene Teile und drei gleiche Teile. Die inneren Formen einer Dreier-Reihe werden nacheinander gelesen, ebenso die äußeren Formen“60, d.h. jedes Element ist Teil von zwei Dreier-Reihen: In der einen Dreier-Reihe bleibt die innere Form, in der anderen Dreier-Reihe bleibt die äußere Form gleich. Kein Element ist wichtiger als ein anderes, die Elemente treten ausschließlich koordinativ zusammen. „Dabei erweist sich die Definition als so vollständig, daß man das materielle Objekt sozusagen aus den Augen verliert, wenn man die ihm zugrundeliegende Konzeption einmal erfaßt hat. Man ‚sieht‘ dann sogar innerhalb geschlossener Kuben kleinere geschlossene oder offene Körper, die allein aus dem Bauplan ‚notwendig‘ werden.“61 So einfach LeWitts „Serial Project No. 1 (ABCD)“ als eine durch das Konzept bzw. die Idee kontrollierte und nach wenigen vorgegebenen Regeln axiomatisch exekutierte Struktur auch sein mag, so komplex erscheint die Arbeit in der Anschauung, insofern die Dualität des Idealistischen und des Perzeptualistischen der Form gesteigert und hinsichtlich der jeweiligen Geltung des Gesehenen und des Gewussten für den Betrachter bis zur Paradoxie voran getrieben wird. Anders als manche Interpreten, die in LeWitts seriell variierten Platonischen Körpern den ‚Triumph‘ der Abstraktion im Sinne eines – unanschaulichen – Rationalis-
60 LeWitt (wie Anm. 58), S. 183. 61 Franz (wie Anm. 55), S. 96.
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mus und Determinismus erkennen wollen62, hat der Amerikaner gerade sein Interesse an den anschaulichen Paradoxien des „Serial Projects“ artikuliert und dementsprechend das Programm seiner Konzeptuellen Kunst festgelegt: „Irrationale Gedanken sollten streng und logisch verfolgt werden.“ Offensichtlich ist es gerade der „Widerspruch zwischen der logischen, seriellen Klarheit und der Klarheit, die dem Auge zugänglich ist […], der LeWitt fasziniert. Ihm geht es nicht um die Demonstration der Abstraktionsfähigkeiten des menschlichen Geistes. ‚Konzeptuelle Künstler sind eher Mystiker als Rationalisten. Sie gelangen sprunghaft zu Lösungen, die der Logik verschlossen sind‘, kommentiert LeWitt den Verdacht der Huldigung von Rationalität in seinen ‚Sentences on Conceptual Art‘“63. Denn es ist nicht der ideale, stereometrische Körper, der als ‚bloßes‘ Objekt fasziniert (im Gegenteil: er war von LeWitt ja gerade ausgewählt worden, weil an ihm eigentlich nichts fasziniert). Es ist das bloße Objekt, das – qua Serialisierung als ein gesehenes und insofern ‚spezifisches‘ Objekt – irritiert.
Abb. 8: Sol LeWitt, „Incomplete Open Cubes“, 1974
62 Vgl. Krauss’ Kritik an der LeWitt-Rezeption von Kuspit, Gablik und Lippard in: Krauss, Rosalind: „LeWitt in Progress“, in: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hrsg. v. Herta Wolf, Dresden 2000, S. 299-314. 63 Schmidt, Eva: Kunstwerk des Monats im Mai 1991: Sol LeWitt. URL: www.lwl.org/LWL/Kultur/Landesmuseum/kdm/moderne. Vgl. zur Funktion des Seriellen im Post/Minimalismus auch Bippus, Elke: Serielle Verfahren. Pop Art, Minimal Art, Conceptual Art und Postminimalism, Berlin 2003, insbes. das Kapitel „Spezifische Objekte zwischen Selbstidentität und serieller Differenzbildung“, S. 72ff.
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LeWitts spätere Arbeiten sollten dieses Auseinanderstreben des Essentialistischen (in der rationalen Greifbarkeit der idealen Form) und des Perzeptualistischen (in der optischen Ungreifbarkeit seiner Ansichten) forcieren und dabei bezeichnender Weise die Fotografie ins Spiel bringen. Die Faszination des Widerspruchs zwischen dem Gesehenen und dem Gewussten hat LeWitt etwa in den ,Incomplete Open Cubes‘ (Abb. 8) und hier insbesondere in der Gegenüberstellung von seriellem Objekt, Zeichnung und Fotografie realisiert. ,Incomplete Open Cubes‘ zeigt 122 Variationen eines unvollständigen Würfels, d.h. eines Würfels, dem mindestens eine und maximal neun Seiten fehlen. Obwohl die gewusste Form des vollständigen Würfels mit 6 identischen Flächen, 12 identischen Kanten und 8 Ecken in Form des rechten Winkels höchst regelmäßig ist, fehlende Einheiten also in der Vorstellung zweifelsfrei ergänzt werden können, ist die gesehene Form der unvollständigen Würfel überraschend vielfältig. Sol LeWitt hat diese Vielfältigkeit sowohl bei der Festlegung des seriellen Systems, das nicht primär mathematisch, sondern unter Berücksichtigung der Spiegelungs- und Rotationslogik anschaulich kontrolliert wurde64, als auch bei der Durchformulierung der Arbeit mittels Zeichnung und Fotografie zugrunde gelegt. Jeder Kubus wurde dementsprechend nicht nur als Modell und Objekt, sondern zugleich als isometrische Zeichnung und als Fotografie realisiert (Abb. 9 a-b).
Abb. 9 a-b: Sol LeWitt, „Incomplete Open Cubes“, 1974
Gerade in der Gegenüberstellung von Zeichnung und Fotografie hat sich LeWitt für „the structural implications of objects that cannot be seen by the arrangement of those that can“65 interessiert. Während nämlich die isometrische Zeichnung als Parallelprojektion im Sinne der technischen Zeichnung durch die rechtwinklige orthogonale Projektion maßgenaue Angaben über die Konstruktion des Würfels jenseits der gewohnten An64 Die Findungsversuche für das serielle System von „Incomplete Open Cubes“ beschreibt Baume (wie Anm. 48), S. 23ff. 65 Baume (wie Anm. 48), S. 22.
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schauung gibt, vertraut die Zentralprojektion bzw. Perspektive, die der fotografischen Dokumentation zugrunde liegt, der Erscheinung des Würfels jenseits seiner Konstruktion, mit dem Ergebnis, dass Konstruktion und Anschauung, Gewusstes und Gesehenes nur mit Mühe in Übereinstimmung gebracht werden bzw. einem der 122 Objekte zugeordnet werden können. Insofern bewahrheitet sich bei dieser Arbeit, was Bochner in „Serial Art, Systems, Solipsism“ schrieb: „When one encounters a LeWitt, although an order is immediately intuited, how to apprehend or penetrate it is nowhere revealed. Instead one is overwhelmed with a mass of data – lines, joints, angles. By controlling so rigidly the conception of the work, never adjusting it to any predetermined ideas of how a work of art should look, LeWitt arrives at a unique perceptual breakdown of conceptual order into visual chaos.“66
Abb. 10: Sol LeWitt, „Cube“, 1988/90
Diente die Fotografie in „Incomplete Open Cubes“ vor allem dazu, die serielle Struktur des Objekts in den Paradoxien des perspektivischen Sehens zu verifizieren, so ging LeWitt mit „Cube“ (Abb. 10) noch einen Schritt weiter, insofern hier ein einziger Würfel allein mittels der Fotografie in 511 Ansichten aus einer Perspektive überführt worden ist, wobei die Fotofolge selbst schließlich als serielles Objekt ausgewiesen und installiert wurde. „Cube“67 präsentiert als Fotoinstallation die Abbildung
66 Bochner, Mel: „Serial Art, Systems, Solipsism“, in: Battcock, Gregory (Hrsg.): Minimal Art. A Critical Anthology, New York 1968, S. 101. 67 Vgl. das Künstlerbuch: LeWitt, Sol: Cube. A Cube Photographed by Carol Huebner Using Nine Light Sources and all Their Combinations 1. Top 2.
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eines Würfels, der als einfache stereometrische Grundform in 511 Lichtsituationen wiedergegeben ist. Konkret sind diese 511 Aufnahmen entstanden, indem ein weißer Würfel auf einem mit weißem Papier überdeckten Tisch in einem Fotostudio 511mal vom gleichen Kamerastandort (gegenüber der Frontfläche des Würfels) aufgenommen wurde, wobei mit 9 systematisch ausgerichteten Lichtquellen in je unterschiedlicher Schaltkombination 511 unterschiedliche Lichtsituationen realisiert wurden. 5 der 9 Lampen waren mittig auf die sichtbaren Flächen des Würfels, die restlichen 4 Lampen auf die freiliegenden oberen Ecken des Kubus gerichtet. Zunächst wurde der Würfel bei der Aufnahme von nur jeweils einer Lampe beleuchtet (das ergab 9 unterschiedliche Fotos), danach von zwei Lampen (36 Kombinationsmöglichkeiten ergaben 36 unterschiedliche Fotos), von drei Lampen (84 Möglichkeiten), 4 Lampen (126 Möglichkeiten) u.s.f., bis schließlich, mit dem Einschalten aller 9 Lampen, nurmehr eine letzte ‚Kombination‘ als Ausgangssituation für die 511. Aufnahme möglich gewesen ist. Im Vergleich der 511 Aufnahmen desselben Körpers zeigt sich, wie nachhaltig die Wahrnehmung des identischen Würfels von der Lichtsituation und der mit wechselnden Lichtsituationen wechselnden Transformation des idealen stereometrischen Körpers in die Zweidimensionalität der Fotografie abhängig ist. Das Skulpturale des Würfels, d.h. der kubische Charakter der Form, wird unter der Voraussetzung von 511 unterschiedlichen Lichtsituationen interpretiert. Dem Betrachter bleibt es schließlich überlassen, aus 511 Ansichten – allein in der Vorstellung – den einen Kubus, d.h. das identische Objekt zu generieren, was freilich nicht gelingt (bzw. gelingen kann), weil die serielle Varianz des spezifischen Objekts in der Anschauung der Idee des einen, identischen Würfels so offensichtlich widerspricht. Insofern ist es konsequent, dass Sol LeWitt mit ,Cube‘ auf die Präsentation der Skulptur, d.h. des Objekts Würfel, schließlich ganz verzichtet. Mit der seriellen Fotografie ist seine Skulptur fotografisch geworden, wie die Fotografie selbst in der seriellen Präsentation skulpturalen Charakter gewinnt. Das Verhältnis von Fotografie und Skulptur hat sich seit den 1960er/1970er Jahren nicht nur im Oeuvre Sol LeWitts grundlegend geändert. Im Zuge der offensiv propagierten Überschreitung traditioneller, medial definierter Grenzsetzungen zwischen den Künsten und im Zuge der gerade von Fotografie und Film angestoßenen intermedialen Expansion scheint die Frage nach den Spezifika dieses oder jenes Mediums naFront 3. Left Side 4. Right Side 5. Back 6. Left Rear Corner 7. Right Rear Corner 8. Left Front Corner 9. Right Front Corner, Köln 1990.
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hezu obsolet geworden zu sein. Gerade aus Sicht der Fotografie konnte dieser neuen Situation zudem mit großer Gelassenheit begegnet werden, insofern der Preisgabe des paragone zwischen Fotografie und Skulptur die Dominanz des Fotografischen in der Kunst seit den 1960er/1970er Jahren insgesamt korrespondiert. Ohne die Skulptur als Medium genauer in den Blick zu nehmen, vielmehr den paragone von Fotografie und Kunst insgesamt rekapitulierend, konstatiert etwa Philppe Dubois, an Walter Benjamin anschließend: „So sehr die Fotografie während des 19. Jahrhunderts mehrheitlich danach strebte, Kunst zu sein, so sehr weist im Verlauf des 20. Jahrhunderts die Kunst (die gesamte Kunst, in ihren innovativsten Vorgehensweisen) die Tendenz auf, gewisse Logiken (formale, konzeptuelle, perzeptuelle, ideologische und so weiter) der Fotografie zu übernehmen. Hier liegt eine symptomatische Umkehrung der Standpunkte vor, die bedingt, daß sich die (zeitgenössische) Fotografie kaum mehr als Kunst auffassen läßt […], während sich vielmehr die zeitgenössische Kunst als grundlegend von der Fotografie geprägt erweist. Nun sind es nicht mehr die Fotografen, die Kunst machen, sondern die Künstler, die in unterschiedlichster Weise fotografisch arbeiten.“68 Auch wenn man die ‚Hochrechnung‘ auf das Kunstsystem und also auf die institutionellen Bedingungen des Fotografischen in der Kunst der 1960er/1970er Jahre noch einmal gesondert thematisieren müsste, sind Dubois’ Beobachtungen für die Analyse des hier zu diskutierenden, neuen Verhältnisses von Fotografie und Skulptur von einigem Interesse. Zeigt sich doch im Fotografischwerden insbesondere der Skulptur, d.h. in der unbedingten Geltung des Gesehenen minimalistischer Formen, wie weit der Minimalismus die modernistische Frage nach den medienspezifischen Bedingungen der Skulptur vorangetrieben und deren Auseinandersetzung um den essentialistischen und/oder kontextualistischen Anteil des Skulpturalen bis zu jener „Crux“69 radikalisiert hat, die Foster als Kennzeichen des Minimalismus im Spannungsfeld von Modernismus und Postmodernismus ausgemacht hat. „Kurz und gut, der Minimalismus tritt als eine historische Crux auf, in der die formalistische Autonomie der Kunst gleichzeitig erreicht und aufgebrochen wird: das Ideal der einen Kunst wird zur Wirklichkeit irgendeines spezifischen Objekts […].“70 „Die Kunst erscheint von da an weniger als zunehmende formale historizistische Verfeinerung […] denn als strukturelle historische Negie68 Dubois (wie Anm. 44), S. 74. 69 Foster, Hal: „Die Crux des Minimalismus“, in: Stemmrich, Gregor (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 589-633. 70 Foster (wie Anm. 69), S. 610.
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rung.“71 In dieser strukturellen Negierung vermag der Minimalismus das modernistische Paradigma der Medienspezifik gleichzeitig aufzunehmen und zu überwinden. Die Skulpturenfotografie macht das in besonderer Weise deutlich. Während die Fotografien von Brancusis Figuren – seien es die kunstreproduzierenden Ablichtungen professioneller Fotografen, seien es die kunstinszenierenden Fotografien von Brancusi selbst – die Essenz der Form unter den Bedingungen ihrer Präsenz qua Wahrnehmung artikulierten, thematisiert die Skulpturenfotografie Sol LeWitts die unbedingte, je aktuelle Präsenz des Objekts in der Wahrnehmung als Essenz der Skulptur.
Ephemerisierungen Die vorangehenden Beobachtungen zur Skulpturenfotografie nahmen – der Baudelaire’schen Definition der modernité entsprechend – die Kontrastkoppelung zwischen l’éphémère und l’éternel zum Ausgangspunkt einiger historisch differenzierter Überlegungen zur Medienästhetik der Skulptur im Horizont der Fotografie. An zwei Schnittstellen – im Rahmen der Modernismus- und im Rahmen der Post/Minimalismus-Diskussion – wurde mit dem spannungsvollen Verhältnis von Fotografie und Skulptur den unterschiedlichen Lesarten des Skulpturalen im Sinne der modernistischen Abstraktion sowie der Überschreitung des Skulpturalen ausgehend vom spezifischen Objekt des Minimalismus nachgefragt. Wenn als Ergebnis dieser Überlegungen für die fotografische Skulptur des Post/Minimalismus ein grundsätzlich neues, eher der Präsenz als der Essenz verpflichtetes Verständnis des Skulpturalen zu konstatieren ist, so wird man diese Beobachtung als Hinweis auf jene Konzeptualisierung des Ephemeren im Sinne einer Ephemerisierung der Wahrnehmung verstehen dürfen, wie sie einleitend mit Krausse exponiert worden ist. Jedenfalls zeigt sich bei der fotografischen Skulptur ,Cube‘ exemplarisch, wie sich die unbedingte Geltung der Erscheinung als ephemere nicht nur am Artefakt, sondern als prozessuale Entgrenzung des Artefakts bzw. des Mediums Skulptur in der Wahrnehmung erschließt. Es ist von daher kaum verwunderlich, dass der Post/Minimalismus, etwa in den Arbeiten von Bruce Nauman und von Richard Serra, schließlich die Ephemerisierung des Skulpturalen in ganz offensiver Weise vollzieht. Angesprochen sind damit vor allem jene Arbeiten, in denen Nauman und Serra ihre plastischen Aktionen in den Medien Film
71 Foster (wie Anm. 69), S. 616.
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und Video nicht nur dokumentieren, sondern realisieren, d.h. Skulpturen, die allein als Film bzw. Video existieren, die „skulpturale Filme“72, wie Buchloh in Ermangelung anderer Gattungsbezeichnungen für Serra schrieb, bzw. skulpturale Videos sind. In ihnen wird über die minimalistische Serialisierung des Objekts hinaus eine Ephemerisierung des Plastischen betrieben, insofern Prozess und Ergebnis des skulpturalen Schaffens identisch gesetzt sind. ,Hand Catching Lead‘, 1969, beispielsweise zeigt als skulpturaler Film, wie Serra, von dem im Blickfeld der Kamera allein eine Hand zu sehen ist, immer wieder versucht, ein Stück Blei aufzufangen und zu verformen, das von oben in das Blickfeld der Kamera geworfen wird. Elementar plastisch ist dieser Film, insofern die Schwerkraft des Materials und – sofern Serra das Bleistück ‚erwischt‘ – die Formung des Materials durch den Bildhauer vorgeführt wird; die vollendete Form jedoch wird nirgends gezeigt, insofern auch das durch einen schnellen Zugriff geformte Blei sofort wieder losgelassen wird und durch das Bildfeld hindurch nach unten fällt. Wird bei Serra mit den „Praktiken der Handhabung von plastischen Materialien […] die Auflösung der traditionellen Auffassung vom geschlossenen plastischen Körper zugunsten […] einer realen prozessualen Darstellung des Herstellungsprozesses selbst [jenseits des Produkts, M.D.]“73 vorangetrieben, so haben die skulpturalen Videos von Bruce Nauman noch die bei Serra immerhin vorhandenen traditionellen plastischen Materialien (wie das Blei) vertrieben und dabei durch das Material Körper, d.h. durch die im Video wieder möglich gewordene Bezugnahme auf die Figur als Skulptur, ihrerseits die Differenz zwischen der essentialistischen und der kontextualistischen Auffassung des Skulpturalen aufzufangen gesucht. So etwa das Video „Wall-Floor-Positions“ von 1968, in dem Nauman als einziges plastisches Material seinen eigenen Körper in Aktion und als einzige skulpturale Fragestellung das Verhalten des Körpers im Verhältnis zum Koordinatensystem des Raums exponiert. In eigenartig anmutenden Bewegungen werden die Beine und Arme gegen die Wand und den Boden eines nicht näher gekennzeichneten Raumes gestemmt, werden Stellungswechsel im Koordinatensystem vollzogen, ohne dass in der prozessualen Auseinandersetzung von Körper und Raum die Findung einer Form als Resultat des Prozesses beabsichtigt ist. Benjamin H.D. Buchloh hat in dieser bei Serra und Nauman gleichermaßen beobachtbaren Ephe72 Buchloh, Benjamin H.D.: „Prozessuale Skulptur und Film im Werk Richard Serra’s“, in: Adriani, Götz (Hrsg.): Richard Serra. Arbeiten 66-77, Tübingen 1978, S. 175. 73 Buchloh (wie Anm. 72), S. 180.
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merisierung des Skulpturalen eine noch gegenüber den minimalistischen Ansätzen gesteigerte Konsequenz gesehen: Denn die Veränderung und Erweiterung des plastischen Denkens, wie sie etwa Carl Andre und Donald Judd entwickelt hatten, so folgenreich ihr Angriff auf traditionelle Formen des skulpturalen Diskurses gewesen sein mag […], so schloß er doch gerade nicht die Dimension des Prozessualen selbst ein, eben jene Analyse der Prinzipien, die plastische Phänomene allererst konstituieren […]. Erst die Erkenntnis und die Notwendigkeit der Darstellung dieser Prinzipien selbst erforderte zwingend die Einführung filmischer 74 Mittel in den skulptural-statischen Diskurs.
Folgt man Buchlohs Überlegungen zum skulpturalen Film, so wäre im Rückblick auf die Skulpturenfotografie erneut deren Indienstnahme des ehemals neuen Mediums Fotografie durch die Bildhauer aus der Erkenntnis und Notwendigkeit skulpturaler Phänomene heraus zu verstehen. Wie Brancusi im Rahmen des Modernismus und LeWitt im Rahmen des Post/Minimalismus das Medium Fotografie zum Ort der skulpturalen Selbstreflexion gemacht haben – dieser indem er die Anteile des Essentialistischen und des Kontextualistischen der Skulptur in der Fotografie probeweise verhandelte, jener indem er diese Anteile bis in die Paradoxie der fotografischen Skulptur auseinander trieb –, so zeugt auch die Indienstnahme des Mediums Films im Post/Minimalismus von einer genuin skulpturalen Selbstreflexion. Nicht zuletzt in ihrer ‚Abstammung‘ von der seriellen Fotografie werden der Film und das Video für jene Bildhauer, die angesichts der vollendeten Kontextualisierung des Skulpturalen neue Möglichkeiten der Artikulation des Essentialistischen der Skulptur – von Masse und Material (Serra) bzw. von Körper und Figur (Nauman) – suchen, zum legitimen skulpturalen Medium. Im Horizont der hier zugrunde gelegten Überlegungen zum ephemeren Sehen gibt die Auseinandersetzung mit der Skulpturenfotografie im Modernismus und Post/Minimalismus deshalb nicht nur ein Exemplum für die Verhältnisbestimmung des ,Ephemeren‘ und der ,Ephemerisierung‘ der Wahrnehmung, sondern es zeigt sich in dieser Auseinandersetzung zugleich ein mit der zunehmenden Ephemerisierung je neu strukturiertes Verhältnis von Wahrnehmung, Artefakt und Medium.
74 Buchloh (wie Anm. 72), S. 178.
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VOM ERSCHEINEN UND VERSCHWINDEN DER GEGENSTÄNDE. FUTURISTISCHE VISIONEN Ganz unzweifelhaft ist das Problem der Imagination und der Repräsentation von Zeit ein uraltes Problem philosophischer und medialer Reflexionen und Praktiken, und die augustinische Frage „Was also ist Zeit?“1 ist je nach dem Stand der theologischen, anthropologischen und technischen Möglichkeiten unterschiedlich beantwortet worden. Schrift und Bild, so will es scheinen, sind in der langen Folge der Inszenierung von Zeit als einer apriorischen, selbst unsinnlichen, jeder Wahrnehmung vorgelagerten Kategorie und namentlich ihrer Ausdifferenzierung in kalendarisch-historische und imaginär-introspektive Zeit wechselnde Konvergenz- und Konkurrenzverhältnisse eingegangen. Diese sind sehr früh einerseits sowohl zu beobachten in den bildlichen Narrationen geschichtlicher Ereignisse, beispielsweise den Relieferzählungen der Trajanssäule, der insbesondere Aby Warburg im Kontext seiner Definition der „Pathosformel“ Aufmerksamkeit zukommen ließ2, als auch in den Geschich1 Augustinus, Aurelius: Was ist Zeit? Confessiones XI/Bekenntnisse 11. Lateinisch/Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Norbert Fischer, Hamburg 2000. Vgl. hierzu: Meyer, Winfried: Augustins Frage ‚Was ist denn Zeit?‘, Würzburg 2004; Weis, Kurt (Hrsg.): Was ist Zeit? München 1995; Flasch, Kurt: Was ist Zeit?, Frankfurt a.M. 1993; Baumgartner, Hans Michael (Hrsg.): Zeitbegriffe und Zeiterfahrung, Freiburg/München 1994; Baumgartner, Hans Michael (Hrsg.): Das Rätsel der Zeit: Philosophische Analysen, Freiburg/München 1993. 2 Warburg, Aby Moritz: Der Bilderatlas Mnemosyne. Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hrsg. v. Horst Bredekamp/Michael Diers/Kurt W. Forster/Salvatore Settis/Martin Warnke, Bd. II.1, Abt. 2, Berlin 2000, sowie: Warburg, Aby Moritz: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hrsg. v. Horst Bredekamp/Michael Diers, Bd. I.1, Abt. 1, Berlin 1998. Vgl. auch Didi-Huberman, Georges: L’image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002; Michaud, Philippe-Alain: Aby Warburg et l’image en mouvement, Paris 1998; Raulff, Ulrich: Der unsichtbare Augenblick. Zeit-
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ten, welche der Bildteppich von Bayeux seinen Betrachtern vor Augen führt; sie prägen andererseits die lange Geschichte der bildlichen und räumlichen Metaphoriken, mittels derer die innere Zeit, wie Aleida Assmann u.a. gezeigt haben3, wenn nicht verfügbar, so doch der Vorstellungskraft näher gebracht wurde. Im Folgenden sollen einige Beispiele der ,Zeit im Bild‘ aus dem Umkreis der so genannten historischen Avantgarden des beginnenden 20. Jahrhunderts gezeigt werden, anhand derer sich offenbar ein Spannungsverhältnis nicht nur der Künste, sondern auch der Wissenschaften im Hinblick auf die Konzeptualität von Zeit, Materie und Medien sowie der Methodologie im Hinblick auf ihre Repräsentation darstellen lässt. Es ist ein Spannungsverhältnis, welches nicht nur Auskunft gibt über Intermedialität als „wechselseitige Erhellung der Künste“4, sondern durchaus auch über die Möglichkeiten einer wechselseitigen Erhellung der „two cultures“5. Es sind zunächst unbestritten die großen Zeiterzählungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, welche die Wahrnehmung und Darstellung von Zeit als Wechselspiel von Erzählstrom, Zerstückelung und Auslese einerseits, als Ereignis und Nachträglichkeit andererseits inszenieren, und Thomas Mann, Marcel Proust, James Joyce, aber auch Alfred Döblin müssen hier selbstverständlich zuerst genannt werden. Es sind sodann Theorie und Praxis der bildenden Künste und der technischen Bildmedien, innerhalb derer die Wahrnehmung und die Darstellung des Wechselverhältnisses von Materie und Zeit auf dem Prüfstand stehen und in den Visualisierungspraktiken experimentell exploriert wurden. Dieses geschah zum einen im Bereich der Skulptur als einem Medium dreidimensionaler Körperbilder im Raum (Abb. 1 und 2) – und diese emblematische Skulptur des Futurismus stellt dezidiert die Festigkeit und Abgeschlossenheit des Körpers in Frage, um stattdessen Raum, Zeit, Materie und Energie als zusammenhängendes System zu visualisieren.
konzepte in der Geschichte, Göttingen 2000; Raulff, Ulrich: Wilde Energien. Vier Versuche über Aby Warburg, Göttingen 2003. 3 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. 4 Walzel, Oskar: Wechselseitige Erhellung der Künste, Berlin 1917. Vgl. auch: Zima, Peter V. (Hrsg.): Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt 1995. 5 Snow, Charles P.: The Two Cultures and the Scientific Revolution, New York 1959. Vgl. hierzu: Kreuzer, Helmut (Hrsg.): Die zwei Kulturen – literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P. Snows These in der Diskussion, Stuttgart 1987.
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Abb. 1-2: Umberto Boccioni: Forme uniche della continuità nello spazio/ Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum, 1913
Abb. 3: Giacomo Balla: Dinamismo di un cane al guinzaglio/ Dynamismus des Hundes an der Leine, 1912 Es geschah zum anderen auch im Bereich der Malerei, der Photographie und des Films als flächigen Medien. Man sieht hier, dass Giacomo Ballas Gemälde von 1912, Dinamismo di un cane al guinzaglio/Dynamismus eines Hundes an der Leine, ein intermediales Bildzitat – Tschechows Erzählung Die Dame mit dem Hündchen – in Bewegung versetzt und die Zeit der Bewegung markiert als den Raum überschreitende, ausfransende
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Strecke6 (Abb. 3, vgl. auch Bambina che corre sul balcone, 1912). Balla und Boccioni (Abb. 1 und 2, Forme uniche della continuità nello spazio, 1913) inszenieren hier, vielleicht nicht ohne den Effekt des Vergeblichen oder Burlesken, für den Bereich der traditionellen Künste jene differentiellen Spielräume von Gegenständlichkeit und Wahrnehmung, die für die Photographie und Kinematographie von Henri Bergson und Anton Giulio Bragaglia reflektiert und erprobt wurden. Es sind zuletzt die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften, namentlich der Quantenmechanik, welche auch das Verhältnis von Materie, Bewegung und physikalischer Zeit als eine unhintergehbare Liaison formulieren und zugleich die Wahrnehmung und Darstellung beider als „Relativität“ und „Unbestimmtheit“ oder „Unschärfe“ binden. Hier sind Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg zu nennen, auf deren Forschungen Dichtung, Malerei, Photographie Bezug nehmen, die andererseits freilich, wie so häufig im Verhältnis von Künsten und Wissenschaften, teilweise imaginär und experimentell antizipieren, was erst später als Gegenstand oder Methode der Forschung formuliert wird.7 Als zwei Schlüsselbegriffe, mittels derer sich Status und Topologie sowie Bewegung und Zeitlichkeit von Körpern in Bildgebungsverfahren und Wahrnehmungsreflexionen beschreiben lassen, erscheinen Morphologie und Synthese. Man kann beginnen mit einem Hintergrundgeräusch, dem Raunen des Erzählers, mit dem Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder (1926-42) einsetzt, einer Stimme, die immer wieder, wie aus dem „off“, in das Schrift-Bild, gleichsam die „gefestigte Zeichensprache“8 des tellurischen Mythos, der uralten „Sprache des Mundes“9 eingelassen ist und eine Medienzäsur überschreibt, die eher Passage denn Schnittstelle ist. Die Zeit hat ungleiches Maß...Geschichte ist das Geschehene und was fort und fort geschieht in der Zeit. Aber so ist sie auch das Geschichtete und das Geschichte, das unter dem Boden ist, auf dem wir wandeln, [...] so daß wir in minder genauen Stunden in der ersten Person davon sprechen...10
6 Vgl. Derrida, Jacques: L’écriture et la différence, Paris 1967; Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien, Frankfurt a.M. 2002, S. 124. 7 Vgl. Bocola, Sandro: Die Kunst der Moderne. Zur Struktur und Dynamik ihrer Entwicklung, München 1997. 8 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1971, S. 19. 9 Mann (wie Anm. 8). 10 Mann (wie Anm. 8), S. 138.
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[Doch] ...es ist auf die Dauer völlig unmöglich, das Leben zu erzählen, so, wie es sich einstmals selbst erzählte. Wohin sollte das führen? Es führte ins Unendliche und ginge über Menschenkraft. Wer es sich in den Kopf setzte, würde nicht nur nie fertig, sondern erstickte schon in den Anfängen, umgarnt vom Wahnsinn der Genauigkeit. Beim schönen Fest der Erzählung und Wiedererweckung spielt die Aussparung eine wichtige und unentbehrliche Rolle.11
Die Stimme bricht ironisch die Linearität und das a tempo der Buchstabenfolge, setzt Metonymien und Metaphern, Verschiebung und Verdichtung der Narration sowie die Heterochronien und Intensitäten oder Kontraktion und Abspannung12 der erinnerten oder geträumten Zeit gegen eine unerschütterliche, gleichmütige Schriftspur, die im Gleichschritt mit der kalendarischen, newtonschen Zeit geht, „deren größere Einheiten vergehen, wie die kleinen es tun – weder schnell noch langsam, sondern sie vergehen einfach“13. Die Erzählerstimme umspielt so, in der Reflexion auf die Zeit als „das (von allen unheimlich vertrauten Rätseln) am wenigsten gelöste“14, auf die Blindheit und Dynamik von Geschichten, auch die trügerische Analogie von Wort und Schrift, ohne diese Analogie selbst, wie zuvor die „parole libere“ der Avantgardisten, visuell und performativ aufzumischen. Es ist Henri Bergson, der bekanntlich mit seinem Begriff der durée genau jene prozessuale, von Zwischenräumen, Einzigartigkeiten und Intensitäten geprägte Wahrnehmungszeit umschrieb, die er, literarisch medialisiert, am ehesten wieder fand in der Schreibweise Prousts, der sich über viele Seiten lang der Empfindung eines einzigen Augenblicks annäherte. Und doch, so äußerte sich Bergson, könne noch für ihn gelten, was er über einen potentiellen „romancier hardi“, einen kühnen Romanautor, entwickelt habe in seinem Essai sur les données immédiates de la conscience (1889, dann erstmals 1911 als Zeit und Freiheit übersetzt), […] eben weil er unser Gefühl in eine homogene Zeit entfaltet und dessen Element in Worten ausdrückt, vermittelt er uns auch wieder einen Schatten davon; bloß hat er dies Schattenbild so entworfen, daß er uns dabei die besondere und unlogische Natur des Gegenstands ahnen läßt, der es projiziert“/„...et par cela même qu’il déroule notre sentiment dans un temps homogène et en exprime les éléments par des mots, il ne nous en présente qu’une ombre à son tour: seulement, il a disposé cette ombre de manière à nous faire 11 Mann (wie Anm 8), Bd. 3, S. 1108. 12 Vgl. Deleuze, Gilles: Henri Bergson zur Einführung, hrsg. v. Martin Weinmann, Hamburg 1997, S. 95ff. 13 Mann (wie Anm.8), S. 200. 14 Tholen (wie Anm. 6), S. 127.
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WALBURGA HÜLK/MARIJANA ERSTIû soupç onner la nature extraordinaire et illogique de l’objet qui la projette…15
Aber selbst die Eindrücke, die er in einer ‚pénétration infinie“, einer unendlichen Durchdringung sehen lässt, „(haben) im Augenblick, wo sie benannt werden, bereits zu sein aufgehört“. Was Bergson, der ja bekanntlich durch Gilles Deleuze16 für die Medienwissenschaft rezipiert wurde, hier formuliert, ist also ein Denkbild, das noch in der Konstruktion einer zeit-räumlich gedachten Homogenität der Materie ihr Diskontinuierliches markiert, wie er es dann vor allem 1896 in Matière et mémoire ausführt. Bergson, der im ürigen immer wieder von pluralisierten „durées“ spricht – die es im Deutschen nicht gibt –, betont damit, beginnend mit dem Essai... von 1889, die Heterogenität der „Dauern“, ihre Übergänge und Asymmetrien17. Noch die avancierteste und mutigste Schrift, als die Bergson Prousts A la Recherche du temps perdu anerkennen wird, kann demnach nichts anderes vermitteln als die paradoxale Homogenität und Nicht-Identität dieser „passages“. Das ist, im besten Fall, ihr Verdienst und ihre Verfehlung zugleich. „Sitzen wir“, so schreibt Bergson selbst buchstäblich poetisch 1922 in Durée et simultanéité (Dauer und Gleichzeitigkeit), am Ufer eines Flusses, sind für uns, ohne daß wir festgelegt wären, das Fließen des Wassers, das Vorbeiziehen eines Schiffes oder der Flug des Vogels und das niemals abbrechende Gemurmel unseres inneren Seelenlebens, je nachdem, drei verschiedene Dinge oder eine einzige Sache…18
Wie steht es nun um die technischen Bildmedien, Photographie und Kinematographie? Um mit letzterer zu beginnen: Bergson lässt keinen
15 „Que si maintenant quelque romancier hardi, déchirant la toile habilement tissée de notre moi conventionnel, nous montre sous cette logique apparente une absurdité fondamentale, sous cette juxtaposition d’états simples une pénétration infinie de mille impressions diverses qui ont déjà cessé d’être au moment où on les nomme, nous le louons de nous avoir mieux connus que nous ne nous connaissions nous-mêmes. Il n’en est rien cependant, et par cela même…“ Bergson, Henri: Essai sur les données immédiates de la conscience. Œuvres, hrsg. v. André Robinet, Paris 1970, S. 99. 16 Deleuze, Gilles: Cinéma I.: L’image-mouvement, Paris 1983; Deleuze, Gilles: Cinéma II.: L’image-temps, Paris 1985. 17 Vgl. Vrhunc, Mirjana: Bild und Wirklichkeit, Zur Philosophie Henri Bergsons, München 2002, S. 52ff. 18 Bergson, Henri: Durée et Simultanéité. A propos de la théorie d’Einstein. Mélanges, hrsg. v. André Robinet, Paris 1972, S. 67. Hier in der Übersetzung zit. nach: Deleuze (wie Anm. 12), S. 104.
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Zweifel daran, dass das Kino ein, wie Deleuze sagt, „faux allié“19 ist, ein falscher Verbündeter oder trügerischer Freund, ein „faux ami“ (wie es in der französischen Linguistik für eine nahe liegende, aber falsche Übersetzung heißt), und die bewegten Bilder des Kinos und ihre Faszinationskraft verdanken sich für ihn lediglich einer Technik, die sich, wie jede künstlerische Form, erstarrter Momentaufnahmen bedient und damit noch einmal den Zenonschen Irrtum begeht: […] avec de l’immobilité, même indéfiniment juxtaposée à ellemême, nous ne ferons jamais du mouvement.“20/„Mit der Immobilität, selbst wenn sie bis ins Unendliche nebeneinandergestellt ist, werden wir niemals Bewegung herstellen. (Übs. W. Hülk)
Bergsons Verdikt trifft die arglistigen Tricks des Kinematographen, „l’artifice du cinématographe“, der in einem Prozess der Aneinanderreihung zerstückelter „instantanées“ und Gebärden die Illusion des Marsches einer Armee produzieren könne (als Illusion einer Parade übrigens, die Lachen hervorruft, wie Bergson in seiner Abhandlung über das Lachen, Le Rire, darlegt21). Damit entspreche seine Technik zwar dem gleichermaßen kinematographischen Charakter der Wahrnehmung, die den Strom der Ereignisse, ihre Zwischenräume und Passagen, zergliedere in eine Folge momentaner Zustände. Aber sie entspreche damit eben auch genau ihrer verkennenden Repräsentation der Dinge und des Lebens. Das grundsätzlich Supplementäre, Antizipation und Verspätung der Wahrnehmung und Repräsentation, wie sie dann Jacques Lacan22 und Jacques Derrida23 formulieren werden, sind genau hier angelegt als Paradox der anthropologisch zwingenden Strukturierung des Eigenen und Anderen, der Dinge und der Bilder UND der gleichzeitigen Verkennung ihrer tiefsten Impulse, die sich der Form im Augenblick ihrer Fixierung immer schon wieder entzogen haben werden. Jede Form, und in ihrer Zuspitzung noch der kinematographische „falsche Freund“, ist für Bergson „nur eine von einem Sich-Wandeln gewonnene Momentaufnahme“24, die einer trügerischen Mimesis gehorcht und deshalb von ihm ersetzt wird
19 20 21 22
Deleuze (wie Anm. 12), S. 84. Bergson, Henri: L’évolution créatrice, Paris 1913, S. 305. Bergson, Henri: Le rire. Essai sur la signification du comique, Paris 1988. Lacan, Jacques: „L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud“, in: Écrits, Paris 1966, S. 493-528; Lacan, Jacques: „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je“, in: Écrits, Paris 1966, S. 93-100. 23 Derrida (wie Anm. 6). 24 Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung, Zürich 1967, S. 304f.
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durch die epistemologische und künstlerische Methode der Intuition, die sich einer fixierenden und disjunktiven Begriffsbildung versagt und stattdessen die Prozessualität und wechselseitige Durchdringung von Subjekt und Objekt vergegenwärtigt. Ein zunächst sympathetisches, unscharfes „entrevoir“ (auch: „sentiment vague“) wird hier dezidiert als Erkenntnisimpuls eingesetzt. Es ist eine Reflexion, die sich so wieder findet bei einigen Künstlern, die dem Futurismus zugeschlagen werden, namentlich bei Boccioni und Bragaglia, deren experimentelle Praktiken der immer wieder proklamierten, provokativ und performativ inszenierten „Rückführung der Kunst ins Leben“ eine zusätzliche, über den Umbruch des kulturellen Feldes hinausreichende Bedeutung zukommen ließen: jene nämlich der Annäherung der Kunst an das Leben als einer unaufhörlichen Bewegung: Der Künstler muss Teil des Lebensflusses werden, denn „alles bewegt sich, alles rennt, alles verwandelt sich in rasender Eile“, schreibt Boccioni 1910 im Technischen Manifest der futuristischen Malerei25, und er forderte, die Kunst müsse neue Formen entdecken, welche den zu schaffenden Gegenstand „unsichtbar, aber mathematisch berechenbar an das äußere bildnerische Infinitum und an das innere bildnerische Infinitum binden“26. Wie Bergson lehnte auch Boccioni, der diese neuen Formen mit der gezeigten Skulptur erprobte (Abb. 1 und 2), das Kino als ungeeignet ab, und mit Bragaglia verband ihn eine Polemik gegen die Photographie als einem Medium des Erstarrten, Toten – ein Aspekt, der sich bis in neuere Phototheorien Derridas und Roland Barthes’ hinein verfolgen lässt. Bragaglia freilich erfand eine spezielle Form der Photographie, den „fotodinamismo“, den er, nachdem er ihn bereits praktisch erprobt hatte, 1912 in seinem Manifest Fotodinamismo futurista theoretisch legitimierte.27 Es ist demnach – und ist es in der Tat – eine Technik, die in besonderer Weise das Bestreben einer Medialisierung des „bildnerischen Infinitums“ im Bild selbst vor Augen führt, wie Boccioni es formuliert hatte. Er muss als Antithese der frühen Kinematographie gesehen werden, die ja mediengeschichtlich – durchaus im Einklang mit Bergson – in die Nachfolge der lebhaft rezipierten morphologisierenden 25 Boccioni, Umberto/Carrà, Carlo D./Russolo, Luigi/Balla, Giacomo/Severini, Gino: „Die futuristische Malerei – Technisches Manifest“, in: SchmidtBergmann, Hansgeorg: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek b. Hamburg 1993, S. 307-310, hier: S. 307. 26 Boccioni, Umberto: „Die futuristische Bildhauerkunst“, in: SchmidtBergmann, Hansgeorg: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek b. Hamburg 1993, S. 316-323, hier: S. 317. 27 Bragaglia, Anton Giulio: Fotodinamismo futurista, Torino 1970.
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Abb. 4: Marcel Duchamp: Acte descandant l’escalier nº 2/Akt eine Treppe herabsteigend Nr. 2, 1912 Abb. 5: Eliot Elisofon: Duchamp descending a staircase/Duchamp die Treppe herabsteigend, 1952 Chronotopien Mareys und Muybridges gestellt wird, welche die sequentiellen Stadien unterschiedlicher Bewegungsabläufe analytisch aufzeichnen, mit vielleicht eher physikalischem Gestus seitens des Ingenieurs Marey und ästhetischem seitens des Weltmannes Muybridge.28 Und es ist eine Technik, die hinausgeht über die Zerlegung von Bewegungsabläufen, wie sie sich simultan wieder findet in der von der Chronophotographie inspirierten Malerei, Duchamps bekanntem Bild Acte descandant l’escalier (1912), (Abb. 4), hier zusammen mit einer Chronophotographie, die ihn beim Herabsteigen einer Treppe zeigt (Abb. 5) oder den Bildern von Balla (Abb. 3 und 6). Im ,fotodinamismo‘ sieht man vielmehr, und das zeigt eine Gegenüberstellung von Ballas Bild Le mani del violinista/Die Hände des Geigers oder Rhythmus des Geigenspiels (1912) einerseits (Abb. 6), und Bragaglias Suonatore di violoncello (1913/14) andererseits (Abb. 7), die Komprimierung eines Gegenstands, der im Bild zugleich morphologisiert und synthetisiert, energetisch auf28 Vgl. Braun, Marta: Picturing Time – The Works of Etienne Jules Marey, Chicago 1993. Lefebvre, Thierry/Malthête, Jacques/Mannoni, Laurent (Hrsg.): Sur les pas de Marey. Sciences et cinéa, Paris 2003.
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geladen und homogenisiert wird. Geht es bei Balla um die Zerlegung der Handbewegungen des Musikers und den Rhythmus, die Zeitlichkeit seines Spiels, inszeniert Bragaglia den Schattenraum einer Geste, die Unbestimmtheit eines Gegenstands und den Zwischenraum eines Augenblicks intermedial als Vibration und Intensität, mittels derer der Betrachter ins
Abb. 6: Giacomo Balla: Le mani del violinista/Die Hände des Geigers, 1912
Abb. 7: Anton Giulio Bragaglia: Suonatore di violoncello/Der Cellist, 1913/14
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Bild gerückt werden soll, ohne, wie Heisenberg 1926 zeigen wird, in der Lage zu sein, gleichzeitig den Ort und die Energie seines Objekts sowie Gegenwart überhaupt bestimmen zu können.29 (Erwin Schrödinger spricht später von Wellen und Schwingungen30). Dauer kann so als höchster Kontraktionsgrad der Materie31, des Gegenstands im Werden begriffen werden, und der sogenannte „Dynamismus“ inszeniert Materie, Raum und Zeit als ein zugleich homogenes und differentielles Gefüge, das als grundsätzlich Ephemeres, als Passage, als Trajekt noch das morphologische Interesse der Chronotopien dekonstruiert. Das kann auch gezeigt werden an zwei Portraits, den in der Phototheorie klassischen Bildern des Erstarrten und den Porträts als dominantem Genre der Photographie um die Jahrhundertwende. Man sieht zum einen ein photodynamisches Portrait von Boccioni, erst Gianetto Bisi zugeschrieben (o.J.), aber doch wohl von Bragaglia, Ritratto polifisiognomico di Boccioni, (1912/13), (Abb. 8), sowie das Selbstporträt Bragaglias von 1911 (Abb. 9).
Abb. 8: Anton Giulio Bragaglia: Ritratto polifisiognomico di Boccioni/ Boccionis poliphysiognomisches Porträt, 1912/13
29 Heisenberg, Werner: Physik und Philosophie, Berlin 1959. 30 Vgl. Schrödinger, Erwin: Die Struktur der Raum-Zeit, Darmstadt 1987. 31 Deleuze (wie Anm. 12), S. 117.
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Abb. 9: Anton Giulio: Autoritratto/Selbstporträt, 1911 Die Auseinandersetzung mit der Zeit- und Gedächtnisphilosophie Bergsons vollzieht sich auch in aktuellen Kunstinstallationen, die innerhalb bildästhetischer Reflexionen des Medienumbruchs 2000 zu situieren sind. Beispielhaft kann hier der Ansatz des zeitgenössischen französischen Künstlers Alain Fleischer vorgestellt werden.32 Fleischers weites Arbeitsspektrum, das Raum- und Video-Installationen ebenso wie Literatur oder fiktionale und dokumentarische Filme33 einschließt, offenbart eine aus interdisziplinären Überschneidungen resultierende „attitude d’avant-garde“34, und insbesondere seine Raum- und Photoinstallationen 32 Die Anregung für folgende Überlegung wurde dem Vortrag „Intermedialität als Inframedialität“, 27. Oktober 2003, Siegen, von Michael Wetzel entnommen. Vgl. auch Grivel, Charles: „Stella im Namen des Himmels. Die Fotografie nach Alain Fleischer (und einigen Vorläufern)“, in: Pias, Claus (Hrsg.): Dreizehn Vorträge zur Medienkultur, Weimar 1999, S. 41-70; abgekürzt in: Schade, Sigrid/Tholen, Georg Christoph (Hrsg.): Konfigurationen: Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 388-399. Im Folgenden wird nach der ersten Fassung zitiert. 33 Zu den Filmen vgl. Fleischer, Alain: „Oscure cerimonie. A proposito di alcuni miei film (1995)“, in: XXXVIII Mostra Internazionale del Nuovo Cinema (Ausstellungskatalog), hrsg. v. Alessandro Borri, Pesaro 2002, S. 168; Klossowski, Pierre: „Du simulacre“, in: Cahiers du Musée National d’Art Moderne, 12 (1983), S. 178-181; Bouisset, Maiten: „Recherche Christian B. désespérément“, in: Beaux-Arts, 84 (1990), S. 77-83. 34 Le Diaphane & l’Obscur. Une histoire de la diapositive dans l’art contemporain (Ausstellungskatalog), Paris 2002, S. 114. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Fleischer, Alain: „La conversation imprudente/Rash
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bezeugen ein mit den historischen Avantgarden vergleichbares Interesse am Collagieren der Darstellungsmedien, -gegenstände und -motive sowie am Spiel mit den Repräsentationsmöglichkeiten von Bewegungsabläufen im Bild.35 Die vom lebensphilosophischen Zeitansatz sowie von der Engrammtheorie und Ikonologie ausgehende36 und aktuell von Philippe-Alain Michaud und Georges Didi-Huberman theoretisch verhandelten Überlagerungen der perzeptiven Engramme einerseits und der Photogramme andererseits37 ist genauso wie die Inszenierung einer dissoziativen Wahrnehmung eines seiner zentralen künstlerischen Themen. Ausgehend von der These, dass die Performanzen Fleischers den ephemeren und hybriden Charakter der Wirklichkeits-Repräsentationen und -Wahrnehmungen als ein reziprokes Verhältnis zwischen den mentalen Inhalten und dem Konkret-Sichtbaren visualisieren, das gerade im Medium der Photographie erhellt werden kann, wird innerhalb der kommenden Ausführungen die Konsequenz dieses Wahrnehmungs- und Photographieverständnisses für den Status des Bildes im aktuellen Medienumbruch am Beispiel zweier Installationen exemplarisch analysiert. Die Rauminstallation La Vague Gelée (1996)38 durchleuchtet augenscheinlich die Bergsonsche „Tücke des Kinematographen“ (Abb. 10-18), und bereits der dichotome Installationstitel, in dem implizit das „Einfrieren“ bzw. „Gelieren“, mithin auch das Anhalten des filmischen Bilderflusses angedeutet wird, könnte die Kritik an einer aus dem Statischen resultierenden Bewegung einschließen. Auch dekonstruiert die aus einem laufenden Projektor, dem Filmstreifen, vier Negativ-Photographien des Meeres und einer Leinwand bestehende Installation in ihrer Gesamtheit das zitierte Kinodispositiv. Während die an der ‚Projektionsleinwand‘ angebrachten Negativ-Photographien – allesamt vergrößerte stills der projizierten filmischen Meeresbewegung – genauso wie die perforierten Filmränder auf den Ursprung der Projektion verweisen, ist das
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Conversation. Entretien avec Hervé Gauville“, in: Art Press, 196 (Nov. 1994), S. 24-33. Das Spiel mit den Klischees und deren Dekonstruktion kommt auch in den Photographien (vgl. Fleischer, Alain/Racine, Bruno: Lebenskunst in der Toskana, Hildesheim 2000) und in den Ausstellungen zutage: vgl. Fleischer, Alain: „Das Spiel der Regel“, in: Amelunxen, Hubertus von et al. (Hrsg.): Fotografie nach der Fotografie, München 1996, S. 182-187. Vgl. Semon, Richard: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1911; zu Warburg s. Anm. 2. Vgl. Didi-Huberman, Georges: Ouvrir Venus. Nudité, rêve, cruauté, Paris 2001; Didi-Huberman (wie Anm. 2); Michaud (wie Anm. 2). La vitesse d’évasion. Alain Fleischer (Ausstellungskatalog mit DVDROM), hrsg. v. Léo Scheer, Paris 2003.
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Abb. 10-18: Screenshots aus der Videoaufnahme der Rauminstallation La Vague Gelée von Alain Fleischer, 1996
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„tatsächliche“ Filmbild – die mit einer unbewegten Kamera aufgenommenen Meereswellen – als technisches Resultat und als Simulakrum inszeniert: Sich sowohl dem belichteten Filmmaterial als auch dem Projektionshintergrund gegenüber kontrastiv und „verdoppelnd“ verhaltend, thematisiert diese Projektion neben dem dispositiven Apparat vor allem die unterschiedlichen Zeitlichkeiten der Installationselemente. Jeder einzelnen „eingefrorenen Woge“ – sei es jener des Filmbandes, sei es jener auf die Leinwand projizierten – kommt hier eine eigene, als „physikalische Zeitlichkeit“, als Zeit des Motivs, der Aufnahme und der Projektion konnotierte „Dauer“ zu. Letztlich schließt dieses Bildverständnis neben der illustrierten temps-durée-Dichotomie auch die unerwarteten Störungen ein, die dem homogenen „Bewegungsbild“ eine diskontinuierliche und arbiträre Zeitlichkeit verleihen. Gleichwohl: Alain Fleischer zufolge sind, bezogen auf die Installation, weniger „das ungleiche Maß“ der Zeit noch die Morphologisierung des Zeit-Bildes von Interesse als vielmehr ihre Synthese: ein Zustand der Bilder „entre fluidité et fixité, entre rigidité et plasticité“39 (zwischen dem Fließenden und dem Fixen, zwischen der Starre und der Plastizität). Zu erkennen ist dieser Zustand im Film-Material selbst40, denn nicht nur synthetisiert es, aufgespannt an der Decke hinter und vor dem Projektor, den Raum, das projizierte Bild und die Apparatur auf eine Weise, die den filmischen Illusionismus in die Reflexion einer erweiterten, industrialisierten Perzeption überführt. Neben einem in ihm visuell zutage tretenden Bildzustand, der zwischen dem Einzelbild und der Auflösung changiert, ist es auch sprachlich das Emblem der Hybridisierung von Film und Photographie, wird doch jede ‚filmische Woge‘ materiell von bis zu fünfzehn Silbergelatineschichten festgehalten. Dieser in der Rauminstallation La Vague Gelée vielleicht eher sprachlich als visuell angepriesene Zustand der Bilder „entre fluidité et fixité“ inszeniert die Photographie als den zentralen Pol im fiktionalen Fleischerschen Kunstuniversum, das aus den spielerisch in Bewegung gesetzten Objekten besteht. Die eigentlichen photographischen Experimente Alain Fleischers dagegen reflektieren nicht nur mise-en-abyme-artig die eigenen medialen Bedingungen, sie beschreiten im Gegensatz zu der Rauminstallation einen nicht von Brüchen und Diskontinuitäten, sondern der Idee medialer Überschneidungen ausgehenden Weg. Ein in La Vague Gelée sich im Er39 Fleischer, Alain: „La vitesse d’évasion“, in: La vitesse d’évasion. Alain Fleischer (Ausstellungskatalog mit DVD-ROM), hrsg. v. Léo Scheer, Paris 2003, S. III-LV, S. XXX. 40 Fleischer (wie Anm. 39).
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starren des filmischen Flusses niederschlagender Bruch mit medialen und dispositiven Spielregeln tritt hier zumeist als eine reziproke Dynamisierung der Photographie und ihrer Motive zutage. Sodann kann hier weniger von der Photographie die Rede sein als von den Photoinstallationen, die stets als Serie auftreten und mit eigenen medialen Gegebenheiten experimentieren. Die Serie Happy Days (Abb. 19) – jene Photoinstallationen, die aus einer Diaprojektion, mehreren spiegelnden Metallflächen, einer Photokamera und den batteriebewegten Spielzeugfiguren bestehen – ist das wohl schillerndste Beispiel der im Spiel der Medien, Objekte und Motive produzierten Hybridisierungen, und die in der Photographie erstmals verdeutlichte räumliche und zeitliche Relativität visueller Eindrücke41 wird hier zum gestalterischen Grundprinzip erhoben. Die Installation führt eine geradezu slapstickartige Bewegungs-Konstruktion vor: Als erstes werden die zwischen der spiegelnden Metallfläche und der Kamera befestigten Spielzeugfiguren in Bewegung gesetzt, in ihrer Fahrt ziehen sie den Spiegel an sich, dessen Masse wiederum löst die Kamera aus. Die Masse und die Bewegung bedingen sodann die photographische Belichtungszeit, gleichzeitig versetzen sie die spiegelbildlich projizierte und reflektierte Lichtspur des Aktgemäldes in Auflösung. Die doppelte Phantasmagorie der apparativ projizierten, bewegten und fixierten Gemälde von Vélasquez, Goya, Boucher etc. soll sodann helfen, jene „ancienne
Abb. 19: Alain Fleischer: Happy Day with Vélasquez, 1986 41 Vgl. Freund, Gisèle: Photographie und Gesellschaft, Reinbek b. Hamburg 1979; Faßler, Manfred: Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit, Wien/Köln/Weimar 2002, S. 172ff.
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idée reçue“, einschließlich derjenigen Bergsons, Boccionis, aber auch Roland Barthes’ beiseite liegen zu lassen, die besagen, „qu’une photo est la trace obligatoire de quelque chose qui a été“, eine Photographie sei die verbindliche Spur eines (ehemals) seienden Objekts, sodann auch ein Medium des Toten.42 Nichts ist hier, so Fleischer, das gewesen, als was es schließlich erscheint: „rien n’a été ainsi, tel qu’il paraît dans le résultat final“.43 Die zu flottierenden, ephemeren Spuren im negierten Raum44 gewordenen Gemälde werden jenseits paragonaler oder medialer Konflikte positioniert45; die prinzipielle „virtuelle Präsenz und tatsächliche Abwesenheit“46 der Photographie ist weniger ein Merkmal denn ein Gestaltungsprinzip, das die Photographie in die Nähe des Films rückt47; der inszenierte technische Reiz-Reaktions-Kreislauf scheint eine anthropomorphe Wahrnehmung und Präsenz vollkommen auszuschließen. Im Gegensatz zu der im ephemeren, die Zeit aufhebenden Augen-Blick erscheinenden und verschwindenden ,Vorübergehenden‘ Baudelaires48 und auch zu Ballas Version der Dame mit dem Hündchen, einem jener futuristischen Gemälde, dessen Motiv, wie oben beschrieben, die Empfindung des Betrachters aufzuzeichnen trachtet49, ist hier an Stelle der Perzeption die als referentielles Spiel und Verfahren konnotierte Bewegung der Objekte und des Lichts getreten. Wie im Film fällt 42 Fleischer (wie Anm. 39), S. XXIII; Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1991 (dt.: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 1989). 43 Fleischer (wie Anm. 39), S. XXIII. 44 „La nuit noire est ma toile blanche“, so Fleischer (wie Anm. 39), S. XXIII. Vgl auch: Fleischer (wie Anm. 34), insb. S. 33. 45 Vgl. Prater, Andreas: Im Spiegel der Venus. Vélasquez und die Kunst einen Akt zu malen, München 2002. 46 Grivel (wie Anm. 32), S. 62. 47 „[…] la photographie rassemble sur une image unique et fixe la trace d’un événement visuel qui s’est déroulé sur une ou deux minutes: quelque deux mille cinq cents images au cinéma“, Fleischer (wie Anm. 39), S. XXIII. 48 Baudelaire, Charles: „À une passante“ (Les fleurs du mal, XLIII), in: ders.: Oeuvres complètes I, texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris 1975, S. 92f.; Vgl. auch Benjamin, Walter: „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: Abhandlungen. Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. I. 2, Frankfurt a.M. 1974, S. 605653, insb. S. 623f.; sowie: Benjamin, Walter.: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften, Bd. I, Frankfurt a.M. 1982, S. 578f.; S. auch, mit Verweis auf neuere Forschungsliteratur, Bohrer, Karl Heinz: Der Abschied. Theorie der Trauer, Frankfurt a.M. 1997; Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a.M. 2004, S. 124. 49 Vgl. Boccioni/Carrà/Russolo/Balla/Severini (wie Anm. 25).
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diese hier mit der Ablichtung zusammen, im Gegensatz zu jenem wird sie synthetisiert, anstatt morphologisiert zu werden. Die aus dem ,Dynamo‘, der Photographie und der Skulptur generierten Vorübergehenden, Nymphen und Sephoras schafften noch, wie die futuristischen Chronophotographien, aus dem Topos ein augenblicklich wirksames, energetisches Feld und mündeten in ein sei es reflexives, sei es referentielles „Punktieren“ eines ‚tatsächlichen‘ Körpers50. In dem spielerischen Laboratorium photographischer Wahrnehmung Alain Fleischers indes fällt die Bewegung des projizierten „objeu[s]“ (l’objet de jeu)“51 lediglich mit der photographischen Zirkulation zusammen, als sei der ephemere Augen-Blick eine Nachahmung autonomer, technischer Simulation. Gerade die vorgeführte „inhumane Unmittelbarkeit“52 des mittels der „,tournages‘ photographiques“53 simulierten Perzeptionsaktes wird als eine bergsonianisch anmutende Dauer und Unschärferelation inszeniert, die „die Vergangenheit in die Gegenwart hinein verlängert und dabei […] unvermeidlich ihre Reinheit kontaminiert“.54 Sie weist auf die „innere Zeit“ wie auf die Dissoziation menschlicher Wahrnehmung hin, zeigt doch jedes photographische Interface der Happy-Day-Installationen die (Un-)Sichtbarkeit der Bewegung zwar durchaus als eine Spur eigenständiger Kinetik auf, aber auch als illusionistische Zelebrierung der bei Vélasquez’ präfigurierten55 und in der Chronophotographie mannigfach verhandelten Ideen eines „variablen“ oder einfach „unschuldigen“ Auges.56 Wie die Installation, die das Engramm der Wahrnehmung in Ge50 Zum „studium“ und „punctum“ als zwei von Barthes beschriebenen dichotomen Wirkungs- und Wahrnehmungsmodi der Photographie vgl. Anm. 42 sowie: Derrida, Jacques: Die Tode von Roland Barthes, hrsg. v. Hubertus von Amelunxen, Berlin 1987, S. 16f. 51 Bullot, Érik: „L’invention d’Alain Fleischer“, in: La vitesse d’évasion. Alain Fleischer (Ausstellungskatalog mit DVD-ROM), hrsg. v. Léo Scheer, Paris 2003, S. 11-30, hier S. 12. 52 Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a.M. 2002, S. 253. 53 Didi-Huberman: „L’être qui papillonne“, in: La vitesse d’évasion. Alain Fleischer (Ausstellungskatalog mit DVD-ROM), hrsg. v. Léo Scheer, Paris 2003, S. 23-29, hier: S. 27. 54 Crary (wie Anm. 52), S. 253. 55 Vgl. Ulrich, Wolfgang: Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2003, S. 80. 56 Zum unschuldigen Auge vgl.: Crary (wie Anm. 52), zum variablen: Aumont, Jacques: L’oeil interminable. Cinéma et peinture, Paris 1989, sowie Aumont, Jacques.: „Projektor und Pinsel. Zum Verhältnis von Malerei und Film“, in: montage/av, 1, 1 (1992), S. 77-88. Vgl. auch: Fusionen. Jean-Louis Faure. Alain Fleischer. Bertrand Lavier. Georges Rousse (Ausstellungskatalog), hrsg. v. Heinz-Peter Schwerfel, Leverkusen 1989.
VOM ERSCHEINEN UND VERSCHWINDEN DER GEGENSTÄNDE
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stalt des projizierten Gemäldes wiederzugeben scheint und die Bewegung der Objekte und der Licht-Epiphanie buchstäblich in die Photographie überführt, so inszeniert auch das Resultat des Experiments – die Photographie – das in der festgehaltenen Zeit- und BewegungsSpur symbolisierte Photogramm der Wahrnehmung. Beide Positionen werden jedoch symbolisch im finalen Blick des Betrachters vereint, und die vom Futurismus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch skeptisch aufgenommenen visuellen (Trug-)Effekte „obskurer Zeremonien“ werden begrüßt, fungieren sie doch als die wohl bedeutendste „Technik“ einer Zeit-Wahrnehmung, die, industriell modifiziert, dem ästhetischen Schaffen ebenbürtig ist: als „image photographique + (supplément de réel + supplément d’illusion) = subversion de la représentation & jubilation du regardeur“.57
57 Fleischer zit. nach Le Diaphane & l’Obscur (wie Anm. 34), S. 114; Vgl. auch Hülk, Walburga: „Paradigma Performativität?“, in: Erstiü, Marijana/Schuhen, Gregor/Schwan, Tanja (Hrsg.): Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005, S. 9-25.
GABRIELE LÜCK
DER ‚KÖRPER‘ DES UNSICHTBAREN. MEDIENFIKTIONEN
BEI
MYNONA
UND
ECO
Sie dachten sich absurde Maschinen aus, um bei jedem Schritt zu entdecken, daß sie schon erfunden waren. 1
Umberto Eco
TONKUNST Leben athme die bildende Kunst, Geist fordr’ ich vom Dichter,/Aber die Seele spricht nur Polyhymnia aus. Friedrich Schiller
2
„Es ist das neueste Modell“, sagte der Hofrat [...] „Das ist kein Apparat und keine Maschine“, fuhr er fort, indem er aus einem der auf dem Tischchen angeordneten buntfarbigen Blechbüchschen eine Nadel nahm und sie befestigte, „das ist ein Instrument, das ist eine Stradivarius [...] da herrschen Resonanz- und Schwingungsverhältnisse vom ausgepichtesten Raffinemang! ‚Polyhymnia‘ heißt die Marke [...]“. Thomas Mann3
1 Eco, Umberto: Das Foucaultsche Pendel, München 2003, S. 430. 2 Schiller, Friedrich: „Tonkunst“, in: ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe, hrsg. v. Norbert Oellers/Siegfried Seidel, Bd. II (I), Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1799-1805, Weimar 1983, S. 325. 3 Mann, Thomas: Der Zauberberg, in: ders.: Gesammelte Werke in 12 Bänden, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1960, S. 883f.
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1.
GABRIELE LÜCK
Totentanz
Um „Resonanz- und Schwingungsverhältnisse vom ausgepichtesten Raffinemang“ handelt es sich auch bei dem Apparat, den Mynonas4 Professor Abnossah Pschorr aus Eifersucht auf Johann Wolfgang von Goethe konstruiert, dessen Stimme Anna Pomke, „ein zaghaftes Bürgermädchen“5, so gerne auf Schellack gebannt – und somit immer zugänglich6 und für alle Ewigkeit konserviert – besäße. „Ach, Herr Professor“, lamentiert Anna in der Erzählung „ich hätte wenigstens so gern Goethes Stimme noch gehört! Er soll ein so schönes Organ gehabt haben, und was er sagte, war so gehaltvoll. Ach, hätte er doch in einen Phonographen sprechen können! Ach! Ach!“7 Angestachelt von dem Ehrgeiz, sich vor ihr zu beweisen, räsoniert der „geschickteste Ingenieur, [...] Psychophysiolog, Hypnotiseur, Psychiater [und] Psychoanalytiker“8 Pschorr über die Potentialität eines solchen Apparates und kommt zu der Schlussfolgerung, dass „die Tonschwingungen seiner [Goethes] Worte, wenn auch natürlich ungemein abgeschwächt, dort [in seinem Arbeitszimmer] noch vibrieren müssen“9 und dass es daher gelte, „einen geeigneten Empfangsapparat, um sie aufzunehmen“10, zu konstruieren. Was soll also das noch ins Leben zu rufende Medium leisten? Es ist evident, dass es hier nicht um Konservation geht, sondern um Magie,11 um Geisterbeschwörung, in 4 Mynona ist das Pseudonym des 1871 in Posen geborenen Dichters Salomo Friedlaender. Der promovierte Medizin- und Philosophiestudent emigrierte 1933 nach Paris und war dort als freier Schriftsteller bis zu seinem Tode 1946 tätig. Bekannt wurde der Neukantianer vor allem durch seine Grotesken, die in ihrem schwarzen Humor auf das Absurde vorausweisen. 5 Friedlaender, Salomo (Mynona): „Goethe spricht in den Phonographen“, in: ders.: Rosa. Die schöne Schutzmannsfrau und andere Grotesken, hrsg. v. Ellen Otten, Zürich 1965, S. 63. 6 Vgl. hierzu die Gedanken, die James Joyce dem Protagonisten seines Romans Ulysses, Leopold Bloom, verleiht: „Besides how could you remember everybody? Eyes, walk, voice. Well, the voice, yes: gramophone. […] keep it in the house. After dinner on Sunday. Put on poor old greatgrandfather Kraahraark! Hellohellohello amawfullyglad kraark awfullygladaseeragain hellohello amarawf kopthsth. Remind you of the voice like the photograph reminds you of the face.“ Joyce, James: Ulysses, London 1992, S. 164. 7 Mynona (wie Anm. 5), S. 63. 8 Mynona (wie Anm. 5), S. 65. 9 Mynona (wie Anm. 5), S. 69. 10 Mynona (wie Anm. 5), S. 63. 11 Hier sei nur am Rande erwähnt, dass schon seit Menschengedenken – vgl. hierzu auch: Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart 2000, S. 20f. oder Schanze, Helmut: „Integrale Mediengeschichte“, in: ders. (Hrsg.): Handbuch der
DER ‚KÖRPER‘ DES UNSICHTBAREN
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concreto: um die Beschwörung der realiter nicht mehr erklingenden Stimme (oder doch, um mit Schiller zu sprechen, der Seele – wird selbige ja durch die Stimme transportiert [s.o.]?)12 Goethes. Gegenstand dieses Beitrags ist somit die (ir-)reale Leistungsfähigkeit von Medien: Was können sie leisten (Möglichkeiten), was sollen sie leisten (Ansprüche und Utopien)? Diesen Fragestellungen wird hier anhand von einigen als exemplarisch betrachteten belletristischen Werken bezüglich zweier, zeitlich divergierender, jeweils den ersten und zweiten Medienumbruch (mit-)generierender Medien, Grammophon und Computer, nachgegangen. In diesem Sinne steht bei belletristischen Thematisierungen des Grammophons die Konservierung, die der Stimme und, damit einhergehend, die Vervielfältigung, ergo die ‚Allgegenwärtigmachung‘13 derselben, im Vordergrund. So philosophiert Hans Castorp in Thomas Manns Zauberberg, um ein einschlägiges, zeitlich um den ersten, ‚analogen‘ Medienumbruch herum situiertes Beispiel anzuführen, über „das Instrument“14 (gemeint ist hier, wie aus dem Anfangszitat hervorgeht, das Grammophon – der Marke Polyhymnia15): „Die Sänger und Sängerinnen, die er hörte, er sah sie nicht, ihre Menschlichkeit weilte in Amerika, in Mailand, in Wien, in Sankt Petersburg – sie mochte dort immerhin weilen, denn was er von ihnen hatte, war ihr Bestes, war ihre Stimme [...]“.16 Die gleiche Faszination ist es, welcher – in jüngerer Zeit – der Protagonist von Marcel Beyers Roman Flughunde erliegt, der sich selbst als „Stimmstehler“17 bezeichnet: „Lebendige Wesen haben ihren Teil gegeben, hier sind Absonderungen des Lebens gepreßt worden, damit Klang zu Materie werden kann [...]“.18 Oder: „Bin zu einem Stimmstehler geworden, habe die Menschen an der Front stimmlos zurückgelassen und
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Mediengeschichte, Stuttgart 2001, S. 207-274 – Magie und Medienbegriff eng verbunden sind, angefangen mit dem Ritus der Geisterbeschwörung bis hin zu Marshall McLuhans Werk Understanding Media, das in der deutschen Übersetzung den Titel Die Magischen Kanäle trägt. Zur Problematik der Differenz zwischen Stimme und Schrift siehe Derrida, Jacques: De la Grammatologie, Paris 1967, S. 15f. Zum Phänomen der Allgegenwärtigkeit von Medien(inhalten) in seiner frühen Problematisierung siehe (den immer noch lesenswerten Text von): Valéry, Paul: „La conquête de l’ubiquité“, in: ders.: Oeuvres, Bd. 2, Paris 1960, S. 1285-1287. Mann (wie Anm. 3), S. 885. Polyhymnia (griechisch „viele Lieder“) ist in der griech. Mythologie die Muse des ernsten Liedes und der Pantomime. Mann (wie Anm. 3), S. 892. Beyer, Marcel: Flughunde, Frankfurt a.M. 1995, S. 123. Beyer (wie Anm. 17), S. 24.
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verfüge fortan nach eigenem Ermessen über ihre letzten Laute, zeichne sie auf, nehme von jeder beliebigen Stimme einen Teil fort und kann sie ohne Kenntnis des Sprechers einsetzen, auch über dessen Tod hinaus.“19 Ähnlich Joyce, dessen Ulysses mit einem Entstehungszeitraum von 1914 bis 1921 Manns Zauberberg, der zwischen 1913 und 1924 entstand, parallel läuft, wenn er Leopold Bloom über das Abspielen der Stimme des verstorbenen Urgroßvaters als Abendunterhaltung und Memohilfe nachdenken lässt: „Put on poor old greatgrandfather Kraahraark! Hellohellohello amawfullyglad kraark awfullygladaseeragain hellohello amarawf kopthsth.“20 Die hier verbalisierten Störgeräusche, die Hermann Hesse in seinem Roman Der Steppenwolf durch Harry Haller als „Mischung von Bronchialschleim und zerkautem Gummi“21 beschimpfen lässt, spiegeln anschaulich den damals – Der Steppenwolf erschien 1927 – noch defizitären Stand der Technik. So ist es bezeichnend, dass auch Mynona seine Goethe-Rede mit dem „bekannte[n] heisere[n] Zischen, Räuspern und Quetschen“22 beginnen lässt, um sie am Ende mit Schnarchgeräuschen abzuschließen. Schlaf und Tod, eine schon von Hamlet ‚emphasierte‘ Allianz.23 Dass der Tod das Grammophon bzw. dessen Medialität perforiert, deuten auch die im Zauberberg dafür gebrauchten Bezeichnungen „Musik19 Beyer (wie Anm. 17), S. 123. Genau dies, die letzten Worte von Sterbenden festzuhalten, war eine der „zehn Nutzungsanwendungen [...], die Edison 1878 in der North American Review für seinen eben erst erfundenen Phonographen vorhersagte“. Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 23. David Kaufmann schreibt diesbezüglich: „[...] so ist jetzt der Ton erlöst von dem zufälligen Hörer, dem er eben mitgeteilt worden, und dauerhaft fest haltbar geworden. Er verrinnt nicht länger mit dem Atem, der ihn getragen. Er spricht zum Augenblicke: ‚Verweile!‘ und behält seine Mitteilsamkeit für alle Zukunft“. Kaufmann, David: „Der Phonograph und die Blinden“, in: Kümmel, Albert/Löffler, Petra (Hrsg.): Medientheorie 1888-1933, Frankfurt a.M. 2002, S. 31. Zur Darstellung von Intermedialität in Beyers Roman vgl. auch: Schnell (wie Anm. 11), S. 163f. 20 Joyce (wie Anm. 6), S. 164. 21 Hesse, Hermann: „Der Steppenwolf“, in: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970, S. 406. 22 Mynona (wie Anm. 5), S. 71. 23 Hamlet: „To die, to sleep – /No more; and by a sleep to say we end/The heart-ache, and the thousand natural shocks/That flesh is heir to; ‘tis a consummation/Devoutly to be wished. To die, to sleep – /To sleep, perchance to dream, ay, there’s the rub,/For in that sleep of death what dreams may come/When we have shuffled off this mortal coil,/Must give us pause; there’s the respect/That makes calamity of so long life.“ Shakespeare, William: „Hamlet“, in: ders.: The Complete Works, hrsg. v. Charles Jasper Sisson, London 1964, S. 1017.
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sarge“24 und „Schrein“25 an. Leopold Bloom geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er vorschlägt: „Have a gramophone in every grave [...]“.26 Und noch einen Schritt weiter geht Abnossah Pschorr: Er möchte kein Grammophon in Gräbern als Verbindung mit dem Totenreich, sondern möchte dem Totenreich etwas entreißen, etwas längst Vergangenes. Etwas Ephemeres27 wie die Stimme kann, im Augenblick des Erklingens, festgehalten werden – kann es bzw. sie aber auch emergieren, wenn es/sie bereits dem Totenreich einverleibt ist? In diesem Falle wäre das Medium tatsächlich ein Medium im Sinne des Geisterbeschwörers. Der Text beantwortet diese Frage mit ‚ja‘ und konfrontiert den Leser, die zeitgenössischen technischen (Un-)Möglichkeiten reflektierend,28 mit einer vielschichtigen Medienutopie: Abnossahs Gedanken lauten folgendermaßen: Immer, wenn Goethe sprach, brachte seine Stimme genau so regelrecht Schwingungen hervor, wie etwa die sanfte Stimme deiner Frau, lieber Leser. Diese Schwingungen stoßen auf Widerstände und werden reflektiert, so daß es ein Hin und Her gibt, welches im Laufe der Zeit zwar schwächer werden, aber nicht aufhören kann. Diese von Goethes Stimme erregten Schwingungen dauern also jetzt noch fort [...].29
Was nun folgt ist die Kreation einer Mensch-Maschine-Schnittstelle, eine Synthese von Leib und Technik in Gestalt von Goethes rekonstruiertem Kehlkopf. Abnossah reist zu diesem Zweck eigens nach Weimar und bricht, die Wächter der Fürstengruft überlistend, indem er ihnen als leibhaftiger Goethe erscheint und „die vor Entsetzen fast Erstarrten obendrein durch Hypnose an die Stelle“30 bannt, in selbige ein und ist „nach 24 Mann (wie Anm. 3), S. 907. 25 Mann (wie Anm. 3), S. 886. Bezüglich dieser Terminologie lässt sich noch erwähnen, dass es so ist als spiele Kittler auf das Ende des Zauberbergs an, wenn er, rekurrierend auf Wildenbruchs phonographische Aufnahme seiner Stimme, bemerkt, alles, was davon „in Tat und Wahrheit bleibt, ist nur ein Geräusch, posthum schon zu Lebzeiten. Plattenrillen graben das Grab des Autors“ Kittler [wie Anm. 19], S. 129), denn im letzten Kapitel des Romans verlieren wir den Protagonisten Hans Castorp, der in den Krieg gezogen ist, mitten im Feld aus den Augen – sein Lieblingslied singend, Das Lindenbaumlied, das er im Grammophon-Kapitel Fülle des Wohllauts als letzte Schallplatte gehört hatte. Mann (wie Anm. 3), S. 993f. 26 Joyce (wie Anm. 6), S. 164. 27 Zum Problem des Ephemeren in seiner Vielschichtigkeit siehe auch: Chi, Immanuel et al. (Hrsg.): ephemer_temporär_provisorisch, Essen 2002. 28 Vgl. hierzu auch: Kittler (wie Anm. 19). 29 Mynona (wie Anm. 5), S. 63. 30 Mynona (wie Anm. 5), S. 65.
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kurzer Arbeit [...] mit der Leiche [Goethes] bald bestens vertraut“.31 Derart verschafft er sich einen Wachsabdruck von Goethes Kehlkopf: „Die genaue Nachbildung der Goetheschen Luftwege bis hin zu Stimmbändern und Lunge hatte für ihn jetzt keine unüberwindbaren Schwierigkeiten mehr.“32 In Goethes Arbeitszimmer findet die große Demonstration statt: Pschorr stellte sein Modell so auf ein Stativ, daß der Mund, wie er sich vergewisserte, dort angebracht war, wo der Lebende sich einst befunden hatte, wenn Goethe saß. Nun zog Pschorr eine Art Gummiluftkissen aus der Tasche und verschloß mit dessen einem offenstehenden Zipfel Nase und Mund des Modells. Er öffnete das Kissen und breitete es wie eine Decke über die Platte eines kleinen Tisches, den er heranschob. Auf diese Art Decke stellte er einen allerliebsten Miniaturphonographen mit Mikrophonvorrichtung, den er seinem mitgebrachten Köfferchen entnahm. Um den Phonographen herum wickelte er nun sorgfältig die Decke, schloß sie wieder in Form eines Zipfels mit winziger Öffnung, schraubte in den offenen freien Zipfel, dem Munde gegenüber, eine Art Blasebalg, der aber, wie er erklärte, die Luft des Zimmers nicht in die Mundhöhle hineinblies, sondern aus ihr heraussaugte. [...] so funktioniert dieser speziell Goethesche Kehlkopf als eine Art Sieb, welches bloß die Tonschwingungen der Goetheschen Stimme hindurchläßt.33
Es gelingt Pschorr in der Tat zur Begeisterung seines Publikums, seinem Apparat Goethes Stimme zu entlocken. Das konstruierte Medium wird hier aber nicht nur, wie sein zeitgenössisches reales Pendant, das Grammophon, zum Träger von Präsenz (der per se ‚ephemeren‘ Stimme), sondern wird zugleich als solcher problematisiert, insofern sein Produkt, die Goethesche Stimme, als ein in jeder Beziehung zwiespältiges Objekt erscheint. Die Rede, deren wir als Leser Zeuge werden, thematisiert Goethes Farbenlehre, reflektiert Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (das unter dem Titel ein wunderbar auf diese Erzählung passendes Goethezitat „Ob nicht Natur zuletzt sich doch ergründe?“ trägt34) und wird immer wieder, sich selber karikierend, durch Ausrufe wie „Eckermännchen! Eckermännchen! Bleiben Sie mir ja im Sattel!“35 unterbrochen, gleichsam die Zuhörer adressierend, die ange-
31 Mynona (wie Anm. 5), S. 65. 32 Mynona (wie Anm. 5), S. 66. 33 Mynona (wie Anm. 5), S. 69f. Zu einer genaueren Aufschlüsselung der Technik, siehe Kittler (wie Anm. 19), S. 108f. 34 Schopenhauer, Arthur: „Die Welt als Wille und Vorstellung“, in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Paul Deussen, Bd. I, München 1911. 35 Mynona (wie Anm. 5), S. 71.
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sichts dieser Geisterbeschwörung außer Rand und Band geraten („alles jubelte durcheinander“36). Indem Mynona Goethe quasi aus dem Totenreich auferstehen lässt, wenngleich nur komprimiert in seiner Stimme, in Form einer fingierten Rede, überbietet er „als namenlosester aller Autoren“37 nicht nur den „namenhaftesten aller Autoren“38, sondern lässt auch die Technikversuche der Zeitgenossen dieses Autors in einem humoristischen Feuerwerk gipfeln. Versuche, Technik und Leichenteile zu kombinieren, waren dem 19. Jahrhundert nämlich keineswegs fremd: So experimentierte beispielsweise der als Begründer der neuzeitlichen Physiologie geltende Physiologe und Anatom Johannes Peter Müller (1801-1858) schon um 1839 mit Kehlköpfen.39 Zwischengeschaltete Bedenken seitens der Zuhörer: „‚Wie kommt es‘, fragte Böffel, ein wenig skeptisch, ‚daß wir gerade diese Aussprache mit anhören konnten?‘“40, werden von Pschorr mit einem Verweis auf die übergeordnete Macht des Zufalls abgetan. Als oberstes Ziel der Technikwünsche wird ein „Durchschnittskehlkopf“ phantasiert, „an dem man schrauben kann, wie an einem Opernglas, um ihn an alle irgend möglichen Schwingungsarten zu akkomodieren“.41 So lässt sich Friedlaenders Text als Illustration des ersten Medienumbruchs lesen, indem er (Un-)Möglichkeiten der zeitgenössischen Technik, nebst damit einhergehender Euphorie, auf doppelbödige Weise, sprich: ironisch, artikuliert und in die Diskussion bringt. Am Schluss der Erzählung steht die Zerstörung der Utopie: Der von Anna Pomke so geliebte Apparat wird aus dem Zug (einem anderen Medium des Transports, nicht dem der Stimme, einem Part des Körpers, sondern dem des Körpers selbst, eine weitere raffinierte Konstruktion 36 37 38 39
Mynona (wie Anm. 5), S. 72. Kittler (wie Anm. 19), S. 120. Kittler (wie Anm. 19), S. 120. Vgl. Kittler (wie Anm. 19), S. 116f. Mary Shelleys 1818 anonym und 1831 in seiner endgültigen Fassung erschienene Schauerroman Frankenstein: Or, the modern Prometheus ist eine frühe seismographische Äußerung dieser Faszination, die Faust in die berühmten Worte kleidet: „Es möchte kein Hund so länger leben!/Drum hab’ ich mich der Magie ergeben,/Ob mir durch Geistes Kraft und Mund/Nicht manch Geheimnis würde kund; Daß ich nicht mehr mit sauerm Schweiß/Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;/Daß ich erkenne, was die Welt/Im Innersten zusammenhält,/Schau’ alle Wirkenskraft und Samen,/Und tu’ nicht mehr in Worten kramen.“ Goethe, Johann Wolfgang von: „Faust“, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe, hrsg. v. Karl Richter et al., Bd. 6.1, München 1986, S. 545. 40 Mynona (wie Anm. 5.), S. 74. 41 Kittler (wie Anm. 19), S. 75.
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GABRIELE LÜCK
Mynonas) auf die Gleise geworfen. Auf diese Art und Weise, die Erzählung schließt mit der Heiratsannonce Abnossah Pschorrs und Anna Pomkes, wird – ein Gleichnis der Freudschen Trieblehre – die um die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts42 durch selbigen Psychoanalytiker „in die Partialobjekte einzelner und von Freud auch isolierter Triebe“43 zerlegte Liebe wiederhergestellt und ein Happy End, wenngleich auf Kosten der Technik(utopie), garantiert. ‚In a – Freudian – nutshell‘: Es handelt sich hier um den Triumph des Lebens- über den Todestrieb – ob der momentanen Prävalenz der „Sexualtriebe“44: „Blutrot wurde die Pomke und warf sich lachend und heftig in die sich fest um sie schlingenden Arme Abnossahs.“45
2.
„Apple und Kabbala“46
Wenn es bei Mynona der Konstrukteur (Pschorr) und der Rezipient (Anna Pomke) sind, die das Medium zerstören, ist es in Umberto Ecos Roman Das Foucaultsche Pendel, der exemplarisch für den zweiten, ‚digitalen‘ Medienumbruch ausgewählt wurde, das Medium, das die Konstrukteure/Nutzer zerstört. Heimlicher Protagonist des 1988 erschienenen Romans ist nicht eigentlich ein Mensch, sondern ein Computer, Abulafia, der seinen Namen dem spanischen Kabbalisten Abraham Abulafia verdankt, „in dessen Werk die Methode niedergelegt ist, durch die wissenschaftliche Kombination der Buchstaben zur Ekstase zu gelangen“.47 Und im Sinne von nomen est omen fungiert der Computer Abulafia hier in der Tat durch seine Kombinationsgabe als Createur von Ekstase, der Ekstase der Schöpfung („‚Licht oder Hauch?‘ ‚Gott haucht, und es ward Licht.‘ ‚Multimedia.‘“48). Den Ausgangspunkt bildet ein Manuskript – vielmehr ein Zettel, der die Basis des Manuskripts bildet – über den Templerorden, das den 42 Freuds Traumdeutung war 1900 erschienen, Jenseits des Lustprinzips sollte 1920, Das Ich und das Es 1923 erscheinen. 43 Kittler (wie Anm. 19), S. 110. Siehe dazu auch: Freud, Sigmund: „Jenseits des Lustprinzips“, in: ders.: Studienausgabe, hrsg. v. Alexander Mitscherlich et al., Bd. III, Frankfurt a.M. 1989, S. 248f. 44 Freud (wie Anm. 43), S. 255. 45 Mynona (wie Anm. 5), S. 76. 46 Eco (wie Anm. 1), S. 332. Kabbala [hebräisch „Überlieferung“, die] bezeichnet seit dem 13. Jahrhundert die jüdische Mystik und religionsphilosophische Geheimlehre. 47 Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 5, München 1998, S. 23. 48 Eco (wie Anm. 1), S. 285.
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Lektoren Belbo49 und Diotavelli von dem zwielichtigen Oberst Ardenti in die Hände gespielt wird. Zusammen mit dem Studenten Casaubon, dessen Bekanntschaft sie in Pilades Bar, einer in den 1970er Jahren zum Treffpunkt der Mailänder Intellektuellenszene aufgestiegenen Kneipe,50 gemacht haben und der gerade an seiner Doktorarbeit über den mittelalterlichen Ritterorden arbeitet, begeben sie sich zunächst im Verlag Garamond, dessen Mitarbeiter Casaubon schließlich wird, an die Herausgabe einer esoterischen Buchserie („Eine illustrierte Geschichte der magischen und hermetischen Wissenschaften“)51; Ardentis Skript gerät vorerst in Vergessenheit bzw. wird, nachdem sein Verfasser unter mysteriösen Umständen verschwindet, verdrängt. Als ihnen eines Tages bei der Arbeit ein großer Stapel an Papieren ins Rutschen gerät und sich auf dem Fußboden in ganz neuer Mischung kaleidoskopartig zusammenfügt, fragt Casaubon bezüglich der Ordnungsarbeit entnervt: „Gibt es kein Programm, das Abulafia befähigt, diese Arbeit zu tun?“52 und erhält prompt die Antwort: Klar gibt es eins [...] und theoretisch erlaubt es die Eingabe von bis zu zweitausend Daten. Man muss sich nur hinsetzen und sie schreiben. Angenommen, die Eingabedaten sind Verse möglicher Gedichte. Das Programm fragt, wie viele Verse ein Gedicht haben soll, und Sie entscheiden – zehn, zwanzig, hundert. Dann nimmt das Programm die Zahl der Sekunden aus der Uhr im Computer und randomisiert sie, was in einfachen Worten heißt: es gewinnt daraus eine Formel für immer neue Kombinationen. Mit zehn Versen können Sie Tausende und Abertausende von Zufallsgedichten bekommen.53
Daraufhin schlägt der Ich-Erzähler, den Schöpfungswahn initiierend, vor: wenn man [...] ein paar Dutzend Kernsätze aus den Werken der Diaboliker eingibt, zum Beispiel Die Templer sind nach Schottland geflohen, oder Das Corpus hermeticum gelangte 1460 nach Florenz und dazu ein paar Verbindungsfloskeln wie es ist evident, daß, oder dies beweist, daß, dann könnten wir aufschlussreiche Sequenzen bekommen. Man bräuchte nur noch die Lücken zu füllen, oder man wertet die Wiederholungen als Wahrsagungen, Anregungen, 49 Hier sei nur am Rande erwähnt, dass es sich sowohl bei Belbo als auch bei Garamond auch um Schrifttypen handelt. Näheres dazu in: Talamo, Manilo: Das Rätsel des Foucaultschen Pendels. Das Entschlüsslungsbuch zu Umberto Ecos Weltbestseller, München 1992, S. 31. 50 Vgl. Eco (wie Anm. 1), S. 71. 51 Eco (wie Anm. 1), S. 475. 52 Eco (wie Anm. 1), S. 437. 53 Eco (wie Anm. 1), S. 437.
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GABRIELE LÜCK Ermahnungen. Schlimmstenfalls erfinden wir auf diese Weise ein ganz neues Kapitel der Geschichte der Magie.54
Mit der unbegrenzten Kombinationsgabe des Computers entwerfen sie auf der Grundlage des Zettels, von dessen Interpretation und Weiterentwicklung Ardentis Templerskript handelte und der später von Lia, Casaubons Freundin, als ‚Waschzettel‘ entlarvt wird, eine wahnwitzige Verschwörungstheorie und erfinden in der Tat nicht nur ein einziges Kapitel der Geschichte der Magie, im Sinne von „‚Quid est veritas?‘ fragte Belbo. ‚Wir‘, sagte ich [Casaubon].“55 Das ‚Rezept‘ lautet: „Nehmen Sie aufs Gratewohl zwei Dutzend dieser Blätter vom Boden, lesen Sie mir den ersten Satz vor, auf den Ihr Blick fällt, und den gebe ich dann als Datum ein.“56 Und weiter geht es munter: Ich bückte mich und nahm ein Blatt: ‚Joseph von Arimathaia bringt den Gral nach Frankreich.‘ ‚Hervorragend, ist notiert. Weiter!‘ ‚Nach der templerischen Tradition hat Gottfried von Bouillon in Jerusalem das Großpriorat von Zion gestiftet. Debussy war ein Rosenkreuzer.‘ ‚Entschuldigung‘, sagte Diotavelli, ‚aber man muß auch ein paar neutrale Daten einfügen, zum Beispiel: Der Koala lebt in Australien, oder Papin ist der Erfinder des Dampfkochtopfs.‘ ‚Minnie ist die Verlobte von Mickymaus‘, schlug ich vor. ‚Übertreiben wir nicht.‘ ‚Doch, übertreiben wir. Wenn wir anfangen einzuräumen, daß auch nur eine einzige Gegebenheit im Universum existieren könnte, die nicht etwas anderes enthüllt, sind wir schon außerhalb des hermetischen Denkens.‘ ‚Stimmt. Also rein mit Minnie. Und wenn ihr gestattet, ich würde ein fundamentales Grunddatum einfügen: Die Templer sind immer im Spiel.‘57
Diese Stelle wurde in solcher Ausführlichkeit zitiert, um einen Eindruck zu geben, um welchen (Schöpfungs-)Vorgang, von Diotavelli als „Neuschrift der Torah“58 bezeichnet, es sich hier handelt. Es geht nicht primär um die Kombination neu erfundener, imaginärer Daten, sondern um das Arrangement bereits vorhandener: „So hatte es auch Ardenti gemacht, [...] aber sein Arrangement der Teile war schlechter als unseres gewesen [...]“.59 Einen modernisierten Eindruck von dem, was fortan geschieht, 54 55 56 57 58 59
Eco (wie Anm. 1), S. 482. Eco (wie Anm. 1), S. 564. Eco (wie Anm. 1), S. 483. Eco (wie Anm. 1), S. 483. Eco (wie Anm. 1), S. 564. Eco (wie Anm. 1), S. 797. Und so ‚hatte es auch Eco gemacht‘: „[...] es hat immer irgend jemanden gegeben, der sie [die Dinge, A.d.V.] tatsächlich gesagt hat. Ich spiele ein Spiel, das auch wirklich gespielt worden ist, von wirklichen Menschen. [...] Ich habe ein äußerst realistisches Buch geschrie-
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kann der Leser im Internet finden, unter folgender Adresse: http:// www.elsewhere.org/cgi-bin/postmodern60, auf welcher Seite, jedes Mal, wenn sie aufgerufen wird, die Texte der ‚Postmodernisten‘ durch den Postmodernism Generator zu einem Unsinnstext – man erinnere sich an die ‚Sokal-Affäre‘61 – neu zusammengewürfelt werden; ein Faktum, das auf Ecos technik-prophetische Intuition verweist, denn um 1988 ist der Personalcomputer noch eine Seltenheit und das Internet – wie wir es kennen – in weiter Ferne62; und so ist nicht nur „Belbo ein Pionier“63, sondern in gewisser Weise auch Eco – in Bezug auf ‚Computerromane‘.64 Belbos Files, durch die Casaubon rekonstruiert, was genau zu Belbos Kidnapping geführt hat (nachdem er, Casaubon, nach einer stundenlangen vergeblichen Passwortsuche – ebenso wie Belbo – ‚nein‘ zu Abulafia gesagt hat: „Schließlich, in einem Wutanfall, als Abulafia zum x-ten Mal seine sture Frage stellte (‚Hast du das Passwort?‘), hackte ich: ‚Nein.‘ Der Bildschirm begann sich mit Zeichen zu füllen, mit Linien, Kolonnen, mit einer Flut von Worten.“65), diese in den Romantext gestreuten Files sind von selbigem auch durch eine andere Schrift abgegrenzt. Ein wirkliches, nicht nur auf die Zugangsberechtigung begrenztes Nein vermögen aber sowohl Belbo als auch Casaubon und Diotavelli schließlich nicht zu Abulafia zu sagen.66
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ben. [...] Emile Zola. Nicht Tolkien – Zola“. Nooteboom, Cees: „In Ecos Labyrinth“, in: Der Bogen, 29 (1989), o.S. Stand: 19.04.04. Siehe hierzu: www.physics.nyu.edu/faculty/sokal.html, 19.04.04 und www.drizzle.com/~jwalsh/sokal, 19.04.04. Schanze schreibt diesbezüglich: „[...] die Mythen um die Medien sind allgegenwärtig. Der neueste ist der Mythos von der Erfindung des Internets. Dem Historiker, der nach gesicherten Dokumenten sucht, ist der Boden durch die neue Technik selber entzogen. [...] Das entscheidende Dokument dürfte spurlos, wie dies die Innovation der digitalen Speicher mit sich bringt, getilgt sein“. Schanze (wie Anm. 11), S. 209. Zur Geschichte des Internets vgl. auch Coy, Wolfgang: „Media Control. Wer kontrolliert das Internet?“, in: Krämer, Sybille (Hrsg.): Medien. Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt a.M. 1998, S. 133-151, ferner: Abbate, Janet: Inventing the Internet, Cambridge 2000 und jüngst: Schröter, Jens: Das Netz und die Virtuelle Realität: zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld 2004. Eco (wie Anm. 1), S. 293. Das Foucaultsche Pendel thematisiert aber nicht nur den Computer als Medium, es wurde teilweise auch selbst auf einem solchen geschrieben. Vgl. hierzu: Nooteboom (wie Anm. 59). Eco (wie Anm. 1), S. 59. Einen Fall, in dem ein ‚Nutzer‘ tatsächlich ‚Ja‘ zu einer ihn zerstörenden Maschine sagt, beschreibt Virilio: „In diesem Zusammenhang ist die Affäre
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„Abulafia muss uns auf Zusammenhänge, auf ungeahnte Verbindungen bringen“67 heißt es an einer Stelle, an einer anderen: „Er wollte die Wahrheit. Und er schaltete Abulafia ein. Und fragte ihn probehalber nach einer Kombination zweier blindlings herausgegriffener Daten. Und das Output war: Minnie ist die Verlobte von Mickymaus. 30 Tage hat November, mit April, Juni und September.“68 „‚Wie ist das zu interpretieren?‘ fragte Belbo. [...] ‚Die Gregorianische Kalenderreform! Ist doch ganz klar!‘“69 „Der „große Plan“70 wird erfunden. Aus den Skripten über die Templer, die sich bei Manunzio, dem vornehmen Trash-Verlag-Zweig von Garamond für die sogenannten AEKs, Autoren auf eigene Kosten,71 sammeln, basteln sich die drei Lektoren folgendes Verschwörerszenario zusammen: Die Templer haben über Jahrhunderte hinweg, den jeweiligen (Miss-)Stand der Technik miteinkalkulierend, daran gearbeitet, die tellurischen72 Ströme, die sie für die größte unterirdische Energiequelle halten, durch die Kontrolle des Umbilicus Telluris73, in dem selbige zusammenfließen, zu beherrschen – und mit ihm die ganze Welt, denn: Steck die größte und stärkste Akupunkturnadel [mit selbiger assoziiert Casaubon im Verlaufe des Romans den Eifelturm – G.L.] in den Nabel der Welt, und du bist in der Lage, Regen- und Trockenzeiten vorauszubestimmen, Orkane zu entfesseln, Hurrikane, Erdbeben, Meeresbeben auszulösen [...] Aus der Kommandozentrale telefonieren Sie mit, was weiß ich, dem Präsidenten der USA und
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Bob Dent – Philip Nitschke zu sehen, die im vergangenen Jahr für einiges Aufsehen sorgte: Am 26. September 1996 wandte der 66jährige, krebskranke Bob Dent als erster Mensch ein seit dem 1. Juli 1996 in Kraft befindliches australisches Gesetz an, den TERMINAL ACT, d.h. den selbst programmierten Suizid. Er war an eine computergesteuerte Maschine angeschlossen [...]: Dieser Maschine sagte Bob Dent ein erstes Mal JA. Nach der vorgeschriebenen Frist von neun Tagen hat er ein zweites Mal auf JA gedrückt. Die Option, die er gewählt hatte, lautete: ‚Wenn Sie Ja drücken, wird Ihnen nach 30 Sekunden eine tödliche Injektion verabreicht und Sie sterben.‘ [...] Wissenschaft des programmierten Verschwindens oder computergestützter Selbstmord?“ Virilio, Paul: Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung, München/Wien 2000, S. 12. Die Frage, die sich Virilio hier stellt, lässt sich auch auf Ecos Text beziehen. Eco (wie Anm. 1), S. 453. Eco (wie Anm. 1), S. 515. Eco (wie Anm. 1), S. 515f. Eco (wie Anm. 1), S. 431. Eco (wie Anm. 1), S. 319. Von lat. Tellus, telluris „Erde“. Umbilicus, lat. „Bauchnabel“, der Umbilicus Telluris ist somit der ‚Nabel der Welt‘.
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sagen: Mister President, bis morgen will ich eine Phantastillion Dollar oder die Unabhängigkeit Lateinamerikas, oder Hawaii, oder die Vernichtung aller Atomwaffen, sonst bricht der San-AndreasGraben in Kalifornien auf und Las Vegas wird eine schwimmende Spielhölle....74
Das Problem, das sich den Templern noch stelle, sei, die richtige Karte zum Aufspüren des Omphalos75 – mithilfe des von Foucault (natürlich ebenfalls ein Mitglied der Templer) konstruierten Pendels76 – zu finden. Was als Spiel beginnt, wird bald bitterer Ernst: Der originär lediglich als Parodie okkulten Fanatismus‘ gedachte Plan wird für seine Erfinder zur Obsession, Abulafias Konstruktionen mutieren zu „Orakelsprüchen“77. Als Belbo Agliè, einen Okkultisten und seinen Rivalen um die Gunst seiner Freundin Lorenza, aus Rache in den fiktiven Pan einweiht und behauptet, er, Belbo, sei der Geheimnisträger, der „Hüter des größten Geheimnisses der Menschheit“78 („‚Die Karte ist hier drin‘, und er schlug sich mit der Hand an die Stirn [...]“79), ist das Unheil – buchstäblich – vorprogrammiert. Indem die drei Lektoren den Computer Geschichte generieren lassen, die so authentisch erscheint, dass sie mit der Realität kompetitiert, und ihn somit zur Gottinstanz erheben, unterschreiben sie ihr Todesurteil. Was Diotavelli betrifft, so ruft die „Macht der kabbalistischen Buchstaben, die Diotavelli in demiurgischer Absicht mutwillig durcheinanderwirbelt (der kabbalistischen Tradition zufolge schuf Gott die Welt durch unendliche Permutation der 22 hebräischen Buchstaben) [...] die Mutation seiner Körperzellen hervor“80, er stirbt an Krebs. Auf seinem Totenbett liefert er Belbo seine Erklärung: Wir haben uns an dem Wort versündigt, an dem Wort, das die Welt geschaffen hat und sie zusammenhält. Du wirst jetzt bestraft, so wie auch ich bestraft worden bin. [...] Jedes Buch ist verwoben mit dem Namen Gottes, und wir haben alle Bücher der Geschichte 74 Eco (wie Anm. 1), S. 585. 75 Omphalos [griech. „Nabel“] bezeichnet den bienenkorbförmigen heiligen Stein in der Orakelstätte des Apoll in Delphi, ursprünglich Opferstein für die Erdgöttin Gaia. Er galt als Erdmittelpunkt. 76 Mit dem nach ihm benannten Pendel wies der Physiker Jean-Bernard-Léon Foucault im Jahre 1851 die Erdrotation nach. 77 Eco (wie Anm. 1), S. 534. 78 Eco (wie Anm. 1), S. 710. 79 Eco (wie Anm. 1), S. 711. 80 Jens (wie Anm. 47), S. 24. Zum Schöpfungsvorgang aus den 22 Buchstaben siehe auch: Scholem, Gershom: Judaica 3. Studien zur jüdischen Mystik, Frankfurt a.M. 1970, S. 20f.
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GABRIELE LÜCK anagrammatisiert, ohne zu beten. [...] Wenn du das Buch veränderst, änderst du die Welt, und wenn du die Welt veränderst, änderst du den Körper. [...] Ich sterbe, weil ich meine Zellen davon überzeugt habe, daß es keine Regel gibt, daß man aus jedem Text machen kann, was man will. Ich habe mein Leben dafür gegeben, mich davon zu überzeugen, mich mitsamt meinem Gehirn. Und mein Gehirn muss die Botschaft an sie weitergegeben haben, an die Zellen [...] Ich sterbe, weil wir über jede Grenze hinaus phantasievoll gewesen sind. [...] Die Welt benimmt sich wie meine Zellen.81
In Computersprache, die Casaubon neben dem Haus von Nicolas Flammel, einem Alchimisten, auf einer Reklametafel für Apple-Computer findet, übersetzt, heißt dies: „Secouez-vous les puces, Schüttelt die Flöhe ab – die Flöhe, sind das nicht die bugs, die Programmierfehler? SoftHermes.“82 Eben jener Programmierfehler, bzw. des Programmierens an sich, konnten sich Casaubon, Belbo und Diotavelli bei ihrem HermesProjekt gerade nicht enthalten, und so begleitet, wie in der griechischen 81 Eco (wie Anm. 1), S. 731. Rekurrierend auf Ecos Semiotik könnte man auch sagen, die Lektoren überschreiten die Grenzen der Interpretation, denn: „[...] ein Text kann zwar unendlich viele Interpretationen anregen, erlaubt aber nicht jede beliebige Interpretation. [...] Im Verlauf der unbegrenzten Semiose kann man von jedem Knoten des Netzwerkes zu jedem anderen gehen; aber dabei sind Regeln der Zusammensetzung zu beachten, die die Geschichte unserer Kultur in gewisser Weise legitimiert hat. [...] Indem er den Sprechenden die Freiheit zugesteht, eine immense Zahl von Zusammenhängen herzustellen oder zu finden, erlaubt der Prozeß der unbegrenzten Semiose ihnen das Erschaffen von Texten. Ein Text indes ist ein Organismus, ein System interner Relationen, das bestimmte mögliche Zusammenhänge aktualisiert und andere unterdrückt. [...] Nachdem ein Text hervorgebracht wurde, kann man vieles damit anstellen [...], doch ist es unmöglich – zumindest unter kritischen Gesichtspunkten illegitim –, ihn etwas sagen zu lassen, was er nicht sagt“. Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation, München/Wien 1992, S. 144f. Siehe hierzu auch Ecos jüngsten Roman Baudolino. 82 Eco (wie Anm. 1), S. 779. Hermes (bei den Römern unter Merkur bekannt) ist im griechischen Mythos als Sohn des Zeus und der Nymphe Maia ursprünglich ein Natur- und Hirtengott, wird später aber zum Götterboten, Gott des Handels, der Wege, Wanderer, Diebe, des Schlafs und Traums ‚befördert‘ und zum Begleiter der Verstorbenen in die Unterwelt. Somit ist sein Name hier vortrefflich gewählt, denn das computergesteuerte Hermes-Projekt begleitet oder vielmehr geleitet seine Schöpfer, ebenfalls in gewissem Sinne Diebe, auch ins Totenreich. In der Spätantike wurde der ägyptische Gott Thot, für den Hermes Trismegistos [gr. „Hermes, der dreimal Größte“] eine andere Bezeichnung war, mit Hermes gleichgesetzt. Er wurde als Verfasser der hermetischen Schriften, hauptsächlich griechischen und lateinischen Texten aus dem 2.-3. Jahrhundert n. Chr., die eine mystische Geheimlehre propagieren, angesehen; auch in diesem Sinne ist die Bezeichnung hier trefflich gebraucht.
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Mythologie der Gott Hermes die Verstorbenen, das computergesteuerte Hermes-Projekt seine Erfinder in das Reich der Toten. Die Wirkung, die das Medium, der Computer, hier hat, evaporiert über die äußeren Grenzen, sprich: die soziale, hier mediale im Sinne von geheimbündlerische, esoterische Welt, in die innere Welt des Körpers der menschlichen Protagonisten, wie mit Diotavellis Worten bereits erläutert wurde. In diesem Sinne verändert sie aber keineswegs nur Diotavellis (Gehirn-)Zellen, sondern im Sinne von Piagets Akkomodation83 auch die Denkstrukturen der anderen Nutzer, wie u.a. folgender Auszug aus einem Computerfile Belbos zeigt (im Roman – wie bereits bemerkt – ebenfalls durch eine andere Schrift aus dem Romantext hervorgehoben): Der Computer hilft einem nicht denken, aber er hilft einem für ihn denken. Total spirituelle Maschine. Wenn man mit dem Gänsekiel schreibt, zerkratzt man das feuchte Papier und muß dauernd die Feder ins Tintenfaß tunken, die Gedanken überlagern sich, und die Hand kommt nicht nach, wenn man mit der Klappermaschine schreibt, verhaken sich die Typen, man kann nicht im Tempo der eigenen Synapsen schreiben, nur im plumpen Rhythmus der Mechanik. Hier dagegen, mit ihm (ihr?) [gemeint ist Abulafia – G.L.] phantasieren die Finger, der Geist streift die Tastatur, die Gedanken fliegen auf goldenen Schwingen [...].84
Auf goldenen Schwingen fliegen auch die Gedanken der drei Lektoren bezüglich ihrer Geschichtskreation. Sie haben die Computertechniken der Textverarbeitung, das Löschen, Ausschneiden und an anderer Stelle einfügen etc. internalisiert, d.h., um mit Piaget zu sprechen, sie haben nicht das Medium assimiliert, es ihren existierenden kognitiven Strukturen angepasst, sondern diese im Sinne des Mediums (‚Computerdenken‘) akkomodiert. „Bald war ein Reflexbogen geschlossen: Nur beim Klap83 Jean Piaget (1896-1980) beschäftigte sich in seinen frühen Arbeiten (Le langage et la pensée chez l’enfant, 1923; Le jugement moral chez l’enfant, 1932; La naissance de l’intelligence chez l’enfant, 1936 und La construction du réel chez l’enfant, 1937) mit der kognitiven Entwicklung des Kindes und führt diesbezüglich die Begriffe Assimilation und Akkomodation ein, die, einander ergänzend, die Entwicklung der kognitiven Strukturen konstituieren. Assimilation meint die Aufnahme eines neuen ‚Gegenstandes‘, indem er den bereits vorhandenen Gehirnstrukturen in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstadium angepasst, sprich, assimiliert, wird, d.h. der Gegenstand wird alteriert; Akkomodation meint die Aufnahme eines neuen Gegenstandes in dem Sinne, dass die kognitiven Strukturen sich dem Gegenstand entsprechend erweitern, d.h. die Strukturen und nicht der Gegenstand werden verändert. 84 Eco (wie Anm. 1), S. 38.
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pern der Maschine fielen dem Schriftsteller noch Sätze ein“85 heißt es bei Kittler bezüglich des Typewriters, es lässt sich aber auch für den Computer weiterdenken.86 Ein weiterer Extrakt aus einem Computerfile mag dies verdeutlichen: Hier ist es schöner, hier kann man Gedanken zertrümmern. Der Bildschirm ist eine Galaxie aus Tausenden und Abertausenden von Asteroiden, säuberlich aufgereiht, weiß oder grün, und du bist es, der sie erschafft. Fiat lux, Big Bang, sieben Tage, sieben Minuten, sieben Sekunden, und vor deinen Augen entsteht ein Universum in permanenter Verflüssigung, das keine präzisen kosmologischen Linien kennt und nicht mal zeitliche Fesseln. Kein Numerus Clausius [sic] hier, hier geht man auch in der Zeit zurück, die Lettern erscheinen gleichmütig, tauchen hervor aus dem Nichts und kehren brav wieder dorthin zurück, ganz wie du befiehlst, und wenn du sie löschst, lösen sie sich auf und verfügen wieder über das Ektoplasma an ihrem natürlichen Ort, das Ganze ist eine unterseeische Symphonie aus weichen Verbindungen und Frakturen, ein gelantinöser Reigen von autophagen Kometen, wie der Freßfisch in der Yellow Submarine, du hältst eine Taste gedrückt, und die irreparablen Lettern flitzen rückwärts zu einem gefräßigen Rachen [...].87
Dies ist Medienästhetik88 in ihrer reinsten Gestalt. Die Schöpfungsphantasien, mit denen Belbo hier das Loblied des Computers singt, übertragen sich im Laufe des Romangeschehens auch auf die Lektorenvorgehensweise der drei Mitarbeiter Garamonds: ‚Fiat lux, Big Bang‘ vor den Augen der Diaboliker wird ihre Geschichte neu moduliert, die Themen ‚tauchen hervor aus dem Nichts und kehren brav wieder dorthin zurück, ganz‘ wie sie befehlen: „Nur wir können jetzt sagen, was passiert ist – was wir wollen, daß passiert sei.“89
85 Kittler (wie Anm. 19), S. 314. 86 Vgl. hierzu: Schnell (wie Anm. 11), S. 255. 87 Eco (wie Anm. 1), S. 38. Hier – und an späterer Stelle, wenn von Sprachverlusten die Rede ist – muss man unwillkürlich an Hofmannsthals in Bezug auf Mediengeschichte – meist im Rahmen des ersten Medienumbruchs – häufig zitierten Worte im Chandos-Brief denken: “[...] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze“. In: von Hofmannsthal, Hugo: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Rudolf Hirsch et al., Bd. XXXI, Frankfurt a.M. 1991, S. 45f. Auch der Computer lässt die Worte zerfallen, wie Eco hier anschaulich demonstriert. 88 Bezüglich der mit dem Computer auftretenden medienästhetischen Veränderungen siehe: Schnell (wie Anm. 11), S. 237-304. 89 Eco (wie Anm. 1), S. 563.
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Neben der kognitiven Komponente ist hier mit dem Computer, quasi als Yin des Yang,90 auch eine erotische verkoppelt: „Und was bitte war Abulafia mit seiner geheimen Reserve an files? Der Schrein all dessen, was Belbo wußte oder zu wissen glaubte, seine Sophia! Jawohl, er wählte sich einen geheimen Namen, um in die Tiefen Abulafias einzudringen, in das Objekt, mit dem er Liebe macht (das einzige) [...]“.91 Später räsoniert Casaubon: „Aber ich glaube auch, daß er durch sie [Lorenza] anfing, den erotischen Charakter der Automatenwelten zu entdecken, die Maschine als Metapher des kosmischen Leibes und das mechanische Spiel als talismanhafte Beschwörung. Er war schon dabei, sich an Abulafia zu berauschen [...]“.92 Kittler beschreibt dies mit folgenden Worten (zwar für die Schreibmaschine, Gleiches lässt sich aber auf den Computer transferieren): „Die schaltungstechnische Einheit von Mensch und Maschine übt einen Sog aus, der die Liebe glatt ersetzen kann.“93 Genau dies ist der Grund, warum Pschorr am Ende von Mynonas Erzählung den von ihm selbst kreierten Apparat, der Pomkes Sehnsüchte von Pschorr abirren lässt,94 auf den Bahngleisen zu seiner Zerstörung verdammt. Doch das reale Leben ist nicht so wie „Abu“95, wie Belbo seinen Computer liebevoll betitelt: Abu erlaubt nun auch kleine lokale Selbstmorde, provisorische Amnesien, schmerzlose Sprachverluste. [...] Die Tragödie des Selbstmörders ist, daß er, kaum hat er den Sprung aus dem Fenster getan, zwischen der siebten und sechsten Etage denkt: „O könnte ich doch zurück!“ Nichts da. Nie passiert. Pflatsch. Abu dagegen ist nachsichtig, er erlaubt dir, dich zu besinnen,
90 Im Taoismus ist Yin die Verkörperung des Weiblichen, des Irdischen, Yang die des Geistigen, Himmlischen – und ein jedes ist ohne das andere nicht vollständig, keine ‚runde‘ Sache wie das die Einheit der beiden Prinzipien repräsentierende Taigitussymbol. 91 Eco (wie Anm. 1), S. 57. 92 Eco (wie Anm. 1), S. 290. 93 Kittler (wie Anm. 19), S. 322. 94 Vgl. hierzu auch Schanzes in Bezug auf den Lautsprecher und das Fernsehen gemachte (aber keineswegs für das Grammophon weniger gültige) Bemerkung: „Der Ton und das Bild kehren mit Macht, aber vom Körper entbunden, in der Materialität der audiovisuellen Medienmaschinen, dem Lautsprecher und dem Fernseher, zurück. Das Anthropomorphe der medialen Apparate, bezeichnet als große Stimme und großes Auge, signalisiert deren übermächtige Körperlichkeit, dem der kleine Mensch, seine schwache Stimme, sein fehlbares Auge, hoffnungslos unterlegen ist.“ Schanze (wie Anm. 11), S. 213. 95 Eco (wie Anm. 1), S. 40.
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GABRIELE LÜCK ich könnte meinen gelöschten Text wiederhaben, wenn ich mich rechtzeitig entschlösse, die Rückholtaste zu drücken.96
Im wirklichen Leben gibt es keine Rückholtaste, die Belbo drücken kann (der Computer, der „besser [ist] als das wahre Gedächtnis, denn das wahre Gedächtnis kann bestenfalls lernen, sich zu erinnern, nicht aber zu vergessen“97, kann in diesem Fall nicht vergessen machen): Die Lüge, der Große Plan, ist lanciert, der „Golem“98 wandelt unaufhaltsam durch die Untergründe der Diaboliker, und wie die Bezeichnung „Schrein“ induziert, die Thomas Mann in eben jener prophetischen Bedeutung in seinem Zauberberg für das Grammophon gebraucht, hat der ‚Selbstmord‘ auch für Belbo bereits begonnen: Er wird von den Okkultisten, die ihm das Kernstück ‚seines‘ Plans, von dem sie nicht wissen und später nicht glauben wollen, dass es ‚seiner‘ und somit ein fiktiver ist, zu entlocken gedenken, unter der Führung Agliès gekidnappt. Und weil er das nicht existente Geheimnis, die besagte Karte, durch die mithilfe des Foucaultschen Pendels der Ombilicus telluri bestimmt werden kann, nicht preisgibt, nicht preisgeben kann, wird er schließlich an dem besagten Pendel, vor den Augen des schockierten Casaubon, erhängt – gleichsam aus Versehen. Casaubon wartet am Ende des Romans in stoischer Ruhe auf ein ähnliches Schicksal. So gehen die drei Lektoren durch ihre Erfindung, durch ihre zur Vergötterung mutierte Technikfaszination, ihre Verliebtheit in ihren mithilfe von Abulafia, der selbst schon fast ein Golem ist, erzeugten Golem, zugrunde. Nur ist es hier das Medium, der Computer, das bzw. der, dadurch dass es/er zur Gottinstanz erhoben wird, seine Nutzer zerstört und nicht, wie bei Mynona, von diesen zerstört wird. Virilio bemerkt: „Dieser Fortschritt [der der Technik – G.L.] sucht die Menschen nicht bloß heim, 96 Eco (wie Anm. 1), S. 40. 97 Eco (wie Anm. 1), S. 39. 98 Eco (wie Anm. 1), S. 730. Der Golem ist die in der jüdischen Sage durch Zauberei zum Leben erweckte menschliche Tonfigur. Wiederum in Bezug auf Ecos Semiotik lässt sich hier mit Dieter Merschs Worten sagen: „Dagegen enthält der ‚Große Plan‘ seine eigene Enzyklopädie, die alle anderen aufhebt und überflüssig macht. Er tritt damit aus der Geschichte wie aus der Kultur heraus und besorgt die vollständige Dekontextuierung und Enthistorisierung der Bedeutungen. Dann lösen sich die Interpretationen buchstäblich aus ihrer Verankerung und geraten außer Kontrolle. [...] Schließlich beginnt sich das imaginäre Gebilde selber mit Leben zu füllen – eine gespenstische Phantasmagorie der Welt, die, je absurder und undurchschaubarer sie wird, gleichwohl an Wirklichkeit gewinnt und noch ihre eigenen Erfinder einholt.“ Mersch, Dieter: Umberto Eco zur Einführung, Hamburg 1993, S. 181.
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er dringt in sie ein. In jedem von uns bewahrt, speichert und komprimiert er sämtliche (visuellen, gesellschaftlichen, psycho-motorischen, affektiven, intellektuellen, sexuellen usw.) Nebenwirkungen, die ihm mit jeder technischen Neuerung und den dadurch bedingten Überfluß an spezifischen Schädigungen zuteil wurde[n].“99 An eben jenen ‚Nebenwirkungen‘ leiden die Protagonisten der hier behandelten Werke: Pschorr weiß sie zu beseitigen, Casaubon, Belbo und Diotavelli vermögen dies nicht. Das, was in Ecos Roman geschieht, die ‚Vergöttlichung‘ eines Mediums vonseiten der Nutzer, ist genau das, was Mynona in seiner Erzählung der Lächerlichkeit preisgibt,100 während die Mediennutzungskritik vonseiten Ecos zwar auch noch mit einem Schuss Ironie, im Vergleich zu Mynona aber in einer weitaus düstereren Perspektive mündet.
3.
Fazit
Am Ende unserer Lektüre sei festgestellt, dass beide Medien ephemere Phänomene, das Grammophon die Stimme, der Computer (Ende der achtziger Jahre) Gedanken in Form von Worten und Zahlen, einfangen, wobei der Computer bzw. dessen Nutzer sie auch als solche, d.h. ephemere, behandelt, wie die Fressfisch-Anspielung in dem zitierten FileAuszug destilliert. „Dem unendlichen Gedächtnis der technischen Speicher entspricht ein technisches Vergessen: der Löschbefehl.“101 Das, was Casaubon, Belbo und Diotavelli mithilfe des Computers betreiben, kann man daher auch mit Virilios bekannten Worten als „Auslöschung des Realen“ und „Ästhetik des wissenschaftlichen Verschwindens“102 bezeichnen. Die Protagonisten selber erscheinen als von „kosmischer Maßlosigkeit beherrscht, von der phantastischen Suche nach anderen Welten, in denen der ‚natürliche Leib‘ keinen Platz mehr hätte und die
99 Virilio (wie Anm. 66), S. 40. 100 Dass es ausgerechnet die Stimme Goethes und somit auch der Augenblick, in dem diese jeweils erklang, ist, zu der bzw. dem Pomke und zunächst auch Pschorr gerne die die Essenz des Paktes zwischen Faust und Mephisto bildenden Worte „Verweile doch! du bist so schön!“ (Goethe [wie Anm. 39], S. 581) sagen würden, ist bezeichnend, denn mit diesen Worten würden sie sich zwar nicht Goethes Mephisto, aber im übertragenen Sinne dem mephistophelischen Medium verschreiben und somit zu dessen Sklaven werden – was Pschorr jedoch rechtzeitig erkennt und verhindert – durch die Zerstörung des Apparates (für dessen ‚Inerscheinungtreten‘ er, ebenso wie Faust für Mephistos, gesorgt hatte). 101 Schanze (wie Anm. 11), S. 209. 102 Virilio (wie Anm. 66), S. 11.
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Symbiose zwischen Mensch und Technologie verwirklicht wäre“.103 Letzteres trifft auch auf Pschorr zu. Beide Medien, sowohl das Grammophon als auch der Computer, nehmen hier also u.a. ‚Memory‘-Funktion ein und sind somit „immer auch Flugapparate ins Jenseits“104, wobei der Computer als moderneres Medium dem Grammophon einen Schritt voraus ist: Er kann auch vergessen machen (Löschtaste). Diese technische Reproduzierbarkeit – „Wenn Erinnerungen und Träume, Tote und Gespenster technisch reproduzierbar werden, erübrigt sich die Kraft des Halluzinierens bei Schreibern wie bei Lesern“105 heißt es bei Kittler – macht aber keineswegs das Halluzinieren obsolet, wie Eco demonstriert hat. Im Gegenteil, die technischen Möglichkeiten des neuen Mediums Computer bereiten dem Halluzinieren einen weit weniger holperigen Weg als das Grammophon dies tat, hinter dessen anfänglicher Störgeräuschkulisse (Gleiches trifft – teilweise noch heute – auf das Radio zu) sich der Hörer den „Urgeist der Musik“106 bzw., à la Joyce, seinen Urgroßvater halluzinieren musste. „Hören Sie einmal, Sie Männlein, ohne Pathos und ohne Spott, hinter dem in der Tat hoffnungslos idiotischen Schleier dieses lächerlichen Apparates die ferne Gestalt dieser Göttermusik vorüberwandeln!“107 instruiert im Steppenwolf Mozart Harry Haller. Mit anderen, im Sinne Walter Benjamins gesprochenen Worten: Im analogen Medienumbruch ist es die Aura108, die der Leser trotz technischer Reproduzierbarkeit nicht umhinkommt zu imaginieren (was ihm auch gelingen mag, da „[...] die diskrete Aktualisierung der Aura [...]“109 in der Struktur des „[...] Optisch-Unbewussten ein Minimum an humaner Beseelung im Universum technologischer Reproduktion [erlaubt]“110). Das ‚moderne‘ Medium steht also auch hier in der Mitte, sprich: zwischen Realität und Fiktion, zwischen Diesseits und Jenseits, und dient somit als die den Vorgang der Osmose, um eine biologische Metapher zu wählen, ermöglichende semipermeable Membran für die Zirkulation dieser ephemeren Phänomene, denn was ist ephemerer als die Imagination 103 Virilio (wie Anm. 66), S. 41. 104 Kittler (wie Anm. 19), S. 24. 105 Kittler (wie Anm. 19), S. 20f. 106 Hesse (wie Anm. 21), S. 407. 107 Hesse (wie Anm. 21), S. 407. 108 Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser, Bd. I (2), Frankfurt a.M. 1991, S. 477. 109 Schwering, Gregor: „Medienpsychologie“, in: Schanze, Helmut (Hrsg.): Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart 2001, S. 105. 110 Schwering (wie Anm. 109), S. 105.
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oder der Tod, „[t]he undiscovered country, from whose bourn/No traveller returns [...]“111? Pschorrs Konstrukt, das eine ‚Vorgängervariante‘ des „Konglomerat[s] aus Scanner-Augen, nose spasms, wirren Zungen, technischen Kiemen, Cyber-Ohren, Geschlechtern ohne Sekretion und anderen körperlosen Organen, die sich in der Cyber-Literatur beschrieben finden“112, präsentiert, ist, wie eben jene, teilweise „nichts anderes als ein großer Schwindel, der darauf angelegt ist, die Todesgewissheit zu verschleiern“.113 Medien, wenn wir sie wie McLuhan als „extensions of man“114 sehen, sind somit technische Erweiterungen des Äquilibrierens von, um noch einmal Rekurs auf Freud zu nehmen, Lebens- und Todestrieb(en)115, das, wie bei Pschorr, gelingen116 oder, wie bei Casaubon und seinen Kollegen, scheitern mag. Was die Möglichkeiten der zeitgenössischen Technik anbelangt, so werden sie von den hier gelesenen Autoren nicht nur wohlwollend zur Kenntnis genommen, wie z. B. die oben zitierte medienästhetische Passage aus Ecos Roman zeigt, sondern in ihren Möglichkeiten gleichsam ad absurdum geführt. Das, was Mynona und Eco ironisieren, sind die mit den emergierenden Medien verknüpften Phantasien und ihre damit verbundenen psycho-sozialen Auswirkungen, insofern sie sich in übersteigerter Form äußern oder gar in Allmachtfantasien gipfeln. Für das letztgenannte Phänomen liefert auch Mynonas Roman Graue Magie,117 in dem Medien wieder in Magie118 transformiert werden und somit zu ih111 Shakespeare (wie Anm. 23), S. 1017. 112 Virilio (wie Anm. 66), S. 41. Ein schönes Beispiel für solche Konstrukte liefert auch Mynonas Roman Graue Magie. 113 Kroker zitiert nach Virilio (wie Anm. 66), S. 41. 114 McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1965. 115 Freud benutzt oft beides, Singular und Plural, synchron. Siehe: Freud (wie Anm. 43), S. 253f.. 116 „Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende“ schreibt Freud (Freud (wie Anm. 43), S. 248). In Freudscher Interpretation stellen also die Medien hier Werkzeuge zur Wiederherstellung des Urzustandes, zur Rückkehr ins „Anorganische“ (Freud (wie Anm. 43), S. 248) dar, die Ecos Protagonisten ‚gelingt‘, von Pschorr aber, im Sinne der momentanen Prävalenz der Sexualtriebe (vgl. S. 6f. dieser Arbeit), vereitelt wird. 117 Friedlaender, Samuel (Mynona): Graue Magie, Berlin 1971. Bezüglich theoretischer Überlegungen, die in die Richtung von Friedlaenders Fantasien gehen, siehe: Fiala, A.K.: „Elektrophysiologische Zukunftsprobleme“, in: Kümmel/Löffler (wie Anm. 19), S. 153f. 118 Zur Geistergeschichte der Medien vgl. jüngst: Kümmel, Albert/Löffler, Petra: „Nachwort“, in: dies. (Hrsg.): Medientheorie 1888-1933, Frankfurt a.M. 2002, S. 551 u. 556.
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GABRIELE LÜCK
rem frühen Wortbedeutungsinhalt (im Sinne von Geisterbeschwörer, Mittler) zurückkehren,119 ein prägnantes Beispiel, und die bereits erwähnte Internetseite präsentiert eine dem spielerischen Anfang der Technikfaszination im Foucaultschen Pendel ähnliche Variante. Bezüglich der Grenzen von medialer Performation sei abschließend mit den Worten Agent Ks, einem der Protagonisten des Films MEN IN BLACK, bemerkt: 1.500 years ago everybody knew, the earth was the centre of the universe, 500 years ago everybody knew, the earth was flat and 15 minutes ago you knew that people were alone on this planet. Imagine what you’ll know tomorrow.120
119 Im Sinne von Hamlets “[...] for yourself sir shall grow as old as I am, if, like a/crab, you could go backward.“ Shakespeare (wie Anm. 23), S.1012. 120 MEN IN BLACK. Columbia Pictures 1997 [Transkription d. V.].
JENS SCHRÖTER
DAS EPHEMERE DETAIL UND DAS MASCHINELLE. DIE ÄUSSERSTE GRENZE DER KÜNSTLERISCHEN FOTOGRAFIE BEI GARRY WINOGRAND UND WILLIAM EGGLESTON
I have nothing to say. [...] I don’t have anything to say in any picture. […] I’m not revealing anything. Garry Winogrand.1
Sometimes I like the idea of making a picture that does not look like a human picture.
William Eggleston.2
„Alle Künste beruhen auf der Gegenwart des Menschen, nur die Fotografie zieht Nutzen aus seiner Abwesenheit“, schrieb André Bazin 1946. Und: Zum ersten Mal – einem rigorosen Determinismus entsprechend – entsteht ein Bild der Außenwelt automatisch, ohne das kreative Eingreifen des Menschen. Die Persönlichkeit des Fotografen spielt nur für die Auswahl und Anordnung des Objektes eine Rolle, und 1 In: „Monkeys Make the Problem More Difficult: A Collective Interview with Garry Winogrand“, in: Image. Journal of Photography and Motion Pictures of the International Museum of Photography at George Eastman House, 15, 2 (1977), S. 1-4, hier: S. 1 und zit. in: Szarkowski, John: „The Work of Garry Winogrand“, in: Winogrand, Garry: Figments from the Real World (Ausstellungskatalog), New York 1988, S. 11-41, hier: S. 32. 2 Eggleston, William: Ancient and Modern (Ausstellungskatalog), New York 1992, S. 50.
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JENS SCHRÖTER auch für die beabsichtigte Wirkung. Wenn auf dem fertigen Werk Spuren der Persönlichkeit des Fotografen erkennbar sind, so ist diese dennoch nicht vom gleichen Rang wie die des Malers. 3
Der Prozess der automatischen Einschreibung von Licht im indexikalischen Medium Fotografie droht also den Status des Fotografen als ‚Künstler‘ zu unterlaufen. Die nebensächlichen und ephemeren Details, die sich an jeder Intention des Fotografierenden vorbei ins Bild schleichen und oft erst nachträglich gesehen werden, heben nicht nur die Vorstellung einer Beherrschung des Bildraums durch den Künstler aus den Angeln, sondern zeigen vielmehr noch, wie lückenhaft das menschliche Auge sieht.4 Wie Kemp bemerkt hat, galt die „Detailfrage“ im 19. Jahrhundert als „Haupthindernis“5 für die Anerkennung der Fotografie als Kunst. Alle Versuche, ‚künstlerische Fotografie‘ zu produzieren, müssen sich mit dem maschinellen Charakter des Mediums auseinandersetzen: Im Piktorialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde versucht, durch gezielte Unschärfe die Details zu verwischen oder durch Nachbearbeitung der Negative bzw. der Positive den Eindruck des „kreativen Eingreifens“ (Bazin) zu erzielen. Als der piktorialistische Ansatz, maßgeblich verkörpert durch das frühe Werk von Alfred Stieglitz, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts verblasste, wurden neue Strategien zur (vermeintlichen) Kontrolle des Künstlers über das automatische Bild der Fotografie entwickelt. Paradigmatisch hierfür kann Ansel Adams stehen, der nicht nur von Edward Weston das Phantasma übernahm, dass die „prävisualisierte Fotografie [...] im oder vor dem Moment der Belichtung“6 existiere, sondern mit seinem ‚Zonenmesssystem‘ ein Verfahren
3 Bazin, André: „Ontologie des fotografischen Bildes“, in: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie, Bd. 3, 1945-1980, München 1983, S. 5864, hier: S. 62. 4 Vgl. zu der „narzisstischen Kränkung“, die das automatische Bild der Fotografie mit seinen überbordenden Details dem Menschen zufügt: Därmann, Iris: Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte, München 1995, S. 407-410. Im 19. Jahrhundert zeigte zudem die Chronofotografie Muybridges, wie wenig richtig das menschliche Auge Bewegungen wahrnimmt – ein Schlag für viele Künstler. 5 Kemp, Wolfgang, in: ders. (Hrsg.): Theorie der Fotografie, Bd. 1, 18391912, München 1980, S. 88. 6 Adams, Ansel: „Ein persönliches Credo“ (1943), in: Kemp (wie Anm. 3), S. 40-46, hier: S. 45; Hervorhebung J. S.
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für eine kaum noch zu überbietende Kontrolle über den Bildraum im Hinblick auf die Tonwerte entworfen hatte.7 Die vor allem durch den kapitalistischen Kunstmarkt motivierte Nobilitierung von Fotografien zur Kunst (welche auch die Umschreibung der Geschichte der Fotografie einschließt), wird im 20. Jahrhundert durch bestimmte Institutionen – den Kunstmarkt, Galerien, Fotokritikern und vor allem das Department of Photography des Museum of Modern Art – geleistet.8 Letzteres spielt, unter der Leitung von John Szarkowski, seit den 1960er Jahren eine zentrale Rolle. Besonders prekär ist, dass mindestens bei zwei der von Szarkowski geförderten (oder muss man sagen: gemachten?) Künstler, Garry Winogrand und William Eggleston, der automatische Charakter des fotografischen Bildes ins Zentrum rückt. Wie ist dies mit ihrer gleichzeitigen Positionierung als Künstlersubjekt zu vereinbaren? Wie wird der maschinelle Charakter der Fotografie im Diskurs zu diesen Künstlern verdrängt? Und gibt es eine Wiederkehr des Verdrängten? * Ein Prätext für Szarkowskis Diskurs sind die Überlegungen des einflussreichen Kunstkritikers Clement Greenberg gewesen, der betonte, dass im Modernismus „Gegenstandsbereich jeder einzelnen Kunst genau das ist, was ausschließlich in dem Wesen ihres jeweiligen Mediums angelegt
7 Bezeichnenderweise schreibt Adams (ebd.) auch: „Fotografie ist kein Zufall, sie ist ein Konzept.“ Vgl. Green, Jonathan: American Photography: a Critical History 1945 to the Present, New York 1984, S. 30: „Adams found in this [zone] system the answer that pictorialists in photography had long been seeking: a means of controlling the optical, mechanical medium with the same finesse the painter managed with the brush and palette“; Hervorhebung J. S. 8 Zur historischen Entstehung eines Copyrights an maschinell hergestellten Bildern, was in den kapitalistischen Gesellschaften eine Vorbedingung für ihren möglichen Status als Kunst ist, vgl. Tagg, John: „A Legal Reality. The Photograph as Property in Law“, in: ders.: The Burden of Representation, Houndsmill u.a. 1988, S. 103-117, insb. S. 111. Zum ökonomischen Nutzen ‚künstlerischer‘ Bestrebungen in der Fotografie, vgl. Keller, Ulrich: „The Myth of Art Photography: A Sociological Analysis“, in: History of Photography, 8, 4 (1984), S. 249-275, hier: S. 268 zur Bedeutung der Fotoindustrie für die fotokünstlerischen Bemühungen der New Yorker PhotoSecession und Alfred Stieglitz. Zur Rolle des Dept. of Photography am MoMA, vgl.: Phillips, Christopher: „The Judgment Seat of Photography“, in: Michelson, Annette/Krauss, Rosalind/Crimp, Douglas/Copjec, Joan (Hrsg.): October. The First Decade. 1976-1986, Cambridge, Mass./London 1987, S. 257-293.
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ist“.9 So rechtfertigte er, ausgehend von der (vermeintlich) essenziellen flatness des malerischen Mediums, die amerikanische, abstrakte Nachkriegsmalerei. An dieses Konzept einer für Kunst konstitutiven Reflexion der Medienspezifik anschließend, postuliert Szarkowski im Vorwort zu dem 1966 erschienenen Katalog The Photographer’s Eye programmatisch fünf zentrale Eigenschaften des fotografischen Bildes – „The Thing Itself“, „The Detail“, „The Frame“, „Time“ und „Vantage Point“. Wie sich schon an der Kategorie „The Thing Itself“ zeigt, folgt aus Szarkowskis Konzept keineswegs die Abstraktion, also z. B. die Herstellung von Fotogrammen, die man ja mit Recht als die spezifische Reduktion der Fotografie – der Lichtschrift – aufs Wesentliche verstehen könnte. Vielmehr versucht er eine modernistische fotografische Praxis ohne Verzicht auf den Gegenstandsbezug des fotografischen Bildes zu begründen.10 Folglich schreibt er unter dem Leitbegriff „The Detail“: „The pho9 Greenberg, Clement: „Modernistische Malerei“ (1961), in: ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hrsg. v. Karlheinz Lüdeking, Basel/Dresden 1997, S. 265-278, hier: S. 267. Auf den Zusammenhang zwischen Szarkowski und Greenberg hat Burgin, Victor: „Photography, Phantasy, Function“, in: ders. (Hrsg.): Thinking Photography, Houndmills u.a. 1982, S. 177-216, hier: S. 208-212 verwiesen. 10 Vgl. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt, Basel/Dresden 1998, S. 68-73 zu den Fotogrammen. Szarkowskis Konzept wurde kritisiert: Er würde zwar Greenbergs modernistisches Programm adoptieren, aber ohne wirklich dessen Insistenz auf die Materialität des Trägers anzunehmen, vgl. Burgin (wie Anm. 9), S. 209 und Phillips (wie Anm. 8), S. 287. Burgins radikale Schlussfolgerung, die Annahme des Greenberg’schen Programms müsse in Bezug auf die Fotografie in der Anerkennung der Fotogramme als eigentlich modernistischer Form münden, scheint mir übertrieben. Erstens wäre zu klären, ob die Kamera zur ,Spezifik‘ der Form der Fotografie, wie sie sich historisch herausgebildet hat, nicht dazugehört – was eine Diskussion der schwierigen Frage, inwieweit die Fotografie in der Tradition der Camera Obscura steht oder nicht, einschlösse, vgl. dazu Crary, Jonathan: „Modernizing Vision“, in: Foster, Hal (Hrsg.): Vision and Visuality. Discussions in Contemporary Culture, Seattle 1988, S. 29-44. Zweitens ist Greenbergs Programm etwas komplizierter: Er räumt ein, dass die (seiner Auffassung nach) spezifische Flächigkeit der Malerei „niemals absolut“ realisiert werden kann und dass die „optische Illusion [...] weiterhin [...] gestattet“ bleibt (Greenberg (wie Anm. 9), S. 273), was bedeutet, dass Greenberg selbst in Bezug auf die Malerei keine absolut strikte Abwendung vom Gegenstand fordert. Im Hinblick auf die Fotografie bemerkt er daher: „Die moderne Malerei musste [...] abstrakt werden, wozu verschiedene [...] Gründe beigetragen haben, welche die Photographie in ihrer heutigen Form aber kaum berühren. [...] Die Photographie ist die einzige Kunst, die es sich noch leisten kann, naturalistisch zu sein, und die tatsächlich im Naturalismus die höchste Wirkung erreicht.“ Und zur Kritik an Edward Weston heißt es: „Er ist der modernen Malerei in ihrem Vorbehalt gegenüber dem Bild-
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tographer [...] could only record it [= the truth, J. S.] as he found it, and it was found in nature in a fragmented and unexplained form – not as a story, but as scattered and suggestive clues.“11 D.h. Szarkowski betont einerseits, dass der Fotograf nicht die Möglichkeit hat, wie der Maler die Bildfläche – nach Benjamins Wort – mit Bewusstsein zu durchwirken, sondern vielmehr das Fragmentarische und die „compelling clarity“ des fotografischen Bildes annehmen muss. Andererseits betont er aber auch: „Intuitively, he [= the photographer, J. S.] sought and found the significant detail. His work, incapable of narrative turned toward symbol.“12 Hier klingt an, dass der Fotograf Details gezielt sucht, findet, auswählt und so mit Signifikanz versieht. Szarkowski meint mit „The Detail“ also weniger die automatisch ins Bild gelangenden und so den Mangel an Kontrolle bezeichnenden Details, sondern: „From the reality before him, he [= the photographer, J. S.] could only choose that part that seemed relevant and consistent, and that would fill his plate.“13 Daher betont er im Vorwort zu William Eggleston’s Guide die „expressive possibilities of the detail“.14 Das in früheren Debatten über den Kunstcharakter der Fotografie verfemte Detail wird also rehabilitiert, aber nur unter der Bedingung, dass der Fotograf es bewusst als Ausdrucksmittel einsetzt. Diese doppelte Bewegung findet sich auch in Hinsicht auf jene anderen Eigenschaften des fotografischen Bildes, die oft der Nobilitierung der Fotografie zur Kunst im Weg standen: Original photographers enlarge [the] shared sense of possibilities by discovering new patterns of facts that will serve as metaphors for their intentions. The continuing, cumulative insights of these exceptional artists have formed and reformed photography’s tradition: a new pictorial vocabulary, based on the specific, the fragmentary, the elliptical, the ephemeral, and the provisional.15
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gegenstand zu treu gefolgt“ (Greenberg, Clement: „Das Glasauge der Kamera“ (1946), in: Greenberg (wie Anm. 9), S. 107-113, hier: S. 109/110). Szarkowski, John: The Photographer’s Eye, New York 1966, S. 8. Szarkowski (wie Anm. 11), S. 42; Hervorhebung J. S. Zur Differenz zwischen Greenbergs und Szarkowskis Position in Bezug auf die Fotografie, insbesondere hinsichtlich der Frage ihres narrativen oder symbolischen Charakters, vgl. Thornton, Gene: „The Place of Photography in the Western Pictorial Tradition: Heinrich Schwarz, Peter Galassi and John Szarkowski“, in: History of Photography, 20, 2 (1986), S. 85-98, hier: S. 88 und S. 91 zum Problem des Details bei Szarkowski. Szarkowski (wie Anm. 11), S. 42. In: Eggleston, William: William Eggleston’s Guide (Ausstellungskatalog), New York 1976, S. 7. Eggleston (wie Anm. 14), S. 8.
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Szarkowskis Konzeption der Fotografie, die das zuvor für ihre Anerkennung als Kunst problematische Fragmentarische, Elliptische, Ephemere und Provisorische gerade als ihre Spezifik und künstlerische Stärke in den Mittelpunkt rückt, hat vor allem das Problem, dass sie sich gegen den ,bloßen Schnappschuss‘ abgrenzen muss. Eggleston, dem noch im Short Guide zur Documenta 11 2002 ein „Blick fürs [...] Ephemere“16 bescheinigt wird, hatte seine erste Ausstellung am MoMA 1976. Sie wurde von verschiedenen zeitgenössischen Kommentatoren mit pejorativen Ausdrücken wie snapshot chic oder snapshot style bedacht. Noch 1986 hat Graham King polemisch einige Fotos dieser New Photography neben ordinäre Schnappschüsse gestellt und den Leser aufgefordert herauszufinden, was Kunst und was bloßer Schnappschuss sei: ein tatsächlich schwieriges Rätsel.17 Szarkowski hat dieses Problem selbst schon 1970 gesehen: „The heirs of the documentary tradition have redirected the idea in the light of their own fascination with the snapshot: the most personal, reticent, and ambiguous of documents. These photographers have attempted to preserve the persuasiveness and mystery of these humble, intuitive camera records, while adding a sense of intention and visual logic.“18 Die Begründung des Kunstcharakters jener neuen Fotografie hängt also – analog zur oben diskutierten Differenzierung zwischen dem bloßen und dem signifikanten Detail – an der Unterscheidung zwischen einem ‚bloßen Schnappschuss‘ und einem – jetzt positiv gemeint – künstlerischen snapshot style, die durch das Aufspüren von Intention und visueller Logik in den Bildern getroffen werden kann. In Bezug auf Eggleston heißt das: [T]he design of most of the pictures seemed to radiate from a central, circular core. In time the observation was relayed to Eggleston, who replied, after a barely perceptible hesitation, that this was true, since the pictures were based compositionally on the Confederate flag [...] The response was presumably improvised and unresponsive, of interest only as an illustration of the length to which artists sometimes go to frustrate rational analysis of their work, as though as they fear it might prove as antidote to their magic.19
16 Documenta 11_Plattform 5:Ausstellung/Exhibition, Kurzführer/Short Guide, Ostfildern 2002, S. 66. 17 Vgl. King, Graham: Say ‚Cheese‘! The Snapshot as Art and Social History, London u.a. 1986, S. 180/181. 18 Zitiert in: Phillips (wie Anm. 8), S. 288 Fußnote; Hervorhebung J. S. 19 Phillips (wie Anm. 8), S. 288 Fußnote. Eggleston hat später selbst scharf die Benutzung der Bezeichnung snapshot in Bezug auf seine Arbeit verurteilt,
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Diese Passage ist symptomatisch: Zunächst wird die „visual logic“, die Egglestons Fotos von Schnappschüssen differenziert, in der konzentrischen Komposition lokalisiert (siehe als Beispiel Abb. 1), was der Künstler erfreulicherweise bestätigt.
Abb. 1: William Eggleston: [o. T.], 1967/1999, aus: 2 ¼. Dann aber zeigt sich, dass Egglestons Antwort ziemlich banal und möglicherweise sogar voller unliebsamer Implikationen ist – denn schließlich waren die konföderierten Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg 1861-1865 Verteidiger der Sklaverei.20 Also wird in einer Gegenbewegung Egglestons Aussage als „improvisiert“ heruntergespielt und zum Zeichen für eine andere, tieferliegende Intention: nämlich jener, die Analyse des Werkes zu blockieren, was den magischen Nimbus des Künstlers stärkt.21 vgl. Eggleston, William: „Afterword“, in: ders.: The Democratic Forest, London 1989, S. 171-173, hier: S. 173. 20 Eggleston kommt aus Memphis und wird bisweilen in diffuser Weise als „Southern photographer“ bezeichnet, was er stets abgelehnt hat, vgl. dazu: „An Interview with William Eggleston by Charles Hagen“, in: Aperture, 115 (1989), S. 40 und 77. 21 Vgl. Solomon-Godeau, Abigail: „Canon Fodder. Authoring Eugene Atget“, in: dies.: Photography at the Dock. Essays on Photographic History, Institutions, and Practices, Minneapolis 1991, S. 28-51, hier: S. 44 zur Rhetorik der Mystifizierung bei Szarkowski. Im unerträglich pathetischen Nachwort zu Eggleston, William: 2 1/4, Santa Fe 1999, o. P. bezeichnet Bruce Wagner den Fotografen gar als einen „Mystagogen“!
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Außerdem hat die Rechtfertigung der Unterscheidung zwischen Egglestons Fotos und bloßen Schnappschüssen anhand der konzentrischen Komposition das große Problem, dass es für Familienschnappschüsse gerade typisch ist, um ein zentrales Fetischobjekt (z.B. das geliebte Kind) herum geordnet zu sein. Folglich muss auch hier eine Unterscheidung gemacht werden: „Unlike them [= die normalen Schnappschüsse, J. S.], however, Eggleston uses the entire picture plane for his compositions, with the result that what, at first glance, appears to be an incidental picture of everyday American life does in fact go much deeper.“22 Eine ähnliche Strategie findet man auch in Bezug auf die Fotografien von Garry Winogrand. Szarkowski zitiert in einem Aufsatz Tod Papageorge: Obwohl Winogrand, so weit den Mythos des 20. Jahrhunderts zu verkörpern scheint, nämlich das reine Kamera-Auge zu sein, als es ein Mensch überhaupt kann, nimmt er in Wahrheit die Welt so selektiv wahr, wie eben jeder Künstler. Was uns täuscht, ist die fotografische Sprache, die er entwickelt hat, um zu beschreiben, was er für interessant hält; denn diese Sprache ist eine, die, wenn wir eines seiner Bilder zum ersten Mal ansehen, nicht die persönliche, flektierte Sprache eines Menschen zu sein scheint, sondern die mechanische Äußerung einer Maschine, einer Kamera. Wenn wir aber seine Fotos eingehender betrachten, erkennen wir, dass sie zwar im konventionellen Sinn unpersönlich sind, dass sie aber auch ausreichend davon erfüllt sind, was wir in einem Gedicht als lyrisches Ich bezeichnen würden. Dieses Ich wiederum ist komisch, hart, ironisch, erfreut und sogar grausam. Aber es ist immer aktiv und unterscheidbar – immer ein erzählendes Ich.23
Diese Unterstellung einer die – oft von Schnappschüssen schwer unterscheidbaren – Fotografien künstlerisch beseelenden Stimme steht in merkwürdigem Kontrast zu Winogrands Aussagen wie „I have nothing to say. [...] I don’t have anything to say in any picture“24. Dieser Satz taucht in Szarkowskis Vorwort zu Figments of the Real World, dem Katalog zur gleichnamigen großen Winogrand-Retrospektive 1988 am MoMA, bezeichnenderweise nicht auf.
22 Weski, Thomas: „The Tender-Cruel Camera“, in: Eggleston, William: The Hasselblad Award (Ausstellungkatalog), Göteborg 1999, S. 8-16, hier: S. 11. 23 Szarkowski, John: „Die amerikanische Fotografie und die Tradition der Grenze“, in: Symposion über Photographie. Steirischer Herbst 1979, Graz 1979, S. 98-107, hier: S. 107; Hervorhebung J. S. Die Übersetzung macht aus „voice“ bezeichnenderweise „Ich“. 24 In: „Monkeys Make the Problem More Difficult…“ (wie Anm. 1), S. 1.
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* Man kann in der Arbeit Egglestons und Winogrands die konsequenteste Ausprägung von Szarkowskis Bruch mit der „exhausted Stieglitz/Weston line of high modernism“25 sehen. Die Kriterien des prävisualisierenden Blicks ebenso wie der (vermeintlich) totalen Kontrolle über den Abzug spielen für beide Fotografen – mit unterschiedlicher Gewichtung – nur noch eine geringe Rolle.26 Dabei beginnt in der Entwicklung beider Fotografen die „mechanische Äußerung einer Maschine“27 mehr und mehr die ‚künstlerische Stimme‘ zu unterminieren. Eggleston28 begann um 1973 oder 1974 mit Video zu experimentieren: „The video camera provided the tool for recording a continuous flow of events, as if all observations were of equivalent significance before the lens. The roots of his ideas of a ‚democratic‘ camera were developing.“29 Holborn bemerkt, dass Eggleston, der sich einige Zeit in der Factory aufgehalten hatte, von Andy Warhol und dessen Filmen beeinflusst worden sei. Die von Szarkowski begrüßte Anlehnung der neuen Fotografen an den Schnappschuss mag also durch die verschiedenen Positionen der Kunst der 1960er Jahre, insbesondere die Konzeptkunst, vorbereitet worden sein, denn dort war ein ‚amateuristischer‘ Umgang mit der Fotografie ein zentrales Mittel.30
25 Phillips (wie Anm. 8), S. 286. 26 Vgl. Phillips (wie Anm. 8), S. 287 Fußnote. Phillips weist darauf hin, dass Szarkowski nicht besonders an aufwendigen Prints interessiert war. Sweetman, Alex: „The Death of the Author. Garry Winogrand 1928-1984“, in: The Archive, 26 (1990), S. 5-12, hier: S. 6 bemerkt, dass Winogrand (im Einklang mit Szarkowskis Konzeption) die Idealisierung des handwerklich perfekten Abzugs ablehnte. Seinen Vorbehalt gegen das Konzept der Prävisualisierung hat Winogrand mehrfach in Sätzen wie „I have no preconceptions“ deutlich gemacht (zit. in: Green [wie Anm. 7], S. 32). 27 Szarkowski (wie Anm. 23), S. 107. 28 Eine Einschränkung möchte ich an dieser Stelle machen: Einer der wichtigsten Aspekte, die an Eggleston immer wieder hervorgehoben werden, ist, dass er ein Meister der Farbfotografie sei und mit seiner schlicht Color Photographs genannten Ausstellung 1976 am MoMA die bis dahin als „vulgär“ (Walker Evans) geltende Farbfotografie in den musealen Raum eingezogen – doch auf diesen Aspekt kann ich im Folgenden nicht eingehen. 29 Holborn, Mark: „Introduction“, in: Eggleston (wie Anm. 2), S. 11-26, hier: S. 21. Zur Idee der „demokratischen Fotografie“ vgl. Schröter, Jens: „Das gasförmige Auge – William Eggleston“, in: Der Schnitt, 14, 2/99 (1999), S. 16/17. 30 Vgl. Wall, Jeff: „Zeichen der Indifferenz: Aspekte der Photographie in der, oder als, Konzeptkunst“, in: ders.: Szenarien aus dem Bildraum der Wirk-
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In dem 1977 erstellten Projekt Election Eve sah Eggleston erstmals nicht mehr durch den Sucher.31 In einem Statement zu einer Serie von Fotografien schrieb er 1979: „They’re related in concept to a particular video piece I’ve been doing that’s something like an unmanned probe, in that the camera travelled along a certain path at a certain pace and produces information about whatever might be found there.“32 Auch hier klingen Anlehnungen an die konzeptuelle Kunst durch: Ed Ruscha hatte zur Erstellung seines 1966 erschienenen Fotobuchs Every Building on the Sunset Strip eine Kamera auf ein Auto montiert und so den ganzen Sunset Strip abgelichtet – einer unbemannten Sonde gleich.33 Eggleston scheint also das Konzept eines Fotografen, der im Blick durch den Sucher Motive aufspürt, das Bild arrangiert, komponiert und so an ein (angeblich) prävisualisiertes Urbild angleicht, zu verwerfen. Die in den frühen Bildern noch lokalisierbare visual logic der konzentrischen Komposition verliert somit ihren Ankerpunkt in einem gestaltenden Subjekt – in den Bildern ab etwa 1977 verschwindet sie zusehends.34 Allerdings sind die Äußerungen über Egglestons Arbeitsweise alles andere als eindeutig. So sagte Eggleston auch: „If you take off the viewfinder of the camera, you end up looking more intensely as you walk around. When it is time to make the photograph it is all ready for you.“ Er nimmt also den Sucher ab, sieht sich aber intensiv die Umgebung an und wenn ‚es so weit ist‘ (was auch immer das bedeutet), macht er eines seiner „shotgun pictures“35 – hier wird ein Mythos fotografischer Intuition bemüht, der nicht sehr von dem der ‚Prävisualisierung‘ abweicht. An anderer Stelle wird dezidiert der Eindruck erweckt, Eggleston sehe sehr wohl durch den Sucher und komponiere das Bild – auch wenn er wohl nicht um Objekte herumgeht, sie schrittweise einkreist und entweder den ‚richtigen‘ Blickwinkel findet oder später aus zahlreichen Fotografien desselben Objekts schließlich die ‚richtige‘ auswählt.36 Sicher scheint
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lichkeit. Essays und Interviews, hrsg. v. Gregor Stemmrich, Amsterdam/Dresden 1997, S. 375-434, insb.: S. 410-434 und zu Warhol S. 422. Holborn (wie Anm. 29), S. 20. In: Danese, Renato (Hrsg.): American Images. New Work by Twenty Contemporary Photographers, New York u.a. 1979, S. 80; Hervorhebung J. S. Zu Ruscha, vgl. Wall (wie Anm. 30), S. 428-431. Eine Ausnahme ist das Portofolio Southern Suite (1981), in dem die meisten Fotos deutlich konzentrisch strukturiert sind. Eggleston (wie Anm. 2), S. 82. Auf die Frage: „How long a lag is there between seeing something, putting the camera to your eye, and tripping the shutter“ (eine Frage, die 1992 wiederum davon ausgeht, dass Eggleston doch durch den Sucher sieht) ant-
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nur, dass Eggleston seine Fotos nicht selbst abzieht, obwohl er betont, dass er die gemachten Abzüge prüfe und so ihre Farbigkeit kontrolliere.37 Eggleston entwirft also nicht mehr ein durch zahlreiche tastende Fotografien von demselben Objekt schließlich perfekt komponiertes Bild, und er zieht nicht mehr eigenhändig ab: Was bleibt dann noch als künstlerischer Akt übrig? Offenbar nur die Selektion verschiedener Bilder aus einem viel größeren Archiv von Bildern und ihre Zusammenstellung zu einer Serie. Francis Frith hatte 1859 in seinem später für Fotografen wie Edward Weston und Ansel Adams (indirekt) maßgebenden Plädoyer für das eine Bild noch gewarnt: „Die Schnelligkeit der Bildherstellung, die der rein mechanische Prozeß bewirkt, kann leicht zu einer Quelle des Unheils werden. [...] Uns schaudert bei dem Gedanken, wie viele miserable ‚Negative‘ sich in diesem Augenblick in Kisten und Kästen häufen, um eines Tages eine Brut schlimmer ‚Positive‘ auszuhecken.“38 In Zusammenhang mit der Arbeit von Eggleston und Winogrand wird demgegenüber immer wieder auf die „boxes of thousands of prints“39 verwiesen, aus denen für Ausstellungen oder Buchpublikationen selektiert wird. Paradigmatisch kann hierfür Egglestons Buchprojekt The Democratic Forest stehen: „The project, lasting several years resulted in more than ten thousand prints“, aus denen Eggleston für das Buch hundertfünfzig auswählte. Holborn bemerkt: „The series, not the individual prints, constitutes the work.“40 Wenn schon nicht mehr im einzelnen arrangierten Bild oder im besonderen Abzug, so spricht das Künstlersubjekt wenigstens noch in der Auswahl aus dem Archiv und im Arran-
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wortete der Künstler: „Oh, it’s instant. [...] I’ve noticed through the years that when I stop and think, ‚What if I move a little bit here or there‘, the whole thing goes away and becomes a bore.“ In: Eggleston, William: Horses and Dogs, Washington/London 1994, S. 11. Vgl. auch ebd., S. 6. Vgl. diesbezügliche Äußerungen von Eggleston in seinem Gespräch mit Ute Eskildsen, in: Eggleston, William: The Hasselblad Award, Göteborg 1999, S. 19. Die Kontrolle über die Farbigkeit ist dann gegeben, wenn er seine Fotos in dem sehr teuren und farbintensiven Dye-Transfer-Verfahren abziehen lässt – wofür er auch bekannt wurde, was er aber nicht immer macht. Dye-Transfer-Prints sind sehr haltbar und daher gut zum Sammeln geeignet – folglich kann die Benutzung dieses teuren Verfahrens auch als Teil der Strategie der Nobilitierung zur Kunst verstanden werden. Frith, Francis: „Die Kunst der Fotografie“ (1859), in: Kemp (wie Anm. 5), S.100-103, hier: S. 103. Eggleston (wie Anm. 19), S. 172. Andernorts bekundet Eggleston, dass er bis zu sieben Rollen Film am Tag verschießt, vgl. Eggleston (wie Anm. 36), S. 10. Holborn (wie Anm. 29), S. 24. Vgl. auch Eggleston (wie Anm. 22), S. 5 und S. 6.
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gement der Serie. Allerdings widerspricht Holborns Einschätzung, dass Eggleston andernorts bemerkt: „I’ve always thought that ‚the piece‘ is, say, something like this box of prints, which has 600 pictures in it all related. To me, all of those together are the work“41, und die Selektion nur als notwendiges Zugeständnis bezeichnet – ein ästhetisches Konzept, das die Künstlerrolle vollends zu unterminieren droht. Genau dies droht auch bei Garry Winogrand, denn in dessen ‚Spätwerk‘ (ab ca. 1982) gibt es keine Selektion mehr. Seit seinem Erwerb einer motorgetriebenen Leica 1982 sprengte die „Schnelligkeit der Bildherstellung“ (Frith) alle Dämme (Abb. 2 zeigt eines der zahllosen proof sheets aus dieser Phase).42
Abb. 2: Garry Winogrand: [Proof Sheet] 1982/83, aus: Figments from the Real World Bei seinem Tod hinterließ er nicht nur das bereits bekannte, ziemlich umfangreiche Werk, sondern weitere ca. 7000 Rollen entwickelten, aber nicht edierten und ungeprüften Film sowie etwa 2700 Rollen belichteten, 41 In: „An Interview with William Eggleston by Charles Hagen“ (wie Anm. 20), S. 40. 42 Vgl. Chiarenza, Carl: „Standing on the Corner ... Reflections upon Winogrand’s Photographic Gaze: Mirror of Self or World? Part II“, in: Image. Journal of Photography and Motion Pictures of the International Museum of Photography at George Eastman House, 35, 1/2 (1992), S. 25-45, hier: S. 38. Er bemerkt, dass Winogrand in dieser Phase – ähnlich wie zeitweilig Eggleston – „even the control of the restricting frame of the camera’s viewfinder“ verwarf.
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aber nicht einmal entwickelten Film. Wenn man annimmt, dass jede Rolle 36 Bilder umfasst, kommt man auf eine Zahl von etwa 350.000 hinterlassenen Bildern. Nach seinem Tod 1984 entwickelte sich eine Kontroverse darüber, wie mit dieser Masse an Bildern zu verfahren sei. In einem im April 1986 erschienenen Artikel z.B. wird diskutiert, ob man die späten Bilder veröffentlichen soll und wenn ja – da man natürlich nicht alle veröffentlichen kann –, wer entscheidet, was die ,guten‘ Bilder sind (also: Wer darf auf den leer gewordenen Platz des Selektors einrücken), wer sie wie abzieht etc. Selbstredend ist derjenige, der für befugt gehalten wird, solche Entscheidungen zu treffen – John Szarkowski.43 Und tatsächlich schließt die 1988 im MOMA veranstaltete posthume Retrospektive von Winogrands Werk, ,Figments from the Real World‘, auch einige der späten Fotografien ein (s.u.). Bezeichnenderweise kommt bei allen Diskussionen über dieses ,Spätwerk‘ fast niemand auf die Idee, dass es vielleicht gar nicht mehr um die einzelnen frames geht und folglich die Fragen danach, ob und wenn ja, welche Bilder auszuwählen und wie diese abzuziehen sind, obsolet sind. Vielleicht geht es ja gerade um den performativen Charakter des Fotografierens und die Akkumulation des Archivs selbst – dann wäre der späte Winogrand so etwas wie ein Performance-Künstler, und die angemessene Weise, diese Arbeit auszustellen, die Anhäufung all der unentwickelten Filmrollen in musealem Raum gewesen.44 * Das Dispositiv des Archivs aus „thousands of photographs“45, aus dem Eggleston und Winogrand (mit tatkräftiger Kuratorenhilfe) selektieren, verweist auf eine andere diskursive Praxis, in der gigantische, einer
43 Vgl. Goldsmith, Arthur: „Winogrand Leaves One-Third of a Million Unedited Frames Behind“, in: Popular Photography, 98, 4 (1986), S. 14/15. Etwas andere Zahlen über den Nachlass liefert Szarkowski (wie Anm. 1), S. 35/36. 44 Vgl. Sweetman (wie Anm. 26), S. 8; Chiarenza (wie Anm. 42), S. 38 und Frisinghelli, Christine: „William Eggleston. Morals of Vision“, in: Camera Austria, 72 (2000), S. 5-13, insb. S. 13, wo sie die These aufstellt, dass bei Eggleston der Arbeitsprozess selbst, statt irgendwelcher zu isolierender Bilder, Zentrum des „Werks“ sei. Egglestons Behauptung, das Archiv seiner Prints selbst sei das Werk (in: „An Interview with William Eggleston by Charles Hagen“ (wie Anm. 20), S. 40) wurde bereits genannt. 45 Knape, Gunilla: „Foreword“, in: Eggleston (wie Anm. 22), S. 5.
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„Ästhetik des Schnappschusses“46 gehorchende Bildarchive, aus denen selektiert werden muss, eine Rolle spielen: die militärische Luftaufklärung bzw. die Spionagesatellitenfotografie. Natürlich ist das Selektionskriterium dort ein anderes – es geht bei der Aufklärung nicht um die schönen gegenüber den unschönen Bildern oder um die Erstellung einer irgendwie ästhetisch kohärenten Sequenz, sondern um auf die denotative Ebene des Bildes gerichtete Fragen wie „Ist das ein Maschinengewehr oder ein Baumstumpf?“47, d.h. um die (militärisch) nützlichen gegenüber den unnützen Bildern. Angesichts der Bezeichnung Egglestons als ‚unmanned probe‘, der Rede von ‚shotgun pictures‘ und seiner Äußerung: „Sometimes I like the idea of making a picture that does not look like a human picture“48 drängt sich dieser Zusammenhang jedoch auf. Dies gilt
46 Gethmann, Daniel: „Unbemannte Kamera. Zur Geschichte der automatischen Fotografie aus der Luft“, in: Fotogeschichte, 19, 73 (1999), S. 17-27, hier: S. 17. 47 Sekula, Allan: „Das instrumentalisierte Bild. Steichen im Krieg“, in: Fotogeschichte, 12, 45/46 (1992), S. 55-74, hier: S. 58. Die Auswertung der riesigen Bildermengen, die durch Spionagesatelliten erzeugt werden, ist ein derart zeitaufwendiges Unterfangen, dass schon früh die Idee entstand, Computer dies verrichten zu lassen, vgl. dazu: Delanda, Manuel: „Policing the Spectrum“, in: ders.: War in the Age of Intelligent Machines, New York 1991, S. 194-203 und Manovich, Lev: „The Automation of Sight. From Photography to Computer Vision“, in: Druckrey, Timothy (Hrsg.): Electronic Culture. Technology and Visual Representation, New York 1996, S. 229-240. Passenderweise macht Sweetman (wie Anm. 26), S. 9 den ironischen Vorschlag, doch eine Software namens CURATOR zu entwickeln, die, gestützt auf maschinelle Bilderkennung und Künstliche Intelligenz, aus dem riesigen Winogrand-Archiv selbsttätig immer neue Ausstellungen generiert. 48 Eggleston (wie Anm. 2), S. 50. Eggleston bezieht die letzte Bemerkung zwar auf schnell fliegende Insekten, aber sie passt ebenso auf den maschinellen Blick von Satelliten. In einem anderen Interview betont er allerdings: „And I’ve tried to make a lot of different photographs as if a human did not take them. Not that a machine took them, but maybe something took them that was not merely confined to walking on the earth“ (in: Haworth-Booth, Mark: „William Eggleston. An Interview“, in: History of Photography, 17, 1 (1993), S. 49-53, hier: S. 53; Hervorhebung J. S.). Bezeichnenderweise wird hier der automatische Charakter des fotografischen Bildes verdrängt: Auch das ominöse, sich offenbar wie eine Aufklärungssonde durch Luft oder Wasser bewegende „something“ muss, wenn es denn fotografiert, die Bilder von einer Maschine machen lassen: Fotografien und auch Fotogramme sind ohne die automatischen Vorgänge nicht zu haben – ob es Künstlern und Kuratoren nun passt oder nicht. Zur Verdrängung der Technizität der Fotografie schon in The Photographer's Eye vgl. Neumann, Pia: Metaphern des Misslingens. Amerikanische Dokumentarfotografie der
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auch für das Spätwerk Winogrands, zu dem Chiarenza bemerkt: „It appears to have come from negatives made from a camera attached to a moving car and preset to make random exposures.“49 Winogrand fotografierte fast nur noch – oft ohne durch den Sucher zu sehen – aus dem fahrenden Auto heraus. Diese Kopplung eines Transportmediums mit einem Fotoapparat, der in bestimmten Intervallen Fotos schießt, ist charakteristisch – nicht nur für bestimmte Arbeiten des schon genannten Konzeptkünstlers Ed Ruscha, sondern auch für militärische Aufklärungsfotografie. Im Lichte dieses Zusammenhangs lassen sich mindestens zwei Überlegungen anstellen. Erstens: So wie Sekula darauf verwiesen hat, dass man die Begeisterung für die Luftaufnahme in der Fotografie der 1920er Jahre, im Futurismus und im Suprematismus immer vor dem Hintergrund der tödlichen Operativität der Luftaufnahme im Ersten Weltkrieg lesen muss,50 so ist die mehrfach konstatierte, auffällige Abwesenheit von Menschen in Egglestons späteren Bildern51 auch lesbar als Zeichen einer von (noch?) unbekannten Massenvernichtungswaffen menschenentleerten Welt. Das „extraterrestrial eye“52 des Fotografen ist so gesehen auch das Auge einer automatischen Sonde, einer unmanned probe, die nach dem Erstschlag das Gelände durchstreift und den Erfolg der Mission, die Ausrottung der Bevölkerung, dokumentiert. Wie schon – aus der Sicht Benjamins – bei Atget werden auch bei Eggleston die menschenleeren Fotos zu Dokumenten von Tatorten.53
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sechziger und siebziger Jahre zwischen Konzeptkunst und Gesellschaftskritik, Frankfurt a.M. 1996, S. 140. Vgl. Chiarenza (wie Anm. 42), S. 43. Vgl. Sekula (wie Anm. 47), S. 66. Vgl. Haus, Andreas: „Luftbild – Raumbild – Neues Sehen“, in: Fotogeschichte, 12, 45/46 (1992), S. 75-90. Vgl. Welty, Eudora: „Foreword“, in: Eggleston, William: The Democratic Forest, London 1989, S. 9-15, hier: S. 10. Nur auf 12 der 148 Bilder in The Democratic Forest sind Menschen zu sehen und nur in zweien stehen die Personen im Mittelpunkt. In The Guide war der Mensch noch ein häufiger Gast in Egglestons Fotos. Holborn (wie Anm. 29), S. 21. Vgl. Benjamin, Walter: „Eine kleine Geschichte der Photographie“ (1931), in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1977, S. 45-64, insb. S. 58 und 64. Signifikant ist so gesehen, dass das zweite der zentral Menschen darstellenden Fotos in The Democratic Forest („Winston“, S. 128) einen kleinen Jungen zeigt, der einen Waffenkatalog (!) liest. Es sei auch auf ein Foto aus Eggleston: (wie Anm. 2), S. 69 verwiesen, das ein Szenario wie nach einem Bombenanschlag zeigt...
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Zweitens muss der Punkt der potenziellen Überflüssigkeit des Menschen für die Produktion eines inflationären Fotoarchivs in einer ‚Ästhetik des Schnappschusses‘ und d.h. generalisiert die „Obsoleszenz des Menschen als Beobachter der Welt“54 im Zeitalter der automatischen Bilder unterstrichen werden: In der Luftaufklärung bzw. Spionagesatellitenfotografie bedarf es keines menschlichen Auslösers – ein Foto verweist nicht prinzipiell auf die Präsenz eines Fotografen bzw. einer Fotografin. Winogrands enigmatische, zur Zeit seines Spätwerks (1983) gemachte Äußerung, dass er so exzessiv fotografiere, weil dies „the closest I come to not existing“55 sei, scheint in diese Richtung zu deuten. * Der – wie Szarkowski im Vorwort zu Figments of the Real World schreibt – „gargantuan excess of the late work“, d.h. die schiere Unmöglichkeit, das exzessive Archiv Winogrands dem ordnenden und klassifizierenden Diskurs des Museums zu unterwerfen, führt den Kurator zu einer bezeichnenden Äußerung: „In these circumstances the editor’s attention is compromised by impatience, then by aggravation, then by something like anger, and the paranoid suspicion that he is the victim of a plot designed by the photographer to humiliate him.“56 Ein bedrückender Verdacht steigt in ihm auf: „Many of the last frames seem to have cut themselves free of the familiar claims of art.“57 Und in der Tat: Winogrand hat schon bei früheren Ausstellungen in der Light Gallery, New York, oder im Art Institute of Chicago die Wände der Ausstellungsräume mit seinen Fotografien tapeziert – eine Präsentationsform, die weniger an das sorgfältig gerahmte, auratisch isolierte Kunstwerk der hochmodernistischen Kunstfotografie erinnert als an die privaten, exzessiven und dezidiert antikünstlerischen Praktiken der ebenfalls nicht durch die Sucher sehenden Lomographen.58 54 Siegert, Bernhard: „Luftwaffe Fotografie. Luftkrieg als Bildverarbeitungssystem 1911-1921“, in: Fotogeschichte, 12, 45/46 (1992), S. 41-54, hier: S. 43. 55 Zitiert in: Szarkowski (wie Anm. 1), S. 34. Auf S. 32 findet man die verwandte Äußerung Winogrands: „I’m irrelevant to the pictures“, vgl. auch Chiarenza (wie Anm. 42), S. 44: „At the end he [=Winogrand, J. S.] often seems to have become one with the camera machine, as if allowing it to mass produce frames of nothingness.“ 56 Szarkowski (wie Anm. 1), S. 36. 57 Szarkowski (wie Anm. 1), S. 38. 58 Vgl. Sweetman (wie Anm. 26), S. 11. Zu musealen Präsentationsformen der Fotografie vgl. Phillips (wie Anm. 8) und zur Lomographie vgl. Albers, Irene: „Knipsen, Knipsen, Knipsen. Das Projekt Lomographie: ein ‚Finger-
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Die tendenzielle Obsoleszenz des Menschen als Beobachter der Welt in Winogrands spätem (und manchmal auch Egglestons) ‚Werk‘ ist mit dem Diskurs der ‚Kunst‘, zumindest in dessen reformiert-modernistischer Gestalt wie bei Szarkowski, unvereinbar.59 Szarkowski ist daher bemüht, die späte exzessive Bilderproduktion, obwohl sie nur eine graduelle Steigerung gegenüber der sonstigen Praxis Winogrands ist,60 aus dem Oeuvre auszugliedern: „To expose film is not quite to photograph“ – der „decline“61 des Spätwerks wird mit allerlei künstlerischen, psychologischen und schließlich gar gesundheitlichen Problemen begründet – bestenfalls könne Winogrands Spätphase als letztlich gescheiterter Versuch, einen Neuanfang zu wagen, beschrieben werden. Also ist es ebenso folgerichtig wie auffällig, dass die Präsenz des Fotografen und damit die „Kontrollfunktion namens Subjektivität [...], die [...] Kunst über Technik“62 erhebt, mithin die Bilder Egglestons und Winogrands von den Schnappschüssen automatischer Sonden bzw. Aufklärungssatelliten oder denen der Normalbürger differenzierbar macht, in der öffentlichen Präsentation von Egglestons und Winogrands Arbeit an signifikanter Stelle immer wieder inszeniert wird. Die ‚Spuren der Persönlichkeit‘ (Bazin) werden richtiggehend nachgereicht. Im Katalog zur Winogrand Retrospektive 1988, Figments from the Real World, ist genau in den beiden Bildern, die die Sektion „Unfinished Work“, also eine
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abdruck der Erde im auslaufenden zweiten Jahrtausend‘“, in: Fotogeschichte, 17, 64 (1997), S. 35-45, S. 35. Dort beschreibt Albers die Lomographie in einer Weise, die unheimlich an Egglestons und Winogrands Arbeit erinnert. Vgl. auch Chiarenza (wie Anm. 42), S. 43. Wie Neumann (wie Anm. 48), S. 143/144 hervorgehoben hat, gibt es Tendenzen im Diskurs Szarkowskis, den Autorenbegriff zu unterlaufen, insbesondere wenn es um ‚allgemein-photographische‘ ästhetische Fragestellungen wie in The Photographer’s Eye geht, einer Ausstellung, die auch zahlreiche Fotografien von unbekannten FotografInnen enthielt. Wenn es aber um Ausstellungen einzelner Künstler geht, muss Szarkowski am Konzept des Autors festhalten, um die Kohärenz des Oeuvres und – im Falle von Eggleston und Winogrand – die Distanz zum Schnappschuss zu wahren. Vgl. Goldsmith (wie Anm. 43), S. 14 über Winogrand: „He was one of the most prolific shooters I ever met, and if he hadn’t burned up several 36-exposure rolls of film before lunch, it was hardly a working day for him.“ Außerdem stand das ungeordnete Bilderarchiv schon am Anfang von Winogrands Karriere: So berichtet Szarkowski über ihr erstes Treffen, dass der Fotograf seine Fotos ungeordnet in zwei großen Einkaufstüten mitbrachte (in: Haworth-Booth, Mark: „An Interview with John Szarkowski“, in: History of Photography, 15, 4 (1991), S. 302-306, hier: S. 303/304). Szarkowski (wie Anm. 1), S. 36. Kittler, Friedrich: Kunst und Technik, Basel 1997, S. 15.
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kleine Auswahl von Bildern aus der exzessiven Spätphase, einleiten, der Schatten des Fotografen im Bild zu sehen: In Abb. 3 sieht man den Schatten klein auf dem entfernten Hang, und das auf der Treppe sitzende Pärchen scheint den Fotografen anzusehen und so seine Präsenz zu verbürgen.
Abb. 3: Garry Winogrand: Santa Monica 1982/83, aus: Figments from the Real World.
Abb. 4: Garry Winogrand: Huntington Gardens 1982/83, aus: Figments from the Real World.
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Dasselbe gilt für Abb. 4, wo der Schatten Winogrands aus dem Vordergrund geradezu auf die fotografierten Subjekte fließt.63 Noch mehr fällt diese Inszenierung bei William Eggleston auf: 1999 bekommt er den hoch dotierten Hasselblad Award verliehen. Das Plakat, welches die zugehörige Ausstellung im Museet for Fotokunst, Odense vom 15.1. - 27.2.2000 ankündigte, zeigt ein Bild Egglestons, das nicht nur eher untypisch für Eggleston ist, sondern auch im Katalog zum Hasselblad Award64 gar nicht vorkommt (Abb. 5).
Abb. 5: William Eggleston: Plakat zur Ausstellung im Rahmen der Verleihung des Hasselblad Awards 1999. Abb. 6: William Eggleston: Plakat zur Ausstellung im Rahmen der Verleihung des Hasselblad Awards 1999. Detail. Der springende Punkt an dem Plakat ist natürlich, dass Egglestons Schatten rechts unten im Bild zu sehen ist und dass man dem Schatten ablesen kann, dass er im Moment der Aufnahme durch den Sucher sah – also ein klassisches Kriterium für fotografische Kunst erfüllt (Abb. 6 zeigt den entsprechenden Ausschnitt vergrößert und nachbearbeitet) – und noch etwas: Auf der braunen Holztür ist ein weiß und braun gehalte63 Mit Dank an Holger Steinmann. 64 Vgl. Eggleston (wie Anm. 22).
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ner weiblicher Akt abgebildet. Das Maler/Modell-Schema, das ein konstitutives Element mindestens der klassisch-modernen Konzeption der Kunst zu sein scheint, wird hier wiederholt.65 So betrachtet, ist es alles andere als zufällig, dass die bekannteste Werkgruppe von Winogrand in dem Buch Women are beautiful66 zusammengefasst ist und eine Ansammlung relativ aggressiver street photos junger, für den oft als Macho und Chauvinisten bezeichneten Winogrand, offenbar sexuell attraktiver Frauen darstellt. Abb. 7 (New York 1968) ist in dieser Hinsicht besonders signifikant, zeigt sie doch nicht nur das Objekt der Begierde, sondern schließt – ähnlich wie in dem eben diskutierten Plakat – den Autor ein: als Spiegelung in der Fensterscheibe.67
Abb. 7: Garry Winogrand: New York 1968 [aus:] Women are beautiful 1975, aus: Figments from the Real World. 65 Vgl. dazu Nead, Lynda: The Female Nude. Art, Obscenity and Sexuality, London/New York 1992, S. 56-58 in Bezug auf: Derrida, Jacques: „Sporen. Die Stile Nietzsches“, in: Hamacher, Werner (Hrsg.): Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt a.M./Berlin 1986, S. 129-168; Jones, Amelia: „Dis/playing the Phallus: Male Artists Perform their Masculinities“, in: Art History, 17, 4 (1994), S. 546-584 und Bergstein, Mary: „The Artist in his Studio: Photography, Art and the Masculine Mystique“, in: The Oxford Art Journal, 18, 2 (1995), S. 45-58. 66 Vgl. Winogrand, Garry: Women are beautiful, New York 1975. Zur Diskussion um dieses Buch, vgl. Chiarenza (wie Anm. 42), S. 25-30. 67 Bei einer Ausstellung einiger Fotos aus Women are beautiful im Sommer 2000 in der Galerie Zander, Köln zierte symptomatisch dieses Foto die Einladungskarte.
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Darüber hinaus ist es nur konsequent, dass – trotz der sonstigen weitgehenden Abwesenheit von Menschen in Egglestons Fotos68 – auf dem Katalog zum Hasselblad Award das Foto einer jungen Frau abgebildet ist (Abb. 8) und das erste Bild im Katalog das (vermutlich) einzige Selbstporträt des ‚Meisters‘ ist, der genau in die Richtung blickt, in der – würde man die Fotos übereinander legen – die Muse säße (Abb. 9).
Abb. 8: William Eggleston: Cover von Hasselblad Award. Abb. 9: William Eggleston: Selbstporträt in Hasselblad Award. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen: z.B. zeigt das erste Foto in Egglestons kleinem Bändchen Horses & Dogs ein Stückchen des Fotografen im Rückspiegel eines Autos (Abb. 10), während das letzte Foto wieder eine Frau zeigt, die mit ihrem Blick in die Kamera die Existenz des Fotografen bestätigt (Abb. 11): die Bildersequenz des Bandes ist also geradezu vom Autor ,Eggleston‘ eingeschlossen.
68 Im Hasselblad Award-Katalog sind auf 14 von 60 Fotos Personen abgebildet – die vergleichsweise hohe Quote liegt am Einschluss vieler früher Fotos Egglestons in den Band.
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Abb. 10: William Eggleston: [aus:] Horses and Dogs, erstes Foto.
Abb. 11: William Eggleston: [aus:] Horses and Dogs, letztes Foto.
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Es zeigt sich an diesen Inszenierungen einer Autorfigur, dass das Konzept eines durch ein Künstlersubjekt strukturierten und so legitimierten Oeuvres bestimmte Grenzen zu haben scheint,69 die – nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen – nicht gesprengt werden dürfen, aber von Eggleston und mehr noch von Winogrands Fotografie überschritten zu werden drohen. Dabei soll keineswegs unterstellt werden, dass dies ein intendierter, subversiver Gestus von Eggleston und Winogrand ist (wenn überhaupt, trifft das auf Letzteren zu). Die Ursache liegt vielmehr in Szarkowskis ästhetischem Programm. Er hatte versucht, das TechnischUnbewusste der Fotografie, das für alle früheren Versuche der Nobilitierung der Fotografie zur Kunst ein Hindernis war, nun gerade in eine modernistische Ästhetik einzugemeinden. Gestützt auf Greenbergs Imperativ, dass eine modernistische auch eine medien-reflexive Ästhetik sein müsse, wurden der schnelle und automatische Charakter der Bildherstellung und somit die Akkumulation eines amorphen Archivs sowie das automatisch im Bild gespeicherte Detail und also die Ästhetik des Schnappschusses nicht länger schamhaft verdrängt, sondern ins Zentrum der fotografischen Ästhetik gerückt – darin ist Szarkowskis Konzept nicht so sehr vom etwa zeitgleichen, ‚amateuristischen‘ Einsatz der Fotografie in der konzeptuellen Kunst verschieden.70 Doch anders als in der konzeptuellen Kunst waren die Fotografien für Szarkowski kein Mittel für außer-fotografische künstlerische Strategien, sondern Endzweck – insofern Szarkowski gerade einer der Auguren einer ‚Kunstfotografie‘ (gegenüber einer mit Fotografien arbeitenden Kunst) war. Während der Schnappschuss für die konzeptuelle Kunst eben als unkünstlerischer Schnappschuss dazu dienen konnte das Unkünstlerische in die Kunst zu integrieren und so den Status der Kunst bzw. des Künstlers und seiner Autorfunktion in Frage zu stellen, sollen die Bilder von Eggleston und Winogrand trotz der (oft) gegebenen oberflächlichen Ähnlichkeit ja gerade fundamental von Schnappschüssen verschieden sein – da beseelt von einer ‚künstlerischen Intuition‘.71 So tritt Szarkowskis Begrüßung
69 Die schon, wie das Beispiel Winogrand zeigt, rein quantitativer Natur sein können, vgl. dazu auch Krauss, Rosalind: „Die diskursiven Räume der Fotografie“, in: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hrsg. v. Herta Wolf, Dresden/Basel 2000, S. 175-195, insb. S. 187/188. Der fundamentale Text zur Funktion des ,Autors‘ für die diskursive Strukturierung eines Werkes ist Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?“, in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1988, S. 7-31. 70 Vgl. Wall (wie Anm. 30), S. 410-434. 71 So Szarkowski, John: „Introduction“, in: Eggleston, William: William Eggleston’s Guide (Ausstellungskatalog), New York 1976, S. 6.
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des Ephemeren, Provisorischen, Elliptischen und Fragmentarischen im automatischen Bild der Fotografie in eine unaufhebbare Spannung zu der für die Kunstfotografie konstitutiven Funktion des Autors und dem mit dieser Funktion gewonnenen Unterscheidungskriterium Kunst/NichtKunst. In dieser Spannung und somit am Rande der ‚Kunstfotografie‘ entfaltet sich die Fotografie von William Eggleston und Garry Winogrand – was genau ihren Reiz ausmacht.
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WANDERKINOS IN DEUTSCHLAND: EINE EPHEMERE MEDIENINSTITUTION Bevor sich die Medieninstitution1 des ortsfesten Kinos ab 1905/06 in Deutschland entwickelt hatte und über Jahrzehnte bis zur Durchsetzung des Films im Fernsehen in den 1970er Jahren zu der dominanten Auswertungsform von Filmen wurde, haben Wanderkinos das neue Medium popularisiert und zu einem Massenmedium gemacht. Wanderkinos waren ebenso wie die sich erst später etablierenden ortsfesten Kinos speziell für die Filmprojektion auf Dauer eingerichtete Spielstätten, für deren Zugang Zuschauer Eintrittsgeld bezahlten; sie unterschieden sich von den ortsfesten Kinos dadurch, dass sie von Ort zu Ort bewegt wurden. Wanderkinos sind in mehrfacher Hinsicht ein ephemeres, ein nur für kurze Zeit bestehendes, flüchtiges Phänomen: Sie wurden nur für eine kurze Zeit an einem Ort aufgebaut, dann wieder in ihre Teile zerlegt und zum nächsten Ort weiterbewegt. Die Programmierung der Filme wechselte zudem in aller Regel täglich; das Filmerlebnis der Zuschauer war so flüchtig, dass es kaum Spuren hinterließ. Zudem wurden die transportablen Kinobauten in immer schnellerem Rhythmus durch neue, größere und prächtigere ersetzt. Und schließlich ist die Medieninstitution Wanderkino als solche ephemer, weil sie im Lauf zweier Jahrzehnte von der Bildfläche verschwand. Seit gut 10 Jahren wurde das Wanderkino international zu einem Forschungsgegenstand.2 In der Filmhistoriographie war das Wanderkino 1 Um eine Äquivokation des Medienbegriffs zu vermeiden, bezeichne ich den Film als Medium, das Kino jedoch als Medieninstitution. Wanderkino und ortsfestes Kino sind unterschiedliche Institutionalisierungsformen des Mediums Film. Vgl. zum begrifflichen Konzept ausführlicher: Garncarz, Joseph: „Film in Deutschland um 1900: Zur Etablierung eines neuen Mediums“, in: Sprache und Literatur, 35, 93 (2004), S. 7-13. 2 Musser, Charles/Nelson, Carol: High-Class Moving Pictures, Lyman H. Howe and the Forgotten Era of Traveling Exhibition, 1880-1920, New Jersey 1991; Aurora, Blaise: Histoire du Cinéma en Lorraine: Du cinématographe au cinéma forain, 1896-1914, Metz 1996; Scrivens, Kevin/Smith, Stephen: The Travelling Cinematograph Show, Tweedale 1999; Convents,
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zwar immer präsent, über Jahrzehnte allerdings nur in anekdotischer Form. Die Gründe für das Desinteresse an der Erforschung des Wanderkinos sind vielfältig: Im Rahmen einer teleologischen Geschichtsdeutung galt das Wanderkino als eine kurze, unbedeutende Etappe im Prozess der Institutionalisierung des neuen Mediums Film. Zudem fehlte es über Jahrzehnte an einer institutionalisierten Form der Filmforschung, und als sie sich durchzusetzen begann, wurde ihr Profil in erheblichem Maß von einem in den Literaturwissenschaften verankerten Selbstverständnis der Filmwissenschaft als Textwissenschaft geprägt. Nicht zuletzt stand die schwierige Quellenlage einer Erforschung des Wanderkinos im Wege. Ephemere Phänomene zu rekonstruieren, ist ein grundsätzliches Problem der historischen Kulturwissenschaften, das insbesondere die Theaterwissenschaft immer schon beschäftigt hat. Von einer Inszenierung bleiben bestenfalls Spuren erhalten, Erinnerungen, Kritiken, Textbücher, Fotos, Bühnenbildentwürfe und dergleichen mehr. Mit Hilfe quellenkritischer Verfahren ist es jedoch möglich, Aufführungsereignisse zu rekonstruieren. In Bezug auf die Erforschung der Medieninstitution des deutschen Wanderkinos brachte die Entdeckung der Schaustellerzeitschriften, die den Wanderkinobesitzern als Forum für die Wahrung ihrer Interessen dienten, den Durchbruch. Darüber hinaus lassen sich Einsichten insbesondere zur kulturellen Praxis der Wanderkinobesitzer an einem bestimmten Ort aus den Aktenbeständen diverser Behörden gewinnen, die in den Stadt- bzw. Staatsarchiven überliefert sind. Durch eine systematische Auswertung der Schaustellerzeitschriften – die wichtigste war Der Komet – lässt sich, wie auch immer vorläufig, ein Wissen über Wanderkinos in Deutschland bilden, das die Entstehung, Veränderung und das Verschwinden dieser Medieninstitution umfasst. Nach einem Überblick über das Wanderkino in Deutschland soll in einem zweiten Schritt am Fallbeispiel des Münchner Oktoberfestes gezeigt werden, wie die Auswertung der Aktenbestände einer Stadt unser Wissen über Wanderkinos ergänzen und bereichern kann und wie konkret und detailreich sich mit Hilfe der überlieferten Quellen dieses Phänomen rekonstruieren lässt. Abschließend werde ich einen Vorschlag machen, wie die Etablierung, der Wandel und die Flüchtigkeit der Medieninstitution Wanderkino selbst erklärt werden können.
Guido: Van kinetoscoop tot café-ciné: De eerste jaren van de film in België 1894-1908, Leuven 2000; Bernardini, Aldo: Cinema italiano delle origini: Gli ambulanti, Gemona 2001.
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Wandlungen des deutschen Wanderkinos: ein Überblick Das deutsche Wanderkino war ein internationales, grenzüberschreitendes Phänomen. Da es strukturell ähnlich wie das Wanderkino der Nachbarländer funktionierte, war sein Aktionsradius nicht auf das eigene Land beschränkt. Deutsche Wanderkinos gastierten u.a. auch in Österreich, der Schweiz, in Italien, Frankreich, Belgien und den Niederlanden, während ausländische Unternehmen in Deutschland ihre Wanderkinos präsentierten. Wanderkinos entstanden in Deutschland ab 1896 aus ambulanten Varietés, die zur Jahrmarktskultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts gehörten. Die Schausteller ersetzten das Bühnenprogramm ihrer ambulanten Varietés durch ein Filmprogramm, blieben ansonsten jedoch ihrer Tradition treu, in einem Theaterbau ein unterhaltendes Nummernprogramm zu zeigen, weil sie damit erfolgreich waren. Die entscheidende Motivation, den Varieté- auf Filmbetrieb umzustellen, war der Innovationswert des neuen Mediums und letztlich seine größere Rentabilität. Die Wanderkinos nutzten in aller Regel eine bestehende kulturelle Infrastruktur und präsentierten ihr Angebot auf Festen, Märkten und Messen. Wie diese waren sie ein Saisongeschäft, das im Frühjahr begann und im Herbst endete. Mittels eines Kalenders, den die führende Schausteller-Zeitschrift, Der Komet, ab 1906 herausgab, hatten sie eine lückenlose Übersicht über alle in Deutschland stattfindenden Feste, Märkte und Messen.3 Besuche bei den einzelnen Veranstaltungen waren jedoch alles andere als spontan. Die Standplätze mussten vorher bei den Ortsbehörden beantragt werden, so dass nur eine langfristige Planung ein effektives Geschäft mit den transportablen Kinos möglich machte. Zudem musste der Wanderkinobesitzer über einen Wandergewerbeschein für jede Provinz verfügen, in der er sein Angebot präsentieren wollte, so dass auch in dieser Hinsicht die Reiseroute im Vorhinein sorgfältig geplant werden musste. Da die Wanderkinobesitzer von Fest zu Fest zogen, war die Standzeit durch die Dauer der jeweiligen Veranstaltung begrenzt. Feste und Märkte dauerten in der Regel zwei bis drei Tage, in Ausnahmefällen wie dem Münchner Oktoberfest oder der Leipziger Schaumesse zwei bis drei Wochen. Um den Auf- und Abbau sowie den reibungslosen Betrieb der 3 Komet-Kalender: Unentbehrliches Hilfs- und Nachschlagebuch für das gesamte Reisegewerbe und verwandte Berufe, Pirmasens, Jg. 1 (1906) - Jg. 44 (1939).
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Kinos garantieren zu können, reisten mehrere Mitarbeiter mit. Der Transport der Theaterbauten erfolgte mit der Eisenbahn, wobei bei großen Bauten bis zu zehn Eisenbahnwagons für den Transport benötigt wurden. Da das Schienennetz der Reichsbahn um 1900 weit entwickelt war, konnten so selbst kleinere Orte bespielt werden. Den Weg vom Bahnhof bis zum Standplatz bestritten die Wanderkinobesitzer häufig selbst, indem sie ihre Lokomobile, die sie zur Stromerzeugung mitführten, als Zugmaschine verwendeten. Je mehr Orte von einem Wanderkinounternehmen bereist wurden, desto größer war auch das bereiste Gebiet. Es gab nur wenige Unternehmen, die ihre Reiseaktivität auf eine Provinz des Deutschen Reichs beschränkten; in aller Regel überschritten sie mehrere Provinzgrenzen. Die einzelnen Unternehmen hatten keine Reviere, sondern konkurrierten um die attraktivsten Feste und Märkte miteinander. Auch bestimmte nicht die Tradition das Reiseverhalten; dass die gleiche Reiseroute über mehrere Jahre gewählt wurde, kam praktisch nicht vor. Zwar wurden immer mal wieder die gleichen Orte besucht, jedoch lagen zwischen den Besuchen oft mehrere Jahre. Auch wurden die Orte in diesem Fall keineswegs in der einmal etablierten Reihenfolge angefahren. Da die Wanderkinos ihre Reiseroute auf der Basis des zu erwartenden wirtschaftlichen Erfolgs planten, waren Feste umso attraktiver je länger sie dauerten und je mehr Besucher sie anzogen. Die Zahl der zugelassenen Wanderkinos war auf jedem Fest begrenzt, um der Bevölkerung ein buntes Spektrum an Attraktionen bieten zu können. Da gleichartige Betriebe miteinander um den selben Platz konkurrierten, hatten die Wanderkinobesitzer keineswegs die freie Wahl, welches Fest sie besuchten. In der Tradition der ambulanten Varietés zeigten die Wanderkinos ein abwechslungsreiches Nummernprogramm, das aus bis zu einem Dutzend fiktionalen und nicht-fiktionalen Filmen bestand, 15 bis 20 Minuten dauerte und zweimal pro Stunde gezeigt wurde. Als ab 1908, bedingt durch den Boom der ortsfesten Kinos, die Länge der Filme zunahm, verdoppelte sich die Dauer der Wanderkinovorstellungen. Der fiktionale Film avancierte um 1902/03 zum tragenden Programmbestandteil; komische Filme waren das bevorzugte Genre. Um ein abwechslungsreiches Programm gestalten zu können, führte jedes einzelne Wanderkino ein Kontingent von bis zu einigen hundert Filmen mit, die den Inhabern gehörten. Der Kauf war die finanziell günstigste Vertriebsform; die Besitzer konnten ihre Filme so vor ständig wechselndem Publikum solange auswerten, bis das Material verschlissen war.
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Wanderkinos machten das neue Medium Film bereits vor der Gründung ortsfester Kinos ab 1905/06 zu einem Massenmedium. Sie sprachen Menschen aus allen Regionen an: Die Unternehmen bespielten nicht nur die Groß-, sondern in zunehmendem Maß auch die Mittel- und Kleinstädte. Sie differenzierten ihre Eintrittspreise zudem so, dass Menschen aller sozialer Schichten angesprochen wurden. Rund 500 Wanderkinounternehmen erreichten bereits 1904 pro Woche mit etwa einer Million Zuschauern so viele Menschen wie keine andere Auswertungsform. Die Zahl der Standorte von Wanderkinos auf Jahrmärkten vervielfachte sich in wenigen Jahren bis 1910. Wie alle Schaustellungen waren auch die Wanderkinos Familienbetriebe. Da das Geschäft mit Filmen außerordentlich erfolgreich war, betrieben einzelne Familien oft bis zu einem halben Dutzend Theaterbauten, so dass man von einer wirtschaftlichen Konzentration im Wanderkinogewerbe sprechen kann. Die Familien Leilich, Bläser, Hirdt, Lindner und Weber fuhren mit ihren ambulanten Kinos in der Zeit zwischen 1896 und 1914 so viele Feste, Messen und Märkte an wie kein anderes Unternehmen. Da das Wanderkinogewerbe prosperierte, die Konkurrenz aber stark war, erneuerten viele Besitzer immer wieder ihre Kinobauten. Zum einen vergrößerten sie ihre Wanderkinos, um der gestiegenen Nachfrage des Publikums nachzukommen. Verfügte Theodor Bläser 1901 über ein Kino mit 160 m², so reiste er 1905 mit einem Bau von 192m² und 1910 mit einem Kino von 480m² Grundfläche. Die Sitzplatzkapazität seiner ambulanten Spielstätten verdreifachte sich damit innerhalb von 10 Jahren von 215 auf 650 Plätze. Zum anderen kauften sich die Wanderkinobesitzer neue Theaterbauten, um durch ein neues Design für das Publikum attraktiver zu werden. Größere Kinos unterschieden sich von kleineren Theatern durch die kunstvolle Fassadengestaltung mit einer aufwendigen Beleuchtung, einer musikalischen Ausstattung in Form einer Orgel bzw. eines kleinen Orchesters sowie durch eine Differenzierung der Sitzplätze in unterschiedlich komfortable und teure Ränge wie in modernen Stadttheatern. Ab 1911 sank die Zahl der Standorte der Wanderkinos in Deutschland dramatisch um 36% gegenüber dem Vorjahr. Seitdem 1905/06 ein Gründungsboom ortsfester Kinos einsetzte, entstand für die ambulanten Spielstätten immer dann ein Absatzproblem, wenn in den Orten, in denen sie gastierten, bereits Kinos ansässig waren. Da sich die Gründungswelle ortsfester Spielstätten erst allmählich von den Groß- über die Mittel- zu den Kleinstädten ausbreitete, war das Wandergewerbe zunächst nicht
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existentiell betroffen. Über Jahre hin wichen die Wanderkinobetriebe in immer kleinere Orte aus, um ein Publikum zu erreichen, das mit Filmen noch nicht gesättigt war. Daher kam es in den Jahren 1905 bis 1910 zu einem wirtschaftlichen Aufschwung beider Auswertungsformen früher Filme, der ambulanten und der ortsfesten Kinos. Der überwiegende Teil der Wanderkinounternehmer stieg in den Jahren 1911 bis 1914 aus dem Geschäft aus. Nur die wenigsten von ihnen gründeten selbst ortsfeste Kinos. Viele blieben ihrer kulturellen Tradition als Schausteller treu und stiegen auf andere Schaustellungen um. Andere wiederum schufen in den 1920er Jahren eine neue Form des ambulanten Spielbetriebs, indem sie vorhandene Räumlichkeiten, insbesondere Schulen mit einem spezialisierten Programm bespielten.
Ein Fallbeispiel: Das Münchner Oktoberfest4 Der erste Wanderkinematograph gastierte 1896 auf dem Oktoberfest. In den beiden folgenden Jahren war kein Wanderkino vertreten, wahrscheinlich weil eine Filmvorführung aufgrund der Ereignisse auf dem Pariser Wohltätigkeitsbasar als zu gefährlich erachtet wurde. Dort war es am 4. Mai 1897 bei einer Filmvorführung zu einer Brandkatastrophe gekommen, bei der über 100 Menschen starben. Von 1899 bis 1913 zeigten Wanderkinos dann kontinuierlich ihr Angebot auf der Festwiese. In der Regel waren vier bis fünf Kinos zugleich auf dem Platz. Das Oktoberfest, das 1810 aus Anlass der Heirat des bayerischen Kronprinzen Ludwig mit der Prinzessin Therese Charlotte Luise von Sachsen-Hildburghausen (daher der Name des Platzes „Theresienwiese“) erstmals gefeiert wurde, entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einer ständigen Einrichtung. Durch den Bau und Ausbau der Eisenbahn – 1849 wurde die Strecke Nürnberg-München in Betrieb genommen – vergrößerte sich das Einzugsgebiet des Festes, so dass sich von den 1860er zu den 1880er Jahren die Zahl der Besucher vervielfachte. Das Oktoberfest zog ein sozial heterogenes Publikum an, das auch in die Wanderkinos strömte. Von über 700 in Deutschland vor 1914 nachweisbaren Wanderkinounternehmen wurden nur 18 für das Oktoberfest zugelassen. Nur neun 4 Eine ausführlichere Darstellung findet sich in: Garncarz, Joseph: „,Die schönsten und elegantesten Geschäfte dieser Branche‘: Wanderkinos in München 1896-1913“, in: Lerch-Stumpf, Monika (Hrsg.): Für ein Zehnerl ins Paradies: Münchner Kinogeschichte 1896 bis 1945, München 2004, S. 37-46.
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Wanderkinos gastierten mehr als einmal und bestimmten damit nachhaltig das Erscheinungsbild der „Wies’n“. Zu den Dauergästen gehörten Peter Lindner aus Nürnberg, der von 1900 bis 1913 kontinuierlich präsent war, sein Bruder Philipp (1911-1913), Theodor Bläser aus Worms (1903-1905, 1907-1910), Heinrich Ohr aus Pirmasens (1903-1907, 1909), die Brüder Heinrich und Philipp Leilich ebenfalls aus Pirmasens (1902, 1904-1910), Ernst Rierl aus Nürnberg (1908-1913), Heinrich Hirdt aus Kaiserslautern (1906-1910) sowie Johann Dienstknecht aus Bonn (1896, 1899, 1901-1902). Die Oktoberfestwiese bot den Wanderkinos Standflächen unterschiedlicher Attraktivität. Die Hauptstraße war für die Wanderschausteller besonders interessant, weil sich durch sie ein breiter Menschenstrom bewegte und daher besonders in der ersten Reihe gute Geschäfte zu machen waren. Deshalb bemühten sich die Inhaber der Wanderkinos vor allem um diese Plätze. Heinrich Ohr, der 1900 einen Platz in der „Hauptreihe“ haben wollte, war bereit, dafür ein höheres Platzgeld zu bezahlen.5 Der Wunsch der Wanderkinobesitzer, einen Standplatz in der ersten Reihe der Hauptstraße zu bekommen, kam den Plänen des Magistrats offenbar entgegen, und dies nicht nur aus feuerpolizeilichen Erwägungen, weil die Kinematographentheater im Brandfall so schneller von der Feuerwehr erreicht werden konnten. Der Magistrat platzierte die Wanderkinos derart exklusiv, weil sich durch sie ein Imageeffekt für das Oktoberfest ergab. Im Dunkeln signalisierte ein Lichtermeer an der Fassade der Wanderkinos den Stellenwert dieser Schaupaläste auf dem Fest. Heinrich Hirdt warb auf seinem Briefbogen mit 16 Bogenlampen und 1.500 elektrischen Glühlampen, die sein Theater schmückten.6 Der Magistrat wusste um die Wirkung der Wanderkinos und ließ daher nur repräsentative Kinos zu, die die attraktivsten Standorte auf dem Platz bekamen.7 Da das Geschäft mit Filmen außerordentlich erfolgreich, die Konkurrenz aber stark war, erneuerten die großen Unternehmen ihre Theaterbauten mehrfach oder kauften sich neue Wanderkinos, die größer und opulenter ausgestattet waren. Die durchschnittliche Quadratmeterzahl der Wanderkinos auf dem Festplatz betrug vor 1900 96, stieg auf 148 im Jahr 1901, auf 193 im Jahr 1905 und auf 332 im Jahr 1910. Innerhalb von 15 Jahren vergrößerte sich die Grundfläche demnach um den Faktor 3,5.
5 Schreiben von Heinrich Ohr an den Magistrat der Stadt München vom 8. Oktober 1900, Stadtarchiv München, Oktoberfest-Repetitorium, Akte 105, 1901. 6 Stadtarchiv München, Oktoberfest-Repetitorium, Akte 117, 1904. 7 Stadtarchiv München, Oktoberfest-Repetitorium, Akte 106, 1901-10.
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1910 boten die fünf zugelassenen Wanderkinos auf der „Wies’n“ durchschnittlich 450 Sitzplätze, Theodor Bläser hatte mit 650 Plätzen das größte, Heinrich Leilich mit 300 Plätzen das kleinste Unternehmen. Auf dieser Basis lässt sich für das Jahr 1910 die Reichweite der Wanderkinos auf dem Oktoberfest errechnen. Bei neun Vorstellungen am Tag zwischen 11 und 20 Uhr (wochentags war um 20 Uhr Sperrstunde, am Wochenende eine halbe Stunde später) und einer vollständigen Auslastung aller 2.250 zur Verfügung stehenden Plätze ergibt sich bei einer Dauer des Festes von 14 Tagen eine Zahl von 283.500 Zuschauern – was beinahe der Hälfte der damaligen Münchner Bevölkerung entsprach. Die Theaterbauten wurden von Jahr zu Jahr jedoch nicht nur größer, sondern auch immer großartiger. Heinrich Hirdt, der erst 1906 vom Magistrat eine Zulassung erhielt, bewarb sich 1904 und 1905 erfolglos um einen Platz auf dem Oktoberfest.8 Die Briefköpfe seiner Bewerbungsschreiben zeigen die Theaterbauten, mit denen er nach München kommen wollte. Der erste Bau hat eine Grundfläche von 208 Quadratmetern, der zweite von 225. Die Innovation des neuen Theaterbaus bestand nicht in der nur geringfügigen Zunahme der Größe, sondern in dem vollständig anderen Design des Kinos. Das Wanderkino vom März 1904 gleicht einem orientalischen Palast mit Minaretten und Kuppeln, während das Kino vom Oktober 1904 ein Gebäude im modisch-dekorativen Jugendstil zeigt. Wanderkinos präsentierten ganz in der Tradition ambulanter Varietés, aus denen sie entstanden waren, Nummernprogramme. Bis 1907 fanden auf dem Oktoberfest pro Stunde zwei Vorstellungen statt, die 15 bis 20 Minuten dauerten und aus durchschnittlich sieben bis elf Filmen bestanden. Je länger die Filme im Lauf der Jahre wurden, desto geringer wurde ihre Zahl im Programm. Ab 1908 sank die Zahl der in einer Vorstellung programmierten Filme nicht nur auf durchschnittlich fünf bis sieben Filme, die Vorstellung selbst dauerte nun, weil die Filme an Länge erheblich zunahmen, etwa 40 Minuten, so dass nur noch eine Vorstellung pro Stunde stattfinden konnte. In den Wanderkinos liefen bevorzugt fiktionale Filme (wie Märchen- und Trickfilme oder Komödien), die im Programm in der Regel mit nicht-fiktionalen Filmen (Darstellungen des Kaisers, der Marine oder fremder Länder) kombiniert wurden. Analysiert man die von den Wanderkinos in München mitgeführten Filmkontingente, so stellt man fest, 8 Schreiben von Heinrich Hirdt an den Magistrat der Stadt München vom 17. März 1904 und vom 10. Oktober 1904, Stadtarchiv München, OktoberfestRepetitorium, Akte 117.
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dass der komische Film mit über 40% das wichtigste Genre war, gefolgt von Filmen, die Reisen in fremde Länder oder interessante menschliche Tätigkeiten wie eine Walfischjagd zeigten. Aktualitäten spielten nur eine marginale Rolle, während Dramen erst mit dem Boom ortsfester Spielstätten um 1908 in nennenswerter Zahl auch Einzug ins Wanderkino hielten. Peter Lindner hat am 24. September 1905 auf dem Oktoberfest folgendes typische Wanderkinoprogramm gezeigt (die Filmtitel wurden um verfügbare Informationen ergänzt): 1. ANGRIFF EINES HÜGELS: KRIEG ZWISCHEN JAPAN UND RUSSLAND, nicht-fiktional, 1905, von Pathé Frères beworben unter der Rubrik „Aktualitäten und Kriegs-Szenen“9, 30 m (dies entspricht einer Laufzeit von 1 Min. 27 Sek. bei einer Vorführgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde). 2. ZAHLUNGSUNFÄHIGE GÄSTE, fiktional, 1905, laut Pathé-Katalog 1904-1907 ein Lustspiel, 60 m (oder 2 Min. 54 Sek.). 3. FUCHS UND KANINCHEN, fiktional, 1904, laut Pathé-Katalog 1904-1907 ein Drama, 20 m (oder 59 Sek.). 4. HINTER DEM OBJEKTIV, fiktional, Bläser, der den Film auch im Programm hatte, rubriziert ihn unter „Akrobatische-, Phantastische- und Verwandlungs-Szenen“.10 5. SPANISCHES BALLETT, nicht-fiktional, 1905, Nachweis über den Pathé-Katalog 1904-1907, 20 m (oder 59 Sek.). 6. TÖCHTER DES TEUFELS, nicht identifiziert, vermutlich fiktional. 7. PETERSPLATZ fiktional.
IN
ROM, nicht identifiziert, wahrscheinlich nicht-
8. DER KLEINE APFELDIEB, fiktional, 1905, eine Pathé-Produktion, beworben unter dem Label „komische und Akrobaten-Szenen“11, 25 m (oder 1 Min. 13 Sek.). Ein Bub entkommt dem Bauern durch ein Loch in der Mauer, in dem der Bauer stecken bleibt. Der Bub verprügelt ihn. 9. DER SARDINENFANG, nicht-fiktional, 1905, Nachweis über den Pathé-Katalog von 1904, 30 m (oder 1 Min. 27 Sek.). Fischermahl. Ausfahrt. Einziehen der Netze. 9 Der Komet, 22, 1043 (1905). 10 Stadtarchiv München, Oktoberfest-Repetitorium, Akte 932/2, 1907. 11 Der Komet, 22, 1047 (1905).
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Lindner mischte in seinem Programm fünf fiktionale und vier nicht-fiktionale Filme abwechslungsreich (nie folgten zwei nicht-fiktionale Filme aufeinander). Die fiktionalen Filme waren nicht nur in der Überzahl, sie waren auch durchschnittlich länger als die nicht-fiktionalen. Die beliebtesten fiktionalen Genres waren in diesem Programm der komische Film und ,Akrobaten-Szenen‘. In wenigen Jahren deckten ortsfeste Kinos den Bedarf der Münchner Bevölkerung an Filmen zunehmend ab, wobei die ersten Kinos wie in anderen Städten in bestehende Ladenlokale eingebaut wurden: 1906 entstand das erste ortsfeste Kino in München, in den Jahren 1907 bis 1911 stieg die Zahl der Ladenkinos von 7 auf 14.12 Die Wanderkinos auf dem Münchner Oktoberfest bekamen das Problem der Konkurrenz mit den ortsfesten Kinos jedoch nicht unmittelbar, sondern erst um 1910/11 zu spüren. Dies hat im Wesentlichen zwei Ursachen: Zum einen konnten die Ladenkinos hinsichtlich des Komforts nicht mit den Kinopalästen der Schausteller konkurrieren, da sie eher mit Kneipen als mit modernen Stadttheatern vergleichbar waren. Zum anderen wurde der Betrieb der Wanderkinos eine Zeit lang durch die Münchner Kinos nicht nachhaltig beeinträchtigt, weil viele Festbesucher aus der umliegenden Region kamen, wo es noch keine Kinos gab. Mit dem sprunghaften Anstieg der ortsfesten Münchner Kinos in den Jahren 1912 und 1913 auf 35 bzw. 41 Kinos und dem Entstehen von Kinobauten, die den Wanderkinos an Pracht nicht nachstanden, war den ambulanten Unternehmen in München die Geschäftsgrundlage entzogen. 1913 gastierten noch Peter und Philipp Lindner (mit je einem eigenen Wanderkino) sowie Ernst Rierl auf dem Oktoberfest. Nach dem Ausfall des Oktoberfestes während des Ersten Weltkrieges spielte das Phänomen Wanderkino, das über 15 Jahre das Erscheinungsbild des Oktoberfestes nachhaltig bestimmt hatte, so gut wie keine Rolle mehr. 1920 wurde noch einmal ein Wanderkino zugelassen – das Reisekino von SchneiderRiehrl aus Nürnberg.13 Die Wanderkinos waren damit in München endgültig den ortsfesten Kinos gewichen.
12 Die Zahlen beruhen auf einer eigenen Auswertung der Angaben von: Sigl, Klaus: „Lexikon der Münchner Kinos“, in: Lerch-Stumpf, Monika (Hrsg.): Für ein Zehnerl ins Paradies: Münchner Kinogeschichte 1896 bis 1945, München 2004, S. 222-237. Die amtliche Statistik (Statistisches Handbuch der Stadt München, 1 (1928), S. 289) weicht von den genannten Zahlen geringfügig ab. 13 Staatsarchiv München, Polizei Direktions Akten zum Oktoberfest, 4045, 1920.
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Die Frage nach dem Warum Die schwierigste, aber auch interessanteste Frage in der kulturhistorischen Darstellung einer Medieninstitution ist die nach dem Warum. Warum entstand zu einer bestimmten Zeit eine neue Medieninstitution, warum hat sie sich in einer bestimmten Art gewandelt, und wie ist das Verschwinden der Medieninstitution des Wanderkinos selbst zu erklären? Zur Beantwortung der gestellten Fragen ist eine soziologische Theorie der Interdependenz sozialer Gruppen hilfreich, wie sie Norbert Elias vorgelegt hat.14 Im Unterhaltungssektor sind die beiden wichtigsten aufeinander angewiesenen Gruppen die Anbieter und das Publikum. Für die Anbieter von Unterhaltung steht ihre wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel, das Publikum findet ohne ein entsprechendes Unterhaltungsangebot keine Befriedigung seiner Bedürfnisse. Aufgrund des Konkurrenzmechanismus bringen Experten der Unterhaltungsbranche immer wieder Neuerungen hervor, auf die das Publikum reagiert. Einige dieser Angebote werden vom Publikum bevorzugt selektiert und erweisen sich marktwirtschaftlich als die tauglicheren, andere finden keinen Zuspruch (mehr) und verschwinden bald aus dem Unterhaltungsangebot. Schausteller entkernten ab 1896 das ambulante Varieté und rüsteten es zum ambulanten Kino um. Diese Variation wurde vom Publikum bestätigt und setzte sich daher durch, während das ambulante Varieté aus dem kulturellen Prozess ausschied. Aufgrund der Konkurrenz, in der sich die Wanderkinobesitzer untereinander befanden, legten sie sich immer neue Kinobauten zu. Die Variation der Bauten – eine Zunahme an Größe und eine zunehmende Prachtentfaltung – war ein Wettbewerbsvorteil, so dass sich in der Tendenz die Wanderkinobauten durchsetzten, die größer und prachtvoller als andere waren. Der neue, ortsfeste Kinotyp, der sich in Deutschland ab 1905/06 etabliert hat, ging nicht auf die Berufsgruppe der Schausteller zurück, die für eine solche ‚Erfindung‘ nicht motiviert war, weil sie sich selbst als fahrendes Volk verstand und weil ihre Wanderkinos prosperierten wie kaum eine andere Schaustellung in dieser Zeit. Die ‚Erfindung‘ des ortsfesten Kinos ging in Deutschland auf eine dritte Kraft zurück: auf Newcomer der Branche wie Händler, Gastwirte und Handwerker. Diese Berufsgruppen stiegen deshalb ins Filmgeschäft ein, weil es ihnen wirtschaftlich nicht gut ging und weil sie in der Filmauswertung eine Möglichkeit sahen, sich aus ihrer schwierigen wirtschaftlichen Lage zu befreien. Aufgrund des Warenhausbooms suchten die Einzelhändler, die im 14 Elias, Norbert: Was ist Soziologie?, München 1981.
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Konkurrenzkampf unterlegen waren, nach einer neuen Möglichkeit, ihre Ladenlokale zu nutzen, und fanden sie im Filmbetrieb.15 Ein ortsfester Betrieb wurde erst um 1905/06 möglich, weil aufgrund des erfolgreichen Wanderkinobetriebs die Zahl der hergestellten Filme so gestiegen war, dass ein Publikum mit immer neuen Filmen zum Kinobesuch motiviert werden konnte. Im Unterschied zum ambulanten Kino, das sich immer ein neues Publikum suchte, stieg der Filmbedarf der ortsfesten Spielstätten enorm, weil das Publikum das gleiche blieb. Vereinzelte Kinogründungen um die Jahrhundertwende scheiterten daher an der zu geringen Attraktivität eines sehr begrenzten Filmangebots. Das ortsfeste Kino hat das ambulante verdrängt: Zwar nahm die Zahl der Wanderkinos bis 1910 zunächst ebenso zu wie die Zahl der ortsfesten Kinos – in dem Maß jedoch, in dem ortsfeste Spielstätten flächendeckend bis in die entfernten Regionen der Provinz Verbreitung fanden, sank die Zahl der Wanderkinos. Der Selektionsprozess, in dessen Verlauf das ortsfeste das ambulante Kino ersetzt hat, fand unter stabilen Bedingungen statt: Mit der Industrialisierung und Verstädterung entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Unterhaltungsbedürfnis auf breiter Basis, ohne das der Aufstieg des Films zu einem Massenmedium nicht denkbar gewesen wäre. Die ortsfesten Spielstätten waren ein qualitativer Sprung in der Verbreitung des Films, da sie es ermöglichten, dass das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums täglich befriedigt wurde. Das ortsfeste Kino grub dem ambulanten mittelfristig das Wasser ab, da es das Unterhaltungsbedürfnis der ortsansässigen Bevölkerung immer schon befriedigt hatte, bevor das ambulante Kino am Ort auftauchte. Aufgrund der mangelnden Nachfrage des Publikums verschwand daher die Medieninstitution des Wanderkinos innerhalb eines Jahrzehnts vollkommen. Im Wechsel vom ambulanten zum ortsfesten Kinogewerbe kam es zu einem Medienumbruch: Belieferten die Wanderkinobesitzer mit einem überwiegend gleichbleibenden Programm wechselnde Publica, so bedienten die ortsfesten Kinos mit einem wechselnden Programm ein überwiegend gleichbleibendes Publikum. Diese Innovation der Medienkonfiguration war folgenreich, blieb sie doch auch für andere Programmmedien wie das Fernsehen bestimmend. In anderer Hinsicht prägte das Wanderkino das ortsfeste Kino der ersten Jahre nachhaltig: Vom Wanderkino übernahmen die ortsfesten Spielstätten den Theaterbau und die Programmstruktur. Da die Wanderkinos immer größer und 15 Vgl. hierzu ausführlicher: Garncarz, Joseph: „Über die Entstehung der Kinos in Deutschland 1896-1914“, in: KINtop: Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, 11 (2002), S. 144-158.
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prachtvoller wurden, prägten sie in Bezug auf ihre Ausstattung weniger die Ladenkinos als die Kinopaläste, die ab 1910 in deutschen Großstädten entstanden. Die ortsfesten Spielstätten kopierten das Nummernprogramm und reicherten es durch eine Filmform an, die im Wanderkino marginal blieb: das Drama. Die neuere Medieninstitution wies also bei aller Innovation Spuren der älteren auf: Merkmale des Wanderkinos lebten in der Form der Variante des erfolgreicheren Kinotyps weiter – hinsichtlich des Nummernprogramms zumindest bis zur Durchsetzung des abendfüllenden Films um 1923/24.
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ÜBERLEGUNGEN ZUR AKTUALITÄT DES EPISODENFILMS Wenn man in der Hörzu die Kurzinformationen zum Spielfilmangebot liest, stößt man nicht nur auf die „Komödie“, den „Thriller“ und die „Milieustudie“, sondern auch auf den „Episodenfilm“ (zum Beispiel am 7.7.2004: Canasta, 25.7.2004: New Yorker Geschichten, 17.10.2004: Sommer des Erwachens, 1.11.2004: Smoke – Raucher unter sich, 11.11.2004: 99 € Films). Die Hörzu-Redakteure setzen also voraus, dass sich die Leser ihrer Zeitschrift etwas unter dieser Bezeichnung vorstellen können. Hingegen behandelt die Filmwissenschaft, selbst die Genreforschung, den Episodenfilm überraschenderweise ausgesprochen stiefmütterlich – obwohl das Genre mindest so alt ist wie D. W. Grifftih’ Intolerance (1916), der als „Inkunabel“ (Schreitmüller), als Initialfilm gilt.1 Der Tonfilm, der um 1930 den Stummfilm ablöst, erschließt dem Episodenfilm neue Gestaltungsmöglichkeiten, indem er die Montageformen erweitert. Gerade beim Episodenfilm stellt sich die Frage, ob man den Film primär als „Zeit-Kunst“ verstehen sollte. Montage bedeutet immer schon: Verknüpfung von Zeiten und Räumen. „Wollte man heute (nach der Erfindung neuer Darstellungstechniken wie des Films) Lessings Laokoon neu schreiben, müßte man sich fragen, ob es noch einen Sinn hat, zwischen Künsten der Zeit und Künsten des Raumes zu trennen […].“2 Im Zwischenraum von Bild und Ton können nun Episoden verzahnt, Zeit-Räume und Raum-Zeiten simultan verbunden werden, wäh1 In der Nachfolge des von Andreas Schreitmüller herausgegebenen Sammelbandes Filme aus Filmen. Möglichkeiten des Episodenfilms, hrsg. von den Westdeutschen Kurzfilmtagen im Auftrag der Stadt Oberhausen, Oberhausen 1983, ist zum Episodenfilm meines Wissens keine umfassende Publikation mehr erschienen. Auch in Filmlexika findet man das Stichwort selten. Eine Ausnahme ist der Artikel von Schössler, Daniel: „Episodenfilm“, in: Koebner, Thomas (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002, S. 144 f. 2 Eco, Umberto: „Les sémaphores sous la pluie“, in: ders.: Die Bücher und das Paradies. Über Literatur, München/Wien 2003, S. 189-211, hier: S. 194.
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rend die Regisseure der Stummfilmära allein auf die Sukzession der Bilder angewiesen waren. Die Komplexität der Ton-Bild-Beziehungen, die „Heautonomie“ von Bild und Ton, führt zu einer Auffächerung und Vielfältigkeit des Episodenfilms. „Heautonomie“ ist eine Begriffsschöpfung von Gilles Deleuze. Sie meint gleichursprüngliche Autonomie und Heteronomie, Eigenständigkeit und wechselseitige Abhängigkeit von Bild und Ton.3 Jim Jarmuschs Film Mystery Train (1989/90) besteht beispielsweise aus drei Episoden, die auf der Bild-Ebene nicht unmittelbar in Kontakt treten (mit einer Ausnahme am Ende des Films, wenn DeeDee im Zug das japanische Teenager-Pärchen Jun und Mitzuko um Feuer bittet): (1) Far from Yokohama, (2) A Ghost und (3) Lost in Space. Als Bindeglied dienen allein die Stimmen, Klänge und Geräusche, die die Hotelgäste in den drei Episoden zur gleichen Zeit hören: Ein Radiosender spielt um 2.17 Uhr Elvis Presleys Song Blue Moon und informiert die Hörer später über einen Raubüberfall. Schließlich fällt im Morgengrauen ein Schuss, dessen burleske Ursache erst am Ende der dritten Episode aufgedeckt wird.
Glokalisierung und Serialität Der Episodenfilm, der sich fast durch die gesamte Filmgeschichte zieht4, erlebt etwa seit 1990 einen Aufschwung, eine überraschende Popularität. Drehbuchautoren und Filmregisseure entdecken wieder die vielfältigen Möglichkeiten, die der Episodenfilm bietet. Ich schlage zwei Hypothesen vor, die vielleicht eine Erklärung für dieses Phänomen liefern können.
Erste Hypothese Die derzeitige Popularität des Genres, das längst auch im HollywoodKino angekommen ist5, reflektiert Globalisierungstendenzen, die mit Stichworten wie global village, Informationszirkulation, Netzwerkgesell3 Vgl. Lommel, Michael: „Skizzen zur Synästhesie des Films“, in: Filk, Christian/Lommel, Michael/Sandbothe, Mike (Hrsg.): Media Synaesthetics. Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln 2004, S. 202-208. 4 In den Jahren 1910-1914 setzt sich der lange Spielfilm durch. Die in Revuen und Schaustellungen dargebotenen Reihen von Kurzfilmen um 1900 sind noch keine Episodenfilme sui generis. 5 Quentin Tarantinos Pulp Fiction (1993) wurde nicht zuletzt aufgrund seiner Episodenstruktur zum Kassenschlager und brachte den von der Leinwand fast schon verschwundenen Schauspieler John Travolta wieder ins Geschäft.
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schaft und Deterritorialisierung charakterisiert werden. Einerseits drückt sich in Episodenfilmen das Bedürfnis aus, übergreifende Zusammenhänge zu erkennen, in der Explosion des weltweiten Datenwissens die Übersicht zu behalten. Andererseits enttäuschen Episodenfilme dieses Bedürfnis nach Übersichtlichkeit und Kontrolle, indem sie die Rückbindung an Erfahrungssicherheit als scheinhaft vorführen. Episodenfilme konfrontieren uns mit Fragmentierung, Zufall, Heterogenität und Widersprüchlichkeit, der Flüchtigkeit der Bilder und Töne, der ephemeren Medienwirklichkeit. Eine Leitmetapher der globalisierten Welt ist das Netz. Und die Idee der Vernetzung – von Geschichten, Personen, Ereignissen – ist geradezu ein Phantasma vieler Episodenfilme. Die ,Theorie‘ der „Six Degrees of Separation“, nach der jeder Mensch auf Erden über sechs Stationen mit jedem anderen Menschen bekannt ist, klingt wie eine Gebrauchsanweisung für die Fabrikation von Episodenfilmen. Wie in einem Laborexperiment exemplifizieren sie sozusagen im Kleinen, manchmal nur am Beispiel einer Familie, wie die große Welt, der Globus, durch verkürzte Kommunikationswege und beschleunigte Reisezeiten zusammenzuschrumpfen scheint, wie uns Unbekanntes näherrückt, wie Disparates aufeinander trifft. Michael Hanekes Episodenfilm Code: inconnu (1999) führt uns vor Augen, dass sich der reiche Westen die Dritte Welt auch durch Protektionismus und Migrationsbegrenzung nicht dauerhaft vom Leibe halten kann: Was in Paris geschieht, betrifft ebenso den Senegal. „Die Globalisierung“, schreibt Karl Schlögel, „produziert durch die radikale Verminderung der Entfernungen Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit auf engstem Raum.“6 Auch im Raume des Films, so könnte man Schlögels Buchtitel aufgreifen, lesen wir die Zeit. Das Ineinanderfallen von Globalität und Lokalität, das schon McLuhan mit dem Terminus des global village erkannt hat, wird als „Glokalisierung“ bezeichnet.7 So ist in Jarmuschs Mystery Train der weltumspannende Einfluss der amerikanischen Populärkultur mit all ihren Retro-Kulten offenkundig: Ein junges Pärchen aus Yokohama reist in die U.S.A., um den Spuren Elvis Presleys zu folgen (Abb. 1). Das provinzielle Memphis im Bundesstaat Tennessee, das im Film wie eine Geisterstadt gestrandeter Existenzen und Glücksritter wirkt, kontrastiert mit seinem globalen Ruf, den es sich durch Graceland, den Wallfahrtsort der Elvisfans, erworben hat.
6 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003, S. 77. 7 Zit. nach: Schlögel (wie Anm. 6), S. 78.
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Abb.1: Jim Jarmuschs „Mystery Train“: In Memphis, „far from Yokohama“. In aktuellen Episodenfilmen lassen sich Stimmungen und Gefühlslagen zur Jahrtausendwende ablesen. Es ist kein Zufall, dass der Episodenfilm mit dem Omnibusfilm8 11’09’’01 – September 11, der 2002 in die Kinos kam, sehr schnell auf den Terroranschlag in Manhattan reagiert hat. Roy Anderssons Songs from the second Floor, eine bizarre Endzeitvision aus dem Jahr 2000, fängt die apokalyptischen Phantasmagorien und Hysterien ein, die sich mit dem neuen Millennium verbinden. Die Verflechtungen, die Wechselwirkungen der globalisierten Kapitalverhältnisse und virtuellen Geldströme sind kaum mehr durchschaubar, geschweige denn von irgend jemandem steuerbar: Um die Aktienkurse, die sich mit einem Male im freien Fall befinden, vorhersagen zu können, engagieren die Wirtschaftsweisen in Roy Anderssons Film eine Wahrsagerin, die ihre Kristallkugel von Hand zu Hand gehen lässt. So wie man früher aus den Eingeweiden von Tieren Wohl und Wehe der Zukunft zu bestimmen versuchte, sind heute die Blicke von den Börsenkurven gebannt.
8 Kollektivproduktionen mehrerer Regisseure bezeichnet man als OmnibusFilme.
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Zweite Hypothese9 Ein weiterer Grund für den Aufschwung des Genres ,Episodenfilm‘ sind die veränderten Wahrnehmungsgewohnheiten und Mediennutzungsweisen, die vor allem auf das Fernsehen zurückzuführen sind. Für Knut Hickethier ist das Fernsehprogramm eine „große Erzählung“ in Episoden. Das Programm ist das „eigentliche Produkt des Fernsehens“, nicht die einzelne Sendung.10 Serien und Reihen sind episodisch angelegt: Mehrteiler, Fortsetzungsgeschichten, Soap Operas und Daily Soaps, die das Fernsehen vom Radio geerbt hat. „Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens stehen in einem engen Zusammenhang.“11 In den U.S.A. gab es bereits in den 50er Jahren über lange Zeiträume laufende Episodenserien. Serialität ist das Charakteristikum des Fernsehens. Sie lässt sich „als ein mäanderartiger Knäuel verschiedener Stränge von Geschichten verstehen, in denen sich der Zuschauer verwickeln lassen kann. [...] Diese Tendenz drängt auf Auflösung geschlossener Einheiten in einen ununterbrochenen Strom von Partikeln [...].“12 Werbespots und Trailer unterbrechen den Fluss der Sendungen. Die Auswahl zwischen zahlreichen Programmen ermöglicht nun ein neues Fernsehverhalten (dieser Wandel setzt in der Bundesrepublik bekanntlich erst 1984 mit der Einführung des Privatfernsehens ein): zerstreute Wahrnehmung, unterbrochene Aufmerksamkeit, Zappen zwischen den Kanälen. Fernsehen dient zunehmend als Wahrnehmungshintergrund (der in den U.S.A. typische television flow). Nicht zufällig werden daher in Episodenfilmen häufig Fernsehapparate eingeblendet, auf denen Werbung, Filme oder Serien laufen, die meist einen offenen oder verdeckten Bezug zur Filmhandlung haben, ja einen Konnex mit der filmischen Realität eingehen: wie in Robert Altmans Short Cuts (1993), wenn die in einem Werbespot verschüttete Milch den Tod des Jungen antizipiert (Abb. 2 und 3). Werbung im Fernsehen ist nach Ralf Schnell ein „Komplementärfaktor“ innerhalb der Programmstruktur: „Die Werbung reproduziert Inhalt und Struktur der Programmteile und weist so auf diese zurück und voraus, in einem buchstäblichen Sinn: als Werbung fürs kommende Programm. Mit ihren Dy-
9 Ich danke Marc Silberman für seine Anregungen während des Workshops Literale und visuelle Kulturen (FK Medienumbrüche/Zentrum für Literaturforschung Berlin) vom 12. bis 13.12.2003 in Siegen. 10 Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart/Weimar 1993, S. 206. 11 Hickethier (wie Anm. 10), S. 186. 12 Hickethier (wie Anm. 10), S. 208 f.
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namisierungs- und Akzelerierungseffekten hat die Eigenwerbung der Werbespots längst dem übrigen Programm die Prägung gegeben.“13
Abb. 2 und 3: Robert Altmans „Short Cuts“: Die Milch des von einem Auto angefahrenen Jungen (oben) wird im Fernsehen (unten) verschüttet.
Elemente einer Typologie des Episodenfilms Ep eís ódion bedeutet wörtlich übersetzt „das Hinzukommende“. Im altgriechischen Drama meint epeisodion eine zwischen die Chorgesänge eingeschobene Handlung, in der Musik, in der Fuge, ein Zwischenspiel zwischen erster und zweiter Durchführung des Fugenthemas. In der Literatur hat episodisches Erzählen eine lange Tradition: In den Geschichten aus tausend und einer Nacht und in Boccaccios Il Decamerone werden die Novellen durch eine Rahmenhandlung zusammengehalten. Im De13 Schnell, Ralf: „Medienästhetik“, in: Schanze, Helmut (Hrsg.): Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart 2001, S. 72-95, hier: S. 86.
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camerone erzählen sich zehn junge Leute an zehn Tagen zehn Geschichten. In Cervantes’ Don Quixote erlebt der Ritter von der traurigen Gestalt mit seinem Knappen Sancho Panza eine Reihe von Episoden. Narratologische Theorien der Literarwissenschaft könnten daher mutatis mutandis auch für Forschungen zum Episodenfilm hilfreich sein. Der Duden definiert die Episode als „flüchtiges Ereignis innerhalb eines größeren Geschehens“; als „unbedeutende, belanglose Begebenheit.“ Im Episodenfilm wird jedoch das nebensächliche, ephemere Ereignis, die Episode, zum Hauptsächlichen, die flüchtige Begegnung zur Signatur einer ganzen Gesellschaftsschicht, z.B. in Short Cuts, Lantana, Songs from the second Floor und vielen anderen Filmen. Da die Grenze zum episodischen oder elliptischen Erzählen fließend ist, wie in François Truffauts Les quatre cents Coups (1959), Atom Egoyans The sweet Hereafter (1997) und Ang Lees The Ice Storm (1997), schlage ich vor, eine durchgängige, auf eine homogene Figurenkonstellation konzentrierte Filmhandlung, die episodisch erzählt wird, sei es auch in umgekehrter Richtung vom Ende zum Anfang wie in Christopher Nolans Momento (2000) oder François Ozons 5 x 2 (2004), nicht als Episodenfilm zu bezeichnen: Die kleinste Einheit des Episodenfilms besteht aus zwei relativ unabhängig entwickelten Geschichten, die aber – manchmal auf geheimnisvolle Weise – korrespondieren können: Krysztof Kieslowskis La double Vie de Véronique (1991), David Lynchs Lost Highway (1996), Tsai Ming-Liangs What Time is it there? (2001). In James Monacos Glossarium der Fachbegriffe zum Film liest man folgende Definition des Episodenfilms: „Ein Film, der mehrere geschlossene Episoden eines oder mehrerer Regisseure enthält, die durch eine Gemeinsamkeit (Thema, Autor, Darsteller, Schauplatz etc.) verbunden sind.“14 Diskussionsbedürftig ist hier das Merkmal der ,Geschlossenheit‘, genauer: das Verhältnis von ,Geschlossenheit‘ und ,Gemeinsamkeit‘. Wenn man Episodenfilme zu klassifizieren versucht, stellt sich zunächst die methodische Frage: Wie lose oder fest sind die Teile, die Episoden, gekoppelt? Im Omnibusfilm Ten Minutes older – The Cello (2002) ist das übergreifende Thema allein die Frage „Was ist Zeit?“ Dafür hatten die acht Regisseure jeweils zehn Minuten (Film-)Zeit zur Verfügung. Wie stark muss das Prinzip des Zusammenhalts, der Kohärenz, Kohäsion und Konvergenz, der Verbindungen gefasst werden, um überhaupt vom Episodenfilm sprechen zu können, der mehr sein muss als die Summe 14 Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. Mit einer Einführung in Multimedia, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Reinbek b.H. 1996, S. 552.
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seiner Teile? Der Schnitt, die Montage, die eine Einstellung von der anderen trennt, ist per se schon episodisch, sozusagen das Ausgangsprinzip des Episodenfilms. Grundsätzlich – in abstractum – bieten sich zwei Erzählformen an: 1.
Verschachtelung – ,nebeneinander‘: Mittels Parallelmontage wird zwischen den Episoden hin und hergeschnitten.
2.
Reihung – ,nacheinander‘: Die Episoden werden wie in sich geschlossene Kurzfilme aneinandergereiht.
Natürlich gibt es alle möglichen Mischformen und Kombinationen zwischen diesen beiden Erzählformen. Reihen können Erzählstränge verknüpfen und Korrespondenzen herstellen. So wie man Reihen als gedehnte Verschachtelungen auffassen könnte, so sind manche Parallelmontagen fast zu Reihen zerdehnt. Ich nenne nun vier häufig wiederkehrende Merkmale des Episodenfilms, gleichsam Basiselemente einer Typologie. Auf viele Episodenfilme treffen mehrere, auf manche sogar alle vier Merkmale zu: 1. Sukzessive Simultaneität An verschiedenen Orten geschieht etwas zur gleichen Zeit. Jim Jarmuschs Night on Earth (1991) führt nacheinander eine nächtliche, 35 Minuten lange Taxi-Fahrt in fünf Metropolen der Welt vor: Los Angeles, New York, Paris, Rom und Helsinki. Zwischen den aneinandergereihten Episoden werden Uhren eingeblendet. Sie zeigen die Zeitverschiebung, die verschiedenen Zeitzonen an. Auch der Episodenfilm kann, wie jeder Film, nur ein Bild auf das andere folgen lassen. Er muss sich dem Paradox der sukzessiven Gleichzeitigkeit stellen. Dabei bedient er sich häufig, statt wie in Night on Earth der Reihe, eines Verfahrens, das bereits Griffith in Intolerance anwendet: der alternierenden Montage, der Akzeleration, der Vielfalt paralleler Erzählstränge. Am Ende solcher akzelerierenden Episodenfilme kann es, indem die Taktfrequenz beschleunigt wird, zu einer Implosion der Episodendifferenz kommen, einer ,kathartischen‘ Zusammenführung der Teile (im Sinne der aristotelischen Dramenlehre), zum Beispiel in Altmans Short Cuts (1993), der im Titel das Erzählverfahren schon benennt. Das Verhängnis vollzieht sich hinter dem Rücken der einzelnen, gleichsam als „Zweite Natur“ (Hegel). „I’m a Prisoner in Life“ singt die Jazzsängerin in Altmans Film. Jede Person lebt in ihrer eigenen, scheinbar privaten Episode. Alle Figurenfäden zusammen bilden jedoch ein Netzwerk des Unbehagens in der Kultur, das nur der Zuschauer, der alle ephemeren Episoden wie ein Puzzle zusammensetzen kann, von seiner höheren Warte im Blick hat. Die katastrophi-
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sche Implosion der alternierenden Episodendifferenz kehrt die sogenannte „Rettung in letzter Minute“ (Last Minute Rescue) um – in Short Cuts versinnbildlicht durch das Erbeben in Los Angeles (Abb. 4 und 5), dem Handlungsort des Films, der auf Short Stories von Raymond Carver basiert. Das Fröscheregnen, mit dem Paul Thomas Andersons Magnolia (1999) endet, und der Trommelrhythmus in Michael Hanekes Code: inconnu (2000), der die französische Hauptstadt und den Senegal akustisch überblendet, sind weitere Beispiele für die Implosion der Episodendifferenz.
Abb. 4 und 5: Katastrophische Implosion der Episodendifferenz: In Robert Altmans „Short Cuts“ bebt die Erde.
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2. Heterochronien und Heterotopien Die beiden Begriffe stammen aus Foucaults Text Andere Räume.15 Heterotopien, so Foucault, sind besondere Orte, an denen sich Räume bzw. „Platzierungen“ verdichten, überlagern oder überkreuzen, an denen Illusion und Realität, Traum und Wirklichkeit aufeinandertreffen – Orte, die sich inmitten der Gesellschaft sozusagen außerhalb der Gesellschaft befinden. Sie sind wirkliche, wirksame Orte und doch so phantasmatisch wie Spiegelbilder. Sie bezeichnen „Brüche mit dem Alltag, Emanationen der Einbildungskraft“, wie es Daniel Defert formuliert.16 Der Kulturanthropologe Marc Augé betont die Flüchtigkeit der non-lieux, die ephemere Gesellschaft, die sich dort immer nur zeitweilig zusammenfindet, um wieder auseinanderzustieben: Hotels, Flughäfen, Bahnhöfe, Einkaufszentren, Kinos etc.17 Der davon abgeleitete Terminus „Heterochronie“ meint die Simultaneität und Überlagerung von Zeiten. Er meint Zeitschnitte, Reversionen, Verwirrungen der Chronologie und der Einteilung der Zeit in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, paradoxe Zeitformen, die uns aber nicht weniger prägen: „le futur dans le passé“ (Marcel Proust), „le souvenir de l’avenir“ (Paul Valéry), die Unvergänglichkeit der Vergangenheit, die Wiederkehr der Toten in der Erinnerung. a) Heterochronien Im Episodenfilm zeichnen sich Heterochronien durch Zeitverschiebung, Diskontinuität, Zeitschleifen, Aufbrechen und Umlenken des Zeitpfeils, Verschränkung verschiedener Epochen oder Zeitschichten aus. Karel Reisz’ The french Leutenant’s Woman (1981), Francois Girards The red Violin (1998) und Stephen Daldrys The Hours (2002) sind solche heterochronen Episodenfilme. Schon Griffith stellt in seinem Film Intolerance Bezüge zwischen Antike, biblischer Zeit, Mittelalter und seiner eigenen Zeit her. Durch alle Epochen der Menschheitsgeschichte, so lautet Griffith’ moralisierender Hinweis, ist die Intoleranz ein konstanter Beweggrund menschlicher Handlungsweisen. In The Hours entsprechen drei Epochen drei Frauenfiguren, deren krisenhafte Lebensgeschichten ineinander fließen: Virginia Woolf in den 20er Jahren, Laura Brown in den 50er Jahren und Clarissa Vaughan in der Gegenwart. Verbindendes 15 Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz et al. (Hrsg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1991, S. 34-46. 16 Defert, Daniel: „Foucault, der Raum und die Architekten“, in: Politics-Poetics. Das Buch zur documenta X, Ostfildern-Ruit 1997, S. 274-283. 17 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte, Frankfurt a.M. 1999.
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Element ist Virginia Woolfs Roman Mrs. Dalloway. Wenn am Ende Laura, inzwischen eine alte Frau, wie aus heiterem Himmel Clarissa besucht, verschränken sich die Zeiten. b) Heterotopien Geschichten und Ereignisse kreuzen sich an einem Ort. Nicht-Orte im Sinne Foucaults sind Durchgangsorte, Chronotopien, Schwellen oder „Sinnesschwellen“ 18 wie der angle du hazard in Jacques Rivettes Out 1 (1970), ein mysteriöses Gebäude, in dem Colin und Frédérique, die auf getrennten Wegen durch Paris streifen, kurz zusammentreffen; der Tabakladen in Wayne Wangs und Paul Austers Smoke (1994), in dem sich die Nachbarschaft Brooklyns trifft, die Geschichten sich zu einem Portrait des Stadtteils verweben; das Hotel in Jarmuschs Mystery Train (1989/90); die deutsch-polnische Grenze in Hans-Christian Schmids Lichter (2003), einem Schwellenort par excellence. Jeder Ort enthält eine potentielle Unendlichkeit von Narrationen und Lebensschicksalen bereit. Erzähllinien kreuzen sich an einem Punkt, der Geschichte(n) an diesen Erinnerungsort bindet. 3. Multiperspektivität Multiperspektivität ist eine Technik, die der Literatur schon lange vertraut ist und im Roman der 1920er und 30er Jahre zu neuen Experimenten geführt hat: In seinem Roman The Sound and the Fury wechselt William Faulkner die Perspektive auf ein und dasselbe Geschehen, das damit immer anders, immer nur als Teilansicht (im Spiegel des jeweiligen Bewusstseins) beleuchtet wird. Sartres Romanzyklus Les Chemins de la Liberté vermittelt wie eine filmische Wechselmontage die Sichtweise der in den Krieg hineingezogenen Menschen und zeigt dadurch die Relativität geschichtlicher Situationen auf. Ein Vorbild war für Sartre der Roman Manhattan Transfer von John Dos Passos, bei dem man den Eindruck hat, ein Kameraauge schwebe über der Stadt, um sich mal zu diesem, mal zu jenem Menschenwesen – the man in the crowd – hinabzubegeben. In Thornton Wilders The Bridge of San Luis Rey stellt Bruder Juniper Nachforschungen darüber an, ob die fünf Menschen, die an einem Sommertag im Jahre 1714 durch eine reißende Hängebrücke in Peru ums Leben kamen, durch Zufall oder Fügung miteinander verbunden sind. Auch in Episodenfilmen wird das Geschehen häufig aus unterschiedlichen Figurenperspektiven vermittelt. Die Identifikationsangebote 18 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen: Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1999.
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an die Zuschauer flottieren. Schon Kurosawas Rashomon von 1950 spielt vier Varianten eines Verbrechens durch, das aufgeklärt werden soll: die Konfrontation des Räubers Tajomaru mit einem Ehepaar. Eine originelle Variante dieses ,kubistischen‘ Verfahrens ist Luis Buñuels Le Fantôme de la Liberté (1974). Wir folgen den Hauptfiguren, die sich mit Nebenfiguren kreuzen. Unvermittelt bleibt die Kamera dann bei diesen Nebenfiguren hängen, die nun selbst zu Hauptfiguren werden, wie auch in Lucas Belvaux’ Trilogie Un Couple épatant, Cavale und Après la Vie (2002): Jede Nebenfigur, so Belvaux, sei „die Hauptfigur eines noch ungedrehten Films.“19 Figuren, die im ersten Film am Rande auftauchen, rücken im zweiten oder dritten Film in den Mittelpunkt. Jede Geschichte enthält bereits im Keim alle anderen Geschichten. Mit der Multiperspektivität der Episoden löst sich objektive Wahrheit auf. Sie zerfällt in subjektive Wahrnehmungsfragmente, wie beispielsweise in Martin Scorseses Casino (1995), Wong Kar-Wais Fallen Angels (1996), Atom Egoyans The sweet Hereafter (1997) und Darren Aronowskys Requiem for a Dream (2000). In Pulp Fiction wird die Anfangssequenz, die den Raubüberfall des Gangsterpärchens Pumpkin und Honey Bunny einleitet, am Ende des Films wiederholt und nun aus der Perspektive von Vincent und Winnfield vorgeführt (Abb. 6 und 7). Gus van Sants Elephant (2003) erzählt das unfassbare Ereignis eines Amoklaufs zweier Schüler an einer amerikanischen High School aus der Sicht der Beteiligten – Opfer, Täter, Randfiguren. Die Perspektive wechselt vom einen zum anderen, wiederholt dasselbe Bild im Differential der Blickpunkte, gemäß der buddhistischen Parabel von den Blinden und dem Elefanten. Mehrere Blinde tasten mit ihren Händen Teile eines Elefanten ab: Rüssel, Ohren, Beine etc. Jeder ist überzeugt, dass der Teil, den er ertastet, das wahre Wesen des Elefanten ausmacht. Der Elefant ist wie eine Schlange, ein Fächer, ein Baum. Doch keiner erkennt den ganzen Elefanten...
19 Zit. nach: Kohler, Michael: „Eine unendliche Geschichte“, in: StadtRevue Köln, 7 (2004), S. 57.
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Abb. 6 und 7: Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“: Zu Anfang reift der Plan, die Gäste eines Restaurants auszurauben (oben), am Ende ist Winnfield Opfer des Überfalls, während Vincent noch auf der Toilette sitzt. 4. Zufall und Notwendigkeit Episodenfilme spielen häufig mit alternativen Geschichten, Varianten, Variationen, Potentialitäten, Parallelwelten – dem Möglichkeitssinn (Robert Musil). Damit verfügt auch der Film über so etwas wie eine konjunktivische Aussageweise, den Modus der Unbestimmtheit. Alain Resnais’ Smoking/No Smoking (1993) theatralisiert das Episodische: Je nachdem, ob sich Celia Teasdale eine Zigarette anzündet, die auf ihrem Gartentisch liegt, oder sich dazu entscheidet, nicht zu rauchen, entwickelt sich die Zukunft unterschiedlich; sie fächert sich auf, verzweigt sich in Varianten, die sich anfangs nur durch Nuancen unterscheiden, das Leben der Beteiligten dann aber in völlig andere Bahnen lenken. So bietet Resnais seinen Zuschauern gleich zwölf verschiedene Schlüsse an. Alle Personen – Haupt- wie Nebenfiguren – werden von dem Schauspieler Pierre Arditi und der Schauspielerin Sabine Azéma verkörpert. Auch in Sandra Wernecks Amores Possíveis (2001) sehen wir drei unterschiedliche Le-
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bens- und Liebesentwürfe, jedes Mal vom selben Ensemble (mit anderen Frisuren, anderer Kleidung) gespielt. In Krysztof Kieslowskis Der Zufall möglicherweise (1981), ein Filmtitel, der schon eine Definition dieser Spielart von Episodenfilmen formuliert, gibt es drei potentielle, aber radikal verschiedene Entwicklungslinien, die sich aus derselben Ausgangssituation herleiten: (1) Witek bekommt den Zug im letzten Moment, (2) stößt, während er dem Zug hinterher rennt, mit einem Polizisten zusammen, (3) verpasst den Zug, nimmt einige Jahre später ein Flugzeug ins Ausland, das kurz nach dem Start explodiert (wie später die Concorde auf einem Pariser Flughafen am 25. Juli 2000). Mit Lola rennt (1998) hat Tykwer gleichsam die Videoclip-Version des Films von Kieslowski gedreht – mit drei möglichen Schlüssen: (1) Lola stirbt, (2) ihr Freund stirbt, (3) Happy End: Beide kommen zusammen und sind um 100.000 DM reicher. „Die Illusion eines Zeit-,Flusses‘“, schreibt Slavoj Žižek, „beruht auf unserem beschränkten Bewußtsein, das uns lediglich die Wahrnehmung eines winzigen Ausschnitts aus dem Raum-Zeit-Kontinuum ermöglicht. – In diesen alternativen Erzählungen spielt sich etwas ähnliches ab. Unter der gewöhnlichen Realität existiert ein schattenhaftes präontologisches Reich der Virtualität, in dem dieselbe Person vor und zurück reist und verschiedene Szenarien ,ausprobiert‘.“20 In Hal Hartleys Flirt (1993-95) wird derselbe Plot, der sich um die Beziehungskonflikte dreier Paare rankt, drei mal mit anderen Protagonisten an anderen Orten (New York, Berlin, Tokio) durchdekliniert. Hier ist also das Handlungsgerüst invariant, variabel sind die Handelnden und die konkreten Formen, in denen der Plot umgesetzt wird. Mit seiner Erzählung N hat Dieter Kühn bereits 1970 ein schönes Modell dieser Zufalls-Kunst vorgelegt. Am Beispiel Napoleons zeigt er, wie Zufälle – allein der Zufall, der zur Zeugung Napoleons führt – die Weltgeschichte bestimmen. Immer wieder werden in Napoleons Lebensweg fiktive Alternativen eingeschoben. Die Wirklichkeit unterscheidet sich von ihren virtuellen Möglichkeiten allein dadurch, dass sie, vielleicht zufällig, tatsächlich eingetroffen ist. Oft gibt es in Episodenfilmen folgenreiche Zufallsbegegnungen. Zufall und Unfall werden von jeher in engem Zusammenhang gesehen: Im Vorspann von Magnolia (1999) wird nicht ohne Ironie eine Verkettung absurder Zufälle abgespult, die zu einem nicht weniger absurden Unfall führen. In ihrem Deutschen Wörterbuch schreiben die Brüder Grimm: „Zufall ist das unberechenbare Geschehen, das sich unserer Vernunft und unserer Absicht entzieht“ (Bd. 32, Sp. 345). Gilles Deleuze hat 20 Slavoj, Žižek: Die Furcht vor echten Tränen. Krysztof Kieslowski und die „Nahtstelle“, Berlin 2001, S. 89f.
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für diese Spielformen des Image-Temps das Bild der Verzweigungen auf einer Linie herangezogen.21 Gemeint ist damit die Virtualität des Aktuellen. Uns wird vor Augen geführt, wie winzige Anlässe unser Schicksal bestimmen oder umlenken können – während die Historischen Marxisten im Gegenteil davon überzeugt waren, dass die geschichtliche Vernunft von den Zufällen der Individuen unberührt bleibt. Wenn Napoleon bei seiner Geburt gestorben wäre, hätte ein anderer französischer General diesen ,historischen Platz‘ eingenommen...
21 Borges’ Erzählungen sind für Deleuze poetische Darstellungen unvereinbarer und doch gleichzeitiger Welten, die „ein und demselben Universum“ angehören. Vgl. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1991, S. 174.
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FLUKTUATION AUF DEM ETHNOMEDIENMARKT. BEISPIELE
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UND
HINTERGRÜNDE
Einleitung
Der heutige Medienmarkt ist durch eine hohe Fluktuation gekennzeichnet. Ständig tauchen neue Privatsender, Programmformate, Magazine, Zeitungen und Zeitschriften auf, andere stellen ihr Erscheinen oft nach kurzer Zeit wieder ein. Wieder andere werden nach langjähriger Laufzeit wegen veralteter Konzeptionen nicht mehr gesendet bzw. vertrieben. Gründe hierfür sind größtenteils kommerzielle Interessen der Verlagshäuser bzw. der Sendeanstalten. Erreichen Sender bzw. Sendeformate nicht die erwarteten Einschaltquoten oder werden Pressemedien von ihrer Zielgruppe nicht angenommen, werden sie oft schnell wieder eingestellt, da sie unrentabel sind. Das gleiche gilt größtenteils auch für Produktionen auf dem Ethnomedienmarkt. Jedoch sind die Gründe für das Scheitern oder Einstellen von Medienangeboten für ethnische Minderheiten in Deutschland, die in Form von Printmedien und audiovisuellen Medien im jeweiligen Herkunftsland für den dortigen Markt produziert werden und in Deutschland zugänglich sind, und solche, die für Migranten bzw. auch von Migranten in Deutschland hergestellt und vertrieben werden, durchaus vielfältiger und lassen sich nicht allein an kommerziellen Interessen festmachen. Vielmehr spielt hier oft auch die Migrationsproblematik und die Situation ethnischer Minderheiten, also ihrer Zielgruppe, eine zusätzliche Rolle. Nachfolgend sollen einige Beispiele gescheiterter bzw. im Laufe der Jahre veralteter Konzeptionen und Produktionen auf dem Ethnomedienmarkt sowie die Gründe dargestellt werden, warum diese zum Teil durchaus wohlmeinenden und der Integration von Migranten in Deutschland verpflichteten Medienkonzeptionen dennoch nicht überlebt haben.
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Programmangebote für Migranten im öffentlichrechtlichen Fernsehen
Bereits gegen Mitte der 1960er Jahre wurden Programmangebote der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten speziell für Arbeitsmigranten in Deutschland als zielgruppenspezifische Spartenprogramme eingerichtet. Die in Italienisch, Spanisch, Griechisch, Türkisch, Serbokroatisch etc. ausgestrahlten Sendungen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten waren mit Ausnahme des in Eigenproduktion hergestellten Nachrichtenblocks hauptsächlich aus Filmbeiträgen von Sendeanstalten der jeweiligen Anwerbeländer zusammengestellt und sollten für Migranten eine „Brücke zur Heimat“ und Orientierungshilfe im Alltagsleben in Deutschland darstellen. Zunächst boten die ARD-Anstalten (Westdeutscher und Bayerischer Rundfunk), später auch das ZDF Fernsehprogramme für Ausländer an, die zum Teil bis weit in die 1990er Jahre gesendet, jedoch trotz Überarbeitung der Konzepte als „Ausländersendungen“ von der Zielgruppe im Laufe der Jahre immer weniger in Anspruch genommen und schließlich eingestellt oder gänzlich umgestaltet wurden.1
2.1 Gesamtüberblick der Entwicklung Die Ausländersendungen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten besaßen bis Anfang der 80er Jahre eine sehr hohe Bedeutung für die Migrantengruppen in Deutschland, da sie in dieser Phase neben Hörfunkangeboten und einigen Zeitungen in Bezug auf den Kontakt zur Heimat einen der wichtigsten Faktoren darstellten. Dies kommt nicht zuletzt auch in Titeln wie „Spanien – Meine Heimat“ oder „Aus Griechenland“ zum Ausdruck, die diese Sendungen noch bis in die 1980er Jahre hinein trugen.2 Besonders vor 1980 nutzten Migranten diese Medienangebote, die einerseits Orientierungshilfe in der fremden Gesellschaft und Umwelt
1 Vgl. Tsapanos, Georgios: „Medien – Minderheitenspezifische Angebote“, in: Schmalz-Jacobsen, C./Hansen, G. (Hrsg.): Ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland, München 1995, S. 330. 2 Vgl. Zentrum für Türkeistudien (Hrsg.): Medienkonsum der türkischen Bevölkerung und Deutschlandbild im türkischen Fernsehen, Essen/Bonn 1997, S. 27; Tsapanos (wie Anm. 1), S. 330.
FLUKTUATION AUF DEM ETHNOMEDIENMARKT
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bieten, zum anderen aber auch vor allem eine „Brücke zur Heimat“ darstellen sollten, in hohem Maße.3 Anfang der 1980er Jahre entstand jedoch innerhalb kürzester Zeit ein aufblühender ethnischer Videomarkt, der vor allem die in Deutschland lebenden Türken und Italiener mit Videokassetten aus der Heimat versorgte, die in allen größeren Videotheken erhältlich waren. Die Zuschauerquote der Ausländerprogramme von deutschen Rundfunkanstalten erlebte in diesem Zusammenhang einen ersten Einbruch.4 Aufgrund der mangelnden Nachrichtenvermittlung, die durch Videofilme mit größtenteils fiktionalen Inhalten und Unterhaltungsfunktion nicht kompensiert werden konnte, behielten die Ausländerprogramme der deutschen Rundfunkanstalten zunächst jedoch weiter ihre Bedeutung für Migranten in Deutschland. 1985 kam eine Kommission von ARD und ZDF in diesem Zusammenhang zu dem interessanten Ergebnis, dass zwar weiterhin ein großes Interesse von Seiten der Migranten an speziellen Ausländersendungen im deutschen Fernsehen feststellbar war, die Migranten sich jedoch hierbei eine stärkere Betonung der Funktion „Brücke zur Heimat“ und weniger die Funktion der Orientierungshilfe im Alltagsleben in Deutschland wünschten.5 Bereits mit dem Anstieg der Kabelanschlussquoten bei Migranten, besonders jedoch durch die Möglichkeiten des Satellitenempfangs nationaler privater Fernsehsender aus der Heimat, die eine muttersprachliche Medieninfrastruktur für nahezu alle Migrantengruppen und damit eine neue Möglichkeit als „Brücke zur Heimat“ gewährleisteten, sanken die Zuschauerquoten bei den ,Ausländersendungen‘ der öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehanstalten noch einmal deutlich. Für Redakteure und Mitarbeiter der Ausländerprogramme der deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zeigte sich in diesem Zusammenhang zudem das Problem, dass Migranten schon lange keine homogene Gruppe mehr bildeten, die sie in der Anfangszeit dieser Programme noch waren, sondern sich im Laufe der 1980er Jahre sozio-demographisch ausdifferenziert hatten. Im Zuge dieser sozio-demographischen Entwicklung hatten sich auch ihre Anforderungen an die Medien gewandelt und differenziert, weshalb es zunehmend schwierig wurde, in 3 Vgl. Darkow, Michael/Eckhardt, Josef/Maletzke, Gerhard: Massenmedien und Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 1985, S. 9. 4 Vgl. Zentrum für Türkeistudien (wie Anm. 2), S. 24. 5 Vgl. Becker, Jörg: „Zwischen Integration und Dissoziation: Türkische Medienkultur in Deutschland“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 44-45 (1996), S. 40.
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der zur Verfügung stehenden wöchentlichen Sendezeit von 30 bis 40 Minuten die Bedürfnisse aller Teilgruppen zufriedenzustellen. Da diese Programme jedoch ein Angebot an alle Migranten sein sollten, war der Weg versperrt, sich auf eine oder mehrere größere Teilgruppen zu konzentrieren. Dennoch besaßen diese Medienangebote zu Beginn der 1990er Jahre immer noch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, da sie programmatisch frei von Konflikten waren (bzw. sein sollten), die aus der Heimat importiert werden (für die Türken seien hier exemplarisch das Kurdenproblem oder Konflikte aufgrund des Erstarkens islamistischer Strömungen in der Türkei zu nennen). Dem deutschen Fernsehen wurde in diesem Zusammenhang trotz zurückgehender Zuschauerquoten der Ausländerprogramme gerade auch von Türken eine größere Objektivität bescheinigt, was möglicherweise für eine Konsolidierung der Zuschauerquoten auf einem niedrigen Niveau sorgte.6 In jüngster Zeit sind durch den technologischen Medienumbruch von analoger zu digitaler Übertragungs- und Empfangstechnik die Empfangsmöglichkeiten muttersprachlicher Sender aus den Heimatländern für Migranten noch einmal gestiegen. Im Zuge dieser Ausweitung des Medienangebotes können Migranten in Deutschland heute auf eine Vielzahl privater muttersprachlicher Programme zurückgreifen, die die unterschiedlichen Ansprüche aller ethnischen Gruppen auf eine vielfältige und individuelle Art befriedigen. Damit waren die Ausländersendungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Zuge des technologischen Wandels gegenüber der Vielzahl muttersprachlicher Programmangebote in eine Konkurrenzsituation gekommen, die kaum gewinnbar schien. Dabei haben sich die sogenannten „Ausländerredaktionen“ deutlich bemüht, ihr Profil und Erscheinungsbild zu wandeln, denn sie richteten im Laufe der Zeit ihr Interesse zunehmend auf die Lebensbedingungen und Probleme der Migranten in Deutschland. Dennoch war die Konzeption der ,Ausländersendung‘ im Zuge der Entwicklung zu einem ,Auslaufmodell‘ geworden. So wurden die Sendungen für Migranten des ZDF eingestellt; das Programmangebot der ARD für Migranten wurde in seiner Konzeption mehrfach grundlegend überarbeitet, findet jedoch nur recht wenig Zuspruch bei seiner Zielgruppe.
6 Vgl. Sen, Faruk: „Türkische Fernsehsender in der deutschen Fernsehlandschaft – Zur Mediennutzung türkischer Migranten in Deutschland“, in: Ausländerbeauftragte der Freien und Hansestadt Hamburg/Hamburgische Anstalt für neue Medien (HAM) (Hrsg.): Medien – Migration – Integration. Elektronische Massenmedien und die Grenzen kultureller Identität, Bd. 19, Berlin 2001, S. 104f.
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Die Entwicklung der ,Ausländersendungen‘ von ARD und ZDF soll nachfolgend im Sinne eines zusammenfassenden Überblicks detailliert dargestellt werden.
2.2 Die ,Ausländersendungen‘ der ARD Als erste Fernsehsendung für Gastarbeiter wurde die Senderreihe „Ihre Heimat – unsere Heimat“ von mehreren ARD-Sendeanstalten ausgestrahlt; die erste Folge dieser Reihe wurde am 17. Dezember 1965 vom WDR gesendet. Die Sendereihe „Ihre Heimat – Unsere Heimat“ wies seit Beginn ihrer Ausstrahlung bis zu ihrem Ende im Jahr 1992 neben einem steten Wechsel von Sendezeit und -platz auch eine vereinzelte Ablösung der Nationen und eine inhaltliche Veränderung des Sendeschemas auf. Dies hatte mit den sich ändernden Anforderungen des Zielpublikums zu tun.7 Es wurden für diese Sendereihe Programme der Heimatsender für vier Nationalitäten (Italiener, Griechen, Spanier und Türken) angekauft. Die Sendung enthielt Kurznachrichten aus dem Heimatland, Beiträge über Geschichte und Kultur und präsentierte Folklore, Chansons und Schlager. Ab 1978 wurde zusätzlich für Jugoslawen und Portugiesen produziert. Die Sendezeiten pro ethnische Gruppe waren kurz: Vierzehntäglich hatte jede Nationalität 20 Minuten Sendezeit zur Verfügung.8 Der WDR produzierte darüber hinaus Ende der 1970er-, Anfang der 1980er Jahre monatlich zusätzlich eine fünfzehnminütige deutschsprachige Jugendsendung, um die mittlerweile zweite Migrantengeneration anzusprechen. In der Sendung veranschaulichten Jugendliche in gestellten Spielszenen ihre Fragen, Bedürfnisse und Probleme.9 Diese Sendung wurde jedoch nach wenigen Jahren wieder eingestellt, da sie von ihrer Zielgruppe kaum in Anspruch genommen wurde. Anfang der 1990er Jahre überarbeiteten die ARD-Fernsehanstalten ihr Konzept hinsichtlich der Ausländerprogramme. So wurde 1993 aus der Senderreihe „Ihre Heimat – Unsere Heimat“ das wöchentliche Magazin „Babylon“ vom Westdeutschen Rundfunk10, das neben Italienern, Spaniern, Griechen und Portugiesen auch Migranten aus den osteuropäi7 Vgl. auch Paqué, Gesa: Integrationsprogramme im deutschen Fernsehen, Ruhr-Universität Bochum, 1996 (Magisterarbeit). 8 Vgl. Darkow/Eckhardt/Maletzke (wie Anm. 3), S. 108. 9 Siehe ausführlich Paqué (wie Anm. 7). 10 Vgl. Stadik, Michael: „‚Heimwehtröster‘ auf der Mattscheibe. Vielfältiges Programmangebot für EU-Ausländer in Deutschland via Satellit und Kabel“, in: Tendenz. Medien für Migranten, 1 (2002), S. 24.
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schen Staaten (Ex-)Jugoslawien und Polen ansprach. Fast ein Drittel der Sendung beschäftigte sich mit der türkischen Bevölkerung.11 Daneben entstand das interkulturelle Sendeformat „Vetro-Café mit Weitblick“, eine Samstags morgens vom WDR gesendete Talkshow, die zum Ziel hatte, zwischen den Kulturen zu vermitteln, bewegende Themen zu behandeln und den Zuschauern das Lebensgefühl zwischen den Kulturen nahezubringen.12 Die Ausländersendungen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten wurden jedoch trotz dieser Rekonzeptionalisierung von ihrer Zielgruppe immer weniger in Anspruch genommen. So beklagte Ulrich Deppendorf, der Fernsehdirektor des WDR, in diesem Zusammenhang im Mai 2003, dass die beiden Ausländersendungen Babylon und Vetro, die sich dezidiert an Ausländer in Deutschland wenden, kaum Zuspruch bei der Zielgruppe finden. Dies war auch nicht weiter verwunderlich, da sie immer noch weitgehend auf dem Ansatz der 1960er Jahre basieren, für Migranten eine Brücke zur Heimat zu schaffen.13 In dieser Funktion als Bindeglied zum Herkunftsland wurden sie jedoch, wie bereits dargestellt, von Möglichkeiten neueren Datums wie der Vielzahl privater Fernsehsender aus der Heimat abgelöst, die über Kabel oder Satellit in Deutschland zu empfangen sind und dieser Aufgabe besser gerecht werden. Die Sendung „Babylon“ hat sich im Laufe der Zeit an die Erwartungen und vor allem an die niedrigen Zuschauerquoten ihrer Zielgruppe anpassen müssen. Nur so lässt sich erklären, dass die Sendung, die bis April 2001 noch eine Länge von einer Stunde hatte und über Zweikanalton Beiträge in acht Sprachen ausstrahlte, später auf eine halbe Stunde gekürzt wurde und nur noch in deutscher Sprache berichtete.14 Im Sommer 2003 schließlich wurden die beiden Sendungen Babylon und Vetro ganz eingestellt und seit dem 13. September 2003 durch das neue Sendeformat Cosmo TV ersetzt. Cosmo TV, das samstags zwischen 14 und 15 Uhr vom WDR gesendet und sonntags um 9.15 Uhr wiederholt wird, ist keine „Ausländersendung“ im ursprünglichen Sinne mehr, die sich speziell an Migranten wendet, sondern stellt ein interkulturelles und vom Anspruch her zur Völkerverständigung und Integration beitragendes Programmformat dar, das sich nicht nur an Migranten, sondern auch an Deutsche wendet. In dieser Sendung spiegelt sich nicht nur 11 Vgl. http://www.wdr.de/tv/babylon/sendung.phtml, 13.12.2004. 12 Vgl. http://www.wdr.de/tv/vetro/sendung.phtml, 13.12.2004. 13 Vgl. Lüke, Reinhard : „Jenseits von Babylon. Der WDR hat jetzt einen Ausländerbeauftragten“, in: Frankfurter Rundschau, 26.05.2003. 14 Vgl. Yildirim, Selma : „Ihre Heimat ist Köln“, in: TAZ Köln, 17.05.2001, S.3
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das Lebensgefühl der zweiten und dritten Einwanderergeneration wider – von jungen Menschen, die fremde Wurzeln haben, aber längst hier zu Hause sind –, sondern genauso das der Deutschen, die gerade im zusammenwachsenden Europa ihre Zukunft sehen. Anhand von Reportagen eröffnet Cosmo TV zwei Sichtweisen zu ein und demselben Geschehen und schaut auch zum europäischen Nachbarn, wie dieser das Zusammenleben verschiedener Kulturen bewältigt. Mit seinem internationalen ReporterTeam entlockt Cosmo TV nach eigenen Angaben Menschen mit fremder Herkunft kleine Geheimnisse und Geschichten, die ein Deutscher normalerweise nie zu hören bekommt. Cosmo TV ist seinem Anspruch nach ein Magazin, das Menschen mit fremden Wurzeln nicht nur beschnuppern, sondern wirklich kennen lernen will.15 Nach den Daten der GfK (Basis: deutsche Bevölkerung) hat Cosmo-TV 2004 am Samstag um 14 Uhr 0,08 Mio. Zuschauer in NRW und einen Marktanteil von 3,4 Prozent; außerhalb von NRW schalten noch einmal weitere 0,08 Mio. die Sendung ein, so dass die Sehbeteiligung bundesweit bei 0,16 Mio. liegt. Damit liegen die Akzeptanzwerte über den Werten der Vorgängersendungen „Babylon“ (Marktanteil 2,5 Prozent) und „Vetro“ (Marktanteil 2,7 Prozent). Die Wiederholung von Cosmo-TV am Sonntag erreicht 0,05 Mio. Zuschauer und einen Marktanteil von 2,8 Prozent in NRW (bundesweit 0,10 Mio.).16 Trotz dieser auf den ersten Blick zuversichtlich stimmenden Zahlen ist zu bedenken, dass sie lediglich die Akzeptanz dieser Sendung bei der gesamten Bevölkerung in Deutschland, nicht jedoch die Akzeptanz bei Migranten allein ausweisen. Es ist in diesem Zusammenhang zu befürchten, dass die Sendung lediglich von einem geringen Teil der Migranten – und hier besonders denen aus höheren Bildungsschichten – gesehen wird.
2.3 Die ,Ausländersendungen‘ des ZDF Ab Mitte 1966 strahlte das ZDF die Senderreihe „Nachbarn in Europa“ aus. Diese Senderreihe war von einer ständigen Konzeptablösung hinsichtlich der inhaltlichen Aufbereitung und Präsentation gekennzeichnet, die sich auch in den verschiedenen Zusätzen des Sendetitels wiederfand. Anfangs wurden die jeweils 45 Minuten dauernden Sendungen „Cordialmente dall`Italia“ und „Aqui España“ abwechselnd jede zweite Woche 15 Vgl. http://www.wdr.de/tv/cosmotv/sendung.phtml, 13.12.2004. 16 Sitzung des Programmausschusses des Rundfunkrates am 8. Juli 2004, Informationsvorlage zu TOP 5, Zwischenbilanz „Cosmo“ und Integration im Spiegel der Medienforschung, S. 13.
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gesendet. Später kamen Sendungen für andere Nationen hinzu: 1970 Jugoslawien mit „Jugoslawijo, dobar dan“, 1973 Griechenland mit „Apo tin Ellada“ und die Türkei mit „Türkiye mektubu“ (im Rahmen dieser Sendung wurde der von dem türkischen Sender TRT produzierte Beitrag „Ein Brief aus der Türkei“ in das Programm aufgenommen). Im Jahr 1979 folgte schließlich Portugal mit „Portugal, minha terra“.17 Ab 1977 erweiterte sich das Leitmotiv der Sendung, die nun den Titel „Nachbarn in Europa. Informationen und Nachrichten für Ausländer und Deutsche“ trug, grundlegend: Sie sollte nicht mehr nur eine „Brücke zur Heimat“ für die Arbeitsmigranten schaffen, sondern das Verständnis zwischen Deutschen und Migranten verbessern und die Eingliederung der Migranten in die deutsche Gesellschaft vereinfachen. Deutlich wurde dies auch dadurch, dass Beiträge zur Erleichterung der Integration und Nachrichten aus der Heimat ab diesem Zeitpunkt das gleiche Gewicht erhielten. Neben kulturellen Beiträgen folgten Nachrichten zur aktuellen Ausländerpolitik und beratende Schwerpunktbeiträge zu Themen wie Integration, Arbeitsplatz, Bildung und Ausbildung. Besonders die Bedürfnisse der zweiten Generation wurden zunehmend berücksichtigt. Zudem verlängerten sich die Sendungen für jede Nationalität. Die Griechen und Türken bekamen ab April 1979 zweiwöchentlich einen Sendeplatz mit je 45 Minuten Sendezeit. Die Heimatländer lieferten dazu ca. 35 Minuten Sendezeit, wovon etwa eine Viertelstunde aus Heimatberichterstattung bestehen sollte. Danach folgten folkloristische Darbietungen und Reportagen über Ereignisse und Sehenswürdigkeiten aus den Heimatländern, um die kulturelle Brücke zur Heimat zu erhalten.18 Außer der großen Senderreihe „Nachbarn in Europa“ produzierte das ZDF auf Initiative der Bundesanstalt für Arbeit, der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände und von Betreuungsorganisationen der Migranten sogenannte Ratgeberfilme, die ab 1975 die Sendereihe „Nachbarn in Europa“ ergänzten.19 Unter dem Titel „Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit“ liefen samstags unterhaltsam gestaltete 10-Minuten-Lehrgänge für ausländische Arbeitnehmer, die eine Lebenshilfe für den Aufenthalt 17 Vgl. http://www.drehscheibe.org/leitfaden-artikel.html?LeitfadenID=96, 13.12.2004. 18 Vgl. Darkow/Eckhard/Maletzke (wie Anm. 3), S. 114; Hafez, Kai: „Globalisierung, Ethnisierung und Medien: Eine „Parallelgesellschaft“ durch türkische Medien in Deutschland?“ in: Becker, Jörg/Behnisch, Reinhard (Hrsg.): Zwischen Abgrenzung und Integration. Türkische Medienkultur in Deutschland 1, Rehburg-Loccum 2001, S. 54. 19 Vgl. Darkow/Eckhard/Maletzke (wie Anm. 3), S. 9.
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in Deutschland darstellen sollten. Zu Themen wie Wohnungssuche, Steuerpflicht, Unfallverhütung, Familienzusammenführung oder Tipps für den „Umgang mit Deutschen“ entstanden insgesamt 26 Informationsfilme in fünf Sprachen. Bereits seit 1983 präsentierte sich die vom ZDF ausgestrahlte Sendereihe „Nachbarn in Europa“ völlig neu. Ziel war ein bunt gemischtes, informatives und unterhaltsames Magazin für eine multikulturelle Gesellschaft. Die multikulturelle Darbietung sollte den Normalfall der Beziehungen der Länder und Völker hervorheben.20 1989 wurde die Senderreihe schließlich aufgefächert: Am frühen Samstagmorgen gab es die halbstündige Nachrichtensendung „Nachbarn in Europa – Informationen in Fremdsprachen“ mit je zehn Minuten Nachrichten aus der Heimat von drei Nationen, für deren Inhalt die Partneranstalten der jeweiligen Länder verantwortlich waren. Die deutsche Redaktion rundete die Sendung mit den „Informationen aus Deutschland“ ab. Zeitlich klar davon abgetrennt entstand „Nachbarn in Europa – Das internationale Magazin am Wochenende“. In jeder Sendung waren sechs Nationen (Italien, Spanien, Jugoslawien, Griechenland, die Türkei und Portugal) vertreten. Die Mischung zwischen deutsch- und fremdsprachigen Sendeteilen blieb erhalten. Moderiert wurde die Sendung von jungen Migranten, die den Typ der zweiten Generation der hier lebenden und arbeitenden Migranten repräsentieren sollten. In den 1990er Jahren schieden die jugoslawischen, spanischen und portugiesischen Partner aus, dafür kamen Kroatien, Polen und Ungarn hinzu. Ab 1992 richtete sich das Magazin mit dem neuen Titel „Nachbarn – Ein Magazin für Ausländer und Deutsche“ mit verkürzter Sendezeit und einem neuen Sendeplatz nur noch zweimal im Monat in deutscher Sprache an Migranten und Deutsche, wobei nicht mehr nur ehemalige Gastarbeiter, sondern auch Aussiedler, Asylsuchende und Flüchtlinge angesprochen werden sollten. Die fünf bis sechs Beiträge, die ausschließlich vom ZDF produziert wurden, drehten sich um Perspektiven und Probleme des Zusammenlebens der verschiedenen Kulturen in Deutschland.21 Bis 1995 strahlte das ZDF noch die beiden Sendungen „Nachbarn in Europa“ und „Nachbarn“ aus, doch bereits 1996 war das erstgenannte Wochenmagazin wegen mangelnder Akzeptanz bei der Zielgruppe nicht
20 Vgl. Darkow/Eckhard/Maletzke (wie Anm. 3), S. 116. 21 Vgl. http://www.drehscheibe.org/leitfaden-artikel.html?LeitfadenID=96, 13.12.2004.
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mehr im Sendeschema vorgesehen; aus dem gleichen Grund wurde die Sendung „Nachbarn“ 1998 aus dem Programm genommen.22
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Neue deutsch-türkische Presse
Was die Produktionsseite der Pressemedien betrifft, so dominieren beispielsweise im Bereich der türkischen Medienkultur in Deutschland auch heute noch in der Türkei oder von den Verlagshäusern in der Türkei mit deutschen Dependancen angebotene Medienprodukte. Dabei wird beispielsweise von den türkischen Zeitungsmachern durchaus erkannt, dass ihre Publikumsstruktur langsam zu veralten droht. Jüngere Türken oder Deutsche türkischer Herkunft lesen zwar immer noch türkische Zeitungen, aber in geringerer Zahl als ihre Eltern und Großeltern.23 Traditionelle türkische Medien haben jedoch nicht nur ein Generationenproblem, sondern auch ein inhaltliches Profilproblem, denn beispielsweise Zeitungen mit einer einzigen Europa- oder Deutschlandseite bei sonst türkischen Nachrichten erreichen keinen hohen Differenzierungsgrad in der Lokalberichterstattung. Das lokale Umfeld und selbst die Kleinanzeigen sind jedoch für türkische Migranten heute ebenso wichtig wie für Deutsche, weshalb den Informationsbedarf gerade im Lokalbereich auf Dauer nur deutsche oder spezielle deutsch-türkische Medien befriedigen können.24 So wurde vor einigen Jahren auf einer Tagung des Bundespresseamtes und des Institutes für Auslandsbeziehungen (ifa) in Stuttgart empfohlen, die Bildung regionaler türkischsprachiger Printmedien und Anzeigenblätter zu fördern. Diese Anregung wurde durchaus aufgegriffen. Die neue deutschtürkische Medienkultur ist dabei teils mehr deutsch, teils mehr türkisch, teils komplett neuartig. Der Markt dieser Szene ist jedoch noch jung und unruhig; es gibt viele neuartige Versuche, aber auch Flops, Pleiten, Anlaufschwierigkeiten und Verluste.25 22 Vgl. hierzu Bernreuther, Marie-Luise: „Alles Info – oder was? Die Entwicklung des Informationsangebotes der öffentlich-rechtlichen Sender in der BRD zwischen 1994 und 2001“, URL: http://www.vlw.euv-frankfurto.de/Mitarbeiter/mlb_Publikationen2.htm, 13.12.2004. 23 Vgl. Hafez, Kai: „Zwischen Parallelgesellschaft, strategischer Ethnisierung und Transkultur. Die türkische Medienkultur in Deutschland“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 50 (2000), S. 732f. 24 Vgl. Hafez (wie Anm. 23), S. 733. 25 Vgl. Becker, Jörg: „Zwischen Abgrenzung und Integration. Anmerkungen zur Ethnisierung der türkischen Medienkultur“, in: Becker, Jörg/Behnisch,
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Es entstanden in diesem Zusammenhang hochgelobte türkische und deutsch-türkische Pressemedien wie Persembe, Hayat oder etap, die es jedoch trotz guter Konzeptionen nur kurze Zeit geschafft haben zu überleben und in diesem Zusammenhang als ephemer zu bezeichnen sind. Die Gründe hierfür sind recht vielfältig. Die genannten Beispiele sind Möglichkeiten für spezifische Teile (zweite und dritte Generation) der in Deutschland lebenden ethnische Minderheiten, sich über die für sie wichtigen Themen zu informieren und ihre Muttersprache zu pflegen, lassen neue Perspektiven oder Blickwinkel in der Berichterstattung zu und sorgen damit für eine gewisse Vielfalt. Jedoch sind diese gutgemeinten Versuche meist dazu verdammt, „Ghettoseiten“ zu bleiben, die nur eine ganz geringe Schnittmenge gemeinsamen Konsums von Deutschen und ethnischen Minderheiten zulassen26 und nur einen recht kleinen Konsumentenkreis haben.
3.1 Persembe – die wöchentliche Beilage der taz und das deutschsprachige Magazin Hayat Seit dem 12. Oktober 2000 brachte die Berliner Tageszeitung (taz) donnerstags die wöchentliche Beilage Persembe (Donnerstag) heraus. Die deutsch-türkische linksliberale Beilage Persembe stellte den Versuch dar, eine neue Zielgruppe anzusprechen, nicht zuletzt deshalb, weil die Berliner Tageszeitung bekanntermaßen schon länger gegen ihr wirtschaftliches Aus zu kämpfen hat. Persembe sollte ein Beitrag zur Multikulturalität und Multilingualität sein und verstand sich vor allem als Gegenpol zur etablierten türkischen Presse, in deren Publikationen der türkische Blickwinkel dominiert.27 Persembe erschien nach dem gleichen Modell wie Lokalausgaben in Hamburg, Bremen, Köln und Münster – als ein eigenständiges Produkt. Die Redaktion war unabhängig, mit der taz bestand lediglich eine Druck- und Vertriebskooperation. Das Besondere an der Publikation war nicht allein die Tatsache, dass Themen aufgegriffen wurden, die für in Deutschland lebende Türken relevant sind und die aus eigener Perspektive bearbeitet wurden; das Innovative an dieser Wochenzeitung war vielmehr, dass sie in deutscher und in türkischer Spra-
Reinhard (Hrsg.): Zwischen Abgrenzung und Integration. Türkische Medienkultur in Deutschland 1, Rehburg-Loccum 2001, S. 17. 26 Vgl. Hafez (wie Anm. 18), S. 46f. 27 Vgl. www.taz.de und Meier-Braun, Karl-Heinz : „Migranten in Deutschland: Gefangen im Medienghetto“, in: Tendenz. Medien für Migranten, 1 (2002), S. 7.
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che publiziert wurde und damit die Deutschtürken ansprach, die die deutsche Sprache beherrschen, trotzdem aber ihre ursprüngliche kulturelle Identität nicht aufgeben wollen. Zweisprachigkeit war es, worauf die fünf Teilzeit-Redakteure und eine in Vollzeit beschäftigte Redakteurin setzten: mal deutsche, mal türkische Texte, je nachdem, an welche Zielgruppe sich der jeweilige Artikel richten sollte. Redaktionsleiter Ömer Ezeren – früherer Türkei-Korrespondent der taz – fand die konkreten Belange von in Deutschland lebenden Türken in den etablierten türkischen Medien nicht ausreichend berücksichtigt. An den deutschen Medien kritisierte er, dass die türkischen Migranten noch immer als homogene Gruppe rezipiert werden und sowohl türkische als auch deutsche Medien damit die Realität verzerren. Ziel von Persembe war, für Transparenz zu sorgen und dabei kulturelle Bruchstellen nicht auszusparen. Ein weiterer Grund für die Zweisprachigkeit von Persembe: Deutsche sollten ebenso Einblick gewinnen wie die türkischen Leser.28 Mangels Abonnenten musste dieses viel gelobte Experiment allerdings Mitte 2001 wieder eingestellt werden. Auch Hayat, ein deutschsprachiges Lifestyle-Magazin für junge Deutsch-Türken, musste sein Erscheinen zum Teil auch aufgrund mangelnden Interesses der Leserschaft nach kurzer Zeit wieder einstellen. Dieses Lifeystyle-Magazin war die erste türkische Zeitschrift, die sich in deutscher Sprache an eine anspruchsvolle junge türkische Leserschaft wandte.
3.2 etap – ein Magazin für deutsch-türkisches Leben etap, ein monatlich erscheinendes Magazin für deutsch-türkisches Leben, das sich gleichzeitig an interessierte Deutsche wendete und eine Form des Ethno-Marketings in Deutschland darstellte, musste ab Mai 2000 sein Erscheinen einstellen, da dem Verlag durch den unerwarteten Rückzug des Finanzpartners die wirtschaftliche Grundlage entzogen wurde und es nicht möglich war, kurzfristig eine anderweitige Finanzierung des Projektes zu gewährleisten. Das Magazin kam im Jahr 1999 mit einer Auflage von 300000 Exemplaren auf den Markt, brachte bis April 2000 sechs Ausgaben heraus und erzielte durchaus eine immer größer werdende Akzeptanz bei der Leserschaft.29 Etap war das erste bundesweit
28 Vgl. Interview vom 12.09.2000 unter www.taz.de. 29 Vgl. Sinan, Ozan: „Ethno-Marketing in Deutschland. Das Beispiel der Zeitschrift ‚etap‘“, in: Becker, Jörg/Behnisch, Reinhard (Hrsg.): Zwischen Ab-
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vertriebene Monatsmagazin, das redaktionell auf Informations- und Kommunikationsbedürfnisse der Deutsch-Türken ausgerichtet war und setzte sich mit aktuellen Themen und Entwicklungen auseinander, die in Bezug zur Leserschaft standen. Übergeordnete Ressorts waren: Gesellschaft und Politik, Wirtschaft und Finanzen, Kultur und Lifestyle, Verbraucherbeiträge sowie Service. Das Ziel von etap war es, über das gesellschaftliche Leben zu informieren, es zu reflektieren und damit meinungsbildend zu wirken. Etap wurde ausschließlich in deutscher Sprache herausgegeben, um die deutsch-sprachige Entwicklung seiner Leserschaft zu fördern. etap verstand sich nicht etwa als ein Sprachrohr der Türkei, sondern stellte gegenüber diesem Kontext völlig wertfrei ein Kommunikationsmedium für Deutsch-Türken in Deutschland dar und wollte die Integration der zweiten und dritten Generation in die deutsche Gesellschaft sowie die Entstehung und Weiterentwicklung eines europäischen Bewusstseins bei der deutsch-türkischen Bevölkerung fördern. Die Heterogenität der Deutsch-Türken wurde dabei respektiert und als Bereicherung empfunden.30 Die ersten Exemplare von etap wurden an 230000 deutsch-türkische Haushalte kostenlos per Post verschickt, um einen ersten Bekanntheitsgrad zu erlangen. Weitere 80000 Exemplare wurden im türkischen Handel ausgelegt. Dabei wurde den Lesern die Möglichkeit eingeräumt, das Heft zum Vorzugspreis zu abbonieren. Ab Februar 2000 ging das Magazin über den Axel Springer Vertrieb in den Kioskhandel, hatte aber bei einfachen Kioskhändlern keine Chance, da es keine Bekanntheit und auch keine inhaltlich Zuordnung beim Verkäufer besaß.31
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Weitere Beispiele
Nachfolgend sollen einige weitere Beispiele für gescheiterte Ethnomedienprodukte dargestellt werden. Die Gründe für ihr Scheitern sind dabei recht vielfältig.
4.1 Ruhrpott-Offensive der WAZ Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung in Gelsenkirchen versuchte Mitte der 1970er Jahre an die damalige Gastarbeitergeneration heranzutreten, grenzung und Integration. Türkische Medienkultur in Deutschland I, Rehburg-Loccum 2001, S. 100. 30 Vgl. Sinan (wie Anm. 29), S. 107f. 31 Vgl. Sinan (wie Anm. 29), S. 109f.
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indem sie einmal pro Woche abwechselnd eine türkische, eine italienische, eine spanische oder eine jugoslawische Seite druckte (RuhrpottOffensive der WAZ). Insgesamt vier freie Mitarbeiter – je einer aus der jeweiligen Nation – wurden beauftragt, alle vier Wochen eine Seite mit Reportagen, Nachrichten, Terminankündigungen und Kommentaren in der jeweiligen Muttersprache zu liefern. Das Ergebnis waren massive Proteste der deutschen Leserschaft, die wiederum dazu führten, dass das Projekt eingestellt wurde – nicht zuletzt jedoch auch, weil die beauftragten freien Mitarbeiter überfordert waren.
4.2 Pressemedien aus den Herkunftsländern der Migranten Das Angebot an ethnischen Pressemedien aus dem jeweiligen Heimatland in Deutschland hat sich immer mehr vergrößert, jedoch schaffen es nicht alle dieser Publikationen, in Deutschland zu überleben. So gibt es mittlerweile deutsche Dependancen großer internationaler Tageszeitungen in Deutschland. Beispielsweise können türkische Migranten heute auf eine Vielzahl von muttersprachlichen Pressemedien zurückgreifen. Auch Italiener, Griechen, Spanier und frühere Jugoslawen versuchten im Laufe der Zeit, eigene Tageszeitungen für ihre Landsleute in Deutschland anzubieten. Zahl und Auflage der für Ausländer in Deutschland bestimmten Publikationen schwanken allerdings laufend.32 Vor allem die griechischsprachige Presse in Deutschland kann in diesem Zusammenhang nur unter schwierigen Umständen existieren. Es handelt sich dabei um Versuche mit nur eingeschränkten, zum Teil nicht vorhandenen Möglichkeiten des Profits, begleitet von hohem persönlichen Einsatz von Seiten der Initiatoren. In den letzten 40 Jahren überstiegen die Versuche der Herausgabe laut Schätzungen die Zahl 200. Die meisten dieser Versuche stützten sich dabei auf Initiativen griechischer Migranten, schafften es aber nicht zu überleben, da Griechen in Deutschland nur eine kleine Minderheit darstellen.
4.3 Private Fernsehsender aus den Herkunftsländern der Migranten Bereits Anfang der 1990er Jahre ist es durch die Satellitentechnologie für Migranten in Deutschland möglich geworden, ein nahezu unüberschaubares Angebot an muttersprachlichen Fernsehsendern aus dem Ausland 32 Vgl. Meier-Braun (wie Anm. 27), S. 5.
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zu empfangen. Auch in den Heimatländern der Migranten hat die Verbreitung der Kabel- und der Satellitentechnologie dazu geführt, dass eine Vielzahl von privaten Fernsehsendern entstehen und versuchen, sich auf dem Markt zu etablieren. Nicht alle diese Versuche sind jedoch erfolgreich. Die Entwicklung auf dem Fernsehmarkt in den Herkunftsländern hat in diesem Zusammenhang auch eine Auswirkung auf das muttersprachliche Programmangebot für Migranten in Deutschland, denn die Sender sind mit den entsprechenden technischen Voraussetzungen auch in Deutschland zu empfangen. Die hohe Fluktuation und die lebhafte Entwicklung auf dem Fernsehmarkt in den Herkunftsländern der Migranten kann größtenteils dadurch begründet werden, dass hier genau wie auch in Deutschland die erreichbaren Marktanteile und die damit verknüpften Werbeeinkünfte häufig überschätzt werden.33 So beschlossen beispielsweise 1995 und 1996 die größten türkischen Privatsender Kanal D, Show TV und atv, nach dem Vorbild von TRT-INT ein spezielles Programm für die in Europa lebenden Türken einzurichten, nämlich EURO D, Euroshow und atv-Int. Diese unterschieden sich jedoch kaum von den in der Türkei ausgestrahlten Programmen. Aufgrund der damit verbundenen Kosten und da sich die an diese Programme geknüpften Erwartungen bezüglich der Werbeeinnahmen nicht erfüllten, stellten atv-Int und Euroshow im Oktober 1996 ihren Sendebetrieb wieder ein. Stattdessen senden beide Gesellschaften seitdem ihr türkisches Programm.
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Zusammenfassung/Fazit
Die vorangegangenen Beispiele zeigen, dass auch bei dem Scheitern von Ethnomedienkonzeptionen größtenteils kommerzielle Interessen, Zuschauer- und Leserquoten sowie Finanzierungsprobleme eine große Rolle spielen. Während das Scheitern von Privatsendern in den Herkunftsländern der Migranten, die im Zuge der technologischen Entwicklung auch in Deutschland zu empfangen sind und hier das Ethnomedienangebot mitbestimmen, ebenso wie das Scheitern von deutschen Privatsendern größtenteils auf das Überschätzen erreichbarer Marktanteile und damit verknüpfter Werbeeinkünfte zurückgeführt werden kann, spielt hinsichtlich des Scheiterns von Pressemedien neben dem finanziellen Aspekt
33 Vgl. Zentrum für Türkeistudien (wie Anm. 2), S. 30; Sen (wie Anm. 6), S. 104.
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durchaus auch die Migrationsproblematik selbst in unterschiedlicher Weise eine zusätzliche Rolle. Während Programme aus den Herkunftsländern der Migranten nahezu ungehindert nach Deutschland einstrahlen können, spielen Finanzierungsprobleme im Zusammenhang mit der Minderheitenproblematik bei der Etablierung ethnischer Pressemedien auf dem deutschen Markt eine entscheidende Rolle. Diese Medien sind größtenteils dazu verdammt, „Ghettoseiten“ zu bleiben, die nur gewisse ethnische Gruppen interessieren und von ihnen konsumiert werden. Am Bespiel der griechischsprachigen Presse in Deutschland zeigt sich, dass die Finanzierung und die Existenzsicherung dieser Medien, die jeweils nur für eine kleine Minderheit interessant sind und daher nur geringe Möglichkeiten des Profits bieten, oft nur unter schwierigen Umständen und unter persönlichen Initiativen und Opfern der Migranten selbst existieren und überleben können. Unterstützung durch deutsche Sponsoren oder Verlage sind wegen der geringen Profitchancen oder auch aufgrund von Desinteresse bzw. Ignoranz gegenüber Minderheitenmedien eher selten. Das gleiche gilt für die neuen deutsch-türkischen Pressemedien, die in Deutschland von bzw. für Migranten hergestellt werden und durchaus einem lobenswerten integrativen Konzept folgen, aber meist nur einen sehr kleinen Leserkreis ansprechen. Auch sie sind meist auf deutsche Verlage und Sponsoren als Finanzpartner angewiesen. Ziehen diese Finanzpartner sich zurück, wird ihnen die wirtschaftliche Grundlage entzogen, was meist ihr Ende bedeutet, wie das Beispiel des Magazins etap zeigt. Jedoch nicht nur der Rückzug der Finanzpartner ist ein Grund dafür, dass viele dieser neuartigen Versuche nicht nur von Anlaufschwierigkeiten und –verlusten begleitet werden, sondern sich oft auch als Flop herausstellen, im Bankrott enden und als ephemer bezeichnet werden können. Wie die Beispiele Hayat und Persembe zeigen, ist das Scheitern dieser neuartigen Medienkonzepte auch auf mangelndes Interesse bei ihrer Leserschaft zurückzuführen, da sie an den Interessen ihrer Zielgruppe vorbeigehen oder nur eine ganz geringe Schnittmenge gemeinsamen Konsums von Deutschen und ethnischen Minderheiten zulassen, obwohl sie sich dezidiert an Deutsche und ethnische Minderheiten gleichermaßen richten. Eng hiermit verknüpft ist ein allgemeines Problem ethnischer Pressemedien in Deutschland, welches darin besteht, dass sie bei vielen – vor allem kleineren oder im ländlichen Bereich angesiedelten – Zeitschriften- und Kioskhändlern wegen mangelnder Bekanntheit, mangeln-
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der inhaltlicher Zuordnung und geringer Verkaufsaussichten nicht vertrieben werden und so nicht zuletzt auch wegen des mangelnden Angebots von ihrer Zielgruppe nicht genutzt werden. Jedoch nicht nur neuere Ethnomedienkonzepte sind vielfach zum Scheitern verurteilt, wie am Beispiel des langsamen Scheiterns der einst sehr erfolgreichen „Ausländersendungen“ von ARD und ZDF deutlich wird. Die immer weiter zurückgehenden Einschaltquoten bei ihrer Zielgruppe über einen längeren Zeitraum zeigen, dass das Konzept der „Ausländersendungen“ im Laufe der Jahre zum „Auslaufmodell“ geworden ist. Migranten in Deutschland sind heute keine homogene Gruppe mehr, sondern haben sich sozio-demographisch ausdifferenziert. Mit dieser Entwicklung haben sich auch ihre Anforderungen an die Medien gewandelt und differenziert. Diesen gewandelten Ansprüchen kann das alte Konzept der „Ausländersendungen“ nicht mehr gerecht werden, zumal Migranten in Deutschland heute im Zuge des technologischen Wandels und der damit verknüpften Ausweitung des Medienangebotes auf eine Vielzahl privater muttersprachlicher Programme und auch deutscher Medienangebote zurückgreifen können, die die unterschiedlichen Ansprüche aller ethnischen Gruppen auf eine vielfältigere, individuellere und bessere Weise befriedigen.
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DER KLATSCH DER YELLOW-PRESS – IMMER NEU UND DOCH DAS GLEICHE Neben den Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen, die uns mit seriösen Nachrichten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft versorgen, gibt es unter den Printmedien eine große Zahl von Publikationen, die der Yellow-Press zugerechnet werden. In ihnen erfährt man das Neueste über die Hochzeiten und Scheidungen in der Welt der Reichen und Prominenten, liest von grauenerregenden Schicksalsschlägen und kann sich darüber informieren, wer mit wem bei welcher Festivität in welcher Robe zugegen war. Kurz gesagt, man erhält eine große Portion Klatsch zum Mitnehmen, die man nach Belieben konsumieren kann. Als Institutionen des Mediengeschehens kann man den Blättern der Yellow-Press keineswegs den Vorwurf machen, dass es sich bei ihnen um ephemere Phänomene handelt. Die meisten von ihnen halten sich seit Jahrzehnten am Markt und verfügen über eine treue Leserschaft. Ephemer ist jedoch das, womit die Seiten dieser Publikationen gefüllt werden. Dabei handelt es sich im weitesten Sinne um Nachrichten aus der Gesellschaft. Auffallend ist an diesen zumeist ihre Kurzlebigkeit und weitgehende Bedeutungslosigkeit für das politische und ökonomische Weltgeschehen. Selbst Ereignisse, denen hier viel Raum eingeräumt wird, sind ein paar Wochen nach Ende der Berichterstattung vergessen, ohne Spuren in späteren Geschichtsbüchern zu hinterlassen. Darüber hinaus haben die Begebenheiten, von denen berichtet wird, im Normalfall keinerlei Handlungsrelevanz für den praktischen Lebensvollzug der Leser. Die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt, resultiert aus dieser doppelt sonderbaren Charakteristik der Yellow-Press-Inhalte – dass es sich um Nachrichten handelt, die zum einen dem politisch-ökonomischen Weltgeschehen geradezu ausweichen und die zum anderen keinerlei Relevanz für die Lebensführung ihrer Konsumenten aufweisen. Warum wenden Menschen Geld und Zeit auf, um diese höchst ephemeren und zudem in ihrem Nutzwert höchst fraglichen Inhalte zu konsumieren? In den kommenden vier Abschnitten soll dieses Phänomen näher beleuchtet werden. Ausgangspunkt der Untersuchung ist unter dem Titel
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‚Anatomie des Interesses‘ die möglicherweise befremdliche Frage, warum sich Menschen überhaupt für ihre Mitmenschen interessieren. So selbstverständlich die Beschaffenheit unserer Interessensstruktur auch zu sein scheint, so haben speziell die Neurowissenschaften und die evolutionäre Psychologie in den letzten Jahren Ergebnisse geliefert, die bekannte Zusammenhänge in einem überraschend neuen Licht erscheinen lassen. Im nächsten Abschnitt ‚Kategorien der Interaktion‘ geht es darum, eine Struktur in die scheinbar unübersehbare Zahl von möglichen menschlichen Interaktionen zu bringen. Trotz der hohen Diversität unserer Lebenswelt lässt sich diese in einer Art und Weise analytisch erfassen, die es erlaubt, eine Kontinuität zur prähistorischen, stammesgeschichtlichen Entwicklung unserer Art herzustellen. Mit diesen Voraussetzungen, dem Wissen, warum Menschen sich für Menschen interessieren, und einer evolutionär ausgerichteten Analytik sozialer Interaktionen, wird im dritten Abschnitt ‚Neuroinformationsmanagement für fortgeschrittene Primaten‘ dargelegt, dass unsere Spezies über informationelle Präferenzen in ihrer Umweltwahrnehmung verfügt. Der vierte und letzte Abschnitt ‚Nutzlos, aber genussvoll‘ schließt den argumentativen Kreis und legt dar, warum es sich beim ephemeren Phänomen der YellowPress-Nachrichten um die Befriedigung eines anthropologisch alten Bedürfnisses handelt – eines so alten Bedürfnisses, dass der letztendliche ‚Ursprung‘ der menschlichen Neigung für diesen Nachrichtentypus weit vor den ersten sesshaften Kulturen im Kreis der nomadisch lebenden Jäger und Sammler, die unsere Vorfahren waren, angesiedelt werden muss.
Anatomie des Interesses Die Frage, warum sich Menschen für Menschen interessieren, mag befremdlich erscheinen. Sie tun es einfach, ist man geneigt zu sagen. Etwas ausführlicher formuliert läuft diese Replik darauf hinaus, dass es bizarr erscheint nachzufragen, warum Menschen sich für ihre Mitmenschen und damit den bedeutendsten Teil ihrer Umwelt interessieren. Diesem Einwand liegt implizit das Modell zu Grunde, dass Menschen in einem Kausalgefüge situiert sind, dessen bedeutendste Wirkfaktoren andere Angehörige der Spezies Homo sapiens sind. Diese komprimierte Beschreibung unserer Lebenswelt findet ihre naturwissenschaftliche Entsprechung in der biologischen Anthropologie
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und speziell in deren Subdisziplin, der evolutionären Psychologie.1 Menschen interessieren sich für Menschen, weil diese wichtig für ihr eigenes Leben sind: Wer weiß, was um ihn herum vorgeht, kann besser reagieren und wird auf lange Sicht gesehen im Schnitt erfolgreicher sein als ein Individuum, das dies nicht tut oder tun kann. Wie richtig diese Annahme ist, zeigt sich, wenn man einen näheren Blick auf das menschliche Gehirn wirft. In diesem ungefähr tausendvierhundert Gramm schweren Organ, mit dem wir denken, findet sich genau dieser Zusammenhang – dass Menschen sich in besonderer Weise für Menschen interessieren – in Form biologischer Hardware wieder. Im hinteren Drittel des Großhirns, dessen Aufgabe die Verarbeitung visueller Sinnesdaten ist, gibt es einen Bereich, der ausschließlich für das Erkennen von Gesichtern zuständig ist2. Wann immer ein Mensch ein Gesicht betrachtet, sei es bei einer direkten Begegnung oder medial vermittelt, ist dieser spezielle Teil aktiv und hilft uns, mit diesem Stimulus umzugehen. Alle anderen optischen Reize, seien es Wolkenkratzer, Regenwürmer oder Wörter und Buchstaben – wie gerade in diesem Moment – werden an anderen Stellen des visuellen Kortex verarbeitet. Dabei gibt es für keine andere denkbare Objektklasse eine vergleichbar spezialisierte Hirnregion. Bildlich gesprochen, laufen Menschen mit einem Mikroskop im Kopf durch die Welt, das immer dann in Aktion tritt, wenn wir der Kopfvorderseiten unserer Artgenossen ansichtig werden. Diese Spezialisierung innerhalb unseres Gehirns lässt bestimmte Rückschlüsse zu, umso mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, dass unser Gehirn in den Dimensionen des Stoffwechsels das teuerste Organ unseres Organismus ist. Zwar bringt es diese Ansammlung von zirka 100 Milliarden Nervenzellen auf nur zwei Prozent des Körpergewichts, disproportional dazu benötigt sie aber ein Fünftel der gesamten Stoffwechselenergie. Im Sinne der Darwinschen Evolutionstheorie folgt daraus, dass von diesem Organ ein sehr großer Nutzen für unser Leben ausgehen muss, da sich ein solcher Energieverschwender ansonsten nie als Standardausstattung unserer Art hätte durchsetzen können. Zum Vergleich: Schimpansen, mit denen wir 99 Prozent unserer Gene teilen, haben ein Gehirn, das es lediglich auf ein Drittel des menschlichen Volumens bringt. Statistiker gehen sogar noch weiter und belegen, dass unser Ge-
1 Eine Einführung in diese Disziplin findet sich in: Buss, David: Evolutionary Psychology, Boston 2000. 2 Gregory, Richard L.: Auge und Gehirn, Hamburg 2001, S. 98ff.
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hirn neun Mal so groß ist, wie es einem durchschnittlichen Säugetier von unserer Körpermasse zustehen würde.3 Evolutionsforscher schließen aus diesen beeindruckenden Unterschieden und den Fossilfunden, dass die Rahmenbedingungen in den letzten zwei Millionen Jahren der Entwicklung unserer Art die Entstehung eines großen Gehirns förderten. Dabei darf man jedoch nicht in die Vorstellung eines generalisierten mental-intellektuellen Potentials verfallen – eines universell einsetzbaren Denkwerkzeugs, bei dem Mehr gleich Besser bedeutet. Unser Gehirn verfügt vielmehr über eine komplexe Binnenstrukturierung, für die die Gesichtserkennungsregion nur ein Beispiel ist. Funktional stellt sich dieses Organ als ein Kollektiv von spezialisierten Modulen dar. Aus neuroevolutionärer Perspektive folgt im Anschluss an diese Charakterisierung, dass jedes dieser Module von einer Nützlichkeit sein muss, die in der Entwicklung unserer Art einen Konkurrenzvorteil darstellte und so die energetischen Mehrkosten für seine Existenz rechtfertigte. Für die Kortexregion, die sich ausschließlich menschlichen Gesichtern widmet, bedeutet dies, dass es einen gewichtigen Grund gegeben haben muss für das Entstehen dieser neuronalen Verarbeitungseinheit, die sich ausschließlich mit einem vergleichsweise kleinen Teil der uns umgebenden Welt befasst. Der Grund hierfür liegt darin – so wird heute allgemein angenommen –, dass die größte Herausforderung, mit der unsere Ahnen konfrontiert waren, nicht die sie umgebende Wildnis war, sondern vielmehr das soziale Umfeld, in dem sich ihr Leben abspielte. Die auf Gesichtserkennung spezialisierte Region in unserem Gehirn ist somit ein Beleg für die strategische Beschaffenheit unserer eigenen stammesgeschichtlichen Vergangenheit. Und, noch entscheidender an dieser Stelle, sie liefert den Beweis dafür, dass das menschliche Interesse nicht gleichmäßig und allgemein auf die uns umgebende Welt gerichtet ist: Unser Gehirn differenziert das, was es wahrnimmt, nach evolutionär gewachsenen Kriterien. Die Frage, warum sich Menschen für Menschen interessieren, muss demnach mit einer weiteren Antwort bedacht werden: Unser Gehirn ist in einem evolutionären Prozess darauf optimiert worden, sich für Artgenossen zu interessieren. Anders gesagt: Weil das Organ, mit dem wir uns in der Welt orientieren, so ist, wie es ist, können wir gar nicht anders, als uns für unsere Mitmenschen zu interessieren. Die Neugier auf Menschliches, Allzumenschliches ist in der Neuronenanordnung unseres Gehirns festgeschrieben. Wichtig für den Nachvollzug dieses Gedankengangs ist, dass es sich hier um statistische Aussagen 3 Dunbar, Robin: Klatsch und Tratsch, München 2000, S. 12.
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handelt, die einen erheblichen Spielraum für das jeweils individuelle Verhalten offen lassen. Dass das menschliche Interesse an Artgenossen tatsächlich auf einer organischen Basis beruht, machen auch einige seltene neurologische Ausfallerscheinungen deutlich, die die sozialen Fähigkeiten der Betroffenen stark in Mitleidenschaft ziehen. So kann zum Beispiel selektiv das erwähnte Areal zur Gesichtserkennung in seiner Funktion geschädigt werden, was dazu führt, dass die Fähigkeit zum visuellen Erkennen und Unterscheiden von Mitmenschen stark eingeschränkt wird; ein Defekt, der bei einem sozialen Lebewesen, das mit Kooperation und Konkurrenz anderer Gruppenmitglieder umgehen muss, hochproblematisch ist. Andere Beispiele hierfür sind der frühkindliche Autismus oder das ähnlich geartete, aber später im Leben zutage tretende Asperger-Syndrom.
Kategorien der Interaktion Die Größe der Sozialgruppen, in denen sich unsere Vorfahren in den letzten zwei Millionen Jahren bewegten, ist ungefähr bei einer Zahl von hundertfünfzig Individuen anzusiedeln. Erst mit dem Ende der nomadischen Lebensweise – der Sesshaftwerdung vor ca. zehntausend Jahren – begann die Entstehung deutlich größerer Sozialverbände. Der letzte große Schritt in der Entstehung des heutigen menschlichen Gehirns erfolgte jedoch schon deutlich früher, nämlich mit dem Aufkommen des anatomisch modernen Menschen vor mehr als 100000 Jahren. Zieht man die chronologische Abfolge der Ereignisse in Betracht, so wird deutlich, dass die Beschaffenheit unseres Denkorgans das Resultat eines mehrmillionenjährigen Kleingruppenlebens ist – auch wenn dieses in jüngster Vergangenheit und Gegenwart eher die Ausnahme ist. Mit Blick auf die angeführte Angepasstheit und Spezifität von Gehirnleistungen stellt sich damit die Frage: Welche Arten von Information und Informationsverarbeitung waren wichtig innerhalb der recht überschaubaren Lebensgemeinschaften unserer Vorfahren? Dies waren zum einen das Wissen um die Fähigkeiten und Verhaltensweisen möglicher Sozialpartner und -konkurrenten, aber mehr noch die Kenntnis sozialer Zusammenhänge. Letzteres umfasst die Hierarchie der Gruppe, das Geflecht möglicher Allianzen und Kooperationen, aber auch die bestehenden Konkurrenzverhältnisse und mögliche Feindschaften. Diesen Mikrokosmos zwischenmenschlicher Beziehungen zu handhaben war die entscheidende strategische Herausforderung, die zur evolutionären Entstehung des so außergewöhnlich großen Gehirns der Spezies Mensch führte.
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Die Problemstellungen, an denen das menschliche Denkorgan wuchs, waren so alltägliche Fragen wie: Auf wen kann ich mich bei Auseinandersetzungen verlassen? Wie wirken sich die Beziehungen der Anderen auf meine Stellung in der Gruppe aus? Wer kann mir helfen, meine Ziele in die Tat umzusetzen? Und, was denkt er oder sie, dass ich denke? Die für den Umgang mit all diesen Fragestellungen unerlässliche Fähigkeit, Simulationen der potentiellen Vorgänge im Kopf von Mitmenschen durchführen zu können, wird als der Besitz einer Theory of Mind bezeichnet.4 Dass es sich dabei um eine spezifische Fähigkeit handelt und nicht um einen Nebeneffekt allgemeiner intellektueller Leistungsfähigkeit, wird wiederum an neurologischen Fällen deutlich, denen dieser zumeist als selbstverständlich erachtete Zugang zur sozialen Umwelt fehlt: den Autisten. Menschen mit diesem Syndrom haben außergewöhnliche Schwierigkeiten mit menschlichen Interaktionen. Der Grund hierfür liegt in der Art und Weise, in der sie das Verhalten ihrer Mitmenschen kausal interpretieren. Die auf ein Individuum wirkenden Reize und die beobachtbaren Reaktionen sind für diese Menschen in einer relativ flachen und starren Kausalität miteinander verbunden – so, wie es zum Beispiel die Tasten eines Getränkeautomaten mit dem Geschehen in dessen Ausgabefach sind. Eine fremde Innenperspektive, die dazu führt, dass es keinen quasi mechanischen Zusammenhang von Input und Output gibt, ist für Autisten nicht oder nur sehr ansatzweise nachvollziehbar. Genau diese Fähigkeit, sich vorstellen zu können, was in den Köpfen anderer passiert und was sie in Bezug auf die eigene Person tun werden, ist jedoch für einen gelingenden Umgang mit der sozialen Umwelt unabdingbar. In einem eingespielten Zusammenleben, in dem keine akuten Konflikte bestehen, ist der Nutzen dieses Potentials nicht direkt offensichtlich. Aus lebensstrategischer Sicht waren derartige Zeiten, in denen ein Tag dem andern glich, für unsere Vorfahren relativ uninteressant. Interessant wurde es, sobald es zu strukturellen Änderungen im Sozialgefüge der Gruppe kam. Dies kann ein Streit, ein Todesfall, das Zusammengehen eines jungen Paares oder das Entstehen einer Freundschaft gewesen sein. Abstrakt gesprochen, war alles, was die bestehende Situation potentieller Sozialpartnern und –konkurrenten veränderte, von vitalem Interesse. In diesen Fällen war eine schnelle Abschätzung der sozialen Folgeereignisse von großer Wichtigkeit, um selbst adäquat reagieren zu können. Auch Hinweise, aus denen schon im Vorfeld auf möglicherweise weitreichende Veränderungen geschlossen werden konnte, waren wert4 Remschmidt, Helmut: Autismus, München 2002, S. 34.
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volle Informationen. Dies bedeutete, dass alle Interaktionen, die zwischen verschiedenen Gruppenangehörigen stattfanden, prinzipiell darauf hin beurteilt werden konnten, inwieweit sie möglichen Sozialpartnerschaften oder -konkurrenzen dienlich waren. Ausgehend von dieser Sichtweise lässt sich die Vielzahl möglicher menschlicher Interaktionen in zwei basale Kategorien unterteilen: Kooperation und Konkurrenz. Von strategischem und damit für unsere Vorfahren lebenspraktischem Interesse waren dabei vor allem Ereignisse, die mit dem Beginn oder Ende dieser zwischenmenschlichen Beziehungen verbunden waren, wie das Entstehen einer Liebe, entzweiender Streit, Kampf oder Tod. Es war jedoch nicht nur diese basale Dichotomie möglicher Interaktionen, an der sich das soziale Interesse ausrichtete. Entscheidend war ebenfalls, wer die jeweils Beteiligten waren. Von Freundschaften oder Feindschaften am unteren Ende der Gruppenhierarchie waren viel weniger Konsequenzen für die Allgemeinheit zu erwarten, als wenn es sich bei den Beteiligten um hochstehende Gruppenmitglieder handelte. In Bezug auf die Handlungsrelevanz möglichen Wissens um Kooperationen und Konkurrenzen herrscht deshalb ein eindeutiges Relevanzgefälle: je wichtiger und machtvoller die Beteiligten waren, desto mehr war damit zu rechnen, dass sich die Geschehnisse auch für die anderen Angehörigen der Gruppe auf die eine oder andere Weise auswirken würden.
Neuroinformationsmanagement für fortgeschrittene Primaten Nimmt man Abstand von konkreten Ereignissen, so wird deutlich, dass die Situation unserer Vorfahren prinzipiell mit der ihrer heutigen Nachkommen identisch ist. In beiden Fällen verlangt eine erfolgreiche Lebensführung, der Umwelt Informationen zu entnehmen, die dem eigenen Handeln dienlich sind. Der Vorgang der Informationsgewinnung ist jedoch in seiner Kapazität limitiert. Unsere Umwelt findet sich nicht in Form einer vollständigen mentalen Repräsentation in uns wieder, sondern wird von unseren Sinnesorganen in Zusammenarbeit mit dem Gehirn, durchaus vergleichbar mit dem Lichtstrahl einer Taschenlampe, ausgeleuchtet. Auf Grund dieser funktionellen Limitation sehen sich Menschen beständig einer Überfülle an potentiell verfügbaren Informationen gegenüber, aus denen es zu selektieren gilt. Der Preis der Aufmerksamkeit für einen bestimmten Aspekt der Umwelt ist die Vernachlässigung anderer Vorgänge.
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Dass nicht alle Informationen neuronal gleich behandelt werden, hat schon das Beispiel der speziellen Erkennung von Gesichtern gezeigt. Auch andere Eigenschaften unseres informationsverarbeitenden Systems deuten darauf hin, dass wir strategische Präferenzen in unserer Weltwahrnehmung haben. So gibt es beim Lesen in einer Bibliothek nichts Irritierenderes, als Bewegungen, die am äußeren Rande unseres Gesichtsfeldes stattfinden, wie z. B. der lautlos, aber beständig wippende Fuß eines anderen Besuchers. Eine solche Bewegung in einem ansonsten statischen optischen Umfeld führt spontan zu einer Hinwendung zu diesem Reiz und langfristig zumeist zu einer kontraproduktiven Irritation. Aus evolutionärer Perspektive handelt es sich hier um eine höchst sinnvolle Reaktion, da sie gezielt auf potentiell Gefahren bergende Veränderungen in unserem Umfeld aufmerksam macht – wenngleich sich dies in der geschilderten Situation eher nachteilig auswirkt. Dieses Beispiel ist nur ein Beleg für die in den letzten eineinhalb Jahrzehnten in den Biowissenschaften gewachsene Einsicht, dass unsere Spezies über historisch gewachsene Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung verfügt. Nicht nur unser Blick, vielmehr unsere gesamte Aufmerksamkeit wird quasi automatisch auf Vorgänge gerichtet, die sich in der Vergangenheit als besonders relevant für menschliches Handeln erwiesen haben. Diese Erkenntnisse legen den Zusammenhang nahe, dass sich auch auf den höheren Ebenen der neuronalen Informationsverarbeitung Mechanismen finden lassen, die die menschliche Aufmerksamkeit auf bestimmte Ereignisse und Vorgänge lenken. Für die in unserer prähistorischen Entwicklung wesentliche Umweltkomponente, die eigene Sozialgruppe, bedeutet dies, dass nicht alle Aktionen und Interaktionen gleich sind im Hinblick auf die Aufmerksamkeit, die sie bei potentiellen Rezipienten generieren. Vielmehr steht zu vermuten, dass es eine Hierarchie gibt, gemäß welcher einzelne Ereignisse mit Aufmerksamkeit bedacht werden.5 Punkt eins dieses Kriteriensets, nach dem Aufmerksamkeit verteilt wird, ist, ob deren mögliche Zielsubjekte wichtig für das Zusammenleben sind und deren Verhalten Konsequenzen hat, die wahrscheinlich auch das eigene Leben beeinflussen. Punkt zwei ist, dass vor allem Aktionen und Interaktionen interessant sind, die eine Änderung im strategischen Gefüge der eigenen Gruppe zur Folge haben. Es verhält sich hier 5 Anhand eines transkulturellen Vergleichs von westlichen und indischen Kinofilmen wird dies gegenwärtig vom Projekt A3 (Soziale und anthropologische Faktoren der Mediennutzung) des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche untersucht.
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ähnlich wie in dem Beispiel der Bibliothek: Nicht das, was gleich bleibt, ist interessant – von primärem Interesse sind vielmehr die Vorgänge, die den Status Quo verändern. Auf der Phänoebene macht sich diese eingebaute Aufmerksamkeitssteuerung unserer Art in Erscheinungen wie Interesse oder Neugier bemerkbar. Beide Zustände müssen als Ergebnisse eines hirninternen Informationsmanagementprozesses gesehen werden. Wohlgemerkt eines Prozesses, der sich als eine Adaption an eine steinzeitliche Umgebung herausgebildet hat.
Nutzlos, aber genussvoll In welcher Relation stehen nun die Meldungen der Yellow-Press zum Informationsmanagement, mit dem das Gehirn seine Umwelt handhabt? Aus den bisherigen Ausführungen folgt, dass der Inhalt dieser Medien über lange Zeit entwickelte informationelle Präferenzen bedienen muss, um bevorzugt wahrgenommen zu werden und damit wirtschaftlich eine Existenzberechtigung zu haben. Wie aber kann es sein, dass eine auf relevante Geschehnisse hin ausgerichtete neuronale Verarbeitung sich zu Klatschmagazinen hingezogen fühlt – wie kann ein Gehirn, das anlagebedingt nach strategisch wertvollen Informationen suchen soll, in den Bann eines davon so gut wie abstinenten Mediengenres geraten? Die Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch liegt in der Differenz zwischen dem Lebensraum, in dem sich unser Gehirn entwickelte, dem Environment of Evolutionary Adaptedness, wie er in der evolutionsbiologischen Fachterminologie genannt wird, und der heutigen Lebenswelt. An Stelle einer im weitesten Sinne vortechnologischen und vorkulturellen Kleingruppe handelt es sich heute um Ultrasozialitäten, die als Medien-, Informations- und Wissensgesellschaften beschrieben werden. Die heutige Umwelt des Menschen ist damit nicht mehr die, für die sich die Mechanismen der Wahrnehmungssteuerung entwickelt haben. Die Rahmenbedingungen menschlicher Existenz haben sich in einem so hohen Maß gewandelt, dass es in vielen Kontexten zu einer Dejustierung der über lange Zeiträume entstandenen Passung von Umweltreizen und Verarbeitungsroutinen gekommen ist. Die Ursache für dieses Auseinanderdriften von menschlichen Fähigkeiten und Umweltbeschaffenheit liegt in der konservativen Beschaffenheit unseres kognitiven Apparates. Das für Steinzeitverhältnisse ausgelegte Gehirn des Menschen reagiert nach wie vor kontinuierlich in einer Art und Weise, als befänden wir uns in einer Lebensgemeinschaft von zirka 150 Individuen.
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Die sich hieraus ergebenden Implikationen für das Verhalten sind alles andere als unerheblich, fallen aber auf Grund von Gewöhnung und allgemeiner Verbreitung nicht ins Auge. So sind zum Beispiel die Handlungen von prominenten Personen in heutigen Großgesellschaften zumeist ohne jede praktische Bedeutung für das Leben des einzelnen Bürgers. Die Aufmerksamkeit, die Königshäusern, Stars oder dramatischen Einzelschicksalen geschenkt wird6, erscheint aus diesem Grund gradezu dysfunktional – verschwendetes geistiges Potential, das man besser in Zusammenhänge hätte investieren sollen, die mehr Relevanz für das eigene Leben haben. Dass dennoch dieses scheinbar irrationale Interesse an den Schönen, Reichen und Berühmten besteht, ist ein Effekt der fortbestehenden Interessenspräferenzen, mit denen unser Gehirn ausgestattet ist. Zur Wahrnehmung einst zwingend mit strategischer Bedeutung verbundener Interaktionen im persönlichen Nahbereich hat sich die medienvermittelte Wahrnehmung gleicher Vorgänge aus einem zumeist irrelevanten Fernbereich gesellt. Die einstmals unausweichlich gegebene Kopplung von kognitivem Reiz und potentiellem lebensstrategischen Informationsgehalt ist unter diesen Bedingungen nicht länger vorhanden. Nach wie vor wirken zwar die gleichen Interaktionen als Aufmerksamkeitsstimulantien, jedoch resultiert aus einer Hinwendung zu diesen in medialen Zusammenhängen häufig kein für das Individuum relevanter Informationsgewinn. Genau diesen Mechanismus macht sich die Yellow-Press zu Nutze: Sie präsentiert Personen und Ereignisse, die im Kontext einer urzeitlichen Kleingruppe unweigerlich interessant wären. Rein analytisch handelt es sich dabei um mediale Repräsentate einer weit entfernten sozialen Umwelt. Die evolutionär gewachsenen Verarbeitungsroutinen des Gehirns differenzieren jedoch an dieser Stelle nicht. Klatsch – zu wissen, wie es um Schicksal und Beziehungen von anderen Menschen bestellt ist – war im Kleingruppenkontext eine wertvolle Ressource. Dass dies jedoch nicht mehr auf die heutige Lebenssituation zutrifft, findet in der neuronalen Hardware und den darauf basierenden kognitiven Mechanismen unseres Gehirns keine funktionale Entsprechung. Aus diesem Grund sprechen Medienkonsumenten auf Klatsch an, dem der wichtigste Bestandteil seines steinzeitlichen Pendants fehlt: die potentiell wertvolle Information für das eigene Leben. Wie zu erwarten, stehen dabei speziell die Arten von Interaktionen im Vordergrund, die auch schon im einstigen Environment of Evolutionary Adaptivness die Aufmerksamkeit auf sich 6 Vgl. Davis, Hank und McLeod, S. Lyndsay: „Why humans value sensational news“, in: Evolution and Human Behavior, 24 (2003) S. 208-216.
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zogen: Hochzeiten, Affären, Eifersuchtsdramen, Zerwürfnisse, arglistige Täuschungen, Trennungen, Geburten und Todesfälle7. Kurz gesagt, all die Vorkommnisse, die dazu angetan sind, das Leben einer Kleingruppe mehr oder weniger massiv zu verändern. Auf einer abstrakteren Betrachtungsebene sieht man sich hier der Fülle möglicher Erscheinungsformen anhebender und zu Ende gehender Kooperationen oder Konkurrenzen gegenüber. Das physiologisch entscheidende Moment für den Erfolg der Yellow-Press ist wahrscheinlich –, und hier darf man auf zukünftige Untersuchungen hoffen – dass das so genannte Belohnungszentrum des menschlichen Gehirns, und möglicherweise auch andere Regionen, mit der Ausschüttung bestimmter Botenstoffe auf den Konsum von Klatsch reagieren. Auf der Ebene des subjektiven Erlebens fühlt man sich in der Folge unterhalten, angeregt, betroffen oder berührt – wohlgemerkt als Ergebnis eines neurochemischen Vorgangs, dessen Funktion ursprünglich ein rein auf Effizienz ausgelegtes Informationsmanagement war. Die Yellow-Press erscheint aus dieser evolutionären Sichtweise als Kleingruppensurrogat – sie konfrontiert uns mit Begebenheiten und Berichten, die in diesem einstigen Kontext zu Recht hochinteressant gewesen wären. Das buntbebilderte Rauschen des Blätterwaldes der Klatschpresse ist letztendlich eine kulturelle Erscheinungsform des stammesgeschichtlichen Erbes unserer Spezies. Die Vergänglichkeit, der ephemere Charakter der einzelnen Meldungen ist dabei ein unausweichlicher Bestandteil des zu beobachtenden Mediengeschehens. Die Mechanismen, die auf der Konsumentenseite hinter der Neugier und Lust an diesem Geschehen stehen, sind jedoch alt und mächtig – zu mächtig, um in absehbarer Zeit durch vernünftige Überlegungen verdrängt zu werden. Oder, wie Jerome Barkow angemerkt hat, „auch wenn der Klatsch mitunter öffentlich als wertlos und verachtungswürdig behandelt wird, so bleibt er einer der beliebtesten Zeitvertreibe … in allen menschlichen Gesellschaften“.8
7 Für eine intensivere Auseinandersetzung mit den einzelnen Interaktionstypen seien die verschiedenen Lehrbücher zur evolutionären Psychologie empfohlen, wie das schon erwähnte von David Buss oder Palmer, Jack A.: Evolutionary Psychology, Boston 2002. 8 Barkow, Jerome: „Beneath new culture is old psychology“, in: ders./ Cosmides, Leda/Tooby, John (Hrsg.): The adapted mind, New York 1992, S. 627-637, hier: S. 628.
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MEDIENUMBRÜCHE UND SPRACHE 1. Medienumbrüche verursachen Umschichtungen der symbolischen und semiotischen Ordnung, so derzeit im zweiten Medienumbruch im Verhältnis von Text und Bild als Abwertung der Buch- und Textkultur und Aufwertung der visuellen Kultur audiovisueller, digitaler Medien. Bereits im ersten Medienumbruch seit 1900 wurden den damals neuen Medien Film und Rundfunk innerhalb der Umbruchssemantik die Pole des Innovativen, Neuen, Veränderlichen, Beweglichen und Ephemeren zugeschrieben. Um 1900 und um 2000 geraten die Buch-, Text- und Schriftkultur auf die konservative und restaurative Seite, und zwar in diversen Formen der historischen Semantik. Die durch Medienumbrüche hervorgerufene Veränderung der semiotischen und semantischen Ordnung bedeutet dabei vor allem, dass die verschiedenen Medien Text, Buch, Schrift und AV-Medien, Computer je andere Zeichenarten und Bedeutungsfelder besetzen und fokussieren. Wenn durch den Buchdruck1 und in einer zweiten Phase durch literale Verschriftlichung2 ein Medienumbruch stattfand, der Schrift, Text und Buch als Leitmedien von Kultur und Gesellschaft zwischen 1500 und 1900 installierte, dann beenden die visuellen Medien Photografie und Film diese buchkulturelle Dominanz um 1900. Medienumbrüche differenzieren die medienspezifischen Zeichen und Bedeutungsweisen etwa durch Enthierarchisisierung oder Rehierarchisierung, durch Entsemantisierung und Resemantisierung. So entwertet die Avantgarde des Dadaismus die Wortbedeutung, den Signifikanten und emanzipiert sowohl die visuelle wie die auditive Klangge-
1 Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a.M. 1991 sowie grundlegend Schanze, Helmut (Hrsg.): Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart 2001. 2 Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999.
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stalt der Sprache als Signifikat; das Fernsehen degradiert und integriert den Kinofilm und führt eine neue Medienkonstellation herbei.3 An einigen Schnittstellen soll im folgenden das Verhältnis von Medien und Sprache beleuchtet werden, und zwar in Hinsicht auf die Begriffs- und Theoriebildungen, die mediale Zäsuren hervorgerufen haben. Dabei geht es um Zuschreibungen, die Medien im Prozess von Medienrevolutionen erhalten haben; im Mittelpunkt steht hierbei das polyvalente Bedeutungsfeld des Ephemeren und Fluiden als Kennzeichnung medialer Bewegung. Medienumbrüche verändern die Sprache als Träger von Bedeutungen, damit als Fundament von Theorie und Wissenschaft. Wie die Medienumbrüche um 1900 und um 2000 die Epistemologie der Kulturund Medienwissenschaften verändert haben, soll anhand begriffshistorischer Transformationen gezeigt werden, die keineswegs nur reagieren, sondern den Veränderungsprozess der semiotischen und semantischen Ordnung entscheidend bestimmen. Die Entscheidung für bestimmte Begriffe (wie Medienumbruch), die für die jeweiligen Veränderungen gewählt werden, sind Entscheidungen auch für bestimmte Wissens- und Diskursformen, die im Sinne Michel Foucaults dann selbst wieder Macht über die „realen“ Prozesse gewinnen und so Stabilität und Kontinuität erzeugen oder aber Veränderung und Bewegung ermöglichen. Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen ist die entgegengesetzte semantische Zuschreibung und Topik, wonach neue Medien sowohl um 1900 wie um 2000 für Bewegung, für das Flüchtige und vorübergehende Ephemere stehen, während die Buchkultur die beharrende Seite der Stabilität und Tradition, der Festlegung und Identität besetzt. Das zentrale Kennzeichen der movies – Bewegung – entspricht dem Bewegungscharakter eines durch dieses Medium hervorgerufenen Umbruchs als semiotisch-symbolischer Veränderung. Erwin Panofsky und andere frühe Filmtheoretiker haben die durch das bewegte Bild4 bewirkte grundsätzlich andere Semiotik und Semantik des Films hervorgehoben, die ihn von literarischen Texten inkommensurabel unterscheidet. Selbst die Hinzufügung von Sprache durch die Einführung des Tonfilms 1928 sei keine literale Versprachlichung des Films, der sich 3 Medienkonkurrenz oder Medienkonvergenz spiegelt diese Umbrüche der semiotischen Ordnung wieder, so im 19. Jahrhundert als Auseinandersetzung zwischen Photografie und Literatur, vgl. Stiegler, Bernd: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert, München 2001 oder zwischen Literatur und Film im 20. Jahrhundert vgl. Paech, Joachim: Literatur und Film, Stuttgart/Weimar 1997. 4 So noch der Leitbegriff bei Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M. 1998.
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vielmehr gegen die literarischen Zeichen und Bedeutungsweisen resistent erweise: Jeder Versuch, im Film Vorstellungen und Empfindungen ausschließlich oder hauptsächlich durch Sprache mitzuteilen, hinterläßt ein Gefühl der Verlegenheit oder Langeweile, oder beides. [...] die Erfindung des Tonfilms 1928 [hat] nichts an der Tatsache geändert, daß ein Film (moving picture), auch wenn er zu sprechen gelernt hat, ein Bild bleibt, das sich bewegt (a picture that moves), und nicht zu einem Werk der Literatur wird, das man aufführt. Substanz des Films bleibt die Reihung von Bildfolgen, die ein unmittelbarer Fluß von Bewegung im Raum zusammenhält, abgesehen natürlich von Einschnitten, die dieselbe Funktion haben wie Pausen in der Musik.5
Die Art und Weise der Erstellung des Zusammenhangs ist für die Zeichenordnungen des Films und der Literatur unterschiedlich. Ist für den Film die Montage der Einstellungen das zentrale Prinzip der Kohärenzbildung, so ist dieses Prinzip eher vergleichbar mit der Musik.6 Selbst das „Prinzip des kombinierten Ausdrucks (principle of coexpressibility)“, welches Panofsky durch den Tonfilm als Zusammenfügung akustischer und visueller Elemente profiliert, hat mit literaler Versprachlichung und deren spezifischer Semantisierung („eine zusammenhängende menschliche Charakter- oder Schicksalsstudie“7) nichts gemein. Bewegung von Bildern und deren Reihung werden als avantgardistisches Kunst- und Formprinzip des Films bestimmt; dies entspricht der Erfahrung moderner Realität und Lebenskultur der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.8 Durch die Divergenz von literaler und 5 Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film & Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers, Frankfurt a.M. 1999, S. 27. 6 Auch Sergej Eisenstein hatte die Montage in Analogie zur Musik gesehen und weniger zur Sprache vgl. Möbius, Hanno: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933, München 2000, S. 359-395. 7 Panofsky (wie Anm. 5), S. 27. 8 Arntzen, Helmut: Ursprung der Gegenwart. Zur Bewußtseinsgeschichte der Dreißiger Jahre in Deutschland, Weinheim 1995, S. 131-168. Bereits Georg Simmel hatte zu Beginn des Jahrhunderts diese Beschleunigung als erhöhte Anforderung an Nerven und Sinne als Signatur der Moderne festgehalten: „Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.“ Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: ders.: Soziologische Ästhetik, hrsg. v. Klaus Lichtblau, Bodenheim 1998, S. 119-134, hier: S. 119; Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a.M. 1985, S. 109 spricht
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visueller Kultur wird die Frage nach der adäquaten Bezeichnung und sprachlichen Übersetzung von Bewegung und Flüchtigkeit gestellt. Wenn sich der Film durch die beweglich gewordenen Bilder dem fixierenden Zeichen der Sprache entzieht, dann stellt sich in einem zweiten Schritt und insbesondere für Medientheorien die Frage, welche Art der Versprachlichung dem bewegten Bild angemessen ist. Wenn des weiteren die Lebenswelt des 20. und 21. Jahrhunderts, also Kommunikation und Interaktion, akzelerierend durch Medien bestimmt werden, dann werden die mit dieser Lebenswelt beschäftigten Theorien diese Medialisierung berücksichtigen müssen. Die Epistemologie wird durch die fortschreitende Medialisierung verändert, und zwar durch Einflußnahme von Medien auf das Konkurrenzmedium Sprache und Theorie als Basis der Epistemologie. Was durch den Film, aber auch das Radio evident wird, ist die Isolierung von sichtbaren und hörbaren Phänomenen und deren Trennung von textuellen, schriftlichen Zeichen. Diese Separierung bewirkt, dass der rein hörbare oder sichtbare Ausdruck von Stimme und Geste durch mediale Aufzeichnung eine Steigerung seiner authentischen Widergabe erfährt, die allerdings durch die Verdrängung und Marginalisierung schriftlich – sprachlicher Formen zustandekommt. Auch Panofskys Koexpressivität ist eine konstruierte Montage aufgrund der realen Trennung der akustischen und visuellen Elemente Bild und Ton. Der „Rundfunk als Ausdrucksmittel [...] bedient sich zum erstenmal des Hörbaren allein, ohne das mit ihm überall sonst, in der Natur und so auch in der Kunst, verknüpfte Sichtbare.“9 Karl Bühler beobachtet 1933 ganz ähnliche mediale Differenzierungen und sinnliche Isolierungen, deren Authentizitätsgewinn erhöhten Theoriebedarf mit sich bringt: „Der Mensch von heute sieht sich umgeben von technischen Einrichtungen, die ihn wie der stumme Film vor die Aufgabe stellen, sichtbaren Ausdruck isoliert vom hörbaren oder wie das Radio und Telephon vor die andere Aufgabe, hörbaren Ausdruck isoliert vom sichtbaren aufzunehmen.“10 Die Einheit des Zeichens, die in der Neuzeit wesentlich sprachlich durch die Repräsentationsfunktion des Zeichens garantiert war, zerfällt durch die mediale dem Film so eine mimetische „Affinität zum Kontinuum des Lebens oder ‚Fluß des Lebens‘, der natürlich identisch mit abschlußlosem, offenem Leben ist“ zu. 9 Arnheim, Rudolf: Rundfunk als Hörkunst, Frankfurt a.M. 2001, S. 13, 14. 10 Bühler, Karl: Ausdruckstheorie, Jena 1933, S. 1. Die Trennung von „Auge“ und „Ohr“ hatte Simmel bereits als Signatur der Moderne konstatiert in Simmel, Georg: „Soziologie der Sinne“, in: ders.: Soziologische Ästhetik, hrsg. v. Klaus Lichtblau, Bodenheim 1998, S. 142-146.
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Ausdifferenzierung, die die neuen Medien hervorrufen.11 Diese Ausdifferenzierung der Medien löst zugleich die Eindeutigkeit und Einheitlichkeit des Mediums Sprache, insbesondere diejenige von Schrift, Text und Buch auf, die sich in einer medialen Konkurrenzsituation befinden und ihren singulären und zentralen Status verlieren. Die Differenzqualität dieser Konkurrenz besteht wesentlich darin, dass in den neuen Medien Film und Radio die beweglichen Sinne sowie die fluiden Ausdrucksformen der Geste und der Stimme angemessener als in Sprache aufgezeichnet werden können; Geste und Stimme sind dadurch wesentliches Material der neuen Medien Film und Rundfunk. Dennoch sind die Klangäußerungen unserer Welt so mannigfaltig, daß man durchaus von einem akustischen Weltbild sprechen kann. Das hängt zum Teil damit zusammen, daß die Gehörwahrnehmungen uns immer von Tätigkeiten der Dinge und Lebewesen Kunde geben, denn wenn ein Ding tönt, so bewegt , so verändert es sich. [...] Dennoch überwiegen, im Gegensatz zum optischen Gebiet, diejenigen akustischen Wahrnehmungen, die uns von Veränderungen Kunde geben, so beträchtlich diejenigen, die auf unverändert Fortdauerndes hinweisen [...].12
Die Profilierung der neuen Medien Film und Foto für die Darstellung körperlicher Ausdrucksformen der Geste und der Stimme13 prägt einen Bereich von visuell-akustischer, nonverbaler und ephemer-beweglicher Ausdruckswelt aus, dessen sprachliche und theoretische Restitution und Konstruktion infolgedessen programmatisch wird: 11 Plessner, Helmuth: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes. Gesammelte Schriften Bd. III, hrsg. v. Günter Dux, Odo Marquard, Elisabeth Ströker, Frankfurt a.M. 1980, S. 278 generiert aus dieser avantgardistisch-medialen Trennung isolierter Einzelsinne und getrennter Medien je verschiedene Bedeutungen, die die Theorieform der Ästhesiologie zusammenführen soll: „Die Ästhesiologie des Geistes ist die Wissenschaft von den Arten der Versinnlichung der geistigen Gehalte und ihren Gründen. Sie zeigt, daß zu bestimmten Sinngebungen bestimmte sinnliche Materialien nötig und warum keine anderen möglich sind.“ Voraussetzung dieser sinnlich-medialen Spezifik ist die Auflösung der einheitliche Bedeutung garantierenden Repräsentationstheorie des Zeichens. Diese sinnliche Fundierung von Medien firmiert vor dem Hintergrund des zweiten Medienumbruchs unter Medienästhetik, und stellt das kritische Verhältnis von Medien und Sprache ebenfalls ins Zentrum vgl. Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart/Weimar 2000, S. 171-184. 12 Arnheim (wie Anm. 9), S. 19. 13 Vgl. Meyer-Kalkus, Reinhart: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001; Göttert, Karl-Heinz: Geschichte der Stimme, München 1998.
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ANDREAS KÄUSER Im Rundfunk enthüllten die Geräusche und Stimmen der Wirklichkeit ihre sinnliche Verwandtschaft mit dem Wort des Dichters und den Tönen der Musik [... und boten] sich viel unmittelbarer, gegenständlicher, konkreter dar als auf dem bedruckten Papier: das bisher nur Gedachte, Beschriebene schien materialisiert, leibhaftig gegenwärtig. [... Es war] für den Theoretiker, den Ästhetiker, von höchster Wichtigkeit, diese schönen Versuche zu verfolgen.14
Ästhetische und mediale Formen der Performanzkultur wie die (filmische) Geste oder die (funkische) Stimme divergieren von textuellen Formen der Repräsentationskultur. Körperlicher Ausdruck und körperliche Darstellungsweisen wie Ausdruckstanz, Rhythmus, Gesten bestimmen diese Kultur der performativen Akte, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausbreitet. Für die flüchtige Präsenz dieser körperlichen und performativen Ausdrucksformen sind schriftliche Zeichenformen wie Text oder Notentext zunächst ein defizienter medialer Modus.15 Demgegenüber erhält die audiovisuelle Medialisierung die analoge Authentizität des Körpers; der mediale Ausdruck löst und entfremdet sich aber auch vom Körper, sei es als autonome Stimme im Rundfunk oder als isolierte Geste im Stummfilm. Authentizität durch genaue Aufzeichnung sowie Entfremdung durch Trennung von medialem Ausdruck und Körper als dessen Träger sind ein und derselbe paradoxe Vorgang. Die zwanziger Jahre als Durchsetzungsphase der audiovisuellen Medien Rundfunk, Film und Grammophon lassen sich so durch eine Aufwertung der äußeren Ausdrucksphänomene wie Stimme oder Geste kennzeichnen, welche durch die Aufzeichnungsmöglichkeiten der neuen Medien verursacht wird und Folgen insbesondere für anthropologische Theorien der Ausdrucksforschung hat.16 Dieser für das 20. Jahrhundert epochale Vorgang kann unter der Kategorie der Verkörperung, des Embodiment, einer Retheatralisierung zur Performance, gefasst werden: „Nicht länger mehr sollte die Sprache dominieren, sondern an ihrer Stelle der Körper des Schauspielers im Raum sowie flüchtige asemantische Mittel wie Musik, Licht, Farbe, Ge14 Arnheim (wie Anm. 9), S. 14. 15 „Die Stimme, so scheint es, ist aufgrund ihrer fluiden Materialität in besonderem Maße ein performatives Medium, ein Medium, das sich nicht unabhängig von seinen Prozessierungsformen betrachten lässt. [Nicht] die Differenz von Stimme und Schrift [ist maßgeblich], sondern die Analyse der Stimme im Dispositiv ihrer unterschiedlichen Generierungsbedingungen.“ Epping-Jäger, Cornelia/Linz, Erika (Hrsg.): Medien/Stimmen (Mediologie Bd.9), Köln 2003, S. 11. 16 Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994.
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räusche. Die performativen Qualitäten der Aufführung sollten in den Vordergrund treten.“17 Der Körper und seine Ausdrucksmittel erreichen eine unmittelbare Wirkung, die an den Akt der Aufführung gebunden ist; dadurch erreicht die Wahrnehmung eine performative Sinnstiftung, welche sich einer textuellen Hermeneutik widersetzt. Diese performative Kultur, die sich der Repräsentierbarkeit durch Zeichen entzieht, findet statt in sportlichen Wettkämpfen, so dass die Neugründung der olympischen Spiele 189618 ein fürs 20. Jahrhundert ebenso zentraler Vorgang ist wie die Erfindung des Films 1895. Aber auch die Körperkultur des 20. Jahrhunderts, beginnend etwa mit der „Lebensreformbewegung“, ließe sich einer bisher herrschenden alteuropäischen textuellen Kultur entgegensetzen. Außereuropäische exotische Kulturen sowie die eigene Volkskultur werden durch den performative turn neu entdeckt bzw. aufgewertet, ein Vorgang, der durch die neuen Medien verstärkt, wenn nicht perpetuiert wird und die klassischen Avantgarden wie Expressionismus und Kubismus als Exotismus maßgeblich beeinflusst.
2. Körperliche Performanz und textuelle Repräsentation entfalten divergierende kulturelle Formen und entwickeln sukzessive ein Verhältnis der gegenseitigen Befruchtung und Ergänzung, so dass sich das Performative und das Semiotische wechselseitig ergänzen und bedingen.19 Dadurch, dass sich Wissenschaften und akademische Disziplinen den performativen Formen und flüchtigen Phänomenen zuwenden, werden diese Theorien selbst transformiert. Insofern Wissenschaften an Sprache und Text gekoppelt bleiben, verändern sich die Begriffe und Konzepte; die Phänomene dringen in den Diskurs ein, mobilisieren und transformieren ihn. Der Gegensatz von fluider körperlicher Performanz und fixierender textueller Repräsentation bestimmt das Verhältnis, das allerdings selbst beweglich ist, indem Begriffe als Basis von Theorie durch mediale Orientierung und Beeinflussung flexibel werden. Der wissenshistorische Übergang von sich ausbreitenden Medien und performativen Akten zu
17 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung: Das Semiotische und das Performative, Tübingen/Basel 2001, S. 16. 18 Vgl. zum Sport Teil III des diesen historischen und systematischen Zusammenhängen gewidmeten Buchs von Pfeiffer, K. Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a.M. 1999. 19 Fischer-Lichte (wie Anm. 17), bes. S. 18-22.
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dadurch veränderten Konzepten und Terminologien der Wissenschaft transformiert schließlich die institutionelle Organisation der akademischen Disziplinen durch Neuformierungen wie Semiologie oder Mediologie.20 Die durch Medialisierung gewachsene Bedeutung von Körperausdrucksformen inspiriert die entsprechende Ausdrucksforschung der Medizin oder Psychologie, hebt den medialen Anteil dieser Wissenschaften vom Menschen hervor.21 Parallel zur Theoretisierung und Medialisierung der Anthropologie findet eine Versprachlichung der fluiden Ausdrucksformen statt, und zwar als theoretische Frage nach den Sprachfiguren und Metabegriffen, mit denen flüchtige Performanz dargestellt werden kann. Die Medialisierung und Verkörperung der Kultur fordert die Wissenschaft von der Sprache heraus oder inspiriert sie tiefgreifend, und zwar zum einen im Sinne einer Erweiterung und Entgrenzung um nichtsprachliche Zeichenformen, was zur Entstehung der Semiotik oder Semiologie führt22; zum anderen sieht sich die Linguistik genötigt, ihre Kategorien und deren zumeist dichotomische Ordnung zu überprüfen und zu reformieren. Zeitpunkt dieser theoretischen Reaktion auf den ersten Medienumbruch der medialen und körperlichen Performanzkultur sind die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.
20 Als kulturtechnische Perspektive beeinflusst dieser Zusammenhang heutzutage die Kulturwissenschaften: „Die Entdeckung der Fluidität kulturstiftender Praktiken. Nicht länger ist ‚Kultur‘ reserviert für das, was in Werken, Monumenten und Dokumenten sich zu stabiler und statuarischer Form auskristallisiert. Eine von der Sprachtheorie ausstrahlende und die Sozial-, Kultur- und Kunstwissenschaften ergreifende Debatte über ‚Performanz‘ und ‚Performativität‘ relativiert die Zentrierung auf Text und Repräsentation und entdeckt in Handlungen, Vollzügen, Ritualen und Routinen die Signifikanz von Kulturen.“ Krämer, Sibylle/Bredekamp, Horst (Hrsg.): Bild, Schrift, Zahl, München 2003, S. 14. 21 Dies das Ergebnis der beiden Studien Stefan Riegers: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt a.M. 2002 sowie Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M. 2001. Rieger weist nach, dass das Grundprinzip von „Ausdruck und Einfühlung“ (Ästhetik, S. 69) die „Fachwissenschaften“ des 20. Jahrhunderts wie die Biologie, die Medizin, die Psychologie beherrscht, und zwar als wissenschaftliche Reaktion auf die medialen Aufzeichnungsmöglichkeiten des Ausdrucks wie EKG, EEG, die die Körperund Nervenströme exakt messen und darstellen und als unbewusste überhaupt erst sichtbar werden lassen. 22 Rieger (wie Anm. 21), 2002, S. 36 spricht von „einer alles umfassenden anthropologischen Semiotik“ als Reaktion auf die Medialisierung des Menschen.
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Im Mittelpunkt stehen dabei die Körperausdrucksformen der Gestik23 und der Stimme, die ihre lebensweltliche Relevanz gerade der Tatsache verdanken, dass ihre flüchtige Beweglichkeit und Wahrnehmbarkeit mit den gleichlautenden Kennzeichnungen einer von Simmel und Plessner konstatierten modernen sinnlichen Kultur korrespondiert. Die innovative Qualität der audiovisuellen Medien des Radios und des Films besteht darin, körperliche Beweglichkeit mit ihrer kommunikativen und interaktiven Kompetenz aufzeichnen zu können. Theorien müssen diese medialen Körperformen resemiotisieren, und zwar in einem Korrespondenzverhältnis von Zeichen und Ausdruck; dabei darf das Ausdrucksund Performanzprinzip nicht identisch sein mit dem Paradigma des Zeichens der Repräsentation, von dem es sich qualitativ abgesetzt hatte. Die Theoretisierung des medialen Körperausdrucks erfordert also eine sprachlich-begriffliche Übersetzung, die die ephemere und stumme Körperlichkeit des Ausdrucks überwindet und dabei seine Differenzqualität zum Zeichen der Repräsentation aufrecht erhält. Wenn einer heute ins Kino geht und auf der Leinwand ein paar Dutzend flüchtiger Wendungen des Gangs oder Kopfes und der Hand, der Augen und um den Mund herum ständig wiederkehrend und von den Besten aufs Subtilste herausgearbeitet findet und er studiert daneben eine moderne Abhandlung wie die von Lersch `Gesicht und Seele`, so gehört das zusammen und trifft sich, die Praxis dort und das wissenschaftliche Interesse hier.24
Wie die „unbewegliche“, „starre Maske“ (ebd.) des antiken Schauspielers eine Stabilisierung und Verfestigung der mimisch-bewegten Gesichtszüge zur Identität der Person bewerkstelligte, so gelingt auch dem Film eine Fixierung der bewegten Gesten, vor allem durch Reproduzierbarkeit und Archivierbarkeit. Ist der Film einerseits das angemessene Medium für die flüchtigen Körperbewegungen der modernen Lebenswelt, so fixiert und sistiert er andererseits diese Bewegtheit und Fluidität: „Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen 23 Egidi, Margreth/Schneider, Oliver/Schöning, Matthias/Schütze, Irene/ Torra-Mattenklott, Caroline (Hrsg.): Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild, Tübingen 2000, S. 18 zur „Hervorhebung des transitorischen Charakters der Geste“, ihrer „Flüchtigkeit und Situationsgebundenheit“, wodurch ein gestiegener medialer Aufzeichnungsbedarf bewirkt wird. Auch Löffler, Petra: Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik, Bielefeld 2004, S. 21 hebt die „Flüchtigkeit“ des mimischen Affektausdrucks als seine semiotische und mediale Differenzqualität hervor, wodurch die physiognomische Statik des Gesichts verdrängt werde. 24 Bühler (wie Anm. 10), S. 15.
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Photographien die Aura zum letzten Mal.“25 Flüchtige Bewegungen des Körpers sind prominenter Inhalt des Films, der die Technik für die Aufzeichnung dieser ephemeren Formen exponiert bereitstellt – und dadurch die Fixierung durch schriftliche Zeichen etwa in Form theoretischer Texte früher Medientheorien herausfordert. „Und da jedes Medium den Dingen besonders zugetan ist, die es allein darstellen kann, scheint das Kino vom Wunsch beseelt, vorübergleitendes materielles Leben festzuhalten, Leben in seiner vergänglichsten Form. Straßenmengen, unbeabsichtigte Gebärden und andere flüchtige Eindrücke sind seine Hauptnahrung.“26
3. Gelingt dem Film die Aufzeichnung des bewegten körperlichen und medialen Ausdrucks, so stellt sich für Medien- und Sprachtheorien des 20. Jahrhunderts die Frage nach Art und Form der Versprachlichung des Ausdrucks in einer „Axiomatik der Ausdruckslehre“27 oder als Frage nach der „Art der Aussagen, die wir über die Erscheinungen machen.“28 Führt bereits eine Fokussierung der Stimme dazu, andere hörbare und performative Aspekte der Sprache in den Vordergrund der Wissenschaft zu stellen als textuelle oder semantische, so reagiert die Sprachwissenschaft auf diese Phänomene des medialisierten Körpers. Ludwig Wittgenstein und Karl Bühler sind die beiden Theoretiker, die diese Aufnahme der „Analyse“ der „gebräuchlichen Ausdrucksformen“ der Verwendung sprachlicher „Erscheinungen“29 ins Zentrum von Philosophie und Sprachtheorie am entschiedensten und konzeptuell folgenreichsten vollziehen. „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“30 Ausdruck wird bei Karl Bühler deswegen zum zentralen Terminus der Grammatik, weil der wahrnehm25 Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt a.M. 1980, S. 445; vgl. zu dieser Gesichtstauglichkeit des Mediums Photografie auch Kracauer (wie Anm. 8) über die Zusammenarbeit von Darwin und Duchenne, für die „Momentaufnahmen am zuverlässigsten ‚die vergänglichsten und flüchtigsten Nuancen des Gesichtsausdrucks‘ festhielten.“ (S. 27) 26 Kracauer (wie Anm. 8), S. 11. 27 Bühler (Anm. 10), S. 2. 28 Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1971, S. 72. 29 Wittgenstein (wie Anm. 28), S. 72. 30 Wittgenstein (wie Anm. 28), S. 80.
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bare Ausdruck ohne eine Referenz zur inneren Sprachbedeutung die Lebenswelt als Oberflächenerscheinung und durch „Anzeichen“ reguliertes Verhalten beherrscht. Die Parallelität von (medialem) Körperausdruck und Sprachausdruck wird sowohl bei Wittgenstein wie bei Bühler reflektiert; Bühler lässt aus der Axiomatik der Ausdruckstheorie die Axiomatik der Sprachwissenschaften hervorgehen.31 Wittgensteins Sprachspiele improvisieren und experimentieren mit der Analogie von Gebärde und Sprachausdruck. Wenn Sprache in dieser Weise von ihrer Erscheinungs- und Verwendungsweise her verstanden wird und nicht auf verborgenen Hintersinn oder Strukturen reduziert wird, dann werden ihre vielfältigen Ausdrucksweisen bis in Nuancen beschrieben; in dieser Beschreibung der sprachlichen Oberfläche und Erscheinungsweise ist die Bedeutung, die in der Verwendung und im Gebrauch der „Appellfunktion“ liegt, enthalten. „Grammatik sagt nicht, wie die Sprache gebaut sein muß, um ihren Zweck zu erfüllen, um so und so auf Menschen zu wirken. Sie beschreibt nur, aber erklärt in keiner Weise, den Gebrauch der Zeichen.“32 Sprache erhält sowohl als gehörter und gelesener Sprachklang wie auch in den Nuancen ihrer „Bilder“ philosophische Dignität, sie wird von Wittgenstein gleichsam ästhesiologisch bzw. medienästhetisch behandelt: „Ein Wort in dieser Bedeutung hören. Wie seltsam, daß es so etwas gibt! So phrasiert, so betont, so gehört, ist der Satz der Anfang eines Übergangs zu diesen Sätzen, Bildern, Handlungen.“33 Übergang, Vergleich, Übertragung sind zentrale Vorgänge innerhalb der Sprachspiele, die dadurch eine metaphorische Vorgehens- und Beschreibungsweise erhalten. Für eine Betrachtung und Behandlung der Sprache als medial-sinnliches Phänomen des Hörens und Sehens34, damit des aus dieser Erscheinungsweise resultierenden Gebrauchs der Verwendung, ist Übertragung eine entscheidende Verfahrensweise; in der Metapher findet diese Vermittlung und Medialisierung eine passende Sprachfigur:
31 Vgl. ebenfalls aus dem Jahre 1933 Bühler, Karl: Die Axiomatik der Sprachwissenschaften, Frankfurt a.M. 1969 zur linguistischen Leitfrage: „Wie verhält sich die Darstellung zum Ausdruck?“ (S. 104) Ähnlich zentral die Darstellung bei Wittgenstein: „Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen.“ (S. 82) 32 Wittgenstein (wie Anm. 28), S. 218. 33 Wittgenstein (wie Anm. 28), S. 228. 34 „…da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären. Denn, was etwa verborgen ist, interessiert uns nicht.“ Wittgenstein (wie Anm. 28), S. 83.
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Metaphorisierung, „indem man eine Ausdrucksform durch eine andere ersetzt“36, ist als Vorgang der Übertragung zwischen den diversen sprachlichen und medialen Ausdrucksformen oder zwischen Phänomen und Sprache ein Vorgang der Bewegung, des „movere“, insofern ein Prozess, der der perpetuierten Beweglichkeit im Film oder der Permanenz von Umbrüchen der semiotischen Ordnung am ehesten sprachlich angemessen ist. Die Spannung zwischen performativer Medienkultur und textueller Sprachkultur findet in der Metapher eine sprachliche Form für die Beweglichkeit und Flüchtigkeit medialisierter Körperphänomene. Als Metaphorologie transformiert dieser Vorgang die Sprachwissenschaft und -philosophie entscheidend. Die Medienumbrüche des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts, deren neue Medien durch Bewegung und Beschleunigung gekennzeichnet sind, verändern die Sprache und deren (philosophische oder linguistische) Theoriebildung dadurch, dass sie das eindeutige, fixierende Sprachzeichen restringieren und den beweglichen Sprachausdruck der Metapher elaborieren. Insbesondere geeignet ist die Metapher für eine medialisierte Ausdruckswelt deswegen, weil sie als „absolute Metapher“ den Ausdruck der Sprache nicht mehr in die Logizität oder den Logos der eigentlichen und stabilen Bedeutung zurückzuholen vermag.37 Sowohl die Emanzipation performativer Akte der medialisierten Äußerungen und (Körper-) Ausdrucksformen wie auch die Metaphorologie reagieren damit auf eine Krise der Repräsentation38 des bedeutenden, eindeutigen Sprachzeichens, an deren Stelle die wahrnehmbare Performanz der Sprachverwendung tritt. Insbesondere vermag es die Metapher, das Flüchtige und Bewegliche von Medien und Medienumbrüchen in der Sprache dingfest zu machen, indem die festschreibende Eindeutigkeit des repräsentierenden Zei-
35 Wittgenstein (wie Anm. 28), S. 108. 36 Wittgenstein (wie Anm. 28), S. 72. 37 vgl. diesbezügliche Bestimmungen bei Blumenberg, Hans: „Paradigmen zu einer Metaphorologie“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 6 (1960), S. 7142, bes. S. 7-11. 38 Die von Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge 1966 wirkungsvoll und epochal analysiert worden ist.
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chens vermieden und durch flexible Übertragung ersetzt wird.39 Erfährt die Sprachverwendung, also die Performanz eine maßgebliche Aufwertung und Ergänzung gegenüber der Sprachbedeutung, der Kompetenz, so wird damit auch der semiotische und semantische Mehrwert der mimisch-gestischen, akustisch-klanglichen und stimmlichen „Begleiterscheinungen“ (Wittgenstein) sprachlicher Entäußerung anerkannt, die der schriftlich-textlichen Sprache gerade fehlen. Konnotation verdrängt Denotation, Assoziation ersetzt Repräsentation. Nun könnte man einwenden, dass Blumenbergs Metaphorologie ihren Untersuchungsgegenstand gerade nicht der medialisierten Lebenswelt des 20. Jahrhunderts entnimmt, sondern historische Metaphern des Mittelalters und der frühen Neuzeit nachzeichnet. Dementsprechend hat Horst Wenzel gezeigt, dass bereits der zentrale Medienumbruch des Mittelalters von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit eine vermehrte Metaphernproduktion und gesteigerten „Metapherngebrauch“40 hervorgebracht hat. Den Unterschied zur Moderne des 20. Jahrhunderts markiert die Theoretisierung zur Metaphorologie im Zuge des linguistic und semiotic turn, Wendungen, die auch als Reaktion auf die Medienumbrüche des 20. und 21. Jahrhunderts verstanden werden müssen. Ist insbesondere der erste Medienumbruch durch die Verbreitung einer performativen Ausdruckskultur gekennzeichnet, dann leisten Metaphern den sprachlichen Übergang zwischen Ausdruck (der Stimme, der Geste) und Denken, zwischen Körper und Sprache.41 Insbesondere bewerkstelligen sie die Rückholung und Reintegration der sich immer mehr freisetzenden und anwachsenden nonverbalen und nontextuellen Elemente dieser Medienkultur in die Buch- und Text39 Torra-Mattenklott, Caroline: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002 sieht dementsprechend mit Blumenberg einen „imaginativen Hintergrund“ mit „lebensweltlichen Leitfäden“ als entscheidend für die „imaginative ‚Substruktur des Denkens‘“ (S. 69) an, für die Metaphern stehen bzw. für dasjenige, was sie semantisieren. Anders als der Begriff ist diese Semantik der „absoluten Metapher“ auch hier an die „Bewegungen“ (S. 13) des movere als psychologisch-ästhetische Substruktur gekoppelt und markiert insofern „Übergänge“ und „Einschnitte“ zwischen Metapher/Ausdruck und Begriff/ Repräsentation (S. 19/20). 40 Wenzel, Horst: „Die ‚fließende‘ Rede und der ‚gefrorene‘ Text. Metaphern der Medialität“, in: Neumann, Gerhard (Hrsg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar 1997, S. 481503. 41 Wittgenstein (wie Anm. 28), S. 334: „Könnte ich nicht dennoch einen rein – visuellen Begriff der zaghaften Stellung, des furchtsamen Gesichts haben?“ nur als ein Beispiel von vielen.
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kultur.42 Filmisches Gesicht und Gebärde bei Béla Balázs und funkische Stimme und Klang bei Rudolf Arnheim werden in der Darstellung dieser frühen Medientheorie auch erst versprachlicht: „Metaphern überbrücken die kategorialen Gegensätze medialer Systeme.“43 Sind Medien generell zu kennzeichnen durch die Aufhebung direkter Kommunikation in Vermittlungsagenturen des Briefes, des Telephons, der Schrift, des Internet, so versucht die Metaphorisierung des Medialen diesen Bruch zwischen Körper und Stimme, Körper und Geste einzuebnen, zu mildern. Insbesondere der Körper bedarf der Metaphorisierung, weil er extrem von medialen Distanzierungen und Vermittlungen einer medialen Entkörperlichung und Ersetzung des Körpers oder einer nur an flüchtige Situationen gebundenen „Verkörperung“ betroffen ist.44
42 Die sich dementsprechend etwa im Bereich von Wissenschaft und Theorie zunehmend metaphorisiert, so dass der Metaphorologie der Medien eine Metaphorisierung der Medientheorie entspricht. Giesecke, Michael: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt a.M. 2002, S. 16/17 konstatiert dies generalisierend als Konsequenz des zweiten Medienumbruchs, den er durch das parallele Ende der Buchkultur und der Industriegesellschaft gekennzeichnet sieht. Wichtig sind die Implikationen: die „Prämierung der Augen und der linearen visuellen Informationsgewinnung [...] geht zu Gunsten anderer Sinne und synästhetischer Ausdrucksformen zurück. Sprachliche [...] werden durch nonverbale Ausdrucksformen ergänzt. Rationale, logische Informationsverarbeitung erscheint nur noch als eine Form neben anderen metaphorischen und assoziativen Formen.“ Auch Giesecke sieht das durch Medienumbrüche verursachte Problem adäquater Begriffe sowie als dessen Folge das Vordringen metaphorischer Assoziation, die vorerst „gute Begriffe“ (S. 18) verdrängt, aber darin dem stattfindenden „Epochenwechsel“ (19) angemessen ist, der nicht nur „andere Medien“ verlangt, „sondern auch zeitgemäße, nicht mehr einseitig an der zu Ende gehenden Epoche der Buchkultur orientierte Modelle von Wahrnehmung, Denken, Präsentation und Verständigung.“ (S.19). 43 Wenzel (wie Anm. 40), S. 502. 44 vgl. zu Konzept und Begriff von Verkörperung, Embodiment: FischerLichte, Erika/Horn, Christian/Warstat, Matthias (Hrsg.): Verkörperung, Tübingen/Basel 2001; Krämer, Sibylle: „Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung“, in: Münker, Stefan/Roesler, Alexander/Sandbothe, Mike (Hrsg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a.M. 2003, S. 78-90, hier: S. 84.
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4. Theoretisierung der Metapher zur Metaphorologie setzt die Semiologisierung des medial-körperlichen „Ausdrucks“ zum „Zeichen“ voraus.45 Der Film markiert nicht nur einen Medienumbruch, sondern hat einen epistemischen Bruch zur Konsequenz, der insbesondere das die Theorie und Wissenschaft tragende Leitmedium der Sprache herausfordert und zu neuen Kategorisierungen und Konzeptualisierungen inspiriert. Semiotik, im 18. Jahrhundert noch medizinische Körper- und Seelenzeichenkunde, wird im 20. Jahrhundert unter dem Einfluß des medialisierten Körpers zur linguistisch und medial inspirierten Zeichentheorie, die ihre Adaptions- und Assimilationsfähigkeit mit dieser medialisierten Realität nachweisen muss. Insbesondere die für Linguistik und Semiotik folgenreiche Differenz von Metapher und Metonymie initiiert Roman Jakobson in direkter Auseinandersetzung mit dem Film, so dass die mediale Differenz des neuen Mediums eine innovative begriffliche Differenzierung inspiriert. Das bewegte Bild setzt die Theorie in Bewegung, indem Kategorisierungen von Sprache etabliert werden, die anders als das fixierende Zeichen „Veränderung durch Übertragung“46 erlauben und dadurch ins Zentrum einer philosophischen Medientheorie geraten. Es geht dabei nicht nur um die Frage, wie der Film versprachlicht oder beschrieben werden kann, sondern welche begrifflichen Formen grundsätzlich für filmische Prinzipien angemessen sind. Grundlegend für den Film ist nach Jakobson das synekdochische Prinzip des „Pars pro toto“ als der „Grundmethode des Films für die Verwandlung von Sachen in Zeichen.“47 Der Film arbeitet mit unterschiedlichen und verschiedenen Bruchstücken von Gegenständen, was die Größe betrifft, und mit gleichfalls in bezug auf die Größe unterschiedlichen Bruchstücken von Raum und Zeit, verwandelt ihre Proportionen und konfrontiert diese Bruchstücke nach ihrer Kontiguität oder nach Ähnlichkeit und Kontrast, das heißt, er geht den Weg der Metonymie oder der Metaphorik (die zwei Grundarten des Filmaufbaus).48
45 Jakobson, Roman: Semiotik. Ausgewählte Texte 1919-1982, hrsg. v. Elmar Holenstein, Frankfurt a.M. 1992. 46 Krämer (wie Anm. 44), S. 84. 47 Jakobson, Roman: „Verfall des Films?“ (1933), in: ders.: Semiotik. Ausgewählte Texte 1919-1982, hrsg. v. Elmar Holenstein, Frankfurt a.M. 1992, S. 256-266, hier: S. 258. 48 Jakobson (wie Anm. 47), S. 258/259.
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Metapher und Metonymie stellen damit die grundlegenden Semiotisierungsweisen dar, durch die sich „jede Erscheinung der Außenwelt auf die Leinwand in ein Zeichen verwandelt“49, die sich für Jakobson durch den „Umbruch“50 vom Stumm- zum Tonfilm ergeben. Die Differenz von Metapher und Metonymie entspricht dabei der Entwicklung vom stummen „metaphorischen“ Film Chaplins zum „metonymischen“ Film von Griffith, in dem die „Reihung“ (Panofsky) der Einstellungen und bildlichen „Bruchstücke“ dem „syntagmatischen“ Reihungsprinzip der Metonymie entspricht. Diese Ordnung der linearen Reihung oder syntagmatischen Aufeinanderfolge steht zudem in Analogie zur Musik. Filmische Körper, Gesichter, Gesten bedeuten metaphorisch-assoziativ, paradigmatisch einen unsichtbaren Charakter oder moralische Werte; sie werden vom Film ausgenutzt für die Visualisierung von guten oder bösen Helden in Gestalt schöner oder häßlicher Menschen. Das visuelle (Körper-)Teil des Filmausschnitts steht für das Ganze einer assoziierbaren, aber nicht sichtbaren, sondern hermeneutisch erschließbaren Bedeutung. Demgegenüber ist das Reihungsprinzip der Metonymie durch lineare Aufeinanderfolge gekennzeichnet. Chaplins Gangart oder sein Schnurrbart sind Metaphern für etwas anderes, sei es nun der Tramp, der Clown oder der sozial Deklassierte; diese abgefilmten Teile folgen also dem Ersetzungs- und Substitutionsprinzip der Repräsentation, indem eine unsichtbare Bedeutung als Paradigma durch Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit „assoziiert“ werden muss. Das metonymische Prinzip besteht im Unterschied hierzu aus der linearen Reihung und Zusammenstellung der sichtbaren Teile des Films, also der „Einstellungen“ durch Montage. „Chaplin hat einen Schnurrbart“ ist metaphorisch zu assoziieren mit einer ganzen Reihe von Bedeutungen, die von Unterschichtenclown mit Sinn für Eleganz bis hin zu Adolf Hitler reichen. Metonymisch ist der Satz die Aneinanderreihung der vier sichtbaren Worte zu einem deutschen Hauptsatz, etwa als hörbare „Kette des Sprechens“ (Barthes), filmisch die lineare Aufeinanderfolge der Einstellungen durch Montage, also etwa der Einzelbilder Chaplins Hut – sein Schnurbart – sein Gang durch die Straße etc., durchaus als Form der Szenenbeschreibung im Drehbuch. Es geht hier nicht so sehr darum, die filmanalytische Richtigkeit und filmtheoretische „Wahrheit“ der Differenz von Metapher und Metonymie zu bestätigen, als vielmehr darum, deren wissenschaftshistorische Signifikanz aufzuzeigen, so dass die Konsequenzen des filmischen Um49 Jakobson (wie Anm. 47), S. 259. 50 Jakobson (wie Anm. 47), S. 260.
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bruchs für Neukonzeptionen der Linguistik und Semiotik Beachtung finden. Durch den Übergang, die Übertragung von Medium und Diskurs, Film und Begriff kreieren Roland Barthes oder Umberto Eco die neue Theorieform der Semiologie, die sie zu einer eigentümlichen medienreflexiven und intermedialen Diskursform (als Feuilleton, Essay, Fragment, Kritik, Roman) generieren. Der Unterschied von Metapher und Metonymie wird durch den Film inspiriert zu einer zentralen Dichotomie der Linguistik und Semiotik. Dadurch werden durch de Saussure und Jakobson „das Syntagmatische und das Assoziative (d.h. für uns das Systematische) wohl zwei Formen der geistigen Tätigkeit“, zwei Formen der „Diskurse.“51 Sie erfahren eine Transzendierung von der bloßen Stilfigur der Rhetorik zur Denkweise, was selbst eine bemerkenswerte „Übertragung“ und „Transformation“ im Sinne von „Schnitt“52 und Montage ist, die zeigt, wie Medien und Sprache, Medienumbrüche und Begriffsgeschichte, Medientechnik und Diskursformation sich wechselseitig referentialisieren.53 Zentrale Prinzipien der Filmtechnik wie Schnitt und Montage transformieren die Diskursformation der „Zeichensysteme“54 durch die Etablierung der Dichotomie von metonymischer (sichtbarer) Reihung und metaphorischer (unsichtbarer) Ähnlichkeit. Umgekehrt geht es in einem zweiten Schritt darum, geeignete Begrifflichkeiten für „außersprachliche Zeichensysteme“55 wie die Malerei zu finden oder den Film „in den Bereich der Sprache zu integrieren“56, zu eruieren, „ob ein kinematographisches Verfahren methodologisch in bedeutungstragende Ein51 Barthes, Roland: Elemente der Semiologie, Frankfurt a.M. 1983, S. 50. 52 Jakobson (wie Anm. 45), S. 272. 53 Koschorke (wie Anm. 2) operiert ganz selbstverständlich mit der Opposition von Metapher und Metonymie, als wäre die Etablierung dieser Dichotomie nicht selbst Reaktion auf mediale Revolutionen gewesen. Wenn dem so ist, verliert die Opposition aber den Status eines unproblematisch anwendbaren Methodenparadigmas. Denn als Reaktion auf den ersten Medienumbruch des 20. Jahrhunderts hat die Begriffsopposition ihre eigene theoretische Historizität, die eine Anwendung auf gänzlich anders erscheinende Medienverhältnisse des 18. Jahrhunderts problematisch werden lässt. Deswegen gerät die Anwendung denn auch selbst metaphorisch: „ein Verhältnis der Berührung, des Austauschs, der Übergänglichkeit und wechselseitigen Teilhabe, linguistisch ausgedrückt der Metonymie.“ (S. 268) Demgegenüber gehorchen Metaphern eher der „Konkurrenz zweier Welten“, dem „Einschnitt“, der „Entgegensetzung“ und dem „Binarismus“ (S. 268). 54 Jakobson (wie Anm. 45), S. 279. 55 Jakobson (wie Anm. 45), S. 279. 56 Barthes, Roland: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980, Frankfurt a.M. 2002, S. 19.
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heiten verwandelt werden kann“.57 Die mit dem Film deutlich werdende Akkumulation des Medialen innerhalb einer performativen „Massenkultur“58 macht es notwendig, die Zeichentheorie zu verändern, indem die in der bisherigen Repräsentationsgrammatik vorherrschende „Ordnung“59 von Zeichen und Bedeutung, Signifikant und Signifikat umgekehrt wird und zwar so, dass Sinn und Bedeutung des Signifikanten „nicht ins Signifikat eingeschlossen“60 sind. Die „Austauschmöglichkeiten zwischen der Linguistik und dem Film“ zielen darauf ab, „daß eher eine Linguistik des Syntagmas als eine Linguistik des Zeichens gewählt wird“, denn das „Syntagma ist ebenso verantwortlich für den Sinn wie das Zeichen selbst, weshalb der Film eine metonymische und nicht mehr symbolische Kunst werden kann.“61 Unter Berufung auf Jakobsons Opposition von Metapher und Metonymie62 sieht Barthes den Film vom Prinzip der Reihung, des Syntagmas, der Metonymie beherrscht und weniger durch das Zeichen, das Symbol, die Metapher, so dass primär die „Wahl des folgenden ‚Zeichens‘ bedeutungstragend“ bzw. im „Syntagma ein Zeichen durch ein anderes Zeichen zu verlängern“63 ist. Ist der Film durch das Struktur- und Bedeutungsprinzip der „Montage“ als serielle Reihung eher „metonymische“64 und „syntagmatische“65 Kunst und widersetzt er sich hierdurch der fixierenden Ordnung des Zeichens, so soll im Prinzip der Reihung auch die flüchtige Beweglichkeit des Films aufgehoben und begriffen werden, indem „syntagmatische Filme, Filme mit Geschichten“66 erzählerisch hergestellt werden. Zugleich gerät die bisherige Ordnung der Wissenschaft vom Zeichen in Bewegung durch die Aufwertung der Stilfigur der Metonymie zum filmadäquaten Begriff. Der zentrale Stellenwert des fixierenden Sprach-Zei57 58 59 60 61 62 63
Barthes (wie Anm. 56), S. 22. Barthes (wie Anm. 56), S. 18. Barthes (wie Anm. 51), S. 68. Barthes (wie Anm. 56), S. 25. Barthes (wie Anm. 56), S. 24. Barthes (wie Anm. 56), S. 23. Barthes (wie Anm. 56), S. 23. Insgesamt ist sowohl Jakobsons wie Barthes Filmanalyse von dem Versuch beherrscht, den Film in der Weise zu versprachlichen, dass er den Modellen und Begriffsoppositionen der Linguistik und Semiotik angepasst wird. Zwar bleibt die Entgrenzung auf nichtsprachliche Zeichenformen wie den Film, die Mode und ihre kulturelle Bedeutsamkeit erhalten, doch geht man von der sprachlich-linguistischen Strukturiertheit dieser Zeichen aus als der „Durchdringung des Zuschauers durch das Signifikat [...]“ (Barthes (wie Anm. 56), S. 21) 64 Barthes (wie Anm. 56), S. 21. 65 Barthes (wie Anm. 56), S. 3. 66 Barthes (wie Anm. 56), S. 31.
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chens, etwa in Form feststehender, lexikalischer Bedeutungen, wird durch mediale Herausforderungen relativiert. Die Ordnung der Zeichen und Begriffe wird den neuen Medien angepasst, um den Bruch zwischen audiovisuellen Medien und sprachlichen Texten zu überbrücken. Dieser Assimilationsvorgang zwischen Medium und Begriff wird getragen von der flüchtigen und ephemeren Beweglichkeit und Beschleunigung der Medien, wofür Metapher und Metonymie die geeigneten Metabegriffe sind.
5. Im Unterschied zu dieser Profilierung der Metonymie wird heutzutage eine „Metaphorologie der Medien“ bzw. des Medialen konzipiert, und zwar in Reaktion auf den digitalen Medienumbruch einer sich beständig verändernden Medienkonstellation im Gefolge einer fortschreitenden Akkumulation des Medialen. Grundsätzlich haben sowohl Georg Christoph Tholen wie Sibylle Krämer diese Befähigung der Metapher herausgestellt, das Transitorische und Transformationelle, das Ephemere und Mobile in Sprache zu übersetzen, angesichts von Medienumbrüchen, die in der beschleunigten Veränderung ihre hervorragende Qualität haben. Ausgehend von den beiden kulturanthropologischen und zugleich sprachkritischen Grundsätzen, dass erstens „Phänomene [...] stets reicher als die Begriffe [sind], die wir uns von ihnen machen“, und dass zweitens die Erzeugung und Hervorbringung dieser Phänomene dasjenige ausmacht, was Kultur genannt wird, wird für diese „Performativität“ des medialen „Vollzugs“ und „Gebrauchs“ das Prinzip der „Übertragung“ gleich ebenso notwendig: Menschliche Kreativität besteht nicht einfach darin, gottesebenbildlich ‚etwas Neues zu schaffen‘ [...], sondern das, was wir vorfinden, in neue Zusammenhänge zu übertragen und damit auch anders sehen und/oder anders gebrauchen zu können. ‚Veränderung durch Übertragung‘ ist hier Maxime. Der für die Medientheorie relevante Begriff der ‚Übertragung‘ kann am Vorbild jener Art von Übertragung gewonnen werden, welche für die Metapher (metaphora) grundlegend ist.67
Wenn neue Medien keineswegs die alten Medien überflüssig machen, sondern alte Medien in neue Konstellationen gestellt werden, einem
67 Krämer (wie Anm. 44), S. 84.
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neuen Gebrauch und Vollzug zugeführt werden, dann ist dies eine durch Medienumbrüche verursachte Übertragung.68 Diese Umfunktionalisierung in andere pragmatische Kontexte als entscheidender Vorgang der Medialisierung exponiert die zwei Verfahren der „Inszenierung (‚Aufführung‘) und Transskribierung (‚Umschrift‘)“69. Bei beiden Verfahren handelt es sich nicht um die kreative Generierung von Neuem, sondern um die Übertragung in andere Kontexte und Funktionen, etwa dadurch, dass Fontanes Romane auf Hörbüchern ihre reoralisierte, gleichsam epische Gestalt erhalten und so durch die CD-Rom einer neuen und anderen Verwendung zugeführt werden. Die medientechnische Verwendungsweise verändert dabei die Semantik der Romane. Medientheoretische, medienanthropologische Grundlage ist das in Medien hineinprojizierte metaphorische Verfahren, dass „Medien im Akt der Übertragung dasjenige, was sie übertragen, zugleich mitbedingen und prägen. Es ist die Idee der ‚Verkörperung‘ als eine kulturstiftende Tätigkeit, die es erlaubt, ‚Übertragung‘ als ‚Konstitution‘ auszuweisen und zu begreifen.“70 Die durch den medienkulturellen Integrationssog deutlich gewordene Krise der Avantgarden als des schlechthin Neuen, Anderen, Revolutionären und Innovativen lässt sich durch diesen medienspezifischen Vorgang der Reproduktion alter in neuen Medien erklären.
68 So etwa prominent derzeit in der Ästhetisierung und Historisierung der analogen Fotografie, die durch den Umbruch zur digitalen Fotografie ihrer sachlichen Funktion entbunden wird, damit aber die Ästhetisierung der alten Technik freisetzt, bei Bernd und Hilla Becher in Kombination mit den fotografierten Relikten und Dokumenten der Industriekultur. 69 Krämer (wie Anm. 44), S. 85; vgl. auch Jäger, Ludwig/Stanitzek, Georg (Hrsg.): Transkribieren: Medien/Lektüre, München 2002. 70 Krämer (wie Anm. 44), S. 84/85. Das dem Vorgang der Übertragung entsprechende anthropologische Verhaltensmodell der Perspektivierung definiert Orth, Ernst Wolfgang: Was ist und was heißt ‚Kultur‘? Dimensionen der Kultur und Medialität der menschlichen Orientierung, Würzburg 2000, S. 29 als das grundlegende Prinzip der Orientierung als „mediales Substrat“, welches „transponibel und somit metaphorisch [ist] – oder offen für Metaphorik.“ Die grundlegenden Verhaltensmodelle Orientierung und Situation/Situiertheit haben eine „metaphorische Struktur“ (S. 31), d.h. der sprachliche Vorgang der Metapher ist exemplarisch oder „paradigmatisch“ (S. 31) für den Zustand einer umfassend, global medialisierten Realität, die vor allem „Offenheit“ (S. 40) oder Beweglichkeit zu ermöglichen hat. Dies zu betonen ist erneut deswegen wichtig, weil Metapher und Medialisierung eine Kombination eingehen, die an die Stelle anderer Begriffskombinationen tritt, wie etwa diejenige der Repräsentation, des Zeichens, auch des Symbols.
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Ganz ähnlich integriert Tholen den metaphorischen Vorgang der Übertragung dem medialen Vorgang der Über-/Vermittlung. Auch hierbei geht es um die besondere Bedeutungskonstitution der Metapher, die einen fixierten Sinngehalt, eine feststehende Bedeutung und Referenzfunktion gerade nicht ermöglicht und dadurch den ebenfalls semantisch nicht festgelegten Medien entgegenkommt: „Eben diese ‚Eigenschaft‘ der Medien jedoch, nämlich Botschaften übertragen zu können, ohne ihren Sinn zu beeinflussen oder zu bestimmen, markiert den Ansatzpunkt einer Metaphorologie der Medien, die in diesem Sinnvorbehalt und Sinnaufschub der Medien eine grundlegende Bestimmung von Medialität als Mit-Teilbarkeit begründen könnte.“71 Gezeigt werden konnte an der Vorgeschichte der derzeitig prominent betriebenen Metaphorologie der Medien eine durch Medienumbrüche des 20. Jahrhunderts fortlaufende Metaphorisierung der Wissenschaft. Diese aber ist durch wiederum fluide und flexible „Hybridität“ von „maßlosen Verkreuzungen der Medienformen“ gekennzeichnet, die eine allgemeine „Metaphorologie der Medien“ sinnvoll und notwendig werden lassen.72 Diese vermeidet die „eigentliche“ „Bedeutung“ einer „klaren, ‚einfachen‘ Vorstellung“ und ermöglicht den „Als-Ob-Status“ der nicht feststehenden, sondern ephemeren metaphorischen Bedeutung. Theoretisch von Belang ist dann eine Theorie- und Begriffsgeschichte der Metaphern, die das jeweilig entsprechende Wissen und Epistem eingrenzen und präzisieren kann. So etwa ließe sich die „verkörpernde Artikulation“73 von Geste und Stimme nicht nur in ihrer medialen Aufzeichnung von Film und Fernsehen, sondern auch im Rahmen einer „Metaphorologie der Geste“ im
71 Tholen, Georg Christoph: „Medienwissenschaft als Kulturwissenschaft. Zur Genese und Geltung eines transdisziplinären Paradigmas“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi). Konzeptionen der Medienwissenschaft I. Kulturwissenschaft, Film- und Fernsehwissenschaft, 33, 132 (2003), S. 35-48, hier: S. 40. 72 Tholen (wie Anm. 71), S. 42. Zwar ist Resultat von Riegers Wissenschaftsgeschichten der Medialisierung des Menschen, dass die traditionelle Entgegensetzung von Mensch und Medium nicht zutreffe und stattdessen eine Identität von Mensch und Maschine Resultat der historischen Entwicklung sei, im Sinne einer Ersetzung und Amputation des menschlichen Körpers durch Medien. Indessen ist sprachlich diese Identität nur als metaphorischer Vergleich zu bewerkstelligen. So ist der fachwissenschaftlichen „Anordnung“ kontrastiert die sprachliche Bewältigungsstrategie der „Metaphorologien“, welche Übergang und Transformation sprachlich darstellen, insbesondere die durch Medien erreichte „Beschleunigung des Denkens“. 73 Krämer (wie Anm. 44), S. 86.
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Sinne einer „Analogie von Körper und Text“74 oder des Konzeptes der „verkörperten Sprache“75 auffassen und nachzeichnen. Insbesondere die Medialisierung von Körper und Sinnen beherrscht derzeit diese medienästhetischen Analogien von Körper und Text, im Sinne einer „Auferstehung des Körpers im Text“: Dadurch dass der Körper durch digitale Medien in seiner realen Präsenz verschwindet oder obsolet wird, damit auch die vom Körper maßgeblich getragene Performanzkultur, kehren beide metaphorisch „übertragen“ im Als – Ob der Theorie wieder, so etwa als historische Rekonstruktion und Archäologie der analogen Körpermedien Photografie, Film und Radio. Mediengeschichte und Medienarchäologie sind somit Reflex und Konsequenz auf die mediale Ersetzung des Körpers und seine metaphorische Wiederkehr im Text der Theorie und Historiografie. Auch die metaphorischen Wucherungen in der derzeitigen Medientheorie könnten so eine kritische Einschätzung und Würdigung erfahren.76 Denn sie reagieren ganz offenbar auf den digitalen Medienumbruch, der zunächst eine „Unschärfe“ durch zunehmende Medialisierung erzeugt und damit die „ontologische“ Grundeigenschaft der Medien hervorkehrt, nämlich ihre durch die Digitalisierung noch einmal gesteigerte „Reproduzierbarkeit“, „Auflösbarkeit“ und „Disponibilität“.77 Zu fragen ist allerdings, ob die durch die „Durchlässigkeit des digitalen Mediums“ erreichte und bewirkte epistemologische Diffusion und Entdifferenzierung von „Begriff und Metapher“ nicht schon länger im 20. Jahrhundert zu beobachten ist. Der linguistic turn war bereits mit einer Aufwertung metaphorischer und einer Abwertung eigentlicher Bedeutung verbunden, wie ein Blick in das Werk Wittgensteins oder Bühlers deutlich macht, die beide performativen Gebrauch und Verwendungsweise der Sprache hervorkehren und gegen die feststehende Bedeutung der referentiellen Zeichenfunktion wenden. Diese Wendung wird auch schon unter medialer Infiltrierung vorgenommen. Begriffsgeschichtlich zu präzisieren und theoriehistorisch zu relativieren, nicht grundsätzlich zu bestreiten wäre also Tholens Resultat: „Zur Disposition steht die kategoriale Unterschei74 Egidi et al. (wie Anm. 23), S. 17. 75 Krämer (wie Anm. 44), S. 86. 76 Tholen (wie Anm. 71), S. 43: „Erst eine begriffsgeschichtlich orientierte Metaphorologie der Medien wird die epistemologischen Felder unterscheiden können, die in den zeitgenössischen Medientheorien virulent sind. Unübersehbar ist zunächst, dass mit der Digitalisierung des so genannten Medienverbunds metaphorische Als-Ob-Bestimmungen zu wuchern nicht aufhören.“ 77 Tholen (wie Anm. 71), S. 43.
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dung zwischen ‚metaphorischer‘ und ‚eigentlicher‘ Bedeutung, da sie der sich entziehenden, permissiven Medialität der Medien nicht gerecht werden kann. Und mit dieser Opposition steht auch die metaphysische Wertigkeit von Begriff und Metapher selbst infrage.“78 Eine theorie- und begriffsgeschichtlich orientierte Medienwissenschaft wird sich an den Schnittstellen und Umbrüchen orientieren, durch die binäre Paradigmen ihre Gültigkeit verlieren und neue terminologische Besetzungen erfahren oder alte durch neue Dichotomien ersetzt werden. Interessant sind dann die semantischen Merkmalketten und Konnotationen, die Umcodierungen, Umstellungen von Binarismen zur Folge haben, weil durch diese begrifflichen Umbrüche kreative, explorative Energien freigesetzt werden. Der Wandel vom denotierbaren Begriff und Symbol zur konnotierbaren Metapher oder die Kombination von Metonymie und Film, von Syntagma und Montage konnten als epistemologische Reaktionen auf mediale Innovationen und die ihnen zugeschriebene Semantik des Ephemeren, Fluiden und Beweglichen nachgewiesen werden.
78 Tholen (wie Anm. 71), S. 44.
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TECHNOLOGISCHER WANDEL UND MEDIENUMBRÜCHE Einleitung Unsere Gesellschaft ist am Anfang des 21. Jahrhunderts Wandlungsprozessen unterworfen, die immer gravierender, umfassender und schneller verlaufen. Beispiele für solche komplexen, diskontinuierlichen Wandlungsprozesse sind der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeleitete analoge Medienumbruch und der in jüngerer Zeit mit dem Übergang zum 21. Jahrhundert zu beobachtende digitale Medienumbruch. Damit verbindet sich eine Reihe von Fragen: Welches sind die Ursachen dieser Medienumbrüche? Sind es soziale, kulturelle oder ästhetische Einflussfaktoren, die einen solchen Medienumbruch auslösen? Oder sind es insbesondere technologische Innovationen, die einen maßgeblichen Einfluss auf die Dynamik des technologischen Wandels nehmen, der – so scheint es – nicht nur Medienumbrüche induziert, sondern alle Bereiche unseres Lebens zu durchdringen vermag? Um Antworten auf diese Fragen und Thesen zu finden, wird im Folgenden der technologische Wandel mit seinen Hauptmerkmalen und Erklärungsansätzen aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaften dargestellt. Als prominentes Beispiel für den Umbruch zu analogen Medien wird danach die frühe Kino- und Filmgeschichte analysiert. Als herausragendes Beispiel für den Umbruch zu den digitalen Medien wird dann die Entwicklung der Mobilfunktechnik untersucht. Dabei kann die Substitution klassischer Medien durch neue Medien und deren veränderte Diffusionsgeschwindigkeiten aufgezeigt werden.
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Technologischer Wandel – Begriffsbestimmung und Erklärungsansätze Der Terminus „Technologie“ wurde erstmalig 1770 von Johann Beckmann eingeführt. Er verstand darunter „die Wissenschaft, welche die Verarbeitung der Naturalien oder die Kenntnisse über das Handwerk lehrt“1. Beckmann schuf die Grundlagen für die systematische Entwicklung dieser Lehre als eine wissenschaftliche Disziplin. Diese hat im Laufe der Jahre eine mehrdimensionale Ausweitung erfahren, so dass sie nicht isoliert, sondern im Kontext zur Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft, Ethik und zum sozialen Leben zu beurteilen ist. Eine starke Prägung hat dieser Begriff auch durch die Ingenieurwissenschaften erfahren. Eine Abgrenzung des Technologiebegriffes ermöglicht der etymologische Ansatz. Der Terminus „Technologie“ stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus zwei Wörtern zusammen: einerseits ist es das Wort „techne“, welches die Kunstfertigkeit bzw. die praktische Fertigkeit umfasst; andererseits das Wort „logos“, die Kunde oder Wissenschaft.2 Hieraus folgt: Technik ist die zweckorientierte Gestaltung von Abläufen. Es wird Bezug auf die Anwendung genommen, wohingegen Technologie die Wissenschaft und Lehre über die Technik ist.3
Technik als Gesamtheit technologischen Wissens ist in die kulturelle Entwicklung des Menschen eingebunden. Sie ist auf Wandel und Fortschritt ausgerichtet. Sie ist nicht nur eine Reform, sondern auch ein Novum, die der Mensch sich und der Natur auferlegt. Technologie ist das Wissen darüber, wie dieser Prozess verläuft. Sie ermittelt die dazu geeigneten Verfahren. „Technologie ist die Lehre vom Wandel der Technik“4. Auch die Verwendung der Begriffe Technik und Technologie unterliegt einem Wandel. Hierbei ist ein deutlicher Einfluss des englischamerikanischen Begriffsverständnisses zu verzeichnen.5 Der Begriff
1 Beckmann, Johann: Anleitung zur Technologie oder zur Kentniß der Handwerke, Fabriken und Manufacturen, vornehmlich derer, die mit der Landwirtschaft, Polizen und Cameralwissenschaft in nächster Verbindung stehn. Göttingen 1780, S. 17; Spur, Günter: Technologie und Management – Zum Selbstverständnis der Technikwissenschaft, München 1998, S. 79f. 2 Spur (wie Anm. 1), S. 30ff. 3 Spur (wie Anm. 1), S. 3, S. 77. 4 Spur (wie Anm. 1), S. 83. 5 Grupp, Hariolf: Messung und Erklärung des technischen Wandels, Berlin 1997, S. 10.
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Technologie hat sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch im wissenschaftlichen Kontext den ursprünglichen Begriff der Technik weitgehend verdrängt und gleichzeitig neben seiner eigentlichen Bedeutung als Wissenschaft und Lehre die Semantik des Technikbegriffes mit aufgenommen.6 Eine Konkretisierung des Technologiebegriffes ergibt sich durch Merkmale der mittels Technologie hergestellten Objekte. Sie werden von Grübler wie folgt formuliert7: 1.
Es handelt sich um gegenständliche oder künstliche Objekte.
2.
Sie werden durch Menschen oder Maschinen hergestellt.
3.
Sie werden im Rahmen zweckorientierten Handelns verwendet.
Technologie wird als Mittel zur Zielerreichung eingesetzt, sowohl bei allgemeinen Vorgängen und Prozessen als auch bei der Erzeugung und Nutzung von Objekten8. Sie kann sich einerseits auf den Produktionsprozess von Produkten und Dienstleistungen beziehen, andererseits auf Produkte und Dienstleistungen selbst.9 Damit wird sowohl Bezug auf die Prozessinnovation als auch auf die Produktinnovation genommen.10 Neben diesem objektbezogenen Aspekt schließt der Technologiebegriff auch den Wissensaspekt ein. Technologie wird als eine Wissenschaft über die praktische Fertigkeit zur systematischen Herstellung von Objekten verstanden, die der Erfüllung individueller oder gesellschaftlicher Bedürfnisse dienen.11 Damit umfasst der Technologiebegriff nicht nur die zur Herstellung eines Objektes benötigte Hardware im Sinne von Maschinen oder Rohstoffen, sondern auch die dazu notwendige Software – Wissen in Form von Know-how sowie ein Verständnis für die Wirkungszusammenhänge.12 Der Begriff der Technologie hat eine mehrdimensionale Ausweitung erfahren. Zunehmend wird die Einbindung der Technologie in Wirtschaft und Gesellschaft in den Vordergrund gestellt. Technologie kann nicht unabhängig von ihrer ökonomischen und sozialen Umwelt analy6 Bullinger, Hans-Jörg: Einführung in das Technologiemanagement: Modelle, Methoden, Praxisbeispiele, Stuttgart 1994, S. 32ff.; Grübler, Arnulf: Technology and Global Change, Cambridge 1998, S. 20. 7 Grübler (wie Anm. 6), S. 20f. 8 Grübler (wie Anm. 6), S. 20. 9 Jackson, Dudley: Technological Change, the Learning Curve and Profitability, Cheltenham 1998, S. 14; Grübler (wie Anm. 6), S. 20. 10 Jackson (wie Anm. 9), S. 14; Spur (wie Anm. 1), S. 161. 11 Grübler (wie Anm. 6), S. 20. 12 Grübler (wie Anm. 6), S. 20f.; Rogers, Everett M.: Diffusion of Innovations, New York 1995, S. 12.
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siert werden, in der sie entsteht und die für ihre Produktion sowie ihre Anwendung verantwortlich ist.13 Technologie und Umwelt beeinflussen sich wechselseitig. Damit wird der starke Einfluss hervorgehoben, den neue Technologien auf die ökonomische und soziale Umwelt ausüben. Technologie erlaubt Menschen, ihre Umwelt zu gestalten und zu verändern. Spur führt diesen Gedanken weiter aus und schließt die bewusst eingeleitete und ausgeführte Veränderung des Lebensraums ein.14 Die Dimensionen und Sichtweisen des Technologiebegriffes werden zusammenfassend in der Abbildung 1 grafisch dargestellt. Technologie zur systematischen Transformation von Ressourcen
Technologie als kulturelles Korrektiv der gesellschaftlichen Entwicklung
Management
Gesellschaft/ Kultur
TechnoWirtschaft logie
Ethik
Hilfswelt Technologie zur Erzeugung von Produkten, die die Natur nicht liefert
Optimierung
Abstraktion
System
Kunstfertigkeit
Strukturierung
Technologie als Gesamtheit der Künste
Abb. 1: Dimensionen und Sichtweisen des Technologiebegriffes, in Anlehnung an Spur 15 Technologie ist einem fortschreitenden Prozess von Änderungen unterworfen. Technologie wirkt produktiv und unterstützt einen dynamischen Wandlungsprozess. Dieser ist nicht nur auf die Technologie zu beziehen, sondern auch auf die Wirtschaft und die Gesellschaft.16 Die Veränderung von Technologien und der damit verbundene Übergang zu neue Technologien werden als technologischer Wandel bezeichnet. Alte Technologien fallen einer zunehmenden Marktdurchdringung neuer Technologien zum Opfer. Dieser Übergang erfolgt nicht ad hoc. Technologischer Wandel ist somit nicht nur zeitpunktbezogen, 13 14 15 16
Grübler (wie Anm. 6), S. 21. Spur (wie Anm. 1), S. 1. Spur (wie Anm. 1), S. 2. Spur (wie Anm. 1), S. 83.
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sondern vielmehr zeitraumbezogen zu analysieren.17 In diesem Sinne kann technologischer Wandel als die Veränderung des Wissens über Technik und deren Anwendung verstanden werden.18
Hauptmerkmale des technologischen Wandels Um den technologischen Wandel weiter abzugrenzen, wird dieser durch seine Hauptmerkmale beschrieben. Es sind im Wesentlichen vier Charakteristika, durch die der technologische Wandel bestimmt wird.19 1.
Dynamik,
2.
Kumulation,
3.
Systemcharakter und
4.
Unsicherheit.
Die Dynamik ist eine wichtige Eigenschaft des technologischen Wandels.20 Sie umfasst eine Sequenz kausal zusammenhängender Ereignisse.21 Diese Eigenschaft bedingt, dass der technologische Wandel nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern über einen bestimmten Zeitraum zu analysieren ist. Der technologische Wissensstand bleibt niemals unverändert oder konstant. Bestehende technologische Lösungen unterliegen einer ständigen qualitativen Verbesserung. Kontinuierlich wird eine Vielfalt neuer oder verbesserter Produkte auf dem Markt angeboten.22 So können auch Substitutionseffekte zwischen unterschiedlichen Technologien auftreten. Es sind im Wesentlichen die neuen Erfindungen und der ständige Bedarf nach einer Erneuerung des Kapitalstocks, die die Dynamik des technologischen Wandels beherrschen. Die Kumulation ist ein weiteres Charakteristikum des technologischen Wandels.23 Das heißt, dass neue Technologien in der Regel auf vorherigem Wissen und Erfahrungen aufbauen. Die Erfahrungen und das
17 Grübler (wie Anm. 6), S. 38ff. 18 Spur (wie Anm. 1), S. 77, S. 161. 19 Grübler, Arnulf/Gritsevskyi, Andrii: „A Model of Endogenous Technological Change Through Uncertain Returns on Innovation“, in: Grübler, Arnulf/Nakicenovic, Nebojsa/Nordhaus, William D. (Hrsg.): Technological Change and the Environment, Washington 2002, S. 281. 20 Grübler (wie Anm. 6), S. 22. 21 Garrouste, Pierre/Ioannides, Stavros: Evolution and Path Dependence in Economic Ideas: Past and Present, Cheltenham 2001, S. 16. 22 Grübler (wie Anm. 6), S. 22. 23 Grübler (wie Anm. 6), S. 22.
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Wissen, die bei der Entwicklung und Anwendung früherer Technologien gewonnen wurden, können wiederum in neue Technologien einfließen, so dass Kostenreduktionen und Leistungsverbesserungen ausgeschöpft werden können. Erfahrungen und Wissen werden kumuliert. Nur in seltenen Fällen geht Wissen verloren und ist nicht wieder reproduzierbar. Daraus folgt umgekehrt, dass technologisches Wissen und seine konkrete Umsetzung in der Regel zu einem kontinuierlichen Wachstum beitragen. Technologien können sich nicht ex nihilo entwickeln, sondern bauen auf Basiskenntnissen oder Basisinnovationen auf.24 Der Systemcharakter des technologischen Wandels ist als drittes Merkmal zu nennen.25 Technologischer Wandel kann nicht als isoliertes, diskretes Ereignis verstanden werden, das lediglich eine einzige Technologie betrifft. Eine neue Technologie muss nicht nur erfunden und gestaltet, sondern auch produziert und genutzt werden. Dies vollzieht sich in einem bereits existierenden System von Technologien. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Technologiesystemen oder dem noch weiter gefassten Begriff der Technologie-Cluster. Die Gesamtwirkung solcher Cluster hat einen so starken Einfluss, dass sie einen technologischen Wandel einleiten kann. Unsicherheit resultiert aus der Nicht-Existenz einer Technologie in der Vergangenheit. Demzufolge konnten mit dieser Technologie keine Erfahrungen gewonnen werden. Es ist vielmehr die Neuartigkeit einer Technologie, die die Ungewissheit über den Erfolg ihrer Anwendung und Verbreitung wachsen lässt. Die Nichtkenntnis oder auch die Unvollkommenheit relevanter Informationen, die potentielle Ineffizienz, die Interdependenz zwischen den Technologien und ihr Einfluss auf die Umwelt lassen die Ungewissheit steigen.26 Unsicherheit resultiert u.a. auch daraus, dass viele konkurrierende Technologien existieren, um ein Problem zu lösen. Ex ante kann keine Aussage darüber getroffen werden, welche Technologie unter ökonomischen, sozialen und technischen Kriterien auf dem Markt erfolgreich sein wird. Es ist unmöglich, alle Parameter, die einen Einfluss auf den technologischen Wandel haben, zu bestimmen und zu quantifizieren. Clarke und Weyant nennen in diesem Zusammenhang vier wesentliche Faktoren, die Einfluss auf die Ungewissheit des technologischen Wandels haben: das Potential individuell hervorgerufener Innovation, die
24 Grübler/Gritsevskyi (wie Anm. 19), S. 281. 25 Grübler (wie Anm. 6), S. 21. 26 Grübler (wie Anm. 6), S. 21.
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Heterogenität bereits existierender Technologien, die Diskontinuität im Entwicklungsprozess und die Basisinnovationen.27 Die Ungewissheit zieht sich ausgehend vom Entwurf eines Produktes bis zur Einführung und Verbreitung einer Technologie auf dem Markt durch alle Stufen der Evolution. Eine eindeutige Prognose über die Rate und die Richtung des technologischen Wandels wird damit nahezu unmöglich. Dennoch wird angestrebt, den Faktor der Ungewissheit auch in Modellansätzen zur Bestimmung des technologischen Wandels zu berücksichtigen.28
Erklärungsansätze zum technologischen Wandel Mit Hilfe der Erklärungsansätze zum technologischen Wandel wird versucht, seine Quellen aufzudecken.29 Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt der Untersuchung: 1.
Wie kann technologischer Wandel erklärt werden?
2.
Welches sind die Ursachen für den technologischen Wandel?
Insbesondere die Forschungsarbeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben zu entscheidenden Fortschritten in den Theorien des technologischen Wandels geführt. Während sich die Forschungsarbeiten in den sechziger und siebziger Jahren auf die Bedeutung der Änderung der Nachfrage und der relativen Faktorpreise konzentrierten, hat sich der Schwerpunkt in den siebziger und achtziger Jahren auf den evolutionären Ansatz verlagert.30 Wesentliche Grundlagen hierfür finden sich in den früheren Arbeiten von Joseph A. Schumpeter.31 Neuere Theorien stellen die Pfadabhängigkeit in den Vordergrund der Betrachtung.32 Gemäß den
27 Clarke, Leon E./Weyant, John P.: „Modeling Induced Technological Change: An Overview“, in: Grübler, Arnulf/Nakicenovic, Nebojsa/ Nordhaus, William D. (Hrsg.): Technological Change and the Environment, Washington 2002, S. 350. 28 Gritsevskyi, Andrii/Nakicenovic, Nebojsa: „Modeling Uncertainty of Induced Technological Change“, in: Grübler, Arnulf/Nakicenovic, Nebojsa/ Nordhaus, William D. (Hrsg.): Technological Change and the Environment, Washington 2002, S. 251-279. 29 Ruttan, Vernon W.: Technology, Growth, and Development: An Induced Innovation Perspective, New York 2001, S. 100f. 30 Ruttan (wie Anm. 29), S. 100f. 31 Schumpeter, Joseph A.: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung – Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, Leipzig 1911. 32 Ruttan (wie Anm. 29), S. 100f.
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vorherrschenden Theorien kann technologischer Wandel wie folgt strukturiert werden33: 1.
Induzierter technologischer Wandel,
2.
Evolutionärer technologischer Wandel,
3.
Pfadabhängiger technologischer Wandel.
Eine Induzierung des technologischen Wandels kann durch die Anwendung des ökonomischen Instrumentariums beschrieben werden. In Abhängigkeit davon, welches ökonomische Instrument zur Anwendung kommt, werden folgende wichtige Arten der Induzierung unterschieden. Kombinationen sind auch denkbar: -
Induzierung durch die Veränderung der Nachfrage,
-
Induzierung durch die Veränderung des Angebots,
-
Induzierung durch die Veränderung der relativen Faktorpreise,
-
Induzierung durch Investitionen und
-
Induzierung durch Forschung und Entwicklung.
Im Gegensatz zur Induzierung stellt der zweite Ansatz den evolutionären Charakter des technologischen Wandels in den Vordergrund der Betrachtung. Dynamische Abläufe und Prozesse werden im Hinblick auf eine Entwicklung untersucht. Evolutionäre Entwicklungen sind im Allgemeinen nicht umkehrbar; sie sind irreversibel. Joseph A. Schumpeter hat durch seine wissenschaftlichen Arbeiten wesentliche Akzente gesetzt. Er unterscheidet erstmalig zwischen einer Inventions- und Innovationsphase.34 In Anlehnung an diese eher grobe Unterteilung gliedern spätere Autoren den Innovationsprozess in die Phasen der Invention, der Innovation sowie der Adoption und Diffusion. Darin inbegriffen sind Aktivitäten der Problem- und Bedarfserkenntnis, der Ideengewinnung, der Forschung und Entwicklung, der Konstruktion, der Produktion, des Vertriebs, des Marketings, der Organisation und der Finanzierung. In diesem Zusammenhang sei auch auf den Technologielebenszyklus verwiesen. Er dient der Beschreibung des „Lebensweges“ einer Technologie. In Anlehnung an Schumpeter wird der Technologieentwicklungsprozess in drei Phasen unterteilt.35
33 Garrouste/Ioannides (wie Anm. 21), S. 15-22. 34 Schumpeter (wie Anm. 31). 35 Schumpeter (wie Anm. 31).
TECHNOLOGISCHER WANDEL UND MEDIENUMBRÜCHE
1.
Inventionsphase,
2.
Innovationsphase,
3.
Diffusionsphase.
201
Die Inventionsphase ist ein Prozess der Erfindung und Entwicklung einer neuen Technologie.36 Kennzeichnend für diese Phase ist die Suche nach neuen Ideen für eine Problemlösung. Das Ergebnis dieser Phase ist in materieller Hinsicht ein funktionsfähiger Prototyp.37 Die Erfindung kann patentrechtlich geschützt werden. Sie lässt aber noch keine Rückschlüsse auf ihre potentielle Anwendbarkeit zu. Sie besitzt zu diesem Zeitpunkt weder wirtschaftliche noch soziale Bedeutung.38 Die Innovationsphase bezieht sich auf den Prozess der Einführung einer neuen Technologie auf dem Markt.39 Die neu entwickelte Technologie wird zum ersten Mal in eine regelmäßige produktionstechnische Anwendung überführt. Der Innovation kommt wirtschaftliche und soziale Bedeutung zu.40 Oftmals wird zwischen der Prozess- und Produktinnovation differenziert.41 Grundsätzlich können diese sowohl auf Güter als auch auf Dienstleistungen bezogen werden. Die Prozessinnovation umfasst Neuerungen, die in den Leistungserstellungsprozess durch den Übergang zu verbesserten Produktionsverfahren einfließen. Eine effiziente Prozessinnovation ermöglicht es, bei gleichbleibendem Faktoreinsatz mehr zu produzieren oder aber bei gleichbleibender Produktionsmenge weniger Produktionsfaktoren aufwenden zu müssen. Die Prozessinnovation wird auch als Verfahrensinnovation bezeichnet. Hingegen bedeutet Produktinnovation die Einführung neuer oder verbesserter Produkte auf dem Markt.42 Im Entwicklungszyklus einer neuen Technologie wird die Produktinnovation der Prozessinnovation zumeist zeitlich vorangestellt. Dies ist damit zu begründen, dass im Anfangsstadium der Technologieentwicklung zunächst wenig differenzierte und unstandardisierte Produkte den zentralen unternehmerischen Erfolgsfaktor bilden. In einem weiteren 36 Bullinger (wie Anm. 6), S. 35. 37 Warnecke, Hans-Jürgen: „Innovationen in der Produktionstechnik“, in: IfoInstitut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): Technischer Fortschritt – Ursache und Auswirkung wirtschaftlichen Handelns, München 1974, S. 112. 38 Bullinger (wie Anm. 6), S. 35. 39 Bullinger (wie Anm. 6), S. 35; Grübler (wie Anm. 6), S. 23. 40 Grübler (wie Anm. 6), S. 23. 41 Samuelson, Paul A./Nordhaus, William D.: Volkswirtschaftslehre, Wien 1998, S. 134. 42 Spur (wie Anm. 1), S. 161.
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Schritt wird dann allerdings nach der Durchsetzung eines Produktes auf dem Markt eine effizientere und produktivere Gestaltung des Produktionsprozesses verlangt. Zusätzlich werden Verbesserungen an dem Produkt selbst und seiner Nutzung erforderlich. Die Diffusionsphase bildet die abschließende Phase des Technologieentwicklungsprozesses. Sie spezifiziert die zeitlich verteilte Übernahme und die damit verbundene Verbreitung einer Innovation in einem sozialen System.43 Da heute die Märkte weitgehend gesättigt sind, entscheidet oft die Kenntnis einer Marktnische über den Erfolg der Einführung eines Produktes.44 Neuere Theorien gehen davon aus, dass technologischer Wandel pfadabhängig ist. Einen wesentlichen Forschungsbeitrag zu diesem Ansatz liefert Arthur. Während in der klassischen Ökonomie insbesondere von konstanten oder abnehmenden Skalenerträgen ausgegangen wird, geht Arthur bei seinen Überlegungen auch von steigenden Skalenerträgen aus. Unter einer solchen Voraussetzung kann ein einziges stabiles Gleichgewicht nicht mehr gewährleistet werden. Die Existenz multipler Gleichgewichte hat Einfluss auf die Diffusion einer Innovation. Der Diffusionspfad einer Innovation ist zumindest zu Beginn des Diffusionsprozesses „offen“.45 Das Konzept der Pfadabhängigkeit basiert zunächst auf der Annahme zufallsbedingter, irreversibler, dynamischer Prozesse. Diese können zusätzlich durch die Eigenschaft des evolutionären Charakters gekennzeichnet sein.46 Daher sind der evolutionäre und der pfadabhängige Ansatz eng miteinander verbunden.47 Dieses führt wiederum dazu, dass die beiden Ansätze oft verwechselt werden.48 Während der evolutionäre Ansatz den Entwicklungsprozess des technologischen Wandels selbst in den Vordergrund der Betrachtung stellt, ist dies beim pfadabhängigen Ansatz eher die Vielschichtigkeit unterschiedlichster, potentieller Ereignisse, von denen der technologische Wandel begleitet wird. Insbesondere die Irreversibilität und die gegen-
43 Rogers (wie Anm. 12), S. 5. 44 Grübler/Gritsevskyi (wie Anm. 19), S. 282. 45 Arthur, Brian: Competing Technologies and Lock-In by Historical Small Events, International Institute for Applied Systems Analysis Paper WP-8392, Laxenburg/Austria 1983; Arthur, Brian: Increasing Returns and Path Dependence in the Economy, Ann Arbor/Michigan 1994, S. 1-48. 46 Garrouste/Ioannides (wie Anm. 21), S. 15. 47 Garrouste/Ioannides (wie Anm. 21), S. 15. 48 Garrouste/Ioannides (wie Anm. 21), S. 20.
TECHNOLOGISCHER WANDEL UND MEDIENUMBRÜCHE
203
seitige Abhängigkeit charakterisieren diese Ereignisse.49 Sie können betriebswirtschaftlicher, volkswirtschaftlicher, politischer, rechtlicher oder auch soziokultureller Art sein. Im Gegensatz zum evolutionären Ansatz ist der pfadabhängige Ansatz vorwiegend für stochastische Prozesse relevant.50 Daher dürften auch schon die kleinsten Änderungen der Ereignisse tiefgreifende Auswirkungen auf die Richtung des technologischen Wandels haben.51 Eine Definition für pfadabhängige Prozesse stammt von Garrouste52: „A path dependent stochastic process is one whose asymptotic distribution evolves as a consequence function of the process’s own history“. Im Falle eines stochastischen Systems sind pfadabhängige Prozesse durch eine asymptotische Möglichkeitsverteilung gekennzeichnet, die über die gesamte Funktion stetig ist. Im Gegensatz dazu sind pfadunabhängige Prozesse dadurch gekennzeichnet, dass ihre Dynamik die Konvergenz zu einem stabilen Gleichgewicht unterstützt53. Pfadabhängigkeit wird durch die folgenden Eigenschaften charakterisiert54: 1.
Unvorhersagbarkeit,
2.
Inflexibilität,
3.
Potentielle Ineffizienz,
4.
Nonergodizität.
Diese Eigenschaften können ebenfalls steigenden Skalenerträgen zugeordnet werden, wobei die Inflexibilität und die Nonergodizität Eigenschaften sind, die insbesondere die Dynamik kennzeichnen.55 Oft ist es unmöglich, die Richtung bzw. den Pfad einer technologischen Entwicklung exakt zu bestimmen.56 Gründe für diese Unvorhersagbarkeit liegen in der Vielschichtigkeit der Ereignisse, ihrer Abhängigkeit zueinander und ihrer Stochastizität.57 So kann auch der Fall eintreten, dass ausspähende feindliche Agenten sehr wohl genaue Kenntnis über das Wissen einer Technologie und ihrer Ertragsfunktion haben, nicht aber Kenntnis über die Ereignisse, die letztendlich die Wahl der 49 50 51 52 53 54 55 56 57
Garrouste/Ioannides (wie Anm. 21), S. 15. Garrouste/Ioannides (wie Anm. 21), S. 6. Garrouste/Ioannides (wie Anm. 21), S. 8. Garrouste/Ioannides (wie Anm. 21), S. 19. Garrouste/Ioannides (wie Anm. 21), S. 18. Arthur (wie Anm. 45), 1994, S. 14; Ruttan (wie Anm. 29), S. 113. Arthur (wie Anm. 45), 1994, S. 14, S. 23f. Arthur (wie Anm. 45), 1994, S. 45f. Garrouste/Ioannides (wie Anm. 21), S. 2, S. 15.
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Technologie und ihren Eintritt auf dem Markt durch weitere Agenten determinieren.58 In einem engen Bezug zur Pfadabhängigkeit steht der Begriff Lock59 In. Darunter versteht man die Überwindung eines kritischen Punktes, der für die Verbreitung einer Innovation wesentlich ist. Die Verbreitung einer Innovation ist in dieser Phase meist nicht mehr zurückführbar. Dieser Effekt lässt sich auf den im Zeitablauf für eine Innovation erzielten Marktanteil zurückführen. Es wird ein ausreichend großer Nutzen erzielt, der potentielle Marktteilnehmer zur weiteren Übernahme der Innovation veranlasst. Für konkurrierende Innovationen besteht in dieser Situation kaum eine Möglichkeit, deren Marktanteil bzw. Übernehmerzahl auszuweiten. Der Pfad wird damit weitgehend vorgegeben. Inflexibilität ist damit eine Eigenschaft, die insbesondere dem Lock-In zuzuordnen ist.60 Mit dem Lock-In-Phänomen können auch ineffiziente Marktlösungen auftreten. Unter vielen konkurrierenden Alternativen muss diejenige Alternative, die sich am Markt durchsetzt, aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht immer wohlfahrtsoptimal sein. Beispiele belegen, dass der Markt nicht immer die „optimale“ Alternative selektiert.61 Das Zustandekommen einer ineffizienten Marktlösung wird auch durch die extreme Kostenstruktur einer Technologie begünstigt. Charakteristisch sind hohe fixe Kosten bedingt durch aufwendige Forschungsund Entwicklungsarbeiten und die durch Massenproduktion anfallenden geringen variablen Kosten. Zusätzlich seien mögliche Startvorteile bei der Einführung einer Technologie erwähnt. Günstige Zufälle, ein früherer Markteintritt oder auch ein erfolgreiches Marketingkonzept können die Ausbreitung einer ineffizienten Technologie begünstigen.62 Auch die Nonergodizität ist eine wichtige Eigenschaft des technologischen Wandels. Diese Eigenschaft erfordert, dass bei dynamischer Betrachtungsweise die kleinsten historischen Ereignisse nicht vernachlässigt werden dürfen. Das Eintreten früherer Ereignisse hat Einfluss auf das Eintreten späterer Ereignisse; sie bestimmen den Pfad.63
58 59 60 61
Ruttan (wie Anm. 29), S. 113. Garrouste/Ioannides (wie Anm. 21), S. 114. Arthur (wie Anm. 45), 1994, S. 14. Arthur, Brian: „Competing Technologies: An Overview“, in: Dosi, G./Freeman, C./Nelson, R./Silverberg, G./Soete, L. (Hrsg.): Technical Change and Economic Theory, London 1987, S. 122-129. 62 Schoder, Detlef: Erfolg und Misserfolg telematischer Innovationen, Wiesbaden 1995, S. 67. 63 Arthur (wie Anm. 45), 1994, S. 14.
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205
Im Hinblick auf die Zielsetzung der Entwicklung einer allgemeingültigen Theorie zum technologischen Wandel wird mit den Erklärungsansätzen versucht, Quellen und Ursachen des technologischen Wandels aufzudecken und zu analysieren. Um dieser Anforderung nachzukommen, werden einzelne Teilaspekte in den Vordergrund der Untersuchung gestellt.64 Das Phänomen des technologischen Wandels ist jedoch zu komplex, um dieses einer isolierten Betrachtung eines einzigen Erklärungsansatzes zu unterwerfen. Oft tritt technologischer Wandel in unterschiedlichsten Kombinationen auf. Es ist durchaus vorstellbar, dass eine Änderung der relativen Faktorpreise gemäß einer Induzierung auch langfristig Einfluss auf den Pfad des technologischen Wandels haben kann. Dabei handelt es sich um einen komplexen Prozess, bei dem unterschiedlichste Wechselwirkungen auftreten können. Solche Wechselbeziehungen zwischen einzelnen Elementen des technologischen Wandels können bei einer isolierten Betrachtungsweise nur unzureichend analysiert werden. Die vorliegenden Erklärungsansätze sind daher nicht konkurrierend, sondern eher komplementär zu verstehen. Ein umfassender Erklärungsansatz könnte die Weiterentwicklung einer allgemein anerkannten Theorie zum technologischen Wandel vorantreiben.65 Im Weiteren soll auf Basis des Konzeptes des technologischen Wandels der Umbruch zu analogen Medien anhand der Entwicklung der Kino- und Filmgeschichte und der Umbruch zu digitalen Medien anhand der Mobilfunktechnik analysiert werden.
Technologischer Wandel in der frühen Kino- und Filmgeschichte Gegen Ende des 19. Jahrhunderts unternahmen Erfinder und Konstrukteure die ersten Versuche, einen Apparat für fotografische Aufnahmen zu entwickeln, der die Bewegungen von Gegenständen, Menschen und Tie-
64 Ruttan (wie Anm. 29), S. 100f.; Ruttan, Vernon W.: „Sources of Technological Change: Induced Innovation, Evolutionary Theory, and Path Dependence“, in: Grübler, Arnulf/Nakicenovic, Nebojsa/Nordhaus, William D. (Hrsg.): Technological Change and the Environment, Washington 2002, S. 9-39. 65 Nakicenovic, Nebojsa: „Technological Change and Diffusion as a Learning Process“, in: Grübler, Arnulf/Nakicenovic, Nebojsa/Nordhaus, William D. (Hrsg.): Technological Change and the Environment, Washington 2002, S. 162; Ruttan (wie Anm. 29), S. 101; Ruttan (wie Anm. 64), 2002, S. 9-39.
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ren aufzeichnete. Die Ergänzung zu diesem Aufnahmeapparat war ein Projektor, der die Bilder vergrößerte und auf eine Leinwand projizierte.66 Der Lebenszyklus vieler Erfindungen war zu jener Zeit nur von kurzer Dauer. Die häufigsten Ursachen für diese Kurzlebigkeit waren Unzulänglichkeiten und technische Mängel sowie Fehlentwicklungen.67 Es traten Schwierigkeiten bei der Aufnahme und beim Entwickeln des Filmstreifens auf. Das Reißen des Filmstreifens und das Flimmern der Projektion gehörten ebenfalls in den ersten Anfängen zu den technischen Problemen. Bereits am 6. Oktober 1889 konnte man unter Laborbedingungen den ersten Filmstreifen projizieren, zu dem ein synchronisierter Ton von einem Phonographen lief. Thomas Alva Edison benutzte für seine Versuche den Eastmann-Zelluloidfilm und versah das Einzelbild mit vier Perforationslöchern. Das Bildformat setzte er mit 35 mm fest. Die exakte Perforation schuf die Voraussetzung für einen gleichmäßigen Bildabstand und damit auch für einen gleichmäßigen Rollentransport.68 Ihm gelang es, wesentliche Schritte der Standardisierung des Bildformates und der Perforation voranzutreiben.69 Um die Frage beantworten zu können, was Kino eigentlich ist – eine Abfolge von projizierten Bildern, die Bewegungsabläufe festhalten und deren Wiedergabe ermöglichen, oder eher eine Institution – bieten sich mehrere Definitionsmöglichkeiten an.70 Legt man bei der Definition des Kinos primär den technologischen Aspekt zugrunde, lassen sich mindestens drei konkurrierende Produkte nennen71: 1.
das Kinetoskop von Edison, das ursprünglich als ein Guckkastenautomat zum Einzelgebrauch entwickelt wurde,
2.
das Bioskop der Brüder Skladanowsky und
3.
der Kinematograph der Brüder Lumière.
66 Toeplitz, Jerzy: Geschichte des Films 1895-1928, München 1973, S. 16. 67 Toeplitz (wie Anm. 66), S. 16. 68 Brandt, Hans-Jürgen: „Die Anfänge des Kinos“, in: Faulstich, Werner/ Korte, Helmut (Hrsg.): Fischer Filmgeschichte – Von den Anfängen bis zum etablierten Medium 1895-1924, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1994, S. 86; Engell, Lorenz: Bewegen beschreiben: Theorie zur Filmgeschichte, Weimar 1995, S. 51. 69 Musser, Charles: „The Emergence of Cinema: The American Screen“, in: Harpole, Charles (Hrsg.): History of the American Cinema, Berkeley/California 1994, S. 189. 70 Musser (wie Anm. 69), S. 1, S. 17ff. 71 Elsaesser, Thomas: Filmgeschichte und frühes Kino: Archäologie eines Medienwandels, München 2002, S. 36.
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207
Aus technologischer Sicht hat die Entstehung des Kinos ihren Ursprung im 19. Jahrhundert.72 In dieser Zeit wurden die unterschiedlichsten Projektionsmaschinen erfunden, die mit den unterschiedlichsten Namen auf dem Markt eingeführt wurden. Wesentliche Impulse für diese technologische Entwicklungslinie lieferten vor allem die ars magna lucis et umbrae und laterna magica, so dass diese Technologien als Vorstufen der Kinoentwicklung zu verstehen sind73. Ausgangspunkt für die Entwicklung des Kinos war demnach die erfolgreiche Einführung technologischer Innovationen. Ihre Anwendung bestimmte die kulturelle Praxis und die damit verbundene Hervorbringung kultureller Institutionen.74 Wichtige Erfindungen von Projektionsmaschinen sind den Industrieländern Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den USA zuzuordnen, wobei sich dieser Entwicklungsprozess weitgehend unabhängig und simultan vollzog.75 Zu dieser Zeit wurde auch die kinematographische Basisapparatur erfunden, die sowohl die Aufnahme als auch die Wiedergabe bewegter Bilder erlaubte. Am 13. Februar 1895 erhielten die Brüder Louis und Auguste Lumière hierfür das Patent. In Frankreich fand die erste öffentliche Filmvorführung am 28. Dezember 1895 in Paris statt.76 In Deutschland fand die erste Vorführung am 1. November 1895 als Variété-Nummer in einem Berliner Wintergarten statt77. 1896 wurde ein erster Kinematograph der Brüder Lumière nach Deutschland eingeführt. Das erste Lichtspieltheater wurde am 26. April 1896 in Berlin gegründet. Bereits am 1. Mai 1896 gründete Lumière ein weiteres Lichtspieltheater in Berlin.78 In den Medienwissenschaften ist das „Geburtsjahr“ der Kinematographie – entweder das Jahr 1895 oder 1896 – umstritten.79 Aus 72 Korte, Helmut/Faulstich, Werner: „Der Film zwischen 1895 und 1924: Ein Überblick“, in: dies. (Hrsg.): Fischer Filmgeschichte – Von den Anfängen bis zum etablierten Medium 1895-1924, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1994, S. 13. 73 Musser (wie Anm. 69), S. 1, S. 15-54. 74 Musser (wie Anm. 69), S. 17. 75 Musser (wie Anm. 69), S. 91. 76 Musser (wie Anm. 69), S. 91; Toeplitz (wie Anm. 66), S. 17; Jason, Alexander: Der Film in Ziffern und Zahlen – Die Statistik der Lichtspielhäuser in Deutschland 1895-1925, Berlin 1925, S. 20. 77 Jason (wie Anm. 76), S. 20. 78 Jason (wie Anm. 76), S. 20. 79 Jason (wie Anm. 76), S. 20; Toeplitz (wie Anm. 66), S. 17; Lapierre, Marcel: Les cent visages du cinéma, Paris 1948, S. 1; Elsaesser (wie Anm. 71), S. 37.
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technologischer Sicht kann mit der Patentanmeldung des Kinematographen der Brüder Lumière das Jahr 1895 als ,Geburtsjahr‘ der Kinematographie festgeschrieben werden. Abschließend wird in der Abbildung 2 der Einfluss technologischer Innovationen auf die Entwicklung kultureller Institutionen zur Verbreitung projizierter Bewegtbilder dargestellt. Auch hier wird deutlich, dass die erfolgreiche Einführung technologischer Innovationen Ausgangspunkt für die Entwicklung kultureller Institutionen war. Zusätzlich wird die enge Verbindung zwischen dem evolutionären und pfadabhängigen Erklärungsansatz zum technologischen Wandel deutlich. 1600: Erfindung der laterna magica und der ars magna lucis et umbrae
1861: Patentierung des Kinetoskops von Seller
Institutionen für Bildausstellungen
1646: Athanasius Kircher 1878: Pabeschreibt die Funktions- tentierung weise der laterna magica des und trägt zur Aufklärung Phonobei, dass es sich bei dem graphen Gebrauch dieser Techno- von logie nicht um eine Magie Edison handelt, sondern um eine Technologie, die sich der Reflektion und Optik bedient
1895: Patentierung des Kinematographen der Brüder Lumière
VariétéTheater
1888: Patentierung des MikroKinetoskops von Edison
1897: Standardisierung des Bildformates auf 35 mm
Wanderkinos
1896: Patentierung des Vitaskops von Edison
1918: Entwicklung der Lichttontechnologie
Ladenkinos
Kinos i.e.S.
1905: Zunehmende Standardisierung bei der Produktion von Projektionsmaschinen und des Rohfilms
Abb. 2: Einfluss technologischer Innovationen auf die Entwicklung kultureller Institutionen zur Verbreitung projizierter Bewegtbilder
Der Übergang vom Kurzfilm auf den Langfilm Die ersten Filme, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts gedreht wurden, waren sehr kurz. Ihre Vorführungszeit betrug wenige Minuten. Als Beispiel seien die Filme „Le Déjeuner de bébé“, „L´Arrivée d´un train à La Ciotat“, „La sortie des usines“ und „L´Arroseur arrosé“ genannt.80 Aus technologischer Sicht konnte die Qualität der Filmkamera immer mehr verbessert werden. 1901 erfand Theodor Pätzold die dreiteilige
80 Gregor, Ulrich/Patalas, Enno: Geschichte des Films 1895-1939, Reinbek b. Hamburg 1976, S. 16; Toeplitz (wie Anm. 66), S. 17ff.
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Blende, die eine verbesserte Projektion ermöglichte.81 Mit dieser technologischen Innovation wurden die Projektionen zum ersten Mal flimmerfrei. Ab 1905 fand zusätzlich ein Prozess der Standardisierung der Filmrollen statt. In den USA wurde der Standard für eine Rolle auf 1.000 Fuß festgelegt.82 Das entsprach einer Filmlänge von ca. 14 Minuten.83 Bereits 1907 war der Kurzfilm als erfolgreiches Massenmedium ausgereift.84 Da sich der Verkaufspreis zu jener Zeit vor allem an der Länge des Films orientierte, lag es nahe, die Produktion auf längere Filme auszuweiten, zumal die technischen Voraussetzungen dazu gegeben waren. Auch Rentabilitätsgründe sprachen für eine Ausweitung der Filmlänge.85 Obwohl mit der Erfindung der dreiteiligen Blende – in technischer Hinsicht – gute Voraussetzungen für die Akzeptanz längerer Filme gegeben waren, dauerte der gesamte Prozess der Ablösung des Kurzfilms durch den Langfilm ungefähr 10 Jahre.86 Einerseits lagen ökonomische Gründe vor. Der Übergang zum Langfilm und die damit verbundenen Änderungen der Produktionsbedingungen erforderten längerfristige Investitionen in Betriebsmittel.87 Andererseits musste mit dem Übergang zum Langfilm auch die Struktur des Kinoprogramms weitgehend geändert werden.88 Gleichzeitig entstand mit dem Langfilm ein neuartiger Absatzmarkt. 1912/13 war der Übergang zum Langfilm so weit fortgeschritten, dass dieser Markt erschlossen und der deutsche Langfilm auf dem heimischen Markt führend war. Für die Filmherstellung bedeutete der Langfilm eine enorme Erleichterung gegenüber dem Kurzfilm. Dem Druck eines wöchentlich quantitativ und qualitativ vielfältigen Angebots stand nun eine diskontinuierliche, gezielte Produktion gegenüber.89
81 Müller, Corinna: Frühe deutsche Kinematographie: formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912, Stuttgart 1994, S. 6. 82 Musser (wie Anm. 69), S. 314. 83 Brandt (wie Anm. 68), S. 93. 84 Müller (wie Anm. 82), S. 6. 85 Müller (wie Anm. 82), S. 162f. 86 Müller (wie Anm. 82), S. 6; Toeplitz (wie Anm. 66), S. 70. 87 Müller (wie Anm. 82), S. 164. 88 Müller (wie Anm. 82), S. 6. 89 Müller (wie Anm. 82), S. 160.
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Der Übergang vom Stummfilm auf den Tonfilm Nachdem die ersten Kinematographen erfolgreich entwickelt wurden, erkannte man schon früh die Notwendigkeit, das Bild mit dem Ton zu verbinden. Bei der Tonbild-Kinematographie wurden das Bild und der Ton zunächst getrennt aufgenommen und abgespielt, wobei als Tonträger Grammophon-Schallplatten oder seltener auch eine Phonographenwalze benutzt wurde. Um das Bild und den Ton zeitlich aufeinander abzustimmen, war ein Synchronisierungsverfahren notwendig. Die Verknüpfung von Bild und Ton hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Verbreitung der Medien Film und Kino. Auch die wirtschaftlichen Verflechtungen der Filmindustrie änderten sich mit dem Aufkommen des Tonfilms. Während die Filmindustrie zur Zeit des stummen Films lediglich über den Rohfilmverbrauch mit anderen Wirtschaftszweigen in Verbindung stand, führte die Produktion des Tonfilms zu völlig neuen wirtschaftlichen Beziehungen, insbesondere zur Elektroindustrie und zur Schallplattenindustrie.90 Der deutsche Filmproduzent Messter, der bereits im Frühjahr 1903 begonnen hatte, sich mit der Tonbild-Technologie zu beschäftigen, stellte sein Verfahren bereits am 29. August desselben Jahres in Berlin vor. Zwischen 1905 und 1907 gründete er die ersten sieben Tonfilmkinos. Die Produktion des Tonfilms galt zu jener Zeit als eine hochwertige Technologie.91 Um die Monopolstellung zu sichern, meldete Messter seine Erfindung zum Patent an. Jedoch konnte Messter diese Monopolstellung nicht lange aufrechterhalten, da viele Firmen der Filmindustrie ihre selbst entwickelten Synchronisierungsverfahren auf den Markt brachten. Dadurch entstand ein enormer Konkurrenzdruck, der den Marktpreis für den Tonfilm drastisch senkte.92 Die hohen Produktionskosten des Tonfilms konnten durch den erzielbaren Marktpreis nicht gedeckt werden, so dass sich Messter gezwungen sah, die Tonfilmproduktion einzustellen und seine Tonfilmkinos zu schließen. Nicht nur Messter, sondern auch alle anderen deutschen Firmen der Filmindustrie waren davon betroffen. Obwohl die deutsche Filmindustrie bereits 1907 – technologisch betrachtet – eine führende Stellung in der Herstellung des Tonfilms einnahm, gelang es ihr nicht, diese aus ökonomischer Sicht zu halten. Die
90 Jason, Alexander: Handbuch der Filmwirtschaft. Bd. 3: Die erste Tonfilmperiode, Berlin 1932, S. 9. 91 Müller (wie Anm. 82), S. 79. 92 Müller (wie Anm. 82), S. 80.
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auf hohem Niveau begonnene Tonfilmproduktion war zu diesem Zeitpunkt unrentabel. Die ökonomischen Bedingungen verlangten, dass die Produktion zunächst wieder auf die kostengünstigeren Stummfilme umgestellt wurde.93 Erst nachdem das Nadelton- und das Lichttonverfahren entwickelt wurden und solche Konzentrationsprozesse in der Filmindustrie einsetzten, dass die kostenintensive Tonfilmproduktion durch finanzstarke Wirtschaftszweige getragen werden konnte, gelang 1929/1930 der endgültige Durchbruch des Tonfilms. Die Medienwissenschaftler sind sich nicht einig, welches Jahr als das ,Geburtsjahr‘ des Tonfilms festzulegen ist.94 Trotz der erwähnten Schwierigkeiten gilt die Verbreitung des Tonfilms als ein wichtiger Indikator für den technologischen Fortschritt in der Filmproduktion.95 Die Umstellung auf den Tonfilm erfolgte schließlich in einem überraschenden Tempo. In der letzten Stummfilmperiode zwischen 1926 bis 1928 wurden pro Jahr durchschnittlich 217 lange Spielfilme mit 520.611 Metern Filmlänge produziert. Im Vergleich dazu belief sich die durchschnittliche Jahresproduktion an langen Spielfilmen in der ersten Tonfilmperiode auf 158 mit 381.528 Metern Filmlänge.96 Die Erhöhung der Tonfilmproduktion der ersten Tonfilmperiode wird in Abbildung 3 verdeutlicht.
Jahresproduktion langer Spielfilme davon Tonfilme
1929
1930
1931
183
146
144
absolut
8
101
142
prozentual
4%
69 %
99 %
absolut
Abb. 3: Deutsche Spielfilmproduktion und anteilige Tonfilmproduktion 1929-1931 (Quelle97) Mit der Umstellung auf den Tonfilm traten auch starke Substitutionseffekte zwischen den herkömmlichen Kinos und den Tonfilmkinos auf. Allein in dem Zeitintervall vom 26.3.1930 bis 25.12.1931 stieg die Anzahl der Tonfilmkinos von 472 auf 3.173 in Deutschland.98 Während im Jahr 1930 schon 32 % aller Kinos für den Tonfilm technisch 93 Müller (wie Anm. 82), S. 83. 94 Jason (wie Anm. 91), S. 10f.; Müller (wie Anm. 82), S. 79f.; Zglinicki, Friedrich von: Der Weg des Films, Hildesheim 1979, S. I. 95 Müller (wie Anm. 82), S. 81; Jason (wie Anm. 91), S. 10. 96 Jason (wie Anm. 91), S. 10. 97 Jason (wie Anm. 91), S. 10. 98 Jahrbuch der Filmindustrie, 5. Jg., Berlin 1933, S. 353.
212
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umgerüstet waren, lag diese Zahl im Jahr 1931 bei 57 %. Gegen Ende des Jahres 1932 entfielen auf die Tonfilmkinos 68 % aller Kinos bzw. 74 % aller Kinoplätze.99 1930 war die Filmindustrie vor allem auf das Nadelton- und das Lichttonverfahren angewiesen. Auch zwischen diesen beiden Arten der Tonwiedergabe traten Substitutionseffekte auf. Während sich das Lichttonverfahren in dieser Zeit immer mehr verbreitete, verlor das Nadeltonverfahren an Bedeutung.100 Als weitere technologische Entwicklungsstufe waren in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts schließlich die Voraussetzungen für die magnetische Aufzeichnung des Tons geschaffen.
Technologischer Wandel in der Mobilfunktechnik Wichtige wissenschaftliche und technologische Erkenntnisse, welche eine unbedingte Voraussetzung für die Entwicklung der drahtlosen Nachrichtenübermittlung darstellen, sind auf die Zeit vor der Jahrhundertwende, also auf die Zeit vor dem analogen Medienumbruch zurückzuführen. 1888 gelang Hertz der experimentelle Nachweis, dass sich die bereits 1865 durch den englischen Physiker Maxwell theoretisch beschriebenen elektromagnetischen Wellen ebenso wie Lichtwellen verhalten und sich mit einer Geschwindigkeit von 300.000 km/s ausbreiten.101 Werden solche Erkenntnisse als pfadabhängige Ereignisse gedeutet, unterliegt die Verbreitung der Technologie drahtloser Nachrichtenübermittlung einer zeitlich lange zuvor eingeleiteten Evolution. Als technologische Einflussfaktoren, die entscheidend den Entwicklungsverlauf der heutigen Mobilfunktechnik bestimmen, können vier wesentliche Faktoren genannt werden: 1.
Digitalisierung,
2.
Verbesserung der Rechen-, Speicher- und Übertragungsleistungen,
3.
Miniaturisierung und
4.
Standardisierung.
Schon in den 40er Jahren entwickelte die Firma Bell ein Zellularkonzept, um das Problem der beschränkten Funkbandbreite zu lösen. Bis das erste 99 Jahrbuch (wie Anm. 99), S. 356. 100 Jahrbuch der Filmindustrie, 4. Jg.; Berlin 1930, S. 374-384. 101 Matzen, Christiane: „Chronik des Hörfunks und des Fernsehens in Deutschland“, in: Hans-Bredow-Institut (Hrsg.): Internationales Handbuch für Hörfunk und Fernsehen 2000/2001, Baden-Baden, S. 238.
TECHNOLOGISCHER WANDEL UND MEDIENUMBRÜCHE
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analoge Zellularsystem auf dem Markt eingeführt wurde, vergingen weitere 20 Jahre. Seitdem hat die Mobilfunktechnik mehrere technologische Entwicklungsstufen durchlaufen. Diese Entwicklungsstufen, im Wesentlichen werden vier Generationen unterschieden, sind Basis einer Wissensinfrastruktur, die entscheidend Einfluss auf die Diffusion des Mobilfunktelefons hat.102 Die Mobilfunktelefonnetze der ersten Generation wurden in den ersten Anfängen vornehmlich für Autotelefondienste konzipiert. Charakteristisch für diese Netze war die Anwendung der analogen Übertragungstechnik.103 Mobilfunktelefonnetze der zweiten Generation basieren auf der digitalen Übertragungstechnik.104 GSM (Global System for Mobile Communications) gilt als der derzeit weltweit wichtigste Standard. GSM nutzt überwiegend verbindungsorientierte Kommunikationsprotokolle, da es primär für die Sprachkommunikation entwickelt wurde. Zusätzlich bietet es Informationsdienste wie SMS (Short Message Service) an. Die technologische Weiterentwicklung für die leitungsgebundene Datenübertragung mittels HSCSD (High Speed Circuit Switched Data) sowie für die paketvermittelte Datenübertragung GPRS (General Packet Radio Service) erlaubt Datenraten bis zu 100 kbps.105 Wichtigster Vertreter der dritten Generation der Mobilfunktelefonnetze ist UMTS (Universal Mobile Telecommunications System). Es bietet sowohl paket- als auch verbindungsorientierte Dienste an.106 Zukünftig sollen integrierte Audio- und Datensignale in hoher Qualität übertragen werden können sowie neue Breitbanddienste und eine intelligente Netzintegration zur Verfügung stehen. Bei der vierten Generation handelt es sich momentan weniger um einen Standard als vielmehr um ein Konzept.107 Kennzeichen dieser Generation ist die Berücksichtigung neuer Dienste wie der Telepräsentation und des dynamischen Informationszugriffs. Neben der Erweiterung des Angebotes solcher Dienste gilt die weitgehend unabhängige Kommunikation von Raum und Zeit als ein entscheidendes Ziel der Entwick102 Müller, Günter/Eymann, Torsten/Kreutzer, Michael: Telematik- und Kommunikationssysteme in der vernetzten Wirtschaft, Wien 2003, S. 4. 103 Reitbauer (2004). URL: http://www.reitbauer.at/lexikon/default.asp?qkeyword=4G, 14.07.2004. 104 Reitbauer (wie Anm. 104). 105 Müller (wie Anm. 103), S. 155. 106 Müller (wie Anm. 103), S. 160. 107 Thefeature (2004). URL: http://www.thefeature.com/article?articleid=15014, 14.07.2004.
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lung von Mobilfunktelefonnetzen. Dies bedeutet, dass z.B. mit einem Laptop sehr große Datenmengen für unterschiedlichste Multimedia-Anwendungen über ein Mobilfunktelefon zu jeder Zeit und an jedem Ort empfangen werden können. Damit kommt es zu einer vollständigen Integration zwischen leitungsgebundenen und drahtlosen Diensten. Nur durch die Nutzung und Integration verschiedener Medien und Technologien kann die Effizienz der Informationsübermittlung weiter gesteigert werden.108 Diese Art von Integration erlaubt sowohl die Kombination bereits existierender als auch die Einführung neuer Nutzungsformen von Medien.
Der Übergang vom Telefon im Festnetz auf das Mobilfunktelefon Die Entwicklung des Telekommunikationsmarktes wird von einem gravierenden technologischen Wandel begleitet. Auch die Veränderungen des rechtlichen und wirtschaftlichen Handlungsrahmens führen zu einer verstärkten Dynamisierung eines umfassenden Wandels. An erster Stelle ist die Privatisierung dieses Marktes zu nennen. Heute ist der Privatisierungsprozess von Telekommunikationsunternehmen in mehr als 50 % aller Länder der Welt abgeschlossen.109 Neben der Privatisierung zeichnet sich der Telekommunikationsmarkt durch eine weitgehende Globalisierung aus.110 Drei wesentliche Tendenzen sind zu erkennen: Erstens dominiert die Internationalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten; viele Telekommunikationsunternehmen haben im Ausland weitere Niederlassungen. Zweitens ist der steigende Einfluss multilateraler Organisationen zu nennen. Die World Trade Organization (WTO) hat sich im Bereich der Telekommunikation um Liberalisierungsvereinbarungen bemüht, die heute von ca. 70 Regierungen unterschiedlichster Länder akzeptiert werden. Als dritter Indikator ist die Ausweitung des Angebotes weltweiter Telekommunikationsdienstleistungen zu nennen.111 Die Privatisierung, die Liberalisierung und die Globalisierung haben einen massiven Einfluss auf den Handlungsrahmen des
108 Grauer, Manfred/Merten, Udo: Multimedia: Entwurf, Entwicklung und Einsatz in betrieblichen Informationssystemen, Berlin 1997, S. 6-12. 109 World Telecommunication Development Report 2002, hrsg. v. International Telecommunication Union (ITU), Genf 2002, S. 2. 110 ITU (wie Anm. 110), S. 4f. 111 ITU (wie Anm. 110), S. 4f.
TECHNOLOGISCHER WANDEL UND MEDIENUMBRÜCHE
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Telekommunikationsmarktes. Gleichzeitig werden wichtige Voraussetzungen für eine wettbewerbsorientierte Preispolitik geschaffen. Die Diffusion des Telefons wird im Wesentlichen durch zwei technologische Entwicklungslinien bestimmt: 1.
Festnetztelefon,
2.
Mobilfunktelefon.
Während die Verbreitung des Festnetztelefons um das Jahr 1880 beginnt, setzt die Verbreitung des Mobilfunktelefons um das Jahr 1985 ein. Zwischen beiden Entwicklungslinien existieren Interdependenzen. Daher erscheint eine isolierte Betrachtung der Diffusionsprozesse nicht sinnvoll. Eine gleichzeitige Untersuchung beider Diffusionsprozesse ermöglicht das Aufdecken von Substitutionseffekten.112 Ein Überblick zur weltweiten Anzahl der Telefonteilnehmer im Festnetz und der Mobilfunkteilnehmer wird mit der Abbildung 4 gegeben. Telefonteilnehmer weltweit (Mio.) 3.000 2.500 2.000 Mobilfunk 1.500 1.000 500 Festnetz 0 1910
1920
1930
1940
1950
1960
1970
1980
1990
2000
Abb. 4: Entwicklung der weltweiten Anzahl der Telefonteilnehmer im Festnetz und der Mobilfunkteilnehmer von 1910 bis 2005 (Quelle113)
Signifikant ist, dass sich das Mobilfunktelefon wesentlich schneller verbreitet hat als das Festnetztelefon. Innerhalb von 15 Jahren konnten bereits ca. 1.000 Mio. Mobilfunkteilnehmer registriert werden. Dafür benötigte das Festnetztelefon rund 100 Jahre. Im Jahr 2002 überschritt die Anzahl der weltweiten Mobilfunkteilnehmer zum ersten Mal die Anzahl der weltweiten Telefonteilnehmer im Festnetz. Heute ist eine weltweite 112 ITU (wie Anm. 110), S. 13, S. 18ff. 113 World Telecommunication Indicators Database, hrsg. v. International Telecommunication Union (ITU), Genf 2004.
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Verbreitung des Festnetztelefons mit 1.300 Mio. Teilnehmern zu verzeichnen. Im Vergleich dazu beträgt die aktuelle Anzahl der weltweiten Mobilfunkteilnehmer 1.500 Mio.; das entspricht ca. 22 % der gesamten Weltbevölkerung.114
Zusammenfassung und Ausblick Kennzeichnend für Medienumbrüche sind umfassende, diskontinuierliche, strukturelle Veränderungen. Neben sozialen und kulturellen Wandlungsprozessen werden der analoge sowie der digitale Medienumbruch in besonderem Maße durch technologische Innovationen und den damit verbundenen technologischen Wandel induziert. Diese Aussage konnte sowohl für die frühe Kino- und Filmgeschichte als auch für die Entwicklung der Mobilfunktechnik aufgezeigt werden. Die Erklärungsansätze zum technologischen Wandel sind auf die Medienentwicklung angewendet worden. Dabei wird deutlich, dass das Phänomen des technologischen Wandels zu komplex ist, um es auf Basis eines einzigen Erklärungsansatzes zu deuten. Auch bei den Medien des analogen und digitalen Medienumbruchs tritt der technologische Wandel in unterschiedlichsten Kombinationen und Ausprägungen auf. Um die Veränderungsdynamik in ihrer Ausprägung als sukzessiven Transformationsprozess oder radikalen Umbruch näher zu beleuchten, kann zusätzlich ein Vergleich der Verbreitung des Festnetztelefons als Beispiel eines Mediums aus dem analogen Medienumbruch und des Mobilfunktelefons als Beispiel eines Mediums aus dem digitalen Medienumbruch herangezogen werden. Dabei ergibt sich, dass die Verbreitung des Mobilfunktelefons wesentlich schneller verläuft als die des Festnetztelefons. Es wird so erkennbar, dass der Einfluss des technologischen Wandels auf die Veränderungsdynamik von Medien immer bedeutender wird. So ergänzen sich klassische Medien von Gestern durch neue Medien von Heute und Morgen.
114 ITU (wie Anm. 114).
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AUF 50 METER GENAU. DIE
NEUEREN
EPHEMERIDEN
In einem ihrer „schwärzesten Bücher“ (Habermas), der Dialektik der Aufklärung begeben sich Adorno und Horkheimer auf zwei Exkurse, schicken ihre Gedanken auf Ausflüge, die Anfang und Ende des Wegs der abendländischen Zivilisation festzuhalten versuchen. Das Ende wird vom Denken de Sades ausgemalt, die mit kalter Rationalität exekutierte Folterung des weiblichen Körpers zum Zwecke der mechanischen Lusterzeugung im männlichen, literarische Phantasie für die mit industrieller Präzision operierende Barbarei des Faschismus. Den Beginn des befreienden Denkens, in dem „schon der Keim zu jenem Rückschritt enthalten“1 sei, machen die Irrfahrten des Odysseus anschaulich. Ein Bild steht geradezu emblematisch für jene Dialektik, der an den Mast gefesselte Held und seine rudernden Gefährten, denen die Ohren verstopft sind, damit sie nicht vom betörenden Gesang der Sirenen verführt und ins Verderben abgelenkt werden. Dies nun führt ins wirkliche Verderben, der ,Keim‘ für die Untergangsgeschichte ist bereits in der listigen Arbeitsteilung zwischen dem lenkenden Auge und den rudernden Armen enthalten. Die funktionale Auftrennung des Körpers in nur lenkende und nur antreibende Organe und seine Abtrennung vom Genuss – Odysseus hört zwar den betörenden Gesang, kann ihm aber nicht mehr folgen – bilden den traumatischen Einsatz der Zivilisation, die Verleugnung der eigenen Natur. „Eben diese Verleugnung, der Kern aller zivilisatorischen Rationalität, ist die Zelle der fortwuchernden mythischen Irrationalität: mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos der aus-
1 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1971, S.3. Das Buch entstand aus Diskussionen, die Horkheimer und Adorno 1942-44 im US-amerikanischen Exil geführt hatten; sie wurden erstmals als Philosophische Fragmente 1944 in New York publiziert.
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wendigen Naturbeherrrschung, sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig.“2 Diese These vom ,Doppelcharakter‘ oder der ,Aporie‘ des Aufklärungsprozesses, der mit technischen Verfahren zwar die äußere Natur überlistet und verfügbar macht, zugleich damit aber die eigene Natur anästhesiert, so dass sie schließlich in der ,Kulturindustrie‘ des 20. Jahrhunderts perfekt verwertet werden kann, wird nicht von ungefähr an der Urerzählung von der Eroberung des Raumes illustriert. „Die Vorwelt ist in den Raum säkularisiert, den er durchmißt, die alten Dämonen bevölkern den fernen Rand [...] Die Abenteuer aber bedenken jeden Ort mit seinem Namen. Aus ihnen gerät die rationale Übersicht über den Raum. Der zitternde Schiffbrüchige nimmt die Arbeit des Kompasses vorweg.“3
Im 21. Jahrhundert ist die Grundidee dieser Fragmente nicht einfach falsch und obsolet geworden. Mit globaler Internettime und Positionierungsverfahren, in denen dicht vernetzte, bis auf die Nanosekunde genau funktionierende Rechnersysteme wirksam werden, wird aktuell die Arbeit des Kompasses fortgesetzt, werden Makro- wie Mikroräume immer noch präziser bestimmbar. Dass sich „das Telos des eigenen Lebens“ dadurch entwirrt und durchsichtiger gestaltet hätte, wird in Zeiten globaler Krisen niemand behaupten wollen, jene Dialektik hat sich eher verschärft. Die folgende Skizze versucht Phasen ihrer Entwicklung nochmals nachzuzeichnen, ohne auf der definitiv apokalyptischen Stimmung dieser Darstellung aus dem letzten Jahrhundert zu beharren, allerdings auch ohne in irgendeine euphorische zu verfallen. Die „Urgeschichte der Subjektivität“4, als die Adorno und Horkheimer die Odyssee begriffen hatten, scheint sich als globale Uniformisierung und zugleich radikale Individualisierung fortzusetzen. An der Entwicklung von Raum- und Zeitkonzepten sowie der Techniken und Medien ihrer Wahrnehmung mögen solche neuerlichen Verwirrungen deutlich werden.
2 Horkheimer/Adorno (wie Anm. 1), S.51. 3 Horkheimer/Adorno (wie Anm. 1), S.45. 4 Horkheimer/Adorno (wie Anm. 1), S.51.
AUF 50 METER GENAU
I.
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Ephemeriden Eine Ephemeride ist eine Tabelle, die die Positionen eines sich bewegenden Gestirns auflistet. Zur einfacheren Orientierung werden die Angaben in einigen Ephemeriden in Form von Graden von Tierkreiszeichen angegeben. Der Schnittpunkt der aufsteigenden Ekliptik mit dem Himmelsäquator ist der Anfangspunkt dieses Kreises und heißt Widder- oder bekannter Frühlingspunkt (siehe auch Frühlingstagundnachtgleiche, Frühlingsäquinoktium). Von ihm aus zählt man die Rektaszension (RA). Zur Zeit befindet sich der Frühlingspunkt aufgrund der Präzessionsbewegung der Erdachse im Sternbild 5 Fische (Pisces).
Der Beginn der sogenannten Neuzeit wird durch einschneidende Veränderungen der Vorstellungen, Modelle, Mittel zur Wahrnehmung von Raum und Zeit markiert, besonders der technischen Mittel. Mit der Erfindung von Hemmung und Pendel in Räderuhren wurde die Zeitmessung genauer, im 17. Jahrhundert erreichte sie mit Christian Huygens Pendeluhr von 1657 und seiner Erfindung der Spiralfederunruh von 1674 eine lange Zeit unüberbietbare Präzision.6 Die darüber ermöglichten Messungen ganz anderer Prozesse erweiterten die Beobachtungen der Natur im Zusammenspiel mit immer neuen Apparaturen – Astrolabium,
5 URL: http://www.net-lexikon.de/Ephemeriden.html, 02.05.2004. 6 Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts ist der Einbau von Hemmungen in Räderuhren bezeugt. Zunächst kamen die recht ungenauen Kronrad- und Foliot-Hemmungen zur Anwendung. Wesentliche Verbesserungen ergaben die von Besson 1569 erfundene, von Jost Bürgi im Uhrenbau realisierte sogenannte Kreuzschlaghemmung, die Stiftnockenrad-, die Anker- und Zylinderhemmungen, an deren Entwicklung Galilei beteiligt war; Die Geschichte der Zeitmessung ist umfangreich erforscht, s. etwa: Maurice, Klaus: Die deutsche Räderuhr, München 1976; Maurice, Klaus/Mayr, Otto (Hrsg.): Die Welt als Uhr. Deutsche Uhren und Automaten 1550-1650 (Ausstellungskatalog), München/Berlin 1980; Mayr, Otto: Zur Frühgeschichte der technischen Regelung, München 1969; Dohrn-van Rossum, Gerhard: „Schlaguhr und Zeitorganisation. Zur frühen Geschichte der öffentlichen Uhren und der sozialen Folgen der modernen Stundenrechnung“, in: Wendorff, Rudolf (Hrsg.): Im Netz der Zeit. Menschliches Zeiterleben interdisziplinär, Stuttgart 1989. Zur Technik- und Kulturgeschichte der Zeit s. Gendolla, Peter: Zeit. Zur Geschichte der Zeiterfahrung. Vom Mythos zur Punktzeit, Köln 1992.
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Kompass, Fernrohr und Mikroskop – in hohem Maße, die Neuzeit setzt hier überhaupt erst ein. Sie versucht alles Neue eher auszuschalten, zumindest unerwartete Ereignisse. Die Gewalt überraschender Zufälle sollte begrenzt, das Schicksal berechenbar gemacht werden. Die Regelung des individuellen und sozialen Handelns ‚auf den Tag‘ – grch. ephemeros – genau, dann – mit der Ausbreitung der klösterlichen in die städtischen Zeitregelungen – auf die Stunde, schließlich – mit dem Vordringen naturwissenschaftlicher Verfahren in den Alltag – auf die Sekunde genau wurde mit den genannten Erfindungen möglich. Die neuen Beobachtungs- und Aufzeichnungssysteme arbeiteten effektiver zusammen. Genauere Sternenbeobachtungen im Abgleich mit Astrolabien, Uhren und Kalendern ermöglichten die Aufzeichnung von sogenannten Ephemeriden, das waren Bücher, welche die Stellung der Gestirne über Jahre hin auf den Tag genau fixierten. Eines der berühmtesten verfasste Johannes Müller. Astronomen, Mathematikern, Uhren- und Automatenforschern ist er unter dem Namen Regiomontanus bekannt, der ,Königsberger‘ (Königsberg in Bayern). Er richtete 1471 in Nürnberg eine Buchdruckerei ein, in der er 1474 die Ephemerides Astronomicae Ab Anno 1475 Ad Annum 1506 veröffentlichte. Für jeden Tag dieser gut dreißig Jahre sind die Konstellationen der Himmelskörper zueinander, die damaligen Festtage, die Finsternisse und vieles mehr akribisch verzeichnet.7 Solche präzisen Ausdifferenzierungen des Zeitrasters entwickeln sich im Zusammenspiel mit den Eroberungen des Raumes. Die Ephemerides wurden zum unentbehrlichen Begleiter auf Entdeckungsfahrten, sie eröffneten zusammen mit Uhren und Kompass überhaupt erst den Weg in die Neue Welt. Das von Kolumbus benutzte, mit Korrekturen, Anmerkungen, umfangreichen Kommentaren versehene Exemplar ist bis heute erhalten. Parallel dazu wurde ein entscheidendes mathematisch-geometrisches Verfahren entwickelt und in Apparaturen materialisiert, die Zentral- oder Linearperspektive. Mit ihr war nicht bloß eine praktische Handreichung für Maler und Architekten gefunden, vielmehr ein epistemologisches Modell, mit dem die neuzeitlichen Beschleunigungsvorstellungen begriffen werden können. Die Charakteristik der Renaissance war ja, wie Panofsky herausgearbeitet hat, die Perspektive, also die Entdeckung optischer, den Raum konturierender und erschließender Gesetze. Der Vorrang der Perspektive aus erkenntnislogischer Sicht gründete sich auf den 7 Johannes Regiomontanus. Astronomische Tagebücher vom Jahr 1475 bis zum Jahr 1506. (Nürnberg 1474) Auszüge in: Opera collectanea, hrsg. v. F. Schmeidler, Osnabrück 1972.
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Umstand, dass sie gewissermaßen das aggressive tool einer instantanen Vermessung der Raumtiefe darstellte –, die im Rahmen perspektivischer Abbildung vorgeführten Gegenstände vermochte das Auge mit jener unüberbietbaren Geschwindigkeit zu erfassen, die nur dem göttlichen Geist vorbehalten gewesen war. [...] Panofsky hat in seiner Analyse nicht gesehen, dass die vorzugsweise optische Erkenntnisform, wie sie die Renaissance ins Spiel bringt, ein Bewegungsmodell erzwingt, das richtig mit dem Phänomen Beschleunigung beschrieben wird. Alle Bewegungen, insofern sie modern sind, gehorchen also dem neuen Imperativ der Beschleunigung, während die neue Zeitmeßkunst in der gleichförmigen mechanischen Repetition von Zahnradschwüngen aufgeht. [...] Ein Raum-Zeit-Integral ist noch in weiter Ferne.8
Diese Aporie zwischen Statik und Dynamik, die Diskrepanz gleichmäßiger Zeitreihen zu „gleichsam mit Lichtgeschwindigkeit“ (Samsonow) beschleunigten Raumvorstellungen setzt sich in die Gegenwart fort. Mit der Installation immer winziger werdender Zeiteinheiten, von der Sekunde zur Nanosekunde als entscheidender Taktzeit für die globalen Kommunikationen, wird nicht allein die Konstruktion städtischer Architekturen im zentralperspektivischen Sinne beschleunigt. Vielmehr nähern sich ja seit langem – der wissenschaftliche Gebrauch von Sekundeneinheiten beginnt im 17. Jahrhundert – auch die soziokulturelle Prozesse regulierenden Zeiten dem Nanobereich. Mit anderen Worten: Zumindest die technisch entscheidenden Zeiten fallen aus den menschlichen, an die Eigenzeiten unserer Sinne gebundenen Wahrnehmungsrahmen heraus, entfernen sich mehr und mehr aus der Anschaulichkeit jener gleichförmigen Zeitreihen oder -rhythmen der Vergangenheit. Die Schere zwischen den die Kulturen technisch steuernden und kontrollierenden, in komplex verschachtelten und vernetzten ‚Black boxes‘ versenkten Prozessen und den anschaulichen, sinnlich wahrnehmbaren Selbstdarstellungen dieser Kulturen klafft weiter auseinander. Seine technologische Fundierung hat dieser Prozess in der ganz abstrakten wechselweisen Rasterung von Raum und Zeit, die mit den Stundeneinteilungen der Räderuhr seit dem 13. Jahrhundert begonnen wurde, und die bis auf die Nanosekundenmessungen heutiger Atomuhren führt. Für den Raum sind die entsprechenden Einteilungen oder Verfügbarmachungen vom Gründungsdokument der Linearperspektive, Leon Battista Albertis 1435 geschriebener Abhandlung Della prospettiva über Dürers Underweysung der Messung von 1536 bis zum technischen Bild 8 Samsonow, Elisabeth: „Zeit in Renaissance und früher Neuzeit“, in: MüllerFunk, Wolfgang (Hrsg.): Zeit. Mythos-Phantom-Realität, Wien/New York 2000, S.181.
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unserer Zeit zu verfolgen, dem Bildpunkt, Pixel. So wie im 19. Jahrhundert Zeitmessung wie technische Bewegung ganz körperlich durch die Eisenbahnreise, das – damals noch vergleichsweise pünktliche – Abfahren oder Ankommen und die Auflösungen der Landschaften dazwischen die wesentlichen Beschleunigungserfahrungen ausmachten, so bildet gegenwärtig die informationstechnische Vernetzung der Welt den Grund von Verwirrungen. Etwa die genannten, in immer mehr Anwendungen installierten globalen Positionierungssysteme, GPS, also die Erfassung und Steuerung belebter wie unbelebter Dinge als technische Prozessierung, Zerlegung und Zusammensetzung von Raum- mit Zeitpunkten. Sie ermöglichen in der Tat eine der funktionalen und kommunikativen Vernetzung der Welt adäquate Orientierung – für Firmen, Gruppen, Institutionen, für die abstrakten Zusammensetzungen von Individuen zu Elementen sozialer Systeme. Für die subjektive Wahrnehmung der darüber verbundenen Individuen ergibt sich dagegen eine weitere Steigerung der genannten Differenzierungs- oder Abtrennungserfahrung bis hin zur Paradoxie einer Art ubiquitärer Präsenz: mit dem Bewusstsein überall zugleich zu sein, alle ‚Sirenen‘ der Welt zu sehen und zu hören, aber mit dem Körper an immer mehr Schnittstellen zu selbst nicht wahrnehmbaren Datenströmen gefesselt zu sein, tatsächlich also weder hier noch dort.
II. Selbststeuerungen Der abendländische Zivilisationsprozess ist von Norbert Elias als Transformation von äußerer in innere Gewalt beschrieben worden, als Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge. Die Entwicklung von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft, die von den oberitalienischen Städten ausgehend ein globales Handelsnetz spannte, effektivere Produktionsmethoden initiierte, Kapitalien anhäufte und so die Voraussetzungen für die Industrialisierung schuf, war nur unter einer Bedingung möglich: der Synchronisation der Handlungen. Nur wenn die einzelnen Tätigkeiten aufeinander abgestimmt wurden, konnten sie als Elemente eines Netzes funktionieren, das Räume und Zeiten immer effektiver verspannte. Dies System der Selbstzwänge bildet die interne Folie oder Mastercopy, das innere Produktionsmuster für das von Elias so genannte Interdependenzgeflecht. Von der abendländischen Gesellschaft aus hat sich ein Interdependenzgeflecht entwickelt, das nicht nur die Meere weiter umspannt, als irgendein anderes in der Vergangenheit, sondern darüberhinaus auch mächtige Binnenlandsgebiete bis zum letzten Ackerwinkel.
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Dem entspricht die Notwendigkeit einer Abstimmung des Verhaltens von Menschen über so weite Räume hin und eine Voraussicht über so weite Handlungsketten, wie noch nie zuvor. Und entsprechend stark ist auch die Selbstbeherrschung, entsprechend beständig der Zwang, die Affektdämpfung und Triebregelung, die das Leben in den Zentren dieses Verflechtungsnetzes notwendig macht.9
Auch und gerade in aktuellen, von Rechnersystemen und elektronischen Netzen bestimmten Kommunikationen wird jenes Spiel fortgesetzt, das äußeren Zwang in innere Selbststeuerungen umbaut, die dann wiederum die Außenwelt entsprechend ihren Vorgaben umbauen. Dieses Einwandern abstrakter Zeitmodelle in lebende Organismen und ihre Rückkopplungen mit äußeren soziokulturellen Systemen muss dabei gar nicht metaphorisch verstanden werden. Zunächst hat ja bereits jeder Organismus seine eigene Zeit, ,innere Uhren‘, d.h. Rhythmen, regelmäßige Abläufe, interne Kontrollen des Stoffwechsels, des Auf- oder Abbaus der Zellen, ohne die eine Kooperation der Organe zu koordinierten Bewegungen nicht möglich wäre. So gelten rhythmische Prozesse der Großhirnrinde, der sogenannte Alpha-Rhythmus und der Theta-Rhythmus, im stammesgeschichtlich ältesten Teil des Großhirns, dem limbischen System, als wahrscheinliche interne Zeitgeber für die vegetativen Funktionen, die den Grundtakt für die anderen Austauschprozesse abgeben. Als Zeitzähler, welche die Dauer solcher Prozesse kontrollieren und aufeinander abstimmen, gelten Neuronennetze im Zwischenhirn, dem Hypothalamus.10 Genau hier nun öffnen sich Möglichkeiten der Kommunikation zwischen äußeren, fremden und inneren, eigenen Zeiten, der Abstimmung von individuellem und sozialem Haushalt der Kräfte. Der große Hauptrhythmus jedes Organismus, der Wechsel von Aktivität und Passivität, Schlafen und Wachen, diese sogenannte circadiane Uhr läuft nämlich nach einem keineswegs ganz festgelegten Takt. Vielmehr muss er wie bei einem etwas ungenau gehenden Wecker im wörtlichen Sinn tagtäglich nachgestellt werden. Circadiane Uhren wurden zuerst an Pflanzen und Tieren nachgewiesen. Wir wissen heute, dass nahezu alle Lebewesen bis hinunter zu den im Meer lebenden Einzellern solche Zeitmeßgeräte besitzen.... Für Pflanzen und Tiere ist der natürliche Licht-Dunkel9 Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1977, S. 337. 10 S. Roth, Gerhard/Prinz, Wolfgang (Hrsg.): Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen, Heidelberg/Berlin/Oxford 1996. Zur Synchronisation des Sehens, besonders: S. 200-206.
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PETER GENDOLLA Wechsel der wichtigste Zeitgeber. Für die Synchronisation der menschlichen circadianen Uhr spielen soziale Signale aus der Umwelt eine entscheidende Rolle (Herv. P.G.).11
Interne und externe, biologische und soziokulturelle Zeiten greifen ineinander, werden wechselweise eingeregelt, zunächst über Kalender, Uhren, Zeitpläne, im Laufe der Zeit über komplexe technische Medien. Ganz anschaulich wird das bei der Wahrnehmung der Bilder im Film, wo eine durch das sogenannte Malteserkreuz regulierte, kontinuierliche Unterbrechung der Bilderreihen die Bewegungsillusion ermöglicht, die Überlistung des körpereigenen Zeittaktes der Augen. Das Prinzip wird ausdifferenziert, in immer neuen Anwendungen perfektioniert. Um bei den visuellen Medien zu bleiben: Der Kathodenstrahl der Braunschen Röhre, die Ladungen des LCD-Displays, all diese Systeme werden von internen Taktgebern gesteuert – in der Regel von Quarzschwingkreisen, Synchronisationen von Systemen, über die sie erst mit ihrer „Umwelt“, unserer optischen oder akustischen Wahrnehmung etwa, in Kommunikation geraten und diese wiederum regulieren können. Die interne Regulation durch Zeitpunkte ermöglicht oder generiert dabei zugleich die externe Zerlegung der Außenwelt in Raumpunkte, also die Umsetzung ihrer drei Dimensionen in die zwei Dimensionen unserer technischen Bilder, sprich in Programmcode. Ein komplexer Raum wird durch die Anordnung technischer Sensoren in eine Fläche aus Linien und Punkten transformiert, und diese Punkt für Punkt nach einem definierten Zeittakt auf eine andere Fläche – Papier, Leinwand, Monitor, LCD-Schicht – übertragen. Diese Synchronisation von Raum- mit Zeitpunkten wird mit den gegenwärtigen vernetzten Rechnertechnologien perfektioniert, das meint Digitalisierung: Umsetzung der vielfachen analogen Signale, seien sie nun optisch, akustisch, haptisch, eventuell bald auch olfaktorisch, in diskrete Zeit-Zeichen, bits. Wenn von der Manipulierbarkeit der Zeit-Raum-Punkte zu ,virtuellen‘ Dingen oder Prozessen gesprochen wird, heißt das nicht mehr und nicht weniger als: Etwas wird nicht mehr als Nachahmung, Kopie, in etwas einer gegebenen Gestalt Ähnliches transformiert. Vielmehr entsteht dieses Etwas aus einem Algorithmus, einer Rechenregel, dessen Materialität oder schließliche Gestalt mit dieser Generierungsanweisung keineswegs mitgegeben wird, sie ist noch gar nicht bekannt. Dabei sind es nicht so sehr die Hybridisierungen der bekannten Gestalten unserer Wahrnehmungs- oder Erfahrungswelt, die den Kern der hier ausgelösten 11 Aschoff, J.: „Die innere Uhr des Menschen“, in: ders. et al.: Die Zeit. Dauer und Augenblick, München 1989, S. 137.
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Irritationen ausmachen. Vom Computerspiel über Kino und TV wandern sie allmählich in den Alltag, Gestalten ohne Vorbild, an die wir uns allmählich gewöhnen. Mit solchen äußeren Veränderungen musste die Gattung oder das Individuum zurecht kommen, seit es Technik gibt, sie ist nichts als die Transformation von Natur in Kultur, die wieder zur Natur wird, Natur 2.ten, 3.ten,...n.ten Grades. Aber hierbei war die ,Herstellung‘ von Welt, die die Gattung ihrem Selbstverständnis nach einmal von ganz oben, von Gott und seiner Natur in ihre Mitte übernommen hatte, in eine anschauliche Mechanik übersetzt. Noch bis in die großen Industrialisierungsprozesse hinein waren Funktionsprozesse mit den Sinnen nachvollziehbar, und immer noch in die analog codierten audiovisuellen Technologien des 20. Jahrhunderts, d.h. sie waren mit den Eigenzeiten der menschlichen Sinneswahrnehmung, unserer internen Natur einigermaßen synchronisierbar. Entwurf, Produktion und Positionierung der Dinge im sogenannten postindustriellen oder Informationszeitalter sind aber dabei, sich weit radikaler von der körperlichen Erfahrung abzutrennen, als es die Dialektik der Aufklärung vorgesehen hatte. Menschliche Wahrnehmungs- und technische Produktions- und Distributionsprozesse driften immer weiter auseinander.12 Informationsprozesse haben an sich keine Gestalt und nur unanschauliche Räume und Zeiten, hier brechen aktuell gewohnte Muster unserer Raum- und Zeiterfahrung, die genannte Synchronisation wird immer schwieriger. Mit zwei Operationen wird versucht, die Drift aufzuhalten oder gar umzukehren. Die eine setzt bei den äußeren Zeitsystemen an, sucht zumindest die technischen Prozesse in den gleichen Takt zu bringen, in die sogenannte Internet-Time. Die andere rückt wortwörtlich dem Leib immer näher, data mining und ubiquitous computing erheben alle erreichbaren Sinnesdaten, um den Körper in die globalen Rechenprozesse zu reintegrieren, ihn zumindest darin zu positionieren.
12 Der schnellste Computer der Welt, der Blue Gene L von IBM arbeitet z.Zt. in Tests mit einer Geschwindigkeit von 36,01 Teraflops, wobei ein Teraflop einer Billion ( = 1012) Rechenschritten je Sekunde entspricht. Zum Vergleich: Die Verarbeitung von Lichtreizen im menschlichen Auge geschieht im Millisekundenbereich, einzelne Bilder kann es bekanntlich nur unterhalb einer Frequenz von 18 bis 24 Bildern pro Sekunde unterscheiden. Insekten sind erheblich schneller, ein Bienenkino etwa müsste 100 bis 200 Bilder pro Sekunde zeigen. Stieve, H./Wicke, I.: „Wie unsere Augen sehen“, in: Maelicke, A. (Hrsg.): Vom Reiz der Sinne, Weinheim/N.Y./Basel/Cambridge 1990, S.37.
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III. Netz-Zeit Am 8.4.1999 zeigte die Tageszeitung „The Sun“ aus Baltimore, Maryland die Abbildung einer besonderen Uhr. Neben einer gewöhnlichen Zeitangabe (10:10.00) sah man eine dreistellige Zahl, hier die 423. Es handelt sich um sogenannte beats, mit deren Einsatz endlich die durch fortschreitende Globalisierung entstandenen Koordinationsprobleme bewältigt werden sollen. Swatch’s solution: Do away with time zones altogether, and create one uniform time arround the globe. [...] ,Für Jahrhunderte war die Sonne der große Zeitmaßstab‘, sagt Yann Gamard, Präsident von Swatch USA, ‚wir haben einen neuen Maßstab geschaffen‘. Die Firma teilte den Tag in 1000 ‚Schläge‘ (beats), jeder entspricht 86,4 Sekunden. Zugleich verschob sie den ersten Meridian von Greenwich, England zum Hauptsitz von Swatch nach Biel, Schweiz. Der globale Internet-Tag beginnt somit um Mitternacht ‚Biel mean time‘, oder eben ‚@000‘ in der genial-einfachen Internet-ZeitNotation.13
Es handelt sich wohl nicht bloß um die Ersetzung diverser Zeitzonen durch ein einheitliches Zahlensystem. Man wird es als letzten Schritt in einem langdauernden Prozess begreifen müssen, in dem Zeitmodelle als hocheffiziente Medien sozialer Organisation erfunden wurden, welche dabei die Wahrnehmung oder Erfahrung von so etwas Abstraktem wie Zeit überhaupt erst ermöglichen. Auf eine eigenartige Weise werden sie gegenwärtig wieder aufgelöst. Natürlich nicht als Zeit überhaupt, vielmehr ein bestimmtes Konzept oder Modell.14 Der bisher zumindest massiv in unseren Zeichensystemen grammatikalisierte Dreischritt von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft, über den sich Gesellschaften anschlussfähig gemacht haben, wird angegriffen. Jener Rationalisierungsprozess, in dem immer wieder reversible technisch-naturwissenschaftliche Zeit über irreversible individuelle, regionale, soziale Zeit gestülpt wurde oder sie ganz beiseite gedrängt hatte, wird mit den rechnergestützten Netzen universalisiert. Das von Norbert Elias noch sozioökonomisch und psychisch gemeinte ,Interdependenzgeflecht‘ hat sich ganz direkt in die Netze der informationstechnischen Medien umgesetzt. Für das daran ge13 The Sun, 08.04.1999, S. 2A. 14 „Zeit ist weder ursprünglich noch genau. Sie ist eine Schätzung. Sie ist ein sekundärer Begriff und wird in ihrer Wichtigkeit irgendwann ins zweite Glied rücken. “ Wheeler, J., zit. in: Aschoff; J. et al.: Die Zeit. Dauer und Augenblick, München 1989, S. 367.
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knüpfte Zeitmodell bietet die Schweizer Uhr ein einfaches Bild. Begreift man Kultur als komplexes System der „Bewahrung und Mitteilung von Entwürfen“ (Daniel Dennett)15, so wird einer globalisierten Kultur die vollkommene Entqualifizierung der Zeit mitgeteilt, das Telos der absoluten Zeit, der Sinn der Installation von Takt in Bewegung, Technik in Natur.
IV. Life-Log I’m guided by a signal in the heavens. I’m guided by this birthmark on my skin. I’m guided by the beauty of our weapons. Leonard Cohen
Die globale Vernetzung schließt zugleich eine neue Art der „Individualisierung“ ein. Wenn die sinnliche Erfahrung oder unmittelbare körperliche Anstrengung von den technischen Informationsprozessen und automatisierten Produktionen abgetrennt werden, müssen sie wieder integriert werden, sonst werden die Risiken des sogenannten „menschlichen Versagens“ zu hoch. Die Entwicklung von der Industrie- zur Informationsgesellschaft hat zunächst eine gewisse Befreiung von den ‚harten‘ inneren Selbstzwängen zur Folge, die in langfristiger Rücksicht auf die äußeren sozioökonomischen Notwendigkeiten gewachsen waren, die Übergabe dieser – von Elias wortwörtlich so verstanden – internen Reflexe und Automatismen an externe Agenten oder Automaten. Allenthalben wachsen selbstregulierte technische Kommunikationen, vermehren sich explosionsartig die Anwendungen so genannter Expertensysteme, immer neuer Programme künstlicher Intelligenz, flexible Software-Agenten fürs Schreiben und Reden, Reisen und Handeln. Die vernetzten, d.h. rückgekoppelten und dabei ‚selbstlernenden‘ Kommunikationen zwischen Menschen und Maschinen, Maschinen unter sich, Menschen und Menschmaschinenkomplexen breiten sich täglich weiter aus.16 Das hat entscheidende Auswirkungen auf die aktuellen Gesellschaften, etwa als zeitliche Entkoppelung politischer oder ökonomischer Teilsysteme: Gemeint ist, dass es heute im Bereich der Politik und Wirtschaft keinen universalen Zeitmaßstab mehr gibt, sondern viele politische 15 S. Die Zeit, 16.02.96, S. 31. 16 S. http://foner.www.media.mit.edu/people/foner/Julia/ http://www.research.ibm.com/iagents/ibm_iagents.html http://agents.www.media.mit.edu/groups/agents/projects/.
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Solche Entkoppelungen von Teilsystemen haben Auswirkungen auf die darin kommunizierenden Subjekte. Gerade die individuelle Steuerbarkeit wie die soziale Kontrolle von Kommunikationsprozessen, also tradierte Diskursverhältnisse werden in rechnergestützten vernetzten Prozessen nach neuen, sich erst bildenden und noch keineswegs durchschauten Regeln angeordnet. Wer mit wem wie viel, wann wie oft etc. kommuniziert, wie solche kommunikativen sich zu politischen, ökonomischen, soziokulturellen Handlungen verhalten, wird in der vergleichsweise jungen Disziplin der sogenannten Netzwerktheorie untersucht. Die Evolution der Zusammensetzungen von Verbindungen und Knoten, aus denen Netze bestehen, gehorcht etwa durchaus ‚ungerechten‘ Verteilungsgesetzen, keineswegs der Idee einer globalen und vom einzelnen beherrschten Kommunikation von allen mit allen. Stattdessen entwickeln sich sogenannte ‚Hubs‘, über welche die Mehrzahl der aktiven Verbindungen läuft. Wann immer aus unterschiedlichen Knoten komplexe Netzwerke ‚gebaut‘ werden, entwickeln die sog. ‚Konnektoren‘ – das sind Knoten mit einer ungewöhnlich hohen Anzahl an Links – eine starke Anziehungskraft.18 Der Netzwerktheoretiker Barabási hat ihre Entstehung in ein Modell zu fassen versucht. Es beruht auf dem ‚Matthäus-Effekt‘: Wer hat, dem wird gegeben. Wenn etwa ein Netz wie das World Wide Web entsteht, verweisen neu hinzukommende Websites vor allem auf altbekannte Seiten. Diese werden bekannter und ziehen mehr Links an als unbekannte Seiten von gleicher Qualität. Die Experten sprechen von präferenzieller Verknüpfung. Die Reichen werden reicher. Ähnliches gilt für soziale Netzwerke: Menschen mit einem großen Bekanntheitsgrad knüpfen leichter neue Freundschaften als Einzelgänger.19
Solche unerwartete Fortsetzung einer alten Regel mit neuen Mitteln ist weder für die Netzbetreiber geschweige die Nutzer unmittelbar transparent gewesen. Um sich ein Bild von diesen Prozessen zu verschaffen, mussten Barabási und seine Gruppe sogenannte Softwareagenten durchs 17 Mainzer, Klaus: Zeit. Von der Urzeit zur Computerzeit, München 1995, S. 120. 18 Barabási, Albert-László: Linked. The New Science of Networks, Cambridge, Mass. 2002, S. 55-64. 19 Rauner, Max: „Ziemlich verknotet“, in: Die Zeit, 26.02.04, S.33.
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Netz schicken, welche die jeweiligen Kommunikationsdichten penibel aufzeichneten und entsprechende statistische Auswertungen ermöglichten. Als Darstellung oder Modell für welche Interessen auch immer verwertbar gemacht, bilden solche strukturierten Daten schließlich die Grundlage einer empirisch basierten Netzwerktheorie, erste Schritte ins Verstehen eines noch recht unbekannten Raums. Die Interfaces oder ‚Schnittstellen‘, über die die von all dem abgetrennten alten Körper an diesen Raum wieder angeschlossen werden, liefern die erwähnten satellitengestützten globalen Ortungs- oder Positionierungssysteme, die GPS.20 Diese neueren Ephemeriden werden fest installiert in Flugzeugen, Eisenbahnen, Autos, welchem Verkehrsmittel auch immer, es gibt sie als mobile Handgeräte, sogenannte PDAs für Radfahrer, Bergsteiger, lebensmüde Abenteuertouristen.
Abb.: mobilGPS 20 „Das GPS ist ein satellitengestütztes Ortungssystem, das vor allem als Navigationshilfe in der Luftfahrt und Seefahrt sowie für elektronische Lotsen und als Diebstahlsschutz in Autos eingesetzt wird. Zur Bestimmung der Position des mobilen Empfängers wird durch Messung der Signallaufzeit von dem Empfänger zu den GPS-Satelliten seine Entfernung und relative Position zu diesen Satelliten errechnet. Bei den aktiven GPS-Systemen werden dazu von der Station, deren Position bestimmt werden soll, Signale an die GPS-Satelliten gesendet, bei den passiven GPS-Systemen hingegen wertet der Empfänger am Boden die Signale aus, die er von den GPS-Satelliten empfängt.“ URL: http://www.net-lexikon.de/GPS.html, 16.09.04.
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Während die alten inzwischen auch übers WWW zugänglich sind21, werden die neueren bereits in den Alltag ängstlicher Mütter oder Väter eingebaut: ‚Track your kid‘ heißt ein neuer Handy-Dienst des Unternehmens Armex, der Eltern hilft, das Mobiltelefon ihrer Kinder zu orten. Das eingeschaltete Handy des Kindes steht jederzeit in Verbindung zu mehreren Mobilfunkmasten. Aus der Stärke, mit der die Masten das Signal des Handys empfangen, kann die ungefähre Position des Telefons errechnet werden. In Städten, in denen viele Masten aufgebaut sind, soll die Ortung auf 50 Meter genau sein. Auf dem Land kann die Abweichung aber mehrere Kilometer betragen. Besorgte Eltern können sich eine SMS über den Aufenthaltsort ihres Kindes senden lassen oder im Internet Landkarten anschauen.[...] Die lückenlosen Mobilfunknetze ermöglichen aber noch weitere Überwachungssysteme. Zum Beispiel schlägt das Zusatzgerät ,,Phonetracker“ der PC Funk Gmbh sofort Alarm, wenn das Handy eine zuvor definierte Schutzzone verläßt. Die Eltern erhalten eine SMS oder einen Anruf und können im Notfall das Handy als Wanze einsetzen und die Gespräche mithören.22
Die Dialektik von Aufklärung im doppelten Sinne, als Aufklärung über den äußeren Raum wie über die inneren Möglichkeiten seiner Erfahrung, ist keineswegs abgeschlossen, der Aufbruch ins Unbekannte und seine rationale Anästhesierung, Gängelung bis Abtötung, bilden eine einzige, untrennbare Bewegung. Aus Odysseus’ Fahrten durchs Mittelmeer auf der Suche nach der Realität der mythischen Erzählungen und Kolumbus’ Eroberung der Neuen Welt haben sich Visionen einer totalen Vernetzung entwickelt, vor denen die Ortung der Kinder über Mobiltelefone nur einen schwachen Schatten abbilden. „Life-log“, wörtlich wohl Log- oder Fahrtenbuch des Lebens, nannte sich ein Pentagon-Projekt, das als „absolute Gedächtnis-Prothese“ und vollkommene „Lebens-Mitschrift“ konzipiert wurde: Das Pentagon hatte ein Projekt annonciert, das dann unter dem Namen „Life-Log“ ausgeschrieben wurde. Konzipiert war diese „Lebens-Mitschrift“ als ein künstliches Gedächtnis, das erfassen und sofort indizieren sollte, was ein Mensch, ein Soldat erlebt. Tatsächlich sämtliche Lebensregungen aller GIs für jeden gegebenen Moment. Digitalisieren, was sich digitalisieren lässt, lautete die Direktive. Also alles. [...] Eine Hardware für die Uniform sollte hierzu entwickelt werden, die alle physischen und Kontext-Daten des GI registriert und an einen zentralen Server übermittelt. Also: Visuelle, auditive und wenn möglich haptische Daten, die doku21 http://www.atv-bonn.de/mepla/ephemeriden/ephem.htm, 02.05.2004. 22 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.11.2003, S.19.
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mentieren, was der Soldat sieht, hört und fühlt. Dazu die Daten zu seiner Standortbestimmung, auch Ruhe-, Lage- und Beschleunigungs-Daten seines Körpers.23
Trotz aller Bedenken, dass wesentliche Informationen bei der Masse der erhobenen Daten notgedrungen verschüttet bleiben müssten, ist die Idee mit Methoden des sogenannten Data Mining und Ubiquitous Computing24 inzwischen beim sogenannten ASSIST -,,Advanced Soldier Sensor Information System and Technology“ angelangt. Das angetretene Erbe ist dem ASSIST-Programm anzusehen. Immerhin ist es jetzt auf reine Gefechtsfeld-Belange fokussiert. Man will gewissermaßen nur noch herausfinden, was der Kriegstag mit sich bringt. Das aber nicht weniger gründlich. Darum sei die ,,Ausstattung des Soldaten mit einem System von tragbaren, unverwüstlichen Sensoren“ das Gebot der Stunde. Gedacht ist ASSIST dann als ein zweistufiges System, das zum einen sämtliche Lebensimpulse und Wahrnehmungen seines Trägers übermitteln soll. Zum anderen soll es als ein von seinem Träger unabhängiger Automatismus eine eigene Situations- und Datenanalyse betreiben. Es soll eigenständig und lernfähig sein, soll selber Objekte klassifizieren und Freund-Feind-Muster erkennen. Man erwartet von ihm, dass es Wissen aufbaut und Erfahrung sammelt. Dass es also reift. Unabhängig von seinem Transport-Wirt, dem Soldaten.25
V. Thoughtbodies Der eigenartige, mit praktisch jeder Telekommunikation verbundene dissoziative Zustand, zugleich da zu sein und an einer anderen Stelle, die Auftrennung der an die körperliche Eigenwahrnehmung gebundenen Selbstpräsenz und des an die über Medien kommunizierten Vorstellungen, Gedanken oder Bilder gebundenen Bewusstseins wird durch die vernetzten sogenannten interaktiven, d.h. die Rückkopplungsmöglichkeiten der neuesten Kommunikationssysteme ins Extrem getrieben. Die Orientierungen geraten in einen besonderen Schwebezustand, zwischen die „reale“ Positionierung des eigenen Körpers im Verhältnis zum Erdkörper über die Gravitation und die „virtuelle“ zu allen anderen belebten oder unbelebten Körpern über GPS. Keine Position ist dabei von Dauer, 23 Graff, Bernd: „Und ewig loggt das Leben. US-Soldaten zu Informationsmaschinen: Das ASSIST-Projekt“, in: Süddeutsche Zeitung, 30.09.04. 24 S. Mattern, Friedemann: „Vom Verschwinden des Computers – Die Vision des Ubiquitous Computing“, in: ders. (Hrsg.): Total vernetzt. Szenarien einer informatisierten Welt, Berlin 2003, S. 1-42. 25 Graff (wie Anm. 23).
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vermittelt Sicherheit eventuell für einen Tag, oft nur für wenige Momente. Dabei betrifft das nur den einen vergleichsweise berechenbaren Aspekt, die Datensicherheit oder Genauigkeit der räumlichen Orientierung. Irritierender gestalten sich weiterreichende psychische und soziale Aspekte in den neueren Kommunikationen. Man könnte an Elias’ Zivilisationstheorie anknüpfen. Das von ihm so genannte Interdependenzgeflecht der Gesellschaften vermochte sich nur dadurch effektiv auszubreiten, dass es zum inneren Produktionsmuster für das Verhalten des Einzelnen wurde, seine Regeln oder Orientierungen internalisiert, quasi automatisiert wurden, d.h. bestimmte Muster, Zeichen, Symbole, Gesten, Verhaltensweisen lösten ein weiteres Verhalten notwendig aus. Wenn solche internen Bindungen im Informationszeitalter wieder externalisiert werden, die bisherigen ,nur‘ symbolischen in explizit technische, informatische Anweisungen für Programme, Agenten oder Expertensysteme umgesetzt werden, hat das natürlich Folgen für die internen Wahrnehmungen und angeschlossenen Handlungen. Technische Systeme dienen wie soziale der Bewältigung komplexer Probleme, etwa der schnelleren oder risikofreieren Lösung einer Situation. So sind GPS-gestützte Systeme einsatzbereit, die dem Einzelnen Entscheidungen in wichtigen Situationen des Straßenverkehrs – etwa beim Überholen, Abstandhalten, an Kreuzungen etc. – abnehmen. Sensoren vergleichen Soll- mit Richtwerte, und regeln das Gas bei Überschreitung einfach ab. Eine jahrhundertealte Internalisierungsübung wird abgeschwächt bis aufgehoben, der ‚automatische‘ Selbstzwang in effektive technische Automatismen verschoben, interne Kontrollen in mehr oder weniger gut funktionierende technische Systeme externalisiert. Genau hier, zwischen Innen und Außen, dem Bereich der individuell-psychischen und dem der technisch-sozialen Regulation von Verhalten entsteht eine Art Oszillation zwischen an den eigenen Körper gebundenen Gefühlen und in der ‚ubiquitären‘ Vernetzung strömenden Signalen, Bildern, Texten, Tönen. Nimmt man den Gedanken ernst, dass die immer schon kritische Wahrnehmung nicht die der äußeren Dinge, sondern die des eigenen Körpers darstellt, die Selbstwahrnehmung als ganz besondere Mischung oder dichte Koppelung von Außen- und Innenwahrnehmung, deren beständiges Oszillieren nur künstlich, durch den Einsatz technischer Wahrnehmungsmedien aufgetrennt und funktional gemacht werden konnte26, so ergibt sich mit den neuesten, immer dichter an die körperliche Selbstwahrnehmung rückge26 Vgl. hierzu die Überlegungen von Claudia Benthien, vor allem in: dies.: Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse, Reinbek 1999.
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koppelten Medien ein Bruch der vertrauten Kommunikationsverhältnisse. Waren in ihnen die über die bekannten Medien (von der Schrift bis zu Film, TV etc.) transportierten Symbole oder Zeichensysteme nur vergleichsweise arbiträre Auslöser interner Verarbeitungen und entsprechender Handlungen mit recht weitem Spielraum zwischen Körper, Medien und Außenwelt, so funktionieren die Zeichen- oder Informationsketten in neuesten Medien entweder bereits autonom in automatisierten externen Prozessen oder sehr direkt, über unmittelbar an den Körper, seine Bewegungen und sein Nervensystem gekoppelte Implantationen. In beiden Fällen verläuft die intendierte Steuerung von Prozessen vergleichsweise präzis, seien es nun äußere Verkehrsflüsse oder interne Verarbeitungen von Licht- oder Schallereignissen, die von technischen Sensoren geliefert werden. Der genannte Spiel- oder Reflexionsraum ist nun damit gerade nicht verschwunden, er weitet sich eher noch aus, wird offener in dem Maße, in dem die technisch gesteuerten Systeme für oder in sich präzis und störungsfrei laufen. Es wäre durchaus eine große Illusion zu glauben, dass die Ausweitung der berechenbaren, d.h. aus der kontingenten Zeit heraus genommenen Prozesse den Bereich der unberechenbaren verringern oder gar auflösen würde. Die Installation eines Verkehrsleitsystems erfasst nur die für dieses System codierten und ihm angeschlossenen Elemente, bereits einen Schritt neben der Autobahn in einem Fahrzeug ohne GPS sind alle Wege offen; die Definition der Farbwahrnehmung eines vormals – durch Geburt oder Unfall – Blinden durch ein künstliches Auge löscht die Farbwahrnehmung der anderen, natürlichen Augen ja nicht aus, sie macht sie geradezu undefinierbar. Die Selbstwahrnehmung eines an solche Systeme angeschlossenen und zugleich ja mit allen übrigen Nerven nicht angeschlossenen Körpers wird auf eine neue Art prekär. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass ein Sinn oder eine Motivierung der zivilisatorischen Internalisierung die Entschärfung spontaner Willkürhandlungen darstellte, ihre ,Verhöflichung‘, die mit der Legalisierung von Gewalt, mit Systemen und Institutionen der Gewaltenteilung einherging. Verhöflichung bedeutete den ‚Einbau‘ von Hemmungen, Tabus, Scham- oder Peinlichkeitsschwellen, hieß die selbstkontrollierte Beobachtung des Anderen, und dies hieß Subjektbildung: Das meint wortwörtlich ein den Regeln der Höflichkeit unterworfenes Wesen, eines vorbildlichen Wesens mit einem internen, eigenen Modell für zivilisiertes Verhalten. Wenn nun weitere Anteile dieses Subjektmodells – selbstverständliche Verhaltensweisen oder Orientierungen in langfristig vorhersehbaren Situationen – technisch immer perfekter modelliert und dann
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in effektiven äußeren Systemen implementiert werden, wenn Selbstzwänge externalisiert werden, wird der eingespielte Abgleich von Fremdund Selbstkontrollen mindestens gestört, wenn nicht aufgelöst. Wenn die Außenwelt nicht mehr als ,lautes‘ System von Ge- und Verboten, zu akzeptierenden oder abgelehnten Vorschriften wahrgenommen wird, sondern als ein ,stilles‘, selbstlaufendes Geschehen, wenn Außenwelt und Innenwelt über programmierte Interfaces schnell ineinanderspielen ohne dass ein Situationen abwägendes, mögliche Ausgänge imaginär durchspielendes Subjekt die Prozesse unterbricht, so gibt es für diese Instanz, für ein von vielen Entscheidungen freigestelltes Ich sehr weite Felder möglicher Handlungen. Die Offenheit seines Entwurfshorizonts wächst geradezu mit der Präzisierung seiner technischen Orientierungssysteme. Schmerzlich bewusst wird dieser Freiraum in krisenhaften oder katastrophalen Momenten, bei Unfällen, Zusammenbrüchen, plötzlichen Ausfällen der Rückkopplungen von Innen und Außen. Bewusst herbeigeführt werden solche Zustände in der sogenannten Medienkunst, in ästhetischen Projekten, literarischen Experimenten, künstlerischen oder musikalischen Installationen zwischen Menschen und vernetzten Rechnersystemen. Bill Seaman hat für die dort stattfindenden flüchtigen, noch undefinierten Situationen, wo die Einzelnen zwar dicht verkoppelt mit neueren technischen Systemen sind, aber gleichzeitig ihre internen De-Regulierungen intensiver gewahr werden können, die Idee eines ‚thoughtbody‘ skizziert. Embodied events enable a physics to operate through an electrochemical vehicle of exchange to alter the subtle shape of the ,thoughtbody‘. The mutability and operative nature of computerbased environments compounds the complexity of this process. The computer is just one meaning-force-exchange mechanism in the landscape of living exchanges, albeit an extremely pervasive one. The accretive nature of context suggests that any past context can inform a future context, even if the content of that context has been displaced or recontextualized – i.e. shifted from a computerbased context to a different form of physical context or media […].27
Noch sind solche Überlegungen wohl eher für ästhetische Experimente mit technischen Systemen gültig, wo es weniger auf die Funktionalität als auf die Kommunikation der veränderten Wahrnehmungen ankommt. Aber hier wird ja nur etwas in ästhetischen Kategorien formuliert, das die ersten Schritte in die Alltagserfahrung längst gemacht hat, sich mit GPS, 27 Seaman, Bill: „The illusive nature of the context: the negotiation of the thougtbody“, in: Block, Friedrich W./Heibach, Christiane/Wenz, Karin (Hrsg.): p0es1s. Ästhetik digitaler Poesie, Ostfildern 2004, S. 229f.
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Verkehrsleitsystemen, Handyüberwachung täglich weiter ausbreitet. Hier werden Modelle für die nächste Zeit und ihren Raum ausprobiert, künftige soziale Verabredungssysteme getestet, Anbahnungen für mögliche Kommunikationen. Die älteren Ephemeriden hatten eine gerichtete Zeit mit einem gerasterten Raum operabel gemacht, die effektiven Orientierungen der Neuzeit ermöglicht. Die neueren nichtlinearen, die Einzelkörper mit sich und den anderen zurückkoppelnden Systeme liefern wohl präzisere Daten. Die damit einhergehenden subjektiven Wahrnehmungen und davon ausgelösten individuellen Handlungen sind weit weniger definier-, geschweige vorhersehbar. Zeitgleich mit der Programmierbarkeit berechenbarer Prozesse weiten sich die unberechenbaren aus. Odysseus befindet sich immer noch auf der Reise, der Blick wandert zwischen Navigationsgerät und offenem Horizont hin und her. Über Kopfhörer lauscht er dem Gesang der Sirenen.
AUTORENVERZEICHNIS Dr. Martina Dobbe Martina Dobbe lehrt Kunstgeschichte an der Universität Siegen. Sie ist Mitarbeiterin im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche und wissenschaftliche Referentin am Museum für Gegenwartskunst Siegen. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Geschichte der Kunsttheorie als Medientheorie; Phänomenologie und Bildwissenschaft; Kunst der Moderne und Gegenwart; Fotografie als theoretisches Objekt (Habilitationsprojekt) – Ausgewählte Publikationen: Querelle des Anciens, des Modernes et des Postmodernes (1999); Bernd und Hilla Becher – Fachwerkhäuser (2001); „Sehendes und leibhaftiges Sehen“, in: Celle/Schwering (Hrsg.): Ästhetische Positionen nach Adorno (2002); „Apparat – Dispositiv – Bild“, in: Bippus/Sick (Hrsg.): Industrialisierung Technologisierung von Kunst und Wissenschaft (2005). Marijana Erstiü Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Zadar und Siegen; seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Machtund Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur 1900-1930“ des Forschungskollegs Medienumbrüche an der Universität Siegen; arbeitet zurzeit an der Promotion zum Thema des Verhältnisses zwischen der bildenden Kunst und dem Film am Beispiel der Familien-Bilder bei Luchino Visconti; Herausgeberin der lit. Anthologie Europa lesen: Zagreb (2001). PD Dr. Joseph Garncarz Privatdozent für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität zu Köln und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Industrialisierung der Wahrnehmung“ am Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen. Er ist Autor des Buches Filmfassungen (1992) und hat zahlreiche Artikel zur deutschen Film- und Fernsehgeschichte in Fachzeitschriften bzw. Jahrbüchern wie Film History, Cinema & Cie, Hitchcock Annual, KINtop, Rundfunk und Geschichte sowie internationalen Sammelbänden veröffentlicht.
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Prof. Dr. Peter Gendolla Professor für Literatur, Kunst, Neue Medien und Technologien an der Universität Siegen. Zweiter Sprecher des Forschungskollegs Medienumbrüche und Leiter des Teilprojekts „Literatur in Netzen/Netzliteratur“. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Zeiterfahrung, Literatur und Medien. Aktuelle Publikationen u.a.: Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft (Mithrsg., 2004); Formen interaktiver Medienkunst (Mithrsg., 2001); Bildschirmmedientheorie – Medien – Theorien (Mithrsg., 2002); Ernst Jandl, 1925-2000: Eine Bibliographie (Mithrsg., 2004). Prof. Dr. Manfred Grauer Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität Siegen sowie Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik und Leiter des Teilprojekts „Methoden und Werkzeuge zur rechnergestützten medienwissenschaftlichen Analyse“ am Forschungskolleg Medienumbrüche an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Analyse Neuer Medien, Cluster/GridComputing sowie deren industrielle Nutzung. Zahlreiche Buch- und Aufsatzpublikationen. Prof. Dr. Walburga Hülk Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; Lehrtätigkeiten in Freiburg, Gießen, Berkeley; Forschungsschwerpunkte: Literatur des Mittelalters und der Neuzeit; Fragen der literarischen und medialen Anthropologie und der Medienästhetik; wissenschaftsgeschichtliche Themen im Kontext der Metaphoriken der „two cultures“; Publikationen u.a. zu „Schrift-Spuren von Subjektivität“ im Mittelalter, zu „Sinnesgeschichten“ in der Literatur, zu Rousseau, Kleist, Flaubert, Proust; Forschungsprojekt „Macht- und Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur“ im Rahmen des Forschungskollegs Medienumbrüche. Dipl.-Kff. Gisela Hüser Leiterin für Finanzen in einem Unternehmen des Energiesektors und Doktorandin am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik der Universität Siegen.
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PD Dr. Andreas Käuser Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Medienanthropologie und Medienavantgarde“ und wissenschaftlicher Koordinator am Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen; Forschungsschwerpunkte: Medienanthropologie, Körper- und Musikdiskurse, Medien- und Literaturgeschichte; aktuelle Publikation: Akira Kurosawa und seine Zeit (Mithrsg., 2005). Aufsätze zu medienwissenschaftlichen Themen, u.a. Medienumbrüchen. Dr. Michael Lommel Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften an der Universität Siegen. Redaktionsmitglied der Zeitschrift Navigationen – Siegener Beiträge zu Kultur- und Medienwissenschaft. Vorbereitung einer Habilitationsschrift über Samuel Becketts Medienspiele. Veröffentlichungen: Französische Theaterfilme – Zwischen Surrealismus und Existenzialismus (Mithrsg. 2004); Theater und Schaulust im aktuellen Film (Mithrsg. 2004); Der Pariser Mai im französischen Kino: 68er-Reflexionen und Heterotopien (2001); Aufsätze zu kultur-, literatur- und medienwissenschaftlichen Themen, u.a. zu Michel Foucault, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette und Samuel Beckett. Gabriele Lück Doktorandin im Teilprojekt „Mediendynamik, Prinzipien und Strategien der Fusion und Differenzierung von Medien“ am Forschungskolleg Medienumbrüche an der Universität Siegen. Arbeitet zurzeit an ihrer Dissertation zu dem Thema Der Leser als Autor – Zum Leser-Autor-Verhältnis bei Hermann Hesse. Aktuelle Publikation: „Philosophisches Patchwork’ – Zur Kunst der Kombination in Hermann Hesses Siddhartha“, in: Navigationen (2005). Prof. Dr. Ralf Schnell Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft an der Universität Siegen. Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medienforschung der Universität Siegen und Sprecher des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche sowie Mitherausgeber der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik und der Kölner Ausgabe der Werke Heinrich Bölls (27 Bde.). Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Literarische Ironie im 19. Jahrhundert; Heinrich Heine; Deutschsprachige Literatur seit 1945; Kunst, Literatur und Film im Dritten Reich; Medienästhetik; Filmtheorie. Ausgewählte neuere
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Buchpublikationen: Dichtung in finsteren Zeiten. Deutsche Literatur und Faschismus (1998); Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen (2000); Orientierung Germanistik. Was sie kann, was sie will (2000); Lexikon Kultur der Gegenwart (Hrsg., 2000); Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 (2003). Dr. Jens Schröter Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Virtualisierung von Skulptur“ am Forschungskolleg Medienumbrüche an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte digitaler Medien, Bildtheorie, Geschichte des Löschens, Geschichte der Fotografie. Aktuelle Publikationen: Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine (2004); Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? (Mithrsg., 2004). Prof. Dr. Georg Stanitzek Professor für Germanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Aktuelle Publikationen: Transkribieren. Medien/ Lektüre (Mithrsg., 2002); Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen (Mithrsg., 2004). Dipl. Biol. Dr. Matthias Uhl Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Soziale und anthropologische Faktoren der Mediennutzung“ am Forschungskolleg Medienumbrüche an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: medien-, kognitions- und neurowissenschaftlich integrierende Theorie der Mediennutzung, indischer Film, Biophilosophie. Aktuelle Publikation: Indischer Film (Mithrsg., 2004). Dr. Sonja Weber-Menges Studium der Soziologie, ev. Theologie und Kunst an der Universität Siegen. Seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Mediale Integration ethnischer Minderheiten“ am Forschungskolleg Medienumbrüche an der Universität Siegen; Publikationen: „Arbeiterklasse“ oder Arbeitnehmer? Vergleichende empirische Untersuchung zu Soziallage, Lebenschancen und Lebensstilen von Arbeitern und Angestellten in Industriebetrieben (2004). Aufsätze zu sozialwissenschaftlichen Themen, u.a. zu Migranten und Medien.
Die Titel dieser Reihe:
Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Die grausamen Spiele des »Minotaure« Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift Mai 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-345-3
Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) (Post-)Gender Choreographien / Schnitte April 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,00 €, ISBN: 3-89942-277-5
Ralf Schnell (Hg.) Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik Neurobiologie und Medienwissenschaften März 2005, 264 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-347-X
Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Spannungswechsel Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000 März 2005, 220 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-278-3
Ralf Schnell, Georg Stanitzek (Hg.) Ephemeres Mediale Innovationen 1900/2000 März 2005, 242 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-346-1
Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Problemaufriss – Forschungsstand – Bibliographie März 2005, 546 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-280-5
Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hg.) Akira Kurosawa und seine Zeit März 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-341-0
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Titel dieser Reihe: Marijana Erstic, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) Avantgarde – Medien – Performativität Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts 2004, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-182-5
Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (Hg.) Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft 2004, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-276-7
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus
Jens Schröter, Alexander Böhnke (Hg.) Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung 2004, 438 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-254-6
Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-183-3
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-181-7
2004, 334 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-279-1
Uta Felten, Volker Roloff (Hg.) Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus 2004, 364 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-184-1
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