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German Pages 284 Year 2014
Anne von Streit Entgrenzter Alltag – Arbeiten ohne Grenzen?
Gesellschaft der Unterschiede | Band 2
Anne von Streit (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Geographie der Ludwig-Maximilans-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geographien der Arbeit, Kultur- und Kreativwirtschaft sowie Stadt- und Regionalentwicklung in der Wissensökonomie.
Anne von Streit
Entgrenzter Alltag – Arbeiten ohne Grenzen? Das Internet und die raum-zeitlichen Organisationsstrategien von Wissensarbeitern
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I N H AL T
Abbildungsverzeichnis ............................................................................... 9 Tabellenverzeichnis .................................................................................. 11 1 Einleitung: Entgrenzter Alltag – Arbeiten ohne Grenzen? ........ 13 2 Die Entgrenzung von Arbeiten und Leben .................................. 19 2.1 Entgrenzung: Eine Begriffsbestimmung ...................................... 2.2 Dimensionen der Entgrenzung: Empirische Befunde ................. 2.2.1 Die Entgrenzung von Arbeitszeit ........................................ 2.2.2 Die Entgrenzung des Normalarbeitsverhältnisses: Flexible Beschäftigungsformen ........................................... 2.2.3 Die Entgrenzung von Raum ................................................ 2.2.4 Die Subjektivierung von Arbeit .......................................... 2.2.5 Die Entgrenzung von Arbeit und Leben ............................
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3 Entgrenzung und neue Anforderungen im Alltag: Konzeptionelle Ansätze .................................................................. 49 3.1 Die Wechselwirkung von Handlung und Struktur: Die Strukturierungstheorie ........................................................ 49 3.2 Alltag als der Ort, an dem alles zusammenkommt: Alltägliche Lebensführung als Analyserahmen ......................... 53 4 Alltagsräume – zu alltägliche Räume für die Geographie? ........ 59 4.1 Alltagsräume im Spiegel der geographischen Disziplingeschichte ......................................................................... 62 4.1.1 Traditionelle Geographie und Landschaftskonzept .......... 65 4.1.2 Raumwissenschaftliche Geographie: Positivistische Wende ........................................................... 70 4.1.3 Verhaltenswissenschaftliche Geographie .......................... 73 4.1.4 Humanistische Geographie .................................................. 80 4.1.5 Feministische Geographie .................................................... 83 4.1.6 Zur Entstehung von Raum im Handeln und zur Wechselwirkung von Materialität und Sozialem .............. 87 4.2 Innenraumanalyse als Analyse gesellschaftlicher Prozesse: Räume zum Leben und Arbeiten ............................................... 99 4.2.1 Zum Begriff von Privatheit ................................................. 100 4.2.2 Funktionen von Privatheit .............................................. 103
4.2.3 Die Trennung von Wohnen und Erwerbstätigkeit: Wohnräume und Wohnkultur im Wandel ........................ 104 4.2.4 Büroräume im Wandel: Vom Arbeiten zum Leben im Büro ..................................................................... 119 5 Forschungsperspektive ................................................................. 133 5.1 Eigene Forschungsperspektive .................................................... 133 5.2 Präzisierung der Fragestellung .................................................... 139 6 Anlage und Vorgehensweise der empirischen Untersuchung .. 141 6.1 Design und Durchführung der Untersuchung ............................ 6.1.1 Methodische Vorgehenweise: Methodenkombination ... 6.1.2 Fallauswahl und Sampling ................................................. 6.1.3 Das Interview als zentrales Erhebungsinstrument .......... 6.2 Auswertung .................................................................................... 6.2.1 Codierung und Fallbeschreibung ...................................... 6.2.2 Typenbildung ....................................................................... 6.3 Darstellung der empirischen Ergebnisse ....................................
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7 Entgrenztes Arbeiten in einer wissensintensiven, kreativen Branche ........................................................................ 155 7.1 Die Internet-Branche als Teilbereich der cultural industries: Eine sektorale Einordnung .......................................................... 7.2 Die Internet-Branche in Deutschland und in München ............ 7.2.1 Firmen und Beschäftigte .................................................... 7.2.2 Ein urbanes Phänomen: Standortmuster der Branche .... 7.3 Münchner Beschäftigte in der Branche: Ergebnisse einer Befragung ...................................................................................... 7.3.1 Demographie, Wohnorte und Beschäftigungsverhältnisse ........................................................................... 7.3.2 Flexibles Arbeiten in der Branche: Arbeitszeiten und Arbeitsorte ............................................................................ 7.4 Eine Analyse der Arbeitsorganisation: Projektarbeit und entgrenztes Arbeiten ..................................................................... 7.4.1 Tätigkeitsprofile und Projektablauf .................................. 7.4.2 Entgrenzung von Arbeitszeiten ......................................... 7.4.3 Entgrenzung von Arbeitsorten: Face-to-face vs. virtuell 7.4.4 Soziale Entgrenzung: Netzwerkarbeitsmarkt .................. 7.5 Pfade in die Selbstständigkeit ......................................................
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8 Entgrenzung und Grenzen ziehen: Der Alltag selbstständiger Internetdienstleister ..................................................................... 185 8.1 Alltagsarrangements und die Kategorien zu ihrer Beschreibung ........................................................................ 186 8.2 Alltagsarrangement der Vermischung ........................................ 190 8.2.1 Zur Rolle von Anforderungen aus anderen Lebensbereichen und Ressourcen: Zwei Fallbeispiele ... 193
8.2.2 Motive und Orientierungen ................................................ 8.2.3 Praktiken der Alltagsgestaltung ........................................ 8.2.4 Diskussion ............................................................................ 8.3 Alltagsarrangements der wechselnden Prioritäten .................... 8.3.1 Die Rolle von handlungsleitenden Orientierungen bei der Alltagsgestaltung: Drei Fallbeispiele ................... 8.3.2 Zusammenfassende Darstellung der Merkmale .............. 8.4 Alltagsarrangements der Separation ........................................... 8.4.1 Zusammenfassende Darstellung ....................................... 8.4.2 Trennen zu Hause: Ein Fallbeispiel .................................. 8.4.3 Diskussion ............................................................................ 8.5 Zusammenfassende Diskussion der Alltagsarrangements ....... 8.6 Arbeit jenseits des Büroalltags: Arbeiten zu Hause und an anderen Orten ........................................................................... 8.6.1 Von der Herausforderung, zu Hause zu arbeiten ............ 8.6.2 Arbeiten am Büroarbeitsplatz ............................................ 8.6.3 Die Bedeutung des Zuhauses .............................................
201 203 209 210 212 221 225 227 230 233 234 237 239 242 243
9 Die Alltagsgestaltung von kreativen Wissensarbeitern: Resümee und Ausblick ................................................................. 245 9.1 Ergebnisse der Rekonstruktion von Alltagspraktiken selbstständiger Internetdienstleister ........................................... 246 9.1.1 Grenzziehungen: Nicht das ganze Leben wird zur Arbeit ........................................................................ 246 9.1.2 Handlungsleitende Faktoren für die Alltagsgestaltung .. 247 9.1.3 Die Rolle von zeitlichen, räumlichen und materiellen Praktiken .......................................................... 250 9.2 Die Bedeutung räumlicher Kontexte .......................................... 253 9.3 Die Rolle von Geschlecht ............................................................. 256 9.4 Selbstständige Internetdienstleister als Prototypen neuer Arbeitsformen? Einige kritische Anmerkungen ....................... 258 Literaturverzeichnis ......................................................................... 261
AB B I L D U N G S V E R Z E I C H N IS
Abbildung 1: Index der Entwicklung der Selbstständigen nach Geschlecht 1991-2008 ...................................................... 31 Abbildung 2: Die Entgrenzung von Arbeit auf betrieblicher Ebene ..... 36 Abbildung 3: Räumliche Entgrenzung von Arbeit für Individuen ........ 38 Abbildung 4: Anteil der Erwerbstätigen, die im Jahr 2008 hauptsächlich zu Hause gearbeitet haben ........................ 41 Abbildung 5: Notwendige Eigenschaften eines Raumkonzepts zur Betrachtung von Alltagsräumen ...................................... 61 Abbildung 6: Veränderung in den geographischen Forschungsinteressen und -ansätzen ................................ 63 Abbildung 7: Die Raum-Zeit-Pfade eines Individuums innerhalb eines Tages ....................................................................... 76 Abbildung 8: Analyseschema für Tätigkeitsmuster von Haushaltsmitgliedern ....................................................... 77 Abbildung 9: Kieler Adelshaus nach Plänen von 1569 ....................... 108 Abbildung 10: Kieler Adelshaus nach dem Umbau nach Plänen von 1769 ...................................................................... 109 Abbildung 11: Pieter de Hooch: Die Morgentoilette, ca. 1658-60 ..... 110 Abbildung 12: Bürgerlicher Wohnraum um 1900 .............................. 112 Abbildung 13: Frankfurter Küche von 1927 ....................................... 113 Abbildung 14: Werbung des Computerherstellers ACER .................. 118 Abbildung 15: Larkin Building, Buffalo N.Y, 1905, 1950 abgerissen .................................................................... 124 Abbildung 16: Bürolandschaft ............................................................ 125 9
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Abbildung 17: Zellenbüro ................................................................... 126 Abbildung 18: Business Club .............................................................. 129 Abbildung 19: Pausenzone in einem Business Club ........................... 130 Abbildung 20: Die Herstellung von Alltag ......................................... 135 Abbildung 21: Tagesablaufplan (von einer Interviewpartnerin ausgefüllt) .................................................................... 149 Abbildung 22: Mitarbeiter der Internet-Branche in der Region München ...................................................................... 161 Abbildung 23: Internet-Branche im Raum München .......................... 164 Abbildung 24: Arbeitszeiten (Wie viele Stunden haben Sie in der letzten Woche gearbeitet?) .......................................... 169 Abbildung 25: Wochenendarbeit (An wie vielen Wochenenden haben Sie im letzten Monat gearbeitet?) ..................... 169 Abbildung 26: Arbeitszeiten und Arbeitsorte (Wie häufig haben Sie in den letzten zwei Wochen zu den folgenden Zeiten und an den folgenden Orten gearbeitet?) .................... 170 Abbildung 27: Tätigkeitsbereiche bei der Erstellung einer Internetseite ................................................................. 173
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T AB E L L E N V E R Z E I C H N I S
Tabelle 1: Lage von Arbeitszeiten 1991, 2003, 2005, 2008 (Anteile in Prozent) ............................................................................ 27 Tabelle 2: Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologie (Anteile in Prozent) ............... 34 Tabelle 3: Konnotationen der Begriffe place und space ....................... 81 Tabelle 4: Interviewpartner mit dem Alltagsarrangement Vermischung ...................................................................... 191 Tabelle 5: Alltagsarrangement der wechselnden Prioritäten ............... 211 Tabelle 6: Interviewpartner mit dem Alltagsarrangement Separation ........................................................................... 226 Tabelle 7: Die Alltagsarrangements im Überblick und die Kategorien zu ihrer Beschreibung ...................................... 235 Tabelle 8: Arbeitsorte der Befragten nach Alltagsarrangements ........ 238
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1 E I N L E I T U N G : E N T G R E N Z T E R A L L T AG – AR B E I T E N O H N E G R E N Z E N ?
„Ja, ich habe ja mein Büro im Grunde immer bei mir. Ich habe meinen Laptop, da ist alles drauf und ja, das Büro, das kann theoretisch überall sein. Und bei mir ist dann eher so die Entscheidung, wann will ich das denn nicht haben? Also man ist permanent verfügbar und dann im Moment ist es auch so, dass ich rund um die Uhr arbeiten könnte, aber will ich das? Das ist eher so das Problem, wie schütze ich meine Freizeit, wie nehme ich meine Freizeit? [...].“
Dieses Zitat eines Interviewpartners1 zeigt das Dilemma des Menschen in der modernen Arbeitswelt. Technologien wie Internet, Laptop oder auch Mobiltelefon haben unsere Art zu arbeiten maßgeblich verändert: Wir könnten inzwischen immer und überall arbeiten. Diese Möglichkeit erfordert ein Nachdenken darüber, wie wir mit dieser Herausforderung umgehen. Eine Entwicklung, die sowohl die Chance auf selbstbestimmtes Arbeiten wie aber auch das Risiko, dass alle Lebensbereiche den Anforderungen der Erwerbsarbeit untergeordnet werden, beinhaltet – oder zumindest eine Grenzziehung zwischen Berufs- und Privatleben schwieriger macht. Der technische Fortschritt hat vom ortsfesten Telefon zum Handy, vom Brief zur Email und von der Schreibmaschine zum mobilen Büro in
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Die obligatorische Fußnote zur Verwendungsweise des Genus: Männliche und weibliche Formen kommen immer systematisch dann vor, wenn es sich explizit um Frauen oder Männer handelt. Ich habe mich bemüht, männliche und weibliche Formen ansonsten entweder geschlechtsneutral oder beidgeschlechtlich zu verwenden. Der besseren Lesbarkeit geschuldet überwiegt wohl die männliche Form. 13
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Form des Laptops geführt. Wir sind allzeit erreichbar und der lange Arm der Arbeit reicht ins Wochenende, in den Urlaub und ins Familienleben. Die aktuelle Debatte um die Verlängerung und Flexibilisierung der Arbeitszeiten – diskutiert als Notwendigkeit, um nicht im internationalen Wettbewerb zurückzufallen – zeigt das ebenso wie die Debatte um die work-life-balance, wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie inzwischen genannt wird. Zweifellos wird das praktische Alltagshandeln von Menschen in unserer Gesellschaft wesentlich davon bestimmt, wie die Beziehung der Erwerbstätigkeit zu den anderen Tätigkeitsfeldern – oder anders formuliert: Das Verhältnis von Arbeit und privatem Leben – gestaltet ist. Vielen Menschen galt – und gilt zum Teil immer noch – eine klare zeitliche Trennung in Arbeitstag, Feierabend und Wochenende sowie eine klare räumliche Trennung von beruflichen Tätigkeiten außerhalb der Wohnung und dem privaten Leben zu Hause als normal. Diese strukturelle Trennung von Arbeit und anderen Lebensbereichen ist das Ergebnis einer vergleichsweise jungen historischen Entwicklung und wurde auch von der Wissenschaft lange als gegeben angesehen: „Die vermeintliche ‚Normalität‘ einer starren strukturellen Trennung von ‚Arbeit‘ und ‚Leben‘ bezog sich schließlich darauf, dass die gewohnte Struktur des Alltags in industriellen Gesellschaften als letztlich irreversibler Modernisierungsfortschritt betrachtet wurde.“ (Hildebrandt et al. 2000: 27) Dieses für westliche industrialisierte Gesellschaften charakteristische Strukturmoment scheint derzeit in Bewegung zu geraten. Insbesondere moderne Informations- und Kommunikations-Technologien schaffen die Voraussetzungen, dass die im Fordismus etablierte Trennung von Haus und Betrieb, von Arbeitszeit und Freizeit relativiert bzw. teilweise rückgängig gemacht wird. Im Zentrum dieser Untersuchung steht also die Frage, welche Auswirkungen die Flexibilisierungstendenzen in der Erwerbsarbeit, die sich u.a. in einer zunehmenden Ortsunabhängigkeit und in der zeitlichen Variabilität von Arbeitszeiten äußern, auf die private Lebenssphäre von Menschen haben. Dabei soll aus einer subjekt- und handlungstheoretischen Perspektive danach gefragt werden, wie Individuen unter räumlich und zeitlich flexiblen Arbeitsbedingungen ihren Alltag gestalten. Die Veränderungen in der Arbeitswelt ziehen ohne Zweifel Veränderungen des privaten Lebens nach sich (und natürlich auch umgekehrt). Deshalb lassen sich meiner Meinung der aktuelle Wandel und vor allem die Frage, wie Menschen mit diesem Wandel umgehen nur verstehen, wenn unser Blick sich nicht nur einseitig auf die ökonomischen Veränderungen richtet. Deshalb wollte ich mit Menschen über ihre berufliche Tätigkeit innerhalb ihres gesamten Alltagszusammenhangs sprechen und 14
EINLEITUNG
nachdenken. Wie gehen Menschen mit den Veränderungen der postulierten neuen Arbeitswelt um? Wie deuten sie die Veränderungen und wie gestalten sie ihre Handlungsspielräume aus? Die Alltagsperspektive erlaubt mir hier einen ganzheitlichen Blick auf die Anforderungen, die sich sowohl aus dem beruflichen wie auch privaten Bereich ergeben und vor allem darauf, wie Menschen diese Anforderungen für sich interpretieren. Zudem lässt sich mit dieser Perspektive analysieren mit welchen Strategien Menschen diesen Anforderungen begegnen sowie mit welchen konkreten Praktiken sie Neu-Strukturierungen oder eben neue Grenzziehungen in ihrem Alltag vornehmen. Diese Fragen untersuche ich anhand von Selbstständigen im Bereich der Internetwirtschaft, da diese junge Branche als ‚Vorreiterbranche‘ für Entwicklungen gilt, wie sie für immer mehr Menschen in ihrer Arbeit Realität werden und werden könnten: Trends wie die Flexibilisierung und Subjektivierung von Arbeit mit wechselnden Arbeitszeiten und -orten sowie dem permanenten Zwang zur Selbstvermarktung zeigen sich hier wie unter einem Brennglas. Es handelt sich um eine volatile Branche mit einem hohen Anteil an flexiblen Arbeitsverhältnissen sowie an formal selbstständigen Ein-Personen-Firmen, in der projektförmige Arbeitsstrukturen vorherrschend sind. Die Selbstständigen sind vielfach mit schwankenden Auftragsvolumina konfrontiert und ökonomische Unsicherheiten müssen nicht selten durch das private und familiäre Umfeld abgefedert werden. Zudem ist speziell bei selbstständigen Internetdienstleistern ein selbstverständlicher und gewandter Umgang mit modernen Kommunikations- und Informationstechnologien vorauszusetzen und sie haben potenziell die Möglichkeit, sich ihre Arbeitszeit selbst einzuteilen und die Entscheidungsfreiheit, den Arbeitsort selbst zu wählen Dieser größeren Autonomie steht allerdings gleichzeitig die Anforderung nach der Fähigkeit erhöhter Selbstorganisation gegenüber, ohne die die größeren Freiheitsgrade nicht genützt werden können. Meine Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: Zunächst werde ich in Kapitel 2 anhand des soziologischen Konzeptes der Entgrenzung den sich seit zwei Jahrzehnten verstärkt vollziehenden Wandel der Erwerbsarbeit darstellen. Ein Ziel dieses Kapitels ist, die Reichweite der Veränderungen im Bereich der Arbeitswelt anhand empirischer Befunde darzustellen. Insbesondere die Veränderungen in den räumlichen Arbeitsbezügen von Beschäftigten, die sich durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien ergeben, stehen hier im Mittelpunkt. In Kapitel 3 stelle ich die konzeptionellen Ansätze dieser Arbeit vor. Mit Hilfe der Strukturationstheorie von Anthony Giddens soll theore15
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
tisch gefasst werden, wie man sich den Zusammenhang zwischen veränderten Strukturen und dem Handeln von Individuen vorstellen kann. Durch die Veränderungen in der Arbeits- und Lebenswelt von Menschen entsteht einerseits neuer Spielraum zum Handeln, andererseits steigen aber auch die Anforderungen an Menschen, aktiv eine Balance zwischen Erwerbsarbeit und anderen Lebensbereichen in ihrem Alltag herzustellen. Allerdings handelt es sich bei der Strukturationstheorie von Giddens um eine Sozialtheorie, die nur schwer für die empirische Forschung handhabbar gemacht werden kann. Deshalb wird, um die individuellen Strukturierungsleistungen von Erwerbsarbeit und Alltag in sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht empirisch offen erfassen zu können, die „Alltägliche Lebensführung“ als das analytische Rahmenkonzept für diese Arbeit eingeführt. Letztendlich liegt meiner Arbeit eine subjekt-, handlungs- und praxisorientierte Perspektive zugrunde, aus der ich beschreiben möchte, wie meine Befragten ihren Alltag gestalten und mit welchen Praktiken sie verschiedene Lebensbereiche vermischen bzw. trennen. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit Alltagsräumen bzw. mit Räumen und Orten, die für Individuen in ihrem Alltag relevant sind. Da es sich dabei zu einem großen Teil um Innenräume handelt, ist dies für die Geographie eine ungewöhnliche Maßstabsebene und Perspektive. Anhand der Disziplingeschichte der Geographie mit ihren jeweiligen Forschungsansätzen werde ich darstellen, warum diese Alltagsräume zu keiner Zeit im Mittelpunkt geographischer Forschungen standen und vor allem darlegen, welche aktuelle Forschungsansätze und Raumkonzepte aus der Humangeographie und Soziologie für eine Analyse von Alltagsräumen und räumlichen Entgrenzungsprozessen aus einer subjekt-, handlungs- und praxisorientierten Perspektive sinnvoll und geeignet sind. Der zweite Teil des Kapitels beschäftigte sich mit der historischen Entwicklung des Hauses, bzw. der Wohnung und des Büros als Arbeitsort und vor allem wie sich die Trennung von Wohnen und Arbeiten – wie auch die Herausbildung von Privatheit und Öffentlichkeit – seit dem späten Mittelalter in Westeuropa vollzogen hat. Gleichzeitig dient mir diese Innenraumbetrachtung als Beispiel für das in diesem Kapitel vorgestellte Raumkonzept, mit dem ich zeigen möchte, dass sich auch anhand von Innenräumen gesellschaftliche Prozesse analysieren lassen, wie die Geographie dies für höhere Maßstabsebenen in Anspruch nimmt. Im fünften Kapitel ziehe ich ein Zwischenfazit, entwickle meine Forschungsperspektive und präzisiere die Fragestellung meiner Untersuchung. Das sechste Kapitel widmet sich meinen methodischen Überlegungen und Vorgehensweisen. 16
EINLEITUNG
Die Darstellung der empirischen Ergebnisse erfolgt in den Kapiteln 7 und 8. Zunächst befasse ich mich mit der Internet-Branche in Deutschland und am Standort München sowie mit der Arbeitsorganisation und den Arbeitsbedingungen für die in der Branche Tätigen. Hier stehen die Arbeitsstrukturen, die den beruflichen Alltag meiner Untersuchungsgruppe prägen – also gewissermaßen die objektiven ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen – im Mittelpunkt. In Kapitel 8, dem Herzstück der Arbeit, wende ich mich anhand der empirischen Rekonstruktion der Alltagsarrangements meiner Interviewpartner der Frage zu, welche Konsequenzen die entgrenzten Arbeitsbedingungen für ihre Alltagsgestaltung haben und mit welchen räumlichen und zeitlichen Praktiken die Befragten in ihrem Alltag Trennungen zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen herstellen. Einen besonderen Fokus werde ich dabei auf die Analyse der Arbeitsorte und der räumlichen Praktiken legen. Um Erklärungen für das jeweilige Handeln zu finden, wende ich mich vor allem den individuellen Handlungsentwürfen, subjektiven Orientierungen und biographischen Vorbildern meiner Interviewpartner zu. Die Arbeit schließt mit der Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse in Kapitel 9.
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2 DIE ENTGRENZUNG
VON
AR B E I T E N
UND
LEBEN
Bezahlte Arbeit ist für die Existenzsicherung und soziale Identität der meisten Menschen in unserer Gesellschaft nach wie vor zentral. Das bereits vor rund 30 Jahren prognostizierte „Ende der Arbeitsgesellschaft“ (vgl. Offe 1984) ist nicht eingetreten – im Gegenteil: Heute sind mehr Menschen erwerbstätig als je zuvor1, aber die Arbeit hat sich gewandelt. (Erwerbs-)Arbeit ist in den letzten Jahrzehnten vielfältiger und heterogener geworden. Die wesentlichen Veränderungen im Bereich der Erwerbsarbeit können mit den Stichworten Pluralisierung von Arbeitsformen, Flexibilisierung von Arbeitszeiten und -orten sowie der Deregulierung von Arbeitsverhältnissen (vgl. Voß 1998: 473) umschrieben werden. Diese grundlegenden Veränderungen im Erwerbsbereich sind auch ein Indiz für gesellschaftliche Umbruchprozesse – sie beeinflussen unmittelbar die alltägliche Lebensweise von Menschen und gleichzeitig wirken Veränderungen in der Lebensweise auf die Arbeitswelt zurück (vgl. Bartelheimer/Wittemann 2003). Arbeit in den neuen Medien bzw. der Internet-Branche – wie sie die Interviewpartner der vorliegenden Untersuchung leisten – wird vielfach als Vorreiter für den allgemeinen Wandel der Arbeit – zumindest im Bereich qualifizierter Informations- und Wissensarbeit – gesehen. Insbe-
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Allerdings hat das Arbeitsvolumen, das als die Summe aller von den Erwerbstätigen geleisteten Arbeitsstunden pro Jahr definiert wird, in den letzten Jahrzehnten tendenziell abgenommen. Diese Abnahme lässt sich vor allem durch die Zunahme von so genannten atypischen Beschäftigungsanteilen (vor allem Teilzeit) und den gestiegenen Erwerbsanteil (durch die erhöhte Frauenerwerbstätigkeit) erklären (vgl. Hacket/Janowicz/Kühnlein 2004: 287). 19
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
sondere folgende strukturelle Wandlungsprozesse verkörpern flexible Wissensarbeit in prototypischer Form: • alltäglicher Umgang mit dem Computer und anderen Informationsund Kommunikationstechnologien • Entwicklung der Selbstständigen ohne Mitarbeiter, so genannte Solobzw. Alleinselbstständige • Wertewandel in der Arbeit/gestiegene Ansprüche an die Arbeit • projektförmiges Arbeiten in Netzwerken • zunehmende Selbstorganisation aufgrund von Flexibilisierung Das folgende Kapitel hat das Ziel, die Arbeitsweise der Untersuchungsgruppe in den allgemeinen Wandel der Erwerbsarbeit einzubetten und greift dazu die derzeit beobachtbaren strukturellen Wandlungsprozesse auf. Ich nütze das Entgrenzungskonzept als Rahmen, um darzustellen, welche Formen diese Veränderungen in der Arbeitswelt, mit denen sich eine wachsende Zahl von Beschäftigten auseinandersetzen muss, konkret annehmen. Zudem eignet sich das Konzept sowohl gegenwärtige Wandlungstendenzen von Arbeit als auch die historische Entwicklung von Arbeit in zeitdiagnostisch theoretisch gehaltvoller Weise zu beschreiben (vgl. Kratzer/Sauer 2003, Manning/Wolf 2005).
2.1 Entgrenzung: Eine Begriffsbestimmung Der Begriff der Entgrenzung hat sich als Bezeichnung für zentrale Merkmale des gegenwärtigen sozioökonomischen Wandels in vielen sozialwissenschaftlichen Debatten etabliert (vgl. z.B. Minssen 2000, Kratzer 2003, Voß 1998, Döhl/Kratzer/Sauer 2001), um mit ihm die besondere Qualität dieses Wandels zu beschreiben: Nämlich die Infragestellung bislang konstitutiver gesellschaftlicher Grenzziehungen (vgl. Minssen 2000, Beck/Bonß 2001, Beck/Lau 2003). Eine theoretische Verankerung hat das Konzept in der von Ulrich Beck und Anthony Giddens entwickelten Theorie der reflexiven Modernisierung, die einen Umbruch innerhalb der Moderne, den Übergang von der „ersten“ Moderne zur „zweiten“ bzw. „reflexiven“ Moderne postuliert. Die Theorie der reflexiven Modernisierung behauptet „einen MetaWandel, in dem sich die Koordinaten, Leitideen und Basisinstitutionen einer bestimmten, längere Zeit stabilen Formation westlicher Industriegesellschaften und Wohlfahrtsstaaten verändern“ (Beck/Bonß/Lau 2001: 31). Für die „erste Moderne“ werden spezifische „Grenzziehungen“ z.B. zwischen sozialen Sphären, zwischen Öffentlich und Privat oder zwischen Wissen und Nicht-Wissen als typisch erachtet. Der Begriff 20
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
Entgrenzung hebt hervor, dass diese im Prozess der ersten Moderne und in der Industrialisierung nach und nach etablierten Grenzen wieder brüchig werden und erodieren. Damit geraten auch gewachsene Normalitäten und Normalitätsunterstellungen ins Wanken. Allerdings betont die Theorie der reflexiven Moderne in Abgrenzung zu postmodernen Theorien, dass „individuelles und institutionelles Entscheiden neue Ab- und Eingrenzungspraktiken voraussetzt“ (Beck/Bonß/Lau 2001: 39) und diese Grenzziehungen selbst hergestellt werden müssen. Im Bereich der Arbeitsforschung verweist der Begriff auf verschiedene Flexibilisierungs- und Deregulierungstendenzen, die derzeit beobachtbar sind (vgl. dazu grundlegend Gottschall/Voß 2003, Minssen 2000, Kratzer 2003). Gottschall und Voß (2003: 18; Herv. i. Orig.) fassen den Begriff „Entgrenzung von Arbeit“ als eine leitende Tendenz der derzeitigen Veränderung von Arbeit, „[…] die potentiell alle sozialen Ebenen der Verfassung von Arbeit und Erwerb betrifft: übernationale und gesamtgesellschaftliche Strukturen von Arbeit, die Betriebsorganisation nach außen und innen, Arbeitsplatzstrukturen, Marktpositionen und das unmittelbare Arbeitshandeln sowie schließlich auch die Arbeitssubjekte, d.h. ihre Lebensverhältnisse“.
Das Konzept bezieht sich jedoch nicht nur auf Flexibilisierungs- und Deregulierungsprozesse im Erwerbsbereich, es lassen sich mit ihm auch Grenzverschiebungen zwischen Arbeit und dem privaten Leben thematisieren (vgl. Henninger 2003: 165). Arbeit steht in diesem Zusammenhang für den Bereich der Erwerbsarbeit sowie der beruflichen Weiterbildung und das Engagement in berufsbezogenen Netzwerken und Organisationen. Leben dagegen steht für den gesamten Bereich der NichtErwerbstätigkeit, also für die Reproduktion der eigenen Arbeitskraft, für Familien-, Sorge- und Haushaltsarbeit und für gesellschaftliches und politisches Engagement sowie für Freizeit.2 Mit dem Konzept können also sowohl Veränderungen, die im Erwerbsbereich wie auch Veränderungen, die in den angrenzenden gesellschaftlichen Sphären stattfinden und zu Veränderungen in der jeweilig anderen Sphäre führen, thematisiert werden (vgl. Gottschall/Voß 2003: 16).
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Diese Begriffsverwendung ist nicht unproblematisch, gerade weil die Übergänge zum Teil fließend sind. Sie soll aber zeigen, dass die vermeintlich freie Zeit nicht immer Freizeit ist, sondern auch von Arbeit (wenn auch nicht erwerbsförmiger Arbeit) und durch Anforderungen und Verpflichtungen geprägt sein kann (vgl. Henninger 2003: 165). 21
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
In diesem Sinne weiter gefasst definieren Gottschall und Voß (2003: 18; Herv. i. Orig.) „Soziale Entgrenzung“3 als Prozess, „in dem unter bestimmten historischen Bedingungen entstandene gesellschaftliche Strukturen der regulierenden Begrenzung von sozialen Vorgängen ganz oder partiell erodieren oder sogar bewusst ausgedünnt, wenn nicht gar aufgelöst und dabei mehr oder weniger dauerhaft dynamisiert werden [sollen]“.
Der Entgrenzungsbegriff wird im arbeits- und industriesoziologischen Diskurs nicht einheitlich verwendet.4 Dennoch weisen die verschiedenen Ansätze einige Gemeinsamkeiten auf: So liegt allen Ansätzen, die Veränderung von Arbeit als Entgrenzung diskutieren, die Vorstellung zu Grunde, dass Grenzziehungen, die für Arbeit im Fordismus-Taylorismus charakteristisch und strukturbildend waren, schwächer werden, bzw. sich auflösen. So verbindet das Konzept der Entgrenzung von Arbeit nach Kratzer (2003: 22) die empirisch beobachtbaren Entwicklungstendenzen von Arbeit mit der These, dass es zu einem Umbruch charakteristischer Elemente fordistisch-tayloristischer „Normalarbeit“ komme. „Fordistisch-tayloristische ‚Normalarbeit‘, verstanden als Ausdruck einer „typischen“ und ‚historischen‘ Organisationsform von Arbeit, ist idealtypisch durch spezifische Grenzen auf institutioneller und subjektiver Ebene charakterisiert: Auf institutioneller Ebene ist Normalarbeit fordistisch-tayloristischer Prägung durch die strikte Trennung von Arbeitswelt und Lebenswelt und die Abgrenzung bzw. Begrenzung von Arbeit im Rahmen der vertikalen und horizontalen Arbeitsteilung in den Betrieben gekennzeichnet. Diese institutionellen Grenzen korrespondieren mit Grenzen auf der Ebene des Subjekts. Die Stellung des Subjekts im Arbeitsprozess wird maßgeblich durch die Trennung von Person und Arbeitskraft geprägt, deren motivationales Komplement eine eher instrumentelle Erwerbs- und Arbeitsorientierung ist, in der das Bewusst3
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Die Entgrenzung gesellschaftlicher Strukturen vollzieht sich nach Günter Voß (1998: 474) in verschiedenen sozialen Dimensionen wie Zeit, Raum, Sozialorganisation, Tätigkeitsinhalten, Motivation, die ich bei der Darstellung der Ergebnisse im empirischen Teil dieser Arbeit wieder aufnehmen werde. Es lassen sich zwei grundlegende Diskussionsstränge unterscheiden: Kratzer (2003) und Döhl et al. (2001) fassen Entgrenzung von Arbeit als betriebliches Rationalisierungsprojekt, „das in den weiteren Kontext übergreifender Reorganisationsprozesse eingebettet ist“ auf (Kratzer 2003: 39). Die Analyse konzentriert sich vor allem auf die betriebliche Ebene und „Entgrenzungsprozesse“ werden durch betriebliche Veränderungsprozesse verursacht. Voß (1998) dagegen fokussiert stärker auf die Auswirkungen von Entrgrenzungsprozessen auf arbeitende Menschen, auch wenn er von ähnlichen Wirkungszusammenhängen ausgeht (vgl. Kleemann 2005: 53).
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
sein beschränkter und eingeschränkter Autonomie den Kern bildet.“ (Kratzer 2003: 22-23)
Betriebliche Strategien, die auf eine Entgrenzung von Arbeit abzielen, zeichnen sich nun dadurch aus, dass die Grenzen zwischen Arbeitswelt und Lebenswelt bzw. zwischen Person und Arbeitskraft zur Disposition stehen: „Damit wird zugleich das in den institutionellen und subjektiven Grenzziehungen regulierte Verhältnis von Arbeitswelt und Lebenswelt, von Arbeitskraft und Person mittelbar oder unmittelbar selbst zum Bezugspunkt der Rationalisierung.“ (Kratzer 2003: 23) Zudem beziehen sich alle Ansätze entweder implizit oder explizit auf die theoretische Figur des Fordismus, indem sie fordistische Normalitätsmodelle der Betriebs- und Arbeitsorganisation sowie damit verbundene Arbeitsbedingungen und lebensweltliche Strukturen einer sich verändernden ‚neuen‘ Situation gegenüberstellen. Diese neue Situation wäre ohne die Bezugnahme auf den Gegenhorizont des Fordismus nicht benennbar: „Das gilt für die Thematisierung etwa eines Endes der Massenproduktion oder der rigiden Arbeitsteilung nach tayloristischen Prinzipien, der Herrschaft durch Autonomie, einer Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses und von Normalbiographien und Veränderungen im Verhältnis von Arbeit und Leben gleichermaßen.“ (Kleemann 2005: 54)
Dem Konzept liegt also eine historische Perspektive zu Grunde, durch die erst von einem Prozess der Entgrenzung gesprochen werden kann. Auch regulationstheoretische Ansätze, die bisher die umfassendste Konzeption von „Fordismus“ und „Postfordismus“ als historischen Formationen gesellschaftlicher Ordnung vorgelegt haben, stellen der als „postfordistisch“ bezeichneten Gegenwart, deren Konturen noch unbestimmt sind, die theoretische Figur des Fordismus als Gegenhorizont gegenüber (vgl. Kleemann 2005: 55). Trotz ihres interdisziplinären Anspruchs ist die Regulationstheorie ein makroökonomischer Erklärungsansatz, bei dem gesellschaftliche Verhältnisse und hier speziell Veränderungen in der Lebensweise, die letztendlich zu Veränderungen auf der Nachfrageseite führen, unterbelichtet bleiben (vgl. Baethge/Bartelheimer 2005: 52). Durch den Fokus auf gesellschaftliche Makrostrukturen bleibt die Frage nach den Strukturen des „postfordistischen Alltags“ unbeantwortet; eine Frage, der sich diese Arbeit (allerdings ohne das theoretische Programm der Regulationstheorie explizit zu berücksichtigen) im weiteren Verlauf annehmen möchte. 23
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Im Bereich der Erwerbsarbeit ist die historische Referenzfolie, die dem Konzept zu Grunde liegt, die idealtypisierende Rekonstruktion „fordistisch-tayloristischer Normalarbeit“. Normalarbeit wird als die in einer historisch-konkreten Phase in normativer und struktureller Hinsicht dominierende Erwerbsform von Arbeit verstanden, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet: Merkmale fordistisch-tayloristischer Normalarbeit5 • unbefristete Vollbeschäftigung als normativ und strukturell dominierende Beschäftigungsform, die institutionell abgesichert ist; • standardisierte und individuell invariable zeitliche Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und anderen Lebensbereichen, die kollektiv gültig sind; • Bindung von Arbeit an den Betrieb und damit eine räumliche Trennung von Produktion und Reproduktion; • weitgehende Festlegung der Leistungsbewertung und Entgeltbemessung; • Betriebe sind bestrebt, die Arbeitskraft im Rahmen rationalbürokratischer Betriebsorganisation zu objektivieren und austauschbar zu machen; • dominierender (und diskriminierender) Arbeitsbegriff, der auf die bezahlte Erwerbsarbeit begrenzt ist, und der Reproduktionsarbeit und Freizeit einen anderen Stellenwert zumisst und eine andere Entwicklungslogik zuschreibt; • die Organisationsform von Arbeit wird durch spezifisch arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen institutionell stabilisiert (vgl. Kratzer/Sauer 2003: 95). Erst durch diese Referenzfolie wird bestimmbar, ob und welche bislang konstitutiven Grenzen in Bewegung geraten. Als epochenprägendes Arrangement korrespondierte fordistischtayloristische Normalarbeit mit einer Reihe von Elementen des gesellschaftlichen ‚Normal‘-Alltags wie einem geregelten Privatleben mit regelmäßigen, von der Erwerbsarbeit räumlich und zeitliche getrennten Freizeitaktivitäten und einem vom Arbeitsort getrennten Wohnort sowie einem geregelten Familienleben mit klarer geschlechtsspezifischer Ar5
24
Diese ‚Normalitäten‘ fordistischer Normalarbeit haben natürlich für durchaus große Gruppen von Beschäftigten nicht oder nur eingeschränkt gegolten (z.B. Frauen in Teilzeit oder Migranten in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen). Sie galten vor allem für männliche Beschäftigte und waren entlang der Normalität des männlichen Alltags und Lebensverlaufs konstruiert (vgl. Eckart 1993 zitiert nach Jurczyk/Voß 2000: 162).
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
beitsteilung im Hinblick auf die Zuständigkeiten für Erwerbs- und Familienarbeit. Zudem wurde dieses fordistische Normalitätsmodell durch die steuerlich subventionierte Form der Hausfrauen-Ehe oder auch die Ausrichtung von zeitlichen Taktgebern wie Kindergartenöffnungszeiten und Schulen auf dieses Modell institutionell stabilisiert. Zweifellos handelt es sich bei diesem Normalitätsmodell um eine Überzeichnung. Es erscheint aber dennoch sinnvoll, die Denkfigur des fordistischen Normalitätsmodells für den gesellschaftlichen Alltag in der empirischen Analyse als impliziten Gegenhorizont zu verwenden, da so neue Entwicklungen überhaupt erst wahrgenommen und formuliert werden können. Bei dieser Gegenüberstellung handelt es sich natürlich vor allem um eine Gegenüberstellung der jeweiligen Leitbilder und normativen Orientierungen jeder Epoche, die idealtypisch rekonstruiert werden, wohingegen die gesellschaftliche Realität, die mit den alten Normen und Leitbildern verbunden war, sehr viel bunter war und ist.6 Mayer-Ahuja und Wolf (2005a: 14) weisen deshalb zu Recht auf die Gefahr hin, dass in der gegenwärtigen Entgrenzungsdebatte bestimmte Arbeitsformen jenseits des Normalarbeitsverhältnisses zur Norm erhoben werden, die früher durchaus existierten, aber nicht beachtet wurden, und deren heutiger Leittypencharakter erst noch empirischer Unterfütterung bedarf.
2.2 Dimensionen der Entgrenzung: Empirische Befunde Ausgehend von der Folie Normalarbeit möchte ich im Folgenden die Veränderung von Strukturen im Bereich der Erwerbsarbeit diskutieren. Die für diese Arbeit als relevant erachteten Dimensionen, entlang derer ich die aktuellen Entwicklungen darstellen möchte, sind die zeitliche und räumliche Entgrenzung der Erwerbsarbeit, die Entgrenzung der Arbeitsorganisation, sowie flexible Beschäftigungsformen und die Subjektivierung von Arbeit. Diese Dimensionen nütze ich als heuristisches Instrument zur Systematisierung und um die Reichweite des Wandels darzustellen. Einen besonderen Fokus werde ich dabei auf die räumliche Dimension von Entgrenzungsprozessen legen, da diese bisher weder in
6
Vor allem die feministische Geographin Linda McDowell hat in ihrer Kritik an der Fordismus-Debatte darauf aufmerksam gemacht, dass diese ‚buntere‘ Realität – sprich dem männlichen Normalarbeitsverhältnis oder -lebenslauf nicht entsprechende Arbeits- und Lebensweisen – durchaus gelebt, nur vielfach wissenschaftlich nicht wahrgenommen wurden (vgl. McDowell 1991, 2001). 25
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
der Soziologie noch in der Geographie besondere Aufmerksamkeit erfahren hat.
2. 2.1 Die Entgrenzung von Arbeitszeit Die These der zunehmenden zeitlichen Flexibilisierung von Erwerbsarbeit geht auf die Beobachtung zurück, dass sich Arbeitszeiten zunehmend entstandardisieren und variabilisieren. Thematisiert wird diese Entstandardisierung in der Literatur als Erosion der „Normalarbeitszeit“ (vgl. z.B. Beiträge in Zilian/Flecker 1998, Seifert 2005). Bei der Flexibilisierungsdiskussion liegen die Schwerpunkte vor allem auf Veränderungen der Arbeitszeitorganisation und deren Folgen für die „Lebensführung“ der Betroffenen (vgl. z.B. Beiträge in Hildebrandt 2000, Beiträge in Seifert 2005, Jurczyk/Voß 2000, Hielscher 2000). Die Flexibilisierung von Arbeitszeiten betrifft sowohl die Dauer und die Lage als auch die Verteilung der Arbeitszeit, allerdings liefert die Statistik keine Daten zu allen drei Dimensionen (vgl. Seifert 2005: 42). Verfügbar sind Daten zur Lage der Arbeitszeit und hier zeigt sich, dass zwischen 1991 und 2008 vor allem die Samstagsarbeit (um 11,9 %) wie auch die Sonntagsarbeit (um 8,6 %) bei allen Erwerbstätigen zugenommen hat (vgl. Tab. 1). Abend-, Nacht-, Samstags- und Sonntagsarbeit, werden auch als unsoziale Zeiten bezeichnet (vgl. Hermann 2005: 216), da sie gemeinsame Zeiten in der Familie oder auch z.B. Vereinstätigkeiten erschweren. Letztendlich arbeiteten 2008 bereits über 61 % aller Erwerbstätigen zu mindestens einer dieser nicht dem Muster der Normalarbeitszeit entsprechenden Zeiten. Anfang der 1990er Jahre waren es noch 19 % weniger (vgl. Tab. 1). Selbstständige ohne, und noch mehr Selbstständige mit Beschäftigten sind häufig zu den ‚Nicht-Normalarbeitszeiten‘ tätig, allerdings haben sie die Möglichkeit, ihre Arbeitszeiten stärker selbst einzuteilen.
26
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
Tabelle 1: Lage von Arbeitszeiten 1991, 2003, 2005, 2008 (Anteile in Prozent)
1991
2003
2005
2008
Samstags-, Sonn-/Feiertags-, Abend-/Nachtarbeit bzw. Wechselschicht 1991 2003 2005 2008
Erwerbstätige insgesamt
36,7
43,3
46,9
48,6
42,0
53,2
58,8
61,3
Männer
39,0
46,6
50,4
52,1
45,6
58,0
63,7
66
Frauen
33,4
39,2
42,6
44,3
36,8
47,3
52,8
55,5
abhängig Beschäftigte
32,7
39,9
43,2
45,4
38,4
50,6
55,6
59,1
70,3
71,9
72,6
77,2
80,6
81,6
86,2
88,9
90
Samstagsarbeit
Selbstständige ohne Beschäftigte
76,7
75,3 Selbstständige mit Beschäftigten
79,3
81,8
82,8
Quelle: Statistisches Bundesamt 2009a Mikrozensus, eigene Berechnungen
Die Arbeitszeiten haben sich tendenziell in Richtung Rund-um-die-UhrGesellschaft entwickelt – wobei wesentliche Impulse von der zunehmenden Tertiärisierung ausgehen und viele personenbezogene Dienstleistungen wie im Gesundheits- und Pflegesektor sowie Verkehr, Nachrichten etc. nur im Uno-Actu-Verfahren zu erbringen sind und zu jeder Tageszeit nachgefragt und auch angeboten werden (vgl. Seifert 2005: 45). Im Bereich der Dauer der Arbeitszeiten ist der Begriff der Entgrenzung eher umstritten (vgl. Wagner 2001, Bosch 2000). Die Dauer der Arbeitszeit folgt mehr einem polarisierten Muster. Das bedeutet, dass sowohl der Anteil der Beschäftigten mit relativ kurzen (Teilzeit und geringfügige Beschäftigung) als auch jener mit relativ langen Arbeitszeiten je nach dem Qualifikationsniveau zunimmt: Hochqualifizierte arbeiten durchschnittlich länger als Beschäftigte anderer Qualifikationsgruppen7 (vgl. Wagner 2001: 367). Zudem lässt sich bei vollzeitbeschäftigten Angestellten mit hochqualifizierter Tätigkeit und Führungsaufgaben seit
7
Nach Auswertungen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) von A. Wagner (2001) hatten Hochqualifizierte in Vollzeit 1997 eine tatsächliche Wochenarbeitszeit von 47 Stunden, Vorarbeiter und Qualifizierte Angestellte dagegen rund 42 Stunden (vgl. Wagner 2001: 368). 27
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
den 1980er Jahren eine wachsende Kluft zwischen vertraglich vereinbarter und tatsächlicher Wochenarbeitszeit feststellen.8 Ebenso hat die Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten entgegen dem Trend der letzten Jahrzehnte wieder zugenommen. Nach Eurostat-Daten hat ihre wöchentliche Arbeitszeit seit 2002 um 0,3 Stunden pro Woche erhöht und lag 2008 bei 41,8 Wochenstunden, bei Männern bei 42,4 Stunden (vgl. Eurostat 2009). Der bedeutsamste Wandel hat bei der Verteilung von gleichförmigen zu variablen Arbeitszeiten stattgefunden (vgl. Seifert 2007: 19). Flexible Modelle der Arbeitszeitorganisation wie variable Wochenarbeitszeit, Gleitzeit und vor allem Arbeitszeitkonten finden zunehmend Verbreitung und ermöglichen den Betrieben, Kosten zu senken und die Produktivität zu steigern, indem sie eine Anpassung der Arbeitszeit an den Arbeitsanfall erleichtern9 (vgl. Seifert 2005: 48, Kratzer/Sauer 2005: 141 ff.). Inzwischen regeln ca. zwei Drittel aller Betriebe ihre Arbeitszeit mit Arbeitszeitkonten (vgl. Seifert 2007: 19). Zudem nimmt die Zahl der Beschäftigten, die über keine vertragliche Vereinbarung über die Dauer der Arbeitszeit verfügen, vor allem im Bereich der hoch qualifizierten Angestelltenarbeit zu. Circa 8 % der Beschäftigten organisieren ihre Arbeitszeit auf Basis von so genannter Vertrauensarbeitszeit. Diese neue Form der Regulierung der Arbeitszeit hat sich im Zusammenhang mit Veränderungen in der Arbeitsorganisation herausgebildet und baut auf folgenden drei Prinzipien auf: Der Arbeitgeber verzichtet auf eine Kontrolle der Arbeitszeit, wobei die Beschäftigten selbst für die Planung und Verteilung zuständig sind. Die Arbeitszeit ist nicht mehr mit der Anwesenheit am Arbeitsplatz gekoppelt und organisatorisch findet ein Wechsel von einer zeit- zu einer aufgabenbzw. ergebnisorientierten Arbeits- und Leistungssteuerung statt (vgl. Eichmann/Hermann 2004: 10). In Bezug auf die Arbeitszeitorganisation haben sich institutionelle Zeitvorgaben und individuelle Zeitverwendungsmuster verändert. Charakteristisch für industriegesellschaftlich verfasste Arbeit ist ein Zeitregime, das die Tages- und Wochenstruktur regelt und die Grenzen zum Bereich der Nicht-Arbeit festlegt. Die wöchentliche Gesamtarbeitszeit
8
9
28
Während dieser Unterschied 1984 noch vier Stunden betrug, belief sich die Differenz 1998 bereits auf ca. sieben Stunden (vgl. Wagner 2001: 369). Untersuchungen über die bisherige Verbreitung von Zeitkonten kommen aufgrund methodischer Unterschiede zu erheblich differierenden Schätzungen: So betragen die Anteilswerte der Betriebe bzw. der Beschäftigten mit Arbeitszeitkonten zwischen 30 und 70 % (Untersuchungszeitraum 1999 bis 2002) (vgl. Seifert 2005: 47 f.).
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
und die tägliche und wöchentliche Verteilung der Arbeitszeit regeln Feierabend und freies Wochenende: „Sie setzen eine Grenze zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Betrieb und Privatsphäre, zwischen der vom Betrieb beanspruchten Zeit und der Lebenswelt. In beiden Dimensionen der Normalarbeitszeit schreitet die Flexibilisierung und damit die Entgrenzung von Arbeit und Leben weiter fort.“ (Garhammer 2000: 11)
Dieses institutionell vorgegebene Zeitregime wird durch die tatsächlichen Arbeitszeiten immer mehr in Frage gestellt. Durch die Zunahme von neuen Arbeitszeitregelungen wie Vertrauensarbeitszeit, Arbeitszeitkonten oder Gleitzeit wird die Arbeitszeitgestaltung stärker den Arbeitnehmern überantwortet: „Auch diese Befunde lassen sich als Entgrenzungsphänomen verstehen, da Arbeitstage und -zeiten weniger verbindlich festgeschrieben werden und Gestaltungsmöglichkeiten bzw. -zwänge für den Arbeitnehmer entstehen. So scheint es selbstverständlicher zu werden, dass zumindest höher qualifizierte Angestellte Unterlagen mit nach Hause nehmen und abends bzw. am Wochenende arbeiten, ohne dies als Arbeitszeiten zu werten. Eine solche Entscheidung ist nun nicht mehr von den Bedingungen des Arbeitsvertrages abhängig, sondern unterliegt der individuellen Entscheidung und Grenzziehung.“ (Hacket/ Janowicz/Kühnlein 2004: 288)
2.2.2 Die Entgrenzung des Normalarbeitsverhältnisses: Flexible Beschäftigungsformen Der langfristige Rückgang des Anteils des Normalarbeitsverhältnisses, also der unbefristeten Vollzeitbeschäftigung von Arbeitern und Angestellten, wird unter den Stichworten Erosion oder Krise des Normalarbeitsverhältnisses diskutiert (vgl. Bosch 2001: 219). Der Begriff des Normalarbeitsverhältnisses wird in der deutschen Diskussion seit den 1980er Jahren für die volle Arbeitsmarktintegration als eine spezifische Organisation der Arbeit10, verwendet (vgl. Mückenberger 1986, Hoff10 Bartelheimer (2005: 107) nennt fünf Kriterien, mit denen sich das Normalarbeitsverhältnis abgrenzen lässt: Abhängige Beschäftigung, existenzsicherndes Einkommen bzw. Vollzeitbeschäftigung, unbefristetes Beschäftigungsverhältnis, Sozialversicherungsschutz und kollektivvertraglicher Schutz. Eine engere Fassung des Normalarbeitsverhältnisses, die sich z.B. auch auf Überstunden, Schichtarbeit oder Betriebswechsel bezieht, erscheint nicht sinnvoll, da dies nicht mit der in einer Marktwirtschaft üblichen Flexibilität kompatibel ist und auch in 1960er und 1970er Jahren Schichtarbeit und Überstunden zum industriellen Arbeitsalltag gehörten. 29
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
mann/Walwei 1998; zur Diskussion der Entstehung, Ausbau und Erosion des Normalarbeitsverhältnisses vgl. Kress 1998). Das Normalarbeitsverhältnis ist zahlenmäßig zwar immer noch die absolut und relativ dominierende Erwerbsform, dennoch weisen die wachsenden Anteile nichtstandardisierter Erwerbsformen wie Teilzeit, befristete Beschäftigung und Selbstständigkeit darauf hin, dass sich Norm und Normalität des Normalarbeitsverhältnisses in einem Stadium des Übergangs befinden. Die Zunahme von Beschäftigungsverhältnissen abseits des Normalarbeitsverhältnisses wird mit der zunehmenden Tertiärisierung, der stark gestiegenen Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie der Flexibilisierung der Produktion erklärt. Insbesondere die Zunahme im Bereich der Teilzeit ist auf die gestiegene Frauenerwerbstätigkeit zurückzuführen (vgl. Hoffmann/Walwei 2002). Besonders relevant für diese Arbeit ist der Zuwachs der Zahl der Selbstständigen, der seit den 1980er Jahren beobachtbar ist. Ein regelrechter Aufschwung der Selbstständigkeit setzte Anfang der 1990er Jahre ein und dieser Trend scheint (noch) ungebrochen, auch wenn seit 2007 ein leichter Rückgang zu beobachten ist: Der Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen ist laut Mikrozensusdaten in Deutschland von 8,1 % im Jahr 1991 auf 10,7 % im Jahr 2008 gestiegen (vgl. Statistisches Bundesamt 2009a: 129). In Westdeutschland geht die wachsende Bedeutung der Selbstständigkeit auf die steigende Zahl von weiblichen Selbstständigen sowie auf Ein-Personen-Selbstständige, d.h. Selbstständige ohne weitere Beschäftigte zurück (vgl. Leicht 2003, Schulze-Buschoff 2004). Während von 1991 bis 2008 die Zahl der Selbstständigen ohne Beschäftigte um 67 % zugenommen hat, stieg die der Selbstständigen mit Beschäftigten im gleichen Zeitraum nur um 11 %. Frauen sind an diesem Zuwachs mit einem Plus von 416 Tsd. beteiligt, so dass 2008 knapp 850 Tsd. Frauen selbstständig ohne Beschäftigte waren, bei den Männern waren dies 1,46 Mio. (2008) (vgl. Abb. 1). Selbstständig waren zu diesem Zeitpunkt insgesamt ca. 4,1 Mio. (2008) Menschen in Deutschland.
Wie Bosch (2001: 220) es ausdrückt: „Das NVA schließt also Flexibilität nicht aus, sondern reguliert sie.“ 30
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
Abbildung 1: Index der Entwicklung der Selbstständigen nach Geschlecht 1991-2008
ϮϬϬ ϭϵϬ ϭϴϬ ϭϳϬ
ŝŶƐŐĞƐĂŵƚŽŚŶĞĞƐĐŚćĨƚŝŐƚĞ DćŶŶĞƌŽŚŶĞĞƐĐŚćĨƚŝŐƚĞ &ƌĂƵĞŶŽŚŶĞĞƐĐŚćĨƚŝŐƚĞ ŝŶƐŐĞƐĂŵƚŵŝƚĞƐĐŚćĨƚŝŐƚĞ DćŶŶĞƌŵŝƚĞƐĐŚćĨƚŝŐƚĞ &ƌĂƵĞŶŵŝƚĞƐĐŚćĨƚŝŐƚĞ
/ŶĚĞdžϭϵϵϭсϭϬϬ
ϭϲϬ ϭϱϬ ϭϰϬ ϭϯϬ ϭϮϬ ϭϭϬ ϭϬϬ ϵϬ
Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Mikrozensus versch. Jahrgänge; eigene Berechnungen
Bei den Selbstständigen insgesamt ist ein Umschichtungsprozess beobachtbar. Während im primären Sektor die Zahl der Selbstständigen rückläufig ist, steigt sie in allen anderen Wirtschaftssektoren – vor allem im Bereich der „übrigen Dienstleistungen“ an. Der starke Zuwachs von Selbstständigen ohne Beschäftigte wird insbesondere betrieblichen Flexibilisierungsstrategien wie der verstärkten Dezentralisierung von Tätigkeiten sowie der Tertiärisierung und Informatisierung zugeschrieben, die vor allem die Gründung kleinstbetrieblicher Existenzen begünstigt hat (vgl. Leicht/Lauxen-Ulbricht 2002: 5 f.). Dies gilt gerade für die Medienbranche oder die unternehmensorientierten Dienstleistungen. Allerdings sind vornehmlich Männer in diesen Bereichen tätig, während Frauen sich vor allem in personenbezogenen Dienstleistungen wie auch in geringerem Maße in publizistischen und künstlerischen Berufen (vgl. Leicht 2003: 239, Gottschall/Schnell 2000: 805) selbstständig machen. Diese „neue Selbstständigkeit“ (darunter werden Selbstständige verstanden, die weder der Landwirtschaft oder selbstständigen Gewerbetreibenden oder Selbstständigen in den „freien Berufen“ zuzurechnen sind) repräsentiert als Erwerbsform Eigenschaften, die für immer mehr Menschen von Bedeutung sind: Nämlich einerseits die Chance auf 31
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
selbstständiges und eigenverantwortliches Handeln und andererseits die hohen Anforderungen und spezifischen unternehmerischen Risiken, die mit dieser Erwerbsform verbunden sind (vgl. Schulze-Buschoff 2004: 31).
2.2.3 Die Entgrenzung von Raum Arbeit ist ortsunabhängiger geworden: Dies ist sowohl auf betrieblicher Ebene festzustellen, auf der sich Entgrenzungsprozesse z.B. in einer Dezentralisierung der Produktion zeigen, als auch auf der Ebene der Beschäftigten. Hier haben sich vor allem die räumlichen Arbeitsbezüge verändert, da Büroarbeit zunehmend nicht mehr an den Schreibtisch und die Firma gebunden ist. Der Blick in Zugabteile oder Warteräume an Bahnhöfen oder Flughäfen, oder auch in Cafés und Bars bietet ein inzwischen gewohntes Bild: Menschen, die an Laptops arbeiten oder unüberhörbar mit dem Mobiltelefon geschäftliche Gespräche führen11 und so auch außerhalb des Büros ihre Zeit für die Erwerbsarbeit nutzen. Hierbei sind zwei Entwicklungen feststellbar: Büroarbeit wird einerseits im öffentlichen und halböffentlichen Räumen präsenter und andererseits kehrt Erwerbsarbeit auch verstärkt in den häuslichen also privaten Raum zurück – dorthin, wo sie vor der Industrialisierung selbstverständlich stattgefunden hat (vgl. Kapitel 4.2.3). Hier gerät eine weitere Grenzziehung in Bewegung, die so bestimmend für die fordistische Normalarbeit gewesen war – nämlich die zwischen Arbeits- und Wohnort. Eine wesentliche Rolle bei der Veränderung von räumlichen Arbeitsbezügen hat die rasante Entwicklung von IuK-Technologien gespielt. Mobiltelefon, Computer und das Internet haben inzwischen alle gesellschaftlichen Sphären durchdrungen und gravierend verändert, wo und wann Beschäftigte ihrer Arbeit nachgehen können.
11 Natürlich wird dank neuer technischer Möglichkeiten unterwegs nicht nur gearbeitet, sondern der Laptop und das Mobiltelefon werden auch für private Zwecke genutzt. Aber gerade hierin erkennt Voß (1998: 479) eine weitere Dimension der Entgrenzung, nämlich die, dass Grenzen zwischen privater und dienstlicher Nutzung von z.B. technischen Geräten oder sonstigen Arbeitsmaterialien fließend werden. 32
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
Informations- und Kommunikations-Technologien als Voraussetzung für räumliche Entgrenzungsprozesse Informations- und Kommunikations-Technologien (IuK-Technologien) werden bei den Wandlungs- und Umgestaltungsprozessen der Wirtschaft ein besonderer Stellenwert zugesprochen (vgl. z.B. Klodt 2001, Reich 2000, Castells 1996). Sie haben Auswirkungen auf „die verschiedenen Ebenen der Wirtschaft, angefangen vom Kern der Wertschöpfung über die Ebene der Unternehmen, der Wertschöpfungsketten und der Unternehmens- und Arbeitsformen bis hin zur Transformation der gesamten Arbeitswelt“ (Seifert/Welsch 1999: 54, Herv. i. Orig.).12 Arbeitsplätze im Bereich der Büro- bzw. Informationsarbeit sind inzwischen fast selbstverständlich mit IuK-Technologien ausgestattet.13 Unter dem Sammelbegriff IuK-Technologien werden erstens der Computer und seine Funktionen als Informations- (Sammlung bzw. Verarbeitung von Information) und Kommunikationsmedium verstanden, zweitens weitere digitalisierte Telekommunikationstechnologien zur Unterstützung wechselseitiger Kommunikation wie z.B. Fax, Email, Mobiltelefon oder Video-Konferenzsysteme und drittens systemisch angelegte computerbasierte Kooperationsmedien wie z.B. firmeneigene Intranets, Computer-supported-cooperative-work-Systeme, also Systeme, die Gruppenarbeit unterstützen (vgl. Kleemann/Matuschek/Voß 1999: 5). IuK-Technologien erweitern die Möglichkeiten von Unternehmen, Arbeit zu kontrollieren und Arbeitsprozesse neu zu strukturieren. Dies ermöglicht einerseits, die Arbeitstätigkeiten von Beschäftigten rigider zu strukturieren, und andererseits werden auch räumliche, zeitliche und organisatorische Restriktionen in der Arbeitsausführung aufgelöst. Die weite Verbreitung dieser Technologien in Unternehmen und Haushalten ist die Basis für die Auflösung der räumlichen Bindung von Arbeit an den Betrieb: Das Mobiltelefon hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem wahren Massenkonsumgut entwickelt: 1991 gab 12 Wobei darauf hingewiesen werden muss, dass nicht allein die technischen Möglichkeiten zu neuen Entwicklungen führen, sondern die Vorteile der neuen Techniken sich nur ausschöpfen lassen, wenn mit ihrem Einsatz tief greifende organisatorische Veränderungen in den Unternehmen einhergehen (vgl. Seifert/Welsch 1999: 51). 13 Die Veränderungen durch IuK-Technologien beziehen sich natürlich nicht nur auf die Büroarbeit, sondern ebenso auf den Bereich der Produktion. So wurde z.B. Just-in-time-Produktion erst möglich durch eine Verbesserung der Logistik durch EDV-Einsatz. Fortschritte im IuK-Bereich ermöglichten eine Diversifikation der Produktpalette, weil die computergesteuerte Produktion eine schnellere Umstellung von Produktionsanlagen erlaubt (vgl. Hildebrandt et al. 2000: 26). 33
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
es weltweit 16 Millionen Mobilfunkteilnehmer, 2004 bereits 1.758 Millionen, 2008 stieg die Zahl nochmals auf 4.100 Millionen (vgl. International Telecommunication Union 2009: 3 f.). Vor zwei Jahrzehnten gab es in Deutschland noch kaum Mobiltelefonbesitzer, 2007 belief sich die Zahl der Mobilfunkteilnehmer auf 97 Millionen. Dies entspricht 118 Mobiltelefonen pro 100 Einwohnern (vgl. Statistisches Bundesamt 2009b: 66 f.). Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes setzten im Jahr 2008 84 % aller Unternehmen in Deutschland Computer in ihrem Geschäftsablauf ein (vgl. Tab. 2). Tabelle 2: Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologie (Anteile in Prozent) 2003
2004
2005
2006
2007
57
62
66
67
71
2008
Haushalte mit… PC
81 76
4714
Laptop
10
11
18
17
25
Internet
43
51
57
58
61
69
Breitband-Internet
6
9
17
22
31
73
PC-Nutzung
71
80
84
84
84
84
Internetzugang
62
75
78
78
79
79
Webseite
33
40
59
59
58
60
Unternehmen mit…
Quelle: Statistisches Bundesamt 2007, 2009b, 2009c
Die gestiegene Nutzung des Internet im Arbeitsprozess und als Moment des Wirtschaftens kommt im wachsenden Anteil von Unternehmen zum Ausdruck, die das Internet aktiv einsetzten: Im Jahr 2008 waren dies 79 % aller Unternehmen gegenüber 62 % 2002 (vgl. Tab. 2). Der Anteil der Unternehmen mit Internetanschluss, die über eine eigene Webseite (Homepage) verfügen, lag 2008 bei 60 % bei Großunternehmen mit über 250 Mitarbeitern liegt der Anteil sogar bei 90 % (vgl. Statistisches Bundesamt 2009b: 32), wobei die eigene Webseite vor allem für die Vermarktung eigener Produkte eingesetzt wird. Ebenfalls wächst beständig der Anteil der Beschäftigten an allen sozialversicherungspflichtig Be14 Als Zugangsmedium zum Internet nimmt der Computer noch immer die Vorrangstellung ein, ein Zugang über das Mobiltelefon ist mit 16 % noch eher wenig verbreitet. Zahlreiche Haushalte haben im Jahr 2008 sowohl einen stationären, sowie einen tragbaren Computer zur Verfügung (vgl. Statistisches Bundesamt 2009b: 24). 34
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
schäftigten, die regelmäßig an einem Computer arbeiten und die über einen Zugang zum Internet verfügen (von 46 % bzw. 29 % im Jahr 2002 auf 60 % bzw. 53 % im Jahr 2008) (vgl. Statistisches Bundesamt 2007: 5 und Statistisches Bundesamt 2009b: 61 f.). Die Möglichkeit des Vertriebs von Waren und Dienstleistungen über das Internet wird als ein zentrales Moment der Veränderung des Wirtschaftssystem gedeutet, da Unternehmen auf diese Weise ihre Beziehung zum Kunden stark individualisieren und gleichzeitig die Vorteile des Massenvertriebs nützen können (vgl. Reich 2000). Im Jahr 2008 haben sich 45 % aller Unternehmen aktiv am E-Commerce beteiligt, werden nur Unternehmen mit Internetzugang betrachtet, so waren es sogar 55 % (vgl. Statistisches Bundesamt 2009b: 43). Ebenso selbstverständlich werden IuK-Technologien inzwischen im außerberuflichen Alltag verwendet. Zwar hatte die Internet- und Computernutzung ihre Wurzeln im beruflichen- bzw. Arbeitsbereich und es dominierte bis Mitte der 1990er Jahre die berufliche Nutzung des Computers, aber bereits ab 1999 nutzte ein größerer Teil der Bevölkerung den Computer öfter privat als beruflich. Bei der Internetnutzung trat diese Trendwende bereits 1997 ein (vgl. Boes/Preißler 2005: 530).15 Im Jahr 2008 hatten 76 % der privaten Haushalte einen Personalcomputer (PC, einschließlich Laptop) und 69 % einen Internetzugang von zu Hause (vgl. Tab. 2). Insgesamt lassen sich diese Zahlen dahingehend interpretieren, dass sich das Internet inzwischen als gesellschaftliches Leitmedium in Wirtschaft und Gesellschaft etabliert hat (vgl. Boes/Preißler 2005).
Räumliche Entgrenzung auf betrieblicher Ebene Phänomene räumlicher Entgrenzung auf betrieblicher Ebene betreffen vor allem neue Formen der Arbeitsteilung (vgl. Abb. 2), bei der einerseits Firmengrenzen und andererseits nationale Grenzen überschritten werden. So haben Globalisierungs- und Internationalisierungsprozesse der Wirtschaft zu einer Entgrenzung der Produktion und damit zu einer neuen gesellschaftlichen und räumlichen Arbeitsteilung geführt (vgl. Schamp 2000: 122), bei der nationale Grenzen an Bedeutung verloren haben. Vor allem das Wachstum multinationaler Unternehmen hat zu 15 Diese Zahlen beziehen sich auf die Bevölkerung ab dem 16. Lebensjahr in Deutschland und basieren auf Berechnungen aus dem SOEP. Zu den persistenten Unterschieden in der Internetnutzung nach Geschlecht, Bildung, Einkommen usw. vgl. Boes/Preißler 2005 und Statistisches Bundesamt 2006c. 35
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
weltumspannenden Produktions-, Unternehmens- und Firmennetzwerken beigetragen. So ist die Zahl der multinationalen Unternehmen von 7000 im Jahr 1970 über 40.000 im Jahr 1995 auf etwa 60.000 im Jahr 1998 gewachsen (vgl. Bathelt/Glückler 2002: 266). Als eine wesentliche Voraussetzung für Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse gelten grundlegende Innovationen im Bereich der Kommunikation und Logistik (vgl. Bathelt/Glückler 2002: 265). Abbildung 2: Die Entgrenzung von Arbeit auf betrieblicher Ebene Dezentralisierung der Produktion/ Internationale Arbeitsteilung
Outsourcing
Varianten der Arbeitsteilung von Betrieben
Co-Sourcing
Virtuelle Unternehmen
Quelle: Eigene Darstellung
Auf der Ebene der betrieblichen Arbeitsorganisation haben also die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien die Dezentralisierung der industriellen Produktion erleichtert. Dies ist z.B. der Fall, wenn Betriebseinheiten, die vormals an einem Ort waren, nun räumlich verteilt von mehreren Orten aus Leistungen erbringen. Diese räumliche Dezentralisierung der Produktion und die damit einhergehende räumliche Arbeitsteilung auf globaler Ebene werden in der Industriegeographie, die sich in diesem Zusammenhang vor allem für die regionale Ausprägung industrieller Produktion interessiert, als „vernetzte Produktion“ (Schamp 2000) diskutiert. Ein weiteres Beispiel für die dezentrale Arbeitsteilung ist die Auslagerung (outsourcing) von betrieblichen Funktionen wie Fuhrpark, EDV oder der Verlagerung von Arbeitsteilen oder ganzer Betriebsstätten im nationalen oder internationalen Maßstab (vgl. Eichmann/Hermann 2004: 23). Eine weitere externe Flexibilisierungsstrategie der Betriebs- und Arbeitsorganisation ist das co-sourcing, der Zukauf von Arbeitsleistungen zur Abdeckung von betrieblichen Auslastungsschwankungen (z.B. Leih- und Zeitarbeit). Auch hier werden durch Auslagerung oder Zukauf von Leistungen Firmengrenzen überschritten. 36
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
Noch sehr wenig ist über die Netzwerkbildung zwischen Unternehmen bekannt, die lediglich zeitlich befristet bis zur Fertigstellung eines Produktes kooperieren. Diese so genannten virtuellen Unternehmen sind ebenfalls durch neue IuK-Technologien möglich geworden (vgl. Picot/ Reichwald/Wigand 1998: 396 ff.). Durch diese zeitliche befristete Projektarbeit kommt es zu einer partiellen Auflösung und Neuformierung institutioneller Grenzen von Unternehmen. Besonders relevant für diese Arbeit ist die Bildung von virtuellen Unternehmen durch den Zusammenschluss von Alleinselbstständigen. Sie befinden sich an der Schnittstelle zwischen Reorganisationsstrategien von Betrieben und Veränderungen in den räumlichen Arbeitsbezügen von Beschäftigten. Reichwald et al. (2004: 65) fassen diese Varianten der Arbeitsteilung von Unternehmen unter dem Begriff der Telekooperation zusammen, der die arbeitsteilige Leistungserstellung zwischen verteilten Aufgabenträgern, Organisationseinheiten und/oder Organisationen beschreibt. Dabei kann es sich um die Zusammenarbeit zwischen Firmen oder innerhalb einer Firma handeln. Telekooperation stellt den Oberbegriff für alle Formen von durch IuK-Technologien unterstützten Arbeitskooperationen, sei es die Sachbearbeitung vom häuslichen Arbeitsplatz aus, die Projektabwicklung zwischen verteilten Unternehmenseinheiten oder die mobile Erbringung von Vertriebs-, Wartungs- oder Instandhaltungsdienstleistungen am Standort des Kunden bis zur internationalen Zusammenarbeit von Entwicklerteams (vgl. Reichwald et al. 2004: 4). Durch Telekooperation werden Standortbindungen unwichtiger und Arbeit lässt sich bis in den häuslichen Bereich dezentralisieren (vgl. Reichwald et al. 2004: 3). Die Reorganisationsstrategien von Firmen, die auf globaler, nationaler und regionaler Ebene beobachtbar sind, werden durchaus in der Wirtschaftsgeographie diskutiert, während die gravierenden Veränderungen, die dadurch in den räumlichen Arbeitsbezügen von Beschäftigten entstehen, bisher nur wenig Beachtung fanden.
Räumliche Entgrenzungsprozesse: Folgen für die Beschäftigten Die zunehmende Entgrenzung oder Ortsunabhängigkeit von Arbeit auf betrieblicher Ebene ist für Beschäftigte einerseits mit steigenden Mobilitätsanforderungen verbunden, andererseits führt die zunehmende Unabhängigkeit von Arbeit vom Betrieb zu einem Bedeutungswandel von Räumen auf der Mikroebene.
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Abbildung 3: Räumliche Entgrenzung von Arbeit für Individuen Steigende Mobilitätsanforderungen (Pendeln/ Geschäftsreisen/wechselnde Einsatzorte)
Virtuelle BeArbeit zu
Räumliche Entgrenzung von
triebe
Arbeit für Individuen
(von Einzel-
Hause
personen)
Mobile Arbeit (beim Kunden/unterwegs/in Cafés, Bars)
Quelle: Eigene Darstellung
Zunächst sind hoch qualifizierte Beschäftigte durch die Entgrenzung von Arbeit im Sinne der Internationalisierung der Wirtschaft und standortübergreifender Projekten transnational agierender Unternehmen mit steigenden physischen Mobilitätsanforderungen konfrontiert. Der Zuwachs an Geschäftsreisen, sowie der Zuwachs an Tagungs- und Kongressaktivitäten an Flughäfen können hierfür als Belege dienen. Zudem wird für bestimmte Karrierepfade die Bereitschaft zu einer Ortsveränderung bei Berufs- bzw. Positionswechsel inzwischen vorausgesetzt.16 Vor allem aber haben neue computerbasierte Informationstechnologien, die Datentransfer und Kommunikation über räumliche Distanz hinweg ermöglichen, Arbeit unabhängiger vom Betrieb, dem Büro oder dem Schreibtisch als Ort der Arbeitsausführung gemacht. In den soziologischen, wirtschaftswissenschaftlichen und geographischen Debatten ist diese ortsunabhängige Arbeit unter dem Stichwort „Telearbeit“ mit jeweils unterschiedlichem Erkenntnisinteresse diskutiert worden.17 Telearbeit wird als Sammelbegriff für informations- und kommunikations16 Natürlich handelt es sich nicht immer um neue Entgrenzungsphänomene. Beispiele für traditionelle Mobilitätsanforderungen sind Tages- oder Wochenpendler in periphere Regionen, LKW-Fahrer oder Beschäftigte bei Bahn und Luftverkehr oder eben auch ganz klassische Vertriebs- und Außendiensttätigkeiten wie in der Versicherungs- oder Pharmabranche. 17 Geographische Untersuchungen haben sich fast ausschließlich auf die Frage konzentriert, ob es durch die Arbeit zu Hause zu einer Einsparung von Verkehr kommt, oder ob durch die Einsparung der Arbeitswege dafür in der Freizeit häufiger Fahrten unternommen werden (vgl. z.B. Gebauer 2002). Lediglich feministische GeographInnen haben Heim- und Telearbeit unter dem Aspekt betrachtet, dass es hier zu einer Vermischung privater und öffentlicher Sphären kommt (vgl. z.B. Hanson 1996). 38
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
technisch unterstützte Formen dezentraler bzw. teilweise dezentraler Arbeit verwendet. Je nach dem Ort der Arbeitsausführung werden verschiedene Formen von Telearbeit unterschieden (vgl. für weitere Übersichten Büssing/Broome 1999: 103 f., Dostal 1999b: 64 f., Kleemann 2005: 25 f., Reichwald et al. 1998: 375 ff.): • Teleheimarbeit: ausschließlicher Ort der Arbeitsverrichtung ist die Wohnung • alternierende Telearbeit: es wird zwischen den Arbeitsorten Büro und zu Hause regelmäßig gewechselt, evtl. wird auch von unterwegs gearbeitet • Arbeit in Telearbeitszentren • Satellitenbüro: dezentrales Arbeitszentrum eines Unternehmens • Teleservicezentrum: stellt Telekommunikationsinfrastruktur für lokale Wirtschaft bereit und bietet Mischung aus Service und Telearbeitsplätzen an • Nachbarschaftsbüro/Bürogemeinschaft: entweder von mehreren Unternehmen betriebenes Arbeitszentrum in Wohnortnähe der Mitarbeiter oder Zusammenschluss mehrere Selbstständiger in einem gemeinsam gemieteten Büro • virtuelle Unternehmen: Zusammenschluss von Einzelpersonen oder Kleinstunternehmen zu einem als Einheit auftretenden Unternehmen • mobile Telearbeit • temporärer Arbeitsplatz: es wird an einem dritten Ort, z.B. beim Kunden, im Hotel oder auf Baustellen gearbeitet • beweglicher Arbeitsplatz: Arbeit in der Bahn, im Flugzeug oder im Auto mit entsprechender Telekommunikation (vgl. Dostal 1999b: 67) Nach Kleemann (2005: 25) bilden drei Dimensionen den Rahmen zur Erfassung der unterschiedlichen Organisationsformen von Telearbeit (vgl. auch Dostal 1999: 64 ff., Büssing/Brome 1999: 103 f., Reichwald et al. 1998: 380 f.). Erstens muss sie in räumlicher Distanz zum Betrieb stattfinden. Zweite Dimension ist die informationstechnische Vernetzung. Mit ihr wird Telearbeit von traditionellen Formen von Heimarbeit abgegrenzt. Telearbeit ist eine Form von Informationsarbeit, deren zentraler Gegenstand immaterielle, digital transformierbare Arbeitsgegenstände sind, da zur Herstellung und auch Übermittlung von Arbeitsergebnissen Computer und Informations- und Kommunikationstechnologien eingesetzt werden. Drittes Kriterium ist die Erwerbsförmigkeit, also, dass „Telearbeit […] eine Form von gegen Entlohnung verrichteter Erwerbsarbeit [ist]“ (Kleemann 2005: 26), die in arbeitsrechtlich selbstständiger Form oder 39
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
in abhängiger Beschäftigung durchgeführt wird. Dadurch werden andere Anwendungen von Informationstechnologien, wie z.B. Home Banking, ausgeschlossen, auch wenn die Tätigkeit produktiven Charakter haben kann. Beim Home Banking erspart der Kunde der Bank Kosten durch seine Selbstbedienung. Allerdings erscheinen Phänomene wie Home Banking oder E-Commerce bei der Frage, ob es durch die neuen IuKTechnologien zu einer Verschiebung von öffentlicher und privater Sphäre kommt, beachtenswert. Wie aus der Auflistung zu erkennen, ist der Begriff Telearbeit relativ unscharf und im Bezug auf die Arbeitsaufgabe und die Art der Tätigkeit verbindet die unterschiedlichen Formen nur wenig – gemeinsam ist ihnen lediglich, dass sie durch Computer und Informationstechnologien unterstützt werden. Zwar werden von dem Begriff alle räumlichen Organisationsformen von Arbeit, die im empirischen Teil bei der Untersuchungsgruppe auftreten, abgedeckt, dennoch erscheint der Begriff nicht mehr adäquat, wie die Soziologin Gabrielle Winker (2001: 8) ausführt: „Was heute noch Telearbeit heißt, könnte in absehbarer Zukunft normaler Bestandteil der Erwerbsarbeit sein. Damit wird der Begriff ‚Telearbeit‘ wegen seiner abnehmenden Trennschärfe genauso in den Hintergrund treten, wie heute bereits das Modewort der 1980er Jahre ‚Bildschirmarbeit‘ nicht mehr relevant ist.“
Bei der Frage nach der Verbreitung der unterschiedlichen Formen von Telearbeit spielen Telearbeitszentren und kollektive Telearbeit in betrieblich organisierter Form in Deutschland keine Rolle. Bürogemeinschaften, in denen die technische Infrastruktur von den Mietern geteilt wird, haben dagegen in Metropolregionen, die einen hohen Besatz an kreativen Dienstleistungen aufweisen, eine höhere Bedeutung, da sie typische Arbeitsplätze für (Allein-)Selbstständige im Bereich neue Medien wie auch in anderen kreativen und wissensintensiven Dienstleistungen, wie z.B. Architektur und Werbung, darstellen. Allerdings werden Bürogemeinschaften statistisch nicht erfasst.18 Die ausgeprägteste Form der räumlichen Entgrenzung lässt sich sicherlich bei Menschen feststellen, die von zu Hause aus arbeiten. Bei ihnen ist die räumliche Trennung zwischen Arbeits- und Wohnort aufgelöst. Erwerbsarbeit findet im privaten Bereich der Wohnung statt und ist 18 Viele der Interviewpartner dieser Untersuchung haben einen angemieteten Arbeitsplatz in einer Bürogemeinschaft und teilen sich die vorhandene technische Infrastruktur. Für Alleindienstleister ist dies oftmals die einzige Möglichkeit, einen Büroraum außer Haus, in dem auch Kunden empfangen werden können, zu finanzieren. 40
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
damit sehr viel stärker in den privaten Alltag der Beschäftigten eingebettet. Allerdings ist die klassische Teleheimarbeit in der betrieblich organisierten Form sehr viel weniger gestiegen als noch in den 1990er Jahren erwartet wurde. Dostal (1999a: 86 ff., 1999b: 164 f.) begründet dies mit den hohen Kosten für die Betriebe (doppelte Arbeitsplatzausstattung und zusätzliche Kommunikationskosten, da sich nur alternierende Teleheimarbeit als sinnvoll erwiesen hat). Die Annahme, dass sich Teleheimarbeit zu einem normalen Element der Arbeitsorganisation entwickeln würde und die derzeitige Sonderstellung lediglich ein „Übergangsphänomen“ (vgl. Dostal 1999a oder b) darstelle, hat sich also nicht bewahrheitet. Dies zeigen auch die Zahlen, die im Mikrozensus erhoben werden: Danach gaben 2008 in Deutschland knapp 4,5 % der Erwerbstätigen an, hauptsächlich, d.h. an mindestens der Hälfte der Arbeitstage, zu Hause gearbeitet zu haben. 10 % der Erwerbstätigen übten ihre Arbeit manchmal, das bedeutet mindestens einmal, aber weniger als die Hälfte der Arbeitstage zu Hause aus. Aus diesen Zahlen lässt sich keine Steigerung der Erwerbsarbeit zu Hause ableiten, denn im April 1996 arbeiteten ebenfalls 5 % der Erwerbstätigen hauptsächlich zu Hause. Gelegentliche Erwerbsarbeit in der eigenen Wohnung übten 8 % der Erwerbstätigen aus (vgl. Statistisches Bundesamt 2009a: 132). Zwischen den Beschäftigtengruppen lassen sich große Unterschiede feststellen, wie die folgende Abbildung 4 zeigt. Abbildung 4: Anteil der Erwerbstätigen, die im Jahr 2008 hauptsächlich zu Hause gearbeitet haben ϳϬ
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Quelle: Statistisches Bundesamt 2009a: 130 ff. *) Ohne mithelfende Familienangehörige **) Ohne Auszubildende
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Für Selbstständige hat die Arbeit zu Hause eine hohe Bedeutung: 63 % der selbstständigen Männer und 41 % der selbstständigen Frauen verrichtete 2008 über die Hälfte ihrer Arbeitszeit zu Hause. Bei diesen Zahlen ist allerdings zu beachten, dass per Definition im Mikrozensus nur zu Hause gearbeitet wird, wenn ein Teil der Wohnung für berufliche Zwecke eingerichtet ist. Zudem fallen Erwerbstätige, die aus Zeitgründen oder aus persönlichem Interesse in ihrer Freizeit unentgeltlich arbeiten, ebenfalls nicht unter die Kategorie Arbeit zu Hause.
Zunehmende Ortsunabhängigkeit von Arbeit: Einige Zahlen Sehr viel stärker als die betriebliche Telearbeit haben informelle Telearbeitsformen zugenommen und mit ihnen die schleichende Verlagerung von beruflichen Tätigkeiten in die Privatsphäre und an andere öffentliche Orte außerhalb des Betriebes. Über Formen mobiler Telearbeit, also das Arbeiten in Verkehrsmitteln, Warteräumen an Bahnhöfen, Flughäfen, in Hotels oder beim Kunden fanden in Deutschland bisher kaum systematische Untersuchungen statt und es werden keine amtlichen Daten dazu erhoben.19 Für die zunehmende Ortsunabhängigkeit von Arbeit und für die schleichende Eroberung der Erwerbsarbeit von Räumen außerhalb des Betriebes sprechen allerdings folgende Zahlen: So ermöglichten im Jahr 2006 bereits 18 % aller Unternehmen ihren Mitarbeitern externe Zugriffsmöglichkeiten auf ein unternehmensinternes IT-System (vgl. Statistisches Bundesamt 2009b: 31) sowie mindestens einen halben Tag in der Woche Telearbeit von zu Hause aus. Der Anteil der Telearbeiter nimmt mit der Größe der Unternehmen zu. Stark angestiegen ist auch der Anteil der tätigen Personen, wie z.B. Außendienstmitarbeiter oder Telearbeitskräfte, die von außerhalb auf die IT-Systeme zugreifen konnten (vgl. Statistisches Bundesamt 2006c: 41). Er hat sich von 2003 bis 2006 mehr als vervierfacht und liegt jetzt bei 18 % (vgl. Statistisches Bundesamt 2009 b: 31). Für den schleichenden Einzug beruflicher Tätigkeiten in die Privatsphäre sprechen auch die Daten, die im Mikrozensus zur beruflichen 19 So wirbt T-Mobile mit 20.000 Hotspots weltweit, von denen man sich in Bahnhöfen, Flughäfen, Cafés, Bars und Restaurants ins Internet einloggen kann, mit den Worten: „Arbeiten wird zum Vergnügen“ (T-Mobile 2007a) und für die neu eingerichteten Hotspots in ICEs: „Ganz nach dem Motto ‚Reisezeit ist Nutzzeit‘“ können Sie sich in den DB Lounges und sogar während der Fahrt in ICE-Zügen drahtlos ins Internet einloggen. Im ICE bieten Sitzplätze mit Tischen und Steckdosen am Platz ideale Voraussetzungen für die Nutzung der Reisezeit für geschäftliche oder private Interessen.“(T-Mobile 2007b) 42
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
Nutzung des Internet im Privatbereich erhoben werden. 80 % der Nutzer, die das Internet für berufliche Zwecke zu Hause anwenden, geben an, Informationen mit Bezug zur eigenen Arbeit zu recherchieren. Mehr als die Hälfte von ihnen schreibt zu Hause berufliche Emails, und jeder Fünfte versendet die zu Hause erstellten Arbeiten an den Arbeitsplatz. Vor allem Selbstständige geben im Mikrozensus im Jahr 2000 an, das Internet im Privatbereich zu beruflichen Zwecken zu nützen. 67 % aller Selbstständigen mit Beschäftigten bzw. 56 % ohne Beschäftigte nutzte das Internet zu Hause für den Beruf. Ebenso nützt in der Gruppe der Angestellten (29 %), der Auszubildenden (31 %) und der Beamten (36 %) ein relevanter Anteil das Internet entsprechend (vgl. Boes 2005: 240 f.). Obwohl anhand der Daten keine präzisen Aussagen über die Dauer möglich sind, in der arbeitsbezogen im Privatbereich gearbeitet wird, deuten sie doch darauf hin, dass Tätigkeiten, die der Erwerbsarbeit zuzurechnen sind, informell in den Privatbereich verlagert werden. Da ihre Erledigung im häuslichen Bereich meist nicht formell geregelt ist, tauchen sie in den Statistiken zur Teleheimarbeit nicht auf. Zudem werden sie häufig nicht einmal von den Erwerbstätigen selbst explizit als erwerbsbezogene Tätigkeiten identifiziert (vgl. Boes 2005: 240). Diese Annahmen werden auch durch Erhebungen in Großbritannien gestützt.20 Felstead et al. (2005) beschäftigen sich in ihrer Studie mit der zeitlichen Entwicklung von Arbeitsorten sowie damit, welche Beschäftigtengruppen und Berufe besonders von mobilen Arbeitsformen betroffen sind. Nach ihren Zahlen hat sich die Anzahl der Menschen, die hauptsächlich von zu Hause aus arbeiten, in den 1980er Jahren in Großbritannien verdoppelt. Seit 1992 ist die Anzahl aber relativ stabil bei 2,5 % aller Arbeitenden verblieben. Sehr viel stärker und konstanter ist dagegen die Zahl der Menschen gestiegen, die an verschiedenen Orten wie z.B. bei Kunden, sowie von zu Hause aus tätig sind. Im Jahr 2002 arbeiteten 7,6 % aller Arbeitenden in Großbritannien an wechselnden Arbeitsorten, wobei sich ihr Hauptarbeitsplatz zu Hause befand. Zudem gaben 2002 13,4 % aller Erwerbstätigen an, dass sie mindestens einen vollen Tag in der Woche von zu Hause aus arbeiten. Ihre Zahl ist seit dem Jahr 1997 um mehr als ein Viertel gestiegen. Die große Bedeutung von modernen IuK-Technologien für die verrichtete Arbeit zeigt sich darin, dass 1997 rund ein Drittel derer, die mindestens einen Tag Zuhause arbeiten, angegeben haben, dass sie diese Arbeit ohne Telefon oder 20 Die verwendete Datengrundlage der Studie ist der Labour Force Survey (LFS), in dem jährlich 150.000 Menschen, wovon 65.000 über 16 Jahre sind und arbeiten, befragt werden. Die Frage nach dem Arbeitsort wird seit 1981 gestellt. 43
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Computer nicht ausüben könnten, 2002 stieg ihr Anteil bereits auf 47 % (vgl. Felstead et al. 2005: 419). Zudem sind inzwischen die meisten Bahnhöfe und Flughäfen mit Wireless Lan ausgestattet, ebenso bieten Bars und Cafés vielfach diesen Service.21 Es kann also inzwischen an den meisten halböffentlichen Orten der Kontakt zur Firma oder zu Kunden via Internet aufrecht erhalten und auf Daten zugegriffen werden: Transit- und Freizeiträume sind zunehmend als Arbeitsräume nutzbar.
2.2.4 Die Subjektivierung von Arbeit Die zentrale These der „Subjektivierung von Arbeit“ ist, dass durch die Veränderungen im Bereich der Erwerbsarbeit gemeinsam mit gesellschaftlichem Wandel die Bedeutung von Subjektivität und subjektiver Gestaltung in der Arbeit wächst (für eine ausführliche Diskussion der Subjektivierung in der Arbeitsforschung vgl. Beiträge in Moldaschl/Voß 2003, Kratzer 2003, Kleemann/Matuschek/Voß 2003). Die These der Subjektivierung von Arbeit behauptet „die partielle Ablösung des für fordistisch-tayloristische Rationalisierungsstrategien konstitutiven Prinzips der Trennung von Person und Arbeitskraft“ (Kratzer et al. 2004: 346). Die Veränderungen in der Betriebs- und Arbeitsorganisation stellen neue Anforderungen an die Beschäftigten, bzw. – so die These vieler Autoren – führen zu einem erweiterten Zugriff der Firmen auf die Arbeitskraftnutzung. Während bürokratische und tayloristische Formen der Arbeitsorganisation darauf ausgerichtet sind, durch eine Objektivierung der Arbeit eine klare Trennung zwischen der genutzten Arbeitskraft und Person zu ziehen, fordern post-tayloristische Formen von den Beschäftigten die Arbeit selbst zu strukturieren und sich als gesamte Person einzubringen. Beschäftigte sind explizit dazu aufgefordert, ihre Arbeit selbst zu organisieren, selbst zu steuern und dabei subjektive Eigenschaften und Fähigkeiten wie Kooperationsbereitschaft, Konfliktlösungskompetenzen und Empathie einzubringen (vgl. Kratzer/Sauer
21 So bietet z.B. die Kaffeehaus-Kette Starbucks seit August 2003 gemeinsam mit T-Mobile International in allen größeren Filialen in Deutschland einen öffentlichen Hochgeschwindigkeits-Internetzugang durch Wireless Local Area Network (W-Lan) an. Dazu heißt es auf der Starbucks- Internetseite: „Die T-Mobile HotSpots bieten den Gästen die Möglichkeit, im Coffee House bei einem guten Kaffee ihre Emails abzurufen, im Internet zu surfen oder schnell Dokumente von ihrem Firmen-Intranet herunter zu laden.“ (Starbucks Coffee Company 2008) 44
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
2003: 105). Dies beinhaltet nach Kleemann/Matuschek/Voß (2003)22 auch die Chance sich selbst mehr in den Arbeitsprozess einzubringen. Diese Veränderung wird also nicht einseitig von den Betrieben getragen, sondern kann als doppelter Prozess verstanden werden: „Veränderte betriebliche Strukturen erhöhen den funktionalen Bedarf der Betriebe nach subjektiven Leistungen […], Individuen betreiben dagegen eine Subjektivierung der Arbeit, wenn sie verstärkt subjektive Ansprüche an die Arbeit herantragen.“ (Kleemann/Matuschek/Voß 2003: 62) Die Belege für einen Prozess in Richtung der Subjektivierung von Arbeit werden in neuen Arbeits- und Organisationsformen auf betrieblicher Ebene (Teamarbeit, Vertrauensarbeitszeit, kooperative Führungskonzepte etc.), dem Wandel von Tätigkeitsstrukturen und Qualifikationsanforderungen 23 sowie von Seiten der Individuen in veränderten Lebensstilen und Erwerbsorientierungen gesehen. Indem Beschäftigte Veränderung in der betrieblichen Organisation auch zunehmend einfordern, tragen sie zu diesem Prozess der Subjektivierung von Arbeit bei (vgl. Kratzer/Sauer 2005: 128-129). Der Soziologe Baethge (1994) beschreibt das Geltendmachen eigener Ansprüche an die Erwerbsarbeit als neues Phänomen, das er mit dem Begriff der „normativen Subjektivierung“ belegt: Menschen stellen vermehrt subjektive Ansprüche an ihre Arbeit und anstatt eine Sache nur auszuführen, möchten sie Spaß bei der Arbeit erfahren, Verantwortung tragen und sich als Person einbringen. Baethge (1994: 247) weist der Sphäre der Erwerbsarbeit weiterhin eine hohe identitätsstiftende Funktion zu und vermerkt bei einer wachsenden Zahl von – vor allem jüngeren und qualifizierten – Beschäftigten „eine positive Verankerung von Arbeit in der individuellen Identitätskonstruktion“. 24 22 Diese Entwicklungen werden in der wissenschaftlichen Diskussion durchaus zwiespältig bewertet: Voß und Pongratz (1998) diagnostizieren, dass diese Prozesse tendenziell sogar einen neuen Typus von Arbeitskraft hervorbringen, der durch eine wachsende „Selbst-Kontrolle“, „Selbst-Ökonomisierung“ und „Selbst-Rationalisierung“ (zugleich mit dem Effekt einer steigenden „Selbst-Ausbeutung“) charakterisiert sei. Sie bewerten die Entwicklung mindestens zwiespältig. 23 Hier ist ein Trend in Richtung personen- und (wissensintensiver) unternehmensbezogener Dienstleistungen und höherer Qualifikationsanforderungen sowie wachsender Anteile an höher qualifizierten Tätigkeiten feststellbar (vgl. Reinberg 1999). 24 Die Auswirkungen des Strukturwandels auf Individuen werden unterschiedlich beurteilt und die Deutungen unterscheiden sich zum Teil ganz erheblich voneinander. Während der Soziologe Martin Baethge die Einführung und Ausbreitung vieler neuer Produktions- und Organisationskonzepte in Unternehmen auf die veränderten Ansprüche der Beschäftigten zurückführt, stellt Richard Sennett (2000) dagegen die zunehmende 45
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Der Wandel der Arbeitswerte und -motivationen ist im Zusammenhang mit dem allgemeinen „Wertewandel“-Prozess zu sehen, der sich auf allgemeinster Ebene mit einer Verschiebung von so genannten „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ („Gehorsam“, „Ordnung“, „Fleiß“, „Leistung“, „Bescheidenheit“ usw.) zu so genannten „Selbstentfaltungsund Genusswerten“ („Entfaltung der Person“, „Freiheit“, „Gleichheit“, „Lebensgenuss“) beschreiben lässt (für einen Überblick siehe Klages/Hippler/Helmut 1992). Bei den Einstellungen zur Erwerbsarbeit lässt sich eine zunehmende „Distanzierung“ der Berufstätigen gegenüber der Arbeit feststellen. Wenn man allerdings die Haltung zur konkreten eigenen Berufstätigkeit betrachtet, zeigt sich eine abnehmende Bedeutung materieller Interessen („Einkommen“, „Aufstiegsmöglichkeiten“) zugunsten arbeitsinhaltlicher und sozialer Erwartungen an die Arbeit („interessante und abwechslungsreiche Arbeit“, „Anerkennung“, „Kontakt zu anderen Menschen“ usw.). Kleemann, Matuschek und Voß (2003: 86; Herv. i. Orig.) sehen als Ergebnis der Debatten um den Wertewandel, dass „der konstatierte (und unterschiedlich bewertete) ‚Wandel‘ nicht zu einer Auflösung von ‚Pflicht- und Akzeptanzwerten‘ führt, sondern vielmehr zu deren Relativierung und einer Erweiterung um Dimensionen der ‚Selbstentfaltung‘“. Hinsichtlich der Arbeitsorientierungen sind also ein verstärktes Selbstbewusstsein und der Wunsch nach einer gleichberechtigten Verbindung von Arbeit und Leben zu beobachten. Arbeit hat sich zu einem Lebensbereich entwickelt, in dem man sich entfalten können möchte, an den Ansprüche gestellt werden und wo subjektive Bedürfnisse befriedigt werden sollen.
2.2.5 Die Entgrenzung von Arbeit und Leben Wie wirken sich die beschriebenen Veränderungen im Bereich der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse auf unseren Alltag aus? Gerät durch sie vielleicht sogar das mit der Industrialisierung entstandene strukturelle Verhältnis von Erwerbsarbeit und übrigen Alltagsbereichen in Bewegung? Vertreter des Entgrenzungskonzeptes sagen Ja: Sie stellen in zeitdiagnostischer Perspektive fest, dass die als irreversibel angenommene Differenzierung der Sozialwelt in den Bereich der formellen Erwerbsarbeit und den Bereich des privaten Lebens ebenfalls kontingent wird. Die Ausdifferenzierung in eine Erwerbssphäre, und deren Trennung von anderen individuellen und gesellschaftlichen Bereichen (vor allem Freizeit
Überforderung von Menschen durch flexible Beschäftigungsverhältnisse in den Mittelpunkt seiner Analyse. 46
DIE ENTGRENZUNG VON ARBEITEN UND LEBEN
oder privater Raum) hatte während der Industrialisierung begonnen und sich in der Phase des Fordismus weiter verstärkt (vgl. Kapitel 4.2 für die Entstehung des Zuhauses als private Sphäre und Gegenwelt zur Erwerbstätigkeit). Flexible Arbeitszeiten und die zunehmende Ortsungebundenheit von Arbeit (Arbeit zu Hause, Mobilarbeit) sind Tendenzen, die diesen Prozess der Ausdifferenzierung beeinflussen oder stoppen könnten. Ob und was sich hier genau ändert, ob sich also die Bedeutung des Zuhauses oder auch das Verhältnis der Sphären zueinander verändert, möchte ich zu diesem Zeitpunkt der Arbeit noch als offene Frage behandeln. In jedem Fall geraten die Grenzen zwischen betrieblich basierter „Arbeit“ und privatem, heim- und familienbasiertem „Leben“ (vgl. Gottschall/Voß 2003) in Bewegung. Allerdings ist kaum anzunehmen, dass es sich hierbei um eine Rückkehr zu vormodernen Mustern von Arbeiten und Leben handelt, da diese Entgrenzungsprozesse vor dem Hintergrund einer weitreichenden gesellschaftlichen „Individualisierung“ (vgl. Beck 1986) stattfinden, bei der es nicht mehr um Kollektivschicksale von Gruppen geht, sondern Menschen, diese entgrenzten Verhältnisse jeweils selbst verarbeiten und mit ihnen umgehen müssen (vgl. Kleemann 2003: 82; Jurczyk/Voß 2000). Welche neuen Anforderungen daraus für Menschen in ihrem alltäglichen Handeln erwachsen, ist Thema des kommenden Kapitels.
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3 E N T G R E N Z U N G U N D N E U E AN F O R D E R U N G E N A L L T AG : K O N Z E P T I O N E L L E A N S ÄT Z E
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In den Sozialwissenschaften werden soziale Grenzziehungen üblicherweise mit Begriffen wie Strukturen oder Institutionen gefasst. Die beschriebenen Tendenzen der Entgrenzung von Arbeit in den verschiedenen Dimensionen können als Auflösung von Strukturen in Arbeitskontexten gesehen werden, wobei es sich hierbei im Wesentlichen um Strukturen auf der Makro- und Mesoebene handelt. Die Grenz-Metapher kann also durchaus in „Struktur“ als den in den Sozialwissenschaften allgemein üblichen Begriff übersetzt werden (vgl. Manning/Wolf 2005: 30). Während bisher fast ausschließlich von Strukturveränderungen in der Arbeitswelt die Rede war, stehen im folgenden Teil die Umgangsweisen von Menschen mit diesen Veränderungen im Fokus. Da sich mit dem Konzept der Entgrenzung noch keine Aussagen treffen lassen, wie Individuen mit dem Wandel umgehen, möchte ich zunächst die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens präsentieren. Mit diesem Ansatz lässt sich theoretisch fassen, wie man sich den Zusammenhang zwischen veränderten Strukturen und dem Handeln von Individuen vorstellen kann.
3.1 Die Wechselwirkung von Handlung und Struktur: Die Strukturierungstheorie Die Strukturationstheorie von Giddens beschäftigt sich im Kern mit dem Zusammenspiel von Handlung und Struktur. Nach Giddens lassen sich gegenwärtige Gesellschaften nur dann angemessen analysieren, wenn das Handeln der Individuen und die gesellschaftlichen Strukturen nicht als Gegensätze, sondern als Wechselbeziehung betrachtet werden:
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
„[Giddens] ist der Auffassung, daß gesellschaftliche Strukturen als solche den Handlungen individueller Akteure nicht gegenüberstehen, sondern unmittelbar in diese Handlungen miteinfließen, und umgekehrt die Handlungen von Akteuren Strukturen ‚schaffen‘.“ (Treibel 1997: 224)
Im Zentrum des Giddenschen Werkes steht die Idee, dass die soziale Wirklichkeit von bewusst und kompetent Handelnden konstituiert wird, die sich dabei wiederum auf soziale Strukturen beziehen (vgl. Werlen 1995: 77). Dabei darf Struktur nicht mit Zwang gleichgesetzt werden, sie schränkt zwar das Handeln ein, ermöglicht es aber auch, da wir ohne Strukturen, an denen wir unsere Handlungen orientieren können, in unserem Alltag „aufgeschmissen“ (Treibel 1997: 238) wären. Ebenso kann Handeln nicht losgelöst von einem Kontext gesehen werden, denn Menschen müssen sich, um erfolgreich handeln zu können, auf bestehende Strukturen beziehen. Der Begriff Struktur bezieht sich auf Regeln und Ressourcen und bezeichnet bei Giddens die dauerhafteren Aspekte sozialer Systeme (vgl. Giddens 1997 [1988]: 75). Sie sind den Individuen aber nicht äußerlich, sondern: „Strukturen existieren als Fähigkeit der Akteure und zwar als Wissen wie Dinge getan, oder geschrieben werden sollen, und auf dem also die soziale Praxis beruht, die dann als Umsetzung dieses Wissens zu begreifen ist.“ (Werlen 1997: 184) Regeln als das eine Element von Struktur können als generalisierte Leitfäden des Handelns bezeichnet werden, „die es den Handelnden ermöglichen, ihre Tätigkeiten routinemäßig zu reproduzieren, mit denen anderer zu koordinieren, aber auch Situationen zu verändern“ (Werlen 1997: 187). Sie können als allgemeine Verfahrensregeln von Akteuren stillschweigend gebraucht und informell festgelegt sein oder in Form von Gesetzen formuliert sein (vgl. Giddens 1997 [1988]). Ressourcen stellen das zweite Element von Struktur dar. Sie sind notwendig, um die in Regeln gefasste Handlungskompetenz auch wirklich umsetzen zu können. Ressourcen teilt Giddens in allokative und autorative Ressourcen auf: Allokative Ressourcen leiten sich aus der Herrschaft des Menschen über die Natur her. Sie stellen Handlungsmöglichkeiten und -bedingungen als materielle Werte wie der Besitz von Kapital, Boden, Immobilien, Produktionsmitteln etc. dar. Autorative Ressourcen sind nichtmaterielle Ressourcen, „die sich aus dem Vermögen, die Aktivitäten menschlicher Wesen verfügbar zu machen, herleiten“ (Giddens 1997 [1988]: 429) und sich auf die Möglichkeiten von Personen beziehen, menschliche Tätigkeitsabläufe zu überwachen, zu kontrollieren und zu organisieren (vgl. Werlen 1997: 189).
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ENTGRENZUNG UND ANFORDERUNGEN IM ALLTAG: KONZEPTIONELLE ANSÄTZE
Giddens fasst den Menschen als „‚kompetentes‘ oder ‚handlungsmächtiges‘ Subjekt, das sich ‚bewußt‘ und in ‚reflexiver‘ Manier mit seiner materiellen und sozialen Umwelt auseinandersetzt und in diese eingreift“ (Giddens 1997 [1988]: 291) auf. Sozial kompetent heißt, dass Menschen wissen, in welchem Handlungskontext sie sich auf welche Regeln bzw. Ressourcen beziehen können oder müssen. Bewusst heißt, dass sie Gründe für ihr Handeln haben und auch fähig sind, auf Nachfrage diese Gründe diskursiv darzulegen. Zudem besitzen sie reflexive Fähigkeiten, d.h. sie steuern fortwährend den Fluss ihrer Aktivitäten und kontrollieren routinemäßig die sozialen und physischen Kontexte, in denen sie sich bewegen (vgl. Giddens 1997: 53 ff.).1 Zentral für Giddens’ Akteursverständnis ist der Begriff des praktischen Bewusstseins (practical consciousness): „Es […] umfasst all das, was Handelnde stillschweigend darüber wissen, wie in den Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu verfahren ist, ohne daß sie in der Lage sein müßten, alldem einen direkten diskursiven Ausdruck zu verleihen.“ (Giddens 1997 [1988]: 36) Im Alltag ist das praktische Bewusstsein von großer Bedeutung, da ein Großteil alltäglichen sozialen Handelns von ihm getragen wird und von den Akteuren nicht permanent reflektiert werden muss. „Routinisierte Praktiken sind der wichtigste Ausdruck der Dualität der Struktur in Bezug auf die Kontinuität des sozialen Lebens.“ (Giddens 1997 [1988]: 336) Diese Routinisierung des Alltagslebens sorgt einerseits für die kontinuierliche Reproduktion von Strukturen und andererseits sind die wiederkehrenden Routinen des Alltags entscheidend, um ein Gefühl des Vertrauens und der Seinsgewissheit bei Akteuren herzustellen: Ohne Routinen, auf die wir immer wieder zurückgreifen können, wären wir im Alltag schlichtweg überfordert. Allerdings sind diese Handlungsroutinen den Handelnden bewusst, die, wenn sie danach gefragt werden, ihre Motive für ihre Handlungen benennen können. Die Wechselwirkung von Handlung und Struktur wird von Giddens als dynamisches Modell konzipiert. Das bedeutet: Wenn sich Strukturen verändern, verändern sich auch die Rahmenbedingungen für das Handeln und führen letztendlich zu veränderten Handlungen, da Strukturen 1
Dennoch ist die Bewusstheit von Akteuren immer begrenzt. Erstens durch das Unbewusste und zweitens durch uneingestandene Bedingungen und unbeabsichtigte Folgen des Handelns (vgl. Giddens 1997 [1988]: 335 f.). Das heißt, dass sowohl intendierte und nicht-intendierte Handlungsfolgen die Strukturen prägen, auf die sich wiederum Akteure in ihren Handlungen beziehen. Ein soziales System besteht also aus erkannten und unerkannten Handlungsbedingungen und intendierten und nichtintendierten Handlungsfolgen und ist keinesfalls das ausschließlich intentionale und vorhergesehene Produkt von Handelnden. 51
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
einerseits das Ergebnis vorangegangener Handlungen darstellen und zugleich Bedingung für aktuelles Handeln sind. „Diese Veränderungen des Handelns und der Struktur können zunächst eine Störung der Routinisierung bedeuten, Handlung und Struktur werden jedoch durch wiederholtes Handeln in gleichem Sinne in diesem veränderten Verhältnis routinisiert.“ (Pfaffenbach 2002: 20) Um allerdings die Auflösung von Strukturen in Arbeitskontexten in Bezug auf Giddens Theorie der Strukturierung diskutieren zu können, muss kurz auf den Strukturbegriff eingegangen werden: Die zeitliche und räumliche Flexibilisierung von Arbeit, Deregulierung, die Veränderung von Beschäftigungsverhältnissen sind als Strukturen auf der Makro- bzw. Mesoebene zu betrachten. Giddens hingegen definiert Strukturen als individuelle, d.h. für jedes Individuum unterschiedliche Regeln und Ressourcen. Da Giddens jedoch selbst häufig den Strukturbegriff weiter fasst, erscheint es mir zulässig, im Folgenden unter Strukturen Mikrostrukturen im Giddenschen Sinne wie auch gesellschaftliche Meso- und Makrostrukturen zu verstehen. Zudem sind nicht nur Mikrosondern auch Meso- und Makrostrukturen handlungsleitend und werden durch Handlungen produziert und reproduziert (vgl. hierzu auch Pfaffenbach 2002: 22 u. 25). Was bedeuten nun die strukturellen Veränderungen in Arbeitskontexten für Individuen? Handlungstheoretisch gesehen bedeuten die in Kapitel 2 beschriebenen Tendenzen der Entgrenzung von Arbeit in den verschiedenen Dimensionen also eine Auflösung von Strukturen in Arbeitskontexten, die einerseits potentiell behindernde Beschränkungen abbauen und neue Handlungsoptionen eröffnen, andererseits aber auch potentiell entlastende und hilfreiche Orientierungen zerstören kann. Durch die politisch oder betriebsorganisatorisch ausgelöste De-Strukturierung von Arbeitsverhältnissen sind Menschen also gezwungen, zunehmend eigene Arbeitsstrukturen zu entwickeln: „Die tendenzielle Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten in der Arbeit dann wieder auf ein alltagspraktisch handhabbares Maß zu reduzieren und in eine bewältigbare routinisierte Form zu bringen, wird dabei jedoch immer mehr den Arbeitenden als neuartige Aufgabe zugewiesen.“ (Voß 1998: 477)
Aus der Giddenschen Dualität lässt sich also sehr gut ableiten, dass das Handeln begrenzende Strukturen braucht. Wenn Strukturierungen sich ändern oder entfallen, müssen Individuen – um handlungsfähig zu bleiben – selbst Strukturen und neue Begrenzungen schaffen. „Entstrukturierung erfordert eine situative Re-Strukturierung – Entgrenzung 52
ENTGRENZUNG UND ANFORDERUNGEN IM ALLTAG: KONZEPTIONELLE ANSÄTZE
erzwingt eine praktische Neu-Begrenzung für die jeweilige Situation“ (Gottschall/Voß 2003: 18 f.). Mit welchen konkreten Praktiken Menschen allerdings in ihrem Alltag Grenzen ziehen, bzw. sich selbst neue Strukturen schaffen, lässt sich mit der Strukturierungstheorie von Giddens nicht erfassen. Bei ihr handelt es sich um eine Sozialtheorie, die nur schwer für die empirische Forschung handhabbar gemacht werden kann. Deshalb soll im Folgenden ein Konzept vorgestellt werden, das in der Lage ist, herauszuarbeiten, mit welchen konkreten Praktiken und Strategien Menschen aktive Strukturierungsleistungen oder neue Grenzziehungen im Alltag erbringen. Zudem kann mit diesem Konzept das Verhältnis von bezahlter Erwerbstätigkeit zu den anderen Lebensbereichen in den Blick genommen werden, was wichtig erscheint, da von den beschriebenen Entwicklungen nicht nur der Erwerbsbereich, sondern alle Lebensbereiche tangiert sind.
3 . 2 Al l t a g a l s d e r O r t , a n d e m a l l e s z u s a m m e n k o m m t : Al l t ä g l i c h e L e b e n s f ü h r u n g a l s An a l ys e r a h m e n Die „Alltägliche Lebensführung“ kann als analytisches Rahmenkonzept bezeichnet werden, mit dem die individuellen Strukturierungsleistungen von Erwerbsarbeit und Privatleben in sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht empirisch offen erfasst werden können. Die Alltägliche Lebensführung bezeichnet – sehr vereinfacht gesprochen – das, was Menschen tagein und tagaus tun und wie sie es tun. Als integratives Konzept hat es das gesamte Tätigkeitsspektrum von Menschen im Blick. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie Menschen die zum Teil widersprüchlichen Anforderungen aus den unterschiedlichen Lebensbereichen wie Familie und Beruf, Sozialbeziehungen und Freizeitaktivitäten organisieren und in ihren Alltag integrieren und zudem mit ihren eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen ausbalancieren. In Abgrenzung zu anderen Alltagskonzepten (vgl. ausführlich Voß 1991) wird Lebensführung nicht primär als Sinnkonstruktion wie im phänomenologischen Konzept der Lebenswelt oder des Alltags und auch nicht im Sinne der individuellen Stilisierung mit Ziel sozialer Distinktion (wie bei der Lebensstilforschung ), sondern zuvorderst als Praxis verstanden. Auch steht nicht die reine Ansammlung der Tätigkeiten des Alltags im Vordergrund (wie bei der Zeitbudgetforschung), sondern es
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
interessiert, wie sie koordiniert, organisiert und in den Alltag integriert werden. „Arrangements der alltäglichen Lebensführung sind der Ort, wo alles, was für das Leben von Bedeutung ist, zusammentrifft. In ihnen fließen nicht nur Werte, Leitbilder und Orientierungen, Bedürfnisse, Ansprüche und Lebenskalküle zusammen, die darüber bestimmen, was Menschen vom Leben erwarten. In sie gehen auch die tagtäglichen Anforderungen und individuell verfügbaren materiellen und kulturellen, personalen und sozialen Ressourcen ein, die darüber bestimmen, was sie vom Leben erwarten können. Weiterhin werden in der alltäglichen Lebensführung nicht nur gesellschaftliche Konventionen, Gesetze und vertragliche Regelungen wirksam, sondern auch Institutionen mit ihren eigenen Anforderungen und Verhaltenszumutungen, die darüber bestimmen, in welchem Rahmen und in welchen Handlungsbereichen die Menschen ihr Leben gestalten müssen.“ (Kudera/Voß 2000: 17; Herv. i. Orig.)
Das Konzept wurde empirisch ab Ende der 1980er Jahre im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 333 der Universität München anhand der Untersuchung des Alltags von Berufstätigen mit Kindern entwickelt: Im Mittelpunkt stand die Frage, mit welchen Formen und Strukturierungen der Lebensführung, bzw. welchen Arrangements samt den dahinter stehenden Methoden und Logiken, die Individuen ihren Alltag aktiv herstellen, bzw. gestalten. Die Ausgangsthese des Konzepts ist dabei, dass es in den letzten Jahrzehnten zu erheblichen Veränderungen in der Art und Weise gekommen ist, wie der Alltag gestaltet wird, bzw. gestaltet werden muss. Vor allem aufgrund der Pluralisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen, der Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Strukturen und der Verschiebungen von Werten und Orientierungen seien die Anforderungen an die Individuen gestiegen, den Alltag zu organisieren und die „Bewältigung des Alltags ist zu einer komplexen Leistung eigener Art geworden“ (Jurczyk/Rerrich 1993: 25). Alltagspraktiken oder das Konstrukt Alltag werden als Vermittlungsglied zwischen Individuum und Gesellschaft konzipiert. Hier wird die Nähe zu Giddens’ Strukturierungstheorie deutlich, da dem Konzept ein naiver, voluntaristischer Subjektivismus ebenso fern ist wie ein rigider Objektivismus. Die subjektorientierte Perspektive betont, dass das System der Lebensführung von jedem Menschen in Auseinandersetzung mit seinen Lebensumständen und strukturellen Rahmenbedingungen konstruiert werden muss (vgl. Voß 1995: 34). Das Tätigkeitsspektrum einer Person ergibt sich nämlich nicht als bloße Reaktion auf vorgefundene Zwänge und Möglichkeiten, sondern die alltägliche Lebensführung ist eine aktive Konstruktionsleistung von Individuen, die sie in Auseinandersetzung mit ihren eigenen Ansprüchen, Werten, Orientierungen, 54
ENTGRENZUNG UND ANFORDERUNGEN IM ALLTAG: KONZEPTIONELLE ANSÄTZE
Bedürfnissen und Lebensplänen selbst herstellen, stabilisieren und gegebenenfalls auch wieder verändern müssen (vgl. Jurczyk/Rerrich 1993: 34). Wie Menschen die Herstellung ihrer Lebensführung gelingt, hängt ganz entscheidend auch von den zur Verfügung stehenden materiellen, sozialen und personalen Ressourcen ab. Trotz der personalen Zuständigkeit und eigenen Konstruktionsleistung findet alltägliche Lebensführung immer im sozialen Kontext statt. Deshalb stellen Strukturen, die Individuen in Form von objektiven Verhältnissen gegenübertreten, unumgehbare Bedingungen ihres Handelns dar: So sind Beruf, Familie, Freunde, Vereine usw. sowohl als Zwänge und Anforderungen wie auch als Chancen und Ressourcen zu sehen. Diese Bedingungen determinieren die Lebensführung nicht, sondern werden aktiv verarbeitet. Ebenso spielen gesellschaftliche Normen und Orientierungsmuster sowie kulturelle Modelle eines richtigen und guten Lebens bei der individuellen Herstellung der Lebensführung eine wichtige Rolle (vgl. Voß 1995: 37). Zudem beeinflussen soziale Formen des Zusammenlebens, also Partnerschaft, Freundeskreis, Verwandtschaft die individuellen Aktivitäten. Dabei entwickeln sich je nach Lebensphase und Lebensform bestimmte Arrangements im Umgang mit all jenen Bedingungen und Personen, die im Alltagsleben eine Rolle spielen. Diese mehr oder weniger flexiblen Arrangements sind auf Dauer angelegt und nicht beliebig veränderbar. Dadurch gewinnt die Lebensführung ein gewisses Maß an Eigenständigkeit gegenüber der Person – sie ist nicht ohne weiteres wieder veränderbar. Die eingespielten Arrangements verleihen dem Alltagsleben ein gewisses Maß an Stabilität und Verlässlichkeit. Dadurch haben sie eine entlastende Funktion für das Individuum und geben Verhaltenssicherheit, da das Alltagsleben weitgehend nach Routinen abläuft (vgl. Kudera 2000: 81). Die Form bzw. „das Arrangement“ der Lebensführung bezieht sich auf die aktive Vermittlung von Handlungen in den unterschiedlichen, gesellschaftlich ausdifferenzierten Tätigkeitssphären, die nach unterschiedlichen Logiken strukturiert sind und durch die Person koordiniert und im Alltag zu einem Ganzen zusammengefügt werden müssen. Die Struktur der Lebensführung bezieht sich auf die Verteilung der Tätigkeiten (in z.B. zeitlicher, räumlicher oder sachlicher Hinsicht) auf die verschiedenen sozialen Bereiche (Erwerbstätigkeit, Familie, Freizeit). Die individuelle Logik (auch als Modus bezeichnet) „[…] verweist auf die hinter jeder alltäglichen Handlungsstruktur stehende Art und Weise der Gestaltung des Alltags, etwa die unterschiedliche Bewertung von Handlungsoptionen, und auf dabei eingesetzte alltagspraktische Methoden 55
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der (z.B. zeitlichen oder räumlichen) Tätigkeitsregulierung und -koordination“ (Hildebrandt et al. 2000: 29).
Basis der Lebensführung sind Tätigkeiten, die von Menschen in sachlicher, zeitlicher, räumlicher, sozialer, medialer und sinnhafter Weise strukturiert werden: • Sachlich: Was in den Bereichen inhaltlich getan wird und nach welcher Sachlogik dies ‚in der Regel‘ getan wird; Zeitlich: Wann, wie lange und mit welchem Zeitstil eine Tätigkeit • erfolgt und jemand in den Bereichen tätig wird; • Räumlich: Wo, unter welchen räumlichen Bedingungen eine Handlung erfolgt, Orte der Aktivitäten, Wege dorthin und Formen der Raumnutzung; • Sozial: Mit wem, unter welchen Erwartungen, in welcher sozialen Beziehung zueinander agiert wird; • Medial: Welche wissensmäßigen und materiell technischen Hilfsmittel verwendet und wie diese verwendet werden und in welchen Bereichen man seine Tätigkeiten ggf. unterstützen kann oder muss; Sinnhaft: Welche sinnhafte Bedeutung den Tätigkeiten zugeschrie• ben wird und welche Bedeutung man den verschiedenen Bereichen selber zuschreibt: „Warum“ man dort aktiv wird (vgl. Voß 1991: 213 und 261). Voß (1991: 262) sieht die Tätigkeiten „in der Regel in allen Dimensionen gemeinsam – im ‚Verbund‘ strukturiert“, d.h. dass „Berufstätigkeit […] zeitlich, räumlich, sachlich, sozial, sinnhaft und medial übereinstimmend definiert ist, also zu bestimmten Arbeits-Zeiten, an einem bestimmten Arbeits-Ort, mit bestimmten Arbeits-Inhalten, bestimmten sozialen Arbeits-Erwartungen, einem definierten Arbeits-Sinn und mit bestimmten Arbeits-Mitteln praktiziert wird.“ (Voß 1991: 262)
Tätigkeiten sind aber nicht immer eindeutig strukturell zu verorten und Lebensbereiche können sich auch dimensional überschneiden. So kann der Sozialzusammenhang Familie, wenn am Abend zu Hause gearbeitet wird, durchaus in Teilen sachlich, zeitlich und medial mit beruflichen Dingen verknüpft sein. Allerdings dürfte die Vermittlung von Tätigkeiten dann eine größere Herausforderung für die Person darstellen. Zwar ist die Trennung zwischen den Tätigkeitsbereichen eher als heuristisches Instrument zu betrachten, jedoch folgen sie tatsächlich zum Teil ganz unterschiedlichen Handlungslogiken, wie sich am Beispiel des Umgangs mit Zeit sehr gut illustrieren lässt: Menschen müssen in ihrem 56
ENTGRENZUNG UND ANFORDERUNGEN IM ALLTAG: KONZEPTIONELLE ANSÄTZE
Zeithandeln sehr unterschiedliche Zeitlogiken integrieren. So sind z.B. die kulturell unterschiedlichen Sphären Zuhause und Erwerbsarbeit auch mit unterschiedlichen Zeitregimen verbunden (vgl. Tietze/Musson 2002). Während Zeit in der Erwerbsarbeit ökonomisiert ist (‚Zeit ist Geld‘) und effizient genützt werden soll, wird Zeit in der Familie oder in der Freizeit weniger ‚genützt‘ denn gemeinsam ‚verbracht‘. Die Zeit mit Kindern unter den Kriterien Effizienz, Pünktlichkeit und Messbarkeit zu betrachten, würde uns mehr als befremdlich vorkommen. Allerdings müssen Menschen in der alltäglichen Lebensführung unterschiedliche Zeitlogiken (Beruf, Familie, Freizeit, biographische Zeit) zu einer subjektiven Zeitordnung verbinden. In diesem zeitlichen Arrangement werden die einzelnen Bereiche und Dimensionen institutioneller, natürlicher und persönlicher Zeit zusammengefügt. Dieses integrierende und koordinierende Zeithandeln wird umso komplizierter, je mehr sich stabile und fest strukturierte Zeiten entgrenzen (vgl. Jurczyk 2005: 105). Während das Zeithandeln stärker im Mittelpunkt der Arbeiten der Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ stand, blieb die räumliche Dimension in ihren Untersuchungen unterbelichtet. Raum wurde lediglich dahingehend thematisiert, dass sich Lebensführung je nach dem Wohn- und Arbeitsort in städtischem oder ländlichem Umfeld unterschiedlich ausprägen könnte. Zwar stellt Raum im Konzept der Alltäglichen Lebensführung eine der Dimensionen von Lebensführung dar und es wird anerkannt, dass unser Alltag immer auch räumlich strukturiert ist. Dennoch wird Raum vor allem als die Lokalisierung von Tätigkeiten thematisiert. Zudem werden zwar in den theoretischen Abhandlungen das Vorhandensein von Infrastruktur und von räumlichen Routinen im Sinne von täglichen Wegen und Distanzüberwindung als wichtige Punkte für die Alltagsorganisation genannt, in den empirischen Untersuchungen der Projektgruppe Alltägliche Lebensführung wurden diese räumlichen Aspekte aber kaum wieder aufgenommen.2 Bei den konzeptuellen Überlegungen von Günter Voß (1991) flossen Erkenntnisse aus der Aktionsraumforschung und der Zeitgeographie mit ein (vgl. Kapitel 4.1.3). Allerdings fand weder auf konzeptueller noch
2
So war ein Kriterium bei der Auswahl der Befragten in den empirischen Untersuchungen der Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ die Kontrastierung von Stadt und Land, da angenommen wurde, dass die Ansprüche an ein selbstbestimmtes Leben oder traditionale Vorgaben für die Lebensführung im ländlichen und städtischen Milieu unterschiedlich ausgeprägt sind (vgl. Kudera 1995: 63). Zu der unterschiedlichen Rolle von Beziehungsnetzen für die alltägliche Lebensführung in der Stadt und auf dem Land siehe Beringer 1993. 57
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
auf empirischer Ebene eine systematische Auseinandersetzung damit statt, welche Räume im Alltag auf welche Weise eine Rolle für Menschen spielen. Ebenso steht eine Untersuchung räumlicher Entgrenzungstendenzen noch aus. Allerdings weist Voß (1991: 92) auf den wichtigen Aspekt hin, dass Raum und Zeit immer erst in der subjektiven Umsetzung für Menschen wirksam werden: „Die Personen eigenen sich sozial strukturierten Raum und soziale Zeit an, oder besser: sie müssen sich räumlich und zeitlich ausdrückende Sozialität in ihrer Lebensführung aktiv verarbeiten. Das heißt nicht, einen komplementären Reduktionismus zu pflegen (so als seien Zeit und Raum pure Sozialität und nur sozial zu bestimmen). Raum und Zeit weisen, gerade als soziale, immer originär räumliche und zeitliche Aspekte i.e.S. auf, die in ihrer Logik verstanden werden müssen, aber sie werden nur in ihrer subjektiven Verarbeitung für die Lebensführung wirksam.“ (Voß 1991: 92)
Leider führt Voß nicht aus, was unter räumlicher Sozialität genau zu verstehen ist, denn seine Beispiele beziehen sich vor allem wieder auf physische Räume. Die Frage, welchen Beitrag die Geographie für ein Verständnis von Räumen im Alltag liefern kann, wird im folgenden Kapitel aufgegriffen.
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4 A L L T AG S R ÄU M E – Z U D I E G E O G R AP H I E ?
AL L T ÄG L I C H E
R ÄU M E
FÜR
Die Wohnung mit ihren verschiedenen Zimmern, das Büro oder auch Cafés, Bahnhöfe oder Flughäfen sowie Verkehrsmittel wie Züge und SBahnen sind die Räume, die ab jetzt im Fokus dieser Arbeit stehen. Denn diese Räume sind betroffen, wenn es um Entgrenzungsprozesse im Sinne einer zunehmenden Ortsunabhängigkeit von Arbeit geht und wenn sich die räumlichen Arbeitsbezüge von Beschäftigten im Alltag verändern. Mit dem Begriff Alltagsräume bezeichne ich alle Räume und konkreten Orte, die für Menschen im Alltag relevant sind. Mir geht es – abgeleitet aus dem Konzept der Alltäglichen Lebensführung – darum, herauszufinden, wie Menschen in ihrem Alltag mit Raum umgehen. Ich verstehe Alltag nicht als Gegenbegriff zur Wissenschaft wie zum Beispiel Benno Werlen, der in seiner „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ Alltag und Wissenschaft als unterschiedliche Erfahrungsund Handlungsbereiche1 definiert. Ebenso geht es mir nicht um die Konstitution von Raum in alltäglichen Sprachhandlungen oder in der Alltagssprache, bzw. nicht um Raum als Mittel alltäglicher Kommunikation (vgl. dazu z.B. Schlottmann 2005, Schröder 2006). 1
Mit Alltag ist bei Werlen (1999: 262) gerade „nicht das gemeint, was die Menschen jeden Tag tun“. Werlen lehnt sich bei seiner Definition von Alltag an die Phänomenologie an, wenn er Alltag als den „Wirklichkeitsbereich, der in ‚natürlicher Einstellung‘ erfahren wird und in dem in ‚natürlicher Einstellung‘ gehandelt wird“ bezeichnet (Werlen 1999: 262263). Für eine eingehende Auseinandersetzung mit „Alltag“ unter dem Gesichtspunkt der Unterscheidung von Wissenschaft und Alltag als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Geographie siehe Lippuner 2005. 59
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Wie kann eine angemessene Thematisierung von Räumen von Individuen im Alltag aussehen? Welche Raumkonzepte sind für eine Diskussion von räumlichen Entgrenzungsprozessen auf der Mikroebene überhaupt geeignet und sinnvoll? Welche Voraussetzungen muss dieses Raumkonzept erfüllen? Es muss sowohl mit einer subjektorientierten Perspektive sowie mit einem handlungsorientierten Zugang kompatibel sein (vgl. Kapitel 3). Es müssen Räume auf der Individualebene betrachtet werden und es müssen alle Räume des Alltags von Menschen mit diesem Konzept thematisiert werden können. Hier lässt sich zunächst die grobe Unterscheidung in Innen- undȱ Außenräume treffen. Bei den Außenräumen spielen zurückzulegende Distanzen zum Arbeitsplatz, zu Einkaufsmöglichkeiten oder zu Infrastruktureinrichtungen, wie z.B. Kinderbetreuungseinrichtungen, sowie räumliche Routinen, z.B. bei der Wahl bestimmter Wege, eine Rolle. Bei den Innenräumen führt die Überlegung, wo wir die meiste Zeit im Alltag verbringen, dazu, dass für Individuen weniger der abstrakte Raum an sich, sondern vor allem konkrete Orte wichtig sind. Die täglichen Aktivitäten der meisten Menschen in unserer Gesellschaft finden heutzutage in der Wohnung und am Arbeitsplatz statt (vgl. Giddens 1997 [1988]). Zudem weisen Innenräume einige Charakteristika auf, die sie von Außenräumen unterscheiden: Sie sind stark von Menschen geprägte Räume, denn um sich in ihnen aufzuhalten und dort bestimmte Tätigkeiten verrichten zu können, müssen sie von Menschen eingerichtet, dekoriert und geheizt werden. Sie müssen Gelegenheiten und die materielle Voraussetzung für bestimmte Tätigkeiten bieten oder zu bestimmten Zwecken gestaltet sein. Die Materialität spielt bei Innenräumen also eine wichtige Rolle. Zudem ist der häusliche Raum stark – in westlichen Gesellschaften vielleicht am stärksten von allen Räumen – mit Bedeutungen, Werten und Normen sowie mit persönlichen Erinnerungen und Emotionen versehen. Bei den Werten und Normen, die mit dem Zuhause verbunden werden, spielt die Trennung von Öffentlich und Privat in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle. Fasst man Privat als lokale Privatheit auf, so ist das Zuhause, wo das private, familiale Leben stattfindet dem gegenübergestellt, was sich außerhalb dieses Raumes ereignet, nämlich das öffentliche Leben samt Produktion und staatlich-öffentlicher Tätigkeit (vgl. Kapitel 4.2.1). Auf mögliche Veränderungen dieses Verhältnisses durch neue Arbeitsformen und Technologien habe ich bereits hingewiesen und werde dieses Thema in Kapitel 8.6.3 wieder aufnehmen. Diesen Vorüberlegungen zeigen bereits, dass ein Raumkonzept, das zur Betrachtung von Alltagsräumen geeignet sein soll, verschiedeneȱ Ei60
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
genschaften erfüllen muss, die in folgender Abbildung zusammengefasst sind: Abbildung 5: Notwendige Eigenschaften eines Raumkonzepts zur Betrachtung von Alltagsräumen •
Betrachtung von Raum auf der Individualebene muss möglich sein,
•
handlungsorientierter Zugang muss möglich sein,
•
Materialität von Räumen muss berücksichtigt werden können,
•
Trennung von Öffentlich und Privat muss erfasst werden können,
• Bedeutungen, eingeschriebene Werte und Normen müssen erfasst werden können. Quelle: Eigene Darstellung
Zwei Dinge erscheinen aus geographischer Sicht bei der Beschäftigung mit der Bedeutung von Räumen für Individuen im Alltag wichtig: Erstens halten sich Menschen in ihrem Alltag die meiste Zeit in Innenräumen wie der Wohnung oder am Arbeitsplatz auf – schon allein aus diesem Grund sollte eine Geographie des Menschen diese Räume nicht übergehen. Bisher hat sich die Geographie mit ihnen allerdings kaum beschäftigt und hat die Räume dieser Maßstabsebene anderen Disziplinen überlassen. Deshalb möchte ich in einem ersten Schritt anhand der Disziplingeschichte der Geographie mit ihren jeweiligen unterschiedlichen Forschungsansätzen und Raumkonzepten ergründen, warum die Geographie bisher Innenräume aus ihrer Betrachtung ausgeklammert hat und welche Forschungsansätze und Raumkonzepte hilfreich für eine Untersuchung von Alltagsräumen von Individuen und räumlichen Entgrenzungstendenzen sind. Zweitens – so meine These – lassen sich an Innenräumen ebenso die räumliche Strukturierung der Gesellschaft und gesellschaftliche Entwicklungen analysieren wie die Humangeographie dies für größere Maßstabsebenen für sich in Anspruch nimmt. Diese These möchte ich im zweiten Teil dieses Kapitels anhand einer historischen Betrachtung des Hauses, bzw. der Wohnung und des Büros als Arbeitsort belegen.
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
4 . 1 Al l t a g s r ä u m e i m S p i e g e l d e r geographischen Disziplingeschichte Um eine angemessene Konzeption von Raum zur Betrachtung von Alltagsräumen zu entwickeln, kann auf die inzwischen umfangreiche Diskussion zu Raumkonzepten in der Geographie zurückgegriffen werden. Diese Diskussion hat sich vor allem aus der Kritik an der raumzentrierten Sicht entwickelt und ihr Gewinn für weitere Debatten besteht in der Reflexion von Raumkonzepten als Instrument der Analyse der räumlichen Strukturierung von Gesellschaft (vgl. Miggelbrink 2002: 39). So sind in den letzten Jahren einige Arbeiten (vgl. z.B. Glückler 1999, Simonsen 1996, Curry 1996, Miggelbrink 2002) entstanden, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie Raum in der Humangeographie verstanden wird und konzeptionalisiert werden kann. Diese Untersuchungen haben gezeigt, dass es in der Geographie nicht nur ein Raumkonzept gibt, sondern dass „Raum“ in unterschiedlichen Forschungsansätzen etwas höchst unterschiedliches bezeichnet und sowohl mit PhysischMateriellem, Sozialem wie auch Psychischem in Verbindung gebracht wird, wobei hier nicht immer eindeutig ist, auf welche Art von Raum gerade Bezug genommen wird und wie diese verschiedenen Raumkonzepte zueinander in Beziehung stehen (vgl. Miggelbrink 2002: 39, Simonsen 1996: 494). So wird Raum behandelt als: • physisch-materielles Substrat • als Artefakt, das zugleich Bedingung und Folge von Handlungen ist • als Träger unterschiedlicher symbolischer Bedeutungen • als Bestandteil kognitiver Konzepte und ggf. verhaltenssteuerndes und -beeinflussendes Medium • als Abbildung des Erdraumausschnitts im Sinne der Wahrnehmung von Raumelementen und -qualitäten • als strukturierendes Element von Interaktionsbeziehungen (z.B. Handeln in Kopräsenz, Distanzüberwindung) • als abhängige und unabhängige Variable in der Bestimmung des Raum-Gesellschaftsverständnisses als Container • als System von Lagebeziehungen (nach Miggelbrink 2002: 39, • Wardenga 2002)
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ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
Wie Raum in der Geographie konzeptualisiert wurde und welche Räume als Forschungsgegenstand in der Geographie eine Rolle spielen,ȱ hat sich im Laufe der Fachentwicklung immer wieder verändert, je nach dem vorherrschenden Paradigma in der Geographie. Von ihren Anfängen her gesehen hat sich die Geographie als „Wissenschaft von der Erdbeschreibung“ inzwischen stark gewandelt und weist mittlerweile als Disziplin eine„multiparadigmatische Struktur“ (Arnreiter/Weichhart 1998: 78) auf.2 So hat in der Humangeographie3 auf theoretischer Ebene in Deutschland vor allem seit den 1980er Jahren ein Wandel stattgefunden, der verstärkt gesellschaftstheoretische Ansätze miteinbezogen hat und durch den Raum zunehmend als gesellschaftlich produziert und konstruiert wahrgenommen wird. Diese jüngeren Ansätze würden eine Geographie von Alltags- bzw. Innenräumen konzeptionell durchaus möglich machen, stattgefunden hat sie bisher aber noch nicht. Eine disziplinhistorische Betrachtung zeigt zudem, dass sich mit den vorherrschenden Paradigmen nicht nur die Raumkonzepte verändert haben, sondern auch die Forschungsinteressen und -ansätze. Neuere Ansätze enthalten Komponenten, die für mein Ziel – die Analyse von Alltagsräumen – relevant sind (vgl. Abb. 6) Abbildung 6: Veränderung in den geographischen Forschungsinteressen und -ansätzen Außenraum
Innenraum
großer Maßstab
kleiner Maßstab
Gruppen
Individuen
Struktur
Handlung
öffentlich
Privat
wertfreier Raum
mit Werten aufgeladener Raum
große Distanz
kleine Distanz (Forscher/Beforschte)
Quelle: Eigene Darstellung
Die Geographie hat sich lange Zeit nicht mit Innen- sondern immer nur mit Außenräumen auseinandergesetzt. Innenräume wurden als Räume
2
3
Arnreiter und Weichhart (1998) identifizieren 12 Ansätze: Landschaftsgeographie, Raumstrukturforschung, Raumwissenschaftliche Geographie, Verhaltensgeographie, Humanistische Geographie, Welfare Geography, Radical Geography, Marxistische Geographie, Feministische Geographie, Neue regionale Geographie, Handlungstheoretische Geographie, Humanökologische Geographie. Humangeographie wird im Folgenden als Synonym für Sozial- und Anthropogeographie verwendet. 63
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
betrachtet, „[…] die außerhalb der geographischen Relevanz liegen (Innenräume, Privaträume) und keinen prägenden Einfluss auf die Raumstruktur haben […]“ (Tzschaschel 1986: 80). Zudem haben die Konzepte der traditionellen Geographie auf kleinen Maßstabsebenen nicht funktioniert, bzw. es wurden nur mittlere und große Maßstäbe als ‚geographische Maßstäbe‘ erachtet. Hier spielt sicherlich auch die Wahrung von Disziplingrenzen eine Rolle: Innenräume wurden dem Alltag und dem alltäglichen Leben zugeordnet, das lange eine Domäne der Volkskundler, Ethnologen und Soziologen war (vgl. Hard 1985), die sich allerdings nicht explizit mit den Räumen des alltäglichen Lebens auseinandersetzten (vgl. Staszak 2001: 356). Innenräume werden zudem der Architektur zugeordnet. Allerdings ist die Architektur als Fach normativ und praktisch ausgerichtet: Der gute Entwurf eines Hauses steht im Vordergrund, wie die Bewohner das Haus nutzen, welche Bedeutung es für sie hat und ob sie sich in ihm tatsächlich wohlfühlen, wird in der Architektur selten wissenschaftlich untersucht. Die Ausklammerung von Innenräumen aus geographischen Forschungsarbeiten hängt auch damit zusammen, dass in der Humangeographie bis in die jüngste Zeit hinein vor allem Gruppen eine Rolle gespielt haben, wohingegen Individuen nicht als raumprägend wahrgenommen wurden und eine subjekt- und handlungsorientierte Betrachtung von Raum nicht stattfand. Zudem wurde der Analyse von Strukturen anstatt von Individuen lange Zeit der Vorzug gegeben. Und erst mit dem Einzug von Individuen tauchen auch mit Werten und Normen aufgeladene Räume in der Geographie auf und das Fach nimmt wahr, dass Räume jeweils eine subjektive Bedeutung für Menschen haben können. Ebenso wurden die betrachteten Maßstabsebenen durch „Geographische Forschung auf der Individualebene“ (Tzschaschel 1986) tiefer gelegt. Der private oder häusliche Raum wird erst durch die humanistische Geographie und insbesondere durch die feministische Kritik in die Diskussion gebracht, vorher dominierte der öffentliche Raum geographische Untersuchungen. Zudem besteht zwischen der Trennung von Innen- und Außenräumen sowie Öffentlich und Privat ein Zusammenhang: Das häusliche, private Leben wurde lange Zeit als zu banal oder auch als tatsächlich ‚privat‘ erachtet, als etwas, in das man nicht eindringt4 (vgl. 4
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Interessanterweise sind die Arbeiten über private Räume und Innenräume, die sich in der deutschen Geographie finden lassen, im nicht-europäischen Raum angesiedelt. In einer anderen Kultur wird das Profane wieder interessant. So haben Escher, Wirt, Pfaffenbach und Meyer in ihren Untersuchungen zur Medina von Fes (1992) traditionelle Wohnhäuser und Neubauwohnungen beschrieben und kartiert.
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
Duncan/Lambert 2004: 382). Ein Interesse am Profanen und Alltäglichen zeigen ebenfalls erst die humanistische und feministische Geographie. Allerdings ist eine Verschiebung des Interesses vom Erhabenen hin zum Interesse am Profanen bzw. Alltäglichen nicht eindeutig in der Fachgeschichte festzumachen. Gleiches gilt für die Thematisierung von Materialität vs. der Immaterialität von Raum in den verschiedenen Ansätzen. Eindeutiger lässt sich wiederum eine Bewegung von der großen Distanz hin zu einer kleineren Distanz zwischen wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Erfahrung – sprich zwischen Forscher und Beforschten – in den einzelnen Ansätzen feststellen. Im Folgenden soll anhand der Untersuchung verschiedener Forschungsansätze der Humangeographie der Frage nachgegangen werden, warum sich die Geographie als Disziplin bislang so wenig mit konkreten Räumen von Individuen und insbesondere mit Innenräumen beschäftigt hat und andererseits gezeigt werden, dass sich die Humangeographie in vielen Punkten in eine Richtung entwickelt hat, die eine subjekt- und handlungsorientierte Untersuchung von Alltags- und Innenräumen ermöglicht.
4.1.1 Traditionelle Geographie und Landschaftskonzept Die Anfänge der Geographie als Hochschuldisziplin zeigen, dass es vor allem disziplinhistorische und keine wissenschaftstheoretischen Gründe waren, die zur Etablierung der Geographie als Raumwissenschaft führten.5 Als sich die Geographie als Hochschuldisziplin nach 1870 in größerem Umfang an den deutschen Universitäten – zum Teil gegen den Widerstand der Geschichte wie auch den Naturwissenschaften – etablierte, wurden die Lehrstühle mit geographischen Autodidakten besetzt (vgl. Wardenga 2001: 9 f.) wie z.B. dem Zoologen und Auslandskorrespondenten Friedrich Ratzel, da keine Fachgeographen vorhanden waren.6 Bis zu dieser Zeit wurde die Geographie vor allem als Hilfsdiszip5
6
Nach Lichtenberger (2001: 77) entwickelte sich die Trennung von raumund sachspezifischer Forschung in Abhängigkeit von den wissenschaftlichen Organisationsformen des jeweiligen politischen Systems und der darin agierenden Wissenschaftler. Diese Trennung lässt sich auch nicht durch wissenschaftstheoretische Kriterien festlegen, was sich auch darin zeigt, dass sie sich in den unterschiedlichen Ländern auf unterschiedliche Weise vollzogen hat. Hier wird ausschließlich auf die deutsche Entwicklung eingegangen. Ab 1830 wurde die Geographie als Disziplin vor allem von Geographischen Gesellschaften getragen. Das Interesse an dem Fach speiste sich vor allem durch ein Kuriositäteninteresse an dem Anderen, Fremden, sowie 65
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
lin zu Bevölkerungsstatistik sowie Geschichte gelehrt. Vor dem Hintergrund der Krise der Geisteswissenschaften und dem zunehmende Ansehen der positivistischen Naturwissenschaften konnte sich die entstehende Hochschulgeographie stärker von den Geschichtswissenschaften und der Statistik emanzipieren und lehnte sich am Modell der positivistischen Naturwissenschaften an, deren Methodologie sie auch in die Humangeographie übertrug (vgl. Blotevogel 2001: 38). Die Geographie wurde als so genannte „Allgemeine Erdwissenschaft“ definiert, die die Analyse von Mensch und Natur umfasste. Dies beinhaltete geologische, geophysikalische, meteologische, biologische, sowie bevölkerungs- und wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen. Diese weite Definition der Geographie als Erdwissenschaft wurde von den Nachbarwissenschaften stark kritisiert. Die Lehrstuhlinhaber sahen sich folglich zwei Herausforderungen gegenüber: Sie mussten einerseits den Anspruch der Geographie als Universalfach zurücknehmen und andererseits ein eigenes Forschungsprogramm entwerfen (vgl. Wardenga 2001: 10). Maßgeblich waren an der Ausformulierung der wissenschaftlichen Zielsetzungen und der Systematik Friedrich Ratzel (1844 – 1904) und später Alfred Hettner (1859 – 1941) beteiligt. Insbesondere Friedrich Ratzel legte mit seinem 1882/1891 veröffentlichten Werk „Anthropogeographie“ wesentliche Grundlagen für die Weiterentwicklung des Faches, wobei sein Denken stark dem Geodeterminismus verhaftet war (vgl. Bartels 1970: 25). Die Geographie als Wissenschaft der Erdbeschreibung bestand Ende des 19. Jahrhunderts aus der Allgemeinen und der Regionalen Geographie. Die Allgemeine Geographie, die die Physische und die Anthropogeographie umfasste, sollte sich auf die Erdoberfläche in ihrem Gesamtzusammenhang beziehen, die Regionale Geographie auf Ausschnitte davon. Im Anschluss an die aufstrebenden positivistischen Naturwissenschaften und den wachsenden Einfluss der Darwinschen Evolutionslehre erhielt die Geographie ihre zunächst eher positivistische, naturwissenschaftliche Ausrichtung. Im Rahmen der Allgemeinen Anthropogeographie stand bis nach dem Zweiten Weltkrieg die Beschäftigung mit der Bevölkerungsverteilung, differenziert nach den verschiedenen Religionen und Rassen sowie die Verbreitung der Rohstoffe auf der Erdoberfläche im Vordergrund (vgl. Werlen 2000: 95). Dieser durch Ratzel eingeleitete positivistisch-materialistische Ansatz eines Mensch-Umwelt-Kausalmechanismus war vor allem am Aufdecken allgemeiner Gesetzmäßigkeiten interessiert (vgl. Bartels 1970: durch praktische, für Handel und Militär verwendbare Informationen des absolutistischen Staates. Und: „das Informationsbedürfnis über die Ressourcen anderer Länder für die frühen kolonialen Interessen der europäischen Mächte“ (Blotevogel 2001: 38 f.). 66
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25). In diesem Zusammenhang ist es unnötig, lange auszuführen, dass bei diesem Ansatz weder für Individuen noch für das Profane und Alltägliche Platz war.7 Auch Alfred Hettner bemühte sich um die Begründung eines tragfähigen theoretischen Systems der Geographie. Er fasste die Geographie als „Raumwissenschaft“ (analog der Geschichte als Zeitwissenschaft) auf und definierte als Gegenstand des Faches die Erdoberfläche „in ihrer dinglichen Erfüllung und räumlichen Differenzierung“ (Blotevogel 2001: 40). Für Hettner stand die „Landschaft“ als physiognomischer Gesamteindruck eines Ausschnitts der Erdoberfläche im Mittelpunkt. Hinter diesem Landschaftsbild stehe ein als Ganzheit aufgefasstes Wirkungsgefüge von natur- und menschenbestimmten Elementen (vgl. Blotevogel 2001: 39). Ute Wardenga (2001, 2002) sieht zwei Gründe, warum die Geographie als chorologisch arbeitende Raumwissenschaft fachintern angenommen wurde: Zum einen diente die raumbezogene Perspektive der Materialbewältigung. Durch die Begrenzung des zu bearbeitenden Raumausschnittes konnte der Stoff auf verschiedenen Maßstabs- und Abstraktionsebenen angeordnet werden. Zweitens ermöglichte das raumbezogene Denken, die Geographie zu einem eigenständigen Hochschulfach zu machen, und so von anderen Disziplinen abzugrenzen. Das Landschaftskonzept hatte weit reichende Auswirkungen auf die Entwicklung der deutschen Geographie und beeinflusste – so meine These – maßgeblich, welche Forschungsgegenstände und Räume adäquate und legitime Untersuchungsfelder der Geographie darstellen. Zum einen verfestigten sich mit dem Einbau des Landschaftsbegriffes in die Humangeographie die raumbezogenen Denkfiguren weiter. Zum anderen wurde die Größe des zu bestimmenden Erdraumausschnittes, also der geographische Maßstab, mit dem Landschaftsbegriff identifiziert und „in etwa mit dem Maßstab 1:25.000 gleichgesetzt“ (Lichtenberger
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Dieses Desinteresse für das Profane, Alltägliche ist für die possibilistische Variante des Umweltdeterminismus nicht feststellbar: So interessierte sich z.B. Carl Sauer, Hauptbegründer der Berkeley School für Kulturgeographie in den 1920er Jahren in den USA besonders für die sichtbaren und gegenständlichen Manifestationen von Kultur, die er vor allem anhand ihrer landschaftlichen Ausprägungen zu verstehen suchte (vgl. Bartels 1970: 25, Knox/Marston 2001: 234). Ebenso interessierte sich Vidal de la Blache Anfang des 20. Jahrhunderts bei seiner Herausarbeitung geschlossener Areale und Regionen spezifischer menschlicher Lebensformen („genre de vie“) für das Profane und Alltägliche wie Wohnformen, Einkommen und Behausungen. 67
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2001: 9).8 Allerdings muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass andere Disziplinen wie Volkskunde und die Völkerkunde zu dieser Zeit ihre Forschungsansprüche unterhalb des von der Humangeographie untersuchten Landschaftsmaßstabes abgesteckt hatten und der Geographie nur die größeren Maßstäbe übrig blieben (vgl. Lichtenberger 2001: 79). Wissenschaftstheoretische Gründe lagen hierfür nicht vor. Die Maßstabsfrage spielte in der Landschaftskonzeption eine prominente Rolle, da versucht wurde, der problematischen näheren Bestimmung von „Landschaft“ durch eine Festlegung bloßer Maßstäbe gerecht zu werden und das inhaltliche Definitionsproblem als Frage der räumlichen Größenordnung zu behandeln. In Schlüters Kulturlandschaftsforschung hatte sich eine mittlere, nach Schlüter (1920a, b), dem idealen Betrachter direkt oder selbstverständlich erscheinende Größenordnung etabliert (vgl. Bartels 1973 [1968]: 192).9 Doch nicht einmal in der Landschaftsdiskussion konnte man sich auf diesen mittleren Maßstab einigen: Nach Hans Carol (1973 [1957]: 149) entspricht, „die größtmögliche Landschaft der ganzen Geosphäre (Grenzfall Erdlandschaft)“ (Herv. i. Orig.), wohingegen die Bestimmung der kleinstmöglichen horizontalen Dimension wesentlich schwieriger sei: „Wenn wir in Gedanken die Ausschnitte der Erdhülle immer kleiner werden lassen, so kommen wir z.B. auf eine Reihe wie: Landschaft Europas, der Schweiz, des Mittellandes, der Stadt Zürich, des Zürichberges. Kann man aber auch von Landschaft sprechen im Ausdehnungsbereich eines Ackers am Zürichberg? Sicher, denn immer noch überlagern sich in diesem winzigen Ausschnitt der Erdhülle die sie aufbauenden Sphären und stehen miteinander in Korrelation. […]. Aus diesen Überlegungen halten wir fest, daß jeder Ausschnitt der Erdhülle ‚geographische Substanz‘, Landschaft ist und deshalb von der Geographie untersucht werden kann.“ (Carol 1973 [1957]: 149)
Die besondere Wesensart der Landschaft liege folglich in der spezifischen Korrelation der Lithosphäre, Hydrosphäre und Atmosphäre, die
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Dass es sich hierbei auch um die Etablierung einer wissenschaftlichen Konvention handelt, zeigen auch die nationalen Verschiedenheiten der Schwerpunkte von Kartierungen: Dt. Kartierungen bei 1:25.000, französischer bei 1:80.000 bis 1:200.000 (vgl. Bartels 1973 [1968]: 193). Für ihn lagen die Siedlungen in der untersten für Geographen zu untersuchenden Größenordnung (Schlüter 1906, zitiert nach Fliedner 1993: 35): „Nicht die Häuser, sondern die Siedlungen sind das geographische Objekt. Und weiterhin wird die Siedlungsgeographie ihren Ausgangspunkt auch nicht bei den einzelnen Orten nehmen, sondern wird zuerst die Besiedelung eines Gebietes im Ganzen betrachten.“
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um die Biosphäre und Anthroposphäre ergänzt sein kann. Entscheidend für Carol waren bei der Definition der Landschaft die natürlichen Sphären und nicht die Ausdehnung oder der Maßstab des zu betrachtenden Erdraumausschnittes. Für Josef Schmithüsen stellte die Größenordnung kein wissenschaftliches Problem dar, da die Frage des richtigen Maßstabs für ihn über die Anschauung und den gesunden Menschenverstand lösbar war: „Noch niemand hat es fertiggebracht, diese Grenze zu definieren, obwohl es am konkreten Objekt darüber kaum jemals Meinungsverschiedenheiten gibt. Wie ein paar Quarzkörner oder ein Feldspatkristall noch kein Granit sind, obwohl sie zu einem solchen gehören, so ist ein Teich, ein Acker oder ein Kirchdorf noch keine Landschaft. Aber ein in Obstgärten eingebettetes Dorf am Rande einer mit Kuhweiden erfüllten Quellmulde, mit Ackerzelgen und ein paar Wegen auf der angrenzenden Hochfläche, Niederwald auf dem Grauwackenfels steilhängender Tälchen, mit Wiesenstreifen im Grund und einem Touristengasthaus in einer ehemaligen Lohmühle am erlenumsäumten Bach, dieses zusammen kann schon die wesentlichsten Züge einer Landschaft ausmachen.“ (Schmithüsen 1973 [1964]: 160 f.)
Dieser Landschaftsbegriff korrespondiert im Wesentlichen mit der gängigen Verwendung des Begriffes Landschaft in der Umgangssprache (vgl. Lippuner 2005: 13) und ebenfalls mit dem mittleren Maßstab, der bereits bei Schlüter im Vordergrund stand – also dem Gesichtsfeld des Beobachters. Neben der Etablierung des geographischen Maßstabs spricht die oben genannte Definition von Carol einen weiteren wichtigen Punkt an, der die Diskussion, was legitime Forschungsgegenstände der Geographie sind, mitbestimmte. Mit der lediglich in der deutschen Geographie geführten Diskussion um den Landschaftsbegriff sollte die Natur-Kultur-Dichotomie aufgelöst werden. Landschaft wurde dabei als allseitiger Systemzusammenhang zwischen den physischen und anthropogenen Geofaktoren in einem bestimmen Erdraumausschnitt definiert (vgl. Arnreiter/Weichhart 1998: 54). Damit wurde die Landschafts- und Länderkunde in den 1920er Jahren bis in die 1960er Jahre zum Kernbereich geographischer Forschung erklärt und Landschaft wurde das legitime Forschungsobjekt der Geographie. Räume wurden im Denkschema der Landschaftsgeographie als Behälter betrachtet, in denen die einzelnen physischen Bestandteile wie Böden, Oberflächenformen, das Klima wie auch die anthropogenen Bestandteile wie der Mensch mit seinen Siedlungen, Wirtschaftsflächen etc. enthalten waren (vgl. Wardenga 2002: 8). Konzeptionell war eine Auseinandersetzung der Geographie mit Innenräumen solange das Landschaftsparadigma dominierte, nicht mög69
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lich: Erstens, da der mittlere Maßstab zum geographischen Maßstab erhoben wurde und zum zweiten, da sich aus dem Landschaftskonzept ergibt, dass legitime Forschungsgegenstände der Geographie immer auch „Natur“ bzw. natürliche Bestandteile enthalten mussten. Im Sinne von Natur spielte die Materialität beim Landschaftskonzept durchaus also eine Rolle. Zwei Überlegungen zu den Nachwirkungen des Landschaftskonzeptes in der heutigen Geographie erscheinen an dieser Stelle angebracht. Die physische Geographie ist längst schon in ihren Untersuchungen bei Mikromaßstäben angekommen (vgl. Lichtenberger 2001: 80). Geomorphologen oder auch Bodenkundler arbeiten ohne Rechtfertigungsdruck, ob dies noch Geographie sei, auf dieser Ebene – ein Grund ist vielleicht darin zu sehen, dass sie es bei der Beschäftigung mit Mikromaßstäben immer noch mit natürlichen Substanzen, sprich mit Natur zu tun haben. Zweitens: Die Humangeographie beschäftigt sich vor allem dann mit Innenräumen, wenn diese Innenräume „Naturräume“ simulieren, wie dies z.B. bei Spaßbädern oder Shoppingcentern der Fall ist. Als Beispiele können hier künstliche Erlebniswelten genannt werden, in denen bestimmte Inszenierungen zum Tragen kommen, wie z.B. das Erlebnisbad Tropical Island in Brandenburg, das einen asiatischen Tropenwald simuliert (vgl. Lossau/Flitner 2006). Eine ebenso entscheidende Rolle dürfte aber spielen, ob es sich bei den untersuchten Innenräumen um private oder um öffentliche Räume handelt. Öffentliche, bzw. halböffentliche Innenräume wie Einkaufszentren werden z.B. in der geographischen Handelsforschung mit den unterschiedlichsten Fragestellungen nach Nutzung, Frequentierung etc. untersucht.
4.1.2 Raumwissenschaftliche Geographie: Positivistische Wende Der Bruch mit dem Landschaftsparadigma, der sich endgültig auf dem 37. Deutschen Geographentag 1969 in Kiel vollzog, veränderte auch die Raumkonzeption: Von der „dinglichen Erfüllung“ des Raumes, die noch beim Landschaftskonzept im Mittelpunkt stand, wird nun vollkommen abgesehen. Es geht jetzt um „[…] die Erkenntnis wechselseitiger Beziehungen zwischen der geometrischtopologischen Anordnung physisch-materieller Gegebenheiten auf der Erdoberfläche und den zwischen ihnen bestehenden funktionalen Verknüpfungen. Es geht also um die Erforschung der kausalen Relevanz räumlicher Lageeigenschaften.“ (Arnreiter/Weichhart 1998: 56)
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Damit war „eine Wende von absoluten Raumkonzepten (‚Mittelmeerraum‘, ‚Griechenland‘ etc.) zu relativen Raumkonzepten vollzogen“ (Arnreiter/Weichhart 1998: 56). Raum wird ein hochgradig formalisiertes Konzept, das nicht mehr maßstäblich gebunden ist (vgl. Miggelbrink 2002: 105).10 Rein auf der konzeptuellen Ebene gedacht, wäre mit dem Raumkonzept eine Betrachtung von Innenräumen möglich gewesen. Der normativen Ausrichtung des raumwissenschaftlichen Forschungsprogrammes hätte z.B. eine Analyse der Anordnung von Arbeitsplätzen in Fabriken, mit dem Ziel diese Anordnung zu optimieren, Rechnung getragen. Andere Merkmale des Ansatzes sprechen allerdings gegen eine Beschäftigung mit Innenräumen oder Alltagsräumen von Individuen: Ziel des raumwissenschaftlichen Forschungsansatzes ist es, universale Raumgesetze zu finden, die den Kern geographischer Theorie ausmachen. Bartels (1970: 33) formuliert den Forschungsgegenstand der Geographie in Bezug auf die Sozialwissenschaften wie folgt: „Die Aufgabe des Faches ist die Erfassung und Erklärung erdoberflächlicher Verbreitungs- und Verknüpfungsmuster im Bereich menschlicher Handlungen und ihrer Motivationskreise […].“
Er schlug zur Erfassung und Erklärung räumlicher Verteilungs- und Verbreitungsmuster ein dreistufiges Forschungsvorgehen vor (vgl. Bartels 1970: 34 f.).11 Zunächst sind die je nach Erkenntnisinteresse bedeutsamen Sachverhalte räumlich zu lokalisieren und kartographisch festzuhalten. Dies können Aktivitäten, Gruppen, Normen oder Motive sein. Der zweite Schritt beinhaltet die choristische Ordnungsbeschreibung, d.h. es werden Beobachtungsaussagen über die erdräumliche Koinzidenz oder Entfernung der Gegebenheiten formuliert. Schließlich werden in einem dritten Schritt mögliche kausale oder funktionale Beziehungen zwischen den Elementen untersucht, mit dem Ziel „Theorien […] chorischer Gesetzmäßigkeiten“ (Bartelsȱ1970: 21) zu formulieren.
10 Das Raumkonzept des raumwissenschaftlichen Ansatzes lässt sich auch noch mit dem absoluten oder Container-Raum in Verbindung bringen. Die räumliche Dimension wird hier als eine unabhängige Dimension, die dem sozialen Geschehen vorausgeht, betrachtet. Da bei diesem Ansatz eigenständige „Raumgesetze“ formuliert werden sollen und von der „Wirkkraft“ des Raumes gesprochen wird, muss dem Raum eine eigenständige Existenz zugesprochen werden und der Raum erhält eine ontologische Struktur (vgl. Weichhart 1999: 77 ff.). 11 Eine übersichtliche Darstellung der Forschungsetappen findet sich bei Werlen (2000: 215 ff.). 71
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„Handlungen und Interaktionssysteme bzw. auf „menschliche Handlungen und ihre Motivationskreise“ (s.o.) zurückführende Verknüpfungsmuster werden jetzt – entsprechend der Prämisse des Konzepts – unter dem spezifischen Aspekt ihrer Distanzabhängigkeit betrachtet.“ (Miggelbrink 2002: 102)
Es wird also die „größere oder geringere räumliche Distanz als entscheidende Bestimmungsgröße angesehen“ (Bartels 1970: 23). Diese chorologische Modell- und Theoriebildung wirft mehrere grundsätzliche Probleme auf: Die im ersten Schritt auf der Ebene der Deskription notwendige räumliche Lokalisierung aller Aspekte des Handlungszusammenhangs reduziert die Sachverhalte der sozialen und mentalen Welt auf physische Manifestationen und Objekte der physischmateriellen Welt (vgl. Miggelbrink 2002: 103). Zudem kann die Distanz keinen unmittelbaren Kausalfaktor darstellen (vgl. Werlen 2000: 232), da die Distanz selbst ein Mittel zur räumlichen Beschreibung (Lokalisierung und Regionalisierung) ist. Hierin liegt die Zirkularität des raumwissenschaftlichen Programms: „Räumliche Verteilungen sind durch räumliche Verhältnisse, räumliche Strukturen durch räumliche Prozesse und letztendlich der Raum durch den Raum zu erklären.“ (Werlen 1997: 50) Entscheidend wäre es vielmehr die Ursachen herauszufinden, die eine bestimmte räumliche Verteilung von Sachverhalten hervorrufen. Ein weiteres Problem ist, dass soziale Aspekte nicht ohne weiteres erdräumlich lokalisiert werden können, wenn man davon ausgeht, dass sie selbst keine physisch-materiellen Erscheinungen sind. Um dieses Problem zu lösen, greift Bartels auf Hartkes Vorschlag zurück und ersetzt soziale Sachverhalte „[…] durch die Erfassung materialisierter Handlungsfolgen“ (Werlen 2000: 224). So lasse sich „[…] die Produktion eines bestimmten Gutes nach Art und Umfang bis zu einem gewissen – wenn auch meist bescheidenen – Grade aus dem Vorhandensein und der Beschaffenheit eines entsprechenden Fabrikgebäudes erschließen oder die landwirtschaftliche Betriebsorganisation aus dem bestehenden Nutzungsverhältnis […].“ (Bartelsȱ1997: 34)
Indem auf materielle Spuren menschlicher Tätigkeiten zurückgegriffen wird, sollen auch soziale Sachverhalte nach dem oben kurz beschriebenen raumwissenschaftlichen Programm erklärt werden können. Hauptkritikpunkt an dieser Vorgehensweise ist die Verräumlichung sozialer Sachverhalte: „Raum oder (erd-)räumliche Distanz können […] nicht als Bestimmungsgrößen sozialer Phänomene betrachtet werden, weil diese keine ‚räumliche Existenz‘ haben und nicht durch den formalen Aspekt ihrer Lage determiniert seien“. (Lippuner 2005: 25) 72
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
Der raumwissenschaftliche Ansatz ist aus mehreren Gründen für eine Betrachtung von Alltagsräumen nicht geeignet. Zwar ist das Raumkonzept nicht mehr maßstäblich gebunden, was prinzipiell eine Betrachtung von Innenräumen ermöglichen würde. Aber da die Distanz in diesem Ansatz das zentrale Erklärungsmoment darstellt, gelten Phänomene, die sich nicht in einem Distanzrelationsgefüge erklären und beschreiben, und – was ebenso wichtig ist – nicht kartographisch abbilden lassen, nicht als geographische Forschungsgegenstände.12 Für die Untersuchung von Innenräumen spielt die Distanz allerdings meistens keine Rolle. Zudem lassen sich mit wertneutralen Beschreibungen von Raumstrukturen stark menschlich geprägte Räume, die mit Wertungen versehen sind, wie z.B. private Räume und das Zuhause, nicht analysieren. Untersuchungen auf der Individualebene sind ebenso ausgeschlossen, da menschliche Einzelindividuen mit ihrer subjektiven Wahrnehmung und Wertung der Wirklichkeit in diesem Ansatz nicht berücksichtigt werden und lediglich als anonymes Element großer statistischer Massen auftauchen (vgl. Arnreiter/Weichhartȱ1998: 61). Als letzter zu nennender Punkt ist die Distanz zwischen wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Erfahrung denkbar groß, oder anders formuliert: Dem Wissenschaftler wird der „god’s eye view“ zugeschrieben, die Position des rationalen, unbeteiligten Beobachters, der seine Untersuchungsobjekte wertneutral erforscht.
4.1.3 Verhaltenswissenschaftliche Geographie Die Verhaltensgeographie, die sich als ausdrückliche Gegenbewegung versteht und aus der Kritik am raumwissenschaftlichen Ansatz entstand, setzt hier an mehreren Punkten an: Kritisiert wird die Vernachlässigung des Menschen und die Ausblendung des Individuums und seiner subjektiven Wahrnehmung der Wirklichkeit. Vertreter und Vertreterinnen der verhaltenswissenschaftlichen Geographie gehen nicht von einer ‚objektiven Wirklichkeit‘ aus, sondern sie interessieren sich jetzt für die subjektive Wahrnehmung des Menschen. Neu an der tätigkeitszentrierten Betrachtungsweise ist die Grundhaltung, dass die Umwelt nur in der Form verhaltensrelevant wird, wie sie von den einzelnen Individuen wahrgenommen wird. Ziel der Untersuchungen im Rahmen des verhaltenswissenschaftlichen Paradigmas ist, die subjektive Wahrnehmung der räumlichen Umwelt zu untersuchen, „[…] um die räumlichen Struktu-
12 Eine gute geographische Arbeit muss heute noch immer mindestens eine Karte enthalten. 73
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
ren, die aufgrund solcher Verhaltensweisen entstehen bzw. entstanden sind, erklären zu können“ (Werlen 2000: 267). Im angloamerikanischen Raum hatte die positivistisch orientierte Humangeographie bereits den Zenit überschritten, als Torsten Hägerstrand anlässlich seiner presidential adress beim 9. Europäischen Kongreß der Regional Science Association die Frage stellte: „What about people in regional science?“ Diese Frage bezog sich darauf, dass der Mensch – obwohl sich die Regional Science als Sozialwissenschaft verstand – in dieser Disziplin lediglich in Form massenstatistisch definierter soziodemographischer Maßzahlen vorkomme. Da nun im verhaltensgeographischen Ansatz die Wahrnehmung der Individuen von der räumlichen Umwelt, sowie das raumrelevante menschliche Tun, das jeweils von dem subjektiv wahrgenommenen und bewerteten Image der Realität abhängig ist, im Mittelpunkt der Betrachtung stand, erforderte dies auch das Verlassen der „mittleren Maßstabsebene“. Von diesen mikrogeographischen Ansätzen13 (vgl. Tzschaschelȱ 1986) sollen im Folgenden die Zeitgeographie sowie die Aktionsraumforschung näher betrachtet werden, da beide Ansätze mit dem Konzept der alltäglichen Lebensführung das Interesse am gesamten Tätigkeitsspektrum von Menschen im Alltag teilen. Der Ansatz der Zeitgeographie14 versucht die Zusammenhänge zwischen der Raumstruktur und individuellen Tätigkeiten theoretisch zu fassen. Ausgangspunkt aller zeitgeographischer Ansätze ist das Verhalten des Individuums in Zeit und Raum.15 Basisprämisse des Ansatzes ist, dass das ‚Leben‘ als Bewegung in der Zeit durch verschiedene Räume als Zeit-Raum-Pfad („life-path“) gesehen werden kann. Dabei sind die gesellschaftlich gegebenen räumlichen und zeitlichen Strukturen als unhintergehbare, das Verhalten strukturierende Restriktionen (constraints) gegeben (deshalb wird der Ansatz auch als „constraintAnsatz“ bezeichnet):
13 Mikrogeographische Ansätze haben laut Tzschaschel (1986: 95) das Ziel, räumliches oder raumbezogenes Verhalten von Individuen auf seine Determinanten hin zu analysieren und zu erklären. 14 Für eine übersichtliche Zusammenfassung des Ansatzes siehe z.B. Klingbeil (1978) oder in jüngerer Zeit Kramer (2005). 15 Als Begründer der Zeitgeographie gilt Hägerstrand, Universität von Lund, Schweden. Seine Arbeiten und die seiner Schüler (Lennrop, Ellegard, Carlstein uvm.) gelten als die zentralen Werke der Zeitgeographie. In Deutschland wurde die time geography verstärkt ab Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre rezipiert (vgl. Kramer 2005: 42). Insbesondere fand die time geography Umsetzung in der Aktionsraumforschung (vgl. z.B. Klingbeil 1978). 74
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„In time-space the individual describes a path, starting at the point of birth and ending at the point of death. […] An individual who migrates into an established society, either by being born into it or by moving into it from outside […] will find that the potentially possible action is severely restricted by the presence of other people and by the maze of cultural and legal rules. In this way, the life paths become captured within a net of constraints, some of which are imposed by physiological and physical necessities and some imposed by private and common decisions.” (Hägerstrand 1970, S. 10 f.)
Die grundlegenden Restriktionen können in einigen Punkten zusammengefasst werden: Menschen sind unteilbar, sie können sich nur an einem Ort zur gleichen Zeit aufhalten, ihre Lebenszeit ist begrenzt und sie können in der Regel nur eine Tätigkeit zur gleichen Zeit ausführen. Zudem benötigt jede Tätigkeit ihre Zeit, ebenso wie Bewegung zwischen zwei Punkten im Raum Zeit benötigt. Zudem: „Space has a limited packing capacity and the surface of the earth is not endless. It is also asserted that every situation is rooted in the past.” (Friberg 1993, S. 68) Das menschliche Handeln ist also in vielfacher Weise eingeschränkt. Hägerstrand unterteilt die Vielfalt von constraints in drei Gruppen (vgl.ȱ Hägerstrandȱ1970: 12 ff.): • Capability constraints sind Begrenzungen, die sich aus physiologischen Bedürfnissen (Schlafen, Essen) und physischen Bewegungsmöglichkeiten (je nach der verwendeten Technik) ergeben. • Coupling constraints bestimmen die täglichen Bewegungsräume mit. Sie betreffen die raum-zeitliche Koordination von Aktivitäten mit anderen Personen. Das Zusammentreffen verschiedener Pfade bezeichnet Hägerstrand als bundle. Betriebszeiten, Öffnungszeiten von Läden und Behörden usw. bestimmen die Teilnahme an bundles mit. • Authority constraintsȱ sind soziale, letztendlich auf Machtausübung beruhende Beschränkungen über Raum und Zeit. Das bedeutet, innerhalb abgegrenzter räumlicher Einheiten (bezeichnet als control area) können bestimmte Menschen oder Gruppen Entscheidungen treffen und Kontrolle über diesen Raum ausüben (z.B. in Form von Öffnungszeiten oder Zugangsberechtigungen). Diese Strukturen schränken den Handlungsspielraum von Personen im Alltag und ihrem life-path ein. Diesen life-path sieht Hägerstrand als eine Verbindung von zielgerichteten Aktivitäten. „There are many actions which, interjected into daily living, form sequences of inputs aimed at special goals“. (Hägerstrand/Lenntorp 1974: 229 zitiert nach Friberg 1993: 69) 75
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Um Handlungsziele zu erreichen, führen Menschen zeitlich begrenzte projectsȱ durch. Welche Bedürfnisse, Orientierungen, Werte etc. jeweils hinter den Projekten stehen, wird von der Zeitgeographie nicht weiter untersucht, sondern als gegeben angenommen: Der Ansatz fokussiert also auf die Phase der Realisierung eines Projektes und nicht auf die dahinter stehenden Intentionen. Die graphische Aufbereitung der raum-zeitlichen Struktur von Aktivitäts- und Tagesverläufen illustriert die physische Konfiguration von Situationen und Prozessen in einem deskriptiven Modell (vgl. Abb. 7). Abbildung 7: Die Raum-Zeit-Pfade eines Individuums innerhalb eines Tages
Quelle: Friberg 1993: 73
Rezipiert wurde die Zeitgeographie in Deutschland vor allem von Klingbeil (1980), der den Ansatz für seine Aktionsraumforschung fruchtbar machte. In seiner Beschäftigung mit raumzeitlichen Tätigkeitsmustern versuchte Klingbeil (1980), die außerhäusliche Aktivitäts76
ALLTAG GSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE E ?
Quelle: Klingbeil 1978: 29
Abbildung 8: Analyseschema für Tätigkeitsmuster von Haushaltsmitgliedern
struktur innerhalb beestimmter Zeitabschnitte zu ermitteln, um so zu einer aktionsräumlichen Analyse A von Haushaltsmitgliedern zu kom mmen. Das folgende Analyseschhema stellt die Herstellung eines individuuellen Aktionsraumes dar.
Klingbeil behandelt in seiner Studie allerdings nur die Umseetzung von r Tätigkeitsmuster, weshalb die d Genese Handlungszielen in raumzeitliche der Handlungsziele in i dem Analyseschema als black box darrgestellt ist (vgl. Klingbeilȱ 1978: 33 f.). Auch Klingbeil geht bei seinen ÜberlegunÜ m aus. Das Ziel seiner Untersuchung ist aber, die gen vom Individuum raumzeitlichen Tätiggkeitsmuster vorab bestimmter Gruppen zuu beschreiben. Im Mittelpunktt seines Interesses stand das aktionsräum mliche Ver77
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halten, wie es sich durch die in der Raumstruktur ergebenden Begrenzung ergibt. Klingbeil untersuchte hierfür die Raumnutzung von Hausfrauen in verschiedenen Stadtteilen Münchens (vgl. Klingbeilȱ1978: 64). Aus der Zeitgeographie sowie der Aktionsraumforschung können wichtige Einsichten für den Umgang mit Zeit und Raum von Individuen im Alltag gewonnen werden: Erstens haben beide Ansätze zum ersten Mal gezeigt, wie wichtig Zeit und Raum im Alltag von Menschen sind und welche Rolle die Restriktionen spielen, die Menschen durch vorhandene Strukturen sowie durch die Verfügbarkeit eigener Ressourcen gesetzt sind. Zweitens kann aus den Studien der Zeitgeographie und der Aktionsraumforschung geschlossen werden, dass Zeit und Raum erst in ihrer subjektiven Bedeutung wirksam werden, auch wenn sie als objektiv gegeben erscheinen. Das bedeutet, dass Zeit und Raum für unterschiedliche Individuen sehr unterschiedliche Bedeutungen haben können und der objektiv gegebene Raum in der subjektiven Raumwahrnehmung zu einem sehr unterschiedlich strukturierten Aktionsraum werden kann (vgl.ȱ Voß 1991: 80). Wie der Alltag organisiert werden kann, ist in einem hohen Maße von räumlich relevanter Infrastruktur abhängig: Dies sind das Wohnumfeld, die Verkehrsinfrastruktur sowie die öffentliche Infrastruktur wie z.B. Kinderbetreuungseinrichtungen. Hägerstrand denkt Raum sehr viel stärker vom Individuum her, als der raumwissenschaftliche Ansatz. Er konzeptualisiert Regionen als Konfiguration von Treffpunkten, die sich aus den Tätigkeitspfaden der Individuen ergeben. Für eine subjekt- und handlungsorientierte Sicht ist dies nicht ausreichend. Für eine Untersuchung der Alltagsräume von Individuen aus dieser Perspektive müsste wesentlich stärker berücksichtigt werden, dass die räumliche und die zeitliche Dimension immer erst in ihrer subjektiven Umsetzung wirksam werden. „Die Personen eignen sich sozial strukturierten Raum und soziale Zeit an, oder besser: sie müssen sich räumlich und zeitlich ausdrückende Sozialität in ihrer Lebensführung aktiv verarbeiten.“ (Voß 1992: 92) Zudem konzentriert sich der Ansatz – obwohl er sich „individualistisch“ nennt, d.h. Personen thematisiert werden – weitgehend auf das beobachtbare äußere Verhalten von Gruppen. Hinter dem Verhalten stehende Motive, Werte und Einstellungen bleiben ausgeblendet (vgl. Voßȱ 1992: 84 f.). Günter Voß (1992: 92 f.) macht zudem darauf aufmerksam, dass Raum und Zeit eben nur zwei von mehreren Dimensionen der Lebensführung darstellen, „[…] die zudem unaufhebbar in der und durch die Person vermittelt sind“. Vollkommen ausgeklammert wird in den verhaltenstheoretischen Ansätzen, dass Räume auch immer soziale Mecha78
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nismen, Erwartungen und Zwänge aufweisen. Zudem ist wichtig, was Menschen dort inhaltlich tun. Das Zuhause oder die Wohnung ist mit anderen Verhaltenserwartungen verknüpft als das Büro. Die Zeitgeographie betrachtet lediglich die Wege der Individuen durch den zeitgeographischen Raum und nicht die Stationen, also die Innenräume selbst wie z.B. Arbeitsstätten oder Wohnungen, die von Menschen im Laufe einer bestimmten Zeitspanne aufgesucht werden. Welchen Tätigkeiten die Menschen an den Stationen nachgehen, welche Bedeutung die einzelnen Stationen für die Individuen haben und mit welchen Werten und Normen und Machtbeziehungen sie jeweils verknüpft sind, wurde nicht untersucht.16 Deshalb blieb die Wohnung oder der private Raum ausgeklammert. Die feministische Geographin Rose (1993) führt diesen Umstand auf das Raumkonzept der time-geography zurück: Sie dekonstruiert das Konzept eines transparenten, unbegrenzten und ungebundenen Raumes als spezifisch westlich-maskulines Konzept. Dies zeige sich in der Zeitgeographie in der geometrischen Darstellung der sich täglich wiederholenden Routinen des Alltagslebens, vollzogen von „disembodied human agents“, wie Gilian Rose (1993: 36) es ausdrückt. Diese Form der Abbildung verdecke die Art und Weise, wie diese Routinen erzeugt würden und mache Machtbeziehungen sowie soziale Positionierungen unsichtbar. In ähnlicher Weise kritisiert auch Anne-Françoise Gilbert (1989) den Ansatz der Zeitgeographie. Sie bemängelt, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als gegeben akzeptiert werde und geschlechtsspezifische ökonomische und soziale Bedingungen des Handelns in den klassischen zeitgeographischen Studien ausgeblendet würden. In ihrer Arbeit „Frauenforschung am Beispiel der Time-Geography“ (1985) plädiert sie dafür, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse Eingang in die Analyse finden müssten, indem methodisch wie auch theoretisch die strukturellen Verhältnisse mit den individuellen Handlungsweisen verbunden werden sollten (vgl. Gilbert 1985: 126), – ein Gedanke, der erst später Eingang in die deutsche Humangeographie finden sollte.
16 Ähnliches gilt für den Ansatz der Münchner Schule. So wird z.B. die Grunddaseinsfunktion „Wohnen“ nur funktional thematisiert, die Räume, in denen das „Wohnen“ stattfindet, bleiben unberücksichtigt. 79
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4.1.4 Humanistische Geographie Die Bedeutung von Orten sowie lebensweltliche Probleme und Sinnfragen rücken bei dem Ansatz der humanistischen Geographie in den Mittelpunkt. Dieser Ansatz ist aus einer direkten Kritik sowohl am raumwissenschaftlichen, aber auch an den immer noch stark positivistisch und mechanistisch ausgerichteten Modellen des verhaltenswissenschaftlichen Ansatzes entstanden. Die humanistische Geographie geht von einem holistischen Menschenbild aus, und interessiert sich für fundamentale Lebenserfahrungen: Gefühle, Aneignung, Sinn und Bedeutungszusammenhänge, Lebenswelt, die erst im Handeln konstituiert wird, sind wichtige Themen dieser neuen Interpretation geographischer Erkenntnisobjekte (vgl. Arnreiter/Weichart 1998: 66). Humanistische Geographien wie Tuans „Topophilia“ (1974) und „Space and Place“ (1977) hatten einen großen Einfluss auf die englischsprachige Geschichte der Geographie und auf die Entwicklung eines lebensweltlich konzipierten subjektiven Raumbegriffs place17 (vgl. Cresswell 2004: 20). Für die humanistischen Geographen und Geographinnen wie Yi-Fu Tuan, Anne Buttimer und Edward Relph drückte das Konzept place eine Grundhaltung aus, die Subjektivität und Erfahrung betonte, und sich dadurch von der kalten, berechenbaren Logik der raumwissenschaftlichen Geographie abgrenzte. Zudem liegt der Fokus des Konzepts nicht auf dem ideographischen Interesse für bestimmte Orte, sondern place als Konzept, als einer Möglichkeit des Daseins, des In-der-Welt-Seins (vgl. Cresswell 2004: 20). Nach Tuan: „How a mere space becomes an intensely human place is a task for the humanistic geographer; it appeals to such distinctly humanist interests as the nature of experience, the quality of the emotional bond to physical objects, and the role of concepts and symbols in the creation of place identity.” (Tuan 1976: 269)
Insbesondere Tuan bemühte sich um eine Definition von place indem er ihn von space abgrenzte (vgl. Tab. 3):
17 Place kann am ehesten mit „Ort“ in das Deutsche übersetzt werden. In der deutschen Geographie ist „Ort“ jedoch kein terminus technicus, im Englischen ist place ebenfalls nicht einheitlich definiert, aber fachwissenschaftlich eingeführt (vgl. Miggelbrink 2002: 12). 80
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Tabelle 3: Konnotationen der Begriffe place und space place
space
eher konkret
eher abstrakt
vermittelt Sicherheit
verbunden mit Freiheit
Innehalten/Stillstand
Bewegung
vertraut/entsteht durch alltägliche Routinen und Erfahrung
unpersönlich
bestimmter Ort
überall
Heim/Wohnung/Wohnort
Staat
Quelle: Tuan 1977, Taylor 1999
Mit dem Begriff place werden Ausschnitte der Umwelt als konkret, durch individuelle, alltägliche Erfahrung und Routinen vertraut, die eigene Biographie betreffend, bezeichnet und dadurch von anderen Orten abgegrenzt (vgl. Miggelbrinkȱ ŘŖŖŘ: 53 f.). Demgegenüber lässt sich space als Ordnungsschema einsetzen, das persönlichen Erfahrungen und Bedeutungen gegenüber indifferent ist. Place entsteht durch das Innehalten, was impliziert, dass wir an einem bestimmten Ort verweilen müssen, bis aus einem space für uns ein place entstehen kann. Damit ist space unpersönlich, wohingegen place der vertraute Bereich ist, der durch alltägliche Routinen entsteht. Aus dieser Perspektive ist place, oder der Ort, wesentlich mehr als ein Standort. Da er place als das Ergebnis von Innehalten und der Gelegenheit zur Herstellung einer Bindung sieht, gibt es place auf vielen Maßstabsebenen: Place kann die ganze Erde wie auch der bevorzugte Sessel am Kamin sein (vgl.ȱ Tuan 1979: 149): „Place can be as small as the corner of a room or as large as the earth itself: […] Geographers tend to think of place as having the size of a settlement: the plaza within it may be counted a place, but usually not the individual houses, and certainly not the old rocking chair by the fireplace.” (Tuan 1974: 245)
Mit dem erkenntnistheoretischen Hintergrund der Phänomenologie in der Humanistischen Geographie erhält das Zuhause einen besonderen Stellenwert, der sich vor allem aus Martin Heideggers Fokus auf „Wohnen“ und den Arbeiten des französischen Philosophen Bachelard ergibt (vgl. Mc Dowell 1999: 72, Cresswell 2004). Das Zuhause wurde dahingehend thematisiert, dass es ein besonders bedeutsamer Ort sei, der in81
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tensiv erfahren und voller Erinnerungen sei. So betonte Tuan, „hearth, shelter, home or home base are intimate places to human beings everywhere“ (Tuanȱ1977: 147). Das Zuhause wird als beispielhafter Ort angeführt, für den Menschen ein besonderes Zugehörigkeitsgefühl haben. Hier können sich Menschen von der Welt zurückziehen und sie selbst sein und Kontrolle über das Geschehen haben. Auf diese Weise ist das Zuhause für die Humanistische Geographie eine Metapher für place (vgl.ȱ Cresswell 2004: 24). Mit der humanistischen Geographie wird also ein weiterer Raumbegriff eingeführt18, der für die Betrachtung von Räumen im Alltag von entscheidender Bedeutung ist: Der erlebte, subjektiv wahrgenommene Raum. Es ist ein Konzept, das Menschen in ihrem Alltagshandeln ständig verwenden (vgl. Weichhartȱ 1999: 80 f.). Einerseits bezieht es sich auf einen konkreten Erdraumausschnitt, andererseits wird dieser Ort aber gleichzeitig mit einem subjektiven Sinn und subjektiver Bedeutung aufgeladen. Hinzu kommt, dass diese Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen normalerweise intersubjektive Komponenten wie gruppen- und kulturspezifische Werturteile enthalten. Dieser erlebte Raum erscheint als die Wirklichkeit der Außenwelt, in dem Elemente der Natur, der materiellen Kultur, Menschen, Sprache und soziale Interaktionen zu einer räumlich strukturierten Gesamtheit verschmolzen werden. „Je stärker der betreffende Ausschnitt der Erdoberfläche mit unserem persönlichen Alltagshandeln in Beziehung steht, desto dichter ist dabei in der Regel das Gefüge der Behauptungen und Eigenschaftszuschreibungen.“ (Weichhart 1999: 81). Nach Weichhart (1999: 81) wird dieses Konstrukt in „[…] den Handlungsvollzügen der Alltagswelt dazu verwendet, die jeweils vorfindbare Relationalität der Sach- und Sozialstrukturen ordnend zusammenzufassen und damit auch die Komplexität der Wirklichkeit zu verringern“. Der erlebte Raum ist also ein kognitives Konstrukt, das in der Alltagswirklichkeit eine Projektionsfläche für Gefühle und Ich-Identität darstellt. Das Interesse am Alltäglichen zeigt sich auch in den methodischen Vorgehensweisen der Humanistischen Geographie. Mit phänomenologischen und hermeneutischen Herangehensweisen wird der Versuch gemacht, die Handlungen von Menschen, ihre Lebenswelt und ihren Alltag zu verstehen. „Doing humanistic research is very large a personal mat18 Auch die verhaltenswissenschaftliche Geographie thematisiert dieses Raumkonzept, z.B. in der Mental Map Forschung. Allerdings geht es hier vor allem um die subjektive Wahrnehmung von Räumen, wohingegen Werte, Normen und Gefühle, die mit einem bestimmten Raum oder Ort verbunden werden, nicht berücksichtigt werden. 82
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ter, therefore, involving intuition and imaginative interpretation.“ (Johnstonȱ 1983/86: 84; zitiert nach Fliedner 1993: 210) Eigene Erfahrungen der Forschenden mussten nun nicht mehr ausgeklammert werden. Auch darin könnte ein Grund liegen, warum sich Humanistische Geographen mit dem privaten Raum, dem Zuhause, auseinandersetzen: Jeder Geograph und jede Geographin wohnt selbst – Alltagswissen und wissenschaftliches Wissen sind hier nur schwer trennbar.
4.1.5 Feministische Geographie Das Paradigma feministische Geographie19 hat durch die Auseinandersetzung mit den sozialräumlichen Ausprägungen des hierarchisch strukturierten Geschlechterverhältnisses bestehende geographische Forschungsthemen und Konzepte um entscheidende Punkte erweitert. Insbesondere folgende konzeptionelle und inhaltliche Erweiterungen sind für die vorliegende Arbeit von Bedeutung: Erstens setzten feministische Geographinnen zum ersten Mal in der Fachgeschichte konsequent bei der Alltagsperspektive an. Zweitens haben sie in zahlreichen Analysen nachgewiesen, dass die Geographie als wissenschaftliche Disziplin systematisch die gesellschaftliche Minderbewertung von Reproduktionsarbeit und dem privaten Raum gegenüber der Produktion und dem öffentlichen Raum nachvollzog bzw. zum Teil immer noch nachvollzieht, indem reproduktive Tätigkeiten und die Räume, in denen sie stattfinden, lange Zeit aus geographischen Analysen eliminiert wurden, bzw. sich noch heute an den Rändern des Faches bewegen (vgl. von Streit 2010). Drittens spielt die Materialität von Räumen insbesondere bei den Analysen feministischer Stadtgeographinnen, die sich mit dem hierarchischen Geschlechterverhältnis und seiner Beeinflussung baulicher Strukturen beschäftigen, eine prominente Rolle. Die Auseinandersetzung mit den räumlichen Dimensionen des alltäglichen Lebens von Frauen stand von Anfang an im Mittelpunkt der Forschung feministischer Geographinnen. Die Lebensrealität von Frauen und die zum großen Teil von Frauen geleistete Reproduktionsarbeit, die bis dahin aus dem Fach ausgeklammert war, sichtbar zu machen war dabei ein wichtiges Ziel. Die alltäglichen Routinen von Frauen, das Gewöhnliche und die scheinbar banalen und trivialen Ereignisse des Alltags spielten eine wichtige Rolle in den feministischen Forschungsarbeiten, da sich hier der bis dahin von der männlich geprägten Wissenschaft 19 Feministische Geographie wird hier verstanden als erkenntnistheoretische und methodologische Position in der Geographie und nicht wie oft verkürzt als Frauenforschung (vgl. dazu grundlegend z.B. McDowell 1999 und McDowell/Sharp 1999). 83
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weitgehend unbeachtete Bereich des sozialen Lebens von Frauen, die in einer patriarchalischen Gesellschaft aus den öffentlichen Bereichen von Macht und Einfluss ausgeschlossen waren, abspielte. Der Alltag wurde als die Arena erachtet, in der patriarchalische Strukturen hergestellt, herausgefordert und verändert oder gefestigt würden (vgl. Rose 1993: 17 ff.). Aufgrund des Interesses der Zeitgeographie an den alltäglichen Tätigkeiten von Menschen haben auch feministische Geographinnen mit diesem Konzept gearbeitet (vgl. z.B. Fribergȱ 1993, Gilbert 1985), allerdings haben sie offen gelegt, wie stark die raum-zeitlichen Pfade von Frauen durch das Geschlechterverhältnis und die Trennung in öffentliche und private Räume strukturiert sind. Fundamentalere Kritik übt die Geographin Gilian Rose (1993: 29 ff.), die im Anschluss an Beiträge zur Geographie aus feministischer Sicht den transparenten und unbegrenzten Raum der Zeitgeographie als spezifisch westlich-maskulines Konzept dekonstruiert. Das Aufzeichnen der alltäglichen Pfade in den Routinen des Alltagslebens und deren Darstellung in einem geometrischen Raum zeigten nicht, wie diese Routinen zu Stande kämen und suggerierten deshalb einen Raum, der für alle gleich und gleich zugänglich sei (vgl. Rose 1993: 19). Dabei werde ausgeblendet, dass diese raumzeitlichen Pfade nicht von körperlosen Geschöpfen, sondern immer von Menschen, die in Systeme der sozialen Positionierung eingebunden sind – sei es als Mann, als Frau, als Europäer, als Kind (vgl. Miggelbrink 2002: 59) – getätigt würden.20 Als Erweiterung machten feministische Analysen deutlich, dass Raum in unserer Gesellschaft immer durch Machtbeziehungen strukturiert und in der Regel geschlechtsspezifisch hierarchisiert ist (vgl. Scheller 1997), wobei die Dichotomie zwischen Öffentlich und Privat hier eine wichtige Rolle spielt. Die Analyse dieser Dichotomie nahm zudem in der feministischen Diskussion von Beginn an einen wichtigen Raum ein (vgl. Valentineȱ 2001: 69), da sie bei der sozialen Konstruktion von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ von hoher Bedeutung ist. Feministische Arbeiten haben die Trennung in die öffentliche und in die private Sphäre herausgefordert, indem sie den Arbeitsbegriff neu definierten und zeigten, dass angemessene Analysen, z.B. hinsichtlich der Entwicklung von Arbeit, nur durch ein Zusammendenken von ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren zu erzielen sind (vgl. z.B. Hanson/Pratt 1995, Masseyȱ 1995). Mit der Kritik an einem verkürzten Verständnis von Arbeit als
20 „Transparent space, as an expression of social-scientific masculinity’s desire for total vision and knowledge, denies the possibility of different spaces being known by other subjects.“ (Rose 1993: 40) 84
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Erwerbsarbeit im wissenschaftlichen Mainstream rückte auch das Zuhause als Ort von Hausarbeit, Kinderbetreuung oder auch von erwerbsförmig geleisteter Heimarbeit in den Fokus feministischer Analysen (vgl. Meier Kruker/Schier/von Streit 2002). Diese umfassendere Definition von Arbeit stellt damit auch die räumliche Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit in Frage und thematisiert die Bedeutung von Arbeit und Arbeitsorten für Individuen, wie gerade Forschungen zur Heimarbeit zeigen: Diese Studien (vgl. Meier Kruker/Schier/von Streit 2002) thematisieren die räumliche Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Familie und die Frage, welche Rollen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die primäre Zuständigkeit von Frauen für die Reproduktionsarbeit für die Heimarbeiterinnen spielen. Eine andere Form der „Entgrenzung“ von Arbeit und Zuhause thematisiert Doreen Massey (1992, 1998) in ihrer Studie zu High-TechBeschäftigten in Cambridge. Diese Wissenschaftler lieben ihre Arbeit, gehen vollkommen in ihr auf. Massey zeigt, wie die Arbeit hier auf ganz andere Weise in das Zuhause eindringt: Erstens durch die langen, unregelmäßigen Arbeitszeiten an Wochenenden, Abenden und Feiertagen und indem auch Arbeit mit nach Hause genommen wird und zweitens dadurch, dass die Wissenschaftler häufig noch ‚mit dem Kopf‘ bei der Arbeit sind – auch wenn sie körperlich eigentlich schon private Tätigkeiten verrichten, z.B. wenn sie im Bad weiter über die Arbeit nachdenken oder mit den Kindern spielen: „Here there really is a capsule of ‚virtual‘ time-space of work within the material place of the home. While the body performs the rituals of the domestic sphere the mind is preoccupied with the interests and worries of work.” (Massey 1998: 167) Für Männer verdrängt also Erwerbsarbeit zu Hause die dort zu erledigende Arbeit, für Frauen kann Arbeit in das Zuhause eindringen und sie bleiben weiter für die dort auch zu erledigende Reproduktionsarbeit zuständig und haben die Aufgabe diese beiden Sphären zu verknüpfen (vgl.ȱGregsonȱ2000: 313). Die Arbeiten von Doreen Massey zeigen, dass Geschlechterkonstruktionen, die wiederum mit bestimmten Arbeitsorten verbunden sind, bei der räumlichen Trennung, bzw. Vermischung von Tätigkeitsbereichen eine wichtige Rolle spielen können. Der dritte für diese Arbeit wichtige Punkt – nämlich das Verhältnis von materiellem Raum und (patriarchalischer) Gesellschaft war insbesondere in den Anfängen in den 1980er Jahren ein wichtiges Thema feministischer Stadtgeographinnen und Planerinnen. Zu zeigen, wie hierarchische Geschlechterbeziehungen durch räumliche Strukturen im Wohnungsbau und im Bereich der Stadtplanung beeinflusst werden und sich in ihnen spiegeln, war hier ein wichtiges Ziel.
85
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Viele dieser Untersuchungen setzten beim weiblichen Lebenszusammenhang, dem Alltäglichen sowie bei den Orten und Räumen der Haus- und Erwerbsarbeit an (vgl. Dörhöfer 1990a: 22). Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die Frauen die gesellschaftlich minder bewertete Reproduktionsarbeit zuwies, war auch bei diesen Analysen eine grundlegende Kategorie (vgl. Dörhöfer/Terlindenȱ1998: 161). Unter dem Stichwort „frauengerechte Wohnungs- und Stadtplanung“ wurde thematisiert, wie baulich-räumliche Strukturen den Alltag von Frauen in der Stadt beeinflussten, bzw. mit welchen Einschränkungen Frauen z.B. durch unzureichende Infrastruktur in den Wohnvierteln konfrontiert waren.21 Zweifellos haben diese Arbeiten erst eine Dekonstruktion von Geschlechterkonstruktionen ermöglicht, indem sie zeigten, wie das Zuhause oder der private Raum als primärer Ort der Identifikation von Frauen und Erwerbsarbeit und der öffentliche Raum als primärer Ort der Identifikation von Männern betrachtet wurde und dass diese binären Kategorien eine wichtige Rolle dabei spielten, Frauen als das Andere, und Männer als die Norm zu definieren (vgl. Valentine 2001: 70). Allerdings lassen sich auch einige Kritikpunkte an diesen frühen Arbeiten festmachen: Zum einen wurde die gebaute Umwelt als schlichte Metapher für die Gesellschaft gesehen, die sie produziert hat und Stadtplanung als simpler Spiegel für dominante Ideologien. Dabei wurde übersehen, dass die Verbindungen zwischen Geschlecht und baulicher Umwelt komplizierter sind und auf vielfältige Weise gelesen werden können. Zum anderen wurden in den frühen Studien die einfache Opposition zwischen Planern, Architekten – also den männlichen Verursachern – und Frauen als Opfern von Wohnungsgrundrissen und städtischen Strukturen nicht weiter hinterfragt und führte zu deterministischen Fehlschlüssen, die unberücksichtigt ließen, dass Bewohner und Bewohnerinnen immer eigene Interpretationen und Nutzungen einbringen, die von den Planern so nicht beabsichtigt waren. Als letzter wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang die Tendenz in diesen Arbeiten zu nennen, Frauen und Männer als homogene Gruppen zu betrachten (vgl. Bondi 1992: 160), wobei die Vielfalt von Lebensentwürfen und Differenzen zwischen Frauen und zwischen Männern sowie andere Differenzkategorien neben dem Geschlecht wie sozialer Status, Sexualität, Ethnizität sehr viel stärker Beachtung in aktuellen feministischen Debatten finden (vgl. Valentine 2001, McDowell 1999Ǽ. Dennoch erscheint es wichtig, über die Beziehung zwischen materiellem 21 Einen guten Einblick in die Debatte bieten folgende Publikationen: WastlWalter 1991, Terlinden 1980, Terlinden 1983, BFLR 1991, Holland-Cunz 1993, Dörhöfer 1990b. 86
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Raum und Gesellschaft bzw. dem Handeln von Menschen nachzudenken. Denn wie Boys (1998: 217) ausführt: „[…] while architecture does not ‚reflect’ society, and is only partially shaped by our continuing and contested struggles for identity, the buildings and cities we inhabit remain deeply implicated in shaping our everyday experiences.“
Die im folgenden Abschnitt diskutierten neueren Raumkonzepte, die Raum als Struktur auffassen, können hier eine nicht-deterministische Sichtweise zur Konzeptualisierung von Materialität und Handeln ermöglichen. Zuvor soll jedoch noch ein Zwischenfazit gezogen werden: Hinsichtlich der behandelten Maßstäbe sind im Laufe der Fachgeschichte die Maßstabsgrenzen immer mehr nach unten gewandert (vgl. Lichtenberger 2001: 10). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der geographische Maßstab mit dem Landschaftsbegriff identifiziert und etwa mit dem Maßstab 1:25.000 gleichgesetzt. Für Schlüter (1906) lag die Siedlung in der untersten Größenordnung der für die Geographie untersuchbaren Objekte. Während in den 1950er Jahren einzelne Straßen behandelt wurden (vgl. Hübschmann 1969 [1952]), wurden in den 1960er Jahren auch Häuser untersucht (vgl. Rapoport 1969). Zudem führte die Verschiebung der Untersuchungsobjekte von Gruppen zu Individuen in den Mikrogeographische Ansätzen zu einem „Herabsteigen in die Größenordnungen, die früher anderen Disziplinen vorbehalten waren“ (Fliedner 1993: 146). Inzwischen sind die empirischen Arbeiten der feministischen Geographie oder auch Arbeiten, die der neuen Kulturgeographie zuzuordnen sind, auf der Ebene des menschlichen Körpers angelangt (vgl. z.B. Valentine 2001). Hinsichtlich der Rolle von Materialität lässt sich feststellen, dass mit der Abkehr vom Landschaftsparadigma die materielle Welt in den folgenden Ansätzen wie dem raumwissenschaftlichen Ansatz oder der Mikrogeographie weitgehend ignoriert wurde (vgl. auch Kazig/Wiegandtȱ 2006) – lediglich von der Feministischen Geographie wurde die baulich, materielle Umwelt thematisiert, wenn auch – wie bereits beschrieben – theoretisch noch relativ unreflektiert.
4.1.6 Zur Entstehung von Raum im Handeln und zur Wechselwirkung von Materialität und Sozialem Aktuell ist eine zunehmende Ausdifferenziertheit von Forschungsansätzen in der Geographie feststellbar, wobei sich die Ansätze hinsichtlich der Konstitution ihres Gegenstandes, ihrer methodologischen Orientierungen und der Wahl ihrer Methoden stark unterscheiden. Zum Beispiel 87
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
lassen sich hier, Arnreiter und Weichhart (1998) folgend, als neuere Ansätze das handlungstheoretische oder humanökologische Paradigma sowie der jüngste Ansatz in der deutschen Humangeographie – die neue Kulturgeographie – anführen.22 Trotz aller Unterschiede in den Forschungsansätzen sind sich die meisten Autoren und Autorinnen in Bezug auf ein sinnvolles Raumkonzept einig, dass Raum nicht mehr als Container oder absoluter Raum, sondern als soziale Konstruktion aufzufassen ist, keine eigenständige ontologische Struktur hat und deshalb auch keine eigenständige Wirkkraft besitzt, also niemals die Ursache von etwas sein kann. In dieser Diskussion lassen sich grob zwei Positionen unterscheiden, die Weichhart (1999) als „schwache“ und „starke“ Form des „Raumexorzismus“ bezeichnet. „Die ‚starke‘ Form geht davon aus, dass soziale Gegebenheiten von materiellen (und damit von ‚räumlichen‘) Strukturen vollkommen unabhängig seien. […] Proponenten der ‚schwachen‘ Form verlangen hingegen, bei der Darstellung und Analyse sozialweltlicher Phänomene die klassische Raum-Semantik durch eine geeignetere Redeweise zu ersetzen.“ (Weichhart 1999: 68)23
Dennoch sprechen sich gerade auch jene Geographen, die sich kritisch mit dem „Raum“ in der Geographie auseinandersetzen, für die Beibehaltung von Raumkonzepten und deren Diskussion aus, da „[…] Räumlichkeit eines der immanenten Strukturprinzipien der sozialen Welt darstellt. Dies zu ignorieren heißt, auf bedeutsame Erklärungs- und Erkenntnismöglichkeiten zu verzichten“ (Weichhart 1999: 83). Um allerdings jegliche deterministischen Fehlschlüsse von physisch-materiellen Dingen auf die soziale Welt auszuschließen, plädieren verschiedenste Autoren und Autorinnen
22 Die Übersicht von Arnreiter/Weichhart (1998) endet mit dem humanökologischen Paradigma. Die ‚neue‘ Kulturgeographie, die derzeit in der deutschen Humangeographie wesentlich intensiver diskutiert wird (vgl. z.B. Gebhard/Reuber/Wolkersdorfer 2003; Blotevogel 2003), war 1998 als neues Paradigma noch nicht etabliert. 23 Eine Begründung für die Position der starken Raum-Exorzisten liegt darin, dass nach Karl Popper aufgrund der strikten ontologischen Differenz zwischen der Welt der physisch-materiellen Dinge (so genannte Welt 1 Poppers), der Welt der Bewusstseinszustände bzw. psychischen Erlebnissen (Welt 2) und der sozialen Gegebenheiten und geistigen und kulturellen Gehalte (Welt 3) keine Beziehungen bestehen könnten. Demnach sind Physisch-Materielles, Mentales und Sozio-Kulturelles niemals unmittelbar miteinander verknüpft (vgl. Weichhart 2003: 17, für eine handlungstheoretische Herleitung siehe Werlen 1987). 88
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„[…] für eine Perspektivumkehr, die sich im wesentlichen gegen alle Formen physisch-materieller Determinismen wendet und „Raum“ mithin nicht als etwas den sozialen und psychischen Phänomenen Vorausgehendes und Bedingendes sieht, sondern Raumkonzepte als etwas sozial, psychisch, kulturell etc. Produziertes bzw. Konstruiertes thematisiert“ (Miggelbrink 2002: 41, Herv. i. Orig.).24
Grundsätzlich lassen sich mit Raumkonzepten, die Raum als gesellschaftlich produziert bzw. konstruiert begreifen, Räume auf der Mikroebene wie Innenräume durchaus analysieren, da Maßstäbe hier nicht mehr als simples Faktum behandelt werden, sondern ebenfalls als Konzepte der Benennung und Beschreibung sozialer Wirklichkeit (vgl. Miggelbrink 2002: 11). So gibt es nach Delaney und Leitner (1997) keine ontologische Begründung, zwischen Heim und Ort, urbanen und regionalen, nationalen und globalen Skalen zu trennen. Geographische Skalen werden ihrer Meinung nach durch soziale Interaktion erzeugt und wirken sich auch wieder auf diese aus (zitiert nach Miggelbrink 2002: 11).25 Allerdings erscheint auf der Suche nach einem geeigneten Raumkonzept zur Analyse von Alltagsräumen ein anderer Punkt gewichtiger: Viele neue Forschungsansätze blenden die Materialität von Räumen aus. Dies lässt sich insbesondere für die Neue Kulturgeographie sagen, die sich vor allem mit Zeichensystemen beschäftigt und dazu neigt, die gesamte soziale Wirklichkeit als Text zu betrachten und letztendlich alles einer semiotischen bzw. diskursanalytischen Analyse zu unterziehen. Für die Neue Kulturgeographie steht dabei auch nicht das Individuum und dessen individueller Umgang mit Zeichen im Mittelpunkt, sondern es geht immer um kollektiv rezipierte Darstellungen von Räumen und kollektiv produzierte ‚Texte‘, die einen Raumbezug haben (vgl. Schröder 2006: 17 ff.). Je mehr allerdings sinnkonstituierende Zeichen- und Bedeutungssysteme in den Blick geraten, desto weniger spielt die Materialität von Räumen eine Rolle. So hat die Neue Kulturgeographie tatsächlich Probleme, neben der Zeichenhaftigkeit auch mit der Materialität von Dingen und ihrer Wirkung auf Menschen umzugehen – eine „Kulturgeographie der Dinge“ wie Ilse Helbrecht (2003) es nennt, steht also noch aus. 24 Die Dekonstruktion von Raumbegriffen hatte in der Geographie das Ziel, in kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen Fachtradition nichtdeterministische und nicht-reduktionistische Raumkonzepte zu formulieren (vgl. Miggelbrink 2002: 79). 25 Vor allem in der politischen Geographie hat sich in den letzten Jahren eine lebhafte Debatte zu der sozialen Konstruktion von Maßstabsebenen entwickelt (vgl. Marston 2000; Delaney/Leitner 1997). 89
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Während einerseits die Neue Kulturgeographie sich vor allem für semiotische Prozesse interessiert, lässt sich andererseits in jüngerer Zeit (eventuell bereits als Gegenbewegung?)26 auch wieder ein Interesse für die Materialität von Räumen feststellen (vgl. Miggelbrink 2005: 86) und es wird eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Welt der Dinge, Sachen, Gegenstände und Körper für kulturelle Praktiken gefordert (vgl. Kazig/Weichhart: 2009). Die Geographie schließt sich hier einer disziplinübergreifenden Entwicklung an, die z.B. in den verschiedenen Praxistheorien, die derzeit in den Sozialwissenschaften sehr intensiv diskutiert werden, ihren Niederschlag findet (vgl. Reckwitz 2003, 2006, Bongaerts 2007, Hörning/Reuter 2004). In der deutschsprachigen Geographie lassen sich die geographischen Ansätze, die explizit versuchen, Zusammenhänge bzw. Wechselwirkungen zwischen dem Sozialen und Physisch-Materiellem angemessen zu thematisieren, eher dem handlungstheoretischen Paradigma zuordnen. Die Grundzüge und Basisbegriffe (Handeln, Subjekt, Struktur) handlungstheoretischer Ansätze müssen an dieser Stelle nicht wiederholt werden, da sie bereits in Kapitel 3 ausführlich erläutert wurden. Im folgenden möchte ich zwei Ansätze diskutieren, die für eine Beschäftigung mit Alltagsräumen besonders vielversprechend erscheinen, da beide aus einer subjektzentrierten und handlungstheoretischen Perspektive versuchen, sinnvoll mit der Spannung umzugehen, dass Raum immer sowohl Materialität wie auch soziale Konstruktion ist. Dies ist erstens das Konzept der „Räumlichkeit“, bzw. des action setting von Peter Weichhart und zweitens das Raumkonzept der Soziologin Martina Löw, die Raum als Struktur begreift. Weichhart schlägt als einen Raumbegriff, mit dem die materiellen Grundlagen von Handlungen und die artefakt-weltlichen Bereiche des Sozialen thematisiert werden können, (1998) das Konzept der „Räum26 So mehren sich in der angloamerikanischen Geographie seit einigen Jahren die Stimmen, die kritisieren, dass der cultural turn in der Humangeographie zu einem „dematerializing of human geography“ (Philo 2000: 33) – also zu einer Vernachlässigung der materiellen Bedingungen sozialen Handelns und der materiellen Effekte immaterieller Strukturen geführt habe (vgl. Lippuner 2005: 56). Die Kritik bezieht sich einerseits darauf, dass durch den cultural und linguistic turn der Blick auf soziale Prozesse verloren gegangen sei, „which are the stuff of everyday social practices, relations and struggles, and which underpin social group formation, the constitution of social systems and social structures, and the social dynamics of inclusion and exclusion“ (Philo 2000: 37), andererseits wird die Ausblendung materieller Kultur, also der Beziehung zwischen Menschen und Dingen, kritisiert (vgl. Jackson 2000; Lees 2002). Einen Vorstoß zur „Neuthematisierung der materiellen Welt in der [deutschsprachigen] Humangeographie“ unternahmen Kazig und Weichhart 2009. 90
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lichkeit“ vor. Räumlichkeit versteht Weichhart (1999: 78) als ein Konzept, „[…] das auf Relationen zwischen physisch-materiellen Dingen und Körpern bezogen ist“. Raum ist hier kein Gegenstand, sondern eine Eigenschaft – „[…] ein Attribut der physisch-materiellen Dinge […]“. Seine zentrale These ist, dass die „[…] relationale Räumlichkeit der Körper- und Dingwelt eines der Medien darstellt, mit deren Hilfe wir im Vollzug von Handlungen Beziehungen zwischen physisch-materiellen Dingen, subjektiven Wahrnehmungs- und Deutungsprozessen und sozialen Sachverhalten herstellen“ (Weichhart 1998: 80). Er führt hier das Beispiel eines Vortragenden an, der sich in der Regel seinem Publikum während des Referats zuwendet – alles andere würden wir als befremdlich empfinden. Dies zeigt, dass die Lagerelation für die soziale Interaktion zwischen dem Referenten und seinen Zuhörern von hoher Bedeutung ist. Zudem bedienen wir uns in unseren Handlungsvollzügen einer Reihe materieller Dinge: So werden die Stühle und Tische so angeordnet, dass das Publikum den Referenten gut sehen kann. Würden die Stühle stattdessen frontal in einem Kreis angeordnet, entstünde wohl auch eine andere soziale Interaktion zwischen den Teilnehmern. Die Gefahr deterministischer Fehldeutungen stellt sich seiner Ansicht nach bei einem handlungstheoretischen Zugang nicht, da Menschen aufgrund ihrer Körperlichkeit Bestandteile der physischmateriellen Welt und „[…] dadurch nicht nur in die Rahmenbedingungen und Gesetzmäßigkeiten einer biologischen Existenz eingebunden sind, sondern dass dadurch auch die soziale Welt auf sehr grundlegende Weise in physisch-materiellen Strukturen verankert sein muss.“ (Weichhart 2003: 21, Herv. i. Orig.)27
Unsere Körperlichkeit bedingt auch, dass wir einen Standort im physisch-materiellen Raum haben und zur Sicherung und im Vollzug unserer Existenz auf materielle Ressourcen unterschiedlichster Art zurückgreifen müssen. Zudem haben wir es bei materialisierten Handlungsfolgen und Artefakten vielfach mit hybriden Phänomenen zu tun, bei denen weder eine eindeutige Zuordnung zur physisch-materiellen, noch zur sozialen Welt vorgenommen werden kann. Vor allem lasse der Handlungsbegriff, wie er bei Giddens konzipiert ist, deterministische Fehl-
27 Lebewesen lassen sich z.B. aufgrund von Stoffwechselprozessen materiell nicht von ihrer Umwelt abgrenzen, „[…] jedes menschliche Individuum ist – in seiner Unteilbarkeit – gleichzeitig und gleichermaßen Teil und Bewohner der Welt 1 (als Körper), der Welt 2 (in Form seiner subjektiven Bewusstseinszustände) und der Welt 3 (in seiner Teilhabe am sozialen Leben)“ (Weichhart 1998: 82). 91
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
deutungen nicht zu: Im Handeln würden die drei Welten Poppers verknüpft, da das Handeln nicht nur durch subjektiven Sinnbezug und Intentionalität charakterisiert sei, sondern auch dadurch, „dass das Subjekt im Handeln die Fähigkeit umsetzt, (intendierte und nicht-intendierte) Veränderungen in der sozialen und der physisch-materiellen Welt zu bewirken“ (Weichhart 2003: 32). Diese Verschränkung zeigt sich auch darin, dass im Handlungsvollzug auf bestimmte materielle Dinge zurückgegriffen werden muss oder die soziale Interaktion häufig durch materielle Dinge erleichtert, ermöglicht oder gesteuert wird, wie z.B. durch eine bestimmte Anordnung von Stühlen, Bänke in horizontaler Ausrichtung und eine Tafel bzw. Projektionsfläche für den Frontalunterricht. Bei vielen Handlungen muss der Körper der Akteure auf bestimmte Weise in Relation zu anderen Körpern oder Dingen positioniert werden und viele Handlungen zielen auf die Veränderung von Strukturen und Zuständen materieller Systeme ab. Weichhart (1998: 84) weist darauf hin, dass es bei seinem Raumkonzept nicht darum geht, Sinn und Materie zu verknüpfen, sondern zu zeigen, dass handelnde Subjekte kontext- und handlungsspezifische Sinnzuschreibungen vornehmen und dass damit Räumlichkeit zu einem der „Strukturprinzipien des Gesellschaftlichen“ wird. Weichhart (z.B. 1999, 2003) stellt also von einer Raumzentrierung konsequent auf eine Subjekt- und Handlungszentrierung um, in der „[…] spezifische Aspekte oder Ausschnitte der erdräumlich lokalisierbaren Welt in einem spezifischen Handlungskontext über die subjektiven und objektiven Sinnzuschreibungen zu einem wesensinhärenten Element des Sozialen werden“ (Weichhart 1998: 84). Peter Weichhart operationalisiert und spezifiziert diesen Raumbegriff, indem er auf das setting-Konzept zurückgreift. Das behaviour-settingȬKonzept ist von dem Umweltpsychologen Barker und seinen Mitarbeitern in den 1950er und 1960er Jahren entwickelt worden. Ausgangspunkt von Barker war die Beobachtung, dass Menschen „[…] im Vollzug ihres Alltagslebens immer und immer wieder gleichsam in den Bann bestimmter Kontextbedingungen gerieten“ (Kaminski 1986: 13). Dieser Kontext, der aus einer bestimmten OrtZeit-Konstellation sowie bestimmten Interaktionspartnern besteht, scheint das konkrete Verhalten von Individuen zu determinieren. So benimmt sich ein Kind in dem Kontext, bzw. dem behavior-setting, Bäckerei eben Bäckerei-konform. Beispiele für weitere behaviour-settings wären ein irgendwo stattfindendes Skatturnier, das Alltagsgeschehen an einem Zeitungskiosk oder eine Schulstunde – wichtig dabei ist, dass das Geschehen sich jeweils innerhalb eines bestimmten räumlich-materiellen „Milieus“ und sich öffentlich innerhalb begrenzbarer Zeiträume abspielt 92
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
(Kaminski 1986: 10). Barker postuliert eine funktionale Einheit zwischen den konstanten Verhaltensmustern28 und dem zeitlich-örtlichsozialen Milieu eines behavior-settings, bestehend aus Ort und Zeit, materiellen Objekten, Teilnehmern und deren wiederkehrenden Verhaltensmustern. Gesteuert wird das Geschehen eines settings über so genannte Programme, die im Bewusstsein der Akteure präsent sind oder auch in kodifizierter Form vorliegen können. So wissen die Akteure sehr genau, wie sie sich in einem Seminar oder in einer Vorstandssitzung zu verhalten haben – natürlich immer abhängig von der Rolle, die sie innehaben. Diese Programme beschreiben die Regeln, Rollenverteilungen, Verantwortlichkeiten und Interaktionsstrukturen und können auch schriftlich z.B. in Form von Vereinsstatuten oder Geschäftsordnungen vorliegen (vgl. Weichhart 2003: 30). Die unverkennbar behaviouristische Grundausrichtung der settingTheorie erscheint mit einer subjekt- und handlungsorientierten Perspektive unvereinbar. Um die setting-Theorie für eine sozialwissenschaftliche Forschung fruchtbar zu machen, dreht Weichhart die Argumentationsrichtung Barkers um: Während Barker den Kontextbedingungen, also bestimmten Zeit-Ort-Konstellationen sowie fixierten sozialen Interaktionspartnern, verhaltensdeterminierende Kräfte zuweist, stellt Weichhart die handelnden Subjekte in den Mittelpunkt: „Ausgangspunkt […] sollen nicht die Orte sein, von denen angenommen wird, dass sie das ‚Verhalten‘ von Personen determinieren, sondern die Subjekte, die im Vollzug von Handlungen bestimmte Orte dazu instrumentalisieren, unter Zuhilfenahme der dort bestehenden materiellen Gegebenheiten und der dort anzutreffenden Interaktionspartner spezifische Intentionen zu verwirklichen.“ (Weichhart 2003: 31, Herv. i. Orig.)
Die handlungsorientierte Perspektive besteht also darin, dass nicht bestimmte Orte oder Kontextbedingungen das Handeln determinieren, sondern Menschen gezielt bestimmte Kontextbedingen aufsuchen, um
28 Barker spricht von „konstanten Verhaltensmustern“, wenn an bestimmten Orten, Gegenständen und zu bestimmten Zeiten unterschiedlichste Personen die gleichen Verhaltensepisoden zeigen, so dass das Individuum auswechselbar erscheint. Verhaltensepisoden sind durch die Gleichförmigkeit der Orientierung einer Handlung vom Beginn bis zu ihrem Ende gekennzeichnet. Diese Ort-Zeit-Konstellation, die ein bestimmtes Verhalten gewissermaßen determiniert, nennt er Milieu. Diese Verknüpfung zwischen Verhalten und Orten kann sehr stabil sein: In Kaufhäusern werden keine Messen abgehalten, in Kirchen keine Haushaltsartikel verkauft (vgl. Koch 1986: 34). 93
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
dort bestimmte Handlungen durchzuführen und dort bestimmte Ziele zu verwirklichen: „Sie finden dort genau jene physisch-materiellen Bedingungen und genau jene sozialen Interaktionspartner vor, die für den jeweils in Frage stehenden Handlungsvollzug erforderlich sind, diesen unterstützen, erleichtern oder optimieren.“ (Weichhart 2003: 33)
Auch aus handlungsorientierter Sicht entsteht ein setting durch spezifische Interaktionen zwischen Akteuren, physisch-materiellen Strukturen und „Programmen“. Die „Programme“ sind die mit einem bestimmten setting verbundenen bzw. in ihm gespeicherten Absichten, Ansprüche, Erwartungen und Normen, die von den Subjekten dekodiert und befolgt werden müssen. Beispiele hierfür sind Schulen, Büros oder Gefängnisse. Settingsȱ haben dabei nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Grenzen und existieren immer nur im konkreten Handlungsvollzug: Die settings einer Schulklasse oder eine Tagung oder auch eines Kaufhauses existieren nur während der Dauer der im Programm vorgegebenen Handlungsvollzüge – über Nacht oder an Feiertagen existieren diese settings nicht. Aus einer handlungstheoretischen Sichtweise erscheinen insbesondere Barkers „konstante Verhaltensmuster“ (standing pattern of actions) problematisch, da eigentlich von einer grundsätzlichen Kontingenz menschlicher Handlungen ausgegangen werden muss. Weichhart erinnert aber daran, das auch nach Giddenscher Lesart (1997) ein erheblicher Teil menschlichen Handelns im Alltag aus habitualisiertem Handeln, das sich in Routinen niederschlägt, besteht. Zudem werde die Variabilität des Alltagshandelns durch Rollenbilder, Normen, Sitten und Konventionen weiter eingeschränkt: „Durch diese gesellschaftliche Normierung und Standardisierung von Handlungsmustern wird ein hohes Maß an Ordnung in das Alltagsgeschehen getragen.“ (Weichhart 2003: 32) Eine mögliche Verknüpfung der setting-Theorie mit der Werlenschen handlungstheoretischen Sozialgeographie sieht Weichhart (2003) in dem Schlüsselbegriff „Schauplatz“. Schauplatz verwendet Werlen in Anlehnung an das Konzept locale von Giddens. Mit dem Begriff localeȱ bezeichnet Giddens tätigkeitsspezifische Raumausschnitte, die bereits ein bestimmtes Anordnungsmuster von materiellen Gegebenheiten und Interagierenden besitzen (vgl. Werlen 1997: 168). Bei settings oder locales kann es sich um Straßenecken, um das Zimmer eines Hauses bis hin zu Nationalstaaten handeln – es geht nicht um die räumliche Ausdehnung, sondern um die Art der Ausrichtung des Handelns. Schauplät94
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
ze sind in der Regel regionalisiert. Der Begriff der Regionalisierung bezieht sich einerseits auf die Lokalisierung im Raum, aber vor allem bezieht er sich auf das Aufteilen von Raum und Zeit in Zonen und zwar im Verhältnis zu routinisierten sozialen Praktiken. Diese verdeutlicht Giddens am Beispiel eines Hauses: „Die Häuser in zeitgenössischen Gesellschaften sind regionalisiert in Stockwerke, Flure und Zimmer. Aber die verschiedenen Zimmer […] sind im Raum wie auch in der Zeit in unterschiedlicher Weise in Zonen aufgeteilt. Die Zimmer im Erdgeschoss werden charakteristischerweise meistens in den Tagesstunden benutzt, während in der Nacht die Individuen sich in die Schlafräume ‚zurückziehen‘.“ (Giddens 1997 [1988]: 171)
Das bedeutet, dass auch die Zeit als Grenze für soziale Aktivitäten wirken kann. Zudem können Grenzen auf physische oder symbolische Weise bestehen: Physisch z.B. als Wände zwischen Zimmern und symbolisch z.B. als Übereinkunft, im Schlafzimmer keine Gäste zu empfangen (vgl. Werlen 1997: 169 f.). Barker klammerte vor allem aus methodischen und erhebungstechnischen Gründen alle nicht-öffentlichen setting-Strukturen bewusst aus. Weichhart (2003: 36) sieht aber gerade die Wohnung und ihre verschiedenen Bereiche als besonders überzeugende Beispiele für ein setting, das für Menschen als Zentrum ihrer subjektiven Lebenswelt eine besondere Bedeutung besitzt. Zudem lassen sich Räume auf kleiner Maßstabsebene, die in raum-zeitlicher Hinsicht nach außen abgeschlossen sind wie z.B. Büroräume, leichter als setting bzw. Schauplätze betrachten als Räume höherer Maßstabsebenen wie z.B. Stadtviertel.29 Settings sind jedoch niemals konstant, sondern sie verändern sich je nach der gesellschaftlichen Entwicklung. Dieses Argument möchte ich im nächsten Teil dieser Arbeit am Beispiel der historischen Entwicklung des Hauses und der Wohnung sowie des Büros verdeutlichen. Zudem können im gleichen settingsǰȱ wie z.B. der Wohnung, verschiedene Programme ablaufen, wenn z.B. zu Hause gearbeitet wird. Aus einer subjektzentrierten Sichtweise stellt sich hier die Frage, wie Menschenȱsettings wahrnehmen oder sie selbst herstellen. Ein anderes Beispiel ist, wenn ganz bewusst Elemente anderer settings, z.B. der Freizeit in Form von Kicker-Tischen oder Cafe-Bars bzw. Lounges, in Büro-settings integriert werden, um 29 Nicht von ungefähr illustriert Werlen (1997: 197 ff.) die Giddens’sche Grundidee der Regionalisierung und locales anhand von Institutionen wie der Schule, dem Gefängnis und der Fabrikhalle. An diesen Räumen lassen sich besonders gut die raum-zeitlichen Begrenzungen durch symbolische und physische Markierungen zeigen. 95
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
bestimmte Effekte zu erreichen. Auch hier werden settingsȱ bewusst mit bestimmten Zielen geschaffen. Insgesamt sind die setting-Theorie von Weichhart und die Überlegungen von Giddens zu Schauplätzen sehr hilfreich, um zu verstehen, wie materieller Raum das Handeln beeinflusst. Meiner Meinung nach sind sie jedoch weniger geeignet, die Frage zu beantworten, wie settings oder Schauplätze überhaupt hergestellt werden. Hier erscheint die handlungstheoretische Konzeption von Raum der Soziologin Martina Löw (2001) hilfreich. Sie entwickelt diese Konzeption aus einer Kritik an Giddens, der auf das „Wie“ der Raumkonstitution keine Antwort gibt. Zu Giddens räumlichen Begrifflichkeiten merkt sie an, dass Handlungen bei Giddens immer selbstverständlich lokalisiert sind. Ob und wie Handlungen Raum produzieren können, ist bei Giddens keine Frage30 (vgl. Löw 2001: 37). Genau diese Frage nach der Konstitution von Raum steht bei Martina Löw im Zentrum ihrer Auseinandersetzung mit Raum. Sie versteht Raum „[…] als relationale (An-) Ordnung sozialer Güter und Menschen“ (Löw 2001: 158). Unter sozialen Gütern subsumiert sie primär materielle Güter wie auch primär symbolische Güter. Soziale Güter weisen also immer materielle wie auch symbolische Komponenten auf.31 Menschen schaffen laut Löw nicht nur Räume, sondern können in die (An-)Ordnung miteinbezogen, konstituierende Elemente des Raumes sein. Analytisch unterscheidet Löw zwei Prozesse der Raumkonstitution, die im alltäglichen Handeln allerdings immer gleichzeitig ablaufen: Zum einen konstituiert sich Raum durch das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen wie z.B. das Aufstellen von Waren im Supermarkt, das 30 Giddens fasst Raum als etwas die Menschen selbstverständlich umgebendes auf. Strukturen bezeichnet er als Raum und Zeit überdauernde Regeln und Ressourcen. Den Systembegriff verwendet er für das Geflecht raumzeitlicher, routinisierter oder insitutionalisierter Handlungen – das heißt, er definiert den Strukturbegriff über den Ausschluss von Raum. Giddens denkt Raum in seiner Theorie der Strukturierung nur auf einer Ebene und zwar als System: „So ist es nicht möglich, Regionalisierung in Überlegungen zu einem komplexen Konstitutionsprozess, der auch raumproduzierendes Handeln und räumliche Strukturen erfasst, einzubinden“ (Löw 2001: 43 f.). 31 Primär materielle Güter sind z.B. Häuser, Tische, Stühle etc, primär symbolische Güter sind Werte oder Vorschriften. Platziert werden materielle Güter, verstanden wird diese Anordnung jedoch nur, wenn die symbolischen Eigenschaften dieser sozialen Güter entziffert werden können. Ein Beispiel ist, wenn als Sitzgelegenheit in einem Büro eine Couchgarnitur gewählt wird, anstatt auf einen funktionalen Besprechungstisch zurückzugreifen. 96
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
Anordnen von Schreibtischen oder das Sich-Positionieren von Menschen gegenüber anderen Menschen. Diesen Prozess bezeichnet sie als spacing. Den zweiten Prozess, nämlich die Zusammenfassung von Gütern und Menschen zu Räumen über Wahrnehmungs-, Vorstellungsoder Erinnerungsprozesse bezeichnet sie als Syntheseleistung. Mit ihrer Konzeption lassen sich geplante Platzierungen und vor allem Fragen nach den Akteuren, die die Macht besitzen, Platzierungen vorzunehmen, besser thematisieren. Bei der Konstitution von Raum im alltäglichen Handeln betont Löw (2001: 161) der Giddenschen Konzeption folgend die Wichtigkeit von Routinen und gewohnheitsmäßigen Handlungen. Ebenso Giddens folgend unterscheidet sie in praktisches und diskursives Bewusstsein (vgl. Kapitel 3), wobei die Konstitution von Raum in der Regel aus dem praktischen Bewusstsein heraus entstehe, was sich insbesondere darin zeige, dass Menschen sich selten darüber verständigten, wie sie Räume schaffen. Dennoch können Menschen kraft ihrer Reflexivität (mit der sie steuernd auf ihr Handeln Einfluss nehmen), durchaus benennen und erklären, wie sie Räume schaffen – ein für meine empirische Forschung entscheidender Punkt. Der repetitive Charakter von Raumkonstitutionen, die Löw als Institutionalisierung bezeichnet, zeigt sich z.B. in den wiederkehrenden (An-)Ordnungen von Geschäften in Fußgängerzonen oder der gleichen Gestaltung von Friedhöfen oder Supermärkten. Diese institutionalisierten (An-)Ordnungen werden in regelmäßigen sozialen Praktiken im Handeln reproduziert. So werden Regale immer in der gleichen Weise aufgestellt und die Kunden gehen brav die langen Umwege am Warensortiment entlang, anstatt sie zu umgehen. Ebenso äußern sie sich in den Grundrissen von Wohnungen, wobei Besuchern in der Regel nur das Wohnzimmer und das Esszimmer zugänglich sind. Hier ist eine große Ähnlichkeit zwischen den institutionalisierten (An-)Ordnungen und Weichharts setting-Konzept feststellbar. Die Konstitution von Räumen lässt sich nach Löw (2001: 166 f.) nicht nur vom Handeln ausgehend zur gesellschaftlichen Struktur hin denken, sondern sie lässt sich auch in der Wechselwirkung zu gesellschaftlichen Strukturen denken. So stellt Löw räumliche Strukturen nicht dem Gesellschaftlichen gegenüber, sondern fasst das Räumliche als eine spezifische Form des Gesellschaftlichen. Unter Strukturen können ihrer Meinung nach nicht nur rechtliche, ökonomische, politische etc. gefasst werden, sondern auch räumliche und zeitliche. Diese räumlichen Strukturen können im Verhältnis zu raumkonstituierendem Handeln im Begriff der Dualität zusammengeführt werden. Räumliche Strukturen sind folgendermaßen konzipiert: 97
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
„Von räumlichen Strukturen kann man sprechen, wenn die Konstitution von Räumen, das heißt entweder die Anordnung von Gütern bzw. Menschen oder die Synthese von Gütern bzw. Menschen zu Räumen (das Wiedererkennen, Verknüpfen und Erspüren von (An)Ordnungen) in Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen abgesichert ist, welche unabhängig von Ort und Zeitpunkt rekursiv in Institutionen eingelagert sind.“ (Löw 2001: 171)
Räumliche Strukturen müssen im Handeln verwirklicht werden, strukturieren aber auch das Handeln. Martina Löw überträgt also die Dualität von Handeln und Struktur auf die Dualität von Raum. „Das bedeutet, dass räumliche Strukturen eine Form von Handlungen hervorbringen, welche in der Konstitution von Räumen eben jene räumlichen Strukturen reproduziert.“ (Löw 2001: 172) Damit möchte sie zum Ausdruck bringen, dass Räume nicht nur einfach existieren, sondern dass sie im (in der Regel repetitiven) Handeln geschaffen werden und als räumliche Strukturen, eingelagert in Institutionen, Handeln steuern. Beide Konzepte betonen, dass Räume nicht beliebig geschaffen werden können, sondern (An-)Ordnungen oderȱ settings in der Regel sozial vorstrukturiert sind. Sie weisen zudem darauf hin, dass die Möglichkeit, Räume zu konstituieren, auch davon abhängig ist, welche materiellen Faktoren in einer Handlungssituation vorgefunden werden. Auch wenn Raum als dynamisch, prozesshaft und wandelbar konzeptualisiert ist, ist er nicht als beliebig wandel- und formbar anzusehen. Raum und räumliche Strukturen werden als Ergebnisse von sozialen Konstruktionsprozessen gesehen, die in ihrer materialisierten Form Menschen als objektiv erscheinen. Räume sind also nicht nur als objektiv wahrgenommene Materialisierung gesellschaftlicher Prozesse anzusehen, sondern sie wirken auch in strukturierender – und damit auch die grundlegende Kontingenz einschränkender Weise – auf gesellschaftliche Prozesse zurück. Für meine Untersuchung nehme ich ein wechselseitiges Wirkungsgefüge an, in dem sich soziale Strukturen räumlich materialisieren und umgekehrt der materialisierte Raum auch auf soziale Gegebenheiten einwirkt (vgl. Ruhne 2003: 82). Wie sich gesellschaftliche Prozesse räumlich materialisieren, möchte ich im folgenden Kapitel am Beispiel der historischen Entwicklung der settingsȱWohnung und Büro zeigen.
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4 . 2 I n n e n r a u m a n a l ys e a l s An a l ys e gesellschaftlicher Prozesse: R ä u m e z u m L e b e n u n d Ar b e i t e n Dieses Kapitel beschäftigt sich am Beispiel der historischen Entwicklung von zwei Alltagsräumen – der Wohnung und des Büros – mit dem Prozess der Ausdifferenzierung in eine öffentliche Sphäre bezahlter Erwerbstätigkeit und vor allem deren räumlicher Trennung von dem privaten häuslichen und familiären Bereich sowie den aktuellen Entwicklungen, die dieses etablierte Verhältnis von Privat und Öffentlich verändern könnten. Ein Teil dieser Entwicklungen, nämlich die Entgrenzung von Arbeit, wurde bereits in Kapitel 2 diskutiert: Flexible Arbeitszeiten, neue Selbstständigkeit zu Hause oder auch Mobilarbeit sind Tendenzen, die diesen Prozess der Ausdifferenzierung stoppen oder vielleicht sogar umkehren könnten. Im zweiten Teil des Kapitels werde ich am Beispiel der historischen Entwicklung des Büros verdeutlichen, wie stark sich Management- und Führungskonzepte sowie gesellschaftliche Bilder von Arbeit in Büroformen widerspiegeln. Mit der historischen Perspektive verfolge ich mehrere Ziele: Erstens verdeutlicht sie, dass sich auch an Innenräumen gesellschaftliche Entwicklungen analysieren lassen, wie dies die Geographie sonst für größere Maßstäbe in Anspruch nimmt. Im Wandel der materiell-räumlichen Organisation der Wohnung und der Wohnkultur spiegeln sich gesellschaftliche Veränderungen wider: Ablesbar werden der Wandel von Ehe und Familie, die Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Wandel des Geschlechterverhältnisses ebenso wie Veränderungen in dem Verhältnis von Öffentlich und Privat. Zweitens zeigt die historische Analyse der Wohnung, dass räumliche settings historisch wandelbar sind und wie sich gesellschaftliche Veränderungen räumlich materiell niederschlagen. Drittens offenbart sie, dass die von uns heute als normal wahrgenommene Dichotomie von öffentlichem und privatem Raum keine „überzeitliche Universalie“ (Hausen 1992: 85 zitiert nach Ruhne 2003) darstellt, sondern legt diese Dichotomie als eine räumlich-soziale und wandelbare gesellschaftliche Konstruktion offen. Die historische Betrachtung der Wohnung und des Büros ist folglich ein interessantes Anwendungsbeispiel für das in Kapitel 4.1.6 hergeleitete gesellschaftliche Raumverständnis. Am Beispiel der Veränderungen dieser Räume lässt sich das wechselseitige Wirkungsgefüge zwischen sozialen Strukturen, die sich räumlich materialisieren, und die Wirkung des materialisierten Raumes auf soziale Gegebenheiten verdeutlichen.
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Als letzten Punkt zeigt die historische Analyse auch, woher gesellschaftliche Konventionen kommen, wie Wohnungen auszusehen haben und wie sich die Bedeutung des Zuhauses als besonderer Ort des Rückzugs und der Erholung und als räumliches, zeitliches und inhaltliches Gegenüber zum Betrieb etabliert hat und weshalb demzufolge eine zunehmende Erwerbstätigkeit im häuslichen Bereich für Menschen problematisch sein kann und neue Abgrenzungsleistungen erfordert. Zunächst soll jedoch eine Begriffsbestimmung vorgenommen werden, da gerade in geographischen Arbeiten auffällt, dass meist irgendein Begriff des Privaten (z.B. die „Wohnung“, das „Haus“) vorausgesetzt wird, ohne diesen näher zu bestimmen.
4.2.1 Zum Begriff von Privatheit Grenzen zwischen dem Privaten und Öffentlichen zu ziehen – sowohl praktisch wie auch theoretisch – hat das westliche Denken seit der Antike beschäftigt.32 „Ganz offensichtlich hat dieses Begriffspaar unsere Wahrnehmung so konsequent geprägt, daß wir die Dichotomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse in eine private und eine öffentliche Sphäre für selbstverständlich und sinnvoll halten und uns an einer säuberlichen Trennung und Gegenüberstellung orientieren.“ (Hausen 1992: 81 zitiert nach Ruhne 2003)
Die alltägliche Unterscheidung in eine öffentliche und eine private Sphäre materialisiert sich auch in einer mit der Dichotomie eng verknüpften Separierung öffentlicher und privater Räume. Als privater Raum gilt „vor allem die Wohnung als Ort familiärer Lebensgestaltung“ (Sturm 1997: 55, Herv. i. Orig.), wobei mit dem öffentlichen Raum meist der städtische Außenraum wie Straßen, Plätze, Parks, sowie Orte so genannter sozialer Infrastruktur bezeichnet werden. Dies ist zunächst eine sehr einfache Begriffsbestimmung, die keinesfalls alle Bedeutungsinhalte der Begriffe abdeckt. Ich möchte die Begriffe Öffentlich und Privat im Folgenden nicht in ihrer gesamten Breite diskutieren (vgl. dazu z.B. Rössler 2001, Weintraub 1997), sondern klären, welche Begriffsdefinition vor allem von Privatheit dieser Arbeit zu Grunde liegt. 32 Die Unterscheidung in öffentliche und private Lebensbereiche lässt sich zwar schon im antiken griechischen Stadtstaat nachzeichnen, die Ausgestaltung der Dichotomie unterschied sich jedoch deutlich von unserer Vorstellung heute. Unterschieden wurde zwischen dem so genannten Oikos, dem privat geltenden häuslichen Bereich der Reproduktion, und der Polis, dem Bereich des öffentlichen, politischen Diskurses (vgl. Ruhne 2003: 87). 100
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
Heute erschließt sich die Bedeutung des Begriffes Privatheit vor allem aus seinem Gegenstück, dem Begriff der Öffentlichkeit. Das dichotome Begriffspaar „öffentlich“ und „privat“ wird in deskriptiver oder normativer Weise verwendet, um verschiedene Weisen menschlichen Handelns und verschiedene Sphären des sozialen Lebens bzw. physische oder soziale Räume, in denen diese Handlungen stattfinden, zu unterscheiden (vgl. Weintraub 1997: 7). Vor allem vier Verwendungsweisen der Begriffe sind in soziologischen oder politischen Analysen anzutreffen, wobei die ersten zwei Definitionen für die vorliegende Arbeit kaum relevant sind, da bei ihnen die Definition von Öffentlichkeit im Vordergrund steht und das Private eher zu einer residualen Kategorie wird. Hier ist zunächst das liberale, ökonomische Modell zu nennen, das zwischen staatlich-öffentlicher Tätigkeit und privatwirtschaftlichem Handeln unterscheidet. Die Trennlinie liegt hier zwischen dem öffentlichen Sektor (Staat) und dem privatwirtschaftlichen Sektor. Das zweite Modell, der liberale, klassische Ansatz, unterscheidet zwischen der Öffentlichkeit als politischer Gemeinschaft, die als öffentliche Sphäre des Diskurses und freiwilligen Zusammenschlusses von Bürgern für das Gemeinwohl verstanden wird, und dem freien Markt sowie dem administrativen Staat. Relevanter für diese Arbeit ist eine Unterscheidung, die vor allem in den Sozial- und Geschichtswissenschaften gezogen wird. Öffentlichkeit wird hier als Sozialität gefasst und es wird untersucht, welche sozialen und kulturellen Voraussetzungen diese möglich machen. Privatheit wird dagegen als der Bereich des privaten Lebens mit den emotional intensiven Beziehungen von Familie und Freundschaft gefasst, der dem marktwirtschaftlichen Bereich und dem der bürokratischen formalen Organisationen gegenübergestellt wird (vgl. Weintraub 1997: 20). Diese Trennung hat sich in einem historischen Prozess herausgebildet, mit dem sich insbesondere Ariès, Foucault und Elias beschäftigt haben. Weintraub beschreibt diesen Prozess als: „[…] the breakdown of the older ‚public‘ realm of polymorphous socialbility, and with it, the sharpening polarization of social life between an increasingly impersonal ‚public‘ realm (of the market, the modern state, and bureaucratic organization) and a ‚private‘ realm of increasingly intense intimacy and emotionality (the modern family, romantic love, and so forth).“ (Weintraub 1997: 20)
Dieser Prozess hat für die Entwicklung des Wohnens und der Wohnformen eine wichtige Rolle gespielt.
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Das vierte Modell ist häufig in feministischen Analysen zu finden und ist ebenfalls wichtig für meine Überlegungen: Hier wird das Private sowohl von der Öffentlichkeit wie auch von der bezahlten Erwerbstätigkeit abgegrenzt. Die häusliche Sphäre wird fast synonym mit dem Privaten verwendet und das Private wird der öffentlichen Sphäre mit den außerfamilialen, ökonomischen und politischen Aktivitäten gegenübergestellt. Die Gleichsetzung der Dichotomie von Privat und Öffentlich33 sowie von Familie und Erwerbsarbeit hatte in der feministischen Diskussion vor allem ein normatives Ziel: Sie sollte auf das asymmetrische Geschlechterverhältnis sowie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufmerksam machen. Beide Grenzziehungen wurden vor allem in den 1970er und 1980er Jahren zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Analysen der Frauen- und Geschlechterforschung, indem sie aufzeigten, dass die Konstruktion von Öffentlichkeit als männlichen Bereich vor allem dazu diente, den Ausschluss von Frauen aus Politik, Bildung und bezahlter Erwerbstätigkeit zu legitimeren. Aufgrund der Assoziation von Frauen mit dem Privaten, und letztendlich der ‚Verbannung‘ von Frauen in den häuslichen Bereich, wurde die Privatsphäre nur begrenzt als Ort der Selbstbestimmung von Frauen interpretiert. Sie war vielmehr der Ort, an dem das asymmetrische Geschlechterverhältnis reproduziert wurde (vgl. Jurczyk/Oechsle 2006: 2; Mallet 2004: 75). Demzufolge taten sich feministische Wissenschaftlerinnen schwer, einen positiven und auch differenzierteren Begriff von Privatheit zu entwickeln. Die Philosophin Beate Rössler hat eine darüber hinausgehende Auseinandersetzung mit dem Begriff des Privaten vorgelegt. Nach Rössler (2001) geht es uns, wenn wir Privatheit für uns beanspruchen, immer um so etwas wie Kontrolle über den Zugang – sei es zu unserer Wohnung, zu persönlichen Daten oder die Kontrolle darüber, etwas selbst zu entscheiden. Privat ist für sie immer etwas dann, wenn man in der Lage ist, den Zugang zu kontrollieren. Aus dieser Überlegung entwickelt sie drei Grundtypen, in die sich die heterogenen Verwendungsweisen und verschiedenen Bedeutungen von „Privat“ einsortieren lassen. Dies ist erstens die informationelle Privatheit. Hier geht es z.B. um medizinische Daten oder die Frage mit wem eine Person zusammenlebt. Zum zweiten geht es um eine geschützte Handlungs- und Verantwortungssphäre, die den Individuen „Hand33 Der Begriff der Öffentlichkeit nimmt in der feministischen Diskussion häufig auf alles Bezug, was außerhalb des häuslichen oder familiären Bereiches liegt. Diese Begriffsverwendung ist nicht unproblematisch, da wie Nancy Fraser (2001: 108) kritisiert, dieser Begriff von Öffentlichkeit drei analytisch unterschiedliche Dinge vermischt: Den Staat, die Wirtschaft der entlohnten Beschäftigung und die Arenen des öffentlichen Diskurses. 102
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lungs- und Verantwortungsdimensionen sichert, in denen sie von Entscheidungen und Beeinflussungen einer – staatlichen, gesellschaftlichen – Öffentlichkeit unabhängig agieren können“ (Rössler 2001: 18). Zu nennen sind hier Handlungen wie der Gang in die Kirche (obwohl er in der Öffentlichkeit geschieht) oder das Tragen bestimmter Kleidung. Als drittes spricht Rössler (2001) von lokaler Privatheit (ich nenne diese Form im Folgenden räumliche Privatheit), wenn es um die Wohnung geht. Diese Grundbedeutungen sind natürlich nicht überschneidungsfrei, so wird z.B. privates Wissen auch durch räumliche Privatheit geschützt. Zudem sind der Schutz intimer Beziehungen und Rückzugsmöglichkeiten nur durch räumliche Privatheit zu gewährleisten. Als Überlegungen zur Bedeutung der räumlichen Privatheit lässt sich anführen, dass vielleicht gerade heute in den Zeiten der Pluralisierung von Lebensstilen die Wohnung stärker als früher zu einem Ort der Selbstinszenierung, und -stilisierung und damit auch noch stärker zu einem Container für die informationelle Privatheit – also das Wissen über die Person, die in ihr lebt – geworden ist. Lebensstil, Geschmack und Persönlichkeitsmerkmale prägen die funktionale und ästhetische Gestaltung der Wohnung (vgl. Häußermann/Siebel 2000: 44). Gleichzeitig macht dies die Wohnung auch immer zu einer Form der sozialen Distinktion.
4.2.2 Funktionen von Privatheit Räumliche Privatheit und mit ihr die Wohnung als materielles Fundament des privaten Bereichs haben für die individuelle Autonomie (vgl. Rössler 2001) und Identität (siehe auch Duncan/Lambert 2004: 388) eine wichtige Funktion. Mit den in der Wohnung versammelten Dingen wie Bildern, Möbeln oder anderen persönlichen Gegenständen, an die meist Erinnerungen geknüpft sind, versichern sich Menschen ihrer eigenen Geschichte und damit ihrer Identität. Zudem hat die Wohnung auch die wichtige sozial-psychologische Funktion als Ort der Privatheit und Intimität – in der Abgeschlossenheit separater Räume können sich Emotionalität und Körperlichkeit entfalten sowie Aktivitäten ermöglichen, die mit Scham- und Peinlichkeitsgefühlen verbunden sind (vgl. Häußermann/Siebel 2000: 33). Zudem ist nach Beate Rössler (2001) Autonomie – also die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wie man leben will – ohne den Schutz von Privatheit, ohne die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Bereichen des Lebens nicht möglich. Sie begründet diese Überlegung damit, dass wir im sozialen Raum immer Rollen spielen und Erwartungen erfüllen müssen. Diese Anforderung der Sozialität bedingen, 103
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
dass es Bereiche gibt, in denen wir auf diese Anstrengungen verzichten können. Im privaten Raum entfällt der Zwang zur permanenten Selbstdarstellung, hier können wir uns entspannen, gehen lassen, erholen. Dies wird zum Beispiel auch sichtbar an der Kleidung, die zeigt, dass Menschen sich in bestimmter Weise öffentlich präsentieren wollen und müssen – und wenn sie nach Hause kommen, als Übergangsritual, das verdeutlicht, dass zu Hause andere Standards gelten, die Kleidung wechseln. Der Soziologe Goffman, demzufolge das Handeln in der Gesellschaft stets in sozialen Rollen erfolgt, verwendet in seiner Analyse „presentation of self in everyday life“ (Orig. 1959, zitiert nach Rössler 2001) für diese Konstruktion das Bild der sozialen Welt als Bühne: Er unterscheidet zwischen front-region und backstage. Auf der Vorderbühne muss ein bestimmtes Verhalten eingehalten, müssen bestimmte Vorstellungen erzielt und bestimmte Regeln des Anstandes beachtet werden, während auf der Hinterbühne – in den privaten Räumen – neue Rollen ausprobiert werden können und Entspannung möglich ist.34 Auch für Giddens (1997 [1988]: 177) ist die Aufrechterhaltung der Unterscheidung zwischen – in seinen Begrifflichkeiten (vgl. auch Kapitel 3.1) – „vorder“- und „rückseitigen“ Regionen für die Organisation der Handlungskontextualität und für die Seinsgewissheit von Akteuren entscheidend. Er weist allerdings darauf hin, dass es falsch wäre, die Unterscheidung in authentischem und nicht-authentischem Verhalten mit der Differenz in front region und backstage gleichzusetzen. Angenommen wird lediglich, dass Menschen, um in den Rollen, die von ihnen sozial und emotional verlangt werden, autonom agieren zu können, die Möglichkeiten des Rückzugs von der Selbstdarstellung gegenüber anderen benötigen (vgl. Rössler 2001: 270).
4.2.3 Die Trennung von Wohnen und Erwerbstätigkeit: Wohnräume und Wohnkultur im Wandel Wohnen ist immer epochen-, kultur- und schichtspezifisch ausgeformt und jede gesellschaftliche Epoche schafft sich ihre besondere Wohnweise als wechselseitigen Zusammenhang von gesellschaftlichen Faktoren und materiell-räumlicher Wohnform. Häußermann und Siebel (2000) 34 Goffman setzt jedoch die Unterscheidung zwischen front-region und backstage nicht mit der Unterscheidung in privat und öffentlich im Sinne von privat als häuslichen Bereich gleich. Seine Unterscheidung kann jedoch durchaus hilfreich sein, um unterschiedliche Bereiche auch innerhalb der häuslich-privaten Sphäre zu identifizieren und ihre Bedeutung für die Person zu analysieren (vgl. Rössler 2001: 269). 104
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
beschreiben den Wandel des Wohnens als einen Prozess, der den Idealtypus des modernen Wohnens hervorgebracht hat. Sie benützen dieses idealtypische Konstrukt als heuristisches Instrument, um die Grundlinien des Wandels der Wohnweisen herauszuarbeiten. Diese vier Grundlinien des Wandels vom vormodernen zum modernen Wohnen sind: Die Trennung von Wohnen und Arbeiten, die Entwicklung der Wohnung zum Ort der Kleinfamilie und die Entwicklung von Öffentlichkeit und Privatheit, in dessen Prozess die Wohnung zum Ort der Intimität wird. Und als letzten Punkt die Entwicklung eines Wohnungsmarktes (vgl. Häußermann/Siebel 2000). Vor allem auf die drei erstgenannten Grundlinien des Wandels möchte ich in den nun folgenden Abschnitten näher eingehen.
Die Entwicklung der Wohnformen (Wohn-settings) vom späten Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert In der vorindustriellen Gesellschaft des Mittelalters bildete die „Ökonomie des ganzen Hauses“ (Brunner zitiert nach Dörhofer/Terlinden 1998: 48) die wirtschaftliche Grundform der Gesellschaft. Das große Haus war eine Erwerbsgemeinschaft mit Selbstversorgungscharakter, in dem Mitglieder der Familie ebenso wie Dienstboten, Gesellen und Gesinde unter einem Dach zusammenlebten. Verwandtschaftliche Beziehungen spielten nur eine untergeordnete Rolle und unterschieden sich nicht stark von den Beziehungen zwischen anderen Haushaltsmitgliedern. Kinder wurden wie Erwachsene behandelt und bereits früh in den Wirtschaftsprozess eingebunden (vgl. Ariès 1988) und Eheleute verband die Erhaltung von Haus und Hof und nicht eine Liebesbeziehung im bürgerlichen-romantischen Sinne. In der Ständegesellschaft des Mittelalters waren die Sozialformen und die sozialen Bindungen festgefügt, ein Überschreiten von Standesund Geschlechtergrenzen war unmöglich. So konnten nur Männer ein Handwerk erlernen und ausüben, Frauen waren von politisch-rechtlichen Institutionen ausgeschlossen und auf den Bereich hauswirtschaftlicher Tätigkeiten verwiesen, wobei jedoch besser gestellte Frauen innerhalb des Hauses erheblichen Handlungsspielraum hatten (vgl. Castan 1991: 420). Frauen standen dem Arbeitsbereich der „Ökonomie des ganzen Hauses“ vor, auf dem die Autorität des Mannes beruhte – er verdankte also seine Stellung der gemeinsamen Arbeit aller Haushaltsmitglieder (vgl. Dörhofer/Terlinden 1998: 48 f.). Eine klare Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem im heutigen Sinne gab es im Spätmittelalter noch nicht: Viele Alltagshandlungen spielten sich noch in der Öffentlichkeit ab (vgl. Elias 1997 [1937]). 105
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Diese geringe Trennung von Öffentlich und Privat in der mittelalterlichen Gesellschaft korrespondierte mit dem räumlichen Organisationsprinzip des mittelalterlichen Stadthauses, das nur eine geringe Funktionstrennung kannte. So war im 14. Jahrhundert das typische städtische Bürgerhaus Wohn- und Arbeitsstätte in einem. Es bestand in der Regel aus einem Untergeschoss, in dem sich Lageräume befanden, im Erdgeschoss befand sich Werkstatt oder Laden und im darüber liegenden Stockwerk der Wohnbereich, der aus einem einzigen großen Raum bestand (vgl. Rybczynski 1987: 22). In diesem Allzweckraum wurden Geschäfte gemacht, Gäste empfangen, gegessen, gefeiert und geschlafen. Es war üblich, auch in Räumen Gäste zu empfangen, in denen Betten standen (vgl. Elias 1997 [1937]: 315). Für die Charakterisierung der Lebensweise und des Lebensstils wohlhabender Bürger zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert verwendet der Historiker Ariès den Begriff des „Großen Hauses“. Ein wichtiges Merkmal war ihr öffentlicher Charakter: In einer Gesellschaft ohne Wirtschaften oder Kaffeehäuser waren sie die einzigen Orte, in denen Freunde, Verwandte und Kunden zusammentrafen. Berufliche und häusliche Zwecke von Räumen gingen ineinander über, außer der Küche hatte kein Raum einen speziellen Verwendungszweck. Ab dem Spätmittelalter veränderte der fortschreitende Zivilisierungsprozess viele Alltagshandlungen, es änderte sich der Umgang von Frauen und Männer und es bildeten sich neue Scham- und Peinlichkeitsstandards, die auch das Wohnen beeinflussten und zu einer stärkeren Funktionsdifferenzierung innerhalb der Häuser führten (vgl. Elias 1997 [1937]). Diese Entwicklungen hängen ebenfalls eng mit den sich wandelnden Aspekten des Familienlebens zusammen. Durch Entwicklungen im 16., 17. und 18. Jahrhundert tritt nach Ariés (1991) an die Stelle der anonymen Sozialität der Straße, des Burghofes, des Platzes oder der Dorfgemeinschaft „die zurückgenommene Sozialität, die an der Familie, ja, am Individuum selbst haftet“ (Ariès 1991: 16). „Die sozialen Freiräume, die der Aufstieg des Staates und der Niedergang der auf Gemeinschaft gestellten Sozialität geschaffen hatten, wurden vom Individuum besetzt, das sich gleichsam hinter dem Rücken des Staates etablierte.“ (Ariès 1991: 14) Die Bedeutung der Familie wandelte sich: „Sie war nicht mehr – oder nicht mehr ausschließlich – eine Wirtschaftseinheit, für deren Reproduktion man alles andere opferte. Sie war nicht länger ein Ort des Zwangs und der Unterjochung des Individuums, das nur außerhalb der Familie frei sein konnte; sie war nicht mehr die Stätte weiblicher Machtausübung. Vielmehr wurde sie zum Refugium, wo man sich vor den Blicken der 106
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anderen verbarg; zur Szenerie des Gefühlsaustausches, in der sich emotionale Bindungen zwischen den Ehepartnern und zwischen Eltern und Kindern entfalteten; zum Schauplatz einer traurigen oder glücklichen Kindheit.“ (Ariès 1991: 15)
Der verstärkte Rückzug ins Private zwischen dem 16., 17. und 18. Jahrhundert zeigte sich auch durch eine neuartige Konzeption des Alltagslebens und seiner Gestaltung (vgl. Ariés 1991: 12) sowie durch neue Formen des Wohnens. Grundsätzlich wurde nun dem Interieur des Hauses und der Haushaltsführung mehr Aufmerksamkeit zugewendet. Die Möbel, die bisher schlicht und zerlegbar waren, wurden kunstvoller und aufwendiger (vgl. Ariès 1991). Die zunehmende Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte vollzog sich zunächst im Bürgertum, bei Unternehmern, Anwälten und Beamten – kleine Handwerker und Geschäftsleute hatten weiterhin ihren Laden oder Werkstatt im Haus. Allerdings stieg mit der Privatisierung des Wohnens das Bedürfnis nach einem von der Außenwelt abgeschirmten Familienleben. Innerhalb des Hauses war die Trennung von Schlaf- und Wohnzimmern vielfach noch nicht vollzogen. Zum Teil wurde erst im 18. Jahrhundert der große Mehrzweckraum zu Gunsten einer höheren Zahl von kleinen spezialisierten Zimmern aufgelöst, denen jeweils eigene Funktionen zugewiesen wurden (Alkoven, Arbeitszimmer, Musikzimmer etc.). Die Raumaufteilung sowie die Nutzung, Anordnung und die Funktionszuschreibung der Räume spiegelten das neue Bestreben wider, Berufliches und Privates deutlicher abzugrenzen (vgl. Schulze 1980: 64). Zudem begünstigte die Spezialisierung der Zimmer die Absonderung des Individuums. Ariès (1988: 548) sieht in dieser Spezialisierung eine der größten Veränderungen des täglichen Lebens. Ein gutes Beispiel für das veränderte Bedürfnis nach Abgrenzung und Isolation ist die Entwicklung von Verbindungsräumen, durch die Zimmer betreten oder verlassen werden konnten, z.B. über einen Flur, Treppe oder Gang, ohne dass ein anderes Zimmer betreten werden musste. Dieser Wandel wird sehr gut durch die Pläne eines Kieler Adelshauses aus den Jahren 1569 und nach seinem Umbau 1769 illustriert. Vor dem Umbau (vgl. Abb. 9) hatte das Haus im Erdgeschoss eine Diele im Mittelpunkt und um sie herum die Zimmer ohne Flure. Im Obergeschoss befand sich ein großer Festsaal und dahinter Kammern ohne Flure. Die Pläne von 1769 zeigen (vgl. Abb. 10) charakteristische Veränderungen. Das Haus hat nun eine gesonderte Erschließung: Der Eingang ist an die Seite gewandert und im Erdgeschoss befinden sich nun eine ganze Reihe an Filterräumen; von der Diele tritt man in das Vorzimmer, dann in das 107
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Empfangszimmer und von dort erst in das Gesellschaftszimmer. Am anderen Ende befinden sich Kabinett und Arbeitszimmer. Die privaten Zimmer sind nun anstelle des vorherigen Festsaals nach oben verlegt und werden ebenfalls über Diele und Flure erschlossen. Öffentlichkeit und Privatraum werden also einerseits durch Parterre und erstes Stockwerk, aber auch auf den einzelnen Geschossen durch Schleusen und räumliche Distanz geschieden. Zudem zeigt der jüngere Grundriss eine stärkere Spezialisierung der Räume nach Funktionen und Personen. Während der ältere Grundriss nur fünf verschiedene Raumtypen kennt, zeigt der jüngere vierzehn verschiedene Funktionen (vgl. Häußermann/Siebel 2000: 34). Abbildung 9: Kieler Adelshaus nach Plänen von 1569 Raumaufteilung vor dem Umbau a) Festsaal b) Diele und Nebendiele c) Wohnzimmer d) Schlafzimmer e) Räume für Personal
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ȱ Quelle: Schulze 1980: 64; Häußermann/Siebel 2000: 35; verändert
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Abbildung 10: Kieler Adelshaus nach dem Umbau nach Plänen von 1769 Raumaufteilung nach dem Umbau a) Speisezimmer
h) Diele
b) Gesellschaftszimmer
i) Fremdenzimmer
c) Arbeitszimmer
j) Schlafzimmer
d) Kabinett
k) Kabinett
e) Schlafzimmer
l) Bibliothek
f) Empfangszimmer
m) Billardzimmer
g) Vorzimmer
n) Dienerzimmer
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Quelle: Schulze 1980: 65; Häußermann/Siebel 2000: 35; verändert
Nach Rybczynski (1987) setzte sich das Streben nach mehr Privatsphäre und Häuslichkeit, das sich sowohl in der Raumaufteilung wie auch in der Einrichtung zeigte, zuerst im Laufe des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden durch, bevor es sich im 18. Jahrhundert über Frankreich, England und Deutschland ausbreitete und sich auch dort im Innenleben der 35 Häuser niederschlug. Auch die Zonierung des bürgerlichen Hauses in Tag- und Nachträume nahm ihren Anfang nach dem Mittelalter in den Niederlanden. Die Inneneinrichtung wurde zu einer Inspirationsquelle für die holländischen Maler des 17. Jahrhunderts. Sie stellten in ihren Bildern diese in sich ruhende Häuslichkeit als Inbegriff eines neuen Lebensstils dar. Auf den Bildern des Delfter Maler Pieter de Hooch stehen oftmals Frauen im Mittelpunkt, die zurückgezogen im Hause ihren Tätigkeiten nachgehen. Die Arbeitsstätten der Männer hatten sich bereits verlagert und das Haus war zum Schauplatz weiblicher Arbeitstätigkeiten geworden. 35 Als gesellschaftliche Faktoren, die diese frühe Entwicklung begünstigten, werden das Fehlen einer mächtigen Aristokratie und das starke Bürgertum gesehen. Zudem kam es zu einer vertieften Beziehung zwischen Eltern und Kindern, das Kind wurde zum Mittelpunkt der Familie und von Frauen nun häufig ohne Bedienstete oder Ammen selbst großgezogen (siehe auch Pfau-Effinger 1995). 109
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Diese Tätigkeiten waren nicht neu, neu war ihr Rückzug ins Private. Die Atmosphäre der dargestellten Zimmer mit hohen Fenstern und Schachbrettmuster am Fußboden strahlt Wohlstand, Ordnung und Sinn für Komfort und Bequemlichkeit aus (vgl. Rybczynski 1987, Collomp 1991: 501) (vgl. Abb. 11). 36 Abbildung 11: Pieter de Hooch: Die Morgentoilette, ca. 1658-60
Quelle: de Mare 1999: 25
Entwicklungen ab dem 19. Jahrhundert: Das Bürgerliche Zeitalter und seine Folgen In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (in Deutschland in der so genannten Biedermeierzeit) entsteht die bürgerliche Wohn- und Lebenskultur, deren Normen und Vorstellungen sich in der Folge für alle Schichten durchsetzten. Ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung modernes Wohnen war die Intimisierung des Wohnens, und zwar: „[…] die sich durchsetzende Vorstellung, dass ein ‚trautes Heim‘ die emotionale Lebensmitte der Familie sein solle – eine Insel vollständiger Privatheit und intimer Geborgenheit. Das heißt selbstverständlich nicht, dass die große Mehrheit oder auch nur ein beträchtlicher Teil der Menschen im Laufe des 19. Jahrhunderts ein solches Refugium gehabt hätte, aber als Projekt, als Vorstellung eines Ideals, als erstrebenswertes Ziel begann dieses Leitbild immer mehr Zeitgenossen zu beherrschen, und zwar ausdrücklich schichten- und klassenübergreifend.“ (Reulecke 1997: 19 u. 21)
36 Für eine weitergehende Interpretation siehe de Mare 1999. 110
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In der bürgerlichen Gesellschaft werden Ehe und Familie privatisiert und die Kindheit wird als eigene Phase entdeckt, wodurch die Erziehung von Kindern zu einer zentralen Aufgabe der Familie, vor allem der Mütter wird. In dieser Zeit entstehen letztendlich die ‚moderne‘ Kleinfamilie und das ‚moderne‘ Wohnen, das sich in der schmalen Schicht des Bildungsbürgertums entfaltete und später so prägend für die Formen des Zusammenlebens in Familie und Wohnung werden sollte. Entscheidend war, dass nun die Existenzsicherung des Haushalts durch Erwerbsarbeit außerhalb des Hauses erfolgte, die ausschließlich dem Mann vorbehalten war. Frauen wurden nach und nach vollkommen aus dem Geschäftsleben verdrängt. „Für die Frau wurde das Familienleben zum zentralen Lebensinhalt, für den Mann ein Lebensinhalt unter mehreren“ (Dörhofer/Terlinden 1998: 50), weshalb die Autorinnen auch von einer „Individualisierung der bürgerlichen Männer auf Kosten ihrer Frauen“ sprechen (Dörhofer/Terlinden 1998: 50). Es entwickelte sich die Gegenüberstellung von Familie und Beruf – also der Privatheit und Geborgenheit im ‚Schoße der Familie‘, die dem harten Leben von Berufs- und Geschäftswelt gegenübergestellt werden: Die Wohnung wurde zum Gegenort der Erwerbstätigkeit. Es kam nicht nur zu einer Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, sondern es wurde auch eine grundlegende Unterscheidung zwischen den Lebenswelten vorgenommen. Der Entwurf polarisierter Geschlechterbilder, die in der Polarität verschiedener Eigenschaften und Verhaltensweisen gipfelte, führte zur Zuweisung von verschiedenen Räumlichkeiten (vgl. Dörhofer/Terlinden 1998: 51). Mit diesen neuen Lebensformen wandelte sich auch das Verständnis des Wohnens: „Das Haus bzw. die Wohnung wurde zum sichtbaren Ausdruck neuer Werte – wie Privatheit, Erholung, Gemütlichkeit – und zum gesellschaftlichen Statussymbol.“ (Dörhofer/Terlinden 1998: 53) Die Wohnweise oder das setting, das mit dieser Gesellschaftsform einherging, bestand in der klaren räumlichen Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit, indem die Repräsentationsräume zur Straße hin lagen und die privaten Räume in das Obergeschoss oder in die von der Straße abgewandten Zimmer verlegt wurden. Das Treppenhaus bildete in den bürgerlichen Mietshäusern die erste räumliche Schwelle zur Privatheit der Wohnung, dann folgte der Wohnungseingangsflur, der es erlaubte in der Wohnung selbst abgeschlossene intime Bereiche zu schaffen. Eine Grenze von Öffentlichkeit und Privatheit verlief also direkt durch die bürgerliche Wohnung. Je wohlhabender die Familie war, desto größer war die räumliche Diversifizierung der Zimmer nach Nutzungen und Personen (vgl. Hall 1992 [1987]). Die gestiegene Bedeutung des Kindes zeigte sich in dem neu etablierten Kinderzimmer, die Reproduk111
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tionsarbeit fand nun in der Küche statt, für die Repräsentation gab es den Salon oder die ‚gute Stube‘. Bis hierher hatte der Besuch Zugang, nie jedoch in die anderen Bereiche der Wohnung. Zudem unterlag die räumliche Organisation der Wohnung einem hierarchischen Ordnungsdenken über die Wertigkeit der einzelnen Zimmer und ihrer Bewohner: Der Salon als Repräsentationsraum sowie Wohn- und Esszimmer befanden sich an der Vorderfront des Etagenhauses. Im rückwärtigen Teil der Wohnung befanden sich Schlafzimmer, Kinderzimmer, Küche und Bad. Durch die entsprechenden Grundrisse konnten ganze Teilbereiche der Wohnung voneinander abgetrennt werden (vgl. von Saldern 1997: 175 f.). Als Gestaltungsprinzip dominierte in der Wohnung eine fixierte und zentral ausgerichtete Anordnung des Mobiliars, dessen strenge Gestaltung (gerade Stuhllehnen, schwere Sofas) geradezu ein diszipliniertes Verhalten erforderte (vgl. Abb. 12). Abbildung 12: Bürgerlicher Wohnraum um 1900
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Quelle: Dörhofer/Terlinden 1998: 67
In der Folge führte – unterbrochen durch die beiden Weltkriege – die allgemeine Durchsetzung der Lohnarbeit als Existenzsicherung sowie Formen staatlicher und gewerkschaftlicher Politiken, begleitet vom wachsenden Wohlstand und Ausbau der sozialen Sicherungssysteme zur Etablierung bürgerlicher Werte, Geschlechterrollen (vgl. Pfau-Effinger 1995) und Wohnformen auch in der Arbeiterschicht (vgl. Dörhofer/Terlinden 1998: 54).
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Doch bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bemühten sich Reformbewegungen wie das „Neue Bauen“, neue Konzepte bürgerlicher Wohnweisen für die Arbeiterschaft zu entwickeln – nicht zuletzt mit dem sozialreformerischen Gedanken, die Wohnverhältnisse des Proletariats zu verbessern. In Abkehr vom bürgerlichen Wohnleitbild wollten Architekten Wohnungen (und Städteplaner die Städte) nach rationell-funktionalen Kriterien schaffen. Wichtigste Prinzipien der Gestaltung waren Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit. Dies zeigte sich in den Grundrissen der Wohnung, die sich durch die Vermeidung von Erschließungsflächen, wenige und kleine Zimmer und den Verzicht auf Repräsentationsräumen sowie der Funktionstrennung von Wirtschaften und Wohnen auszeichneten. Taylorismus und Fordismus wirkten sich durch Rationalisierungstendenzen auch im Wohnbereich aus. Die von der Architektin Grete Schütte-Lihotzky 1927 entworfene „Frankfurter Küche“ gilt als Inbegriff eines konsequent durchkonzipierten und rationalisierten Arbeitsraumes (vgl. Abb. 13). Ihr Entwurf folgte dem tayloristischen Prinzip des Arbeitsablaufs (Schritt- und Griffersparnis), wobei die Anordnung der Geräte und Möbel nach Arbeits- und Bewegungsabläufen optimiert wurde. Ihr Ziel war, die Frau von der „Sklaverei“ der Hausarbeit zu befreien und ihre eine bezahlte Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Abbildung 13: Frankfurter Küche von 1927
Quelle: Hartmann 2000: 278
Die Küchenarbeit wurde vom Ess- und Wohnbereich funktional abgetrennt und zu einem monofunktionalen Raum und Arbeitsplatz für eine Person (vgl. Leicht-Eckardt 1999: 192). Die Höhe der Arbeitsplatten war nach der durchschnittlichen Größe von Frauen berechnet und die
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Küche war so klein, dass kein Mann (neben der Hausfrau) noch Platz gehabt hätte. Die gesamte Konzeption erforderte: „[…] quasi zwangsläufig eine nach rationellen Gesichtspunkten wirtschaftende Hausfrau und ein rationalisiertes Geschlechterverhältnis, das die geschlechtsbezogene Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau konsequent räumlich umsetzte.“ (von Saldern 2000: 21)
Ein perfektioniertes Arbeits-setting, das aber gleichzeitig einen erzieherischen Zwang auf seine Bewohner ausübte. Die Frankfurter Küche fand bis 1931 in 10.000-facher Ausführung ihren Platz im Massenwohnungsbau (vgl. Hartmann 2000: 278). In ihren ästhetischen Konzepten folgten die Architekten und Architektinnen der modernen bildenden Kunst, in ihren Wohnungsgrundrissen und -zuschnitten jedoch orientierten sie sich am bürgerlichen Modell mit seiner räumlichen Separierung und Hierarchisierung der Nutzungen. Letztendlich waren diese Konzepte die Vorläufer des Sozialen Wohnungsbaus mit dem in den 1950er und 1960er Jahren das bürgerliche Leitbild von Familie und Wohnen in breite Schichten der Bevölkerung hineingetragen wurde. „Der „Soziale Wohnungsbau für die breiten Schichten des Volkes folgte der bürgerlichen Wohnweise ebenso wie die Eigenheimsiedlungen an den Stadträndern“ (Dörhofer/Terlinden 1998: 55). Die vier Merkmale des modernen Wohnens, Wohnung als Ort des außerberuflichen Lebens, als Ort der Familie und als Ort von Privatheit und Intimität prägen die Wohnwirklichkeit und Wohnwünsche zumindest bis in die 1970er Jahre und bildeten die Leitlinien für den Massenwohnungsbau im 20. Jahrhundert.
Entgrenzungen des Wohnens heute Der Idealtypus des modernen Wohnens hat in den 1960er Jahren im Massenwohnungsbau mit den entsprechenden Din-Normen die größte Verallgemeinerung erfahren. Seitdem sind hinsichtlich der Wohnformen und -kulturen wieder Tendenzen zur größeren Ausdifferenzierung erkennbar (vgl. Häußermann/Siebel 2000). Postmoderne oder postindustrielle Wohnformen lassen sich nicht anhand einiger Merkmale bestimmen. Der seit einigen Jahrzehnten sich in forcierter Form vollziehende soziale Wandel hat auch im Bereich des Wohnens zu Veränderungen geführt: Betroffen sind Grenzziehungen zwischen Öffentlich und Privat, die Wohnung als der Ort der Kleinfami-
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lie und die Trennung von Arbeit und anderen Lebensbereichen in der Wohnung. Im Folgenden werden die wichtigsten Grundlinien gesellschaftlicher Veränderungen beschrieben, die – bei Annahme eines wechselseitigen Verhältnisses gesellschaftlicher und räumlicher Veränderungen – zu veränderten Wohnbedürfnissen und -kulturen geführt haben und wie diese sich räumlich materiell zeigen. Die Haushalts- und Wohnformen differenzieren sich zunehmend aus. So ist die soziale Einheit des Wohnens, der Haushalt, immer seltener die klassische Kleinfamilie. Quantitativ zugenommen haben neue Haushaltsformen wie Alleinstehende (Singles), unverheiratet zusammenlebende Paare, Alleinerziehende und Wohngemeinschaften. Rund 39 % der Bevölkerung leben in einem Einpersonenhaushalt, rund 10 % alleine ohne Partner oder Partnerin in einem Mehrpersonenhaushalt. In einer Paargemeinschaft ohne Kinder, sei es als verheiratetes oder nichteheliches Paar, lebt ein gutes Viertel (ca. 29 %) der Bevölkerung. Damit lebten im Jahre 2008 aber noch knapp die Hälfte der Menschen in Deutschland (49,7 %) in einer Familie, also als Ehepaar, als Lebensgemeinschaft oder als allein erziehender Elternteil mit mindestens einem Kind zusammen (vgl. Statistisches Bundesamt 2010). Die durchschnittliche Haushaltsgröße betrug 2008 2,05 Personen. Einpersonenhaushalte sind insbesondere in Großstädten (über 500.000 Einwohner) vertreten: Hier machen sie bereits knapp die Hälfte (48 %) aller Haushalte aus (vgl. Statistisches Bundesamt 2006b: 41). Vor allem nichteheliche Lebensgemeinschaften haben stark zugenommen. Ihre Zahl hat sich von 1996 bis 2008 um gut ein Viertel (28 %) auf 2,5 Mio. erhöht (vgl. Statistisches Bundesamt 2010). Die klassische Kernfamilie hat an statistischer und an normativer Relevanz verloren, sie prägt nicht mehr eine standardisierte Wohnform, wobei das nicht bedeutet, wie Häußermann/Siebel (2000: 331) anmerken, dass die Familie an sich für Menschen an subjektiver Bedeutung verloren hätte – aber als Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt ist sie nicht mehr dominant, da Alleinlebende mit festem Lebenspartner/in („living-apart-together“), die nichtehelichen Lebensgemeinschaften, kinderlose Ehen, Alleinerziehende, Stieffamilien, alleinlebende Ältere usw. mittlerweile die Mehrzahl der Haushalte darstellen. Die Veränderungen in den Lebensplanungen und Biographien von Frauen seit den 1970er Jahren, die sich vor allem in einer erhöhten und kontinuierlichen Erwerbsbeteiligung von Frauen niederschlagen, haben zu der Existenz dieser neuen Haushaltstypen wesentlich beigetragen. Insbesondere die vermehrte Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen und Mütter stellt das bürgerliche Familienmodell mit weiblicher Hausfrau 115
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zunehmend in Frage. Frauen haben inzwischen bei mittleren und höheren Bildungsabschlüssen mit Männern gleichgezogen und die Erwerbsbeteiligung von verheirateten Frauen und Müttern ist gestiegen (vgl. Gottschall et al. 2005: 75). 37 Neben der Wohlstandsteigerung und den zunehmenden kulturellen Wahlfreiheiten, sind die veränderten Frauenrollen wesentliche Faktoren, die zu veränderten Haushalts- und Familienformen führen (vgl. Schneider/Spellerberg 1999: 24). Insgesamt deuten diese Veränderungen auch auf ein gewandeltes Geschlechterverhältnis und Wohnweise hin: „Die bürgerlichen Geschlechterrollen und die bürgerliche Wohnweise, die nach dem 2. Weltkrieg in der Bundesrepublik zu Stereotypen wurden, verblassen in Teilen der Gesellschaft.“ (Dörhofer/Terlinden 1998: 64) Gutverdienende Frauen, die vor allem das vielfältige Güter- und Dienstleistungsangebot sowie die Angebote an kulturellen und gastronomischen Einrichtungen schätzen, sind inzwischen wichtige Nachfrager von gut ausgestattetem innerstädtischem Wohnraum geworden (vgl. Alisch 1993). Dies trifft ebenso auf gutverdienende Paare mit Kindern zu, die eine Erwerbstätigkeit beider Partner und Kinderbetreuung aufgrund der kurzen Wege in innerstädtischen Altbauquartieren besser realisieren können als in reinen Wohnvierteln am Stadtrand oder in Suburbia. Diese Viertel bieten gleichzeitig Altbauwohnungen, die sich besser für alternative Lebensformen eignen. Bei Altbauwohnungen sind die Grundrisse weniger normiert und die Zimmeraufteilung ist in der Regel egalitärer als bei auf Kleinfamilien zugeschnittenen Wohnungen in reinen Wohnsiedlungen am Stadtrand (vgl. Schneider/Spellerberg 1999: 28). Die neuen Haushaltstypen sind vor allem ein Phänomen der großstädtischen, akademisch gebildeten Mittelschicht (vgl. Häußermann/ Siebel 2000: 112). Sie führen tendenziell zu einer stärkeren Nachfrage nach egalitäreren Raumzuschnitten von Wohnungen. So wurde z.B. die Wohnküche vor allem durch die Wohngemeinschaften in den 1970er Jahren populär und ist inzwischen zu einem Thema für jeden großen Küchenhersteller geworden. Die Küche wird zunehmend in den Ess- und Wohnbereich der Wohnung integriert und steigt neben dem Wohnzimmer zum sozialen Zentrum der Wohnung auf (vgl. Tränkle 1999: 761 f.). Damit wird häusliche Arbeit in einem Aufenthaltsort sichtbar, was die Küche zu einem Ort der Neuaushandlung von Geschlechterrollen macht (vgl. Putnam 1999: 150), gerade wenn Paare oder Familien nach der Arbeit gemein37 Mit diesen Veränderungen steht die lange Zeit als natürlich gesehene Geschlechterordnung und Arbeitsteilung nicht mehr als selbstverständliche Grundlage der Erwerbsarbeit zur Verfügung (vgl. Jurzcyk/Oechsle 2006). 116
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sam kochen. Für die gesellschaftliche Akzeptanz spricht auch, dass in Modellentwürfen von vielen Fertighausherstellern die offene Küche inzwischen als Standard vorgesehen ist. Eine weitere wichtige Veränderung ist die gestiegene Nutzung von interaktiven Medien im Wohnbereich, zu der insbesondere die zunehmende Miniaturisierung, Tragbarkeit und der günstige Preis neuer IuKTechnologien beigetragen hat (vgl. Tränkle 1999: 790). Sie hat zu einem Bedeutungszuwachs der Wohnung geführt, da Arbeiten, Sich-Unterhalten, Sich-Bilden, Einkaufen oder auch Bankgeschäfte, also Tätigkeiten, für die früher die Wohnung verlassen werden musste, heute in den eigenen vier Wänden stattfinden können. Neben dem Bedeutungszuwachs der Wohnung durch diese Entwicklungen könnte sich auch ein neues Verhältnis von Öffentlich und Privat einstellen (vgl. Kumar 1997). Die Grenzen zwischen Öffentlich und Privat wurden mit den ersten elektronischen Geräten neu gezogen, als Radio und Fernseher in den 1950er Jahren bereits in die innersten Bereiche privater Häuslichkeit vordrangen. Der Fernseher stellte auch den ersten Schritt in Richtung Verhäuslichung der Freizeitunterhaltung dar. 1974 hatten bereits 95 % aller westdeutschen Haushalte einen Fernsehapparat (vgl. Tränkle 1999: 775). Da das Telefon ein interaktives Medium ist, konnte mit ihm noch mehr als mit dem Fernseher Barrieren der Privatheit durchbrochen wer38 den (vgl. Tränkle 1999: 782). Mit dem Einsatz interaktiver Telekommunikation über das Internet im häuslichen Bereich geraten mehrere Grenzziehungen in Bewegung: Zum einen wird die Wohnung wieder in größerem Umfang zu einem Ort der Erwerbsarbeit, zum anderen kann das Zuhause verstärkt für Freizeitund Einkaufstätigkeiten genützt werden. Das räumliche Gegenüber von Wohnung und Betrieb, Arbeit und Freizeit ebenso wie Familie und Erwerbsarbeit könnte sich abschwächen und wieder stärker verschränken (vgl. Häußermann/Siebel 2000: 317). Die Entwicklungen, die sich hier abzeichnen, sind allerdings widersprüchlich und können in zwei Richtungen interpretiert werden. Zum einen wird Privatheit möglicherweise öffentlicher, da über das Einkaufen und Surfen im Internet zwangsläufig Spuren hinterlassen werden – hier geht es allerdings mehr um die informationelle Privatheit. Zum anderen – und dies betrifft mehr die räumliche Privatheit – verlagern sich öffent-
3 8 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang erscheint, dass gleichzeitig das Telefonieren immer mehr zu einer Tätigkeit im öffentlichen Raum wird, die (meist unfreiwilligen) Mithörern oftmals Einblick in früher abgegrenzte intime Familien- und Arbeitssituationen gibt. 117
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liche Funktionen vermehrt zurück in den privaten Raum (vgl. Tränkle 1999: 789). Anstatt ins Theater oder ins Kino zu gehen, können wir uns mit Hilfe moderner Unterhaltungselektronik wie dem DVD-Spieler viele Inszenierungen und Filme zeitnah zu Hause ansehen. Interaktive Lernprogramme ermöglichen das Lernen von zu Hause aus. Via Internet ist man sowohl mit dem Dozenten als auch den Mitstudierenden verbunden. Im Jahr 2008 hatten bereits 69 % aller deutschen Haushalte einen Internetzugang (2002 waren es noch 46 %). Das Zuhause ist dabei der Ort, von dem aus das Internet am häufigsten genutzt wird: 93 % aller Computernutzenden besaßen 2009 einen Internetanschluss zu Hause und gingen dort ins Internet (vgl. Statistisches Bundesamt 2009d). Ebenso muss für Bankgeschäfte oder zum Einkaufen das Haus nicht mehr unbedingt verlassen werden. Am Online- Einkauf (ECommerce) beteiligten sich im Jahr 2008 79 % aller Menschen in Deutschland ab 16 Jahren. Damit stieg die Nutzung des Internets für Kauf und Bestellung von Waren und Dienstleistungen in den letzten Jahren sehr deutlich an: 2002 waren es noch 17 %, 2005 32 % und 2006 immerhin schon 76 % (vgl. Statistisches Bundesamt 2006a: 24, Statistisches Bundesamt 2010b) Durch die intensive Mediennutzung ergibt sich auch eine Funktionsänderung des Wohnzimmers – weg vom Vorzeigezimmer hin zu einer Mehrfachnutzung dieses Raumes: Das Wohnzimmer wird zum Multimediaraum worauf sich folgende Werbung bezieht: Abbildung 14: Werbung des Computerherstellers ACER
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Quelle: Acer 2008
Festzuhalten ist: Die Wohnung ist ein sozial vorstrukturierter Raum, der in unserer Gesellschaft vor allem mit Privatheit, Rückzug und Familie konnotiert ist. Die historische Analyse zeigt jedoch, dass settings wandelbar sind. Damit stellt sich die Frage, ob durch den Wandel in der Arbeitswelt und durch die verstärkte Rückverlagerung von Erwerbsarbeit in den privaten Bereich auch die gesellschaftlich dominante Konstrukti-
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on des Zuhauses als Gegenort zur Stätte der Berufsausübung ins Wanken kommt.
4.2.4 Büroräume im Wandel: Vom Arbeiten zum Leben im Büro Während in der Wohnung zunehmend wieder bezahlte Erwerbsarbeit stattfindet, lässt sich bei modernen Bürokonzepten auf umgekehrte Weise eine Überschneidung verschiedener Sphären feststellen. So erwecken bestimmte Gestaltungselemente moderner Büros den Eindruck, direkt aus der privaten Lebenswelt entlehnt zu sein: Sitzgruppen zum Entspannen, Cafeterias als Treffpunkte inmitten des Büroraumes, Bistros sowie Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten integriert in Bürokomplexe. All diese Gestaltungselemente modernen Bürodesigns suggerieren Erlebnisqualitäten jenseits der Arbeitsatmosphäre (vgl. Riewoldt 1994 zitiert nach Hofbauer 1998: 307). Büro-settings sind ebenso wie Wohn-settings einem ständigen Wandel unterworfen, allerdings wird der Wandel von anderen Leitlinien bestimmt: Insbesondere Veränderungen in der Arbeitswelt, die durch einen Wandel in der Arbeitsorganisation in Firmen wie auch durch Veränderungen in den Managementtheorien hervorgerufen wurden, spiegeln sich in den räumlich-materiellen Wandlungen wider. Diese Veränderungen von Arbeit wurden bereits ausführlich in Kapitel 2.2.4 unter dem Stichwort Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit diskutiert. Zudem haben moderne IuK-Technologien seit den 1990er Jahren die Veränderungen im Bürodesign nochmals vorangetrieben: Da sich IuK-Technologien grundlegend auf die Organisationsformen von Arbeit in zeitlicher, räumlicher und inhaltlicher Hinsicht auswirken, bleiben die Räume, in denen die Arbeit stattfindet, davon nicht unberührt (vgl. Felstead/Jewson/ Walters 2005: 38). Im Unterschied zur Wohnung oder dem Haus, in dem sehr lange Zeit alle alltäglichen Tätigkeiten stattfanden, wurde dem Büro seit seiner Entstehung bzw. seit seiner Auslagerung aus dem häuslichen Bereich eine klare Funktion zugewiesen: Es war und ist ein Ort zur Ausführung von Büroarbeit. Es ist also ein setting, das zu einem bestimmten Zweck – zudem meist von professionellen Entwerfern – gestaltet wird, wobei die darin Arbeitenden gemeinhin wenig Einfluss auf diese Gestaltung haben. Zwei weitere Aspekte unterscheiden das Büro von der Wohnung oder dem Zuhause. Erstens hat die physische Gestaltung von Arbeitssettings immer auch der Ausübung von Macht und Disziplinierung sowie der Kontrolle über den Gebrauch von Arbeitskraft gedient. Zweitens 119
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sind Bürogebäude stärker als Wohnungen nach einem funktionalen Zweck gestaltet, der z.B. eine bestimmte Form der Arbeitsorganisation erleichtert oder ihr angepasst ist. Disziplinierung wird in Firmen ebenso wie in anderen disziplinierenden Organisationen, wie z.B. Schulen oder in Fabriken, mit spezifischen Regionalisierungen erreicht. Giddens (1997 [1988]: 188 ff.) Ausführungen zu den Regionalisierungen – also die Aufteilung von Raum und Zeit in Zonen – in Schulen oder auch Fabriken zur Herstellung von Disziplin lassen sich durchaus auf Büroräume übertragen. Nach Giddens (1997 [1988]: 188 ff.) ist die Schuldisziplin zu einem beträchtlichen Teil auf die Regulierung von Raum und Zeit zurückzuführen. Die Regulierung der Zeit erfolgt über den Stundenplan, die Regulierung des Raumes über die Abgeschlossenheit des Gebäudes nach außen und die Aufteilung in Klassenzimmer. Dadurch lässt sich eine präzise Koordination der Handlungsabläufe leichter aufrechterhalten. Innerhalb der Klassenzimmer wird durch die Aufstellung der Schulbänke die räumliche Positionierung der Körper so angeordnet, dass Kontrolle durch Blickkontakt möglich ist. Im Klassenzimmer sind keinerlei verdeckten Handlungen möglich, es ist eine vorderseitige Region par excellence (vgl. Werlen 1997: 199). Auch bei Foucault spielt die Aufteilung von Raum und Zeit bei seiner Beschäftigung mit dem Ursprung disziplinierender Macht eine wichtige Rolle. Am Beispiel von Fabriken des späten 18. Jahrhunderts zeigt Foucault wie durch Verteilung der Arbeiter in Anpassung an die technischen Erfordernisse der Produktion sowie zum Zwecke der besseren Überwachbarkeit durch Aufseher disziplinierende Macht durchgesetzt wurde (vgl. Giddens 1997 [1988]: 200 f.): „Unter den Gegebenheiten der Überwachung am Arbeitsplatz – wo Überwachung in jedem Falle direkte Supervision bedeutet – wird Disziplin in einem bedeutenden Maße vermittelt über ‚Blickkontakte‘ (face-work) ausgeübt und schließt das Verfolgen von Kontrollstrategien ein, die zum Teil von den Akteuren an Ort und Stelle entwickelt werden müssen. Das raumzeitliche ‚Einfassen‘ von Gruppen von Individuen in abgegrenzte Orte, wo die kontinuierliche Beaufsichtigung unter Bedingungen von Kopräsenz geleistet werden kann, ist offensichtlich äußerst wichtig für die Generierung disziplinierender Macht.“ (Giddens 1997 [1988]: 212)
Neben ihrer Funktion der Ausübung von Kontrolle sowie der Unterstützung der Arbeitsablaufe hat die baulich-materielle Gestaltung von Bürogebäude und Büroinnenräumen immer auch eine symbolische Funktion. So sendet das Gebäude stets auch visuelle Signale aus, die uns sagen, 120
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
um welche Art von Gebäude es sich handelt und welche Art von sozialer Aktivität darin angemessen ist (vgl. Baldry 1997: 366). Zudem haben Bürogebäude und ihre Inneneinrichtung eine Repräsentationsfunktion nach außen, also für Kunden und Konkurrenten. Aber auch für die dort arbeitenden Menschen beinhaltet die materielle Gestaltung immer auch Symbole und Zeichen visueller Kommunikation, die Aufschluss über den Status bestimmter Mitarbeiter oder das angemessene Verhalten innerhalb dieser Räumlichkeiten geben (vgl. Baldry 1997). Physisch-materielle Strukturen speichern jeweils ein bestimmtes Verhalten, Ansprüche oder auch Normen, die von den in ihnen arbeitenden Menschen dekodiert werden müssen und bestimmte Handlungen unterstützen bzw. verhindern. Für eine Analyse von Büro-settings sind folgende Leitfragen hilfreich: • Inwieweit ist eine Personalisierung von Raum bzw. eine symbolische Aneignung von Raum durch die dort arbeitenden Menschen möglich? Haben die Mitarbeiter die Möglichkeit, ihren Arbeitsplatz nach ihren Vorstellungen zu gestalten? Haben sie die Kontrolle über Temperatur, Belichtung etc.? • Werden über räumlich-materielle Gegebenheiten hierarchische Beziehungen hergestellt (Raumgrößen, Mobiliar, Dekoration) oder werden diese negiert? • Erlaubt oder erschwert die Anordnung der Büros und der Arbeitsplätze Kommunikation und Kontrolle? Existieren vorder- und rückseitige Regionen? • Erfolgt eine kollektive oder personale Nutzung des Büroraumes? •
Traditionelle Bürokonzepte: Großraum- und Zellenbüro Bürokonzepte wie der Business Club oder non-territoriale Büros, die diese Gestaltungselemente enthalten, stehen am Ende der circa 100jährigen Geschichte des Büros, die im Zentrum des folgenden Kapitels steht. Das Ziel soll aber wiederum nicht die Nacherzählung der Sozialgeschichte des Büros sein, sondern ich möchte auch hier zeigen, auf welche Weise baulich-materielle Strukturen mit sozialen Strukturen verknüpft sind. Bürogebäude existieren als eigener Gebäudetyp erst seit dem späten 19. Jahrhundert, da Wohnung und Arbeitsstätten lange Zeit noch nicht getrennt waren. Kaufmänner und Handwerker erledigten ihre Papierarbeit von Zuhause oder dem Kontor aus. So wurden z.B. bis in das 18. Jahrhundert hinein die Geschäfte der Londoner East India Company noch vom Haus des Gouverneurs aus geleitet (vgl. Gad 1968: 151 f.).
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Im 19. Jahrhundert setzte mit dem Aufstieg der Bankhäuser ein regelrechter Büroboom ein, der in den meisten Großstädten der industrialisierten Welt zu Bankenvierteln führte (vgl. Gad 1968. 24). Zudem erfolgte Ende des 19. Jahrhunderts eine starke Vermehrung der Verwaltungsaufgaben, die erstmals Büroräume und Bürogebäude in einem größeren Ausmaß notwendig machten. Der Office-Boom zwischen den Kriegen und nach 1945 wurde in den USA von den Büros der großen Aktiengesellschaften und der ersten Generation der Wirtschaftsdienstleistern getragen (vgl. Gad 1968: 153). Zum ersten Mal wurden Büros in einem großen Ausmaß benötigt und es entstanden in relativ kurzer Zeit Bürozentren wie z.B. New York Manhattan oder der Chicago Loop (vgl. Schäfer 1998: 1). Auch in europäischen Städten entstehen neue Bürostandorte wie die Brienner Straße in München oder die Bockenheimer Landstraße in Frankfurt (vgl. Gad 1968: 153). In den USA etablierten sich Großraumbüros bereits in den 1920er Jahren und es entstanden Büroarbeitssäle mit fabrikhallenartigen Aus39 maßen (vgl. Fritz 1982: 96). Die vorherrschende Managementlehre dieser Zeit war der Taylorismus. Leitgedanken des scientific managements von Frederick Taylor waren ein hoher Grad an Arbeitsteilung, Ordnung, Hierarchie, Überwachung und zentraler Planung, um Effizienzsteigerungen zu erreichen. Ähnlich wie in der Produktion wurde nun die Arbeit in Büros nach tayloristischen und fordistischen Prinzipien organisiert (vgl. Schäfer 1998: 6). Großraumbüros in der damaligen Form können durchaus als räumlicher Ausdruck der Taylorisierung der Büroarbeit interpretiert werden. Die räumlich-materielle Organisation des Großraumbüros, seine Klassenzimmerarchitektur mit in Reih und Glied ausgerichteten Tischreihen schuf einen hohen Grad an Ordnung und Kontrollierbarkeit; Sie erlaubte keinerlei visuelle oder akustische Privatheit. Es herrschte ein hoher Grad an Arbeitsteilung, jeder arbeitete für sich und die Kommunikation war auf ein zweckdienliches Maß beschränkt. Die Schreibtische wurden zweckrational durchgestaltet, so dass keine Zeit durch unnötige Handgriffe verloren ging. Manche amerikanischen Firmen zeichneten sogar den günstigsten Platz für den Papierkorb auf dem Boden an (vgl. Fritz 1982: 104). Rund um die Schreibtische der Angestellten im Arbeitssaal waren in der Regel die Zellenbüros der Vorgesetzten angeordnet, die durch Fenster einen überwachenden Blick auf die zentralen Ebenen werfen konnten 3 9 In dem 1913 von Siemens und Halske bezogenen neuen Verwaltungsgebäude in der Siemensstadt wurden auf 66.000 qm 3.000 Angestellte untergebracht. In diesem Gebäude gab es Arbeitssäle, die mit einer Größe von 16x175 m Ausmaße von Fabrikhallen erreichten (vgl. Fritz 1982: 96). 122
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
(vgl. Baldry 1997: 369). Zudem gab es meist einen Bürovorsteher, der vom erhöhten Pult aus oder durch die verglaste Tür am Kopf des Arbeitssaales den gesamten Raum im Blick hatte. Diese Raumorganisation, die eine permanente Beobachtungssituation schafft, erinnert an die Architektur des Panoptikums, wie sie bereits im Gefängnis, der Anstalt und der Fabrik erprobt war. Die Hauptwirkung dieser Raumorganisation beschreibt Foucault mit der Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Beobachteten (vgl. Foucault 1976: 258), wodurch eine ständige Kontrolle unnötig wird. Da die Beobachteten niemals wissen, ob sie gerade beobachtet werden, aber ständig beobachtet werden könnten, beginnen sie „die effizienteste Kontrolle zu exekutieren: die Selbstkontrolle“ (Hofbauer 1998: 304) und legen jeder normwidrigen Handlung die Zensur des Selbst auf. Die aktive Kontrolle von Raum wird auf diese Weise zu einem effektiven Mittel zur Durchsetzung von Disziplin: „In dem Moment, wo die Betriebsorganisation die Techniken des Sehens als Mittel der Herrschaftsausübung für sich entdeckt, in dem Moment wird auch der Raum zu einem entscheidenden Organisationsfaktor des Bürobetriebes. Unübersichtliche Raumzonen, durch Arbeitsmittel verstellte Blickbeziehungen, fast alle uneinsichtigen Nischen und verdeckten Bereiche des Arbeitssaales sowie alle Formen ungeordneter Menschenansammlung größerer und kleinerer Gruppenverteilung, bei denen der menschliche Körper selbst zum Mittel der Abschirmung wird, und alle ungerichtete Bewegungsvielfalt müssen der zweckrationalen Tendenz räumlich-sozialer Hierarchisierung weichen.“ (vgl. Fritz 1982, zitiert nach Hofbauer 1998: 304)
Exemplarisch für ein Gebäude, dessen räumliche Organisation die tayloristische Managementlehre widerspiegelt, steht das von Frank Loyd Wright 1904 in Buffalo erbaute Larkin Building. Es war ein Versandhaus, in dem in tayloristischer Manier eine hohe Anzahl an Büroarbeitern in ständiger Routinearbeit Bestellungen bearbeitete. Die Bewegungsökonomie erinnert an Fließbandarbeit: Die Angestellten arbeiteten an Tischen, an die schwenkbare Bürostühle montiert waren, die einen minimalen Bewegungsradius erlaubten (vgl. Schäfer 1998: 2) (vgl. Abb. 15).
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Abbildung 15: Larkin Building, Buffalo N.Y, 1905, 1950 abgerissen
Quelle: Hofbauer1998: 306
Aufgrund der geringeren Kapitalkonzentration entstanden in Europa Großraumbüros erst ab den 1960er Jahren. Für das Management hat das Großraumbüro erhebliche Vorteile: Es ist billiger im Bau, wenn Büroarbeitsplätze nur durch flexible Stellwände abgetrennt werden, die Installation von Heizung und Lüftung ist günstiger. Zudem entfallen tote Winkel und nicht nutzbare Ecken, wie sie beim Zellenbüro z.B. hinter den Türen entstehen. Mitarbeiter bemängeln dagegen akustische Störungen sowie die geringe Privatsphäre und dass sie keinerlei Kontrolle über Belichtung und Klimatisierung haben (vgl. Baldry 1997: 370). Während in den USA und Großbritannien das Großraumbüro immer noch der gebräuchlichste Typ der spekulativen Büroimmobilie ist, findet es in Nordeuropa seit den 1980er Jahren kaum noch Verwendung (vgl. Schäfer 1998: 13 f.). Eine Weiterentwicklung des Großraumbüros stellt die so genannte Bürolandschaft dar, die in den 1960er und 1970er Jahren in nordeuropäischen Ländern verbreitet war (vgl. Abb. 16).
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ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
Abbildung 16: Bürolandschaft
•
Quelle: Eisele/Staniek 2005: 60
Das Ziel dieses Konzeptes, nämlich den Mitarbeitern einen angenehme Arbeitsumwelt zu schaffen, spiegelt sich wider in der qualitativ hochwertigen Innenausstattung: Pflanzen als Raumteiler, ein großzügiges Platzangebot sowie inselartig im Raum verteilte Tischgruppen. Das Grundelement dieses Bürodesigns ist die Gruppe und nicht das Individuum: Teams verfügen hier über ‚Arbeitsinseln‘, ohne vom Management getrennt zu sein. Der offene Raum soll nicht nur Kommunikationshindernisse aus dem Weg schaffen, sondern gleichzeitig einen demokratischen und egalitären Führungsstil symbolisieren. Entstanden war die Idee der Bürolandschaft zu Zeiten der Vollbeschäftigung in Deutschland. Baldry (1997: 371) sieht den Hauptgrund, warum sich dieses Konzept letztendlich nicht durchsetzen konnte, darin, dass sich in den 1970er Jahren das ökonomische Klima änderte. Mit der Energiekrise, den ersten Anzeichen struktureller Arbeitslosigkeit sowie dem wachsenden Druck, Kosten einzusparen, wird dieses Konzept zunehmend als überflüssiger Luxus betrachtet. Grundideen der Bürolandschaft sind allerdings in den neuen Konzepten durchaus wieder erkennbar (s.u.). Das Zellenbüro stellt gewissermaßen die Antithese zum Großraumbüro dar und es ist in Deutschland derzeit immer noch die am meisten 40 verbreitete Büroform. In der flexiblen Form ist es auch die gebräuch-
4 0 Einer großangelegten Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) unter Mitarbeitern deutscher Firmen zu Folge, war 2000 die am meisten genutzte Büroform das Zellenbüro (72 %), wobei knapp 30 % auf Einzelbüros, 23 % auf Zwei-Personenbüros und knapp 19 % auf Mehrpersonenbüros mit drei bis sechs Arbeitsplätzen entfielen. 20 % der Befragten waren in großflächigeren Bürostrukturen, also in Gruppenbüros (mit 7-20 Arbeitsplätzen) oder Großraumbüros (ab 20 Personen) tätig und 6,5 % in Kombibüros. Knapp 3 % der Befragten arbeiteten an wechselnden Arbeitsplätzen und in einer Bürostruktur, die sich 125
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
lichste Form der spekulativen Büroimmobilie. Flexibel heißt in diesem Zusammenhang, dass in neueren Bauten bei Bedarf entsprechende Raumgrößen ausgeführt oder die Raumaufteilung bei Mieter- bzw. Nutzungswechsel verändert werden kann (vgl. Schäfer 1998: 13 f.). Zellenbüros werden entlang eines Mittelgangs gruppiert und können mit einer Person (Einzelbüro) oder zwei bis zu fünf Personen (MehrPersonenbüros) belegt werden (vgl. Abb. 17). Abbildung 17: Zellenbüro
Quelle: Eisele/Staniek 2005: 65
Das Einzelbüro bietet Mitarbeitern den größtmöglichen Grad an Privatheit. Allein die Möglichkeit, die Tür zu schließen, erlaubt Momente des Rückzugs und der Erholung von der Zurschaustellung des Selbst im Arbeitsalltag, die durch das Fehlen von rückseitigen Regionen (vgl. Giddens 1997 [1988]: 180) in Großraumbüros so nicht denkbar sind. Zudem ist eine symbolische Aneignung des Raumes über eigene Fotos, Bilder und Gegenstände sowie eine gewisse Kontrolle über die Umweltbedingungen wie Temperatur, Licht und den Geräuschpegel möglich (vgl. Hofbauer 1998: 305). Die relative Größe und Lage des Büros im Gebäude, seine Ausstattung, die Art der verwendeten Materialen sind wichtige Indikatoren für soziale Unterschiede und Hierarchien und werden in Firmen dementsprechend häufig als Statussymbol eingesetzt: Je größer das Büro, je teurer die Ausstattung, je höher die Lage des Büros im Gebäude, desto höher steht der jeweilige Mitarbeiter in der Firmenhierarchie. 41 Bei Mitnicht über eine Büroform beschreiben lässt und deshalb als BüroformenMix bezeichnet wurde (vgl. Kelter 2001: 9). 4 1 Edward T. und Mildred R. Hall haben hier interessante länderspezifische Unterschiede festgestellt: „In both German and American business, the top floors are reserved for high-ranking officials and executives. In contrast, important French officials occupy a position in the middle, surrounded by subordinates; the emphasis there is on occupying the central position in an 126
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
arbeitern stellt das Zellenbüro eine der beliebtesten Büroformen dar. Von professionellen Büroplanern wird die mangelnde Möglichkeit zur informellen Kommunikation kritisiert, zudem sei das Zellenbüro moderner Arbeitsorganisation, die zunehmend auf Teamarbeit basiere, nicht angepasst und stehe für hierarchisch strukturierte Organisationen. Wirtschaftlich gesehen sind Zellenbüros flächenintensiv und sie verursachen einen hohen Anteil an unproduktiven Verkehrsflächen.
Übergangsformen von traditionellen zu modernen Bürokonzepten: Gruppen- und Kombibüros Gruppenbüros stellen eine bewusste Abkehr von Großraumbüros dar und dominierten vor allem in den 1980er Jahren in Deutschland (Fuchs 2001: 36). Ziel war es, die Vorteile von Zellenbüros und Großraumbüros zu verbinden. Mit ihnen sollte der sich veränderten Arbeitsorganisation Rechnung getragen werden, da in ihnen eng zusammenarbeitende Teams räumlich zusammengefasst werden, um Kommunikationsprozesse zu fördern. Normalerweise umfassen Gruppenbüros bis zu 20 Mitarbeiter, da eng zusammenarbeitende Teams selten mehr als 20 Personen umfassen (vgl. Kern/Spath 2003: 132). Kombibüros sind eine Kombination von Einzel- und Gemeinschaftsbüro. Typisch für Kombibüros sind außen an der Fassade liegende „Denker-Kojen“. Diese sind in der Regel relativ kleine Einzelräume, die seitlich mit raumhohen Trennwänden voneinander abgeschirmt sind. Charakteristisch für Kombi-Büros ist die Abtrennung der „DenkerKojen“ von der „Multfunktionszone“ durch Glaswände, die ständige Sichtkontakte zulassen. In der Multifunktionszone liegen die gemeinschaftlich genutzten Einrichtungen wie Kopierer etc. und Teeküche oder temporär genutzte Arbeitsplätze. Kombibüros vermitteln durch ihr Angebot an verschiedenen Raumformen nach Meinung des Büroplaners Fuchs (2001: 42) einen Kompromiss „zwischen abgeschotteter Ungestörtheit und Isolation in Zellenbüros auf der einen, Kommunikation und permanenter Störung in Mehrpersonenräumen auf der anderen Seite“.
Moderne Bürokonzepte: Die Entgrenzung des Büros Seit einigen Jahren werden eine Reihe verschiedener moderner Bürokonzepte propagiert: Diese würden – so die einschlägige Literatur42 – information network, where one can stay informed and can control what is happening” (Hall/Hall 1989: 11 zitiert nach Hofbauer 1998: 306). 4 2 Vergleiche hierzu z.B. Lippert 2001, Kern/Spath 2003 127
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
einerseits den gewandelten Anforderungen aus der Arbeitswelt sowie den neuen technologischen Möglichkeiten besser gerecht werden und andererseits stärker den neuen Managementkonzepten und der neuen Rolle von Wissen und Kreativität Rechnung tragen. Triebfedern des Wandels sind hier neue Managementkonzepte, die auf eine Umverteilung von Entscheidungsbefugnissen zugunsten von Mitarbeitern auf unteren Hierarchiestufen sowie eines partizipativen Führungsstils abzielen. Zudem soll die Aufbau- und Arbeitsorganisation flexibilisiert werden (vgl. Sieghart 1998: 453). Die Vielzahl an organisatorischen Konzepten lässt sich mit den Stichworten Prozessorientierung, Gruppen- und Teamarbeit, Einbindung der Beschäftigten in den Entscheidungsprozess, Aufgabenintegration, Zielvorgaben und Erfolgskontrolle beschreiben. In der soziologischen Debatte werden diese Konzepte, die letztendlich auf einen umfassenderen Zugriff auf die Arbeitskraft der gesamten Person abzielen, als Subjektivierung von Arbeit (vgl. Kapitel 2.2.4) diskutiert. Zudem haben sich durch den Einsatz von IuK-Technologien die Möglichkeiten für verschiedene Varianten der Arbeitsteilung erweitert4 3, wie z.B. in selbstorganisierten Arbeitsgruppen oder virtuellen Teams (vgl. Flecker/Krenn/Stary 2003: 7). IuK-Technologien fördern die Ortsunabhängigkeit der Arbeit: Büroarbeit spielt sich in wachsendem Maße auch außerhalb des persönlichen Büros ab, wobei autorisierte Mitarbeiter ständig auf die Informationen in firmeneigenen Datenbanken zugreifen können. Letztendlich macht der Einsatz von IuK als Kontrolltechnologie die visuelle Kontrolle im Büro überflüssig – Mitarbeiter müssen nicht mehr vor Ort sein, um kontrollieren zu können, ob sie arbeiten oder nicht. Zu guter Letzt zielen neue Büroorganisationsformen darauf, kreative Prozesse bei den Mitarbeitern zu unterstützen. Wissen hat sich insbesondere bei Unternehmen, die wissensintensive Produkte und Dienstleistungen herstellen, zu einer wichtigen Ressource entwickelt, die in jedem Unternehmen gefördert und organisiert werden muss, um ständig Innovationen zu generieren (vgl. Thrift 2002: 204). Ebenso ist Kreativität zu einem Kernbegriff geworden. Ohne Kreativität ist die Schaffung neuen Wissens nicht möglich. Zudem entstünden Lösungen zunehmend in Arbeitsgruppen und Teams – deshalb werde eine Arbeitsumgebung, die Kommunikation und zufällige Kontakte fördere, immer wichtiger (vgl. Kern/Spath 2003: 116, Thrift 2002).
4 3 Für die konkrete Ausformung von Techniknutzung und Veränderung der Arbeitsorganisation in den Unternehmen spielt eine Vielzahl intervenierender Faktoren (wirtschaftliche, soziale, politische) eine Rolle. 128
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
Die so genannten Business-Clubs (vgl. Abb. 18) sind Weiterentwicklungen des Kombibüros. Neben die räumlichen Veränderungen treten auch organisatorische: Räumlich wird die Struktur an die zunehmende Flexibilisierung der Raumaufteilung oder der alternativen Nutzung von Arbeitsplätzen und Arbeitsorten angepasst. Dies führt zu einem Abbau von Standardarbeitsplätzen zugunsten von Kommunikations- und Gruppenzonen. Abbildung 18: Business Club
•
Quelle: Eisele/Staniek 2005: 64
Organisatorisch heißt dies, dass Business Clubs weniger Arbeitsplätze als Mitarbeiter bereithalten. Insofern setzen alle neuen Bürokonzepte auf die Kombination externen Arbeitens (häufig arbeiten die Mitarbeiter beim Kunden oder auch zu Hause) und interner Kommunikation in unterschiedlich benannten Kommunikationszonen (Lounge, Espressobar). Teamflächen werden mit Einzelarbeitsplätzen in so genannten DenkKojen sowie allgemeinen Servicezonen kombiniert und mit mobilen Steharbeitsplätzen (den so genannten hot desks, an denen Gäste ihr Laptop anschließen können) ergänzt. Die sozialen Treffpunkte, wie die Teeküche oder Espresso-Bar, befindet sich in der Regel in der Mitte des Raumes und sind für alle einsehbar. Die Denker-Kojen und Konferenzräume sind aus Glas, so dass alle gerade anwesenden Mitarbeiter permanent sichtbar sind. Ein wesentliches Merkmal von non-territorialen Büros ist, dass die feste Zuordnung von Arbeitsplatz zu Mitarbeiter aufgehoben wird. Ihre persönlichen Unterlagen verwahren die Mitarbeiter in mobilen Containern, die bei Arbeitsbeginn zu den jeweiligen vorgebuchten Arbeitsplätzen gefahren und dort abgestellt werden. Am Ende des Arbeitstages muss der Arbeitsplatz komplett geräumt werden (clean desk policy) und der Container im „Caddy-Bahnhof“ abgestellt werden. Das Konzept non-territorialer Büros beruht auf der ständigen Bewegung der Mitarbeiter sowie auf deren permanenter Sichtbarkeit. Nie129
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
mand kann sich in einen abgeschlossenen Büroraum für längere Zeit zurückziehen oder sich einen festen Arbeitsplatz buchen. Mitarbeiter werden immer wieder neu zusammen gemischt. Thrift (2002: 222 f.) bezeichnet dies als geography of circulation: „[…] the construction of office spaces which can promote creativity through carefully designed patterns of circulation“. Die Bürosituation soll die zufällige Kommunikation und Kreativität durch Gruppenprozesse fördern. Die andere Interpretation ist, dass sich durch die panoptische Architektur, die ständige Nähe anderer Personen sowie institutionalisierte Sichtkontakte ein permanenter Zwang zur Selbstdarstellung ergibt. Ebenso machen die Einheitlichkeit des Mobiliars sowie die clean desk policy eine symbolische Aneignung des Arbeitsplatzes unmöglich. Dies gilt allerdings nicht nur für die Mitarbeiter, sondern auch für das mittlere Management, das ebenfalls auf feste Büros verzichten muss. Der partizipative Führungsstil findet hier also auch räumlich-materiell seinen Ausdruck. In der Regel werden diese Büros um Business Lounges, EspressoBars, Konferenzräume und Repräsentationsflächen ergänzt, die vom Charakter ihres Mobiliars her, eher der Lebenswelt entstammen (vgl. Abb. 19). Abbildung 19: Pausenzone in einem Business Club
Quelle: Eisele/Staniek 2005:251
Das verschönte Arbeitsambiente dieser Büros ist letztendlich auch ein Teil der Anreizpolitik von Unternehmen, die ihre Mitarbeiter dazu bewegen wollen, mehr Zeit im Büro zu verbringen und ihre Arbeitskraft und Kreativität dem Unternehmen voll zur Verfügung zu stellen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit auch räumlich-materiell niederschlägt: Die in die Arbeitswelt integrierten Freizeitelemente wie Duschen oder 130
ALLTAGSRÄUME – ZU ALLTÄGLICHE RÄUME FÜR DIE GEOGRAPHIE?
Fitness sollen den Arbeitsplatz ein Stück weit zum Zuhause machen. Allerdings machen diese Büro-settings auch eine Abgrenzung der Individuen von der Arbeit schwieriger.
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5 FORSCHUNGSPERSPEKTIVE
Das zentrale Ziel dieser Arbeit ist herauszuarbeiten, wie Menschen unter räumlich und zeitlich flexiblen Arbeitsbedingungen ihren Alltag gestalten. An dieser Stelle möchte ich die bisherigen Überlegungen zusammenfassen und aus den vorgestellten Konzepten die Bausteine meiner eigenen theoretischen Perspektive entwickeln.
5 . 1 E i g e n e F o r s c h u n g s p e r s p e k t i ve Zur Rekonstruktion der individuellen Alltagspraktiken meiner Untersuchungsgruppe verwende ich die „Alltägliche Lebensführung“ als forschungsleitendes Untersuchungskonzept. Dieses Forschungskonzept ermöglicht aus einer handlungs- und subjektorientierten Perspektive, den gesamten Lebenszusammenhang von Menschen in den Blick zu nehmen und sowohl die Erwerbsarbeit als auch andere Lebensbereiche und Tätigkeiten empirisch offen zu erfassen. Die Alltägliche Lebensführung ist konzeptualisiert als wechselseitig reflexiver Prozess der Auseinandersetzung zwischen individuellen Aspekten und strukturellen Rahmenbedingungen. Die Stärke des Konzeptes liegt darin, die praktischen Aspekte des alltäglichen Tuns in den unterschiedlichen Lebensbereichen zu erfassen, also zu analysieren, wie (im Sinne von Mustern und Techniken) Menschen unterschiedliche Aktivitäten in ihrem Alltag strukturieren, organisieren und in einen sinnhaften Zusammenhang bringen.
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Während sich mit dem Konzept die Frage danach wie Menschen ihren Alltag gestalten, sehr gut bearbeiten lässt, bleiben Fragen nach Gründen für ihr Handeln, also danach, welche praktischen Ressourcen und Fähigkeiten Menschen haben, um eine bestimmte Form der Alltagsgestaltung zu entwickeln (womit von Lebensführung) und welche Sinndeutungen und Orientierungen ihrer Alltagsgestaltung zu Grunde liegen (das warum von Lebensführung) unterbelichtet. Kleemann (2005: 55) sieht die Ursachen hierfür nicht in dem Konzept selbst begründet, sondern darin, dass die Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ das Konzept bisher relativ isoliert angewendet hat und systematische Anschlüsse an Analysekonzepte wie zum Beispiel „Biographie“ oder „Soziokulturelle Bedingungen“ bisher nicht vollzogen wurden (für eine Verbindung der Konzepte „Alltag“ und „Biographie“ siehe Schier/von Streit 2004). Hier möchte ich ansetzen und neben der Erfassung von alltäglichen Praktiken in den unterschiedlichen Lebensbereichen verstärkt danach fragen, welche Bedingungen Menschen für ihr Handeln benötigen, um bestimmte Methoden und Logiken der Alltäglichen Lebensführung entwickeln zu können. Für meine Untersuchungsgruppe sind hierbei verschiedene Mikro- und Makrostrukturen bedeutsam, die bei der empirischen Analyse eine maßgebliche Rolle spielen werden. Grundsätzlich sind Menschen bei der Herstellung ihres Alltags immer in bestimmte Kontexte eingebunden und ihre Handlungen erfolgen in einem ökonomisch, räumlich, zeitlich, sozial und kulturell strukturierten Rahmen. Dieser Rahmen eröffnet ihnen Möglichkeiten, schränkt sie in ihrem Handeln aber auch ein (vgl. Giddens 1997). Welche Mikro- und Makrostrukturen können dabei wichtig sein? Dies sind sowohl Mikrostrukturen im Sinne individueller Ressourcen und Orientierungen als auch übergeordnete gesellschaftliche Makrostrukturen sowie normative Leitbilder (vgl. Schier/von Streit 2004: 26) (vgl. Abb. 20, linke Seite). Mikrostrukturen geben Hinweise darauf, welche praktischen Ressourcen und Fähigkeiten notwendig sind, um bestimmte Methoden der Lebensführung zu entwickeln. So sind Qualifikation und Kompetenzen, verfügbare Wissens- und Erfahrungsbestände, finanzielle, soziale, kulturelle und räumliche Ressourcen entscheidend für den Umfang, die Qualität und das Niveau von Handlungsmöglichkeiten (Kudera 2000: 113 f.). Bei der Frage nach dem warum bestimmter Alltagsarrangements, also z.B. wie stark zwischen der Erwerbsarbeit und den übrigen Lebensbereichen getrennt wird, sind biographische Vorbilder oder die eigene Erwerbs- oder Familienorientierung von besonderem Belang.
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FORSCHUNGSPERSPEKTIVE
Abbildung 20: Die Herstellung von Alltag
Quelle: Verändert nach Schier/von Streit 2004
Die subjektiven Bedeutungen unterschiedlicher Lebensbereiche wie Familie, Partnerschaft oder Erwerbstätigkeit spielen als handlungsleitende Orientierungen für das biographische Handeln oder die Lebensplanung eine große Rolle. Dabei realisiert sich Lebensplanung immer in der Gegenwart, auch wenn sie auf die Zukunft gerichtet ist: „Im Alltagshandeln findet die Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft statt, hier werden eingesetzte Mittel mit angestrebten Zielen systematisch verbunden. Lebensplanung realisiert sich in der alltäglichen Lebensführung, diese ist der Ort des Handelns.“ (Geißler/Oechsle 1994: 141) Paarorientierungen beziehen sich auf die Bedeutung, die Menschen in ihrem Leben Partnerschaft und Ehe einräumen. Familienorientierungen sprechen die Bedeutung eines Kinderwunsches, den Sinn von Kindern, die Einstellungen zu Erziehung sowie den Umgang mit Kindern an, ebenso wie die Bedeutung von Hausarbeit und die Vorstellungen über Familienleben (vgl. Geissler/Oechsle 1996: 63 ff.). In der Erwerbsorientierung zeigt sich die subjektive Bedeutung der Erwerbsarbeit für einen Menschen: Welche Interessen und Bedürfnisse werden damit ver135
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
bunden und inwieweit hat die Erwerbsarbeit handlungsleitende Macht für konkrete alltägliche Entscheidungen sowie für biographisches Handeln in diesem Bereich? Handlungsleitende Orientierungen geben für meine empirische Untersuchung Hinweise darauf, welche Sphäre im Alltag dominant ist und die Alltagsstruktur in zeitlicher und räumlicher Hinsicht vorgibt. Sie geben zudem Hinweise auf die Motive, warum zu Hause gearbeitet oder räumlich strikt zwischen Erwerbstätigkeit und Privatleben getrennt wird. Hierbei spielen auch normative Leitbilder, die z.B. das Erwerbsarbeiten von Müttern und Vätern oder die gesellschaftliche Konstruktion des Zuhauses als Gegenort zum öffentlichen Leben betreffen, eine Rolle. Auf der Makroebene spielen vor allem die Struktur der Branche am Standort sowie die Arbeitsorganisation und die Arbeitsbedingungen in der Branche eine Rolle, die in Kapitel 7 erläutert werden. Relevant für die Alltagsorganisation ist zudem die Ausstattung mit sozialer Infrastruktur am Wohnort (z.B. Kinderbetreuungseinrichtungen). Das Geschlecht spielt als eine der zentralen Strukturkategorien der gesellschaftlichen Wirklichkeit bei allen Rahmenbedingungen eine Rolle (vgl. Jurczyk/Rerrich 1993). Eine Bedeutung erlangen die strukturellen Rahmenbedingungen allerdings erst im Prozess der individuellen Auseinandersetzung und Aneignung (vgl. Abb. 20, rechte Seite). Bei der Herstellung ihres Alltags greifen Menschen stets auf einen Pool von Hintergrundwissen zurück, der sich aus vergangenen Erfahrungen, Orientierungen und Normen zusammensetzt und mit den jeweils aktuellen Anforderungen und Erfahrungen verknüpft wird (vgl. Schier/von Streit 2005: 28). Daraus resultieren je spezifische individuelle Interpretationen und Umgangsweisen mit strukturellen Rahmenbedingungen (vgl. Voß 1995). Da Menschen sich in unserer zweigeschlechtlich strukturierten Gesellschaft geschlechtlich positionieren müssen, d.h. als ‚männliche‘ oder ‚weibliche‘ Menschen im Alltag handeln (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992), spielt Geschlecht auch bei diesem Prozess eine Rolle. Die Herstellung von Alltag ist in dem Konzept der alltäglichen Lebensführung als permanent zu leistende und anspruchsvolle Aufgabe konzipiert. Das Konzept der Entgrenzung gibt nun Hinweise darauf, dass die Anforderungen an Menschen gestiegen sind, Erwerbsarbeit und andere Lebensbereiche in ihrem Alltag zu integrieren. Durch die Subjektivierung und Flexibilisierung von Arbeit ist die Differenzierung der Sozialsphären Erwerbsarbeit und Privatleben, welche die fordistische Arbeitsund Lebensweise in unserer Gesellschaft über mehrere Jahrzehnte ent136
FORSCHUNGSPERSPEKTIVE
scheidend prägte, in Bewegung geraten. Dadurch entsteht neuer Spielraum zum Handeln, gleichzeitig steigen aber auch die Anforderungen an Menschen, aktiv eine Balance zwischen Erwerbsarbeit und anderen Lebensbereichen in ihrem Alltag herzustellen. Dabei kann aus der Giddenschen Dualität von Struktur die grundlegende These für diese Arbeit abgeleitet werden: Wenn Strukturierungen entfallen oder sich ändern, sind Individuen gefordert, selbst neue Strukturierungen zu schaffen, um handlungsfähig zu bleiben – Entgrenzung verlangt also nach neuen aktiven Grenzziehungen von Seiten der Individuen. Zudem ermöglicht die historische Perspektive des Konzepts der Entgrenzung, neue Entwicklungen zu identifizieren, die ohne eine Referenzfolie nicht erkennbar wären. Deshalb verwende ich in meiner empirischen Analyse der Arbeits- und Alltagspraxis meiner Untersuchungsgruppe das fordistische Normalitätsmodell des gesellschaftlichen Alltags als impliziten Gegenhorizont und heuristischen Bezugsrahmen. Auf diese Weise kann empirisch festgestellt werden, inwiefern selbstständige Internetdienstleister überhaupt ‚anders‘ bzw. entgrenzt arbeiten und ihren Alltag gestalten. Zudem möchte ich, indem ich das fordistische Normalitätsmodell meiner Analyse der Alltagspraxen der Untersuchungsgruppe gegenüberstelle, erste empirische Hinweise auf ein mögliches postfordistisches Arbeits- und Lebensmodell geben. Zusammenfassend ermöglicht die Alltagsperspektive in meiner empirischen Analyse, auf individuelle Interpretationen von Anforderungen aus unterschiedlichen Bereichen des Alltags zu fokussieren und zu analysieren, mit welchen Strategien diesen Anforderungen begegnet wird und mit welchen konkreten Praktiken und Strategien Menschen die NeuStrukturierung und die Grenzziehungen in ihrem Alltag vornehmen. Diese Alltagsperspektive, mit der ich insbesondere auf Praktiken von Menschen fokussieren möchte, lehnt sich an praxistheoretische Perspektiven an, die in jüngerer Zeit in den Kultur- und Sozialwissenschaften an Bedeutung gewonnen haben. Praxistheoretische Ansätze stellen ein Bündel an unterschiedlich akzentuierten Ansätzen dar, die jeweils unterschiedliche theoretische Einordnungen von Praktiken vornehmen und auf jeweils spezifische Aspekte von Praktiken fokussieren (vgl. Reckwitz 2003). Ganz grundsätzlich gehen Praxistheorien davon aus, dass nicht Normen- oder Symbolsysteme, oder auch nicht ‚Diskurs‘ oder ‚Kommunikation‘ und auch nicht Interaktion, sondern soziale Praktiken die kleinste Einheit des Sozialen sind, die ein bestimmtes Zeitregime und ein bestimmtes räumliches Arrangement aktiv hervorbringen (Reckwitz 2006: 707). Insbesondere zwei Bausteine zu einem praxistheoretischen Verständnis des Sozialen und des Handelns sind für meine 137
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Arbeit besonders relevant: Erstens, das Element der Materialität und zweitens die Implizitheit des Wissens. Praxistheorien begreifen Handeln im Rahmen von Praktiken als Aktivitäten, in denen praktisches Wissen zum Einsatz kommt. Vor allem wird die Implizitheit dieses Wissens betont (Reckwitz 2003: 292). Das implizite Wissen geht zurück auf Giddens Konzept des praktischen Bewusstseins (vgl. Kapitel 3.1) und wird bei den Praxistheorien als körperlich verankertes Wissen vorgestellt. Dadurch ist es materialisiert (vgl. Bongaerts 2007: 249). Die Praxistheorie betont also die Materialität sozialer Praktiken, die zum einen in den Bewegungen und Aktivitäten des Körpers zum Vollzug von Praktiken besteht und zum anderen darin, dass für Praktiken in der Regel bestimmte Artefakte vorhanden sein müssen, damit sie entstehen sowie vollzogen und reproduziert werden können (Reckwitz 2003: 291). Spezifische Artefakte wie z.B. Computer, Möbel, bauliche Gegebenheiten werden so zu Teilelementen von sozialen Praktiken, deren sinnhafter Gebrauch Bestandteil einer sozialen Praktik oder die soziale Praktik selbst darstellt. Dabei bewegen sich Praktiken „zwischen relativer Geschlossenheit der Wiederholung und relativer Offenheit für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit“ (Reckwitz 2003: 294). Für die Alltagsgestaltung meiner Untersuchungsgruppe bedeutet dies, dass sich bei ihnen durch eine Veränderung des Kontextes z.B. durch die Konfrontation mit neuen Artefakten wie Computer oder Mobiltelefon Routinen, bzw. eingespielte Praktiken, gestört werden und die Entwicklung neuer sozialer Praktiken herausgefordert wird. Welche Praktiken hier entwickelt werden, ist Gegenstand meiner empirischen Analyse. Aus praxisorientierter Perspektive sind soziale Praktiken gleichzusetzen mit einem stetigen Prozess der Verräumlichung und der Gestaltung des Raumes über das Arrangement von Artefakten (vgl. Reckwitz: 715 f.). So verräumlichen sich bestimmte Formen des Privaten in Wohnund Einrichtungsverhältnissen oder bestimmte ökonomische Praktiken in Büros (vgl. Kapitel 4.2). Sowohl das Raumkonzept von Martina Löw, die Raum als Struktur begreift wie auch das action-setting-Konzept von Peter Weichhart sind mit meiner subjekt-, handlungs- und praxisorientierten Perspektive kompatibel und lassen sich in das oben beschriebene Modell der Alltagskonstruktion integrieren. Beide Konzepte ermöglichen mir aus einer handlungsorientierten Perspektive, Wechselwirkungen zwischen dem Sozialen und PhysischMateriellen zu thematisieren. Beide Konzepte sind in der Lage, sowohl Räume auf der Individualebene als auch alle Räume im Alltag von Menschen samt ihren symbolischen, normativen wie auch materiellen Aspekten zu analysieren. 138
FORSCHUNGSPERSPEKTIVE
Das action-setting-Konzept von Weichhart wie auch das Raumkonzept von Martina Löw geben folgende hilfreiche Anhaltspunkte zur Analyse von Alltagsräumen: • Räume, bzw. settings oder Anordnungen, können nicht beliebig geschaffen werden, sondern sind immer sozial vorstrukturiert und damit auch mit bestimmten Verhaltenserwartungen verbunden; • die Möglichkeit von Menschen Räume, bzw. settings oder Anordnungen zu schaffen, ist auch davon abhängig, welche materiellen Faktoren sie jeweils vorfinden; • bei der Herstellung bestimmter Räume oder settings (z.B. einem Arbeitsplatz in der Wohnung) können materielle Grenzen (Wände, Türen), aber auch symbolische oder zeitliche Grenzen für bestimme Aktivitäten eine Rolle spielen; materielle Güter, die zur Konstitution von Raum verwendet werden, • haben immer auch eine symbolische Bedeutung, die die Bedeutung des gesamten settings oder der Anordnung mitbestimmt.
5.2 Präzisierung der Fragestellung Bei meiner Untersuchungsgruppe ist die Strukturierung des Arbeitsalltages nicht vorgegeben, das bedeutet, die selbstständigen Internetdienstleister müssen den Arbeitsprozess selbst organisieren und steuern. Dadurch ergeben sich größere Handlungsspielräume, die allerdings zugleich die Anforderungen an die Selbstorganisation erhöhen. Die hohen Freiheitsgrade hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Gestaltung der Erwerbsarbeit haben auch Auswirkungen auf die übrigen Lebensbereiche. So können die Befragten in der Regel wählen, wo, wie lange und zu welchen Zeiten sie arbeiten möchten. Bei der Arbeit zu Hause löst sich die sequenzielle räumliche und zeitliche Trennung zwischen Erwerbsarbeit und privatem Leben potenziell auf und die Selbstständigen sind gefordert, zwei Sphären mit jeweils unterschiedlichen Handlungslogiken zu verbinden, bzw. selbst Übergänge oder Trennungen zwischen dem privaten Leben und der Erwerbsarbeit herzustellen. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Alltags sind bei Selbstständigen also potenziell erweitert – allerdings sind sie auch wiederum stärker gefordert, selbst den gesamten Alltag zu strukturieren.
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
• • •
Daraus ergeben sich folgende forschungsleitende Fragestellungen: Wie gestalten selbstständige Internetdienstleister unter räumlich und zeitlich flexiblen Arbeitsbedingungen ihren (Arbeits-)Alltag und welche Handlungsbedingungen müssen dazu erfüllt sein? Wie ist die Erwerbsarbeit in den gesamten Lebenszusammenhang eingebettet und wie werden mittels räumlicher und zeitlicher Praktiken Grenzen zwischen den einzelnen Lebensbereichen gezogen? Lässt sich durch die Entgrenzung von Arbeit eine Bedeutungsänderung des Zuhauses feststellen?
Zusammenfassend geht es mir auf der Handlungsebene um die individuelle Hervorbringung von Arbeits- und Alltagspraktiken in der Wechselwirkung von Erwerbsarbeit und Privatleben. Auf dieser Ebene möchte ich beschreiben, wie meine Befragten ihren Alltag gestalten und mit welchen Praktiken sie in zeitlicher, räumlicher und sachlicher Hinsicht die verschiedenen Lebensbereiche vermischen bzw. trennen. Auf der Sinnebene geht es mir um die Erfassung von individuellen Handlungsentwürfen, subjektiven Orientierungen und biographischen Vorbildern. Auf dieser Ebene möchte ich Erklärungen für ihr jeweiliges Handeln finden. Beide Perspektiven sollen bei der empirischen Analyse der Alltagsgestaltung selbstständiger Internetdienstleister Berücksichtigung finden.
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6 A N L AG E
VORGEHENSWEISE EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG UND
DER
Ein zentrales Gütekriterium und Leitlinie für die Wahl der Methode in der empirischen Sozialforschung ist die „Gegenstandsangemessenheit“. Je nach Fragestellung und den Besonderheiten des Untersuchungsgegenstandes erfolgt die Auswahl der Methoden (vgl. Flick/Kardorff/ Steinke 2000: 22 f.). Aufgrund des geringen Vorwissens über den Untersuchungsgegenstand zur Zeit der empirischen Erhebung wurde ein exploratives Forschungsdesign gewählt, wobei sich qualitative Methoden insbesondere für „die Erschließung eines bislang wenig erforschten Wirklichkeitsbereichs“ (Flick/Kardorff/Steinke 2000: 25) eignen. Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage, wie selbstständige Internetdienstleister ihren Alltag unter flexiblen Arbeitsbedingungen gestalten und organisieren. Es geht also um die Alltagserfahrung aus der Sicht von Individuen und um die Frage, wie sie im Umgang mit strukturellen Rahmenbedingungen ihren Alltag herstellen. Da es dabei nicht nur um die Erfassung der Tätigkeiten in den verschiedenen Lebensbereichen geht, die Menschen in ihrem Alltag verknüpfen müssen, sondern auch um Erfassung der Sinndeutungen und Orientierungen, die der Gestaltung der Lebensführung jeweils zu Grunde liegen, muss die methodische Herangehensweise in der Lage sein, subjektive Handlungslogiken zu erfassen. Qualitative Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung sind besonders geeignet, Bedeutungszuschreibungen und Sinngebungsprozesse von Handelnden in Auseinandersetzung mit Strukturen abzubilden. Eine weitere explorative Zielsetzung ist, die Arbeits- und Alltagspraxen von selbstständigen Internetdienstleistern als exemplarische und 141
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
prototypische Form postfordistischen Arbeitens und Lebens zu untersuchen und zu analysieren, inwieweit der gesellschaftliche Wandel von Arbeit auch mit einer Bedeutungsveränderung des privaten Raumes bzw. des Zuhauses einhergeht. Die empirische Grundlage für die genannten Zielsetzungen bildet die Rekonstruktion von Arbeits- und Alltagspraxen von selbstständigen Internetdienstleistern auf der Basis von Einzelfällen, wobei das zentrale methodische Ziel der empirischen Erhebung die möglichst breite Erfassung des Alltags ist, sowohl bezogen auf die Erwerbstätigkeit als auch auf das Privatleben jenseits der Erwerbsarbeit. Die empirische Untersuchung beruht auf bekannten, methodologisch bereits ausreichend vorgestellten und erörterten Verfahren der qualitativen Sozialforschung (vgl. Flick/Kardorff/Steinke 2000, Flick 1995, Lamnek 2005, Bohnsack 1999; für die Geographie Reuber/Pfaffenbach 2005, Meier Kruker/Rauh 2005). Deshalb werde ich im Folgenden nur punktuell die relevanten methodischen und methodologischen Grundlagen darstellen, wenn dieses Wissen als Hintergrund für die Leser notwendig ist und der Offenlegung des tatsächlichen Vorgehens sowie der Abwägung der Vor- und Nachteile des eigenen Forschungsdesigns dient.
6.1 Design und Durchführung der Untersuchung Bei meiner Arbeit verfolge ich keine klassische deduktive, theorie- bzw. hypothesentestende Forschung, sondern meine Fragestellung und Methodik waren offen konzeptioniert und wurden im Laufe der Untersuchung modifiziert und schrittweise konkretisiert. Die einzelnen Arbeitsschritte in meinem Forschungsprozess orientierten sich an der „Grounded Theorie“ nach Glaser und Strauss. Der Analyseprozess beginnt hier damit, dass ein geringes Quantum an Daten erhoben wird und die Forscherin an dieses Material Fragen stellt. Glaser und Strauss beschreiben diese Verfahrensweise der systematischen Kontrastierung von Einzelfällen zum Zweck einer „empirisch begründeten Theoriebildung“ folgendermaßen: „Theoretisches Sampling bezeichnet den Prozess der Datensammlung zur Generierung von Theorien, wobei der Forscher seine Daten gleichzeitig sammelt, kodiert und analysiert und dabei entscheidet, welche Daten als nächste gesammelt werden sollten und wo sie zu finden sind, um seine Theorie zu entwickeln, während sie emergiert.“ (Glaser/Strauss 1967: 45)
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EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG
Die Auswahl der Fälle richtet sich bei diesem Verfahren also nicht nach den Kriterien der Zufallsauswahl und der sich daraus ergebenden Repräsentativität, sondern das Untersuchungsfeld wird schrittweise durch eine theoriegeleitete Fallauswahl erschlossen. Hierbei ist maßgeblich, ob die Untersuchungseinheiten geeignet sind, das Wissen über den Untersuchungsgegenstand zu erweitern. Dies impliziert meist ein konsekutives, kumulatives Vorgehen: Je nach Vorwissen und Fragestellung werden einige wenige Fälle erhoben und ausgewertet. Auf der Grundlage der so gewonnenen Ergebnisse bzw. Vermutungen, Ideen oder Konzepte, wird nach weiteren Einheiten/Fällen gesucht, die geeignet sein könnten, die bisherigen Ergebnisse etc. zu bestätigen, zu kontrollieren, zu modifizieren, zu erweitern oder zu relativieren. Da die Möglichkeiten der Einbeziehung weiterer Personen, Fälle, Gruppen etc. prinzipiell unbegrenzt ist, müssen (theoriebezogene) Kriterien festgelegt werden. Kriterium ist, wie relevant und vielversprechend der nächste Fall für die zu entwickelnde Theorie ist (vgl. Flick 1995: 82). Die Einbeziehung weiterer Fälle ist abgeschlossen, wenn eine „theoretische Sättigung“ erreicht ist – sich also aus der Erhebung weiterer Fälle nichts Neues mehr ergibt.
6.1.1 Methodische Vorgehenweise: Methodenkombination Der empirische Zugang zum Untersuchungsfeld basierte auf einem Methoden-Mix von qualitativen und quantitativen Methoden, wobei die qualitativen Methoden den quantitativen klar übergeordnet waren. Das Kernstück meiner Untersuchung bildeten Interviews mit Selbstständigen in München, die in der Internet-Branche tätig sind. Die Interviews hatten das Ziel, den Arbeitsalltag und den privaten Alltag der Gesprächspartner samt den Wechselwirkungen zwischen diesen Bereichen zu erfassen. Der berufliche Alltag meiner Interviewpartner wird maßgeblich durch die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsorganisation in dieser relativ jungen Branche bestimmt. Deshalb habe ich mir fundierte Branchenkenntnisse aus verschiedenen Informationsquellen angeeignet: Ich führte Experteninterviews mit Kennern der InternetBranche sowie Münchner Firmeninhabern über die Entwicklung und Situation der Internet-Branche in München durch. Hierbei ging es auch um die Arbeitsorganisation und die Rolle von freien Mitarbeitern. Um einen besseren Einblick und ein Gefühl für die Branchenkultur zu bekommen, besuchte ich über die Jahre 2002 bis 2006 in unregelmäßigen Abständen den vom Münchner Förderverein für die Internet- und Medienwirtschaft (FIWM) einmal im Monat veranstalteten Branchenstammtisch. Hier erhielt ich Informationen über neue Entwicklungen in 143
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
der Branche und führte informelle Gespräche mit Firmeninhabern, Alleinselbstständigen und Angestellten in Unternehmen. An diesen Abenden ergaben sich häufig interessante Gespräche über die gerade herrschende Auftragslage in der Branche oder auch die Vor- und Nachteile eines Homeoffices. Zudem konnte ich im Rahmen einer Untersuchung über die Anforderungen hochqualifizierter Münchner Wissensarbeiter an ihr Wohnund Arbeitsumfeld1 in der Internet-Branche Tätige zu ihrer Arbeitssituation befragen. Insgesamt wurden im März 2007 371 Online-Fragebögen an Firmen, die im Bereich der Internet-Wirtschaft in der Planungsregion 14 tätig sind, verschickt. 265 Adressen wurden aus den Einträgen aus dem iBusiness-Jahrbuch 2006 entnommen, von denen sich 195 im Stadtgebiet München befanden. Weitere 106 Adressen wurden über eine Recherche in Datenbanken und Branchenbüchern ermittelt. Die Angeschriebenen wurden gebeten, die Fragebögen an Kollegen sowie feste und freie Mitarbeiter in der Firma weiterzuleiten. Auf diese Weise wurden 99 auswertbare Fragebögen von in der Internet-Branche Tätigen erhoben. Diese schriftliche Befragung stellt lediglich einen kleinen Baustein der Empirie dar und erhebt aufgrund der niedrigen Fallzahlen nicht den Anspruch auf Repräsentativität. Der Nutzen dieser Befragung für die vorliegende Studie lag in der Möglichkeit, zum einen abzusichern, dass die Untersuchungsgruppe für die qualitativen Interviews gut gewählt ist, und zum anderen darin, einen besseren Einblick in die Arbeitsstrukturen der Branche zu erlangen.
6.1.2 Fallauswahl und Sampling Den methodischen Hauptzugang meiner Untersuchung bildeten 28 problemzentrierte, leitfadengestützte berufsbiographische Interviews mit Selbstständigen in München, die in der Internet-Branche tätig sind. In Bezug auf die Fallauswahl war das Ziel in formaler Hinsicht, möglichst unterschiedliche Einzelfälle zu erfassen, da das Feld zu Beginn der Untersuchung nicht bekannt war. Das wichtigste Kriterium für die Auswahl meiner Interviewpartner war, dass sie zum Zeitpunkt des Interviews selbstständig in der Internet1
Hierbei handelt es sich um eine Untersuchung, die im Auftrag des Referats für Arbeit und Wirtschaft der Landeshauptstadt München von der Autorin gemeinsam mit Sabine Hafner durchgeführt wurde und sich mit der Frage beschäftigte, welchen Beitrag die kreativen und wissensintensiven Branchen zu wirtschaftlichen Entwicklung Münchens leisten (vgl. Hafner/von Streit 2007).
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EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG
Branche tätig waren. Die berufliche Situation der Selbstständigkeit impliziert, dass Lage und Dauer der Arbeitszeit selbst bestimmt werden können. Ebenso sind die Befragten in der Wahl des Arbeitsortes relativ frei. Zudem ist bei Internetdienstleistern, die über ein gewisses Maß an technischem Wissen im Bereich Computer und Internet verfügen müssen, ein selbstverständlicher Umgang mit den neuen Medien anzunehmen. Dieses Kriterium spielte insbesondere bei der Frage nach der Ortsunabhängigkeit von Erwerbsarbeit durch neue Technologien eine Rolle. Ich versuchte, sowohl Frauen wie auch Männer für meine Untersuchung zu gewinnen, da mich auch interessierte, inwieweit das Geschlecht bei meinen Forschungsfragen eine Rolle spielt. Zumindest weisen Studien daraufhin, dass Frauen sich häufiger aus familienbezogenen Motiven für Erwerbsarbeit zu Hause entscheiden (vgl. z.B. Kleemann 2005 für Teleheimarbeit) und unterschiedliche Umgangsstrategien in der Trennung bzw. Vermischung von Erwerbsarbeit und anderen Lebensbereichen als Männer aufweisen (vgl. z.B. Jurzcyk/Rerrich 1993; Felstead/Jewson 2000). Während der schrittweisen Erhebung der Fälle wurde zudem deutlich, dass es für die Alltagsorganisation eine maßgebliche Rolle spielt, ob Kinder zu versorgen sind oder nicht. Deshalb rekrutierte ich Interviewpartner unterschiedlicher Altersstufen und mit unterschiedlichem familiären Hintergrund, was sich – wohl auch branchenbedingt – als relativ schwierig darstellte. Ein weiteres Kriterium stellte die Tätigkeit innerhalb der Branche dar. Es sollten alle in der Branche vertretenen Tätigkeitsbereiche vom eher technischen bis zum graphisch-künstlerischen Bereich abgedeckt werden. Letztendlich habe ich versucht, Frauen und Männer mit möglichst unterschiedlichen Arbeits- und Lebensformen in meine Untersuchung einzubeziehen. Bei der Fallauswahl habe ich auf eine Kontrollgruppe, die fest angestellt in den gleichen Tätigkeitsfeldern beschäftigt ist, verzichtet. Dies war möglich, da sich der Gegenhorizont festangestellten Arbeitens in betrieblichen Strukturen auch innerhalb der Einzelfälle erheben ließ. So verfügten die meisten meiner Interviewpartner und -partnerinnen über die Erfahrung, festangestellt zu arbeiten. Dieser fallimmanente Vorher-Nachher-Vergleich bei den Interviewpartnern, die bereits angestellt gearbeitet hatten, erwies sich für die Analyse als besonders fruchtbar, da sich dadurch vielfach interessante Prozesse des Übergangs von einer Arbeitsform in die andere, die mit neuen zeitlichen und räumlichen Praktiken verbunden waren, herausarbeiten ließen. Als Untersuchungsort bot sich München aufgrund der Konzentration der Branche an diesem Standort an (vgl. Kapitel 7.2). Hier besteht ins-
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
besondere für Freelancer bzw. Alleindienstleister ein vielfältiger lokaler Arbeitsmarkt. Der Kontakt zu potentiellen Interviewpartnern verlief auf unterschiedlichen Wegen und gestaltete sich generell schwierig. Ich schaltete einen Suchaufruf in dem Newsletter der webgrrls.de (sic!), Regionalgruppe München, einem beruflichen Netzwerk für Frauen in den neuen Medien. Zudem wurde ein Suchaufruf über ein Münchner Graphikernetzwerk versandt. Ich ergriff auch selbst die Initiative, indem ich Branchentreffs besuchte und Selbstständige in der Internet-Branche dort direkt um Mitwirkung an meiner Untersuchung bat. Da nicht genutzte Arbeitszeit für Selbstständige immer auch einen monetären Verlust bedeutet, war die Bereitschaft zu Interviews anfangs sehr eingeschränkt. Zudem wurden vereinbarte Gespräche vielfach verschoben, da unvorhergesehene geschäftliche Termine dazwischen kamen. Nachdem allerdings die ersten Kontakte insbesondere über die Branchentreffs hergestellt werden konnten, entwickelten sich nach dem Schneeball-System weitere Kontakte zu Probanden. Falls der Kontakt nicht direkt bei einem persönlichen Treffen zustande kam, legte ich in der Regel mein Forschungsvorhaben und den Ablauf der geplanten Zusammenarbeit in einem ersten Telefonat dar und schlug einen Termin für das Gespräch vor. Vor dem Gespräch erhielten die Interviewpartner einen Tagesablaufplan per Email zugeschickt, dessen Ausfüllen ich bereits im Telefonat zuvor bis zum Gesprächstermin vereinbart hatte (vgl. Abb. 21). Eine genaue Anleitung und einen bereits ausgefüllten Beispielplan schickte ich ebenfalls mit. Der Tagesablaufplan hatte erstens den Zweck, die Interviewpartner auf das Gespräch einzustimmen und zweitens diente er mir während des Interviews als Orientierung zu welchen Zeiten und an welchen Orten meine Gesprächspartner welchen Tätigkeiten nachgingen. Zudem bat ich sie, mir ein digitales Foto ihres Arbeitsplatzes, bzw. eventuell mehrerer Arbeitsplätze zuzuschicken, falls das Gespräch nicht dort stattfand oder sie an mehreren Orten tätig waren. Die Interviews mit den Gesprächspartnern fanden im Verlauf der Jahre 2003 bis 2006 statt und dauerten in der Regel eineinhalb bis zwei Stunden. Um einen besseren Eindruck von der Arbeitssituation und der Gestaltung des Arbeitsplatzes zu bekommen, versuchte ich das Interview jeweils dort zu führen, wo die Interviewpartner überwiegend ihrer Tätigkeit nachgingen. Demzufolge fanden die Interviews entweder bei den Gesprächspartnern zu Hause oder in ihren Büroräumen statt. Nur wenige Interviewpartner wollten sich mit mir auf ‚neutralerem‘ Boden
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EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG
wie in einem Cafe treffen, und wenn nicht selten auch um ‚mal aus dem Büro raus zu kommen‘.
6.1.3 Das Interview als zentrales Erhebungsinstrument Als zentrale Methode wurde ein offenes Befragungsverfahren gewählt, mit dem sowohl der Alltag in seiner gesamten Breite als auch Veränderungen in der Arbeitsform z.B. vom Arbeitsplatz in einer Bürogemeinschaft zu einem Heimarbeitsplatz oder der Übergang von angestellter Tätigkeit in die Selbstständigkeit in diachroner Perspektive erfasst werden können. Generell bieten qualitative Interviews die Möglichkeit, Handlungsmotive und Situationsdeutungen differenziert und offen zu erheben. Sie eignen sich deshalb besonders gut für die emprirische Umsetzung handlungsorientierter Konzepte. Zudem bieten leitfadenrorientierte Interviews die Möglichkeit zur fallimmanenten Kontrastierung. Ein Vorher-Nachher-Vergleich innerhalb der Fälle ist systematisch nur auf Grundlage von Interviews möglich, in denen retrospektive Elemente angesprochen werden können: Veränderungen in der Arbeits- und Alltagspraxis, die z.B. durch eine Verlegung des Arbeitsortes nach Hause oder durch den Übergang von einer Festanstellung in die Selbstständigkeit entstehen, ebenso wie biographische Elemente können in Interviews zur Sprache gebracht werden. Letztendlich habe ich mich für das Instrument des leitfadenorientierten, berufsbiographischen Interviews entschieden, da mit diesem Instrument sowohl der Alltag in seiner gesamten Breite wie auch die dieser Praxis zugrundeliegenden Handlungsorientierungen und Sinndeutungen erfasst werden können.
Der Tagesablaufplan Bereits bei den ersten Interviews stellte sich schnell heraus, dass insbesondere die sehr berufszentrierten Interviewpartner Schwierigkeiten hatten, über ihren privaten Alltag zu sprechen. Sie konzentrierten sich auf arbeitsbezogene Themen. Dafür waren mehrere Gründe maßgeblich: Ein Grund lag in der Kontaktaufnahme mit den Interviewpartnern. Ich kontaktierte meine Gesprächspartner als Personen, die aufgrund ihrer Selbstständigkeit in der Internet-Branche für meine Untersuchung geeignet sind. Damit lenkte ich die Gesprächserwartung automatisch auf arbeitsbezogene Themen. Zudem besteht unser Alltag zu einem hohen Anteil aus routinisierten Handlungen und vieles, was wir tun, ist nicht 147
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
reflektiert. Dies macht eine ad-hoc-Verbalisierung aller unserer Tätigkeiten an einem Tag schwierig. Ebenso verhält es sich mit räumlichen Praktiken im Alltag, die ebenfalls stark auf Routinen beruhen. Inspiriert durch die Lebensverlaufkalender, wie sie in der Biographieforschung eingesetzt werden (vgl. Schier 2005: 105 f.; Bird et al. 2000), entwickelte ich einen Tagesablaufplan, der mir einerseits einen Überblick über die Zeiten und Orte der Tätigkeiten meiner Interviewpartner im Laufe eines Tages geben sollte und gleichzeitig ermöglichte, auch Tätigkeiten außerhalb der Erwerbssphäre anzusprechen. Ziel des Tagesablaufplanes war nicht eine Erhebung des genauen Zeitpunktes oder der genauen Dauer von Tätigkeiten, wie sie im Rahmen der Zeitbudgetforschung oder Zeitgeographie angestrebt wird, sondern es ging mir darum zu sehen, wo und wann Tätigkeiten in den einzelnen Aktivitätsbereichen stattfanden. Die Interviewpartner wurden gebeten, vor dem Interview einen aus ihrer Sicht typischen Tagesablauf einzutragen. Manche Gesprächspartner füllten zwei Pläne aus, da sie z.B. die halbe Woche beim Kunden und die Hälfte von zu Hause aus arbeiteten. Der Tagesablaufplan (vgl. Abb. 21) besteht aus einer horizontalen Zeitachse (Stunden), auf der die Dauer der Tätigkeiten eingetragen wird. Regelmäßige Tätigkeiten werden mit einer geraden Linie, unregelmäßige Tätigkeiten mit einer Schlangenlinie gekennzeichnet. Auf der vertikalen Achse wird zwischen berufsbezogenen Tätigkeiten, haushaltsbezogenen Tätigkeiten und nicht-haushalts- oder berufsbezogenen Tätigkeiten unterschieden. Zu den berufsbezogenen Tätigkeiten zählten Projektarbeit, Kontaktpflege sowie vor- und nachgelagerte Tätigkeiten (z.B. Weiterbildung, Bearbeiten von Steuer- und Versicherungsangelegenheiten). Zu den haushaltsbezogenen Tätigkeiten zählen Einkaufen, Putzen/Waschen/Bügeln/Kochen und Kinderbetreuung. Zu den übrigen Tätigkeiten: Schlafen, Essen/Körperpflege, Freizeit/ Hobbies/ Sport, soziale Kontakte, ehrenamtliche Tätigkeiten und ‚Zeit für mich‘. Zudem sollten immer auch die Orte, an denen die Tätigkeiten stattfanden, angegeben werden.
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Quelle: Eigene Darstellung
Abbildung 21: Tagesablaufplan (von einer Interviewpartnerin ausgefüllt)
EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG
Den Interviewpartnern gab der Tagesablaufplan die Möglichkeit, ihren Tagesablauf zu rekapitulieren, und viele äußerten ihr Erstaunen darüber, wie viel ihrer Zeit sie für die Erwerbsarbeit aufwenden, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Insbesondere erwerbstätige Mütter bemängelten, dass die Kategorie ‚Zeit für mich‘ für sie nicht existent sei, da ihr Tagesablauf von Aktivitäten und Zeiten für andere ausgefüllt sei. Mir ermöglichten die Tagesablaufpläne während der Interviews auf die genannten Tätigkeiten und die Orte ihrer Ausführung Bezug zu nehmen und vorhandene Trennungen bzw. Vermischungen von Tätigkeiten aus unterschiedlichen Bereichen direkt zu thematisieren. 149
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Das Erhebungsverfahren: Leitfadenorientierte Interviews Leitfadeninterviews bewegen sich immer in dem Spannungsfeld, dass sie einerseits dem Interviewpartner oder der -partnerin möglichst viel Raum geben sollen, eigene Relevanzen zu setzen und dass andererseits mit ihnen das Spektrum der Forschungsfragen abgedeckt werden soll. In meiner Untersuchung griff ich auf das Instrument leitfadenorientierter, berufsbiographischer Interviews zurück, die einen möglichst hohen Anteil an narrativen und beschreibenden Passagen enthalten sollten. Die Interviews begannen mit einer offenen biographischen Einstiegsfrage, in der ich meine Gesprächspartner und -partnerinnen aufforderte, mir zu schildern, wie es dazu gekommen war, dass sie sich in der Internet-Branche selbstständig gemacht hatten. Auf diese Weise ließ sich die Berufsbiographie meiner Gesprächspartner nachzeichnen, da die meisten Interviewpartner mir zunächst ihre Ausbildung und ihre verschiedenen beruflichen Tätigkeiten schilderten und mir den Prozess nachzeichneten, der ihrer Entscheidung für die Selbstständigkeit vorausging. Daraufhin bat ich meine Interviewpartner, anhand des Tagesablaufplanes einen für sie typischen Tag zu beschreiben. Einige der Interviewpartner verbrachten regelmäßig einige Tage in der Woche bei Kunden. In solchen Fällen ließ ich mir zwei typische Tage beschreiben. Zudem bat ich meine Gesprächspartner, falls das Interview nicht am Arbeitsplatz der Befragten stattfand oder sie an mehreren Arbeitsplätzen tätig waren, mir ihre Arbeitsplätze anhand der digitalen Fotos zu beschreiben. Ich versuchte durch bestimmte Eingangsfragen, für jedes neue Themenfeld im Interview bei meinen Interviewpartnern selbstläufige Erzählungen in Gang zu setzten und sie zu Beispielerzählungen zu bewegen, die mir konkrete Anhaltspunkte für das weitere Interview und die Möglichkeit zu Nachfragen gaben. Zudem sollten diese Eingangsfragen zu längeren Erzählungen motivieren, da es insbesondere längere narrative Sequenzen sind, die die Rekonstruktion von Handlungsorientierungen und Deutungsmustern ermöglichen. Der Leitfaden diente mir dabei lediglich als Gedächtnisstütze und die Reihenfolge, in der die Themenfelder aufgegriffen wurden, war nicht festgelegt. Folgende Themenfelder bildeten die Schwerpunkte meines Leitfadens: • Erwerbsbiographie • Alltagsschilderung • Erwerbshandeln (Arbeitszeiten, Arbeitsorte, Arbeitsorganisation, Kunden, Netzwerke) • Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit (Zeiten, Orte) 150
EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG
• • • •
Trennungen/Vermischungen (räumlich, zeitlich, sachlich, sozial) Rolle des Zuhauses/des Stadtviertels/Münchens Handlungsorientierungen (Beruf, Familie, Paarbeziehung) Pläne
Die Erhebung des Lebens-Arbeit-Arrangements mit Hilfe des Tagesablaufplans nahm einen breiten Umfang im Interview ein, da sich über die Schilderung, wie der Alltag abläuft und funktioniert, welche Probleme dabei auftreten und wie mit ihnen umgegangen wird, die relevanten Dimensionen, die in die alltägliche Lebensführung eingehen (sozial, inhaltlich, zeitlich, räumlich), am besten erschließen ließen. Die Interviewten hatten durch diese offene Art der Befragung die Möglichkeit, selbst Verbindungen und Zusammenhänge herzustellen. Meine Nachfragen bezogen sich beispielsweise darauf wie, Wochenende oder Urlaub gestaltet werden, um erfassen zu können, was nicht unter ‚normalen‘ Alltagstätigkeiten verstanden wird. Zudem versuchte ich innerhalb der einzelnen Themenbereiche meine Interviewpartner zu situationsbezogenen Detailerzählungen (vgl. Flick 1995: 124 ff.) zu ermuntern, indem ich sie bat, mir z.B. typische Stresssituationen genauer zu beschreiben. Insbesondere Erzählungen eröffnen einen detaillierten Zugang zu konkreten Handlungspraktiken und bilden die Struktur der Orientierungen des aktuellen Handelns und der Ereignisläufe ab. Allerdings sind nicht alle Äußerungen der Interviewpartner Erzählungen. Nach Mühlfeld et al. (1981, zitiert nach Lamnek 2005: 357) kann zwischen Argumentations-, Beschreibungs- und Erzähltexten unterschieden werden. Aus Beschreibungen lassen sich vor allem routinisierte Handlungs- und Ereignisabläufe ableiten. In ihnen abstrahieren die Interviewpartner von der zugrundeliegenden Situation und berichten über sie. Argumentationen liegen dagegen auf der Ebene der praktischen Erläuterung und verweisen auf subjektive Relevanzen und Deutungsmuster. So lassen sich aus den Erzählungen meiner Interviewpartner ihre konkreten Handlungspraktiken ableiten. In den beschreibenden und argumentativen Abschnitten kann analysiert werden, in welcher Form diese Praktiken ein typisches Muster darstellen.
6 . 2 Au s w e r t u n g Die Aufbereitung und Auswertung des Interviewmaterials nahm ich in mehreren Schritten vor: Transkription, Codierung und sequenzanalytische Bearbeitung einzelner Interviewpassagen, Fallbeschreibung und Typenbildung. 151
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Die Arbeit am empirischen Material erfolgte dabei als fortlaufender Verdichtungsprozess in mehreren Stufen. Zu Beginn stand die vollständige Transkription jedes Interviews, da für das Verständnis eines Falles Wichtiges und weniger Wichtiges vielfach erst während der Interpretation erkennbar ist. Die Interviews wurden anschließend anonymisiert und die Befragten erhielten zur besseren Lesbarkeit der Interviewpassagen Codenamen.
6.2.1 Codierung und Fallbeschreibung In einem nächsten Schritt wurden die Interviewtranskripte zur inhaltlichen Strukturierung thematisch codiert. Bei der Auswertung der ersten Interviews wurden den Textsequenzenen der Interviews zunächst invivo-codes zugeordnet. Glaser und Strauss (1967) unterscheiden zwischen in-vivo-codes, die auf Begriffen basieren, die von den Befragten selbst verwendet werden und theoretischen Codes, die auf theoretischen Konzepten beruhen. Auf der Grundlage der ersten Auswertungen konnte aus einer zunächst unstrukturierten Codeliste schrittweise ein Codierleitfaden mit theoretischen Codes für alle Interviews entwickelt werden. Die Liste blieb bis zum Ende der Auswertungsphase offen für Veränderungen und Ergänzungen. Das Codieren erfolgte im Wechsel mit der sequenzanalytischen Bearbeitung einzelner Interviewpassagen.2 Da ich die Rekonstruktion der Alltagsgestaltung meiner Befragten sowie einen Vorher-NachherVergleich, also eine Prozess-Perspektive innerhalb des Falles, anstrebte, verblieb ich relativ lange in der fallimmanenten Auswertungsphase. Am Ende dieser Phase standen einheitlich strukturierte Fallbeschreibungen, die neben zentralen Zitaten des Interviews Kernaussagen zu den im Leitfaden angesprochenen Themen sowie Besonderheiten des Falls enthalten.
6.2.2 Typenbildung Das Vorgehen im Rahmen der Einzelauswertungen ging mehr oder weniger fließend in den letzten Auswertungsschritt über, nämlich den der empirischen Typenbildung. Zur Typenbildung orientierte ich mich an das von Kluge und Kelle (1999) vorgeschlagene Verfahren, das ich für meine Untersuchung spezifizierte. 2
Da in einem leitfadenorientierten Interview fast zwangsläufig eine thematische Lenkung durch den Interviewer stattfindet, kann die Auswertung sequenzanalytisch nur innerhalb der durch die Interviewfragen initiierten thematischen Ausschnitte von statten gehen.
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EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG
Das Verfahren der Typenbildung eignet sich, um Einzelfälle nach ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden zu gruppieren, um so den Gegenstandsbereich besser überblicken und komplexe Realitäten besser verstehen und erfassen zu können (vgl. Kluge 2000). Die Gruppierung der Einzelfälle erfolgt entlang einer oder mehrerer Kategorien, so dass zum einen die Einzelfälle, die zu einem Typus zusammengefasst werden, einander möglichst ähnlich sind (interne Homogenität) und sich zum anderen von den Einzelfällen, die einen anderen Typus bilden, möglichst deutlich unterscheiden (externe Heterogenität). Der Begriff Typus bezeichnet die gebildeten Teil- oder Untergruppen, die gemeinsame Merkmale aufweisen und die anhand der spezifischen Konstellation ihrer Eigenschaften charakterisiert und beschrieben werden (vgl. Kluge 2000). Die empirisch begründete Typenbildung erfolgt in mehreren Schritten (vgl. ausführlich Kluge 1999). Zunächst werden die relevanten Vergleichsdimensionen erarbeitet: Auf der Grundlage des Vergleichs der vorliegenden Falldarstellungen bestimmte ich die zentralen Kategorien, nach denen die Fälle nach Unterschieden und Ähnlichkeiten zusammengefasst werden sollten. Diese Kategorien ergaben sich z.T. aus dem theoretischen Vorwissen und der Struktur des Leitfadens, im Wesentlichen aber aus der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material. Im folgenden Schritt wurden die Fälle mit Hilfe der fallvergleichenden Kontrastierung anhand der definierten Vergleichsdimensionen gruppiert. Als einen weiteren Schritt schlägt Kluge (1999) die Analyse der inhaltlichen Sinnzusammenhänge vor, die über eine reine Beschreibung hinausgehen und die vorgefundenen Phänomene erklären. Dieser Schritt lässt sich allerdings kaum von den anderen Auswertungsschritten sinnvoll abgrenzen und begann bereits bei der Einzelfallauswertung und fand bis zur Typenbildung statt. Anschließend erfolgte die Charakterisierung der gebildeten Typen. Hierzu wurde jeder Typus in einer fallübergreifenden Analyse untersucht und seine Charakteristiken, d.h. die Gemeinsamkeiten der zu dem Typ zusammengefassten Fälle, wurden anhand der Vergleichsdimensionen sowie der inhaltlichen Sinnzusammenhänge beschrieben. Kelle und Kluge (1999: 82) weisen darauf hin, dass es sich bei dem von ihnen vorgeschlagenen Verfahren zur Typenbildung nicht um ein „starres und lineares Auswertungsschema“ handelt, sondern eher um einen hermeneutisch-zirkulären Prozess, in dem die einzelnen Schritte mehrfach durchlaufen werden.
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Nach diesem Auswertungsverfahren habe ich die empirischen Typen für die Merkmale der Alltagsgestaltung meiner Befragten gebildet, die in Kapitel 8 ausführlich vorgestellt werden.
6.3 Darstellung der empirischen Ergebnisse Die folgende Darstellung der empirischen Ergebnisse beruht auf unterschiedlichen Daten und dies schlägt sich auch in der Erbegnispräsentation nieder. Der Überblick über die Internet-Branche in Deutschland und München (Kapitel 7.1 und 7.2) beruht auf der Auswertung statistischen Sekundärmaterials und Literaturrecherchen. Die Präsentation der Ergebnisse einer standardisierten Befragungung von Münchner Beschäftigten in der Internet-Branche zeigt, wer in der Branche tätig ist und wie in der Branche gearbeitet wird (Kapitel 7.3). Das Kapitel 7.4 analysiert die Arbeitsorganisation in der Branche, die Hinweise auf die Gründe für die Entgrenzungstendenzen gibt. Die Ergebnisse dieses Kapitels beruhen auf Gesprächen mit Branchenexperten, Münchner Firmeninhabern sowie den Interviews mit meiner Untersuchungsgruppe. Die Rekonstruktion der Alltagsgestaltung meiner Befragten steht im Fokus von Kapitel 8. Die empirisch aufgefundenen Alltagsarrangements werden in jeweils einem Kapitel einzeln präsentiert (Kapitel 8.2 bis 8.4). Kapitel 8.5 befasst sich in einem Überblick mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Arrangements. Das Kapitel 8.6 setzt sich nochmals eingehender mit den Arbeitsorten und den räumlichen Praktiken der Befragten auseinander.
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7 E N T G R E N Z T E S AR B E I T E N I N E I N E R W I S S E N S I N T E N S I V E N , K R E AT I V E N B R AN C H E
Das folgende Kapitel befasst sich mit den Arbeitsstrukturen, die den beruflichen Alltag meiner Untersuchungsgruppe prägen und für sie gewissermaßen die objektiven ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen darstellen, mit denen sie sich auseinandersetzten müssen. Hierfür werde ich zunächst die Internet-Branche in Deutschland und in München skizzieren und eine sektorale Zuordnung der Tätigkeiten von Internetdienstleistern vornehmen. Der zweite Teil dieses Kapitels beschreibt entlang der verschiedenen Dimensionen der Entgrenzung von Erwerbsarbeit (vgl. Kapitel 2.2) die Situation der in der Branche Tätigen in München: Wie und wo sie arbeiten, wie viel sie verdienen und wie und ob sie überhaupt ‚entgrenzt‘ hinsichtlich Arbeitszeit und Ort arbeiten. In einem weiteren Schritt werden die maßgeblichen Gründe für Entgrenzungstendenzen in der Branche herausgearbeitet. Hier spielt die Projektbezogenheit der Arbeitsabläufe eine maßgebliche Rolle. Die Beschreibungen und die Analyse basieren auf den Ergebnissen meiner empirischen Untersuchung. Die Internet-Branche hat seit ihrem Bestehen einen rasanten Entwicklungsprozess durchgemacht. Zu Anfang des New-EconomyBooms1 wurde die Branche von den Medien vielfach zu einer Arena 1
Der Begriff New Economy wurde zunächst in den USA geprägt und versucht die neu entstehenden Wirtschaftsmöglichkeiten zu beschreiben, die es seit der breiten Akzeptanz des Internet gibt. Seit dem dot-com-crash im Jahr 2000, in dem sehr viele Unternehmen der New Economy wieder verschwanden, werden die Möglichkeiten dieser ‚neuen Wirtschaft‘ nun viel realistischer und kritischer eingeschätzt. Zudem bezog sich der Begriff auf die vermehrte Gründung von Internet-basierenden und technologieorien155
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
postindustrieller Arbeits- und Lebensstile hochstilisiert und stand Pate bei der Entwicklung von Visionen neuer kreativer Wissensarbeit. In den Medien wurden die formalen Strukturen von Internet-Agenturen so dargestellt, dass sie eher an Wohn- denn an Arbeitsgemeinschaften erinnerten (vgl. Meschnig/Stuhr 2001). Gängige mediale Repräsentationen der Branche waren junge Menschen, die in Loft-Büros in lockerer Arbeitsatmosphäre mit viel Spaß ohne Ende arbeiteten. Der Billard- oder Kickertisch im Büro oder auch Stapel von leeren Pizza-Kartons, die in endloser Nachtarbeit angehäuft wurden, avancierten in vielen Start-UpUnternehmen zu den materiellen Symbolen für die Verschmelzung von Arbeit und Freizeit. Mit dem Zusammenbruch des Neuen Marktes und der Branchenkrise in den Jahren 2000 und 2001 war die große Euphorie vorbei und es kehrte Ernüchterung ein. Der New-Economy-Diskurs gehört inzwischen der Vergangenheit an. Aber die Krise bedeutete keinesfalls das Aus für diese junge Branche als Ganzes, sie hat sich inzwischen wieder konsolidiert und – was entscheidender für diese Studie ist – sie bedeutete auch nicht das Aus für die Arbeitsorganisation, die sich in ihr etabliert hatte (vgl. Grabher 2002c: 1911). Demzufolge wird der Branche immer noch eine Vorreiterrolle zugesprochen, wenn es um die zukünftige Entwicklung hochqualifizierter Dienstleistungsarbeit2 geht: Flache Hierarchien, Projektarbeit, zeitliche und räumliche Flexibilisierung, flexible Arbeitsverhältnisse mit einem hohen Anteil an formal selbstständigen Ein-Personen-Firmen sowie ein fließender Übergang zwischen Arbeits- und Privatsphäre.
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tierten (Klein-)Unternehmen, die auf digitalisierte Produkte und Dienstleistungen abstellten (vgl. Manske 2007: 73). Dies und der rasante Wandel, den die Branche seit ihrer Entstehung durchlaufen hat, macht sie zu einem interessanten Untersuchungsfeld für verschiedene arbeitssoziologische Fragestellungen. So untersucht Alexandra Manske (2007) in ihrer „Feldstudie über Alleinunternehmer in der ITBranche“ in Berlin, ob prekäre Lebenslagen auch in diesem hochqualifizierten Milieu vorzufinden sind. Nicole Mayer-Ahuja und Harald Wolf (2005) untersuchen in ihren Betriebsfallstudien bei deutschen Internetdienstleistern die betriebliche Arbeitsorganisation sowie die Interessen der dort Beschäftigten. Annette Henninger und Karin Gottschall (2005) fragen in ihrer Untersuchung über Freelancer im Bereich Journalismus, Design und Software nach Marktbehauptungsstrategien, dem Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben sowie nach der Gestaltung partnerschaftlichen Geschlechterarrangements bei diesen neuen Erwerbsformen.
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ENTGRENZTES ARBEITEN IN EINER KREATIVEN BRANCHE
7.1 Die Internet-Branche als Teilbereich der cultural industries: Eine sektorale Einordnung Die Internet-Branche liegt im Schnittfeld traditioneller und neuer Mediensektoren (vgl. Christopherson 2002) und hat sich als dienstleistungsbezogenes Erwerbsfeld seit Mitte der 1990er Jahre entwickelt, als das Internet in seiner heutigen Form entstand. Sie wird auch als Neue Medien-Branche3 bezeichnet, da sie „elements of computing technology, telecommunications, and content“ (Batt et al. 2001: 7) auf eine neue Art und Weise kombiniert und gleichzeitig Produkte und Dienstleistungen herstellt, die interaktiv, also über das Internet, von privaten und gewerblichen Nutzern verwendet werden können. Die wichtigsten Herkunftsbranchen sind, neben der Informationsund Kommunikationstechnologie, der Werbebereich4 (Werbung, Marketing und Marktforschung) sowie Teile des damit verbundenen Verlagsund Graphikgewerbes ebenso wie Teile der audiovisuellen Medien (vgl. Mayer-Ahuja/Wolf 2004: 65; Läpple 2004: 9). Die Branche beinhaltet etablierte Unternehmen, die ihr Geschäftsfeld um Internet-Aktivitäten erweitert haben, wie z.B. Werbeagenturen, Software-Entwickler oder Buchverlage, ebenso wie neu gegründete Unternehmen. Die Branche lässt sich in vier Aktivitätsfelder gliedern, die von unterschiedlichen Firmentypen repräsentiert werden (vgl. Grabher 2002c: 1912). Dies sind erstens „Technologie-Provider“ (wie Sun, Microsoft oder Cisco), zweitens die so genannten „Dotcoms“ (wie Amazon, eBay), die hauptsächlich online-Geschäfte abwickeln, also im
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Die Branche wird in der wissenschaftlichen Debatte ohne große Unterschiede als Neue Medien (vgl. Henninger 2004), bzw. New Media (z.B. Batt et al. 2001, Pratt 2000, Perrons 2003), als Internetökonomie oder als Internet-Branche bezeichnet. Der Begriff Multimedia wird dagegen kaum noch verwendet. So hat der Verband, der die Interessen der Firmen dieser Branche vertritt, im Jahr 2004 seinen Namen von Deutscher Multimedia Verband (dmmv) in Bundesverband Digitale Wirtschaft e.V. (BVDW) verändert, da der Begriff Multimedia für die Branche als zu eng erachtet wurde. So gründeten wichtige Werbeagenturen in den 1990er Jahren vielfach jeweils eigene Internet- bzw. Multimedia-Tochterunternehmen, die dem jährlichen „New-Media-Service-Ranking“ des Bundesverbandes der Digitalen Wirtschaft“ (BVDW) zufolge noch heute zu den umsatz- und beschäftigungsstärksten Unternehmen der Branche gehören. Der Verband veröffentlicht jährlich Daten zu Unternehmen in den Neuen Medien, die über Umsatz- und Beschäftigtenzahlen sowie Sitz des Unternehmens Auskunft geben. Die Daten sind seit 2001 abrufbar unter: www.newmediaranking.de. 157
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Bereich E-Commerce aktiv sind. Die dritte Kategorie sind „ContentProvider“, also Unternehmen, die von traditionellen Medienkonglomeraten wie Walt Disney oder Viacom dominiert werden und ihre nichtdigitalen Produkte wie Filme, Musik oder Nachrichten digital aufbereiten und im Netz bereitstellen. Diese Bereiche werden von großen Unternehmen dominiert, deren Arbeitsorganisation an die Softwarebzw. Medienbranche angelehnt ist. Deshalb konzentriere ich mich in meiner Untersuchung auf die vierte Kategorie, nämlich auf Internetdienstleister, verstanden als Firmen oder Individuen, die hauptsächlich durch Software-Produktion und Beratung zur Nutzung des Internets befähigen. Die Hauptaktivitäten dieser Firmen der vierten Kategorie liegen im Bereich Web-Design, E-Business, E-Learning oder in anderen internetbezogenen Dienstleistungen. In den 1990er Jahren konnten Multimedia-Agenturen, die vor allem Web-Design und Marketing anboten und dementsprechend nahe am klassischen Werbebereich waren, noch leicht von Internet-ServiceProvidern, die einen Internet-Zugang und das Hosting von Webseiten anboten oder Firmen, die Waren und Dienstleistungen über das Internet verkauften, unterschieden werden. Diese Abgrenzungen sind inzwischen verschwunden, weil immer mehr Firmen mehrere Geschäftsfelder besetzen: Software-Anbieter im Bereich E-Learning müssen z.B. mit ansprechendem Design aufwarten, von Internet-Service-Providern werden Komplettlösungen erwartet und viele der Firmen, die als Agenturen mit Web-Design begannen, haben ihr Angebot im Laufe der Zeit auf Konzeption, Textgestaltung, Graphikdesign, Softwareentwicklung und Beratungsleistungen ausgedehnt. Eine klare Abgrenzung zum Werbebereich oder zur IT-Branche ist folglich nicht mehr möglich. Trotz dieser fließenden Grenzen hat sich inzwischen in allen entwickelten Ökonomien ein eigenständiges Segment dieser unternehmensbezogenen Internetdienstleistungen mit je nationalspezifischer Ausprägung entwickelt (vgl. die unterschiedlichen Beiträge in Braczyk/Fuchs/ Wolf 1999, Batt et al. 2001, Pratt 2000, Läpple et al. 2002). Eine sektorale Einordnung ist also kaum möglich. Die Branche kann jedoch im weitesten Sinn der Kulturwirtschaft, also den so genannten „creative industries“ zugeordnet werden. Allerdings gibt es für die creative industries ebenfalls keine eindeutige Definition oder klare Kriterien zur Ableitung jener Wirtschaftsbereiche, die unter diesem Dachbegriff verstanden werden sollen.5 Setzt man als kleinsten 5
Bei dem Konzept „creative industries“ handelt es sich streng genommen nicht um ein theoretisch fundiertes und logisch konsistentes Konzept, sondern vielmehr um einen im Wesentlichen wirtschafts- und regionalpolitisch generierten Begriff. Davon zeugen die inzwischen vielerorts erstell-
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ENTGRENZTES ARBEITEN IN EINER KREATIVEN BRANCHE
gemeinsamen Nenner den Begriff der Kreativität, so werden unter den creative industries jene Bereiche verstanden, die ein besonders hohes Maß an (künstlerischer) Kreativität benötigen, um ihre Produkte und Dienstleistungen herzustellen bzw. zu erbringen. Dabei ist die Ausrichtung der Unternehmen in diesem Bereich sehr unterschiedlich: Während sich manche durchaus an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wirtschaft befinden, dominieren bei anderen klar marktwirtschaftliche Zielsetzungen. Kreativität hat in diesen Bereichen den Charakter eines Produktionsfaktors, der ebenso wie Ausgaben für Forschung und Entwicklung eingebracht werden muss, um Innovationen zu entwickeln. Anders als im traditionellen Kunst- und Kulturbetrieb wird hier Kreativität als Produktionsfaktor eingesetzt, um ein marktfähiges Produkt oder eine Dienstleistung zu erstellen (vgl. Demel et al. 2004: 19). Demzufolge sind einige Tätigkeitsfelder der Internet-Branche wie z.B. Web-Design oder Online-Werbung im Bereich der creative industries zu verorten und gewisse Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsstrukturen teilt die Branche dort mit traditionellen Künstlerarbeitsmärkten, weshalb im Folgenden Vergleichsuntersuchungen auch aus diesem Bereich herangezogen werden, um die Branchenstrukturen zu beschreiben. Allerdings muss einschränkend angemerkt werden, dass selbst die Aktivitäten, die dem Kreativbereich am nächsten sind, wie Design u.ä., keine Gemeinsamkeiten mehr mit bildender Kunst haben, sondern eine produktionsorientierte wissensintensive Informationsdienstleistung darstellen (vgl. Manske 2007: 76).
ten „Kulturwirtschaftsberichte“. Sie werden von Stadtverwaltungen in Auftrag gegeben, die sich von kreativen, wissensintensiven Branchen Wachstumsschübe versprechen (für München vgl. Hafner/von Streit 2007; für Hamburg vgl. Henninger/Mayer-Ahuja 2005; für Wien vgl. Demel et al. 2004). Die Initialzündung für viele dieser Berichte stellte die „Creative Industries Task Force“ dar, die vom damaligen britischen Premierminister Tony Blair im Jahr 1997 mit dem Ziel, vor allem kreative Wirtschaftsbereiche als ökonomische Ressource für die Stadtentwicklung zu nutzen, ins Leben gerufen wurde. Populär wurde das Konzept unter deutschen Stadtentwicklern vor allem durch den US-amerikanischen Regionalökonomen Richard Florida (vgl. Florida 2002). 159
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
7.2 Die Internet-Branche in Deutschland und in München 7.2.1 Firmen und Beschäftigte Der amtlichen Statistik sind keine verlässlichen Zahlen zur Größe der Branche und der Zahl der Beschäftigten zu entnehmen. Ursache hierfür ist, dass die Branche zu anderen Branchen wie der der IT-Branche oder auch der Werbung kaum abgrenzbar ist. Die Schätzungen für die Zahl der Beschäftigten in Deutschland schwanken zwischen 72.000 und 151.000 Beschäftigten, zuzüglich der auf 67.000 veranschlagten Gruppe der Alleinselbstständigen im Jahr 2001 (vgl. Krafft 2001: 5). Zu diesem Zeitpunkt war der Höchststand der Beschäftigtenzahl allerdings bereits überschritten. Nach dem Einsetzen der Krise 2000/2001 wurde der Branche von wissenschaftlicher Seite weit weniger Aufmerksamkeit zuteil, so dass seitdem über die Entwicklung der Beschäftigtenzahl kaum noch eine fundierte Aussage getroffen werden kann. Die Branche ist in einem starken Maße auf Großstadtregionen konzentriert. Die Region München ist neben weiteren Medienmetropolen wie Berlin, Köln, Hamburg, Düsseldorf sowie dem Rhein-Main-Gebiet ein sehr bedeutender Standort für die Internet-Branche in Deutschland (vgl. Sträter 1999; Krätke 2002). Um zumindest einen Einblick in die Branche in München zu vermitteln, wird im Folgenden auf das iBusiness Jahrbuch6 2006 zurückgegriffen, da es wohl den vollständigsten Überblick über den Bestand an Unternehmen der Internet-Branche liefert. In der Region München7 wird die Branche nach Angaben des iBusiness Jahrbuch 2006 von circa 195 Unternehmen repräsentiert, die ungefähr 12.355 Mitarbeiter beschäftigen. Allerdings hat davon die Firma Unilog alleine 9000 Mitarbeiter verzeichnet, die im Folgenden nicht mehr berücksichtigt werden, da sich diese Zahl auf die europaweit Beschäftigten und nicht nur auf die Niederlassung der Firma in München bezieht. Nach Angaben der Herausgeber des Jahrbuches werden rund 6
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Das Jahrbuch wird vom Hightext Verlag in München herausgegeben und die Unternehmen können sich kostenlos darin eintragen lassen. Für ganz Deutschland sind 3000 Internet-Dienstleister gelistet. Aufgenommen in das Jahrbuch werden Agenturen, Dienstleister und Produzenten sowie EinPersonen-Unternehmen, die in den interaktiven Medien tätig sind. Freelancer werden gesondert erfasst. Die Region München bezieht sich in dieser Arbeit auf die Planungsregion 14, die gebildet wird durch die Kernstadt München sowie die umliegenden Landkreise Dachau, Ebersberg, Erding, Freising, Fürstenfeldbruck, Landsberg am Lech, München-Land und Starnberg.
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ENTGRENZTES ARBEITEN IN EINER KREATIVEN BRANCHE
dreiviertel aller Firmen in München durch das Jahrbuch erfasst, so dass hochgerechnet von rund 235 Unternehmen und circa 5000 Beschäftigten in der Planungsregion München auszugehen ist. Die Internet-Branche ist geprägt von Klein- und Kleinstunternehmen (vgl. Mayer-Ahuja/Wolf 2004: 81); Dies ist auch für den Standort München der Fall. Rund 90 % der Unternehmen haben weniger als 50 Mitarbeiter und fast 70 % haben höchstens zehn Mitarbeiter (vgl. Abb. 22). Abbildung 22: Mitarbeiter der Internet-Branche in der Region München &ŝƌŵĞŶ
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Quelle: Graf/Treplin 2006, eigene Darstellung
Die Mitarbeiter verteilen sich auf die Unternehmensgrößenklassen in der Weise, dass nur 34 % der Mitarbeiter bei Unternehmen in der Klasse bis 50 Beschäftigte tätig sind, während die 21 mittleren und großen Unternehmen fast zwei Drittel (60 %) bei sich beschäftigen. Über die genaue Anzahl freier Mitarbeiter und insbesondere die Anzahl der Alleinunternehmer können keine genauen Aussagen getroffen werden. Läpple und Thiel (vgl. Läpple et al. 2002) beziffern in ihrer Erhebung zur Hamburger Multimediabranche den Anteil der freien Mitarbeiter auf lediglich 11 %, dies entspricht ungefähr dem Selbstständigenanteil an der Gesamtwirtschaft. Detlev Sträter (1999) geht dagegen für
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
München von einem Anteil von fast 50 % aus und eine Studie der IHK und der LH München zur IT- und Medienwirtschaft in der Region München schätzt den Anteil der Freien auf rund ein Drittel (vgl. IHK München und Oberbayern/LH München 2003: 13). Für den hohen Anteil an freien Mitarbeitern in der Branche gibt es mehrere Gründe: Erstens hat das subcontracting eine große Bedeutung. So werden insbesondere spezialisierte Teilaufgaben an Kleinstunternehmer oder Freelancer vergeben. Diese Auslagerung ist aufgrund der ausgeprägten horizontalen Arbeitsteilung bei der Leistungserstellung leicht möglich (vgl. Punkt 7.4). Zudem können auf diese Weise spezielles Wissen oder Fähigkeiten, die nicht in der Firma vorhanden sind, über freie Projektmitarbeiter eingekauft werden. Zweitens greifen Agenturen auf freie Mitarbeiter zurück, um größere Projekte oder Auftragsspitzen zu bewältigen und sich Kosten zu sparen, die mit einer Festanstellung verbunden wären.
7.2.2 Ein urbanes Phänomen: Standortmuster der Branche Die Standorte der Internetdienstleister deuten darauf hin, dass trotz des vielbeschworenen „death of distance“ (vgl. Cairncross 1997) durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien selbst in einer Branche, die mit dem und für das Internet Produkte und Dienstleistungen erstellt, räumliche Nähe und Kopräsenz im Arbeitsalltag keineswegs ihre Bedeutung verloren haben. In dieser Hinsicht folgen die Standortmuster der Branche dem allgemeinen Befund von wirtschaftsgeographischen Untersuchungen, dass das Wachstum wissensintensiver unternehmensorientierter Dienstleistungen von einer selektiven Konzentration in den großen Agglomerationen begleitet ist (vgl. Glückler 2004). Neue IuK-Technologien verringern also nur für bestimmte Dienste, wie z.B. Back-offices von Banken die Notwendigkeit räumlicher Nähe. Spezielle Dienstleistungen wie die Internet-Branche ziehen dagegen kaum Vorteile aus einer Dezentralisierung ihrer Standorte. Es lässt sich also eine selektive Konzentration dieser Branche auf einen begrenzten Kreis von Großstädten und Metropolen feststellen (vgl. Braczyk/Fuchs/Wolf 1999a). Für die Clusterbildung von Unternehmen dieser Branche auf stadtregionaler Ebene lassen sich mehrere Begründungslinien anführen, die ganz allgemein für wissens- und designintensive Produktions- und Dienstleistungsaktivitäten gelten. Entsprechend der Marshall’schen Argumentation begünstigen verschiedene Teilprozesse die räumliche Ballung von Unternehmen (vgl. Bathelt/Glückler 2002: 211). Regionale 162
ENTGRENZTES ARBEITEN IN EINER KREATIVEN BRANCHE
Verflechtungsbeziehungen sind dann besonders vorteilhaft, wenn beim Materialkauf, der Vergabe von Unteraufträgen und dem Informationsaustausch nur eine geringe Standardisierung vorliegt. Dies ist bei den Dienstleistungen und Produkten der Internet-Branche der Fall. Die Interviewpartner in Unternehmen heben zudem die wichtige Rolle der Verfügbarkeit von Arbeitskräften am Standort München hervor. So erleichtert ein spezialisierter Arbeitsmarkt sowohl den Unternehmen die Suche nach Arbeitskräften wie auch Beschäftigten die Suche nach neuen Arbeitgebern. Aufgrund der Arbeitsorganisation in der Branche ist für Internet-Dienstleister ein großer Pool an spezialisierten Arbeitskräften ein wichtiger Punkt für ihre Standortwahl (vgl. Grabher 2002c: 1918). Zudem machen Cluster den Zugang zu nicht-kodifiziertem Wissen einfacher, wobei dieser Transfer von neuem, nicht-kodifiziertem Wissen als ein gesellschaftlich eingebetteter Vorgang gesehen wird (vgl. Storper 1997). Nicht-kodifiziertes Wissen wird in der Interaktion von Menschen weitergegeben, wofür direkte persönliche Kontakte unabdingbar sind. Das bedeutet, dass je dichter das Netz an formellen aber auch zufälligen Kontakten zwischen den Akteuren in einem Cluster (Unternehmen, Beschäftigten, Institutionen etc.) geknüpft ist, die Innovationsfähigkeit der Firmen sich umso besser gestaltet. Da geteilte Normen, Werte und das Vertrauen zwischen den Akteuren bei diesem Prozess wichtig sind, wird die lokale und regionale Clusterbildung in wissensbasierten Branchen mit Konzepten der „kulturellen“ bzw. „institutionellen Nähe“ und des „kollektiven Lernens“ in geographisch verdichteten wirtschaftlichen Beziehungsnetzen begründet (vgl. Krätke 2002: 34). Besonders hervorgehoben wird bei diesem Prozess die Rolle von so genannten untraded interdependencies. Das Konzept der „untraded interdependencies“ verweist darauf, dass Unternehmen nicht nur handelbare Ressourcen, also traded interdependencies wie z.B. Faktoren und Güter, austauschen, sondern dass auch nicht handelbare Beziehung zwischen Unternehmen und Menschen in Unternehmen bestehen, die Austauschbeziehungen regeln und koordinieren. Untraded interdependencies sind „Konventionen, informelle Regeln und Gewohnheiten, die wirtschaftlichen Austausch unter der Bedingungen von Unsicherheit regeln“ (Storper 1997: 5). Diese untraded interdependencies sind immer lokalisiert. Zweitens ist ein wichtiges Charakteristikum der räumlichen Konfiguration der Internet-Branche die Clusterbildung innerhalb einer Großstadt, also die lokale Konzentration in besonderen Quartieren, vorzugsweise im Bereich der Innenstadt (vgl. Braczyk/Fuchs/Wolf 1999b, Pratt 2000, Scott 2000, Indergaard 2004).
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Dieses Standortmuster gilt auch für München. So befinden sich über 70 % der Münchner Unternehmen der Internet-Branche in der Innenstadt und in den angrenzenden meist gründerzeitlich geprägten Stadtvierteln. Nur 30 % verteilen sich auf die übrigen Stadtbezirke am Stadtrand. Eine Konzentration von Unternehmen in den Außenbezirken ist zudem an großen Ausfallstraßen feststellbar (vgl.Abb 23). Abbildung 23: Internet-Branche im Raum München
Quelle: Übersichtskarte 1:500.000; Bayerisches Landesamt für Vermessung und Geoinformation, Nr. 1576/05. Vermessungsamt der Landeshauptstadt München; Daten: Graf/Treplin 2006; eigene Darstellung
Die Gründe für die kleinräumige Clusterbildung in innerstädtischen Quartieren liegen weniger in den geringeren Transaktionskosten begründet, sondern wie Andy Pratt in seiner Untersuchung der New Yorker Internet-Branche ausführt, in den untraded interdependencies, die durch häufig zufällige oder geplante, formelle oder informelle faceto-face-Kontakte ermöglicht werden: „It was clear that many aspects of human interaction, those that are important in untraded transactions, cannot be achieved solely by new technology (Email, webcasting, video links, etc.). The need for physical interaction was identified the practices for learning, innovating, contracting, employment, as well as in 164
ENTGRENZTES ARBEITEN IN EINER KREATIVEN BRANCHE
socialising, eating, relaxing, or just ‘feeling the pulse’ of the city”. […] Moreover, physical proximity facilitates these untraded dependencies and patterns of interaction. Structured and routinised social events and institutions (such as cyber sud parties, and particular restaurants, coffee bars, and night clubs) became the focus for such interactions.” (Pratt: 2000: 434)
Auch die von mir interviewten Geschäftsführer von Internetfirmen hoben den Kontakt zu anderen Firmen in der eigenen Branche im Gegensatz zu den befragten Alleinselbstständigen (vgl. Punkt 7.4.4) weniger stark hervor. Für sie spielte stärker das „look and feel“ (Helbrecht 2001), also das Wohlfühlen an einem Standort, eine Rolle. Diese Firmen begründeten ihre Standortwahl in einem gründerzeitlichen Innenstadtviertel mit dem Argument der Urbanität: Die lebendige Atmosphäre von Innenstadtvierteln spiele für die Kreativität und Entwicklung neuer Ideen eine wichtige Rolle. Die Arbeitsorganisation als ein weiterer zentraler Grund für die Standortpräferenzen dieser Unternehmen in der Innenstadt fand bisher kaum Beachtung in der Wirtschaftsgeographie, obwohl befragte Agenturen diesen Punkt als Grund für ihre Standortwahl betonen: „In der Branche wird nicht mit der Stechuhr von acht bis sechs gearbeitet oder bis fünf, sondern eben viel länger. Und wenn dann der Mitarbeiter aber erst mal in die S-Bahn steigen muss, um dann irgendwie in die Stadt zum Einkaufen zu kommen, dann wird er in der Summe uns irgendwie irgendwo Stunden abknapsen, die er vielleicht arbeiten könnte, einfach weil er noch einkaufen gehen muss oder weil er mal an einem Samstag nicht in die Agentur kommt, weil es ihm zu weit weg ist ….“ (Geschäftsführer, Agentur mit 200 Mitarbeitern im Internetbereich in München)
Ein Standort in der Innenstadt liegt im Interesse der Agentur, da hier von den Mitarbeitern mehr Flexibilität hinsichtlich ihrer Arbeitszeiten zu erwarten ist, denn hier können Erwerbsarbeit und andere Lebensbereiche einfacher verbunden werden und in der Summe die Arbeitszeiten erhöht werden. Einerseits geht es also um die Zeitersparnis durch kurze Wege für die Mitarbeiter, die dann wiederum der Agentur Kostenvorteile bietet. Andererseits sind sich die Agenturen auch bewusst, dass Beschäftigte in den wissensintensiven und kreativen Branchen sich ein lebendiges, urbanes Arbeitsumfeld erwarten: „Wir glauben, dass wir die besten Mitarbeiter nur kriegen, wenn wir mitten in der Stadt sind und auch der Kunde sich das wünscht: eine Agentur zu haben, die irgendwo im Zentrum des Geschehens ist, in so einer Großstadt, und nicht irgendwo am Rande so ein bisschen außerhalb gewerbegebietsmäßig. Und in 165
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der Stadt bekommt man auch die interessanteren Objekte, weil wir nie in einem Neubau sitzen wollten, der irgendwie so rechteckig, quadratisch ist, sondern in einem Gebäude, das irgendwie lebt und Kreativität und Inspiration hat und nicht so klinisch und büromäßig ist.“ (Geschäftsführer, Agentur mit 200 Mitarbeitern im Internetbereich)
Zudem spielen Image und Prestige für innerstädtische Standorte ebenfalls eine wichtige Rolle und in den Erzählungen werden immer wieder langweilige Gewerbegebiete anregenden Standorten in der Stadt gegenübergestellt. Welche Rolle die Arbeitsorganisation für die Standortwahl der Alleindienstleister spielt, wird in Kapitel 9.2 dargelegt.
7.3 Münchner Beschäftigte in der Branche: Ergebnisse einer Befragung Im Rahmen der Online-Befragung wurden die Beschäftigten der Münchner Internet-Branche gebeten, zu ihren Arbeitszeiten, ihren Arbeitsorten, ihrer Beschäftigungs- und Verdienstsituation sowie der Zufriedenheit mit ihrer Arbeit Stellung zu nehmen. Die standardisierte Befragung zielte insbesondere auf die Strukturen in der Branche ab und darauf, wie in der Branche gearbeitet wird. Für eine tiefer gehende Analyse, die Antworten auf die Frage verspricht, warum so gearbeitet wird, werden die Ergebnisse der qualitativen Interviews bei der Analyse der Arbeitsorganisation (vgl. Punkt 7.4) hinzugenommen. Bei der folgenden Darstellung werden die bekannten Dimensionen der Entgrenzung von Erwerbsarbeit (Raum, Zeit, soziale Beziehungen) wieder aufgegriffen. Zudem werde ich die Ergebnisse soweit als möglich in Bezug zu den Ergebnissen anderen Untersuchungen8 setzen.
7.3.1 Demographie, Wohnorte und Beschäftigungsverhältnisse An der Befragung haben mehr Männer (66 %) als Frauen (34 %) teilgenommen. Diese Zahlen spiegeln in etwa das Geschlechterverhältnis in 8
Auf Zahlen der amtlichen Statistik (Mikrozensus, Beschäftigtenstatistik) kann wiederum nicht zurückgegriffen werden, da sie aufgrund der für den Dienstleistungsbereich nur wenig trennscharfen Klassifikation der Berufe keine Zahlen zu Strukturmerkmalen in den Kulturberufen und den Berufen in der Internetwirtschaft nach Strukturmerkmalen abhängiger und selbstständiger Beschäftigung, nach Geschlecht oder den Umfang der Arbeitszeiten liefert (vgl. Betzelt 2006: 8).
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der Branche wider. Die Internet-Branche kann im Vergleich zu den Kulturberufen als durchaus männlich segregiert bezeichnet werden. Der Frauenanteil liegt nach Rehberg et al. (2002: 205) in München bei rund einem Drittel. Dagegen weisen andere Kulturberufe einen überdurchschnittlich hohen Frauenanteil auf: Unter den Designern und Publizisten lag er 2003 bei 44 % bzw. 43 % (vgl. Betzelt 2006: 12). Der geringere Frauenanteil in der Internet-Branche liegt in den geschlechtsspezifisch getrennten Tätigkeitsbereichen begründet: Während Frauen vor allem im Bereich Design und Konzeption zu finden sind, sind die technischen Bereiche wie Programmierung fast ausschließlich von Männern besetzt (vgl. Rehberg/Stöger/Sträter 2002: 205). Das frühe Image der Branche, vor allem aus jungen Singles unter 30 Jahren zu bestehen, lässt sich für München nicht halten (allerdings kann es sich aufgrund der kleinen Stichprobe auch um eine systematische Verzerrung handeln). Je rund ein Viertel der Befragten befindet sich in der Altersgruppe von 29 bis 35, 36 bis 42 und 43 bis 49 Jahren. Älter als 50 sind nur rund 16 % und jünger als 28 Jahre sind nur rund 7 %. Die Hälfte der Befragten ist verheiratet oder lebt in einer eingetragenen Lebensgemeinschaft, eine feste Partnerschaft haben 16 %. 44 % der Befragten haben Kinder. Läpple und Thiel (vgl. Läpple et al. 2002: 32) haben dagegen für die Hamburger Multimediabranche durchaus eine Dominanz jüngerer Beschäftigter festgestellt: 80 % sind dort jünger als 35 Jahre. Die Münchner Befragten weisen einen hohen formalen Ausbildungsgrad auf: Über 63 % gaben als höchsten Bildungsabschluss einen Universitäts- bzw. Fachhochschulabschluss an. Auch andere Studien zu den Qualifizierungsstrukturen in der Internetwirtschaft lassen auf einen stark akademisch geprägten Beschäftigtenkreis schließen (vgl. MayerAhuja/Wolf 2005b: 76). Quereinsteiger ohne Berufsausbildung bzw. ohne ein abgeschlossenes Studium stellen inzwischen wohl die Ausnahme dar. Ein Befund, der auch durch andere Studien gestützt wird. Bis Ende der 1990er Jahre war die Internet-Branche für natur- oder geisteswissenschaftliche Studienabgänger oder Studienabbrecher ein attraktives Erwerbsfeld und sie konnten mit einem Quereinstieg noch einfacher in der Branche im Bereich Projektmanagement oder Konzeption Fuß zu fassen. Zu dieser Zeit waren die Tätigkeitsprofile und die Qualifikationsanforderungen noch so veränderlich und verschwommen, dass sich auch einschlägig qualifiziert Beschäftigte, z.B. aus der Werbung oder dem ITBereich, die für den Internetbereich notwendigen Kenntnisse „on-thejob“ erarbeiten mussten. Nach Mayer-Ahuja/Wolf (2005b: 75) wird heute dagegen bei Neueinstellungen ein Qualifikationshintergrund bevorzugt, der einen direkten Bezug zur Tätigkeit hat: Betriebswirte für 167
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
den Bereich Projektmanagement, Diplom-Informatiker für die Programmierung, diplomierte Produkt- oder Graphikdesigner für die Graphikabteilungen. Die Einkommen der Münchner Internetdienstleister streuen sehr stark zwischen ausgesprochen prekären Einkommensverhältnissen bis hin zu Spitzenverdiensten. Rund 7 % erzielen Spitzengehälter von über 91.000 Euro brutto im Jahr. In die hohen Gehaltsklassen zwischen 61.000 bis 75.900 und 76.000 bis 90.900 Euro Jahresbrutto stuften sich je rund 10 % der Befragten ein. Ein Viertel erzielt ein Jahresbruttogehalt zwischen 46.000 bis 60.900, 15.000 bis 30.000 verdienen knappe 15 %. Allerdings erreichen immerhin 13 % der Befragten lediglich ein Jahresbruttogehalt von unter 15.000 Euro. Andere Studien zu den Einkommen in den Medien-, Kunst- und Kulturberufen haben vor allem zwei Tendenzen aufgezeigt: Zum einen liegen die Einkommen in diesen Berufen unter dem, was in anderen Berufen mit einem vergleichbaren Bildungsniveau zu erzielen ist. Zum anderen schwanken die Einkommen stark und die Einkommenskontinuität ist unsicher im Vergleich zu anderen Berufen (vgl. Haak 2005: 5). Nach den Daten der Künstlersozialkasse (KSK) lag das versicherungspflichtige Jahreseinkommen von selbstständigen Kunst- und Kulturberufen 2005 durchschnittlich bei 11.091 Euro im Jahr (vgl. Betzelt 2006: 16). Im Vergleich dazu verdienen die Münchner Befragten relativ gut. Diese wesentlich besseren Verdienste sind wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass über die Hälfte der Befragten Inhaber ihres Unternehmens sind. Mehr als zwei Drittel der Befragten (68 %) wohnen im Stadtgebiet München. Auffällig ist die starke Innenstadtorientierung der Befragten: Knapp 47 % leben in der Innenstadt und in den an die Innenstadt angrenzenden Vierteln. Rund 22 % wohnen am Stadtrand und 32 % in der Region München. Diese starke Innenstadtorientierung kann einerseits mit dem Lebensstil der Befragten zusammenhängen, andererseits aber auch mit der Arbeitsweise in der Branche. Batt et al. (2001) kommen in ihrer Untersuchung über New Yorker Beschäftigte in der InternetBranche ebenfalls zu dem Ergebnis, dass sie zentral und nahe ihrer Arbeitsstellen wohnen. Auf die Rolle der lokalen Nachbarschaft und die Gründe für den Wohnstandort werde ich in Punkt 9.2 vertiefter eingehen.
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ENTGRENZTES ARBEITEN IN EINER KREATIVEN BRANCHE
7.3.2 Flexibles Arbeiten in der Branche: Arbeitszeiten und Arbeitsorte Arbeit in der Internetwirtschaft ist mit langen und variablen Arbeitszeiten verbunden (vgl. Abb. 24). Abbildung 24: Arbeitszeiten (Wie viele Stunden haben Sie in der letzten Woche gearbeitet?) ϰϬ
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Quelle: Eigene Auswertung
Teilzeit arbeiten nur sehr wenige und relativ normale Arbeitszeiten hat rund ein Drittel der Befragten, zwischen 31 bis 42 Stunden – den so genannten Normalarbeitszeiten – sind rund 36 % tätig. Die Mehrheit der Befragten widmeten mehr als 43 Stunden ihrer Erwerbsarbeit. Zudem variiert auch die Lage dieser langen Arbeitzeiten. Fast die Hälfte (47 %) der Befragten gab an, in den letzten vier Wochen an ein bis zwei Wochenenden erwerbstätig gewesen zu sein (vgl. Abb. 25). Abbildung 25: Wochenendarbeit (An wie vielen Wochenenden haben Sie im letzten Monat gearbeitet?)
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Quelle: Eigene Auswertung
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
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Quelle: Eigene Auswertung
Abbildung 26: Arbeitszeiten und Arbeitsorte (Wie häufig haben Sie in den letzten zwei Wochen zu den folgenden Zeiten und an den folgenden Orten gearbeitet?)
Fast ein Drittel arbeitete sogar an drei bis vier Wochenenden. Ebenso nützten die Befragten die Abend- und Nachtstunden für die Erwerbsarbeit (vgl. Abb. 26).
ENTGRENZTES ARBEITEN IN EINER KREATIVEN BRANCHE
Lediglich 16 % gaben an, in den letzten zwei Wochen nicht in den Abendstunden gearbeitet zu haben. Mehr als ein Drittel widmete drei bis fünf Abende der Erwerbsarbeit. Nachtarbeit ist zwar weniger verbreitet, aber immerhin knapp die Hälfte der Befragten war in den letzten zwei Wochen mindestens ein bis zu fünf Mal nach 22 Uhr erwerbstätig. Ebenso wie ehemals für die Mehrzahl von Beschäftigten erwerbsfreie Zeiten wie Abende, Nächte oder Wochenenden von den Befragten für die Erwerbsarbeit genutzt werden, wird auch in Räumen wie der Wohnung, in Kneipen oder in Verkehrsmitteln gearbeitet (vgl. Abb. 26). So gaben drei Viertel der Befragten an, mindestens einmal in einem Zeitraum von zwei Wochen zu Hause gearbeitet zu haben. Knapp 30 % scheinen dies regelmäßig zu tun: Sie gaben an, mehr als sechs Mal in einem Zeitraum von zwei Wochen zu Hause gearbeitet zu haben. Halböffentliche und öffentliche Orte wie Restaurants oder Cafés werden dagegen noch weniger als die Wohnung für die Erwerbsarbeit genutzt: 17 % gaben an, wenigstens ein Mal in einem Zeitraum von zwei Wochen dort gearbeitet zu haben. In der Internet-Branche findet Arbeit nicht nur am eigenen Schreibtisch statt: Fast die Hälfte der Befragten ist zumindest gelegentlich bei Kunden tätig. Auch die Zeit in Transiträumen wie Flughäfen, Bahnhöfe oder im Zug oder Flugzeug lassen die Befragten nicht untätig verstreichen: So gaben 17 % an, gelegentlich an diesen Orten zu arbeiten. Die langen Arbeitszeiten und vor allem auch die Lage der Arbeitszeiten sowie die angebenen Arbeitsorte deuten auf Entgrenzungstendenzen in der Branche hin. Die Gründe für diese flexiblen Arbeitszeiten und Arbeitsorte sind Thema des nächsten Abschnitts.
7 . 4 E i n e An a l ys e d e r Ar b e i t s o r g a n i s a t i o n : P r o j e k t a r b e i t u n d e n t g r e n z t e s Ar b e i t e n Die Entgrenzungstendenzen hängen stark mit der Arbeitsorganisation in der Branche zusammen, wobei Projektarbeit das bestimmende Element der Arbeitsabläufe und der Arbeitsorganisation ist. Projektarbeit war in bestimmten Bereichen immer schon bedeutsam, z.B. in der Bauindustrie. Ebenso ist die Organisation der Arbeit in Form von Projekten in Branchen wie der High-Tech-Industrie oder der Unternehmensberatung mittlerweile Standard. Insgesamt wird in den letzten Jahren eine branchenübergreifende Zunahme projektartiger Zusammenarbeit festgestellt (vgl. Manning/Sydow 2005: 185). Mit der Zunahme wächst auch
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
das wissenschaftliche Interesse an dieser Arbeitsorganisation.9 Während das arbeitssoziologische Forschungsinteresse auf der Frage liegt, welche Entgrenzungstendenzen und Flexibilitätspotentiale mit der Ausbreitung von Projektarbeit im Bereich wissensintensiver Dienstleistungsarbeit verbunden sind, fragt die Wirtschaftgeographie danach, ob die Organisation von Arbeit in Projekten, Unternehmen als Ausgangspunkt ökonomischer Prozesse in Frage stellt, da Projekte Firmengrenzen in der Regel überschreiten und auf interpersoneller Ebene organisiert sind. Projektarbeit kann definiert werden als: „Zeitlich begrenzte, häufig Unternehmensgrenzen überschreitende Zusammenarbeit verschiedener Spezialisten und Dienstleister mit dem Ziel, eine von den Kunden vorgegebene Aufgabenstellung innerhalb eines feststehenden Zeitrahmens auszuführen. Termingerechte Koordination und Kommunikation zwischen Fachleuten und Dienstleistern untereinander sowie mit den Kunden erfolgen im Allgemeinen über Projektleiter.“ (Bathelt/Jentsch 2004: 44)
In der Literatur werden als Vorteile der Projektarbeit die Reduktion der Kosten und des Risikos (vgl. Ekinsmyth 2002; Grabher 2002c), sowie die Erhöhung der Flexibilität und Kreativität genannt. Projekte seien als Organisationsform geeignet, der steigenden Komplexität von Produkten und Dienstleistungen und der rapiden Veränderung von Märkten und der zunehmenden Unsicherheit zu begegnen (vgl. Bathelt/Jentsch 2004: 45). In der Internet-Branche wird diese Form der Arbeitsorganisation vor allem auf die Nähe zum Kunden und die je nach Kundenwunsch speziell zu erarbeitende Lösung bei der Erstellung der Produkte und Dienstleistungen zurückgeführt (vgl. Mayer-Ahuja/Wolf 2004: 83). Projekte haben einen vorgegebenen Zeithorizont; Sie enden, wenn eine bestimmte Aufgabe gelöst oder ein Ziel, wie z.B. das Erstellen einer Webseite, erreicht ist. In diesem Punkt unterscheiden sich Projekte maßgeblich von anderen stabileren Organisationsformen wie Unternehmen oder auch Netzwerken, in denen die Zusammenarbeit auf dauerhaften Zielsystemen und Verpflichtungen beruht (vgl. Bathelt/Jentsch 2004: 45).
7.4.1 Tätigkeitsprofile und Projektablauf Da die Produkte und Dienstleistungen der Internet-Branche durch eine Kombination von Informationstechnologien, Telekommunikation, Wer9
Für die Film- und Fernsehbranche vgl. Manning/Sydow 2005, für die Werbung und Softwarebranche vgl. Grabher 2002b und Bathelt/Jentsch 2004.
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ENTGRENZTES ARBEITEN IN EINER KREATIVEN BRANCHE
bung und Medien entstehen, existiert eine ausgeprägte horizontale Arbeitsteilung. So lassen sich in der Branche drei relativ klar abgegrenzte Tätigkeitsprofile festmachen: Der Kreativbereich, der Bereich der Softwareentwicklung, sowie ein Planungs- und Kontrollbereich, also das Projektmanagement. Die starke horizontale Arbeitsteilung begünstigt zum einen die Arbeitsorganisation in Projekten, zum anderen beinhaltet sie die Möglichkeit, dass Firmen relativ unkompliziert einzelne Tätigkeitsbereiche an Selbstständige vergeben können (vgl. Abb. 27) Abbildung 27: Tätigkeitsbereiche bei der Erstellung einer Internetseite
Text
Übersetzung
Konzeption
Graphikdesign
Kreativer Bereich
Koordina-
Projektmanagement:
tion
Marketing und Vertrieb, Controlling
Software
Content
Entwicklung
Management
Technischer Bereich
Quelle: Eigene Darstellung
Der kreative Bereich befasst sich mit der inhaltlichen Konzeption, sowie mit der graphischen Umsetzung und dem Design. Designer und Konzepter arbeiten hier an der Grundidee und Grobfassung des Inhalts sowie seiner graphischen Darstellung. Sie legen fest, was z.B. mit einer Webseite gesagt und wie dies umgesetzt werden soll. Als weiteren Baustein liefern häufig Texter und Texterinnen (eventuell auch Übersetzer) das Textmaterial. Im Bereich Softwarentwicklung sind Systemarchitekten, Programmiererinnen und Entwickler mit verschiedenen Programmierungen und mit der Entwicklung von Datenbanken sowie von Contentmanagement-Systemen befasst. Dies ist der größte und aufgrund der sich rapide verändernden Programmiersprachen stetig expandierende Bereich, der sich immer mehr ausdifferenziert. Die Koordination dieser verschiedenen Bereiche sowie die Vertriebs-, Planungs- und Kontrollfunktionen erfolgen durch das Projektmanagement. Projektmanager und 173
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
-managerinnen übernehmen zudem die Kundenbetreuung. Ihre Tätigkeit kombiniert die Kundenbetreuung mit internen Organisationsaufgaben (vgl. Mayer-Ahuja & Wolf 2004: 83 ff.).10 Alleinselbstständige übernehmen im Projektablauf entweder die Projektmanagerrolle und koordinieren weitere hinzugezogene selbstständige Programmierer oder Graphiker, oder werden selbst als freie Mitarbeiter zu einem Projekt für ein bestimmtes Aufgabenfeld hinzugenommen. Sie agieren also entweder als Agenturen, die komplette Online-Dienstleistungen aus einer Hand anbieten und je nach eigenem Tätigkeitsfeld entweder die Programmierung oder das Design nach außen vergeben, oder als Zulieferer für größere Projekte. Während auch noch in den Boomphasen vielfach eine Website von einer einzigen Person konzipiert, gestaltet und programmiert wurde, sind diese Zeiten des ‚Alleskönnens‘ und ‚Allesdürfens‘ inzwischen vorbei und die einzelnen Bereiche werden von Spezialisten übernommen (vgl. MayerAhuja/Wolf 2004). Auch die Selbstständigen dieser Studie, die am Markt als Agentur auftreten, geben die Programmierung an Spezialisten weiter, selbst wenn es sich um wenig komplexe Webseiten für kleine und mittelständische Kunden handelt. Ein prototypisches Projekt besteht z.B. bei der Produktion einer Internetseite aus mehreren Phasen: Das Projekt beginnt in der Regel mit einer Kundenanfrage oder der Aufforderung, ein Angebot abzugeben. Nun folgt ein Briefing, in dem geklärt wird, was der Kunde sich vorstellt. Der nächste Schritt ist die Präsentation eines Rohentwurfs, die im Erfolgsfall nach mehreren Rücksprachen mit den Kunden in einen Vertragsabschluss mündet. Darauf erfolgt die eigentliche Konzeption einschließlich der graphisch-visuellen Basisidee, den Inhalten und dem technischen Rahmen sowie der Kommunikationsstrategie. Diese Grundidee wird wiederum dem Kunden präsentiert und mit ihm besprochen. Im Anschluss daran erfolgt die Ausarbeitung und es wird ein Prototyp konstruiert. In der umfangreichsten Phase erfolgt die Implementierung der Seite: Nun werden Texte verfasst, es erfolgen die Frontend- und Anwendungsprogrammierung und die ersten Testläufe, der Kunde wird in die Seite eingewiesen und erhält unter Umständen ein Training, um die Seite bedienen zu können. Diese typischen Projektphasen können variieren, da sich Projektarbeit durch immer wiederkehrende Wiederholungen und Zurückspringen in frühere Phasen auszeichnet. Typisch ist 10 Das Sample spiegelt die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche wider (vgl. Kapitel 8). Dies hat sich als sinnvoll herausgestellt, da mit den unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen auch vielfach unterschiedliche Berufsorientierungen einhergehen, die in Hinblick auf eine Trennung von Arbeit und übrigen Lebensbereichen bedeutsam sind. 174
ENTGRENZTES ARBEITEN IN EINER KREATIVEN BRANCHE
die starke Einbeziehung der Kunden in den Prozess der Entwicklung. Je weiter die Entwicklung der Webseite voranschreitet, um so mehr lernen die Kunden, was möglich ist (vgl. Girard & Stark 2002: 1939). Diese Kundennähe hat Auswirkungen auf die Arbeitszeiten.
7.4.2 Entgrenzung von Arbeitszeiten Entgrenzung in zeitlicher Hinsicht bedeutet, dass die Unterscheidung zwischen Arbeitszeit und Freizeit verschwimmt und sich Arbeitszeiten und private Zeiten vermischen. Bei fast allen befragten Selbstständigen weicht die Lage und Dauer der Arbeitszeit deutlich vom so genannten Normalarbeitstag ab. Etliche der Befragten arbeiten zwischen 50 und 60 Stunden in der Woche, wenn vor- und nachgelagerte Tätigkeiten wie Recherchearbeiten, Weiterbildung, Steuer und Netzwerkpflege etc. zur Arbeitszeit gezählt werden. Allerdings haben einige der Befragten mit Kindern ihre Arbeitszeit reduziert und sind zwischen 20 und 30 Stunden erwerbstätig. Folglich ist es nicht die Dauer, sondern vielmehr die Lage und vor allem die Variabilität, durch die sich ihre Arbeitszeiten deutlich vom Normalarbeitstag unterscheiden. So arbeiten die meisten der Befragten regelmäßig am Wochenende, an Feiertagen und am Abend. Selbst die Frauen mit Kindern, die aufgrund von Kinderbetreuungsaufgaben ihre Arbeitszeit reduziert haben, arbeiten flexibel an den Abenden oder Wochenenden, wenn die Auftragslage es erfordert. Die flexiblen Arbeitszeiten haben mehrere strukturelle Ursachen, die mit der Arbeitsorganisation in Verbindung gebracht werden können. Selbstständige sind vielfach unmittelbar von der Auftragslage abhängig und können es sich aus wirtschaftlichen Gründen oftmals nicht leisten, Aufträge abzulehnen, selbst wenn für einen weiteren Auftrag keine Zeitressourcen vorhanden sind. Dann kommt es zu Phasen hoher Arbeitsdichte, in denen die Erwerbsarbeit die gesamte Alltagsorganisation beeinflusst: „Und dann wird nicht mehr toll gekocht, dann treffe ich zum Teil niemanden mehr, weil ich einfach keine Zeit habe. Es gibt nur noch duschen, schlafen, schnell was reinschieben und schnell arbeiten und eine Weile geht es auch.“ (Katja Golz, Graphikdesign)
Diese Phasen starker Auslastung mit mehreren Projekten und einem hohem Arbeitsanfall, der durch lange Arbeitszeiten bis in die Nacht hinein und Wochenendarbeit bewältigt wird, wechselt sich mit Phasen mit geringem Auftragsvolumen ab. 175
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Eine Interviewpartnerin beschreibt zwei typische Arbeitstage je nach Auftragslage folgendermaßen: „Also das sind die zwei Extreme, zwischen denen pendelt man. Das eine ist so mit regulären Pausen, so um neun Uhr gemütlich anfangen und um 18 Uhr den Stift fallen lassen. Das ist, wenn wenige Aufträge sind. Wenn viel Aufträge sind, dann ist wirklich schon morgens vor dem Frühstück hinsetzen, und wirklich bis abends pausenlos durcharbeiten, schnell essen aus der Hand und oft danach noch weiter. Also ich pendle zwischen Auftragslage hin und her… Aber ja, meist wechselt es nicht von Tag zu Tag, sondern das sind Phasen… .“ (Laura Kurz, Graphikdesign)
Eine wichtige Rolle für die Entgrenzung von Arbeitszeiten spielen die Kunden. So ist eine Konsequenz der Nischenproduktion und der Nähe zum Kunden, dass der Arbeitsaufwand zu Beginn des Projektes nicht hinreichend eingeschätzt werden kann (vgl. Perrons 2003: 138). Vielfach werden die Projekte erst gemeinsam mit dem Kunden entwickelt und die Kundenwünsche verändern sich während des Projektes. Auf diese Weise tragen Kunden durch die Veränderungen der Anforderungen und Zeitpläne sowie durch zu eng gesetzte Termine zu den unregelmäßigen Arbeitszeiten bei. „Flexibilität ist absolut notwendig. Wir können uns unsere Kunden nicht raussuchen. Es gibt Kunden, die sind unglaublich strukturiert …, die können sehr gut planen. Und es gibt Kunden, da ist es immer chaotisch, unabhängig von der Rolle, die wir dann spielen. Ich versuche dann wieder, Struktur rein zu bringen und irgendwann merkt man, ist es wieder so, dass die Termine zu kurzfristig gesetzt sind, dass man die angestrebten Ziele mit einem normalen Arbeitstag nicht erreicht und dann ist es echt schwierig zu sagen, sorry, ja, haben wir falsch geplant… ich meine, dafür bezahlen sie uns auch, dass wir da helfen, ihr Chaos zu sortieren.“ (Florian Hardt, Internetanwendungen)
Die Beschäftigten können sich die Zeit innerhalb der Projektabläufe allerdings nicht frei einteilen: So sind die wochen- oder monatelangen Projektlaufzeiten immer wieder von Rückspracheterminen beim Kunden und durch festgelegte Meilensteine unterbrochen. Zudem muss eine regelmäßige Abstimmung zwischen den Mitgliedern des Projektteams erfolgen. Innerhalb des Projektablaufes wird von vielen Befragten die Phase bis zur ersten Präsentation vor dem Kunden als die arbeitsintensivste beschrieben, da diese Präsentation häufig in Abend- oder Nachtarbeit noch ihren letzten Schliff erhält. Speziell für Selbstständige gilt, dass sie häufig erst von Agenturen Unteraufträge erhalten und zu Projekten hinzugezogen werden, wenn 176
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der Zeitplan von der Agentur nicht mehr eingehalten werden kann. Da hier häufig ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis in der Form besteht, dass die Selbstständigen auf Agentur-Aufträge angewiesen sind, müssen dann in sehr kurzer Zeit Ergebnisse präsentiert werden. Zu der Arbeitszeit für Projekte kommt bei den Selbstständigen noch die Zeit, die sie für ihre eigene Weiterbildung sowie für die Pflege von Kontakten investieren. Dennoch können die Selbstständigen ihr Arbeits- und Privatleben zeitlich nicht völlig individuell vereinbaren. So ist bei den Befragten durchaus eine Orientierung an den Kernarbeitszeiten festzustellen: Erstens, um den Kunden eine verlässliche und direkte Ansprache bieten zu können, und zweitens, um auch für weitere Projektpartner erreichbar zu sein. Allerdings muss an dieser Stelle bereits betont werden, dass sich die Lage und Dauer der Arbeitszeiten nicht nur aus den Anforderungen aus der Erwerbsarbeit, sondern auch aus dem Privatleben ergeben. Welche Strategien die Befragten im Umgang mit diesen zum Teil widerstreitenden Anforderungen entwickeln ist Thema des Kapitels 8.
7.4.3 Entgrenzung von Arbeitsorten: Face-to-face vs. virtuell Auf betrieblicher Ebene lassen sich in der Branche zwei Entgrenzungstendenzen feststellen: Durch die Arbeitsorganisation in Projekten werden häufig Firmengrenzen überschritten. Dies ist z.B. der Fall, wenn Unteraufträge an Selbstständige ausgelagert werden. So genannte virtuelle Unternehmen entstehen dann, wenn Selbstständige als Agentur am Markt auftreten und sich zur Auftragsabwicklung mit weiteren Selbstständigen zusammenschließen (vgl. Kapitel 2.2.3). In beiden Fällen sitzen die einzelnen Projektpartner nicht zwangsläufig am gleichen Ort und kommunizieren vielfach in der Hauptsache über Telefon und Internet. Dennoch ist die Tätigkeit der Internetdienstleister nicht ortsunabhängig, sondern immer noch an reale, tendenziell (inner-) städtische Standorte gebunden, wie es sich in den Standortmustern der Agenturen auch niederschlägt (vgl. Kapitel 7.2.2). Im Verlauf von Projekten verändern sich die räumlichen Arbeitsbezüge und der Bedarf an face-to-face-Kontakten variiert, wird aber insbesondere in der Anfangsphase von den befragten Selbstständigen als sehr wichtig angesehen. Gerade zu Beginn eines Projektes zeichnet sich ihre Tätigkeit durch eine hohen Beratungsanteil aus, da die Kunden oftmals nicht wissen, was technisch oder gestalterisch machbar ist, oder
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was sie genau wollen. Ebenso halten die meisten der Befragten es für wichtig, die erste Präsentation vor Ort beim Kunden durchzuführen. „Also so Briefings, also zusammen erarbeiten, was möchte der Kunde kommunizieren, das geht nicht übers Telefon, da muss man schon zusammen sitzen. Weil der Kunde kennt sein Geschäft am besten, und nur so kann ich ihm helfen zu visualisieren, was er braucht… und ich frage dabei noch viel und erkläre noch viel: was muss erzählt werden, was sind die Rahmenbedingungen, das ist sehr wichtig, um eine Basis zu finden.“ (Katja Golz, Graphikdesign)
Auch ein Treffen der unterschiedlichen Projektteilnehmer wird in dieser Phase als wichtig empfunden: „Also erstes Treffen finde ich immer wichtig, bei dem man eine Richtung festlegt oder eben auch die Gesamtkonzeption entwickelt. Also das geht nicht per Email oder Telefon. Also da muss man wirklich zusammensitzen und denken und schwitzen und hören und ausquetschen. Und da ist es wichtig persönlichen Kontakt zu haben.“ (Nicole Holm, Graphikdesign)
Im Laufe des Projektes nimmt die Bedeutung persönlicher Treffen immer mehr ab: Korrekturen werden per Email verschickt und am Telefon besprochen. Als Tenor der Interviews lässt sich festhalten, dass Treffen desto unwichtiger werden, je vertrauter sich die Projektteilnehmer sind und je häufiger bereits mit einem bestimmten Kunden zusammengearbeitet wurde. Falls sich Kunden und Projektpartner bereits kennen, werden Projekte in Einzelfällen auch komplett über Telefon und Email abgewickelt, ohne dass es zu einem einzigen persönlichen Treffen kommt. Das hierfür notwendige Vertrauen wurde aber bereits vorher durch mehrfache Zusammenarbeit hergestellt. Dieses Vertrauen spielt auch bei der Auswahl der Projektpartner eine maßgebliche Rolle (für die Werbebranche vgl. Bathelt/Jentsch 2004: 48). Räumliche Nähe in der Stadt zwischen Selbstständigen, Agenturen und Kunden spielt auch aus anderen Gründen eine Rolle. So wird von einigen Befragten die räumliche Nähe als Vorteil gesehen, da sie faceto-face-Kontakte erleichtert, was bei Zeitdruck und erhöhtem Abstimmungsbedarf wichtig werden kann. Zwar nutzen viele der Befragten das Internet, um sich über neue Programme oder neue Entwicklungen in der Branche zu informieren, reale Treffen spielen aber mindestens eine ebenso große Rolle. Cluster bieten diese geplanten und ungeplanten Möglichkeiten zum Informationsaustausch und für Lernprozesse. Grabher spricht in diesem Zusammenhang von „local communities of 178
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practice“ (vgl. Grabher 2002a: 209), die es den Beteiligten ermöglichen, ein Netzwerk an Kontakten aufzubauen und den Habitus der Branche zu erlernen. Vor Ort zu sein, sich auf Branchentreffen zu zeigen, wird von den Befragten als wichtiger Faktor genannt im Geschäft zu bleiben. „Das ist nämlich der wichtige Punkt… meine sozialen Kontakte, wie z.B. der Mittagstisch [Treffen von Medienschaffenden]. Wenn ich im S-Bahnbereich wohnen würde, dann würde ich nicht so oft zum Mittagstisch kommen, oder überhaupt zu anderen Meetings, oder Stammtischen, oder wie auch immer. Damit wäre auch meine Auftragslage sehr, sehr schnell wieder flach und das merkt man dann auch richtig. Ich mein, ich geh da jetzt nicht immer hin, um Aufträge zu bekommen. Aber das ist wirklich ein Faktor, wenn man sich abnabelt, oder wenn man mal für längere Zeit krank ist, schläft es richtig ein. Oder wenn man länger im Urlaub wäre, oder ist, dann ist das genauso wie rausziehen. Man muss auch ständig Leute kennen lernen und offen sein für Neues, der auch die Aufträge hat, so zu sagen, das ist ein wichtiger Faktor.“ (Laura Kurz, Graphikdesign)
Vor Ort – also im Fall der Befragten in München – zu wohnen stellt eine Ressource dar, die es ermöglicht, auf dem schnell wechselnden Arbeitsmarkt präsent zu sein. Zudem finden es viele der Befragten wichtig, in der Nähe des Arbeitsplatzes zu wohnen. Hier spielen sowohl das Anregungspotenzial der Stadt, das zu neuen kreativen Ideen verhilft, wie auch die Minimierung von Wegezeiten, die aufgrund der langen und unregelmäßigen Arbeitszeiten angestrebt wird, eine Rolle. Auf die individuellen Arbeitsorte der Befragten wird in Kapitel 8.6 eingegangen.
7.4.4 Soziale Entgrenzung: Netzwerkarbeitsmarkt Um sich am Markt behaupten zu können, sind soziale Kontakte und die Zugehörigkeit zu Netzwerken für die Selbstständigen sehr bedeutsam. Dies begünstigt eine Vermischung beruflicher und sozialer Beziehungen bzw. eine Kommodifizierung sozialer Kontakte. Da der Zugang zum Markt in der Internet-Branche nur sehr bedingt über Zertifikate geregelt ist, kommen Kontakte zu neuen Kunden hauptsächlich über Empfehlungen und vorhergegangene Kooperationsbeziehungen zu Stande. Hier ist ein Berührungspunkt zu Künstlerarbeitsmärkten zu sehen, da auch dort die Zugangswege nicht professionalisiert sind, also weniger Berufsbezeichnungen, sondern vielmehr Ruf, Vertrauen und Kommunikation eine wichtige Rolle spielen (vgl. Haak/Schmid 1999: 165). Folglich stellt Reputation (oder Status, Ruf) für die Selbstständigen eine wichtige Ressource dar. Die Reputation beruht im We179
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sentlichen auf der reproduzierten Einordnung und Bewertung einer Leistung in bestimmten Handlungskontexten (Manning/Sydow 2005: 194) und spiegelt die Erwartungen an die Fähigkeiten eines Akteurs mehr oder weniger wieder. Der Ursprung der Reputation können einerseits zertifizierte Qualifikationen und andererseits Empfehlungen und Referenzen sein. Die (Re-)Produktion der Reputation eines Akteurs hängt davon ab, wie seine Projekte und Aktivitäten, aber auch seine Kontakte mit anderen Akteuren bewertet werden. Diese wichtige Rolle von Vertrauen, Reputation und Kommunikation lässt sich für die Untersuchungsgruppe bestätigen. Tatsächlich betreibt kaum einer der Befragten aktiv Akquisition, schaltet also Anzeigen oder spricht von sich aus unbekannte potentielle Kunden an. Diese Vorgehensweise wird als wenig erfolgversprechend erachtet. Kontakte zu neuen Kunden kommen fast ausschließlich über Kooperationsbeziehungen z.B. durch Kontakte bei einem früheren Arbeitgeber oder persönliche Empfehlungen zu Stande. „Das funktioniert eigentlich alles nur mit Beziehungen von Leuten, mit denen ich schon gut zusammengearbeitet hatte… die Leute kommen auf mich zu und sagen: he, ich hab gehört, du machst das und das, und kannst du nicht? Und sie sehen dann: OK, die ist verlässlich, die macht gute Arbeit, die werden wir weiterempfehlen, oder noch mal verwenden. So kommt man an Kunden, indem man eigentlich seine eigenen Kunden zufrieden stellt und die einen dann empfehlen.“ (Sonja Kerner, Graphikdesign)
Diese wichtige Rolle von Reputation birgt aber auch Risiken. Läuft ein Projekt schlecht, so wird auch dies in der Branche bekannt und die Betroffenen müssen ihren Ruf erst wieder herstellen: „Also ich habe jetzt selbst die Erfahrung gemacht, wenn ich von jemand höre, den ich empfohlen habe, und der macht das schlecht, dann bin ich natürlich enttäuscht und empfehle ihn nicht weiter, wenn das berechtigt ist. Und das führt halt dazu, dass man das nicht mehr macht. Andererseits wiederum, wenn ich gute Erfahrung mache, verkaufe ich die Leute unendlich oft. Empfehle die weiter und die werden dann wieder weiter empfohlen. Also gute Qualität wird ständig den Leuten weiter empfohlen.“ (Erich Lang, Internet-Anwendungen)
Alle Befragten betreiben eine aktive Gestaltung von Kontakten zu Kolleginnen und Kollegen z.B. über Kontakte, die seit dem Studium oder früherer gemeinsamer Zusammenarbeit in einer Agentur bestehen. Oder sie nutzen Berufsverbände oder andere berufliche Zusammenschlüsse zur Herstellung ihres professionellen Netzwerkes. Neben der Vermittlung von Aufträgen werden diese Kontakte für die Weitergabe 180
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von Informationen über die Branche sowie zur Diskussion fachlicher Probleme genutzt.11 Diese Netzwerkpflege kostet allerdings auch viel Zeit und Energie. Sie erfordert es, auf den richtigen Veranstaltungen, Events und Partys präsent zu sein und die richtigen Kontakte zu suchen (vgl. Jarvis/Pratt 2006: 335). Diese Kontaktpflege wird umso schwieriger, je älter die Individuen werden oder wenn Kinder da sind. Die Befragten, die alleine für die Betreuung von kleinen Kindern zuständig sind, gaben an, diese aktive Netzwerkpflege nicht leisten zu können und sehen dies als negativ für ihre Auftragslage. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Selbstständige kontinuierlich ihre Reputation stärken, beständige neue Kontakte knüpfen und bestehende pflegen müssen, um ihre Beschäftigung in der Internet-Branche zu sichern. Netzwerke spielen dabei sowohl als Ressource wie auch als Infrastruktur für die Selbstständigen eine wichtige Rolle. Für die Individuen hat die flexible Arbeitsorganisation ebenso wie die kontinuierliche Netzwerkarbeit zeitliche und soziale Entrgrenzungsprozesse zur Folge. Für Firmen und Agenturen hat die Entgrenzung auf betrieblicher Ebene positive Effekte: Durch die Auslagerung von Tätigkeiten an Selbstständige können Unternehmen besser auf Marktveränderungen oder Kostendruck reagieren, indem sie ihn an die Selbstständigen weitergeben oder sie nicht weiterbeschäftigen. Selbstständige werden zur Flexibilitätsreserve für Agenturen. Lediglich die ‚Stars‘ – die in der Regel sehr gute Programmierer mit Spezialkenntnissen sind – haben auch als Selbstständige eine sehr gute Marktposition, die sie relativ unabhängig von Agenturen macht. Wirtschaftsgeographische Untersuchungen betrachten untraded interdependenciesǰ wie sie durch Netzwerke in Clustern zwischen Firmen und Selbstständigen ausgetauscht werden, als freie Güter. Durch die vielfältigen Kontakte innerhalb des Clusters und indem Projektteams immer wieder neu zusammengesetzt und dabei Firmengrenzen überschritten werden, kommt es zu Lerneffekten, die der Produktivität der Firmen zu Gute kommen. Dabei bleibt unbeachtet, dass die vermeintlichen Kosteneinsparungen der Firmen durch flexible Arbeitspraktiken wie Projektarbeit und den Einsatz von freien Mitarbeitern sehr wohl 11 Empirische Untersuchungen über die Internet-Branche in anderen Städten heben ebenso die Bedeutung von Netzwerken, deren Knotenpunkte persönliche Kontakte und Berufsverbände bilden, für die Sicherung der Beschäftigung hervor (vgl. Batt et al. 2001 für New York, Pratt 2000 für San Francisco). Henniger/Gottschall (2005) kommen in ihrer Untersuchung über Selbstständige im Medien- und Kulturbereich zu ähnlichen Ergebnissen. 181
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
andere Kosten verursachen. Diese Kosten werden von den Beschäftigten entweder durch kostenlose Mehrarbeit, z.B. in Form von Netzwerkarbeit oder eigener Weiterbildung getragen, oder durch eine Substitution von Arbeitskraft für die alltäglichen Tätigkeiten zu Hause, sei es in Form von bezahltem Hauspersonal oder durch den Partner oder der Partnerin. Es kommt also auch zu einer Entgrenzung in der Hinsicht, dass ökonomische Beziehungen über soziale Beziehungen z.B. in der Familie abgefedert werden (vgl. dazu auch Jarvis/Pratt 2005: 335). Diese versteckten Kosten sind in der Wirtschaftsgeographie bisher nicht zur Kenntnis genommen worden. Die relationale Perspektive in der Wirtschaftsgeographie (vgl. Bathelt/Glückler 2002) erkennt zwar an, dass ökonomisches Handeln immer situiert und in soziale Beziehungen eingebettet ist, betrachtet aber nur einseitig soziale Beziehungen im ökonomischen Bereich. Kosten, die im ökonomischen Bereich entstehen, aber von Individuen im alltäglichen Leben getragen werden müssen, bleiben dann unberücksichtigt.
7.5 Pfade in die Selbstständigkeit Die entgrenzten Arbeitsbedingungen in der Branche haben bei meiner Untersuchungsgruppe in erheblichem Maße zu der Entscheidung beigetragen, sich selbstständig zu machen. So ist wichtiges Gründungsmotiv von Frauen mit Kindern die bessere Vereinbarkeit der selbstständigen Tätigkeit mit der Kinderbetreuung. Insbesondere Graphikerinnen sehen es aufgrund der Arbeitsbedingungen in Agenturen als unmöglich an, Familie und Beruf in einer Festanstellung zu verbinden. Die starke Unzufriedenheit mit den entgrenzten Arbeitsbedingungen in Agenturen ist vor allem ein häufiges Gründungsmotiv der befragten Graphiker und Designer: Fehlende Möglichkeiten zur beruflichen Fortentwicklung, schlechte Bezahlung bei extrem langen und flexiblen Arbeitszeiten sowie der Wunsch nach selbstbestimmtem Arbeiten und zeitlicher und räumlicher Selbstbestimmung gaben den Ausschlag, die vorhandene Berufserfahrung für sich selbst zu nützen und den Hierarchien und zum Teil ‚ausbeuterischen‘ Arbeitsbedingungen einer Festanstellung zu entkommen. Grundsätzlich können aus berufsbiographischer Perspektive zwei Wege unterschieden werden: So gibt es eine Gruppe, bei der die Selbstständigkeit eine bewusste und geplante Entscheidung darstellt, und eine wesentlich kleinere Gruppe, die aufgrund einer Kündigung oder der
182
ENTGRENZTES ARBEITEN IN EINER KREATIVEN BRANCHE
familiären Situation keine andere Möglichkeit sah, als selbstständig tätig zu werden. Drei der Befragten haben während ihres Studiums bereits eine Firma gegründet, die sie inzwischen mit mehreren Mitarbeitern führen. Eine Angestelltentätigkeit kam für sie nie in Frage. Ähnlich verhält es sich mit einigen Befragten, die im Bereich Graphik und Design tätig sind. Sie waren während ihres Studiums frei für Agenturen tätig und wollten auch nach Studienabschluss diese Form des Arbeitens beibehalten. Lediglich drei Interviewpartner gaben an, sich ‚aus Not‘, also um der (drohenden) Arbeitslosigkeit zu entkommen, selbstständig gemacht zu haben. Doch auch sie betrachten die Selbstständigkeit mittlerweile nicht nur als Notlösung, sondern auch als Chance auf selbstbestimmteres Arbeiten. Ein wichtiger Aspekt für viele Interviewpartner war die mit der Selbstständigkeit verbundene Autonomie bei der Zeitgestaltung, den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen sowie der Auswahl der Aufträge und Kooperationspartner. Zudem betonten viele Interviewpartner, dass ihnen die freiere Zeiteinteilung ihnen eine flexiblere Verbindung von Erwerbsarbeit und Privatleben erlaubt. Wie gestalten nun meine Interviewpartner ihren Alltag?
183
8 ENTGRENZUNG UND GRENZEN ZIEHEN: D E R A L L T AG S E L B S T S T ÄN D I G E R INTERNETDIENSTLEISTER
Die Arbeitsbedingungen in der Internet-Branche können durchaus als entgrenzt bezeichnet werden. Die Projektarbeit sowie die in der Regel schwankenden Auftragsvolumina und die Arbeitsverdichtung bei engen Terminen stellen hohe Anforderungen an die Befragten. Welche Konsequenzen haben diese entgrenzten Arbeitsbedingungen für die Alltagsgestaltung der Betroffenen? Führen diese beruflichen Anforderungen zwangsläufig zu einem Alltag, in dem keine Grenzen mehr zwischen Beruf und Privatleben bestehen? Ohne Zweifel arbeiten alle befragten Selbstständigen aufgrund der langen und unregelmäßigen Arbeitszeiten und der hohen Flexibilitätsansprüche, die aus der Arbeitsorganisation in der Branche resultieren, mehr oder minder ‚entgrenzt‘, wenn das Normalarbeitsverhältnis als Referenzfolie zu Grunde gelegt wird. Zudem weisen fast alle Befragten eine ausgeprägte Berufsorientierung und eine starke Identifikation mit ihrer Tätigkeit auf, die zu einer Entgrenzung zwischen Berufs- und Privatperson führen könnte. Stellt man jedoch die Frage, wie stark die Befragten in ihrem Alltag zwischen Erwerbs- und Privatleben trennen, so zeigt sich, dass trotz ähnlicher Arbeitsbedingungen sehr unterschiedliche Formen der Alltagsgestaltung bestehen. Entgrenztes Arbeiten führt also nicht zwangsläufig zu entgrenztem Leben. Die Formen der Alltagsgestaltung unterscheiden sich vor allem darin, wie stark die Befragten zwischen Privatleben und Beruf trennen. In ihrem Alltag stellen die Befragten diese Trennungen
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
oder Vermischungen vor allem über räumliche und zeitliche Praktiken her. Ich werde mich im Folgenden vor allem der Frage zuwenden, wie stark die Befragten zwischen Erwerbs- und Privatleben trennen und mit welchen räumlichen und zeitlichen Praktiken sie diese Trennungen oder Vermischung herstellen und wie flexibel sie den Übergang zwischen ihrem Privatleben und ihrer Erwerbstätigkeit handhaben. Ich werde also Lebensführung vor allem unter dem Aspekt des Verhältnisses von Erwerbsarbeit und Privatleben thematisieren. Bevor ich die verschiedenen Alltagsformen detailliert und systematisch beschreibe, möchte ich zunächst auf die zentralen Kategorien eingehen, die ich zur Bildung der empirisch beobachtbaren Alltagsarrangements verwendet habe.
8 . 1 Al l t a g s a r r a n g e m e n t s u n d d i e K a t e g o r i e n z u ihrer Beschreibung Menschen trennen weder vollkommen zwischen ihrem Privatleben und ihrer Erwerbsarbeit, noch vermischen sie diese beiden Lebensbereiche komplett. Idealtypisch kann man sich die Trennung zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben als Kontinuum zwischen den beiden Extremen der vollkommenen Vermischung und der kompletten Separation vorstellen. Für die Beschreibung der Hauptgruppen der Lebens- und Arbeitsgestaltung verwende ich folgende Dimensionsbereiche bzw. Kategorien: Der Umgang mit Zeit, der Umgang mit Raum, das Verhältnis der Lebensbereiche zueinander, die Inhalte der Lebensbereiche, Motive, Orientierungen sowie Partnerschaft und Familie. Nach vollzogener Auswertung erwies sich die Kategorie Motive/Orientierungen als entscheidendes Merkmal zur Differenzierung der Alltagsarrangements. Als Referenzfolie lege ich stets das so genannte Normalarbeitsverhältnis zu Grunde. Bei den Formen der Lebensgestaltung und den zentralen Kategorien zu ihrer Beschreibung orientiere ich mich locker an den Dimensionen der Alltäglichen Lebensführung (vgl. Kapitel 3.2) sowie an den von Ewers et al. 2006 für eine Untersuchung über junge IT-Unternehmer entwickelten Kategorien.
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DER ALLTAG S ELBSTSTÄNDIGER INTERNETDIENSTLEISTER
Zeit: Die Dimension der Zeit bezieht sich darauf: • Wie lange und zu welchen Zeiten die Interviewpartner arbeiten, also auf die Dauer und Lage der Wochenarbeitszeit sowie die Urlaubszeit. Wie die Interviewpartner mit Zeit umgehen, d.h. ob die Befragten ih• re Tätigkeiten planen oder flexibel mit Zeit umgehen und ob eine Trennung zwischen Lebensbereichen über zeitliche Grenzen erreicht wird. Bei dem Umgang mit Zeit kann unterschieden werden zwischen: • Monochron: Eine Tätigkeit wird abgeschlossen, bevor die andere begonnen wird und es finden nur Tätigkeiten aus einem Bereich innerhalb eines Zeitblocks (ein Zeitblock ist z.B. die Arbeitszeit am Vormittag) statt. Verzahnung: Die Tätigkeiten finden nicht genau zur gleichen Zeit • statt, sondern sie greifen ineinander. Dazu müssen die Tätigkeiten geplant werden. • Polychron: Hier werden Tätigkeiten aus unterschiedlichen Bereichen innerhalb eines Zeitblocks kombiniert oder es wird zwischen ihnen hin und her gewechselt. Raum: Die Dimension Raum bezieht sich: • Darauf, wo die Interviewpartner hauptsächlich ihrer beruflichen Tätigkeit nachgehen. • Auf den Umgang mit Raum, d.h. ob eine Trennung von unterschiedlichen Lebensbereichen über räumliche Trennungen hergestellt wird. • Auf das setting von Arbeitsplätzen – wie die Arbeitsplätze materiell gestaltet und von den Interviewpartnern hergestellt werden – sei es innerhalb der Wohnung oder im Büro und oder an öffentlichen, bzw. halböffentlichen, Orten wie z.B. in Zügen, Flugzeugen, Cafés oder an Bahnhöfen. Sachlich/Sozial: Bei dieser Kategorie geht es darum, inwieweit die verschiedenen Lebensbereiche bei den Interviewpartnern in sachlicher und sozialer Hinsicht unterschiedlich oder ähnlich geprägt sind: • Sachlich: Werden auch in der Freizeit berufsbezogene Tätigkeiten wie z.B. Zeichnen, Entwerfen oder Programmieren quasi als Hobby ausgeübt?
187
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
•
Sozial: Überschneiden sich berufliche und private Kontakte und wird z.B. die Freizeit mit Geschäftspartnern oder Kunden verbracht?
Verhältnis der Lebensbereiche: Hier geht es um die Frage, welche Sphäre bei den Interviewpartnern zeitlich, räumlich, sozial und sachlich auf der Handlungsebene dominiert. Welcher Lebensbereich fungiert als zentraler Strukturgeber für die Gestaltung des Erwerbsalltages? Hier geht es aber auch darum, wie das gegenwärtige Verhältnis der Lebensbereiche von den Interviewpartnern bewertet wird und ob sie dieses Verhältnis in Zukunft verändern möchten. Motive/Orientierungen: Alltagsarrangements sind eng verknüpft mit den jeweiligen Berufs- und Familienorientierungen. Welche Ziele verfolgen die Interviewpartner und welche Motive haben sie für die jeweilige Form ihrer Alltagsarrangements? Der Lebensentwurf korrespondiert dabei mit dem gesamten Arbeits- und Lebenskontext. Er erklärt erwerbsbiographisches Handeln und die Entscheidung zur Selbstständigkeit und zu dem jeweiligen Alltagsarrangement. Partnerschaft/Familie: Hier geht es um die Lebensform der Befragten und darum, ob bei den Befragten, die in Paarbeziehungen leben, eine ‚egalitäre‘ Arbeitsteilung, bzw. ungleiche Arbeitsteilung vorherrschend ist. Aus dem Interviewmaterial konnten induktiv drei Formen von Alltagsarrangements herausgearbeitet werden, denen ich alle Fälle zugeordnet habe. Es gibt Menschen, die Beruf und Privatleben in ihrem Alltag stark vermischen: Dies sind die Alltagsarrangements der Vermischung. Davon lassen sich Personen unterscheiden, die versuchen, zwei für sie wichtige Lebensbereiche miteinander zu verbinden: Dies sind die Arrangements der wechselnden Prioritäten. Als dritter Personenkreis lassen sich Menschen identifizieren, die relativ klar zwischen Beruf und Privatleben differenzieren, ich nenne diese Form Alltagsarrangements der Separation. Idealtypisch stellen sich die Alltagsarrangements folgendermaßen dar: Das Alltagsarrangement der Vermischung zeichnet sich dadurch aus, dass inhaltliche und zeiträumliche Grenzen zwischen Beruf und Privatleben fehlen. Die Erwerbsarbeit stellt das sinnhafte und handlungspraktische Zentrum des Alltags der Interviewpartner dar. Berufliche Tätigkeiten, Ziele und Interessen dominieren den Alltag und alle anderen Ak188
DER ALLTAG S ELBSTSTÄNDIGER INTERNETDIENSTLEISTER
tivitäten werden beruflichen Belangen weitestgehend untergeordnet. Es existieren keine oder kaum Strukturgeber außerhalb der Erwerbsarbeit. Im Unterschied dazu gibt es bei dem Alltagsarrangement der Separation mindestens eine weitere Sphäre, die als zentraler Strukturgeber fungiert (Familie, Freizeit, Ehrenamt) und ein Gegengewicht zur Berufstätigkeit bildet. Es existiert sowohl auf der Sinnebene wie auch auf der Handlungsebene eine Balance zwischen Berufs- und Privatleben und das Berufs- und Privatleben wird zeiträumlich von den Befragten weitestgehend getrennt. Das Arrangement der wechselnden Prioritäten ist nach einer anderen Logik gebildet. Das übergeordnete Ziel der Menschen (in der Regel Frauen) mit diesem Arrangement ist es, ihre berufliche Tätigkeit und Familie zu verbinden. Beide Bereiche stellen einen zentralen Lebensinhalt dar. Die Integration dieser Bereiche kann auf handlungspraktischer Ebene im Alltag durch eine Vermischung oder durch eine Trennung erreicht werden. Im Alltag konkurrieren die Anforderungen aus beiden Bereichen, wobei ihre Balance häufig jeden Tag aufs Neue koordiniert werden muss. Diese unterschiedlichen Alltagsarrangements meiner Interviewpartner ergeben sich – trotz ähnlicher Strukturen, bzw. Arbeitsbedingungen in der Branche – weil sich ihre Alltagsgestaltung eben nicht nur aus den Anforderungen der Erwerbsarbeit, sondern auch aus den Anforderungen des Privatlebens bestimmt. Erst aus dem Zusammenspiel und der Integration dieser zum Teil widerstreitenden Anforderungen im Alltag sowie in Abstimmung mit den eigenen Ressourcen, Motiven und Zielen ergeben sich die unterschiedlichen empirisch beobachtbaren Alltagsarrangements. Die Gesamtarrangements setzen sich zusammen aus den Orientierungen, Zielen sowie den individuellen zeitlichen und räumlichen Praktiken. Das Gesamtarrangement ist also von den Praktiken, die es auf der Handlungsebene verkörpern, zu unterscheiden. Menschen, die das gleiche Gesamtarrangement haben, können in ihrem Alltag durchaus unterschiedlich mit Zeit und Raum umgehen. Während die Befragten, die das gleiche Alltagsarrangement leben, ähnliche Arbeitszeiten haben, ist dies bei den Arbeitsorten nicht der Fall. Die Alltagsarrangements sind nicht an eine bestimmte Wahl des Arbeitsortes gebunden. Grundsätzlich können die Interviewpartner ihren Arbeitsort frei wählen. Die Wahl hängt vor allem von ihren finanziellen Möglichkeiten, den Produktionsbedingungen und ihren eigenen Präferenzen ab. Die Interviewpartner mit den Alltagsarrangements Vermischung haben ihren Arbeitsplatz sowohl zu Hause als auch außer Haus in einer Bürogemeinschaft oder in der eigenen Firma. Und anders als man es er189
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
warten würde und entgegen den Ergebnissen arbeitssoziologischer und psychologischer Studien (vgl. z.B. Pongraz/Voß 2003; Ewers et al. 2006) haben auch die Personen, deren Alltagsarrangement auf einer Trennung von Sphären beruht, ihren Arbeitsplatz zu Hause. Arbeiten zu Hause führt also nicht automatisch zu einer Vermischung von Privatund Berufsleben, aber es verlangt – wie ich im folgenden zeigen möchte – spezielle räumliche und zeitliche Praktiken der Trennung. Allerdings sind zeitliche und räumliche Praktiken eng verknüpft: Arbeiten die Interviewpartner häufig sehr lange und auch in die Nacht hinein und am Wochenende, kommt es zwangsläufig zu einer räumlichen Vermischung von Tätigkeiten aus unterschiedlichen Lebensbereichen. Entscheidende Faktoren, die die Form des jeweiligen Alltagsarrangements bestimmen, sind: • Strukturen (Arbeitsorganisation in der Branche etc.) • Anforderungen aus anderen Lebensbereichen (Familie, Haushalt, Kinderbetreuung etc.) • Ressourcen auf der Mikro- und Makroebene • handlungsleitende Orientierungen Die Wichtigkeit dieser Faktoren werde ich bei der eingehenden Darstellung der Alltagsarrangements anhand von Fallstudien herausarbeiten.
8 . 2 Al l t a g s a r r a n g e m e n t d e r V e r m i s c h u n g Das Alltagsarrangement der Vermischung ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Arbeits- und Privatleben in räumlicher, zeitlicher, sozialer wie auch sachlicher Dimension sehr stark vermischen. Die Befragten identifizieren sich sehr stark mit ihrer beruflichen Tätigkeit und sie bildet das sinnhafte und praktische Zentrum ihres Alltags. Die anderen Aktivitäten des Alltags werden der Erwerbsarbeit untergeordnet, bzw. auf sie bezogen und berufliche und private Interessen überschneiden sich bei den Befragten sehr stark. 15 von 28 Interviewpartnern lassen sich diesem Alltagsarrangement zuordnen. Ihre allgemeinen Merkmale sind in folgender Tabelle aufgeführt sind. Die Zeilen der Personen, die in den Fallbeispielen näher beschrieben werden, sind farbig unterlegt:
190
27
42
Helmut Munch
Erik Wolf
alleinlebend
verheiratet
in WG lebend
40
verheiratet
Karla Kammer
55
Sabine Mayer
(Single)
alleinlebend
verheiratet
alleinlebend
37
Katja Golz
Alter der
25
3
HH
Lebensform Kinder im
Manuela Sachs 53
36
Alter
Erich Lang
Codename
studium
Hochschul-
abgebrochen)
Graphikdesign
Abitur (Studium
mierung
studium
Hochschul-
bildung
Berufsaus-
bildung
Berufsaus-
Program-
Beratung
Graphikdesign
Webdesign
studium
Hochschul-
studium
Anwendungen Graphikdesign
Hochschul-
schluss
bereich Internet-
Bildungsab-
Tätigkeits-
Tabelle 4: Interviewpartner mit dem Alltagsarrangement Vermischung
50+
50+
50-60+
50-60+
30-50
40-50+
50-60+
h/Woche
Arbeitszeit Hause Wohnzimmer
Wohnzimmer
(20 %)
Firma (40 %)
Wohnzimmer angestellt in (60 %)
im
(40 %)
beim Kunden
außerhalb
Wohnzimmer beim Kunden (80 %)
im
Zimmer (60 %)
separates
(100 %)
im
(100 %)
im Schlafzimmer
(100 %)
im Schlafzimmer
(100%)
im
Arbeitsorte: zeitliche Anteile Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz
DER ALLTAG S ELBSTSTÄNDIGER INTERNETDIENSTLEISTER
191
192
41
verheiratet
Patrik Pflaum 39
Quelle: Eigene Darstellung
alleinlebend
lebend
mit Partnerin
in WG lebend
lebend
mit Partnerin
mit Partner lebend
lebend
mit Partnerin
mit Partner lebend
Peter Winkler 30
Stefan Tobler 31
Sara Zirner
Janek
38
35
Lara Henke
Wolfgang
37
Konrad Frey
Wiebke Christ 30
6, 11
2, 3, 5 Hochschulstudium
Hochschulstudium
Graphikdesign
Programmierung
Hochschulstudium
Hochschulstudium
Marketing/Vertrieb Hochschulstudium
Graphikdesign
Marketing/Vertrieb Hochschulstudium
Marketing/Vertrieb Ausbildung
Graphikdesign
Marketing/Vertrieb Hochschulstudium
50+
50+
50-60+
40-50+
50+
50-60+
50+
55-65 (90 %) in Bürogemeinschaft (70 %)
(50 %) Separates Zimmer (30 %)
in eigener Firma (90 %) in eigener Firma (90 %) in Bürogemeinschaft (95 %)
Laptop am Küchentisch (10 %) Laptop am Küchentisch (10 %) Laptop im Wohnzimmer (5 %)
schaft (100 %)
in Bürogemein-
(100 %)
in eigener Firma
schaft (100 %)
in Bürogemein-
in eigener Firma
separates Zimmer
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
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Diese Teilgruppe ist in Bezug auf ihre individuellen Arbeits- und Lebensweisen, ihren Familienstand und ihre Lebenslagen relativ heterogen. Männer und Frauen sind zu gleichen Teilen vertreten. Alle Männer sind entweder verheiratet oder leben mit ihrer Partnerin zusammen. Drei Männer haben Kinder in betreuungspflichtigem Alter. Auffällig ist, dass sich in der Gruppe der Vermischung keine Frau mit Kindern in betreuungspflichtigem Alter findet. Drei der Frauen sind Singles, eine lebt alleine, die übrigen sind verheiratet oder leben mit ihrem Partner zusammen. Sechs Interviewpartner sind im Bereich Projektmanagement und Beratung (drei davon mit eigener Firma und mehreren festen freien Mitarbeitern), zwei im Bereich Programmierung und sechs Personen im künstlerisch-graphischen Bereich tätig. Drei Interviewpartner kombinieren ihren Freiberuflichkeit entweder mit einer Festanstellung für drei Tage in der Woche oder indem sie als feste Freie ebenfalls für zwei bis drei Tage in der Woche in Agenturen tätig sind. Im Folgenden möchte ich die zentralen gemeinsamen Merkmale, aber auch die entscheidenden Unterschiede innerhalb der Teilgruppe mit dem Alltagsarrangement der Vermischung zusammenfassend herausarbeiten sowohl hinsichtlich der praktischen Ausgestaltung des Alltags als auch hinsichtlich der vorherrschenden Motive und Orientierungen. In der nachfolgenden systematischen Darstellung der Ergebnisse werden die zeitlichen, räumlichen, sozialen und sachlichen Praktiken der Vermischung und Trennung sowie die Motive und handlungsleitenden Orientierungen verallgemeinernd auf der Grundlage der erhobenen Fälle analysiert.
8.2.1 Zur Rolle von Anforderungen aus anderen Lebensbereichen und Ressourcen: Zwei Fallbeispiele Zunächst möchte ich zwei Fälle ausführlicher darstellen: Der erste Fall steht für eine extreme Form der Vermischung. Anhand dieses Falles möchte ich zeigen, dass diese Form der Vermischung nur zu verwirklichen ist, wenn keinerlei Anforderungen aus anderen Lebensbereichen vorhanden sind. Anhand des zweiten Falles werde ich die Wichtigkeit von Ressourcen für die Gestaltung des Alltagsarrangements herausarbeiten.
193
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Ungebunden und entgrenzt: „… auch von den ganzen Arbeitszeiten her, da wäre es schon schwierig mit jemand zusammen zu wohnen.“ Erik Wolf ist 43 Jahre alt und lebt alleine in einer großen EinzimmerWohnung in einem innenstadtnahen, gründerzeitlichen Stadtviertel von München, das sich in den letzten 15 Jahren zu einem In-Viertel entwickelt hat. Er ist ledig, hat keine Kinder und führt eine Fernbeziehung. Sein Partner lebt in Spanien. Inzwischen ist er seit 16 Jahren selbstständig. Die ersten zehn Jahre war er als selbstständiger Graphikdesigner und dann als Art Director1 für Agenturen tätig. Seit sechs Jahren kombiniert er seine freiberufliche Tätigkeit mit einer Festanstellung in einer Unternehmensberatung, in der er drei Tage in der Woche in der Designabteilung tätig ist. Zunächst stand er einer Festanstellung ablehnend gegenüber, inzwischen schätzt er die finanzielle Sicherheit, die diese Konstellation für ihn bietet, jedoch sehr. Das Angebot einer Festanstellung in Vollzeit hat er ausgeschlagen und nimmt dafür die Nachteile in Bezug auf Aufstiegschancen u.ä. in der Firma in Kauf. Eine Festanstellung in Vollzeit, sei es in einer Agentur oder auch in der Unternehmensberatung, ist mit seiner Berufsauffassung nicht zu vereinen: „Ich habe die ganzen festangestellten Art Direktoren gesehen, die da 70, 80 Stunden die Woche arbeiten und zwar gut verdienen in dem Sinne, aber in Stunden gerechnet dann einen Hungerlohn. Da habe ich mir dann gedacht, ne, und man wird in einer Agentur meistens total ausgebrannt. Man ist denen ihr Konzeptroboter, man muss nur Konzepte ausspucken unter Zeitdruck. Aber auch hier zum Beispiel [in der Unternehmensberatung], ich bin halt der Konzeptroboter. Ich spucke neue Ideen aus, muss immer die neuesten Ideen haben, muss immer auf dem neuesten Stand des Zeitgeistes sein, je nach Kunden halt, was der für Anforderungen hat. Man muss auch sehr stark auf den Kunden eingehen. Aber selbstständig ist insofern besser, ich hab´s in meiner eigenen Hand.“
1
Art Director (Abkürzung AD) ist die gängige Berufsbezeichnung für einen erfahrenen und leitenden Grafiker oder für den „künstlerischen“ Leiter im Bereich von Filmproduktionen und Medien. Auch wenn die Bezeichnung weder geschützt noch einheitlich zu definieren ist, setzt sie normalerweise eine mehrjährige Ausbildung (bzw. Studium) und ebenfalls eine mehrjährige Berufserfahrung voraus. Ein Art Director entwickelt allgemein gesprochen die künstlerische, visuelle Umsetzung und begleitet dabei alle kreativen Produktionsvorgänge (z.B. Fotoshooting, Filmdreh, Set-Design, Animation, Layout etc.). Damit übernimmt er dann häufig auch die ‚künstlerische Verantwortung‘ für einen Kunden oder eine Produktion.
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Eine Aufteilung der Woche in Arbeitstage und freies Wochenende existiert für ihn nicht. Um seine freien Aufträge besser planen zu können, arbeitet er in der Unternehmensberatung regelmäßig Mittwoch, Donnerstag und Freitag, damit er weiß, „für meine privaten Aufträge habe ich von Freitag bis Mittwoch Zeit“. Seine Arbeitstage in der Unternehmensberatung beginnen in der Regel um 9.30 Uhr und enden um 19.00 Uhr. Je nach Auftragslage arbeitet er danach an eigenen Aufträgen zu Hause weiter oder er besucht Ausstellungen, liest Magazine oder recherchiert, um auf neue Ideen zu kommen – er bezeichnet diese Tätigkeiten als „laufendes Lernen“, das in diesem Beruf notwendig sei, Arbeit im engeren Sinne seien diese für ihn nicht. Die Lage und Dauer seiner Wochenarbeitszeit ist je nach Auftragslage schwankend und von Woche zu Woche unterschiedlich. Feste Zeitstrukturen sind nicht erkennbar. Erik Wolf arbeitet an seinen Arbeitstagen zu Hause vollkommen unabhängig von den so genannten Normalarbeitszeiten. Da er seine Aufträge kaum in enger Kooperation mit weiteren Personen erstellt, fehlen zeitliche Strukturgeber von beruflicher Seite. Dies führt bei ihm zu einer relativ unstrukturierten Arbeitsweise und er schiebt Projekte oft so lange auf, dass Nachtschichten notwendig werden: „Ich sage nicht um neun Uhr, ich setze mich da hin und fang jetzt an. Da bin ich ziemlich undiszipliniert eigentlich. Wenn ich dann mal an der Arbeit dran sitze, dann bin ich total im Fluss und will auch nicht gestört werden. Aber bis ich anfange, ist manchmal dramatisch… und feste Zeiten gibt es da nicht. Ich arbeite nachts, ich arbeite tagsüber, ich versuche schon immer, wenn es dann so nach drei Uhr morgens geht, dann versuche ich schon langsam aufzuhören, weil du bist ja so aufgedreht und kannst gar nicht mehr schlafen. Also, dass es nicht zu lange wird.“
Wenn er nicht gerade kurz vor einer Projektabgabe steht, geht Erik auch tagsüber einkaufen oder treibt Sport und schiebt die Erwerbsarbeit in den späten Nachmittag und Abend. Bis vor kurzem wurde die Hausarbeit von einer Putzhilfe verrichtet, inzwischen bleibt sie oft liegen oder wird ‚zwischendurch‘ von ihm erledigt. Dies führt zu einem fragmentierten Arbeitsalltag, der Erik Wolf dennoch ein sehr effektives Arbeiten erlaubt: Er nützt flexibel die Arbeitszeiten, zu denen er am produktivsten und kreativsten ist. Für seine Kunden ist er aber immer erreichbar, auch abends und am Wochenende. Ebenso wie sich in zeitlicher Hinsicht kaum Unterscheidungen zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit im Alltag von Erik festmachen
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
lassen, gibt es in seinem Alltag keine Räume, die sich klar einer Sphäre zuordnen lassen würden: „Bei mir ist das alles eins, ich habe so eine ganz große, nicht eine Wohnlandschaft, aber es ist ein sehr, sehr, sehr, sehr großes Zimmer und das ist absolut durchmischt. Es ist schon eine Ecke in dem Areal für die Arbeit, aber das vermischt sich auch. Und auch, wenn ich privat Bekannte habe, dann sind wir auch in dem Arbeitsbereich, weil man halt mal schnell was im Internet schaut oder ich Entwürfe herzeige. Es ist nicht so, dass das so ein Arbeitskabäuschen gibt, wo ich dann zumache und mir sage: So, jetzt arbeite! Das ist alles integriert, auch mit großer Stereoanlage und so. Wie ein großes Wohnzimmer eigentlich, wo ich auch noch arbeite. Und das mischt sich natürlich, weil wenn ich abends um zehn einen Anruf kriege, dann muss ich nicht ins Arbeitszimmer gehen. Ich drehe mich dann einmal um und mache das schnell, und es vermischt sich schon sehr.“
Erik lebt und arbeitet in einem großen Raum und hat auch den Arbeitsbereich räumlich materiell nicht vom Wohnbereich abgetrennt. Es stehen mehrere Rechner in diesem Zimmer sowie große Arbeitstische, die eine große Fläche zum Auslegen von Entwürfen erlauben. Im Unterschied zu den meisten anderen Interviewpartnern hat Erik Wolf kein Problem damit, Kunden in seinen Privaträumen zu empfangen. Die zentrale Motivation für dieses Arrangement sind weniger finanzielle Aspekte, die auch eine gewisse Rolle spielen, sondern dass er die Atmosphäre in seiner Wohnung zum kreativen Arbeiten schätzt und die Flexibilität genießt, auch spätabends noch schnell auf Anfragen und Änderungswünsche von Kunden reagieren zu können, ohne noch die Wohnung verlassen zu müssen. Bis auf zwei Abende im Monat, die Erik für spirituelle Treffen freihält, ordnet er sein Privatleben vollkommen den Erfordernissen der Erwerbsarbeit unter. Er kann sich aufgrund seiner Arbeitszeiten nicht vorstellen, mit jemandem zusammenzuleben. Seine Freizeitaktivitäten wie Ausstellungen besuchen oder Magazine lesen sind vielfach ebenfalls mit seiner Arbeit verbunden, so dass sich kaum separierbare Tätigkeitsbereiche in seinem Alltag ausmachen lassen. Bei ihm verschwimmen die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Dingen, die er aus eigener Neigung und Interesse macht. Er identifiziert sich sehr stark mit seinem Beruf, der, wenn man selbst Konzepte entwickele und kreativ sei, vollen Einsatz erfordere: „Wenn man denn den Beruf wirklich so macht, wie er eigentlich sein sollte. Es gibt auch, keine Ahnung, wie viel Prozent, aber ich denke weit mehr als die Hälfte aller Graphik-Designer sind eigentlich keine Graphik-Designer in dem 196
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Sinne. Die sind dann irgendwelche Handlanger, die dann vom Art Director irgendwelche Konzepte umsetzen, die die Programme beherrschen. Es ist also eigentlich eine Nonstop-Aufgabe, und da ist es dann manchmal schwierig, dass man auch abschaltet.“
Er betont selbst, dass es ihm schwer falle, sich mental von seiner Arbeit abzugrenzen. Dazu benötigt er starke räumliche Grenzen. Deshalb trifft er sich mit seinem Partner alle paar Wochen nur noch in Spanien, da er in München nicht von der Arbeit abschalten kann: „Wenn ich dann wirklich Zeit habe, fahre ich meistens weg, weil wenn ich in München bleibe, da sind die Computer, und da sind die Kunden, und da sind die vielen Telefone, und da ist immer irgendwie was. Wir haben das schon ausprobiert, dass wir uns ab und zu in München treffen. Und in München, das hat irgendwie nicht hingehauen, weil ich die ganze Zeit, obwohl ich frei hatte, nur am Telefon war. Ich musste dann noch zum Drucker, dann ist der Rechner noch kaputt gegangen, das war nervig. So fahr ich jetzt nur noch nach Spanien.“
Zudem geben ihm die drei Tage in Festanstellung die Wochenstruktur so vor, dass er den Rest der Woche flexibel zu Hause arbeiten kann. Ohne diesen feststehenden zeitlichen Rahmen und die drei Tage außerhalb der eigenen Wohnung könnte er nicht zu Hause arbeiten, da ihm dann der Kontakt zu und die Kommunikation mit Menschen fehlen würde. Die Alltagsgestaltung von Erik Wolf ist ein Beispiel für ein extrem arbeitszentriertes Alltagsarrangement: Die Identifikation mit seinem Beruf ist so hoch, dass sie die gesamte Lebensführung dominiert. Der Alltag von Erik Wolf ist in zeitlicher, räumlicher und sachlicher Hinsicht von Praktiken der Vermischung gekennzeichnet. Dieses Arrangement ist allerdings nur möglich, da sein Arbeitsalltag ausschließlich von beruflichen Anforderungen bestimmt wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass ein extrem arbeitszentriertes Alltagsarrangement mit Familie oder Partnerschaft kaum zu vereinbaren ist. Zudem verdeutlicht dieses Fallbeispiel, dass auch Menschen, deren Alltagsarrangement von starken Vermischungen gekennzeichnet ist, sich durch individuelle Praktiken Auszeiten und Orte abseits der Erwerbsarbeit schaffen – sich also selbst aktiv Strukturen schaffen. Bei Erik Wolf sind dies die relativ feste Wochenstruktur, die ihm einen Rahmen vorgibt innerhalb dessen er seine Arbeitszeit äußerst flexibel gestaltet, und die Wohnung seines Freundes in Spanien, als der Ort, an dem er von der Arbeit abschalten kann.
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Ressourcen auf der Mikro- und Makroebene: „Ich arbeite sehr gerne und ich kann aber ziemlich gut umschalten.“ Wiebke Christ ist 30 Jahre alt, ledig und lebt mit ihrem langjährigem Partner in einer Fünf-Zimmer-Altbauwohnung in der Innenstadt von München. Das Paar hat keine Kinder. Sie ist in der eigenen Softwarefirma tätig, die sie gemeinsam mit ihrem Freund bereits während ihres Studiums aufgebaut hat. Sie übernimmt in der eigenen Firma neben Vertrieb, Marketing und Buchhaltung auch Beratertätigkeiten. Im Vergleich zu den anderen Interviewpartnern kann sie ihren Tagesablauf auffallend flüssig erzählen. Sie beschreibt sehr strukturierte Tagesabläufe, für die von ihr selbstgeschaffene räumliche und zeitliche Routinen eine große Rolle spielen. Sie beginnt ihren Tag immer gleich: Um kurz vor 8.00 Uhr klingelt der Wecker, dann räumt sie die Küche auf, legt Wäsche zusammen, während der Tee zieht, und setzt sich dann noch kurz vor dem Frühstück an den Computer und checkt kurz Emails und Kontostände und was sie an dem kommenden Arbeitstag zu tun hat. „Das ist immer meine meditative Morgenarbeit, also das ist – das finde ich eigentlich ganz nett und ich schätze diese Routine sehr.“ Anschließend frühstückt sie mit ihrem Freund. Dann gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wie ihr Tag weitergeht: Sie arbeitet eineinhalb Tage in der Woche bei einem Unternehmen als Beraterin, einen weiteren Tag ist sie für andere Projekte jeweils in den Firmen vor Ort tätig. Zudem kommt es vor, dass sie den gesamten Tag im Arbeitszimmer in der Wohnung verbringt oder sie hat wechselnde Arbeitsorte an einem Tag; dann bleibt sie nach dem Frühstück noch einige Stunden zu Hause und arbeitet im Homeoffice und fährt dann entweder an ihrem Arbeitsplatz in der eigenen Firma oder zum Kunden. Nach der Büroarbeit hat sie in der Regel drei Abendtermine in der Woche, die auch eine berufliche Komponente haben. Zwei Abende in der Woche hält sie sich für Sport frei. In der Regel kommt sie unter der Woche zwischen 22.30 Uhr und 0.30 Uhr nach Hause. Zudem arbeitet sie mindestens einen halben Tag jedes Wochenende. Ihre Wochenarbeitszeit beziffert sie auf 55 bis über 60 Stunden. Obwohl ihre Arbeitstage sehr unterschiedlich sind und die Vermischung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sehr hoch ist, sind die Tage sehr klar strukturiert, wobei Wiebke Christ hierbei sehr hohe Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch -fähigkeiten hat. Zeitlich und räumlich strukturiert Wiebke Christ ihren Arbeitstag nach den zu erledigenden beruflichen Tätigkeiten. Für die Kundenkommunikation geht sie ins Büro und erledigt diese Tätigkeiten zu den 198
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normalen Bürozeiten, auch um den Kontakt zu den Mitarbeitern zu halten. Außerhalb der Bürozeiten erledigt sie z.B. die Buchhaltung, also Tätigkeiten, für die sie Ruhe benötigt und gleichzeitig auf Ordner zurückgreifen muss, die sie nicht mit nach Hause nehmen möchte. Tätigkeiten, für die sie Ruhe und Konzentration benötigt, macht sie in ihrem Homeoffice: „[…], dass ich dann daheim noch zwei bis zu zweieinhalb Stunden an meinem Homeoffice-Schreibtisch arbeite und da entweder Projektarbeit mache, oder Sachen mache, wo ich einfach nicht gestört werden will. Also ich kann keine Pressemitteilung schreiben, wenn das Telefon klingelt. Oder ich bereite Steuerunterlagen vor, oder ich arbeite irgendein Konzept durch, oder irgendwas.“
Zudem beschreibt sie das Arbeiten zu Hause als effizienter: „Aber wenn es jetzt darum geht: Du musst jetzt bis Montag ein großes Angebot abgeben für einen Netzwerkaufbau mit neuen Arbeitsplätzen und allem Schnickschnack… für dieses Angebot brauch ich im Homeoffice – ich schätz jetzt mal – drei, vier Stunden; und wenn ich das hier in der Firma schreibe, dann brauch ich einen ganzen Tag durch all die Störungen.“
Wiebke Christ verfügt über ein hohes Maß an Selbstorganisation und hat keinerlei Probleme, sich zu Hause für die Erwerbsarbeit zu motivieren. Die Vermischung von Erwerbsarbeit und privatem Raum ist für Wiebke Christ kein Problem, aber sie zieht eine klare Grenze um ihre Privatsphäre, die sie räumlich mit der Wohnung gleichsetzt. Hier ist sie privat (auch wenn sie arbeitet) und möchte weder von Kunden noch von Mitarbeitern gestört werden. Sie möchte vor allem die Kontrolle darüber behalten, wer Zugang zu ihrem privaten Bereich hat. Damit erinnert ihr Verständnis von Privatheit an die Definition von Rössler (2001), die sich auf Privatheit als Kontrolle über den Zugang zur eigenen Wohnung oder persönlichen Daten bezieht (vgl. Kapitel 4.2.1). Sie nutzt technische Möglichkeiten, um ihre Privatsphäre gegenüber Kunden zu schützen. Ihre Kunden wissen nicht, dass sie teilweise von zu Hause aus arbeitet und Kollegen haben die Anweisung, sie nur in Notfällen zu Hause anzurufen und ihre Privat- und Mobilnummer nicht weiterzugeben. „Das finde ich jetzt auch einen wichtigen Punkt, so bei Menschen, die kein Büro haben, wenn der Kunde dann so praktisch in der Wohnung steht, so in die Wohnung eindringen kann – für mich ist so die Wohnung der private Bereich, und was im privaten Bereich passiert, das suche ich mir selber aus.“
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Wenn sie zu Hause arbeitet, kombiniert sie Haushaltstätigkeiten mit der Erwerbsarbeit. Allerdings kommt es hier nicht zu einer planlosen Vermischung von Tätigkeiten, die sie ablenken würden, sondern sie wählt gezielt Tätigkeiten aus, die sich zeitlich mit ihrer Arbeitstätigkeit verzahnen lassen wie z.B. die Waschmaschine anstellen und in einer Arbeitspause die Wäsche aufzuhängen. Die übrige Hausarbeit wird von einer Putzhilfe erledigt. Einkaufen, Kochen und Waschen sind zwischen ihr und ihrem Freund klar aufgeteilt. Ihr Arbeitsplatz zu Hause befindet sich in einem Extrazimmer. Er ist mit Büromöbeln eingerichtet und technisch ebenso professionell ausgestattet wie ihr Arbeitsplatz in der Firma. Das Zimmer wird allerdings auch noch für andere Zwecke genutzt: „Das ist so der Hauptzweck dieses Raumes hier: Der hintere Teil ist Arbeitszimmer, der mittlere ist Bibliothek und der vordere ist die Waschküche.“ Diese Zuweisung nimmt Wiebke Christ vor, ohne dass sie materielle Trennungen zwischen den Bereichen zieht. Diese räumliche Vermischung ist für sie unproblematisch, da sie imaginäre Grenzen ziehen kann und weder durch herumliegende Wäsche oder Bücher abgelenkt wird. Die Motivation für dieses räumliche Arrangement ist es, ihre eigene Arbeitsfähigkeit zu erhöhen. Die freie Zeiteinteilung und die freie Wahl des Arbeitsplatzes steigern ihre Arbeitseffizienz, führen zu besseren Arbeitsergebnissen und werden von ihr als Moment der Selbstbestimmung erlebt. Wenn sie mehrere Tage hintereinander eng geplante Termine bei Kunden hat, die ihre Morgenroutine durcheinanderbringen, arbeitet sie bewusst einen Tag zu Hause, um sich selbst wieder ins Lot zu bringen. Der Arbeitsplatz zu Hause stellt für sie also eine wichtige Ressource dar, den Stress ihrer Arbeit sowie ihr hohes Arbeitspensum von mehr als 55 bis über 60 Stunden pro Woche zu bewältigen. Wiebke Christs Alltagsarrangement ist ein Beispiel dafür, dass die freie Wahl der Arbeitszeit und des Arbeitsortes die Arbeitseffizienz erhöhen kann. Hierzu sind allerdings einige Voraussetzungen notwendig: Dies sind zum einen Ressourcen auf der persönlichen Ebene, wie Wiebke Christs ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstorganisation und Planung. Zudem hat sie die Fähigkeit, bzw. hat sie Strategien entwickelt, zu Hause von der Arbeit abschalten zu können. Weitere Ressourcen, die dieses Arrangement begünstigen, sind das Vorhandensein eines Arbeitsraumes zu Hause, der ihr ein konzentriertes Arbeiten ermöglicht und gleichzeitig ein Büroarbeitsplatz in der Firma, an dem sie Kunden empfangen kann und Kontakt zu den Mitarbeitern pflegt. Das Zusammenspiel dieser zwei Arbeitsorte und die räumliche Nähe zwischen
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Bürostandort und Wohnung, die ein flexibles Pendeln zwischen diesen zwei Arbeitsorten erleichtern, ermöglichen ihr Alltagsarrangement. Im Vergleich zu Erik Wolf ist ihr Arrangement weniger erwerbszentriert. Trotz starker Vermischung versucht sie feste Routinen und gemeinsame Zeiten mit ihrem Partner einzuhalten. Es kann als ausbalancierte Form dieses Arrangements bezeichnet werden.
8.2.2 Motive und Orientierungen Für die Befragten bildet die Erwerbsarbeit die zentrale Sphäre zur persönlichen Entfaltung. Dabei gilt für die gesamte Gruppe, dass in ihren Erzählungen nicht primär ein unternehmerisches Erwerbsinteresse und der Verdienst durch ihre Arbeit im Vordergrund stehen, sondern sie betonen die starke Identifikation mit der ausgeübten Tätigkeit. Das Streben nach Selbstverwirklichung in der Arbeit ist die zentrale Arbeitsmotivation dieser Gruppe. Die stark ausgeprägte Berufsidentität hängt auch mit der sehr hohen beruflichen Qualifikation der Befragten zusammen: Fast alle verfügen über ein Hochschulstudium und eine mehrjährige Berufserfahrung. Dabei lassen sich zwei Formen des Berufsverständnisses identifizieren: Erstens eine eher künstlerische Orientierung, bei der die kreative Selbstverwirklichung im Vordergrund steht. Sie ist typisch für die Befragten, die im Bereich Graphik und Design tätig sind. Sie haben hohe Qualitätsansprüche an ihre Arbeit und lehnen auch Aufträge ab, die ihren Maßstäben nicht genügen. Sie üben Tätigkeit aus, bei denen die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Aktivitäten, die aus eigenen Neigungen und Interessen ausgeführt werden, verschwimmen. Folgendes Zitat eines Designers verdeutlicht diesen Sachverhalt: „Ja, mir ist das sehr wichtig, was ich inhaltlich mache, halt dieses Design und Produktentwicklung, das ist das, was ich schon immer machen wollte. Ich gestalte die Projekte auch so, dass da viel in meine Herzensrichtung geht. Also ich mach dann schon auch die Sachen, die finanziell tragen, das mach ich dann einfach. Aber da sind auch immer große Projekte dabei, die dann einfach von meiner persönlichen Vision getrieben werden, da ist immer irgendwas, das dann Arbeit und Hobby gleichzeitig ist. Projekte, wo ich dann auch mehr Zeit reinhänge, obwohl das nicht von der ersten Minute was mit Geldverdienen zu tun hat. Da ist vielleicht diese Trennung zwischen Arbeit und Freizeit ein bisschen schwierig. Ich habe erst einen Vortrag an der Uni gehalten, und da haben die auch gesagt: ‚Ja, da haben Sie jetzt drei Jahre an diesem Ding gearbeitet, und dann ist dabei nichts rumgekommen, wie geht denn das?‘ Und da habe ich gesag: ‚Ja, das ist so manch anderem seine Modelleisenbahn im Keller, bei mir ist das dann das.‘ Und das ist irgendwo dann meine Erfüllung. 201
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Also an so was dann zu arbeiten und da dann so ein Projekt voranzutreiben, was nicht wirklich mit Geld verdienen zu tun hat, und dann eigentlich auch keine Arbeit ist, weil ich das ja nur für mich gemacht habe. Aber irgendwann ist es dann Geld und dann vielleicht auch Arbeit. Das ist so schlecht zu sagen, ja das ist jetzt Arbeit oder Geld verdienen, oder was ist es denn eigentlich“. (Konrad Frey, Graphikdesign)
Die starke intrinsische Arbeitsmotivation und Identifikation mit der eigenen Tätigkeit hat zur Folge, dass die Interviewpartner kaum zwischen Beruf und Privatleben trennen. Gleichzeitig haben sie einen hohen Anspruch an ihre Tätigkeiten, wie das folgende Zitat einer Webdesignerin zeigt: „Ich will ja gar nicht so Leben und Arbeit überhaupt trennen, sondern ich will, dass das eins ist. Ich finde es auch gar nicht natürlich, dass man irgendwie sagt von 9.00 bis 18.00 Uhr arbeitet man und danach lebt man… ich mag eigentlich Leben und da meine Arbeiten machen, die ins Leben integriert sind, mit denen ich mich identifizieren kann, die mir Spaß machen. Also es gibt zum Beispiel auch Jobs, die mag ich inhaltlich nicht, also wenn ich mich damit inhaltlich nicht identifizieren kann, dann wird es schon ganz schwierig. Mir ist das Ergebnis meiner Arbeit nicht wurscht, also mir ist das überhaupt nicht wurscht. Also ich finde die Vorstellung, dass ich was mache, was mir wurscht ist, oder wo mir nichts daran liegt, oder wo ich keinen Sinn dahinter sehe, ne – und deshalb ist für mich Arbeit und Leben auch nicht so wirklich getrennt, also ne, ne.“ (Sara Zirner, Graphikdesign)
Zweitens lässt sich eine unternehmerische Orientierung feststellen. Sie ist typisch für die Befragten, die im Bereich Marketing und Programmierung tätig sind. Ihre Arbeitsmotivation bezieht sich auf das Angebot von professionellen Dienstleistungen und Produkten. Der Stolz auf das eigene Produkt motiviert sie zu hohen Arbeitsleistungen. Typisch ist folgende Aussage eines Geschäftsführers: „Es macht halt einfach Spaß. Ich habe einfach Bock, manche Sachen zu tun und im Online-Bereich, da haben wir einfach so eine Lücke, da machen wir gute Produkte und das macht mir tierisch Spaß… also ich weiß genau was ich kann und was ich nicht kann, so für mich und das, was ich kann, da überleg ich, was will ich machen und was macht mir Spaß, und diese freie Entscheidung zu haben, die motiviert einen dann immer doppelt und das ist genial… also wenn du das Richtige machst, dann bekommst du auch ein gutes Feedback.“ (Tobias Tobler, Marketing/Vertrieb)
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Im Unterschied zu der künstlerischen Orientierung stehen stärker der wirtschaftliche Erfolg und die Anerkennung, die über eine angemessene Entlohnung vermittelt wird, im Vordergrund. Einem klassischen Lebensentwurf, der auf dem fordistischen Modell beruht, stehen die Befragten kritisch gegenüber. Einige aus biographischen Gründen, weil sie in einem Selbstständigenhaushalt aufgewachsen sind, in dem Arbeiten und Leben nicht getrennt waren und diese Vermischung als positiv empfanden. Andere, weil sie diesen Lebensentwurf nicht mit ihrer Berufsauffassung und ihrem Gesellschaftsbild vereinen können. Sie grenzen sich von dem Lebensentwurf ihrer Eltern ab: „Ich kann mich erinnern, mein Vater hat im Vertrieb für Kunststoff-Formen gearbeitet… er hat immer viel gearbeitet, zwei kleine Kinder, ein Häuschen, wie es halt so ist. Er ist immer abends von der Arbeit heimgekommen, und hat seinen Anzug ausgezogen und seinen Jogginganzug oder Jeans angezogen. Und der Anzug hing immer draußen zum Lüften. Es gab den Montagsanzug, den Dienstagsanzug und so weiter. Die Arbeitszeiten waren klar geregelt und die Arbeit war praktisch mit Betreten des Hauses auch zu Ende. Es gab so etwas wie Bereitschaftsdienst, das hat ihn so zehn Mal im Jahr getroffen, und er empfand das schon als Affront, also Bereitschaft zu haben, also nur Bereitschaft, nicht zu arbeiten. Oder am Samstag Inventur zu machen, oder so Zeug. Und das ist so eine Einstellung zur Arbeit, die ich zwar vollkommen in Ordnung finde, die aber, glaube ich, keine Zukunft hat.“ (Wiebke Christ, Marketing/Vertrieb)
8.2.3 Praktiken der Alltagsgestaltung Nicht alle räumlichen und zeitlichen Praktiken sind mit dem jeweiligen Arrangement verknüpft, sondern sie sind mit dem Ort der Tätigkeitsausübung verbunden, z.B. berichten alle Befragten, die zu Hause arbeiten von ähnlichen Problemen – ganz unabhängig von ihrem Alltagsarrangement. Deshalb werde ich diese räumlichen und zeitlichen Praktiken unter Punkt 8.6.1 über alle Gruppen hinweg analysieren, während nun nur die Praktiken zur Sprache kommen, die für das Arrangement der Vermischung typisch sind.
Räumliche Praktiken Grundsätzlich lässt sich das Arrangement der Vermischung schiedenen Arbeitsorten verwirklichen. Sieben der Befragten von zu Hause aus, wobei nur eine Befragte über ein separates zimmer in ihrer Wohnung verfügt. Alle anderen haben ihren
an verarbeiten ArbeitsArbeits203
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platz in einem Zimmer eingerichtet, das auch noch eine andere Funktion hat (Wohn- oder Schlafzimmer). Über zwei vollwertig ausgestattete Arbeitsplätze in der eigenen Firma bzw. in einer Bürogemeinschaft und in einem separaten Zimmer zu Hause verfügen zwei Interviewpartner. Nur in der eigenen Firma bzw. in einer Bürogemeinschaft sind sechs Personen dieser Gruppe tätig, wobei bis auf zwei Personen alle über ein Einzelbüro verfügen. Die meisten Befragten, die von zu Hause aus arbeiten, sehen keine Notwendigkeit, einen Büroarbeitsplatz anzumieten, und sind zufrieden mit ihrer räumlichen Arbeitssituation. Bei ihnen sind die Probleme, die häufig mit dem zu Hause-Arbeiten verbunden sind, z.B. fehlende Kontakte, Vereinsamung oder Motivationsprobleme, nicht sehr ausgeprägt.2 Eine Befragte sieht ihren Arbeitsplatz im Schlafzimmer lediglich als eine Übergangslösung an, bis sie sicher ist, dass ihre Selbstständigentätigkeit einen Büroarbeitsplatz finanzieren kann. Sie ist mit der räumlichen Situation sehr unzufrieden und möchte so bald wie möglich eine räumliche Trennung zwischen Arbeiten und Wohnen herstellen.3 Bei den Befragten, die ihren Arbeitsplatz in der eigenen Firma bzw. in einer Bürogemeinschaft haben, arbeiten bis auf einen alle sehr bewusst nicht zu Hause, bzw. haben ihren Arbeitsplatz in der Wohnung abgeschafft, um auf diese Weise eine räumliche Trennung von Arbeiten und freier Zeit zu schaffen: „Also zu Hause ist zwar noch ein Wireless-Lan, aber da ist kein richtiger Schreibtisch, also auch kein Schreibtischstuhl mehr. Ne, das will ich nicht, ich versuche das zu trennen… also ich arbeite ganz schnell… das ist so mein Arbeitsstil, das macht mir Spaß, aber wenn ich zu Hause bin, dann muss ich 2
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Dies schließt aber nicht aus, dass auch Menschen mit dem Alltagsarrangement Vermischung Probleme haben, ausschließlich von zu Hause zu arbeiten. Bei den Interviewpartnern, die in den Interviews diese räumliche Vermischung von Arbeiten und Leben sogar innerhalb eines Zimmers nicht als großes Problem thematisieren, handelt es sich um eine alleinlebende Frau und einen alleinlebenden Mann, die beide sehr stark erwerbszentriert sind. Zudem haben zwei verheiratete Männer ihren Arbeitsplatz im Wohnzimmer, wobei bei beiden die Ehefrau bzw. die Familie große Rücksicht auf die Arbeitszeiten dieser Männer nimmt. Die Motive für einen Heimarbeitsplatz können sehr unterschiedlich sein: Eine verheiratete Frau arbeitet vor allem aufgrund der Krankheit ihres Mannes von zu Hause. Ein Familienvater hat sich für einen Arbeitsplatz zu Hause entschieden, um trotz der exzessiven Arbeitszeiten seinen kleinen Sohn zu sehen. Für diese Befragte hat das Zuhause eine besondere Bedeutung. Es ist für sie ein Rückzugsort, ein ‚warmes Nest‘, das sie zur Entspannung von der Erwerbsarbeit benötigt und das diesen Charakter verliert, wenn sie zu Hause beruflich tätig ist. Diese Bedeutung des Zuhauses ist untypisch für diese Gruppe.
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ein anderes Tempo fahren… also wenn du einen Arbeitsplatz zu Hause hast, dann kommst du nach Hause und wirfst den Rechner an, das ist ja klar. Also da geht das Leben an einem vorbei und du kochst nicht, oder du liest kein Buch mehr. Also wenn ich ihn [den Laptop] jetzt anmache, dann ist das ein Hobby… aber wenn da ein Arbeitsplatz ist, dann gehe ich hin und dann arbeite ich und da habe ich keinen Bock zu.“ (Stefan Tobler, Geschäftsführer)
Die Befragten, die sich zu Hause keinen Arbeitsplatz eingerichtet haben, versuchen sich dadurch selbst vor Überarbeitung zu schützen: Keine Arbeit mit nach Hause zu nehmen, ist für sie eine wichtige Strategie der Grenzziehung. Anstatt zu Hause zu arbeiten, ziehen es diese Befragten in der Regel vor, auch in den späten Abendstunden und an den Wochenenden ins Büro zu gehen. Für sie sind kurze Wege zwischen der Wohnung und dem Büro besonders wichtig und stellen ein entscheidendes Kriterium bei der Wahl ihres Wohn- bzw. Bürostandortes dar. Allerdings sind hier widersprüchliche Praktiken zu beobachten, denn die Abschaffung des Arbeitsplatzes in der Wohnung bedeutet nicht, dass die Befragten keinerlei computergestützten erwerbsbezogenen Tätigkeiten zu Hause mehr nachgehen würden: Stefan Tobler, der seinen Arbeitsplatz bewusst abgeschafft hat, ist auch zu Hause per Internet mit den Daten auf dem Firmenserver verbunden und ruft jeden Abend seine Emails ab und überprüft von zu Hause Backup- und Newsletter-Systeme auf dem Firmenserver. Er telefoniert, falls notwendig, auch spätabends noch mit dem Techniker, um eventuelle Probleme zu beheben. Diese Tätigkeiten beanspruchen an manchen Abenden mehr als eine Stunde Zeit. Zudem nutzt er den Laptop zu Hause auch für andere berufliche Tätigkeiten, z.B. recherchiert er Webseiten, die von konkurrierenden Agenturen gestaltet wurden, und liest gleichzeitig häufig Nachrichten im Netz. Für ihn sind die Abschaffung des Arbeitsplatzes zu Hause und die Ausübung dieser Tätigkeiten, die meist spätabends am Küchentisch stattfinden, kein Widerspruch, denn er empfindet sie nicht als Arbeit: „Also das ist dann nicht mehr konzentriert arbeiten… also das ist eine Stunde dann noch mal online sein, aber nur so Allgemeines, nichts Konkretes oder was für ein Projekt. Also ich finde, da ist der Übergang halt sehr stark zum Privatsurfen. Also da schau ich mal was nach: Wir haben jetzt eine neue Webseite gestartet für eine Sprachschule, dann schau ich jetzt mal nach, was macht denn die Konkurrenz… also ich habe Zugriff auf alles, also ich kann zu Hause genauso arbeiten wie hier, weil das alles online ist – das war sehr gefährlich am Anfang – aber ich nutze es nicht so, wie ich es im Büro nutze.“ (Stefan Tobler, Geschäftsführer)
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Die Definition was Arbeit und was Freizeitaktivitäten für die Befragten sind, hängt folglich auch vom Arbeits-setting, bzw. der Zeit, wann die Aktivitäten stattfinden, ab. Bei den Befragten, die ausschließlich im Büro arbeiten, führen die langen Arbeitszeiten dazu, dass dort zwangsläufig Tätigkeiten stattfinden, die man eher der Privatsphäre zuordnen würde. Als Beispiel für ein ‚Leben im Büro‘ lassen sich die Alltagspraktiken der Graphikerin Sara Zirner anführen: Sie hat ihr Büro in einer Bürogemeinschaft mit Menschen, mit denen sie auch privat etwas unternimmt. Es gibt dort eine komplett eingerichtete Küche und es wird regelmäßig mittags gekocht und gemeinsam gegessen. In ihrem Büro steht ein Sofa, auf dem sie ihren regelmäßigen Mittagsschlaf macht. Es gibt eine Bürokatze, die von allen versorgt wird, und es finden in der Bürogemeinschaft regelmäßig Feste statt.
Zeitliche Praktiken Keine der befragten Personen organisiert ihre Arbeit nach einem starren Arbeitszeitmuster, sondern sie richten ihre Arbeitszeit sehr flexibel nach den Erfordernissen der Projektarbeit aus. Folglich schwankt die wöchentliche Arbeitszeit sehr stark. Dennoch gestaltet die Mehrzahl der Befragten ihre Arbeitszeit nicht vollkommen flexibel. An Wochentagen beginnen fast alle Befragten ihren Arbeitstag zu festen Zeiten – erstens, um für Kunden und Kooperationspartner erreichbar zu sein, und zweitens, um sich selbst eine feste zeitliche Struktur zu geben, an der sie sich orientieren können, wie beispielhaft folgende Aussage verdeutlicht: „Ich fange immer um spätestens 9.00 Uhr an. Damit ich nicht so ins Schludern komm. So eine Selbstdisziplinierung. Erstens für mich selber, damit ich nich, ja in die Versuchung komme, in der Früh doch mal bis 10.00 Uhr zu schlafen. Und außerdem ist es wichtig, dass meine Kunden wissen, ich bin da. Und die Dienstleister auch wissen, dass sie mich anrufen können, wenn sie Fragen haben.“ (Lara Henke, Marketing/Vertrieb)
Das Ende des Arbeitstages gestalten dagegen alle Interviewpartner flexibel. Falls die Auftragslage es erfordert, wird bis spät in die Nacht gearbeitet. Zudem besuchen viele Abendveranstaltungen, bei denen sich soziale und berufliche Aktivitäten vermischen. Auffällig ist, dass Zeiten außerhalb der Normalarbeitszeiten, wie Abende und das Wochenende, vielfach für Tätigkeiten wie Recherche, Weiterbildung oder Steuererklärung genutzt werden, die von den 206
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Interviewpartnern dann zu diesen Zeiten nicht als Arbeit empfunden werden: „Ja, also ich arbeite schon jedes Wochenende. Das ist dann so die Steuererklärung usw. Wobei ich das jetzt also überhaupt nicht stressig finde. Sondern das ist einfach so – so gemütlich an meinem Schreibtisch vor mich hin zu wurschteln, das ist schon – es fällt also fast schon unter Freizeitgestaltung.“ (Wiebke Christ, Geschäftsführerin)
An der Arbeit am Wochenende schätzen die Befragten, dass sie – ohne durch Anrufe gestört zu werden – in Ruhe arbeiten können. Im Büro herrscht außerhalb üblicher Arbeitszeiten für die Webdesignerin Sara Zirner eine besondere Stimmung, die ‚Wochenendatmosphäre‘, zu der sie sich gönnt, langsamer zu arbeiten als unter der Woche. Auch für den Graphikdesigner Patrik Pflaum hat die Arbeit am Sonntag eine besondere Qualität, die er folgendermaßen beschreibt: „Wenn viel zu tun ist oder am Wochenende, am Wochenende arbeite ich auch relativ oft, weil dann ist es hier relativ ruhig. Ich weiß, dass keiner da ist, es kann mich keiner ärgern oder nerven, und da kann ich relativ konzentriert arbeiten. Das ist manchmal ganz gut. Auch wenn viele sage: ‚Oh Gott, am Wochenende möchte ich ja nichts tun‘, aber das ist so ein Zeitraum, wo ich sag, sonntags morgens bin ich immer relativ fit, und dann lauf ich hierher ins Büro und mach dann einfach mal so ein, zwei Stunden administrative Geschichten, Bürokram, und wenn irgendwas ansteht, dann auch Gestaltung.“ (Patrik Pflaum, Graphiker)
Die Befragten kompensieren ihre häufige Wochenendarbeit und Tätigkeiten in den Abendstunden jedoch nicht damit, dass sie sich unter der Woche frei nehmen würden. Kaum eine/r der Befragten nützt die erhöhte Zeitsouveränität als Selbstständige/r in ausgeprägter Weise: Weder nehmen sie sich häufig spontan einen Tag frei, um mehr Zeit mit der Familie oder mit Hobbys zu verbringen, noch unterbrechen sie ihren Arbeitstag häufig für private Angelegenheiten. Auch die Interviewpartner, die zu Hause arbeiten, weisen eine eher monochrone Zeitverwendung auf: Sie unterbrechen ihre Arbeitstätigkeit für Haushaltstätigkeiten nicht, sondern erledigen diese in den Abendstunden oder am Wochenende. Auch die Väter des Alltagsarrangements der Vermischung nutzen ihre zeitliche Autonomie lediglich sporadisch, um tagsüber etwas für die Familie zu erledigen. Hinsichtlich der Zeitverwendung stellt das im Fallbeispiel vorgestellte Alltagsarrangement von Eric Wolf, der auch während der Normalarbeitszeiten nicht-beruflichen Tätigkeiten nachgeht, eine extreme 207
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Form der Vermischung dar. Lediglich eine Gaphikdesignerin, die ebenfalls von zu Hause aus arbeitet und derzeit als Single lebt, weist eine ebenso polychrone Zeitverwendung auf. Als Fazit zum Umgang mit Zeit lässt sich bei der Gruppe der Vermischung folglich festhalten, dass zwar berufliche Zeiten in private Zeiten greifen, es aber umgekehrt kaum vorkommt, dass private Zeiten berufliche überlagern. Die Dauer der Wochenarbeitszeit ist bei allen Befragten sehr hoch. Deshalb bleibt den Befragten für Hobbys, die sachlich nichts mit der Berufstätigkeit zu tun haben, kaum Zeit. Sportliche Aktivitäten werden vielfach ausgeübt, um die eigene Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen bzw. zu erhalten. Die hohen Arbeitszeiten werden aufgrund der hohen Identifikation mit der eigenen Tätigkeit nicht zwangsläufig als Belastung empfunden: „Aber ich mag den Stress, wenn ich mich wirklich in ein Projekt reinsteigere, das Gefühl kommt manchmal mitten in der Nacht, wow, jetzt hast du es und jetzt ist es gut, du hast vier Nächte durchgerödelt und gehst zum Kunden und findest es ganz toll, was du hinbekommen hast, das ist toller Stress, den mag ich auch, das ist Adrenalin auch.“ (Katja Golz, Graphikdesignerin)
Eine starke Variation der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit ist vor allem bei den alleinlebenden Befragten zu beobachten. Bei Befragten mit Familie geben die Kinder oder der Partner gewisse zeitliche Strukturen vor, obwohl auch diese Befragten phasenweise exzessiv arbeiten und erst Konflikte mit dem/der Partner/in oder auch Erschöpfungszustände bei ihnen dazu führen, ihr Arbeitspensum einzudämmen und vor allem die Wochenend- und Abendarbeit zurückzufahren. So berichtet ein Graphikdesigner mit einem kleinen Sohn: „Ich merke, es gibt auch noch andere Dinge im Leben als arbeiten. Hängt mit dem Alter zusammen, hängt einfach mit Erfahrung zusammen, dass es mehr gibt als nur arbeiten. Hängt auch mit Situationen zusammen, dass ich halt merke, ich möchte mich nicht alleine über die Arbeit identifizieren. Das habe ich eine Zeitlang jetzt über sechs, sieben Jahre gemacht. Aber jetzt komme ich wieder in eine Phase, wo andere Sachen auch wichtig werden, das merke ich gerade, da bin ich gerade im Umbruch. Das heißt aber nicht, dass ich die Arbeit umstelle als solches, nur dass ich einfach bestimmte Freiräume mir nehme, um halt nicht mehr krank zu werden. Ich merke halt, dass ich wirklich übertrieben habe. Das merke ich halt daran, dass ich vielleicht mal wieder Bauchschmerzen kriege, dass meine Essgewohnheiten nicht so positiv sind, solche Geschichten.“ (Erich Lang, Internet-Anwendung)
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So sind bei einigen Personen dieser Gruppe Reflexionsprozesse erkennbar, die dazu führen, dass sie ihre exzessiven Arbeitszeiten reduzieren. Diese Prozesse können entweder von privaten Veränderungen wie einer Partnerschaft oder Kindern oder häufig auch von Krankheiten und Erschöpfungszuständen, die sich aus dem hohen Arbeitspensum ergeben, ausgelöst werden. Die Reduktion der Arbeitszeiten führt von einem arbeitszentrierten zu einem stärker ausbalancierten Arrangement.
8.2.4 Diskussion Bei dem Alltagsarrangement der Vermischung korrespondiert die starke Berufsorientierung und Identifikation auf der Handlungsebene damit, dass alle anderen Tätigkeitsbereiche im Alltag der beruflichen Tätigkeit untergeordnet werden und es zu einer starken Variation der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit sowie zu einer teilweisen bis völligen Auflösung der Trennung in Arbeitswoche und Wochenende kommt. Allerdings ist hier abhängig von der Familiensituation ein Kontinuum von stark arbeitszentrierten bis hin zu ausbalancierten Arrangements erkennbar. In dieser Gruppe ist auch eine marktgesteuerte Form der Entgrenzung erkennbar: Befragte, deren Marktposition und Existenz nicht gesichert ist, können es sich nicht erlauben, Aufträge – selbst in Phasen hoher Arbeitsbelastung – abzulehnen. In räumlicher Hinsicht sind je nach Arbeitsort unterschiedliche Praktiken feststellbar. Allerdings kann der Schluss gezogen werden, dass je länger die Arbeitszeiten sind, desto größer sind auch die räumlichen Vermischungen: Entweder wird das Büro zum zu Hause, da dort Aktivitäten stattfinden, die bei weniger exzessiven Arbeitszeiten zu Hause stattfinden würden, oder die Erwerbsarbeit überformt sehr stark den privaten Raum, wenn ausschließlich zu Hause gearbeitet wird. Auffällig ist, dass in der Gruppe der Vermischung keine Frau mit Kindern vertreten ist, und dass alle Frauen, die mit einem Partner zusammenleben, mit diesem Mann auch zusammenarbeiten, also eine Produktionsgemeinschaft bilden. Bei den Männern mit Kindern übernehmen die Partnerinnen die Hauptorganisation des Familienalltags. Zudem verfügen die Doppelverdiener-Paare in meinem Sample in der Regel über eine Haushaltshilfe. Daraus lässt sich ableiten, dass es sich bei dem Alltagsarrangement der Vermischung um eine Form der Alltagsgestaltung handelt, die sich nur verwirklichen lässt, wenn kaum Anforderungen aus anderen Lebensbereichen bestehen.
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Zudem schaffen sich selbst die Interviewten, die kaum zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben unterscheiden, durch individuelle Strategien Auszeiten und Orte abseits der Erwerbsarbeit. Diese Grenzziehungen, z.B. durch die Abschaffung des Arbeitsplatzes in der Wohnung oder durch das Freihalten bestimmter Zeiträume von der Erwerbsarbeit, ist für die Befragten notwendig, um einer Überlastung durch ihre Arbeit zu entgehen. Charakteristisch für das Alltagsarrangement der Vermischung ist, dass die Vermischung nur in eine Richtung stattfindet: Haushalt oder Familie greifen kaum auf die Erwerbsarbeit über, aber die Erwerbsarbeit überformt räumlich, zeitlich und sachlich das Privatleben. Dies ist der Hauptunterschied zwischen dem Alltagsarrangement der Vermischung und dem Alltagsarrangement der wechselnden Prioritäten, das im Fokus des nächsten Kapitels steht.
8 . 3 Al l t a g s a r r a n g e m e n t s d e r wechselnden Prioritäten Die Personen des Alltagsarrangements der wechselnden Prioritäten unterscheiden sich vor allem in ihrer übergeordneten Handlungsorientierung von den Personen des Alltagsarrangments der Vermischung: Ihr Ziel ist die Verbindung von Familie und Beruf. In dieser Gruppe befinden sich ausschließlich Frauen mit Kindern. Im Unterschied zu den zwei anderen Arrangements ist für die Bildung dieses Arrangements die übergeordnete Handlungsorientierung alleine ausschlaggebend, da die Frauen die Integration dieser zwei Lebensbereiche auf der Handlungsebene über sehr unterschiedliche räumliche und zeitliche Praktiken herstellen. Zentral für dieses Arrangement ist, dass die Frauen sowohl ihrer Berufstätigkeit als auch ihrer Familie gerecht werden wollen, was zu einem erhöhten Koordinations- und Abstimmungsaufwand führt, da diese beiden Bereiche in der Regel nicht problemlos nebeneinander her laufen, sondern es von den täglichen Umständen abhängig ist, welcher Bereich an einem bestimmten Tag dominiert. Vier der fünf Frauen, die sich diesem Arrangement zuordnen lassen, haben Kinder im Vorschulalter und leben mit ihrem Partner oder Ehemann zusammen. Eine Frau mit einem Sohn im Grundschulalter ist alleinerziehend und kümmert sich hauptverantwortlich um ihren Sohn. Weitere wichtige Merkmale dieses Samples sind in folgender Tabelle zusammengefasst (die Zeile der Personen, die in den Fallbeispielen eingehend vorgestellt werden, ist farbig unterlegt):
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40
35
31
37
39
erziehend
allein-
lebend
mit Partner
lebend
mit Partner
verheiratet
Alter Lebensform
Quelle: Eigene Darstellung
Wörner
Sandra
Vera Arndt
Paulisch
Franziska
Nicole Holm
Ulmen
Constanze
Codename
10
1, 3
2
1
5
HH
Kinder im
Alter der
Text
Graphikdesign
Graphikdesign
Graphikdesign
bildung
Berufsaus-
studium
Hochschul-
bildung
Berufsaus-
studium
Hochschul-
studium
Hochschul-
abschluss
bereich
Graphikdesign
Bildungs-
Tätigkeits-
Tabelle 5: Alltagsarrangement der wechselnden Prioritäten
30-40+
20-30
20-30
20-30
40
h/Woche
zeit
Arbeits-
in Bürogemeinschaft (100 %)
außerhalb
Arbeitsplatz
in Küche (40 %)
in Firma (30 %), in Bürogemeinschaft (30 %)
in BürogemeinWohnzimmer (20 %) schaft (80 %)
Laptop im
(100 %)
im Wohnzimmer
(100 %)
und Wohnzimmer
im Arbeitszimmer
Hause
Arbeitsplatz zu
Arbeitsorte: zeitliche Anteile
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Im öffentlichen Diskurs wird gerade für Mütter mit kleinen Kindern die Möglichkeit, zu Hause zu arbeiten, als Lösung des Vereinbarkeitsproblems gesehen. Viele betriebliche Teleheimarbeitsprojekte in Firmen
211
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wurden zu diesem Zweck geschaffen (vgl. Kleemann 2005). Interessant ist deshalb, dass auch Frauen mit kleinen Kindern in meiner Untersuchung ganz bewusst ihren Arbeitsplatz außerhalb der Wohnung wählen.
8.3.1 Die Rolle von handlungsleitenden Orientierungen bei der Alltagsgestaltung: Drei Fallbeispiele Die folgenden drei Fallstudien sollen einen Einblick in die Alltagsstrukturen und Lebensumstände dieser Personengruppe geben. Vor allem möchte ich aber anhand der Fallstudien zeigen, dass die Frauen ihren doppelten Lebensentwurf, d.h. die Verbindung von Familie und Beruf, auf handlungspraktischer Ebene durch sehr unterschiedliche räumliche und zeitliche Praktiken verwirklichen. Entscheidende Faktoren, die die jeweilige alltagspraktische Ausgestaltung bestimmen, sind Orientierungen in Bezug auf das eigene Rollenverständnis als Mutter sowie auf die richtige Kindererziehung und Betreuung, die wiederum stark von kulturellen und gesellschaftlichen Leitbildern beeinflusst sind. Zudem spielen vorhandenen Ressourcen für die praktische Ausgestaltung ihres Alltags eine wichtige Rolle.
Arbeiten zu Hause: „Mein großes Ziel war schon immer die Selbstständigkeit, weil ich das ja auch von zu Hause her kannte.“ Nicole Holm ist 37 Jahre alt. Sie hat Graphikdesign studiert und war dann fünf Jahre in einer Agentur tätig. Seit 1999 ist sie selbstständig zu Hause als Graphikdesignerin tätig. Sie lebt mit ihrem langjährigen Partner in einer Drei-Zimmer-Wohnung in einem innenstadtnahen Viertel von München. Das Paar hat einen knapp einjährigen Sohn. Ihr Partner ist Jurist und in Vollzeit in einer Firma angestellt tätig. Ihr Tagesablauf weist eine große zeitliche und räumliche Vermischung von berufsbezogenen und familienbezogenen Tätigkeiten auf. Ein Tag in der Woche steht ihr ausschließlich für die Erwerbsarbeit zur Verfügung, da an diesem Tag die Schwiegermutter zur Betreuung ihres Sohnes kommt. An diesem Tag ist sie von 10.00 Uhr morgens meist bis 24.00 Uhr tätig. Sie unterbricht die Arbeit lediglich für kurze Pausen, um ihren Sohn zu füttern und selbst zu essen. An den übrigen Tagen ist ihr Tagesablauf von einem fast ständigen Wechsel zwischen beruflichen, Haushalts- und familialen Tätigkeiten gekennzeichnet. Die Fixpunkte ihrer Alltagsgestaltung ergeben sich aus dem Schlaf- und Essensrhythmus ihres Sohnes.
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In der Regel ist sie zwischen 9.00 Uhr und 19.00 Uhr für ihre Kunden erreichbar. Der Computer läuft den gesamten Tag, so dass sie schnell und flexibel zwischen Betreuungs- und beruflichen Tätigkeiten hin und her wechseln kann. Diese zeitliche und räumliche Vermischung von beruflichen Tätigkeiten und Kinderbetreuung schildert sie als unproblematisch: „Ja, und dann nehme ich ihn [ihren Sohn] mit ins Arbeitszimmer, oder lasse ihn im Wohnzimmer und check halt die Emails oder schreibe auf, was am Tag gemacht werden muss. Und dann sind halt ab und zu eilige Korrekturen zu machen, und die mache ich dann auch schnell. Teilweise mit ihm auf dem Arm oder früher im Tuch eingebunden. Er hat er ganz lang geschlafen oder war ganz ruhig und hat auf den Bildschirm geschaut. Das macht er inzwischen nicht mehr. Und ja, ich arbeite eigentlich so lange bis er unruhig wird. Dann höre ich auf, dann geh ich raus, spazieren. Dann kriegt er sein Mittagessen.[…] Am Nachmittag gehen wir meistens raus, und dann gehe ich auch Einkaufen und mach so die ganzen ‚hausfraulichen‘ Sachen, und wenn er halt nachmittags schläft, dann arbeite ich halt auch oder sobald er ruhig ist oder ich merke, jetzt ist er ausgeglichen, jetzt kann er auch alleine spielen, dann setzte ich mich hin. Das geht eigentlich ganz gut.“
Zudem passt auch die Putzhilfe einige Stunden in der Woche auf das Kind auf. An drei Abenden in der Woche arbeitet Nicole Holm, wenn ihr Partner von der Arbeit nach Hause kommt und die Betreuung des Kindes übernimmt. Zudem erledigt sie in der Regel einen halben Tag am Wochenende berufsbezogene Tätigkeiten. Dieses Alltagsarrangement lässt ihr kaum Zeit für Hobbys, da sie erwerbsbezogenen Tätigkeiten nachgeht, sobald ihr Sohn schläft oder zu Hause betreut ist. Für Nicole Holm haben die berufliche und die private Sphäre je einen eigenen Stellenwert. Sie zieht Wertschätzung und Anerkennung aus ihrer Berufstätigkeit. Der hohe Stellenwert wird auch daraus ersichtlich, dass sie bereits acht Wochen nach der Geburt wieder Aufträge annahm, obwohl sie zunächst plante, mindestens ein halbes Jahr ihre Erwerbstätigkeit zu unterbrechen. Insgesamt räumt sie allerdings ihrer Rolle als Mutter eindeutig höhere Priorität ein und seit der Geburt ihres Sohnes hat die Familie einen wichtigere Rolle in ihrer Alltags- und Lebensgestaltung eingenommen als die Erwerbstätigkeit. „Die Arbeit hat schon einen großen Stellenwert. Es ist schon sehr viel Bestätigung. Also inzwischen steht's, glaube ich, an der dritten Stelle. Also als erstes ist doch jetzt er [das Kind], zweites ist die Beziehung und drittes die Arbeit. Aber es macht mir halt einfach Spaß. Also das ist schon wichtig für
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mich. Aber es ist halt jetzt auch nicht so wichtig, dass ich sage, ich würde ihn in die Krippe tun, wenn, dann halt ein Babysitter, der hierher kommt.“
Sie kann sich nicht vorstellen, ihr Kind vor dem Kindergartenalter außer Haus betreuen zu lassen. Im Vergleich zur der Betreuung durch sie als Mutter sieht sie diese Betreuung als defizitär an. Die Betreuung in der Wohnung durch die Schwiegermutter ist für sie akzeptabel. Dadurch, dass sie immer greifbar ist, wenn ihr Sohn sie braucht, hat sie kein schlechtes Gewissen, ihn betreuen zu lassen. Den Arbeitsplatz zu Hause zu haben, betrachtet sie als optimale Lösung, um Beruf und Familie zu verbinden. Ihr Ziel war schon immer die Selbstständigkeit, die ihr diese räumliche Arbeitssituation ermöglicht. Das Gefühl, sich zu Hause nicht professionell zu fühlen, kennt sie nicht. Die meisten ihrer Kunden wissen, dass sie ein Kind hat und sie führt auch Besprechungen mit Kunden in ihrer Wohnung durch. Die Antwort, warum sie diese Vermischung als unproblematisch empfindet, liegt auch in ihrer Biographie begründet. Sie ist in einem Selbstständigenhaushalt aufgewachsen und empfand diese Vermischung als normal und positiv, wie ihre folgende Schilderung zeigt: „Mein großes Ziel war schon immer die Selbstständigkeit, weil ich das ja auch von zu Hause her kannte. Mein Vater war selbstständig und es war halt immer so nebenbei und er hatte doch immer Zeit gehabt, also er hat zwar nur gearbeitet, aber war dann doch immer da. Weil ich als Kind auch im Büro mit gesessen habe und an der Rechenmaschine und im Büro gespielt habe und ich war trotzdem bei meiner Mutter oder bei meinem Vater und die haben gearbeitet. Darum fand ich das halt so ganz angenehm und auch mit dem Ausblick, okay, wenn irgendwann mal Kinder, dann ist das so wahnsinnig praktisch, wenn man das von zu Hause aus machen kann.“
Die Wohnung ist für sie nicht als Ort der Erholung und des Rückzugs von der Erwerbsarbeit konstruiert. Arbeiten zu Hause empfindet sie nicht als Belastung, sondern diese Situation ermöglicht ihr das Arbeiten. Allerdings verfügt sie über die Fähigkeit, sich schnell von der Beschäftigung mit ihrem Sohn wieder ausschließlich auf die Erwerbsarbeit konzentrieren zu können. Zwar kennt sie das schlechte Gewissen, das sie bekommt, wenn sie gleichzeitig mit ihm spielt und an ihre Arbeit denkt, aber sie hat nicht den Anspruch an sich, als Mutter immer ausschließlich für das Kind da sein zu wollen. Hierzu sagt sie: „Weil viele ja auch sagen, ‚ach ich kann mich nicht konzentrieren oder ich werde abgelenkt durch das Kind‘. Das habe ich irgendwie nicht, also wenn ich arbeite, dann bin ich auch dabei. Nee, also da bin ich eigentlich relativ schnell 214
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am Umschalten, da hab ich eigentlich eher ein schlechtes Gewissen, wenn ich mit ihm spiele oder unterwegs bin, dass ich da halt oft an die Arbeit denke und ah, was mach ich dann und wenn er schläft, dann mache ich das und das. Aber das geht dann trotzdem auch, also wenn ich bei ihm bin und wenn der Tag auch noch so stressig war und ich anstrengende Besprechungen hatte, dass ich mit ihm dann relativ schnell runter komme. So, oh jetzt bin ich angekommen. So von schnell noch einen Brief wegschicken und machen und tun oder mit Kunden letzte Dinge besprechen und dann mit ihm spielen, also dann erst mal ruhig werden. Das geht eigentlich ganz gut. Also es ist schon, dass ich im Hinterkopf habe, wenn er schläft dann aber ran, also nicht, dass ich mir noch ein Kaffee mache oder in der Gegend rumschaue, das geht einfach nicht.“
Das Alltagsarrangement von Nicole Holm ist entscheidend von ihrer Vorstellung von einer richtigen Mutter und Kinderbetreuung sowie ihrer Konstruktion des Zuhauses beeinflusst. Die positive Konnotation des Vermischens von Arbeiten und Kinderbetreuung zu Hause lassen sich aus ihrer biographischen Erfahrung ableiten. Dass diese räumliche Vermischung, die gleichzeitig zu einer polychronen Zeitverwendung führt, sie nicht überfordert, hängt mit ihrer Fähigkeit zusammen, schnell von einem Lebensbereich auf den anderen umschalten zu können.
Arbeiten am Büroarbeitsplatz und zu Hause: „Man kann nicht daheim arbeiten und die Kinder sind dabei, das geht nicht.“ Vera Arndt ist 35 Jahre alt, sie hat zwei Kinder im Vorschulalter und lebt mit ihrem Mann, einem beruflich stark engagierten Unternehmensberater in einer Drei-Zimmer-Wohnung in einem innenstadtnahen Stadtteil von München. Sie hat Graphikdesign studiert und nach dem Studium drei Jahre in einer Agentur gearbeitet. Im Jahr 2000 gründete sie ein Büro für Graphikdesign. Ihr Tagesablauf ist durch eine klare zeitliche und räumliche Separation von berufsbezogenen und haushalts- und familienbezogenen Tätigkeiten gekennzeichnet. An einem normalen Arbeitstag arbeitet sie vormittags an ihrem Arbeitsplatz in einer Bürogemeinschaft, am Nachmittag betreut sie zu Hause ihre Kinder. An rund drei Abenden in der Woche arbeitet sie nach 9.00 Uhr abends, wenn die Kinder im Bett sind, zu Hause an ihrem Laptop. Die Anmietung eines Arbeitsplatzes in einer Bürogemeinschaft ermöglicht ihr, zwischen ihrer beruflichen Tätigkeit und der Betreuung ihrer Kinder klar zu trennen. Zu den weiteren Gründen für diese Trennung sagt sie:
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
„[Ich] habe… mir schon überlegt: Möchte ich in der Wohnung arbeiten? Meinetwegen auch über Türen abgetrennt oder möchte ich draußen arbeiten? Und dann habe ich mich wirklich bewusst für ein Büro außerhalb entschieden, weil ich gesagt habe, ich möchte auch andere Leute sehen und ich möchte wirklich das Gefühl haben, nicht noch kurz eine Wäsche zu waschen, sondern einfach wirklich jetzt nur noch den Beruf zu haben, das fand ich wichtig für mich.“
Die räumliche Vermischung von beruflichen Tätigkeiten mit Kinderbetreuung und Haushaltstätigkeiten empfindet sie als belastend. Diese Belastung beschreibt sie folgendermaßen: „Also, es gab Zeiten, wo wir noch niemand [zur Betreuung] für die Kinder hatten. Und da war es dann so: Das Telefon klingelt – ich habe einen beruflichen Anschluss und einen privaten, ich höre vom Klingeln her, welcher es ist. Und wenn es dann beruflich ist, dann muss ich die Kinder irgendwo schnell in ein Zimmer schaffen und ich sperre mich ins Schlafzimmer ein und muss versuchen, eben dann berufliche Gespräche zu führen, und das ist einfach ein Alptraum.“
Nachmittags erledigt sie Haushaltstätigkeiten. Dabei hat sie kein Problem Haushaltstätigkeiten – die ebenfalls ihre Aufmerksamkeit von den Kindern ablenken – mit Kinderbetreuung zu kombinieren, eine Kombination, die gesellschaftlich in dieser Form anerkannt ist. Zu dieser Zeit weist sie also eine polychrone Zeitverwendung auf. Unproblematisch ist das Arbeiten zu Hause für sie, wenn ihre Kinder im Bett sind. Dann erledigt sie berufliche Tätigkeiten am Laptop im Wohnzimmer. Allerdings hat sie sich bewusst keinen Arbeitsplatz zu Hause eingerichtet, um dieser abendlichen Tätigkeit den Charakter des Außergewöhnlichen, nicht Alltäglichen zu geben, obwohl sie rund drei Tage in der Woche vor allem Recherchetätigkeiten, Steuererklärung und das Schreiben von Rechnungen zu Hause erledigt. Welche Gründe lassen sich für dieses Alltagsarrangement anführen? Zunächst ermöglicht ihr die Selbstständigkeit, überhaupt erwerbstätig zu sein, da sie im Notfall, z.B. bei der Krankheit eines Kindes, einspringen muss und für das ‚tägliche-am-Laufen-halten‘ des Haushalts verantwortlich ist. Ihr Mann muss beruflich flexibel sein und ist häufig unter der Woche nicht bei der Familie: „Und da muss ich halt dann auch irgendwie reagieren. Also für uns ist, dass ich selbstständig bin, eigentlich die Lösung. Anders wäre es kaum zu machen, denke ich mal. Also, ja, ich mein, dadurch, dass er nicht immer in München ist, dadurch, dass er wirklich mal hopplahopp auch nachts arbeiten muss oder 216
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ja, so einen Beruf hat, wo er auch extrem viel arbeiten muss, da braucht es jemand, der, der dann daheim flexibel ist und wenn die Kinder krank sind, sowieso. Da muss ich einfach meine Aufträge erstmal sausen lassen und halt da sein.“
Zweitens ermöglicht ihr der widersprüchliche Umgang mit räumlichen Zuweisungen die ihr zur Verfügung stehende Zeit für berufsbezogene Tätigkeiten auszudehnen. Drittens liegt die Motivation für die räumliche und zeitliche Trennung von berufsbezogenen und haushaltsbezogenen Tätigkeiten in ihren Leitbildern von der richtigen Kinderbetreuung und einer guten Mutter begründet. Zum einen möchte sie ihre Kinder nicht länger als vormittags ‚fremdbetreuen‘ lassen und zum anderen ist sie der Meinung, dass sie ihren Kindern zu den gemeinsamen Zeiten nur gerecht werden kann, wenn sie Berufliches vollkommen ausklammert: „Also, ich habe gesagt, ich bin ab nachmittags nicht mehr erreichbar… ich habe kein Handy. Das ist dann halt nicht. Also ich möchte das wirklich trennen. Dass ich auch den Kindern nicht das Gefühl gebe, ja, eigentlich arbeite ich nebenher noch, sondern ich möchte dann wirklich komplett da sein für die Kinder.“
Gleichzeitig hat sie eine genaue Vorstellung von Professionalität, die eng verbunden ist mit einem professionellen Arbeits-setting. Da das Zuhause bei ihr mit ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau verknüpft ist, benötigt sie ein professionelles Umfeld, um sich als berufstätige Frau zu präsentieren und ernst genommen zu fühlen. „Es ist zwei Minuten zu Fuß zum Büro. Und trotzdem Bürosituation. Also, das ist optimal, wirklich. Weil ich komme, von den Kindern einfach in die Berufssituation. Ein Kunde kann da hin kommen und sieht keine Kinder, da bin ich dann einfach berufstätig und auch verlässlich in dem Zusammenhang… ich fühle mich da auch irgendwie ernster genommen, wenn ich dann im Büro bin, als daheim. Vielleicht auch für mein Selbstverständnis. Dass ich sehe, Mensch, ich bin wirklich selbstständig, und ich bin wirklich auch Graphikerin und nicht nur Mutter, die nebenher kurz ein Logo hinbastelt…“.
Die Möglichkeit, in räumlicher und zeitlicher Hinsicht Grenzen zwischen den einzelnen Lebensbereichen zu ziehen, ist für sie eine wichtige Voraussetzung, überhaupt arbeiten zu können und gleichzeitig ihren Ansprüchen an die eigene Professionalität und an ihr Bild einer guten Mutter gerecht zu werden.
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Entscheidende Ressourcen, die ihr dieses Arrangement ermöglichen, sind ein Büroraum außerhalb der Wohnung, eine verlässliche Kinderbetreuung in den Vormittagsstunden sowie kurze Wege zwischen Büro und Wohnung, die ihr diese Alltagsorganisation erleichtern.
Arbeiten in der Bürogemeinschaft: „Ja, es hat sich bei mir bestimmt hin zu einer stärkeren Trennung entwickelt.“ Constanze Ulmen ist 39 Jahre alt und lebt zusammen mit ihrem Mann und ihrem fünf Jahre alten Sohn in einem innenstadtnahen Viertel von München. Sie hat ihr Studium Graphik und Produktdesign 1997 abgeschlossen und ist seitdem als freie Graphikerin tätig. Seit zwei Jahren hat sie gemeinsam mit einer Bekannten ein Büro für Graphikdesign. Sie hat einige Wochen nach der Geburt ihres Sohnes zunächst von zu Hause aus gearbeitet. Mit dieser räumlichen Vermischung war sie sehr unzufrieden. Seit ihr Sohn eineinhalb Jahre alt ist, geht er in eine Krippe und inzwischen ganztags in einen Kindergarten. Ihr Mann ist ebenfalls freiberuflicher Graphiker und arbeitet von zu Hause aus. Das Paar teilt sich die Betreuung des Sohnes und die Erledingung von Haushaltstätigkeiten egalitär auf. Ihr Tagesablauf ist von klaren räumlichen und zeitlichen Trennungen zwischen berufsbezogenen und familienbezogenen Tätigkeiten gekennzeichnet und läuft, wie sie selbst sagt „im Großen und Ganzen recht gleichförmig ab“. Am Morgen bringt sie auf dem Weg zur Arbeit ihren Sohn in den nahe gelegenen Kindergarten und sie geht an ihren Arbeitsplatz in ihrem Graphikbüro. Mittags trifft sie sich häufig mit ihrem Mann zum Mittagessen. Um 17.00 Uhr holt sie ihren Sohn vom Kindergarten. Falls sie länger arbeiten muss, übernimmt ihr Mann das Abholen. Eine räumliche Trennung zwischen Beruf und Familie stellt sie her, indem sie ausschließlich an ihrem Büroarbeitsplatz arbeitet. Nur in Ausnahmefällen geht sie nach dem Abendessen noch mal zurück ins Büro, um dort weiterzuarbeiten. Sie nimmt grundsätzlich keine Arbeit mit nach Hause. Auch zeitlich trennt sie klar zwischen Beruf und Familienzeit: „Wochenende ist, sage ich mal, fast heilig. Ja, also bei meinem Mann ist des irgendwie auch noch mal anders, aber bei mir selber, ich will eigentlich am Wochenende auch nicht erreichbar sein. Es gab zwar mal Phasen, wo es ins Wochenende rein ging, wo ich Samstag noch mal was gearbeitet habe. Aber das ist eigentlich eher die Ausnahme. Einfach auch, weil mit Kind schon fast der Anspruch da ist, dass man da einfach auch für das Kind da ist.“ 218
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Allerdings schränkt sie ein, dass sie am Wochenende durchaus Recherchearbeiten macht, und sich mit Menschen trifft, mit denen sie auch beruflich zu tun hat oder Fachzeitschriften liest, um Ideen für Projekte zu bekommen. Dass eine vollständige sachliche Trennung zwischen Beruf und Privatleben nicht möglich ist, begründet sie mit der Kreativität, die bei ihrer Arbeit gefordert ist: „[…] und das arbeitet im Kopf dann ein bisschen weiter. Das kann ich nicht, also das Kreative kann man da ja auch nicht abschalten, will man ja auch gar nicht abschalten.“
Ihre heutige starke Trennung von Beruf und Privatleben sowohl auf der handlungspraktischen wie auch kognitiven Ebene beschreibt sie als Endpunkt eines Prozesses. Zu Beginn der Berufstätigkeit versuchte sie permanent für ihre Kunden erreichbar zu sein und arbeitete auch an den Wochenenden und Abenden. Inzwischen hat sie eine größere Gelassenheit in diesen Fragen entwickelt: „Am Anfang wollte ich immer alles, um jeden Preis, immer noch sofort fertig machen, und das mache ich nicht mehr. Also natürlich versuche ich, also es geht immer um zufriedene Kunden, aber es geht irgendwie darum auch eigene Grenzen zu setzen.“
Als Auslöser für diesen Prozess nennt sie die Geburt ihres Sohnes. Sie hat zwei Monate nach der Geburt wieder angefangen zu arbeiten. Die Arbeitszeiten hat sie sehr stark nach dem Kind ausgerichtet, immer wenn er geschlafen hat, hat sie gearbeitet. Ihr Arbeitsplatz befand sich für die ersten eineinhalb Jahre im Wohnzimmer, wobei sie diese räumliche Vermischung als sehr unangenehm empfand: „Also es war im Wohnzimmer. Und es war eben auf Dauer für mich keine Lösung. Ich glaub das hat einerseits damit zu tun, das man irgendwann feststellt, dass es keine Zeit gibt, die wirklich nur privat und nur beruflich sind. Und, dass für mich persönlich eine Trennung wichtig war. Ich finde, mir tut's gut einfach, ein Büro zu haben, und dann, wenn ich nach Hause komme auch zu sagen okay, jetzt ist man auch zu Hause.“
Die räumliche Vermischung führte bei ihr auch zu einer Vermischung von beruflichen Tätigkeiten und Haushaltstätigkeiten, die sie in ihrer Arbeitszeit ablenkten.
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„[…] einfach weil das zu Hause arbeiten, ja man nimmt vielleicht die Arbeit, die man dann macht, nicht so ernst, dann wirft man doch mal die Waschmaschine an und hängt dann die Wäsche auf und dann stellt man fest, dass mal wieder Staubsaugen nötig wäre. Also das greift so ineinander über, dass es manchmal beides nicht so richtig befriedigend ist.“
Eine wichtige Ressource stellt für Constanze Ulmen die verlässliche Kinderbetreuung dar, in der sich ihr Sohn wohl fühlt. Zudem kann im Notfall jederzeit ihr Mann einspringen. Dies ermöglicht ihr ganztätig berufstätig zu sein. „Also in größeren Phasen, aber auch sehr kurzfristig, dass ich jetzt sage, ich hab jetzt ein wahnsinnig wichtiges Projekt und ich kann den Kleinen diese Woche nicht so gut vom Kindergarten abholen und mein Mann übernimmt dann. Also das funktioniert eigentlich ganz gut. Also er [ihr Sohn] hat auch einen Ganztageskindergartenplatz, also von 9.00 bis um 17.00 Uhr. Und fühlt sich dort ziemlich wohl. Und dadurch funktioniert das einfach auch, dass man den Kopf frei hat und eben weiß, dass er sich wohlfühlt. Und gleichzeitig ist es mir auch wichtig, die Zeit, die man dann auch nach dem Kinderhaus oder nach der Arbeit hat, auch zusammen als Familie zu genießen.“
Im Gegensatz zu Nicole Holm und Vera Arndt hat Constanze Ulmen keine Probleme ihr Kind außer Hause betreuen zu lassen. Allerdings möchte sie sich nach der Arbeit voll ihrer Familie widmen können. Mit diesem Arrangement ist sie zufrieden und möchte es beibehalten: „Und ich hab das Gefühl, ich komme da besser zurecht, weil ich sonst so gar nichts richtig mache. Sondern dann ist das eine nicht wirklich gelebt, also das Familienleben nicht wirklich gelebt und das Berufsleben ist auch ständig durchmischt. Also ja, ich habe das Gefühl es funktioniert so wie's grad ist ganz gut.“
Aber auch für sie spielt die räumliche Nähe von Arbeitsplatz, Wohnung und Kinderbetreuungseinrichtung im Alltag eine entscheidende Rolle. „Also für mich ist es total wichtig, so ein bisschen, so mitten im Leben zu sein. Also auch von der Infrastruktur, Kindergarten, in einem Jahr ist es die Schule, das Büro, also dass das irgendwie so kompakt beieinander ist. Das ist schon für mich so ein großer Luxus. Größer, als wenn ich jetzt irgendwie noch einen schönen Garten dabei hätte.“
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8.3.2 Zusammenfassende Darstellung der Merkmale Orientierungen Gemeinsam ist allen Frauen mit dem Alltagsarrangement der wechselnden Prioritäten, dass sie einen „doppelten Lebensentwurf“ verfolgen, also gleichzeitige Orientierung an Beruf und Familie. Der Begriff beschreibt, dass zur Lebensplanung von Frauen inzwischen selbstverständlich neben der Familie eine qualifizierte Berufsausbildung und Erwerbstätigkeit als normale Bestandteile gehören. Eine Besonderheit der weiblichen Lebensplanung ist allerdings zumindest in Westdeutschland, dass sich die doppelte Lebensführung von Frauen, also die Verbindung von Erwerbsautonomie und Präsenz in der Familie, als Leitbild zwar durchgesetzt hat, aber für dessen Ausgestaltung noch kein biographisches Modell oder Vorbild und keine institutionellen Hilfen bestehen, auf die Frauen zurückgreifen können (vgl. Geissler/Oechsle 1994: 148 f.). Frauen sind deshalb gefordert, individuelle Lösungen für das Verhältnis von Familie und Erwerb zu finden. Da bei den Interviewpartnerinnen sowohl die Erwerbsarbeit als auch die Familie subjektiv eine hohe Bedeutung haben, stellt sich die Frage, wie das Verhältnis der beiden Lebensbereiche praktisch gestaltet werden kann. Vor dem Hintergrund des doppelten Lebensentwurfs stellen sich die Motive und Orientierungen der Frauen folgendermaßen dar: Der Stellenwert der beruflichen Tätigkeit für das Selbstverständnis der Frauen ist hoch. Sie identifizieren sich alle sehr stark mit ihrem Beruf und üben ihre Tätigkeit sehr gerne aus. Dies wird auch deutlich, da alle bereits wenige Wochen nach der Geburt ihrer Kinder wieder angefangen haben zu arbeiten. Eine reine Mutter- und Hausfrauenrolle kann sich keine der Befragten vorstellen, sondern alle haben ihre Karriere so geplant, dass sie eine anspruchsvolle Tätigkeit mit Mutterschaft verbinden können. Aus den Erzählungen der Frauen lässt sich rekonstruieren, dass sie alle (bis auf die alleinerziehende Frau) vor Geburt ihrer Kinder beruflich sehr engagiert waren und ihre Alltagsgestaltung dem Alltagsarrangements der Vermischung mit extrem langen Arbeitszeiten entsprach. An diesem Arrangement hat z.B. eine feste Partnerschaft nichts geändert, sondern der Auslöser für die Veränderung ihres Alltags auch in beruflicher Hinsicht war, eine Familie zu gründen: „Also ich meine, ein großer Einschnitt war bestimmt, halt Eltern zu werden und eben, dass da einfach was ist, was so unumstößlich ist, also was sich auch nicht aufschieben lässt. Wenn ein Kind hungrig nach Hause kommt, dann lässt 221
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sich das nicht irgendwie, noch mal kurz für zwei Stunden in eine Ecke stellen. Also es ist bestimmt was, was mich auch verändert hat in meiner beruflichen Ansicht. Dass ich auch sag, es gibt Dinge, die sind wichtiger als auch jetzt diese Mail noch oder was ich gelernt habe zu sagen, bis da und dahin kann ich's auf jeden Fall noch schaffen, und wenn der Kunde danach noch mit einer Änderung kommt, dann gibt’s das eben erst am nächsten Tag. Und das geht dann auch. Am Anfang wollte ich immer alles, um jeden Preis, immer noch sofort fertig machen, und das mache ich nicht mehr.“ (Constanze Ulmen, Graphikdesign)
Ab diesem Zeitpunkt verschieben sich die Prioritäten in der Lebens- und Alltagsgestaltung und die Befragten verwirklichen ab jetzt ihre berufliche Tätigkeit in dem durch die Familientätigkeiten definierten Rahmen. Die praktische Gestaltung der Berufstätigkeit passt sich ihren familienbezogenen Aufgaben an. Bis auf ein Paar, das sich Haushalt und Kinderbetreuung egalitär aufteilt, sind die Frauen für die Familienarbeit zuständig und der Mann hilft soweit mit, wie sein Beruf es zulässt. Damit folgen diese Paare dem kulturellen Leitbild des vollzeiterwerbstätigen Mannes und der teilzeiterwerbstätigen Frau, die die Hauptverantwortung für Kinderbetreuung und Haushalt übernimmt. Die Situation der alleinerziehenden Frau stellt sich anders dar, da sich ihre materielle und soziale Lage von den in Partnerschaft lebenden oder verheirateten Frauen erheblich unterscheidet. Für sie spielen bei der Entscheidung, auch vor dem Kindergartenalter des Kindes erwerbstätig zu sein und eine Kinderbetreuung in Anspruch zu nehmen, materielle Zwänge und Verdienstgründe eine größere Rolle. Für sie ist die Selbstständigkeit und die Arbeit zu Hause eine Möglichkeit, ihre Arbeitszeit auszudehnen, um das Familieneinkommen sicherzustellen.
Räumliche und zeitliche Praktiken Wie die Fallbeispiele verdeutlicht haben, ist die praktische Ausgestaltung des Alltags bei diesem Arrangement unterschiedlich: Es kommen sowohl Praktiken der Vermischung als auch Praktiken der Trennung zum Tragen. Grundsätzlich ist für diese Frauen die Selbstständigkeit und die damit verbundene freie Wahl des Arbeitsortes und die erhöhte „Zeitsouveränität“ (Rinderspacher 2000), d.h. die Möglichkeit den Zeitpunkt und Abfolge ihrer Handlungen selbst zu strukturieren, eine Voraussetzung in dieser Form überhaupt erwerbstätig zu sein und gleichzeitig die Belange der Familie zu berücksichtigen.
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Die Arbeitsorte, an denen die Frauen hauptsächlich tätig sind, sind unterschiedlich: Zwei Frauen arbeiten ausschließlich von zu Hause, zwei arbeiten zu Hause und an einem Büroarbeitsplatz und eine Frau arbeitet ausschließlich an ihrem Büroarbeitsplatz. Ebenso sind die Wochenarbeitszeiten der Frauen unterschiedlich. Sie schwanken zwischen 20 und über 40 Stunden, wobei die Frauen versuchen, ihre Arbeitszeiten unter den gegebenen Umständen zu maximieren. Generell bestimmen bei diesem Arrangement die Zeitanforderungen der Kinder und des Haushalts die zur Erwerbsarbeit verfügbare Zeit. Bei dem Umgang mit Zeit können zwei Muster unterschieden werden: Frauen, die feste Zeiträume für die Erwerbsarbeit einplanen und alle anderen Verpflichtungen in dieser Zeit ausblenden. Die Kinder sind in dieser Zeit betreut. Diese monochrone Zeitverwendung ist typisch für Frauen, die räumlich zwischen beruflicher Tätigkeit und Privatleben trennen und hauptsächlich an einen Büroarbeitsplatz außerhalb der Wohnung tätig sind. Eine polychrone Zeitverwendung, bei der flexibel zwischen Kinderbetreuung oder Haushaltstätigkeiten und beruflicher Tätigkeit hin und her gewechselt wird, ist typisch für Frauen, die hauptsächlich zu Hause arbeiten. Bei ihnen bestimmen nicht flexibel gestaltbare Zeiten wie die Schlafrhythmen der Kinder, oder Krippen-, Kindergarten- und Hortzeiten den Tagesablauf und ihr Arbeitsalltag ist tendenziell fragmentiert. Bei allen interviewten Frauen stellen die Abendstunden, wenn die Kinder schlafen oder das Wochenende zeitliche Puffer dar, die flexibel genutzt werden, falls ein Projekt dringend zu Ende gebracht werden muss. Folglich bleibt den Befragten kaum ‚Zeit für sich‘ als freie Zeiträume, die nicht durch Familien- oder Erwerbsarbeit ausgefüllt ist. Die hohe Identifikation mit ihrer Tätigkeit (die Graphikdesignerinnen können tendenziell der unter Punkt 8.2.2 beschriebenen künstlerischen Orientierung zugeordnet werden) führt dazu, dass die Frauen in ihrer knappen Freizeit Aktivitäten betreiben, die nahe an ihrer beruflichen Tätigkeit sind, z.B. Museen besuchen oder in Ausstellungen gehen, um neue Eindrücke zu bekommen. Gemeinsam ist allen Frauen, dass es ihre familiäre Situation nicht zulässt, Abendtermine, die einen halbberuflichen Charakter haben, wahrzunehmen.
Diskussion Die unterschiedliche praktische Ausgestaltung des Alltags dieser Frauen zeigt, dass den widersprüchlichen Anforderungen aus Familie und Beruf 223
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
auf unterschiedliche Weise begegnet werden kann. Welche räumlichen und zeitlichen Grenzen die Befragten zwischen Beruf und Privatleben ziehen, hängt maßgeblich von den jeweiligen Orientierungen und Leitbildern in Bezug auf die richtige Kinderbetreuung und das Bild einer guten Mutter ab. Die Einstellungen und Orientierungen beeinflussen also maßgeblich die Gestaltung und Kombination unterschiedlicher Lebensbereiche. Auffällig ist, dass bei den Müttern mit einem doppelten Lebensentwurf die Bedeutung des Zuhauses als Ort der Familie oder als Rückzugsort von der Erwerbsarbeit eine wesentlich größere Rolle für die Frage spielt, wo sie ihren Arbeitsplatz einrichten, als für die anderen Frauen. Dies könnte damit zusammenhängen, dass heute nicht mehr die Heirat oder das Zusammenleben mit einem Partner, sondern erst die Elternschaft den maßgeblichen Einschnitt im Leben von Frauen darstellt und Rollenbilder überdacht werden müssen. Diese Rollenbilder sind, wie das Fallbeispiel von Vera Arndt gezeigt hat, immer auch mit Räumen verknüpft. Im Unterschied zu dem Arrangement der Vermischung ist bei dem Arrangement der wechselnden Prioritäten eine Vermischung von Beruf und Privatleben in beide Richtungen zu beobachten. In der Regel greift die berufliche Tätigkeit auf die übrigen Lebensbereiche über und gleichzeitig geben die familialen Anforderungen die zeitliche Struktur für die Erwerbstätigkeit vor. Ein Vergleich der beiden Arrangements verdeutlicht zudem, dass Sorgearbeit für Kinder mit einem Alltagsarrangement der Vermischung kaum zu vereinbaren ist. Das Arrangement zeigt, dass Formen der Alltagsgestaltung temporären Charakter haben können, da es vor allem der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf dient, solange (kleine) Kinder zu betreuen sind. Während bei den Frauen mit Partner oder Ehemann auch Selbstverwirklichungsmotive eine Rolle spielen, stehen bei der alleinerziehenden Frau materielle Gründe für dieses Arrangement im Vordergrund. Deutlich geworden ist auch, dass dieses Alltagsarrangement einen hohen Organisations- und Koordinationsaufwand bedeutet und deshalb die räumliche Nähe zwischen Wohnung, Kinderbetreuungseinrichtung und Bürostandort die Alltagsorganisation erleichtert oder in dieser Form sogar erst ermöglicht.
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8 . 4 Al l t a g s a r r a n g e m e n t s d e r S e p a r a t i o n Bei dem Alltagsarrangement der Separation existiert sowohl auf der Sinnebene wie auch auf der Handlungsebene ein Gleichgewicht zwischen Berufs- und Privatleben. Die Befragten trennen in ihrem Alltag weitestgehend in berufliche und private Tätigkeiten. Zudem definieren sich die Befragten nicht primär über ihren Beruf. Vielfach bildet mindestens eine weitere Sphäre (Familie, Freizeit, Ehrenamt) als zentraler Struktur- und Sinngeber ein Gegengewicht zur Berufstätigkeit. Dem Arrangement der Separation lassen sich acht Interviewpartner zuordnen. Dabei handelt es sich um vier Frauen und vier Männer, die bis auf eine alleinlebende Frau alle verheiratet sind oder in einer Partnerschaft leben. Weitere Merkmale dieser Gruppe sind in folgender Tabelle zusammengefasst, wobei die Zeile der Person, die in dem Fallbeispiel näher beschrieben wird, farbig unterlegt ist:
225
226
37
37
32
33
48
35
44
Hannes Dorn
Bernd Koch
Julia Kammer
Sonja Kerner
Fabian Gern
Silke Arnold
Florian Hardt
Alter
Quelle: Eigene Darstellung
35
Laura Kurz
Codename
verheiratet
allein lebend
verheiratet
9
10, 24
Anwendungen
Internet-
Beratung
rung
Programmie-
Hochschulstudium
Hochschulstudium
Hochschulstudium
Graphikdesign Berufsausbildung
Berufsausbildung
Hochschulstudium
allein lebend
Beratung
Beratung
2, 4
allein lebend
verheiratet
Vertrieb
Hochschulstudium
Marketing/
lebend
Bildungsabschluss
mit Partnerin
Tätigkeitsbereich
Graphikdesign Hochschulstudium
Alter der Kinder im HH
verheiratet
Lebensform
Tabelle 6: Interviewpartner mit dem Alltagsarrangement Separation
40-50
40-50
40-50
40+
30-40
40+
40-50
40-50
in Bürogemeinschaft (100 %)
in Bürogemeinschaft (100 %)
in Bürogemeinschaft (100 %)
im Arbeitszimmer in Bürogemeinschaft (50 %) (50 %)
(100 %)
im Wohnzimmer
(100 %)
im Arbeitszimmer
(100 %)
im Arbeitszimmer
(100 %)
im Arbeitszimmer
Arbeitsorte: zeitliche Anteile Arbeitszeit Arbeitsplatz h/Woche Arbeitsplatz zu Hause außerhalb
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Wie die Tabelle bereits zeigt, stellt der Arbeitsort kein Merkmal dar, das alle Befragten dieser Gruppe gemeinsam haben: Sie haben ihren Arbeitsplatz zu Hause entweder in einem separaten Zimmer (drei Befragte), im Wohnzimmer (eine Befragte), in einer Bürogemeinschaft (drei Befragte) oder an zwei Orten (ein Befragter).
8.4.1 Zusammenfassende Darstellung Im Folgenden werde ich zunächst die Orientierungen und zeiträumlichen Praktiken dieser Gruppe im Überblick vorstellen. Anschließend möchte ich am Beispiel eines besonderen Falles zeigen, welche Strategien der Trennung notwendig sind, wenn zu Hause gearbeitet und gleichzeitig eine klare Trennung zwischen Beruf und Privatleben angestrebt wird.
Motive und Orientierungen Für das Alltagsarrangement der Separation ist es typisch, dass der Beruf nicht der einzig wichtige Lebensinhalt ist, sondern dass es mindestens noch einen zweiten Lebensbereich gibt, der für die Befragten von zentraler Bedeutung ist. Dies kann die Familie, ein Ehrenamt oder auch ein Hobby sein. Im Unterschied zu den Personen mit dem Arrangement der Vermischung ist ihre zentrale Arbeitsmotivation nicht die Selbstverwirklichung über den Beruf, sondern es geht vor allem um ein pragmatisches Bearbeiten von Aufgaben, um den Lebensunterhalt zu sichern. Wie ein selbstständiger Programmierer es ausdrückt: „Mein Hobby ist der Beruf nicht mehr. Ich freu mich schon, wenn ich hier draußen bin und einfach Dinge mache, die mir Spaß machen.“ Der Beruf macht den Befragten Freude, aber sie zeigen eine stärkere Distanz zu ihren Aufträgen und der eigenen Arbeit als die anderen Gruppen. Folglich definieren sie ihren gesamten Lebensentwurf nicht von der Erwerbsarbeit her. Wie folgendes Zitat einer verheirateten Graphikdesignerin ohne Kinder verdeutlicht, identifizieren sich die Befragten durchaus mit ihrem Beruf, aber der Beruf greift nicht auf das Privatleben über: „In meinem Leben – welche Bedeutung hat der Beruf für mich? Ähm, also mein Beruf macht mir in erster Linie Spaß, wenn er nicht Spaß machen würde, würde ich ihn nicht machen. Insofern hat er eigentlich schon einen recht hohen Stellenwert. Aber wenn ich jetzt entscheiden müsste, wäre mir Familie wichtiger – eindeutig, ganz klar. Also Familie ist für mich alles, der Rückhalt und wenn da was nicht stimmt, dann krieg ich auch meinen Beruf nicht richtig auf die Reihe. Das ist einfach so. Das ist bei vielen anderen Menschen
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
vielleicht ähnlich. Das kann ich natürlich so nicht beurteilen, aber – es gibt ja auch Menschen, die flüchten sich in die Arbeit… das ist bei mir nicht so. Wenn bei mir privat Stress ist, dann wirkt sich das auf mein Berufsleben aus und andersrum ist es eigentlich weniger. Dann mach ich Taekwondo… insofern zählt für mich eigentlich Familie und Privatleben mehr – würde ich jetzt mal so sagen.“ (Sonja Kerner, Graphikdesign)
Vielfach erfahren die Befragten ihren Privatbereich als notwendigen Ausgleich zum Beruf bis dahin, dass das Privatleben – sei es die Familie oder auch Freizeitaktivitäten – den eigentlich für sie wichtigen Lebensbereich darstellt. Sie beschäftigen sich in ihrer Freizeit mit Aktivitäten, die keinerlei Nähe zu ihrer beruflichen Tätigkeit aufweisen, wie zum Beispiel eine Graphikdesignerin, die sich am Abend in einem asiatischen Verein engagiert und fremde Sprachen lernt, oder ein Befragter, der im Bereich Marketing tätig ist und sich ehrenamtlich in einem Orchester engagiert und dort als Orchestersprecher sehr viele Organisationstätigkeiten übernimmt. Neben der Berufsorientierung spielen bei einigen Befragten dieses Arrangements auch Erfahrungen der Überarbeitung eine Rolle, so dass sie inzwischen wieder anderen Lebensbereichen mehr Zeit widmen und wieder klarere Grenzen zwischen Beruf und Privatleben ziehen. Diese Lernprozesse, die letztendlich von einem stark erwerbszentrierten Arrangement zu dem Arrangement der Separation führen, können in den Erzählungen mehrerer Befragter rekonstruiert werden. So berichtet ein Befragter, der im Bereich Marketing und Vertrieb tätig ist: „Also man merkt schon, dass alles Mögliche dabei verloren geht. Man selber, die Beziehung leidet auch. Also man muss irgendwo die Zeit auch sortiert bekommen… und auch andere Dinge haben– das Leben besteht nicht nur aus Arbeit. Die Erkenntnis von früher ist, egal wer Arbeitgeber ist, auch wenn ich es selber bin, es ist nicht wert, seine Gesundheit zu opfern. Wenn die Zeit nicht reicht, dann muss man sich irgendwann mal überlegen, was man falsch macht, vom Zeitmanagement, oder von seinen Aufgaben, aber es kann nicht sein, dass man rund um die Uhr arbeitet und kein Privatleben mehr hat und später keine Hobbys, keine Freunde, und keine Freundin vielleicht mehr, dass kann es nicht sein. Dafür genieße ich viel mehr das Leben jetzt.“ (Hannes Dorn, Marketing/Vertrieb)
Zeitliche und räumliche Praktiken Grundsätzlich trennen die Befragten mit dem Alltagsarrangement der Separation klar zwischen beruflicher und privater Zeit.
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Die Befragten arbeiten zwischen 40 und 50 Wochenstunden. Sie planen feste Zeiträume für die Erwerbsarbeit ein und versuchen die Lage konstant zu halten. Die Abende und Wochenenden werden möglichst frei von Arbeit gehalten. Dabei versuchen sie ihre Arbeit kaum zu unterbrechen, um sie in dem von ihnen für die Arbeit designierten Zeitkorridor erledigen zu können. Es liegt also ein monochroner Umgang mit Zeit vor: Weder greift die Arbeit an den Abenden und Wochenenden auf das Privatleben über, noch fragmentieren die Befragten ihren Arbeitstag durch nichtberufliche Aktivitäten. Dies wird aus folgendem Zitat deutlich: „Wochenende, das muss also nicht unbedingt sein. Also ich bin – ich versuche schon alles so zu regeln, dass ich hier konzentriert arbeite und alles so durchstrukturiere und einfach meinen Zeitplan so regle, dass ich mein Pensum erfülle. Und nicht noch am Wochenende was habe.“ (Sonja Kerner, Graphikdesign)
Dabei lehnen sich die Befragten weitestgehend an den Normalarbeitszeiten an, da sie sich an den über den privaten Alltag vermittelten Zeitinstitutionen orientieren: Arbeitszeiten des Partners, Schul- und Hortzeiten oder auch Abendkurse oder Sport. Die befragten Väter übernehmen zwar nicht die Hauptverantwortung für die Kinder, versuchen aber auch gemeinsame Zeiten mit ihrer Familie zu ermöglichen und planen Zeit für Hobbys ein. Eine wichtige Rolle spielt zudem die ‚Sorge um sich selbst‘, also der Selbstschutz vor Überarbeitung. Ein Befragter, der im Bereich Beratung tätig ist sagt zu seinen Gründen für eine Trennung zwischen Beruf und Privatleben: „Für mich ist Freizeit enorm wichtig. Ich merke das, wenn ich zu wenig Freizeit habe, da geht mir was verloren, dann fehlt mir was. Dann gibt es Spannungen in der Beziehung oder in der Familie oder ich habe den Eindruck, ich kann meine Arbeit nicht mehr schaffen. Und wenn ich es schaffe, mir die Freizeit zu nehmen und da eine saubere Trennung zwischen Arbeit und Freizeit zu tun, dann habe ich diese Probleme nicht.“ (Florian Hardt, InternetAnwendungen)
Ich möchte im Folgenden vor allem auf die räumlichen Praktiken der Befragten eingehen, die über einen Büroarbeitsplatz außerhalb der Wohnung verfügen. Die Praktiken, mit denen die Befragten eine Trennung zwischen Privatleben und Beruf herstellen, wenn sie zu Hause in einem Arbeitszimmer oder in einem Raum mit einer weiteren Funktion arbeiten, werden in Punkt 8.6.1 sowie in dem Fallbeispiel erläutert. 229
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Generell lässt sich feststellen, dass eine Trennung zwischen Privatleben und Beruf leichter herzustellen ist, wenn die Befragten außerhalb der Wohnung arbeiten. Die erwünschte mentale Trennung zwischen Arbeit und Privatleben erreichen sie über eine räumliche Trennung: Einerseits über die physische Distanz zwischen den Lebensbereichen und zum zweiten, indem sie keinerlei Arbeit mit nach Hause nehmen, wie aus den Ausführungen einer Graphikdesignerin, deutlich wird: „Nein! Auf keinen Fall. Nein, ich möchte einfach das so trennen: Mein Privatleben und Arbeit völlig voneinander fernhalten – ja nicht fernhalten, aber einfach nur trennen. Ich will nicht, wenn ich zu Hause bin, die Arbeit im Nacken haben. Nicht irgendwie noch so überlegen, was ich noch machen muss unbedingt und so… eigentlich habe ich das genau vor einem Jahr gemacht. Die Wohnung bereinigt von Arbeit von meiner Seite her. Ja, Arbeit hat jetzt nichts mehr zu Hause zu suchen.“ (Sonja Kerner, Graphkdesign)
Bei den Befragten, die auf diese Weise zwischen Arbeit und Privatleben trennen, sind die physischen Räume Büro und Wohnung auch klar mit diesen Lebensbereichen verknüpft – die klassische Zuweisen von Sphären, die sich in der Phase der Industrialisierung gebildet hat.
8.4.2 Trennen zu Hause: Ein Fallbeispiel Laura Kurz ist 35 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann in einer 3-ZimmerWohnung im Zentrum von München. Sie hat zwei Studiengänge absolviert: Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Sie ist seit 2001 als freie Graphikerin tätig und arbeitet ausschließlich zu Hause. Ihre Berufsorientierung ist nicht typisch für das Arrangement der Vermischung, sondern entspricht der unter Punkt 8.2.2 beschriebenen künstlerischen Orientierung. Sie übt in ihrer Freizeit durchaus Aktivitäten aus, die sehr nahe an ihrer beruflichen Tätigkeit sind. Zu ihrem Berufes sagt sie: „Er hat einen sehr hohen Stellenwert, weil ich einen Job habe, der mein Traumjob ist und mit dem ich mich total identifizieren kann. Auch wenn nicht alle meine Aufträge mein Traumjob sind. Insgesamt bin ich ein sehr selbstständiger Mensch und der es bestimmt auch schon immer sein wollte, ist bestimmt eine Veranlagung, deswegen gefällt es mir sehr gut selbstständig, zu sein.“
Die starke Berufsorientierung erschwert es ihr zwischen Beruf und Privatleben zu trennen. Gleichzeitig erachtet sie eine konsequente Trennung zwischen diesen Bereichen als absolut notwendig, um gesundheit230
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liche Probleme, die sie hat, wenn sie nicht konsequent zwischen freier Zeit und Arbeitszeit trennt, zu vermeiden. Ihr ist dabei bewusst, dass es ihr nicht leicht fällt, mental von der Arbeit Abstand zu nehmen und regelmäßig Erholungs- und Entspannungsphasen einzuplanen. Sie kennt ihre Reaktion, wenn die Arbeit für sie überhand nimmt und auf das Privatleben übergreift: „Ja, also durchaus, dann kann ich dann nicht abschalten, werde total hibbelig, bekomme ständig eine Erkältung. Das merk ich dann auch, das schlägt sich dann auch auf meinen Körper nieder, wenn ich mich nicht mehr an eine feste Einteilung - Freizeit und Arbeitseinteilung halte.“
Ihr Ziel ist es, ihrem Tagesablauf durch räumliche und zeitliche Trennungen zwischen Arbeit und Privatleben eine feste Struktur zu geben. Sie plant Urlaubszeiten ein, arbeitet am Wochenende nicht und lehnt ihre tägliche Arbeitszeit an dem Normalarbeitstag mit zwei Zeitblöcken am Vormittag und Nachmittag sowie mit einer regelmäßigen Mittagspause an. „So, dass ich auch sage, ich habe zwei Wochen im Jahr frei und mache auch wirklich Urlaub und dann nehme auch keinen Laptop mit, auch nicht am Wochenende, wo man dann eh nur so halb dabei ist, sondern ich arbeite lieber unter der Woche. Eigentlich versuche ich eine Festanstellung zu imitieren. Ich versuche von 9.00 bis 13.00 Uhr zu arbeiten. Mir eine Mittagspause festzulegen und am Wochenende nicht zu arbeiten.“
Auffällig ist in ihren Alltagserzählungen, dass sie sehr oft das Wort ‚versuche‘ verwendet, wenn sie ihre Arbeitszeiten schildert. Tatsächlich werden die festen Tagesabläufe immer wieder von der Auftragslage und von Kundenwünschen gestört. Für sie es eine konstante Aufgabe, ihre Grenzen zwischen Beruf und Privatleben zu verteidigen und gegebenenfalls neu zu ziehen. Laura Kurz arbeitet in der Regel 40 Stunden in der Woche. In Zeiten mit guter Auftragslage sind auch kurzzeitig über 50 Stunden möglich. Sie versucht die Lage ihrer Arbeitszeit möglichst konstant zu halten und trennt strikt zwischen der Arbeitszeit am Tag und der Freizeit am Abend und an den Wochenenden. Anstatt am Wochenende ein Projekt fertig zu stellen, arbeitet sie lieber die Nacht vor dem Wochenende durch: „Also Wochenende versuche ich total strikt zu trennen, weil mir das persönlich wichtig ist, genauso wie ich auch versuche, meine Abendfreizeit, die für mich wichtig ist, wirklich strikt einzuhalten. So dass ich hier wirklich die Tür zu mache [vom Arbeitszimmer], das mache ich auch am Wochenende, so 231
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dass ich gucke, keine Arbeit, lieber mach ich am Freitag eine Nachtschicht, oder so, damit ich am Samstag und Sonntag wirklich frei bin. Weil sonst glaube ich, würde ich es nicht aushalten, zu Hause zu arbeiten, wenn ich dann am Wochenende auch noch arbeiten würde.“
Zudem wechselt sie nicht zwischen berufsbezogenen und haushaltsbezogenen Tätigkeiten und vermeidet auch private Kontakte in ihrer Arbeitszeit. „Je besser man sich konzentrieren kann und je weniger man abgelenkt wird, auch mit privaten Telefonaten, umso besser. Das kommt sehr oft vor, dass die Leute oft glauben, weil man zu Hause arbeitet, können sie jeden Tag anrufen. Das ist ja auch nett, ich freu mich drüber und ich verratsche mich dann auch schnell. Aber das ist ganz schlecht, wenn man sich angewöhnt, den Leuten das zu erlauben, nur weil man nicht im Büro ist und kein Chef einen sehen kann, ‚ah, die telefoniert ständig privat‘, dass man dann auch so automatisch erreichbar für private Gespräche ist. Genauso wie jetzt schnell mal im Haushalt irgendwelche Sachen zu machen, das verschiebe ich wirklich auf abends.“
Da sie ausschließlich zu Hause arbeitet, zieht sie innerhalb der Wohnung klare Grenzen zwischen ihrem Berufs- und Privatleben. Die räumlichen Trennungen sind ihr noch wichtiger als die zeitlichen. So sagt sie: „ Für mich ist nicht Freizeit, wenn 18.00 Uhr vorbei ist, sondern wenn ich mein Zimmer verlasse, oder so.“ Da sie Probleme hat, zwischen dem Privatleben und dem Beruf schnell umzuschalten, hat sie sich Rituale des Übergangs geschaffen, die ihr helfen, sich trotz der räumlichen Nähe zu ihrem Büro auf die Arbeit einzustellen. „Ja, also ich bin auch so ein Mensch, der sehr schwer abschalten kann, aber dann hab ich mir angewöhnt, Chigong zu machen. Also das mach ich morgens sowieso schon mal als Einstieg zehn Minuten, Viertelstunde oder so. Und wenn ich nicht zu lange abends arbeite, dann mach ich das auch abends, weil dies für mich dann die Trambahnfahrt nach Hause ist. Also statt, wie gesagt, statt Arbeitsweg nach Hause, damit ich irgendwie umschalten kann.“
Auffällig ist, dass sie ausschließlich in ihrem Arbeitszimmer beruflich tätig ist. Die übrige Wohnung hält sie von Arbeitsmaterialen frei. „Ne, also, wenn ich arbeite, dann sitz ich auch an dem Platz, hier [im Arbeitszimmer]. Nicht mal, wenn ich krank bin, oder so. Dann versuch ich das auch nicht im Liegen mit dem Laptop zu arbeiten, funktioniert nicht. Ich brauche auch meinen fixen Arbeitsplatz, ich brauche auch das Gefühl, das ist das Büro. 232
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Diese strickte Trennung, ohne die würde es nicht funktionieren. Privatraum und Arbeitsplatz, sozusagen.“
Sie weist den Räumen in ihrer Wohnung feste Funktionen zu: Das Arbeitszimmer wird mit Beruf verknüpft und das Wohnzimmer mit dem Privatleben. Hierin zeigt sich deutlich ihr großes Bedürfnis, der Arbeit nicht nur eine Zeit, sondern auch einen Ort zu geben, der auch wieder verlassen werden kann: „Also das ist auch ein wichtiger Punkt, dass ich das Arbeitszimmer verlassen kann und dann mein Privatleben habe, im Wohnzimmer sozusagen, wo ich dann esse, oder fernsehe, oder Freunde einlade.“ Sie betritt ihr Arbeitszimmer am Abend und am Wochenende nicht. Falls ihr das Abschalten von der Arbeit schwer fällt, vereist sie ein Wochenende oder sie macht ‚Wochenende im Wohnzimmer‘. Insgesamt ist Laura Kurz sehr zufrieden mit ihrer räumlichen Arbeitssituation, da der negative Gegenhorizont in ihren Erzählungen immer die Arbeit in einer Agentur ist, bei der ihr jemand „ständig über die Schulter schaut“. Allerdings benötigt sie die geschilderten Strategien der raumzeitlichen Trennung, um zu Hause arbeiten zu können. Das Fallbeispiel zeigt, dass die Wohnung für Laura Kurz nicht gleichbedeutend mit der privaten Sphäre ist, sondern sie stellt Trennungen zwischen Erwerbsarbeit und den übrigen Lebensbereichen innerhalb der Wohnung über räumliche und materielle Praktiken her.
8.4.3 Diskussion Der Arbeitsalltag der Gruppe mit dem Alltagsarrangement der Separation kommt dem so genannten Normalarbeitstag mit arbeitsfreien Abenden und Wochenenden von allen Alltagsarrangements am nächsten. Trotz der Option, ihren Arbeitsalltag flexibler zu gestalten, lehnen sich alle – und nicht nur die Befragten mit familiären Verpflichtungen – sehr stark an Zeitinstitutionen wie dem Wochenende oder dem Feierabend an. Sie stellen damit feste zeitliche Rhythmen in ihrem Alltag her, durch die die Erwerbsarbeit in ihrem Umfang begrenzt und das Privatleben geschützt wird. Die von dieser Gruppe erstrebte räumliche und zeitliche Trennung von Berufs- und Privatleben ist am unproblematischsten bei einem Arbeitsplatz außerhalb der Wohnung zu erreichen. Die Befragten ziehen eine Grenze um den gesamten privaten Bereich. Wie das Fallbeispiel von Laura Kurz in diesem Kapitel gezeigt hat, ist eine handlungspraktische und kognitive Trennung zwischen Berufs- und Privatleben aber auch bei einem Arbeitsplatz innerhalb der Wohnung möglich. Allerdings 233
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sind hier von den Betroffenen bewusst eingesetzte räumliche und zeitliche Praktiken notwendig, die diese Grenzziehungen innerhalb der Wohnung ermöglichen. Auf diese Strategien möchte ich in Kapitel 8.6.1 näher eingehen.
8.5 Zusammenfassende Diskussion der Al l t a g s a r r a n g e m e n t s Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Befragten sich trotz ähnlicher Arbeitsbedingungen in der Ausgestaltung ihrer Alltaggestaltung beträchtlich unterscheiden. Sie haben verschiedenste Strategien entwickelt, wie sie mit den Arbeitsbedingungen und Anforderungen aus ihrer beruflichen Tätigkeit und den anderen Lebensbereichen umgehen. Dabei ist allen Befragten gemeinsam, dass sie im Vergleich zum Normalarbeitsverhältnis entgrenzt arbeiten. Die Unterschiedlichkeit ihrer Alltagsarrangements zeigt jedoch, dass die Alltagsarrangements nicht als einfache Anpassungsleistung an die Anforderungen aus der Erwerbsarbeit interpretiert werden können. Die befragten Selbstständigen gestalten ihren Alltag individuell und nützen ihre Handlungsspielräume aktiv und reflexiv, je nachdem wie sich ihre Lebensentwürfe, Orientierungen und Ressourcen gestalten. Zudem schaffen sie sich räumliche und zeitliche Strukturen mit denen sie Privatsphäre und Beruf für sich in ein Verhältnis setzen. Die empirische Rekonstruktion der Alltagsgestaltung der Befragten zeigt, dass sich hier drei Grundformen unterscheiden lassen. Im Rahmen der Zusammenfassung und Diskussion der drei Arrangements, möchte ich vor allem auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu sprechen kommen (vgl. Tab. 7).
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Separation
• mindestens ein weiterer Bereich bildet Gegengewicht zum Beruf
• Beruf und Familie als zentrale Lebensbereiche
• Arbeit ist zentraler Lebensinhalt
Motive/ Orientierungen
Quelle: Eigene Darstellung
Partnerschaft/ Familie
• 4 Frauen/4 Männer • 5 verheiratet, 1 mit Partnerin lebend (4 komplementär, 2 egalitär) • 2 alleinlebend
• Gleichgewicht zwischen Berufs- und Privatleben
• auf Handlungsebene dominiert die Familie/Kinder
• Dominanz der beruflichen Tätigkeit
Verhältnis der Lebensbereiche
• 5 Frauen • 7 Frauen/8 Männer • 4 verheiratet, 5 mit Partner lebend (3 • 2 verheiratet, 2 mit Partner lebend, 1 alleinerziehend (1 egalitär, 3 komegalitär, 6 komplementär) plementär) • 6 allein- oder in WG lebend
• eher Trennung beruflicher und privater Interessen
Sachlich/Sozial
• eher Vermischung beruflicher und privater Interessensbereiche
• Arrangement nicht an Arbeitsort ge- • Arrangement nicht an Arbeitsort ge- • Arrangement nicht an Arbeitsort gebunden bunden bunden • arbeiten mehr zu Hause als die Per- • klare räumliche Trennung durch Bü- • überwiegend Trennung durch Büsonen mit dem Arrangement der Seroarbeitsplatz oder räumliche Vermiroarbeitsplatz oder separaten Arschung paration beitsraum in der Wohnung
• 20-40 h/Woche • 40/50 h/Woche • berufliche und private Zeiten greifen • berufliche und private Zeiten werden ineinander oder werden klar getrennt möglichst getrennt • Arbeitszeiten werden durch Familie strukturiert
Wechselnde Prioritäten
• starke Vermischung von beruflichen Interessensbereichen und Freizeit; Freunde und beruflichen Kontakten
Raum
Zeit
• 50 bis 60+ h/Woche • berufliche Zeiten greifen auf private Zeiten über, aber nicht umgekehrt
Vermischung
Tabelle 7: Die Alltagsarrangements im Überblick und die Kategorien zu ihrer Beschreibung
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ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
So zeigt ein Vergleich der Alltagsarrangements, dass die Arbeitszeiten von der Form der Vermischung über die Form der Separation zur Form der wechselnden Prioritäten abnehmen: Sind 60 Stunden und mehr in der Woche bei der Form der Vermischung keine Seltenheit, liegen die Arbeitszeiten der Separation bei rund 40 bis 50 Stunden und bei der Form der wechselnden Prioritäten zwischen 20 bis 40 Stunden. Die Arrangements sind an keine räumliche Arbeitssituation gebunden: Personen aller Arrangements arbeiten sowohl zu Hause oder an einem Büroarbeitsplatz außerhalb der Wohnung. Allerdings setzen Menschen mit dem Arrangement der Separation verstärkt räumliche Praktiken ein, um zwischen Privatleben und Beruf zu trennen. Auf die Arbeitsorte und räumlichen Praktiken werde ich in Kapitel 8.6 vertieft eingehen. Die Kategorie Orientierungen/Motive hat sich nach abgeschlossener Auswertung als allen anderen Merkmalen übergeordnete Kategorie erwiesen. Sie ist die wichtigste Kategorie, um die Arrangements zu benennen und zu unterscheiden: Wenn bei den Befragten auf der Sinnebene die berufliche Tätigkeit den zentralen Lebensinhalt darstellt, so dominiert auch auf der Handlungsebene in zeitlicher Hinsicht das Berufsleben. Die starke Identifikation mit der beruflichen Tätigkeit führt dazu, dass in sachlicher und sozialer Hinsicht die Grenzen zwischen beruflichen Tätigkeiten zu Aktivitäten, die aus Interesse ausgeführt werden und zwischen beruflichen Kontakten und Freunden verschwimmen und vor allem eine Trennung dieser Lebensbereiche von den Befragten überhaupt nicht angestrebt wird. In gleicher Weise führt bei den Menschen mit dem Alltagsarrangement der Separation ihre weniger stark ausgeprägte Berufsorientierung und die Wichtigkeit eines weiteren Lebensbereiches (Familie, Ehrenamt etc.) dazu, dass auch auf der Handlungsebene ein zeitliches Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Lebensbereichen besteht und in sozialer und sachlicher Hinsicht relativ deutlich unterschieden wird. Bei dem Alltagsarrangement der wechselnden Prioritäten ist es ebenso die übergeordnete Handlungsorientierung, die ihre Alltagsgestaltung bestimmt. Die Frauen zeigen sowohl eine hohe Berufs- wie auch Familienorientierung. Den widersprüchlichen Anforderungen aus Familie und Beruf begegnen sie im Alltag mit unterschiedlichen Strategien: Es sind sowohl Praktiken der Separation wie auch der Vermischung erkennbar. Der entscheidende Unterschied des Arrangements der wechselnden Prioritäten zu den beiden anderen Arrangements ist, dass bei diesem Arrangement eine Vermischung von Beruf und Privatleben in beide Richtungen besteht: Die Arbeitszeiten werden in hohem Maße von den Anforderungen der Familie bestimmt und gleichzeitig beeinflusst die Erwerbstä236
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tigkeit das Familienleben. Für die Frauen führt dies zu einem erhöhten Koordinations- und Organisationsaufwand, der im Alltag kaum Zeiträume übrig lässt, die nicht durch berufliche Tätigkeiten oder Sorgearbeit verplant sind. Während für die verheirateten und in Partnerschaft lebenden Frauen die hohe Berufsorientierung den maßgeblichen Antrieb für diese anstrengende Alltagsgestaltung darstellt, ist es für die alleinerziehende Mutter die finanzielle Notwendigkeit. Hinsichtlich der Kategorie Partnerschaft, Familie und die Arbeitsteilung ist auffällig, dass sich in der Gruppe mit dem Alltagsarrangement der Vermischung die meisten Alleinlebenden finden. Dies weist darauf hin, dass eine extrem arbeitszentrierte Lebensweise am ehesten ohne familiäre und partnerschaftliche Verpflichtungen gelebt werden kann – oder nur dann möglich ist. Zudem verteilen sich Personen ohne Kinder und Männer mit Kindern auf die Arrangements der Vermischung und der Separation. In dem Arrangement der wechselnden Prioritäten finden sich dagegen nur Frauen. Dies zeigt, dass die Aufgabe der Kinderbetreuung bzw. den Alltag der Familie mit der beruflichen Tätigkeit zu vereinen, in allen Fällen überwiegend von Frauen übernommen wird (in einem Fall mit dem Partner geteilt). Sowohl im Arrangement der Vermischung wie auch der Separation leben Männer mit Kindern in Beziehungen mit komplementärer Arbeitsteilung, d.h. sie sind von Haushalts- und Familienaufgaben weitestgehend freigestellt. Die Frauen, bei denen sich eine Abkehr vom traditionellen Ernährermodell und eher egalitär ausgerichtete Geschlechterarrangements feststellen lassen, haben (noch) keine Kinder und bilden in drei von fünf Fällen mit ihren Partnern oder Ehemännern eine Produktionsgemeinschaft.
8 . 6 Ar b e i t j e n s e i t s d e s B ü r o a l l t a g s : Ar b e i t e n z u Hause und an anderen Orten Ich möchte nun vertieft auf die Arbeitsorte meiner Interviewpartner und auf die Frage, wie sie diese Arbeits-settings herstellen, zu sprechen kommen. Wie ich bereits gezeigt habe, sind die Alltagsarrangements meiner Befragten nicht mit der Wahl eines bestimmten Arbeitsortes verbunden. Dennoch zeigt sich, dass tendenziell die Befragten mit den Arrangements der Vermischung und der wechselnden Prioritäten eher zu Hause arbeiten und vor allem in einem höheren Maße in einem Zimmer beruflich tätig sind, das auch noch für andere Zwecke oder von anderen Haushaltsmitgliedern genutzt wird (z.B. Wohn-, Schlaf- oder Kinderzimmer) als dies bei den Personen der Fall ist, die sich dem Arrangement der Separation zuordnen lassen. 237
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
Tabelle 8: Arbeitsorte der Befragten nach Alltagsarrangements Vermischung (insgesamt 15 Befragte)
Wechselnde Prioritäten (insgesamt 5 Befragte)
Separation (insgesamt 8 Befragte)
Arbeiten ausschließlich (bis auf Arbeit beim Kunden oder Angestelltentätigkeit) zu Hause in multifunktionalen Zimmer
6 Befragte
2 Befragte
1 Befragte
Arbeiten ausschließlich oder regelmäßig in separatem Arbeitszimmer zu Hause
3 Befragte
Erledigen regelmäßig berufliche Tätigkeiten zu Hause (Laptop)
3 Befragte
2 Befragte
Arbeiten nicht zu Hause
3 Befragte
1 Befragte
4 Befragte
3 Befragte
Quelle: Eigene Darstellung
Wie Tabelle 8 zeigt, haben von den 15 Befragten mit dem Arrangement der Vermischung lediglich drei Personen keinen Arbeitsplatz in der Wohnung und üben zu Hause keinerlei computergestützte berufliche Tätigkeiten aus (das Lesen von Fachzeitschriften oder Designbüchern etc. zähle ich nicht zu beruflichen Tätigkeiten). Sechs Personen dieses Arrangements sind in einem multifunktionalen Zimmer tätig, z.B. im Wohn- oder Schlafzimmer. Für drei Personen stellt dieses räumliche Arrangement lediglich eine Übergangslösung dar, z.B. bis die Anmietung eines Büroarbeitsplatzes finanziell möglich ist. Auch bei dem Arrangement der wechselnden Prioritäten arbeiten zwei der fünf Befragten ausschließlich in einem multifunktionalen Zimmer in der Wohnung. Im Unterschied dazu ist bei dem Arrangement der Separation nur eine Person in einem multifunktionalen Zimmer tätig. Auch sie betrachtet dies lediglich als Übergangslösung. Die Hälfte (vier Personen) der Befragten arbeitet zu Hause in einem separaten Arbeitsraum. Zudem sind im Verhältnis mehr Personen des Arrangements der Separation konsequent nicht zu Hause beruflich tätig, als bei dem Arrangement der Vermischung. Insgesamt betrachtet geht von meinen 28 Befragten nur ein Viertel keiner computergestützten beruflichen Tätigkeit zu Hause nach (vgl. Tab. 8).
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8.6.1 Von der Herausforderung, zu Hause zu arbeiten Die in der Tabelle 8 abgebildeten räumlichen Arrangements stellen bei vielen Befragten das Ergebnis eines Prozesses dar. Die meisten haben zu Beginn ihrer Selbstständigkeit zu Hause gearbeitet und erläuterten in den Interviews häufig, warum sie ihre räumliche Arbeitssituation wieder verändert haben. Die Herausforderungen des zu Hause-Arbeitens kamen also in fast allen Interviews zur Sprache. Grundsätzlich stellt sich bei der Arbeit zu Hause durch die räumliche Nähe zur häuslichen Privatsphäre die Aufgabe in verschärfter Form, Privatleben und die Berufstätigkeit in ein passendes Verhältnis zu bringen. Ich möchte im Folgenden diese Probleme aufgreifen und analysieren, welche Lösungen bzw. Strategien meine Interviewpartner finden, mit diesen Spannungen umzugehen. Zudem werde ich aufzeigen, wie die Bedeutung des Zuhauses mit ihren Praktiken der Trennung zwischen Privatleben und Beruf in Zusammenhang steht.
Selbstorganisation Zu Hause entfallen viele hilfreiche Routinen, die im betrieblichen Alltag vorhanden sind. Die Betroffenen müssen deshalb ihren individuellen Arbeitsalltag selbst strukturieren. Die Fähigkeit zur Selbstorganisation stellt die entscheidende Ressource dar, um den Arbeitsalltag in räumlicher und zeitlicher Hinsicht zu strukturieren und um die eigene Erwerbstätigkeit in ein individuell passendes Verhältnis zur häuslichen Privatsphäre zu setzen. Ist diese Fähigkeit nicht vorhanden, wird die freie Zeiteinteilung nicht als Handlungsspielraum, sondern als anstrengend und die Arbeitssituation als unbefriedigend empfunden. Dies soll an einem Fallbeispiel, das für eine nicht gelungene Selbstorganisation steht, kurz erläutert werden. Die freie Arbeitsgestaltung beinhaltet für Hannes Dorn die Gefährdung, von der Arbeit abzuschweifen und unproduktiv zu sein. So sagt er: „Für mich ist es schon eigentlich immer schon eine tägliche Herausforderung, nicht abzuschweifen und am Ball zu bleiben.“ Sich selbst für bestimmte Tätigkeiten zu motivieren, Zeitpläne einzuhalten und seine Tätigkeiten zu strukturieren, beschreibt er als kontinuierlich zu leistende Aufgabe, die er aus seiner Angestelltentätigkeit in dieser Form nicht kannte: „Manchmal auch die Frage, wie tritt man sich selber in den Hintern, und hat einen konsequenteren Arbeitsablauf. Wobei ich gerade in einer Phase bin, wo ich sage, ich muss irgendwie gucken, mich strenger zu organisieren und einen 239
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
festeren Tagesablauf kriegen, wo ich mehr kontrolliere, ok, ich muss ergebnisorientierter werden. Manchmal hat man so das Gefühl, es zerrinnt einem was und man will produktiver werden, das heißt nicht unbedingt, dass man mehr arbeitet, sondern, dass man konzentrierter dabei bleibt. Da ist dann die Gefährdung, dass man anfängt, wenn man da vor dem Rechner sitzt und eigentlich Kunden anrufen sollte, plötzlich nette Dinge im Internet zu lesen. Wenn man einfach sagt, ach ja, ich könnte mich mal nach dem erkundigen und das ist ja auch ein spannendes Thema, und dann diffundiert man so durch das Internet. Das ist schon eine Gefahr, da nicht ständig dranzuhängen. Und wenn man Kollegen hat, deswegen wäre eigentlich mein Wunsch einen Kollegen mal zu haben, weil ich die Erfahrung habe von früher [in seiner Angestelltentätigkeit], da greift dann der andere zum Telefon und man kriegt mit: Man der tut was, und der erzählt da, man, der Kunde hat Interesse und da geht's weiter. Und dann denkt man so, ach, ich müsste jetzt auch was tun. Und wenn man das nicht mehr hat, dann fehlt so ein bisschen der Motivationsbaustein, dieser Druck, der dahinter herrscht.“
Er spricht Motivationsprobleme offen an. Vor allem das Internet stellt eine beständige Quelle der Ablenkung für ihn dar: Am Computer zwischen berufsbezogenen und privaten Tätigkeiten zu trennen fällt ihm schwer. Hannes Dorn hat den Wunsch, seinen Tages- und Arbeitsablauf effizienter zu organisieren und beschreibt dieses Bemühen um mehr Produktivität als tägliche Herausforderung. Die Motivationsprobleme entstehen für ihn durch die Isolation zu Hause. Ihm halfen in seiner Angestelltentätigkeit die Bürosituation und Kollegen, sich zu disziplinieren und zu motivieren. Sein positiver Gegenhorizont, vor dem er viele seiner Probleme beschreibt, ist der betriebliche Arbeitsalltag, der sowohl zeitliche Strukturen wie auch eine Trennung zwischen beruflicher Tätigkeit und Privatleben vorgibt. Hannes Dorn würde sich eine stärkere Trennung zwischen Arbeiten und Privatleben wünschen, da er selbst keine Strategien zur Verfügung hat, diese Trennung herzustellen. Insgesamt empfindet er seinen Arbeitsalltag als zu ineffektiv und da er abends oft das Gefühl hat, sein Arbeitspensum nicht geschafft zu haben, fällt es ihm schwer, von der Arbeit abzuschalten. Er empfindet die höhere Autonomie nicht als Chance, sondern als Überforderung.
Übergänge schaffen Eine mögliche Strategie der Befragten zwischen Privatleben und beruflicher Tätigkeit zu trennen ist es – trotz der physischen Nähe – zeitliche und räumliche Übergänge herzustellen. Da die Fahrt oder der Gang zum Büro entfällt, setzen einige Befragte bewusste Strategien ein, um sich 240
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selbst morgens für die Arbeit zu motivieren und auf die Arbeit einzustellen: Sie halten sich an zeitliche Routinen, kleiden sich, als würden sie einen normalen Büroalltag vor sich haben und unterbrechen ihre Arbeit nicht bis zur Mittagspause. Als problematisch beschrieben viele Interviewpartner, die Arbeit abends zu beenden und in der Wohnung eine mentale Trennung zwischen Erwerbsarbeit und freier Zeit herzustellen. Neben zeitlichen Routinen setzen die Befragten hier vor allem räumlich materielle Strategien ein: Sie richten sich ihren Arbeitsplatz zu Hause bewusst mit funktionalen Büromöbeln ein und schaffen sich so ein Arbeits-setting, das sich atmosphärisch vom Rest der Wohnung unterscheidet und an konventionelle Büro-settings angelehnt ist. Sie nützen also nicht nur die materielle, sondern auch die symbolische Komponente von Gegenständen zur Herstellung ihres Arbeitsplatzes. Eine weitere Praktik ist, das Arbeitszimmer nach beendigter Arbeit nicht mehr zu betreten und die restliche Wohnung von Arbeitsmaterialien frei zu halten. Eine Interviewpartnerin, die ihren Arbeitsplatz in der Küche eingerichtet hat, stellt mit Hilfe eines Möbelstückes und einer materiellen Praktik ihr Arbeits-setting her: Sie beginnt die Arbeit, wenn sie den Sekretär aufklappt und beendet sie, wenn sie ihn wieder zuklappt.
Isolation und mangelnde Anregung Da sich die Befragten vermehrt in der Wohnung aufhalten, insbesondere in Phasen mit hoher Arbeitsbelastung, fühlen sich mehrere der Befragten zu Hause isoliert. Zudem fehlt ihnen die Auseinandersetzung und Kommunikation mit Kollegen. Die Interviewpartner fühlen sich regelrecht zu Hause eingesperrt und vom sozialen Leben ausgeschlossen, wie folgendes Zitat verdeutlichen soll: „Und auch ein bisschen dieses Soziale, auch raus zu kommen. Manchmal tigert man so im Käfig, wenn man die Post mal unten rausholt, da ist man froh, dass man mal irgendwie einkaufen fahren kann, es ist eigentlich das Gefühl, einfach raus zu kommen, wenn man Menschen sieht und da es zum Austausch kommt. Und nicht immer vom Wohnzimmer über die Küche ins Schlafzimmer stolpert und irgendwann wieder zurück.“ (Hannes Dorn, Marketing-Vertrieb)
Hinzu kommt vielfach die mangelnde Inspiration für die eigene Arbeit, da die kreative Anregung von Außen fehlt. Strategien, die die Befragten hier anwenden, sind gezielte Email- und Telefonkontakte mit Netzwerkpartnern oder auch der Besuch von Netzwerktreffen in Form von Mittagstischen oder Abendtreffen. Ebenso verlassen viele Interviewpartner 241
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in ihren Arbeitspausen die Wohnung gezielt für einen Schauplatzwechsel und suchen ein Café im Viertel auf, um neue Ideen für ihre Tätigkeiten zu entwickeln.
Ablenkung und Störungen Sich gegenüber Ablenkungen und Störungen durch Kinder, Partnerin oder Partner und Freunde abzugrenzen, ist für viele Interviewpartner ein Thema. Die Schwierigkeit liegt auch darin begründet, dass während in einem Bürokontext ein Kollege mit einer Anfrage durchaus auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet werden kann, und dies auch als normal empfunden wird, die Abweisung eines Kindes oder des Partners oder der Partnerin im privaten, häuslichen Kontext wenn überhaupt nur mit schlechtem Gewissen möglich ist. Hier spielt der Umgang mit Zeit in den verschiedenen Kontexten eine Rolle: Familienmitgliedern kann man keine Termine geben und Zeit zu Hause wird in der Regel nicht ökonomisiert, sondern gemeinsam verbracht. Wie jedoch in den Fallbeispielen bereits gezeigt wurde, sind die Umgangsstrategien mit Ablenkungen sehr individuell. Neben Vera Arndt, die vor allem aufgrund ihres Rollenbildes als gute Mutter nicht zu Hause arbeiten kann, betonen noch weitere Interviewpartner, dass es ihnen unmöglich ist, in der Wohnung konzentriert tätig zu sein, wenn ihre Kinder zu Hause sind.
8.6.2 Arbeiten am Büroarbeitsplatz Für elf der Interviewpartner liegt die Lösung für viele der beschriebenen Probleme in der Anmietung eines Büroarbeitsplatzes. Auf diese Weise gehen sie Störungen aus dem Weg und schaffen sich die Möglichkeit, Kundenbesprechungen an ihrem Arbeitsplatz durchführen zu können. Ein wichtiger Grund ist zudem die soziale Kontrolle, die durch das setting in einer Bürogemeinschaft besteht (also Kollegen, die ebenfalls zu bestimmten Zeiten arbeiten, Pausen machen usw. Zudem beeinflusst das setting, in dem die Befragten arbeiten, ihre berufliche Identität: Zuhause fühlen sich mehrere der Befragten ‚unprofessionell‘ und so, als würden sie am Berufsleben nicht richtig teilnehmen. Hinzu kommen berufliche Vorteile, wie folgendes Zitat verdeutlicht: „Ja, um auch besser mit dem Netzwerk arbeiten zu können, hier im Büro. Weil man dann direkt Tür an Tür ist und nicht telefonieren muss. Und wenn man unter Leuten ist, eben im Büro, mit Arbeitskollegen zu tun hat oder Partner. Man achtet mehr auf sein Äußeres, als wenn man daheim vor sich hin242
DER ALLTAG S ELBSTSTÄNDIGER INTERNETDIENSTLEISTER
wurschtelt, vor sich hinarbeitet. Und das ist halt auch wieder so ein Beitrag, um sich zu disziplinieren, ja. Um einfach am Berufsalltag richtig teilzunehmen, und nicht irgendwo so halb teilzunehmen von Zuhause aus.“ (Lara Henke, Marketing/Vertrieb)
Insgesamt betrachtet, stellt für die Mehrheit der Befragten ein Büroarbeitsplatz außerhalb der Wohnung – z.T. in Kombination mit einem mobilen oder festen Arbeitsplatz zu Hause – das favorisierte räumliche Arrangement dar, das sie auf längere Sicht anstreben.
8.6.3 Die Bedeutung des Zuhauses Welche Bedeutung hat das Zuhause für meine Interviewpartner? Löst sich das Zuhause als Rückzugsort und Ort von Privatheit auf oder gewinnt es vielmehr neue Funktionen hinzu? Zunächst ist feststellbar, dass das Zuhause und vor allem Privatheit unterschiedliche Bedeutungen für die Befragten haben, wobei zwei Bedeutungen dominieren. Erstens hat bei einigen wenigen Interviewpartnern das Zuhause die traditionelle Bedeutung als Ort des Rückzugs von der Erwerbsarbeit und Ort der Privatheit, der ausschließlich der Familie gehören soll. Privatheit kann sich hier allerdings auch nur auf einen bestimmten Bereich der Wohnung beziehen. Diese Befragten führen zu Hause kaum berufliche Tätigkeiten durch oder, wenn sie zu Hause arbeiten, trennen sie mit den erläuterten Praktiken sehr strikt zwischen Berufs- und Privatleben innerhalb der Wohnung. Allerdings haben einige der Interviewpartner hier nicht einfach das kulturell dominante Modell in unserer Gesellschaft übernommen, sondern sich in einem reflexiven Prozess entschieden, die Wohnung von der Erwerbsarbeit frei zu halten, um sich selbst wieder einen Ort der Entspannung und des Rückzugs zu schaffen. Die zweite Bedeutung knüpft an die Bedeutung von Privat als Kontrolle über den Zugang zur eigenen Wohnung an (vgl. Kapitel 4.2.1): Das Zuhause ist in diesem Fall nicht als Gegenort zur Erwerbsarbeit konstruiert, sondern es stellt für die Interviewpartner eine geschützte Handlungssphäre dar, in die man sich zum konzentrierten und gleichzeitig entspannten Arbeiten zurückziehen kann. Das Arbeiten zu Hause wird dann als sehr effektiv empfunden. Grenzen werden in diesem Fall vielfach mit Hilfe von Technologien gezogen, z.B. durch zwei Telefonanschlüsse oder indem private Telefonnummern nicht an Kunden oder Kollegen weitergegeben werden. Bis auf eine Interviewpartnerin, die in ihrer Wohnung über keinen Internetanschluss verfügt, nützen alle Befragten das Internet zu Hause 243
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sehr intensiv für private Aktivitäten. Es dient ihnen als Medium zur Informationsbeschaffung aller Art: Nachrichten, Informationen über Produkte, Hobbys, Gesundheit etc. Zudem erledigen viele von ihnen Bankgeschäfte und Einkäufe über das Netz. Gerade bei der privaten Nutzung des Internets zu Hause ist die Trennung zwischen privater und geschäftlicher Nutzung schwierig: Sobald der Computer angeschaltet ist, sind die Befragten auch online und rufen dann auch in der Regel ihre Emails ab und müssen sich dann entscheiden, ob sie auf geschäftliche Anfragen am Wochenende reagieren oder nicht. Diesen Umgang mit der Technologie müsse man erst lernen, so ein Interviewpartner. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Zuhause bei den Befragten insofern an Bedeutung gewonnen hat, da durch den Einzug von beruflichen Tätigkeiten und Tätigkeiten wie Informationsbeschaffung, Einkaufen und Bankgeschäft in den privaten Raum viel Zeit zu Hause verbracht wird. Dabei hat das Zuhause allerdings keineswegs seine Funktion als Rückzugsort und Ort von Privatheit verloren. Allerdings sind die Befragten gefordert Privatheit aktiv herzustellen.
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9 D I E A L L T AG S G E S T AL T U N G V O N W I S S E N S AR B E I T E R N : R E S Ü M E E
K R E AT I V E N UND
AU S B L I C K
„… also man ist permanent verfügbar und dann im Moment ist es auch so, dass ich rund um die Uhr arbeiten könnte, aber das will ich ja nicht. Das ist eher so das Problem, wie schütze ich meine Freizeit, wie nehme ich meine Freizeit. […] Dann gibt es Spannungen in der Beziehung oder in der Familie oder ich habe den Eindruck, ich kann meine Arbeit nicht mehr schaffen. Und wenn ich es schaffe, mir die Freizeit zu nehmen und da eine saubere Trennung zwischen Arbeit und Freizeit zu tun, dann habe ich diese Probleme nicht.“ (Fabian Gern, Internet-Anwendungen)
Im Fokus dieser Studie stand die Frage, wie Menschen unter flexiblen Arbeitsbedingungen ihren Alltag gestalten sowie ob und wie sie mittels räumlicher und zeitlicher Praktiken Grenzen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen ziehen. In der empirischen Untersuchung rückten hier durch die subjekt-, handlungs- und praxisorientierte Herangehensweise vor allem die Anforderungen, die sich sowohl aus dem beruflichen wie auch privaten Bereich ergeben und insbesondere wie Menschen diese Anforderungen für sich interpretieren in den Mittelpunkt. Als entscheidend für die Alltagsgestaltung der Untersuchungsgruppe und die Frage, wie stark sie zwischen verschiedenen Lebensbereichen trennt, bzw. vermischt, haben sich zudem persönliche Fähigkeiten und Ressourcen sowie handlungsleitende Orientierungen herausgestellt.
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9 . 1 E r g e b n i s s e d e r R e k o n s t r u k t i o n vo n Al l t a g s p r a k t i k e n s e l b s t s t ä n d i g e r Internetdienstleister Im Folgenden werde ich die Ergebnisse, die sich aus der Rekonstruktion der Alltagsgestaltung selbstständiger Internetdienstleister in München ergeben haben, zusammenfassen und diskutieren. Ein zentrales Ergebnis ist, dass alle befragten Selbstständigen aufgrund der hohen Flexibilitätsansprüche, die sich aus der Arbeitsorganisation in der Internet-Branche sowie ihrer Selbstständigkeit ergeben, „entgrenzt“ arbeiten, wenn das Normalarbeitsverhältnis als Maßstab herangezogen wird. Es hat sich allerdings auch gezeigt, dass selbst die Interviewten, die einen extrem „entgrenzten“ Arbeitsalltag leben, sich durch individuelle räumliche und zeitliche Praktiken Auszeiten von und Orte abseits der Erwerbsarbeit schaffen – der Verlust von Begrenzungen oder Strukturen wird von ihnen also mit Neu-Strukturierungen beantwortet. Ein weiteres zentrales Ergebnis ist indes, dass die Befragten ihren Alltag trotz ähnlicher Arbeitsbedingungen sehr unterschiedlich gestalten.
9.1.1 Grenzziehungen: Nicht das ganze Leben wird zur Arbeit Die Rekonstruktion der Alltagspraktiken meiner Untersuchungsgruppe hat gezeigt, dass sie nicht einfach ihren Alltag an die Anforderungen aus dem Erwerbsbereich anpasst, sondern sie gestalten ihren Alltag individuell und nützen ihre Handlungsspielräume aktiv und reflexiv, jeweils in Abstimmung mit ihren Lebensentwürfen, Orientierungen und verfügbaren Ressourcen. Dabei unterscheidet sich ihre Alltagsgestaltung insbesondere hinsichtlich der Dauer ihrer Arbeitszeiten, aber vor allem dahingehend, wie stark ihre berufliche Tätigkeit auf ihre anderen Lebensbereiche übergreift. Idealtypisch kann man sich das Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben als Kontinuum zwischen den beiden Extremen der vollkommenen Vermischung und einer starken Separation vorstellen. Es gibt also sowohl Befragte, bei denen der Beruf das Alltagsleben absorbiert und die in keiner Weise zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben trennen können – und dies in der Regel auch nicht wollen – als auch Befragte, die relativ klar zwischen Beruf und ihrem Privatleben trennen und sich in ihrer Alltagsgestaltung relativ stark an dem sogenannten Normalarbeitstag orientieren. Eine dritte Gruppe versucht die Lebensbereiche Beruf und Familie miteinander zu verbinden, wobei 246
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beide Bereiche einen zentralen Lebensbereich darstellen und im Alltag die Anforderungen aus beiden Bereichen konkurrieren. Die These einer generellen Entgrenzung von Arbeit lässt sich also aus der Rekonstruktion der Alltagspraktiken meiner Untersuchungsgruppe nicht ableiten. Entscheidend ist, dass sich die Gestaltung des Alltags aus den Anforderungen der beruflichen Tätigkeit und aus den übrigen Lebensbereichen ergibt, und sich erst aus dem Zusammenspiel und der Integration sich zum Teil widerstreitender Anforderungen im Alltag sowie in Abstimmung mit den eigenen Ressourcen, Motiven und Zielen die unterschiedlichen empirisch beobachtbaren Alltagsarrangements ergeben. Diese Gesamtarrangements setzten sich zusammen aus den Orientierungen, Motiven und Zielen sowie den räumlichen, zeitlichen und materiellen Praktiken, die es im Alltag auf der Handlungsebene verkörpern. So hat sich gezeigt, dass Menschen mit dem gleichen Gesamtarrangement, das z.B. auf einer weitgehenden Separation verschiedener Lebensbereiche beruht, dieses Arrangement im Alltag über unterschiedliche Praktiken herstellen. Die subjekt- und handlungsorientierte Herangehensweise ermöglichte mir hier, den Blick auf die individuellen Handlungsentwürfe und subjektiven Orientierungen der Befragten zu lenken und auf diese Weise die handlungsleitenden Faktoren für ihre Alltagsgestaltung herauszuarbeiten.
9.1.2 Handlungsleitende Faktoren für die Alltagsgestaltung Die Betroffenen begegnen den zum Teil widerstreitenden Anforderungen aus Beruf und Privatleben mit unterschiedlichen Strategien. Folgende Faktoren haben sich als bestimmend für die Alltagsgestaltung meiner Untersuchungsgruppe erwiesen: Strukturen (Arbeitsorganisation und -bedingungen in der Branche), Anforderungen aus anderen Lebensbereichen (Familie, Kinder), Ressourcen auf der Mikro- und Makroebene, sowie handlungsleitende Orientierungen. Dabei hat es sich als besonders fruchtbar für meine Arbeit erwiesen, in der empirischen Untersuchung die Handlungsebene mit der Sinnebene zu verknüpfen: Auf der Handlungsebene lässt sich beschreiben, wie die Befragten ihren Alltag gestalten, und vor allem, mit welchen Praktiken sie in zeitlicher, räumlicher und sachlicher Hinsicht die verschiedenen Lebensbereiche vermischen bzw. trennen. Antworten auf die Frage, warum sie ihren Alltag auf diese Weise gestalten, habe ich jedoch auf der Sinnebene gefunden: Insbesondere die individuellen Handlungsentwürfe, subjektiven Orientierungen und biographischen Vorbilder erklären das jeweilige Handeln meiner Befragten. 247
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Arbeitsstrukturen in der Internetbranche Die Arbeitsstrukturen in der Branche stellen die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen dar, die den beruflichen Alltag der Untersuchungsgruppe prägen. Die Internet-Branche ist – wie viele andere Branchen der Kulturund Kreativwirtschaft – geprägt von Klein- und Kleinstunternehmen mit nur wenigen Großunternehmen und einem hohen Anteil an freien Mitarbeitern sowie Alleinselbstständigen. Die Auslagerung von Tätigkeiten ist aufgrund der ausgeprägten horizontalen Arbeitsteilung leicht möglich und Firmen greifen auf freie Mitarbeiter zurück, um sich spezielle Kenntnisse einzukaufen und um Kosten zu sparen, die mit Festanstellungen verbunden wären. Weitere Kennzeichen der Branche sind die kurze Halbwertzeit von marktrelevantem Wissen, ein hoher Innovationsdruck sowie schnell wechselnde Projektkulturen – damit bewegen sich die befragten Selbstständigen in einem Bereich, der von hohen unternehmerischen Risiken sowie einem extrem schwankendem Markterfolg geprägt ist. Zudem ist ein geringer Institutionalisierungsgrad feststellbar – eine eigene organisatorische oder verbandsbezogene Basis, die sowohl als Verhandlungspartner für Verwerterbranchen als auch für staatliche Institutionen dienen könnte, fehlt weitestgehend. Im Allgemeinen herrschen in der Branche lange und variable Arbeitszeiten vor, und obwohl die Beschäftigten ein überdurchschnittliches Bildungsniveau aufweisen, sind ihre Einkommen daran gemessen unterdurchschnittlich und unterliegen erheblichen Schwankungen sowie hohen Unsicherheiten in der Einkommenskontinuität. Insbesondere die Projektarbeit und die Nähe zum Kunden führen für die Befragten zu schwankendem Arbeitsanfall und damit zu potenziell unregelmäßigen Arbeitszeiten. Vor allem Selbstständige mit einer unsicheren Marktposition sind unmittelbar von der Auftragslage abhängig und können es sich aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten, Aufträge – selbst wenn keine Zeitressourcen vorhanden sind – abzulehnen. Hier kommt es folglich zu marktgesteuerten Entgrenzungsprozessen. Zudem fördert die kontinuierliche Netzwerkarbeit, die in der Branche notwendig ist, um sich am Markt zu behaupten, soziale und zeitliche Entgrenzungsprozesse, wobei das Anknüpfen und Pflegen von Kontakten zu Kunden und Netzwerkpartner einen erheblichen zeitlichen Aufwand erfordert. Allerdings gehen die Befragten aufgrund der folgenden Faktoren unterschiedlich mit den Arbeitsstrukturen in der Branche um.
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Anforderungen aus anderen Lebensbereichen Einen erheblichen Einfluss auf die Alltagsgestaltung haben die Anforderungen aus anderen Lebensbereichen (Familie, Haushalt, Kinderbetreuung etc.): So hat sich gezeigt, dass eine extrem arbeitszentrierte Alltagsgestaltung mit aktiver Sorgearbeit für Kinder oder auch alte Menschen nicht zu verbinden ist. Hier geht die räumliche und zeitliche Flexibilisierung und Dominanz der beruflichen Tätigkeit soweit, dass viele Entscheidungen situationsabhängig sind und sich eher kollektiv geregelte Zeitstrukturen wie ein freies Wochenende oder Feierabend tatsächlich auflösen. Selbst eine Partnerschaft ist mit diesem Alltagsarrangement schwierig zu gestalten, da regelmäßige gemeinsame Zeiten kaum zu verwirklichen sind. Folglich wird in dem vorliegenden Sample dieses Arrangement ausschließlich von Alleinlebenden ohne weitere Verpflichtungen gelebt.
Rolle von Ressourcen Die Selbstständigkeit in der Internet-Branche bietet die Chance auf autonomeres Arbeiten, das sich insbesondere in der freieren Zeiteinteilung sowie der Wahl des Arbeitsortes zeigt. Um mit diesen erweiterten Handlungsspielräumen hinsichtlich der Arbeitsausführung umgehen zu können, haben sich die Fähigkeiten zur Selbstorganisation und Planung als die maßgeblichen persönlichen Ressourcen für meine Untersuchungsgruppe erwiesen. Es hat sich gezeigt, dass Zeitgestaltung bestimmte Kompetenzen erfordert „und ein praktisches Wissen, das dazu befähigt, dem Alltag trotz aller Flexibilitäten und Diskontinuitäten zeitliche Form und Permanenz zu vermitteln“ wie Hörning (2001:135) es ausdrückt. Verfügen die Betroffenen hier nicht über die notwendigen Strategien oder Praktiken, wird die freie Zeiteinteilung nicht als Handlungsspielraum, sondern als anstrengend und die Arbeitssituation als unbefriedigend empfunden. Dieses Ergebnis weist darauf hin, dass Instrumente wie die (unfreiwillige) Einführung von Vertrauensarbeitszeit oder auch von flexiblen Bürokonzepten für Mitarbeiter nicht zwangsläufig eine Verbesserung ihrer Arbeitssituation darstellen und folglich nicht unbedingt zu der erhofften Steigerung der Arbeitseffizienz führt, da nicht alle Menschen mit der Anforderung, ihre Arbeit selbst zu steuern und zu organisieren, umgehen können und wollen, sondern die von einem betrieblichen Büroalltag vorgegebenen räumlichen und zeitlichen Strukturen durchaus schätzen, wenn nicht sogar benötigen.
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Als wichtige Ressourcen auf der Makroebene haben sich für viele Interviewpartner ein separater Arbeitsraum in der Wohnung oder ein Büroarbeitsplatz außer Haus herausgestellt, um ihr Alltagsarrangement leben zu können. Zudem sind kurze Wege zwischen Arbeitsplatz und Wohnung im Stadtviertel wesentlich, da sie bestimmte Formen der Alltagsgestaltung erst ermöglichen.
Motive und handlungsleitende Orientierungen Handlungsleitende Orientierungen haben sich als die wichtigste Kategorie für die Alltagsgestaltung erwiesen: Sie können erklären, warum Menschen, die mit ähnlichen Rahmenbedingungen konfrontiert werden, unterschiedlich handeln. Sie bestimmen maßgeblich, welche Sphäre im Alltag dominant ist und in zeitlicher und räumlicher Hinsicht die Alltagsstruktur vorgibt. Insbesondere die Erwerbs- und die Familienorientierung meiner Interviewpartner spielt für ihren Lebensentwurf, der sich im Alltag realisiert (vgl. Geißler/Oechsle 1994: 141) die entscheidende Rolle. Bei den stark erwerbszentrierten Befragten steht entweder eine künstlerische Orientierung oder eine unternehmerische Orientierung im Vordergrund. Beide führen dazu, dass der gesamte Alltag vom Beruf dominiert wird. Menschen mit einer geringeren Berufsorientierung suchen nach einer Balance zwischen den einzelnen Lebensbereichen. Am Beispiel der Mütter mit kleinen Kindern wurde deutlich, dass handlungsleitende Orientierungen dynamisch sind. Die Frauen hatten vor der Geburt ihrer Kinder eine berufszentrierte Orientierung, die sich zum doppelten Lebensentwurf wandelte. Die Einstellung zum Beruf oder Familie wird also fortlaufend ‘bearbeitet‘ (vgl. Schier: 2005). Alltagsarrangements zeigen demnach zwar eine gewisse Stabilität, da sie auf eingespielten Routinen beruhen, aber sie verändern sich mit dem Wandel von Orientierungen.
9.1.3 Die Rolle von zeitlichen, räumlichen und materiellen Praktiken Mit Hilfe von räumlichen, zeitlichen und materiellen Praktiken legen die Interviewpartner fest, wie trennscharf oder flexibel sie in ihrem Alltag den Übergang zwischen den unterschiedlichen Lebensbereichen handhaben. Über diese Praktiken setzen sie in ihrem Alltag Privatsphäre und Beruf für sich in ein individuell passendes Verhältnis (wobei dies – wie bereits ausgeführt wurde – je nach den vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten nicht immer gelingen muss). 250
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Zeitliche Praktiken Insgesamt hat sich die Integration verschiedener Zeitlogiken zu einer subjektiven Zeitordnung im Alltag als anspruchsvolle Aufgabe erwiesen, die umso komplexer wird, je mehr sich fest strukturierte Zeiten auflösen und je stärker die Interviewpartner gefordert sind, eigene Zeitstrukturen zu schaffen (vgl. dazu auch Jurczyk 2005). Während die Personen, deren Alltag stark von Vermischungen zwischen Beruf und übrigen Lebensbereichen geprägt ist, sich durch flexible und wöchentlich schwankende Arbeitszeiten auszeichnen, versuchen auf Trennung bedachte Interviewpartner klar zwischen beruflicher und privater Zeit zu trennen. Sie planen feste Zeiträume für die Arbeit ein und versuchen die Lage der Arbeitszeit konstant zu halten. Hierbei lehnen sie sich weitestgehend an die Normalarbeitszeiten an und orientieren sich an den über den privaten Alltag vermittelten Zeitinstitutionen (Schul- und Hortzeiten der Kinder, Arbeitszeiten des Partners oder Partnerin, Vereine, Abendkurse etc.). Allerdings orientieren sich alle Befragten (bis auf die der erwerbstätigen Mütter mit kleinen Kindern) aufgrund der notwendigen Erreichbarkeit für Kunden und Projektpartner an den tradierten Kernarbeitszeiten. Arbeitszentrierte Befragte dehnen zusätzlich ihre Arbeitszeit auf die Abende und Wochenenden aus, wobei sie ihre beruflichen Tätigkeiten zu diesen Zeiten vielfach nicht als „Arbeit“ empfinden. Dagegen nützen kaum Interviewpartner ihre erweiterte Zeitsouveränität, um ihre Arbeitszeit bewusst zu beschränken oder sich z.B. unter der Woche einen Tag frei zu nehmen. Die erweiterten Handlungsspielräume führen für die Selbstständigen also nicht zu vollkommen neuen zeitlichen Mustern. Folglich fanden sich unter den Befragten dieser Untersuchung keine „Zeitpioniere“ wie sie von einer Aachener Forschungsgruppe Ende der 1980er Jahre anhand von Menschen, die individuelle Arbeitszeitflexibilisierungen für sich in ihren Betrieben durchgesetzt hatten, identifiziert wurden (vgl. Hörning et al. 1990). Für den Typus des „Zeitpioniers“ ist die Erwerbsarbeit zwar zentral, aber Übergriffe der Erwerbsarbeit auf den außerberuflichen Alltag, bzw. eine Vermischung der Sphären, werden durch eine Verkürzung und Flexibilisierung der Arbeitszeit eingeschränkt. Durch die gewonnene Zeit entzieht er sich partiell vorherrschenden Zeitstrukturen, um mehr eigene Zeit zu haben. Diese „Zeitpioniere“ versuchen sich durch Arbeitszeitflexibilisierung und weniger Arbeit mehr zeitliche Spielräume zu schaffen und ihren individuellen Zeitwohlstand zu erhöhen (vgl. Hörning 2001: 28).
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In der vorliegenden Studie gleicht lediglich das Zeithandeln der Mütter mit kleinen Kinder dem der „Zeitpioniere“, allerdings mit dem gewichtigen Unterschied, dass sie ihre Arbeitszeit nicht einschränken, um mehr Zeit für sich zu haben, sondern um Betreuungs- und Haushaltstätigkeiten zu übernehmen. Dies mag bei den Befragten mit dem Arrangement der Vermischung in ihrer hohen Berufsorientierung begründet liegen. Für sie bildet die berufliche Tätigkeit das sinnhafte und praktische Zentrum ihres Alltags und Zeit für sich oder andere Lebensbereiche wird demzufolge nicht vermisst. Es könnte aber auch an der unsicheren Marktposition vieler Selbstständiger liegen, die sich freie Tage unter der Woche nicht leisten können (oder zumindest meinen, sie sich nicht leisten zu können) und in Phasen mit schlechter Auftragslage Weiterbildung, die Entwicklung neuer Produkte oder ähnliches betreiben. Der Umgang mit Zeit ist mit dem Umgang mit Raum insofern verknüpft, dass je länger die Arbeitszeiten der Befragten sind, umso größer wird auch die räumliche Vermischung: Entweder finden dann verstärkt berufliche Tätigkeiten zu Hause statt oder die Befragten ‚leben‘ im Büro.
Räumliche Praktiken und der Umgang mit Artefakten Die Rekonstruktion der Alltagspraktiken zeigt, dass generell eine Trennung zwischen Beruf und Privatleben leichter herstellbar ist, wenn sich der Arbeitsplatz außerhalb der Wohnung befindet. Die erwünschte mentale Trennung wird hier durch eine physische Distanz zwischen den Lebensbereichen erreicht. Im Unterschied zu den Ergebnissen arbeitssoziologischer und psychologischer Studien (vgl. z.B. Pongratz/Voß 2003; Ewers et al. 2006), komme ich zu dem Ergebnis, dass durchaus auch Befragte, die zu Hause arbeiten zwischen Beruf und Privatleben trennen und es bei ihnen nicht zwangsläufig zu einer Vermischung der beiden Lebensbereiche kommt. Allerdings sind hierzu spezielle Praktiken der Trennung notwendig: Diese Gruppe der Befragten arbeitet vielfach ausschließlich in einem Arbeitszimmer, das von dem übrigen Wohnbereich klar abgetrennt ist. Zudem wird kleinteilig mit Hilfe von Ritualen des Übergangs, mit zeit-räumlichen Praktiken (z.B. wird das Arbeitszimmer abends und am Wochenende nicht betreten) oder auch durch materielle Artefakte innerhalb der Wohnung getrennt. Bei Befragen, die Arbeit und Privatleben räumlich vermischen, findet Arbeiten und Wohnen in einem Raum statt, wobei die Bereiche weder physisch (z.B. über Raumteiler) noch symbolisch (z.B. über die Verwendung von klassischen Büromöbeln) abgetrennt sind; oder die Be-
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fragten arbeiten in einem Zimmer, das noch andere Funktionen (Gästezimmer, „Wäschezimmer“) erfüllt. Möbel und Einrichtungsgegenstände sind wichtige Artefakte über die sowohl am Arbeitsplatz wie auch im Wohnbereich Vermischung oder Trennung hergestellt werden. So werden nach Beendigung der beruflichen Tätigkeit Computer oder Laptop sowie Arbeitsmaterialien aus dem Blickfeld genommen, indem sie hinter Rollos oder in schließbaren Schränken oder Sekretären verschwinden. Trennungen werden auch so hergestellt, dass zu Hause bewusst kein Büroarbeitsplatz mit klassischen Büromöbeln eingerichtet wird oder das Arbeitszimmer zu Hause ausschließlich mit klassisch funktionalen Büromöbeln ausgestattet wird, um dem Raum eine professionelle, „Büroatmosphäre“ zu geben, die sich von der übrigen Wohnung abhebt. Genau mit der umgekehrten Intention werden am Büroarbeitsplatz außerhalb des Zuhauses Einrichtungsgegenstände verwendet, die dem Wohnbereich zuzuordnen sind, wie z.B. ein Sofa für den Mittagsschlaf oder den Besuch von Freunden. Computer, Laptop sowie die inzwischen fast ubiquitäre Verfügbarkeit des Internet stellen für viele Befragten Artefakte der Vermischung dar, da fast alle Befragten das Internet intensiv zu Hause für private Zwecke nutzen, wobei dann häufig eben auch geschäftliche Emails abgerufen werden. Ebenso fühlen sich viele Befragte während der Arbeitszeit abgelenkt durch die permanente Möglichkeit, im Internet zu surfen. Von vielen Befragten wurde die Möglichkeit an zwei Arbeitsorten zu arbeiten – also der Wechsel zwischen konzentriertem und zurückgezogenem Arbeiten an einem Arbeitsplatz zu Hause und der Kommunikation mit Projektpartnern und Kunden an einem Büroarbeitsplatz außerhalb der Wohnung – als sehr effizient beschrieben. Zudem lassen statistische Erhebungen den Schluss zu, dass immer mehr Menschen die Möglichkeit nützen, zumindest teilweise Arbeit zu Hause zu erledigen. Die Ergebnisse meiner Studie deuten allerdings darauf hin, dass die Mehrheit der Befragten dennoch die Erwerbsarbeit nicht ständig im Blickfeld haben möchte. Dies erfordert neue Wohnungszuschnitte und das Design neuer Arbeits-, bzw. Wohnmöbel, die auf diese Bedürfnisse ausgerichtet sind – hier könnten weitere Studien, die sich noch stärker ausschließlich auf Praktiken konzentrieren, hilfreich bei der Entwicklung neuer Wohn- und Einrichtungsformen sein.
9.2 Die Bedeutung räumlicher Kontexte Im Fall der Internet-Branche – ebenso wie bei anderen wissensintensiven unternehmensorientierten Dienstleistungen (vgl. Glückler 2004) – 253
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verringern IuK-Technologien nicht die Notwendigkeit räumlicher Nähe: Kopräsenz im Arbeitsalltag ist weiterhin von Bedeutung. Dies wird auch verständlich, wenn man bedenkt, dass die Ablösung der Kommunikation von der Präsenz unter Anwesenden erfordert, dass ein gemeinsames Verstehen zwischen Mitteilendem und Adressaten vorhanden ist. Hierzu sind die gleichen kulturellen und sozialen Codes notwendig. Dies funktioniert in kleinen Szenen oder im Fall von Anbieter und Kunden, wenn bereits eine Vertrauensbasis geschaffen wurde. Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass in bestimmten Projektphasen face-to-face-Besprechungen trotz Internet immer noch notwendig sind. Die Internet-Branche ist nicht nur in bestimmten großstädtischen Agglomerationen konzentriert, sondern es lassen sich auch lokale Konzentration insbesondere in den Innenstädten feststellen. Dies ist auch für die Branche in München der Fall. Für die Firmen ist hier vor allem das Wohlfühlen am Standort – also das „look and feel“ (Helbrecht 2001) und die lebendige Atmosphäre der Innenstadt wichtig. Zudem spielte die Arbeitsorganisation als ein bisher in wirtschaftsgeographischen Arbeiten kaum untersuchter Faktor eine wichtige Rolle: Extrem lange und flexible Arbeitszeiten können den Beschäftigten eher an einem Standort in der Innenstadt abverlangt werden, da hier Erwerbsarbeit und andere Lebensbereiche (Einkaufen, Abschalten in einem Cafe in der Mittagspause) einfacher verbunden werden können. Die Nähe zu anderen Firmen ist vor allem für Alleinselbstständige ein wichtiger Standortfaktor. Die befragten Beschäftigen in der Internet-Branche in München wie auch die Interviewpartner arbeiten und leben überwiegend in innenstadtnahen Vierteln von München. Das bedeutet, sie sind nicht – wie man aufgrund ihrer Tätigkeit vermuten könnte – ortsunabhängig, sondern an reale und zwar (inner-)städtische Standorte gebunden. Obwohl die Arbeit mit Computer und Internet scheinbar Ortsunabhängkeit verheißt, bedingt die Anbahnung und Pflege von Kundenkontakten neben der Investition von Zeit, räumliche Nähe auf lokaler Ebene. Dies ergibt sich aus den Grundanforderungen der Branche: Räumliche Nähe zwischen Selbstständigen, Agenturen und Kunden wird von den Befragten als Vorteil gesehen, da sie face-to-face-Kontakte erleichtert, was bei erhöhtem Abstimmungsbedarf und Zeitdruck vorteilhaft ist. Zudem stellte es für die Befragten eine entscheidende Ressource dar, auf einem wechselnden Arbeitsmarkt ständig präsent zu sein. Der Zugang zu Netzwerken und sozialen Kontakten ist für sie eine entscheidende Marktbehauptungsstrategie. Die Rekonstruktion der Alltagspraktiken der Befragten liefert weitere Erklärungen, indem sie die engen Verbindungen zwischen verschiedenen Maßstabsebenen zeigt: So ist das Zuhause eng verknüpft mit der 254
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lokalen Ebene des Stadtviertels (Wohnort) und der regionalen und nationalen Ebene (Branche). Wie aus der Analyse der Arbeitsorte deutlich wurde, haben die Befragten häufig ihren Arbeitsort in der Nähe der Wohnung. Sie begründen dies mit der Zeitersparnis bei kurzen Wegen, die sie aufgrund ihrer langen und unregelmäßigen Arbeitszeiten als wichtig erachten. Zudem schätzen die Befragten Viertel, die ein hohes Maß an Infrastruktur, wie Cafés, Bars, Geschäften aller Art, bieten. Die Möglichkeit, im Viertel Freunde und Netzwerkpartner zu treffen, stellt zudem eine wichtige Kompensationsstrategie dar, um der potenziellen Isolation durch die langen Arbeitszeiten zu entgehen. Meine Arbeit unterstreicht zudem nochmals die große Bedeutung der physischen Verortung der „infrastructure of everyday life“ (vgl. Jarvis 2005) in der Stadt und dem Aufwand, der getrieben werden muss, tägliche Aktivitäten zu verbinden und organisieren zu können (vgl. McDowell et al. 2006). Zwar ist die berufliche Arbeit der Befragten durch IuK-Technologien räumlich flexibler geworden, für viele andere zu verrichtenden Tätigkeiten im Alltag und vor allem ihrer Kombination im Tagesverlauf gilt dies aber nicht. Insbesondere für berufstätige Eltern ist deshalb die räumliche Nähe zwischen Büroarbeitsplatz, Wohnung und Kinderbetreuung eine wichtige Voraussetzung, um ihren Alltag organisieren zu können. Durch ihre Wohnstandortpräferenz in innenstadtnahen Vierteln ist die befragte Gruppe zugleich Treiber, aber aufgrund ihrer beschränkten ökonomischen Ressourcenausstattung auch Opfer von Gentrificationprozessen – und dies gilt insbesondere in einer Stadt wie München mit hohen Miet-, Wohnungs- und Lebenshaltungskosten. Wie Befragungen zeigen, können gerade kreative Berufsgruppen ihre starke Innenstadtorientierung (sowohl als Arbeits- als auch als Wohnstandort) aufgrund des angespannten Immobilienmarktes und ihrer finanziellen Situation nicht umsetzen (vgl. Hafner/von Streit 2007). Die befragten Selbstständigen verbringen phasenweise viel Zeit in ihrer Wohnung. Das Zuhause verliert für die Befragten nicht seine Funktion als Ort der Entspannung und des Rückzugs, aber es gewinnt durch die Arbeit zu Hause und durch die intensive Nutzung des Internets in den eigenen vier Wänden neue Funktionen hinzu. Für die meisten Interviewpartner stellt das Arbeiten in einem multifunktionalen Zimmer lediglich eine Übergangslösung dar: Sie würden eine Lösung favorisieren, bei der sie entweder einen separaten Arbeitsraum in der Wohnung oder, noch besser, die Wahl hätten zwischen zwei Arbeitsorten, also der Arbeit zu Hause und einem separaten Büroarbeitsplatz in räumlicher Nähe zur Wohnung. 255
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Die Anmietung eines Büroarbeitsplatzes ist für viele Befragte jedoch gerade am Anfang ihrer Selbstständigkeit finanziell nicht möglich. Städte mit einem hohen Besatz an kreativen und wissensintensiven Unternehmen wie z. B. München oder Frankfurt am Main, die sich aufgrund von Flächenmangel und hohen Mietpreisen mit einer Abwanderung von Kreativen auseinandersetzen müssen, könnten hier unterstützend eingreifen, indem sie Büroräume in innenstadtnahen Vierteln mitfinanzieren. Auf diese Weise würde die Ansiedlung von kreativen Wissensarbeitern unterstützt, bzw. ihre Abwanderung verhindert werden. Vorbild hierfür könnten sogenannte coworking spaces sein, wie sie sich in anderen Städten wie Berlin oder Leipzig schon länger etabliert haben.1
9 . 3 D i e R o l l e vo n G e s c h l e c h t Im Kontrast zu anderen Teilmärkten der Kreativwirtschaft kann die Internet-Branche mit einem Frauenanteil von ca. einem Drittel in München (vgl. Rehberg et al. 2002: 205) als männlich segregiert bezeichnet werden und auch Studien (z.B. Manske 2007) weisen auf anhaltende Geschlechterungleichheiten in dieser Branche hin (für eine positivere Einschätzung der Situation von Frauen innerhalb der Gruppe der Alleindienstleister siehe Betzelt 2006). Da diese Arbeit nicht eine vollständige Branchenanalyse zum Ziel hatte, möchte ich lediglich einige Tendenzen aufzeigen, die auf eine Rekonfiguration von Geschlecht als Ungleichheitsdimension hindeuten: Zum einen ist aufgrund der entgrenzten Arbeitsbedingungen in der Branche eine Festanstellung in einer Agentur mit Familie und Sorgearbeit kaum zu verbinden. Für Frauen mit Kindern war dies ein wesentliches Motiv sich – allerdings mit Einkommenseinbußen – selbstständig zu machen. Die Selbstständigkeit bietet also durchaus eine Nische für Mütter, wobei die befragten Frauen mit Kindern dann häufig finanziell von ihrem Partner abhängig sind und durch dieses „Zuverdienermodell“ tradierte Geschlechterungleichheiten fortgesetzt werden (vgl. Pfau-Effinger 2000). Allerdings kann in dieser Branche durchaus von einer „Feminisierung“ gesprochen werden, jedoch weniger im Sinne eines hohen Frauenanteils, sondern in dem Sinn, dass auch Männer zunehmend von instabilen und prekären, bzw. nicht existenzsichernden Erwerbssituationen betroffen sind (und damit ebenfalls auf Zuverdienst angewiesen
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Für Berlin siehe z.B. http://betahaus.de/, für Leipzig http://www.cowor king-leipzig.de/ oder für ein noch jüngeres Beispiel in München http://www.combinat56.de.
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sind) wie sie vormals fast ausschließlich für Frauen typisch waren. Dies könnte das Geschlechterverhältnis verändern. Zudem lässt sich trotz vieler Veränderungen in der Alltagsgestaltung der Untersuchungsgruppe festhalten: Die dominanten Strukturen des Geschlechterverhältnisses und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung spiegeln sich auch in der untersuchten Gruppe wider. Allerdings in modernisierter Form, da alle Frauen (auch die in Paarbeziehungen mit Kindern) eine eigene Karriere verfolgen und damit das traditionelle Modell des männlichen Familienernährers bzw. der Hausfrauen-Ehe konsequent aufgelöst ist. Damit entsprechen die Ergebnisse dieser Studie den Ergebnissen von Behnke und Meuser (2003) über Doppelkarrierepaare, also der Konstellation, bei der beide Partner einer regelmäßig ausgeübten Berufstätigkeit nachgehen und zugleich über höhere, zumeist akademische Bildungsabschlüsse, ein starkes Engagement im Beruf und eine lebenslange Karriereorientierung aufweisen. Die relative Freiheit der Selbstständigkeit ermöglicht dabei zwar eine bessere individuelle Verbindung von Familienleben und Berufstätigkeit, die aber in der vorliegenden Studie nur von Frauen wahrgenommen wird (in einem Fall mit dem Partner geteilt): Ausschließlich Frauen verwirklichen einen doppelten Lebensentwurf, Organisation der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben, wobei die Organisation der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben die Aufgabe der Frauen ist: Sie halten trotz Berufstätigkeit die Familie am Laufen, was in ihrem Alltag zu einem erhöhten Organisations- und Koordinationsaufwand führt. Die Rekonstruktion der räumlichen Alltagspraktiken von Frauen mit Kindern hat gezeigt, dass das vielfach als Lösung des Vereinbarkeitsproblems propagierte Homeoffice oder der Teleheimarbeitsplatz nicht unbedingt eine Alternative zum Büroarbeitsplatz außerhalb der Wohnung darstellt. Zum einen spielen bei der Entscheidung für einen bestimmten Arbeitsort (Zuhause, Büroarbeitsplatz) soziokulturelle Kontexte wie kulturell und institutionell verankerte Vorstellungen über Mütterlichkeit, die richtige Kindererziehung, Familienleben, Partnerschaft, Arbeitsteilung, Erwerbstätigkeit als Frau, die jeweils mit spezifischen geschlechterkulturellen Vorstellungen (vgl. Pfau-Effinger 2000) verbunden sind, eine wichtige Rolle. Sie entscheiden mit darüber, ob die Kombination von Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit durch das Arbeiten zu Hause von Menschen als belastend und einschränkend oder als entlastend und als Erweiterung der eigenen Handlungsspielräume empfunden wird. Zum anderen hat sich gezeigt, dass Orte für die Identitätskonstruktion eine wichtige Rolle spielen: Ist das Zuhause verknüpft mit der Rolle als Mutter und Hausfrau, wird ein ‚professionelles‘ Umfeld und Bürosetting als Arbeitsplatz vorgezogen. Bemerkenswert ist, dass diese Aus257
ENTGRENZTER ALLTAG – ARBEITEN OHNE GRENZEN?
einandersetzung der Frauen mit kulturellen Leitbildern von Männern und Frauen, von Müttern oder der richtigen Kinderbetreuung nicht mit der Partnerschaft oder Heirat und Zusammenleben stattfindet, sondern erst mit der Elternschaft. Bei den kinderlosen Frauen ließ sich vielfach keine besondere Identifikation mit ihrer besonderen Rolle als Frau zu Hause feststellen. Allerdings dürfte dazu auch beitragen, dass viele Doppelverdiener-Paare des Samples über Putzhilfen verfügen. Damit bleibt die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung unangetastet bleibt und lediglich an fast immer weibliche und gering qualifizierte Beschäftigte delegiert wird. Insgesamt ergeben sich hinsichtlich der Rolle von Geschlecht uneinheitliche Befunde. Einerseits sprechen einige Ergebnisse für die fortgeltende Relevanz von Geschlechterstereotypen. Dies gilt im beruflichen wie auch privaten Bereich und vor allem auch bei den Möglichkeiten und Restriktionen mit flexibler Arbeit, Beruf und Familie zu verbinden. Andererseits finden sich durchaus auch Hinweise für Veränderungen im Geschlechterverhältnis, die auf den Abbau von Geschlechterhierarchien verweisen.
9.4 Selbstständige Internetdienstleister als P r o t o t yp e n n e u e r Ar b e i t s f o r m e n ? E i n i g e k r i t i s c h e An m e r k u n g e n Räumliche und zeitliche Flexibilisierung, neue Kombinationen von Arbeiten und Leben, Subjektivierung, eigenverantwortlich zu bewältigende Risikostrukturen: Die Befragten sind mit fast sämtlichen Charakteristika des Strukturwandels von qualifizierter Wissensarbeit konfrontiert. Was kann aus ihren Umgangsstrategien gelernt werden? Können sie als Prototypen für zukunftsfähige Formen von Erwerbstätigkeit gelten? Eine Bewertung muss hier sicherlich zumindest ambivalent ausfallen. Es hat sich gezeigt, dass die Befragten nicht Opfer fremdbestimmter Veränderungen von Arbeitsbedingungen sind, und es ist auch nicht so, dass sie ihr Leben vollständig den Imperativen des Marktes unterordnen. Sie leben durchaus neue Kombinationen von Arbeit und Privatleben und erreichen dadurch auf subjektiver Ebene tatsächlich Autonomiegewinne. Gleichzeitig müssen sie sich auf gesetzlich oder kollektiv meist nur schwach regulierten Märkten behaupten und sind bei überdurchschnittlicher Bildung vielfach von unterdurchschnittlichem Einkommen betroffen. Die Schattenseiten dieser Arbeitsform sind gesundheitliche Probleme durch Überarbeitung, wobei der Grad der Selbstausbeutung häufig bis hin zum burn-out führt, oder auch die negativen Folgen der langen 258
RESÜMEE UND AUSBLICK
Arbeitszeiten für soziale Kontakte oder familiäre Beziehungen – wie dies inzwischen auch in anderen Studien dokumentiert wurde (vgl. z.B. Perrons, 2007, Pratt 2000). Zudem fungieren Alleinselbstständige häufig als letztes Glied in der Kette mit der schwächsten Marktposition, nämlich als Flexibilitätsreserve für Firmen, die dadurch besser auf Marktveränderungen und Kostendruck reagieren können. Durch den Einsatz von Freien entstehen für die Firmen Kosteneinsparungen, und sie profitieren durch die vielfältigen Kontakte und wechselnden Projektteams von Lerneffekten. Diesen Kosteneinsparungen auf Firmenseite stehen Kosten, die bei den Selbstständigen entstehen, gegenüber: Entweder in Form von kostenloser Mehrarbeit, z.B. in Form von Netzwerkarbeit zur Sicherung der eigenen Marktposition oder eigener Weiterbildung. Hinzu kommen Kosten, die aus der Substitution der eigenen Arbeitskraft für die alltäglichen Tätigkeiten zu Hause resultieren und für die entweder bezahlte Hilfen eingesetzt werden, oder die durch den Partner oder die Partnerin erledigt wird. Letztendlich müssen hier ökonomische Beziehungen über soziale Beziehungen, z.B. in der Familie, abgefedert werden. Diese verdeckten Kosten, die von Individuen im alltäglichen Leben getragen werden müssen, werden in der gesamten Clusterdiskussion z.B. in der Wirtschaftsgeographie nicht berücksichtigt. Zweifellos liegen in diesem Feld also die Risiken von Prekarität und die subjektiven Gewinne an Autonomie sehr nahe beisammen, was eine Bewertung dieser neuen Arbeitsformen erschwert. Allerdings kann diese Bewertung meiner Meinung immer erst aus dem Zusammenspiel objektiver Arbeitsstrukturen und individueller Bedeutungszuschreibungen und Orientierungen der Betroffenen erwachsen, wobei die Bedeutung, die die Betroffenen ihrer Situation selbst zuweisen, zentral sein sollte. Betrachtet man die subjektive Dimension, so zeigt sich, dass eben viele der Befragten ihre Selbstständigkeit insgesamt positiv bewerten, eine große Befriedigung aus ihrer Tätigkeit ziehen und die langen Arbeitszeiten für sie auch Ausdruck ihrer Leidenschaft für ihre Arbeit darstellt und keinesfalls als Selbstausbeutung gedeutet wird. Dies vermindert allerdings nicht den gesellschaftlichen Handlungsbedarf, der durchaus festzustellen ist: Für die Mehrheit der Selbständigen existiert keinerlei obligatorische Einbindung in Sozialversicherungssysteme. Grundsätzlich kann ein Hinterherhinken dieser Regulierungen hinter den tatsächlichen flexiblen Arbeitsstrukturen in diesem Bereich konstatiert werden, was zu einer mangelhaften sozialen Absicherung in diesem Feld führt. Die kollektive als auch individuelle Vorsorge für soziale Risiken vieler Selbstständiger z.B. sozialer Armutsrisiken bei län-
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gerer Krankheit, Erwerbsunfähigkeit, Auftragslosigkeit und Alter muss als unzureichend bezeichnet werden (vgl. Betzelt 2006). Zudem existieren kaum geeignete Bildungs- und Weiterbildungsangebote an Universitäten oder Fachhochschulen, die speziell auf die Bedürfnisse von flexibel arbeitenden selbstständigen kreativen Wissensarbeitern zugeschnitten wären – hier sind verstärkt Angebote zur Vermittlung von kaufmännischem als auch fachspezifischem Wissen vonnöten. Allerdings muss auch angemerkt werden, dass die strukturellen Gemeinsamkeiten der untersuchten Gruppe wie ein hohes kulturelles und soziales Kapitel sowie ähnliche Arbeitsbedingungen und z.T. unsichere Existenzbedingungen nicht zu einem ausgeprägten Bewusstsein für die geteilten Problemlagen führt. Der Selbstorganisationsgrad kann dahingehend als gering bezeichnet werden, dass sich die durchaus vorhandenen Netzwerke nicht in der Art formieren, dass gemeinsame Interessen offensiv artikuliert werden. Nicht zuletzt deshalb fehlen der öffentlichen Verwaltung häufig Ansprechpartner aus diesem Feld (zu Governancefragen in der Kreativwirtschaft siehe Lange et al. 2009). Letztendlich hat sich gezeigt, dass sich im Zuge des Strukturwandels von Arbeit auch neue soziale Problemlagen in dem vermeintlich privilegierten Segment der Wissensarbeiter entwickeln (vgl. dazu auch Betzelt 2006, Manske 2007). Damit werden auch die herkömmlichen Muster sozialer Ungleichheit in Frage gestellt, da sich hier eine hohe Qualifikation mit häufig geringen Einkommen und instabilen Existenzen sowie eine hohe soziale mit einer geringen institutionellen Einbindung verbinden (vgl. auch Manske/Schnell 2010). Die Beantwortung der Frage, wie nachhaltig diese neuen Formen von Arbeit sind und inwieweit sie Chancen auf eine bessere Verbindung von Arbeiten und Leben für Männer und Frauen eröffnen, stellt sich also auch weiterhin. Forschung kann darauf aufmerksam machen, welche Beschäftigte von neuen Entwicklungen profitieren und welche verlieren und sie sollte Diskussionen über die Kosten anstoßen, die durch eine flexibilisierte und beschleunigte Arbeitswelt für Menschen in ihrem Alltagsleben entstehen. Dazu eignen sich Forschungsperspektiven, die nicht nur das Ökonomische, sondern alle Lebensbereiche von Menschen im Blick haben und sich zudem den sozial-ökonomischen Bedingungen menschlichen Handelns zuwenden.
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