Das Wissen der Leute: Bioethik, Alltag und Macht im Internet 3531156640, 9783531156644


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Table of contents :
Cover......Page 1
Das Wissen der Leute......Page 2
Theorie und Praxis der Diskursforschung......Page 3
ISBN 9783531156644......Page 5
Inhaltsverzeichnis......Page 6
1 Die Problemstellung......Page 12
2 Der Forschungsgegenstand......Page 25
3 Diskurstheoretische Überlegungen......Page 41
4 Rahmenanalyse: Bioethik, zivilgesellschaftliche Partizipation, Öffentlichkeit im Internet......Page 68
5 Methodologische Vorüberlegungen......Page 107
6 Komplexität reduzieren durch Zählen und Messen......Page 118
7 Diskursordnung finden durch Kategorisieren und Systematisieren......Page 139
8 Wissen – Macht – Alltag: Wissenssoziologische Anschlüsse......Page 167
9 Die Macht des Wissens in „1000fragen.de" – Eine wissenssoziologische Analyse......Page 194
10 Die Bedeutung interdiskursiven Wissens verstehen: Fallstudien......Page 237
11 Schlussbemerkungen......Page 301
12 Literatur......Page 307
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Das Wissen der Leute: Bioethik, Alltag und Macht im Internet
 3531156640, 9783531156644

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Anne Waldschmidt · Anne Klein · Miguel Tamayo Korte Das Wissen der Leute

Theorie und Praxis der Diskursforschung herausgegeben von Reiner Keller Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich im deutschsprachigen Raum quer durch die verschiedenen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen eine lebendige Szene der diskurstheoretisch begründeten empirischen Diskurs- und Dispositivforschung entwickelt. Nicht nur Qualifikationsarbeiten etwa im Rahmen von Graduiertenkollegs, sondern auch Forschungsprojekte, Methodenwerkstätten und Tagungen oder die von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie unlängst vergebenen Nachwuchs-Preise für empirische Diskursstudien dokumentieren die zunehmende Bedeutung des Diskursbegriffs für die Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken. Vor diesem Hintergrund zielt die interdisziplinär angelegte Reihe durch die Veröffentlichung von Studien und Diskussionsbeiträgen auf eine weitere Profilschärfung der Diskursforschung sowie auf die Vorstellung entsprechender Arbeiten für ein breiteres wissenschaftliches Publikum. Die einzelnen Bände werden sich mit theoretischen und methodologischen Grundlagen, methodischen Umsetzungen und empirischen Ergebnissen der Diskurs- und Dispositivforschung sowie mit deren Verhältnis zu anderen Theorieprogrammen und Vorgehensweisen beschäftigen. Vorgesehen ist die Publikation von Forschungsarbeiten aus unterschiedlichen Fachdisziplinen sowie von Sammel- und Tagungsbänden.

Anne Waldschmidt Anne Klein Miguel Tamayo Korte

Das Wissen der Leute Bioethik, Alltag und Macht im Internet Unter Mitarbeit von Sibel Dalman-Eken

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15664-4

Inhaltsverzeichnis

1 DieProblemstellung.................................................................................................................11 2 DerForschungsgegenstand......................................................................................................24 2.1 Diskursprojekt„1000FragenzurBioethik“....................................................................24 2.2 DieMedienkampagne........................................................................................................26 2.3 DasInternetportal„www.1000fragen.de“......................................................................30 2.4 DiePatenschaften„78FragenzurBioethik“...................................................................36 2.5 DasForschungsvorhaben..................................................................................................37 3 DiskurstheoretischeÜberlegungen.......................................................................................40 3.1 WelcherDiskursbegriffliegtdemInternetforumzugrunde?.......................................40 3.2 Wasistein„Diskurs“nachFoucault?..............................................................................44 3.3 Exkurs:„Fragen“und„Kommentieren“als„Sprechakte“...........................................47 3.4 „Äußerung“und„Aussage“alsdiskursanalytischeInstrumente...............................54 3.5 EineTypologiedesDiskursiven.......................................................................................57 3.5.1 Diskursals„Spezialdiskurs“.....................................................................................57 3.5.2 Diskursals„Interdiskurs“..........................................................................................59 3.5.3 Diskursals„elementarerInterdiskurs“....................................................................62 3.6 DasInternetforumals„diskursivesEreignis“imInterdiskurs....................................63 4 Rahmenanalyse:Bioethik,zivilgesellschaftlichePartizipation, ÖffentlichkeitimInternet.......................................................................................................67 4.1 ThematischeRahmung:Ist„Bioethik“einDiskurs?......................................................69 4.1.1 SelbstbeschreibungenderBioethik:DisziplinundDiskurs...................................69 4.1.2 DiskursanalytischePerspektive:DieDisziplinistderDiskurs– derDiskursistdieDebatte–BioethikistdasThema.............................................72 4.2 InstitutionelleRahmung:Ist„1000FragenzurBioethik“ einProjektpartizipativerTechnikfolgenabschätzung?.................................................75 4.2.1 AnsätzeundModellederTechnikfolgenabschätzung...........................................75 4.2.2 DasKonferenzmodell.................................................................................................79 4.2.3 DasUmfragemodell....................................................................................................84 4.2.4 DasmassenmedialeModell.......................................................................................89 4.2.5 ZurpartizipativenQualitätdesInternetforums......................................................91 4.3 MedialeRahmung:WelcheBedeutunghatdasInternet?.............................................94 4.3.1 EigenheitendervirtuellenKommunikation............................................................94 4.3.2 EinflussdermedialenRahmungaufFormundInhaltderForumsbeiträge.......97 4.4 Internetforen–eineneueFormpolitischerÖffentlichkeit?........................................102  

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Inhaltsverzeichnis

5 MethodologischeVorüberlegungen....................................................................................106 5.1 ForschungalsProzess......................................................................................................107 5.2 EindiskurstheoretischesModelldesForschungsgegenstands..................................110 6 KomplexitätreduzierendurchZählenundMessen.........................................................117 6.1 Inhaltsanalyse:MethodologischeReflexion..................................................................117 6.2 MethodischesVorgehen,DatengewinnungundverwendeteSoftware...................119 6.3 ErgebnissederquantitativenAnalysen.........................................................................121 6.3.1 DieForumsteilnehmer/innen...................................................................................122 6.3.2 ThemenwahlundDiktionär.....................................................................................123 6.3.3 FeedbackimForum...................................................................................................132 6.4 Schlussfolgerungen..........................................................................................................135 7 DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren.............................138 7.1 Diskursanalyseundgroundedtheory:MethodologischeReflexion.........................138 7.1.1 DerBeitragdergroundedtheory............................................................................139 7.1.2 Diskursanalyseundgroundedtheory:GemeinsamkeitenundUnterschiede..141 7.2 MethodischesVorgehen:OffenesCodieren..................................................................143 7.3 RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum..............................................144 7.3.1 Subjekt–Ethik–Macht:InhaltlicheDiskursordnung..........................................149 7.3.2 Wissen–Sprecherpositionen–Diskurskontrollen– Strategien:FormaleDiskursordnung......................................................................158 7.4 Schlussfolgerungen..........................................................................................................164 8 Wissen–Macht–Alltag:WissenssoziologischeAnschlüsse..........................................166 8.1 Wissen:ErkenntnisstilundErfahrung...........................................................................168 8.2 WissenschaftlichesWissen:„Objektivierung“..............................................................172 8.3 Alltagswissen:„IntensivsteSubjektivierung“..............................................................175 8.4 InterdiskursivesWissen:„(Subjekt)Applikation“.......................................................182 8.5 Exkurs:„UnterworfenesWissen“...................................................................................187 8.6 Der„KreativZyklus“:Schlussfolgerungen..................................................................189 9 DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse.....193 9.1 MethodischesVorgehen:StichprobenziehungundAuswertungsplan....................194 9.2 MerkmalevonSpezialwissenundAlltagswissen........................................................200 9.3 LegitimationenundWissensformen..............................................................................207 9.4 AbgrenzungenundAusschlüsse....................................................................................211 9.5 Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände.....................................215 9.5.1 MethodischesVorgehen:DiktionäreimVergleich...............................................216 9.5.2 UnivariateWortschatzanalysen...............................................................................218 9.5.3 BiundmultivariateAnalysenderStreuungderBegriffe...................................224 9.6 Fazit....................................................................................................................................234  

Inhaltsverzeichnis

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10 DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien.................................236 10.1 Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein)......................236 10.1.1 ‚Metapher’und‚Subjekt’..........................................................................................238 10.1.2 DiskurstheoretischeAnknüpfungspunkte unddasAufspürenvonFundstellen......................................................................241 10.1.3 WiekonstituiertsichdasSubjektim‚Klon’?.........................................................242 10.1.4 Ausblick......................................................................................................................255 10.2 „Jedersollselbstentscheiden“– SelbstbestimmungundEthik(MiguelTamayoKorte)................................................256 10.2.1 MethodischesVorgehen...........................................................................................257 10.2.2 Analyseergebnisse:DasAussagenensembleum„individuelleAutonomie“....260 10.2.3 TheoretischeReflexion:MerkmaleundFunktionsweisedesInterdiskurses....274 10.3 NormalitätundBehinderung: MächtigeGrenzziehungenimInterdiskurs(AnneWaldschmidt)............................277 10.3.1 ParadoxiederNormalitätsgrenze...........................................................................278 10.3.2 MethodischesVorgehen...........................................................................................279 10.3.3 Markierungen–dieMachtderGrenze...................................................................282 10.3.4 DieMachtderGesellschaft.......................................................................................298 11 Schlussbemerkungen..............................................................................................................300 12 Literatur.....................................................................................................................................306   

Tabellenverzeichnis

Tabelle1 Tabelle2 Tabelle3 Tabelle4 Tabelle5 Tabelle6 Tabelle7 Tabelle8 Tabelle9 Tabelle10 Tabelle11 Tabelle12 Tabelle13 Tabelle14 Tabelle15 Tabelle16 Tabelle17 Tabelle18 Tabelle19 Tabelle20 Tabelle21 Tabelle22 Tabelle23 Tabelle24 Tabelle25 Tabelle26 Tabelle27 Tabelle28 Tabelle29 Tabelle30

VotenausderBürgerkonferenz2001undderEnquetekommission2002........81 BeispieleinesDatensatzesderFragen................................................................121 BeispieleinesDatensatzesderKommentare......................................................121 Identität...................................................................................................................122 Geschlecht...............................................................................................................122 AuflistungderThemenwahlnachAnzahlderFragen.....................................125 InterpretationausgewählterErgebnisseausderFaktorenanalyse..................130 RanglistenderLemmatanachFrauen/Männeranteil....................................131 Beteiligung:AnzahlderKommentareproFrage...............................................133 DurchschnittlicheTextlängeinWörternnachThemengruppe.......................134 DurchschnittlicheTextlängeinWörternnachIdentität...................................134 MerkmalssystematikderWissensformen...........................................................186 MerkmalevonAlltagsundSpezialwissen........................................................201 DiezwölfmeistgenanntenLemmataimPatenschafts undim10.000FragenKorpusnachRangordnung...........................................218 DiemeistgenanntenLemmatanachAlltagswissenundSpezialwissen.........219 MeistbenutzteLemmata:DifferenzenzwischendenWissensformen............220 KoexistenzeneinzelnerBegriffsfelderimAlltagsu.Spezialwissen..............222 Begriffsfelder:Gefühle..........................................................................................224 FaktorenanalysederSpitzengruppenausderGesamtstichprobe...................226 KombinationendesLemmas„Embryo“.............................................................231 KombinationendesLemmas„Gefühle–GlückLiebeFreude“.......................232 KombinationendesLemmas„Tod&Sterben“..................................................233 FundstellenderZeichenfolge„klon“..................................................................244 VerteilungindenThemengruppen„ReproduktivesKlonen“ und„TherapeutischesKlonen“............................................................................245 WissensformenundGegenstände.......................................................................251 NormalitätundBehinderung:Sprecherpositionen „Ichbinbehindert“–„MeinKindistbehindert“..............................................283 NormalitätundBehinderung: Sprecherpositionen„WirNormalen“–„WirBehinderten“.............................284 „Normativität“und„statistischeNormalität“in AlltagswissenundSpezialwissen........................................................................288 AnteilederBegriffsfelder„Normativität“und „statistischeNormalität“inAlltagswissenundSpezialwissen.......................288 NormalitätundBehinderung:Begriffevom‚Anderen’....................................293

Abbildungsverzeichnis

Abbildung1 Abbildung2 Abbildung3 Abbildung4 Abbildung5 Abbildung6 Abbildung7 Abbildung8 Abbildung9 Abbildung10 Abbildung11 Abbildung12 Abbildung13

 

StartseitederWebseite„www.1000fragen.de“....................................................31 EingabeformularfürFragen...................................................................................34 ModelldesGegenstandsundderAnalyseschritte............................................111 VerteilungderAltersgruppenbeidenFragesteller/innen...............................123 HäufigkeitenderLemmatadesFragenDiktionärs– Die40Meistgenannten..........................................................................................128 OriginalzitateausdemInternetforum:„DerMenschist…“...........................152 AuswertungsplaninderqualitativenPhase......................................................196 TypischeDiskussionsverläufeinStichprobeII..................................................199 BegriffsfeldassoziationeninderTeilstichprobeAlltagswissen.......................228 BegriffsfeldassoziationeninderTeilstichprobeSpezialwissen.......................229 GrundstrukturdesCodebaumsderEinzelstudie zurindividuellenAutonomie...............................................................................259 FunktionsweisedesInterdiskursesamBeispiel „individuelleAutonomie“....................................................................................273 NormalitätundBehinderung:„Esistnormal,verschiedenzusein“..............296



1 DieProblemstellung

WasistderMensch?–Dieseim18.JahrhundertvonImmanuelKantaufgeworfene FragehatmitdenGenundFortpflanzungstechnologieninneuerWeiseanAktua lität gewonnen.1 Praktiken wie die selektive Abtreibung nach Pränataldiagnostik, die künstliche Befruchtung mit anonymer Samenspende, die Präimplantations diagnostik zur Embryonenauswahl, die weltweite Forschung an embryonalen Stammzellen, die Herstellung transgener Versuchstiere und die Vision menschli cher ‚Klone’ stellen Grundannahmen über Menschsein, Menschenwürde und das Zusammenleben ebenso in Frage wie als selbstverständlich erachtete Grenzzie hungen,etwadiezwischenMenschundTieroder,grundlegenderbetrachtet,zwi schen Natur und Kultur. Forschungspolitische Weichenstellungen, beispielsweise dieFörderungverbrauchenderEmbryonenforschungunddieErlaubnisfremdnüt ziger Forschung, werfen bislang unbekannte Fragen im Umgang mit dem men schlichenLebenauf.AlsbrisantgeltenauchderkommerzielleHandelmitweibli chen Eizellen und klinische Experimente ohne informierte Einwilligung der Ver suchspersonen.2GenetischeDiagnostikundPharmakogenetikbergen,selbstwenn sie Selbstmanagement und individuell angepasste Therapien offerieren, Stigmati sierungspotenzialeundKontrollmöglichkeiten. Angebots und Nutzungspraktiken von Organtransplantation und Klonie rungstechniken differieren weltweit; die gesetzlichen Regelungen für Sterbehilfe und prädiktive Diagnostik unterscheiden sich auchauf europäischer Ebene.3 Dis  1

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GenundfortpflanzungstechnologischeEingrifferichtensichnichtalleinaufdenMenschen,son dernbetreffeningleicherWeiseauchTiere,PflanzenundMikroorganismen.Bemerkenswertistal lerdings, dass vorzugsweise die so genannte ‚rote’ Gentechnik (im Unterschied zu der ‚grünen’, pflanzenorientiertenVariante)imBlickfeldderÖffentlichkeitstehtundbioethischeFragenweni gerimZusammenhangmitTierschutzundÖkologie,sondernvorallemmitBezugaufdenMen schenthematisiertwerden. Zur Frage der Vernutzung menschlichen Lebens vgl. die Debatte um die Stammzellforschung, u.a.verbundenmitderDebatteüberdenHandelmitEizellenrumänischerFrauen(vgl.u.a.Ärzte Zeitung Online 2005). Im Sommer 2006hatdas EuropäischeParlamentgrünesLichtfürdieFor schungsförderungverbrauchenderEmbryonenforschunggegeben,vgl. http://www.aerzteblattstudieren.de/doc.asp?docId=103299(12.01.2007). In Europa gibt es national verschiedene Regelungen: In Belgien und den Niederlanden ist die Sterbehilfeliberalisiert;außerdemgibteseineentsprechendePraxisinderSchweiz(vgl.Tolmein

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1DieProblemstellung

kussionenverweisennichtnuraufwissenschaftlicheundökonomischeInteressen, pragmatische Erwägungen und unterschiedliche Akzeptanzbereitschaften, son dernzeigenauchdieVeränderungethischerWertvorstellungenundNormsetzun gen an. DerSubjektbegriff, dieUnantastbarkeit derPersonunddie Unverfügbar keit menschlichen Lebens, Vorstellungen von Gleichheit und Autonomie – Kon zeptealso,aufdenendiemodernenwestlichenGesellschaftenbasieren–werdenin neuer Weise problematisiert; in Frage gestellt ist „das ethische Selbstverständnis derGattung“(Habermas2005,34ff.).AuchtradierteKörperbilderundidentitätsre levante Vorstellungen vom eigenen Leib als einer stabilen Einheit geraten ins Wanken.DasaufGenerationenfolgeundGeschlechterunterschiedbasierende„Al lianzdispositiv“(Foucault1983,128ff.)derFamilieverliertseineGültigkeit;behin derteundchronischkrankeMenschensehensichmitneuartigenHerausforderun gen,HoffnungenundDiskriminierungenkonfrontiert(vgl.Lemke2004).Aufden Intensivstationen büßt der Tod den Charakter eines Mysteriums ein; mittels Pa tientenverfügung wird der Sterbeprozess zu einer Angelegenheit persönlicher Entscheidung(vgl.Tolmein2006). Washabenalldiesehiernurkurzskizzierten,unterschiedlichenProblemstel lungengemeinsam?LandläufigwerdensieunterdemOberbegriff„Bioethik“sub sumiert. Wie kaum ein anderes Thema gilt Bioethik als ein „hot issue“ (Wink ler/Kozeluh 2005, 182) der Gegenwartsgesellschaft.4 In der Debatte über die Aus wirkungenmedizintechnologischerInterventionenaufmenschliches(Zusammen) Leben treffen die unterschiedlichsten Positionen aufeinander. Während einerseits gentechnischeEingriffebefürwortetwerden,weilmansichverbesserteDiagnosti ka und Therapien verspricht, gibt es auf der anderen Seite warnende Stimmen, welche das Missbrauchspotenzial der neuen Technologien hervorheben. Längst wirddieAuseinandersetzungüberbioethischeProblemstellungennichtmehrnur in den Wissenschaften geführt; im Gegenteil, sie ist zu einem Thema geworden, dessen kulturelle, ökonomische, politische und rechtliche Aspekte auch in den MassenmedienundderAlltagskulturdiskutiertwerden. BioethikalsdiskursiveundsozialePraxislässtsichalsparadigmatischerFall der„Wissensgesellschaft(vgl.Burke2002;Kübler2005;Lehmann2005;Stehr1994; Weingart 2001) begreifen. Unter diesem Begriff wird üblicherweise „eine Gesell 

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2006).AuchdiePräimplantationsdiagnostikwirdunterschiedlichgehandhabt(vgl.Hennen/Sauter 2004)ebensowiedieStammzellforschung(vgl.BaduraLotter2005).Vgl.zubioethischenFrages tellungenininterkulturellenKontextenSchicktanz(2003). MitdemBegriff„hotissue“sindbrisanteThemengemeint,diekontroverseStellungnahmenher vorrufen, ein ausgeprägtes Diskussionsinteresse evozieren und den Anlass für ausdauernde, ge sellschaftlicheDebattengeben.DerBegriff„diskursivesThema“,denwirimAnschlussanJürgen LinkspäterindieserStudieverwendenwerden,bezeichneteinenähnlichenSachverhalt.

1DieProblemstellung

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schaftsform[verstanden,d.Verf.],inderdieWareWisseninGestaltvonwissen schaftlichtechnischem Wissen, Bildung, Produkten, Kulturindustrien, Informati onstechnologien usw. von ökonomisch zentraler Bedeutung ist.“ (Keller 2005, 87) In anderen Worten, in der Wissensgesellschaft, die im Zusammenhang mit der Bioethik korrekter eigentlich als „Wissenschaftsgesellschaft“ (Stehr 1994, 219, Her vorh.d.Verf.)zubezeichnenwäre,gehtesumAllgegenwartundDominanzvon wissenschaftlichem Wissen in zentralen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Nico Stehr (2003, 86ff.) spricht auch von „Wissenspolitik“und meint damit die„Über wachung“ oder auch „Regulierung“ des Wissens. Unmittelbar einleuchtend ist, dass Gen und Fortpflanzungstechnologien Ergebnisse wissenschaftlichen Han delns sind, als deren Folge existentielle Lebensbereiche wie Gesundheit und Krankheit,Partnerwahl,KinderkriegenundSterbebegleitungzunehmendwissen schaftlichen Deutungsmustern, technischen Interventionsmöglichkeiten und der Expertise von Professionellen unterworfen werden. Dass die Verwissenschaftli chung von Lebensbeginn, Lebensführung und Lebensende nicht unbedingt zu fortschreitenderRationalitätunderhöhterProblemlösungskompetenzgeführthat, sondernimGegenteilneueAporienundDilemmataerzeugt,istinvielenStudien überzeugend aufgewiesen worden. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Ent scheidungsnöte schwangerer Frauen nach einer vorgeburtlichen Diagnostik (vgl. Strachota 2006; Wieser 2006), die Suche von mittels anonymer Samenspende ge zeugten Kindern nach dem biologischen Vater,5 der unklare rechtliche Status tief gefrorener Keimzellen und die Problematik von Hirntod und Organspende (vgl. Kalitzkus2003)aufgeführt. Am Beispiel der Bioethik lässt sich nicht nur der Versuch der bewussten Steuerung der menschlichen Beziehungen und Lebenswelten studieren, sondern auch die Rationalisierung der gesellschaftlichen Debatte. Die „Verwissenschaftli chungdesSozialen“(Raphael1996)istumfassend:NichtalleindieTechnikgenese beruht auf (primär: natur) wissenschaftlichem Expertentum; auch die Reflexion der Auswirkungen von Technologien auf die Gesellschaft greift in erheblichem MaßeaufwissenschaftlichesWissenzurück.MittlerweilegibteseineganzeReihe von Einrichtungen, die sich die konstante Beobachtung und Diskursivierung der Gen und Fortpflanzungstechnologienzur Aufgabegemacht haben. Das Büro für TechnikfolgenAbschätzungbeimDeutschenBundestag(TAB)unddieAkademie fürTechnikfolgenabschätzunginBadenWürttembergsindhierebensozunennen wiedasDeutscheReferenzzentrumfürEthikanderUniversitätBonn,dasInterfa  5 

Vgl.etwadenFalleinesbritischenJungen,derviaInternetdenMannfand,mitdessenSamener gezeugtwurde:„Anonymousspermdonortracedoninternet“, http://www.newscientist.com/channel/sex/mg18825244.200.html(08.11.2005).

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1DieProblemstellung

kultative Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen unddasBerlinerInstitutMensch,EthikundWissenschaft(IMEW).Technikfolgen abschätzungwieauchRechtundvorallemEthikscheinendieFachdisziplinenzu sein, die sich erfolgreich der biotechnologischen Problemstellungen bemächtigt haben,währendandereFächerwieetwaSoziologieundKulturwissenschaftensich bislangmitderThematiknochschwertununderstinneuererZeit,meistinkriti scher Absicht, vermehrt Studien zur „BioMacht“ entstehen (vgl. Gehring 2006). 6 Die Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Reflexion geht einher mit der Ver wissenschaftlichung der Politik als entscheidungsmächtige, mit Regulations und Kontrollfunktionen beauftragte Instanz (vgl. Fisch/Rudloff 2004). Auch in diesem BereichisteineInstitutionalisierungstendenzzubeobachten. Angefangen mit der so genannten BendaKommission zur „InVitro Fertilisation,GenomanalyseundGentherapie“(1985),derEnquetekommissiondes Deutschen Bundestags „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ (1987), den BundLänderArbeitsgruppen zur Fortpflanzungsmedizin (1988) und Genomana lyse(1990)bishinzurEnquetekommission„RechtundEthikdermodernenMedi zin“(DeutscherBundestag2002)undihrermitnurleichtverändertemTitel„Ethik undRechtdermodernenMedizin“eingesetztenNachfolgerin(DeutscherBundes tag2005)gibtesmittlerweileeinefastzwanzigjährigeTraditionwissenschaftlicher PolitikberatungzurBioethik,diemitdemimJuni2001konstituierten„Nationalen Ethikrat“alseindemdamaligenBundeskanzlerGerhardSchröderdirektzugeord netesGremiumeinenvorläufigenHöhepunkterreichte.MitdemRegierungswech sel 2005 setzte eine gewisse Flaute im biopolitischen Diskurs ein; nach längerem Streit wurde schließlich 2007 die Einrichtung eines „Deutschen Ethikrats“ be schlossen; bei der Besetzung haben Bundesregierung und Bundestag gleicherma ßen Einfluss erhalten. Auch wenn absehbar ist, dass sich die politische Debatte auch in Zukunft auf der Grundlage von wissenschaftlicher Expertise mit bioethi schenProblemstellungenauseinandersetzenwird,bietetdieKontroverse7umden  6

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DassesinFolgederMonopolstellungeinzelnerFächerzueinerEngführungdergesellschaftlichen AuseinandersetzungüberBioethikgekommenist,wirdunterdemStichworteinerEthisierungder Debatteproblematisiert(vgl.4.1). Vgl. die Pressemitteilung zur Initiative von Bundestagsabgeordneten, ein „EthikKomitee“ des DeutschenBundestagszuerrichten:http://www.1000fragen.de/projekt/aktuell/detail.php?did=317 (30.06.2006).DagegenplanteWissenschaftsministerinAnnetteSchavanzunächsteinbeiderBun desregierungangesiedeltesGremium,beidemdiedirekteBeteiligungvonBundestagsabgeordne ten nicht vorgesehen war (vgl. Jachertz 2006). Nach dem Gesetzesentwurf des Bundeskabinetts vom12.Juli2006waren24Mitgliedervorgesehen,„wissenschaftlicheExpertenundmitethischen Belangen besonders vertraute und anerkannte Persönlichkeiten“, die zur Hälfte von Bundestag undBundesregierungausgewähltundvomBundespräsidentenberufenwerdensollten;derneue

1DieProblemstellung

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DeutschenEthikratdochaufschlussreichesMaterialfürdieThese,dassdasExper tentumineineLegitimationskrisegeratenist. Bereitsseitden1960erJahrenwirddieHerrschaftvonExpertenimmerwieder kritisiert, da sie demokratische Deliberation zwar nicht ganz verhindert, gleich wohl aber einschränkt, in vorgegebene Bahnen lenkt und Bürgerproteste8 nicht ausreichend zum Zug kommen lässt (vgl. Hennen 2003, 38f.; Kuhn 1961). In der Praxis wissenschaftlicher Politikberatung kollidieren zudem oft genug wissen schaftsimmanente Neutralitäts und Objektivitätsansprüche mit manchmal recht unverblümten Versuchen, Interessen von Stakeholdern durchzusetzen. Bezogen aufdieFrage,obdiewissenschaftlichePolitikberatungangesichtsdeszunehmend unsicherenundumstrittenenWissensinsbesondereimBereichvonTechnikgenese und folgen überhaupt in der Lage ist, ihr selbst gesetztes Ziel zu realisieren, scheint daher Skepsis angebracht. Anstatt nämlich mittels Verhandlung und Ver ständigung zu wissenschaftlich fundierten, konsensual entwickelten Stellungnah men zu gelangen, die zur Auflösung etwa bioethischer Entscheidungsdilemmata beitragenkönnten,hatdievonExpertendominierteDebattebislangimmerwieder die Vielschichtigkeit und vielleicht sogar Unlösbarkeit der aufgeworfenen Fragen vor Augen geführt. Durchaus selbstkritisch gelangte die Enquetekommission „RechtundEthikdermodernenMedizin“(DeutscherBundestag2002,179ff.)da herzuderSchlussfolgerung,dasszwareinerseitshochspezialisiertesWissenbenö tigt werde, um Neuheit, Komplexität und gesellschaftliche Reichweite der be schleunigten wissenschaftlichtechnischen Entwicklung abschätzen zu können, dass aber gleichzeitig die Förderung einer bürgernahen Diskussionskultur drin gendnotwendigsei,umeinetragfähigeBasisinderBevölkerungimUmgangmit diesen Neuerungen zu entwickeln. Vor allem die Probleme der unbeabsichtigten Nebenfolgen, die bestehende Vielfalt an Normen und Werten und der ethische Dissens, der in der Bevölkerung in Bezug auf Gen und Fortpflanzungstechnolo gienherrsche,würdenFormenderPartizipationunerlässlichmachen.  

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„DeutscheEthikrat“solltebereitsam1.Juli2007dieArbeitaufnehmen.vgl.diePressemitteilung „KabinettverabschiedetGesetzentwurffürDeutschenEthikrat“,Link: http://www.bmbf.de/_media/press/pm200060712124.pdf(12.07.2006).Tatsächlichtratdas„Gesetz zurEinrichtungdesDeutschenEthikrats(EthRG)“abererstam01.August2007inKraft;vorgese henwarennun26Mitglieder.DerenBenennungwiederumzogsichüberMonatehinundkonnte erstimFebruar2008abgeschlossenwerden.ImWesentlichenwurdeKontinuitätgewahrt:14der 26 Mitglieder des neuen Rats arbeiteten bereits im alten Nationalen Ethikrat mit, vgl. http://www.1000fragen.de/projekt/aktuell/detail.php?sid=91101cf9a03551f363da(13.02.08). DasssozialeBewegungenauchaufwissenschaftlicheExpertisezurückgreifen,umihrePositionen zuuntermauern,undaufdieseWeiseebenfallszurallgemeinenVerwissenschaftlichungbeitragen, sei hier nur am Rande vermerkt; auf die Aspekte (nicht) hegemonialer Wissensproduktion und widerständigenWissenskommenwirimLaufederStudienochzurück(vgl.Kap.8).

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1DieProblemstellung

DieserRufnachBürgerbeteiligungstelltauchlängstetablierteInstitutionenin Frage,derenFunktionesist,gegenüberPolitikundStaatBürgerwillen9zuartiku lieren, und die zugleich spezialisiertes Wissen für eine breite Öffentlichkeit mas senwirksam aufbereiten und in populärer Form verbreiten. Die mit der bürgerli chenGesellschaftentstandenenPrintmedien,dieRundfunkundFernsehanstalten des letzten Jahrhunderts und das Internet als globales Medium des 21. Jahrhun dertsstellengegenwärtigdieintermediärenInstanzenzurProduktionderöffentli chen Meinung dar; zugleich sind sie immer auch Wissensinstitutionen.10 Längst lässtsichvoneiner„MedialisierungderWissenschaft“(Weingart2005,159)spre chen:WissenschaftlichesWissenwirdunterdenBedingungenderMedienrationa lität als „popular science“ (Krysmanski 2001) aufbereitet; es zirkuliert in Magazi nen, Dossiers, Ratgeberliteratur, Wissenschaftssendungen und Talkshows, kurz: Wissenschaftskommunikation ist in Form von Bildungssendungen und ‚Infotain ment’ allgegenwärtig. Wenn Wetterprognosen nicht mehr auf meteorologische Exkurse verzichten können und gleichzeitig als Unterhaltungssendungen aufge machtsind,wennselbstdiealstrockenundlangweiligverschrieneMathematikim „Wissenschaftsjahr2008“unterdemMotto„Alles,waszählt“als‚Event’inszeniert wird,11dannkannmantatsächlichfragen,obesüberhauptnochWissensbestände gibt,diesichgegeneinemedialeAufbereitungsperren. Der Medialisierung des Wissens entspricht die Verwissenschaftlichung der medialen Öffentlichkeit. Insbesondere für die Gen und Fortpflanzungstechnolo gien kann festgestellt werden, dass die mediale Berichterstattung von wissen schaftlichenAkteuren dominiert wird, unter denen insbesondere die Befürworter technologischer Eingriffe sehr erfolgreich in der Verfolgung ihrer Legitimations strategien sind. Ihnen vor allem gelingt es, Argumentationsmuster und Begrün dungszusammenhänge in den Massenmedien so zu platzieren, dass von der „Herstellung einer öffentlichen Hegemonie“ (Gerhards/Schäfer 2006) gesprochen werden kann. Mit Blick auf Printmedien und Sendeanstalten ist dieser Befund nicht eigentlich überraschend, wird doch die ‚veröffentlichte Meinung’ wegen ihrer Anonymität, Asymmetrie und Ausschließungstendenz schon seit längerem kritisiert. Insofern liegt die gesellschaftliche Funktion der Medien weniger in der Beteiligung aller an einer gemeinsamen Realität, sondern, wie Niklas Luhmann (1981,320)hervorgehobenhat,„inderErzeugungeinersolchenUnterstellung,die  9

MandenkeanLeserbriefeinTageszeitungen,CallInsimRundfunk,InterviewsundTalkshowsim Fernsehen. 10 PeterWeingart(2005)untersuchtimRahmenseinerwissenschaftssoziologischenStudieverschie deneFacettenderwechselseitigenBeziehungenvonWissenschaftundÖffentlichkeit. 11 Vgl.dieHomepagedesWissenschaftsjahrs:www.jahrdermathematik.de(04.03.2008).

1DieProblemstellung

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dannalsoperativeFiktionsichaufzwingt“unddadurchzurRealitätwird.Medien lassen sich demzufolge als „alltägliche Instrumente der Wirklichkeitserzeugung“ (Schmidt2000)betrachten,derenFunktionundWirkungsweisenichtweiterhinter fragtwerden. In dem weit verbreiteten medienpolitischen Pessimismus scheint zumindest ein Medium einen Lichtblick zu bieten: An das Internet knüpfen sich vielfach HoffnungenaufeineÜberwindungvonDemokratiedefizitenundeineRevitalisie rung deliberativer Elemente in der bürgerlichen Öffentlichkeit. So entwirft etwa Claus Leggewie (2003,117f.) die Vision virtueller Bürgerkonferenzen als künftige Form der Partizipation. Bisher werde das Internet als Medium eingesetzt,um In formationenindieÖffentlichkeitzutragen;dagegenseiesalseigenständigeDia logformmitderÖffentlichkeitnochunentdeckt.Eserlaube„einenachhaltigeund individualisierte Kommunikation“ (Leggewie 2003, 117). Neben den Zielgruppen Politik,WissenschaftundengereÖffentlichkeit(‚dergutinformierteBürger’)kön negeradeauchmitdemInternet„dieweitereÖffentlichkeit(‚MenschaufderStra ße‘)“ erreicht werden (Leggewie 2003, 117). 12 Auch Jürgen Habermas (2006) hat voreinigerZeitineinerRededieÜberzeugungformuliert,dieNutzungweltweiter Computernetze berge das Potenzial, die Wurzeln einer egalitären Öffentlichkeit wieder zu beleben.13 Allerdings verbindet er seine Hoffnung zugleich mit der Warnung, OnlineDebatten könnten durch ihre Interessengebundenheit auch zu mehreren, fragmentierten TeilÖffentlichkeiten führen. Ähnlich abwägend wird das öffentlichkeitswirksame Potenzial des Internets auch an anderer Stelle disku tiert.14DenoffensichtlichenVorteilen–Entfernungsunabhängigkeit,Schnelligkeit, Dezentralität,Interaktivitätetc.–stehenproblematischeAspektewieAbhängigkeit von technischer Verfügbarkeit und ComputerFachwissen, externe Kontroll und Zugriffsmöglichkeiten,AnonymitätundKommerzialisierunggegenüber.Dennoch gilt:VerstehtmanunterZivilgesellschaftnachAdloff(2005,8)„einengesellschaft lichenRaum,nämlichdiepluraleGesamtheitderöffentlichenAssoziationen,Ver einigungenundZusammenkünfte[.],dieaufdemfreiwilligenZusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen“, also idealtypisch eine öffentliche Sphäre „unabhängig von einem staatlichen Apparat und in der Regel auch unabhängig  12 Schaut man sich die Netzwerkarchitektur von OnlineDiskursen an, die Leggewie vorschwebt, fällt auf, dass für den „Menschen auf der Straße“ nur die Kommunikationsformate „Fragen AntwortenÜbersichten(sogFAQ)“,„Chat“,„ModeriertesForum“und„Bürgerkonferenz“vorge sehen sind, während „gut informierter Bürger“ „Wissenschaftler“ und „Politiker“ sich auch auf virtuellenHearingstreffensollen(Leggewie2003,117f.). 13 Vgl.auchdenBerichtim„Tagesspiegel“(7.Juli2006)vonJazbinsek(2006). 14 Vgl. u.a. die Studie „Internet und Demokratie“ des Büros für TechnikfolgenAbschätzung beim DeutschenBundestag(Grunwaldu.a.2005).

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1DieProblemstellung

von wirtschaftlichen Profitinteressen“, dann könnte das Internet tatsächlich so etwas wie ein virtuelles Forum bieten, auf dem Bürgerinnen und Bürger direkt miteinander in Kontakt treten und unabhängig von den Herrschenden ihre Mei nungsbildungsundEntscheidungsprozesseselbstregeln.15 SchautmansichallerdingsempirischeBefundezumStellenwertdesInternets für demokratische Deliberation und zivilgesellschaftliche Verständigung an (vgl. Grunwaldu.a.2005),somusssichaufderEbenederpraktischenNutzungErnüch terung breit machen. Beispielsweise kommen Gerhards/Schäfer (2006, 155ff.) in ihrer Studie zur massenmedialen Berichterstattung über die Humangenomfor schunginDeutschlandunddenUSAzudemSchluss,dassdieInternetkommuni kationimWesentlichendiegleichewissenschaftsundbetreiberdominierteStruk turwiediederPrintmedienaufweist.InihrerUntersuchungüberinteraktiveBe teiligungsformenaufeuropäischerEbenestellenWinkler/Kozeluh(2005,190f.)fest, dassessichbeideranalysiertenInternetplattform„YourVoiceinEurope“umein „sehr spezialisiertes Diskussionsforum“ handelt, bei dem sich zwei Drittel der Beiträge16 dem „kritischrationalen Diskurs“ mit „sehr gut nachvollziehbaren Ar gumentationslinien“(Winkler/Kozeluh2005,192)zuordnenlassen,währendemo tional gefärbte Aussagen nur selten vorkommen. Aber verhalten sich die Bür ger/innentatsächlichsoungemeinvernünftigundgesittet–dasfragtmansichan dieser Stelle? Oder liefert die „Zivilgesellschaft Online“ (Winkler/Kozeluh 2005) nureinlegitimatorischesEtikettfüreinefaktischweiterhinvonExpertendominier teDebatte?IstdieVerwissenschaftlichungderLebenswelttatsächlichsoweitfort geschritten, dass auch in zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen kein Raum mehr bleibt für Kontroversen, die sich nicht nur von wissenschaftlichrationaler Logik leiten lassen, sondern alltagsnahe Rationalitäten, also unsicheres Wissen, marginalisiertesWissenundauchNichtwissen,miteinbeziehen? Im Bereich der Biomedizin und der Gen und Fortpflanzungstechnologien wird die Brisanz dieser Fragestellungen besonders augenfällig, denn viele der technologischen Neuerungen haben bereits Eingang in den Alltag gefunden und beeinflussen das lebensweltliche Handeln. Eine große Zahl von Menschen sieht sichmitdenKonsequenzendieserNeuerungenkonfrontiert.ÄltereBürgerfragen sich, ob sie per Vorausverfügung künstliche Ernährung am Lebensende verwei gernsollten.SchwangereFrauenlassensichaufdievorgeburtlicheDiagnostikein,  15 AuchdieEnquetekommission„RechtundEthikdermodernenMedizin“plädiertfürdieNutzung des Internets, um insbesondere die Partizipation besonders junger Menschen zu verwirklichen (DeutscherBundestag2002,180). 16 Insgesamt wurden nur 626 Beiträge von 225 Usern untersucht (vgl. Winkler/Kozeluh 2005, 182), einesehrgeringeAnzahl,wennmandenEUKontextbedenkt.

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obwohlsieeinWunschkinderwartenundeineAbtreibungeigentlichnichtinFra ge kommt. Patienten bekommen gentechnologisch hergestellte Medikamente ver schrieben, die sie aus ethischen Gründen eigentlich ablehnen würden. Männer spendenihreSamenzellen,ohnesichüberetwaigerechtlicheFolgenGedankenzu machen.Tatsächlichsind–imUnterschiedzuanderenGroßtechnologienwieetwa AtomkraftundWeltraumforschung–insbesondereBiomedizinundBiotechnikauf GrundihrerdirektenAnwendungamMenscheningroßemMaßeaufdieZustim mung bzw. Beteiligungsbereitschaft der Bürger/innen angewiesen. Während wis senschaftliche Expertise vom Zwang zum Handeln entlastet ist, hypothetische Kasuistikenentwickelnund–zumindestvomAnspruchher–inFreiheitundMu ße wohlüberlegt Für und Wider abwägen kann, steht der Alltagsmensch unter Entscheidungsdruck:IrgendwannistesfürdiekünstlicheBefruchtungdefinitivzu spät; um den sterbenden Angehörigen muss man sich hier und heute kümmern; dieeinmalerfolgteLebendspendeeinesOrgansistfürdieeigeneGesundheitfol genreichundlässtsichnichtmehrrückgängigmachen. Um die Rationalitäten der Wissensgesellschaft und der Zivilgesellschaft ver gleichend auszuloten – die BioethikDebatte soll hier als paradigmatischer Fall dienen–,wurdenbislangverschiedeneModelleentwickelt,diezugegensätzlichen Bewertungen führen. Aus Sicht traditioneller Ansätze der Technikfolgenabschät zung sollen Laien zwar bei der Umsetzung wissenschaftlichen Wissens mit ent scheiden, aber eine frühzeitige partizipative Einbeziehung der Bürgerinnen und BürgerindieWeichenstellungvonForschungsvorhabenfindetkaumstatt(Bröch ler u.a. 1999; Grunwald 2002; Westphalen 1997). Von den sprichwörtlichen ‚Stammtischen’oder‚demMann(undderFrau)aufderStraße’wirdoffensichtlich nichtvielmehrerwartetalsdiefragmentarischeundstereotypisierendeWiederga be von Expertenwissen oder die Beherrschung routinemäßigen Gewohnheitswis sens, das allein dem Zweck dient, alltägliche Handlungsabläufe zu bewältigen. Allerdings: In neueren wissenssoziologischen Beiträgen (vgl. Schützeichel 2007) erfolgteineRehabilitierungpraxisrelevantenWissensundzunehmendwirdZwei fel an der These geäußert, dassalleinwissenschaftliches Wissendie Quelle neuer Erkenntnisse sei. Da jedoch das Alltagswissen einer soziologischen Betrachtungs weise nicht ohne weiteres zugänglich ist, scheint es Prozessen der Marginalisie rungunterworfenzusein.Stehr(2003,37)kommentiertdaher:„Esscheint[.]ver wunderlich,wieesmöglichist,dassalltäglichesWisseninmodernenGesellschaf tenüberhauptüberlebenkann[.].“ AktuelleDebattenumdieZivilgesellschafthebenaufdieExistenzderLaien expertise ab und setzen großes Vertrauen gerade in sie. Nicht nur die bereits er wähnteEnquetekommission„RechtundEthikdermodernenMedizin“erhofftsich

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1DieProblemstellung

von der Bürgerbeteiligung die Problemlösungen, zu denen die Fachleute nicht fähig sind. „(E)in Bedarf an gemeinsamer Beratschlagung“ (Deutscher Bundestag 2002, 179) sei entstanden; eine deliberative Bürgergesellschaft erfordere eine kri tischrationaleVerständigungaufderBasisvoncommonsense.Einezweitezivilge sellschaftlichePositiongehtnocheinenSchrittweiter:IhrgiltdasAlltagswissenals eineQuellevonKreativitätundErneuerung,dasindieöffentlicheDebatteeinges peist und auch im Rahmen von Untersuchungen ernst genommen werden sollte (vgl.beispielsweiseChaudhary2004;Reichertz1988).DiesesWissen,dasmitFou cault(1999a,15ff.)auchalsein„unterworfenes“Wissenbezeichnetwerdenkann, gilt es zu entdecken, zu rehabilitieren und für die Gesellschaftskritik zu nutzen. Dieser zweite Ansatz geht also davon aus, dass das Alltagswissen seine eigene Überzeugungskraft besitzt, dass es sichnicht ausschließlich von logischen Prinzi pien der Argumentationleiten lässt und gerade deshalb–auf Grund seiner ganz eigenenRationalität–Machtwirkungenentfaltenkann. Aber muss sich die Hoffnung auf die innovative Kraft des Alltagswissens nichtletztlichalsIdealismuserweisen,dersichauseinemallzupositivenKonzept vonZivilgesellschaftspeist?Studienhabengezeigt,dassessichbeiderZivilgesell schaft um ein historisch voraussetzungsvolles Konzept der westlichen Moderne handelt(vgl.Bauerkämper2003;Jessenu.a.2004;Kocka2004).Ihreridealtypischen Konstruktion wohnt ein„egalitärer Grundimpuls“(Nolte2004,305)inne,derdie Wahrnehmung trübt für Faktoren wie Ungleichheit und Distinktion. Die Zivilge sellschaftkann,soNolte(2004,306),ebennichtals„jenergeschützte,egalitäreBin nenraumdersozialenHarmonie“betrachtetwerden;sieruhe„vielmehrimmerauf einem Fundament realer gesellschaftlicher Ressourcenverteilung“. Auch Philip Sarasin,derdasKonzeptumdenBezugaufdieWissenschaftenerweitert,verweist auf das „ausgesprochen naive[.] Verständnis von Macht“ (Sarasin 2004, 58), das zivilgesellschaftlichen Konzepten vielfach zugrunde liegt. Die Hoffnung auf eine ethischfundierteSelbstverständigung(in)der(Zivil)Gesellschaftmussdaherauf gegeben werden zu Gunsten eines Ansatzes, der „Gegenbegriffe, Gewalt und Macht“ (Gosewinkel/Reichhardt 2004) mit einbezieht. Zivilgesellschaft stellt kei neswegseinenGegenpolzurWissensgesellschaftdar,sondernistengmitStruktu rensozialerUngleichheitverbunden. DiediskursivePraxisderZivilgesellschaftimSpannungsfeldvonVerwissen schaftlichungundMedialisierunglässtsichgenauerstudierenanhandeinessozia len Experiments, das konsequent auf die Eigenwilligkeit des Alltagswissens ver traut:desInternetforums„www.1000fragen.de“.DiesesOnlineportalderprivaten FörderorganisationAktionMenschverstehtsichalsinnovativerBeitragzuröffent lichenBioethikDebatte.VerglichenmitähnlichenProjektenimdeutschsprachigen 128H

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Internet setzt das 1000 FragenForum sicherlich am mutigsten den zivilgesell schaftlichenPartizipationsgedankenindiePraxisum.17DieInternetplattformwur de erstmalig im Oktober 2002 im Rahmen einer öffentlichkeitswirksamen Kam pagne präsentiert mit dem Ziel, die Beteiligung der Bevölkerung an der gesell schaftlichenDebatteüberdiemoderneMedizinunddieGenundFortpflanzungs technologien anzuregen und zu fördern. Bis heute kann jeder User jederzeit per sönlicheFragenzueinzelnenAspektenderBioethikeingebenundhatgleichzeitig die Möglichkeit, eigene Kommentare zu Beiträgen anderer User zu formulieren. (vgl.Kap.2).DiesesInternetforum,dasineinzigartigerWeiseeinenEinblickindas zivilgesellschaftliche Reden über Bioethik ermöglicht, bildet den Gegenstand der vorliegendenUntersuchung,genauergesagt:Analysiertwerdendie10.000Fragen unddiedazugehörenden34.611Kommentare,diewährenddererstenPhasedes Diskursprojekts von Oktober 2002 bis Mai 2004 gesammelt wurden, sowie die 78 Fragen und 20.205 Kommentare, die im Rahmen so genannter Patenschaften ent standen.DiesesempirischeMaterialistinsofernungewöhnlich,alseseinendirek tenundunvermitteltenZugangzudemlebensweltlichenWissenunddenEinstel lungenderBevölkerungzurBioethikbietet.DaessichbeidenInternetäußerungen umsogenannte‚natürliche’,nämlichungefilterteundnichtinderErhebungsphase vorstrukturierteDokumente18handelt,könnensowohlThemenundProblematisie rungsweisen als auch Dynamik und Struktur der diskursiven Praxis analysiert werden.ImVergleichzugängigenUmfragen,MeinungsundEinstellungsstudien, beidenenz.B.inderBefragungssituationPhänomenewie‚sozialeErwünschtheit’ immeraucheineRollespielen,erweistsichdas1000FragenProjekt–geradeauch wegen seines ‚rohen’ Charakters – als viel besser geeignet, ein aussagekräftiges Bild des alltagstypischen Wissens zu liefern. Gleichzeitig liefert „www.1000fragen.de“eineFülleanempirischenDaten,umdieEigenwilligkeitdes Alltagswissenszustudieren. NachdieserEinleitungwirdimzweitenKapiteldas1000FragenProjektaus führlich vorgestellt und Hintergrund und Anlage der Studie werden erläutert. Gegenstand des Kap. 3 ist die Entwicklung eines theoretischen Konzepts für die Untersuchung. Ausgangspunkt ist die vom Projektträger implizit verfolgte Dis kursethik, eine an Habermas angelehnte Diskurskonzeption, die mit der in der eigenen Forschungsarbeit benutzten DiskurstheorieFoucault’scher Prägung kont rastiertwird.ImErgebniswirdvorgeschlagen,„www1000fragen.de“als‚diskursi  17 ImMärz2006hatAktionMensch–aufderBasisderErfahrungenmit„1000fragen.de“–einzwei tesOnlineforumzuallgemeinengesellschaftlichenFrageneingerichtet:http://diegesellschafter.de. 18 Atteslander(2003,65ff.)nenntdienichtprimärzuForschungszweckenentstandenen,„zufälligen“ Dokumenteauch„akzidental“.

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ves Ereignis’ anzusehen, dessen Regelstruktur nicht vorausgesetzt werden darf, sondern induktiv erschlossen werden muss. Angenommen wird, dass die unter suchteKommunikationeineOrdnungaufweist;jedochwirdnichtvorabeineEnt scheidung darüber getroffen, welcher Art diese Ordnung sein sollte. Außerdem werden die für das Internetforum maßgeblichen Äußerungsformen – die Frage und der Kommentar – diskurstheoretisch beleuchtet. In Kap. 4 wenden wir uns dendreiAspektenderRahmungzu,diedemForschungsgegenstandseinbesonde res Profil gegeben haben: Als thematische Rahmung haben wir „Bioethik“ vorge funden;andieserStelledrängtsichdieFrageauf,mitwelchenanalytischenKate gorien der komplexe und vieldeutige Gesprächsgegenstand adäquat erfasst wer den kann: Ist Bioethik eine Disziplin, ein Diskurs, eine Debatte oder ein Thema? AufderinstitutionellenEbenezeigtsich,dassdas1000FragenForumähnlicheZie le wie die partizipative Technikfolgenabschätzung verfolgt. Aus diesem Grund bietetessichan,dasDiskursprojektmitVerfahrenwieBürgerkonferenzen,Bevöl kerungsumfragenundandereninternetbasiertenForenzuvergleichen.Schließlich ist die mediale Rahmung zu reflektieren, denn höchstwahrscheinlich prägen die EigenheitenvirtuellerKommunikationauch„www.1000fragen.de“. Den theoretischen Abhandlungen folgen die empirischen Untersuchungen, beginnendmitmethodologischenÜberlegungen(Kap.5)zumForschungsprozess, beidemquantitativemitqualitativenPhasenabwechselnundinsgesamteinoffe nes,angroundedtheoryundDiskursanalyseorientiertesVorgehenempirischerEnt deckungenundbegleitenderTheoriereflexionverfolgtwird.Kap.6enthältMetho dikundResultatedeserstenquantitativenAnalyseschrittsundbietetsomiteinen erstenÜberblicküberdasMaterialder10.000FragenundihrerKommentare.Die KomplexitätreduzierendeAbsichtwirdinderanschließendenqualitativenUnter suchungsphase(Kap.7)weiterverfolgt;mittelsKategorisierungisteinCodebaum entstanden,derinhaltlicheundformaleTeilstrukturendesdiskursivenEreignisses zumVorscheinbringt.AuffallendistdabeiderhoheStellenwertvonwissensrele vanten Codes: Neben spezialisiertem Wissen wird auch subjektorientiertes, auf persönlicheErfahrungrekurrierendesWissensehrhäufigundmitbemerkenswer temNachdruckindieInternetkommunikationeingebracht.DieserBefundführtzu einerwissenssoziologischenAusrichtungderweiterenArbeitsschritte:Dastheore tischeKonzeptwirdumentsprechendeÜberlegungenergänzt(Kap.8);imErgeb nis wird eine vergleichende Typologie operationalisierbarer Merkmale der drei untersuchtenWissensformenAlltagswissen,interdiskursivesWissenundSpezial wissenentwickelt.DerMachtdesAlltagswissens,seinemVerhältniszumSpezial wissen und den Kämpfen zwischen diesen beiden Erkenntnisstilen gilt der sich anschließende Untersuchungsschritt (Kap. 9). In diesem Zusammenhang findet

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außerdemeineErweiterungdesDatenkorpusaufdasMaterialder78Patenschaf ten statt, das wiederum mit qualitativen und quantitativen Methoden untersucht wird. Während die qualitative Analyse die Merkmale und Funktionsweisen der Erkenntnisstile des Alltags und der Wissenschaft anhand von Textbeispielen zu veranschaulichen sucht, spüren statistische Verfahren typische Streuungen von zentralen Begriffsfeldern auf, die als Resultat diskursiver Formationsregeln inter pretiert werden. In drei exemplarischen Fallstudien werden schließlich die Rele vanzinterdiskursivenWissensunddiemitihmverbundenenVersuchediskursiver Grenzverschiebungen erkundet (Kap. 10): Am Beispiel des ‚Klons’ zeigen sich Umgestaltungen von Menschenbildern und Subjektbegriffen; ausgehend von der Redewendung„Jedersollselbstentscheiden“lassensichVeränderungeninAuto nomiekonzeptionen eruieren; das Thema „Normalität und Behinderung“ bietet Anlass, gesellschaftliche Definitionsmacht in Abweichungsprozessen zu beleuch ten. Eine kritische Reflexion der eigenen Forschungsergebnisse und Verweise auf Anknüpfungsmöglichkeiten an aktuelle wissenschaftliche und gesellschaftliche DiskussionenrundendieStudieab(Kap.11). 

2 DerForschungsgegenstand

InwelchemKontextsinddielebensweltlichenFragen,KommentareundDiskussi onsbeiträgezurBioethik,diedenGegenstanddieserStudiedarstellen,entstanden? WirbeginnenmiteinerSkizzederKonzeption,dievondemProjektträgerAktion Mensch verfolgt wurde, um anschließend einen Einblick in die begleitende, groß angelegteMedienkampagneundihreChronologiezugeben.DieseÖffentlichkeits arbeit hat den Forschungsgegenstand maßgeblich geprägt. In einem weiteren Schritt wird das Internetportal inklusive seiner visuellen Elemente dargestellt. DabeiwirddiePhaseberücksichtigt,diefürdieGenesedesuntersuchtenMaterial ausschnitts maßgeblich ist, nämlich der Zeitraum von der Eröffnung des Forums imOktober2002biszurvorübergehendenDeaktivierungallerinteraktivenFeatu resimMärz2006.Nachgezeichnetwird,welchesgraphischesDesigndieUservor fanden und wie sie in dem Internetportal agieren konnten. Außerdem wird das Projektder78Patenschaftenvorgestellt,dessenDiskussionsforenebenfallsindiese Studie eingegangen sind. Eine Reflexion der Ausgangsfragestellung beendet das Kapitel.

2.1 Diskursprojekt„1000FragenzurBioethik“ In dem Schlussbericht der Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ wird dem Deutschen Bundestag empfohlen, „sich dafür einzusetzen, dassdiedemokratischeöffentlicheDiskussionüberdieethischen,rechtlichenund gesellschaftlichen Fragen der modernen Medizin gefördert wird“, und dass „bei der Beteiligung der Öffentlichkeit darauf geachtet wird, dass auch weniger ein flussreicheundressourcenstarkeGruppenStimmeundGehörerhalten.“(Deutsch er Bundestag 2002, 407) In bemerkenswerter zeitlicher Parallelität, aber sicherlich ohne offiziellen Auftrag setzte auch bei der Aktion Mensch, der von Wohlfahrts und Behindertenverbänden sowie dem Zweiten Deutschen Fernsehen getragenen privaten Förderorganisation,19 ein Nachdenken über den Bedarf an zivilgesell  19 Die Organisation existiert bereits seit 1964. Gegründet vor dem Hintergrund des Contergan Skandals nannte sie sich zunächst „Aktion Sorgenkind“, ab 1985 mit dem Zusatz „Deutsche Be

2.1Diskursprojekt„1000FragenzurBioethik“

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schaftlicherDiskussionüberFragenderBiomedizinundGenundReproduktions technologieein.AnschließendandieAusstellung„Der(im)perfekteMensch.Vom RechtaufUnvollkommenheit“20entwickelteHeikeZirden,Geschäftsbereichsleite rinfürÖffentlichkeitsarbeitundAufklärungbeiderAktionMensch,dasGesamt konzept des 1000 FragenProjekts, das sich des Internets als modernes Medium bedienenundkonsequentdialogorientiertundpartizipatorischangelegtseinsollte (vgl.AktionMensch2003a,89).DerbiszudiesemZeitpunktvorallembehinder tenpolitischtätigeProjektträgerlegitimierte dieInitiativeunteranderemmitdem Anliegen „die (bio)ethische Diskussion neu aufzunehmen und dabei denjenigen MenschenGehörzuverschaffen,dieindemvorwiegendakademischökonomisch geführtenDiskurskaumwahrgenommenwerden.“(vgl.AktionMensch2002a,16) An der bisherigen, primär von Experten und Entscheidungsträgern gestalteten Diskussion erschienen vor allem der Entscheidungsdruck, das strategische Ein bringenvon„vorgeblichenSachzwängen“(vgl.AktionMensch2004b,50)unddie starkePolarisierungdermedialenDiskussionalsproblematisch.DasProjektsollte „gegenFestlegungenundPolarisierungen“daraufverweisen,„dassdieethischen Probleme, die sich aus den Entwicklungen im Bereich der biomedizinischen For schungergeben,nochlangenicht‚bewältigt’,teilweisenochnichteinmalvollstän digverstanden“(vgl.AktionMensch2003a,89)sind.Ursprünglichgedachtalsein „philosophischesAlltagsexperiment“(vgl.AktionMensch2004f,3)solltedaseige neDiskursprojektalseineKombinationvonMedienkampagneundInternetportal einenzivilgesellschaftlichenKommunikationsraumschaffen,derjedemundjeder, unabhängig vom Vorwissen, einen Zugang zur bioethischen Debatte ermöglicht  hindertenhilfe“. Zweck des eingetragenen Vereins war, neben der Berichterstattung über die Si tuation von behinderten Menschen im ZDF, die Veranstaltung einer Fernsehlotterie, mit deren EinnahmenEinrichtungenundProjektederBehindertenhilfeundselbsthilfegefördertwurden.In den 1980er Jahren wurde die Organisation immer öfter kritisiert wegen der mitleidsorientierten Darstellung und Inszenierung von Behinderung in Fernsehberichterstattung und Außendarstel lung;auchdieeinseitigaufstationäreEinrichtungenausgerichteteFörderpolitikwurdebeanstan det. Als Reaktion orientierte sich die Organisation, auch vor dem Hintergrund einer sich verän dernden Medienlandschaft und sinkender Einnahmen, in den 1990er Jahren konzeptionell um. DervoneinergroßenKampagnebegleiteteNamenswechselvon„AktionSorgenkind“zu„Aktion Mensch“ dokumentierte 2000 den Modernisierungsprozess. Er umfasste alle drei Geschäftsfelder (Förderung, Lotterie und Aufklärung) sowie die Unternehmenskommunikation. Heute betreibt dieOrganisationdiegrößteSoziallotterieDeutschlandsundverstehtsichalsKooperationspartner derBehindertenselbsthilfe;Förderspektrum(z.B.imBereichderKinderundJugendhilfe)undTä tigkeitsbereich(z.B.behindertenundsozialpolitischeKampagnen)sinderweitertworden. 20 DieseAusstellung,diegemeinsamvonderAktionMenschundderStiftungDeutschesHygiene Museum Dresden durchgeführt wurde, fand vom 20.12.2000 – 12.8.2001 im Dresdner Hygiene Museumsowievom16.3.2002–2.6.2002imMartinGropiusBau,Berlin,statt.InderletztenAbtei lungderAusstellunggingesunterderÜberschrift„DieLichtung“umbioethischeKontroversen.

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2DerForschungsgegenstand

(vgl.AktionMensch/Zirden2003).EinzigeErwartungandieUserwar,dasssievor demHintergrund„persönlicherErfahrungen“vorallemihreFragenformulierten (vgl.AktionMensch2002a,16).

2.2 DieMedienkampagne DasDiskursprojektbegannam10.Oktober2002undwurdemitHilfeprofessionel ler Öffentlichkeitsarbeit zu einem multimedial inszenierten Ereignis. Gestartet wurdeesmittelseinerbundesweitenMedienkampagne,diedieBevölkerungdazu aufrief,BioethiknichtnurdenPolitikernundWissenschaftlernzuüberlassen.Der Appell,persönlicheFragenüber„ChancenundRisikendermodernenMedizin,die MöglichkeitendervorgeburtlichenDiagnostik,dieForschunganEmbryonenoder die Diskussion um Sterbehilfe“ zu stellen, wurde damit begründet, dass diese Themen„dieGrundlagenunsererIdentitätundunserSelbstverständnisalsGesell schaft“ berühren (vgl. Aktion Mensch 2004c, 3). Entsprechend sprachen großfor matige Plakate verschiedene brisante Themenkomplexe der Bioethik an. Zehn BildmotivewurdenmitZitatenausZeitungsmeldungenundFrageaufforderungen kombiniert. So hieß es in einem Plakat der Kampagne: „Überlassen Sie Bioethik nichtExperten!WirbrauchenIhreMeinung“21oder„NochFragen?SetzenSieein Zeichen: www.1000fragen.de“. Einige Überschriftenzitate aus verschiedenen Zei tungen,z.B.„WirddasYChromosomenüberflüssig?“sowieFormulierungenwie „NochFragen?“solltendemPublikumeineEthikdebatteanbieten,indiemansich ohneScheueinmischenkann.AndereFrageaufforderungenwaren„Fragwürdig?“, „Dafragtmansichdoch?“und„Schongefragt?“.DiezitiertenZeitungsmeldungen thematisierten bioethische Aspekte wie Therapeutisches und Reproduktives Klo nen, Gentechnik, Präimplantationsdiagnostik (PID), Pränataldiagnostik (PND), Sterben und Sterbehilfe, Selektion, Zukunftsängste und Zukunftshoffnungen, Pa tente,Rendite,WirtschaftundForschung.DiePlakatmotivewurdenauchalsAn zeigen in Printmedien geschaltet. Als weiteres Medium wurden zwei Kinospots mitgraphischenAnimationenzudenThemenSterbehilfeundKloneneingesetzt.22 Insgesamt erwies sich die Publikumskampagne als überaus erfolgreich: Binnen kurzerZeitübertrafdieResonanzdieErwartungenderAktionMensch.Sowirdin der Chronik des 1000 FragenProjekts berichtet, dass bereits nach 19 Tagen die  21 ZueinemspäterenZeitpunktfandmananprominenterStellederHomepagediefastwortgleiche Aufforderung: „Überlassen Sie Bioethik nicht Experten. Diskutieren Sie mit.“, vgl. http://1000fragen.de(5.12.2004). 22 AllePlakatmotiveundKinospotskönnenvomInternetportal„http://1000fragen.de“heruntergela denwerden.

2.2DieMedienkampagne

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ersten1000Fragenundmehrals4000Kommentareeingegangenwaren(vgl.Akti onMensch2004c,152). WenigeWochenspäterkonntenersteErgebnisseindiewissenschaftlichePoli tikberatungeingespeistwerden:BeieinerAnhörungdesNationalenEthikratsam 13. Dezember 2002 zum Thema „Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft“erläutertedieProjektleiterindieHaltungderAktionMenschzu dieser Frage und verlas 20 Fragen aus dem 1000 FragenForum.23 Im März 2003 startete der Projektträger mit einer weiteren Phase der Öffentlichkeitsarbeit. Nun wurden bereits vorhandene Fragen aus dem Internetforum in die Öffentlichkeit gebracht:WiederumwurdenPlakate,KinospotsundZeitungsanzeigengeschaltet, um Hunderte der eingegebenen Fragen zu präsentieren. Auf diese Weise wollte manzueinernochstärkerenNutzunganimieren.BisEndeJuni2003wurdendann tatsächlich mehr als 400.000 Besucher mit insgesamt 8.500 Fragen und 35.000 Kommentaren24 verzeichnet (vgl. Aktion Mensch 2004c, 152; Aktion Mensch/Zirden2003,11).DieIdee,dasMaterialalsBuchzuveröffentlichen,wurde ebenfallsrealisiert.DiePublikation„Waswollenwirwennallesmöglichist?Fra gen zur Bioethik“ (Aktion Mensch/Zirden 2003) enthielt neben einer Erläuterung derZielsetzungensämtlichebisAugust2003eingegebenenFragen(gegliedertnach den Themengruppen), eine Auswahl an Kommentaren, eine Bilddokumentation des 1000 FragenProjekts, einige Statistiken zu den Fragen und ihren Absendern sowieeinGlossar. „Berlin wird zur Stadt der 1000 Fragen’“ und „Berlin denkt nach über Bioe thik“ – unter diesen Slogans kam es im September 2003 zum vorläufigen Höhe punktdesDiskursprojekts.InganzBerlinwurdeneineWochelangTheaterauffüh rungen,Diskussionsforen,LesungenundFilmezurBioethikveranstaltet.25Außer dem wurden ausgewählte Fragen nachts auf historische Bauwerke und Wahrzei chen der Hauptstadt projiziert. Bestandteil dieses Programms war die Abendver anstaltung„Nachtder1000Fragen“,diedieAktionMenscham24.September2003 inKooperationmitdemDeutschenHistorischenMuseuminBerlindurchführte.In diesem Rahmen hatte das Theaterstück „Wohin Gen?“26 Premiere und das Buch  23 Vgl.dasWortprotokollderAnhörungunter:  http://www.ethikrat.org/texte/pdf/Anhoerung_Diagnostik_021212_Protokoll.pdf (BeitragZirden,S.3034). 24 DieZahlvon35.000KommentarenenthälteinigeBeiträge,diespäterwiedergelöschtwurdenund aus diesem Grund auch nicht mit in diese Studie eingegangen sind. Zu den Moderationsregeln, diezurLöschungvonBeiträgenführenkonnten,vgl.2.3. 25 DieVeranstaltungenfandenvom18.bis24.September2003statt. 26 AufGrundderpositivenResonanzgingdasTheaterstückvom17.Septemberbis08.Oktober2005 aufeinebundesweiteTournee.IndreizehndeutschenStädtenfandenAufführungenstatt.DieIn

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2DerForschungsgegenstand

der Fragensammlung wurde feierlich Experten aus Politik, Forschung und Wirt schaft überreicht.27 In szenischen Lesungen, mittels Musik, Schauspiel und Tanz wurde eine Auswahl der Fragen dem Publikum präsentiert. Ziel dieser auch im Fernsehen übertragenen Inszenierung war es, die „persönlichen Emotionen“ und die„Ambivalenzen“derFragesteller/innensowie„dieKraftdesFragensalsPrin zipderOffenheit,derGesprächsbereitschaftundderdemokratischenDiskussion“ zuverdeutlichen(AktionMensch2003b,5).EinMonatspäterwurdedieBuchpub likationanalleAbgeordnetendesDeutschenBundestags,Redaktionenallerüber regionalen Medien sowie wichtige Wissenschaftseinrichtungen versandt. Auch nach dem offiziellen Ende dieser ersten Projektphase, deren Schwerpunkt die Sammlung von Fragen und Kommentaren war, blieb das Internetforum für die weitereNutzunggeöffnet. Am 26. April 2004 startete mit den „Patenschaften“ eine weitere Phase des 1000 FragenProjekts. Unter dem Motto „Austausch ohne Entscheidungsdruck“ wurde die Bevölkerung nun dazu aufgerufen, sich mit Diskussionsbeiträgen zu ausgewählten Fragen zu beteiligen und Antworten zu finden: „Welche Fragen brauchen eine eindeutige Antwort? Auf welche Fragen gibt es mehrere Antwor ten? Welche Fragen beantwortet man lieber gar nicht? Gibt es gemeinsame Ant worten,Kompromisse?Und:GibtesFragen,beidenensichschondieDiskussion verbietet?“ (Aktion Mensch 2004a, 3) Die zweite Projektphase beinhalte insofern einen neuen Akzent, als man nun auf die Einbindung von Persönlichkeiten28 aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur setzte; diese wurden gebeten, für je  szenierung in 13 Bildern mit 19 Schauspielern, Tänzern und Musikern, getextet von Fred Bernst undHeikeZirden,basiertaufauthentischenFragendes1000FragenProjekts. Das Stückrekons truiertundverdichtetdengesellschaftlichenDiskursundschaffteintheatralischesForumfürdie persönlichenEmotionenundAmbivalenzenderFragesteller,sodieSelbstdarstellung(vgl.Aktion Mensch2004c,153). 27 Dies waren: Wolfgang Thierse, Präsident des Deutschen Bundestages; Prof. Dr. Drs. h.c. Spiros Simitis,VorsitzenderdesNationalenEthikrates;RenéRöspel,VorsitzenderderEnquetekommissi ondesDeutschenBundestages„EthikundRechtdermodernenMedizin“;Prof.Dr.ErnstLudwig Winnacker,PräsidentderDeutschenForschungsgemeinschaft;Dr.RicardoGent,Geschäftsführer derDeutschenIndustrievereinigungBiotechnologie. 28 Paten waren beispielsweise der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, Bundesjustiz ministerinBrigitteZypriesundPolitikerwieHeinerGeißler,NorbertBlümundGuidoWesterwel le.BischöfinMargotKäßmann,ArztfunktionärFrankUlrichMontgomeryundderehemaligeBDI Präsident HansOlaf Henkel beteiligten sich ebenso wie Magdalene Weiß, die Präsidentin des BundesDeutscherHebammen.DieWissenschaftwarebenfallsrepräsentiert,z.B.durchdieSozio loginDorisLucke,denPhilosophenMarcusDüwellunddenKulturwissenschaftlerThomasMa cho. Kunst und Kultur vertraten Schauspieler wie Ulrike Folkerts und Dominique Horwitz, die Sängerin Ulla Meinecke und die Schriftstellerin Ursula Eggli. Vertreter/innen behinderter Men schenwarenz.B.ChristianJudith,RobertAntretter,OttmarMilesPaulundMartinaPuschke.

2.2DieMedienkampagne

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weils eine Frage die Patenschaft zu übernehmen und zu begründen, warum sie geradedieseFragefürwichtigunddiskussionswürdigerachteten(AktionMensch 2004c, 3). Insgesamt konnten 78 Patenschaften29 gewonnen werden, von denen siebzig in der Publikation „Was ändert unsere Diskussion?!“ (Aktion Mensch 2004c)dokumentiertsind.IndenMittelpunktderbegleitendenMedienkampagne wurden zehn beispielhaft ausgewählte Fragen mit neuen Plakatmotiven gestellt. Ab Oktober 2004 wurden die Fragen, die die Paten ausgewählt hatten, und ihre StellungnahmeninmoderiertenForendiskutiert.Bisdahinhattedas1000Fragen Forum die Teilnahme von mehr als 1 Million Menschen, die 15.000 Fragen und 40.000 Diskussionsbeiträge eingegeben hatten (Aktion Mensch 2004c, 153). Bis März2006stiegdieZahldereingegebenenFragenauf16.000unddiederBeiträge auf54.000.30 ZwischenMärz2006undOktober2007schaltetedieAktionMenschdieinter aktivenFeaturesderSeitevorübergehendab,weildiefürdenBetriebnotwendigen RessourcenfüreinweiteresDiskursprojekt31benötigtwurden.DieWebseitekonn tezwarnochbesuchtwerden;neueFragenundDiskussionsbeiträgewarenjedoch nichtmehrmöglich.IndieserPhasedientediePlattformderDokumentationund wurde weiterhin regelmäßig mit aktuellen Hintergrundinformationen gepflegt. AuchindieserZeitkonntenimDurchschnitttäglichetwa1.500Besucherinnenund Besucher verzeichnet werden.32 Im Oktober 2007 wurde das Onlineportal wieder reaktiviert;seitdemistdieEingabevonneuenFragen,KommentarenundDiskus sionsbeiträgenwiedermöglich.ZusätzlichhatdieAktionMenschgemeinsammit demGenEthischenNetzwerk,Berlin,aufderGrundlagederWebseitedieUnter richtsmaterialien „Lebensfragen. Kontroversen zur Bioethik“ entwickelt.33 Aktuell werdendieSeitenvoneinergroßenZahlvonSchülerinnenundSchülernfrequen tiert,denenderEinstiegindaskomplexeThemaaußerdemmiteinem„1000Fragen QuizzurBioethik“erleichtertwird.34

 29 Unter den 78 Patenschaften befanden sich nicht nur Personen, sondern auch Gruppen, z.B. ein schulischerPhilosophiekurs.Insgesamtwarenes22Frauen,48MännerundachtGruppen. 30 MitteilungperMailvonChristianScheifl,AktionMensch,am29.05.2008. 31 Es handelt sich hierbei um das konzeptionell ähnlich angelegte Diskursprojekt „www.dieGesellschafter.de“, das aktuell unter dem Motto „Nachdenken. Diskutieren. Handeln“ dieseFrageöffentlichzurDiskussionstellt:„InwelcherGesellschaftwollenwirleben?“ 32 MündlicheAngabeHeikeZirden(02.05.2008). 33 Es handelt sich um Unterrichtsmaterialien zum Bestellen bzw. zur Bearbeitung online, vgl. http://1000fragen.de/lebensfragen/schueler.php(fürSchüler);  http://1000fragen.de/lebensfragen/lehrer.php(fürLehrer). 34 Vgl.hierzu:http://1000fragen.de/interaktiv/bioethikquiz/index.php(27.02.2008).

30

2DerForschungsgegenstand

Mittlerweile finden sich die Beiträge des Onlineforums nicht nur in zahlrei chen Schulbüchern;35 auch die über eine Laufzeit von nunmehr sechs Jahren ak kumulierteMasseanzivilgesellschaftlichenÄußerungenlässtaufeinebeachtliche Breitenwirkung schließen. Im Ergebnis ist die Schlussfolgerung erlaubt, dass das DiskursprojektsicherlichdasgrößteBürgerforumzurBioethikdarstellt,dasjeim deutschsprachigenRaumstattgefundenhat.

2.3 DasInternetportal„www.1000fragen.de“ Was erwartet die User, wenn sie am eigenen Computer den Link „www.1000fragen.de“eingeben?ImInternetwerdensieaufeineprofessionellund auf der Basis konzeptioneller Überlegungen gestaltete Onlinearchitektur treffen, die den Diskussionsraum des Forums maßgeblich bestimmt. Im Folgenden wird derAufbaudesInternetportalszumZeitpunktdesKampagnenbeginnsimOktober 2002dargestellt.ZumdamaligenZeitpunktwurdederHauptframe36inderMitte des Bildschirms, in dem die wechselnden Inhalteaufgerufen werden, eingerahmt durcheineTitelzeileoben,eineNavigationsleistelinksundeinenweiterenFrame rechts(s.Abbildung1).DieNavigation(aufderlinkenSeite)warhierarchischge gliedert. Durch farbige Ebenen wurden insgesamt fünf Themengruppen mit den Titeln „1000FragenProjekt“, „Dialog“, „Hintergründe“, „Interaktiv“ und „Anfor dern“differenziert.DieseRubrikenwarenwiederuminjeweilsdreibisvierUnter themenaufgeteilt.DieÜbersichtwurdeimHauptframedurchBalkeninderFarbe der jeweiligen Ebene unterstützt: Die erste Ebene „1000FragenProjekt“ führte zu denSeiten,dieeinenÜberblicküberdieKampagnegaben.Hierfandensichaktuel le Meldungen zu unterschiedlichen Themen der Bioethik,37 eine Sammlung aller eingegebenenFragen,derPlakate&Anzeigen38undeineErläuterungderZielset zungderInitiative(vgl.Abbildung1).39  35 MündlicheAuskunftHeikeZirden(26.02.2008). 36 Als„Frame“werdenTeilbereicheeinerWebseitebezeichnet,dieunabhängigvoneinanderaufge rufenwerdenkönnen.MeistbenutztmanFramesfürNavigationsfunktionen,umkomplexeInter netseitenübersichtlichzugestalten. 37 Die aktuellen Themen der Bioethik können immer noch als Newsletter über EMail empfangen werden.DasAbonnierendesNewsletterserfolgteindemuntersuchtenZeitraumüberdieNaviga tionsleiste„Anfordern/Newsletter“.InderneubearbeitetenWebseitefindetsichderButtonoben rechtsinderTitelleiste. 38 UnterdiesemLinksindPlakate,AnzeigenmotiveundKinoWerbespots,dieinderflankierenden Öffentlichkeitsarbeitdes1000FragenProjektseingesetztwurden,zusehen. 39 DieaktuelleUntergliederungsiehtfolgendermaßenaus(11.4.2007):ÜberdiesesProjekt/Plakate& Anzeigen/AlleFragen/Aktuell/Unterrichtsmaterial.

2.3DasInternetportal„www.1000fragen.de“

Abbildung1

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StartseitederWebseite„www.1000fragen.de“40

                      Durch diese Gliederung wurde den Usern die Möglichkeit gegeben, sich auf der Seite zu orientieren und die Hintergründe des 1000 FragenProjekts zu erfahren. Mit der „Dialog“Leiste auf der zweiten Ebene wurde der Zugang zur Online kommunikationermöglicht.AufdieserEbenekonnteeineindividuelleFrageein gegeben werden; man konnte sich in das Forum einmischen, im Chatraum41 mit ausgesuchten Experten und anderen „interessanten Persönlichkeiten“42 über bio  40 Bildquelle:AktionMensch/Zirden(2003,771). 41 InsgesamtfandenneunChatTerminemitExpertenundExpertinnenstatt.Aktuellkannmaneine ZusammenfassungunterderNavigationsleiste„Chat“im1000FragenForumabrufen(11.4.2007). 42 Dies waren: Heike Zirden (Initiatorin und Leiterin des 1000 FragenProjekts bei der Aktion Mensch), Prof. Dr. jur. Herta DäublerGmelin (ehem. Bundesjustizministerin), Dr. Peter Radtke (Autor und Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien e.V.), Dr. Katrin Grüber (Geschäftsführerin des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft), Dr. Ruud Ter Meulen (Professor am „Instituut voor Gezondheidsethiek“ an der Universität Maastricht), Prof. Dr. Mar cus Düwell (Philosoph und Professor am Lehrstuhl für philosophische Ethik an der Universität

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2DerForschungsgegenstand

ethischeThemendiskutierenoderEintragungeninsGästebuchvornehmen.Unter der dritten Rubrik „Hintergründe“ wurden für einige Themengebiete „Positio nen“, „Dossiers“ und ein „Lexikon“ (in html und flashVersionen) sowie eine „Linkliste“offeriert.DieAufmachungderUnterseitenunddasInformationsange botdientendervertieftenAuseinandersetzungmitderBioethik.Vielezusätzliche Angebote,z.B.dieMöglichkeit,Textdossiersauchin„leichterSprache“abrufenzu können,oderdassehrbreitangelegte„Lexikon“zurBioethikmiteinemBegriffs netz,43 unterstützten den Meinungsbildungsprozess, den die Kampagne fördern wollte.AufdieserEbenekonntendieUserauchPositionenvonProminentenund Expertenlesen,diezuverschiedenenThemenderBioethikStellungnahmen.44 Die letzten beiden Ebenen45 der linkenNavigationsseite beinhalteten interak tive Elemente für weitere thematische Zugänge. Der mit „Interaktiv“ bezeichnete Bereich bot den Nutzern Möglichkeiten, sich spielend Wissen über Bioethik an zueignen. So gab es etwa das Angebot des „BioethikQuiz“,46 um den Einstieg in verschiedene Themen zu erleichtern (vgl. Aktion Mensch 2002b, 16). Gleichzeitig fand sich auf der Webseite die Aufforderung, selbst für die Kampagne aktiv zu werden.EswurdenverschiedeneAktionsmittelfürpersönlicheWerbemaßnahmen zur Verfügung gestellt. Folgende Materialien sollten dazu genutzt werden, um individuelle Ideen einzubringen: In einem PosterBaukasten konnte zu einem ei genenTexteinBildmotivausgewähltwerden.DasfertigePosterenthieltdas1000 FragenDesign und wurde in einer Postergalerie auf die Webseite gestellt bzw. konntealsEmailverschicktwerden.EbenfallszumVersandalselektronischePost kartestandenfertigeMotivederKampagnezurVerfügung.EinweiteresAngebot unter „Interaktiv“ war die virtuelle Menschenkette. Sie bestand aus von Nut zer/inneneingesandten,nebeneinanderaufgereihtenFotosundsolltedieBreitedes öffentlichen Interesses verdeutlichen.47 Dazu der Projektträger: „Seit dem Beginn  43

44

45 46 47

Utrecht), René Röspel (Bundestagsabgeordneter der SPD), Christian Weimer (Mitarbeiter der DeutschenHospizStiftung,MagdaleneWeiß(PräsidentindesBundesDeutscherHebammen). 250SchlüsselbegriffeausderBioethikDiskussionwurdenineinem„Begriffsnetz“dargestellt.Die Zusatzfunktion„Begriffsnetz“dientedazu,dieZusammenhängeverschiedenerBegriffeverständ lichzumachen. HierfandensichdiePositionenwieder,diebereitsinderAusstellung„Der(im)perfekteMensch“ Verwendunggefundenhatten.DieWebseitederzweitenPhasederKampagneenthieltdie„Posi tionen“Seitenichtmehr,weilsieinzwischennichtmehraktuellwarundauchvielederProminen tensichnunalsPatenbeteiligten. Die beiden Rubriken „Interaktiv“ und „Anfordern“ wurden in der aktualisierten Webseite zu sammengefasst,mit„BioethikQuiz“,aberohne„Newsletter“(11.4.2006). Der „BioethikQuiz“ knüpfte an die Gewinnmotivation der User an und lief mit verschiedenen PreisenzunächstzweiMonatelang.In2007erhieltdiesesspielerischeElementmehrGewicht. EigendarstellungaufderWebseitewww.1000fragen.de/index.php?mo=32(21.9.2005).

2.3DasInternetportal„www.1000fragen.de“

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der 1000FragenInitiative haben wir Fotos von Menschen gesammelt, die symbo lischdieWichtigkeiteinesbioethischenDiskursesverdeutlichen.Mitausgestreck tenArmenbildensiegemeinsameinevirtuelleMenschenkette.Wirwollendamit insbesondere Politikern, der Wirtschaft und anderen Entscheidern auch bildlich verdeutlichen, dass sich eine breite Öffentlichkeit für diese Themen interessiert undaktivmitredenmöchte.“48 DieÜbersichtimHauptframeinderMitte(vgl.Abbildung1)stellteDetailin formationenzueinzelnenThemengruppenbereit:Blauhervorgehoben(„1000Fra genProjekt“) und an oberster Stelle der Webseite stand die Aufforderung „Wir brauchenIhreFrage“mitderdirektenVerlinkungzurEingabemaskederFragen. Zusätzlich wurde dieser Aufforderung mit einem Plakatmotiv bereichert. Durch diesenButtonhattemanauchdieMöglichkeit,direktaufdieSeiteallereingegebe nen Fragen zu gelangen. In der rot unterlegten Rubrik „Positionen“ traf man auf ProminenteundExperten,dieinhaltlichStellungbezogen.Auchdiegrüne„Inter aktiv“Ebene war im Hauptframe durch einen Verweis auf das „BioethikQuiz“ vertreten. Elemente zur Navigation fanden sich außer im linken Frame auch in TitelundFußzeile.„Presse“,„Kontakt“,„Inhalt“und„Suche“befandensichauf derTitelleiste.WeitereLinkswarenaufderFußleistepositioniert,z.B.„Startseite“, „Rundgang“,„Impressum“,und„Datenschutz“. Auf allen Seiten wurde das Layout durch Fotos und Illustrationen aufgelo ckert. Die Webseite war außerdem weitgehend barrierefrei gestaltet; sie enthielt variable Schriftgrößen und Texte in einfacher Sprache. Während des für unsere Untersuchung maßgeblichen Zeitraums war die Teilnahme am Internetforumauf zweiEbenenmöglich.ZumeinenkonntenselbstFragengestelltwerden(vgl.Ab bildung 2); zum anderen konnten Fragen anderer Teilnehmer/innen in der Fo rumsansicht bewertet und kommentiert werden. Abbildung 2 zeigt die Eingabe maskefürFragen,betiteltmit„IhrepersönlicheFragezurBioethik“.Indendarun terpositioniertenleerenTextkastenkonnteeineFrageeingegebenwerden.Imun terenBereichderSeitewurdendieUseraufgefordert,ihreFrageeinerRubrikzu zuordnen.InderRubrikließsichmittelseinerAuswahlleisteausinsgesamtsieben Themen49mit45Unterthemen50einvorgegebenesThemaauswählen.Weiterwur den persönliche Eingaben abgefragt. Vorname, Name und EmailAdresse waren  48 DieDarstellung„MenschenkettederFragenden“kannaufderSeite  http://www.1000fragen.de/interaktiv/menschenkette/index.php(28.02.2007)eingesehenwerden. 49 Diese sind: PID/PND/Wunschkinder, Heilen/Forschen/Experimente, Patente/Rendite/Wirtschaft, Ethik/Medien/Kommissionen, Der (im)perfekte Mensch, Sterben/Sterbehilfe/Töten sowie Sonsti ges. 50 FürdieAuflistungdervorgegebenenRubrikensieheKap.6.

34

2DerForschungsgegenstand

Pflichteintragungen;AngabenzuBeruf,AlterundWohnortwurdeninnichtobli gatorischen, statistischen Zwecken dienenden Feldern erfasst. Den Usern blieb es überlassen, durch Anklicken der erforderlichen Kästchen zu entscheiden, ob der eigene Name voll ausgeschrieben oder nur durch Initialen hinter der Frage sich tbar gemacht werden sollte. Mit einem Button zum Anklicken wurden die Teil nehmer/innen außerdem aufgefordert, eine Einverständniserklärung zu geben, dassName(oderInitialen)undWohnortimRahmendesForumsweiterverwen detwerdenkonnten. Abbildung2

EingabeformularfürFragen

                  Das Herzstück des Projekts war die Seite zum Mitdiskutieren. Hier konnten alle eingegebenenFrageneingesehenwerden.MiteinemKlickaufdiejeweiligeFrage öffnete sich der entsprechende Diskussionszusammenhang bzw. „Thread“, näm licheinebestimmteFragemitdenzuihrgehörendenKommentaren.DieseThread seite enthielt Informationen über Fragesteller/in (Name), Zeitpunkt (Datum) der gestelltenFrage,ThemenrasterunddiezurFrageeingegebenenKommentare.Am EndederSeitehattendieUserdieMöglichkeit,selbsteinenKommentareinzuge ben. Dieser konnte sich auf die Frage oder einen der abgegebenen Kommentare beziehen.UmeineweiterführendeDiskussionzuerleichtern,wurdedieMöglich

2.3DasInternetportal„www.1000fragen.de“

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keitgeboten,sichperEmailautomatischüberdenEingangweitererKommentare informierenzulassen. DieBeiträgezumForumunterlageneinerModeration.ZumeinenwarenMo derationsregelnbereitsindieGestaltungderWebseiteeingearbeitet.Sogabesdie Aufforderung, den Beitrag in Frageform zu verfassen, und die Frage musste in einesderThemen/Unterthemeneingeordnetwerden(s.Abbildung2).Zumande renwurdenzwaralleInputsunmittelbarveröffentlicht,dochdieEingängewurden vomProjektträgerregelmäßigkontrolliertundBeiträge,dienichtdenallgemeinen Diskussionsregeln entsprachen, wurden unverzüglich wieder depubliziert. Hin weise hierzu waren als interaktiver Frame auf der rechten Seite der Startseite zu finden(s.Abbildung1).DieAufforderung„WirbittenumdieEinhaltungeiniger Spielregeln“beinhaltete,dasssichdieUserinihrenBeiträgenaufbioethischeFra gen beschränken und die „Netiquette“51 achten sollten. Die Möglichkeit der De publikationwurdeaufderSeiteder„Diskussionsregeln“folgendermaßenbegrün det: „Dopplungen und Fragen mit beleidigendem oder inhaltlich irrelevantem Inhalt [werden, d. Verf.] ohne Rücksprache mit den jeweiligen Urhebern“ ge löscht.52 Im Hinblick auf eine spätere Printpublikation wurde außerdem die Rechtschreibung der Beiträge korrigiert und vereinheitlicht.53 Programmatisch warendieEingriffedesProjektträgersjedochvonZurückhaltunggeprägt,umdas kontroverseBildderDiskussionnichtzuverzerren. Fast vier Jahre lang wurde die Webseite zum Fragen, Diskutieren, Kommen tieren,InformierenundModerierengenutzt.AbMärz2006dientesienurnochder Dokumentation der mittlerweile über 16.000 Fragen und der dazu gehörenden Kommentare sowie der Diskussionszusammenhänge, die als Ergebnis des Paten schaftsprojekts entstanden waren. Auch in dieser Phase wurde die Homepage immerwiederaktualisiert,gepflegtundweiterentwickelt.SeitOktober2007istdie PlattformfürneueEingabenoffen.VorallemvonSchulenundUniversitätenwird sieintensivgenutzt.AusSichtdesProjektträgersstelltdasaufderWebseiteakku mulierteMaterialeineneinzigartigenSchatzdar,derfürdieÖffentlichkeitzugäng lichbleibensollte.54DarüberhinauskanndasOnlineforumjederzeitneueImpulse  51 Die „Netiquette“ umfasst insgesamt 17 Verhaltensregeln, welche die schriftliche WebSprache vereinheitlichenundangemessenenUmganggewährleistensollen.AufderUnterseite„Diskussi onsregeln“findetsichderentsprechendeLink:  „http://www.chemie.fuberlin.de/outerspace/netnews/netiquette.html“. 52 HinweisaufderEingabeseitefürneueFragenvgl.www.1000fragen.de(13.12.2004). 53 Die übernommenen Originalzitate entsprechen diesem Stand; sie werden in dieser Studie nach den Vorgaben des originalgetreuen Zitierens wiedergegeben. Weiter vorhandene Rechtsschreib fehleretc.sindausdiesemGrundvonunsnichtnachträglichkorrigiertworden. 54 MündlicheAuskunftHeikeZirden(02.05.2008).

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2DerForschungsgegenstand

erhalten,wenndieAktionMenschesfürangezeigthält,sichimbioethischenDis kurswiederoffensiverzuWortzumelden.

2.4 DiePatenschaften„78FragenzurBioethik“ NachdemdieSammlungderFragenmitderBerlinerVeranstaltungimSeptember 2003ihrenHöhepunkterreichthatte,wurdedieursprünglicheKonzeptionverän dert.ImApril2004startete,wiebereitserwähnt,dasProjektder„Patenschaften“. DadasindiesemRahmengenerierteMaterialebenfallsGegenstandunsererUnter suchungist,sollimFolgendenauchdiedazugehörendeWebseitedieserProjekt phase kurz dargestellt werden. Mit einer Broschüre über die Paten, ihre Fragen undStatementssowiemittelsAnzeigen,PlakatenundKinospotswurdewiederum dieÖffentlichkeitaufgerufen,sichanderneuenFormder„öffentlichenKommissi onsarbeit“zubeteiligen(vgl.AktionMensch2004a,4).AuchindieserPhasestand der „Austausch ohne Entscheidungsdruck“ im Vordergrund. Nunmehr ging es darum,einigederbisdatogestelltenFragenzumThemaöffentlicherDiskussionzu machen(vgl.AktionMensch2004a,4).AufGrundderneuenProjektphaseergaben sich einige Veränderungen auf der Internetseite „1000fragen.de“. Zwar wurden Moderation und Eingabemasken beibehalten. Die Neuerung lag hauptsächlich in derArt,wiedieBesucher/innensicheinbringensollten.DadieDiskussionimMit telpunktstand,hießesaufderStartseitederRubrik„alleFragen“nun:„Eswurden bereitsüber10.000Fragengesammelt.BittestellenSienureineneueFrage,wenn sie eine bislang nicht berücksichtigte Fragestellung enthält.“55 Damit sollte die Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher auf die Diskussionsforen ge lenktwerden. DieGliederungderNavigationsleistenbliebimWesentlichengleich.Anstelle derLeiste„IhreFrage“aufdergelbhinterlegtenEbene„Dialog“fandmannundie Leiste„BioethikDiskussion“. Diese Seite war soaufgebaut, dassneue Themen in alterOrdnungangebotenwurden.InderMittedesHauptframeswarendieNavi gationsleistensoangeordnet,dassdieUseranersterStelleZugangzudenbelieb testen56 Diskussionen erhielten. Weiter unten konnten die Patenschaftsfragen an geklicktwerden.DieFragenerschieneninderReihenfolgederletztenEintragun gen und der bisher eingegebenen Beiträge sowie mit den Bildern der Paten. Auf dieserEbenekonntendieUserdirektaufdieDiskussionsebenederFragengelan gen.ZujederFrageeinesPatenodereinerPatingabeseinmoderiertesForum;in  55 Vgl.http://www.1000fragen.de/index.php?mo=3(26.9.2005). 56 AusgewähltnachdenKriterienDiskussionslängeundZahlderKommentare.

2.5DasForschungsvorhaben

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ihnen wurde knapp zwei Jahre lang diskutiert. Im Ergebnis verzeichneten einige Fragen Tausende von Beiträgen. Patenschaftsfragen mit den meisten Beiträgen warenz.B.„Wo ist Gott?“ mit insgesamt 4.253 Beiträgen, „Haben Sie auch Angst unsterblichzuwerden?“mit2.596Beiträgen,„EinBaby–Hurra,esistkeinMäd chen!“mit2.537Beiträgenund„Sind16ZelleneinMensch?“mit1.553Beiträgen.

2.5 DasForschungsvorhaben Ursprünglich war von dem Projektträger weder eine Begleitforschung noch eine systematische Ergebnisauswertung der Onlineplattform geplant gewesen. Jedoch wecktedieindiesemgroßenAusmaßnichtvorhergeseheneResonanzimNachhi nein das Interesse an einer wissenschaftlichen Bearbeitung. Als Zielsetzung der geplantenStudie57anderUniversitätzuKölnwurdeindererstenForschungskon zeption noch recht offen formuliert: „Das Datenmaterial, das quasi naturwüchsig ausderZivilgesellschaftherausgeneriertwurde,bietetineinzigartigerWeisedie MöglichkeitzurErforschungdesAlltagswissensundderEinstellungenderBevöl kerungzurBioethik.DabeibeinhaltetgeradederSachverhalt,dassessichbeidem zu untersuchenden Material um so genannte natürliche Dokumente handelt, die nicht im wissenschaftlichen Sinne systematisch erhoben wurden, die Chance, so wohlThemenundProblematisierungsweisenalsauchDynamikundStrukturdes lebensweltlichen BioethikDiskurses eingehend zu analysieren.“ (Waldschmidt 2003a, 5) Das Erkenntnis leitende Ziel der Forschungsarbeit war also nicht eine Evaluation der 1000 FragenKampagne im Sinne der Überprüfung oder Entwick lung von Erfolgskriterien für das Stimulieren zivilgesellschaftlicher Debatten. Vielmehrgingesdarum,mehrüberdieModidergesellschaftlichenAuseinander setzungüberProblemstellungenderBioethikherauszufinden.Vorallemsolltedie Grundannahme,dassdaslebensweltlicheRedenanderenRegelnfolgtalsdievon ExpertenundExpertinnengeführtenDiskussionen,überprüftwerden.Dabeistan densowohlinhaltlichealsauchformaleDimensionenimBlickpunktderAnalyse. Den Startpunkt der Untersuchung bildete die klassische inhaltsanalytische Frage: „Wer fragt was wen auf welche Weise mit welcher Wirkung?“ (Waldschmidt  57 DieUntersuchungwurdealsDrittmittelprojektvonderAktionMenschgefördert.AndieserStelle sagenwirinsbesondereHeikeZirden,ChristianScheifl,MarkCzogallaundKarinJacekherzlichen Dankfürmehrjährige,guteZusammenarbeitundUnterstützungunsererForschungsarbeitinvie lerleiHinsicht.ZugroßemDankverpflichtetsindwirauchSibelDalmanEken,diealsProjektmit arbeiterin an allen Untersuchungsschritten beteiligt war, sorgfältige Arbeitsergebnisse und viele wertvolleAnregungengelieferthat.AndemProjektbeteiligtwarenauchShadiHeinrich,Kathrin LingnauundAnnaPilotSchäfer,denenwirebenfallsdanken.

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2DerForschungsgegenstand

2003a,7)Das‚Wer’und‚Wen’dieserHeuristikzielteaufdieUserundAdressaten desForums,wohlwissend,dassdieGewinnungsolcherDatenimvirtuellenRaum besonderenSchwierigkeitenunterliegt.EineleichtereAusbeuteversprachdieAna lysedes‚Was’,dasfürdieinhaltlicheDimensiondesOnlineforumssteht:Welche Themen wurden diskutiert, welche vermieden? Gab es auch Diskussionsstränge, diequerzudendurchdieVeranstaltervorgegebenenThemenverliefen?Anwel chesWissenknüpftendieBeiträgeanbzw.welchesWissensetztensievoraus?Zu den Forschungsfragen, die eher auf strukturelle Aspekte zielten, zählten die As pekte‚aufwelcheWeise’und‚mitwelcherWirkung’:WelcheArgumentationsmus ter ließen sich identifizieren? Welche Frageformen setzten die User ein? Welche PositionenwurdenindenBeiträgeneingenommen,äußertensichvorallemBetrof feneoderauch(vermeintliche)Experten?Undschließlich:Gabeseinmachtvolles SprechenimvirtuellenRaum? Ausgehend von diesem Erkenntnisinteresse lag es nahe, Anschlüsse an die Soziologie des Alltagswissens, die Einstellungs und Partizipationsforschung so wievorallemanDiskurstheorieundanalyseherzustellen.FolgtmanderGrund annahme,dassdas1000FragenForumAufschlüssefürdaslebensweltlicheReden über Bioethik bietet, liefern die Analyseergebnisse auch Implikationen für allge meine soziologische Fragestellungen: So ist bislang in Konzepten der Technikfol genabschätzung der partizipationstheoretischen Bedeutung des Alltagswissens wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. In der Wissenssoziologie wird das alltagsweltliche Reden zumeist als Routinehandeln charakterisiert; eine kreative Komponentewirdihmseltenzugestanden. Doch kann ein Onlineforum als repräsentativ für den Alltagsdiskurs angese henwerden?AlleindieTrägerschaftderAktionMenschkönnteeine(nichtunbe dingtbeabsichtigte)VorstrukturierungdesinszeniertenDiskursprojektszurFolge gehabthaben:DieseimBereichvonSozialundBehindertenpolitikaktiveFörder organisationistebennichteineneutraleInstanz,sondernallgemeinbekanntfürihr klares inhaltliches Profil. Es ist deshalb möglich, dass der institutionelle Hinter grund die Userentscheidungen über die Teilnahme am 1000 FragenForum mit beeinflussthat.AuchdieStrukturderWebseite,ihreVorgabenaufderinhaltlichen und formalen Ebene haben sich höchstwahrscheinlich auf die Zusammensetzung des Materials ausgewirkt. In der Zusammenschau muss konzediert werden, dass „1000 Fragen zur Bioethik“ keine maßstabgetreue Abbildung des ungefilterten Alltagsdiskurses darstellt. Aber: Verglichen mit anderen Ansätzen zivilgesell schaftlicher Teilhabe kommt das Diskussionsforum diesem ziemlich nahe. Ein gewichtigesArgument,dasdieBedeutungderVorstrukturierungdesDiskurspro jektsdurchdieVeranstalterrelativiert,beziehtsichaufdiegroßeAnzahlderBei

2.5DasForschungsvorhaben

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träge. Auch wenn die Besucher/innen des 1000 FragenForums keinen Bevölke rungsdurchschnittimstatistischenSinnerepräsentierenundesnichtzulässigsein dürfte, Untersuchungsergebnisse quantitativer Art auf die gesamte Bevölkerung zu übertragen (z.B. „60% der Bürger/innen sind für/gegen die Organspende“), sprichtvielesdafür,dassalleinaufGrundderMassederÄußerungenallebedeut samen Positionen und Argumentationsmuster des zivilgesellschaftlichen Diskur ses,dersichamThemaBioethikentzündet,imMaterialvorhandensind.DerDa tenkorpus würde somit zumindest eine Repräsentativität im Sinne qualitativer Vollständigkeiterreichen,undzwarinsofern,alsdas‚RedenüberBioethik’inallen seinenAspektensichinihmwiederfindet.

3 DiskurstheoretischeÜberlegungen

Ziel dieses Kapitels ist es, eine theoretische Verortung des eigenen Gegenstands vorzunehmen.ZunächstsollendieAnsätzevonJürgenHabermasundMichelFou cault auf Stellenwert und Brauchbarkeit für die Untersuchung überprüft werden. Dabei geht es vor allem darum, den zu Grunde liegenden Diskursbegriff trenn scharfzudefinierensowieeinkohärentesBegriffsinstrumentariumzuentwickeln. Wie bereits erwähnt, war mit „1000fragen.de“ eine neue Form des öffentlichen AustauschsundderVerständigungüberdasweitgehendvonExpertendominierte ThemaBioethikintendiert.ImerstenSchritt(3.1)wirddaherüberprüft,obdievon Habermas eingeführten diskursethischen Kriterien in Anlage und Nutzung des ForumszumTragenkommen.AnschließendwirdeinanFoucaultorientierterDis kursbegriff vorgestellt (3.2). In diesem Zusammenhang erfolgt eine Betrachtung derSprechakte‚Frage’und‚Kommentar’(3.3)sowiedieDifferenzierungzwischen ‚Äußerung’ und ‚Aussage’ (3.4). Der anschließende Entwurf einer Typologie des Diskursiven(3.5)lässtsichvondiesenFragenleiten:WobefindetsichdasInternet forum im diskursiven Feld? Welchem Diskurstypus ist es zuzuordnen? Zum Schluss wird „1000 Fragen zur Bioethik“ als ‚diskursives Ereignis’ charakterisiert unddieErträgedertheoretischenÜberlegungenwerdenimHinblickaufdienach folgendenempirischenArbeitsschrittenocheinmalzusammengefasst(3.6).58

3.1 WelcherDiskursbegriffliegtdemInternetforumzugrunde? Zwar beinhalten die konzeptionellen Überlegungen des Projektträgers Aktion Mensch, soweit sie uns zugänglich sind, keine eigens ausgearbeitete Theorie des Diskurses;mantrifftaberindenProjektpublikationenaufverschiedeneAussagen, welcheaufeinenimplizitenDiskursbegriffschließenlassen.DerEntscheidungzur EinrichtungdesDiskursprojektslag,wiebereitserwähnt,dieAnnahmezugrunde, dass bioethische Fragestellungen nicht hinter verschlossenen Türen verhandelt  58 DerhiervorgestelltediskurstheoretischeBezugsrahmenwirdinVerbindungmitdennachfolgen denempirischenUntersuchungsschritten(vgl.Kap.6,7,9und10)erweitertundspezifiziertwer den.

3.1WelcherDiskursbegriffliegtdemInternetforumzugrunde?

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werdensollten,sonderneinerbreitangelegtengesellschaftlichenDebattebedürfen. Menschen, deren Meinungen und Erfahrungen in der Öffentlichkeit nur selten Gehör finden, sollten sich artikulieren können, ohne besondere Ansprüche oder Bedingungenerfüllenzumüssen.„PolitischeEntscheidungen,diediesensensiblen Bereich betreffen, sollen nur auf der Grundlage von breit angelegten Prozessen demokratischerWillensbildunggetroffenwerden,“sodieHaltungdesProjektträ gers (Aktion Mensch 2004b, 10). Mit der Webseite sollten ein öffentlicher Raum undeinerweiterterZeitrahmenzurVerfügunggestelltwerden,somitMöglichkei tenfüreinen„AustauschohneEntscheidungsdruck“(AktionMensch/Zirden2003, 11). Allerdings wurde die Art des Austauschs im Internetforum vorstrukturiert: Als Kommunikationsweise wurde das Stellen von Fragen vorgegeben; daneben warenKommentaremöglich.Fragen,soformulierendieInitiatoren,„fordernZeit, bekennen sich zu Unwissenheit, Unsicherheit, Uninformiertheit, verlangen Be rücksichtigung, Differenzierung, Vorsicht, Absicherung und Nachdenklichkeit. Fragen symbolisieren Bewegungen des Denkens: sie fordern das Weiterdenken, dasKommunizieren,eineprinzipielleOffenheitfürneueAspekteundEinsichten.“ (AktionMensch/Zirden2003,9) Die demokratietheoretische und lebensweltliche Orientierung, die Fokussie rungaufDialogundVerständigung,dieIdee,dassesmöglichsei,sichgemeinsam mit anderen mittels Fragenstellen auf die Suche nach Konsens zu begeben, die Vorannahme, dass Bürger/innen mündige Subjekte sind, die sich kompetent zu komplexenSachverhaltenäußernkönnen,wennihnendieMöglichkeitdazugebo tenwird–alldiesekonzeptionellenVorüberlegungenlegennahe,dassderimplizi te Ausgangspunkt von „1000 Fragen zur Bioethik“ die von Habermas (1981b; 1981c; 1991, 148) entwickelten Prinzipien der Diskursethik sind. Beispielsweise schließtdieÜberlegungdesProjektträgers,dassesnotwendigsei,dieDebatteüber bioethische Fragestellungen ‚in die Gesellschaft’ hinein zu öffnen, an die Voran nahme der Diskursethikan, dass die„Konsensgrundlage der normativen Struktu ren“(Habermas1973,12)inderModerneimmerwiederneuausgehandeltwerden muß. Die Diskursethik postuliert eine auf Rationalität (Habermas 1981b) und Uni versalität(Habermas1981c)ausgerichtetesprachlicheVerständigung,dieaufKon sensfindungabzielt.DiesprachlichenHandlungen,dieentsprechenddesModells eineridealenSprechsituationdurchzuführensind,sollenvierGeltungsansprüchen genügen: Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit (Habermas 1981a, 376). Sie lassen sich mit Annette Treibel (2004, 168) so zusammenfassen: Wahrheit ist „nichts anderes als Zustimmungsfähigkeit, Richtigkeit die Übereins timmung mit der Wirklichkeit (Angemessenheit oder Berechtigung der Aussage)

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

undWahrhaftigkeitdieUnverstelltheitundAufrichtigkeitderbeteiligtenPersonen selbst.VerständlichkeitisteineSonderformunterdenGeltungsansprüchen;sieist schonvorausgesetzt,damiteineAussageüberhauptalswahr,richtigoderaufrich tig gelten kann.“ Eine derart strukturierte Verständigung setzt rational argumen tierendeIndividuenvoraus,dennalleindieamGesprächbeteiligtenSubjektekön nen die Einhaltung der Geltungsansprüche bestätigen. Überträgt man nun dieses intersubjektive Modell der Konsensfindung auf die Gesellschaft, so scheint die Hoffnung durchaus berechtigt, dass eine Berücksichtigung diskursethischer Prin zipiendazubeitragenkann,auchinstrittigenThemenwiederBioethikeinegesell schaftlicheVerständigungzuerreichen. Bezogenaufdas1000FragenForumstelltsichjedochdieFrage,obdieEinhal tung der diskursethischen Prinzipien überhaupt gewährleistet werden kann; au ßerdem wäre zu fragen, ob das Internetforum tatsächlich auch in diesem Sinne genutztwird.AufdenerstenBlickscheintderaufdiePartizipationbreiterBevöl kerungskreise angelegte Charakter des Diskursprojekts die von Habermas (1996, 292)geäußerteHoffnungzubestätigen,dasssichauchimöffentlichenBereichver ständigungsorientierteDiskussionenrealisierenlassen.Schautmansichjedochdas Material genauer an, so fällt auf, dasssich beispielsweiseeine vom Bemühen um Konsens geprägte, dialogische Kommunikationsstruktur (Wechselspiel von Rede und Gegenrede, Argument und Begründung etc.) wenn überhaupt, dann nuran satzweiseinderMinderheitderlängerenDiskussionsstränge59findet.DieStatistik derBeiträgezeigt,dassnur5,1%allerFragenmehralszehnKommentareaufsich gezogen haben. Im empirischen Material kommt es also nur in relativ wenigen FällenzueinemintensiverenAustausch,sowieihnsichHabermasvorstellenmag. Bei der weiteren Sichtung des Materials wird zudem offensichtlich, dass die RegelnderDiskursethikalsnormativeBezugspunktekaumzumTragenkommen bzw.ständigverletztodermissachtetwerden.WahrheitundRichtigkeitdermeis tenÄußerungenkönnenunterdenBedingungendesInternetsnurbedingtgeltend gemacht werden; Verständlichkeit isthäufig nicht gegeben und oft genug als Be mühenauchnichtzuerkennen.AufGrundderAnonymitätdesMediums,beidem sichfacetofaceInteraktionenerübrigen,läuftdasGeltungskriteriumAuthentizität ebenfalls ins Leere. Die Fragen und Statements werden zwar aus dem Alltag he rausgestellt,dochderBezugzudenLebensweltenderTeilnehmendenistschlech terdingsnichtverifizierbar. Außerdem besteht nach Habermas (1981a, 385) eine unverzichtbare Voraus setzung diskursiver Ethik darin, Situationsdefinitionen auszuhandeln. Da jedoch  59 Diese Diskussionsstränge werden in der Onlinekommunikation auch „Threads“ genannt. Im RahmenunsererStudiebezeichneteinThreadeineFrageplusdiedazugehörigenKommentare.

3.1WelcherDiskursbegriffliegtdemInternetforumzugrunde?

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dieGestaltungderWebseitedieBedingungendesRedensimForumimWesentli chenfestlegt–eswerdenvornehmlichFragenundKommentarezuvorgegebenen Themen(gruppen)erwartet–,könnendiefüreineidealeSprechsituationnotwen digenVoraussetzungennichthergestelltwerden.DieVermutungliegtnahe,dass es zu einer solchen Verständigung selbst dann nicht kommt, wenn einzelne Fo rumsteilnehmendedieswünschen. AnlageundEigenheitendesinternetbasiertenMaterialsbietensomitnichtden geeignetenRahmen,umdiediskursethischenGeltungsansprücheWahrheit,Rich tigkeit,WahrhaftigkeitundVerständlichkeitrealisierenzukönnen.AucheineMe takommunikationüberdieBedingungenderKommunikationfindetnichtstatt.In anderen Worten, der empirische Gegenstand dieser Studie folgt nicht dem Ideal derDiskursethik.EinsolcherBefundvermagimGrundegarnichtzuverwundern, amwenigstenwahrscheinlichdenBegründerderDiskursethik,derselbstaufdas SpannungsverhältniszwischennormativerOrientierung(Diskursethik)undfakti scher Gegenwart (empirisch auffindbaren Verständigungsprozessen)aufmerksam gemacht und die Kritik an seinem Modell explizit aufgegriffen hat (Habermas 1991, 162ff., 199226). Trotzdem erscheint es als nicht sinnvoll, den Haber mas’schenDiskursbegriff,auchwennerderGrundideedesProjektträgersentspre chenmag,fürdaseigeneForschungsdesignzunutzen.Höchstwahrscheinlichwäre erwenigertragreich:AusSichtderDiskursethikwürdemanmöglicherweisesogar zu dem Schluss gelangen (müssen), dass das Internetforum einer systematischen Untersuchunggarnichtwertist,sonderneherein‚Rauschen’imvirtuellenRaum, wennmansowill:einSprechen‚ohneSinnundVerstand’darstellt.60 Da aber unser Forschungsinteresse darauf ausgerichtet ist, gerade dieses auf denerstenBlickordnungsloserscheinende‚Rauschen’derStimmenausderBevöl kerung ‚lesbar’ zu machen, bietet sich eher das diskurstheoretische Konzept Fou caultsalsadäquatertheoretischerBezugsrahmenfürdieempirischeUntersuchung an.61 Denn im Unterschied zum diskursethischen Ansatz, dem es im Sinne eines Kantischen Idealismus um die Einhaltung normativer Geltungsansprüche geht, ist

 60 JürgenGerhards(2003)gelangtinseinerAnalysederDebattenüberAbtreibungindenVereinig tenStaatenundderBundesrepublikDeutschlandzudemErgebnis,dasszwarethischeundmora lischeÜberlegungeninDeutschlandeinengrößerenStellenwerteinnehmen,diskursethischePrin zipieninöffentlichenDiskussionenaberselbstnichtzurAnwendungkommen. 61 Das für unseren Untersuchungsgegenstand zentrale Thema „Bioethik“ lässt sich darüber hinaus einen inhaltlichen Bezug auf Foucaults Arbeiten über die „Menschenwissenschaften“ bzw. die „BioMacht“ zu (vgl. Dreyfus/Rabinow 1994b, 41ff., 156ff), eine Möglichkeit, die allerdings im RahmendieserStudienureineperiphereRollespielt.

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

die Diskurstheorie Foucaults auf die Analyse diskursiver Praktiken ausgerichtet.62 Die Subjekte und die Notwendigkeit einer Konsensfindung treten dabei in den Hintergrund; stattdessen lässt sich das Internetforum als ‚PuzzleTeil’ eines ge samtgesellschaftlichen BioethikDiskurses begreifen und auf inhärente Regelmä ßigkeiten,alsoOrdnungenhinuntersuchen.ZielsetzungeinerFoucaultfolgenden Forschungsarbeitistes,VerweiseaufderartigeDiskursordnungenherauszufiltern. Die Gesamtmenge an Äußerungen wird folglich nicht unter normativethischen Gesichtspunkten,sonderndeundrekonstruierendanalysiert.

3.2 Wasistein„Diskurs“nachFoucault? Eine Untersuchung des 1000 FragenForums im Anschluss an die Diskurstheorie FoucaultshatmehrereVorteile.ErstensversprichtsiedieEinordnungdesempiri schen Gegenstands in einen größeren diskursiven Gesamtzusammenhang; zwei tens bietet dieser Theorierahmen eine methodologische Orientierung, die es er möglicht, den verhältnismäßig großen Datenkorpus empirisch ‚in den Griff zu bekommen’unddieimInternetgeneriertenÄußerungenalsVerweiseaufmögli cheDiskursordnungen‚lesbar’zumachen. Sowohl für den diskurstheoretischen Rahmen als auch für die Methodologie dieser Studie stellt sich allerdings das Problem, dass Foucault keine eindeutige BegriffssystematikanbietetundseineRedevomDiskursoftgenugpolyvalentist. StattdessenfindetmanbeiihmdesÖfterenkritischeBemerkungenzurBegriffsbil dung; er setzt „gegen den Logozentrismus totalisierender Allgemeinbegriffe [...] die Pluralität von aufeinander irreduziblen Aussagesystemen“ (Bogdal 1990, 33). Foucaults Vorsicht gegenüber Generalisierungen und sein Bemühen, ohne Essen tialismenauszukommen,bietenjedochdieMöglichkeit,seinenAnsatzdemspezi fischen Charakter des jeweiligen Untersuchungsgegenstands anzupassen (vgl. Kammler 1990, 44). Das diskurstheoretische Modell ist flexibel, anpassungsfähig undgleichzeitigumfassendgenug,uminderempirischenUntersuchungdenBe sonderheitendes– wieinunserem Falle: internetbasierten–Materials gerechtzu werden. Nimmt man also den vagen Diskursbegriff Foucaults als Ausgangspunkt für die Suche nach einer Begriffsdefinition, die das theoretische Fundament der vor liegendenStudiebildenkann,sobietetsichzunächstdessenNegativbestimmung an. Demnach ist der Diskurs „ohne Körper, ein ebenso stummer Laut wie ein  62 Die Unterschiede und Beziehungen zwischen Foucault und Habermas behandeln beispielsweise Kelly(1994)undAshenden/Owen(1999).

3.2Wasistein„Diskurs“nachFoucault?

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Hauch,eineSchrift,dienurdasNegativihrereigenenSpurist.[...]Dermanifeste Diskurs wäre schließlich und endlich nur die repressive Präsenz dessen, was er nicht sagt.“ (Foucault 1990a, 39) An anderer Stelle bestimmt Foucault (1983, 123) Diskurseals„taktischeElementeoderBlöckeimFeldvonKräfteverhältnissen“,die spezifische ‚Wahrheiten’ hervorbringen. Der Diskurs wirkt sozusagen im Hinter grund, er produziert Effekte und bringt dasan derOberflächeSicht bzw. Wahr nehmbare hervor. Diese Formulierungen scheinen eher ungeeignet, um zu einem brauchbaren Arbeitsbegriff zu gelangen. In der „Archäologie des Wissens“ be merkt Foucault (1990a, 116) selbstkritisch, „dass ich, statt allmählich die so schwimmendeBedeutungdesWortes‚Diskurs’verengtzuhaben,seineBedeutung vervielfachthabe“,abererumreißtauchdasFeld,indemderDiskurssozusagen ‚dingfest’gemachtwerdenkann:„einmalallgemeinesGebietallerAussagen,dann individualisierbare Gruppe von Aussagen, schließlich regulierte Praxis, die von einer bestimmten Zahl von Aussagen berichtet“. Für einen operationalisierbaren Diskursbegriff wichtig sind demnach die ‚Aussagen’ und die ‚regulierte Praxis’, diesiehervorbringen(vgl.Mills2007,7).JürgenLinkundUrsulaLinkHeer(1990, 90) paraphrasieren den Diskursbegriff Foucaults so: „Unter ‚diskursiver Praxis’ wird[.]dasgesamteEnsembleeinerspeziellenWissenschaftsproduktionverstan den: bestehend aus Institutionen, Verfahren der Wissenssammlung und  verarbeitung,autoritativenSprechernbzw.Autoren,RegelungenderVersprachli chung,Verschriftlichung,Medialisierung.“ Tatsächlich,wennmansicheinenÜberblicküberFoucaultsmethodologische Werke – insbesondere „Die Ordnung der Dinge“ (1966/1990b), „Archäologie des Wissens“(1969/1990a)und„DieOrdnungdesDiskurses“(1971/1974)–verschafft, mussmankonstatieren,dassesihmunterderBezeichnungDiskursvorallemum eineBeschreibungundAnalysederOrdnungsmustergeht,diedenWissenschaften zu Grunde liegen. Auf diesen Kern des Foucault’schen Diskursbegriffs kommen wirspäterausführlichzurück(vgl.3.5.1).AndieserStellesollesgenügen,aufein dadurchmöglicherweiseentstehendesmethodologischesProblemaufmerksamzu machen:FüreineStudie,dieesinderEmpiriegeradenichtmitwissenschaftlichem Materialzutunhat,sondernsichimGegenteilmiteinerunüberschaubarenMasse analltagsweltlichenÄußerungenkonfrontiertsieht,müsstesichderFoucault’sche Diskursbegriffeigentlichalsungeeigneterweisen.ZumindestaufdenerstenBlick erscheint dieser Einwand überzeugend – allerdings nur dann, wenn man über sieht,dasssichFoucaultnienurfürinstitutionalisierteWissensordnungeninteres sierthat,sondernimmerauchfürdas,wassichaußerhalbdesDiskurses,inseinen Randzonen befindet. So verweist beispielsweise die Grenzziehung zwischen Ver nunft und Wahnsinn auf den gesellschaftlichen Ausschluss des Wahnsinns und

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

dessen Vereinnahmung durch den ‚rationalen’ Diskurs der Wissenschaften; auf dieseArtundWeise,soFoucault(1974,9),wird„derganzeunermeßlicheDiskurs desWahnsinnigen[...]zusinnlosemGeräusch“erklärt. Diskursive Ausschließungen zielen auf die „Unterwerfung des Diskurses“ (Foucault1974,31);ihre„Aufgabe“istes,„dieKräfteundGefahrendesDiskurses zu bändigen, sein unberechenbares Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohlicheMaterialitätzuumgehen.“(Foucault1974,7)Außerhalbderklardefi nierten,machtvollenWissenschaftenbefindensichalsoBereichedesSprechens,die zwar von der Macht durchdrungen sind, jedoch im Grunde ungeregelt und un kontrolliert verlaufen. Diese diskursiven Randzonen folgen nicht bestimmten Re geln;siesorgenfürIrritationen,lösenUnruheaus:„Unruheangesichtsdessen,was derDiskursinseinermateriellenWirklichkeitalsgesprochenesodergeschriebenes Dingist;UnruheangesichtsjenervergänglichenExistenz,diezweifellosdemVer schwindengeweihtist,[…]verdächtigeUnruhevonKämpfen,Siegen,Verletzun gen,ÜberwältigungenundKnechtschafteninsovielenWörtern,derenRauheiten sich seit langem abgeschliffen haben.“ (Foucault 1974, 6f.) An den Rändern des DiskursestretendessenMachtwirkungenbesondersdeutlichhervor;dabeiistder Diskurs„nichteinfachdas,wasdasBegehrenoffenbart(oderverbirgt):Eristauch Gegenstand des Begehrens; und der Diskurs – dies lehrt uns immer wieder die Geschichte–istauchnichtbloßdas,wasdieKämpfeoderdieSystemederBeherr schunginSpracheübersetzt:eristdasjenige,worumundwomitmankämpft,erist dieMacht,derenmansichzubemächtigensucht.“(Foucault1974,8) Festgehaltenwerdenkann:FürdasandenRandzonendesDiskurseserzeugte polymorphe‚Wuchern’hatsichFoucaultsehrinteressiert,geradeauchweilessich einerdiskursanalytischenErfassungzuentziehenvermag.Selbstinseinemstreng gegliederten Methodenbuch wirft er die Frage auf, ob sich die „Archäologie auf das Gebiet der wissenschaftlichen Diskurse beschränkt“ oder ob nicht vielmehr ihre„Analyseformen[…]eineganzandereAusdehnunghabenkönnen.“(Foucault 1990a, 274) Diskurstheoretische Ansätze, die sich auf Foucault beziehen,63 greifen daherdiese‚Unruhe’desDiskursesaufundfragennachdensichhieräußernden Elementen von Veränderung. Demnach können Diskurse sowohl die Rolle von „Ordnungshütern“ als auch von „Rebellen“ einnehmen; sie können Bestehendes

 63 HanneloreBublitz(2003,9)betontinAnlehnunganFoucault,dassDiskurseals„insichheteroge ne Produktions und Konstitutionsbedingungen einer gesellschaftlichen Wirklichkeit gelten, von derangenommenwird,dasssieaufderVerselbständigungkonstruktiverProzesseundsubjektlo ser Operationen sowie ihrer Performanz beruht und dass sie sich in materiellen Anordnungen, TechnologienundPraktikenmanifestiert.“

3.3Exkurs:„Fragen“und„Kommentieren“als„Sprechakte“

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festschreiben, aber sie können durchaus auch „als movens moderner Gesellschaf ten“(Bublitzu.a.1999,12;Hervorh.dort)begriffenwerden.64 Nach Foucault muss man sich die transformierende Kraft von Diskursen als konfrontatives, konflikthaftes Spannungsfeld vorstellen (vgl. Dreyfus/Rabinow 1994b,100).UnsereKultur,sokonstatierter,pflegenurvordergründigeine„Ver ehrung des Diskurses“: Die scheinbare „Logophilie“ entpuppe sich bei näherer BetrachtungalsIdealisierung;sieverbergeeine„tiefeLogophobie“,nämlich„eine stumme Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzli ches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen, unaufhörlichenundordnungslosenRauschendesDiskurses.“(Foucault1974,34f.) Auch wenn Foucault dieses ‚ordnungslose Rauschen des Diskurses’, dieses Spre chen‚amRande’,nichtzumausdrücklichenGegenstandseinerAnalysengemacht hat,soschreibterihmdocheinebesondereQualitätzu.

3.3 Exkurs:„Fragen“und„Kommentieren“als„Sprechakte“ Den von Foucault aufgeworfenen Fragen nach dem Verhältnis von Struktur und Handlung,vonOrdnungund‚Wuchern’,vonRegelmäßigkeitundEreignishaftig keit, von Wissen und Macht werden wir an verschiedenen Stellen dieser Studie wiederbegegnen.Dochzunächstmachtes–ineinemZwischenschritt–Sinn,die für das untersuchte Internetforum typischen Äußerungsformen „Fragen“ und „Kommentieren“ näher zu betrachten. Dabei erweist sich ein Bezug auf die Sprechakttheorie als hilfreich. Tatsächlich impliziert auch die Foucault’sche An nahme, dass sprachliches Handeln eine regelgeleitete Praxis darstellt, einen ent sprechenden Anschluss; allerdings ist dieser von ihm selbst nicht ausgearbeitet worden. Im Anschluss an den Foucault’schen Diskursbegriff schlagen Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow (1994b, 72) vor, den Begriff „seriöser Sprechakt“ zu verwenden; auf Grund von Systematisierung und Institutionalisierung erheben ‚seriöseSprechakte’(nämlichWissenschaften)denAnspruch,dasSagbareunddas Legitimefestzulegen(vgl.Dreyfus/Rabinow1994b,88).Entsprechendbietetessich an, die in dem 1000 FragenForum gesammelten Fragen und Kommentare als ‚nichtseriöse’ Sprechakte zu betrachten, da sie außerhalb des Wissenschaftssys  64 Bublitz(2003,16)beschreibt,unterBerufungaufJudithButler,dieveränderungswirksamenEffek tevonDiskursenalsPrinzipder„StillenPost“.DemnachbringenritualisierteWiederholungenau tomatisch ‚Verfehlungen’ hervor; es kommt somit zwangsläufig zu diskursiven Veränderungen, dieindiesemKonzeptnichtmehralsutopischerGegenentwurf,sondernals„ununterbrocheneAl ternierung“(Mersch1999,162)gedachtwerden.

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

tems,indemdiffusenRaumderZivilgesellschaft,alseinSprechen‚amRand’ent standensind.WasabermeintderBegriffdesSprechaktes? Die pragmatisch ausgerichtete Sprechakttheorie stammt von John R. Searle, derimAnschlussanJohnL.AustinsVorlesungen„Howtodothingswithwords“ (1986)versuchthat,dieHandlungsaspektevonSprachezuexplizierenundRegeln zuderenmethodischenErfassungzufinden.Ausgegangenwirdvonzweigrund legendenAnnahmen:ZumeinenwirdSprechenalsregelgeleitetesVerhaltenver standen; zum anderen gelten nicht Wörter oder Sätze als die Grundeinheiten sprachlicher Kommunikation, sondern es ist „der Vollzug eines Sprechaktes, in dem ein sprachliches Symbol geäußert wird.“ (Prechtel/Burkard 1999, 565) Searle (1971)differenziertdenSprechaktaufvierEbenen.Der„Äußerungsakt“bestehtin der Wiedergabe von Wortreihen. Der „propositionale Akt“ bezieht sich auf die ÄußerungvonWörternimSatzzusammenhang,alsoaufdenAussageinhalt.Jeder propositionale Akt steht wiederum in Abhängigkeit zu einem „illokutionären Akt“.DieserbezeichnetdieintentionaleEbenederÄußerung(z.B.befehlen,strei ten, eine Feststellung machen, eine Frage stellen, kommentieren), d.h. man kann nichtaufeinObjektverweisenundesbeschreiben,ohneeinenillokutionärenAkt zu vollziehen (vgl. Prechtel/Burkard 1999, 566). Bezogen auf die Wirkungen, die derSprechaktaufdieSprechadressatenhat(z.B.durchBefehlenjemandenzuet wasbringen,durchStreitenjemandenüberzeugen,durcheineFeststellungjeman den amüsieren), spricht man von einem „perlokutionären Akt“. Charakteristisch für diesen Akt ist sein Stellenwert als die kleinste Bedeutungseinheit einer Ver ständigung(Searle1971,164). DieviervonSearle(1971,84ff.;2001,171ff.)herausgearbeiteten,dynamischen BestandteilederKommunikationfolgenbestimmtenRegeln,diefürdasGelingen von Sprechhandlungen konstitutiv sind (Prechtel/Burkard 1999, 566). Ohne diese FestlegungenkanneskeineVerständigunggeben(Schulte2004,30ff.).Inanderen Worten:WährenddieerstendreiAktedieformalenGrundlagenderKommunika tion definieren, verweist der perlokutionäre Akt auf die Effekte des Sprechens beimGegenüber.NebendenrationalenRegelndesSprechaktesbeeinflussensomit auch Konventionen und deren Anwendung in der intersubjektiven Bezugnahme dieKommunikation. UmdieBedeutungderSprechakttheoriebessereinschätzenzukönnen,istes hilfreichzuwissen,dasssichSearleaußeraufAustinauchaufLudwigWittgens tein(1989)bezieht,derdenBegriff„Sprachspiel“zurKennzeichnungvonSprache als einer Handlung in einem jeweils spezifischen Kontext eingeführt hat (vgl. Schütt 2004). Neben Bitten, Erklären, Grüßen etc. stellt beispielsweise das Fragen ein zentrales Sprachspiel dar. Bedeutung stellt sich nach Wittgenstein in „perfor

3.3Exkurs:„Fragen“und„Kommentieren“als„Sprechakte“

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mativen Aussagen“ (Reuter u.a. 1988) her; so wird beispielsweise unter „Privat sprache“einSprachspielverstanden,beidemprinzipiellnurderSprecheroderdie Sprecherin selbst um die Bedeutung des Gesprochenen wissen kann, z. B. wenn unmittelbare persönliche Empfindungen wiedergegeben werden. Wittgenstein kommtallerdingszudemErgebnis,dassdiePrivatspracheaufgrundihrerschwer zu fassenden Regeln und multiplen Wahrheitsbedingungen einer näheren Unter suchungkaumzugänglichist(vgl.Lenk1995,246ff.;Pears1988,224;361ff.).65 An dieser Stelle werden innerhalb von handlungsorientierten Sprachtheorien ähnlicheSchwierigkeitenoffenbar,wiesieFoucaultfürdas‚WucherndesDiskur ses’, nämlich für die ereignisorientierten, außerhalb der Macht liegenden, nicht wissenschaftlichenFormendesSprechensfestgestellthat.IneinemVortrag,dener 1973 in Brasilien gehalten hat, bezieht er sich explizit auf das Konzept des (nicht nur sprachlichen) Spiels und stellt dabei die eher strengen Vorgaben sowohl der Archäologie als auch der Sprechakttheorie in Frage, ohne die Hoffnung auf die MöglichkeiteinertheoretischfundiertenUntersuchungaufzugeben: „VoreinigenJahrenwaresnochoriginellundwichtig,zusagenundzuzei gen, dass alles, was man mit Sprache macht – Poesie, Literatur, Philosophie, der Diskurs im Allgemeinen –, bestimmten Gesetzen gehorche und gewisse innere Regelmäßigkeitenaufweise,beidenenessichumdieGesetzeundRegelmäßigkei ten der Sprache handle. Der linguistische Charakter der sprachlichen Tatsachen warzu seiner Zeit eine wichtige Entdeckung. Heute aber ist es an der Zeit,diese DiskursphänomenenichtmehrnuruntersprachlichemAspektzubetrachten,son dern[…]alsSpiele,alsgames,alsstrategischeSpieleausHandlungenundReaktio nen, Fragen und Antworten, Beherrschungsversuchen und Ausweichmanövern, das heißt als Kampf. Der Diskurs ist jenes regelmäßige Ensemble, das auf einer EbeneaussprachlichenPhänomenenundaufeineranderenausPolemikundStra tegienbesteht.“(Foucault2000,671;Hervorh.dort) „FragenundAntworten“–diesebeiden,vonFoucaultinseinemVortrageher enpassanterwähntenSprachspielesindfürdasuntersuchteInternetformvonzen tralerBedeutung;betrachtenwirsiedeshalbimFolgendenetwasgenauer.Bereits bei der Konzeption des Internetforums „1000 Fragen zur Bioethik“ wurde eine wegweisende Entscheidung getroffen: Die Bevölkerung sollte nicht zu Äußerun gen, Statements oder Argumentationen aufgefordert werden, sondern dazu, Fra gen zu stellen. Warum? Wie dargelegt, ging der Projektträger offensichtlich von  65 ZuähnlichenSchlussfolgerungenkommtWittgensteinbeiseinerReflexionüberSinnundBedeu tung bzw. über den „Unsinn“ (vgl. Glock 2004; MoyalSharrock 2004). Dieser Bereich des Spre chenskannauchmitdenrationalenRegelndesSprechaktesunddendiskursanalytischenForma tionsregelnnichterfasstwerden.

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

der Annahme aus, dass Fragen vor allem „Gesprächsangebote“ sind (Aktion Mensch 2003b, 47). Tatsächlich zeigt allein eine oberflächliche Betrachtung des Materials,dassganzverschiedeneFragetypenzurAnwendungkommen.DieFülle der eingegebenen Fragen lässt sich grob in Informationsfragen, strategische (oder taktische)FragenundschließlichphilosophischeFragengliedern(vgl.Heitsch1999, 10). Im alltäglichen Gesprächshandeln stellen Fragen Kommunikationsangebote dar. Sie drücken Unsicherheit, Unwissenheit und Uninformiertheit aus, erlauben das Einbringen von Gefühlen und eigenen Erfahrungen. Fragen signalisieren zu dem Differenziertheit, Vorsicht und Nachdenklichkeit ebenso wie Offenheit und Unabgeschlossenheit. Auf jeden Fall haben Fragen Vorschlagscharakter, denn sie thematisieren, worauf es bei der Betrachtung eines Gegenstandsbereichs ankom menkann(vgl.Anghern1999,199). WährenddieFoucault’scheDiskurstheoriefürdieFragekeinenrechtenBlick hat,stehtsieinderDiskursethikanzentralerStelle.HabermasdenktdieFrageals MittelzurVerständigungundAufklärung,derphilosophischenReflexionunddes Erkenntnisgewinns,vonSelbstundWelterkundung,KritikundKonsensfindung, kurz gesagt: Er stellt sie in einen demokratietheoretischen Bezugsrahmen (vgl. Habermas1991,82ff.).DasFragenalsInstrumentvonAufklärungundEmanzipa tion gilt als ein „sokratisches Prinzip“ (Anghern 1999, 192), nach dem Motto: ‚Es gibt keine dumme Frage’. Aus dieser Sicht gilt jeder Sprechakt des Fragens als „Fortsetzung des abendländischen Gesprächs“ (Rorty 1989, 427) und man kann Kant(1974,9)auchsolesen:„HabeMut,dich[mittelsFragen,d.Verf.]deinesei genenVerstandeszubedienen“. Das diskursethische Konzept des Fragens knüpft an das Gesellschaftsmodell derAthenischenDemokratiean(vgl.Piepenbrink2003).DieBürgerdesStadtstaa tesbesprachenFragen,diediepolitischeWeichenstellungihresLandesbetrafen,in aller Öffentlichkeit auf dem Marktplatz. An den Versammlungen durften aller dingsnurfreie,volljährige,männlicheBürgerteilnehmen;Frauen,Ausländerund Sklavenwarenausgeschlossen.GegenüberdiesenMachtverhältnissennahmendie SophisteneinekritischeHaltungein;ihreHauptgegnerwiederumwarenSokrates und sein Schüler Platon. In den Schulen der zuletzt Genannten bildete man das Nachfragen (‚sokratisches Fragen’) als Mittel des Erkenntnisgewinns aus. Die Erarbeitung philosophischen Wissens unter einer Vernunftperspektive und die Herausbildung einer moralischen Haltung im Dialog sollten vor allem die Argu mentationsfähigkeit für die politische Debatte schulen, nicht jedoch deren Rah menbedingungengrundlegendinFragestellen. Der Frage kommt also tendenziell eine kritische, aufrührerische und damit verändernde Funktion zu. Tatsächlich gibt es ‚bedeutsame’ Fragen, die „etwas

3.3Exkurs:„Fragen“und„Kommentieren“als„Sprechakte“

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ganzanderes“auslösenalsdas,womitüblicherweisegerechnetwird(Rorty1989, 31). Welch folgenreiche Wirkung beispielsweise die Frage „Wer ist schuld?“ zu Beginn der 1860er Jahre im Milieu der St. Petersburger intellektuellen und politi schen Elite hatte, beschreibt Fjodor Dostojewski (1988, 490ff.) in seinem Bühnen stück mit dem Titel „Eine bedeutsame Frage“. Er zeigt, wie die Frage nach einer individuellzurechenbarenSchuldzunächstalsGerüchtuntergründigwirkt,bissie schließlich,inFormeinesöffentlichenSkandals,gesellschaftsveränderndeProzesse auslöst.Eineeinzige,offensichtlichamrichtigenOrtundzumrichtigenZeitpunkt gestellte Frage, die das Unbehagen breiter Bevölkerungskreise auf den Punkt bringt,entfalteteinenichtvorhergeseheneWirkung.SiehatzurFolge,dassman sich auf die Suche nach den Ursachen der gesellschaftlichen Unzufriedenheit be gibt.BedeutsameFragenkennzeichnenimmerwiederWendepunktederGeschich te, ihnen wohnt eine gewisse „Unabschließbarkeit“ inne (Anghern 1999, 204). So leitete die Frage ‚Was ist Wahrheit?’ die erkenntniskritische Phase der europä ischenPhilosophieein(Heitsch1999,16)unddieFrage‚WieisteszudenZustän den gekommen, in denen die Menschen gegenwärtig leben?’ gab den Impuls für dasDenkeninhistorischenKategorien. NichtnurHabermas,sondernauchFoucaultbeziehtsichaufPolitikkonzepte der Antike. Während Habermas sich auf die sokratische Philosophie des Fragens beruft,sympathisiertFoucaultmitdensophistischenVordenkern.Fürihnmarkiert das Auftauchen eines von „platonischen Grenzziehungen“ (Foucault 1974, 13) geprägten theoretischen Wissens ein neues MachtWissen und damit den großen WendepunktdergriechischenGeschichte.Derbisdahingültigepragmatischeund poetische Diskurs sei durch einen technologischen und metaphysischen Diskurs ersetztworden(Foucault1974,11f.).66FoucaultweistdaherauchdieKonstruktion eines idealisierten Menschenbildes zurück, wie es bei Sokrates erkennbar ist und später in der Aufklärung wieder aufgegriffen wird. Ihm zufolge kommt der MenschnichtzuErkenntnissendurchsichselbstbzw.einenLehrer,sondernkons tituiert sich immer nur im Kontext von Machtverhältnissen (Foucault 2004). In diesemSinneargumentiertFoucault(1984a,16)inseinemAufsatzüberdieAufklä rung,dasssichdieBedeutungdesFragensseitdem18.Jahrhundertgrundlegend gewandelthabe;währendheutenurnoch„Meinungen“ausgetauschtwürdenund  66 DassokratischeGesprächberuhtnurimIdealfallaufGegenseitigkeitmitdemZieldergemeinsa menWahrheitssuche.InderautoritärpädagogisiertenForm,wieSokratesesdurchführte,wares sehrhierarchischstrukturiert(Platon2000,8f.).DieseNegativfoliedesaufklärerischenAnliegens unterstreichtauchGottfriedBoehm(1999,239):DemnachhatdiestrengdialektischeMethodedes sokratischenGesprächsmitihreraufLogik,RationalitätundEindeutigkeitberuhendenDenkform die fragile Singularität, die sinnliche Rhetorik und Suggestionskraft der antiken Kunst an den RandderWahrnehmunggedrängt.

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

jederzuallemeineMeinunghabe,seienzuvorFragenindieÖffentlichkeitgetra gen worden. Dazu hätten auch unliebsame, für Unruhe sorgende Fragen gehört, ähnlichbeispielsweisederKritik,diedieSophistenundandereVertretermargina lisierter philosophischer Strömungen in der griechischen Antike forciert hätten. Solche Fragen provozieren, manchmal sogar ganz bewusst, indem durch sie bis lang existierende Grenzziehungen und Regeln wortwörtlich ‚in Frage gestellt’ werden. DassauchimFalleunseresempirischenMaterialsGrenzbereichedesSagbaren berührt werden, fällt bei einer ersten Sichtung sofort auf. Viele der „1000 Fragen zur Bioethik“ sind offenbar in strategischer Absicht formuliert; nach dem Motto ‚Ich frage ja bloß’ heißt es etwa: „Darf ich einen Klon herstellen um mein Leben mit seinen‚Ersatzteilen’zuverlängern?“(Thread3623)EsentstehtderEindruck,dassder SprechaktderFragequasials‚Verkleidung’benutztwird,alsMaskeodercamouf lage,umausderunangefochtenenPerspektiveeinesvermeintlichnachdenklichen FragendenumsoungehemmterPositionenformulierenzudürfen,dieinderForm vonAussagesätzenalszubrisantoderheikelgelten.EinTabubruchscheintmittels einer Frage eher möglich, denn die Form der Frage bietet sozusagen ‚Rückende ckung’, die Möglichkeit einer Defensive im Sinne ‚Ich habe ja bloß gefragt’.67 Ge wissermaßen wird hier die ‚Unschuld’ des Fragens benutzt, um bislang ausgeg renzte Diskurspositionen ins Gespräch bringen zu können. Dieser manchmal be wusste, manchmal auch nichtintentionale Einsatz des Sprechaktes Fragen zielt primärnichtdaraufab,‚einfachnuretwas’zufragenausderAbsichtheraus,In formationenzuerhaltenunddieeigenenWissenslückenzufüllen;vielmehrwird das Fragen hier zu einer Strategie, um einen Gegenstand zu formen, Begriffe zu konstruieren, Diskurspositionen zu formulieren und die Richtung des Diskurses zulenken. Eine diskurstheoretischeVerortung desFragens geht demzufolgedavon aus, dass im Fragen stellen ein MachtWissen zum Ausdruck kommt, und zwar in dreierlei Hinsicht: Zum einen kann die Frage zur Beschränkung von Diskursen genutztwerden,z.B.indemsieimmerauchetwasnichtthematisiert.Zumanderen erfülltsiedieFunktiondesagendasetting;wirktalsostrukturierendundrichtung sweisend. Kurz, Fragen stellen ‚Relevanz’ (und somit auch ‚NichtRelevanz’) her. Drittens eignen sich Fragen zur Anheizung und Intensivierung von Debatten; sie  67 BeispielefürdenstrategischenEinsatzvonFragen–geradeauchimbioethischenDiskurs–gibtes genug,soz.B.dieFragedesBuches„ShouldtheBabyLive?“(vgl.Kuhse/Singer1987).Mitseiner Rezeption in Deutschland startete die so genannte ‚SingerDebatte’, eine heftige Auseinanderset zungumdenBioethikerPeterSinger,derdieTötungschwerkrankerNeugeborenerausutilitaristi schenErwägungenbefürwortet.

3.3Exkurs:„Fragen“und„Kommentieren“als„Sprechakte“

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forcieren möglicherweise Umbrüche in Diskursen. Versteht man das Fragen als diskursives Handeln, dann ist auch der gewissermaßen ‚unschuldig’ daher kom menden Frage Macht inhärent – und nicht nur dem Kommentar als dem Spre chakt,mitdemsichFoucaultin„DieOrdnungdesDiskurses“(1974,16)und„Die GeburtderKlinik“(1988b,14)explizitbeschäftigthat. Diskurstheoretisch betrachtet ist der Kommentar, der auch im 1000 Fragen Forumeinewichtige Rolleeinnimmt,BestandteildesregelgeleitetenSystemsvon Sprechakten. Foucault zufolge hat der Kommentar zum einen strukturierende Funktionen;ersorgtdafür,dassdas‚WucherndesDiskurses’ingeordneteBahnen gelenkt wird. Zum anderen erfüllt er eine ‚Verknappungsfunktion’; er gehört zu den internen Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses (Fou cault1974,16ff.).DerKommentarwirkt‚schließend’;erlegtThemenfest,präsen tiertWissenundfülltdieArgumentationaus.ErbeziehtsichaufzuvorGeäußer tes,greiftesauf,gibtihmeineRichtung,kurzgesagt:ErordnetdasGesagte.Nach Foucault(1974,18)wird„dieoffeneVielfaltunddasWagnisdesZufalls[...]durch dasPrinzipdesKommentarsvondem,wasgesagtzuwerdendroht,aufdieZahl, die Form, die Maske, die Umstände der Wiederholung übertragen. Das Neue ist nichtindem,wasgesagtwird,sondernimEreignisseinerWiederkehr.“Allerdings solltedieWirkungdesKommentarsnichtüberschätztwerden,denn„welcheMe thoden er auch anwenden mag, er hat nur die Aufgabe, das schließlich zu sagen, was dort schon verschwiegen artikuliert war“ (Foucault 1974, 18; Hervorh. dort). Kommentieren bedeutet also immer, auf etwas Anderes Bezug zu nehmen. Der Kommentar, so wie Dreyfus/Rabinow (1994b, 152f.) ihn verstehen, paraphrasiert zuvorGesagtesundentfaltet„dieOberflächenbedeutungendesoderderzuinter pretierenden Texte oder Praktiken“; er hilft so, „die den Akteuren gemeinsamen Hintergrundbedeutungen weiter aus[zu]arbeiten.“ Erst wenn die Primärtexte – alsojeneDiskurse,die„überihrAusgesprochenwerdenhinausgesagtsind,gesagt bleibenundnochzusagensind“(Foucault1974,16;Hervorh.dort)–ihreBedeu tungverlieren,übernimmtderKommentardenerstenPlatz. WelcheRelevanzhabendieseÜberlegungenfürdieempirischeUntersuchung des1000FragenForums?Zunächstistfestzuhalten,dassknapp60%,alsomehrals dieHälftederFragen,mehrereKommentareaufsichgezogenhaben(vgl.6.3.3).Im Endergebnisstehendenuntersuchten10.000FrageneinVielfachesanKommenta ren, nämlich fast 35.000 Beiträge gegenüber. Die kommentierenden Äußerungen haben einerseits eine Engführung der eingangs gestellten Fragen bewirkt. Ande rerseitslässtsichanvielenStellenaberaucheineVervielfältigungderthematisier ten Aspekte beobachten und die Ausgangsfrage hat im weiteren Verlauf vieler Threadskeine zentraleRolle mehr gespielt. Wenn es Kommentare gab, habensie

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

zumeist die Diskussionsstränge dominiert und ihnen eine Richtung gegeben. Sie haben also das thematische Feld verknappt und es zugleich für wiederum neue Kommentaregeöffnet. Außerdem ist bemerkenswert, dass21,9% der Fragen garkeineKommentare hervorgerufenhabenundaufweitere20%derFragennureineinzigerKommentar gefolgtist(vgl.Tabelle9).AndieserStellegewinntmandenEindruck,dasslängst nichtjedeformulierteFragetatsächlicheinedasGesprächeröffnendeFunktionhat; vielmehr scheint es auch Fragetypen zu geben, die eine Bezugnahme blockieren. DieserAspektmachtebenfallsdaraufaufmerksam,das–zumindestimuntersuch ten Internetforum – die diskursive Wirkung der Frage mit derjenigen des Kom mentarskonvergiert:BeideSprechaktehabenfürdenDiskursimWesentlichendie gleiche Funktion; sie stimulieren und setzen einen Reiz und sie wirken verknap pend und beschränkend. Entsprechend sollen sie der empirischen Untersuchung nur als sprachstrukturierendes Gerüst dienen und analytisch nicht einer unter schiedlichen,sonderneinergemeinsamenBetrachtungunterzogenwerden.

3.4 „Äußerung“und„Aussage“alsdiskursanalytischeInstrumente ImUnterschiedzurFrageundzumKommentar,beidenendiediskurstheoretische Betrachtung offenbart, dass zumindest in methodologischer Hinsicht eine Unter scheidung nicht notwendig ist, erweist sich die diskurstheoretische Differenzie rungzwischen‚Äußerung’und‚Aussage’,dieimFolgendennachvollzogenwird, für die Diskursanalyse des 1000 FragenForums von großer Relevanz. Im Mittel punktderFoucault’schenAuseinandersetzungmitSprechaktenstehenderenlogi sche, grammatikalische und sprecherbezogene Verflechtungen (Foucault 1999b, 53). Es sind jedoch nicht die sprachanalytischen Grundlagen und auch nicht die Subjekte,diealsQuelledesDiskursesangesehenwerden,sondernein„anonymes Feld“ (Foucault 1990a, 177) von Praktiken. Kurz gesagt: Diskurse bestehen dem französischenStrukturtheoretikerzufolgeausSystemenvon‚Aussagen’. Was aber sind ‚Aussagen’? Diesem für die Diskurstheorie zentralen Konzept nähert sich Foucault, indem er Aussagen mit Sprechakten sowie mit Sätzen und Propositionen vergleicht. Die Bildung von Propositionen gehorcht ihm zufolge anderen Regeln als die von Aussagen. Dagegen gibt es durchaus Ähnlichkeiten zwischen Aussagen und Sätzen (Foucault 1990a, 118). Indessen wird der Unter schiedzwischenAussagenundSprechaktenalsfundamentalangesehen:Während SprechaktenurdielinguistischeGrundlagevonÄußerungendarstellen,berühren Aussagen die Wissensordnungen ganz direkt (Foucault 1990a, 122). Sprechakte bestehendemnachausÄußerungen,sowiesieander‚Oberfläche’erscheinen,also

3.4„Äußerung“und„Aussage“alsdiskursanalytischeInstrumente

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sichtbarwerden;möglicherweiseverweisensieaufdieAussagen,diedenDiskurs generieren,allerdingsmüssendiesemitHilfevonFormationsregeln(vgl.5.2)erst ‚lesbar’gemachtwerden. In dem Spannungsfeld von Ereignishaftigkeit und Ordnung, das jeden Dis kurs prägt, stellt demzufolge die Äußerung (énonciation) das Konzept niedrigster Ordnung bzw. höchster Ereignishaftigkeit dar. Jeder Äußerung ist einmalig und kannstetsineinemRaumZeitKoordinatensystemgenaubestimmtwerden.Folg lich gibt es keine zwei Äußerungen mit denselben Koordinaten (Foucault 1990a, 148).ImUnterschiedzurÄußerungstelltdieAussage(énoncé)einKonzepthöherer Ordnungdar;siebildetdieStrukturdesDiskurses.Mankönntesichauch,schlägt Foucault (1990a, 116f.) vor, die Aussage als ein „Atom des Diskurses” vorstellen, „alseinletztes,unzerlegbaresElement,dasinsichselbstisoliertwerdenkannund in ein Spiel von Beziehungen mit anderen ihm ähnlichen Elementen eintreten kann”.DefiniertwirdsiedurchdieseBeziehungen;ausdiesemGrundistsie,wie Foucault (1990a, 126f.) betont, eben „keine Einheit [.], sondern eine Funktion, die einGebietvonStrukturenundmöglichenEinheitendurchkreuztundsiemitkonk retenInhalteninderZeitundimRaumerscheinenläßt.“Dementsprechendgibtes Foucault(1990a,133ff.)zufolgevierMerkmalevonAussagen:a)EineAussagehat immereinReferential,andemdasAussageniveaueinerÄußerungnachvollzogen werdenkann,b)eineAussagehatimmereinebestimmteBeziehungzueinerSub jektposition, c) eine notwendige Bedingung für die Aussagefunktion ist die Exis tenzeines„assoziiertenGebiets“oderFeldes,d)eineAussagemusseinematerielle Existenzhaben.EineAussageistalsonurAussageinBeziehungzugenauderdis kursivenFormation,diegeradeuntersuchtwird.InanderenWorten:Diediskursi ve Formation ist für die Aussagen „ein Gesetz der Koexistenz“ (Foucault 1990a, 170),empirischnachweisbarinderStreuung. Da es sich bei einem Diskurs also um ein Konstruktionssystem möglicher Aussagen (Foucault 1999b, 50) handelt, ist es das Ziel der Diskursanalyse, „die Aussage in der Enge und Besonderheit ihres Ereignisses zu erfassen; die Bedin gungenihrerExistenzzubestimmen,aufdasGenauesteihreGrenzenzufixieren, ihreKorrelationenmitdenanderenAussagenaufzustellen,diemitihrverbunden sein können, zu zeigen, welche anderen Formen der Äußerung sie ausschließt.“ (Foucault 1990a, 43) Da die Aussage aber, wie wir gesehen haben, als „Funktion des Anwendungsfeldes, in das sie sich eingehüllt findet“ (Foucault 1990a, 152), betrachtetwerdenmuss,istihreBestimmungerstdurchdieAbgrenzungdesFor schungsfeldesunddieentsprechendeFragestellungmöglich.ReinerKellerbenutzt fürdieBeschreibungdiesesSachverhaltseineMetapherausderOptik:„[D]ieUn tersuchungdiskursiverFormationen[ist]alsTypisierungsprozessangelegt[.],der

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

inAbhängigkeitvondenjeweiligenFragestellungenderAnalysemitunterschied licher Tiefenschärfe betrieben werden kann.“ (Keller 2005, 224) Wie Foucaults „OrdnungderDinge“verdeutlicht,könne„dieEbene,aufderentsprechendeFor mationsbildungen untersucht werden, durchaus unterschiedlich angesetzt wer den.“(Keller2005,224)DerBlickaufdieEpistemeentsprichtdemnacheinerMak roperspektive,währenddieAnalyseeinzelnerWissenschaftsdisziplineninnerhalb einer historischen Diskurskonfiguration eine Stufe tiefer anzusetzen ist. Auch die innerhalb von Disziplinen vorzufindenden Subformationen können Gegenstand vonDiskursanalysensein. Foucault(1990a,224)fordertmitseinemdiskursanalytischenProgrammdazu auf,alsAussagen„ebensoabstrakteundebensoproblematischeEinheitenzukons truieren,stattdiezunehmen,die[...]einerquasiperzeptivenVertrautheitgegeben waren”.DabeiwirddieAussagenichtetwa„durchdiegeheimePräsenzdesNicht Gesagten, der verborgenen Bedeutungen, der Repressionen heimgesucht“ (Fou cault1990a,160).Insofernstelltauchdas‚Interpretieren’imhermeneutischenSin ne für Foucault nur eine Weise dar, „auf die Aussagearmut zu reagieren und sie durchdieVervielfachungdesSinnszukompensieren.“EinediskursiveFormation zu analysieren heißt vielmehr, „das Gesetz dieser Armut zu suchen, ihr Maß zu nehmen und ihre spezifische Form zu bestimmen“ (Foucault 1990a, 170). Die für eine solche Analyse typische Frage lautet folgendermaßen: „Was ist das für eine sonderbare Existenz, die in dem ans Licht kommt, was gesagt wird – und nir gendwo sonst?“ (Foucault 1990a, 43). Damit eine Aussage als Element eines Dis kurses betrachtet werden kann, muss sie sich also gewissermaßen diskursanaly tisch bewähren, nämlich sich in einen Zusammenhang von ‚Macht’ und ‚Wissen’ einfügen,d.h.sichimRahmeneiner‚diskursivenFormation’verortenlassen. SomitmeintDiskursanalyseimGrundeAussagenanalyse.Fürunsereempiri sche Untersuchung bleibt festzuhalten, dass im Internetforum – auch wegen der spezifischen medialen Rahmenbedingungen – ein komplexes Beziehungsgefüge zwischen‚Äußerung’und‚Aussage’vorzufindenseinwird.Keller(2005,229)führt diesen methodologisch relevanten Gesichtspunkt folgendermaßen aus: Die Äuße rung stellt „die konkret dokumentierte, für sich genommen je einmalige sprachli che Materialisierung eines Diskurses“ dar und die Aussage ist „der typisierbare und typische Gehalt einer konkreten Äußerung bzw. einzelner darin enthaltener Sprachsequenzen,dersichinzahlreichenverstreutenÄußerungenrekonstruieren lässt.“

3.5EineTypologiedesDiskursiven

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3.5 EineTypologiedesDiskursiven VagheitundAbstraktheitdesFoucault’schenDiskursbegriffslassenesalseinnicht ganzeinfachesUnterfangenerscheinen,dasInternetforum„1000FragenzurBioe thik“ unter diskursanalytischen Gesichtspunkten untersuchen zu wollen. Schließ lichhandeltessichnichtumeinenwissenschaftlichenZusammenhang,sondernim Gegenteilumeinmassenmedialinszeniertes‚Event’,dasdurcheinestarkeBeteili gung der allgemeinen Öffentlichkeit charakterisiert ist. Von der Zielsetzung des ProjektträgersheristdasForumgeradenichtaufdieProduktioneineswirkmäch tigen Aussagensystems angelegt, sondern auf das breite Sammeln von Äußerun gen aus dem Alltag und auf ein gleichberechtigtes, demokratisches und dialog orientiertes Miteinander. Aus diesem Grund ist es notwendig, im Folgenden die senFragennachzugehen:WobefindetsichdasInternetforumimdiskursivenFeld? ZuwelchemTypusvonDiskursgehörtes?AusgehendvonderinderDiskursfor schungmittlerweilegeläufigenUnterscheidungin‚Spezialdiskurs’,‚Interdiskurs’68 und ‚Elementardiskurs’ werden zunächst verschiedene Diskurstypen erläutert. DieseReflexionbildetdieGrundlagefürdieanschließendvorgenommeneVeror tungdesInternetforumsinderdiskursivenLandschaft(3.6).

3.5.1 Diskursals„Spezialdiskurs“ In„DieOrdnungderDinge“(Foucault1990b),einerAbhandlungüberdieBegriffe und die Gegenstände, „les mots et les choses“, derHumanwissenschaften,69 wird derAusdruckdiscourszunächstaufdieEpisteme70desklassischenZeitalterseinge schränkt. Foucaults Interesse gilt hier den Praktiken und Strukturen der Wissen schaften,oder,andersausgedrückt:demErkenntnisinteressealseinerelementaren Organisationsform des Wissens, das der Begriffsbildung voraus geht. In der drei Jahre später publizierten „Archäologie des Wissens“ (Foucault 1990a), die als das Methodenbuch Foucaults angesehen wird, stellt die epistemologische Basis des  68 DiazBone(2002a,178;2002b)hatmitdenBegriffen„kulturhegemonialerInterdiskurs“und„dis tinktiverDiskurs“VorschlägezurgenauerenErfassungdesInterdiskursesunterbreitet. 69 Vgl. den Titel der französischen Originalausgabe „Let mots et les choses. Une archéologie des scienceshumaines“(Foucault1966). 70 Wie in der „Archäologie des Wissens“ (Foucault 1990a, 273) formuliert, ist eine episteme „keine Form von Erkenntnis und kein Typ von Rationalität, die, indem siedieverschiedenstenWissen schaftendurchdringt,diesouveräneEinheiteinesSubjekts,einesGeistesodereinesZeitaltersma nifestiert; es ist die Gesamtheit der Beziehungen, die man in einer gegebenen Zeit innerhalb der Wissenschaften entdecken kann, wenn man sie auf der Ebene der diskursiven Regelmäßigkeiten analysiert.“

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

WissensdannnurnochdieKomponenteeinesvielumfassenderen„MachtWissen Komplexes“(Foucault/Gordon1980)dar.AlszentralesMerkmaldesDiskursesgilt nun,dasserdurchbestimmteRegelmäßigkeitengekennzeichnetist.Mitdeninder „Archäologie“herausgearbeitetenvierFormationsregeln,diedenDiskursstruktu rieren, den Gegenständen, Begriffen, Äußerungsmodalitäten und Strategien (vgl. Foucault 1990a, 61ff.), auf die im Rahmen unserer methodologischen Überlegun gen näher eingegangen wird (5.2), hat Foucault ein Handwerkszeug entwickelt, das es ermöglichen soll, die Regeln eines ‚mächtigen’ Wissens zu erkennen und, wie Jürgen Link (2005, 98) es formuliert, die „Etablierung von Grenzen der Sag undWissbarkeit“nachzuvollziehen. WiederumeinigeJahrespäter,inderAntrittsvorlesungamCollègedeFrance, die1971unterdemTitel„L’ordredudiscours“erscheint,richteteFoucault(1974) seine Suchbewegung direkt auf die Wissenschaften aus und verfolgte dabei eine Strategie,dieerbereitsimVorwortderdeutschenAusgabevon„DieOrdnungder Dinge“(1990b)angekündigthatte.SeineAbsichtwaresnun,„[…]dasWissenvon den Lebewesen, das Wissen von den Gesetzen der Sprache und das Wissen der ökonomischen Fakten“ – also die Biologie, die Sprache und die Ökonomie – zu untersuchen und „mit dem philosophischen Diskurs ihrer Zeit in Verbindung“ (Foucault1990b,10)zubringen. Die Diskursanalyse ist für Foucault also ein methodologisches Forschungs programm,umherauszufinden,wiedieSpezialisierungendesWissensstattgefun denundsichDisziplinenherausgebildethaben.DamitWisseneinenwissenschaft lichen Status erhält, müssen verschiedene Kriterien erfüllt sein:71 Zunächst muss das Subjekt – in seiner zufälligen, historischen, individuellen Subjektivität – nach bestimmten Regeln ‚verobjektiviert’ werden. Diese‚Verobjektivierung’ erfolgt auf der Grundlage von Teilungspraktiken: Durch Kategorisierung und Hierarchisie rungwerdenetwa,wieFoucault(1990b)herausgearbeitethat,Taxinomienerstellt. AusdieseWeisewerden„GrenzenneugezogenundDinge,diegewöhnlichweit auseinanderliegen“(Foucault1974,10),näherzusammengebrachtodernochwei ter voneinander getrennt.72 Außerdem werden durch „Prozeduren der Kontrolle  71 InderneuerenForschungzurWissenschaftsgeschichtewirdbetont,dassinsbesondereExperiment undLaboralsPraxisdenwissenschaftlichenErkenntnisstilprägen(vgl.Rheinberger1999;Rhein berger/Hagner1993). 72 BekanntistdieFoucault’sche(1974,17)IllustrationdieserzentralenArgumentationdurcheinZitat auseiner„chinesische[n]Enzyklopädie“,dasereinemTextvonJorgeLuisBorgesentnommenhat. Dortheißtes,dass„dieTieresichwiefolgtgruppieren:a)Tiere,diedemKaisergehören,b)ein balsamierteTiere,c)gezähmte,d)Milchschweine,e)Sirenen,f)Fabeltiere,g)herrenloseHunde,h) indieseGruppierunggehörende,i)diesichwieTollegebärden,k)diemiteinemganzfeinenPin

3.5EineTypologiedesDiskursiven

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und Einschränkungen des Diskurses“ (Foucault 1974, 15) die Möglichkeiten des SagundWissbarendefiniert.IndembestimmteAussagenausgeschlossenwerden, werden ‚Wahrheiten’ – ein weiteres zentrales Charakteristikum des Diskurses – produziert (vgl. Dreyfus/Rabinow 1994b, 44). Des Weiteren spielt für die Institu tionalisierung der Wissenschaften die „Verknappung [.] der sprechenden Subjek te“ (Foucault 1974, 26) eine bedeutende Rolle. Autorisierte Sprecher/innen legen fest, wasaufder Basisakzeptierter Methoden, beispielsweisederRegeln der dia lektischenArgumentation,desinquisitorischenVerhörsoderderempirischenBe stätigung,alslegitimerWahrheitsanspruchzugeltenhat.Schließlichgibtesneben diesen drei wissen(schaft)sinternen Ausschließungssystemen drei große äußere Ausschließungssysteme: „das verbotene Wort; die Ausgrenzung des Wahnsinns; derWillezurWahrheit“(Foucault1974,14). Festgehalten werden kann: Foucault entwickelt ein spezifisches Verständnis desDiskurses(Mills2007,17ff;31ff.).SchwerpunktmäßiggehtesihmumdieBe schreibungundAnalysedermachtvollenOrdnungsmuster,diedenWissenschaf tenzuGrundeliegen.DemnachistderDiskursvorallemalsDisziplin,alsspezielle ‚MachtWissenFormation’ zu begreifen. Entsprechend ist nicht jede Rede ‚über etwas’immerauchBestandteileinesDiskurses.Damitetwas,dasander‚Oberflä che’ auftaucht, als Element eines Diskurses betrachtet werden kann, muss es sich gewissermaßen diskursanalytisch bewähren, nämlich sich in einen Zusammen hang von ‚Macht’ und ‚Wissen’ einfügen, d.h. vor allem auch institutionell im Rahmeneiner‚Formation’verortenlassen.FolgtmanFoucault,istnichtderthema tische Fokus einer Vielzahl von Äußerungen leitend für die Bestimmung eines Diskurses (‚Worüber wird gesprochen?’), sondern das Ensemble von Aussagen, dasdurchinstitutionelleDisziplinierung,autoritativesSprechenundWissenspro duktionentsteht(‚Wieundwowirdgesprochen?’).

3.5.2 Diskursals„Interdiskurs“ JedochwärederRaumdesDiskursiven,würdemandenDiskursbegrifftatsächlich ausschließlichfürdieWissenschaftenreservieren,allzuengbestimmt.Wissenlässt sich nicht auf Spezialdiskurse reduzieren und die „Wissensgesellschaft“ (Jäger 2007;Keller2005,86ff.;Maasen1999,59ff.;Stehr2003,24)istbereitssprichwörtlich: InunseremlebensweltlichenHandelnrekurrierenwirständigaufWissensbestän de, deren Quellen sich zwar meist auf Spezialdiskurse zurückführen lassen, die  selausKamelhaargezeichnetsind,l)undsoweiter,m)gegenWasserkrugzerbrochenhaben,n) dievonweitemwieFliegenaussehen.“

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

sichjedochimalltäglichenGebrauchmitverschiedenenpopulärenWissensformen undelementenverbinden.TatsächlichlässtsichgeradeauchinderWissensgesell schaft parallel zur funktionalen Ausdifferenzierung von Wissensbeständen eine Diffundierung von spezialisiertem Wissen in den Alltag hinein beobachten. Link (2005,86)glaubtdaher,dasssich„inseinerkulturellenGesamtheitbetrachtet,der Prozess der diskursiven Produktion und Reproduktion [von Wissen] keineswegs alleinvonderTendenzzurSpezialisierungherbegreifen“lässt.Undweiter:„Of fensichtlichkönnen moderne differenziertspezialistische Kulturen sich nicht aus schließlichaufspezielleWissensbereichebeschränken,sondernbenötigenzuihrer ReproduktionzusätzlichumgekehrtalseineArtKorrelatbzw.Kompensationim merauchreintegrierendeWissensbereiche,diezwischendenSpezialitätenvermit telnund‚Brückenschlagen’.“(Link2005,87)NichtnurdenSpezialisten,auchganz allgemein den Subjekten fällt es schwer, sich anhand von Spezialdiskursen zu orientieren; zunehmend kommt es zu Verständigungsschwierigkeiten. Wissen schaftler/innen und Laiensind daherauf die vermittelnde Leistung des ‚Interdis kurses’angewiesen. Eruiert mandiesenBegriff, wird manauf verschiedene Ansätzetreffen.Fou cault (1990a, 224f.) selbst spricht von „interdiskursiver Konfiguration“ bzw. der „VerzahnungvonInterpositivitäten“undmeintdamitvorallemdieVerbindungen derSpezialdiskurseuntereinander.UmdiegesellschaftlichenBereichedesWissens indenBlicknehmenzukönnen,hatMichelPêcheux(1969)unterBezugnahmeauf Foucault und mit dem Verweis auf die „Metapher“ (Pêcheux 1984) ein Konzept vorgeschlagen, das den Blick auf außerwissenschaftliche Produktionsformen von Macht und Wissen ermöglichen soll. Seine Idee des Interdiskurses „erlaubt die Frage nach den Prozessen, unter denen sich diskursive Referenzen herstellen, in ihrer ganzen Tragweite zu stellen und ebenso die Alltagssprache (Alltagsfiktion) […] zu berücksichtigen.“ (Pêcheux 1984, 93) Verfolgt wird die Absicht, die Netz werkstrukturdesDiskursivenzurekonstruieren;imAnschlussanAlthusserhebt Pêcheux insbesondere auf die Widersprüchlichkeiten der Interdiskurse ab, die er gegen die Annahme einer Kohärenz von Diskursen setzt. Ihm geht es, so Rainer DiazBone(2005,78),umdie„AnalysevonInterdiskurseffekten“:Ideologiewirdin neuerWeiseals Sphäresozialer Konfliktegedacht, „diskursive Formationen wer den […] als ‚paradoxe Maschinen’ beschrieben.“ Während also Foucault den Be griffInterdiskursaufdietransdisziplinäreKommunizierbarkeitvonWissenschaf ten bezieht, versucht Pêcheux, die Widersprüchlichkeiten – im Sinne von Wider worten–vonWissensundMachteffektenaufzudecken(Link2006b).73  73 Von Pêcheuxs Bemühungen um eine Interdiskursanalyse ist vor allem seine „Analyse automati quedudiscours“(Pêcheux1969)bekannt,dieaufdieSystematisierungdesalltäglichenSprechens

3.5EineTypologiedesDiskursiven

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In Anknüpfung an Foucault und Pêcheux legt wiederum Link den Schwer punktaufdiePopularisierungvonElementendesSpezialdiskursesimbzw.durch den Interdiskurs. Im Begriffslexikon der von ihm und anderen herausgegebenen Zeitschrift„KultuRRevolution“(Link1982a,66)wirdderInterdiskursinAbgren zungzumSpezialdiskursdefiniert;anandererStellewirderalseine„gegenläufi ge,entdifferenzierende,partiellreintegrierendeTendenzderWissensproduktion“ (Link 2005, 86) bezeichnet, die durch Äußerungen gekennzeichnet ist, die eher konnotativundassoziativ,emotional,stilistischoderauchwertend,suggestivund vor allem mehrdeutig sind. Interdiskursives Material muss man sich „spontan produziert[.]“und„fluktuierend[.]“(Link2005,87)bzw.„mehroderwenigerfrei flottierend[.]“(Link1999,154)vorstellen.Link(2005,87)definiertdenInterdiskurs als Ensemble von „Diskurse[n], deren Spezialität sozusagen die NichtSpezialität ist“.Dazugehörtaucheinganzes„Gewimmelinterdiskursiver(z.B.symbolischer) ParzelleninallenDiskursarten[…]unddarüberhinauseigensinstitutionalisierte ‚Interdiskurse’wiePopulärreligion,‚Ideologien’,Populärwissenschaft“(Link/Link Heer 2002, 11) ebenso wie die „dominant interdiskursiv fundierten Wissenschaf ten“(Link1999,155).DieMerkmaledesInterdiskursessindMehrdeutigkeit,Selek tion und Symbolik. „Exempel, symbolische Modelle, narrative Schemata“ (Link 2005, 86) haben ebenso wie Metaphern und Kollektivsymbole eine besondere Be deutung. Diese Elemente haben die Fähigkeit, gesellschaftliche Teilbereiche „rein imaginär(‚bildlich’)[zu]totalisieren“unddadurchscheinbareWidersprücheund Polyvalenzenzuintegrieren(Link1982a,66).FunktionellgehtesumdieDurchset zung eines Sinnschemas, das an diskursive Elemente gekoppelt ist, die zwischen mehrerenDiskursenübereinstimmenunddieFunktionhaben,vorhandeneWider sprüche auszublenden und daraus möglicherweise entstehende Konflikte bereits imVorfeldzubeseitigen. Bei dem Interdiskurs handelt sich es also um einen wenig konturierten, eher (re)integrierendenundkomplexenDiskurstypus,dessenwesentlicheFunktion„in selektivsymbolischen, exemplarischsymbolischen, also immer ganz fragmentari schen und stark imaginären Brückenschlägen über Spezialgrenzen hinweg […]“ (Link 2005, 87) besteht. Indem der Interdiskurs „bestimmte Wissensmengen des sichständigerweiterndenFächersvonSpezialitätenderartigsynthetisiert,dasssie […]aufgenommenundassimiliertwerdenkönnen“,erfüllterinmodernenGesell schaften mit „‚funktionaler Ausdifferenzierung’ und Diskursspezialisierung eine  zielt.DiedurchdekliniertesemantischeAnalysemethodezieltdaraufab,gegenallzukontingente VorstellungendieWidersprüchlichkeitenvonWissensundMachteffektenaufzudecken;sieistje dochaufGrundpraktischempirischerProblemenichtingleicherWeiseentwickeltwiedieTheo riebildung(vgl.Link2006b).

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

fundamentale und unersetzliche Funktion“ (Link/LinkHeer 2002, 11) – gerade auchimAlltagundinderpopulärenKultur.WährendderSpezialdiskursaufEnt Subjektivierung, nämlich die Anhäufung ‚objektiven’ und ‚wahren’ Wissens aus ist, geht es im Interdiskurs vor allem um die „(Subjekt)Applikation“ (Link/Link Heer2002,11),um„Allgemeinbildung“(Link2005,90)ebensowieumIdentitäts entwürfe, Verhaltensempfehlungen, Interpretations und Deutungsmuster, kurz, umdasBereitstellenvonFolienderSubjektivierung.74DieInterdiskurstheorienach Link macht auf die Bedeutung der Subjektkonstitution aufmerksam, die auch bei FoucaulteinezentraleRollespielt.DerBlickrichtetsichdabeinichtaufdasIndivi duum als Handlungssubjekt, sondern auf kontextabhängige, heterogene Subjekti vierungsweisen(Foucault1993;Krasmann2007,282ff.)WissensförmigePraktiken fördernbestimmteFormenderAnerkennungdesSelbstundschließenandereaus. InterdiskursekönnenalsKopplungsstellendieserMachtWissenProzessebezeich netwerden.SiezielenaufAnpassung,erzeugenabergleichzeitigeinSpannungs feld,dasAntagonismenundWidersprüchehervorruftunddamitauchunvorher sehbare Entwicklungen ermöglicht. Nach Link (2003a, 23) ist die „Sehnsucht der Individuen nach Verwandlung ihrer Subjektivität wie ihrer AsSociation“ vor al lemauf„denUmsturzoderUmbauderInterdiskurse“gerichtet.

3.5.3 Diskursals„elementarerInterdiskurs“ Mit dem Spezialdiskurs und dem Interdiskurs ist die Typologie des Diskursiven noch nicht ausbuchstabiert. Zusätzlich lässt sich ein dritter Diskurstypus ausma chen, den Link (2003b) als „Elementardiskurs“ bezeichnet und mit einer dreidi mensionalen Binnendifferenzierung versieht: Unterschieden werden zum einen derhegemoniale(„populäre“)Elementardiskurs,zumanderennichthegemoniale diskursive Positionen innerhalb des hegemonialen Elementardiskurses und schließlichnichthegemonialeElementardiskurse(„Subkulturen“). Allerdings: Der Elementardiskurs, der wie die beiden anderen Diskurstypen als komplex gelten kann, wird in den Link’schen Schriften nicht wirklich ausge führt.AufdervertikalenAchsederMachtdifferenziertLink(2005,91)denhege monialelaborierten und den nichthegemonialen elementaren Interdiskurs; für die SpezifizierungdesalltäglichenSprechensinz.B.einemOnlineforumistdieseUn terscheidungjedochnichtweiterführend.Wederwerden„Elementardiskurs“und „Elementarkultur“ (Link 2005, 90) unterschieden, noch verschiedene Wissensbe  74 Vertreter/innenderInterdiskursschulelenkenihrenBlickaufdie„Normalisierungseffekte“dieser Diskursform(Gerhardu.a.2001;Link1999).

3.6DasInternetforumals„diskursivesEreignis“imInterdiskurs

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stände und formen voneinander abgegrenzt. Vielmehr wird, worauf wir noch zurückkommenwerden(vgl.8.3),derElementardiskursmitdem„Alltagswissen“ (Link2005,79)gleichgesetzt.OffenbarbildetderElementardiskursnachLinkeinen ‚elementaren’ Bestandteil des Interdiskurses – nicht mehr und nicht weniger. Spannend wird es jedoch dann, wenn man nach dem Stellenwert des Elementar diskursesfürAlltagsweltundSubjektivitätfragt.DennLinkzufolgezeichnetsich derElementardiskurs„durchhöchsteSubjektivitätundhöchsteIntensität(geringe Distanz) aus“ (Link 2003a, 15). Kurz, die Elementarkultur fungiert vor allem als eine„KulturintensivsterSubjektivierungdesWissens“(Link2005,90). AusdiesenBemerkungenlässtsichschlussfolgern,dasszumindestinderFra ge der Subjektivierung durchaus ein Unterschied zwischen Interdiskurs und Ele mentardiskurs zu bestehen scheint: Während ersterer Subjektivierungsangebote offeriert,diefürEinzelneinunterschiedlicherWeiseverbindlichseinkönnen,stellt offensichtlichderElementardiskursdendiskursivenRaumbereit,indemsichent scheidet, welche Subjektivierungsweisen tatsächlich übernommen oder auch zu rückgewiesen werden – und somit für den Alltagsmenschen handlungsrelevant sind.

3.6 DasInternetforumals„diskursivesEreignis“imInterdiskurs Kommen wir zumAusgangspunkt dieses Kapitelszurück: Ziel war eine diskurs theoretischeVerortungdeseigenenGegenstands,umdiefürdieempirischeUnter suchungnotwendigenBegriffezuklären.Eswurdefestgestellt,dassdas1000Fra genForum in der Art, wie es konzipiert ist und auch genutzt wird, die Kriterien desHabermas’schenModellseineridealenSprechsituationnichterfüllenkann.Die Bezugnahme auf die Diskurstheorie Foucaults scheint hingegen in theoretischer und methodologischer Hinsicht den Eigenheiten des empirischen Materials eher gerecht zu werden. Allerdings ist auch hier eine Grenze zu erkennen: Foucaults primäresInteresseistaufdieWissenschaftenausgerichtet;ermöchtedie‚seriösen Sprechakte’erforschen,wobeidas‚diskursiveWuchernamRande’vonihmzwar mitgedacht,abernichtanalysiertwird.Wiewirerwähnthaben,sindaberdieDis kussionsstränge des 1000 FragenForums durch intersubjektive und alltagsorien tierte Bezugnahmen der Sprechenden gekennzeichnet, die sich gleichwohl auf Grund der medialen Rahmung nicht persönlich begegnen. Dieser Spezifität des DatenkorpusmussmethodologischausreichendRechnunggetragenwerden.Ent sprechendliegtdieVermutungnahe,dasseinanhandvonSpezialdiskursenentwi ckeltesdiskursanalytischesModellwiedasjenigeFoucaultsmöglicherweisekaum für die Untersuchung von Sprechakten geeignet ist, die außerhalb der Wissen

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

schaftenentstehen.ImungeregeltenFelddesAlltagsstelltsicherstrechtdieFrage, wieSprechakteüberhauptidentifiziert,DiskursformationenbeschriebenundAns prüche auf Bedeutsamkeit untersucht werden können (Dreyfus/Rabinow 1994b, 76).75SobietetderAnsatzFoucaultszwardasfüreineDiskursanalysenotwendige Handwerkszeug;dessenAnwendungfunktioniertmöglicherweiseabernur,wenn komplexe, uneindeutige und nicht näher zu bestimmende Kategorien ausgeblen detwerden,wiedasinSpezialdiskursenderFallist. Im weiteren Verlauf der theoretischen Überlegungen hat sich indes gezeigt, dasseinengerBegriffvomDiskursalsinstitutionalisierteMachtWissenFormation durchausfüreineDifferenzierungdesdiskursivenRaumesgenutztwerdenkann, indemsichauchdasInternetforumverortenlässt.FürdiesenZweckbietetdievon Link und anderen entwickelte Interdiskurstheorie wertvolle Anregungen. Sie er möglicht eine Erweiterung des Foucault’schen Diskursbegriffs, ohne dessen zent rale Prämissen aufgeben zu müssen. Aus Sicht der Interdiskurstheorie bietet es sichan,denEreignischarakterdes1000FragenForums,seineInszenierungalsein massenmediales ‚Event’ im Internet als Ausgangspunkt zu nehmen. Foucault hat sichzwarvorallemfürdieProzedurendiskursiverKontrolleinteressiert;eräußert sich aber auch über den Zufall und „das Ereignis“ (Foucault 1974, 16). Das ‚Wu cherndesDiskurses’wirdjaerstdurchProzedurendesAusundEinschlussesin feste Bahnen gelenkt, unterworfen und gebändigt. Foucaults Anliegen ist es, auf diese Erstarrung des Diskurses aufmerksam zu machen (vgl. Foucault 2000, 893 ff.). Um die Rahmenbedingungen, Spielregeln und Wirkungen von Diskursen als Effekte von Macht sichtbar zu machen, müsse man sich zu drei Entscheidungen durchringen:„Man muß unseren Willen zurWahrheit in Frage stellen; manmuß demDiskursseinenEreignischarakterzurückgeben;endlichmußmandieSouve ränitätderSignifikantenaufheben.“(Foucault1974,35) Für die ‚Ereignishaftigkeit’ von Diskursen hat sich Link (2005, 84) ebenfalls interessiert.„Diskurseder‚Öffentlichkeit’,häufiginGestaltbedeutenderdiskursi ver Ereignisse“, schlussfolgert er unter Bezugnahme auf Foucault, seien „keine eigenen ‚Diskurse‘, sondern diskursive Ereignisse (in der Regel MegaEreignisse) innerhalbeinesDiskurses“(Link2005,80).Erunterscheidetzwischendiskursiven „MikroEreignissen“ (einfachen Aussagen) und diskursiven „Makroereignissen“ (großen Umbrüchen); für eine diskursanalytische Bearbeitung sei es grundlegend wichtig,den„Gradan‚Ereignishaftigkeit’zwischenMikroundMakroereignis“zu  75 DieNutzungderBegriffe„Bedeutsamkeit“,„Bedeutung“kannirreführendsein,dennnachFou cault müssenbeieinerUntersuchung vonSpezialdiskursen Ansprücheauf„Wahrheit“und„Be deutung“ausgeklammertwerden(vgl.Dreyfus/Rabinow1994b,73),geradeweilSpezialdiskurse insichschonals„mächtig“und„bedeutungsvoll“wahrgenommenwerden.

3.6DasInternetforumals„diskursivesEreignis“imInterdiskurs

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bestimmen(Link1999,151).BeiöffentlichenAuseinandersetzungenundkonkreten DebattenhabemanesinderRegel„mitdiskursivenEreignissensozusagenmittle rerReichweitezutun(Link1999,150). An dieser Stelle ergeben sich unmittelbare Bezüge auf das 1000 FragenForum: Zum einen bietet es sich auf Grund der medialen Rahmung an, das Reden über Bioethik indieser Onlineplattform derEbene des Interdiskurseszuzuordnen.Für dieeigeneHeuristikerweistessichzumanderenalssinnvoll,dieOnlineplattform alsein‚diskursivesEreignis’imInterdiskurszubetrachten,undzwaralseinesvon ‚mittlerer Reichweite’. Als öffentlicher Kommunikationsraum für die Zivilgesell schaft konzipiert, treffen hier die unterschiedlichsten Diskurselemente aufeinan der:spezialdiskursivePuzzleteile,populäres,historisches,literarischesundmedial vermitteltes Wissen ebenso wie Mythen und Ideologien, normative Bewertungen und Handlungsempfehlungen, Alltagsethiken und auch subjektive Erfahrungen. Allerdings: Im Vergleich zu den elaborierten Interdiskursen wie etwa den Mas senmedien erweist sich die Internetkommunikation als näher am Alltag. Hier ‚sprechen’die‚Leute’undhierkannmanihnen–ineinemganzelementarenSinn – direkt zuhören; ihre vielfältigen Stimmen gelangen an die Öffentlichkeit und finden Gehör. Zusätzlich sind Machteffekte unverkennbar: Dadurch, dass das Internetforum als massenmedial inszeniertes Ereignis das alltägliche Sprechen über Bioethik ‚magnetisch’ angezogen hat, ist eine Zusammenballung von Äuße rungen entstanden, die es sonst nicht gegeben hätte. Mit der Konzentration der Beiträge und ihrer technischen Materialisierung ist eine Schwelle überschritten worden;einDiskursfeldistöffentlichsichtbargewordenunddasGesagtehateine Chanceerhalten,Machtwirkungenzuentfalten. Zusammengefasst lassen die vorhergehenden Ausführungen folgende Schlussfolgerungenzu:DaessichbeiunseremForschungsgegenstandumeinFo rum zum Thema Bioethik, eigentlich einer wissenschaftlichen Disziplin, handelt, bietetessicherstensan,FoucaultsdiskursanalytischeÜberlegungenzumwissen schaftlichen Wissen aufzugreifen, mit dem Ziel, Bruchstücke und Splitter dieser WissensformimForumfestzustellen.DamitjedochwirdmandemMaterialkorpus nurineinemTeilaspektgerecht.BezogenaufdieSammlungalltagsweltlicherÄu ßerungenimInternetforumgibteszweitensdieMöglichkeit,denaufdiewissen schaftlichen Spezialdiskurse ausgerichteten Ansatz Foucaults als Negativfolie zu lesen.ZumeinenlassensichausdenAussagenüberSpezialdiskurseRückschlüsse auf den Alltagsdiskurs ziehen, zum anderen äußert sich Foucault selbst, wie wir gesehen haben, an manchen Stellenexplizit zum ‚Wuchern des Diskurses’ außer halb der Wissenschaften. Vermutet werden kann, dass das interdiskursive Me dium und die Partizipation breiter Bevölkerungskreise den geeigneten Rahmen

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3DiskurstheoretischeÜberlegungen

dafür bieten, dass sich ‚unterdrückte’ Wissensformen äußern können. Drittens stellt sich ganz konkret die Frage nach der Anwendbarkeit des Foucault’schen Handwerkzeugs auf ein Datenmaterial, das in einem alltagsweltlichen Zusam menhanggeneriertwurde.WelcheWissensordnungensindimAlltagrelevantund nach welchen Mustern werden sie gebildet? Und wie kann man dieses Wissen überhaupt diskursanalytisch untersuchen? Und schließlich: Wenn wir das Link’sche Konzept einer dreidimensionalen Typologie des Diskursiven (Spezial diskurs,Interdiskurs,Elementardiskurs)alsAusgangspunktfürunsereempirische Untersuchungnehmen,bleibteineFrageoffen,dieimweiterenFortgangderStu die zu klären sein wird: Wie lässt sich der Begriff des Alltags in dieses Konzept integrieren?(vgl.Kap.8)

4 Rahmenanalyse:Bioethik,zivilgesellschaftliche Partizipation,ÖffentlichkeitimInternet

DerBegriffder„RahmenAnalyse“(frameanalysis)gehtaufErvingGoffman(1980) zurück. Mit ‚Rahmen’ bezeichnet er die Muster, in denen alltägliche Erfahrung organisiert wird. Rahmungen haben demnach eine integrierende Funktion: Sie stellendenSubjektenSinngebendeInterpretationsschematazurVerfügung(Goff man 1980, 31) und ermöglichen eine Einbettung der eigenen Erfahrungen in eine umfassendere Welt (Goffman 1980, 278ff.). Ziel der Rahmenanalyse ist es, diese MusteroderSchemataaufzudecken(Goffman1980,36).Dabeiistsieeinemhand lungstheoretischenAnsatzverpflichtet:SozialesAgierenwirdalsTheaterbetrach tet,dasaufderBühnedesLebensstattfindet(Goffman1980,143ff.).ImAnschluss an Goffman haben in den 1980er Jahren William A. Gamson und seine Mitarbei ter/innen,ebenfallsVertreterdesinterpretativenParadigmas,VorschlägezurNut zungdesKonzeptsentwickelt,undzwarfürdieAnalysevonöffentlichenDiskus sionenundMobilisierungsprozessensozialerBewegungen(Keller2004,37ff.).Mit HilfeeinesCodierschemaswerdengroßeTextmengenodermassenmedialvermit telteBilderuntersucht,mitdemZiel,denEinsatzspezifischerDeutungsstrategien transparent zu machen. ‚Deutungspaket’, ‚Deutungsmuster’ und ‚Deutungsrah men’sindzentraleStichwortediesesAnsatzes.DenkulturwissenschaftlichenBlick vonGamsonundanderenhatPaoloR.Donati(2001,149)danndiskurstheoretisch gewendet;seinRahmenkonzeptsolleine„neuePerspektiveaufideologischeSys teme“ermöglichen.MenschlicheÄußerungenwieWahrnehmungen,Handlungen, Sprache etc. werden als Ausdruck historisch und politisch vorgegebener Muster betrachtet. Zwar benutzt Donati Begrifflichkeiten, die eher aus hermeneutischen Ansätzenbekanntsind:FürihnsindframesdieimsprachlichenHandelnsichtbar werdenden „latenten Sinnstrukturen“; demnach lässt sich sprachliches Handeln als Ausführung von „‚Motiven’ […] in einer sozialen Textur verstehen, die aus allgemeineren Erzählungen und sozialen Mythen besteht.“ (Donati 2001, 171) DennochlassendieseFormulierungenauchandiediskursivenWissensordnungen denken,derenMacht–imSinnvonLegitimation–sichinsbesonderedurchInsti tutionalisierung ausdrückt. Auch in der Medientheorie bzw. analyse wird das Konzept des framing angewandt, um ein ganzes Spektrum von Strukturen und

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4Rahmenanalyse:Bioethik,zivilgesellschaftlichePartizipation,ÖffentlichkeitimInternet

Bedingungsfaktoren zu erkennen; gemeint sind so unterschiedliche Phänomene wie institutionelle Vorgaben oder kognitive und interpretative Muster, die über Metaphern,BilderundBegriffeihreWirksamkeitentfalten.76Bonfadelli(2002,143) betont die disziplinenübergreifende Anwendung des Rahmenansatzes: So kann derBegriffframemit„‚Schema“,‚Script’oder‚Map’“übersetztwerden;unterder dritten Bezeichnung kommt er auch in soziologischen Studien zur Anwendung, umBedingungsfaktorenzugewichtenundKomplexitätzuvisualisieren. KannnunaufeinesdergenanntenKonzeptezurückgegriffenwerden,umdie Rahmenbedingungen des 1000 FragenForums näher zu bestimmen? Angesichts dereigenendiskurstheoretischenPositionierungerscheinenzwardiehermeneuti schen und handlungsorientierten Aspekte wenig hilfreich; eine strukturtheoreti sche Lesart jedoch macht den Ansatz auch für diese Studie anschlussfähig. Die genaue Betrachtung der verschiedenen ‚Rahmen’ des empirischen Gegenstands ermöglichtes,diejenigenFaktorenindenBlickzunehmen,dieihnselbstwieauch die mit ihm transportierten Inhalte und Botschaften maßgeblich geprägt haben. EmpirischnachweisbarlassensichfolgendeKontexteausmachen:Alsthematische Rahmungtrifftmanaufdie‚Bioethik’,einenbrisantenundkontroversdiskutierten Gegenstand; die institutionelle Rahmung ergibt sich aus der Tatsache, dass die AktionMenschalsProjektträgereinezivilgesellschaftlicheBeteiligungambioethi schenDiskursverfolgtundAnschlüsseandiepartizipativeTechnikfolgenabschät zunghergestellthat(vgl.Kap.2).AußerdemgibteseinespezifischmedialeRah mung, insofern als das empirischeMaterial einem Internetforum entstammt. Ent sprechenddieserdreiframesistdieBezugnahmeaufwissenschaftsundpartizipa tionstheoretische Überlegungen ebenso vonnöten wie Anschlüsse an medienwis senschaftlicheDebatten.ImFolgendenwirdesalsoumdieseFragestellungenge hen: Welche Rolle spielt die Bioethik als Disziplin und Diskurs im 1000 Fragen Forum?(vgl.4.1)WieunterscheidensichdieimInternetforumgesammeltenÄuße rungenvonStellungnahmen,dieinVerfahrenbeteiligungsorientierterTechnikfol genabschätzung, insbesondere Bürgerkonferenzen und Bevölkerungsumfragen gewonnnen werden? (vgl. 4.2) Was sind die spezifischen Merkmale der Internet kommunikationundwiewirktsichdiesesmedialesettingaufdieBeiträgedesFo rumsaus?(vgl.4.3)AbschließendwirddieFragezudiskutierensein,obdieOnli neplattform als Ausdruck einer neuen Form politischer Öffentlichkeit betrachtet werdenkann(vgl.4.4).

 76 Vgl. Entmann (1993) und das die Rezipienten einbeziehende interaktionistische Konzept des „framesetting“vonScheufele(1999).

4.1ThematischeRahmung:Ist„Bioethik“einDiskurs?

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4.1 ThematischeRahmung:Ist„Bioethik“einDiskurs? „1000FragenzurBioethik“–solautetdereinprägsameNamedesInternetforums. Mit dem Gesprächsgegenstand Bioethik haben die Veranstalter eine thematische Rahmung vorgegeben, die höchstwahrscheinlich die Intensität des Diskursereig nisseswesentlichbeeinflussthat.WieSigridGraumann(2002,1)ausführt,wirdder Begriffsehrunterschiedlichgebraucht,erlässtmindestenszweiBedeutungsebenen zu: „Zum einen bezeichnet er ein Forschungsgebiet der angewandten Ethik, zum andereneinhöchstkontroversesFeldderPolitik,indemz.B.überdieUnterzeich nungderBioethikKonventionoderdieZulässigkeitvonSterbehilfe,Präimplanta tionsdiagnostik und embryonaler Stammzellenforschung gestritten wird.“ Im RahmendieserUntersuchunginteressiertvorallemdieFrage,obBioethikalsDis kurs im Sinne Foucaults verstanden werden kann. Dabei sind zwei Anschlüsse möglich: Zum einen lässt sich ein enger Diskursbegriff zur Anwendung bringen; aus dieser Sicht wird Bioethik mit Hilfe disziplinärer Selbstbeschreibungen als Spezialdiskurs betrachtet. Zum anderen kann der Gegenstand als diskursives EreignisinnerhalbeinesMachtWissenKomplexesaufgefasstwerden.InKontrast zur wissenschaftsimmanenten Perspektive ergibt sich eine begriffliche Präzisie rung, da aus dieser Sicht Bioethik als ein so genanntes ‚diskursives Thema’ zu denkenist.

4.1.1 SelbstbeschreibungenderBioethik:DisziplinundDiskurs Über das Selbstverständnis der Bioethik geben einschlägige Standardwerke Aus kunft. In der amerikanischen Publikation „The Birth of Bioethics“ (Jonsen 1998) wirddieEntstehungdesFachsaufEntwicklungeninzweigesellschaftlichenBerei chen zurück geführt: Bioethik habe sich als neue wissenschaftliche Disziplin aus gebildet, gleichzeitig habe sich ein öffentlicher Diskurs im Sinne einer Debatte entwickelt.77 Diese Unterscheidung zwischen Disziplin und Diskurs findet man auchinderdeutschsprachigenLiteratur(Ach/Runtenberg2002);schauenwiruns deshalbdieArgumentationgenaueran.78  77 DiesesVerständnisvonDiskurslässtandasdiskursethischeKonzeptvonHabermasdenken(vgl. 3.1). 78 Die Selbstbeschreibung der professionellen Bioethik wird hier nur sehr verkürzt wiedergegeben; auf die verschiedenen Strömungen innerhalb der noch jungen Disziplin, die z. T. gegensätzliche Auffassungen vertreten, kann ebenfalls nicht näher eingegangen werden (für eine vertiefende Darstellungvgl.Ach/Runtenberg2002;Düwellu.a.2002;Jonsen1998;Korffu.a.1998).

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4Rahmenanalyse:Bioethik,zivilgesellschaftlichePartizipation,ÖffentlichkeitimInternet

EinakademischesFachkannnurdannentstehen,wennesgelingt,daseigene Profil gegenüber schon bestehenden Wissenschaftsbereichen abzustecken. Der Profilbildung dient insbesondere die Konstruktion eines möglichst abgrenzbaren und dennoch umfassenden Gegenstands, der eine spezielle wissenschaftliche Be arbeitung erfordert. Im „Lexikon der Bioethik“ bemühen sich Korff u.a. (1998, 7) umeineentsprechendeBegriffsbestimmung:Bioethikwirdals„ethischeReflexion jener Sachverhalte verstanden, die den verantwortlichen Umgang des Menschen mit Leben betreffen“ und damit als Teilgebiet in die allgemeinere Disziplin der Ethik eingeordnet, die ihrerseits ein Teilbereich der Philosophie ist. Da die weit gefassteDefinitionnichtvommenschlichenLeben,sondernvomLebenallgemein spricht, würde folglich Bioethik nicht nur die biomedizinische Ethik umfassen, sondern eigentlich auch Tierethik und ökologische Ethik. Ach/Runtenberg (2002, 14) klassifizieren ebenfalls die Bioethik als „Subdisziplin der Angewandten Ethik bzw. eine ‚Bereichsethik’ wie zum Beispiel auch die Wirtschaftsethik oder die Technikethik.“NachihrerEinschätzung(Ach/Runtenberg2002,13)hatsichjedoch innerhalb der Disziplin eine engere Konzeption durchgesetzt, die auf einen Vor schlagdesamerikanischenPhysiologenundSozialmedizinersAndréHellegeraus dem Jahre 1971 zurückgeht. Er reduzierte die Bioethik auf den humanmedizini schen Bereich und plädierte für eine Handlungsorientierung, um zur Lösung konkreterethischerProblemeindermedizinischenForschungundimpraktischen Umgang mit den Fortpflanzungstechnologien zu gelangen. Die von Warren T. Reich (1995, xxi) herausgegebene „Encyclopedia of Bioethics“ greift diesen Vorschlag auf und definiert folglich den Gegenstand als „the systematic study of themoraldimensions–includingmoralvision,decision,conductandpolicies–of thelifesciencesandhealthcare,employingavarietyofethicalmethodologiesinan interdisciplinarysetting.“ DerBlickindieWissenschaftsgeschichteergibt,dassdieBioethikausderme dizinischenStandesethikhervorgegangenist,derenWurzelnimOkzidentbisauf denHippokratischenEidzurückreichen.Dochwarumhatsichim20.Jahrhundert eine neue Disziplin herausbilden können, die sich bewusst von der Medizinethik abgrenzt?AndieserStellekommtdieÖffentlichkeitinsSpieloder–inderLesart des Fachs – die „Bioethik als Diskurs“ (Ach/Runtenberg 2002, 17f.; Jonsen 1998, 352ff.).Erst die öffentliche Kritik am ärztlichen Paternalismusund anderMacht stellungderMedizinhabe,verbundenmitForderungennachmehrPatientenauto nomie–einem„LeitmotivderbioethischenDiskussion“(Ach/Runtenberg2002,27) –dieengenSchrankenderärztlichenStandesethikaufbrechenkönnen.ImUnter schiedzurMedizinethik,soargumentierenAch/Runtenberg(2002,16),beziehtdie moderne Bioethik verschiedene Akteure (neben Mediziner/innen auch Patienten,

4.1ThematischeRahmung:Ist„Bioethik“einDiskurs?

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andere Gesundheitsberufe, Kostenträger im Gesundheitswesen etc.) ein; sie um fassteinerweitertesThemenspektrum(neueMedizinundFortpflanzungstechno logien,AllokationundGerechtigkeitimGesundheitswesenetc.)undverstehtihre TätigkeitalsöffentlicheReflexionübermedizinischesHandeln. Haltenwirfest:DieExpertenräumenderÖffentlichkeiteineerheblicheRolle bei der Etablierung ihrer Wissenschaft ein. Diese Argumentation lässt allerdings die Bedeutung der bereichsspezifischen Institutionalisierung in den Hintergrund treten,dieimFallederBioethikebenfallsvongroßerBedeutunggewesenist.Vor reiter sind in Deutschland die Ethikkommissionen, die medizinische Forschungs vorhabenausethischerSichtbeurteilen,z.B.wennesumdieErprobungvonMe dikamentenamMenschenodergenerellumExperimentemitPatientenbeteiligung geht. 1973ist in Göttingen die erste Ethikkommission ins Lebengerufen worden. Inzwischen sind zahlreiche weitere Institutionen entstanden, die im Bereich der Bioethik tätig sind (Ach/Runtenberg 2002, 42ff.): Klinische Ethikkomitees oder EthikKonsile unterstützen Entscheidungsfindungsprozesse in Krankenhäusern; zentraleEthikkommissionen(z.B.beiderBundesärztekammeroderimBundesge sundheitsministerium)beratenüberRichtlinien;Ethikzentrenundinstituteanden UniversitätenforschenundberatenEntscheidungsträger.79ImDeutschenBundes tag gibt es von 2000 bis 2005 zwei Enquetekommissionen mit bioethischer The menstellung;802001wirdvonderBundesregierungerstmaligeinNationalerEthik rat berufen; sein Nachfolger, der neu gegründete Deutsche Ethikrat hat im Früh jahr2008seineArbeitaufgenommen(vgl.Kap.1).81 Ein klares Merkmal für die Institutionalisierung einer Disziplin ist die Auf nahmeihresGegenstandsingeltendesRecht.HierkönnenalsBeispielediejuristi schenNormenimBereichderGenundFortpflanzungstechnologie(z.B.dasEm bryonenschutzgesetz) ebenso genannt werden wie die schon erwähnten Ethik kommissionen,diemittlerweileimärztlichenStandesrechtverankertundbeiMe dikamentenerprobung und klinischer Forschung gesetzlich vorgeschrieben sind. Ein weiterer Aspekt der Institutionalisierung ist die disziplinspezifische Tradie rungimSinnederWissensweitergabe.DiesemZweckdienenbioethischeFachge sellschaften,AngebotederFortundWeiterbildungebensowiedieIntegrationdes Faches in den Lehrkanon der Medizin und Pflegeausbildung (Ach/Runtenberg 2002). Die Institutionalisierungsbemühungen gehen längst über den Akademisie  79 FüreinenÜberblicküberdieForschungslandschaftsieheAch/Runtenberg(2002,4751). 80 DieswarendieEnquetekommissionen„RechtundEthikdermodernenMedizin“(14.Wahlperio de)und„EthikundRechtdermodernenMedizin“(15.Wahlperiode). 81 Nicht zuletzt steht der Fachöffentlichkeit inzwischen auch eine ganze Reihe von Zeitschriften, DatenbankenundInternetressourcenzurVerfügung.

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rungshorizont hinaus: Bioethik ist „[...] zu einem Konfliktbearbeitungsinstrument derdemokratischenGesellschaftgeworden.“(Ach/Runtenberg2002,18) Historisch aus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um ethische Prob leme in der Medizin hervorgegangen, beansprucht die professionelle Bioethik, legitimiert durch ihre systematische, wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Problemstellungen,mittlerweileeinenExpertenstatus,dergleichzeitigdieFachver treter dazu berechtigt, vermittelnd und beratend in die gesellschaftliche Debatte einzugreifen. Allerdings gilt fachintern die starke Nachfrage nach bioethischer Expertise auch als nicht ganz unproblematisch. So gibt etwa Kurt Bayertz in sei nemVorwortzuAch/Runtenberg(2002,10)zubedenken,dasszwardieInstitutio nalisierungderDisziplinalsErfolgangesehenkann,diesjedochauch„alsAnlass zur Selbstreflexion wahrgenommen werden“ sollte. Schließlich habe „Bioethik [.] Folgen nicht mehr nur in Gestalt von Büchern und Aufsätzen, sondern auch von EntscheidungenundHandlungen;[…]siehatdiesepraktischeWirksamkeitnicht mehr nur gelegentlich und zufällig, sondern regelmäßig und systematisch. Es liegt aufderHand,dassihrdamitaucheineVerantwortungzugewachsenist,diesiein ihrer traditionellen Form (als bloß akademische Subdisziplin) nicht hatte.“ (Ach/Runtenberg2002,10,Hervorh.dort)82

4.1.2 DiskursanalytischePerspektive:DieDisziplinistderDiskurs–derDiskursistdie Debatte–BioethikistdasThema AusdiskursanalytischerPerspektiveistWissenschafteineregelgeleitetediskursive Praxis; als machtvolles Sprechen hat sie immer auch soziale Folgen. Ein derart verstandenerDiskursistnichtnurein‚Redenüber’etwasimSinneeinerDebatte, sondernkonstituierteineeigenesozialeRealität.MitHilfederentworfenenTypo logie des Diskursiven (vgl. Kap. 3) lässt sich die Bioethik als Spezialdiskurs ei nordnen. Dass das Fach tatsächlich dieProzeduren eines machtvollen Spezialdis kurses aufweist, der nach Foucault durch beschränkende bzw. ausschließende Funktionengekennzeichnetist,kannmandenobenzitiertenSelbstbeschreibungen entnehmen. In anderen Worten: Hat es vor der Entwicklung der Disziplin eher ‚wilde’, ungebändigte Äußerungen gegeben, die sich z.B. gegen die medizinische Kontrolle von Sexualität wehren oder sich in dem Begehren nach Selbstbestim mung über die eigene Fortpflanzung äußern, so finden heute die wissenschaftli chenundgesellschaftlichenAuseinandersetzungenunterderÜberschrift‚Bioethik’  82 Der Untertitel des Buches „Zur Selbstaufklärung angewandter Ethik“ (Ach/Runtenberg 2002) weistaufdieseProblematikhin.

4.1ThematischeRahmung:Ist„Bioethik“einDiskurs?

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inmehroderweniger‚geordnetenBahnen’statt.DabeibegnügtsichdasneueEx pertentum zumeist mit einer am Einzelfall orientierten, vorzugsweise pragmati schen, teilweise auch sozialtechnokratischen Herangehensweise, bei welcher der Fortschritt,derlängstEinzuginden(medizinischen)Alltaggefundenhat,imWe sentlichengerechtfertigterscheintundnur‚Missbräuche’alsproblematischgelten. GrundlegendeFragen,diedieGesellschaftalsGanzesbetreffen,bleibenweitestge hendausgeklammert. Benutzt man zur Erkundung des Diskurses die vier bereits erwähnten Fou cault’schen Formationsregeln (vgl. 3.5.1; ausführlicher 5.2), kann man festhalten, dass erstensdie Bioethiksehr erfolgreich darin war, einen spezifischen Objektbe reich, nämlich ‚Leben’ (‚bios’) zu rekonstruieren und diesen – in Abgrenzung zu MedizinundBiologie–alseigenen,nämlichethischenGegenstandzuproblemati sieren.AuchaufderEbenederBegriffewirdmanimDiskursfündig;diebioethi sche Konzeptionalisierung von individueller Autonomie kann hier als Beispiel angeführt werden. DesWeiteren stellt mittlerweiledie Figur des Bioethikerseine einflussreiche Sprecherposition dar. Durch die Institutionalisierung wurden Posi tionen(auchinFormvonArbeitsplätzen)geschaffen,zudenennursolchePerso nenZuganghaben,dieformaleBildungstitel(akademischerAbschluss,Promotion) und das entsprechende Fachwissen mitbringen. Diskursbeiträge, die vor diesem Hintergrundformuliertwerden,habengrößereChancenGehörzufinden,alsBei träge aus einem informellen Kontext. Und nicht zuletzt erweist sich die Bioethik alseinstrategischesFeld:AlsanwendungsorientierteWissenschaftbeanspruchtsie einDeutungsmonopolfürnahezualleFragen,diedieGrenzsituationenmenschli chen Lebens betreffen.83 Zusammenfassend: Als relativ junge wissenschaftliche Disziplin,die in den 1960er Jahrenzunächst in denVereinigten Staaten entstand, istesderBioethikinbemerkenswertkurzerZeitgelungen,sichweltweitalsFach disziplin zu etablieren und schwelende, an den Lebenswissenschaften sich ent zündende Konflikte in die Form einer wissenschaftlich fundierten, ethischen De batte zu gießen. Im Zusammenspiel der vier Ebenen – Abgrenzung des Gegen stands,EntwicklungeigenerBegriffe,SchaffungdiskursspezifischerSprecherposi tionen,strategischesFeld–entstehtdieMachtwirkungeinerWissenschaftsdiszip lin.84 Dass sich in der diskursiven Formation, die sich Bioethik nennt, ein „Wille zumWissen“(Foucault1983)undsomitauchzurMachtäußert,isteinsichtig;die Konturen des Spezialdiskurses lassen sich relativ leicht bestimmen. Was aber ist  83 Damit befindet sie sich in Konkurrenz zur Religion als einer anderen, mit der Endlichkeit des Menschenbefassten„symbolischenSinnwelt“(vgl.Berger/Luckmann2000,108ff.). 84 IndemAspektderMachtoffenbartsichdieNebenbedeutungdesBegriffes‚Disziplin’.

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4Rahmenanalyse:Bioethik,zivilgesellschaftlichePartizipation,ÖffentlichkeitimInternet

mitdemSpektrumdesSprechensundDiskutierensüberbioethischeFragestellun gen,dasimTheaterundinderLiteratur,imDeutschenBundestag,inTalkshows, Bildungsakademien, den Feuilletons und Internetforen stattfindet? Dieses diskur sive„Weiterwuchern“(Foucault1974,7)gehörtnichtzumSpezialdiskurs,sondern zu dem popularisierenden, „Brücken schlagenden“ (vgl. Link 2005, 87) Interdis kurs,demimUnterschiedzuersteremVariabilität,VielfaltundEreignischarakter eigensindunddessenUmrissesichnichteindeutigabgrenzenlassen.Wieinden begriffssystematischenAusführungenzumDiskurs(vgl.Kap.3)bereitsangedeu tet,konstituiertsichinderOnlineplattform„1000fragen.de“Bioethikgeradenicht als Disziplin, d.h. als Spezialdiskurs. Vielmehr ist die interdiskursive Verortung ebenso zu berücksichtigen wie der Ereignischarakter des massenmedial gerahm ten,alltagsnahenSprechensindemInternetforum.AusdiesemGrunderweistsich das diskurstheoretische Konzept des „Themas“ für unseren Zusammenhang als besser geeignet, um den Gegenstand ‚Bioethik’ in den Blick zu nehmen. Den Be griffdes„Themas“hatLink(1999,77)sobeschrieben: „In einem ‚Thema’ muss so etwas wie ‚diskursive Energie’ stecken, die sich nichtzuletztalspolemischeEnergieauswirkenkann:Ein‚Thema’besitzteineer höhteWahrscheinlichkeit,dasssichanihmentgegengesetztediskursivePositionen (z.B. in Form von Debatten) konfrontieren. Die ‚diskursive Energie’ manifestiert sichzweitensdarin,dassein‚Thema’nachderArteinesMagnetensehrvieleAus sagenumsichzukumulierenscheint,undzwarnichtbloßüberkurzeZeit(diskur sivesEreignis),sondernübermittlereodersogarlangeZeit.“ BioethikalsThemadesuntersuchtenForumsmeintsomitnichtdieinhaltliche Klammer, welche die vielen Beiträge unter einem Oberbegriff zusammenfasst, sondernbezeichneteinenKatalysator,derbewirkt,dasssichÄußerungen,diean sonstenunbemerktundwirkungslosinverschiedenenKontextenimAlltagaufget reten und wieder verschwunden oder gänzlich ungesagt geblieben wären, in ei nem diskursiven Ereignis konzentrieren. Dadurch, dass das Internetforum das alltagsweltliche Sprechen über Bioethik ‚magnetisch’ angezogen hat, ist – allein schondurchdieVerschriftlichungundArchivierungdermassenhaftenBeiträge– eine Zusammenballung diskursiver Äußerungen entstanden, die es ohne das Fo rum nicht gegeben hätte. Die Fragen und Kommentare werden vermutlich kaum als ernsthafte Beiträge zur professionellen Bioethik angesehen, da sie nur verein zelt an Fachwissen anknüpfen, in vielerlei Hinsicht jedoch nicht den Regeln des Spezialdiskurses folgen. Gerade dieser Umstand aber macht „1000 Fragen zur Bioethik“alsForschungsgegenstandsointeressant. WährenddieExpertenihreDisziplinalsReaktionaufPhänomeneinderReali tätverstehen,nämlichalsAntwortaufethischeProblemeundDilemmataimUm

4.2InstitutionelleRahmung

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gangmitdendurchdenmedizinischenFortschrittgeschaffenenEntscheidungssi tuationen (vgl. Ach/Runtenberg 2002, 148ff.), wird nach diskurstheoretischer Le sartderGegenstandBioethikdurchmachtvollesSprechenüberhauptersterzeugt. EshandeltsichhierbeinichtumeinvorzufindendesPhänomen,sondernumeine vomDiskurserzeugte‚Realität’.DieKonzeptionalisierungvonBioethikals(inter) diskursives ‚Thema’ (anstatt als ‚Diskurs’) ermöglicht Offenheit für den eigenen Untersuchungsgegenstand und verhindert die Selbstreferentialität des For schungsprozesses:Wirgehendavonaus,dassdieimOnlineforumvorzufindende diskursivePraxisanderenRegelnfolgtalsdenenderWissenschaftsdisziplinBioe thik.DermöglicheErkenntnisgewinn,deneineUntersuchungderForumsbeiträge verspricht,deutetsichindiesenFragenan:WiewirdüberBioethikimAlltagge sprochen?Und:WirdindieseröffentlichenRedeneues,überraschendesoderun gewöhnlichesWissenproduziert? 4.2

InstitutionelleRahmung

4.2 InstitutionelleRahmung:Ist„1000FragenzurBioethik“einProjektpartizi pativerTechnikfolgenabschätzung? „WerbestimmtdieMoral?“SobetitelteDieZeitam26.Oktober2006einenArtikel über die Absicht der Bundesregierung, den Deutschen Ethikrat als ein Gremium zurPolitikberatungzugründen,dasnahezuausschließlichmitExpertenbesetztist (Krämer2006).Beklagtwird„diefehlendeEinbeziehungderBevölkerung.Wasdie Bürger über Patientenverfügungen, Stammzellforschung oder Reproduktionsme dizin denken, findet bislang kaum Eingangin politische oder ethische Diskussio nen“ (Krämer 2006). Auch die Aktion Mensch hat sich vor allem für die Frage interessiert, wie die Zivilgesellschaft in die Debatte einbezogen werden kann. Im Rahmen von „1000 Fragen zur Bioethik“ sind zudem Versuche unternommen worden, die Positionen der Bürgerinnen und Bürgern bei den gesellschaftlichen EntscheidungsträgernderoffiziellenPolitikzuGehörzubringen(vgl.Kap.2).Die institutionelleRahmungvon„1000fragen.de“kanndeshalbalseineKampagnefür mehrzivilgesellschaftlichePartizipationbetrachtetwerden(Kettner2006).

4.2.1 AnsätzeundModellederTechnikfolgenabschätzung Aus politikwissenschaftlicher Sicht lässt sich das Diskursprojekt in den Kontext derpartizipativenTechnikfolgenabschätzungverorten,einemrelativneuenPraxis und Forschungsfeld (vgl. Abels/Bora 2004; Schicktanz/Schweda 2007). Die En quetekommission„RechtundEthikdermodernenMedizin“hatdaraufhingewie

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4Rahmenanalyse:Bioethik,zivilgesellschaftlichePartizipation,ÖffentlichkeitimInternet

sen,dassderPartizipationeinengroßenStellenwertinderTechnikfolgenabschät zung eingeräumt werden sollte (Deutscher Bundestag 2002, 179ff.); vor allem im Bereich der Gen und Fortpflanzungstechnologien ist die partizipative Ausrich tung klar erkennbar (vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2001; Hennen 2003; Joss2003; KochteClemens 2001). Wahrscheinlichist es kein Zufall, dassinsbesonderebioethischeFragenzunehmendpartizipativverhandeltwerden. Auf Grund der ihnen immanenten Handlungsrelevanz gilt,dass sie nicht einfach top down von der offiziellen Politik entschieden werden können, sondern einer breitangelegtenDebatteallerGesellschaftsmitgliederbedürfen(vgl.Kap.1). In ihren Ausführungen zur partizipatorischen Technikfolgenabschätzung stelltdieEnquetekommissiondreiAnsätzenebeneinander,diesichindenjeweili gen Beziehungen zu den politisch legitimierten Institutionen und der Zivilgesell schaft unterscheiden (Deutscher Bundestag 2002, 183ff.): Der expertenorientierte Ansatz ermöglicht die Bereitstellung von spezialisiertem Wissen und von Fach kompetenzimRahmenvonpolitischenEntscheidungsprozessen.DerStakeholder AnsatzdientderBereitstellungeinesinstitutionellenRahmensfürdieAustragung vonGruppenbzw.Interessenkonflikten.DiesebeidenAnsätze,diedieRessourcen Wissen und Kompetenz nutzen sowie einen Zugewinn an Rationalität für politi sche Entscheidungsprozesse und Hilfestellungen zur Strukturierung des gesell schaftlichenDiskursesversprechen,sehensichseiteinigerZeitvermehrtderKritik ausgesetzt. Bemängelt werden insbesondere fehlende demokratische Legitimität wieauchunzureichendeTransparenzbeiderpersonenbezogenenoderfunktional orientierten Auswahl der Experten und der Bestimmung ihrer Aufgaben. Außer demwerdenTendenzenzurEntwicklungeinerinformellen‚Expertokratie’beans tandet. Befürchtet wird zudem, dass Experten zu Stakeholdern werden, die im Gewand vermeintlich neutraler Empfehlungen ihre Gruppeninteressen durchset zen.Auchwirdkritischhinterfragt,dassalsEffektvonExpertendiskursentenden zielleineVerschiebungwegvondermoralischenReflexionallerGesellschaftsmitg liederhinzurmoralphilosophischenBetrachtungeinigerwenigererfolgt(Deutsch erBundestag2002,183). Im Ergebnis haben diese Einwände dazu geführt, dassin der Technikfolgen abschätzungalsdritterAnsatzdasrepublikanischeModellentwickeltwurde,näm lich die „Bereitstellung eines institutionellen Rahmens für die gemeinsame Wil lensbildungvonBürgerinnenundBürgernzumZweckederEntwicklunggemein samer Vorstellungen des Gemeinwohls bzw. des guten Lebens“ (Deutscher Bun destag2002,183f.).DasrepublikanischeModell,zudembislangvorallemBürger konferenzen,BürgerdialogeoderBürgerpanelsgezähltwerden,istimUnterschied zum Expertenmodell und StakeholderModell stärker im zivilgesellschaftlichen

4.2InstitutionelleRahmung

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Raum angesiedelt und weist „allenfalls eine lose Anbindung an die politischen Entscheidungsträger“auf(DeutscherBundestag2002,182).Esbestehtkeinexplizi ter Auftrag der Politikberatung; wichtigster Adressat ist vielmehr die allgemeine Öffentlichkeit.AußerdemsolldiesesModellzurKompetenzerweiterungundWil lensbildung der Bürger beitragen. Orientiert man sich an dieser Systematik, lässt sich das untersuchte Internetforum als republikanischer Ansatz identifizieren. Rahmen,KonzeptionundVerlaufsindeindeutigzivilgesellschaftlichausgerichtet, dagegenspieltdieAdressierungvonPolitikinstitutioneneineuntergeordneteRol le. Nimmt man jedoch dieAnbindungandie offiziellePolitikalsMaßstab, sind Zweifelangebracht,obesüberhauptSinnmacht,das1000FragenProjektderpar tizipatorischenTechnikfolgenabschätzungzuzuordnen.IndervonGabrieleAbels undAlfonsBora(2004)erstelltenSynopselässtessichjedenfallsnichtreibungslos einem der beschriebenen Verfahren zuordnen.85 Auf den ersten Blick scheinen zwarsolcheProjektewiedas1000FragenForummitgemeintzusein,dennauch hierbeschäftigensichjaLaienmitderAbschätzungundBewertungvonTechnik folgen (Abels/Bora 2004, 13). Allerdings kommt hier ein spezifischer Partizipati onsbegriffzurAnwendung:„Unter‚Partizipation’wirdimFolgendeneineprimär politisch programmierte Form der Inklusion in Organisationen bezeichnet.“ (Abels/Bora2004,19)AufGrunddiesesengenVerständnissesvonPartizipationals Beteiligung an den Institutionen etablierter Politik bleiben Verfahren außer Be tracht,die–wie„1000FragenzurBioethik“–einenausgeprägtenzivilgesellschaft lichen Fokus haben und in dem Dreieck Wissenschaft – Politik – Öffentlichkeit primärderÖffentlichkeitzuzuordnensind.NachAbels/Bora(2004,54ff.)spieltfür die Bewertung einzelner Verfahren vor allem die Frage eine Rolle, in welchem VerhältnisdiesezudenInstitutionenderrepräsentativenDemokratiestehen.Kri teriumderLeistungsfähigkeitistdiedirekteAnbindunganLegislativeundExeku tive.DemzufolgeistnurderErörterungsterminvollinklusiv,daerjuristischnor miert, beispielsweise im Umweltrecht gesetzlich vorgeschrieben ist und Auswir kungenaufVerfahrensentscheidungenhat.ImFalldes1000FragenForumskann dagegen von einer legislativen oder administrativen Bedeutungnicht gesprochen werden;aucheinedirekteEinflussnahmeaufpolitischeMeinungsbildungsprozes seingesetzgebendenInstitutionenistnichtvorgesehen.DenstärkstenEinflussübt dasDiskursprojektimzivilgesellschaftlichenBereichaus;Breite,Vielfältigkeitund IntensitätderForumsdebattezeugenvonderTeilhabeeinergroßenZahlvonMen  85 DiebeschriebenenVerfahrensind:I.)Dialogverfahren,II)PartizipativeTechnikfolgenabschätzung mit starker Expertenorientierung, III) Erörterungstermin, IV) Konsensuskonferenz, V) Erweiterte Konsensuskonferenz,VI)VotingConference,VII)SzenarioWorkshop(vgl.Abels/Bora2004).

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4Rahmenanalyse:Bioethik,zivilgesellschaftlichePartizipation,ÖffentlichkeitimInternet

schen;darunterbefindensichauchdiejenigen,dieansonstenkaumindervonEx pertendominiertenBioethikDebatteöffentlichzuWortkommen. Das Beispiel des untersuchten Internetforums zeigt, dass es sinnvoll ist, Ver fahren der Technikfolgenabschätzungnicht nur nach ihren Einflussmöglichkeiten aufdieinstitutionalisiertePolitik,sondernauchnachdemGradihrerVerbindung zur Zivilgesellschaft zu unterscheiden. Bei dieser Einordnung lautet die zentrale Frage: In welchem Umfang ist die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ge währleistetbzw.inwelcherWeiseistzumindestdiepotenzielleTeilhabevon‚Je dermann’ bzw. ‚jeder Frau’ vorgesehen? Schaut man sich unter diesem Ge sichtspunkt andere Versuche an, die angewandt werden, um Einstellungen, Mei nungenundPositionenderZivilgesellschaftindiegesamtgesellschaftlicheDebatte einzubeziehen,lassensichunsererEinschätzungnachsechsModelleidentifizieren (vgl.auchWaldschmidt2003a).DieseModellekönnennachdemGradanBürger beteiligung,dermitihnenverbundenist,folgendermaßendargestelltwerden: Im ‚korporatistischen Modell’ beziehen offizielle Beratungsgremien nicht in dividuelle Positionen einer möglichst großen Anzahl von Menschen in ihre Mei nungsbildungsprozesse mit ein, sondern berücksichtigen kollektive Standpunkte der Zivilgesellschaft, z.B. Stellungnahmen von Verbänden, Selbsthilfeorganisatio nen und Kirchen. Dagegen nutzt das ‚Anhörungsmodell’ offizielle Anhörungen institutionalisierter Politikberatung, um Laien, die von einer Problemlage direkt oder indirekt betroffen sind, als Sachverständige anzuhören. Auf der Basis ihrer LebenserfahrungenundihresAlltagswissens,oftauchmitBezugaufwissenschaft licheErkenntnissegebensieals‚adhocExperten’Stellungnahmenab.Imnächsten Ansatz, dem ‚Kooptationsmodell’, werden betroffene Laien als ordentliche oder beratendeMitgliederoffiziellerGremienberufen;auchaufdieseWeiseerhaltensie einenExpertenstatus,der–imUnterschiedzumAnhörungsmodell–durchausvon Dauer sein kann. In allen drei Fällen sind jedoch die Beteiligungschancen einer größerenAnzahlvonBürgerinnenundBürgernehergering.DreiweitereModelle sind dagegen partizipativer angelegt. Das ‚Konferenzmodell’ führt nach dem Zu fallsprinzip ausgewählte Laien zu einer zahlenmäßig überschaubaren, für einen bestimmten Zeitraum existierenden Gruppe zusammen, die den Auftrag erhält, sich über eine Problemlage eine Meinung zu bilden und ein öffentliches Votum abzugeben. Das ‚Umfragemodell’ nutzt wiederum (repräsentative) Bevölkerungs umfragen,umdieinderZivilgesellschaftvorhandenenEinstellungenundPositio nen zu erkunden. Schließlich erhalten im ‚massenmedialen Modell’ Laien und/oderBetroffeneGelegenheitzuröffentlichenMeinungsäußerungundDarstel lungihrerLebenssituationinRadio,Fernsehen,inPrintmedienwieauchimInter net.

4.2InstitutionelleRahmung

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Nach dieser Systematik lässt sich das untersuchte Internetform mit den drei zuletzt genannten Modellen, dem Umfragemodell, dem Konferenzmodell und demmassenmedialenModellamehesteninVerbindungbringen.UmseineKontu renbesserhervortretenzulassen,sollesdeshalbimFolgendenvergleichendposi tioniert werden. Als Beispiele für das erste Modell werden zwei Bürgerkonferen zenzuFragenderBioethikvorgestellt(4.2.2).AnschließendwerdendieMerkmale voneinschlägigenBevölkerungsumfragenbehandelt(4.2.3),eineseherklassischen Instruments der Technikfolgenabschätzung. Zum Schluss wird die Relevanz des massenmedialenModellsreflektiert(4.2.4).EinzusammenfassenderVergleichder Modelle – anhand der Kriterien Zugangsbeschränkung/Repräsentativität, Offen heitderthematischenWahl,direkteÄußerungvonMeinungenundEinstellungen, Einbeziehung von persönlichen Erfahrungen, Ereignischarakterund Diskursanre gung–sollschließlichdieAusgangsfragenachdempartizipativenGehaltdesOn lineforums„1000fragen.de“beantwortenhelfen(4.2.5).

4.2.2 DasKonferenzmodell ImRahmendesKonferenzmodellsistessinnvoll,dasInternetforummitdemVer fahrenderBürgerkonferenzalseineinternationaletablierteFormderBürgerbetei ligung in der Technikfolgenabschätzung zu vergleichen. Bezogen auf die Bürger konferenzformuliertJoss(2003,24ff.)folgendeZielsetzungen:Zumeinengehees umAnalyse,nämlichumdieWahrnehmungundBeurteilungeinesaktuellen,wis senschaftlichtechnischenThemasausderSichtvon(informierten)LaienundBür gern; zum anderen werde die Demokratisierung der Technologiepolitik verfolgt, indemneue,transparenteundzivilgesellschaftlicheFormenderMeinungsbildung undEntscheidungsfindungangebotenwürden.AußerdemseiderZweckvonBür gerkonferenzen die Anregung und Induzierung öffentlicher Debatten, vor allem durchdiegezielteNutzungderMassenmedien;zusätzlichgeheesumgesellschaft liches Lernen, konkret:um die Entwicklung vonDialog, Diskussions und Kom munikationsfähigkeiten; schließlich rege das Verfahren auch die Nutzung neuer methodischerInstrumenteinderTechnikfolgenabschätzungan. MitderOffenheitderthematischenWahlundderEinbeziehungderSichtwei se von Laien erweitert das Konferenzmodell die starren Regeln von Expertendis kursen. Das Demokratieverständnis ist durch den Bezug auf die Öffentlichkeit eindeutigpartizipativausgerichtet.DieForderungen,gesellschaftlichesLernenzu fördernundneueMethodenzuentwickeln,zielendarüberhinausaufeineVerän derungder politischen Grundlagender Mitbestimmung. Bürgerkonferenzen kön nendaheralseineerweiterteFormpolitischerPartizipationbetrachtetwerden,um

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ineinemdiskursethischenSinndiegesellschaftlicheKommunikationübertechno logischeFragenzufördern.DochwiewirddiesesambitionierteModellindiePra xisumgesetzt? 2001 wurde erstmalig in Deutschland eine Bürgerkonferenz zum Thema „Streitfall Gendiagnostik“ in Dresden veranstaltet (vgl. Schicktanz/Naumann 2003). Orientiert am dänischen Vorbild wurden insgesamt 10.000 Adressen ange schrieben; aus den 255 Rückmeldungen wurden nach einem Zufallsverfahren 19 Bürgerinnen und Bürger ausgewählt und zu einem gemeinsamen Meinungsbil dungsprozess zusammengeführt. Ihre Aufgabe war es, zu einer Bewertung der genetischenDiagnostikzukommen.MitHilfeeinesModeratorswurdegruppenin tern ein gemeinsamer Wissensstand erarbeitet; außerdem fand eine öffentliche Expertenanhörung statt. Zum Schluss kam es zu einem gemeinsamen Votum („Bürgergutachten“) mit anschließender öffentlicher Präsentation, die auch über dieMedienverbreitetwurde.SchautmansichdieErgebnissediesesBürgervotums (Schicktanz/Naumann 2003, 83ff.) an und vergleicht sie mit den Empfehlungen offizieller Gremien, etwa mit der weitgehend von Experten besetzten Enquete kommission„RechtundEthikindermodernenMedizin“86 (DeutscherBundestag 2002),fallenfrappierendeÄhnlichkeitenauf(s.Tabelle1). Im Falle der Präimplantationsdiagnostik (PID) war beispielsweise das Ent scheidungsdilemma, mit dem sich die Enquetekommission konfrontiert sah, be reits2001inderBürgerkonferenzvirulentgewesen.EbensowiedieEnquetekom missionsprachsichdieMehrheitderKonferenzteilnehmer/innenfürdasAufrech terhalten des Verbots aus, während eine Minderheit für eine Zulassung der PID unter restriktiven Bedingungen plädierte (Deutscher Bundestag 2002, 107ff.; Schicktanz/Naumann2003,86ff.).  

 86 Als Kriterium für den Expertenstatus kann man den Bildungsabschluss heranziehen. In der En quetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ waren kaum Mitglieder oder Bera ter/innen ohne akademischen Grad vertreten. Von den 31 ordentlichen Mitgliedern (temporäre Mitgliedschaftenmitgezählt)hatten21einenDoktortitelund10warenaußerdemPrivatdozenten oderProfessor/innen(DeutscherBundestag2002,559f.).

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4.2InstitutionelleRahmung

Tabelle1

VotenausderBürgerkonferenz2001undder Enquetekommission2002

Thema

DresdenerBürgerkonferenz2001

Enquetekommission2002

Gentests

fürAufklärung,fachärztliche Beratung,Qualitätssicherung

fürinformationelle Selbstbestimmung, Diskriminierungsverbot,Screening Tests,fachärztlicheBeratung

gegenScreeningTests,Testsdurch ArbeitgeberoderVersicherung

gegenheimlicheGentests,Testsdurch ArbeitgeberoderVersicherung Pränatal diagnostik (PND)

breiteAufklärungderÖffentlichkeit, mehr(fachärztlicheund psychosoziale)Beratung,mehr IntegrationderMenschenmit Behinderung

[ZurPNDgabdie EnquetekommissionkeinVotumab.]

Präimplan tations diagnostik (PID)

11dagegen:Missbrauchsgefahr (Selektion)beigeringerErfolgschance

16dagegen:Schutzwürdigkeitdes Embryos,keinärztlicherAuftrag, Gesetzeslage,Missbrauchsgefahr (Selektion),geringeErfolgschance

8dafür:kontrollierteAnwendungals bessereAlternativezurAbtreibung87

3dafür:kontrollierteAnwendungals bessereAlternativezurAbtreibung Stammzell forschungmit embryonalen Stammzellen

Pro:alsletztesMittelgegen Krankheiten

[ZuStammzellforschunggabdie EnquetekommissionkeinVotumab.]

Contra:Forschungnichtzulassen,nur diebiologischenElterndürfenüber dievorhandenenrestlichen Stammzellenverfügen88

 DiezweitedeutscheBürgerkonferenzzuFragenderBioethik,diesmalzurStamm zellenforschung, fand im Winter 2003/04 unter Federführung der Arbeitsgruppe „Bioethik und Wissenschaftskommunikation“ des MaxDelbrückCentrums für molekulareMedizin(MDC)inBerlinBuchstatt(Tannert/Wiedemann2004a).89Das Votum,dasdiezwölf,wiederumdurchZufallsprinzipauseinerGesamtstichprobe von14.000Adressenund500InteressiertenausgewähltenBürger/innenverfassten,  87 Bemerkenswert ist, dass in der Bürgerkonferenz alle Frauen gegen die Einführung der PID und alleMännerdafürstimmten. 88 Dieses Ergebnis deckt sich mit Ergebnissen der Studie „Einstellungen und Ambivalenzen der deutschenAllgemeinbevölkerungzurForschungmitextrakorporalenEmbryonen“,dieanderAb teilung für Rehabilitationspsychologie am Institut für Psychologie, Freiburg i.Br. durchgeführt wurde (Barth u.a. 2005). Auch hier wird der Umgang mit dem Embryo als entscheidend für die BewertungderForschungangesehen. 89 Vgl.auchhttp://www.bioethikdiskurs.de/Buergerkonferenz(30.03.2005).

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wurdeimMärz2004inBerlindemSchirmherrn,BundestagspräsidentenWolfgang Thierseüberreicht.90DiePositionsbestimmungzurStammzellforschungfielerneut heterogen aus (Tannert/Wiedemann 2004a, 139ff.): Zwar sprachen sich die Bür ger/innenmehrheitlichfürdieVerstärkungderForschungmitadultenStammzel len als „das mildere Mittel“ aus, bei der embryonalen Stammzellforschung ergab sichjedocheinuneinheitlichesMeinungsbild.ZwarüberwogdieAuffassung,dass der Embryo schutzwürdig sei; zudem wurden massive Zweifel am Nutzen einer solchen Forschung geäußert. Gleichzeitig plädierte die Hälfte der Konferenzteil nehmer jedoch für eine vorsichtige Öffnung des Embryonenschutzes zugunsten derForschungsfreiheit;zweiTeilnehmerbilligtendastherapeutischeKlonen(vgl. Tannert/Wiedemann 2004b, 150). Wiederum kann ein Expertenvotum zum Ver gleich herangezogen werden: In der vom gleichen Forscherteam durchgeführten DelphiUmfragezur„ZukunftderStammzellforschunginDeutschland“hattendie befragten Kliniker und Wissenschaftler ebenfalls die embryonale Stammzellfor schungzurückhaltendbeurteilt.GleichzeitigbrachtenauchsiedieForschungsfrei heitinsSpiel:Als„größtesRisikofürPatienten,ForschungundIndustrie“wurde dieAbwanderungvonStammzellforschernaufGrund„restriktiverForschungsbe dingungen“indenkommendenfünfJahrenprognostiziert.91 Diese kurze Zusammenfassung der Ergebnisse bisheriger Bürgerkonferenzen zurBioethikinDeutschlandverweistaufderinhaltlichenundstrukturellenEbene auf auffallende Ähnlichkeiten zwischen Bürgervoten und Stellungnahmen von Experten.TatsächlichisteinKennzeichenderbisherdurchgeführtenKonferenzen, dasssiesichimAblaufstarkandenRegelnderwissenschaftlichenPolitikberatung und des Expertentums orientieren. Beispielsweise werden die Konferenzteilneh mer/innen in eigens durchgeführten Workshops in die jeweilige Thematik einge führt. Sie werden zum einen dazu motiviert, sich wissenschaftliches Wissen an zueignen; zum anderen gehört es zum Verfahren, im Rahmen des Bürgervotums dasLaienwissennachwissenschaftlichenRegeln–inschriftlicherForm,nachvoll ziehbarFürundWiderabwägend–zupräsentieren.ImEndeffektmüssensichdie beteiligtenBürger/innenaufdieSpielregelnrationalerArgumentationundmedia ler Präsentation einlassen, sie müssen ihre subjektiven Erfahrungen ausblenden oderdieseverobjektivieren–zumindestdann,wennsieernstgenommenwerden wollen. Sie müssen Antworten finden, Stellungnahmen formulieren, Positionen beziehen, auch wenn sie vielleicht eher diffuse Ängste und Unsicherheiten emp finden. Da die Teilnahme immer freiwillig ist und auf Ehrenamtlichkeit beruht,  90 Pressemitteilungen des MaxDelbrückCentrums 2004, siehe: (16.12.2004). 91 Vgl.http://www.berlinews.de/archiv2004/2169.shtml(30.03.2005).

http://www.helmholtz.de

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bestehttheoretischdieMöglichkeit,sichzwarKenntnisseanzueignenundmitzu diskutieren, das geforderte Votum jedoch zu verweigern – beispielsweise, weil mansichtrotzdesangeeignetenWissensratlosundmiteinerEntscheidungüber fordertfühlt.Vorstellbaristauch,dassdieTeilnehmendendieaufgeworfenenFra gen als ‚irrelevant’ zurückweisen. Zu einer solchen Grundsatzkritik ist es jedoch, zumindest in den uns bekannten Bürgerkonferenzen, bislang nicht gekommen. AlleTeilnehmer/innenhabensichoffensichtlichinderLagegefühlt,zudenvorge gebenen bioethischen Fragen Stellungzu nehmen. Die Akteure der Bürgerbeteili gung – jedenfalls diejenigen, die bis zum Schluss mitarbeiten – agieren ‚rational’; mehr noch: Sie verhalten sich wie QuasiExperten und geben ein ‚fachkundiges’ Urteilab.InanderenWorten,sieformendenerwünschtenHabitusaus–undbe tonengleichzeitig,dasssiejaBürgerundLaien,aberkeineExpertenseien(Schick tanz/Naumann2003,84;Tannert/Wiedemann2004a,151). AlsgrundsätzlicheKritikanBürgerkonferenzenwirdformuliert,dassessich um strategische Versuche handelt mit dem Ziel, einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen,denesfaktischnichtgibt(vgl.Winter2003).DieseKonferenzenseien vielmehrpopulistische,„theatermäßiginszenierte[.]‚Demokratieshows’“,dieüber dieLegitimationskrisenpolitischerInstitutionenhinwegtäuschensollten(vgl.Joss 2003, 30). Dagegen weist die wissenschaftliche Begleitforschung der beiden hier betrachtetenBürgerkonferenzen(vgl.Abels/Bora2004;DeutscherBundestag2002, 185;Schicktanz/Naumann2003;Tannert/Wiedemann2004a)aufderenDemokratie stärkende Wirkung hin. Die Bürgerbeteiligung stelle einen Wert an sich dar; sie zieleaufdieHerausbildungzivilgesellschaftlicherKompetenzundaufeineempa thie und gemeinwohlorientierte Diskussionskultur. Auch eine „erzieherische Di mension“ (Deutscher Bundestag 2002, 186) wird konstatiert, da die Bürger/innen angeregtwürden,unterschiedlicheSichtweisenkennenzulernenundnachzuvoll ziehen. Jenseits dieser Bewertungsversuche macht die Praxis der Bürgerkonferenzen auf einige Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Partizipationsgedankens auf merksam,diefürdenVergleichmitdenbeidennochzuberücksichtigendenBetei ligungsmodellenfestgehaltenwerdensollen:DerAnspruchvonRepräsentativität ist nicht wirklich umsetzbar, da Auswahl und Begrenzung der Konferenzteilneh mer/innen,denenjaExpertenwissen,ZeitundGehörzurVerfügunggestelltwird, unumgänglich sind. Auch können diejenigen, die über die Auswahl der Bürger undderExpertensowieüberdieAgendabestimmen,mittelsdieserRichtungsent scheidungendie Konferenzergebnissemaßgeblich beeinflussen.Des Weiteren gilt für das Konferenzmodell,dass das sprachliche Ausdrucksvermögen die entschei dende Ressource der Teilnehmenden ist. Mündliche und schriftliche Sprachkom

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petenz wie auch das Bildungsniveau sind zentrale Faktoren dafür, dass Einzelne ihre Positionen in den Diskussionsprozessen und bei der Formulierung des Vo tums durchsetzen können oder eben nicht. Daneben können weitere strukturelle Bedingungen (Geschlecht, Herkunft, Schichtzugehörigkeit etc.) zu einem Un gleichgewichtimTeilnehmerkreisführen.Personenmiteingeschränktenzeitlichen Ressourcenund/oderbegrenzterMobilitätwerdeneheralsandereimVerlaufder mehrteiligen Konferenzphase ausscheiden. Schließlich ist für den Meinungsbil dungsprozess während der Konferenz die Annahme plausibel, dass es zur He rausbildung informeller Machtverhältnisse kommt, die das Ergebnis ungewollt beeinflussen.UndnichtzuletztmussbeiderBewertungdesKonferenzmodellsder ungeklärte Status des Votums berücksichtigt werden. Bleiben die Rahmenbedin gungenseinesZustandekommensaußerAcht,bestehtdieGefahr,dassBürgerkon ferenzenalseineArt‚NebenParlament’aufgefasstwerden,demjedochdiedemo kratischeLegitimationfehlt.

4.2.3 DasUmfragemodell Im Unterschied zu Bürgerkonferenzenwerden Umfragen nicht durchgeführt,um Partizipationzu verwirklichen, sondern sie dienenals Instrumente zur Erfassung von Meinungen und Einstellungen. Es geht hier also nur im weitesten Sinne um dieEinbeziehungderBevölkerung.ZielderUmfragenistesauchehernicht,diffe renzierteMeinungsäußerungeneinzuholen,sonderneinemöglichstrepräsentative VerteilungmeistschonbekannterStatements(Meinungen/Stellungnahmen)inder GesamtpopulationoderindefiniertenTeilgruppennachzuzeichnen,umeindeutige AussagenbeiderAuswertungzuermöglichen.JenachfachlicherAusrichtungund Umfang der Studien werden den Befragten pointierte Pro und Contra Äußerungen oder differenzierte Stellungnahmen abverlangt. Anhand von drei StudienzubioethischenThemensollenimFolgendendieGestaltungsmöglichkei tenvonUmfragedesignsunddiediesemUntersuchungsverfahreninnewohnende Problematik illustriert werden (vgl. Brähler/StöbelRichter 2004; Dahl u.a. 2003; Hoffmannu.a.2003;Zwick2000). Manstellesichvor,beimAbendessenklingeltdasTelefon.Nacheinerkurzen VorstellungundzweieinführendenFragen,obmanalseigeneKinderlieberJun genoderMädchenhabenwolle,lautetdiedritteFrage,diederInterviewerstellt: „Es könnte bald für Eltern möglich sein, das Geschlecht ihrer Kinder zu wählen. Paare, die an einer solchen Dienstleistung interessiert wären, müssten ein Fruch tbarkeitszentrum besuchen, eine Samenprobe abgeben, sich durchschnittlich drei bisfünfZyklenintrauterinerInseminationunterziehenundeinenBeitragvon2.000

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Euro pro Versuch zahlen. Würden Sie eine solche Technologie nutzen? Bitte ant worten Sie mit ja oder nein.“ (Dahl u.a. 2003, 2232)92 Möglicherweise könnte sich aus dieser Frage ein interessantes Gespräch entwickeln; in unserem Fall ist der Interviewerjedochgehalten,denUntersuchungspersonen,mitmöglichstgeringem Zeitaufwand, die standardisierten Antworten (‚ja’ oder ‚nein’)93 zu entlocken. Er oder sie wird also versuchen, schnell die restlichen beiden Fragen zu stellen, um das Telefonat zu beenden. Diese Studie, die sich des in der Marktforschung übli chen Telefoninterviews bedient, ist ein typisches Beispiel für ein nichtreflexives Umfragedesign. Mit einer Stichprobe von 1.094 Personen im Alter von 18 bis 45 Jahren erhebt sie den Anspruch, repräsentativ für die deutsche Bevölkerung zu sein.Zielwar,herausfinden,obdiedeutscheBevölkerungbeimKinderwunschein bestimmtes Geschlecht bevorzugt und Nachfrage nach einer Technologie besteht, die es erlaubt, das Geschlecht des Kindes zu bestimmen.94 Dazu sah das For schungsdesign fünf Fragen vor, darunter die oben vorgestellten (Dahl u.a. 2003, 2232).DieEngführungderBefragungbestehtnichtnurdarin,dassdieBefragtenin eine standardisierte, hypothetische Situation hinein versetzt werden und ohne RückfragenundmitwenigBedenkzeiteineMeinungäußernsollen.Auchdiebe nutzte Wortwahl aus dem medizinischen Bereich (‚intrauterine Insemination’) bewirkt eine große Distanz zwischen Interviewer und Befragten. Letztlich bleibt unklar,wiedieErgebnisseeinersolchenMeinungsumfragezuinterpretierensind; angesichts der Rahmenbedingungen kann die Aussagekraft der Ergebnisse an gezweifeltwerden.HinsichtlichderFrage,wasdieBevölkerung‚tatsächlich’über dieGeschlechtsbestimmungdenktbzw.obsiebereitwäre,solcheMöglichkeitenin Anspruchzunehmen,istdieUntersuchungwenigaufschlussreich.FürihreAuto ren(Dahlu.a.2003,2234)stehtjedochalsErgebnisfest:„DieverfügbareDatenlage lässtvermuten,dasseinguterreichbaresAngebotannichtmedizinischinduzierter Geschlechtsselektion vor der Zeugung nur eine geringfügige soziale Auswirkung hatundesunwahrscheinlichist,dasseszueinemausgeprägtenUngleichgewicht

 92 Eigene Übersetzung; im Original: „It may soon be possible for parents to choose the sex of their children. Couples interested in such a service would have to visit a Fertility Center, provide a spermsample,undergoanaverageofthreetofivecyclesofintrauterineinsemination,andpaya feeof€2000perattempt.Wouldyoutakeadvantageofthistechnology?yesno.“(Dahlu.a.2003, 2232) 93 Das Fehlen einer neutralen Kategorie„weiß nicht/keine Meinung“ ist übrigens ein methodischer Fehler. 94 DieseTechnologiegibtesbereits,vgl.http://www.microsort.com(30.04.2008).

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zwischendenGeschlechternkommt.“95Esistunschwerzuerkennen,dassbeidie ser Umfrage die Bevölkerung vor allem deshalb einbezogen wird, weil man he rausfinden will, ob die neuen Techniken auf Akzeptanz stoßen würden und ent sprechende medizintechnologische Produkte künftig auf dem Markt abgesetzt werdenkönnten.Außerdemgiltes,diebevölkerungsbzw.genderpolitischenKon sequenzen–imSinnederBevorzugungeinesGeschlechts–zueruieren.Kritische Nachfragen danach, warum eine solche Technik überhaupt sinnvoll sein sollte, sowie widersprüchliche Empfindungen und Bedenken wegen möglicher Folgen habendagegendieForschergruppenichtinteressiert. In einer weiteren, an der Universität Leipzig durchgeführten Repräsentativ umfrage (416 Ost und 1.694 Westdeutsche) zum Thema Reproduktionsmedizin und Präimplantationsdiagnostik (Brähler/StöbelRichter 2004) wurden nicht nur Meinungen, sondern auch Wissensbestände erfragt. Dabei zeigte sich, dass 71% der Befragten wussten, was Reproduktionsmedizin ist; allerdings hatten nur 40% etwasvonderPräimplantationsdiagnostik(PID)gehört.Immerhin70%derBefrag ten äußerten, dass sie überhaupt kein Interesse an diesem Thema hätten (Bräh ler/StöbelRichter2004,14ff.).AuchwurdedaseigeneWissenalsehermittelmäßig eingeschätzt.NacheinerentsprechendenInformationdurchdieInterviewer96spra chensichdieBefragtendannabermehrheitlichfüreinebreiteZulassungderPID inDeutschlandaus.97NachihrenmitderPIDverbundenenGedankenundGefüh len befragt, gaben sie als höchste Nennung „Ambivalenz“ (45%) und „Unsicher heit“(44%)an(Brähler/StöbelRichter2004,21).IndiesemFallgingmanalso,ähn lich wie bei der Bürgerkonferenz, davon aus, dass die Laien zunächst mit repro duktionstechnologischem Spezialwissen versorgt werden müssen, um sich über haupteineMeinungbildenzukönnen–sicherlichnichtzufällighatdanndasver mittelteExpertenwissennichtnurInteresseanderTechnikhervorgerufen,sondern auch breite Zustimmung zu deren Einführung in Deutschland. In methodischer HinsichtistdiesesErgebniskritischzubetrachten;esstelltsichdieFragenachsei ner etwaigen Beeinflussung durch das Messinstrument (‚Informieren’ der Befrag ten).ZumanderenmachendieAntwortenaufdieFragenachdenmitderPIDver bundenenGefühlendeutlich,dassessich–trotzInformation–umeinunsicheres  95 EigeneÜbersetzung;imOriginal:„Theavailableevidencesuggeststhatareadilyavailableservice forpreconceptionsexselectionfornonmedicalreasonswillhaveonlyanegligiblesocietalimpact andisunlikelytocauseaseveregenderimbalance“. 96 LeidergibtdieQuellekeinenAufschlussüberdieArtderInformationen,diegegebenwurden.Die Redeistvon„geschulten“Interviewern,dieoffensichtlich,wiedemArtikelzuentnehmenist,bei der Frage nach der „Eizellenspende“ medizinisches Hintergrundwissen lieferten (Brähler/Stöbel Richter2004,3und12). 97 AlsMittelzurGeschlechtsauswahlwurdediePIDjedochabgelehnt.

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Wissen handelt, das hier zum Tragen kommt. Die Befragten sind offensichtlich sehrschnellzurAkzeptanzderneuenTechnikbereit,obwohlsiewenigSicherheit undVertrauenempfinden. InderdrittenhierbetrachtetenStudiebefragteeinevomBundesforschungsminis terium geförderte, interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Universitäten Marburg, Gießen und Heidelberg 162 so genannte genetische „Hochrisikopaare“98 und 149 Paare einer Kontrollgruppe hinsichtlich ihrer Erfahrungen mit und Einstellungen zuverschiedenenreproduktivenMöglichkeiten(Hoffmannu.a.2003).99Dazusätz lichmehrerepersönlicheMerkmalederBefragteninihrenWechselwirkungenana lysiert werden sollten, entwickelte dieForschungsgruppe einkomplexesStudien design,dasnebeneinerstandardisiertenBefragungauchqualitativeInterviewsmit den betroffenen Paaren beinhaltete. Diese Methode wurde als erster Untersu chungsschritt gewählt, da die Arbeitsgruppe sich nicht vorstellen konnte, „dass einetelefonischeodereinepostalischeBefragungzukomplexenbioethischenFra gestellungenvalideErgebnisseliefernkann.“(Hoffmannu.a.2003,54)Derinder Hauptuntersuchung verwendete standardisierte Fragebogen war mit 28 (Ziel gruppe) bzw. 27 Seiten (Kontrollgruppe) äußerst umfangreich. Den Interviews vorausgingdieVersendungeinerInformationsbroschüreandieBefragten.Wiede rumwurdeversucht,durchWissensvermittlung,vorallemaberdurchdiepersön lichenInterviewszuvalidenAussagenzugelangen. Doch auch bei dieser Studie lässt sich über die Interpretation der Ergebnisse streiten. Die Tatsache, dass es Betroffene sind, die für selektive Fortpflanzungs möglichkeitenplädieren(Hoffmannu.a.2003,56ffund234ff.),scheintfürdieAu toren deren Einsatz von vorneherein zu legitimieren.100 Die Kategorie „Hochrisi kopaare“, die aus der medizinischen Diagnostik stammt, wird unhinterfragt für die eigene Untersuchung übernommen; auch die Möglichkeit, dass die Befragten  98 Als„Hochrisikopaare“galtenPaaremiteinemRisikovon10%,25%,50%fürdieVererbungver schiedener, als „genetisch bedingt“ bezeichneter Erkrankungen, darunter Stoffwechselstörungen und neurologische Erkrankungen. Sie wurden aus den Patienten und Patientinnen der mit der StudiekooperierendenhumangenetischenundpädiatrischenZentrenausgewählt(Hoffmannu.a. 2003,52). 99 IndieStudieeinbezogenwurdenfolgendeOptionen:VerzichtaufKinder,Adoption,Schwanger schaft ohne/mit Pränataldiagnostik, künstliche Befruchtung (IVF), Präimplantationsdiagnostik (PID). 100 Dabei wird auf den „eklektischen, autokoenomischen, positionenbezogenen und relationalen philosophischenRahmeneinersichselbstalsfeministischbezeichnendenBioethikverwiesen(vgl. Krones2005).ImOriginalheißtes:„eclectic,autokoenomous,positionalandrelationalphilosophi calframework“(Tong1997,75ff.).DasausderangloamerikanischenDebattestammendeKonzept der„Autoekonomie“betontimUnterschiedzurAutonomiedieNotwendigkeitderBerücksichti gungvonFremdregelnimmenschlichenHandeln.

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gegenüberdenInterviewern,dieihnenalsVertreterdesWissenschaftsbzw.Me dizinsystems gegenüber treten, nicht völlig ungeschminkt die Meinung kundtun, wirdinderErgebnisdarstellungnichtweiterreflektiert.EinevertiefteBetrachtung würdeauchdieTatsacheverdienen,dasssichdie‚Hochrisikopaare’soverhalten, wie man es im Zeitalter des „genetische[n] Code[s]“ (Kay 2005, 15ff.) angesichts von sozialer Kontrolle, Stigmatisierung von Kinderlosigkeit und dem damit ver bundenen Normalisierungsdruck von ihnen erwartet: Sie plädieren für medizin technologischeSelektion. Die drei zitierten Studien sollten veranschaulichen, wie üblicherweise als Er gebnis wissenschaftlicher Forschung die ‚öffentliche Meinung zur Bioethik’ re konstruiertwird.Fragtmannun,inwelchemUmfangindenUmfragendiepoten zielleTeilhabevon‚Jedermann’bzw.‚jederFrau’vorgesehenwar,kannvoneiner breitenundaktivenBeteiligungnichtdieRedesein.MitdemKonzeptderstatisti schenRepräsentativitätlässtsichzwardurchausderAnspruchbegründen,Bevöl kerungsumfragen bildeten ‚JedermannWissen’ bzw. die Meinungen und Einstel lungenderBürger/innenadäquatab.InwieferndieabgefragtenDatenabertatsäch lichdiesemAnspruchgenügenundLebensweltensachgerechtreproduzierenkön nen, ist vor allem eine Qualitätsfrage. Eine größereAussagekraft kommt denjeni genUmfragenzu,diereflexiveKommunikationssituationen–meistinFormquali tativer Interviews – in ihr Forschungsdesign einbauen. Doch wie in der obigen Darstellung deutlich wird, können Verzerrungen im Untersuchungsdesign zu fragwürdigenErgebnissenundSchlussfolgerungenführen. GrundsätzlichsindselbstbeiErfüllungsozialwissenschaftlicherGütekriterien dem Anspruch, mit Umfragen Partizipation herzustellen, enge Grenzen gesetzt. ZumeinenistinBefragungsundInterviewsituationendieKommunikationsstruk tur von vorneherein asymmetrisch. Folglich besteht immer die Gefahr, dass die Forschenden ihre Interpretation der Wirklichkeit durchsetzen können. Zudem wirdhäufigmitfestgelegtenFragenoperiert;siesetzeneinenengenRahmen,der den Befragten kaum eigenen Interpretationsspielraum zur Verfügung stellt. Zum anderen muss berücksichtigt werden, dass die Interpretation der Antworten, die FormderVeröffentlichungunddieweitereNutzungderDateninderRegeldem Forscherteamobliegt,dasdieUmfragendurchgeführthat.DasgewonneneWissen bleibtalsoindenHändenderExperten;eskursiertvoralleminSpezialdiskursen. Und schließlich gibt es keine absolute Repräsentativität im statistischen Sinne. UmfrageergebnissesindimmernurtypischfürausgewählteMerkmaleihrerZiel gruppe, für einen bestimmten Zeitpunkt und ein bestimmtes Erhebungsgebiet.

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Anzumerken wäre auch, dass Meinungen in der Regel eher instabil sind,101 wäh rend sich Einstellungen nur langsam ändern; um letztere zu erheben, ist ein ent sprechendaufwändigesErhebungsinstrumentariumnotwendig.

4.2.4 DasmassenmedialeModell ImUnterschiedzuUmfragemodellundKonferenzmodellerhaltendieBetroffenen imletztenhierzubetrachtendenBeteiligungsansatzdieGelegenheit,indenMas senmedien ihre Meinungen, Erfahrungen, Einstellungen kundzutun: Zur Anwen dung kommen solch unterschiedliche Formate wie Talkshows, interaktive Mit machsendungen, Ratgebersendungen oder auch Dokumentationen über indivi duelleSchicksale.FürdasDiskussionsforum„1000FragenzurBioethik“bietetsich die Verortung im massenmedialen Modell am ehesten an, schließlich findet die DebatteimInternetstatt;auchistesindenerstenJahrenseinerLaufzeitvoneiner aufwändigen,multimedialenPublikumskampagnegerahmtworden(vgl.Kap.2). Zumindest für Deutschland stellen Onlineforen neuartige Versuche dar, das InternetalsMediumpolitischerPartizipationzunutzen(vgl.Jazbinsek2006).Des sen technischen Möglichkeiten verändern das klassische SenderEmpfänger Modell der Massenmedien nachhaltig; massenmediale Kommunikation basiert zunehmend auf einer interaktiven, also auf aktive Teilnahme zielenden Dialog struktur. Dies gilt auch für die Verbreiterung und Intensivierung der Bioethik Debatte(Graumann2003;Putzker1996;Weingart2005).IndiesemKontextistdas 1000FragenForummitseinerbeachtlichenResonanzbislangdaspublikumswirk samste gewesen. Doch als es 2002 eingerichtet wurde, war keineswegs ausge macht, dass die öffentliche Thematisierung von Bioethik in der Bevölkerung tat sächlichaufeinderartgroßesInteressestoßenwürde.AuchwardasUnternehmen in partizipatorischer Hinsicht durchaus kühn: Möglichst unzensiert sollten aus nahmslos alle in der Zivilgesellschaft vorhandenen Stimmen die Möglichkeit zur Äußerung erhalten. Zielgruppe war die ‚Masse’ in ihrer unüberschaubaren Viel heit; sie wurde als Akteur mit Innovationspotenzial verstanden.102 Dieser spezifi scheCharakterdes1000FragenForumsmachtdenVergleichmitanderenOnline forenzueinerähnlichenThematikschwer,wennnichtsogarunmöglich.

 101 Mandenkez.B.anWahlprognosen. 102 Hier kann das von Hardt und Negri (2002, 123) neu belebte Konzept der „Multitude“ assoziiert werden: Gemeint ist eine Vielzahl von Personen bzw. Subjekten oder auch „Singularitäten, die gemeinsamhandeln.“

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Beispielsweise umfasste das mit Mitteln des Bundesforschungsministeriums im Zeitraum 20022005 geförderte Projekt „Diskurs zu den ethischen Fragen der Biomedizin“103 auch eine Bürgerkonferenz; im medial vermittelten Bereich gab es jedoch lediglich eine Onlinekonferenz und sie richtete sich nur an Experten. Ein zweites internetbasiertes Forum „Treffpunkt Ethik“, in Trägerschaft der Katholi schen Bundesarbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung (KBE) und ebenfalls mit Mitteln des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung gefördert, verfolgtedezidierterdasAnliegen,dieBevölkerungzubeteiligen.Insofernkommt es dem 1000 FragenForum am nächsten, jedoch unterscheidet es sich von ihm durchseinpädagogischesSelbstverständnis.AlsZielsetzungwolltediesesForum „Lerninteressierten unterschiedlicher Bildungsbereiche eine nachfrageorientierte, internetunterstützte Lernumgebung für ethische Diskurse bieten“;104 es handelte sich also um einen – im klassischen Sinne – normativ gelenkten Lernprozess.105 DiesesAnliegenlässtinVerbindungmitderkirchlichenTrägerschaftundderspe zifischen Form der Präsentation einen Vergleich mit „www.1000fragen.de“ als wenigsinnvollerscheinen. Aus allgemeiner Sicht hat die technische Realisierung von Diskussionsforen im Internet zahlreiche Vorteile: An der virtuellen Debatte kann sich eine nahezu unbegrenzteAnzahlvonPersonenbeteiligen.VoraussetzungistlediglicheinOn lineanschlussunddasentsprechendeAnwenderwissen;auchmiteingeschränkten zeitlichenRessourcenund/oderbegrenzterMobilitätistdieNutzungdesInternets prinzipiell möglich. Ob aber ein solches Forum tatsächlich häufig frequentiert wird,hängtvonvielenFaktorenab;imFallevon„1000fragen.de“hatsicherlichdie begleitendeÖffentlichkeitskampagne,diesichtraditionellerMedien(Plakate,An zeigenetc.)bediente,zurmassenhaftenNutzungbeigetragen.Fürdenindividuel len Nutzer ist der zeitliche Aufwand für die Beteiligung relativ gering, was die Hemmschwelle gesenkt haben dürfte. Auch die Aufforderung, Fragen zu stellen, hatwahrscheinlichstimulierendgewirkt.BeimInternethandeltessichaußerdem zumindesttendenziellumeinenthierarchisierendesMedium:StabileMachtstruk turensindinstarkfrequentiertenForenkaumdenkbar,auchwennbesondersakti  103 Das Projekt „Diskurs zu den ethischen Fragen der Biomedizin“ unter der Leitung von Christof Tannert war am MaxDelbrückCentrum für molekulare Medizin BerlinBuch angesiedelt. Die groß angelegte „Diskurs Agenda“ umfasste u.a. einen „ScenarioWorkshop“, eine Delphi Umfrage,eineExpertenOnlinekonferenzundeineBürgerkonferenz,siehe  http://bioethikdiskurs.de/documents/Aktuelle_Teilprojekte/Uebersicht.htm(20.03.2006). 104 Vgl.http://www.treffpunktethik.de/default.asp?fid=1461(20.3.2006). 105 Das Diskursprojekt „1000fragen.de“, auch wenn es nicht primär für diesen Zweck angelegt ist, bietetebenfallseinreichhaltigesMaterialfürdiepädagogischeArbeit;zusätzlichstehenLehrund LernmaterialienzumThemaBioethikzurVerfügung(vgl.2.2).

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veUserdeneinenoderanderenDiskussionsstrangdominierenkönnen.Inwiefern dieTeilnahmekontrolliertwirdundRegelnvorhandensind,hängtvondenjewei ligenBetreibernderWebseiteab.Das1000FragenForumhatjedenfallskeineho hen Zugangsschwellen; es gibt lediglich vorgegebene Themenbereiche und nur wenigeDiskussionsregeln,beiderenVerletzungsichdieModerationdasRechtzur LöschungderBeiträgevorbehält(vgl.2.3). Eslassensichalso,wasdieNähezumAlltagangeht,fürInternetforenqualita tiveUnterschiedezuBürgerkonferenzenundUmfragenfeststellen.Jedochgibtes auchderOffenheitundpotenziellgroßenReichweiteentgegenstehendeAspekte, dieexkludierendwirkenkönnen:ZumeinenlässtdieTatsache,dassdieTeilneh mer/innen nicht nur der mündlichen, sondern auch der schriftlichen (deutschen) Sprache mächtig sein und zudem über einen Computer bzw. Internetanschluss verfügen müssen, um sich beteiligenzu können, eine gewisse strukturelle Bevor zugung bestimmter Bevölkerungsteile vermuten. Zum anderen verlaufen auf GrunddesEreignischaraktersdieDiskussioneninInternetforenoftohneeinvor gegebenes Ziel und bleiben ohne direkte Folgen fürpolitische Entscheidungspro zesse.106

4.2.5 ZurpartizipativenQualitätdesInternetforums NachdemdiedreiModellemitPraxisbeispielenvorgestelltsind,gehtesabschlie ßendumeineEinschätzung,wiesichdas1000FragenForuminseinerpartizipati ven Qualität von den anderen Verfahren unterscheidet. Zu diesem Zweck sollen diebenutztenVergleichskriteriennochmalssystematischdargestelltwerden.  Zugangsbeschränkung/Repräsentativität: WerdendieGütekriterienfürStichprobenziehungeneingehalten,garantierenUm fragen und Konferenzen107 allen potenziellen Teilnehmern und Teilnehmerinnen die gleiche Chance. In dem Internetforum ist der Zugang den erwähnten techni schen und sprachlichen Einschränkungen unterworfen. Die Beteiligungschancen mögen hier etwas ungleicher verteilt sein, sind aber dennoch auf Grund der un begrenzten Kapazität des virtuellen Raums um ein Vielfaches höher als bei den zuvorgenanntenVerfahren.DieRepräsentativitätderSozialforschungbeschränkt  106 DerEinflussaufpolitischeEntscheidungenbleibtallerdingsauchbeiUmfragenundBürgerkonfe renzenunklarbzw.schwernachzuvollziehen. 107 Beim Konferenzmodell ist die Zahl der Teilnehmenden so gering, dass von einer durch die Zu fallsauswahlhergestelltenRepräsentativitätnichtdieRedeseinkann.

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sich meist auf die statistische Verteilung von Merkmalen der Teilnehmer/innen, wieAlter,Geschlecht,Wohnortetc.EineandereFrageist,obdasjeweiligeThema in seiner Breite und eventuellen Widersprüchlichkeit angemessen repräsentiert werdenkann.HiersindoffeneVerfahrenwie„1000fragen.de“imVorteil.  OffenheitderthematischenWahl: Sowohl bei Umfragen wie auch bei Bürgerkonferenzen lässt der hohe Methoden aufwand nur einen stark begrenzten Themenbereich zu. Die Entscheidung über relevante Aspekte wird von den Konferenzveranstaltern bzw. Wissenschaftlern gefällt.Bei„1000fragen.de“werdenebenfallsThemenvorgegeben;esistdenTeil nehmenden nicht möglich, auf der obersten Ebene eigene Diskussionspfade zu eröffnen.AberimVergleichzudenanderenbeidenBeteiligungsformenbietetdas InternetforumeinsehrbreitesSpektrumvonneunThemenmitinsgesamt45Un terthemen. Außerdem können nach subjektivem Ermessen eigene Einordnungen erfolgen,dieauchnichtnachträglichdurchdieModerationkorrigiertwerden.  ÄußerungvonMeinungenundEinstellungen: Dadas1000FragenMaterialohneweitereBearbeitungausderBevölkerunggene riert wird, können hier Einstellungen, Meinungen, Motive und Wissensbestände vieldirekterzuTagetreten,alsdiesbeiUmfragenderFallist.AuchlässtdieOf fenheit des Forums die Artikulation von Widersprüchen und Dilemmata zu. Da gegen erfolgt in der standardisierten Sozialforschung eine Systematisierung der MeinungenundEinstellungenschonimVorhinein,konkretbeiderGestaltungder Fragebögen und auch bei der Durchführung der Interviews. Bei Bürgerkonferen zen wiederum gehört es zum Konzept, die Teilnehmenden durch von Experten durchgeführteSchulungensystematischaufdasVotumvorzubereiten.  EinbeziehungvonpersönlichenErfahrungen: Umfangreiche Einblicke in lebensweltliche Erfahrungen, Wissensbestände und ArgumentationsmustereinergroßenMengevonBürgernlassensicheherüberein Internetforumwie„1000fragen.de“gewinnenalsdurchMeinungsumfragen108und Bürgerkonferenzen.DieseEinschätzungmussjedochdifferenziertwerden:Beider VerwendungqualitativerInstrumentewiez.B.Leitfadeninterviewsmiteinerdefi nierten Gruppe kann man natürlich ein komplexeres Bild erhalten als aus einem kurzenStatementimvirtuellenRaum.DasGleichegiltfürintensiveGruppendis kussionen auf einer Bürgerkonferenz. Sobald aber große Gruppen und die ganze  108 Eswärenatürlichgrundsätzlichmöglich,beiMeinungsumfragennachpersönlichenErfahrungen zufragen;dieswirdaberüblicherweisenichtgetan.

4.2InstitutionelleRahmung

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Vielfalt alltagsweltlicher Äußerungen einbezogen werden sollen, stößt das Kon zeptderBürgerkonferenzanorganisatorischeGrenzenundbeimUmfragemodell fällt die potenzielle Vielfalt der Äußerungen den Ansprüchen der Standardisie rungzumOpfer.  Ereignischarakter: Sowohl Meinungsumfragen und Bürgerkonferenzen als auch das 1000 Fragen Forum haben Ereignischarakter. Die hier getätigten Äußerungen sind immer nur MomentaufnahmeneinerDebatte,diesichständigverändert.DabeihatdieWeb seite„1000fragen.de“aberdenVorteil,sehrflexibelzusein.DasbenutzteMedium Interneterlaubtes,dieDiskussionjederzeitohnegrößerenAufwandzuunterbre chenundzueinemspäterenZeitpunktfortzusetzen.  Diskursanregung: InnochstärkeremMaßalseineBürgerkonferenzzieltdas1000FragenForumauf die Anregung demokratischer Diskussionskultur und gesellschaftlicher Lernpro zesse.DagegenwilldasUmfragemodellmitseinenAnsprüchenanWissenschaft lichkeit, Standardisierung und Repräsentativität gar nicht Teil einer öffentlichen Debattesein,sondernistvonvornehereinalsBeitragfürdenExpertendiskurskon zipiert.DieveröffentlichtenErgebnisseberuhenaufwissenschaftlichenSchlussfol gerungen und Interpretationen, die primär den Expertendiskurs anregenundge legentlichHandreichungenfürpolitischeEntscheidungenliefernwollen.  ImErgebniskanndasForumunterdemAspektderTeilhabeimVergleichmitdem Konferenz und dem Umfragemodell auf vielen Gebieten Punkte sammeln. Die ZielsetzungderPartizipationistbeiderAnwendungstandardisierterUmfragefor schung gar nicht vorgesehen. Auch im Vergleich zu Bürgerkonferenzen zielt das 1000 FragenForum in weit stärkerem Maße auf die Anregung demokratischer DiskussionskulturundgesamtgesellschaftlicherLernprozesse.Jedochkommenbei diesemmassenmedialenAnsatzdiejenigenpartizipativenFunktionenzukurz,die die Anbindung an die Meinungsbildungs und Entscheidungsprozesse offizieller Politik gewährleisten. Zwar hat der Projektträger einige Versuche unternommen, die Beiträge in den politischen Diskurs einzuspeisen (vgl. Kap. 2); ein Effekt ist allerdingskaumspürbar.Demokratietheoretischbetrachtetfehltalso„1000Fragen zurBioethik“einwichtigesElement,daseinenahtloseEinordnungindieetablierte Technikfolgenabschätzungbegründenkönnte.DeroffenkundigeGewinnanzivil gesellschaftlicher Partizipation gleicht dieses Manko jedoch aus. Damit erfüllt

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4Rahmenanalyse:Bioethik,zivilgesellschaftlichePartizipation,ÖffentlichkeitimInternet

„1000FragenzurBioethik“zeitgemäßeAnforderungenaneindeliberativesDemo kratieverständnis.

4.3 MedialeRahmung:WelcheBedeutunghatdasInternet? Mit dem 1000 FragenForum liegt eine spezifische Variante des massenmedialen Modellsvor,undzwareinepartizipativausgerichteteInternetkommunikation.Die Vermutung liegt nahe, dass die Diskussionsbeiträge beziehungsweise die Muster diesesöffentlichenSprechensüberBioethikdurchdiemedialenRahmenbedingun genmitbeeinflusstwordensind.DahersollimFolgendeneineReflexiondesMe diums Internet und seiner spezifischen Aspekte erfolgen. Dabei geht es darum, allgemeine Charakteristika der Kommunikation in Onlineforen herauszuarbeiten, umaufdieserGrundlagedieBedeutungdermedialenRahmungfürdieStruktur des vorhandenen Datenkorpus einschätzen zu können. Die Darstellung schreitet von der Makro zur Mikroperspektive: Zunächst werden allgemeine medienrele vante Aspekte behandelt; das Internet wird im Medienkontext verortet und die besonderen Merkmale des 1000 FragenForums werden herausgestellt (4.3.1). Im zweitenTeilerfolgteineDetailbetrachtungdesOnlineforumsundeswirdderEin flussdermedialenRahmenbedingungenaufdieFormenundInhaltederForums kommunikationverdeutlicht(4.3.2).

4.3.1 EigenheitendervirtuellenKommunikation Indenletzten15JahrenistmitderVerbreitungdesComputersalsKommunikati onsmediumunddemzumindestinderwestlichenWeltdezentralen,relativpreis günstigen Zugang zu Computernetzen ein neuer Orientierungs und Handlungs raumgesellschaftlicherWirklichkeitentstanden.DiehistorischorientierteMedien forschung(vgl.Weber2001)109gehtdavonaus,dassdasInternetSelbstbezügeso wie Bezüge zwischen Menschen und solche zwischen Menschen und Dingen in spezifischer Weise verändert. Wichtiges Stichwort ist in diesem Zusammenhang diemitderDigitalisierungverbundeneLogikbinärerCodierung,diefürdenUser die Verflechtung von Schrift, Bild und Ton ermöglicht und veränderte zeitliche (synchrone, asynchrone, diachrone) und räumliche Bezüge (Welt als ‚globales Dorf’)alsneueErfahrunghervorbringt.AktuellziehtdaherdieVerflechtungzwi  109 InderMedienforschungwerdenMedieninderRegelalsTrägeroderÜbermittlervonBotschaften betrachtet;derBegriff„Medium“(lat:medium)bezeichneteigentlichdieMitte,denMittelpunkt, dasZentrum,dasdazwischenLiegende,dasinderMitteBefindliche,dasVermittelnde.

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schen technischen Verbreitungsmedien (Buchdruck, Radio, Fernsehen, Internet), symbolischen Verständigungsmedien (Bild, Sprache, Schrift, Musik) und sinnli chenWahrnehmungsmedien(Raum,Zeit)dasInteresseaufsich. Die durch das Internet ausgelösten Veränderungen der Wissensproduktion haben unterschiedliche Transformationsszenarien ausgelöst (vgl. Weber 2001, 88ff.).FürManuelCastells(2001,9)stelltdasInterneteinhilfreichesWerkzeugdar, um den Individualisierungs und Atomisierungstendenzen in der Gesellschaft zu begegnen:Esist„dasGewebe,aufdemunserLebenberuht“.Castells(2001,129ff.) hofftaufeine„Netzwerkgesellschaft“,110deresgelingt,die„informierteVerwirrt heit“ als Ausgangspunkt für neue Weichenstellungen zu nutzen. Der Zugang zu Wissensressourcen für möglichst viele Menschen und die Förderung uneinge schränkter und gleichberechtigter politischer Teilhabe sind für ihn zentrale Be standteile von Demokratie. Insbesondere für die Partizipation so genannter Min derheiten hat das Internet eine wichtige Bedeutung, wie exemplarisch Debatten innerhalbderDisabilityStudieszeigen(Bowker/Tuffin2002,327344;vgl.kritisch auchGoggin/Newell2003,109ff.).GegendieHoffnungaufeinedemZeitalterder Globalisierung angemessene Form derPartizipationin dem unddurch das Inter netmeldensichjedochauchkritischeStimmenzuWort,diedieGrenzendesMe diums betonen (Arns 2002, 85ff.; Lovink 2003). Im Ergebnis ist die von Abwehr sowie Euphorie geprägte Stimmung, wie sie noch zu Beginn der 1990er Jahre herrschte, längst der Ernüchterung gewichen, d.h. einer kritischen Reflexion wie auchdifferenziertenAnalyseundpraktischenNutzungdesMediums.Inaktuellen sozialwissenschaftlichen Studien geht es vor allem um Implementierungs und Anwendungsprobleme(vgl.Döring2003);aberauchglobalisierungskritische(Cas tells 2005) und kulturwissenschaftliche Fragestellungen (Butzer/Günter 2004; Hartmann2003)werdenverstärktthematisiert. AlsNetzwerkeinerSerievonKnoten,diemiteinanderverknüpftsind,hatdas InterneteineverbindendeStruktur;seinekonkreteAnwendungbzw.Nutzungist äußerstvielfältig.InkeArns(2002,8)unterscheidetzwischen‚großen’und‚kleinen Medien’; als ‚kleine’ Medien werden diejenigen Bereiche des virtuellen Raums bezeichnet, die in Form von Webseiten, Foren, Mailinglisten, Newsgroups und Chatrooms überschaubare, meist thematisch bestimmte Teilöffentlichkeiten hers tellen. Bei diesen durch die Praktiken der Nutzung gekennzeichneten Bereichen spielen technologische Aspekte keine maßgebliche Rolle. Auch das 1000 Fragen Forum mit seiner spezifisch institutionellorganisatorischen Rahmung gehört zu diesen‚kleinenMedien’:DieWebseitemussmanzunächstsuchenodermanstößt  110 ZentraleBegriffeindiesemZusammenhang sind auch‚Informationsgesellschaft’,‚Wissensgesell schaft’und‚Kommunikationsgesellschaft’.

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beimeherunspezifischenSurfendarauf;mankannsie‚passiv’nutzen;d.h.einfach nurzurKenntnisnehmen;dagegenberuhtdieaktiveTeilnahmeanderForumsde batte auf einer bewussten Entscheidung (Döring 2003, 131ff.). Tatsächlich klicken sichweitausmehrMenschenindas1000FragenForumein,alsschließlichFragen oder Kommentare eingegeben werden. In dem von uns untersuchten Zeitraum wurdenetwa500.000Zugriffeverzeichnet(AktionMensch/Zirden2003,9),jedoch sind ‚lediglich’ 10.000 Fragen und 34.616 Kommentare gesammelt worden. Die aktiveNutzungdesForumsdurchdasEingebeneinerFragelagsomitbei2%.Zu sammenmitderZahlderKommentare–einerrealistischerenBerechnungsgrund lage–erhöhtsichdieaktiveNutzungauf8,9%.DamitistderProzentsatzderAk tivnutzung leicht überdurchschnittlich. Ergebnissen der Internetforschung111 zu Folgeverhaltensichca.90%derUserpassivbzw.rezeptiv,währendsichnur4bis 7%aktivanDebattenbeteiligen(Faßler2001,97). Traditionelle Hierarchien und formale Machtverhältnisse spielen beim Zu gangzudiesen‚kleinenMedien’kaumeineRolle.WenneinbarrierefreierZugang vorhandenist–beim1000FragenForumistdiesderFall–,kannsichandervir tuellen Debatte eine fast unbegrenzte Anzahl von Personen beteiligen, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie über die technischen Ressourcen und das ent sprechende Anwenderwissen verfügen. Über die Verweildauer in Internetforen kann der individuelle User eigenständig entscheiden. Dabei handelt es sich nicht zwangsläufig um eine schnelle Kommunikation, wie vielfach unterstellt wird. TeilnehmendeanvirtuellenGruppenlassensichoftZeitzumAntworten;dieBei träge,soargumentiertNicolaDöring(2003,165),seienoftsogarinformativerund präziseralsmündlicheKommentare,weildieUsermöglichenMissverständnissen vorbeugenwollen.DieStellungnahmenerfolgtenvergleichsweisedirekt;eswerde versucht, Dinge auf den Punkt zu bringen; auch über komplizierte Sachverhalte werde relativ unverblümt geredet. Die direkte Äußerungsform werde dadurch unterstützt,dassdieTeilnahmeandenDebattenanonymerfolgenkann. WieweitsichdieseallgemeinenAngabenzurInternetkommunikationfürdas 1000 FragenForum bestätigen lassen, wird die empirische Untersuchung zeigen. Im Falle von „1000fragen.de“ fällt zunächst auf, dass trotz des wissenschaftlich konnotiertenThemas‚Bioethik’diemeistenFragesteller/innenoffensichtlichnicht  111 Diese Angaben müssen allerdings insgesamt als sehr vage gelten. Dass es sich bei den aktiven Usern des 1000 FragenForums vorrangig um junge Menschen handelt (Aktion Mensch/Zirden 2003,806),decktsichebenfallsmitdenErgebnissenvonStudienzumUserverhalten:Soermitteln beispielsweise die ARD/ZDFOnlineStudien der Jahre 2006/2007 eine unterdurchschnittliche Be teiligungältererNutzer(>50)indenBereichenGesprächsforenundNewsgroups(Gscheidle/Fisch 2007, 397f.). Generell werden die kommunikativen Funktionen des Internets eher von jüngeren Nutzernwahrgenommen(Eimeren/Frees2007,365).

4.3MedialeRahmung:WelcheBedeutunghatdasInternet?

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denDruckverspüren,überspezifischesWissenverfügenoderihrAlltagswissenin einer besonderen Form präsentieren zu müssen. Wie generell in Onlineforen er lauben sich die User, sich ‚einfach so’ zum Thema zu äußern. Vermutet werden kann, dass in dem Freiraum der virtuellen Kommunikation eher Meinungen the matisiert werden, die ansonsten kaum zur Sprache kommen (vgl. auch Döring 2003,259).DiemedialeRahmungdes1000FragenForumslegtdaherdieVermu tung nahe, dass die Artikulation von Wissensformen und beständen gefördert – oder gar provoziert – wird, die aus der spezialdiskursiv dominierten Bioethik DebatteinderherkömmlichenÖffentlichkeitausgeschlossenbleiben.

4.3.2 EinflussdermedialenRahmungaufFormundInhaltderForumsbeiträge Die durch die Digitalisierung ermöglichte Verbindung von Telekommunikation undDatenverarbeitunghateineKommunikationsformentstehenlassen,diesichin signifikanter Weise von vertrauten Mustern mündlicher oder schriftlicher Kom munikation unterscheidet. Das Unterscheidungskriterium ist allerdings nicht ‚Wahrheit’ oder Authentizität, d.h. Gespräche und Briefe sind nicht unbedingt „echter“ (Döring 2003, 171). Vielmehr gibt es mit der BriefKommunikation zahl reicheÜbereinstimmungen(Döring2003,153);fehlendeMöglichkeitenderfaceto faceKommunikationwerdeneinfachkompensiert,z.B.indemGefühledurchemoti cons112 ausgedrückt werden (Döring 2003, 162). Auch Parallelen zu Phänomenen, die von der allgemeinen Medienkommunikationsforschung untersucht werden, wie beispielsweise das Setzen oder gar Forcieren bestimmter Themen (agendaset ting)113 und der Effekt der „Schweigespirale“114 (Weber 2001, 97), lassen sich fest stellen.DennochbringtauchdasInternetwiejedesMediumseineeigenenspezifi schen Kommunikationsformen und entsprechende Wirklichkeitskonstruktionen hervor. „Virtuelle Gemeinschaften“ (Castells 2005, 65) entwickeln ihre „gruppen  112 EmoticonisteineWortkreuzung,gebildetausEmotionundIcon(Smileys).Bezeichnetwirddamit eineZeichenfolgeausnormalenSatzzeichen,dieinderschriftlichenelektronischenKommunikati on Stimmungs und Gefühlszustände ausdrücken, also nonverbale Signale als Zeichen Abkürzungenwie:)Lachen,:(Traurigseinoder:0Verwunderung/Überraschung. 113 DerAnglizismusagendasetting(übersetzt:FestlegungderTagesordnung)bezeichnetdieFunktion derMassenmedien,konkreteThemenschwerpunkteundEinschätzungeninderöffentlichenMei nungzuplatzieren,d.h.dieöffentlicheAgendazubestimmen.DerinderempirischenKommuni kationsforschungbzw.inderMedieninhaltsforschungzurAnwendungkommendeagendasetting approach (ThematisierungsAnsatz, Thematisierungstheorie) untersucht die Thematisierungsfunk tionderMassenmedien(vgl.Bonfadelli2002). 114 Mit‚Schweigespirale’istgemeint,dasseinefaktischeMinoritätsmeinungdurchdieMedienderart verstärktwird,dasssiealsMehrheitsmeinungerscheint(vgl.NoelleNeumann1996).

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eigenen Diskurspraktiken [.] mit Formen der symbolischen Abgrenzung sowie spezifischenVerhaltensstandardsundRitualen.“(Krämer1997,96)115Dassdasfür das Internet spezifische Repertoire sowohl die kommunikative Praxis in „1000fragen.de“ geprägt hat wie auch die durch diese Praxis hervorgebrachten BegriffeundGegenstände,sollimFolgendenveranschaulichtwerden. DerEinflussdervirtuellenRahmenbedingungenkannzunächstvoralleman handderSprachebzw.derArtdesSprechenskonkretisiertwerden,denneinedem Internet inhärente Bedingung liegt in der Festlegung auf das sprachliche Aus drucksvermögen. Folglich treffen wir auch in „1000fragen.de“ auf die typische Internetsprache, die durch Akronyme, umgangssprachliche Wendungen, Jargon etc.gekennzeichnetistundinnetzlinguistischenUntersuchungenalskreativeEr weiterungvonSprachspielräumenverstandenwird(Döring2003,182).DerUnter schiedzwischengeschriebenerundgesprochenerSprachehebtsichaufbzw.–und dasistdaseigentlichEntscheidende–diebeidenSprachebenenverbindensichzu einer neuen Form der Kommunikation. Es entstehen geschriebene Texte, die den CharaktergesprochenerSprachehaben.Wiediese„Oraliteralität“(Döring1997,S. 289f.) die Kommunikationssituation genau verändert, ist analytisch schwer zu fassen. Untersuchungsergebnisse verweisen auf eine größere Interaktivität und Dialogizität;dieSpracheinInternetforenwirddaherauchals„SprachederNähe“ bezeichnet (Döring 2003, 184).116 Damit ist nicht die physische Nähe sprechender Subjektegemeint,sonderneinGefühlderVertrautheit,dasalleinimsprachlichen Handelnhergestelltwird(vgl.Rüggenberg2007;Thiedeke2007). AndersalsunterdenBedingungenmündlicheroderschriftlicherKommunika tion, wo im Sinne der Searle’schen Sprechakttheorie (vgl. 3.3) Äußerungen ihre Gültigkeit durch die gegenseitige Bestätigung der Kommunizierenden erhalten, tritt beim Fernkommunizieren in Internetforen das Subjekt in den Hintergrund. NichtnurdieEmpfänger,sondernauchdieAutorensindabwesendundnichtzu identifizieren. Daher ist Krämer (1997, 92) zufolge dieser Kommunikationsraum nicht mehr „im kategorialen Rahmen von Erfahrungen zwischenmenschlicher Interaktionen zu beschreiben.“ Die für das Internet typische, auf der Außerkraft setzung von Personalität und Autorenschaft beruhende Form des Austausches bezeichnet sie als „telematische Kommunikation“ (Krämer 1997, 8ff.).117 Im 1000  115 vgl.z.B.Myers(1987),Münker/Roesler(2003)unddiebeiKrämer(1997,90)angegebenenMagis teroderDoktorarbeiten. 116 ZudenMerkmalendiesesSprachtypussieheauchdieTabelleninDöring(2003,187undinsb.196). 117 Wahlweise werden von Krämer (1997, 8ff.) auch die Begriffe „telematische Dialogizität“ oder „telematischeInteraktivität“benutzt;derBegrifflässtsichanhandvonfünfMerkmalenspezifizie ren: (1) Im elektronischen Netz wird mit Datenstrukturen, nicht mit Personen interagiert, (2) so dass dabei von den illokutionären, also den parakommunikativen Aspekten symbolischer Tätig

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FragenForumbegegnenwirstrenggenommennurnochBildernundTexten,aber keinenSubjektenmehr.DavonderAnonymitätGebrauchgemachtwerdenkann, abernichtmuss,verkehrenhiernichtnurrealexistierendePersonen,sondernauch mit Phantasienamen gekennzeichnete „künstliche Identitäten“ – so genannte „Chiffrenexistenzen“(Krämer1998,8).DieAnonymitätderSprecherübtoffenbar einen Reiz aus; sie wirkt geheimnisvoll, da eindeutige, auch stereotypisierende Zuschreibungen zumindest für eine Weile außer Kraft gesetzt sind, bis sich neue Ordnungsmusterherausgebildethaben.GeradedieserAspektvermagoffenbardie Kommunikationzustimulieren(vgl.Myers1987). BetrachtetmandenfürdasOnlineforumzentralenAspektspezifischerInter netkommunikation genauer, so lässt sich diese auch in der Terminologie von Spielzügenbeschreiben.118‚Spiel’isthiernichtgleichzusetzenmitHandlung,son dernbezeichneteinenHandlungsrahmen,dergewährleistet,dassdas,wasindie sem Rahmen geschieht, den Regeln lebensweltlichen Handlungsdrucks entzogen ist. Wo gespielt wird, wird symbolisch gehandelt und nicht symbolische Bezüge sindperdefinitionemausgeschlossen.119 DerSpielbegriffbringtdiedurchdenme dialen Rahmen geforderte Anpassung auf den Punkt. Das Subjekt als konkreter Akteur tritt in den Hintergrund; sichtbar werden nur seine Praktiken und die durch diese erzeugten Begriffe und Gegenstände (Döring 2003, 166). Das Ver ständnis dermedialen Kommunikation als Spielerscheint insbesondere imHinb lickaufunsereMethodologiehilfreich,dadadurchVerbindungensowohlzudem Wittgenstein’schen Sprachspiel (vgl. 3.3) als auch zu Foucault möglich werden; letztererbenutztdenBegriffdesSpiels,uminterdiskursiveFormationenzwischen WissenschaftundAlltagzukennzeichnen:Das„Spiel“seinebender„Angst“und  keitabgesehenwird;(3)NetzinteraktionenhabendenStatusvonSpielzügen;(4)dasmaschinen lesbare Datenuniversum ist die Auslagerung des Prinzips der „Intertextualität“, welches (5) eine neueFormdeskollektivenGedächtnissesstiftet.MikeSandbothe(2003,o.S.)grenztsichvonder von Krämer vertretenen sprechakttheoretischen These ab; seiner Meinung nach beruht die Kom munikation in elektronischen Netzen nicht „auf der Außerkraftsetzung der mit Personalität und AutorschaftverbundenenillokutionärenundparakommunikativenDimensionenunseressymbo lischenHandelns. 118 InderSpieltheoriegehtes–imUnterschiedzurklassischenEntscheidungstheorie–uminterakti ve Entscheidungsprozesse, denn an Spielen sind mindestens zwei Entscheider (Spieler) beteiligt (vgl.Sandbothe2005). 119 Die Freiheit des Experimentierens kennzeichnet das ‚Spiel’; die aufgestellten Regeln haben den CharaktervonSpielregeln:IhreVerletzungkannnursymbolischgeahndetwerden,ebenalsAus schlussvomSpiel.DenAusschlussfestzulegenundzuverkündenistbeispielsweisedasPrivileg einesOperators,derdieTeilnehmer/innendeselektronischenKommunikationsraumesverweisen, d.h. bei Verstößen gegen interne Konventionen – die so genannte Netiquette – den Zugang blo ckierenkann.

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der „Utopie“ ein „Sinnbild für die radikale Aufhebung der Abstufung zwischen den grundlegenden Diskursen“ und der „Masse der wiederholenden, glossieren den und kommentierenden [Diskurse]“(Foucault 1974, 16). Auch Forschungser gebnisse zu den Auswirkungen virtueller Kommunikation auf Formen der Sub jektkonstitution unterstützen den Gebrauch des Spielbegriffs. So sind mit dem „Massenindividualmedium“ Internet (Faßler 2001) „Entdualisierungsprozesse“ (Weber2001, 96) verbunden, die sich u.a.im Verschwimmen der herkömmlichen GrenzziehungenzwischenRealitätundFiktionäußern.EsgibtNutzer,diebeider Rückkehr in die reale Welt Anpassungsstörungen zeigen; andere profitieren da von,grenzüberschreitendanmehrerenWeltengleichzeitigteilnehmenzukönnen. InderVisiondes„Cyberspacemodell“(Bühl1996;Thiedeke2004)wirddietradi tionelle facetofaceSituation völlig durch das Internet ersetzt. Zwar ist ein aus schließlichvirtuellerKommunikationsraumnochZukunftsmusik,aberalleinseine Möglichkeit provoziert utopische Konstruktionen von MenschMaschine Lebewesen mit bislang unbekanntem Erfahrungshorizont (Thiedeke 2004, 27). In einerWelt,inderalles„indigitaleCodesaufgelöst“unddamit„dieIrreversibilität von Handlungen [...] aufgehoben“ ist, scheint, so jedenfalls Thiedeke (2004, 15), vielesmachbar,vondembislangnurgeträumtwerdenkonnte.DieOrientierungs undHandlungssituationdesInternetsbewirkeeine„manifesteundnichtmehrnur latente Virtualisierung jeder Sinnerwartung.“ (Thiedeke 2004, 16) Nach Döring (2003, 173, Hervorh. dort) reicht das Spektrum möglicher Reaktionen bei den Usern von „WirklichkeitsZerstörung (Realitätsverlust, Orientierungslosigkeit und Täuschung)“ über „WirklichkeitsVeränderung (Cyborgisierung)“ bis hin zur „Ver Wirklichung(AuslebenvonunterrepräsentiertenSelbstAspekten)“. BeiderFragenachdenAuswirkungendermedialenRahmungaufdieimFo rumvorzufindendenÄußerungenwirdmaninderMedientheorieaufverschiede neAntwortentreffen(vgl.Krämer1998).SovertrittMarshallMcLuhan,deraufdie Materialität einzelner Medien abhebt, die These, dass Medien die Inhalte der mit ihnentransportiertenBotschaftenbeeinflussen.NiklasLuhmannhingegen,derden Begriff‚Medium’vielabstrakterverwendet,stelltkeinenspezifischenEinflussvon Medienaufdiemessagesfest.BeideAnsätzekönneneinegewisseBerechtigungfür sichbeanspruchen.DaherwirdindieserStudiedafürplädiert,dasMediumunter kulturwissenschaftlichenGesichtspunktenzubetrachten,undzwarinAnlehnung andieMedienwissenschaftlerinSybilleKrämer(1998,80)alsZeichenträger,dessen Rolle nach dem „Modell der Spur eines Abwesenden“ gedacht werden muss. In anderenWorten:DerEinflussdesMediumsaufdieBotschaftenbleibtverborgen; diesführtinparadoxerWeisedazu,dasseinÜberschussanSinnproduziertwird. Die „Zeichen“ fungieren als „leere Signifikanten“ (Laclau1996, 36ff.), die sich im

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medialenKontextinandererWeisealsinderfacetofaceKommunikationmitSym bolikundSinnaufladen.Dersoproduzierte‚Mehrwert’anBedeutungistvonden NutzernkeineswegsbeabsichtigtundauchnichtihrerKontrolleunterworfen.120 Der Produktion von ‚Mehrwert’ im Internet liegt ein widersprüchliches Ge schehenzugrunde.Wiewirgesehenhaben,begünstigtdiemitderOnlinekommu nikation verbundene Anonymität den Austausch über Privates, möglicherweise auchmitSchamBesetztes;dasSprechenimForumistalsoeinerseitsvonIntimität gekennzeichnet. Andererseits erfolgt die Subjektkonstitution als ‚Simulation’, als ‚Selbstvirtualisierung’; dieses Spannungsverhältnis zwischen körperlicher Abwe senheit und sinnlicher Präsenz, physischer Distanz und psychischer Nähe kann Imaginationsprozesse und „Sehnsuchtsbilder“ hervorrufen (Bahl 2004; Döring 2003,169f.).Medien„bildendiehistorischeGrammatikderPerformativitätunserer symbolischen Praktiken.“ (Krämer 2005, 10) Es handelt sich dabei nicht um rein kognitive Vorgänge; vielmehr werden Gegenstände unter medialen Bedingungen immerauch„symbolischobjektiviert“(Krämer1997,103).‚Simulation’und‚Imagi nation’ rufen beispielsweise Idealisierungen und Feindbilder wach; der scheinba ren ‚Neutralisierung’ sozialer Beziehungen durch das Medium stehen zahlreiche MöglichkeitenderBedeutungsaufladunggegenüber(vgl.Myers1987).121 MedientechnischeApparaterationalisierenalsonichteinfachnurdiekommu nikativeArbeitoderdieProduktionsabläufeder‚Weltgesellschaft’,sieeröffnenvor allem auch Spielräume im Umgang mit symbolischen Universen, die es ohne sie gar nicht geben würde. Sie konstruieren Sinnzusammenhänge, die einem herme neutischenZugangentzogenbleiben(Link1982b),undmarkierenNahtstellen,an denenSinnausnichtsinnhaftenPhänomenenentsteht.DasMediumistalsonicht einfach nur die Botschaft und die Botschaft ist nicht unbeeinflusst vom Medium. Vielmehr ist in der Botschaft die Spur des Mediums zu erkennen (Krämer 1998, 79). Bilanzierendlässtsichsomitformulieren,dassdiemedialeRahmungdes1000 FragenForumsdieFormderKommunikationunddiedamitverbundeneSubjekt konstitution ebenso beeinflusst hat wie die Inhalte bzw. Botschaften des Gesag ten/Geschriebenen. Virtuelle Räume scheinen privilegierte Orte vor allem des In terdiskurses (vgl. 3.5.2) zu sein: Zum einen realisieren sich unter medialen Rah  120 Baudrillard (1983, 66) hat darauf hingewiesen, dass Medien generell „act in two directions: out wardlytheyproducemoreofthesocial,inwardlytheyneutralisesocialrelationsandthesocialit self.” 121 BedeutungsaufladungensindvondirekterRelevanzfür dieGestaltungsozialerBeziehungen;sie könneninderNetzkommunikationeingesetztwerden,ohnedassAbweichungenvonderRealität direktüberprüfbarsind(Döring2003,167).

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menbedingungen vorzugsweise Bilder, Narrative, Metaphern, Mythen und Sym bole (vgl. Matzat 1990); zum anderen ermöglicht die Onlinekommunikation die Teilhabeder‚Masse’,ohnedassderenSubjektivitäten,ihre‚Vielheit’undihrAlltag ausgeblendetwerdenmüssen.

4.4 Internetforen–eineneueFormpolitischerÖffentlichkeit? Erweist sich das Internet als partizipatorisches Medium? Wie wir sehen konnten, haben in der Anlage des Onlineforums die beiden Faktoren ‚Öffentlichkeit’ und ‚Teilhabe durch Mitreden’ einen gewichtigen Stellenwert erhalten. Berücksichtigt man außerdem, dass die Konzeption von „1000 Fragen zur Bioethik“ vermutlich vonderHabermas’schenDiskursethikinspiriertist(vgl.3.1),ergebensichdirekte AnschlüsseandessenÜberlegungenzumStrukturwandelvonÖffentlichkeit(Ha bermas1971;2001).BeibeidenKonzeptenknüpftderSozialphilosophandenanti kenBegriffdesPolitischenan.DerMarktplatzdergriechischenpoliswarderzent raleVersammlungsort;aufderagoráfanden,ähnlichwieinheutigenInternetforen, öffentliche Auseinandersetzungen über wichtige und strittige Themen statt. Ver schiedene gesellschaftliche Gruppierungen waren jedoch von diesen Debatten ausgeschlossen – eine Regelung, die mit zeitgenössischen Vorstellungen von De mokratie nicht mehr vereinbar ist.122 Trotz dieser Einschränkung ist das basisde mokratische Prinzip der griechischen polis ein Erbe, das seine Anziehungskraft behaltenhat.HannahArendt(1981,30)weistdaraufhin,dasspolitischzusein,in einerpoliszuleben,inderAntikebedeutethat,konflikthafteInteressenüberTeil habezuregeln.SowohlMeinungsfreiheitwieauchdieFähigkeitendesSprechens, Zuhörens und Verstehens sind zentrale Bedingungen von Demokratie (Arendt 1993,51).DasssichdemModelldesantikenPolitikverständnissesauchnochim21. JahrhundertAnregungenentnehmenlassen,davonzeugenzahlreiche,gegenwär tigdiskutierteKonzeptedeliberativerDemokratie(vgl.Lösch2005,155ff.).Indie sem Sinne lässt sich auch das 1000 FragenForum mit einem antiken Marktplatz  122 Voraussetzungen für Teilhabe waren die Freiheit der Subjekte und ihr Recht auf individuelle Meinungsäußerung(Walter1993,192).Minderjährige,Frauen,AusländerundSklavenwarenvon derTeilnahmeanderVolksversammlungausgeschlossen.AmWillensbildungsprozesseinerpolis war nur der männliche, erwachsene, von Bürgern abstammende und zuweilen durch eine be stimmte Vermögensqualifikation amtsfähige Teil der Bevölkerung beteiligt (vgl. Rhodes 2001). Kritischzubewertenistauch,dassInteressenundErwartungshaltungensichgegenseitigstützten undinterneMachtverhältnissevonvornehereinvonderDiskussionausgeschlossenblieben.Inder AntikeexistiertezudemeinenggefassterBegriffdesPolitischen,dersichvorallemaufStaatsan gelegenheitenundstaatlichesHandelnbezog.

4.4Internetforen–eineneueFormpolitischerÖffentlichkeit?

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vergleichen,derlediglichvirtuellistundaufdem(fast)alleMenschen,ungeachtet ihres Status – sozusagen voraussetzungslos123 – zusammen kommen können, um sich direkt und unmittelbar über tagesaktuelle Angelegenheiten auszutauschen (vgl. Neymann 2005). Die rege Nutzung des Onlineforums macht deutlich, dass dieMenscheneinstarkesInteresseaneinemderartigenAustauschhabenunddas Bedürfnisvorhandenist,inwichtigenpolitischenAngelegenheiten(hier:derBioe thik)‚einWörtchenmitzureden’. DieFrage,obdasMediumInternettatsächlichdeliberativeProzesseanzusto ßenvermag,istjedochumstritten.Habermas(2006),dersichunterdemEindruck derKrisederpolitischenRepräsentationverstärktmitderMöglichkeitbeschäftigt, überMassenmediendieBevölkerunginpolitischeEntscheidungeneinzubeziehen, hat in einer öffentlichen Stellungnahme seinen bislang medienkritischen Stand punktrelativiert:DasInternetseigeeignet,deliberativeElementeindieelektroni scheKommunikationeinzuführenundsodieTeilhabederBevölkerunganpoliti schen Entscheidungsprozessen zu fördern. Wie bereits erwähnt (vgl. Kap. 1), ist sich Habermas (2006, 420ff.) aber auch der Grenzen des Mediums bewusst: Die OnlineDebattenderWebUserkönntenauchdieFragmentierungdesMassenpub likumsineineVielzahlthemenspezifischerTeilöffentlichkeitenzurFolgehaben.124 Auch Krämer (1997, 5) spricht sich gegen die Hoffnung aus, mit einer elektroni schenagoráseidieRestituierungdirekterDemokratieverbunden.Dieseehernach denklicheSichtweiseaufdas Internet,die dessen Möglichkeiten,aberauch Gren zen thematisiert, teilen auch die Verfasser einer 2008 erschienenen Studie über politischeDiskurseimInternetundinZeitungen,untersuchtamBeispielvonGen food (Rucht u.a. 2008; Yang 2008). Diese Studie macht zudem deutlich, dass ein OnlineforumeineganzspezifischeFormvonÖffentlichkeitdarstellt,dievonande ren Informations, Konsumptions und Kommunikationsmöglichkeiten unter schieden werden muss. Es lässt sich feststellen, dass das Internet nur partiell zu mehrDemokratieführt.EsdemokratisiertdieHinterbühnederpolitischenÖffent lichkeit–nichtmehrundnichtweniger. Mankannschlussfolgern:Auchwennesalsangemessenerscheinenmag,das 1000FragenForumalsProjekteinerdeliberativenÖffentlichkeit(vgl.Peters2001) zubeschreiben,lässtessichmöglicherweisegarnichtmitklassischendemokratie theoretischen Begrifflichkeiten fassen. Ebenfalls sollte die Möglichkeit in Erwä  123 An dieser Stelle muss man allerdings von den technischkognitiven Zugangsbedingungen des Internetsabstrahieren,die–wieobenbereitsthematisiert–durchausBarrierendarstellenundPar tizipationaufGrundfehlenderRessourcenundKompetenzenverhindernkönnen. 124 ImenglischsprachigenVortragsskriptsiehtHabermas(2006,422)dieFragmentierungunterande remausgelöstdurchdie„colonizationofthepublicspherebymarketimperatives“.

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4Rahmenanalyse:Bioethik,zivilgesellschaftlichePartizipation,ÖffentlichkeitimInternet

gunggezogenwerden,dassderspezifischeCharakterdesuntersuchtenMaterials auf eine neue Qualität partizipativer Prozesse aufmerksam macht. Wenn man – wie herausgearbeitet – den Gegenstand als diskursives Ereignis im Interdiskurs begreift(vgl.3.6),lassensichdieMerkmaledieserzivilgesellschaftlichenPartizipa tionfolgendermaßenbeschreiben:EszähltnichtnurdasArgument,sondernauch oder noch viel mehr der Alltag; bislang Privates wird in den öffentlichen Raum eingespeist;dieWissensbeständeverschiebensichundeswirdeineneueFormvon Populärkultur in all ihrer Vielschichtigkeit sichtbar. Das klassische bürgerliche Bildungsverständnis wird ersetzt durch Handlung, Reflexion erweitert durch Pragmatismus.Undschließlich:DasGewissenalsletzteInstanzverliertseineGül tigkeitzuGunstenderKonstruktionneuerLeitbilder.Offensichtlichentsprichtdas 1000 FragenForum dem Bedürfnis nach einer solchen, alltagsnahen, ‚erfahrungs gesättigten’Öffentlichkeit.EsbieteteinenRaum,umüberdiepersönlichenFragen und Belange sprechen zu können, die von den neuen Lebenstechnologien aufge worfenwerden,undzwar,ohnesichdirektzeigenodergleichhandelnzumüssen. Es könnte durchaus sein, dass eine solche, öffentlich besprochene Privatsphäre künftig auch neue Möglichkeiten von Politik hervorbringen wird (vgl. Arendt 1981,47). Abschließend lässt sich dieses Kapitel folgendermaßen resümieren. Zunächst gingesumdiethematischeRahmungunseresForschungsgegenstandes,dieBioe thik. Es wurde herausgearbeitet, dass es sich bei ihr um eine wissenschaftliche Disziplin im Sinne eines Spezialdiskurses handelt, sie im Forum jedoch lediglich als ein ‚Thema’ auftaucht, das diskursive Energien mobilisiert und massenhaft Äußerungenanzieht. Da es sich bei der Frage, wieÖffentlichkeit hergestelltwer den kann, um ein klassisches Thema politischer Partizipation handelt, wurde an schließend eine institutionelle Verortung im Kontext der Technikfolgenabschät zung vorgenommen. Kriterium des Vergleichs war die Frage, ob das Verfahren einesInternetforumsdazubeiträgt,dieÖffnungeinerbislangvonExpertendomi niertenDebatteindieZivilgesellschafthineinzufördern;dabeiwurdenvorallem qualitative Unterschiede zwischen „1000 Fragen zur Bioethik“ und Bürgerkonfe renzen sowie Bevölkerungsumfragen festgestellt. Außerdem war eine Reflexion desMediumsInternetangezeigt,dadieseUntersuchungprimäraufdieDiskussi onsbeiträge des Forums gerichtet ist. Die empirische Analyse muss die für das InternettypischeVirtualisierungunddiedamitmöglicherweiseverbundenenspe zifischenFormenderWissensproduktioninBetrachtziehen.Gleichzeitiggewähr leisten die massenmedialen Bedingungen, dass der nach eigenen Rationalitätskri terienfunktionierendeAlltagsdiskurszumVorscheinkommenkann.

4.4Internetforen–eineneueFormpolitischerÖffentlichkeit?

105

Bioethik,PartizipationundInternet–diessinddieKernstückederempirisch vorfindbarenRahmung.UnterdiskurstheoretischenGesichtspunktensindsieeng miteinanderverwoben.Alszentralhatsichherausgestellt,dassdervonunsunter suchte Ausschnitt aus der BioethikDebatte unter den Bedingungen virtueller Kommunikation stattfindet. Durch den Ereignischarakter der Onlineplattform entsteht Raum für spontane Stellungnahmen. Es gibt eine Offenheit der themati schenWahlunddieÄußerungvonMeinungenundEinstellungenerfolgtvieldi rekteralsdiesbeiBürgerkonferenzenoderUmfragenderFallseinkann.DieNähe zurAlltagsweltistgewährleistet;bioethischeFragestellungenkönneninihrergan zen Breite und Widersprüchlichkeit thematisiert werden. Im Endeffekt entsteht eine weit in die Gesellschaft hineinreichende Debatte. In diesem Sinne kann das 1000FragenForumalseinezeithistorischeSammlung,einArchivdesalltagswelt lichen Sprechens über Bioethik in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts ‚gelesen’werden. 

5 MethodologischeVorüberlegungen

MethodologiealsTheoriederMethodeversuchtplausibelzumachen,obundwie wissenschaftlicheErkenntnisaufderBasisempirischerMethodenmöglichist.Die Fragedes‚Ob’beinhalteteinetheoretischeReflexiondesForschungsgegenstandes. Die Theorie muss darüber Auskunft geben können, „was ein theoretischer und waseinempirischerBegriffist,wasalsoTheorieundwas‚Realität’ausderPers pektive der Theorie ist.“ (DiazBone 1999, 121) Diesem Zweck diente das vorher gehendeKapitelmitderVerortungdesInternetforumsalsdiskursivesEreignisim Interdiskurs. FernerzielenmethodologischeÜberlegungendaraufab,dermenschlichenEr kenntnis die Realität zu erschließen, und zwar dadurch, dass diese mit beobach tbaren oder messbaren Merkmalen in Verbindung gebracht wird. Somit geht es auchumdieAufgabe,denForschungsprozess,alsodas‚Wie’genauerzubeschrei ben.ZurDatenerhebungundauswertungstehtderSozialwissenschafteineViel zahlquantitativerundqualitativerMethodenzurVerfügung.IhreAuswahlkann nichtbeliebigsein,wennderAnalyseweginsgesamtkohärentundnachvollziehbar seinsoll.MethodologiemussalsodiepraktischeEntscheidungfürodergegendie Anwendung einer Methode unter Berücksichtigung der theoretischen Vorgaben begründenkönnen. Vor diesem Hintergrund beschreibt dieses Kapitel die Systematik des Zu sammenspiels zwischen Theorieentwicklung und empirischer Forschungsarbeit. Nach einer kurzen Ausführung über den Zweck, den Methodologie im For schungsprozesserfüllensoll(5.1),wirddieseStudieindasqualitativeParadigma der Sozialforschung eingeordnet. Auch wenn in verschiedenen Phasen zusätzlich mit quantitativen Methoden gearbeitet und insofern eher undogmatisch – vor al lemgeleitetvondenEigenheitendesForschungsgegenstandes–dasMethodenre pertoirederSozialforschunggenutztwurde,fühlenwirunsdocheinerinterpreta tivanalytischen Herangehensweise stärker verpflichtet. Ein chronologischer Ab rissderdurchgeführtenUntersuchungsschrittesorgtimFolgendendafür,dassdas Methodendesign nachvollzogen werden kann. Anhand eines Modells des For schungsgegenstandesundderAnalyseschritte(5.2)wirdanschließenddiefürun sereStudiezentraleFragebeantwortet:Wiekann„1000fragen.de“mitdiskurstheo retischenBegrifflichkeitenuntersuchtwerden?

5.1ForschungalsProzess

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5.1 ForschungalsProzess Nach dem Paradigma der qualitativen Sozialforschung ist Forschungsarbeit ein Prozess der Konstruktion. Theoretische Begriffssysteme und die im Forschungs prozess produzierten Daten bilden demnach nicht die Realität ab, sondern sind Produkte von Herangehensweise und Interpretation. Dies bedeutet keinesfalls, dassdieArbeitsschrittebeliebigsind;imGegenteil,siemüssensystematischerfol genunddiefürdieWissenschaftgeltendenGütekriterienwieObjektivität,Reliabi lität (Zuverlässigkeit) und Validität (Gültigkeit) erfüllen (vgl. Diekmann 2000, 216ff.).ImUnterschiedzurquantitativenSozialforschungistesabereinegrundle gendeForderungdesqualitativenParadigmas,denjeweiligenForschungsprozess offenzugestalten.„DasPrinzipderOffenheiterklärtsichausdemUnbehagenan einer Sozialforschung, die aufgrund standardisierter Erhebungsinstrumente und vorab formulierter Hypothesen nur jene Informationen aus dem Forschungsfeld aufnehmen und produktiv verarbeiten kann, die nicht vorab durch das methodi scheFiltersystemausgesiebtwordensind“,soformuliertSiegfriedLamnek(1988, 22). Das qualitative Paradigma erlaubt es also, die Sichtweise auf den Untersu chungsgegenstand im Laufe einer Studie zu verändern, wenn die anfängliche Perspektive nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Konsequenterweise müs sendieForschendenschonbeidererstenKonzeptionihrerVorgehensweisedafür sorgen,dassEntscheidungspfadederMethodenwahlnichtzuSackgassenwerden, sondernOptionenfürdieAnpassungdesMethodendesignsoffenbleiben.Dieim qualitativen Forschungsprogramm eingebaute Flexibilität scheint auf den ersten Blick der allgemeinen wissenschaftlichen Forderung nach Methodenstrenge zu widersprechen. Um dem Gütekriterium der Objektivität – im Sinne des qualitati venParadigmasverstandenalsintersubjektiveNachvollziehbarkeit–zugenügen, gilt deshalbdas Prinzip der Explikation. Dieses beinhaltet die„Erwartungan die Sozialforscher,dieEinzelschrittedesUntersuchungsprozessessoweitalsmöglichoffen zulegen.“(Lamnek1988,26,Hervorh.dort)EinezentralemethodologischeAnfor derung ist also, den jeweiligen Zusammenhang zwischen Fragestellung, Theorie undMethodenzuerklären.DasZusammenspielvonErkenntnisgewinn,erweiter tem Vorverständnis und Durchführung weiterer Arbeitsschritte wird im Folgen den anhand des chronologischen Ablaufs der eigenen Studie näher erläutert. Es lassensichvierUntersuchungsphasenunterscheiden:  

108

5MethodologischeVorüberlegungen

VonLasswellzuFoucault:Phase1 Die ursprüngliche Zielsetzung war eher allgemein formuliert: Es sollten Aspekte vonWissenundPartizipationuntersuchtwerden.DieseWeichenstellungkannals ‚Vortheorie‘ bezeichnet werden. Die Ausgangsfragestellung lautete: „Wer fragt was wen auf welche Weise mit welcher Wirkung?“125 (Waldschmidt 2003a) Ent sprechend ging es in der ersten Phase der Untersuchung vor allem darum, einen GesamtüberblicküberdasumfangreicheMaterialzugewinnenunddessenKomp lexitätzureduzieren.FürdiesenZweckbotensichquantitativeVerfahrenan:Mit ihnenwurde,vereinfachtausgedrückt,allesuntersucht,wasleichtzumessenbzw. zählen war. Dazu gehörten der im Internetforum verwendete Wortschatz sowie die uns zur Verfügung stehenden Daten zu Usern (z.B. Geschlecht) und Threads (z.B.Themenwahl,Textlänge).BeiderAuswertungdieserVariablenundWortzäh lungenkamvondereinfachenHäufigkeitsauszählungbiszurmultivariatenAna lyseeinebreitePalettestatistischerVerfahrenzurAnwendung(vgl.Kap.6).Aller dingswurdeimLaufedieserArbeitschnellklar,dassdieinhaltsanalytischeHeu ristik und die quantitativen Methoden die Komplexität des 1000 FragenForums nichterfassenkonnten.ParallelzurAnwendungquantitativerMethodenbeschäf tigte sich daher die Theoriearbeit mit der Diskurstheorie nach Foucault und der Wissenssoziologie in der Hoffnung, in diesem Rahmen produktivere Anschlüsse fürdieeigeneEmpiriefindenzukönnen.  EinDiskursmodelldesInternetforumsentsteht:Phase2 Die Auseinandersetzung mit der Habermas’schen Diskursethik, der Fou cault´schen Diskurstheorie und diskursanalytischen Ansätzen trug dazu bei, ein Modell des Forschungsgegenstands und der Forschungsanlage zu entwickeln. AusgehendvondiesemzunächstnochabstraktenModell(vgl.5.2)ließensicheine präzisereFragestellungundHinweisefürdenweiterenMethodeneinsatzableiten. ImUnterschiedzurHeuristikdererstenUntersuchungsphase,dereninhaltsanaly tischeWFragen(Wer,wen,was,wie,welcheWirkung)sichalszuverkürzterwie sen hatten, regte die diskursanalytische Sicht dazu an, inhaltliche und formale Diskursordnungen ins Zentrum des Interesses zu rücken. Ihr zufolge sollten sich Regelstrukturen in Form von bestimmten Begriffen,Gegenständen, Sprecherposi tionen und Strategien empirisch nachweisen lassen. Als Analysetechnik zum Auf finden dieser diskursiven Formationen wurde die grounded theory (Glaser/Strauss 1998)gewählt.SiestellteerprobteundnachvollziehbareVorgehensweisenfürdie Auswahl von Stichproben und Kategorisierungstechniken zur Verfügung. Bei  125 Mit dieser Formel beschrieb Harold D. Lasswell (1941) erstmals in den 1940er Jahren das Prog rammderquantitativenInhaltsanalyse.

5.1ForschungalsProzess

109

spielsweisekamindieserPhasedassogenannteOffeneCodierenzurAnwendung (vgl.7.2).ImErgebnisentstandeinhierarchischgegliedertesKategoriensystemin FormeinesCodebaums(vgl.7.3),dasdieVerdichtungbzw.Bündelungdesempi rischen Materials lieferte und so zur Aufdeckung von Regelmäßigkeiten in der diskursivenPraxisdesOnlineforumsbeitrug.  DemAlltagswissenaufderSpur:Phase3 Die nächste Phase baute auf der – durch den Codebaum veranschaulichten – Er kenntnisauf,dassdieAnnahmeinhaltlicherundformalerMusterimdiskursiven Ereignis berechtigt gewesen war. Die diskursanalytische Perspektive hatte sich alsobewährt.UnterdenvielenmöglichenAnknüpfungspunktenfürweitereAna lyseschrittewarnuneineAuswahlzutreffen:EigenheitendesCodebaumswiesen daraufhin,dassmöglicherweisedieGewichtungdesAlltagswissensdasBesonde ream1000FragenForumdarstellte.AusdiesemGrundrücktenwissenssoziologi sche Aspekte in den Mittelpunkt und es musste ein Wissenskonzept entwickelt werden, das wissenssoziologische und diskursanalytische Aspekte zu integrieren vermochte (vgl. Kap. 8). Inspiriert durch die Theoriearbeit nahm die dritte Phase der Empirie die Kontrastierung von Erkenntnisstilen (oder auch: Wissensformen) indenBlick,undzwardiejenigenderWissenschaftunddesAlltags.ImCodebaum wareninsbesondereAspektedesSpezialwissensunddessubjektivenErfahrungs wissensinErscheinunggetreten;siehattendortallerdingsnurgrobumrissenwer denkönnen.DaherlautetedieAufgabenstellungnun,AlltagsundSpezialwissen alsBegriffezuoperationalisieren.AußerdemsolltendielegitimenSprecherpositio nenderbeidenuntersuchtenWissensformenunddieBeziehungenderErkenntnis stileuntereinanderuntersuchtwerden.IndenAuswertungsschrittendieserPhase (vgl.Kap.9)wurdewiederumdasbereitsbenutzteMethodenkonzept(Diskursana lyseinKombinationmitgroundedtheory)angewendet.AufderGrundlagemehre rer Stichprobenziehungen und Codierdurchgänge gelang es, Spezialwissen und Alltagswissen als empirisch zu identifizierende Wissensformen herauszuarbeiten. Die Analyseergebnisse konnten tatsächlich die formale Seite der Diskursordnung erhellen;jedochwarfensiegleichzeitigdieFrageauf,obundaufwelcheWeisedie formale und die inhaltliche Ordnung des Diskursereignisses miteinander ver knüpft waren. Da im Anschluss an Foucault davon auszugehen war, dass sich auch im Falle unseres Materials Diskursformationen in erster Linie anhand der StreuungvonAussagennachweisenließen,wurdeeinequantitativeInhaltsanalyse durchgeführt.SiedientederÜberprüfungderHypothese,dassdasAlltagswissen andereBegrifflichkeitenhervorbringtalsdasSpezialwissen,undzwarselbstdann,

110

5MethodologischeVorüberlegungen

wenn das Diskursthema – hier: Bioethik – für beide Wissensformen gleich ist (vgl.9.5).  EinzelbeispieleinterdiskursiverFormationen:Phase4 InderviertenPhasewurdedieUntersuchungnochmalsneuakzentuiert.Dennder VergleichderbeidenWissensformenhatteergeben,dasseseinendrittenWissens typusgebenmusste,schließlichhattenvieleFundstellenwederdemAlltagswissen noch dem Spezialwissen zugeordnet werden können. Unter Bezugnahme auf die zuvorangestelltendiskurstheoretischenÜberlegungen(vgl.3.5)lagdieSchlussfol gerung nahe, dass sich hier möglicherweise ein so genanntes ‚interdiskursives Wissen’ artikulierte. Drei Einzelstudien nahmen unter dieser Fragestellung eine der inhaltlichen Hauptkategorien des Codebaums, nämlich Subjekt, Macht und Ethik in den Blick. Am Beispiel des „Klons“ wurden Verschiebungen in Men schenbildern und Subjektbegriffen erkundet; ausgehend von der Redewendung „Jeder soll selbst entscheiden“ ließen sich Veränderungen in ethischen Autono miekonzeptioneneruieren;dasThema„NormalitätundBehinderung“botAnlass, den Stellenwert gesellschaftlicher Definitionsmacht zu beleuchten. Alle drei Fall studien sollten die Bedeutung des interdiskursiven Wissens herausarbeiten; me thodischfolgtensieinterpretativenTypisierungsprozessen,d.h.denVorgabenvon Diskursanalyseundgroundedtheory(vgl.Kap.10).EigentlichgiltderKreislaufvon Datenerhebung und analyse erst dann als beendet, wenn keine neuen Aspekte mehr erscheinen und eine so genannte theoretische Sättigung eintritt (vgl. 7.1.1). ZurForschungspraxisgehörtjedochauchdieErfahrung,dasssicheinempirischer Gegenstand als widerspenstig erweist und in der zur Verfügung stehenden Zeit nureinenTeilseinesGeheimnissespreisgibt.DaheristdieseStudieerstkomplett, wennamEndeoffeneFragenundPfadefürweitereErkenntnisseerörtertwerden (vgl.Kap.11).

5.2 EindiskurstheoretischesModelldesForschungsgegenstands Entsprechend der theoretischen Bestimmung des 1000 FragenForums als diskur sivesEreignisimzivilgesellschaftlichenInterdiskursergibtsichdieforschungslei tendeFrage:WelchenRegelnfolgtdiediskursivePraxisimzivilgesellschaftlichen Interdiskurs? Um diese Frage mit wissenschaftlichen Methoden bearbeiten zu können,isteinegenauereVorstellungnotwendigüberdas,wasempirischalsDis kursbeobachtetwerdenkann.DaszuentwickelndeModelldesForschungsgegen standssollinderLagesein,das1000FragenForumindiskurstheoretischerTermi nologie zu beschreiben und ein stimmiges Konzept für die empirische Analyse

5.2EindiskurstheoretischesModelldesForschungsgegenstands

111

hervorzubringen. Die beiden Leitfragen lauten also: Was ist ein Diskurs – empi rischgesehen?Und:WieanalysiertmanDiskurse?DieDiskussionerfolgtanhand eines Schaubildes (Abbildung 3), das in zwei Richtungen gelesen werden kann. OrientiertandererstenLeitfragezeichnetdieAbbildungdieDynamikdiskursiver Praxisnach(vonlinksnachrechts).OrientiertanderzweitenLeitfragenimmtdie BeschreibungdenumgekehrtenWeg(vonrechtsnachlinks).

Abbildung3

ModelldesGegenstandsundderAnalyseschritte

bildenEntstehungskontextfür    bringenhervor besteht  Diskursordnung Diskursordnung Regelnfür  Aussageprodukti Diskursordnung Regelnfür  onAussageprodukti Regelnfür onAussageproduktion  semantische semantische semantische schließenauf ordnen  Grundstruktur    WissensOberfläche VerstreuteÄußerungen  FormationenvonAussa Aussageereignisse  geereignissen(Begriffe,  Sprecherpositionen, Strategien,Gegenstände)    DynamikderdiskursivenPraxis  VorgehenderDiskursanalyse   Mit der links im Schaubild dargestellten Diskursordnung ist der strukturelle As pektvonDiskursengemeint.DieRegelnfürdieAussageproduktionkannmansich alseineabstrakte„semantischeGrundstruktur“oderauch„operativeGrundlogik“ (DiazBone2004,2)vorstellen.Wiebereitserwähnt(vgl.Kap.3)nenntFoucaultsie ‚Formationsregeln’unddefiniertsiefolgendermaßen:„ManwirdFormationsregeln dieBedingungennennen,denendieElementedieserVerteilungunterworfensind (Gegenstände,Äußerungsmodalität,Begriffe,thematischeWahl).DieFormations regelnsindExistenzbedingungen[…]ineinergegebenendiskursivenVerteilung.“ (Foucault 1990a, 58, Hervorh. dort) Postuliert wird also das Vorhandensein von

112

5MethodologischeVorüberlegungen

vier Strukturprinzipien, aus deren erfolgreichen Rekonstruktion geschlussfolgert werdenkann,dasseinediskursiveOrdnung,somiteinDiskursexistiert.Andieser Stelleistesnotwendig,dasabstrakteKonzeptderFormationsregelnzuexplizieren, umesfürdieeigeneEmpirienutzenzukönnen.WasgenauistalsoeineFormati onsregel? BeidererstenFormationderGegenstände(synonym:Objekte)gehtesnichtetwa darum,AussagenumeingleichbleibendesObjektherumzugruppieren(z.B.‚die Bioethik‘).VielmehristdieFormationsregelhierein„Verteilungsgesetz“(Foucault 1990a, 51), das die Identifizierung einer Menge von Aussagen erlaubt, die einem DiskursXzugehörigsind:„DieRegelgleichzeitigenodersukzessivenAuftauchens verschiedener Objekte, die darin [im Diskurs X, d. Verf.] benannt, beschrieben, analysiert,geschätztoderbeurteiltwerden.“(Foucault1990a,50)FürdieEmpirie istdieseabstrakteDefinitionwenighilfreich.KonkreterformuliertSchwabTrapp (2001,262):„DiskursiveFormationenerzeugendieGegenstände,diesiebehandeln […]“. Als brauchbarer Hinweis für das empirische Vorgehen hat sich auch die Suche nach einem „Spezifikationsraster“ (Foucault 1990a, 64, Hervorh. dort) oder „Klassifikationsmuster“ (Keller 2005, 132) erwiesen, das einer Menge von Aussa gen erkennbar zugrunde liegt. Die zweite Formation der Äußerungsmodalitäten be zieht sich auf außertextliche Merkmale. Nach Keller (2005, 132) verweist sie „auf Fragen, wie etwa: Wer ist legitimer Sprecher bzw. von welchen institutionellen OrtenundSubjektpositionenauswirdübereinenDiskursgegenstandgesprochen? WiehängenunterschiedlicheÄußerungsformen–Statistik,Erzählung,Experiment u.a.–zusammen?“ZuberücksichtigenistandieserStelle,dassmitSubjektpositio nen nicht die tatsächlichen Sprecher oder ‚Autoren’ gemeint sind; die Positionen werden eher als überindividuelle Rollen, soziale Funktionen oder situativ defi niert.DrittensmeintFoucault(1990a,84,Hervorh.dort)mitderFormationderBe griffenichtbeobachtbareHäufungenvonWörtern,sonderneher„diediversenrhe torischenSchemata,mittelsderenmanAussagenkombinierenkann“;ihninteressie ren Abhängigkeiten wie „Hypothese – Verifizierung; Behauptung – Kritik; allge meinesGesetz–besondereAnwendung“.InderPraxisderDiskursanalyseschließt die Untersuchung der sprachlichrhetorischen Muster, die im Textkorpus vor kommen,meistdenbenutztenWortschatzmitein(z.B.Jäger1999,179ff.).Fürdie vierte Formation der Strategien benutzt Foucault (1990a, 58) auch den Terminus „thematische Wahl“, um zu verdeutlichen, dass hier vor allem die Außenbezüge des Diskurses gemeint sind: eine strategische Wahl von Themen zwecks Abgren zung von anderen Diskursen oder zur Verkopplung von Diskurs und nicht diskursiverPraxis.

5.2EindiskurstheoretischesModelldesForschungsgegenstands

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Trotz einiger Hinweise in der „ArchäologiedesWissens“, wie Formationsre geln formuliert werden können, bleiben die Angaben Foucaults zum möglichen Methodeneinsatzabstrakt;imWesentlichenverweisternuraufRegelmäßigkeiten inderVerteilungbzw.StreuungvonAussagen.SolangeesumdieAnalysewis senschaftlicher Disziplinen geht, wie es ja bei Foucault überwiegend der Fall ist, bietet der institutionelle Rahmen eine recht gute Abgrenzungsmöglichkeit, um einen Korpus zusammen zu stellen und nach Regelmäßigkeiten zu suchen. Doch lässtsichdasKonzeptderFormationsregelnauchdannanwenden,wennderFor schungsgegenstand ganz offensichtlich kein Spezialdiskurs ist? Foucault (1990a, 274) selbst stellt die Frage nach der Reichweite seiner Methodologie: „[K]önnte man eine archäologische Analyse konzipieren, die auch die Regelmäßigkeit eines Wissenserscheinenließe,sichabernichtvornähme,sieinRichtungderepistemo logischenFigurenundWissenschaftenzuanalysieren?“UndseineAntwortlautet, dass es eben nicht darum gehe, „die Wissenschaft in ihrer spezifischen Struktur“ zu beschreiben, sondern von Interesse sei vielmehr „der durchaus andersartige BereichdesWissens.“(Foucault1990a,278,Hervorh.dort) AmBeispielderSexualitätentwickelterdieIdeeeinesForschungsprogramms, das sich nicht auf Spezialdiskurse bezieht. In einer längeren Passage, die es wert ist, hier wiedergegeben zu werden, entwirft er „eine andere Analysemöglichkeit: […]anstattdaszubeschreiben,wasdieMenschenüberdieSexualitäthabenden ken können […], würde man sich fragen, […] ob die Sexualität, außerhalb jeder OrientierungaufeinenwissenschaftlichenDiskurshin,keineGesamtheitvonGe genständenist,überdiemansprechenkann(oderüberdiezusprechenverboten ist), ein Feld möglicher Äußerungen (ob es sich um lyrische Ausdrücke oder um juridischeVorschriftenhandelt),eineGesamtheitvonBegriffen(diesichzweifellos unter der elementaren Form von ideologischen Begriffen oder Themen darstellen können),einBündelvonWahlmöglichkeiten(dasinderKohärenzderVerhaltens formen oder in Vorschriftssystemen erscheinen kann). Wenn sie Erfolg in ihrer Aufgabehätte,würdeeinesolcheArchäologiezeigen,wiedieVerbote,Ausschlüs se, Grenzen, Aufwertungen, Freizügigkeiten, Grenzüberschreitungen der Sexuali tät, alle ihre sprachlichen oder nichtsprachlichen Manifestationen an eine deter minierte diskursive Praxis gebunden sind. Sie würde eine gewisse ‚Sprechweise’ gewiß nicht als letzte Wahrheit über die Sexualität, sondern als die eine der Di mensionen,indenenmansiebeschreibenkann,erscheinenlassen;undmanwürde zeigen, wie diese Sprechweise nicht in wissenschaftlichen Diskursen, sondern in einemSystemvonVerbotenundWertenangelegtist.DieseAnalysevollzögesich so nicht in der Richtung der Episteme, sondern in der, die man als die der Ethik bezeichnenkönnte.“(Foucault1990a,275f.)

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5MethodologischeVorüberlegungen

Wieder einmal zeigt sich: Foucaults Konzeption vom Diskurs ist polyvalent. Der gewissermaßen zu den Wissenschaften quer, ja daneben liegende Diskurs, wieerhieramBeispielderSexualitätentwickeltwird,unterscheidetsichvomSpe zialdiskurs durch die Verlagerung seiner konstituierenden Dimension: Nicht um den‚WillenzurWahrheit’gehteshierprimär,sondernumdieethischeFormder Subjektkonstitution. In methodologischer Hinsicht fällt allerdings eine Gemein samkeitauf:AuchimFallvonnichtwissenschaftlichenDiskursenwürdesichFou cault des Instrumentariums der Formationsregeln bedienen – insofern spricht nichts dagegen, die gleiche Herangehensweise auf ein durch das Diskursthema BioethikunddasMediumInternetgeprägtesMaterialanzuwenden. Als Zwischenergebnis kann man festhalten: Formationsregeln sind nicht di rektbeobachtbar,sondernmüssenerstdurchAnalysearbeitfreigelegtwerden.Der unmittelbaren Beobachtung zugänglich ist dagegen die ‚WissensOberfläche’ der diskursivenPraxis.InderobigenVisualisierung„ModelldesGegenstandsundder Analyseschritte“(Abbildung3)istsieinderMittepositioniert;sierepräsentiertdie OrdnungtatsächlicherÄußerungen,126diedurchdieabstraktenRegelnhervorgeb racht wird. Forschungsmethodisch lässt sich die WissensOberfläche durch ein Kategoriensystem darstellen, das – wie der Codebaum dieser Studie (vgl. 7.3) – eine spezifische Kopplung unterschiedlichster diskursiver Formationen zum Er gebnis haben kann. Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, dass die eigene Untersuchungsperspektive immer auch beschränkt ist. Wenn in der Dis kurstheoriedavonausgegangenwird,diskursiveFormationen127seienbeobachtbar unddamitempirischerAnalysezugänglich,istdiesnurunterderEinschränkung richtig, dass man hierfür als notwendige Bedingung einen diskursanalytischen Blickannehmenmuss.DiskursiveFormationenlassensichnurunterderPrämisse entdecken,dassmaneineDiskursordnungvermutet.Wennmandiediskursanaly tische‚Brille’nichtträgtunddieMöglichkeiteinerStruktur,welchedieeinzelnen Äußerungen nach spezifischen Mustern auftreten lässt, nicht in Erwägung zieht, wird sich die WissensOberfläche als amorphe Masse von in Zeit und Raum ver streutenÄußerungen(oderAussageereignissen)128präsentieren. DiskursordnungenalsgedachteStrukturen,WissensOberflächealsempirisch nachweisbare Aussagenformationen und die einzelnen Aussageereignisse als de  126 Vgl.zurUnterscheidungvon‚Äußerung’und‚Aussage’3.4. 127 Foucault selbst (1990a, 115) bezeichnet diskursive Formationen als „etwas seltsame [...], etwas entfernte[...]Figuren“. 128 DenBegriff„Aussageereignis“benutztKeller(2004,64)alsSynonymfürÄußerungunddefiniert ihnals„konkretdokumentierte,fürsichgenommenjeeinmaligesprachlicheMaterialisierungei nesDiskursesbzw.einesDiskursfragments“.

5.2EindiskurstheoretischesModelldesForschungsgegenstands

115

renBestandteile–dassind,wieunserVersucheinerVisualisierung(Abbildung3) aufweist,diedreimethodologischrelevantenAspekteeinesDiskurses.Zuberück sichtigen ist außerdem die zeitliche Dynamik, die dem Historiker Foucault eben falls am Herzen lag. Das Bild vom Diskurs als „Fluß von ‚Wissen‘ durch die Zeit“ (Jäger 1999, 129, Hervorh. dort) impliziert eine chronologische Verkettung von AussagenindemSinne,dassfrühereAussagenEntstehungsbedingungfürspätere sind. Der im Schaubild dargestellte Rückpfeil von den ‚verstreuten Äußerungen’ hin zur ‚Diskursordnung’ soll auf diese zeitliche Komponente aufmerksam ma chen: Eine Diskursordnung kann nur als historisch kontingent gedacht werden; wederwirdsieständigneuerfundennochistsiestatischoderkausal. Das scheinbare Chaos der verstreuten Äußerungen (rechts in Abbildung 3) stelltdenAusgangspunktjederDiskursanalysedar.SiekannalseinTypisierungs prozess aufgefasst werden, der Ordnung in eine bestimmte Ansammlung von Aussageereignissen bringt. Jedoch muss beim empirischen Vorgehen dem Um stand Rechnung getragen werden, dass die soziale Realität aus einem prinzipiell unendlichen Universum von Äußerungen besteht. Aus diesem Grund erweist es sich schlichtweg als nicht möglich, jemals einen Diskurs in seiner Gesamtheit zu rekonstruieren.Forschungsprojekte,diesichdesdiskursanalytischenInstrumenta riumsbedienen,müssendeshalbdenAusschnitt,ausdenenihrempirischesMate rial stammen soll, genau definieren. In unserem Fall ist der Korpus alltagsnaher Äußerungen zur Bioethik durch die Maßgabe beschränkt, dass alle zu untersu chenden Texte im 1000 FragenForum enthalten sein sollen. Diese recht einfache GrenzziehungbirgtallerdingsdasRisiko,dasssichdasMaterialvielleichtgarnicht alslesbarimSinnederDiskurstheorieerweist.UmderGefahrderSelbstreferentia lität zu entgehen, haben wir die theoretische Verortung von „1000fragen.de“ be wusst offen gehalten: Untersucht wird ein ‚diskursives Ereignis im Interdiskurs’ (vgl.3.6)–undnichtetwa‚derBioethikDiskursimInternet’. ImSchaubild(Abbildung3)wirdderspezifischeKorpusdieserStudiedurch das rechte Fenster repräsentiert. Ein Blick auf das mittlere Fenster offenbart das weitere Vorgehen: „Die diskurstheoretische Perspektive sucht [.] in einem abge grenztenAussagenfeldnachdenenthaltenendiskursivenHervorbringungsprakti ken (wie dem Problematisieren, Klassifizieren, Nebeneinanderstellen, Ausschlie ßen usw.), in denen die diskursive Praxis am Werk ist.“ (DiazBone 2002b, 191) Folglich werden erst im Prozess der Materialbearbeitung die diskursiven Forma tionen,welchedieWissensOberflächestrukturieren,alssolcheidentifiziert–und damit ‚sichtbar’. Beispielsweise ist es im Bereich der Begriffe relevant, ob vom „Embryo“oder„Zellhaufen“gesprochenwird.VerwendeteineÄußerungmedizi nischeTerminologie,zitiertsiedieBibeloderlässtsieeigeneErfahrungeneinflie

116

5MethodologischeVorüberlegungen

ßen?DabeispielteskeineRolle,werdieAutorenbzw.Autorinnendereinzelnen Fundstellen sind; es kommt nur auf die Regelmäßigkeiten in der Begriffsverwen dung an. Diese Muster sind die eigentlichen Bestandteile der – im Schaubild (Abbildung3)linksdargestellten–Diskursordnung,diesichunterderOberfläche desGesagtenverbirgt. Auf der Ebene der Diskursordnung, bei der im Fall unseres Korpus höchstwahrscheinlichmehrereundunterschiedlicheOrdnungenaufeinandertref fen,stellenalsonichtmehrdiemanifestenTextinhaltedenGegenstandderAnaly sedar,sondernesgehtumabstrakteKonstrukte,dieimplizitimMaterialenthalten sind.FürdieUntersuchungbedeutetdiesesPostulatvielKleinarbeit:DazuBeginn der Codierung kein einziges Element durch einfaches Lesen markiert und dann weiter(z.B.statistisch)ausgewertetwerdenkann,isteszunächsterforderlich,aus demRohmaterialsystematischqualitativeDatenzugewinnen,umaufderenBasis anschließend verallgemeinerbare Aussagen zu formulieren. Dabei wird der Weg desabduktivenSchließensbeschritten:VondenbeobachtbarenFormationenwird induktiv auf die zugrunde liegenden Diskursordnungen geschlossen. Die so ge wonnenen Strukturannahmen müssen wiederum am Material überprüft werden. Um ein Bild aus Foucaults methodologischem Hauptwerk (1990a) zu benutzen: DieForscher/innengrabenwieArchäologendieOberflächeauf,umzudentiefer liegendenSchichtenderuntersuchtenMachtWissenFormationzugelangen. Das Fazit lässt sich so formulieren: Die konkreten Schritte der empirischen UntersuchungsindgutamModellnachvollziehbar.AberfolgtdiediskursivePra xisauchdenangenommenenRegeln?ObtatsächlicheineDiskursordnungheraus gearbeitet werden kann, muss im Rahmen der methodologischen Überlegungen unbeantwortetbleiben;ihreExistenzistnureine(notwendige)Ausgangshypothe se der Analysearbeit (vgl. Keller 2004, 79). Jedenfalls lässt sich mit den diskurs theoretischenAnnahmenbegründen,warumeinunsichtbaressozialesPhänomen, nämlich eine Diskursordnung, einer empirischen Untersuchung prinzipiell zu gänglichseinsoll.WissensordnungenmaterialisierensichinderdiskursivenPraxis unterandereminTexten,somitkönnensieauchübereinesystematischeTextana lyse sichtbar gemacht werden. Was die Diskursanalyse von anderen Herange hensweisenunterscheidet,istihrspezifischerBlickaufdieDokumente:Ihrzufolge kommtderdiskursivenPraxiseinbedeutenderStellenwertbeiderKonstituierung von Gesellschaft zu. Für diese Funktion ist nicht der subjektive Sinn maßgeblich, denAkteureihrenÄußerungengeben,sonderndieSystematizitätdessen,wasim Feld der verstreuten Äußerungen faktisch sagbar und denkbar ist. Die Kernfrage der Diskursanalyse lautet daher: „Wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienenistundkeineandereanihrerStelle?“(Foucault1990a,42)

6 KomplexitätreduzierendurchZählenundMessen

Wer fragt was auf welche Weise mit welcher Wirkung? So lautete die Fragestel lung der ersten empirischen Arbeitsphase (vgl. 5.1), deren Ergebnisse wir in die semKapitelpräsentieren.SieverfolgteeineStrategiegrößtmöglicherOffenheitund gingvonderAnnahmeaus,dassjederVersucheinerTypisierung–obdiskursana lytisch fundiert oder nicht – eine WissensOberfläche hervorbringen würde, die nicht kohärent sein, sondern Brüche bzw. Teilstrukturen unterschiedlicher Ord nungenenthaltenwürde.FürdieseersteAnnäherungandieEmpiriewurdenein fache Zähl und Messvorgänge durchgeführt, um grobe Regelmäßigkeiten in der unübersichtlichenMengederÄußerungenherauszufiltern;diequantitativenAna lysendienten dazu, mit dem Untersuchungsmaterial vertrautzuwerden.Fürdie nachfolgende,qualitativangelegtePhasewarvorgesehen,dieÄußerungenzuty pisieren,zukategorisierenundsomitzuBündelungenvonAussageereignissenzu verdichten(vgl.Kap.7). Nach einer methodologischen Reflexion der Inhaltsanalyse (6.1) folgt die Er läuterungdereigenenMethodik(6.2).Diesichanschließende,reindeskriptivange legte Ergebnisdarstellung (6.3) orientiert sich an der oben erwähnten, klassischen inhaltsanalytischen Heuristik. Die Schlussfolgerungen (6.4) stellen Verbindungen zuranschließendenqualitativenUntersuchungher.

6.1 Inhaltsanalyse:MethodologischeReflexion DieInhaltsanalyse,dieinSozialwissenschaftundPsychologieeinelangeTradition hat,istimGrundenichtsweiteralseinesystematischeUntersuchungvonsprachli chemMaterial.129MitderWahldieserMethodefolgenwirMaxWeber(1911,52), derschonaufdemerstendeutschenSoziologentag1910empfahl,beiderInhalts analysevonZeitungen„ganzbanausischanzufangen[.]damit,zumessen,mitder Schere und dem Zirkel, wie sich denn der Inhalt der Zeitungen in quantitativer HinsichtverschobenhatimLaufederletztenGeneration[...]“.DieGrundannahme der Inhaltsanalyse ist, dass in „dem, was Menschen sprechen und schreiben, [.]  129 FüreineumfangreicheeinführendeDarstellungvgl.Merten(1995).

118

6KomplexitätreduzierendurchZählenundMessen

sichihreAbsichten,Einstellungen,Situationsdeutungen,ihrWissenundihrestill schweigendenAnnahmenüberdieUmweltaus[drücken].“(Mayntzu.a.1974,151) DaalldiesdurchdiesozialeRealitätbeeinflusstwird,kanndasempirischeMateri al Aufschluss über gesellschaftliche Phänomene geben, über Wissensordnungen, Machtstrukturen,sozialenWandelusw.–sojedenfallslautetdasmethodologische Postulat. Bei der Durchführung von Inhaltsanalysen muss grundsätzlich zwischen ei nem quantitativen und einem qualitativen Konzept unterschieden werden. Erste remzufolgegehtesumdie„KlassifikationvonsymbolischemMaterialdurchwissen schaftlich geschulte Beobachter, die, auf explizite Zuordnungs und Verfahrensregeln gestützt, beurteilen sollen, welche Teile des Textmaterials unter die Kategorien des Untersuchungsschemasfallen“(Ritsert1975,17,Hervorh.dort).Beiderquantitati ven Inhaltsanalyse handelt es sich also um ein Instrument der Datenerhebung. Dagegen wird in qualitativen Ansätzen die Inhaltsanalyse als eine Auswertungs methode benutzt. „Die Inhaltsanalyse dient im qualitativen Paradigma der Aus wertung bereits erhobenen Materials, und das heißt, sie dient der Interpretation symbolischkommunikativ vermittelter Interaktion in einem wissenschaftlichen Diskurs“.(Lamnek1989,168)InbeidenFällenbestehtdieStärkederInhaltsanalyse in der Kategorienbildung (Atteslander 2003, 225); entweder existieren schon vor derDatenerhebungtheoretischbegründeteKategorien(quantitativerAnsatz)oder das Kategoriensystem entsteht als Ergebnis der Auswertungstätigkeit (qualitative Variante). CharakteristischfürdieBeiträgedesuntersuchtenInternetforumsist,dasses sichumakzidentaleDokumentehandelt,d.h.unsereDatenwurdennicht,wiez.B. Interview oder Beobachtungsprotokolle, zum Zweck der späteren Analyse extra hervorgebracht,sondernlagenzuBeginnderArbeitbereitsvor.ImUnterschiedzu Material, das in der Forschung selbst generiert wird, ist das Forum auch nicht reaktiv,d.h.dieProduktionderTextewurdenichtwissenschaftlichbeeinflusst.130 UntermethodologischenGesichtspunktenhatdieseMateriallagedenVorteil,dass Verzerrungen, wie sie etwa durch Interviewer auftreten können, ausgeschlossen sind. Allerdings hat das Fehlen vorab lenkender Eingriffe auch die Konsequenz, dassderKorpusnichtstrukturiertnachtheoretischbegründetenKategorien,son derngänzlichungeordnetvorliegtbzw.nurdurchdieRahmung(vgl.Kap.4)ge prägtwurde.VordiesemHintergrunderweistsicheineexplorativqualitativeHe rangehensweise als angemessener als ein quantitatives Vorgehen, das auf einem  130 DieAktionMenschhatüberdieKonzeptiondesInternetforums,dieGestaltungderWebseiteund die begleitende Publikumskampagne indirekt Einfluss auf die Produktion der Texte genommen; dieModerationwarsehrzurückhaltend(vgl.Kap.2).

6.2MethodischesVorgehen,DatengewinnungundverwendeteSoftware

119

geschlossenenForschungsdesignbasiert.EbenfallsfürdieVerwendungqualitativ interpretativer Methoden spricht, dass die vorliegenden Texte als „schriftliches Protokoll alltagsweltlicher sprachlicher Kommunikation“ (Lamnek 1989, 179) an gesehenwerdenkönnen. WährendquantitativorientierteInhaltsanalysenmeistaufeinenüberschauba ren Datenkorpus von z.B. Zeitungsartikeln zurückgreifen, springt beim 1000 Fra genForum sofort der quantitative Unterschied ins Auge: Die Untersuchung von Stellungnahmen oder gar einer Diskussion von Tausenden von Teilnehmern und TeilnehmerinnenhatesinderSozialforschungnochnichtgegeben.Umdergroßen Materialmenge gerecht zu werden, ist folglich die Integration quantitativer Ele menteunvermeidlich,auchwenninsgesamteinqualitativorientierterAnsatzver folgtwird.AusdiesenGründenhabenwirdieInhaltsanalysesowohlalsDatener hebungswieauchalsDatenanalyseinstrumentgenutzt.Dabeifolgtdiequantitati ve Datenerhebung mittels Wortzählungen, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt steht,nichtderüblichenLogik,d.h.esgehtnichtumdieZuordnungderDatenin theoretischvorgegebeneKategorien.VielmehrdientsiederexplorativenErhebung vonAspekten,dieindensichanschließendeninterpretativenArbeitsschrittenfür dieKategorienbildunggenutztwerdenkönnen.

6.2 MethodischesVorgehen,DatengewinnungundverwendeteSoftware Da das Internetforum über den Start der Forschungsarbeit hinaus geöffnet blieb, musstezunächstalsDatengrundlageeinestabileAuswahlausderGesamtheitder Fragen und Kommentare definiert werden. Mit der Festlegung auf eine Summe von 10.000 Fragen und den dazu gehörigen 34.611 Kommentaren wurde dem Interesse des Auftraggebers, eine umfassende Erhebung durchzuführen, im Rah men des praktisch Möglichen entsprochen. De facto bilden diese Beiträge das komplette Internetforum vom Start des Diskursprojekts Anfang Oktober 2002 bis EndeMai2004ab.131SiestellendasMaterialsowohldererstenwieauchderzwei ten Untersuchungsphase dar; die 20.205 Diskussionsbeiträge, die im Rahmen der 78 FragenPatenschaften (vgl. 2.4) entstanden, wurden erst in den späteren Ar beitsphasenzusätzlichberücksichtigt(vgl.Kap.9,10). VondemProjektträgerwurdendieDateninFormvonExcelDateienübermit telt.EinDatensatzenthieltnebendemTextderFragebzw.desKommentarseine  131 Nicht in die Untersuchung einbezogen wurden die von der Moderation gefilterten Beiträge, die aufgrundderVerletzungvonTeilnahmeregelnnichtveröffentlichtwurden(zudenModerations regelnvgl.2.3).

120

6KomplexitätreduzierendurchZählenundMessen

IDNummersowiediezurVeröffentlichungfreigegebenenpersönlichenAngaben (Name und Wohnort), den Zeitpunkt des Eintrags und eine der vorgegebenen Themenkategorien, denen die Teilnehmer/innen ihre Beiträge zugeordnet hatten. Tabelle2zeigt,welcheFormderDatensatzhatte,wennderBeitrageineFragewar; Tabelle3zeigtdenDatensatzeinesKommentars.Letztererenthieltzusätzlichzur eigenenIdentifikationsnummer(ID)dieIDderFrage,aufdiederKommentarsich bezog (FragenID). Als weitere Variable wurde die Textlänge der Diskussions stränge(nachfolgend‚Threads’132genannt)genutzt.SiewurdevomAuswertungs programm automatisch erstellt, enthielt die Anzahl der verwendeten Wörter und konnte als Indikator für das Ausmaß der Reaktionen auf eine Frage verwendet werden. Für die Wortschatzanalyse erwies es sich als sinnvoll, den Text selbst ebenfalls zu quantifizieren. Zu diesem Zweck wurde nur für den FragenKorpus einsogenanntesDiktionär(Lexikon)erstellt,dasgegenüberdenüber17.000ver schiedenenWörtern,diedasAuswertungsprogrammalleinfürdieFragenanzeig te,einedeutlicheReduktionerbrachte.133JedenEintragkannmansichalsnumeri scheVariablevorstellen,diedasZählergebnisderSummederjeweiligenSuchwör terfürjedeTexteinheitenthält.DergesamteSatzdesDiktionärsmit140Einzelva riablengingdannindiestatistischeAnalyseein. Für die computergestützte Arbeit am Textkorpus wurde das Softwarepaket MaxQDA2mitMaxDictiogewählt.134DasquantitativeModulMaxDictiodientezur Erhebung von Daten aus dem Textkorpus, während die statistische Analyse der quantitativenDatenmitdemProgrammSPSSdurchgeführtwurde.   

 132 Wie bereits erwähnt, ist ein ‚Thread’ definiert als eine Frage plus die zu ihr gehörenden Kommentare. 133 NähereErläuterungenzumDiktionärundzurWortschatzanalysefindensichin6.3.2. 134 ImVergleichzuanderenProduktenzeichnetesichdiesesProgrammdadurchaus,dassessowohl Funktionen für die qualitative Analyse als auch Werkzeuge für quantitative Verfahren, wie z.B. die automatische Zählung von Worthäufigkeiten anbot. Zu den methodischen Hintergründen computergestützterAnalyseundBeispielenausderForschungspraxisvgl.Kuckartzu.a.(2007).

121

6.3ErgebnissederquantitativenAnalysen

BeispieleinesDatensatzesderFragen

Tabelle2 ID

Thema

Frage

VN

NN

Ort

Datum

16288

Gentechnik

ÄndertmanseineEinstellung zurGentechnik,wennman selbst,oderseineigenesKind eineKrankheitbekommt,die evtl.mittelsGentechnikzu bekämpfenwäre?

A.

K.

Duisburg

28.05.2004 20:40

Tabelle3

BeispieleinesDatensatzesderKommentare

FragenID

ID

Kommentar

VN

NN

Ort

Datum

16288

47546

Ichkönntewetten,daßmandasdann tut,zumindestspätestensdann, wennwirklichTherapienauf GentechnikEbeneentwickelt wurden.DieMutterwillichdann sehen,dieihrKindanKrebssterben siehtundihmdanndieGenTherapie verweigert.Aberdasistjanochalles Zukunftsmusik,bisjetztisteine GentechnikTherapienochnicht möglich.

M.

H.



29.05.200418:48

6.3 ErgebnissederquantitativenAnalysen Die Ergebnispräsentation beginnt mit den (notwendigerweise fragmentarischen) Angaben zu den Usern des Internetforums (‚Wer fragt?’). Anschließend stehen Themenwahl und Wortschatzanalyse (‚Was wird auf welche Weise gefragt?’) im Mittelpunkt. Diese Aspekte ermöglichen bereits empirische Anschlüsse an die Diskurstheorie: So erbringt etwa die zahlenmäßige Streuung von Begriffen erste Hinweise auf Diskursordnungen. Ein Überblick über das gesamte Onlineforum hinsichtlichderTextlängenderBeiträgeunddesunterschiedlichenFeedbacksauf die Fragen (‚Mit welcher [internen] Wirkung wird gefragt’?) rundet die Darstel lungab.

122

6KomplexitätreduzierendurchZählenundMessen

6.3.1 DieForumsteilnehmer/innen FürdiequantitativeAnalysewarendieNamensangaben,sowiesieindenRohda tenerschienen,ungeeignet.Siewurdendaherfürdie10.000Fragenmanuellindie Variablen„Identität“und„Geschlecht“umcodiert:DieVariable„Identität“unter schiedzwischenPersonen,dieihrenNamengenannthaben,sowiedenjenigen,die einenFantasienamenbenutzten,undsolchen,diedieAnonymitätwählten(darun terfielenauchNamensinitialen).

Tabelle4

Identität

Identität

Tabelle5

Geschlecht

Häufigkeit

Prozent

Identität

Häufigkeit

Prozent

Namegenannt

4757

47,57

Weiblich

1784

38,15

Fantasiename

253

2,53

Männlich

2892

61,85

Gesamt

4676

100,00

AnonymerBeitrag

4990

49,90

10.000

100,00



Gesamt 

An Tabelle 4 ist abzulesen, dass knapp über die Hälfte der Fragesteller/innen (52,43%) nur ihre Initialen oder eine andere anonymisierte Teilnehmerkennung benutzthat.DaeingroßerAnteilanonymerBeiträgenichtunbedingteineVerzer rung der tatsächlichen Geschlechterverteilung bedeutet, wurde aus den Namen, dieerkennbargeschlechtsspezifischwaren,dieweitereVariable„Geschlecht“mit den Ausprägungen ‚weiblich’ und ‚männlich’ gebildet. Diese Variable konnte ei nem Datensatz allerdings nur dann zugeordnet werden, wenn der Vorname ein deutigmännlichoderweiblichwar.WenninderfolgendenErgebnispräsentation Aussagen zur Geschlechterverteilung gemacht werden, ist zu beachten, dass dies immernuraufderGrundlagerundderHälftederFragengeschieht(n=4.676). Durch eine einfache Häufigkeitsauszählung wurde geprüft, ob das Fragen ForumvonMännernwieFrauengleichoftgenutztwurde(vgl.Tabelle5).ImEr gebniszeigtesich,dasssichmitknapp62%deutlichmehrMänneralsFrauenbe teiligten. Dieser Unterschied gilt allerdings nur unter der Prämisse, dass Männer und Frauen gleichermaßen die Möglichkeit der Anonymität nutzten. Ein etwas abgeschwächtes Übergewicht der von Männern stammenden Beiträge ergab die Auszählung, die der Projektträger selbst vornahm: Hier steht ein Anteil von 48% Männern einem Frauenanteil von 41% gegenüber (Aktion Mensch/Zirden 2003,

6.3ErgebnissederquantitativenAnalysen

123

806).135 Dieselbe Auszählung, die den Stand des Forums im August 2003 wieder gibt,enthältaucheineAltersverteilungderFragesteller/innen(s.Abbildung4). Abbildung4

VerteilungderAltersgruppenbeidenFragesteller/innen

  k.A.25%  bis17Jahre15%     60u.älter2%  4659Jahre3%  1829Jahre38%   3045Jahre17%   Während ein Viertel der Fragesteller/innen keine Angabe zum Alter machte, fällt beidenübrigeneindeutlichesÜbergewichtjüngererMenschenauf.Dieunter30 JährigenstelltenüberdieHälftederbisAugust2003gezähltenFragen.Dahinsich tlich der Altersverteilung nur interne Daten des Projektträgers zur Verfügung standen, die sich von unserer Datenbasis unterscheiden, kann das Ergebnis nicht weiterinterpretiertwerden.

6.3.2 ThemenwahlundDiktionär Die Auszählung der Themen und verwendeten Wörter sowie ihre Verknüpfung mitweiterenVariablenlieferteneineGrundlage,uminderfolgenden,qualitativen Projektphase ‚in die Tiefe’ gehen zu können. Die Häufigkeitsverteilung der The men lässt erkennen, dass das inhaltliche Interesse der User ungleich verteilt war (s.Tabelle6). Sechs Themen zogen je über 500 Fragen an: Darunter waren drei der sieben Themengruppen, nämlich „Der (im)perfekte Mensch“, “PID, PND, Wunschkin  135 BeidieserinternenAuswertungwurdendieTeilnehmer/innen,dieihrenNamenzwareingegeben haben,abernurihreInitialenveröffentlichenwollten,mitgezählt,währendunsdiesaufGrunddes Datenschutzesnichtmöglichwar.

124

6KomplexitätreduzierendurchZählenundMessen

der“und„Heilen,Forschen,Experimentieren“.DiebeidenSpitzenreiter„Mensch“ und „Reproduktives Klonen“ waren jedoch Einzelthemen, ebenso wie „Wunsch kinder“,dasdensechstenRangeinnahm.ZudenThemenmitdenwenigstenFra gen gehörten ‚Arbeitsplätze/Wirtschaftsstandort’ (25), ‚Forschung an Nichteinwil ligungsfähigen’ (28), ‚Ethikrat’ (32), ‚Medien’ (37), ‚Eugenik’ (40) und ‚Paten  te’(42).136

 136 DievondenUsernselbstvorgenommeneEinordnungindievorgegebenenThemengebietebedeu tetenicht,dasssichdieimForumentwickelndenDiskussionenauchandieseThemenbindungge halten hätten.Diequalitative AnalysederThreadskonnteeinegenauereDifferenzierungderIn haltezuTagefördern(vgl.Kap.7).

125

6.3ErgebnissederquantitativenAnalysen

Tabelle6

AuflistungderThemenwahlnachAnzahlderFragen

Thema

Fragen Thema

Fragen

Mensch

777 Normalität

158

ReproduktivesKlonen

749 Gentherapie

145

Heilen,Forschen,Experimente(Allg.)

577 Glück

138

PID,PND,Wunschkinder(Allg.)

558 Embryonenschutzgesetz

135

Der(im)perfekteMensch(Allg.)

548 Präimplantionsdiagnostik(PID)

123

Wunschkinder

534 Humangenetik

114

Bioethik

402 KünstlicheBefruchtung/IVF

110

Genforschung

380 Sonstiges

110

Gentechnik

363 Leid/Leiden

106

Ethik,Medien,Kommissionen(Allg.)

336 Stammzellforschung

Zivilisation

305 Patente,Rendite,Wirtschaft(Allg.)

85

Euthanasie/Sterbehilfe

283 Organzüchtung

81

Moral

280 Forschungsfreiheit

67

88

Sterben,Sterbehilfe,Töten(Allg.)

279 Gentests

62

Selektion

244 Organtransplantation

61

Unsterblichkeit

235 TherapeutischesKlonen

46

Tod

212 Patente

42

Lebensqualität

205 Eugenik

40

„SchöneneueWelt“

200 Medien

37

Gesundheit/Krankheit

190 Ethikrat

32

Forschung

177 Forsch.anNichteinwilligungsfähigen

28

Menschenwürde

175 Arbeitsplätze/Wirtschaftsstandort

Pränataldiagnostik(PND)

158 Gesamt

25 10000

 Ausgehend von derVerteilung in Tabelle6 galt esaußerdem herauszufinden,ob es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Themenwahl gab. Eine Auflistung nach Geschlecht137 zeigte, dass Frauen und Männer nur in Teilbereichen unter schiedlichePräferenzenhatten.DiemeistenThemenwieseneineGeschlechterver teilung in der Nähe des Durchschnitts auf. Daneben ließen sich jedoch durchaus einige ‚Frauen’ bzw. ‚Männerthemen’ identifizieren.138 Zum Teil konnten die ge fundenenAuffälligkeitenalsAuswirkungvonGeschlechtsstereotypeninterpretiert werden:Sowar eine überdurchschnittlich hohe weibliche Beteiligung bei mit der menschlichen Fortpflanzung verbundenen Themen (PID, PND, Wunschkinder,  137 AufdiePräsentationdieserTabellewurdeausPlatzgründenverzichtet. 138 SignifikanterGeschlechterunterschied,errechnetdurchChi²,Irrtumswahrscheinlichkeit=21 Gesamt

2.186 2.133 1.626 1.144 753 542 397 275 178 145 104 244 99 174 10.000

21,9 21,3 16,3 11,4 7,5 5,4 4,0 2,8 1,8 1,5 1,0 2,4 1,0 1,7 100,0

21,9 43,2 59,5 70,9 78,4 83,8 87,8 90,6 92,3 93,8 94,8 97,3 98,3 100,0 

 DieVerteilungähneltdemZählergebniszudenTextlängen.SieliefertkeineErklä rungdafür,warumeinigeFragenmehrKommentareaufsichzogenalsandere.Die Reaktionen der Forumsteilnehmer/innen könntenz.B.abhängigvon der Themen wahl gewesen sein. Zur Überprüfung eines Zusammenhangs zwischen Themen wahl und Ausmaß des Feedbacks wurden die Themengruppen anhand des Me diansderTextlängederinihnenenthaltenenThreadsverglichen(vgl.Tabelle10). Im Durchschnitt hatten die Diskussionen in den meisten Themengruppen eine Länge von 74 bis 84 Wörtern. Die Themengruppe „Sterben, Sterbehilfe, Töten“ wies mit 117 Wörtern einen deutlich höheren Median auf, ebenso die Gruppe „Sonstiges“.  miert.ImFalledesarithmetischenMittels,dasdieSummeallerWertedurchdieAnzahlderFälle teilt, würden dagegen die sechs längsten Diskussionen den Mittelwert der Threads erheblich in dieHöhetreibenundaufdieseWeiseverzerren.

134 Tabelle10

6KomplexitätreduzierendurchZählenundMessen

DurchschnittlicheTextlängeinWörternnachThemengruppe

Themengruppe

Textlänge143

Standardabweichung

N

Heilen,Forschen,Experimentieren

74,0

677

2.514

Patente,Rendite,Wirtschaft

76,0

229

152

PID,PND,Wunschkinder

76,5

523

2.516

Ethik,Medien,Kommissionen

81,0

394

1.112

Der(im)perfekteMensch

84,0

669

2.822

Sterben,Sterbehilfe,Töten

117,0

625

774

Sonstiges

158,0

971

110

82,0

608

10.000

AlleThreads

 Bei der Analyse des FragenFeedbacks wurde außerdem ein Zusammenhang mit derIdentitätderFragesteller/innenüberprüft.Mankönntez.B.vermuten,dasses einenquantitativenUnterschiedzwischenReaktionenaufanonymeundaufnicht anonymeFragengab.144DieLängedesFeedbacks(Tabelle11)waraberinbeiden KategorienmiteinemMedianvon81bzw.79Wörternunauffällig.EineAusnahme stellten jedoch diejenigen User dar, die einen Fantasienamen benutzten; an diese Fragen schlossen sich längere Diskussionen an. Möglicherweise handelte es sich hierum erfahrene User,welche diein den meisten Forenübliche Benutzungvon PseudonymenoderAvataren145bevorzugenundfürdieesBestandteildesAlltags ist,anInternetdiskussionenteilzunehmen.

Tabelle11

DurchschnittlicheTextlängeinWörternnachIdentität

Identität

Textlänge

Standardabweichung

N

Namegenannt

79

667

4757

Anonym

81

539

4990

Fantasiename

185

683

253

AlleThreads

82

608

10000

 143 DieTextlängeistgleichbedeutendmitMedian. 144 DieÜberprüfungaufgeschlechtsspezifischeUnterschiedeergabkeineAuffälligkeiten. 145 Avatar(vonAvatara[Sanskrit],BezeichnungfüreinenGott,derdieGestalteinesMenschenoder Tieres annimmt): Stellvertreter einer Person in der virtuellen Realität; wird meist als Grafik in ChatsundInternetforenbenutzt,umdieteilnehmendePersonzuillustrieren.

6.4Schlussfolgerungen

135

6.4 Schlussfolgerungen Mit dieser ersten empirischen Arbeitsphase verband sich die Absicht, einen Ge samtüberblicküberdasumfangreicheMaterialzugewinnenunddessenKomple xitätzureduzieren.AufderSuchenachgeeignetenOrdnungskriterienbotessich an,folgendeKriteriengenauerzudurchleuchten:dieTeilnehmer/innen,dieäußere StrukturderThreadsundeinigeinhaltlicheMerkmalewieThemenwahlundver wendeter Wortschatz. Als methodischer Zugang wurde ein quantitativer Ansatz gewählt, um die inhaltsanalytisch relevanten Aspekte (z.B. Geschlecht der User, Treadlänge, Themenwahl etc.) statistisch auswerten zu können. Die Besonderheit dieses ersten Analysedurchgangs war, dass innerhalb eines prinzipiell qualitativ orientierten Forschungsdesigns quantitative Verfahren des Zählens und Messens zur Anwendung kamen. Folglich richteten sich die Erstellung des Fragen DiktionärsunddieAuszählungderWorthäufigkeitennicht–wiebeiderquantita tiven Inhaltsanalyse üblich – nach vorgegebenen Kategorien, sondern sie dienten dem Auffinden von Aspekten, die für die qualitativen Arbeitsphasen insgesamt aufschlussreichseinwürden. Zum einen gelang es, die Struktur des gesamten Onlineforums anhand der LängederThreadsundderAnzahlderKommentarezuveranschaulichen.Relativ langeDiskussionenmitzehnundmehrKommentarenerreichtennurrund5%der Fragen–derlängsteThreadentsprachallerdingsmitrund29.000Wörterneinem Text erheblichen Umfangs. Die Chance des durchschnittlichen Users, mit einer FrageeinelängereDiskussionanzuheizen,wardemnachrelativgering.Wennaber erst einmal eine größere Anzahl von Beiträgen zusammen gekommen war, ge wanneneinzelneThreadseineEigendynamik,diesichinentsprechendenLängen niederschlug.Wenn95%derFragennichtinderLagewaren,mehralsneunBei trägezuprovozieren,kannmanmiteinigerBerechtigungannehmen,dassdiepsy chologischeWirkung,diedemFragenstellengemeinhinzugeschriebenwird–Ge sprächsanregung,Offenheit,Nachdenklichkeit–,sichnichtunabhängigvomKon textentfaltet(vgl.3.3).146DieKommunikationineinerfacetofaceSituationunddie virtuelleKommunikationineinemInternetforumähnelnsich–auchwennsieden GebrauchvonAlltagsspracheunddieMöglichkeitdessimultanenAustauschesim Prinzipgemeinsamhaben–anscheinenddochwenigeralsmanannehmenwürde. DadiequantitativenAnalysenergaben,dassderCharakterdesSprechakts‚Frage’ fürdenVerlaufderOnlinediskussionnureineuntergeordneteRollespielte,wurde  146 AllerdingsmussweiterinBetrachtgezogenwerden,dassdieAufforderung,Fragenzustellen,die individuelleMotivationzurTeilnahmeam1000FragenForumsicherlichentscheidendbeeinflusst hat.

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6KomplexitätreduzierendurchZählenundMessen

konsequenterweise in den folgenden Untersuchungsphasen die Unterteilung des KorpusinFragenundKommentareaufgegebenundalleSprechakteerhieltenden gleichenStatus.WichtigstesErgebnisderAnalysederThreadlängenundderAn zahlderKommentarewarsomiteinvertiefterÜberblicküberdenGesamtkorpus. Weiterhin wurde das Material nach Aspekten geordnet, die man in teilneh merbezogeneVariablenundsolche,diesichaufdieBeiträgebezogen,unterteilen kann.BeiallenteilnehmerbezogenenVariablenlässtsichfesthalten,dassauchhier das Medium Internet das untersuchte Material geprägt hat. Besonders auffällig wardiesbeidenNamensvariablen:MehralsdieHälftederTeilnehmer/innenzog es vor, anonym zu bleiben. Ein hoher Anteil anonymer Stellungnahmen ist nicht perseproblematisch.IndenmeistenAnalysenentsprachdieVerteilungdemGe samtdurchschnitt;diemehrheitlicheAnonymitätverursachtealsokeinesystemati schen Verzerrungen. Eine besondere Gruppe bildeten jedoch die Fragestel ler/innen, die sich einen Fantasienamen gegeben hatten: Ihre Threads waren be sonderslang.MitderGeschlechtsvariablewurdedieFrageüberprüft,obdieteil nehmendenMännerundFrauenanunterschiedlicheWissensbeständeanknüpften. DurchdiequantitativeAuswertungderFragennachdemGeschlechtließsichdie se Vermutung teilweise bestätigen: Sowohl bei der Themenwahl als auch beim verwendetenWortschatzgabesBereichemitüberdurchschnittlichemFrauenbzw. Männeranteil. Angesichts des virtuellen Charakters des Materials und des im Internet häufig anzutreffenden Spiels mit der Geschlechtsidentität ist der Stellen wert der Geschlechtsvariable jedoch eher niedrig anzusetzen. Insgesamt machten dieteilnehmerbezogenenVariablenzwaraufwichtigeBesonderheitendesOnline forumsaufmerksam(EinflussdesMediums,möglichergenderbias);alsOrdnungs prinzip für die weitere Untersuchung erwiesen sie sich jedoch als nicht geeignet. Diese Funktion konnten nur die beitragsbezogenen Variablen Themenwahl und Wortschatzübernehmen. BeiderFragenachdeninhaltlichenSchwerpunktendesDiskursereignisseser gabdieAuszählungdergewähltenThemen,dassdasInteressederUserungleich verteilt war. Eine zentrale Tendenz ließ sich jedoch nicht feststellen; zudem war wahrscheinlich, dass sich die User auch im weiteren Verlauf der Threads nicht striktandieThemenbindunghielten.MehrErkenntnisgewinnversprachdieAna lyse des Wortschatzes, der in den10.000untersuchten Fragen verwendet worden war: Die mit Abstand am häufigsten genannten Schlüsselbegriffe „Mensch“, „Le ben“,„Familie“und„Tod&Sterben“verwiesenaufeinigewenige,deneinzelnen Themen(gebieten) übergeordnete Gegenstände, die in bemerkenswerter Deutlich keitindieDebatteeingebrachtwurden.WeitereDiskussionsgegenstände,dienicht explizitausdenvorgegebenenThemenhervorgingen,konntendurchdieexplora

6.4Schlussfolgerungen

137

tive Faktorenanalyse entdeckt werden: Sie wurden mit „Evolutionstheorie“ und „PhilosophischreligiöseGrundwerte“betitelt. Konnte insgesamt das Ziel der Komplexitätsreduzierung durch Zählen und Messen erreicht werden? Die Betrachtung der Threadlängen führte z.B. zu der Einschätzung,dasswiresnurbeieinerMinderzahlderThreadsmiteinerdialogi schenStrukturzutunhatten.InsgesamtüberwogderEindruckverstreuterÄuße rungen–eintypischerAusgangspunktjederDiskursanalyse.UnterdeninBetracht gezogenen Ordnungskriterien mussten die teilnehmerbezogenen Variablen für weitere Analysen verworfen werden; auch die Untersuchung der vorgegebenen Themen versprach keinen größeren Erkenntnisgewinn. Dagegen verwiesen die VerteilungsmustervonBegriffen,diemithilfeeinesDiktionärsgemessenwurden, auf mögliche Anschlüsse an die diskursanalytische Betrachtungsweise. Da den quantitativen Analysen zufolge in dem untersuchten Diskursereignis immer wie der vom „Menschen“, von „Leben“, „Tod/Sterben“ und „Familie“ die Rede war, stelltesichbeispielsweisedieFrage:SinddiesehäufiggenanntenBegriffezusam men mit noch zu bestimmenden formalen Kategorien Ausdruck bestimmter dis kursiverFormationen? WelchenStellenwert hat etwa der mittels Faktorenanalyse empirisch nachgewiesene Gegenstand „Evolutionstheorie“ (mit den Begriffen: Selektion – Evolution – Gene – Natur)? An dieser Stelle traten die Grenzen des quantitativen Ansatzes deutlich hervor, denn um solche Fragen beantworten zu können, bedurfte es einer interpretativanalytischen Herangehensweise, d.h. des Kategorisierens und Typisierens. Die Äußerungen des Onlineforums mussten in ihrerEreignishaftigkeitundimKontextihresAuftretensuntersuchtwerden,damit siealsTeilevonStrukturendiskursiverPraxiserkanntwerdenkonnten.DerUm setzungdiesesVorhabenswardiefolgendeUntersuchungsphasegewidmet.

7 Diskursordnungfindendurch KategorisierenundSystematisieren

Der qualitative Zugriff auf das umfangreiche Material erfolgte mit einer relativ allgemeinen Ausgangsfrage: Lassen sich in der beobachteten diskursiven Praxis Systematiken feststellen? Da gemäß den Grundannahmen der Diskurstheorie de rartigeRegelmäßigkeitenwederaufdiebeteiligtenAkteurenochaufdasvorgege bene Thema zurückzuführen sind,ging es bei diesem Untersuchungsschritt nicht umdasHerausfilternvonProundContraArgumenten,diePositioneninnerhalb eines Diskurses repräsentieren würden. Vielmehr war die Rekonstruktion von DenkmodellenundWissensordnungendasZielderAnalyse.ImFolgendengeben wireinenEinblickindiezweite,wiederumexplorativangelegteArbeitsphase,die sich des qualitativen Methodeninstrumentariums bediente (vgl. 5.1). Zunächst wirddieFrageerörtert,wiedieDiskursanalysemitHilfevonCodiertechniken,die andergroundedtheoryangelehntsind,umgesetztwerdenkann(7.1).Anschließend wird die Vorgehensweise des Offenen Codierens beschrieben; sie kommt einer ‚Oberflächenanalyse’ der untersuchten diskursiven Praxis gleich (7.2). Der offene Codierdurchlauf hat eine Vielzahl von Codes produziert, die anschließend den Arbeitsschritten der Systematisierung und Interpretation unterzogen werden. Er gebnis ist ein so genannter Codebaum, der ausführlich vorgestellt wird (7.3). Die Schlussfolgerungen(7.4)verweisenaufdieNotwendigkeitvertiefterwissenssozio logischerReflexion.

7.1 Diskursanalyseundgroundedtheory:MethodologischeReflexion Wenn auch schon zu Beginn feststand, dass aus forschungspragmatischen Grün dennichtsämtlicheimInternetforumenthaltenenDiskursfragmentebeachtetwer denkonnten,sosolltedochzumindesteinmöglichstumfassendesBilddesdiskur sivenEreignisseserstelltwerden.Dabewusstdaraufverzichtetwordenwar,vorab eine Diskursordnung zu entwerfen, mit der man den Textkorpus deduktiv hätte analysieren können, ergab sich die selbst gestellte Herausforderung, möglicher weise sehr viele und sehr verschiedene Diskurse, Diskursfragmente und ver

7.1Diskursanalyseundgroundedtheory:MethodologischeReflexion

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knüpfungenvorzufindenundineinegewisseOrdnungbringenzumüssen.Trotz dergewählteninduktivenVorgehensweiseerwiesessichangesichtsderimmensen Materialfülle als notwendig, bereits in dieser Phase der Oberflächenanalyse Schwerpunkte zu setzen; dabei mussten einige durchaus viel versprechende Ne benpfadeaußerAchtgelassenwerden.VorderErgebnispräsentationsolldeshalb erläutert werden, wie das eigene Vorgehen systematisiert und welche Techniken angewandtwurden,umdasKriteriumderNachvollziehbarkeitzuerfüllen,dasin besondererWeisefürqualitativeAnalysengilt(vgl.5.1).

7.1.1 DerBeitragdergroundedtheory Die Diskurstheorie nach Foucault (1974; 1990a) stellt kein spezielles Handwerk szeugzurTextanalysezurVerfügung.DabewährteAuswertungstechnikengroße Vorteile bei Forschungsdesign und Durchführung bieten, haben wir auf die in zahlreichenanderenStudienbenutzteVorgehensweisedergroundedtheoryzurück gegriffen. Hierbei handelt es sich um ein methodologisches Programm, das 1967 zuerst von Barney Glaser und Anselm Strauss entwickelt wurde (Glaser/Strauss 1998).147DerAnsatzarbeitetinduktivundHypothesengenerierend.Zielistes,in intensiver Auseinandersetzung mit dem empirischen Material Theorien mittlerer Reichweitezuentwickelnbzw.zu‚entdecken’.BevordieserAnsatzauchinunse rerStudiezurAnwendungkommenkann,istallerdingszuklären,obermitdem Ansatz der Foucault´schen Diskursanalyse überhaupt kompatibel ist. Die For schungslogik der grounded theory folgt dem hermeneutischen Zirkel: Jeder neue Erkenntnisgewinn führt zu einem erweiterten (Vor)Verständnis, das wiederum Auswirkungen auf die anschließend verfolgten Fragestellungen und Herange hensweisen (quantitativ/qualitativ; induktiv/deduktiv) hat. Dabei geht man schrittweise vor. Am Beginn einer an der grounded theory orientierten Untersu chungstehtdieFormulierungeinerErkenntnisleitendenFragestellung.Diesesoll möglichstwenigdurchtheoretischeVorannahmenbeeinflusstseinundnochkeine Hypothesen enthalten, damit der induktive Charakter des Forschungsprozesses gewahrtbleibt.AlsnächstenSchrittfolgenAuswahlbzw.Gewinnungdeszuun tersuchendenMaterials.DiemeistenStudienverwendenInterviewsoderschriftli cheDokumente;esgibtjedochkeineprinzipielleBeschränkung. Den Kern der grounded theory bilden die Kategorien; sie sind ihre „conceptual elements“(Glaser/Strauss1967,36,Hervorh.d.Verf.).EineKategoriedientimmer  147 Zur Weiterentwicklung der grounded theory vgl. Strauss (1994), Strauss/Corbin (1998), Dey (1999) undStrübing(2004).

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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

zwei Zwecken: zum einen der Identifizierung von Aspekten des Untersuchungs gegenstandes(Wasist‚es’?)undzumanderenderUnterscheidung(Wasist‚es’im Unterschied zu anderen Kategorien?). Als Bestandteil eines abstrakten Konzepts entspringt eine Kategorie nur zum Teil dem kreativen Denken der Forschenden; siemussvorallemmitBeispielenausdemempirischenForschungsmaterialbelegt werden.DieseFundstellen–meisthandeltessichumeinzelneTextstellen–dienen als Indikatoren für das abstrakte Konzept und geben Hinweise auf die Tauglich keitdeszuentwickelndenKategoriensystems.EinweitererPrüfsteinfürdiePlau sibilitätderKategorienistderkollegialeAustauschimForschungsteam.Dieenge Verknüpfung von Kategorie und (Text)Material sowie die intersubjektive Absi cherungimTeamsolleneineObjektivierungderUntersuchungsergebnisseermög lichen. Die Kategorienbildung erfolgt mit Hilfe verschiedener Codiertechniken in mehreren Schritten. Im ersten Materialdurchgang wird das „Offene Codieren“ angewandt, ein kreativer Prozess, der Hunderte von Codes hervorbringen kann (vgl. Rosenthal 2005, 213). Neben der Erstellung der Codes ist das Verfassen so genannterMemos,indenendietheoretischenundmethodischenBezügevonCo desundTextstellenreflektiertwerden,einwichtigerBestandteildieserArbeitspha se. Die – als vorläufig zu betrachtenden – Codierergebnisse werden ständig am Material überprüft. Durch Vergleiche, Subsumtionen und Abstraktionen können imnächstenSchrittCodeshöhererOrdnunggebildetwerden.Sieerfüllenkatego rialeFunktionen.148DasimerstenCodierdurchgangentstandeneKategoriensystem bedarfallerdingsweitererErgänzungenundVeränderungen,bevorsichvoneiner empirisch abgesicherten Theorie, oder, in der Terminologie der grounded theory, voneiner„theoretische[n]Sättigung“(Rosenthal2005,85)sprechenlässt. AusdiesemGrundistderForschungsprozessnichtlinearangelegt,d.h.erbe inhaltet ein mehrmaliges Durchdringen des Untersuchungsgegenstandes. Im Un terschiedzurerstenMaterialerhebungimRahmendesOffenenCodierens,diesich gerade nicht nach theoretischen Vorgaben richten soll, erfolgt die Beschaffung weitererDatenaufderGrundlagederbereitsentwickeltenCodesundKategorien. Diese Fokussierung schlägt sich auch im Konzept der Theoretischen Stichprobe (vgl.Rosenthal2005,85ff.;Titscheru.a.1998,95)nieder.Währenddiequantitative ForschungslogikinjederStichprobeeinverkleinertes,aberhinsichtlichderzuun tersuchendenMerkmaleidentischesAbbildderGrundgesamtheitsieht,rechtfertigt in der qualitativen Analyse die Logik der Theoretischen Stichprobe die gezielte Suche nach bestimmten Merkmalen. Nach dem ersten Codiervorgang kann sich jede weitere Erhebung auf völlig andere Quellen (z.B. Dokumente, Interviews)  148 Eine Kategorie wird, wie bereits erwähnt, als conceptual element einer zu entwickelnden Theorie verstanden.

7.1Diskursanalyseundgroundedtheory:MethodologischeReflexion

141

beziehen.Esistaberauchmöglich,neueStichprobenausdemvorhandenenMate rial zu ziehen; eine dritte Möglichkeit ist, die im ersten Durchgang bearbeiteten Texte unter einem anderen Blickwinkel durchzusehen. Bei der fortgeschrittenen AnalysewendetmanzumeistdieTechnikdes,„axialen“oder„selektiven“Codie rens an(vgl. Rosenthal2005, 214). Deren Systematik gründet sich auf den Ergeb nissen des Offenen Codierens, d.h. der Sammlung von Codes und Memos, einer anschließend erfolgten Kategorienbildung und der theoretischen Reflexion im Forschungsteam. DerKreislaufvonErhebungundAnalyseistdannbeendet,wennkeineneuen Aspekte mehr auftauchen und sich ein stabiles Kategoriensystem herausgebildet hat.DiesessolltesichumeineüberschaubareZahlvonKernkategoriengruppieren. Untersuchungsergebnis ist somit eine auf empirischen Daten begründete (groun ded) Theorie, die aus den Aussagen über die Kernkategorie, weitere Kategorien unddieBeziehungenzwischenihnenbesteht.MitdemArbeitsergebnisdersoge nannten Theoretischen Sättigung ist der grounded theory zufolge das allgemeine wissenschaftlicheGütekriteriumderVerallgemeinerbarkeiterfüllt,dasbekanntlich inderqualitativenForschungdasquantitativeKonzeptderstatistischenRepräsen tativitätersetzt.

7.1.2 Diskursanalyseundgroundedtheory:GemeinsamkeitenundUnterschiede ImRahmenunsererUntersuchungbietetessichan,diemethodologischeDiskus sionüberdieVereinbarkeitvongroundedtheoryundDiskursanalysenichtausführ lichzuführen,sondernnurhinsichtlichvonUmsetzungsproblemen.Zumeinensei aufdieGemeinsamkeitenhingewiesen:BeideAnsätzeschlageneinenoffenenFor schungsprozessvorundermöglichenes,HypothesenerstimLaufederAnalysezu entwickelnundbeiBedarfFragestellungenzuverändern.AuchderkonstanteDia logzwischenDatenundtheoretischerReflexion,dernachundnachzurVerdich tungundSystematisierungdertheoretischenKonzepteführt,findetsichinbeiden Methodologien. Das KonzeptIndikatorenModell der grounded theory, das dem Codierparadigma zu Grunde liegt, lässt sich ebenfalls auf die diskursanalytische Perspektive anwenden: So wie die codierten Textstellen im Typisierungsprozess dergroundedtheoryalsIndikatorenfürCodesundKategoriengelten,schließtauch die Diskursanalyse aus verstreuten Äußerungen auf typisierbare Aussagen und Formationsregeln.DieVorschlägedergroundedtheorybeiderAuswahldeszuun tersuchenden Materials, d.h. die Konzepte der Theoretischen Stichprobe und der Theoretischen Sättigung lassen sich ebenfalls in eine diskursanalytische Vorge hensweiseintegrieren.DaeineDiskursanalyseniediegesamteMengeallerÄuße

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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

rungeneinesDiskurseszumUntersuchungsgegenstandmachenkann,istesallge meinüblich,einetheoretischbegründeteAuswahldeszuanalysierendenKorpus zutreffen(Jäger1999,190ff.;Keller2004,84ff.). Zum anderen gibt es aber auch einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Forschungsprogrammen, und zwar im Verständnis dessen, was als BestandteilvonWissensordnungenzugeltenhatundfolglichEingangineinCo desystem finden kann. Die Methodologie der grounded theory geht von der hand lungstheoretischen Tradition des Symbolischen Interaktionismus (Blumer 1977) aus.NachdiesemParadigmasollendieForschendendieindenTextenenthaltenen Denkmustermit einem verstehenden Zugang entschlüsseln, d.h. das Forschungs interesserichtetsichinersterLinieaufdieBedeutung,diedieDingefürdieAuto renundAkteurehaben.DagegensetztderPoststrukturalismus,demdieDiskurs analyseFoucault’scherPrägungzuzuordnenist,folgendePrämissen:Wissensord nungen werden als soziale Tatbestände aufgefasst, die sich empirisch in StreuungsmusternvonAussagennachweisenlassen.DersubjektiveSinn,dendie AutoreninihreÄußerungengelegthabenmögen,spielthierkeineRolle.Trotzder Distanzierung von der interpretativhermeneutischen Deutungsarbeit sieht sich aber auch die Diskursanalyse gezwungen, mit verstehenden Zugängen zu arbei ten:ZwarrekonstruiertsienichtDeutungenindemsprachlichenMaterial,dassie erforscht, dafür ist aber die eigene Tätigkeit – typisieren, kategorisieren, de und rekonstruierenetc.–inweitenTeilendesForschungsprozessesebenfallsinterpre tativ; in anderen Worten, auch die Diskursanalyse kommt schwerlich ohne das basaleHandwerkszeughermeneutischerMethodikaus.IndiesemZusammenhang konstatiert Keller (2004, 72): „Die neuere sozialwissenschaftliche Hermeneutik beschäftigt sich [.] mit den Möglichkeiten der methodischen Kontrolle von Inter pretationsprozessen und wird in genau dieser Hinsicht für die Diskursforschung relevant.“ Der dargestellte methodologische Unterschiedzwischen den beiden Paradig menhatAuswirkungenaufFragestellungen,KategorienbildungundCodierstrate gien einer empirischen Untersuchung. Aus unserer Sicht sind aber die Elemente der vorgestellten Analysetechniken flexibel genug, so dass es möglich sein sollte, sieinForschungsdesignsbeiderleiProvenienzzuintegrieren.149

 149 Zu diesem Schluss kommt auch Keller (2001, 138), der die Integration von Elementen aus der groundedtheoryals„nützlicheStrategiezurDatenreduktion“in derDiskursanalysebewertet. Ein AnwendungsbeispielfürdieKombinationvongroundedtheoryundDiskursanalysebietetViehöfer (2001).

7.2MethodischesVorgehen:OffenesCodieren

143

7.2 MethodischesVorgehen:OffenesCodieren Die an der grounded theory orientierte Codiertechnik besteht aus dem Zuweisen von Textstellen zu passenden Codes (vgl. 7.1.1). Ein Code markiert ein gedankli ches Konzept, das sich in der offenen Arbeitsphase eher intuitiv ergibt und noch nichtfertigausgearbeitetseinmuss.EineinfachesBeispielistdasspontaneZuwei sen einer Textstelle, in der aus der Bibel zitiert wird, zum Code „Religion“, ein anderes das Zuordnen eines Textes, der Sterbehilfe thematisiert, zu eben diesem Code„Sterbehilfe“.DurchdenständigenVergleichderTextstellenergebensichim LaufedesCodierensDifferenzierungeninnerhalbeinesCodes,z.B.wirdderCode „Sterbehilfe“ allmählich zu einer übergeordneten Kategorie „Sterbehilfe“ mit den Untercodes „rechtliche Situation“ und „Sterben in Würde“. Außerdem können durchdenVergleichmehrererCodesunddurchlogischeÜberundUnterordnun gen Hierarchisierungen gebildet werden. Als Analyseergebnis entsteht so nach undnacheinCodebaummitvielfachenVerästelungen.Allerdings:DieInterpreta tion von Textstellen ist nicht Bestandteil des Codierens selbst. Eine laufende Do kumentationvonInterpretationen,Assoziationenetc.istdeshalbbeiderCodierar beitunerlässlich,daVorannahmendieBildungdesCodesystemsbeeinflussen.Aus diesem Grund werden ständig so genannte Memos erstellt, die anfangs nicht im Detail diskutiert werden müssen, aber im Verlauf des Codierens eine wichtige Hilfe bei der Rekonstruktion möglicher Regelstrukturen im Codebaum sind. Me mos können für einzelne Textstellen, aber auch für die Codes selbst erstellt wer den, sie können Aussagen zu den Kategorien enthalten wie auch Anweisungen dazu,wiecodiertwerdensoll.MeistsinddieCodememosmiteinemAnkerbeispiel ausdemDatenmaterialversehen. Die erste Aufgabe bei der qualitativen Bearbeitung des Materials besteht in derZusammenstellungeineszuanalysierendenTextkorpus.ImFallunsererStudie wurde hierfür das systematische Ziehen einer Stichprobe gewählt; sie sollte ge währleisten, dass eine inhaltlich möglichst breite Abbildung des gesamten Mate rialsindieUntersuchungeinbezogenwurde.DaalseinzigeninhaltlichenAnhalt spunkt die vorgegebenen 45 Unterthemen vorhanden waren, sollte jedes dieser Themen auch in der Stichprobe zu finden sein.150 Um diese Anforderung an die Stichprobe zu erfüllen, wurde das Material zuerst auf Threads mittlerer Länge reduziert, einerseits um möglichst typische Beiträge einzubeziehen, andererseits umdiebenötigteBearbeitungszeitineinemvertretbarenRahmenzuhalten.Unter und Obergrenze wurden mit Hilfe des Medians (vgl. Kap. 6) bestimmt: Laut der  150 Das mengenmäßige Verhältnis der Äußerungen pro Thema war hingegen für die Grundgesam theitnichtvonBedeutung.

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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

Häufigkeitsauszählung der Variablen Textlänge waren die Beiträge im Durch schnitt 82 Wörter lang (vgl. Tab. 10). Entsprechend wurde die Spannweite der Stichprobe auf plus/minus 20 Wörter festgelegt (also alle Threads von 62 bis 102 Wörtern); dieses Auswahlkriterium erfüllten 1.642 Threads oder 16,42% der Grundgesamtheit.ErsteineStichprobedieserGrößenordnungkonntegewährleis ten,dassauchseltenerfrequentierteUnterthemenvertretenseinwürden.Daaller dings die Anzahl von Fundstellen immer noch zu groß für eine qualitative Aus wertungwar,mussteeinezweiteReduzierungdesMaterialserfolgen.DiesesMal wurden in einer persönlichen Durchsicht bis zu zehn Threads aus jedem Unter thema ausgewählt.151 Das Auswahlkriterium dieses Durchgangs bildete die Ein schätzung,dasssichderjeweiligeThreadinInhaltundUmfangfürdieCodierung eignen würde. Aus dieser zweiten Reduzierung resultierte eine Stichprobe von nunmehr 414 Threads, die aus den 45 vorgegebenen Unterthemen stammten.152 Diese414ThreadsmiteinerTextlängevon62bis102WörternbildetendenKorpus fürdenerstenDurchgangdesOffenenCodierens.JedereinzelneThreadwurdeje zwei Teammitgliedern zugeteilt; das Material wurde also von wechselnden Zweierteamsbearbeitet.ImErgebnisentstandinderPhasedesOffenenCodierens eine sehr große Menge an Textmaterial. Eine vollständige Präsentation aller erar beiteten Codes inklusive Ankerbeispielen und Codememos kann daher an dieser Stellenichtgeleistetwerden.ImFolgendenbeschränkenwirunsaufeineDarstel lungdesCodebaumsselbst;außerdemliefernwiranverschiedenenStellenvertie fende Interpretationen von als besonders bedeutungsvoll erachteten Kategorien, CodesundAnkerbeispielen,diedurchOriginalzitateveranschaulichtwerden.

7.3 RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum DieÜbersichtaufdenfolgendenSeitenzeigtdenCodebaumnacheinertheoriege leitetenSystematisierungimJuni2006.AnhandeinerüberschaubarenAnzahlvon Kategorien und ihnen untergeordneten Codes liefert er eine Zusammenfassung derÄußerungendesInternetforums.153BeiderAuswahlundderHierarchisierung  151 DasDurchlesenderThreadserfolgtearbeitsteilig:JedesTeammitgliedübernahmneunUnterthe men. Auf diese Weise wurde gewährleistet, dass unterschiedliche Perspektiven auf das Material zurGeltungkamen. 152 Von den 45 Unterthemen waren 36 mit je zehn Threads vertreten, die restlichen neun Unterthe menwarenschonindererstenStichprobenziehungmitwenigeralszehnThreadsvertretengewe sen;vonihnenwurdenalle54Threadsverwendet. 153 Bei der Erstellung des Codebaums wurde der Gesamtkorpus (N=10.000) durch eine geschichtete Stichprobe(n=414)repräsentiert.

7.3RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum

145

kamenbereitstheoretischeAspekteinsSpiel,nämlichÜberlegungenzumStellen wert einzelner Äußerungen. Erstellt wurde ein Modell nach dem Muster einer Aufzählung, das die vorgefundenen Begriffe, Gegenstände und Argumentations weisen im Überblick zum Vorschein bringt. Doch die Kategorisierung hatte inso fern ihre Grenzen, als sie nur die Oberfläche des diskursiven Ereignisses zeigen konnte. Eine tiefer gehende Analyse, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann,würdenachdenZusammenhängenzwischendenKategorien,d.h.nachih ren analytischen Dimensionen fragen sowie nach den häufig benutzten Code Kombinationenundauchnachdenjenigen,dieseltenodernieauftraten.  

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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

InhaltlicheDiskursordnung Subjekt WasistderMensch? MenschlicheCharakteristika MenschlicherKörper  KörperalsMaterie  KörperalsLeib Geist/Vernunft/Seele Gefühle  Liebe  Glück  Zufriedenheit  Angst  Schmerz  Leiden  Sonst.Gefühlsäußerungen Charaktereigenschaften  Egoismus Grenzziehungen  Mensch/Gott  Mensch/Tier  Mensch/Maschine  Mensch/nochnichtMensch  Mensch/nichtmehrMensch  Mensch/Klon  (Im)PerfekterMensch MenschlicheIndividualität  Menschenwürde  Menschenrechte Einheitsmensch MenschzuMensch– BeziehungenzwischenMenschen Generativitätallgemein VerwandtschaftNachkommenElternschaft   KinderwunschWunschkinder   Kinderlosigkeit   UrsachenvonKinderlosigkeit   RechtaufeinKind   Adoption  VerantwortlicheElternschaft   Kindeswohl   KindnachMaß   WerwillschoneinbehindertesKind? WielebtderMensch?–MenschlichesLeben (Un)EndlichkeitdesLebens (Un)GlücklichesLeben (Un)SchönesLeben SinndesLebens/sinnlosesLeben LebenswertesLeben/wertloses Leben BeginndesLebens  Embryo/Fötus EndedesLebens  Abtreibung  BildervomTod GesundheitundKrankheit 

Ethik WasdarfderMensch?–MoralischesHandeln EntscheidungenüberLebenundTod  Entscheidungskriterien

 EthischeDilemmata  Voraussetzungen  Folgen  Wersollentscheiden?  Einzelfallentscheidungen  Grenzüberschreitung Verantwortung  Allgemein  VerantwortungfürLeben  VerantwortungfürTechnikfolgen  VerantwortungfürKinder EthischeWerte Freiheit Selbst/Fremdbestimmung Gerechtigkeit GuterMensch ReligiöseErklärungen ReflexionüberEthik Kritikder„Moralisten“  EthikalsHemmnis  „Scheinmoral“ Wertepluralität Ethikrat 

Macht Staat/Politik Politikbereiche  Forschungspolitik  Bevölkerungspolitik   staatlicheEuthanasie   Eugenik   SelektionvonBehinderung  Gesundheitspolitik   ArztPatientBeziehung  Umweltpolitik  Sozialpolitik  EntwicklungsundArmutspolitik Gesetzgebung/Rechtsprechung  Demokratie,politischePartizipation   partizipativeTechnikfolgenabschätzung Rechteallgemein  legalillegallegitim Medienmacht/Information Ökonomie/Geld SozialeFrage Gesellschaft/sozialerDruck NormalitätundAbweichung  GeniesundNormale Einzigartigkeit BehinderungundGesellschaft  Behinderungsbegriffe  BehinderungalsHaftungsschaden  BehinderungundLeid  BioethikundBehinderung UmgangmitBehinderung  VersorgungvonMenschenmitBehinderung Stigmatisierung Vermeidung  GenetischeOptimierung

7.3RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum

FormaleDiskursordnung  Wissensbestände WissenüberWissen(schaft)  GrenzenderWissenschaft WissenüberMedizin  Sozialmedizin  StellungnahmenzurMedizin WissenüberBiologie  WissenüberGenetik  Sozialdarwinismus,Evolutionstheorie  ÖkologischesWissen  Biotechnik   Klonen WissenüberBioethik WissenüberPolitik ÖkonomischesWissen JuristischesWissen SoziologischesWissen ReligiösesWissen  ZitateausderBibel  „Gottisttot“  ReligiöseBilder HistorischesWissen  Nationalsozialismus   „Hitleristtot“ MassenmedialesWissen  StellungnahmenzuMedien LiterarischesWissen  „BraveNewWorld“ FiktionalesWissen MetaphysischesWissen  Schicksal SonstigesWissen  Wissensformen Erkenntnisstile Spezialwissen  InformiertesWissen  AnonymesWissen Alltagswissen  Erfahrungswissen  Normenwissen VerlässlichkeitvonWissen NichtWissen Zweifel,unsicheresWissen Gewissheit 

Sprecherpositionen SelbstPositionierungen IchStatements WirStatements  „Individuelles“Wir FremdPositionierungen Fatalistische/DefätistischeHaltung WissenschaftlicheAutoritäten  DerForscher  DerWissenschaftler ReligiöseAutoritäten  Kirche  Gott HistorischeAnalogien  „DieGeschichtelehrt…“

PositionierungdurchAbgrenzung „gegenZynismus“ AufklärenundBelehren 

Diskurskontrollen Internetsprache MedialerSlang,Sprachspiele Tags,Grußformeln BewertungvonBeiträgen Zustimmung Ablehnung,Kritik  Polemiken  Arroganz,Überheblichkeit  Ironie,Sarkasmus,Zynismus Nichtverstehen „gute“/„wichtigeFrage“ „schlechte“Frage BeschränkunglegitimerSprecher „Erstinformieren“ „NurdieBetroffenendürfensichäußern“ „Jedersollselbstentscheiden“ „Dubisthierfalsch“ Gegnerdiffamieren Beschimpfungen,Kraftausdrücke Lächerlichmachen Vorwürfemachen  Scheinheiligkeit  Gier  Egoismus  Irrationalität 

Strategien Argumentationen Fortschrittsglauben,ängsteäußern  Historisieren  AufpartikulareInteressenhinweisen  InternationaleVergleicheziehen Bildhaftargumentieren  Analogien  Exempel  Metaphern  Stereotypen KostenNutzenAnalysenanwenden ChancenundRisikenabwägen JedeChanceLebenzurettenmussgenutztwerden AufPrinzipienverweisen ZuspitzungderArgumentation EinendrittenWegaufzeigen Frageformen Informationsfrage FragealsAussage Gegenfrage Nachfrage StrategischeFrage  SuggestiveFrage  ProvokativeFrage  Sollman,solltemannicht..?  Warumnicht? ReflexiveFrage Fragen,diezunichtsführen BitteumRatschlag

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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

WieaufdenerstenBlickzuerkennenist,hatdieentwickelteGliederungdieForm einesBaumes,sieisthierarchischorganisiert:NachderübergeordnetenAufteilung in eine inhaltliche und eine formale Ordnung folgen acht Hauptkategorien, die sichwiederumin23untergeordneteKategorienundmehrerenEbenenvonCodes und Subcodes unterteilen.154 Diese Gliederung stellt bereits ein erstes Analyseer gebnisdar,wobeiaufderunterstenEbenedieSubcodesdenÄußerungenamehes tenentsprechen.ZuBeginndesCodierenswarenalleCodesgleichrangiggewesen undnurdurchAnmerkungenindenMemosmiteinanderverbunden.Diespätere AnordnungderCodesundKategorieninderBaumformerleichtertedieÜbersicht unddasEinordnenweitererTextstellen;jedochwärenandereDarstellungsformen wie eine alphabetische Liste oder eine netzartige Struktur prinzipiell ebenfalls möglichgewesen.DiegewählteFormderHierarchisierungbliebnichtohneKon sequenzen für das weitere Vorgehen; für die sich anschließenden Analysen wur den Entscheidungspfade festgelegt. Insofern muss man sich der Konstruiertheit des präsentierten Gebildes bewusst sein. Auch sollte berücksichtigt werden, dass dieprozessorientierteHerangehensweiseesprinzipiellermöglicht,einmalaufges tellteOrdnungenimLichteerweiterterErkenntniszumodifizieren,etwawennzu einemspäterenZeitpunktimMaterialaufgefundeneWidersprücheundUngereim theitendieserfordernwürden.AusdiesemGrundstelltdiefolgendeErgebnisprä sentation eher einen Zwischenstand dar, ein Bericht aus der empirischen Werk statt, der immer nur ein vorläufiger sein kann. Schaut man sich den Codebaum genauer an, wird man auf die ursprünglichen Leitfragen der Studie treffen; sie lieferten die obersten Ebenen der Systematisierung: Welche Themen sind zentral (inhaltlicheDimension)undaufwelcheArtundWeisewirddiskutiert(formaleDi mension)?AufderinhaltlichenEbenewurdenfolgendedreiHauptkategorienge bildet:  1. Subjekt(auch:Individuum)oder:WasistderMensch? 2. Ethikoder:WasdarfderMensch?WasisteingutesundrichtigesLeben? 3. Macht(auch:Institutionen)oder:InwelcherGesellschaftlebenwir?  Die Bildungdieser Hauptkategorien war theoretischen Überlegungen geschuldet. WennmanmitFoucault(1990a,139)davonausgeht,dassjederDiskursSubjektpo sitionenliefert,stellendiejeweiligenSubjektvorstellungeneinenwesentlichenEck punktjederDiskursordnungdar.DiezweiteHauptkategorie„Ethik“ergabsichaus derthematischenRahmungdesInternetforums,derBioethik.Diediskurstheoreti  154 Abstrakte,verallgemeinerndeCodesstehenübereinfachentypisiertenÄußerungen.



7.3RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum

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scheAnnahme,dassMachtverhältnisseinDiskursenwirken,erwiessichebenfalls für die Kategorisierung als produktiv, sprachen doch zahlreiche Codes gesell schaftsrelevanteAspektean.InsgesamtgingesaufderinhaltlichenEbenedarum, die Gegenstände und Begrifflichkeiten des diskursiven Ereignisses zu erfassen. AufderformalenEbenewurdenfünfHauptkategoriengebildet:  1. Wissensbestände: die spezifische Auswahl von Wissensbereichen aus Spezial undInterdiskursen,dievondenUsernzurStützungdereigenenArgumenta tionherangezogenwird 2. Wissensformen: unterschiedliche Erkenntnisstile sowie die Unterscheidung zwischenGewissheitenundunsicheremWissen 3. Sprecherpositionen: Rollen oder gesellschaftliche Positionen, von denen auslegitimeAussagengetroffenwerden 4. Diskurskontrollen: Interventionen, die den Diskussionsverlauf zu steuern ver suchen 5. Strategien:rhetorischeMittelundFiguren  DasichaufdieserEbeneeinÜbergewichtanwissensrelevantenCodesergab,wur deeineDifferenzierungin„Wissensformen“und„Wissensbestände“notwendig.Die dritteHauptkategorie„Sprecherpositionen“bildeteÄußerungsmodalitätenab,d.h. eine Formationsregel von Diskursen. Außerdem ließen sich „Diskurskontrollen“ und„Strategien“indemMaterialwiederfinden;siewurdenebenfallsalsHaupt kategorienbenutzt.

7.3.1 Subjekt–Ethik–Macht:InhaltlicheDiskursordnung Wie bereits erwähnt, wird im Folgenden – orientiert an der oben vorgestellten Grobstruktur – eine als vorläufig zu betrachtende Interpretation des Codebaums vorgelegt. Die Darstellung bietet an verschiedenen Stellen Akzentsetzungen und Ausdeutungen einzelner Fundstellen, um das Material exemplarisch ‚lesbar’ zu machen.  Subjekt DieHauptkategorie„Subjekt“wurdeindiedreiKategorien„WasistderMensch? – Menschliche Charakteristika“, „Mensch zu Mensch – Beziehungen zwischen Menschen“ und „Wie lebt der Mensch – Menschliches Leben“ unterteilt. Im We 

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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

sentlichendrehtsichdieKommunikationindiesemBereichumdiebeidenFragen: WasistderMensch?WasmachtmenschlichesLebenaus? Unter die Kategorie „Was ist der Mensch?“ fielen Äußerungen, die Stellung dazu nehmen, was als typisch menschlich gelten kann. Die Codes „Menschlicher Körper“, „Geist/Vernunft/Seele“, „Gefühle“ und „Menschliche Individualität“ fassenzusammen,wasdenMenschenauszeichnetundseinWesenimUnterschied zu anderen Lebewesen ausmacht. Auf den ersten Blick lässt sich ein begrifflicher Grundkonsensfinden,dervondenCodesdieserKategorierepräsentiertwird;bei dergenauerenDurchsichtderFundstellenzeigensichjedochzumTeilkontroverse Klassifikationsmuster.BeispielsweiseistdiereinmaterielleVorstellungvommen schlichenKörper,diemanineinzelnenÄußerungenantrifft(„DerMenschISTnur die Summe seiner Geninformationen plus die Einwirkungen der Umwelt auf ihn!“, Thread 3787, oder: „Der Mensch ist ein Stück Fleisch, seine ganze ‚Seele’ wird durch elektrischeSignale(odersowas)imGehirnverursacht.“,Thread3801),nichtmiteinem holistischenMenschenbildinEinklangzubringen,dasdenKörperalsvomGeist untrennbaren Leib ansieht: „(D)er Mensch ist doch immer als Ganzes zu sehen und nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht.“ (Thread 2850) Bei dem letztgenannten Text beispielistinteressant,wiehiereineOppositionaufgebautwird.Der„Mensch[…] als Ganzes“ – Ausdruck eines ganzheitlichen Menschenbildes – wird nicht etwa – wie in Thread 3787 – dem Menschen als „Summe seiner Geninformationen“ gegen übergestellt. Vielmehr wird als Gegensatz zum holistischen Menschenbild eine nichtnäherspezifizierte„wissenschaftliche[.]Sicht“benannt.DieindieserÄußerung angedeutete Korrespondenz zwischen Materialismus und wissenschaftlichem Denken könnte möglicherweise für interdiskursive Redeweisen typisch sein. In einer für den Interdiskurs charakteristischen, selektivvereinfachenden Art wird das Menschenbild ‚der Wissenschaft’ auf Sichtbares und empirisch Messbares (Körperzellen, Elektronenfluss etc.) festgelegt. Je nach Standpunkt kann dies als hinreichendgeltenoder,wieimzitiertenBeispieltext,alsreduktionistischkritisiert werden.AuchwirdoffenbarstillschweigenddieempirischeNaturwissenschaftals ModelldeswissenschaftlichenErkenntnisstilsinsgesamtangesehenunddieGeis tesundSozialwissenschaftensindvermutlichnichtgemeint. Festgehalten werden kann, dass bereits an dieser Stelle begriffliche Differen zierungen aufscheinen, die auf Ordnung in der diskursiven Praxis hinweisen. AuchdieindenThreadsbenutztenBildfragmentezummenschlichenKörperlas sen sich jeweils einem mehr oder weniger kohärenten Klassifikationsmuster zu ordnen, das zusammen mit weiteren Codes Hinweise auf aktuelle Formen der Subjektkonstitutiongebenkann.DieZuordnungensindzwarnichtimmereindeu tig,jedochauchnichtbeliebig.Begriffewie„Zelle“,„Fleisch“,„Materie“wiederho 

7.3RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum

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len und häufen sich in dem Subcode „Körper als Materie“. Begriffe wie „Geist“, „Seele“, „Gefühle“ bilden andere, davon zu unterscheidende Häufungen. Anschei nend handelt es sich um Elemente verschiedener Wissensordnungen vom men schlichen Körper. Wenn aber nur eines der beiden Konzepte die Chance hat, als ‚wahr’anerkanntzuwerden,sindKämpfeumDefinitionsmacht(auchineinemals egalitärangelegtenInternetforum)dieunvermeidlicheFolge. InderKategorie„MenschlicheCharakteristika“lohntsichdiegenaueBetrach tungdesCodes„Grenzziehungen“.AndieserStellegeschiehtdieAnnäherungan die Frage, was das Menschsein ausmacht, durch diskursive Abgrenzungen; z.B. wird unterschieden in Mensch/Gott, Mensch/Maschine, Mensch/Klon usw.: „Ein Zwilling ist etwas Natürliches. Daher auch ein Mensch. Ein Klon aber nicht. Es ist ein technischesProduktundeineWarewieeinFernseherodereinAuto.“(Thread309)Der indieserFundstelleangesprocheneThemenbereichdesKlonensistunterdiskurs analytischen Gesichtspunkten besonders interessant und wird deshalb in einer Fallstudievertieft(vgl.10.1). Das Leitmotiv der Kategorie „Mensch zu Mensch – Beziehungen zwischen Menschen“ stellt ‚Sozialität’ dar; in den entsprechenden Codes und Untercodes wirdderMenschalssozialesWesenthematisiert.Allerdingskommennahezuaus schließlich die Beziehungen zwischen den Generationen und in der Ver wandtschaft zur Sprache; unter ihnen spielt das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern die größte Rolle. Elternschaft, Kinderwunsch, Kinderlosigkeit werden meist in Verbindung mit den reproduktionsmedizinischen und gentechnischen Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungssituationen angesprochen. „Wunsch kinderkommennichtdurchGentechnikzustande,sonderngeradedurchdieFähigkeitder Eltern,ihrenKindernRespektentgegenzubringenundsieverantwortungsvollzuerziehen. Die besten Anlagen bringen nichts, wenn Erwachsene nicht die Geduld aufbringen, ihre Kinder zu akzeptieren.“ (Thread 2979) Während dieser Beitrag keinen Grund dafür sieht, dass die neuen Technologien zu Veränderungen in der Elternrolle führen, findetmanauchÄußerungen,diesichdurchausFolgenfürdasfamiliäreZusam menleben vorstellen können: „Könnte ein Kind seine Eltern verklagen, wenn diese es trotztechnischerundrechtlicherMöglichkeitenunterlassenhaben,z.B.eineFehlsichtigkeit zukorrigieren?“(Thread7530) Eng verbunden mit der Auseinandersetzung um Menschenbilder und Sub jektvorstellungen ist die Frage nach Sinngebung und Bewertung des eigenen Le bens, die in der Kategorie „Wie lebt der Mensch? – Menschliches Leben“ zusam mengefasst wurden. Hier mischt sich der ontologische Aspekt des Menschseins mit moralischen Gesichtspunkten. In Sätzen wie „Die Natur ist ein riesiges System, derMenschistderFehlerdarin,erzerstörtdieNaturunddieErde“(Thread2)gehtes 

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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

nicht, wie inder bereits erläuterten Kategorie„Menschliche Charakteristika“,um eineBegriffsbestimmungdesMenschen,sondernumFragennachWert,Sinnund auchSchönheitdesmenschlichenLebens.ImEinzelfallkanndieBewertungnega tiv („der mensch ist wie ein krebsgeschwür in einem gesunden körper“, Thread 12174) oder positiv ausfallen („der Mensch ist von grund auf erst mal etwas sehr gutes“, Thread9873).EsgibtjedochnurwenigeBeiträge,dieBewertungansichinFrage stellen.DiefolgendeÄußerungkönntealseinsolcherVersuchangesehenwerden, daerkennbarmitdemStilmittelSarkasmusgearbeitetwird:„dermaterialwerteines menschenliegtcircabei7,50euro.alsowertloswürde ichihnnichtnennen.eherbillig.“ (Thread 10215) Diese Textstelle lässt sich auch im Sinne einer strategischen The menwahlinterpretieren,d.h.alseinVersuch,monetäreGrößenalsBewertungskri terium für menschliches Leben einzuführen. Das Bedürfnis, Leben nicht nur als nüchternenFaktzubetrachten(„damals,alssichunterhohemdruckundgroßerener gieeinwirkungvierkleineaminosäurenverbanden,unddermomentgeborenward,anwel chemdaserstemallebenentstand...“,Thread9232),sondernmitBewertungenaufzu laden und somit ‚Sinngebung’ zu betreiben, wird auch anhand einer Zusammen stellung typischer Äußerungen deutlich, die mit den Worten „Der Mensch ist …“ beginnen(s.Abbildung6). Abbildung6

OriginalzitateausdemInternetforum:„DerMenschist…“

ƒ „eineMarionetteseinerGeneauch „wohldiegrausamsteBestieaufdie seinesangeborenenForschertriebes“ semPlaneten“(Thread8003)– (Thread8899)6Fundstellen 14Fundstellen ƒ „einsozialesWesen“ ƒ „dergrößteFehlerderEvolution“ (Thread8548)–3Fundstellen (Thread8315)–12Fundstellen ƒ „mehralsdieSummeseinerGene“ ƒ „einesdergrößtenErfolgsmodelleder (Thread8267)–4Fundstellen Evolution“(Thread8315)– ƒ „durchunddurcheinKulturwesen“ 12Fundstellen (Thread6597)–2Fundstellen ƒ „einEbenbildGottes“ ƒ „ebeneinsehremotionalesLebewesen“ (Thread5811)–9Fundstellen (Thread8336)–1Fundstelle ƒ „zuclever,umauszusterben“ (Thread7093)–7Fundstellen  Insgesamt ergibt die Interpretation der Hauptkategorie „Subjekt“, dass grundle gendeMenschenbilderzurDispositionstehen.DieGrenzziehungenzwischendem, was fraglos als menschlich zu gelten hat, und dem, was nicht dazu gehören soll, erfolgen nach unterschiedlichen Klassifikations und Bewertungsmustern. Dabei ƒ



7.3RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum

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werdenuralteMythenüberdiekosmischeOrdnungebensoherangezogenwieder moderneMythos‚Wissenschaft’.DieCodesindenKategorien„Beziehungenzwi schen Menschen“ und „Menschliches Leben“ weisen außerdem darauf hin, dass die untersuchte Internetkommunikation in hohem Maße von Alltagsbezügen ge kennzeichnetist.TypischfüralltagsnaheAuseinandersetzungenscheintzumeinen dieintensiveAuseinandersetzungmitderElternrollezusein,demArchetypusdes alltäglichenRollenmusters.ZumanderenzeigtsichindenThreadsdiealltagstypi sche Neigung, menschliches Leben normativer Bewertung unterziehen und mit ‚Sinn’versehenzuwollen(vgl.Kap.8).  Ethik Bei der Diskussion um die Gen und Reproduktionsmedizin werden nicht nur technologische, sondern vor allem auch ethischmoralische Fragen relevant. Inso fernistesnichtweitererstaunlich,dassdasuntersuchteMaterialdieHauptkatego rie„Ethik“ergibt.Bemerkenswertistjedoch,dassdieCodesdieserHauptkategorie nureinesehrbeschränkte–undinsofernfürdasDiskursereignischarakteristische – Auswahl aus der Vielzahl möglicher ethischer Gesichtspunkte repräsentieren. Die angesprochenen Aspekte sind in den Kategorien „Was darf der Mensch? – Moralisches Handeln“, „Ethische Werte“ und „Reflexion über Ethik“ zusammen gefasst. In der Kategorie „Was darf der Mensch? – Moralisches Handeln“ wird typi scherweise auf reale oder konstruierte Extremsituationen Bezug genommen, in denenesumdieEntscheidungüberLebenundTodgeht.DiebeidenanderenKa tegorien „Ethische Werte“ und „Reflexion über Ethik“ beinhalten auf etwas ab strakterer Ebene Äußerungen, die auf die jeweiligen Bezugssysteme (wie etwa Freiheit und Gerechtigkeit oder auch Religion bzw. ‚Wertepluralität’) verweisen, mitdenenmoralischeEntscheidungenbegründetwerden.InderKategorie„Ethi scheWerte“findensichunterdenvielendenkbarenWertennurdieCodes„Frei heit“und„Gerechtigkeit“.DieseBegriffetretenoftzusammenineinerArtAbwä gung auf: „Aber bedauerlicherweise scheint die Freiheit und der Wohlstand einiger das Leid anderer zu rechtfertigen.“ (Thread 6143) Die Kategorie „Reflexion über Ethik“ sprichteineMetaEbenean;hierwerdendieGrundannahmenethischerArgumen tationen prinzipiell in Frage gestellt. Während sich einige Beiträge mit Kritik an InstitutionenwiedemEthikratbegnügenundandereÄußerungenWertepluralität unddendamitverbundenenRelativismushervorheben,istineinemTeildesMate rialsdasBemühenzuerkennen,diediskursiveVerknüpfungzwischenBiotechno logieundEthikaufzulösenunddasvorgegebeneThema„Bioethik“grundsätzlich zuhinterfragen:„DieserganzeQuatschmitderEthikversuchtdochnurzurechtfertigen, 

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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

wassowiesonichtpassierenwird,weilesökonomischunsinnig,evolutionärgefährlichund höchstens mit Gefühlsduselei und diesem verlogenen ‚Gutmenschentum’ zu rechtfertigen ist.Fairist,daszutun,wasdemMenschenhilft.Nichtdas,wasirgendwelcheReligions heinis,BedenkenträgeroderMoralistengernehätten,umihrkrankesSeelchenzupinseln. Fair ist, einem Menschen Leiden zu ersparen.“ (Thread 4242) Diese Fundstelle lohnt der ausführlichen Interpretation: Man findet hier eine Konstruktion von Gegen sätzen, die als Versuch diskursiver Grenzziehungen gelesen werden kann. In der Äußerung wird die ethische Argumentation als „Quatsch“ abgetan, d.h. als nicht ernst zu nehmen. Als nicht zu akzeptierende ethische Legitimationsquellen wer den „Gefühlsduselei“ und „Gutmenschentum“ genannt. Erkennbar ist die offensich tlicheAblehnung von Diskurspositionen, die mit dem Verweis auf Gefühleargu mentieren;deroderdieSprecher/inscheinteineobjektivrationalistischeSichtwei se zu bevorzugen. Des Weiteren werden ethische Autoritäten als „Religionsheinis, BedenkenträgeroderMoralisten“diskreditiert. Doch welches Klassifikationsmuster schlägt die Äußerung selbst für die Be wertungvonrichtigundfalsch,gutundbösevor?AlsKontrastfoliezum„verloge nen ‚Gutmenschentum’“ findet man die Ökonomie, die Evolution und, durch Wie derholung hervorgehoben, den individuellen Nutzen (Hilfe, Ersparen von Leid). DerVerweis,dasses„fair“sei,„Leidenzuersparen“,lässteinebestimmteLehrmei nunginnerhalbdesethischenSpezialdiskurses,nämlichdenUtilitarismusanklin gen. Offensichtlich geht es dem Textbeispiel darum, sich von gängigen Ansätzen „derEthik“abzugrenzen,wobeiderUtilitarismusauszunehmenwäre.DiePositio nierung arbeitet mit einer Kombination von spezialdiskursiven Versatzstücken („ökonomischunsinnig,evolutionärgefährlich“)undverwendetdabeikleinsteBruch stücke aus komplexen Wissensgebieten. Während dies in wissenschaftlichen De batten nicht akzeptabel wäre, erscheint im Kontext eines Internetforums die Ver wendungvonderartselektivkombinatorischemWissenalsunproblematisch,denn es darf davon ausgegangen werden, dass andere User ohne weiteres in der Lage sind, die verwendeten Wissenselemente mit Hilfe ihres Hintergrundwissens an gemessenzuverknüpfen.AlsGanzesbetrachtet,wirktdieFormulierungsinnvoll und die abgesteckte Position ist klar, nicht zuletzt durch die polemische Abgren zung von vermeintlichen Gegnern. In alltagsferneren, stärker formalisierten Kon texten (Fachdiskussion, Zeitungsartikel, Fernsehinterview etc.) wäre dieselbe Äu ßerungjedochnichtsagbar,d.h.siewürdealsnichtakzeptabelgelten. AuchaufinhaltlicherEbeneerweistsichdieTextstellealsVersuchdiskursiver Grenzziehung: Gemeinsamer Nenner der hier kombinierten Elemente (ökono misch,evolutionär,individuell)istdieOrientierungamNutzen.Obetwasökono misch sinnvoll ist oder nicht, lässt sich – so wird impliziert – durch eine Kosten 

7.3RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum

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NutzenRechnung auf monetärer Basis herausfinden. Was der User unter „evolu tionär gefährlich“ versteht,wird zwar nicht näher erklärt.Wenn man aber berück sichtigt,dassineinervulgarisiertenFormderEvolutionstheoriedieGeschichteder menschlichen Spezies als eine Höherentwicklung betrachtet wird, hätte man das fehlende Puzzleteil gefunden: Der evolutionäre Nutzen läge im genetischen Fort schritt–umgekehrtwürdesuggeriert:‚Degeneration’istgefährlich.Dieverwende ten Beispiele für den individuellen Nutzen („Fair ist, das tun, was dem Menschen hilft“und„einemMenschenLeidenzuersparen“)beziehensichausschließlichaufden Menschen als Einzelwesen. Man hätte auch die sprachlichen Wendungen „die Menschen“ oder gar „die Menschheit“ verwenden können, jedoch macht es dis kurstaktischmehrSinn,aufdieindividuelleEbenezuverweisen,dennhierkann manmitdemNutzenKriteriumüberzeugenderargumentieren. Die Interpretation lässt sich so zusammenfassen: In der zitierten Äußerung wird ein ‚Raum des Sagbaren’ umrissen, der ethischmoralische Argumentation nur auf der Basis von Nutzenkalkulation bzw. eines ‚evolutionären Prinzips’ zu lässt.AlslegitimdargestelltwerdenderindividuelleNutzen(Eigennutz),dermo netäreNutzen(aufvolkswirtschaftlicherEbene)undschließlich–aufeinerEbene, die man mit Berger/Luckmann (2000) als „symbolische Sinnwelt“ bezeichnen kann155–derNutzenfürdiemenschlicheGattung.DagegenbleibenGefühleeben soausgeschlossenwieethischeArgumentationsweisen,diesichdemNutzenkalkül verschließen, weil sie z.B. von nicht verhandelbaren Grundwerten und rechten ausgehen. Zwar kann diese Textstelle, auch wenn sie ausführlich interpretiert wurde,nichtalstypischfürdas1000FragenForumaufgefasstwerden.Ihreanaly tischeBedeutungergibtsichvielmehrausderhiergutzubeobachtenden,fürden untersuchtenInterdiskursspezifischenArtdes‚SinnBastelns’.Außerdemwirftsie die Frage auf, ob die vorgefundene Kombination von vulgarisierter Evolutions theorie, Ökonomie und populärutilitaristischer Ethik möglicherweise für eine spezifischmoderneSubjektvorstellungkennzeichnendist.  Macht IndieHauptkategorie„Macht“wurdendieTextstelleneingeordnet,indenendas Gesellschaftssystem – als Handlungsrahmen und zugleich als Kontrollprinzip – thematisiert wird. Deshalb lässt sich dieser Bereich des Codebaums auch mit der  155 Die vulgarisierte Evolutionstheorie kann unseres Erachtens als quasireligiöse Kosmologie be trachtet werden, da sie die gleiche Funktion wie andere „symbolische Sinnwelten“ (Ber ger/Luckmann2000,102ff.)erfüllt,nämlichdieIntegrationverschiedenerSinnprovinzenundder institutionalen Ordnung in eine „Traditionsgesamtheit […]“: „Die ganze Geschichte der Gesell schaftunddasganzeLebendesEinzelnensindEreignisseinnerhalbdieserSinnwelt.“



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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

Frage „In welcher Gesellschaft leben wir?“ betiteln. Die Hauptkategorie besteht ausvierUntergliederungen,dienachdemMediumbenanntwurden,indemsich Macht jeweils manifestiert: „Staat/Politik“, „Medienmacht/Information“, „Ökono mie/Geld“und„Gesellschaft/sozialerDruck“. InderKategorie„Staat/Politik“gehtesuminstitutionalisierteMacht,d.h.um Entscheidungen, die im politischen System verortet werden können. Neben der BevölkerungspolitikfindensichhierauchdieBereicheForschungs,Gesundheits, Umwelt, Sozial sowie Entwicklungs und Armutspolitik. Im Subcode „For schungspolitik“thematisierendieÄußerungenmehrheitlichdieGrenzenderFor schung; übereinstimmend wird Forschungspolitik als eine Machtfrage behandelt. Allerdings werden unterschiedliche Machtinstanzen benannt. Manchmal sind es die Politiker und an anderer Stelle ist es die Wissenschaft. Zumeist aber wird an dieeigeneVerantwortungappelliert:„WerwilleinemdieForschungsfreiheitnehmen? IrgendwiesindalleMenscheninStaatensortiert.MomentannachgeographischenRichtli nien. Innerhalb dieser Staaten kann der Inhaber der Macht Forschung verbieten, aber es wird immer Raum geben, woanders.“ (Thread 19) Die Befürworter der Forschungs freiheit machen auch auf „Einschränkungen“ aufmerksam, die sie offenbar für ak zeptabelhalten,wieetwadasPrinzip‚nihilnocere’:„WiesosollesEinschränkungen in der Forschung geben, solange keine Menschen zu Schaden kommen?“ (Thread 7452) Unter dem Code „Gesetzgebung/Rechtsprechung“ (in der Kategorie „Staat/Politik“) wird der Staat meist als übermächtiger Zwangsapparat und nur selten als Sozialstaat oder schützender, fürsorglicher Staat thematisiert. Dieser Code beinhaltet auch Forderung nach mehr zivilgesellschaftlicher Partizipation, z.B. wird der Nationale Ethikrat als „demokratisch nicht legitimiert[.]“ kritisiert (Thread 12929). Geht es um Gesetzgebung im engeren Sinne, fällt auf, dass die Positionen stark polarisiert sind. Einerseits werden Verbote dezidiert gefordert, andererseits aber auch entschieden abgelehnt: „muss die eigenverantwortlichkeit durchrichterlichebeschlüssereglementiertwerden[…]?“(Thread9634) Die Kategorie „Medienmacht/Information“ verweist auf Textstellen, die das Zurückhalten oder gezielte Einbringen von Informationen in den öffentlichen RaumzurVerfolgungpartikularerInteressenthematisieren.HierspielendieMas senmediendiegrößteRolle.SiewerdenalsTrendsetteröffentlicherDebattenoder auch als Instrumente der Manipulation durch Interessenverbände angesehen: „Warum werden Ereignisse erst zu Ereignissen, wenn sie durch die Medien reflektiert werden?“ (Thread 13499) An anderer Stelle heißt es: „Warum wird in Deutschland zumThemaUmweltschutzundBiotechnologieeigentlichsogezieltDesinformationbetrie ben? Wenn man sich nämlich etwas tiefer mit der Thematik auseinandersetzt, wird man feststellen können, wie stark unsere Gesellschaft durch gezielte Informationen (ob wahr 

7.3RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum

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odergelogen)beeinflusstwird!DieAngst,dieaussolchfragwürdigenInformationstechni ken resultiert, spiegelt sich in den Beiträgen sehr deutlich. Wir sollten uns deshalb nicht alle von unseriösen Äußerungen und Veröffentlichungen zu diesen Themen erschrecken lassen,sonderndiesegezielthinterfragen!“(Thread4675)InweiterenBeiträgengehtes darum,dassdierichtigeAuswahlderMedienwichtigsei,umsicheinrealistisches BildüberGentechnikundBioethikzumachen.„Naja,durchGenmanipulationwer denwirganzbestimmtnichtunbemerktbeeinflusstabervonGesellschaft,StaatundMe dienmitSicherheit...“(Thread4487) Die Kategorie „Ökonomie/Geld“ beinhaltet diejenigen Äußerungen, die das Machtmittel Geld thematisieren. In der großen Mehrheit der Beiträge wird Kritik am Kapitalismus bzw. an der fortschreitenden Ökonomisierung geübt. Von zehn codiertenÄußerungensindneunkritischundeinerprovozierenddieMarktgesetze bejahend.„DerMenschhantiertausProfitgiermitdenelementarenGrundlagenunseres Lebensherum,ohnedieAuswirkungenauchnurabschätzengeschweigedennkontrollieren zukönnen.“(Thread16075)Eherwirtschaftsethischwirdsoargumentiert:„wiekann manesändern,dassimmernurderwirtschaftlicheerfolgimvordergrundsteht,abernicht die moral und die menschen, die leiden?? (Thread 7212) Mehrheitlich finden sich Textstellen,welchedieInteressenderMächtigenundderenHerrschaftthematisie ren:„GeldregiertdieWelt.NichtszähltsovielwiederProfit,undderMenschundseine Würde treten in den Hintergrund.“ (Thread 3773) Ein anderer Beitrag formuliert: „Liegt die Zukunft in den Händen der medizinischen Großindustriellen? Wird die Ethik dadurch dem Kapitalismus zum Opfer fallen? Oder können allein unsere Ängste diese Zukunftaufhalten?“(Thread14116) InderKategorie„Gesellschaft/sozialerDruck“sindschließlichdiejenigenAs pekte von Macht zusammengefasst, die nicht in die anderen Codes eingeordnet werdenkonnten.UrsprünglichhandeltesichumeineRestkategorie,dieallerdings imErgebniseinebemerkenswerteKonturerhaltenhat,dahierinsbesonderedieje nigenTextstellenversammeltsind,diedengesellschaftlichenUmgangmitBehin derung („Warum werden behinderte Menschen nicht als anders normale Menschen akzeptiert?“, Thread 5234) und den Begriff der Normalität problematisieren: „Was ist die Norm? Wer ist normal? Was ist normal?  Sind nur die Mitläufer normal?“ (Thread 15612) Diese Auffälligkeit lieferte die Anregung für eine Fallstudie zu diesemDiskursstrang(vgl.10.3).AlsweitererToposinnerhalbderKategorie„Ge sellschaft/sozialerDruck“lässtsichdasStrebennacheiner‚besseren’Gesellschaft erkennen.EswerdenverschiedeneGesellschaftsbilderentworfen,indenenSoziali tät und ethische Werte vorherrschen, dagegen Grenzen und soziale Zwänge ver schwundensind.DieseUtopiendienenderKritikandenbestehendenVerhältnis sen als Kontrastfolien: „Bereits jetzt wird in unserer Gesellschaft selektiert: versicherte 

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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

MitgliederderKrankenkassen.EsfängtanmitdemVersicherungswesenbzw.Krankenkas sen. Private Kassen versichern z.B. nur junge, gesunde Mitglieder, gesetzliche Kassen müssensolidarischkrankeMitgliederversorgen.WarumnichtdieprivatenKassenauch? Zweiklassenmedizin?WarumnichtallesaufeineGrundebenestellenunddieVersorgung stufenweise aufbauen? Leistungen, Zusatzversorgungen etc. Gibt es bessere Menschen oderdie,dienurmehrGeldhaben,umsicheinegutemedizinischeVersorgungleistenzu können?“(Thread8785)GleichzeitiggibtesgesellschaftskritischeBeiträge,dienicht direkt die ‚Verbesserung’der Gesellschaft einfordern, sondern die Einzigartigkeit desIndividuumshervorheben:„diemoralstelltwohldengesellschaftspiegelda.ichlebe nichtnachdermoral.ichlebe,wieichbin.ichbinnichtaufdieserwelt,damitdieanderen mich so haben, wie sich mich haben wollen. die moral, was schreibt sie genau vor? was erwartetsievoneinem?“(Thread5433)DieseÄußerungistinsoferntypischfürdie geäußerteGesellschaftskritik,alssieimplizitdavonausgeht,dassdasIndividuum Machtverhältnissenunterworfenist.

7.3.2 Wissen–Sprecherpositionen–Diskurskontrollen–Strategien:FormaleDiskurs ordnung AufderformalenEbenederDiskursordnungführtendieAuffälligkeitenimMate rialdazu,einenAkzentaufdasWissenzusetzenunddiebeidenHauptkategorien „Wissensbestände“und„Wissensformen“zubilden.MitdendreianderenHaupt kategorien „Sprecherpositionen“, „Diskurskontrollen“ und „Strategien“ wurden dierestlichenformalenAspektederuntersuchtendiskursivenPraxisabgedeckt.  Wissensbestände Wiebereitserläutert(vgl.4.1.2),sorgteBioethikalsvorgegebenesThemadesInter netforums für eine diskursive Energie, die sich nicht selten in Polemiken nieder schlug. Da die Äußerungen nicht an einen klar definierten Gegenstandsbereich gebundenwaren,ließsichindemuntersuchtenDiskursereigniseinbreitesSpekt rum von wissensrelevanten Anknüpfungen auffinden. Die Fragestellung beim Codieren zielte deshalb nicht auf eine Identifizierung der jeweils benutzten Wis sensinhalte,sondernaufdieArtundWeise,inderArgumentationenundbestimm teWissensgebietemiteinanderverknüpftwurden. Unter die Kategorie „Wissensbestände“ fällt folglich das Fachwissen, das in denFundstellenzurLegitimierungeigenerPositioneneingesetztwird.Daessich bei dem 1000 FragenForum um eine alltagsnahe Diskussion handelt, sind die Formulierungen,dieanetablierteWissenschaftsdisziplinen(z.B.Biologie,Medizin, 

7.3RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum

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Ökonomie) anknüpfen, nicht immer ‚originalgetreu’; eher findet man Versatzstü ckeindieserArt:„GrundgesetzderBiologie:DasGanzeistimmermehralsdieSumme seiner Teile.  Denn das Ganze ergibt sich immer auch aus synergistischen Effekten im ZusammenwirkendereinzelnenKomponenten.“(Thread11403)Zudemstammenviele dereingebrachtenWissensbeständeausdemInterdiskurs,typischerweiseausden MassenmedienoderderLiteratur,wiebeidiesemBeispiel:„HastdudieSchmerzen gelindertjedesBeladenen?HastdudieTränengestilletjedesGeängsteten?...Hiersitze ich,formeMenschennachmeinemBilde,einGeschlecht,dasmirgleichsei,zuweinen,zu leiden,zugenießenundzufreuensichunddeinnichtzuachtenwieich!“(Thread10120) DiesprachlicheDiskrepanzzwischendiesemZitatunddenwissenschaftsorientier tenStellungnahmenstichtinsAuge.Dennochistesnichtganzabwegig,aufGoe thes Gedicht „Prometheus“ Bezug zu nehmen, wenn es um die Biotechnologie geht. InvielfältigsterWeisewirddas1000FragenForuminAnspruchgenommen, um Wissensbestände einzubringen. Es werden Forderungen zum Schutz des un geborenenLebensbzw.fürliberalereAbtreibungsgesetzeformuliert,gesellschaft liche Zukunftsentwürfe diskutiert, Schuldige für die niedrigen Wachstumsraten derdeutschenWirtschaftgesuchtetc.–dieThemenpaletteistweitausbreiteralses die 45 vorgegebenen Kategorien (vgl. 2.3) vermuten lassen; in dieser Zusammen schaukannsienichteinmalansatzweisewiedergegebenwerden.WelcheWissens bereiche verwendet werden, um sich gegenüber konkurrierenden Beiträgen durchzusetzen, ist nicht zuletzt Ausdruck einer strategischen Wahl. Immerhin habendieUsereinMinimumanRessourcenfürdasVerfassenihrerBeiträgeinves tiert. Daher erscheint es plausibel, dass nur solche Wissensbestände verwendet werden,denenausreichendÜberzeugungskraftbeigemessenwird.IhreSystemati sierungimCodebaumlässtdenSchlusszu,dassmankeinesfallsvoneinereindeu tigen Dominanz der (Natur)Wissenschaften sprechen kann. Vielmehr nehmen Bezugnahmen auf Religion, Medien, Literatur, sonstige Fiktion und Metaphysik einen ebenso bedeutenden Platz ein. Auch findet man Problematisierungsweisen, die aus der Perspektive des offiziellen bioethischen Diskurses als Tabubruch er scheinen: „Ist es vertretbar, dass man das Herz und somit bald auch andere Körperteile ausStammzellenzüchtet?MankönntesoZombieserschaffen.“(Thread5406)  Wissensformen BeiderBildungderHauptkategorie„Wissensformen“lautetedieFragenicht,auf welcheFachgebietesichdieFundstellenbezogen,sondernaufwelcheWeiseWis senindasInternetforumeingebrachtwurde.DasOffeneCodierenergabsomitden 

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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

Code „Erkenntnisstile“ und eine Differenzierung zwischen dem wissenschaftli chen„Spezialwissen“unddemnichtwissenschaftlichen„Alltagswissen“. Eigentlich vermutet man Spezialwissen nur in explizit als wissenschaftlich ausgewiesenenBereichen,z.B.inHochschulen,Fachpublikationen,aufKongressen etc. Jedoch wird in dem untersuchten Internetforum Spezialwissen ebenfalls be nutzt,zumeistinradikalvereinfachter,zumTeilaberauchinerstaunlichelaborier ter Form. Beim ebenfalls eingebrachten Alltagswissen fällt der hohe Stellenwert dessubjektivenErfahrungswissensauf;offensichtlichgenießtderVerweisaufdie eigene Betroffenheit große Akzeptanz. An manchen Stellen gewinnt man aller dings auch den Eindruck, dass Spezialwissen und Alltagswissen miteinander ‚kämpfen’. Auf all diese Aspekte wird noch ausführlicher einzugehen sein (vgl. Kap.9).NebenderUnterscheidungnachErkenntnisstilendifferenziertdieHaupt kategorie„Wissensformen“nachder„VerlässlichkeitvonWissen“,d.h.demGrad an Gewissheit, den die Äußerungen zu erkennen geben. Hier steht der Code „NichtWissen“ neben dem „unsicheren Wissen“ und der „Gewissheit“. Die the matische Fokussierung des Onlineforums hat sicherlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Beiträge mit Nichtwissen und unsicherem Wissen – meist in Frage form–indasForumeingespeistwurden.Auffallendist,dassdennochunsicheres WissenprinzipielleineschwächerePositioninnezuhabenscheintalsdieGewiss heit,aufwelcherGrundlageauchimmerdieseberuhenmag.Besondersinteressant sind in diesem Zusammenhang die Bemühungen, Fragen anderer User eindeutig zubeantwortenundZweifelauszuräumen.EinBeispielistdieReaktionaufdiese Frage:„KanndieKrankheitDiabetesgeheiltwerden[…]?“DieAntwortlautet:„Zellu lare Medizin ist die Lösung. Krankheiten kann nurdie Natur heilen und keine Chemie.“ (Thread8614)DaimFortgangdieserStudiedieKategorie„Wissensformen“noch genauerbetrachtetwird,seiandieserStelleaufweitereIllustrationverzichtetund aufdasKapitel9verwiesen,dassichinsbesondereden‚Erkenntnisstilen’Spezial undAlltagswissenwidmenwird.  Sprecherpositionen Die Hauptkategorie „Sprecherpositionen“ umfasst Textstellen, die auf Organisa tionen, Institutionen und deren Repräsentanten sowie auf soziale Rollen Bezug nehmen. Mit „Sprecher“ sind also nicht die konkreten User gemeint, sondern im Anschluss an Foucault Äußerungsmodalitäten im Diskurs (vgl. 5.2). Mit dem Be zugaufSprecherpositionenverknüpfensich„diskursinterneStrukturierungenund Hierarchiebildungen“ (vgl. Keller 2004, 69f.). Letztlich geht es um die Frage, wer legitimerWeisesprechendarf.DerMachtaspektisthierzentralundKonfliktezwi schenkonkurrierendenSprecherpositionensindunvermeidlich.DieHauptkatego 

7.3RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum

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rie „Sprecherpositionen“ ist unterteilt in die drei Kategorien „Selbst Positionierungen“,„FremdPositionierungen“und„PositionierungdurchAbgren zung“. Dabei ist zu beachten, dass die untersuchte Kommunikation in einem Internetforum stattfindet und somit prinzipiell alle User gleichberechtigt sind, es also eigentlich keine formellen Positionen gibt, auf deren Grundlage eine Hierar chie begründet werden könnte. Bei den Fundstellenkann es sichfolglich nurum VerweiseaufPositionenim‚richtigenLeben’handeln. Unter der Kategorie „SelbstPositionierungen“ finden sich relativ viele Ich undWirStatements,diesubjektivformulierteStellungnahmenbeinhalten,etwain der Form „Ich bin selber behindert“ (Thread 8039). Dagegen hat ein WirStatement diese typische Form: „Wenn wir die Isolation und Entfernung des defekten Gens zur VermeidungvonBehinderungenverbietenwollen,solltenwirdannnichtauchalleThera pien, die den Behinderten das Leben nachträglich erleichtern sollen, ebenfalls verbieten?“ (Thread10193)IndemerstenZitat,demIchStatementbildetdiesubjektiveErfah rung die Legitimationsebene. Tatsächlich wird häufig Bezug genommen auf eine typisierbareEigenschaftoderRolle–hier:„behindert[er]“Mensch–,esgehörtwohl zu den unausgesprochenen Regeln der anonymen Onlinekommunikation, die ei genenAnsichtenaufdieseWeisezurechtfertigen.156ImUnterschieddazuspricht das obige WirStatement ein eher diffuses ‚WirGefühl’ an. Das demokratische „wir“ suggeriert das Vorhandensein eines allgemeinen Konsenses. Der oder die Sprecher/in nimmt die Rolle eines ‚Verantwortungsträgers’ an; das „wir“ soll die MeinungderMehrheitausdrücken.AusdieserPerspektivestellenIchStatements nureineStellungnahmeuntervielendar.Insofernkanneine„Wir“Positionierung auchalseinstrategischesInstrumentverstandenwerden,dasderAufwertungder eigenenArgumentationdienensoll. Die Kategorie „FremdPositionierungen“ beinhaltet vorgefundene Anknüp fungenanetablierteOrganisationen,anerkannteInstitutionenoderauch‚wichtige’ Namen.WirfindenRollenträgerausWissenschaftundGeschichteebensowiesol che mit religiösem Hintergrund. Indem anerkannte Autoritäten stellvertretend eingebrachtwerden,werdenPositionenbesetzt.ImfolgendenBeispielistderRol lenträger,derzurLegitimationherangezogenwird,zurkonkretenPersongewor den(der„Kloner“):„DasKlonschafDollyhatschoninjungenJahrenArthritisundande reBeschwerden;selbstderenKlonersagt,dassmandasKlonenvonMenschenlassensoll! (Thread6430)DieNennungdesNamens–IanWilmut–hättederArgumentation womöglich noch mehr Nachdruck verliehen. Auch Institutionenkönnen, wiedas folgendeBeispielzeigt,alsAutoritätdienlichsein:„WarumlassenwirdieMediziner  156 ZurLegitimationsweisedersubjektiviertenWissensformdesAlltagsvgl.9.3.



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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

nichtforschen?WarumgebenwirihnennichtdieGelder,dieGeräte,umLebenzuretten undunsererMenschheitzuhelfen?Siesindes,diedieMenschengesundmachen,siesind es,diedirundmirhelfen!Siesindes,diedafürsorgen,dassichmeinemherzkrankenVater jedenTaggutenMorgensagenkann.Siesindes,diedieungeklärtenMordedurchgeneti sche Fingerabdrücke aufklären. […]Ichdanke Gott, dass er uns die Kraft und die Inteli genzgegebenhat,inderMediziensofortgeschrittenzusein!“(Thread2478)Indiesem ThreadvereinigensichdreiPositionierungen:derGläubige(„IchdankeGott[…]“), derFortschrittsbefürworter(„Siesindes,diedieMenschengesundmachen[…]“)und der Verantwortungsträger („Warum lassen wir die Mediziner nicht forschen? Warum gebenwirihnennicht[…]“). InderKategorie„PositionierungdurchAbgrenzung“findensichFundstellen, indenenoffensichtlicheineDistanzierunggegenüberdenStellungnahmenanderer erfolgt: „Bestimmte Leute, meistens ‚naturwissenschaftlich angehaucht’, wollen mittels ZynismusdieUnvernunftihrerVierzeilerkaschieren.“(Thread12289)EinesolcheNe gativDefinition lässt offen, wofür man eintritt; fest steht nur, dass der User kein Zynikerseinwill.StrategischgesehensindmiteinersolchenPositionierungnatür lichvielbreitereAllianzenmöglichalsmiteinerentschiedenenFestlegung.  Diskurskontrollen Die Hauptkategorie „Diskurskontrollen“ besteht aus den vier Kategorien „Inter netsprache“,„BewertungvonBeiträgen“,„BeschränkunglegitimerSprecher“und „Gegnerdiffamieren“.Gemeinsamistihnen,dassessichumVersuchehandelt,die Reaktionenanderer Userzusteuern, Äußerungenentweder zu beschränken oder anzureizen.UnterdieKategorie„Internetsprache“fallenReaktionen,dietypische Merkmale der Internetkommunikation aufweisen. Darunter finden sich beispiels weise so genannte Emoticons am Ende eines Kommentars als Hinweis auf Ironie oder die Benutzung einesNamen mit einem @Zeichen davor, um einen anderen User direkt anzusprechen. Die untersuchte Stichprobe weist relativ viele dieser Fundstellenauf;eineEinflussnahmeaufDiskursverläufekannstellenweisevermu tet, jedoch nicht eindeutig nachgewiesen werden, was im Folgenden an einigen Beispielendargestelltwerdensoll. DieKategorie„BewertungvonBeiträgen“enthälteindeutigeStellungnahmen inderFormvonZustimmung(„Ichfinde,dassduvölligRechthast.“,Thread4471), Ablehnung (...Schon wieder eine Falschaussage, es ist genau umgekehrt…“, Thread 8299)oderNichtverstehen(„DieseFrageistunverständlich.“,Thread6681),diesich sowohl auf Fragen als auch auf Kommentare beziehen. Die Kategorie „Beschrän kung legitimer Sprecher“ wiederum umfasst Versuche, andere User von der Dis kussion auszuschließen. Leitend ist offenbar der Grundkonsens, dass sich entwe 

7.3RekonstruktionderDiskursordnung–derCodebaum

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dernurbesondersqualifizierteTeilnehmer/innenbeteiligenoderbestimmte,nicht akzeptierte User fernhalten sollten. Das folgende Beispiel demonstriert diese Ab sicht(wennauchdieBefolgunggeradediesesVorschlagsdieFortführungderge samten Diskussion erheblich erschweren würde): „Ich denke, das Recht, diese Frage zustellen,hatnurjemand,derineinemHospizgestorbenist!WarumglaubenMenschen, dienichtleiden,zuwissen,wasambestenfürMenschenist,diewirklichleiden?“(Thread 5038)EinweiteresMusterderDiskurskontrolle,dasinmehrerenThemenbereichen zubeobachtenist,erhebtdieautonomeEntscheidungdesIndividuumszumPrin zip:„kannnichtjederselbstentscheiden,waserfürgutundschlechthält?“(Thread6377) Der Code „Jeder soll selbst entscheiden“ wurde zunächst als rhetorisches Mittel interpretiert, um Gegenargumente zu delegitimieren. Mit einer wachsenden An zahlvonTextstellenentstandjedochderEindruck,dassdieseFormulierungmög licherweiseTeileinerinterdiskursivenAussagenformationist,diezentraleAspekte des Diskursereignisses wie z.B. die Konstruktion von Selbstbestimmung berührt. DarumwurdedieserCodezumAusgangspunkteinerFallstudie(vgl.10.2). InderKategorie„Gegnerdiffamieren“findensichStrategienderDiskurskont rolle, die sich ausgeprägter Feindseligkeit und Aggressivität bedienen. Hierunter fallen Beschimpfungen und Vorwürfe von „Scheinheiligkeit“, „Gier“, „Egoismus“ und „Irrationalität“. Vermeintliche Fehler oder schlechte Eigenschaften anderer User, die vor allem als Gegner angesehen werden, werden in diesen Textstellen hervorgehoben,z.B.:„DuhastvonallemnullAhnungundredestnurMüll.Ichwün sche niemandem etwas Schlechtes, aber deiner Sorte wünsche ich es, schwer unheilbar krank zu sein und dann von irgendwelchen Maschinen künstlich am Leben erhalten zu werden,statteinenschnellenundschmerzlosenTodzusterben.“(Thread9039)Anan dererStelleheißtes:„Beidirwäreesbesser,siewürdenetwasandeinemVerstandän dern.“(Thread11168)  Strategien DieHauptkategorie„Strategien“bestehtausdenbeidenKategorien„Argumenta tionen“ und „Frageformen“. Unter „Argumentationen“ finden sich Codes, in de nen Weltanschauungen, Menschenbilder und Gesellschaftsvorstellungen zum Ausdruckkommen. Vor allem der Code „Fortschrittsglauben, ängste äußern“ ist einer näheren Betrachtung wert. Hier tauchen Szenarien auf, die mit Hilfe von historischen Be zügen, Hinweisen auf partikulare Interessen oder Ländervergleichen auf bioethi schenHandlungsbedarfaufmerksammachenwollen:„HattenMenschennichtschon IMMEReineHeidenangst,wennirgendwoetwasNeueserfundenodereingeführtwurde? EinegesundeReserviertheitmussnichtnegativsein,sollteabergedanklichflexibelbleiben, 

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7DiskursordnungfindendurchKategorisierenundSystematisieren

damansonstirgendwannvonderRealitäteingeholtwerdenwürde.“(Thread12324)Im weiterenVerlaufdiesesThreadswirdeinehistorischeAnalogie157konstruiertund in das Argumentationsmuster eingeflochten:„Schönes Beispiel: Bei der ersten Eisen bahninDeutschlandwurdediskutiert,obderMenschdieBeschleunigungundGeschwin digkeit(etwa30km/h)aushaltenkann,derZughättefastdasdoppeltegeschafft,daswurde abergesetzlichverboten!“(Thread12324) WiediesesZitataußerdemdeutlichmacht,findetmaningrößererZahlbild hafteArgumentationen,BeispieleundMetaphern,diemanmitLink(2005,90)als „interdiskursivesMaterial“charakterisierenkann.VordemHintergrunddesThe mas Bioethik ist bemerkenswert, dass die verwendeten Metaphern erstaunlich altmodisch sind, nämlich vorzugsweise aus dem handwerklichtechnischen Be reich stammen: „Wir sind etwa in der Lage wie ein Uhrmacher aus dem 19.Jh der vor einemmodernenBenzstehtundnundenMotoroptimierensoll...“(Thread15983).Ne bendemUhrmacherwirdauchdasHandwerkdesSchustersbemüht:„Wokannich mir die Bauteile für mein Kind bestellen?[…] Kinder werden auch in Zukunft nicht aus Einzelkomponentenzusammengeschustert“(Thread11904).FürdieBioundMedizin technologien hat der Interdiskurs anscheinend noch keine passenden Bilder ge funden oder sie sind – wie die Doppelhelix der Erbsubstanz – noch nicht in das Alltagswissen eingedrungen.158 Das untersuchte Material lässt jedenfalls darauf schließen,dassdasUnbekannteundUnvertrautemitetwasBekanntem,demfast schonanachronistischemHandwerkdesUhrmachers,Automechanikersodereben desSchustersverknüpftwird.

7.4 Schlussfolgerungen Diepointierte,keinesfallserschöpfendeInterpretationderherausgefiltertenOber flächenstruktur des analysierten Diskursereignisses hat gezeigt, dass es für die KommunikationimInternetforumoffensichtlichnichtwichtigist,welchePrioritä tenfürdieBioethik–alsExpertendiskurs(vgl.4.1)–gelten.Zwarsinddievorgege  157 NachLink(2005,95)sindhistorischeAnalogieneintypischesPhänomendesInterdiskurses,näm lich„‚elementarliterarische’Formen,ähnlichwieKollektivsymbole“.DenhistorischenAnalogien isteinganzerBandderZeitschrift„KultuRRevolution“gewidmet(Link/LinkHerr1991). 158 BestimmteSymbolederGentechnikwerdenimmerwiederindenMassenmedienverwendet,z.B. dieDoppelhelixderDNAoderdievergrößerteAufnahmeeinerPipettenspitzebeiderEntnahme desZellkerns.AugenscheinlichhabenaberdieseSymboleSchwierigkeiten,EingangindieAlltags sprachezufinden.AndersverhältessichmitdemBegriff„Klon“;vgl.zuseiner‚Karriere’imAll tagsdiskurs10.1.



7.4Schlussfolgerungen

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benen Themen(gruppen) mit größtenteils passenden Beiträgen gefüllt worden; jedochwerdenindenThreadsimmerauchzusätzlicheundganzandereBereiche angesprochen.InsgesamthatsichaufderinhaltlichenEbeneein–vonderthemati schen Klammer Bioethik nur oberflächlich zusammengehaltenes – äußerst viel schichtiges Ensemble von Aussagen über SubjektEthikMacht gezeigt. In ihrer Gesamtheit weisen die codierten Fundstellen ein entscheidendes gemeinsames Charakteristikum auf: Spezielle Wissensgebiete werden in ihnengrob vereinfacht undohneRücksichtauf(wissenschaftliche)Logikmiteinanderverknüpft.Dieun gewöhnliche Kombinatorik ergibt nur dann einen ‚Sinn’, wenn man sie als Aus druck des Interdiskurses begreift. Bilder vom Menschen, von Ethik und Macht werden konstruiert, die an übergreifende „symbolische Sinnwelten“ (vgl. Ber ger/Luckmann 2000) ebenso anschließen wie an spezielle, außerhalb des Alltags liegendeWissensbestände.DerEinflussvonAlltagsundInterdiskursindemun tersuchten Ausschnitt diskursiver Praxis zeigt sich nicht zuletzt in der pragmati schenArtundWeisedesVerknüpfens:DabeischeinendieKonsequenzenderein gebrachtenWissensbestände von weitaus größererBedeutungzu seinals die Ge nauigkeitvonDefinitionenodergardie‚Wahrheit’desbenutztenWissens.Durch forstet man das Material hinsichtlich dieser Konsequenzen, wird man auf zwei Arten stoßen. Zum einen spielen moralische Überlegungen eine zentrale Rolle, nicht nur in der Hauptkategorie „Ethik“, sondern auch unter „Subjekt“ und dort vor allem in den Kategorien „Beziehungen zwischen Menschen“ und „Menschli ches Leben“. Zum anderen geht es um gesellschaftliche Auswirkungen: Kritische BlickeaufdieGegenwartsgesellschaftundgewagteZukunftsentwürfebildeneinen größerenTeilderFundstellen,dieunterdieHauptkategorie„Macht“fallen. Das deutliche Gewicht der formalen Hauptkategorien „Wissensformen“ und „Wissensbestände“,wieesimOffenenCodierenzumVorscheinkommt,bestätigt die Fruchtbarkeit einer wissenssoziologischen Herangehensweise. Insbesondere die Gegenüberstellung von Alltagswissen und Spezialwissen bietet ein Kriterium fürdieUnterscheidungvonWissensordnungen.DieseCodessindfüreinenweite ren Untersuchungsschritt ausgewählt worden (Kap. 9). Vor der Fortsetzung der empirischen Analyse ist es jedoch notwendig, den Zusammenhang von Wissen, MachtundAlltageingehenderzubetrachten(Kap.8).



8 Wissen–Macht–Alltag: WissenssoziologischeAnschlüsse

Zwischenergebnisse der bisherigen Untersuchung haben immer wieder auf die Bedeutung der Kategorie ‚Wissen’ aufmerksam gemacht. So wurde in der Ausei nandersetzung mit der Foucault’schen Diskurstheorie (Kap. 3) die enge Verbin dung von Diskurs und Wissen deutlich. Diskurse stellen Wissensordnungen dar; sie repräsentieren Politiken des Wissens. Außerdem stießen wir bei der empiri schen Analyse auf die zentrale Bedeutung von Wissen; beim Offenen Codieren konnten wir die auffällige Häufung unterschiedlicher Wissensbestände und die Anwendung verschiedener Wissensformen feststellen (Kap. 7). Und nicht zuletzt ließ die diskurstheoretische Verortung des 1000 FragenForums als Ereignis im Interdiskurs zwei Aspekte aufscheinen, die für eine wissenssoziologische Akzen tuierung der Studie sprechen: So stimuliert die thematische Vorgabe „Bioethik“ spezialdiskursiveBezüge;dasBesondereamDatenkorpusistaber,dassmanhier typischerweiseaufalltagsbezogenesWissentrifft. UmdieSpezifitätdesmedialvermittelten,partizipativangelegtenundöffent lich inszenierten Diskursereignisses „1000fragen.de“ herauszuarbeiten, bietet es sich also an, die weitere Untersuchung wissenssoziologisch zu fokussieren. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine interdiskursive, alltagsnahe Rah mung, wie sie das 1000 FragenForum charakterisiert, geeignet ist, andere Wis sensbestände und Wissensformen – und damit ein anderes Wissen – hervorzubrin genalsz.B.derExpertendiskurs.UmdieseThesezuüberprüfen,ergebensichfol gende Fragestellungen: Wie wird über Bioethik im Alltag gesprochen? Welche Wissensformen treten auf? Und: Wird in dieser öffentlichen Rede neues, überra schendesoderungewöhnlichesWissenproduziert? BeiderSuchenachAntwortenhabenwirfeststellenmüssen,dasseinanFou cault orientiertes, diskursanalytisches Vorgehen, das hauptsächlich darauf ausge richtetist,spezialdiskursivesWissenzuerfassen,anGrenzenstößt.Möglicherwei se sind aber die Beschränkungen nicht allein der Eigenart des untersuchten Ge genstandes geschuldet, sondern verweisen auch auf allgemeine Leerstellen der Diskursforschung. Auf der einen Seite haben sich Diskurstheorie und analyse 

7.4Schlussfolgerungen 8Wissen–Macht– Alltag:WissenssoziologischeAnschlüsse

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bislang nur ansatzweise mit Alltagswissen beschäftigt, und zwar offensichtlich deshalb, weil alltagsweltliches Sprechen im engeren Sinne keine öffentliche Rede darstelltundsomitnichtalsbedeutungsvolle,d.h.auchmächtigeundeinflussrei che Diskursformation gilt. Auf der anderen Seite bringt die Soziologie des All tagswissenskeingroßesInteressefürMachtWissenProzesseauf;sietendiertda zu,denMachtwillenimalltäglichenHandelnzuignorieren.UnsereIdeeistesnun, diesebeidenSträngezusammenzubringenundzwarimSinneeinerwissenssozio logischakzentuiertenDiskursanalye,159diezumeinenAnschlüsseandieimUnter titelsobenannte„TheoriederWissenssoziologie“vonPeterL.BergerundThomas Luckmann(2000)herstelltundgleichzeitigsichaufFoucaultbezieht,derdiereali tätsprägende Wirkung von Spezialdiskursen betont hat. Ziel dieses Kapitels ist also eine theoretische Feinabstimmung von Begriffen unterschiedlicher Prove nienz, um im Hinblick auf die nachfolgenden empirischen Analysen (vgl. Kap. 9,10) zu einer operationalisierbaren Typologie von Wissensformen zu gelangen undvorallemdasAlltagswissennäherzubestimmen. ZunächstscheintessichbeidemAnliegen,den‚DiskursimAlltag’erfassenzu wollen, um ein Unterfangen zu handeln, das man als Quadratur des Kreises be zeichnenkönnte:Wieistesmöglich,alltagsweltlicheVerständigungalsdiskursive Praxiszuverstehen,wenngleichzeitigdieAlltagskommunikationalsungebändigt undstrukturlosgeltenmuss?Undwennmanversucht,eineOrdnungalltagswelt lichen Sprechens zu rekonstruieren, wird man dann dem Gegenstand eigentlich noch gerecht? Oder zwingt man das Alltagswissen in ein Korsett, das gar nicht passen kann? In welcher Beziehung stehen systematisiertes und alltägliches Wis senzueinander?Stehensiesichdiametralgegenüberodersindsiemöglicherweise garnichtsoverschieden?Istdas‚Wilde’desAlltagswissenswomöglicheineIllusi on,diesichauflöst,sobaldmansichdemPhänomenempirischnähert?DieserFra genhorizontleitetdienachfolgendeErarbeitungeineswissenssoziologischabgesi cherten Instrumentariums ein, das helfen soll, das alltagsweltliche Reden über Bioethik im 1000 FragenForum einer diskursanalytischen Betrachtungsweise zu unterziehen.EinleitenderfolgteineKlärunggrundlegenderBegriffe(8.1),diesich an folgenden Fragen orientiert: Was ist eigentlich mit ‚Wissen’ gemeint? Welche Rolle spielen die Wissensformen – im Unterschied zu den Wissensbeständen? Und  159 DiesesVorhabenistnichtzuverwechselnmitdemvonReinerKeller(2005)entwickeltenAnsatz einermethodischabgesichertenWissenssoziologischenDiskursanalyse,derwir,insbesonderewas die Rezeption der Wissenssoziologie betrifft, wertvolle Anregungen verdanken: Uns geht es pri märumeineMethodologie,diesichamkonkretenGegenstand,nämlich„1000fragen.de“orientie rensoll.DieInterdiskurstheorienachJürgenLinkerschienunsalszusätzlichnützlichundhatda herinunsererKonzeptioneinengrößerenStellenwerterhalten.



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8Wissen–Macht–Alltag:WissenssoziologischeAnschlüsse

wiekanndieanalytischeKlammeraussehen,dieinderempirischenUntersuchung zurErfassungundgleichzeitigauchAbgrenzungvonSpezialwissenundAlltags wissenzu benutzenseinwird?Anschließend werden die den verschiedenen Dis kurstypenentsprechendenWissensformenvorgestellt:ZuerstwerdendieGrundli nien spezialdiskursiver Wissensformen umrissen (8.2); der nächste Schritt ist die Konstruktion des Alltagswissens, das auf seine strukturtheoretischen Merkmale hin untersucht wird (8.3); des Weiteren wird im Anschluss an Link das interdis kursive Wissen als ein spezifisches Phänomen herausgearbeitet (8.4). Außerdem wirdineinemExkurszum‚unterworfenenWissen’(Foucault)derFragenachder horizontalen Schichtung des gesellschaftlichen Wissens nachgegangen (8.5). Zum SchlusswirddieThesevom‚KreativZyklus’(Link)alseinzwischendenverschie denen Wissensformen vermittelnder Mechanismus entwickelt (8.6); im Ergebnis entsteht eine dreidimensionale Typologie des Wissens, die für die nachfolgenden empirischenUntersuchungsschrittegenutztwerdenkann(Tabelle12).

8.1 Wissen:ErkenntnisstilundErfahrung Waseigentlichist‚Wissen’?BeiderBegriffsklärungsolltemansichzunächstver gegenwärtigen, dass oft – zumindest im Alltag, aber auch in Spezialdiskursen – voneinemvergleichsweisereduziertenWissensbegriffausgegangenwird.Wissen sollteaber,woraufStehr(2003,42ff.)hinweist,nichtmitlexikalischemWissenbzw. bloßerInformationgleichgesetztwerden.AußerdemmachtesSinn,zwischenden Inhalten desWissens– den Wissensbeständen160 –unddem Wissensprozess –den Wissensformen–zuunterscheiden(vgl.Stehr2003,22und25).InanderenWorten: WissenbestehtauseinerBeziehungzwischeneinerseitsDingenundFakten(‚Wis sensinhalt’,Wissensbestand)undandererseitsGesetzen,RegelnundProgrammen, die im Aneignungs und Verwendungsprozess zur Geltung kommen (‚Wissens aneignung’–‚Wissensverwendung’,Wissensform). Wissenbezeichnetdemnachdas‚Verarbeitete’,das‚Systematisierte’einerGe sellschaft;dieSoziologieinteressiertamWisseninsbesonderedessenaktiveHers tellung,dieBedingungenseinerKonstruktion,dieFormenseinerAneignungund seines Transfers. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen also weniger die eher statischen Wissensbestände, sondern die dynamischen Wissensformen. Soziologi  160 InAbgrenzungzumBegriff„Wissensvorrat“,der–daderBerger/Luckmann’schenTerminologie entnommen – phänomenologisch geprägt ist, haben wir uns für den von Stehr (2003, 36) einge führten Begriff „Wissensbestand“ entschieden, auch wenn dieser von ihm selbst in Anführung szeichenbenutztwird.



8.1Wissen:ErkenntnisstilundErfahrung

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sche Konzepte des Wissens gehen von Prozesshaftigkeit aus, von der sozialen Konstruiertheit;dabeigiltes,„[die]innere‚Unreinheit’[desWissenszu]akzeptie ren, sein Verwurzeltsein in allen sozialen Einrichtungen im kulturellen Prozess – einschließlichderWissenschaft–,seineVerstrickungmitderMachtunddenInter essensowieseineenormeWandlungsfähigkeit.“(Stehr2003,23) AuchSabineMaasenverweistinihrerRezeptiondesFoucault’schenWissens begriffs darauf, dass Wissen ohne Macht nicht gedacht werden kann; demnach zieltdieDiskursanalyseaufein„Niveau,aufdemWissenalsgesellschaftlichher gestelltes,aufErfahrungsbereicheverteiltesundineinerstetsumkämpftenHierarchie von Wissensarten kategorisiertes Wissen sichtbar wird.“ (Maasen 1999, 34, Her vorh.d.Verf.)DieimZitathervorgehobenenMerkmaledesWissenslenkenden Blick auf den flexiblen und zugleich ‚machtvollen’ Teil der Wissensproduktion: AufdieErfahrungsbezogenheitdesWissens,darauf,dassWissenimmer–sodas Zitat–‚aufErfahrungsbereicheverteilt‘ist,sindwirbereitsbeiderKategorisierung desempirischenMaterialsgestoßen;dievonMaasensogenannten‚Wissensarten’ tauchenalsSchlüsselkategorieinunseremCodebaumaufundsinddortmitdem Begriff‚Wissensformen’belegt. DerBegriffder‚Wissensarten’bzw.‚Wissensformen’wiederumistanschluss fähigandeninderWissenssoziologieüblichenBegriffdes„Erkenntnisstil[s]“,der aufSchütz/Luckmann(2003,55ff.und70)zurückgehtundvonSoeffner(2004,33) ebenfalls verwendet wird. Schaut man sich dieses Konzept genauer an, so wird deutlich, dass Schütz/Luckmann (2003, 55) wiederum den ‚Erkenntnisstil’ eng an ‚Erleben’und‚Erfahrung’koppeln:Soweisen„[…]alleErfahrungen,diezueinem geschlossenenSinngebietgehören,[.]einenbesonderenErlebnisbzw.Erkenntnis stilauf;mitBezugaufdiesenStilsindsieuntereinandereinstimmigundmiteinan der verträglich.“ Die Struktur von Wissensbeständen wird im Wesentlichen aus den mit dem Wissenserwerb verbundenen Prozessen der„Erfahrungssedimentie rung“(Schütz/Luckmann2003,50)abgeleitet. Wie Schütz/Luckmann (2003, 173) an anderer Stelle ausführen, erfolgt Wis senserwerb zunächst als „Sedimentierung aktueller Erfahrungen nach Relevanz und Typik in Sinnstrukturen, die ihrerseits in die Bestimmung aktueller Situatio nenunddieAuslegungaktuellerErfahrungeneingehen.“EinTypuswerdedann „relativ ‚endgültig’“ (Schütz/Luckmann 2003, 317), wenn sich Erfahrungen mehr malsbewährthättenundSinnstrukturenindenBereichdesGewohnheitswissens übernommen worden seien. Da diese (scheinbaren) Selbstverständlichkeiten je doch„keineswegsindenErfahrungshorizontallmeinerErfahrungen[.],erstrecht nicht in den Erfahrungshorizont anderer Menschen, die davon nichts ‚wissen’“ (Schütz/Luckmann2003,155),eingehen,seientscheidendfürdenWissenserwerb, 

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obsichdieSituationindasbislangGewussteproblemloseinfügenlasseoderaber eine Provokation darstelle. Ein neuer Wissenstyp entsteht Schütz/Luckmann zu folgeindersituationsadäquatenLösungeinerproblematischensozialenSituation, d.h.durchdie„NeubestimmungeinerErfahrung,diemitHilfedesschonvorhan denenWissensvorrats,dasheißtalsohiermitHilfeeiner‚alten’Bestimmungsrela tion,nichtbewältigtwerdenkonnte.“(Schütz/Luckmann2003,315)DieKonfronta tion mit dem Unbekannten bietet die Chance, (neu) Erlebtes zu einer bewussten und zugleich gewussten Erfahrung zu machen. Somit sind auch Erkenntnisstile wandelbar; im Prozess des Wissenserwerbs wird immer auch neues Wissen her vorgebracht. Der für Schütz/Luckmann zentrale Begriff der Erfahrung bietet auch einen Anschlussan das DenkenFoucaults:Für ihnist derMensch„einErfahrungstier“ (Foucault 1996). Und auch wenn Foucault (1974, 33, Hervorh. dort) nicht direkt vom Alltag spricht, so unterscheidet er doch zwischen Subjekt, Sinn und Erfah rung:„InseinemBezugzumSinnverfügtdasbegründendeSubjektüberZeichen, Male, Spuren, Buchstaben. Aber es muß zu seiner besonderen Offenbarung nicht denWegüberdiebesondereInstanzdesDiskursesnehmen.DiesemThemasteht derGedankederursprünglichenErfahrunggegenüber[…].Ersetztvoraus,dassin der rohen Erfahrung, noch vor ihrer Fassung in einem cogito, vorgängige, gewis sermaßen schon gesagte Bedeutungen die Welt durchdrungen haben, sie um uns herum angeordnet und von vornherein einem ursprünglichen Wiedererkennen geöffnethaben.“WieanandererStellebetontwird,gehtesFoucault(1988a,15)in seinem „Projekt […] um den Versuch einer Analyse der Brennpunkte der Erfah rungwiez.B.derdesWahnsinns,derKriminalitätundderSexualitätsowieumdie Aufstellung einer Matrix der Erfahrung. Brennpunkte und Matrix der Erfahrung sollen gemäß den drei Achsen untereinander analysiert werden, die diese Erfah rungenkonstituieren:dieAchsederFormierungdesWissens,dieAchsederNor mativitätdesVerhaltensundschließlichdieAchsederKonstitutionderSeinswei sendesSubjekts.“AuchMachtistfürFoucault(1999b,243)„nichtnureinetheore tischeFrage,sonderneinTeilunsererErfahrung.“ Wiegesagt,imUnterschiedzurErfahrungstelltAlltagfürFoucaultkeinere levante Kategorie dar.161 In der handlungstheoretischen Wissenssoziologie dage gen spielt Alltag eine zentrale Rolle, auch und gerade bei der Konturierung des Konzepts‚Erkenntnisstil’.AndieserStelletauchtder–fürunsereStudiezentrale–  161 Nicht ohne Grund findet man das Stichwort „Alltag“ (Foucault 2005, 1069) nicht im Index der vierbändigen Ausgabe der Foucault’schen „Dits et Ecrits“, während es unter „Erfahrung“ (Fou cault2005,1076)über50Einträgegibt.



8.1Wissen:ErkenntnisstilundErfahrung

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UnterschiedzwischenAlltagundWissenschaftwiederauf.FürSoeffner(2004,33, Hervorh.dort)bestehternämlich„inden„Erkenntnishaltungen,denErkenntnisstil enselbstsowieindenihnenjeweilszugeordneten‚organisatorischensettings’(In volviertheit vs. Distanz, Handlungsdruck vs. Freisetzung von Handlungsdruck etc.)“.IhmzufolgegeneriertdiewissenschaftlicheHaltung„einanderesKonzeptvon ‚Wirklichkeit“’(Soeffner2004,39,Hervorh.dort)alsder„kognitiveStilder[alltägli chen] Praxis“ (Soeffner 2004, 21); der zentrale Begriff sei hier nicht mehr „Wahr heit“,sondern„Wirklichkeit“(Soeffner2004,40). AuchbeiSchütz/Luckmann(2003,60)trifftmanaufdasPostulateinesspezifi schen Denkstils der Wissenschaften, deren Akteure „in einer vom Wissenschafts stand vorbestimmten Problemlage, also sozusagen anonym“ denken. Wissen schaftler/innen unterziehen Phänomene einem systematischen Zweifel, interessie ren sich vor allem für objektive Gegebenheiten und Zusammenhänge und klam mern in ihren „Denkakten“ (Schütz/Luckmann 2003, 59) Subjektivität ebenso aus wie Spontaneität, die eigene Endlichkeit und die im Alltag gründende pragmati scheRelevanz.Versuchtwird,sokonstatierenSchütz/Luckmann(2003,631),dem Alltagsbereichden„Wirklichkeitsakzentsozusagenhypothetisch“zuentziehen. Wir halten fest: Dem wissenschaftlichen Denk oder Erkenntnisstil wird der StildesAlltagsgegenübergestellt.DerhandlungstheoretischenWissenssoziologie zufolge gründen Betrachtungenim Alltag– z.B. das Entwerfen von Handlungen, Schmieden von Plänen oder Nachdenken über Lebensprobleme – auf einer auf ErfahrungswissenbasierendenSinnkonstruktion(Schütz/Luckmann2003,83).Der am subjektiven Erleben orientierte „kognitive Stil der Praxis“ (Soeffner 2004, 21) strebt folglich nicht nach Distanz und Abstraktion. Nach Keller (2005, 39) gilt im Alltag „als Wissen alles, was Bedeutung trägt, Sinn macht oder doch sinnvoll interpretiertwerdenkann,etwaHandlungsmuster,Deutungsmuster,Normenund Regeln, Sprache, Klassifikationen, Institutionen, Berufe, Gefühle und Empfindun gen,RoutineundReferenzwissen.“ Sowohl Soeffner wie auch Schütz/Luckmann benutzen den Begriff „Erkenn tnisstil“ als (Unterscheidungs)Merkmal von Alltagswissen und wissenschaftli chem Wissen. Es gibt jedoch einen, strukturtheoretisch betrachtet, wichtigen Un terschied zwischen den beiden Ansätzen. So knüpft Soeffner (2004, 15 ff.) zwar auchandiesozialphänomenologischeSichtaufdenAlltagan,aberimUnterschied zuSchütz/LuckmannbeharrteraufderBesonderheitdeswissenschaftlichenWis sens–indiesemAspektlässtersichnäheramstrukturtheoretischenDenkenFou caultsverorten.ImUnterschiedzuFoucaultinteressiertihnallerdingsamMacht aspektdesWissensvorallemdessenepistemologisches‚Mehr’:Diewissenschaftli cheAnalysekönne,sohebterhervor, überdieAbläufedesAlltagsundüberdie 

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nur latent gewussten und erschließbaren Deutungs und Handlungspotenziale aufklären(Soeffner2004,50). FürdieseStudieistdieAuseinandersetzungmitdenKlassikernderWissens soziologie insofern ertragreich, als nun synonym für Wissensform der Begriff ‚Er kenntnisstil’ verwendet werden kann. Im Anschluss an Schütz/Luckmann und Soeffnergehenwirfolglichdavonaus,dassdieverschiedenenWeisen,Erfahrun gen zu machen, mit verschiedenen Erkenntnisstilen und diese wiederum mit je weils verschiedenen Formen der Subjektivierung verbunden sind. Dabei unter scheiden wir – im Anschluss an den bereits entwickelten dreidimensionalen Dis kursbegriff(vgl.Kap.3)–dreiErkenntnisstile:dasSpezialwissen,dasAlltagswis senunddasinterdiskursiveWissen.ZieldernunfolgendenAusführungenistes, eine operationalisierbare Begriffssystematik zur Verfügung zu stellen, um diese drei Wissensformen anhand von sechs Dimensionen unterscheiden zu können: Grad der Spezialisierung,Stellenwert des Subjekts,Handlungsorientierung,Logi ken, sprachliche Konstruktionen und mögliche Sprecherpositionen (vgl. Tabelle 12).

8.2 WissenschaftlichesWissen:„Objektivierung“ Um die Charakteristika des wissenschaftlichen Wissens heraus zu arbeiten, kann zunächstStehrzuRategezogenwerden,der,ähnlichwieFoucault,aufdasSpezi alwissenabhebtunddenZusammenhangvonMachtundWissenakzentuiert.Für Stehr(2003,26)liegtdasHauptgewichtderAuseinandersetzungaufdem„objekti vierten“Wissenalseiner„kulturellenRessource“.DiesesWissenmacheinsbeson dereinGesellschaften,dieüberSprache,Schrift,DruckundDatenspeicherverfü gen,einendirektenKontaktzudenDingen,Fakten,Regelnnichtmehrzwingend notwendig; vielmehr funktioniere es allein in Beziehung zu bereits vorhandenem Wissen.162Die„ObjektivierungvonWissen“sei,soStehr(2003,26),Ausdruckeines gesellschaftlichenModernisierungsundRationalisierungsprozesses. Als weiteres Merkmal, durch das sich wissenschaftliches Wissen vom All tagswissenunterscheidet,machtStehrdieHandlungsdistanzbzw.entlastungaus: „DerwissenschaftlicheDiskursentpragmatisiert,ervermagkeinedefinitivenoder gar wahren Aussagen (im Sinne von bewiesenen kausalen Sätzen) für praktische Zweckeanzubieten,sondernnurmehroderwenigerplausibleAnnahmen,Szena rien oder Wahrscheinlichkeitsaussagen [...]. Die Wissenschaft ist demnach nicht  162 Vgl.zudessenEigenheitenStehr(2003,259).



8.2WissenschaftlichesWissen:„Objektivierung“

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LieferantzuverlässigerErkenntnis[fürdenAlltag],sonderneineQuellevonUnsi cherheit[...].“(Stehr2003,30) Indem Stehrdie grundsätzliche Unsicherheit gerade auchdes wissenschaftli chen Wissens betont, stellt er den Machtanspruch in Frage, mit dem die Wissen schafteninderRegelauftreten.ImUnterschieddazuhebterdie„Vorläufigkeit,die ÜberprüfbarkeitunddieOffenheitvonWissensansprüchenalsTugend“mancher „Philosophien der Wissenschaft“ hervor (Stehr 2003, 30). Es sei vielmehr so, dass unter den praktischen, alltäglichen Handlungsbedingungen die Strittigkeit des Wissenshäufigunterdrücktwerde,unteranderem,weilesinKonfliktzumHand lungsdruckimAlltagstehe(Stehr2003,30).MitStehrkannmanalsoformulieren: Wissenschaftliches Wissen ist zwar einerseits dem Handlungsdruck entzogen, siehtsichaberandererseitsgezwungen,vermeintlichsicheres,d.h.handlungsrele vantesWissenbereitzustellen. Ähnlich wie Stehr163 hat auch Foucault das Bacon’sche Diktum „Wissen ist Macht“ als Ausgangspunkt genommen. Dabei geht er (vgl. etwa Foucault 1983, 120)allerdingseinenSchrittweiter:ErverkoppeltMachtundWissensoengmitei nander,dasssiepraktischineinsfallen,zueinem‚Machtwissen’werden.FürFou caultbestehtderMachtanspruchdeswissenschaftlichenWissensgeradedarin,als sicherzuerscheinenundWahrheitsansprüchezuformulieren.Kurzgesagt:Macht schließtsichihmzufolgeimmeranWissenundWissenimmeranMachtan(Fou cault1976,45),undzwarnichtnurineinemdieBegriffeundMethodenbetreffen denSinne,sondernbereitsaufderEbenederMöglichkeitsbedingungvonErkenn tnis. Pointiert könnte man auch formulieren: Bei Stehr164 wird mit Wissen Politik gemacht,beiFoucaultistWissenPolitik. DiepolitischeBesetzungdesWissenserfolgtnachFoucault(1977,239)„nicht bloßaufderEbenedesBewußtseinsundderVorstellungenundindem,wasman zu wissen glaubt, sondern auf der Ebene dessen, was ein Wissen ermöglicht.“165 LässtmanseineArbeitenüberdieFormierungdespsychiatrischen(Foucault1978),  163 Stehr(2003,36)zufolgesindMachtundWissen„Alliierte“;gleichzeitiglegterjedochWertaufdie Feststellung, dass die Verbindung keine symmetrische ist: Demnach hat Wissen nicht immer MachtzurFolgeundMachtführtnichtzuWissenbzw.musssichnichtimmeraufWissenstützen. 164 UnterdemvonStehrverwendetenBegriffderWissenspolitikwirdinderWissenssoziologie(vgl. etwaKeller2005,129ff.;Maasen1999,30ff.)die„RegulierungderAnwendungvonWissen“ver standen. 165 ZwarlässtsichfastdasgesamteWerkFoucaultsalseinewissenssoziologischeAbhandlunglesen; bemerkenswert ist jedoch, dass der Themenkomplex ‚Wissen’ zwar ständig präsent ist, spezielle Reflexionendarüberaberehersporadischundkaumzusammenfassendauftauchen,sodassman geneigt ist, die Wissenstheorie Foucaults vorzugsweise als Diskurstheorie darzustellen (Drey fus/Rabinow1994b,37).



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medizinischen(Foucault1988b),linguistischen,ökonomischenundnaturgeschich tlichenWissens(Foucault1990b)Revuepassieren,sowirddeutlich,dassderStruk turtheoretiker zumindest in seiner archäologischen Phase vor allem an der Frage interessiertwar,wiesicheinbestimmterErkenntnisstilalsGrundtypusderWahr heitssuche, sozusagen als diskursiver Code in den unterschiedlichen Wissensfor mationeneinerEpochedurchsetzt.Entsprechendgehterdavonaus,dassdieDis ziplinarmacht des 18. Jahrhunderts das Wissen in seiner „plurale[n], polymor phe[n], vielfältige[n] und verstreute[n] Existenz“ (Foucault 1999a, 208) eingehegt undunterKontrollegebrachthabe.InFolgedieserDisziplinierungsprozesse166sei es dazu gekommen, „dass ein Wissen außerhalb dessen, ein Wissen im wilden Zustand, ein von woanders herrührendes Wissen sich automatisch und von vor nherein wenn nicht völlig ausgeschlossen, so zumindest a priori disqualifiziert sieht.“ (Foucault 1999a, 212) Die „Prozesse der Annexion, der Konfiskation, der Beschlagnahmung“desWissensverlaufeninFormvon„KämpfenundAngliede rungsversuchen“, als „Bewegung der Organisation technologischer Wissen“, bei denen„esimGrundeumvierDinge[geht]:Auswahl,Normalisierung,Hierarchi sierung und Zentralisierung.“ (Foucault 1999a, 207ff.) Im Mittelpunkt von Fou caults Interesse stehen also Wissensprozesse „als strategischtaktische Auseinan dersetzungenundKämpfe“(Keller2005,135).Demnachhängtdiehistorischkon tingenteVerschiebungvonWissensordnungendavonab,welcherWissensformes gelingt,sichdurchzusetzenundalslegitim,d.h.alsmächtiganerkanntzuwerden. Vergegenwärtigen wir uns zum Schluss dieses Abschnitts, in der gebotenen Kürze,dieMerkmaledesSpezialwissens:SoistderwissenschaftlicheErkenntnis stildurcheinenhohenGradanSpezialisierungundDifferenzierunggekennzeich net. Merkmale seiner der subjektiven Wahrnehmung misstrauenden Praxis sind Verfahren der Kategorisierung und Hierarchisierung, in den Worten Foucaults (1990b, 17): Taxinomien, normative Systeme, „Ordnungen“, die die Bedingungen machtvollen Sprechens und „alle Vertrautheiten unseres Denkens“ fixieren. Zu mindest vom Anspruch her vom Handlungsdruck entlastet, ausgestattet mit der SuggestionvonSicherheitzieltdie„LogikderWissensspezialisierung,“wieJürgen Link(2005,86)betont,„[...]tendenziellaufEindeutigkeit,spezielleDefinitionder Begriffe, Dominanz derDenotation und möglichst BeseitigungallerUneindeutig keitenundKonnotationenmitdemIdealtypdermathematischenFormel“.Verall gemeinerung, Quantifizierung, Deduktion, Induktion, Beweisführung usw. sind Inbegriffe des wissenschaftlichen Denkstils. Theoretisierungen, Modellbildungen, Experimente im Labor, qualitative und quantitative Analysen setzen sich, indem  166 Foucault(1999a,212)benutztauchdenBegriff„disziplinarischeWissenspolizei“.



8.3Alltagswissen:„IntensivsteSubjektivierung“

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siedasSubjektnachbestimmtenRegeln‚verobjektivieren’,indenStatusvonWis senschaften(vgl.auchMaasen1999,47ff.).UndnichtzuletztwirddieserErkenn tnisstildurchdieExpertinnenundExpertenvertreten,dieinInstitutionenderSpe zialdiskurse(oftmalsWissenschaften)tätigsind;damitverbundenisteineTendenz zurMonopolisierungundHomogenisierungvonWissen. Der wissenschaftliche Erkenntnisstil ist darauf ausgerichtet, durch Ent Subjektivierung allgemein gültige Aussagen hervorzubringen, also ‚objektives’ und‚wahres’,‚neutrales’und‚wertfreies’Wissenzukonstruieren.Spezialdiskurse sind durch eine spezifische Logik der Kommunikation charakterisiert: Die hier regierendenCodesklassifizierenÄußerungenals‚wahr/unwahr’.167Dieals‚wahr’ qualifizierten ‚Aussagen’ beanspruchen wiederum Faktizität und Geltung. In der Folge scheint das, was wir zu ‚wissen’ meinen – im Gegensatz zu dem, was wir ‚glauben’–perdefinitionem‚wahr’zusein.168

8.3 Alltagswissen:„IntensivsteSubjektivierung“ Bereits in den Ausführungen zur dreidimensionalen Typologie des Diskursiven haben wir den ‚elementaren Interdiskurs’ (vgl. 3.5.3) kennen gelernt – allerdings ohneindiesemEnsembledenAlltagangemessenverortenzukönnen.JürgenLink (2005,79),vondemdiesesKonzeptstammt,setztden„Elementardiskurs“mitdem Berger/Luckmann’schen „Alltagswissen“ gleich. Eher beiläufig benutzt er den Begriff des Alltags zur Markierung eines nicht näher bestimmten Feldes, in dem sichdieSubjektebewegen.NichtnurandieserStellefälltauf:InderDiskursanaly sehatdasAlltagswissendenStatuseinerehermarginalisiertenWissensform.Auch Siegfried Jäger bietet – trotz einer häufigen Verwendung von „Alltagsdiskurs“ (Jäger1999,51,64,151,164)alseiner„Diskursebene“(Jäger1999,163)–wedereine  167 Für die Analyse dieser Spezialdiskurse hat Foucault vorzugsweise sein Handwerkszeug entwi ckelt.AuchwennersichnichtexplizitzudieserSchwerpunktsetzunggeäußerthat,soistzuver muten,dasssowohlmethodischewieauchinhaltlicheGründefürdieseEntscheidungausschlag gebendwaren.ZumeinensindSpezialdiskurseaufGrundihrerInstitutionalisierungundderih nen innewohnenden Regelhaftigkeit ‚sichtbarer’, also leichter zugänglich und auch einfacher zu untersuchen, zum anderen gilt sein primäres Interesse den Akten ‚machtvollen Sprechens’, die nachKeller(2005,38)ineinem„OrdnungsraumdesWissens“Gesellschaftsostrukturieren,dass sich„ihrePositivitäteneingrabenundsoeineGeschichtemanifestieren“können. 168 Ein InFrageStellen beweisgestützter Argumentationen ist also immer voraussetzungsvoll. Auch wennsichdieVertreterdeswissenschaftlichenParadigmaszunehmendmitLegitimationsproble menkonfrontiertsehen(Bogner/Torgersen2005;Fisch/Rudloff2004;Kuhn1961),verharrtderSpe zialdiskursvielfachinSelbstreferenzialität.



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genaueBegriffsdefinitionnochthematisierterausführlichAspektedesAlltagswis sens.169 Sieht man von einem kurzen Abschnitt in Keller (2005, 261f.) ab, hat sich die Diskursforschung bislang noch nicht eingehend mit dem Wissen im Alltag beschäftigt. Aus unserer Sicht bietet es sich deshalb an, diesen Wissenstyp – mit Bezug auf wissenssoziologische Erkenntnisse – genauer zu beschreiben. Was ist unterAlltagzuverstehen?UndwelcheMerkmalekennzeichnendiefürdenAlltag typischeWissensform? Aus einem strukturtheoretischen Blickwinkel betrachtet scheint es nicht un problematischzusein,AlltagalsanalytischeKategorienutzenzuwollen,dennder Begriff ist vieldeutig, schillernd und wird oft genug in wertender Absicht ge braucht.JedochkannmanandieserStelleNorbertElias(1978,23ff.)folgen;erkri tisiert, dass die soziologische Auseinandersetzung mit dem Alltag die Aufmerk samkeit vor allem auf die subjektiven Aspekte des Zusammenlebens von Men schen richtet, „also auf den gemeinten Sinn dieser Aspekte, auf die Art, wie die beteiligten Menschen selbst Aspekte des Gesellschaft erleben, und hier wieder besondersdienichtoffiziellen,nichtöffentlichenoderjedenfallsnichthartundfest institutionalisierten Aspekte der Gesellschaft.“ Im Unterschied zu dieser Betrach tungsweise muss es ihm zufolge darum gehen zu verstehen, dass „die Untersu chung der Erfahrungsdimension, der Art, wie Menschen im Zusammenhang mit ihrem Erleben dieser Strukturen zu deren Reproduktion wie zu deren Wandel beitragen, ebenso unerlässlich [ist] wie die der langfristigen, ungeplanten und blindenVerflechtungsmechanismen,diebeidemWandelgesellschaftlicherStruk turenamWerkesind.“(Elias1978,24) Elias (1978, 24) plädiert dafür, Alltag als eine soziologische Kategorie zu be trachten, die dazu geeignet ist, „einen zivilisatorischen Kanonwechsel zu veran schaulichen,dermitanderenStrukturwandlungenderGesellschaft,alsoetwamit derzunehmendenFunktionsteilungodermitStaatsbildungsprozessen,inunablös baremZusammenhangsteht.“DieseÜberlegungenregenzueinerstrukturtheore tischenBestimmungvonAlltagan,beiderdiesubjektiveErfahrungnichtausgek lammert,sondernalsAusgangspunktgenommenwird.Tatsächlichwirdmanfest stellen,dassinder1966erstmaligerschienenenStudie„DiegesellschaftlicheKons truktion derWirklichkeit“ von Peter L. BergerundThomas Luckmann(2000), ei nem wissenssoziologischen Grundlagenwerk, das zumeist als handlungstheoreti sche Alltagstheorie gelesen wird, ebenfalls in auffälliger Weise strukturtheoreti scheAkzentegesetztwerden.  169 „Alltag“istfürJäger(1999,164)eine„Diskursebene“nebender„akademischenEbene“,den„Poli tikern“,den„Medien“undder„Erziehung“.



8.3Alltagswissen:„IntensivsteSubjektivierung“

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Berger/Luckmann(2000,3)zufolgespieltbeiderKonstitutionundKonstruk tion einer von ihren Mitgliedern als ‚wirklich’ erfahrenen Gesellschaft, an deren Bestand sie gleichzeitig mitwirken, Wissen eine zentrale Rolle. Zu ergründen sei, „wieesvorsichgeht,daßgesellschaftlichentwickeltes,vermitteltesundbewahrtes Wissen für den Mann [und die Frau, d. Verf.] auf der Straße zu außer Frage ste hender ‚Wirklichkeit’ gerinnt.“ Um das Alltagswissen – tendenziell ein ‚Jeder manns’Wissen – zu explizieren, nehmen Berger/Luckmann zunächst Bezug auf ein funktionell ausdifferenziertes (wissenschaftliches) Wissen, über das der All tagsmenschverfügenmuss,umeinigermaßenkompetenthandelnzukönnen.Tat sächlichstehtimmerschoneingesellschaftlicherWissensvorrat(ein‚Warenlager’) bereit,dendieEinzelnenzumZusammenbastelnihrersubjektivenWissensbestän denutzen,derimHintergrundindividuellesHandelnstrukturiertunddassozio historische a priori subjektiver Deutungen und intersubjektiver Beziehungen dar stellt (Berger/Luckmann 2000, 47).170 Der gesellschaftliche Wissensvorrat, der komplex,vielfältigundheterogenist,wirdjedochvondenAlltagsmenschennicht in seinem vollen Umfang, sondern als „Fertigware“ (Berger/Luckmann 2000, 44, vgl.auch70f.)zurKenntnisgenommen,alsoineinerdieKomplexitätreduzieren den,‚verbraucherfreundlichen’,gutzu‚konsumierenden’Form. Der dem Alltag immanente Handlungsdruck verlangt einen pragmatischen Umgang mit Wissen: Demzufolge verstehen Berger/Luckmann Alltagswissen als ein vorrangig anwendungsbezogenes Wissen, das durch drei Eigenschaften cha rakterisiertist:Rezeptcharakter,TypisierungstendenzundRelevanzstrukturen.Da erstens „Zweckmäßigkeitsmotive die Alltagswelt leiten, steht Rezeptwissen, das sichaufRoutineverrichtungenbeschränkt,imgesellschaftlichenWissensvorratan hervorragenderStelle.“(Berger/Luckmann2000,44)Zweitenswerdenroutinemä ßigvondenGesellschaftsmitgliedernständig„Typisierungen“(Berger/Luckmann 2000, 44), d.h. Taxonomien gebildet, die es ermöglichen, die Flut an alltäglichen EreignisseneinzuordnenundinbereitsvorhandenesubjektiveWissensvorrätezu integrieren. Drittens weist das Alltagswissen „Relevanzstrukturen“ (Ber  170 Auch Keller (2005, 41) arbeitet strukturtheoretische Unterschiede bei Berger/Luckmann heraus, wenn er formuliert, dass Wissensproduktion verstanden werden muss als eine „beständige ar beitsteiliginteraktive Tätigkeit der Externalisierung, Stabilisierung, Objektivierung und Wieder aneignung symbolischer Ordnungen.“ Und weiter: „Basale gesellschaftliche Prozesse der Wis senskonstruktion verlaufen als Stufenabfolge der situativen Externalisierung von Sinnangeboten, derinteraktivenVerfestigungvonHandlungenundDeutungeninProzessenderwechselseitigen TypisierungdurchunterschiedlicheAkteure,derhabitualisiertenWiederholung,derObjektivati ondurchInstitutionenbildungetwainRollenundderWeitergabeanDritteinFormensozialisato rischvermittelterAneignung.“



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8Wissen–Macht–Alltag:WissenssoziologischeAnschlüsse

ger/Luckmann 2000, 46ff.) auf, die dazu dienen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, Prioritäten zu setzen, zu Werturteilen zu gelangen – und damit letztlichhandlungsfähigzuwerden. Halten wir fest: Wenn auch in hohem Maße ein pragmatischer, auf Perfor manzhinorientierterWissenstyp,sozeichnetsichdasAlltagswissendochgleich zeitig durch strukturierende Elemente aus. In diesem Sinne warnt Soeffner (2004, 21,Fn.4)voreinerVermengungderBegrifflichkeiten‚Alltag’und‚Lebenswelt’:Im UnterschiedzurLebenswelt,171diegeradedurchdieAusklammerungdesAlltägli chen gewonnen werde, sei der Sinnbereich des Alltags durch den kognitiven Stil der Praxis gekennzeichnet. Ausgangspunkt muss demnach die Annahme sein, dass der Alltag seinerseits eine soziale Institution ist; damit tritt als eine zentrale FunktiondesAlltagswissensdie‚Objektivation’,d.h.dieInstitutionalisierungher vor.TatsächlichistGesellschaft,wieBerger/Luckmann(2000,49ff.)betonen,nicht nur subjektive, sondern immer auch „objektive Wirklichkeit“.172 Das Individuum ‚vergesellschaftet’ sich nicht nur durch Sinngebung und Interaktion, Typisierung und Habitualisierung, sondern gerade auch durch Objektivation, d. h. durch die HerausbildungvonNormen,RegelnundGesetzen,dieletztlichdenAlltagprägen. SollensozialeInstitutionenwiez.B.‚Religion’oder‚Mutterschaft’beidenSubjek ten Akzeptanz finden und zeitlichen Bestand haben, benötigen sie Begründungs zusammenhänge, die ihre Existenz rechtfertigen, das heißt, sie müssen sich in ir gendeinerArtundWeisebewähren,alssinnvollundnützlichanerkanntwerden oderAutoritätbeweisen,indemsiealsglaubwürdig,zumindestaberalsplausibel erscheinen,kurz:siebedürfender‚Legitimation’.173 MitdiesemBegrifftreffenwiraufeinweitereswesentlichesMerkmalvonAll tagswissen.NachBerger/Luckmann‚erklärt’Legitimation„dieinstitutionaleOrd nungdadurch,dasssieihremobjektiviertenSinnkognitiveGültigkeitzuschreibt. Sie rechtfertigt die institutionale Ordnung dadurch, daß sie ihren pragmatischen Imperativen die Würde des Normativen verleiht.“ (Berger/Luckmann 2000, 100)  171 Auch die Konzipierung des Alltagswissens bei Berger/Luckmann basiert auf dem von Alfred SchützundThomasLuckmann(2003,29)eingeführtenBegriffder„alltäglichenLebenswelt“,wel chedie„selbstverständlicheWirklichkeit“desSubjektsausmachtundals„unbefragterBodender natürlichenEinstellung“bzw.als„dasfraglosGegebene“(Schütz/Luckmann2003,35ff.)betrachtet werden kann. Die Lebenswelt ist sozial, sie ist keine Privatwelt, sondern wird als gemeinsame Wirklichkeitintersubjektivgeteilt. 172 NachBerger/Luckmann(2000,100)ist„Verdinglichung[…]eineModalitätdesBewußtseins,oder präziser:eineModalitätderObjektivationdermenschlichenWeltdurchdenMenschen.“ 173 DiesgiltinsbesonderefürdiePhasenderHerausbildungneuerOrdnungsmusteroderdann,wenn Ordnungsmuster – aus verschiedenen Gründen – in Frage gestellt bzw. brüchig werden. Gleich zeitighabenInstitutionenselbstwiederumlegitimierendenCharakter.



8.3Alltagswissen:„IntensivsteSubjektivierung“

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Legitimation darf jedoch keinesfalls auf ihren normativen Gehalt reduziert wer den;sieistnichtnur„eineFrageder‚Werte’,sondernimpliziertimmerauch‚Wis sen’. [...] Legitimation sagt dem Einzelnen nicht nur, warum er eine Handlung ausführensollunddieanderenichtausführendarf.Siesagtihmauch,warumdie Dinge sind,was sie sind. Mit anderen Worten: beider Legitimierung von Institu tionengehtdas‚Wissen’den‚Werten’voraus.“(Berger/Luckmann2000,100,Her vorh.dort) Vier hierarchisch in sich geschachtelte Ebenen der Legitimation lassen sich Berger/Luckmann(2000,101ff.)zufolgeunterscheiden:DieersteEbeneistdieBe griffsbildung, d.h. die Ausformung eines sprachlichen Vokabulars zur Beschrei bungeinesSachverhalts(z.B.„Behinderung“)undseineerfolgreicheVerankerung inderAlltagssprache(„Dubistbehindert“).MittelsWiederholungundHabituali sierunggerinntdasindenBegriffenverankerteWissenzur‚Gewissheit’undgene riertHaltungenwie:‚Soistdaseben’.AufderzweitenLegitimationsebenefindet man„theoretischePostulateinrudimentärerForm“,d.h.pragmatischeundprakti sche „Schemata, die objektive Sinngefüge miteinander verknüpfen“ (Ber ger/Luckmann 2000, 101). Hierzu gehören Lebensweisheiten und Narrative, die Deutungsmuster und Handlungsanweisungen vermitteln (z.B. „Jeder ist seines Glückes Schmied“). Drittens rechtfertigen „explizite Legitimationstheorien [.] ei nen institutionalen Ausschnitt an Hand eines differenzierten Wissensbestandes“ (Berger/Luckmann 2000, 101). Für bestimmte, klar definierte Lebensbereiche (z.B. Sterbebegleitung) gibt es entsprechende Wissensbestände, die häufig einem be sonderenPersonenkreiszurWeitergabeanvertrautsindund‚professionell’weiter vermitteltwerden.ExpliziteLegitimationstheorientendierendazu,sichzuverall gemeinernundeingewissesMaßanAutonomiezuerreichen;siekönnenzurBasis von Wissenschaften und zum Ausgangspunkt neuer Institutionalisierungen wer den (z.B. „Palliativmedizin“).174 Und viertens schließlich wirken „symbolische Sinnwelten“ (z.B. christlicher Glaube) legitimierend, da sie umfassende Systeme zum Weltverständnis und zur Weltdeutung anbieten, verschiedene Deutungsbe reicheintegrierenund„dieinstitutionaleOrdnungalssymbolischeTotalitätüber höhen.“(Berger/Luckmann2000,102)InanderenWorten:„DiesymbolischeSinn weltistalsdieMatrixallergesellschaftlichobjektiviertenundsubjektivwirklichen Sinnhaftigkeit zu verstehen.“ (Berger/Luckmann 2000, 103) Symbolische Sinnwel  174 OderumbeidemBeispiel‚Behinderung’zubleiben:DieexpliziteLegitimationstheorie(z.B.Heil undSonderpädagogik)umfasstdasWissenüberdieBehinderungsgradeebensowiedietheoreti sche Ausdifferenzierung des Sachverhalts ‚Behinderung’ in Körperbehinderung, Sinnesbehinde rung (Blindheit, Sehbehinderung, Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit, Taubblindheit), Sprachbehin derung,psychische(seelische)Behinderung,Lernbehinderung,geistigeBehinderungetc.



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8Wissen–Macht–Alltag:WissenssoziologischeAnschlüsse

ten stellen die Alltagserfahrung transzendierende, umfassende Deutungssysteme bereit, die in der Lage sind, die Lebenspraxis von Einzelnen und der gesamten Gesellschaftzuintegrierenundvorallemauch„‚Grenzssituationen’[.]jenseitsder Wirklichkeit des Alltagslebens“ einzubeziehen (Berger/Luckmann 2000, 103). Die WirkungsymbolischerSinnweltenkannfolgendermaßenbeschriebenwerden:„Sie setztOrdnungbeziehungsweiseRecht“(Berger/Luckmann2000,104)undermög lichtesdadurch,ErfahrungenundHandlungen,mögensienochsowidersprüch lichsein,einenangemessenenPlatzimUniversumsozialerWirklichkeitzuzuwei sen(Berger/Luckmann2000,104f.). Festzuhaltenbleibt: Der Erkenntnisstil des Alltags kann, soweit das Ergebnis unserer Lektüre, unter drei Gesichtspunkten für eine diskursanalytischeUntersu chung fruchtbar gemacht werden. Erstens zeigt sich Alltagswissen als eine Wis sensform, die durch strukturierende Elemente wie Routine, Typenbildung und Relevanzgekennzeichnetist.Damitbefindenwirunsgewissermaßenim„Vorhof derInstitutionalisierung“(Berger/Luckmann2000,60).Zweitenskannsubjektives Wissen im Alltag nicht getrennt von Prozessen fortschreitender Strukturierung, d.h. sozialen Institutionen und übergreifenden gesellschaftlichen Ordnungsmus tern, betrachtet werden. Der Erkenntnisstil des Alltags bringt also einerseits ‚Ob jektivationen’ hervor und entscheidet andererseits darüber, welche Subjektivie rungsangebote tatsächlich übernommen (oder auch zurückgewiesen) und somit fürdenAlltagsmenschenhandlungsrelevantwerden.Daherbietetessichdrittens an,dieimAlltagwirksamenLegitimationennäherzuuntersuchen.FolgtmanBer ger/Luckmann,spieltoffensichtlichLegitimierungalsProzess,deraufeinerstruk turellenVorstellungvonWissenbasiert,anInstitutionengebundenistunddurch expliziteLegitimationstheorieninengerVerbindungzudenWissenschaftensteht, auch für die subjektive Wirklichkeit der Individuen und deren gesellschaftliche VerobjektivierungeinezentraleRolle.InsbesonderedievierskizziertenEbenender Legitimation–Begriffsbildung,rudimentäreTheorie,WissenschaftundGlaubens systeme – legen die diskurstheoretische Anschlussfähigkeit des wissenssoziologi schenAnsatzesvonBerger/Luckmannnahe.DerVerweisaufexpliziteLegitimati onstheorien,mitdenenAspektederInstitutionalisierung„anHandeinesdifferen zierten Wissensbestandes“ (Berger/Luckmann 2000, 100) gerechtfertigt werden, lieferteinedirekteVerbindungzuderinstitutionalisiertenWissensordnung,dieim Anschluss an die Foucault’sche Diskurstheorie für den Spezialdiskurs als zentral erachtetwird.PrototheorienundnarrativeSchemataerlaubenebensowiesymboli scheSinnweltenzudemAnschlüsseandasvonJürgenLinkbeschriebeneinterdis kursive setting. Und die Bildung von Begriffen ist nicht nur das grundlegende MerkmaldesalltäglichenErkenntnisstils,sondernaucheineFormationsregelvon 

8.3Alltagswissen:„IntensivsteSubjektivierung“

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Diskursen. Die Überlegungen von Berger/Luckmann erweisen sich also durchaus als produktiv, wenn es darum geht, die Strukturiertheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit – und damit auch des Wissens – in den Blick zu nehmen. Dennoch sindkritischeAnmerkungenvonnöten.Zumeinenfälltauf,dassBerger/Luckmann diefürFoucaultzentraleFragederMachteherausblendenbzw.dieseaufdieFra gevonAkzeptanzreduzieren.175DiebeidenWissenssoziologenhebenzusehrauf die Konstruktion von Begründungsmustern und Sinnzusammenhängen ab, mit derenHilfesichdieAlltagsmenscheninden‚GangderDinge’einfügen,kompati belwerdenfürdasFunktioniereninder‚Normalität’.DiepotenzielleWiderspens tigkeitderSubjektewirdzuwenigmitgedacht.Zumanderenmögenzwarsituati ves Handeln und subjektives Erfahrungswissen auf Strukturmerkmalen basieren undinstrukturiertenZusammenhängenstattfinden,jedochistdieses‚elementare’ Wissen wenig differenziert, nicht generalisierbar und im Raum des ‚objektiven’, ‚wahren’ Wissens vermutlich unsagbar. Da das Alltagswissen auch durch das ‚Wuchern des Diskurses’ (‚Ereignis’, ‚Zufall’) gekennzeichnet ist und Erfahrung auch auf ‚gelebter Wirklichkeit’ basiert, also höchst persönlich ist, lässt sich sein ‚Wert’ nicht durch den wissenschaftlichen Code ‚wahr/falsch’ definieren. Sowohl die Heterogenität wie auch tendenzielle Unberechenbarkeit des Alltagswissens habenbeiBerger/LuckmannzuwenigPlatz. An dieser Stelle scheint ein Aspekt auf, der bereits bei der Betrachtung des Link’schenElementardiskurses(vgl.3.5.3)zumTragenkamundhiernocheinmal aufgegriffenwerdensoll.Wiebereitserwähnt,ordnetLinkdenAlltagderElemen tarkulturzuundbeschreibtdieseals„KulturintensivsterSubjektivierungdesWis sens“(Link2003a,90).AuchdasfolgendeZitatisteswert,nocheinmalwiederholt zu werden:Die Elementarkultur sei„durch höchste Subjektivität und höchste In tensität(geringeDistanz)“(Link2005,15)gekennzeichnet.Kurz,ähnlichwieBer ger/LuckmannverkoppeltLinkdasAlltagswissenmitdemAspektderSubjektivie rung. Zum Alltagsdiskurs führt er aus: Auf dieser Ebene kombiniere sich „das starkkomplexitätsreduziertehistorischspezifischeWissen(seitgeraumerZeitvor allemvondennaturwissenschaftlichenDiskursenundPraktikengespeist)mitdem sogenannt anthropologischen Alltagswissen (über allgemeinste Lebensstrategien, Liebe, Familie, rudimentäre associative Solidaritäten und Kollisionen usw.).“ (Link 2005, 91) Gleichzeitig bleibt der Diskurstheoretiker gegenüber einer mögli chenlegitimatorischenBedeutungderSubjektivierungskeptisch:Dadie„Subjekti vierungdesWissens[…]stetsmitseinerReduktiondurchGrenzenderSagund  175 BereitsMaxWeberhatinseinemWerk„WirtschaftundGesellschaft“(1922)aufdielegitimierende RollevonAkzeptanzimMachtgeschehenhingewiesen.



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8Wissen–Macht–Alltag:WissenssoziologischeAnschlüsse

Wissbarkeit“(Link2005,94)einhergeht,kanndiesubjektiveErfahrungkeinesfalls als‚originär’,‚authentisch’oder‚echt’bezeichnetwerden.Vielmehr,soargumen tiertLink(2005,94),istesgerade„dieseSubjektivierungdesWissensdurchGren zen,dieindenSubjekteneine‚Willigkeit’generiert,diesiewiederumfürMacht verhältnisse disponibel macht.“ Diesen Vorbehalt gilt es bei der nachfolgenden empirischenAnalyseimAugezubehalten.

8.4 InterdiskursivesWissen:„(Subjekt)Applikation“ ImUnterschiedzurLink’schenTerminologiehabenwirfürunsereUntersuchung den Begriff ‚Alltagsdiskurs’ (und nicht: ‚Elementardiskurs’)176 gewählt, weil wir davon ausgehen, dass es sich bei dem für die soziale Institution Alltag typischen ‚kognitiven Stil der Praxis’ um eine eigenständige Wissensform handelt, die sich klar vom spezialdiskursiven Wissen abgrenzen lässt. Kann das Gleiche für den dritten hier betrachteten Erkenntnisstil, nämlich das interdiskursive Wissen, be hauptetwerden,wasmachtdessenSpezifitätaus?DasswirvonderVorannahme ausgehen, dass es einen solchen Wissenstypus tatsächlich gibt, lässt sich aus der Verortung der Onlineplattform „1000fragen.de“ als diskursives Ereignis im zivil gesellschaftlichen Interdiskurs ableiten. Benutzt man die von Link (2005, 91) vor geschlagene Unterscheidung in „elaborierte hegemoniale Interdiskurse“, „nicht hegemoniale diskursive Positionen in hegemonialen, elaborierten Interdiskursen“ und „nichthegemoniale elaborierte Interdiskurse (‚Gegendiskurse’)“, kann diese Lokalisierung weiter ausdifferenziert werden: „1000fragen.de“ kann der letzten Kategorie, d.h. den interdiskursiven ‚Gegendiskursen’ zugeordnet werden. Um dasempirischeMaterialdieses‚Gegendiskurses’näherbeschreibenzukönnen,ist im nächsten Schritt die Operationalisierung des interdiskursiven Wissenstypus notwendig. AndieserStellemachtesSinn,sichnocheinmaldieFunktiondesInterdiskur ses(vgl.3.5.2)zuvergegenwärtigen:ImUnterschiedzumAlltagdiskurs,derüber handlungsrelevante Formen der Subjektivierung entscheidet, und auch im Kont rast zum Spezialdiskurs, der auf die Anhäufung vermeintlich objektiven Wissens aus ist, werden im Interdiskurs so genannte Folien der Subjektivierung – Identi  176 DievonLink(2005,91)vorgenommeneSpezifizierungdes„Elementardiskurses“in„hegemonia len(‚populären’)Elementardiskurs“,„nichthegemonialediskursivePositioneninnerhalbdeshe gemonialenElementardiskurses“und„nichthegemonialeElementardiskurse(‚Subkulturen’)“die sichaufdievertikaleAchsederMachtbezieht,scheintwenighilfreich,umdenalltagsweltlichen CharakterderFragenundKommentareimForumangemessenzubeschreiben.



8.4InterdiskursivesWissen:„(Subjekt)Applikation“

183

tätsentwürfe, Verhaltensempfehlungen, Interpretations und Deutungsmuster etc.– zur Verfügung gestellt; hier geht es vor allem um die „(Subjekt )‚Applikation’“(Link/LinkHeer2002,11).177DemzufolgeobliegtdemInterdiskurs einedynamischeFunktion;siebesteht„in[…]BrückenschlägenüberSpezialgren zenhinwegfürdieSubjekte.“(Link2005,87,Hervorh.d.Verf.)IndemderInterdis kursbestimmtespezialdiskursiveWissensmengen„synthetisiert“,sodasssievon den Alltagsmenschen „assimiliert“ werden können (Link/LinkHeer 2002, 11), übernimmt er, wie Link (2005, 90) betont, insbesondere für funktional ausdifferenzierte Gesellschaften mit einem hoch spezialisierten Wissenschaftssys temeinezentraleAufgabe.InanderenWorten,derInterdiskursgewährleistet,z.B. in Form von Allgemeinbildung, die Ankopplung des wissenschaftlichen Wissens andieLebensweltderSubjekte(Link2005,90).ImErgebnisbringtderInterdiskurs ein spezifisches, aus verschiedenen Quellen gespeistes, äußerst heterogenes, gleichsam ‚zusammen gewürfeltes’, grob generalisierendes und stereotypisieren des Wissen hervor. Dieses Wissen nimmt Link (2003a, 14) zufolge die Form von „‚interdiskursiven’Komplexen,Formen,VerfahrenundKategorien“an,die„meh reren Spezialdiskursen gemeinsam sind. Dazu gehören alle ‚Querschnitt Kategorien’[...],alleKollektivsymbole[...],alleMythenundelementarenNarrative [...].“178EshandeltsichdabeiumeinentdifferenzierendesWissen,dassichinnicht linearenStrukturen,literarischenFormendesGeschichtenErzählensbzw.inNar rativenebensoäußertwieinMetaphern,SymbolenundSprachbildern.Besonders häufiganzutreffensindbildhafteArgumentationen,mitvielen(mehroderweniger treffenden) Beispielen, die es erlauben, auf der sprachlichen Ebene spezialisiertes WissenneuzusammenzusetzenundmitdensubjektivenErfahrungendesAlltags zuverbinden.NachLink(2003a,14,Hervorh.dort)istes„dieses‚übergreifende’, ‚Brücken schlagende’ Wissen, das die Zerspaltung in spezialistische Teil Subjektivitäten zumindest kompensiert und das überhaupt das Wissen subjektiv  177 Link(2002,11)beschreibtden„ProzeßselektiverSynthesealsSpieldes‚Interdiskurses’und den ProzeßdieserAssimilationinSubjektivitätenals(Subjekt)‚Applikation’“. 178 „Unter ‚interdiskursiven’ Komplexen, Formen, Verfahren und Kategorien sollen all jene verstan den werden, die mehreren Spezialdiskursen gemeinsam sind. Dazu gehören alle ‚Querschnitt Kategorien’ (wie etwa ‚Freiheit’, ‚Gleichheit’, ‚Fortschritt’, ‚Entwicklung’, ‚Charakter’, heute etwa ‚Normalität’ und ‚Fairneß’), alle Kollektivsymbole (wie etwa ‚Maschine’, ‚Organismus’, ‚Gefäng nis’,‚Flut/Deich’,‚Schiff’,‚Kutsche’,‚Eisenbahn’, heuteetwa‚Auto’,‚Flugzeug’,‚Computer’),alle MythenundelementarenNarrative(wieetwaGeschichtenvonAufstiegundFall,Entwicklungs geschichten, dialektische Geschichten).“ (Link 2003a, 14) Im Falle unseres empirischen Materials treffen wir beispielsweise auf die Querschnittskategorien „Fortschritt“, „Selbstbestimmung“ und „Normalität“,aufKollektivsymbolewie„Ersatzteillager“und„Klon“wieauchaufunzähligeMy thenundNarrative,vondenendie„Evolutionstheorie“besondershervorsticht.



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8Wissen–Macht–Alltag:WissenssoziologischeAnschlüsse

applizierbarerhält.“InterdiskursivesWissenfindetmanin„Diskursparzellen“,„die mehreren Wissensbereichen und darüber hinaus dem sogenannten Alltagswissen (demElementardiskurs)gemeinsamsind.“(Link2005,86,Hervorh.d.Verf.) Zwei Hinweise können helfen, das Funktionieren interdiskursiver Wissens produktionzuverdeutlichen:ImAnschlussanWalterBenjamin(1977,443ff.)kann manfesthalten,dassdieVermittelbarkeitvonErfahrungandasNarrativgebunden ist.179ÄhnlicherfolgtderAnschlussderSubjekteanwissenschaftlichesWissenvor allem mittels Bildern und Metaphern. Dies gilt nicht nur für die Humanwissen schaften, die den Menschen explizit zum Gegenstand haben; vielmehr sind alle Wissenschaften, die anwendungsorientiert arbeiten und sich auf dem Markt be haupten wollen, mehr oder weniger gezwungen, die Wünsche, Interessen und BedürfnissederSubjekteinihreÜberlegungenundStrategieneinzubeziehen. Im Interdiskurs ist die mehrdeutige Kombination von Elementen aus ver schiedenenWissensordnungen von weitaus größerer Bedeutung als die Genauig keitvonDefinitionenodergardie‚Wahrheit’desbenutztenWissens.UndimUn terschiedzumSpezialdiskurssindVerweiseaufsubjektiveErfahrungendurchaus erlaubt bzw. sogar in hohem Maße legitim. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass Erlebtes, das sich nicht generalisieren oder stereotypisieren lässt, möglicher weiseinseinerRelevanzbegrenztist.Dem‚Zeitgeist’müssensichdieIndividuen schon anpassen, wenn sie sich verständlich machen wollen; ihre Bedürfnisse ent sprechenimgünstigstenFalleinemgewissen‚Stil’odereiner‚Mode’;ihrepersön lichenWünschesolltenkompatibelseinmitWissensordnungen,dievonwichtigen gesellschaftlichen Gruppen geteilt oder zumindest ‚mitempfunden’ werden kön nen.Gehtmandavonaus,dassdaswichtigsteZielinterdiskursiverPraxisdiekul turelle Integration der Subjekte ist, so dient das interdiskursive Wissen vorallem dazu, über das Erzeugen von Sinnschemata Widersprüche auszublenden und möglicheKonflikteimVorfeldzubeseitigen.DiesereintegrierendeFunktionkann aber an anderer Stelle auch Widersprüche, Konflikte und Brüche zu Tage treten

 179 Benjamin bindet die Vermittlung von Erfahrungen sogar ausdrücklich an die Erzählung und unterscheidetbeispielsweiseErkenntnisse,dieausRomanengewonnenwerdenkönnen,vonpu renInformationen.Narrativeseien„indenStoffdesLebenseingewebt(Benjamin1977,453),sie seien prinzipiell unabgeschlossen und von Erklärungen freigehalten und würden ein „episches Gedächtnis“(Benjamin1977,453)vermitteln.DerartigeErzählungenseienaufResonanzangewie sen, den Zuhörern sei die Interpretation jedoch freigestellt. „Mitten in der Fülle des Lebens und durchdieDarstellungdieserFülle“(Benjamin1977,443)wissedieErzählungRat;diesenurnoch wenigbekannteFormdesWissensseidurchkollektiveGewalterfahrungenweitestgehendzerstört worden.



8.4InterdiskursivesWissen:„(Subjekt)Applikation“

185

lassen,alsodesintegrierendwirkenunddamitdie‚(Subjekt)Applikation’blockie renbzw.verunmöglichen. InterdiskursivesWissenmachtalsobislangkaumbeleuchteteBereichederje weiligen Diskursordnungen sichtbar: Während z.B. der Expertendiskurs keine AntwortweißaufdieFrage‚Wiefühltsichdasan?’,thematisiertderLaiendiskurs auch Gefühle. Umgekehrt kann letzterer, insbesondere dann, wenn subjektives Erfahrungswissen ins Spiel gebracht wird, nur selten den Anspruch auf Allge meingültigkeit so überzeugend vertreten, wie dies dem Expertendiskurs möglich ist.FürdenSpezialdiskurssinddievielfältigenWissendersubjektivenErfahrung inkommensurabel;gleichzeitigstelltdieLegitimität,diedasErfahrungswissenim Alltaggenießt,eineProvokationfürdieGeltungskraftwissenschaftlichenWissens dar. An dieser Stelle muss der Interdiskurs ‚vermitteln’; am besten gelingt ihm diese (re)integrierende Aufgabe, indem er sich als Diskurstypus mit unscharfen Konturenzeigt.InterdiskursivesWissenmussalsomöglichstvageformuliertsein und Spielraum zur Interpretation lassen. Entsprechend dieser Funktion weist es solche Merkmale auf wie Bedeutungsaufladung und Polyvalenz, flexible Grenz ziehungen, Hybridität und Bildhaftigkeit. Hinzu kommt die Verbreitung über Massenmedien, Literatur, Populärreligion, Populärphilosophie, Populärwissen schaften und die Bezugnahme auf zivilgesellschaftliche Institutionen (Familie, Medien,Gewerkschaft,‚Szenen’,Musiketc.)alslegitimeSprecherpositionen. BetrachtetmandiedreiWissensformenimÜberblick(vgl.Tabelle12),sofällt auf,dassunterdrückte,marginalisierte,ungebändigteWissensformen,fürdiesich Foucault ja auch interessiert hat, in dieser vertikalen Anordnung nicht zu finden sind.ImfolgendenExkurssolldaherderZusammenhangvonMachtundWissen inseinerhorizontalenSchichtungerläutertwerden.  



186 Tabelle12

8Wissen–Macht–Alltag:WissenssoziologischeAnschlüsse

MerkmalssystematikderWissensformen

Dimension

Alltagswissen

interdiskursivesWissen

Gradder Spezialisierung

„elementares“Wissen, entdifferenzierendesbzw. wenigdifferenziert grobgeneralisierendes Wissen:komprimiert, stereotypisiert

hochspezialisiertes, differenziertesWissen

Stellenwertdes Subjekts

Intensive Subjektivierung

SubjektApplikationen werdenbereitgestellt

Misstrauengegenüber subjektiver Wahrnehmung; objektiv,neutral, wertfrei

Handlungs orientierung

Pragmatik, Handlungsdruck

Handlungsrelevanz

keinHandlungsdruck, keineunmittelbare Handlungsrelevanz

Logiken

pragmatische Logik:Rezeptwissen; Eindeutigkeitund Mehrdeutigkeitsind möglich

assoziativeLogik: Orientierungswissen, Mehrdeutigkeit, Konnotationen

Formallogik: Eindeutigkeit, denotativeAussagen, spezielleDefinitionen derBegriffe

Sprachliche Konstruktionen

Exempel,Analogien,narrativeSchemata,stereotype Figuren,Narrationen,Metaphern,Mythen, Kollektivsymbole,„Themen“,„Probleme“, „Argumente“ biographische Schilderungen, „Alltagsweisheiten“, Ratschlägeusw.

Mögliche der/die„Betroffene“ Sprecherpositionen mitsubjektiver Erfahrung:tendenziell „JedermannsWissen“

  



Spezialwissen

Verallgemeinerung, mathematischeFormel, Deduktion,Induktion, Beweiseusw.

ElementeausMassenmedien, Literatur,Populärreligion, Populärphilosophie, anwendungsorientierten Wissenschaftenwie Pädagogik,Psychologieetc. zivilgesellschaftliche Institutionen:Familie, Medien,Gewerkschaft, „Szenen“,Musiketc.: populär,aufgeteiltin verschiedene(Sub)Kulturen

derExperte/die Expertin,Institutionen derSpezialdiskurse (Wissenschaften): Tendenzzur Monopolisierungvon Wissen

8.5Exkurs:„UnterworfenesWissen“

187

8.5 Exkurs:„UnterworfenesWissen“ SeineigentlichesAnliegenhatFoucault(1999b,243)einmalsoformuliert:Esgehe ihmdarum,„eineGeschichtederverschiedenenVerfahrenzuentwerfen,durchdie inunsererKulturMenschenzuSubjektengemachtwerden.“Underträumt„von einemneuenZeitalterderWißbegierde.ManhatdietechnischenMitteldazu;das Begehrenistda;diezuwissendenDingesindunendlich;esgibtLeute,diesichmit dieser Arbeit beschäftigen möchten. Woran leidet man? Am ‚Zuwenig’. Ungenü gende,quasimonopolisierte, kurze, enge Kanäle.“(Engelmann 1999,19) Umdie sen Mangel zu beseitigen, schlägt er vor, dass der „Anschluss der Leute“ an die Kultur über das Wissen erfolgen und „so polymorph als möglich sein soll[te]. Es sollte nicht einerseits jene Bildung geben, die man erfährt, und andererseits jene Information, der man ausgeliefert ist. (Engelmann 1999, 20) Entsprechend dieser partizipatorischen Vision sieht Foucault den Diskurs kritisch. Er geht davon aus, dassdieProduktiondesDiskurses„injederGesellschaft[...]zugleichkontrolliert, selektiert,organisiertundkanalisiertwird“(Foucault1974,7).Dasunkontrollierte Reden, die „Konversationsmaschine“, wie es bei Berger/Luckmann (2000, 163) heißt, erscheint Foucault (1974, 25) als der „Raum eines wilden Außen“, den der Diskurskontrollierenmuss,zudessenBeherrschungeraufgerufenist.180Dabeiist das ‚Unkontrollierbare nicht ‚völlig frei’ von Vorgaben; vielmehr wird das „‚Au ßen’, in dem der Diskurs auftaucht und verschwindet, [...] bestimmt von Macht und Begehren, von Institutionen der Ausschließung, vom ‚Willen zur Wahrheit’, derjanureineFormdesWillenszumWissenist.“(Foucault/Seitter1974,165)An anderer Stelle spricht Foucault auch von einem „Wissen im wilden Zustand“ (1999a,212),„ein[em]multiple[n]Wissen,ein[em]Geheimwissen,ein[em]Wissen, das als Reichtum und als Garant von Unabhängigkeit funktioniert“ (Foucault 1999a,208).DiesesWissenwirddurchverschiedenePraktikenangeeignet;sowird, umeinBeispielFoucaults(1974,9)aufzugreifen,„derganzeunermeßlicheDiskurs desWahnsinnigen[…]zusinnlosemGeräusch“erklärt.SelbstdasSchweigendes Arztesz.B.inderPsychoanalyse,dasdieFunktionhat,dem‚Wahnsinnigen’zuzu hörenundeineDiagnosezustellen,seieineGrenzziehung,dieletztlichdenAus schluss legitimiere (Foucault 1974,10).Die ‚Unruhe’ wird gebändigt, der Diskurs ‚in geordnete Bahnen’ gelenkt, durch Institutionalisierung wird Kontrolle ausge übt. Angesichts dieses fortwährenden Disziplinierungsprozesses formuliert Fou  180 Indem sich Foucault (1974, 34f.) auf die Konzepte des „‚Außen’ und der ‚Grenzüberschreitung’“ bezieht, kündigt sich ein fremder undverfremdender Blick an – im Sinne einer „‚Ethnologie der eigenenKultur’“(Foucault/Seitter1974,150,152).



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8Wissen–Macht–Alltag:WissenssoziologischeAnschlüsse

cault(1974,7)dieentscheidendeFrage:„WasistdennsogefährlichanderTatsa che, dass die Leute sprechen und dass ihre Diskurse endlos weiterwuchern? Wo liegtdieGefahr?“ In der Vorlesungsreihe „In Verteidigung der Gesellschaft“ hat Foucault (1999a,15f.)dasThemanochmalsaufgegriffen;diesmalmachterein‚unterworfe nesWissen’aus–einschillernderBegriff,derdennochhilfreicherscheint,umdas ‚Unkontrollierbare’desDiskursesnäherzubeschreiben.Eshandeltsichzumeinen umein‚historischesWissen’,dasinabgelagertenSedimentenzwarnochexistiert, aber gleichsam verschüttet ist und mittels kritischer Gelehrsamkeit wieder zum Vorschein gebracht werden kann (man denke an die Psychiatriekritik oder die kritischeKriminologie);zumanderensind‚lokaleWissen’gemeint,alsovielfältige, alltägliche,unsystematischeund(regional)begrenzteWissensformen.DieseÜber legungensindeinlängeresZitatwert: „Unter ‚unterworfenen Wissen’ verstehe ich auch eine ganze Reihe von Wis sen, die als nichtbegriffliches Wissen, als unzureichend ausgearbeitetes Wissen abgewertet wurden: naive, am unteren Ende der Hierarchie angesiedelte Wissen, WissenunterhalbdesverlangtenKenntnisstandesunddeserforderlichenWissen schaftsniveaus.UndgeradeüberdieseausderTiefewiederauftauchendenWissen, diese nicht qualifizierten, ja geradezu disqualifizierten Wissen, durch das Wiede rauftauchen dieser Wissen des Psychiatrisierten, des Kranken, des Pflegers, des Arztes,parallelundmarginalzummedizinischenWissen,zumWissendesDelin quentenusw.–durchdiesesWissen,welchesich,wennSiesowollen,das‚Wissen der Leute’ nennen werde (und das keineswegs das gewöhnliche Wissen des ge sunden Menschenverstands, sondern im Gegenteil ein Spezialwissen, ein lokales, regionales, differentielles Wissen ist, das sich nicht in Einstimmigkeit überführen lässtundseinerKraftnurderSchärfeverdankt,mitdereszuallenumgebendenin Gegensatz tritt) – durch das Wiederauftauchen dieser lokalen Wissen der Leute, dieser disqualifizierten Wissen vollzog sich die Kritik.“ (Foucault 1999a, 15f.) An dieserStellethematisiertFoucaultdasSpannungsfeldzwischendemhochbewerte tenwissenschaftlichenWissenunddem‚disqualifiziertenWissen’,daserauchals ‚Wissen der Leute’ bezeichnet. Diesesdurch Ausschluss generierte Wissen taucht ihmzufolgeimPluralauf;essindmehrereWissen,diedurchHeterogenität,Anta gonismen,AmbivalenzenundParadoxiengekennzeichnetsind.FoucaultlegtWert darauf,dassessichbeidiesem‚WissenderLeute’keineswegsumdas‚gewöhnli cheWissendesgesundenMenschenverstands’handelt–esistalsonichtdas‚All tagswissen’imengerenSinnegemeint–,sondernumeineeigenständigeWissens form,dieEigenschaftenbesitzt,dieansonstennurdemSpezialdiskurszugeschrie benwerden.Das‚unterworfeneWissen’istvoneinergewissenEindeutigkeitund 

8.6Der„KreativZyklus“:Schlussfolgerungen

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Schärfe,d.h.vonbestimmendemCharakterundtrittmitseinerUmgebunginWi derspruch, besitzt also Machtwirkung. Es ist nicht verallgemeinerbar und lässt sich,wieFoucault(1999a,16)sagt,„nichtinEinstimmigkeitüberführen“,sondern bleibt„differentiell“.181 Fragt man nun danach, in welcher Beziehung das ‚unterworfene Wissen’ zu dendreiherausgearbeitetenWissensformensteht,somussmankonstatieren,dass essichkeinemderdreiErkenntnisstilezuordnenlässt;vielmehrliegtes‚quer’zu den verschiedenen Wissensformen. Sein ‚(Wieder)Auftauchen’ markiert Schnitt stellen der Macht; wenn es sich form(ul)iert, an die Oberfläche tritt bzw. sich in einemSprechaktäußert,zeigtesseineWiderständigkeit.ImZusammentreffenvon horizontaler Wissensdifferenzierung und vertikaler Machtachse entfaltet es seine Wirksamkeit. Die mitihm einhergehende ‚Unruhe’liegt darin begründet,dass es als‚disqualifiziert’gilt,undzwarvorallemausSichthegemonialerSpezialdiskur se.Jedochistesweiterpräsent,sowohlimSpezialdiskurswieauchimInterdiskurs und im Alltagsdiskurs; seine wesentliche Funktion ist „die Kritik“ (Foucault 1999a,16).

8.6 Der„KreativZyklus“:Schlussfolgerungen In diesem Kapitel ist deutlich geworden, dass für die empirische Untersuchung des 1000 FragenForums die analytische Kategorie ‚Wissen’ zentral ist; dabei lag derSchwerpunktnichtaufdeneherstatischenWissensbeständen,sondernaufden wissenssoziologisch viel interessanteren, dynamischen Wissensformen. Die Ausei nandersetzung mit wissenssoziologischen und diskurstheoretischen Ansätzen ergabeineTypologievondrei‚Erkenntnisstilen’,dieentlangvonsechsDimensio nen (Grad der Spezialisierung, Stellenwert des Subjekts, Handlungsorientierung, Logiken, sprachliche Konstruktionen, mögliche Sprecherpositionen) differenziert werden können (vgl. Tabelle 12). Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass die hier analytisch getrennten Dimensionen in der diskursiven Praxis starke  181 DasFoucault’scheKonzeptdes‚unterworfenenWissens’erinnertandas tacitknowing(Molander 1992,15ff.und40;Polanyi1985),einenWissensvorgang,dessenErgebnis‚sagbar’ist,währendder Prozessselbst‚tacit’oder‚implicit’verläuft.Diesesvorgelagerte‚stille’WissenistnachMolander (1992)durchfolgendevierMerkmalegekennzeichnet:1.NichtErklärbarkeitMenschengegenüber, diedamitnochkeineErfahrungengemachthaben,2.stillschweigendvorausgesetzteAnnahmenin FormvonhandlungsleitendenMetaphern.3.Kompetenzen,vondenenwirnureinindirektesBe wusstseinhaben,und4.KompetenzenbestimmtersozialerGruppen,denendasRechtaufeineei geneSpracheverweigertwird,dienichtangehörtwerdenoderdieeszumeigenenSchutzvorzie hen,gegenüberbestimmtenMenschenzuschweigen(vgl.Heid2000,158f.).



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8Wissen–Macht–Alltag:WissenssoziologischeAnschlüsse

Interdependenzenaufweisen.AuchdasquerzurDiskurstypologieliegende,inder Form von Kritik sich äußernde ‚unterworfene Wissen’ weist darauf hin, dass die vertikale Achse des MachtWissens nicht als einfache Hierarchie, sondern als ein komplexesKräfteverhältnisverstandenwerdenmuss.DieProfilierungdereinzel nenWissensformenhatinsbesonderedieMerkmaledesbislangdiskursanalytisch weniguntersuchtenAlltagswissenshervortretenlassen.Dieserengandiesubjek tiveErfahrunggekoppelte,nichtaufVerallgemeinerbarkeitabzielendeErkenntnis stil ringt um Anerkennung und Akzeptanz, d. h. er beansprucht Legitimität. Auf welche Weise dies in unserem Beispiel eines ‚interdiskursiven Gegendiskurses’, nämlich des 1000 FragenForums geschieht, wird in der empirischen Untersu chungzuerkundensein. Die Vorannahme lautet: Unter den medialen Rahmenbedingungen der Onli neplattform trifft das subjektive Erfahrungswissen des Alltags auf Elemente aus spezialdiskursivenWissensformen;esentstehteineeigenständige,aufIntegration und Sinnstiftung ausgerichtete Wissensform, die wir im Anschluss an Link als ‚interdiskursivesWissen’bezeichnen.IhreFunktionistdieVerknüpfungvonSpe zialwissen und alltagsweltlichen Handlungsbezügen durch (Subjekt) ‚Applikati on’.Eshandeltsichumeinekomplexeundwenigkonturierte‚wennmansowill: ‚wabernde’ und höchst anpassungsfähige Wissensform, eine Art populäres Wis sen,dasdaraufabzielt,demalltagsweltlichenBedürfnisnachkulturellerIntegrati onGenügezutunoder,diskursanalytischausgedrückt,dieFunktioneinerkultu rellenReintegrationderSubjektezuerfüllen.InanderenWorten,das‚interdiskur sive Wissen’ vermittelt zwischen den aus Spezialdiskursen abgeleiteten Subjekti vierungsfolien und den im Alltag entwickelten (Ver)Objektivierungen; es macht siemiteinander‚kompatibel’. Fragt man nach der Art der Vermittlung, kommt wiederum die Macht ins Spiel.Foucault(1999b,243)beschreibt,wiedasmachtvolleWissenderSpezialdis kurse, „welches das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt,esanseineIdentitätfesselt,ihmseinGesetzderWahrheitauferlegt,das esanerkennenmußunddasandereinihmanerkennenmüssen“,denAlltagprägt bzw. „im unmittelbaren Alltagsleben spürbar“ wird. ‚Technologien des Selbst’ erlaubenesdenIndividuen,„miteigenenMittelnbestimmteOperationenanihren Körpern,mitihreneigenenSeelen,mitihrereigenenLebensführungzuvollziehen, und zwar so, dass sie sich selbst transformieren [...].“ (Foucault 1984b, 35 f.) Es handeltsichbeidiesemWissenum„eineMachtform,dieausdenIndividuenSub jekte macht“ (Foucault 1999b, 243). Link (2005, 84ff., insbes. 88) interessiert sich ebenfallsimZusammenhangmitderSubjektivierungfür„dasVerhältnisvon‚ho rizontaler’Wissensteilungund‚vertikaler’Machtachse.“Ihmzufolgelenkendieim 

8.6Der„KreativZyklus“:Schlussfolgerungen

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Interdiskurs angebotenen Subjektivierungsangebote das Spezialwissen in be stimmte, für den Alltag der Subjekte anschlussfähige Bahnen. Diese Kopplung stelltsichjedochkeinesfallsalseineinfacherWeg‚vonobennachunten’dar,son dernistvielfältigenBrechungenunterworfen–mitdenentsprechendenFolgenfür das Subjekt, wie Foucault in einem Interview festhält: „Das Subjekt bildet sich nicht einfach im Spiel der Symbole. Es bildet sich in realen und historisch analy sierbaren Praktiken. Es gibt eine Technologie der Selbstkonstitution, die symboli scheSystemedurchschneidet,währendsiesiegebraucht.“(vgl.Dreyfus/Rabinow 1994a,289)AuchLink(2005,90)gehtdavonaus,dassderSubjektivierungsprozess und somit auch der Interdiskurs von „Kämpfen“, „Oppositionen“, dem „Gegen satzderStrategien“durchzogenist.Dabeibetonter,dassdieserProzessnichtein seitig,sondernalseinwechselseitigesGeschehenverläuft:„EsentsprichtderSub jektivierungsfunktion der modernen Interdiskurse, daß sie nicht bloß von ‚oben’, vomprofessionellenWissenderSpezialdiskursegespeistwerden,sonderngleich zeitig immer auch von ‚unten’, vom sogenannten Alltagswissen, dem Elementar diskurs.“(Link2003a,15) Zwischendemelaborierthegemonialenunddemelementarnichthegemonia len Wissen findet ein ständiger Austausch statt: „Die enge Komplementarität der beiden hierarchischen Stufen des Interdiskurses […] erscheint strukturell als ein ständigergenerativerKreislaufinbeidenRichtungen.“(Link2005,91)ImInterdis kurswird„neuesWissen‚abwärts’indieElementarkulturundindenAlltaggelei tetundumgekehrtsubjektiveundsozialalternativeAkzentuierungenundIdenti fizierungen‚aufwärts’indieelaboriertenInterdiskurseundindieSpezialdiskurse projiziert, was womöglich zu Konflikten und weiterer Wissensproduktion führt. Dieser kulturkonstitutive Kreislauf lässt sich als ‚Kreativzyklus von elementarer undelaborierterKultur’bezeichnen.“(Link2005,92) Fürdiesen‚Kreativzyklus’,d.h.fürdasAufeinandertreffenunddieVerkopp lung von Alltagswissen und Spezialwissen bildet der Interdiskurs die entschei dende Arena. Er stellt nicht nur die vom Spezialdiskurs gespeisten Subjektivie rungsangebotezurVerfügung,sondernistauchinderLage,denmarginalisierten privaten Wissensformen wie auch dem kritischen „Wissen der Leute“ (Foucault 1999a,16)Gehörzuverschaffen.Vermutetwerdenkann,dassdievielfältigenWis sen der subjektiven Erfahrung eine wichtige Ressource für das Machtwissen der SpezialdiskursebildenundsichgleichzeitiginihrerVielfältigkeitderAnalyseent ziehen. Kurz, subjektives Wissen stellt für die Geltungskraft wissenschaftlichen WissensimAlltageineProvokationdar;höchstwahrscheinlichkannes,wennesin ungeschminkter Form in die öffentliche Rede eingebracht wird, eine ungeahnte Machtwirkungentfalten.Wennesstimmt,dassdieangebotenenFolienderSubjek 

192

8Wissen–Macht–Alltag:WissenssoziologischeAnschlüsse

tivierungvielfachimWiderspruchzudenErfahrungendesAlltagsstehen–Fou cault (1999b, 245) spricht auch von „spezifische[n] Rationalitäten“ – , dann sind ganzverschiedeneReaktionenmöglich:Zurückweisungbzw.Abwendung,Wider stand, Anpassung oder – als vierte Möglichkeit – ein kreatives Potenzial (Link 2003a,23;2005,92).  



9 DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“– EinewissenssoziologischeAnalyse

Bereits die mittels Codebaum (vgl. Kap. 7) herausgefilterte formale Diskursord nung mit den Hauptkategorien Wissensbestände, Wissensformen, Sprecherposi tionen,DiskurskontrollenundStrategienhatdaraufhingewiesen,dassdasunter suchteInternetforumeinespezifischeArtundWeisedesDiskutierensermöglicht, diesichvonanderen,interdiskursivenDebattenrundumdasThemaBioethik(z.B. in Zeitungen, im Fernsehen, auf öffentlichen Veranstaltungen) deutlich unter scheidet.DieanschließendeAuseinandersetzungmitwissenssoziologischerTheo rie(vgl.Kap.8)führtdazu,dieempirischeUntersuchungzufokussierenunddie Kategorie der Wissensformen in den Mittelpunkt zu rücken. Die Grundannahme ist,dassverschiedeneDiskurstypenauchunterschiedlicheTypenvonWissenher vorbringen.IneinemSpezialdiskurshatmanesalsomitSpezialwissenzutun,im Interdiskurs mit interdiskursivem Wissen und im Alltagsdiskurs mit Alltagswis sen–solautetdastheoretischePostulat.Eserscheintplausibel,dassineinemver gleichsweise wenig regulierten Onlineforum insbesondere der Erkenntnisstil des Alltags größere Chancen hat, sich zu zeigen, als etwa im institutionellen Umfeld einer wissenschaftlichen Disziplin oder einer Zeitungsredaktion. Das Ziel der nachfolgendenArbeitsschritteistalso,eineDifferenzierungdesDatenmaterialsauf der Grundlage empirisch messbarer Merkmale von Wissensformen zu ermögli chen.DieTatsache,dasswiresbeidemKorpusüberwiegendmit‚alltagsgesättig ten’Äußerungenzutunhaben,lenktdenBlickaufdenErkenntnisstildesAlltags wissens. Seine Merkmale werden im Vergleich mit dem Spezialwissen unter sucht.182 Nach der Erläuterung des methodischen Vorgehens (vgl. 9.1), das mehrere Durchgänge mit unterschiedlichen Stichproben erforderte, strukturieren folgende vierLeitfragendieErgebnispräsentation:WiemanifestierensichdieMerkmalevon AlltagsundSpezialwissen?183 WelcheLegitimationsweisentreteninnerhalbdieser  182 DieempirischeAnalysedesinterdiskursivenWissensbleibtKap.10vorbehalten. 183 AndieserStelleistwichtigfestzuhalten:DadasInternetforuminformalerHinsichtnureineSpre cherposition ermöglicht, nämlich ‚den User’, konnten eigentlich nur Verweise auf Spezialwissen



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9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

beiden Wissensformen auf? Welche Muster der Abgrenzung zwischen den Wis sensformen sind im Internetforum zu erkennen? Gibt es empirisch nachweisbare Zusammenhänge zwischen Wissensformen und Diskursgegenständen bzw. Be griffsformationen?IneinemerstenArbeitsschritt(vgl.9.2)werdendurchdassys tematischeZuordnenvonTextstellenzudenWissensformendieDimensionenvon Alltags und Spezialwissen überprüft und in Form von Codiervorschriften präzi siert.DiezweiteFragesprichtdenMachtaspektderKommunikationan(vgl.9.3). BedingtdurchdasmedialesettingkonntezwarkeinUsereineprivilegiertePositi oneinnehmen,184jedochfandensichhäufigStrategiendes‚machtvollenSprechens’, etwaVerweiseaufAutoritätenzurBekräftigungdereigenenArgumentation.Da her ließe sich die zweite Leitfrage auch so formulieren: Was sind legitimierende gesellschaftliche Positionen? Die dritte Frage bezieht sich auf die Interaktionen innerhalbeinzelnerThreads(vgl.9.4).Mitihrsollteüberprüftwerden,obSpezial und Alltagswissen in konfliktreichen Beziehungen zueinander stehen. Die letzte Frage nach den Zusammenhängen zwischen Wissensform und Gegenstand bzw. Begrifflichkeit (vgl. 9.5) bezieht sich auf den partizipationsorientierten Hinter grunddesInternetforums(vgl.4.2):WürdensichVerknüpfungenzwischenforma ler und inhaltlicher Diskursordnung nachweisen lassen, würde dies die Vermu tung bestärken, dass mit einer an öffentlicher Teilhabe ausgerichteten Rahmung auchinhaltlicheDiskursanreizeeinhergehen.

9.1 MethodischesVorgehen:StichprobenziehungundAuswertungsplan ImMittelpunktdesmethodischenVorgehensstanddieAufgabe,dasDatenmateri alsystematischnachdenbeidenErkenntnisstilenAlltagswissenundSpezialwissen unterscheidenzukönnen.HierfürmusstenangemesseneVerfahrenderOperatio nalisierunggefundenwerden.FürdasAuffindenvonTextstellenzumAlltagswis senwurdezunächstausmethodischenGründender„StellenwertdesSubjekts“als Leitdimension gewählt: Alltagswissen sollte als „subjektives Erfahrungswissen“ codiert werden (vgl. 8.3). Zwar konnte durch diese Einschränkung die Wissens  undSpezialdiskursecodiertwerden.SelbstwenneineSprecherpositionals„ProfessorinfürEthik“ (Coding P43) angegeben wurde, machte es unter der Bedingung der medialen Rahmung wenig Sinn,diesnachprüfenzuwollen. 184 DazuwarenallenfallsdieModeratorenbzw.ModeratorinnendesOnlineforumsinderLage.Diese fügtenjedochindenKorpusder10.000ThreadskeineeigenenBeiträgeein.Andersverhieltessich mitdemMaterialder78Patenschaften:Hiergabeseinemanchmalsehrdeutlichintervenierende Moderation;aucheinzelnePatenmischtensichzuweilenindieDiskussionein.



9.1MethodischesVorgehen:StichprobenziehungundAuswertungsplan

195

formdesAlltagsnichtinihrerganzenKomplexitäterfasstwerden,jedocherwies sich angesichts der Materialfülle eine schnelle und wirksame Suchstrategie für aussagekräftige Textstellen als notwendig. Die gezielte Abfrage einiger weniger passenderSuchbegriffeversprachmehrErfolgalseinebreitangelegteSucheoder eine Zufallsstichprobe. Dank der Interdependenzen zwischen den sechs heraus gearbeitetenDimensioneneinesErkenntnisstils(vgl.Tabelle12)waraußerdemzu erwarten,dassandassubjektiveErfahrungswissennichtalleinderStellenwertdes Subjekts,sonderngleichzeitigauchdieanderenAspekte,nämlichGradderSpezia lisierung,Handlungsorientierung,Logiken,sprachlicheKonstruktionenundmög licheSprecherpositionengekoppeltseinwürden. UmFundstellenzumSpezialwissenausfindigzumachen,wurdeebenfallsauf wenigeSuchbegriffezurückgegriffen.DaderBereichdesSpezialdiskursesschärfer konturiert ist als derjenige des Alltagsdiskurses,185 konnten solche Begriffe ver wendet werden, die eindeutig mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstil ver knüpft sind, z.B. „Wissenschaft“, „Theorie/theoretisch“ oder „Definiti on/definieren“.MitderUntersuchungderbeidenWissensformen„Spezialwissen“ und „subjektives Erfahrungswissen“ (als Indikator für Alltagswissen)186 befanden wirunsweiteraufderWissensoberfläche,d.h.aufderSuchenachMusterninder Masse der konkreten Äußerungen. Einen Überblick darüber, welche Methoden sichaufwelcheStichprobendesMaterialsbezogen,gibtderAuswertungsplander qualitativenPhaseinAbbildung7.  

 185 WelcheDisziplinenimEinzelneneingebrachtwurden,findetsichimCodebaumunterderHaupt kategorie„Wissensbestände“(vgl.7.3). 186 In den folgenden Ausführungen wird der besseren Lesbarkeit halber der kürzere Begriff „All tagswissen“ benutzt. Im Fortgang der Untersuchung ist die Dimension „subjektives Erfahrungs wissen“indembreiterenKonzeptdesAlltagswissensaufgegangen.



196 Abbildung7

9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

AuswertungsplaninderqualitativenPhase

               DiebeidenCodes„Spezialwissen“und„Alltagswissen“solltenimMittelpunktder neuen Untersuchungsphase stehen. Die Grundlage für den Codebaum, der aus demArbeitsschrittdesOffenenCodierensresultierte,hattedieStichprobeIgebil det, die aus 414 Threads mittlerer Länge bestand. Um für die weitere Untersu chung die Operationalisierung der beiden nun als zentral angesehenen Codes zu vervollständigen, musste eine neue Stichprobe II gebildet werden. Zu diesem Zweck erfolgte die Auswahl der Textstellen nach dem Prinzip der Theoretischen Stichprobe(vgl.7.1.1).Nunmehrgingesnichtumeinemöglichstkompletteinhalt liche Erfassung des Materials, sondern darum, die Phänomene, die sich in den beidenCodeswiderspiegelten,inmöglichstallenihrenAspektenzuerfassen.Für dasAuffindenvonrelevantenTextenwurdedeshalbdieautomatischeSuchfunkti on von MaxQDA2 benutzt. Die Suchstrategie folgte einem Ähnlichkeitsprinzip: BeimsubjektivenErfahrungswissenwurdenz.B.imerstenSchritttheoretischabge leitete Begriffe („persönliche erfahrung“,„selbst betroffen“usw.) als Suchbegriffe verwendet sowie Wörter, die in den Fundstellen der Stichprobe I als charakteris tisch aufgefallen waren (z.B. „bei mir selbst“, „mein kind“). Weitere Suchwörter wurdenausgeeignetenTextstellen,dieaufdieseWeisegefundenwurden,ausge wählt. Der erste Durchlauf zur neuen Stichprobenziehung erbrachte 3.090 Beiträge, die für die beiden Codes in Frage kamen. Nach einer persönlichen Sichtung, bei der die Textstellen auf ihre Auswertbarkeit hin ausgewählt wurden, reduzierte 

9.1MethodischesVorgehen:StichprobenziehungundAuswertungsplan

197

sichdasMaterialauf23ThreadsmiteinerTextlängezwischen56und28.928Wör tern.DieserTeilkorpus,imFolgendenalsStichprobeIIbezeichnet,wurdefürdie anschließendeintensivereAnalyseineinegesonderteDateiüberführt.DieBearbei tungdientedemZweck,einepräziseBeschreibungderMerkmalevonSpezialwis senundAlltagswissenzuliefern,umzuintersubjektivnachvollziehbarenCodier vorschriften zu gelangen. Für die Formulierung der Codierregeln wurden zum einen die Ergebnisse der wissenssoziologischen Reflexion (Kap. 8) herangezogen, zumanderendieMemosundTextbeispieleausderPhasedesOffenenCodierens. DieVorschriftensolltenandietheoretischuntermauerteMerkmalssystematik(vgl. Tab. 12) anknüpfen und sie mit Ankerbeispielen versehen. Die Leitfrage für die Operationalisierung lautete: Welches sind die empirisch möglichst eindeutig zu bestimmendenMerkmalevonsubjektivemErfahrungswissenundSpezialwissen? Das Ergebnis dieses Arbeitsschritts wurde nochmals auf Tauglichkeit über prüft.ZudiesemZweckwurdedasSelektiveCodierenangewandt:Aneinemwei terenKorpussetztenunabhängigvoneinanderverschiedeneCodiererdienunmehr ausgereifte Codierstrategie um. Für diesen Schritt wurde die Stichprobe III gezo gen,nämlicheineZufallsauswahlvonThreadsausdenUnterthemen„PID,PND, Wunschkinder“ und „Sterbehilfe“ zusammen gestellt. Diese beiden Unterthemen ermöglichten einen Vergleich der Wissensformen hinsichtlich thematischer Ver knüpfungen.Im Unterthema „PID, PND, Wunschkinder“ gab es 558 Threads, im Unterthema„Sterben,Sterbehilfe,Töten“warenes279.FürdieBearbeitungmusste die Zahl der Threads auf eine überschaubare Menge reduziert werden: Aus der erstenGruppewurdejederfünfteThreadindieStichprobeIIIeinbezogen(n=111), aus der zweiten Gruppe jeder dritte (n=93). Da nach dem ersten Durchlauf noch RessourcenfürdieBearbeitungweiterenMaterialsübrigwaren,wurdemit„Euge nik“ eines der kleineren Themen komplett mit aufgenommen (n=40). Insgesamt beinhaltetedieStichprobeIIIsomit244Datensätze. AlsErgebnisderBearbeitungderStichprobenIIundIIIentstandeinTeilkor pusvonÄußerungen,dieentwederdereinenoderderanderenWissensformzu geordnet waren. Gemäß dem Auswertungsplan wurde eine erneute Durchsicht dieser Textstellen, d.h. ein TextRetrieval unternommen, um unter Berücksichti gung des jeweiligen Kontexts Strukturen zu entdecken, die Verknüpfungen mit inhaltlichen Dimensionen erkennen ließen. An dieser Stelle wurde beispielsweise die Frage verfolgt, ob es bestimmte Wissensbestände oder Themen gab, die eher mit Spezialwissen oder mit Alltagswissen kompatibel waren. Außerdem standen dieDatensätzeder78PatenschaftenzurVerfügung(vgl.2.4).DiesesMaterialbot sich an, um im Sinne einer DatenTriangulation (Seipel/Riecker 2003, 225) Quali tätssicherungzubetreiben.WennsichinunabhängigenStichprobenmitdenglei 

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9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

chenMethoden(inunseremFalle:miteinheitlichenCodiervorschriftenbeimSelek tivenCodieren)übereinstimmendeResultateerzielenließen,würdendieUntersu chungsergebnisseanPlausibilitätgewinnen.UmausdemMaterialderPatenschaf ten einen repräsentativen Ausschnitt zu erhalten, wurde die Zufallsstichprobe IV gezogen. Nachdem diese ungeordnete Menge von 1.000 Einzelbeiträgen dem Se lektiven Codieren unterzogen worden war und alle Textstellen, die beiden Wis sensformenentsprachen,markiertwaren,ergabsichjeeinTeilkorpuszumSpezi alwissen(TSW)undzumAlltagswissen(TAW).Mitinsgesamt916Fundstellenwaren diese patenschaftsspezifischen Korpora sehr viel umfangreicher als das in den StichprobenIIundIIIcodierteMaterial.DieserUmstandkonntegenutztwerden, um die Ergebnisse des TextRetrievals durch einen erneuten quantitativen Aus wertungsschritt zu kontrollieren. Eine Wortschatzanalyse auf der Basis des vor handenenDiktionärs(vgl.6.3.2)überprüftedieHypothesevonderunterschiedli chenVerwendungvonBegrifflichkeitenimAlltagsundSpezialwissen(vgl.9.5). Um der Leitfrage nach Abgrenzungen und Ausschlüssen zwischen den Wis sensformen(vgl.9.4)nachzugehen,wurdezunächstaufeinenThreadalsUntersu chungseinheitfokussiert.DerjeweiligeDiskussionsverlaufsolltealsIndikatorda fürdienen,obsicheineWissensform‚durchsetzt’.187Die23ThreadsderStichprobe IIwurdenbenutzt,umdieEinzelbeiträgeanhandihrerinhaltlichenBezugnahmen imZeitverlaufzureihen,sodasseinvisuellerEindruckderDiskussionsfädenent stand(Abbildung8).  

 187 DasVorgehengleichtaufdenerstenBlickeinerklassischenKonversationsanalyse,dieGesprächs anteilederTeilnehmendenalsIndikatorfürderenEinflussmisst.AllerdingswarenindieserStu diediePersonen,diesichzuWortmeldeten,nebensächlich.EswurdenlediglichinhaltlicheDis kussionsfädennachgezeichnetunddiesedaraufhinüberprüft,welcheWissensformenverwendet wurden.BeispielsweisewäredieStruktureinesDiskussionsstrangs,indemunterdenerstenzehn Beiträgenbeide Wissensformen vorkamen,inallenweiteren ÄußerungenabernurnochSpezial wissenverwendetwordenwäre,alsIndikatorfürdieDominanzderspezialdiskursivenWissens formindembetreffendenThreadgewertetworden.



9.1MethodischesVorgehen:StichprobenziehungundAuswertungsplan

Abbildung8

TypischeDiskussionsverläufeinStichprobeII

Typ1:KeineInteraktivität            Typ2:MehreremittlereDiskussionsfäden              Typ3:LangerHauptstrangmitNebenfäden  



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9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

AlledreiBeispielerepräsentierentypischeDiskussionsverläufe.DieTypen1und3 umfasstenjeweilseinViertelderStichprobe,daszweiteMusterentsprachrundder HälftederFälle.ImerstenTyp,derimmerhin43Beiträgeenthielt,entwickeltesich keinlängerer Diskussionsfaden.Fast alle Einzelbeiträge bezogen sich aufdieein leitendeFrage, nuranzwei Stellen gab es Reaktionen auf einenKommentar.Der zweiteTypließeinigekurze,paralleleDiskussionsfädenerkennen.Nurbeimdrit tenTypkannmanvoneinerdurchgehendeninhaltlichenStruktursprechen:Inder VisualisierungergabsicheinHauptstrangmiteinigenkleinerenNebensträngen. Trotz dieser Unterschiede in den Diskussionsverläufen wurde die gesamte Stichprobe II in die Codierung einbezogen. Das Risiko einer systematischen Ver zerrungderErgebnissedurchdasIgnorierenvonThreadsohneerkennbareinhalt liche Strukturen erschien zu hoch. Außerdem führte das Fehlen einer Systematik aufderEbenederDiskussionsfäden,dasinderempirischenArbeitzuTagetrat,zu einer methodologischen Selbstkritik. Offensichtlich waren wir von der impliziten Vorannahme188 ausgegangen, dass das Internetforum einer Diskussion unter per sönlichAnwesendenprinzipiellähnlichsei.AufderempirischenEbenestelltesich jedochheraus,dassdiefürdencommonsenseeinsichtigeMetaphervomInternetals virtuellen Raum bei der Suche nach inhaltlicher Ordnung und formaler Struktur hinderlichwar.InderKonsequenzließdereherfruchtloseVersuch,Diskussions fädenaufzuspüren,dasdiskursanalytischeVorgehennochstärkerindenVorder grundtreten:AusdieserPerspektivebildetedieeinzelneÄußerungundnichtder UserdiemaßgeblicheUntersuchungseinheit.FortanspielteeskeineRollemehr,ob die Äußerungen unmittelbar aneinander anschlossen oder in weit entfernten Be zugnahmenauftauchten.

9.2 MerkmalevonSpezialwissenundAlltagswissen ImMittelpunktdesfolgendenAbschnittsstehtdieersteLeitfragedieserUntersu chungsphase: Wie manifestieren sich die Merkmale von Alltags und Spezialwis senim1000FragenForum?InTabelle13sinddiejenigenMerkmalederWissens formenzusammengefasst,dieindieserempirischenPhaseherausgefiltert,d.h.mit Ankerbeispielen und Codierregeln empirisch untermauert wurden. Aus for schungspraktischenErwägungenwirddiedritteKategorie„interdiskursivesWis sen“ (vgl. 8.4) zunächst nicht berücksichtigt; erst in Kap. 10 wird sie stärkere Be achtung finden. Die präsentierten Fundstellen stellen daher nur einen Ausschnitt  188 OhnedieseVorannahmehättesichdieAnalysederDiskussionsverläufeerübrigt.



201

9.2MerkmalevonSpezialwissenundAlltagswissen

ausdereigentlichkomplexerenSystematikdar.Esseidaranerinnert,dassdieZu sammenstellung der Stichprobe auf der Basis der automatischen Suchfunktion erfolgte;diebenutztenSuchbegriffebezogensichbeimAlltagswissennuraufeine Dimension,nämlichaufdenStellenwertdesSubjekts.DieanderenfünfDimensio nenwurdenjedochimTextRetrievalmiterfasst.InsoferndientederfolgendeAr beitsschrittauchderÜberprüfungderHypothese,nachderdieherausgearbeiteten DimensionenzwarausanalytischenGründenzutrennensind,inderdiskursiven PraxisjedochInterdependenzenaufweisen. Tabelle13

MerkmalevonAlltagsundSpezialwissen

Dimension

Alltagswissen

Spezialwissen

1.

Gradder Spezialisierung

‚elementares’Wissen, wenigdifferenziert

hochspezialisiertes,differenziertes Wissen

2.

Stellenwertdes Subjekts

IntensiveSubjektivierung

Misstrauengegenübersubjektiver Wahrnehmung;objektiv,neutral, wertfrei

3.

Handlungs orientierung

Pragmatik, Handlungsdruck

keinHandlungsdruck,keine unmittelbareHandlungsrelevanz

4.

Logiken

pragmatischeLogik: Rezeptwissen; Eindeutigkeitund Mehrdeutigkeitsind möglich

Formallogik:Eindeutigkeit,denotative Aussagen,spezielleDefinitionender Begriffe

5.

Sprachliche Konstruktionen

biographische Schilderungen, ‚Alltagsweisheiten’, Ratschlägeusw.

Verallgemeinerung,mathematische Formel,Deduktion,Induktion,Beweise usw.

6.

Mögliche Sprecherpositionen

der/die‚Betroffene’mit subjektiverErfahrung: tendenziell‚Jedermanns Wissen’

der/die‚Experte/in’,Institutionender Spezialdiskurse(Wissenschaften): TendenzzurMonopolisierungvon Wissen

 1)GradderSpezialisierung DieDimension1,dasvonLink(2005,86)vorallemfürdenInterdiskurspostulierte Merkmal„entdifferenzierende[…]Wissensproduktion“hatsichbeiderCodierar beitalseineherweichesKriteriumherausgestellt,daserstinVerbindungmitan deren Dimensionen deutlich an Kontur gewinnt. Ein Beispiel: Die Formulierung 

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9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

„WerumHilfebittet,demsollteauchgeholfenwerden“(Thread3475)istwederdiffe renziert noch spezialisiert, somit ‚elementar’ im Sinne des Alltagsdiskurses. Gleichzeitig könnte sie als ‚Alltagsweisheit’ (vgl. Dimension 5) klassifiziert wer den. Dem zitierten Satz ist aber ein„Klares JA“ zur Sterbehilfe unmittelbar voran gestellt.AufgrunddiesesKontextswirddieAussagezusätzlichalsalltagsdiskursi ves‚Rezeptwissen’(vgl.Dimension4)interpretiert.Wieeine‚differenzierte’Äuße rung zur gleichen Problematik aussehen kann, demonstriert folgende Textstelle: „UnterstrengstenSicherheitskriterienbinichdafür,dasseinMenschsoerzurechnungs fähigistüberdasEndeseineseigenenLebensbestimmendürfensollte.DieEntscheidung sollte von einem (vonden behandelnden Ärzten) unabhängigenGremium überprüft wer den müssen  mit wenig überbordender Bürokratie.“ (Thread 3475) Im Ergebnis stim men die erste und die zweite Fundstelle überein: Beide lassen deutlich die Dis kursposition‚JazurSterbehilfe’erkennen.AberderletzteThread3475thematisiert Bedingungen und Verfahrensweisen, die auf Spezialdiskurse verweisen, nämlich auf das juristische Konstrukt der Zurechnungsfähigkeit und auf standardisierte EntscheidungsabläufeinderKlinik.  2)StellenwertdesSubjekts InderdiskursivenPraxisdesAlltagsäußertsichderhoheStellenwertdesSubjekts vorallemdurchdenGebrauchderIchPerspektiveunddenVerweisaufdieper sönliche Erfahrung. Der Subjektivierung muss dabei eine größere Bedeutung bei gemessen werden als dem Aspekt alltäglicher Erfahrung, denn einen (ent subjektivierten) Erfahrungsbezug weist auch das Spezialwissen auf, und zwar insbesonderedieNaturwissenschaft(vgl.8.2).DiebeimCodierenzuTagegetrete neDifferenzierungverläuftalsoentlangderAchsesubjektivesvs.objektivesWis sen. An dieser Stelle kommen zwei Aspekte des Spezialwissens zum Vorschein: Zum einen benutzen die User des 1000 FragenForums ‚objektiv’ im Sinne von überindividuell bzw. intersubjektiv nachvollziehbar. Zum anderen wird Objekti vität aber auch als Neutralität gegenüber individuellen Interessen oder als Wert freiheit verstanden. Diese Differenzierung weist darauf hin, dass im subjektiven ErfahrungswissendasexpliziteEinbringenvonGefühlenalslegitimeArgumenta tionsweisegilt,imSpezialwissendagegenalsunpassendangesehenodergarsank tioniertwird.AnhandvonzweiFundstellensolldiesnachvollzogenwerden. DiefolgendeArgumentationkönntemanzunächstdemAlltagswissenzuord nen, und zwar aufgrund der benutzten IchPerspektive: „Nachdem ich mit ansehen musste,wiemeine Mutter sterbenskrank ‚am Leben erhalten’wurde, obwohl vollkommen klarwar,dasssieinnerhalbdernächsten4Wochensterbenwürde,binicheinkonsequenter BefürworterderSterbehilfe.“(Thread3475)DieeigeneHaltungzurnichtnäherdiffe 

9.2MerkmalevonSpezialwissenundAlltagswissen

203

renziertenbzw.definiertenSterbehilfe(vgl.Dimensionen1und4)189wirdaufdas persönlicheErlebenbzw.treffender:aufdasErleidendesSterbensderMutterzu rück geführt. Die Betonung einer „konsequenten“ Einstellung lässt vermuten, dass keinInteresseaneinemAustauschvon‚objektiven’oder‚rationalen’Argumenten besteht,wiediesetwaimSpezialdiskursBioethiküblichwäre.SubjektiviertesWis sen, d.h. das, was man „mit [eigenen Augen] ansehen“ bzw. mit eigenen Sinnen erfassen kann, hat hier eine Gewissheit, die durch subjektferne Argumente nicht mehrzuerschütternist.GleichzeitigwirdindieserTextstelledasausdemAlltag stammende Erlebnis mit der öffentlichen Debatte zur Sterbehilfe verknüpft. Der hiergutzubeobachtendeBrückenschlagvomsubjektivenMiterlebeneinerSterbe situation hin zur typisierbaren Diskursposition als „konsequenter Befürworter der Sterbehilfe“ stellt eine für den Interdiskurs charakteristische Position insofern dar, als sieSubjektApplikation anbietet und deshalb größere Chancen hat, von ande renakzeptiertzuwerden,alseinenachdenRegelndesSpezialdiskursesBioethik formulierte, abstrakte Aussage. Dagegen erfordert der Erkenntnisstil des Spezial wissensbeieinemThemawiederSterbehilfemehrReflexivität,einedistanziertere Haltung zum Subjekt. Im nächsten Beispiel ist – trotz der Verwendung der Ich Form – ein solches Bemühen zu erkennen: „Wäre ich aber in der Lage, trotz meiner Anteilnahme objektiv zu denken, würde ich den Weg des geringsten Leidens des Meist Leidenden wählen.“ (Thread 9264) Die Gegenüberstellung von „Anteilnahme“ und „objektiv[.]denken“mitHilfevon„trotz“veranschaulichtüberzeugenddenniedri genStellenwertdesSubjektsfürdasSpezialwissen:DerangestrebtenObjektivität giltdieSubjektivierung(hier:mittelsEmotion)alseinStörfaktor,derzuüberwin denist.ErstdannistderWegfreifürdieFormulierungvoneindeutigen,allgemein gültigenAussagen(vgl.Dimensionen4und5).  3)Handlungsorientierung Die Bewältigung des Alltags erfordert ständig Entscheidungen, für die das All tagswissen Lösungen anbieten muss. Diese Pragmatik (im Sinne von Handlungs orientierung)wirdindemMaterialanvielenStelleninaugenfälligerWeisedeut lich. Ein gutes Beispiel liefert diese Äußerung: „Berate dich nicht mit Theoretikern, sondern frag Frauen, die im Rollstuhl sitzen oder solche Glasknochen wie du haben und selber Kinder gekriegt haben. Die können dir den besten, praktischsten Rat geben.“ (Thread 8887) Offensichtlich wird im Alltagswissen Theorie nicht im ‚positiven’  189 InÄußerungen,diealsSpezialwissencodierbarwären,hättezumindestdieDifferenzierungakti ve/passive Sterbehilfe vorgenommen oder problematisiert werden müssen, oder es wäre der Be griffSterbehilfedefiniertbzw.aufDefinitionsbemühungenverwiesenworden.



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9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

SinnalseineWissensformverstanden,diesichumPräzision,Widerspruchsfreiheit undObjektivitätbemüht,sonderneheralspraxisfern,abgehoben,unerfahren.Sie kann sogar als ‚unwissend’ abqualifiziert werden, wie ein Textbeispiel illustriert: „DieMeinungzumeinerKrankheitkannnurvonjemandemstammen,dereinsehrtheore tischesWissenüberdieKrankheithat.“(Thread9590)ImKontrastzum‚NichtWissen’ der „Theoretiker[.]“ steht der „praktischste[.] Rat“ (vgl. Dimension 5), der, wie im obenzitiertenThread8887,meistalsWeitergabesubjektiverErfahrungenverstan denwird.DerErkenntnisstilderPraxisistoffenbardeshalbder„beste[.]“,weiler Antworten auf entscheidende Fragen zu geben vermag: „Wie fühlt sich das an?“ und„WassollichinderkonkretenSituationtun?“DagegenhatdasSpezialwissen hiereinenstrategischenNachteil,dennesisteinProduktderAusdifferenzierung von Wissen. Es muss nicht dem Handlungsdruck des Alltags standhalten; viel mehr liegt, idealtypisch gedacht, seine Funktion darin, Fragen von theoretischer Relevanz zu lösen. Die Handlungsdistanz des spezialdiskursiven Erkenntnisstils veranschaulicht diese Fundstelle: „Allgemein ist die Beziehung zwischen einem For scherundseinenHandlungenzukomplex,alsdasssieineinergutformuliertenMaxime zusammengefasstwerdenkönnte.[…]Dochselbstwennmanzustimmt,dassesFällegibt besondersintechnischenBereichen,diekeineNähezupolitischenundsoziologischenFra gen aufweisen  in denen theoretische Arbeit unabhängig von der Biografie oder sozialen StellungeinerPersonstattfindet,folgtdarausnicht,dasseinesolcheDichotomieimWerk einesjedeneinzelnenTheoretikersvorhandenist.“(Thread9443)  4)Logiken Als typisch für den Erkenntnisstil des Alltags hat sich in der Analyse herausges tellt, dass die Regeln der Formallogik nicht in dem Maße übernommen werden, wie dies fürdas Spezialwissen vorausgesetzt werden kann. Äußerungen des All tagswissenslassenoftmehrereDeutungenzuundbenutzenvorzugsweiseBegrif fe, die mit Konnotationen überladen sind, oder auch Metaphern und bildhafte Vergleiche.„Hallo,vielleichtwillGottjagarnichtdas,wasihrsowollt.Ein6erimLotto machtauchnichtewigglücklich!!Wersodenkt,istmeinerMeinungnacheinEsel!Und Gott liebt zwar dieMenschen, aber ichdenke,dassdieGrenze der Liebe beim Klonen er reichtist!!“(Thread4526)DagegensindÄußerungen,dieihreBegriffeerstdefinie ren,bevorsieSätzemitihnenbilden,fastimmerdemSpezialwissenzuzuordnen.190 Folgendes Zitat ist ein gutes Beispiel für den wissenschaftlichen Erkenntnisstil:  190 EsseianLinks(2005,86)DefinitiondesSpezialwissenserinnert:„DieLogikderWissensspeziali sierungzielt[.]tendenziellaufEindeutigkeit,spezielleDefinitionderBegriffe,DominanzderDe notationundmöglichstBeseitigungallerUneindeutigkeitenundKonnotationen[…].“



9.2MerkmalevonSpezialwissenundAlltagswissen

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„BalancierteTranslokationheißtausgeglichenerStückaustausch.Wennertatsächlichaus geglichenist,bedeutetdasfürdiepersönlicheGesundheitinderRegelgarnichts.Informie renSiesichambestenineinergenetischenBeratung.Adressenunterwww.BVmedgen.de“ (Thread9523)NebenderDefinitioneinesFachbegriffesfindetsichindieserText stelle mit der WennDannFormulierung eine formallogische Konstruktion sowie einebenfallstypischerVerweisaufeineExpertenquelle(vgl.Dimension6).  5)SprachlicheKonstruktionen Auch dort, wo gleiche Begrifflichkeiten, z.B. „künstliche Befruchtung“, verwendet werden,zeigtsichbeimnäherenHinsehen,dasssichunterschiedlicheErkenntnis stile manifestieren. Die Wissensform des subjektiven Erfahrungswissens bedient sichvorzugsweisebiographischerSchilderungen;191eswerdenBeispieleaufgezählt oderAnalogienzuanderenSituationen(z.B.Adoption)hergestellt:„[B]evorichden WegderkünstlichenBefruchtungwähle,würdeichehereinKindadoptierenundihmein schönesLebenbieten...Esgibtmehrals‚genug’elternloseKinder...Istaberschonimmer einesehrpersönlicheEntscheidung...“(Thread9505).EbenfallstypischistdieFormu lierung von Ratschlägen (hier in der Wendung „würde ich …“), die sich mit den Dimensionen 2 (Subjektivierung) und 3 (Pragmatik) verknüpfen lassen. Ganz an ders sind spezialdiskursive Aussagen über künstliche Befruchtung beschaffen: „[I]nDeutschlanddürfennurverheiratetePaareeinekünstlicheBefruchtungdurchführen lassen, eine AuslandsAdoption für Alleinstehende ist in Deutschland nicht verboten.“ (Thread 5387) In dieser Fundstelle wird juristisches Spezialwissen artikuliert und dieÄußerungistineineFormgegossen,dieeineVerallgemeinerungvonEinzelfäl lenzulässt. Textstellen,dievölligvomalltäglichenHandlungsdruckabstrahieren,gehören ebenfalls eindeutig in die Kategorie Spezialwissen. Ein gutes Beispiel ist diese durchausapodiktischformulierteEinschätzung:„Theoriensindbeweisbar,dannsind siewahr,odersiesindfalsch,wenndasGegenteilbewiesenist.AlleanderenFällewerden mit der nötigen Vorsicht bis zum Beweis als Hypothese behandelt. Bis auf eine Handvoll Axiome gibt es keine Gesetzmäßigkeiten, die prinzipiell nicht beweisbar sind.“ (Thread 9183)DerÄußerungzufolgegibtes‚wahres’und‚falsches’Spezialwissen,dassich anderprinzipiellerfassbarenRealität‚beweisen’muss.DieseSichtweiserepräsen tiertzwarnureinevonmehrerenDenkschulenausdemBereichderWissenschaft, sieweistaberdiezentralenMerkmaledessystematischenundanVerallgemeine rung ausgerichteten Erkenntnisstils auf. Abschließend kann festgehalten werden:  191 Vgl.hierzuauchdasTextbeispielzurSterbehilfe.



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Während sich das Spezialwissen um Abstraktion bemüht, steht im Alltagswissen derEinzelfallinseinerKomplexitätanprominenterStelle.  6)MöglicheSprecherpositionen AuchinderletztenDimensionunterscheidensichdiebeidenErkenntnisstiledeut lichvoneinander.ImFalldesSpezialwissenssinddieSprecherpositionenzumeist mit gesellschaftlichen Institutionen verbunden, während das Alltagswissen per definitionemtendenziell‚JedermannsWissen’unddurchgeringeInstitutionalisie rungcharakterisiertist.SpezialwissensetztdieHerausbildungvonSpezialdiskur sen und Wissenschaftsorganisationen voraus, d.h. eigens ausgewiesene Orte, an denen Spezialwissen erzeugt und reproduziert wird. Diese Wissensform tendiert zur Monopolisierung; der Zugang wird durch formelle Voraussetzungen (Titel, Bildungsabschlüsse)ebensobegrenztwiedurchdieTatsache,dassfürdasEinstu dierenhochspezialisiertenWissensmehrRessourcenerforderlichsindalsfürdie Aneignung von Alltagswissen.192 Die Institutionalisierung wird in der folgenden Textstelle thematisiert: „Nicht jeder kann sich über dieses Thema so viel wissen aneig nen, wie die Leute die damit arbeiten, oder die es studieren bzw. erforschen!“ (Thread 9777) Die benutzten Verben „arbeiten“, „studieren“ und „erforschen“ verweisen auf Betrieb, Hochschule und Forschungseinrichtung193 – außerhalb dieser durch Ar beitsvertrag, Hochschulzugehörigkeit oder Forschungsauftrag eindeutig formali siertenPositionenscheintSpezialwissenalsonurschwerzugänglichzusein. Entsprechend gibt es, wenn im Internetforum nach den Quellen des Spezial wissensgefragtwird,regelmäßigVerweiseaufForscher,Universitäten,Fachlitera tur,‚seriöse’Medienetc.NichtseltenwirddieMöglichkeitgenutzt,mitHilfeder HypertextFunktionimInternetforumaufandereWebseitenzuverweisen,umdie genannteQuellezugänglichundüberprüfbarzumachen:„DieausführlichstenQuel len über PID liefert die Zeitschrift Human Reproduction, ESHREReports von 1999 bis 2002. Daher habe ich meine Zahlen, ist allerdings auf Englisch und für Fachleute. Die ZahlensindaberauchimBerichtderEnqueteKommission‚RechtundEthikdermodernen Medizin’ verwertet (Seite 90) unter http://www.bundestag.de/gremien/medi/index.html“ (Thread9755)HieristderRückgriffaufeinebestimmeSprecherpositionbesonders  192 ZumSpezialwissen,dashieralsIdealtypusdargestelltwird,isteinschränkendhinzuzufügen:Für „‚generelle’(Inter)Diskurseder‚öffentlichenMeinung’“(Link2005,92)geltenandereRegelnals fürspezialdiskursiveAussagen,dieiminstitutionellenRahmenderWissenschaftauftreten. 193 IndieserAufzählunggibtesnatürlichÜberschneidungen:EineHochschuleistgleichzeitigBetrieb undForschungseinrichtungetc..BeiderCodierungdesMerkmalskamesabernichtaufeineein deutigeZuordnungan,sonderndarauf,obeineInstitutionalsnotwendigvorausgesetztwird.



9.3LegitimationenundWissensformen

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konkret.AußerdemfindetsichindiesemZitatdieTendenzdesSpezialwissenszur Monopolisierung(„istallerdingsaufEnglischundfürFachleute“). Im Alltagswissen äußert sich die geringe Institutionalisierung beispielsweise in der Verwendung der Sprecherposition „Ich“ (vgl. Dimension1) oder eines all gemeinen „Wir“, wie dieses Zitat veranschaulicht: „Das, was andere schon auspro biert haben, können wir beobachten und glauben dann, unser eigenes Risiko, emotional oderpraktisch,minimierenzukönnen.Wiewirallewissen,istdiesevermeintlicheSicher heit nur zu trügerisch.“ (Thread 5135) In den sehr häufig zu findenden biographi schen Schilderungen (vgl. Dimension 5) präsentiert sich die Sprecherposition des Alltagswissens angereichert mit intensiver subjektiver Erfahrung: „Ich habe zwei Kinder, wovon das Älteste (mein Sohn wird am 22.12. 13 Jahre) zu 100% behindert ist. Wir lieben Matthias so, wie er ist, und solche Kinder brauchen doppelte Liebe und viel Kraft. Nichts ist schlimmer als eine Ablehnung.“ (Thread 1406); „[I]ch kenne aber kein lebensfroheres Kind als meine Tochter, die mit einem DownSyndrom geboren wurde!“ (Thread 1406); „Ich persönlich habe jedenfalls trotz täglicher Beschäftigung damit noch keinen Menschen kennen gelernt, der eine durch PID diagnostizierbare Genveränderung getragen hätte und sein eigenes Leben verneint“ (Thread 9590). Neben unmittelbarer persönlicherErfahrung,demErlebenam‚eigenenLeib’bzw.mit‚eigenenSinnen’ werden auch Beispiele genannt, die aus dem persönlichen Umfeld, der Ver wandtschaft oder dem Bekanntenkreis stammen: „In unserer Verwandtschaft hat schonmaljemandeineLeberinnerhalbkurzerZeitbenötigtundbekommen.Siekannjetzt sehen, wie ihre Tochter aufwächst.“ (Thread 0513); „Das war das Kind von Freunden meines Onkels. Er arbeitete damals in einem Kindergarten für behinderte Kinder.“ (Thread9590)DasempirischeMaterialliefertkeineHinweiseaufeinMindestkrite rium,daseineSprecherpositionerfüllenmuss,umimAlltagsdiskursmitredenzu dürfen. Dennoch istanzunehmen, dassnicht alle ‚Ich’ und ‚Wir’Aussagen glei chesGewichthaben.VermutlichgenießtdiePositiondesoderder‚Betroffenen’die höchsteAnerkennungunddieÜberzeugungskraftsinktmitwachsendemAbstand zur ‚authentischen’ subjektiven Erfahrung. Der Frage, ob es in dem untersuchten DiskursereignisauchmachtvollesSprechengibt,gehtderfolgendeAbschnittnach.

9.3 LegitimationenundWissensformen Die zweite Leitfrage der empirischen Untersuchung lautete: Welche Legitimati onsweisentreteninnerhalbderbeidenWissensformenauf?Siegehtüberdiebloße Merkmalsbeschreibung hinaus. Gemäß der benutzten Wissenstypologie und der Legitimationsebenen nach Berger/Luckmann (2000, 98ff.) war beim Spezialwissen 

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vorallemdieNennungvonWissenschaftsinstitutionenundihren„hauptamtlichen Legitimatoren“(Berger/Luckmann2000,102)zuerwarten.ImAlltagswissenkonn teentwederdievortheoretischeEbeneanzutreffensein,„simple[.],übliche[.]Ver sicherungen: ‚So ist es eben’; ‚Das macht man so’“ (Berger/Luckmann 2000, 102) oder aber es müssten sich Verweise auf subjektive Erfahrungen finden lassen (vgl.8.3.). TatsächlichistfürdasuntersuchteMaterialvorallemderBezugaufdasper sönliche Erleben charakteristisch: „[N]atürlich ist die persönliche Erfahrung immer leitendfürdieeigeneHaltung.“(Thread3475)DieseÄußerungfasstdietypischeLe gitimationsweisedesAlltagswissensprägnantzusammen:ErklärungenundRech tfertigungensinddanngültig,wennsiemitsubjektiverErfahrungverknüpftwer den können. Dieses Muster der Herstellung von Gewissheit funktioniert sowohl ohne Verallgemeinerung („Ich liebe meine Tochter, auch mit Fehlern. Daher halte ich das Selektieren von ungeborenem Leben wegen möglicher Erbkrankheiten/Genfehlern für falsch.“,Thread4867)alsauchaufderBasisangehäufterErfahrungen,diegenerali siertwerdenkönnen:„IchkannnurausmeinerpersönlichenErfahrungsprechen:Sobald essichumeineWunschkindSchwangerschafthandelt,wollenFrauendasKind“(Thread 9432);„IchhabePNDfrüherziemlichunproblematischgesehenwiesicherdiemeistenin unserer Gesellschaft. […] Es waren eigene Beratungserfahrungen, die das verändert ha ben.“(Thread9432) NebenderErfahrung‚ausersterHand’führendieUserauchPersonenausder Familie oder dem Umfeld als Quellen legitimen Wissens an: „ich vertraue bei dem meisten,wasichtue,aufmeinemutter(ichbinerst16).“(Thread1906);„Ichkennemind. dreiElternpaaremitbehindertenKindern.AlledreihabennachdembehindertenKindnoch gesunde Kinder bekommen.Alle drei sagten mir persönlich,dass sie zum einen auch mit dem behinderten Kind glückliche Momente haben, dass es zum anderen eine besondere Einheit in ihren Familien gibt.“ (Thread 5171); „Hier […] lebt auch eine Frau, wo das KindanalogeBeschwerdenhatwiedieMutter.BeideimRollstuhl.Abersieisteinesoun konventionelle,organisatorischbegabtePerson,dasssiealleszumEventmacht.DasKind wurdez.B.imKindergartenliebevollvongesundenKindernbemuttert,sieleitetihreeige nekleineFirma...Fragrum!“(Thread8887)ImletztenZitatkommteinegrundsätzli cheProblematikzurSprache,diemitderAusdifferenzierungdesWissensentstan denist:Nichtjede/rkannErfahrungenaufallenGebietenmachen,diederAlltags diskursumfasst.AusdiesemGrundsiehtsichdasLegitimierungsmusterdesAll tags des Öfteren gezwungen, auch auf Erfahrungen ‚aus zweiter Hand’ zurück zugreifen. Doch dabei ergibt sich das Problem: Wessen Erfahrungen sollen ‚be nutzt’,alsoindieDiskussioneingespeistwerden? 

9.3LegitimationenundWissensformen

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Das Material lässt erkennen, dass bei den Legitimierungsbemühungen zwei Kriterien eine Rolle spielen: Zum einen wird die unmittelbare Betroffenheit einer konkreten Person zur Geltung gebracht; sie garantiert, dass die ursprünglich ge machte Erfahrung für das fragliche Wissen (über Behinderung, medizinische Be handlung, allgemeine Lebensführung etc.) relevant ist. Je intensiver, umfangrei cheroderauchnurjehäufigerdiepersönlichenErfahrungmitdemThemenbereich ist, desto kompetenter gilt der oder die Sprecher/in in den Augen der Anderen. Zumanderenhatoffensichtlichaucheinpersönliches,mitsozialerundräumlicher Nähe verknüpftes Vertrauensverhältnis zu ‚Betroffenen’ Überzeugungskraft. KenntmanpersönlichkeinePersonenmiteinschlägigerErfahrung,gibtessieviel leichtamWohnortoderindernäherenUmgebung;derRatschlaglautetalso:„Frag rum!“ ImPrinzipgeltendieseAspekteauchfürdieLegitimierungsbemühungenan derer Wissensformen, wobei die Betroffenheit zunehmend der abstrahierten (im Falle des Spezialdiskurses: theoriegeleiteten) Erfahrung weicht und mit schwin dendersozialerundräumlicherNähedaspersönlicheVertrauensverhältnisdurch ein (nur auf den ersten Blick paradoxes) ‚anonymes Vertrauen’ ersetzt werden muss.InderfolgendenTextstellewirdbeispielsweisedenErfahrungeneinerAuto rinvertraut,ohnesiepersönlichzukennen,undzwaroffenbar,weildieangebote ne Subjektapplikation als passend empfunden wird: „Ich habe einige Bücher von Elisabeth KüblerRosse [sic], der Sterbeforscherin, gelesen. Sie beschreibt, was Sterbende ihrimLaufeihrerlangenTätigkeitberichtethaben;dieLehrendarauskannjederfürsich selberziehen.IchhabevielausdenErfahrungengelerntundhabemir‚meine’Vorstellung vom Tod erarbeitet. Seither lebe ich viel ruhiger und zufriedener.“ (Thread 9869) Diese Äußerung erweist sich als ein typisches Beispiel für gelungene Legitimierung im Interdiskurs. WährendimAlltagswisseneherseltendieFormulierung‚Soisteseben’und viel häufiger die Strategie der ‚intensivsten Subjektivierung’ anzutreffen ist, ent spricht die Legitimationsweise des Spezialwissens der eingangs formulierten Er wartung; augenfällig ist tatsächlich die Nennung ‚hauptamtlicher Legitimatoren’: „Laut Poppergilt eine Theorie solange immer alswahr,bis sie widerlegt ist.Die Theorie vomqualitativenUnterschiedzwischenMenschundTieristbishernichtschlüssigwider legtworden.“(Thread9317)AlstypischfürdenSpezialdiskursdarfdashierbenutz te, scheinbar beiläufige name dropping gelten, nämlich die Erwähnung des Sozial philosophen „[Karl] Popper“, der in der Wissenschaftstheorie für den Kritischen Rationalismussteht.DaderNamensnennungkeineweitereErläuterungfolgt,geht derUserwohldavonaus,dassderNachnameunddiedamitverbundenePosition 

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innerhalb des Spezialdiskurses allgemein bekannt sind und somit als Legitimati onsquellevollaufgenügen.194 Dassdas1000FragenForumeindiskursivesEreignisimInterdiskursist,zeigt sichandenjenigenTextstellen,diezwaranSpezialwissenanknüpfenundsichauf SpezialdiskursealsLegitimationsquellenberufen,esabermitderdortgeforderten Eindeutigkeitnichtsogenaunehmen:„NachderzeitgängigenphysikalischenTheorien nimmtdieEntropiedesUniversumsunaufhörlichzu“(Thread4896).DieseÄußerung ist so unpräzise wie die Formulierung: „Wissenschaftler haben herausgefunden, dass dieErdebeimSterbenderSonneelendigverbrennenwird.“(Thread6911)Offensichtlich versuchen diese Fundstellen, durch die bloße Erwähnung spezialdiskursiver Schlüsselbegriffe Legitimation herzustellen. Festgehalten werden kann: Für die Annahme von Gewissheit zählt im Alltagswissen die Authentizität mehr als eine abstrakteWahrheit.GanzoffensichtlichwirddiepersönlicheErfahrungalsLegiti mationsquelle akzeptiert. Darum kann das Alltagswissen in der Regel auf eine expliziteundsystematischeRechtfertigungvonÄußerungenverzichten,während dasSpezialwissengenauzuidentifizierendeLegitimationsquellenbenennenmuss. Fasst man die legitimen Äußerungsmodalitäten der beiden Wissensformen mit je einemSchlagwortzusammen,soerhältmanfürdasSpezialwissendenTypusdes Experten oder der Expertin, für das subjektive Erfahrungswissen den Typus des oder der ‚Betroffenen’. Dass die Expertenrolle in den Äußerungen des Onlinefo rums auftaucht, ist nicht wirklich überraschend. Bemerkenswert ist jedoch, dass dieAnalyseergibt,dassesauchimeigentlichegalitärangelegtenBereichdes‚Je dermannsWissens’eineHierarchisierungvonAuthentizitätgibt:DiehöchsteLegi timation besitzt demnach die Betroffenheit am ‚eigenen Leibe’. Darauf folgen die persönlicheNähezuBetroffenen;SchilderungenausFamilieundVerwandtschaft eignen sich gut zur Bekräftigung einer Argumentation. Immer noch Überzeu gungskrafthabenErlebnisseausdemweiterenBekanntenkreisundErfahrungenin Beruf, Zivildienst etc.. Die schwächste Position nehmen Erfahrungen aus zweiter Handein,inderArtvon:‚Habemichdamitbeschäftigt’oder‚Ichkennejemanden, derkennt…’.AuchMedienberichteoderLiteraturwerdenvondenUsernvielfach erwähnt;hiersinddieGrenzenzuminterdiskursivenWissenfließend,jenachdem, wie stark ausgeprägt die Verknüpfung zwischen Medieninhalt und persönlicher Sichtweiseist.  194 AnderedemSpezialdiskurszuzuordnendeFundstellen–wiederbereitserwähnteThread9755– nennenInstitutionenundGremienwie„EnqueteKommission“,Fachzeitschriftenwie„HumanRep roduction“oderWebseitenalsQuellen(vgl.9.2).



9.4AbgrenzungenundAusschlüsse

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9.4 AbgrenzungenundAusschlüsse Bisjetztgingesdarum,beispielhaftRegelnfürdieProduktionvonAussagenhe rauszuarbeiten, die innerhalb einer Wissensform als legitim gelten können. Da in deruntersuchtendiskursivenPraxiszweifellosalleWissensformenauftreten,stellt sich auch die Frage nach den Machtbeziehungen zwischen Alltags und Spezial wissen. Der folgende Abschnitt ist somit der dritten Leitfrage gewidmet: Welche Muster der Abgrenzung zwischen den Wissensformen sind im Internetforum zu erkennen?ZweiSzenariensinddenkbar:WenndieErkenntnisstilesichaufsepara te gesellschaftliche Sphären beziehen, wie Soeffner (2004, 17ff.) postuliert, wäre eine Koexistenz möglich, die kaum Abgrenzungsstrategien erfordert. Möglich ist aucheineKonkurrenzsituation.AnhandverschiedenerFundstellenwurdebereits deutlich,dassinterdiskursivesWisseneingesetztwird,umBrückenzwischenob jektiviertemSpezialwissenundsubjektiviertemAlltagswissenzuschlagen,etwain derFormvon‚verwissenschaftlichtenAlltagsweisheiten’.Esscheintplausibel,dass nebendiesenintegrativenBemühungenauchMachtkämpfe,d.h.Abgrenzungsver sucheundExklusionsstrategienimMaterialzufindensind. EineBeobachtungineinemThreadsprichtfürdieseVermutung;hierwarfol gende Dynamik im Gange: Nachdem ein User in drei aufeinanderfolgenden Bei trägen zunächst Argumentationen nach dem Muster des Spezialwissens verwen dethatte,ohnedassihmeineerkennbareBeeinflussungderDiskussiongelungen wäre,wurdenimviertenBeitrageigeneErfahrungeneingebracht:„Ichhabeleichte Erbschädenundwäresehr,sehrfrohgewesen,hättemansievormeinerGeburtbeseitigt, weil mir dann ein Leben voller Demütigung und Depressionen erspart geblieben wäre, trotz der ständigen Ermutigung meiner Eltern. […] Ich weiß schon, wovon ich rede!“ (Thread9590)DiesesUmschwenkenwegvomSpezialwissenhinzumsubjektivier ten Alltagswissen kann als Diskursstrategie gewertet werden. Nachdem spezial diskursive Wissenselemente nicht als Trumpf ausspielt werden konnten, weil sie offensichtlich nicht akzeptiert wurden, wurde die neue Karte ‚subjektive Erfah rung’gezogen.DieseReaktionkannalsKonzessiongelesenwerden:Zumindestin diesem Fall waren die Spielregeln des Alltagswissens offensichtlich dominant. Diskursanalytischlässtsichformulieren:MachteffektezeigensichimDiskursnicht nur, wenn die jeweils andere Wissensform auf Opposition trifft, sondern auch dann,wennsiealsnichtsagbargiltoderbzw.ihreLegitimitätbestrittenwird. Wie schon in der Analyse der Sprecherpositionen erkennbar, lautet eine im Alltagswissen häufig angewandte Ausschlussregel: Wer nicht eine persönliche Erfahrung(mitdemGegenstandX)gemachthat,solllieberschweigen.Tatsächlich wird im Internetforum die persönliche Erfahrung insbesondere im Zusammen 

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hangmitWerturteilenzumTeilmassiveingefordert:„Würdemichmalinteressieren, obeinederPersonen,diehiereinsolchesStatementabgegebenhabenauspersönlicherEr fahrungsprechen.“(Thread1582);„Ichfragemich,wiekanneingesunderMenschsowas überhauptbeurteilen?WiekanneinMannbeurteilen,wanndasLebenimLeibeinerFrau beginnt?“ (Thread 9590) Die Grenzen werden mehr oder weniger strikt gezogen. Während die erste Äußerung „persönliche[.] Erfahrung“ nicht näher spezifiziert, schließtdiezweitekategorischalle‚gesundenMenschen’vomAlltagswissenüber das Leben mit einer Krankheit und alle Männer vom Wissen über „Leben im Leib einerFrau“aus.InanderenFällenistdieBeschränkunglegitimerSprecherpositio nen so strikt, dass sich eigentlich niemand mehr äußern dürfte: „Ich denke, das Recht,dieseFragezustellen,hatnurjemand,derineinemHospizgestorbenist!“(Thread 5038) Diese Vorgabe kommt einer Tabuisierung gleich. Interessant ist, dass die Ausschlussregel auch von denjenigen akzeptiert wird, die dadurch in eine unter geordnete Position geraten; in einer Überhöhung der ‚Betroffenen’Position wird geradezuunterwürfigformuliert:„IchhabeübrigenskeineErfahrungenmitDownern gemacht,willmichjetztauchweiternichtäußern,verfolgeaberdieDiskussionmitInteres se.“ (Thread 8685) Neben dem Abgrenzungskriterium „keine Erfahrung“ finden sichauchDistanzierungengegenüberbestimmtenDiskurspositionen:„MeineEnt scheidungwärefüreineBeendigungderSchwangerschaft,dubistsojung,dukannstnoch oftgenugeingesundesKindbekommen.UndzudenGottesfürchtigenhier:Gottwirddas Kindnicht24StundenamTaghaben,sonderndieMutter,diealsMenschnurbegrenzte Kräfte,NervenundvorallemGeldbesitzt,denneinsolchesKindbedeuteteinenextremen MehraufwandandenebengenanntenDinge“(Thread1714).DieinAbtreibungsdebat tengeläufigeDiskursposition,dasreligiösbegründeteGebot‚Dusollstnichttöten’ müsseauchfürdenFötusgelten,wirdhiernichtetwamiteinertheologischenoder ethischen Argumentation konfrontiert, sondern mit der pragmatischen Logik des Alltagswissens: „Gott wird das Kind nicht 24 Stunden am Tag haben“. Implizit wird damit der Anspruch der so genannten „Gottesfürchtigen“, den Schwangerschafts abbruchverbietenzulassen,bestritten. Bei den zitierten Abgrenzungen handelt es sich nicht um die üblichen Pro undContraArgumentationeninnerhalbeinundderselbenDiskursordnung.Viel mehrgehtesdarum,sichgegenseitigdieLegitimationabzusprechen,etwasGülti ges über ein strittiges Phänomen sagen zu dürfen: „Man merkt jedem Kommentar deutlichan,obderjenigeUmgangmitBehindertenhatodernicht.Esistwieimmer,hier gebenLeuteihreMeinungab,diekeineAhnunghaben,wovonsiereden.Treffteuchdoch malmitBehinderten,lerntsiekennen.Machteuchschlau,bevorihrweitersoeinenMist voneuchgebt.“(Thread0056)„KeineAhnunghaben“bedeutethier,keinepersönliche Erfahrung mit dem Diskursgegenstand, den „Behinderten“ gemacht zu haben. In 

9.4AbgrenzungenundAusschlüsse

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Spezialdiskursen bedeutet dagegen mangelnde Sachkenntnis, keine ‚objektiven’, innerhalb spezieller Wissensordnungen gültigen Informationen zu besitzen. Aus der Sicht des Spezialwissens verkehrt sich die Bewertung der Schlüsselressource desAlltagsdiskursesinsGegenteil:„ooooh,einbetroffener.ichhabeübrigensaucheine brille,ichhoffe,dasistbehinderunggenug,damitmeineargumentationinhaltbekommt.“ (Thread 8441) Diese Äußerung versucht, mittels Sarkasmus die Sprecherposition der Betroffenen zu diskreditieren. Andere Textstellen weisen deutlicher auf die Merkmale hin, in denen sich die Wissensformen unterscheiden: „Sie reagieren wie viele andere emotionale Menschen, denen ich meine Thesen und Ansichten unterbreite. LeidermussichmichoftmitunsachlichenundpolemischenKommentaren[…]gegenüber sehen.“(Thread9590)IndiesemZitatwirdeinestrategischeOppositionaufgebaut: hierdiesachliche,neutraleWissenschaft(„Thesen“alswissenschaftlichbegründete Aussagen),dortunsachlicheGefühlsäußerungen.DieBotschaftlautet:Werindie semFeldargumentierenwill,musszuallererstseineEmotionenkontrollierenkön nen. Eine Äußerung, die den Machtanspruch von Spezialwissen besonders an schaulichformuliert,isteinlängeresZitatwert: „In Diskussionen mit sogenannten ‚besorgten Bürgern’ kommt fast immer eines he raus:SiewerdenvoneinerdiffusenAngstgeplagt,dakönnteetwasgefährlichsein,unddie achsoselbstlosenUmweltorganisationenbehaupten,esseigefährlich.Deswegenhaltensie ihre Meinungfür begründet, geben aber selbst zu, uninformiert zu sein und klagen, nie mandwürdedasfürdieübernehmen.DieBücher,indenendieInformationenstehen,sind aberfreiverkäuflich.DieMenschenlesensienurnicht.Jeder,derjammert,erseiuninfor miert,müsstesichanseineeigeneNasefassenundsagen:‚IchhabekeineAhnung,weilich mich den Informationen verweigert habe. Ich kann und darf zu dem Thema eigentlich nichts sagen.’ Wissenschaft ist nicht esoterisch, sie ist öffentlich. Die Ergebnisse stehen allenzurVerfügung,diewillenssind,siezulesen.DasgroßeJammern,eswürdenInfor mationenvorgehaltenundverschleiert,istlediglicheinSymptomfürdieselbstverschuldete Unmündigkeit.DasVolkhatdieMacht,alleszuwissen,waseswissenwill,undzubeeinf lussen,waseswirklichbeeinflussenwill.[…]DieDemokratieistsehrwohlzeitgemäß,weil sich bislang keine andere Regierungsform gefunden hat, die vor Tyrannei schützt. Aber vielleichtsolltemanzynischgesprochenwirklicheineintellektuelleAristokratiewieder einführennurder,derbereitistzudenkenundsichzuinformieren,darfauchentschei den.DasVolksolltesichendlicheinmalklarmachen,dassineinerInformationsgesellschaft WissenundDenkendenStatusethischerTugendenbesitzen.“(Thread1555) DeutlicherkannmandieAusschlussregeldesSpezialwissenskaumformulie ren. Offensichtlich gibt es einen blinden Fleck in dieser Argumentation: Wissens formen, die sich nicht in der Gestalt von scheinbar neutralen und objektiven In formationenpräsentieren,existierennuralsUnwissenbzw.Uninformiertheit.Be 

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merkenswertandieserFundstelleistauchdieBezugnahmeaufEthikundPolitik. UnterdemStichwort„Informationsgesellschaft“wirdthematisiert,dassdasSpezial wissenseinenangestammtenPlatzinderWissenschaftverlassenhatundimInter diskurs nunmehr seine Geltungsansprüche ausweitet. Wenn auch die erwähnte „intellektuelle Aristokratie“ Utopie ist, offenbart diese Formulierung dennoch die Logik der Machtverteilung, die offensichtlich befürwortet wird: Die am höchsten bewertetengesellschaftlichenPositionensollenExpertenbesetzen. Wie das Alltagswissen kennt auch das Spezialwissen konkrete Diskursposi tionen,zudenenesinOppositionsteht.ImmerwiedergenanntwerdendieMas senmedienunddieKirche,dieimVerdachtstehen,keinobjektivesWissenzupro duzieren:„DieMediensagenunsnichtimmerdieWahrheit,allesvonRTLundKonsor ten ist mit Vorsicht zu genießen, da gehts mehr um Schlagzeilen und Profit. Für For schungsergebnisse sind offizielle InternetSeiten von Universitäten und entsprechenden Instituten zu empfehlen, ebenso wie aktuelle Fachliteratur.“ (Thread 7952); „Die Kirche kannunsnurlehren,wassieausihrerBibelzulesenversucht(undwassiedarausliest, bringtunsnäherzumHassalszurNächstenliebe,sieheauchdiekirchlicheEinstellungzu Homosexualität usw.), aber die Wissenschaft kann uns lehren, was die Wirklichkeit ist.“ (Thread0513)DieBeziehungenzwischendenbeidenuntersuchtenWissensformen sind jedoch nicht immer konflikthaft. Die empirische Analyse hat ausreichend Textstellenhervorgebracht,umdieseAusgangstheseüberdenkenzumüssen.Das folgendeBeispielzeigt,dassdieKombinationbeiderWissensformenalsLegitima tionsstrategienochüberzeugenderwirktalseineArgumentationaufderBasisnur einesErkenntnisstils:„IchhabeKontaktzuvielenCFlern195[...]IchbinPsychologinan einer CFKlinik [...] Ich jedenfalls als kranke Person und schwangere Frau maße mir an, diese Fragen auf einem anderen Niveau beantworten zu können als jeder Gesunde oder Manneskönnte.“(Thread9590)Betroffen,weiblich,schwanger,Kontaktzuanderen Betroffenenundauchnochprofessionellerfahren:DemSpezialwissenalleinwür deeinesolcheIntegrationvon‚neutralem’undzugleich‚subjektivem’Wissennicht gelingen.InnerhalbderOrdnungdesAlltagsdiskurseserscheintdiesePositionals unangreifbar und auch gegenüber der Stellungnahme einer Expertin mit Spezial wissenistsieüberlegen.ImErgebniskanndieempirischeAnalysedieFragenach den Beziehungen zwischen subjektivem Erfahrungswissen und Spezialwissen nicht eindeutig beantworten. Beobachtet werden können sowohl Widerstreit als auch Kombinationen, friedliche Koexistenz oder auch die völlige Abwesenheit einer Wissensform. Dieses etwas unbefriedigende Resultat könnte auf einem me  195 CF (cystic fibrosis) ist ein anderer medizinischer Fachbegriff für die Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose.



9.5Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände

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thodischen bias beruhen: Bisher wurde nämlich nur der formale Aspekt beachtet; die Wissensformen wurden identifiziert und die Fundstellen miteinander vergli chen, ohne den inhaltlichen Kontext einzubeziehen. Möglicherweise zeigen sich aberAusschlüsse,SchnittmengenoderauchKämpfezwischendenWissensformen erst unter Berücksichtigung von Begriffen und Gegenständen. Im nächsten Ar beitsschritt geht es deshalb darum, die Verknüpfungen zwischen Wissensformen undinhaltlichenWissenselementenzuverstehen.

9.5 Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände Bei einer ersten, qualitativen Materialsichtung196 fiel auf, dass es Äußerungen in nerhalb der einzelnen Wissensform gibt, die sich durchaus zu Begriffsketten, KernaussagenoderArgumentenverdichtenlassen.ImBereichdesAlltagswissens trifftmanz.B.aufdieKopplung„BehinderungundLeid“unddieentsprechende Verteidigungsposition„AuchBehinderteempfindenLebensfreude“.Weiteretypi sierbare Äußerungen sind: „Behinderte werden in unserer Gesellschaft diskrimi niert“, „Kinder brauchen vor allem Liebe“ und „Jede/r soll selbst entscheiden“. InteressanterweisefehlenBezugnahmenaufSpezialdiskurse,diesichmitEmotio nen befassen, wie z.B. Pädagogik oder Psychologie, obwohl entsprechende Ver weise ausdiskursstrategischen Gründen durchaus sinnvoll wären, umder exklu siven Verwendung von Gefühlsäußerungen im Alltagswissen verobjektivierende Wissensbeständeentgegensetzenzukönnen.197ImSpezialwissenlassensichcha rakteristische Anknüpfungen an bestimmte Spezialdiskurse, z.B. Recht, Medizin (insbesondere Fortpflanzungsmedizin und technik) sowie Ethik (Utilitarismus, Singer, Nietzsche, Gremien zur Bioethik) erkennen. Weiter gehören Argumenta tionen, die mit statistischen Zahlen operieren, erkennbar zum Spezialwissen. Es gibtaberauchBegriffe,dieimKontextbeiderWissensformenverwendetwerden, wiez.B.Abtreibung.DieserBegrifffälltimZusammenhangmitder§218Debatte, weiterenrechtlichenFragen,dermedizinischenDiagnostik,aberauchmitsubjek tivem Schwangerschaftserleben, der Patientinnenrolle etc.. Eine mögliche Hypo thesezurVerbindungzwischenWissensformundWissensinhaltkönntelauten:Je abstrakterundsubjektfernerderBegriffskontextist,destoseltenertritteinBegriff  196 Hier greifen wir auf die Bearbeitung der Stichprobe III (vgl. Abb. 7) zurück. Im Unterschied zu StichprobeIIwurdenbeiderZusammenstellungderbeidenStichprobenIIIundIVnichtnurdie Subjektivierung,sondernsämtlicheDimensionenderWissensformenberücksichtigt. 197 MöglicherweisewirddieseLeerstelleauchdadurchverursacht,dassdiegenanntenDisziplinenim bioethischenSpezialdiskurskeineAutoritätgenießen.



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9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

gleichzeitigmitderWissensformdesAlltagsauf.Allerdingskonntendiequalitativ gewonnenen Einzelbefunde diese Annahme nicht ausreichend bestätigen. Aus diesemGrundbotessichan,nochmalsaufquantitativeAnalyseverfahrenzurück zu greifen. Benutzt das Alltagswissen einen anderen Wortschatz als das Spezial wissen? Dieser Frage geht der folgende Untersuchungsschritt nach. Ziel ist, den systematischen Gebrauch bestimmter Begriffsfelder in den beiden untersuchten Wissensformenaufzuspüren.Gelängeesnachzuweisen,dasseinigevonihnenmit Alltagswissen verknüpft sind und im Zusammenhang mit Spezialwissen nicht oderseltenvorkommen,würdediesaufinhaltlicheLeerstellendesSpezialwissens hindeutenundumgekehrt.198

9.5.1 MethodischesVorgehen:DiktionäreimVergleich FürdiesenUntersuchungsschritt199wurdeerstmalsdasMaterialderPatenschaften verwendet(vgl.2.4).DieserKorpuswurdegrundsätzlichalseineFortführungdes 1000FragenForumsbetrachtet,auchwenneraufeinerleichtverändertenKonzep tion basiert: Es wurden keine neuen Fragen zur Bioethik gestellt bzw. kommen tiert; die 78 Patinnen und Paten stellten lediglich einen Bruchteil der über 10.000 Fragen in moderierten Foren zur Diskussion. Diese Modifikationen können Dis kussionsverläufe,LängederBeiträge,DiskursgegenständeundformaleDiskursre gelnbeeinflussthaben;allerdingsgewannenwirbeiderMaterialsichtungdenEin druck, dass mögliche Variationen vernachlässigt werden konnten. Der durch schnittliche Thread der Patenschaften enthielt 260 Kommentare und war somit länger als ein typischer Diskussionsstrang des Korpus der 10.000 Fragen (vgl. 6.2).200Vierder78FragenenthieltenzusammenmehralsdieHälftederinsgesamt 20.283Beiträge:DieFrage„WoistGott?“warmit4.253Beiträgendiemeistdisku tierte Fragein dem Patenschaftsprojekt. Darauf folgten „HabenSie auch Angstun sterblich zu werden?“ (2.596), „Ein Baby – Hurra, es ist kein Mädchen!“ (2.537) und „Sind16ZelleneinMensch?“(1.553).DiewenigstenBeiträgeverzeichneteeineFra ge zur Sterbehilfe: „Hospize sind so tolle Einrichtungen. Warum denken Sie über das Töten von Menschen nach, wenn man doch das Sterben selber menschenwürdig machen kann?“ (30 Kommentare). Auf den ersten Blick fällt auf, dass die Fragen mit den meistenBeiträgeneinerseitsfürdasAlltagswissentypischeMerkmalewiePragma  198 DieGegenhypotheselautet:EsgibtBegriffsfelder,dieimKontextbeiderWissensformenauftreten, alsoeineKoexistenzbilden. 199 AndieserTeilstudiewarSibelDalmanEkenmaßgeblichbeteiligt. 200 AllerdingsberücksichtigtderMittelwertnichtdieStreuungderThreadlängen.



9.5Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände

217

tikundSubjektivierungaufweisen(„HabenSieauchAngstunsterblichzuwerden?“; „EinBaby–Hurra,esistkeinMädchen!“),andererseitsaberauchabstrakteTheorien implizieren(„WoistGott“;„Sind16ZelleneinMensch?“).Wennmandenvonden Paten ausgewählten Impulsfragen einen gewissen Einfluss auf die Begriffsver wendungimweiterenVerlauf der Threadszugesteht und wennman berücksich tigt, dass die Fragen der längsten vier Threads Merkmale beider Wissensformen aufweisen,kannmandavonausgehen,dassineinerZufallsstichprobeauchbeide Erkenntnisstile vertreten sein werden. Im ersten Schritt wurde eine solche Stich probe201(n=1.000Beiträge)ausdenThreadsderPatenschaftengezogen.DieseTex te wurden im nächsten Arbeitsgang der bewährten Codierstrategie unterzogen undentsprechendderMerkmalssystematik(vgl.Tab.12)nachderjeweiligenWis sensformdifferenziert.AufdieseWeiseentstandendieTeilkorporaSpezialwissen (TSW)mit446CodingsundAlltagswissen(TAW)mit470Codings,welchedieBasis für die anschließenden Wortschatzanalysen bildeten. Als Werkzeug wurde das DiktionärdererstenquantitativenUntersuchungsphasebenutzt(vgl.6.3.2).Diein derWortschatzanalyse202der10.000FragendefiniertenLemmatawurdenmitwe nigenÄnderungeninderneuenAuswertungwiederverwendet.203 Die Häufigkeitszählung der Gesamtstichprobe (TAW+TSW) ergab einen Über blick über die meistgenannten Lemmata (im Folgenden auch „Begriffsfelder“ ge nannt).DiesekonntenanhandeinerRangordnungmitdenErgebnissenderfrühe renWortschatzanalyse(W1)verglichenwerden(Tabelle14).AufdenerstenBlick zeigtesicheineweitgehendeÜbereinstimmung:InbeidenAuszählungenwardas meistgenannte Lemma „Mensch“. Sechs der ‚Top Ten’Begriffe aus dem Korpus derPatenschaftenwarenauchbeiden10.000Fragenunterdenerstenzehngewe sen. Im Durchschnitt wichen die Ränge der Lemmata in den beiden Stichproben nurumrundvierPlätzeab. BeimLemma„Religion“204wirdallerdingseinUnterschieddeutlich:Dieneue ZählunglistetdasBegriffsfeldmitinsgesamt379FundstellenanzweiterStelleauf, im Korpus der 10.000 Fragen besetzt es dagegen nur die 16. Stelle. Höchstwahr scheinlichistdieFrage„WoistGott?“,die,wieerwähnt,unterdenPatenschaften diemeistenBeiträge(4.253)aufsichzog,verantwortlichfürdiegroßeFallzahldie sesLemmas.  201 DieZiehungderStichprobeerfolgtedurch1.000Zufallszahlenzwischen0und20.284. 202 ImFolgendenwirddieseersteWortschatzanalyseW1genannt. 203 Die Suchwörter, die zum jeweiligen Lemma gehören, sind auszugsweise in 6.3.2. aufgelistet. So fernbeidenLemmataVeränderungenvorgenommenwurden,wirddiesausdrücklicherwähnt. 204 Unter dem Begriffsfeld „Religion“ wurden folgende Suchwörter gezählt: *gott*, *gött*, *schöpfung*,*jesus*,christ*,Glaube*,*kirche*,*bibel*,*religion*.



218 Tabelle14

9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

DiezwölfmeistgenanntenLemmataimPatenschaftsundim10.000 FragenKorpusnachRangordnung

Lemma

AnzahlderNennungen imPatenschaftsKorpus (TAW+TSW,n=916)

Rangordnungim PatenschaftsKorpus

RangordnunginW1 (10.000Fragen)

Mensch

503

1

1

Religion

418

2

16

Leben

345

3

3

normativeVerben

267

4

4

Bewertung

251

5

7

Familie

226

6

5

Recht&Gesetz

173

7

12

Natur

160

8

15

Ethik

149

9

17

Tod&Sterben

143

10

6

Körpermateriell

134

11

18

Wissenschaft /Forschung

123

12

8

 Wennmanberücksichtigt,dassdasDiktionärinsgesamt140Einträgehat,kannals erstesErgebnisfestgehaltenwerden,dasssichdieSchlüsselbegriffeindenbeiden Zählungen nicht wesentlich unterscheiden. Insgesamt wird das erste Analyseer gebnisbestätigt,nachdemineinemForumzurBioethikincharakteristischerWei se Begriffe wie „Mensch“, „Leben“, „Familie“ und „Tod & Sterben“ sowie auch „Religion“und„Ethik“auftauchen(vgl.6.3.2).AufgrundderDatenTriangulation, die mit dem StichprobenDesign vorgenommen wurde, erhöht sich somit die Re liabilitätdesDiktionärsalsMessinstrument.

9.5.2 UnivariateWortschatzanalysen AufderSuchenachRegelmäßigkeiteninderBegriffsverwendungwurdeeinege trennteZählungdercodiertenStelleninTAWundTSW(vgl.9.1)durchgeführt.Die VerteilungderLemmatasollteHinweiseliefern,obdieuntersuchtenBegriffsfelder zueinerbestimmtenWissensformtendiertenodersichdochkeinZusammenhang zwischenBegriffsverwendungundWissensformfeststellenließ.   

219

9.5Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände

Tabelle15

DiemeistgenanntenLemmatanachAlltagswissenund Spezialwissen

Lemma

Alltagswissen (TAW,n=470)

Lemma

Spezialwissen (TSW,n=446)

Mensch

296

Religion

254

Leben

218

Mensch

207

Familie

175

Leben

127

normativeVerben

167

Bewertung

115 100

Religion

164

normativeVerben

Bewertung

136

Ethik

86

 AnTabelle15istabzulesen,dassdieSpitzengruppebeiderWissensformenweitge hend übereinstimmt. Einzig das Lemma „Familie“ sticht beim Alltagswissen her vor,währendimSpezialwissenstattdessen„Ethik“unterdensechsmeistgenann tenLemmataauftaucht.ZiehtmannurdieHäufigkeitenderBegriffsverwendung in Betracht, deutet dieses Zählergebnis bei den meisten Begriffsfeldern eher auf KoexistenzalsaufAusschlusshin. IneinemweiterenSchrittwurdenUnterschiedeimGebrauchderBegriffezwi schenAlltagsundSpezialwissenuntersucht,undzwaranhandeinerBerechnung derGesamtzahlderNennungenundihrenjeweiligenAnteilenindenuntersuchten Erkenntnisstilen. Wegen der unterschiedlichen Stichprobengröße (TAW = 470; TSW =446) wurden die Fallzahlen des Spezialwissens mit einem Gewichtungskoeffi zienten205angeglichen.DiefolgendeTabellezeigtdieerrechnetenVergleichswerte. InTabelle16sinddiezwölfLemmataaufgeführt,dieinderGesamtstichprobe am häufigsten vorkommen. In den oberen Zeilen finden sich diejenigen Begriffe, diedasAlltagswissendominierthaben:SowurdenrunddreiViertelderTextstel len, in denen das Lemma „Familie“ vorkam, als Alltagswissen codiert. Auch ge messen an den absoluten Zahlen hat „Familie“ einen hohen Stellenwert im All tagswissen:Mit175NennungennimmtesdendrittenPlatzindieserWissensform ein(vgl.Tabelle15). DieLemmata„Tod&Sterben“,„Leben“,„normativeVerben“und„Mensch“ weisenmitrund60%ebenfallseineDominanzimAlltagswissenauf,währenddie Verwendung der unter „Bewertung“, „Recht & Gesetz“ und „Natur“ gezählten Wörter kaum Unterschiede zum Spezialwissen erkennen lässt. Das am deutlich sten zum Spezialwissen tendierende Lemma ist „Körpermateriell“, dessen Such  205 DieZählwertefürSpezialwissenwurdenmitdemFaktor470/446=1,054gewichtet.



220

9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

begriffe (Zelle, Organ usw.) zumeist in den Stellen auftauchen, die sich auf die SpezialdiskurseBiologieundMedizinbeziehen.NurrundeinDrittelderTextstel len wurde hier als Alltagswissen codiert. Überraschenderweise sind die Zähler gebnisse zu „Religion“ und „Ethik“ ebenso deutlich spezialdiskursiv geprägt; sie verbuchen in dieser Kategorie sogar höhere Anteile als das Lemma „Wissen schaft/Forschung“,beidemeineAffinitätzumSpezialwissenzuerwartenwar. Tabelle16

MeistbenutzteLemmata:DifferenzenzwischendenWissensformen

Lemma

Anzahlaller Nennungen(TAW+TSW gewichtet,n=940)

Anteil Alltagswissen(TAW)

Anteil Spezialwissen(TSW)

Familie

229

76%

24%

Tod&Sterben

146

62%

38%

Leben

352

62%

38%

normativeVerben

272

61%

39%

Mensch

514

58%

42%

Bewertung

257

53%

47%

Recht&Gesetz

177

51%

49%

Natur

164

49%

51%

Wissenschaft/Forsch.

127

44%

56%

Ethik

154

41%

59%

Religion

432

38%

62%

Körpermateriell

139

36%

64%

 Welche Schlussfolgerungen können aus diesem Zwischenergebnis gezogen wer den? Hinsichtlich des typischen Wortschatzes scheint es tatsächlich Unterschiede zwischen den Wissensformen zu geben. Da aber gleichzeitig weitgehende Über schneidungen feststellbar sind, wäre es nicht gerechtfertigt, von ‚Leerstellen’ im Alltags oder Spezialdiskurs zu sprechen; die Annahme von Koexistenz scheint eher zuzutreffen. Außerdem stellt sich die Frage, wie zuverlässig eine bloße Be griffszählungalsIndikatorfürdiskursiveFormationsregelnist,diemöglicherweise derStreuungderBegriffezugrundeliegen.Eskönnteauchsein,dassmitdenglei chen Begriffen völlig unterschiedliche Diskursgegenstände konstruiert werden. DaherbietetessichfürdasweitereVorgehenan,vondenWortzählungenwieder zu den einzelnen Äußerungen zu gehen, um nach Foucaults Empfehlung (1990a, 152) das „Anwendungsfeld[.]“ bei der Suche nach Regelmäßigkeiten zu berück sichtigen. 

9.5Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände

221

EinüberraschendesErgebnisistz.B.,dassdasLemma„Religion“beimSpezi alwissen in der Reihe der meistgenannten Begriffe an erster Stelle auftaucht. Bei näherer Betrachtung der Suchbegriffe (*gott*, *gött*, *schöpfung*, *jesus*, christ*, Glaube*,*kirche*,*bibel*,*religion*)wirddeutlich,dasstatsächlichspezialdiskur siveHintergründefürdiesesErgebnisdenkbarsind,nämlichErörterungentheolo gischer Fragen oder kirchlicher Doktrinen. Die Patenfrage „Wo ist Gott?“ lässt offen, ob der Gottesbegriff näher definiert oder subjektivierte Gotteserfahrungen thematisiert werden sollen. Tatsächlich sind beide Varianten im Onlineforum zu finden.SofernFundstellenausdemBegriffsfeld„Religion“anZitateausderBibel oderhochspezialisierteWissensquellenanknüpfen,wurdensiealsSpezialwissen codiert. „Der ontologische Gottesbeweis und der Poppersche Wahrheitsbegriff haben viel gemein.AnselmvonCanterburyfragte:‚WiekönnteicheineVorstellungvonGotthaben, wennesihnnichtgäbe?’Entsprechendsetztdie‚AnnäherungandieWahrheit’diesena türlichvoraus.WahrheitwäredanachdieIdentitätvonEreignisundWahrnehmung,ein Paradoxon.“ (Thread 9020) Dieses Beispiel macht die Zuordnung zum verobjekti vierten Erkenntnisstil verständlich. Auf der anderen Seite finden sich Textstellen, dieReligionalspersönliche‚Glaubenssache’,d.h.subjektivistischkonstruieren.Im Alltagswissen geht es primär um Glaubenspragmatik, Lebensorientierung und Lebenshilfe;dieskanndiefolgende,etwaslängereFundstelleüberdie‚wunderba re’KraftdesGlaubensinprägnanterWeiseveranschaulichen: „Dezember1995.NachAbschlusseinerSeminarwoche[...]wollteichnichtnachHau se, sondern über die A59, A3 und A1 auf einen Besuch direkt zu meiner Mutter fahren. Aber das konnte spannendwerden, dennder Wetterbericht in den Frühnachrichtenhatte fürdieA1imBergischenLandSchneeangesagt,undichhattekeineWinterbereifung.[…] SollteichmeinenPlandeshalbändern?Eswarziemlichkühn,aberichbatGottdarum,es nichtschneienzulassen[…].IchfuhrdiegeplanteStreckeundstelltefest,dassimBerg ischenLandoffenbarkeineeinzigeSchneeflockegefallenwar.ZweiStundenspäterempfing mich meine Mutter ziemlich bedrückt, denn ihr Hund, ein Airdale, war an der Leber er krankt und konnte nur noch mühsam laufen. AndiesemTag hatte ich bereits eine Glau bensstärkungerhalten,warumsollteichalsonichtfürdenHundbeten?Währendichihm meineHändeauflegte,schienmichdasTierdankbaranzublicken.IchbatimNamenJesu ChristiumseineHeilung.WieesunsereGewohnheitwar,wolltenwirineinemRestaurant zuAbendessen.[…]Weilersowackligwar,halfichdemHunddieTreppehinunterund insAuto.ImRestaurantverschwanderwieimmerunterdemTisch.BeiangeregtemGe sprächdauertedasAbendessenca.eineinhalbStunden.AlsichzurGeldbörsegriff,kamder Airedale munter wie eh und je unter dem Tisch hervor und stieg, nachdem er draußen selbständigdasBeingehobenhatte,ohneHilfeindenWagen.Wirhatteneinenvölligge 

222

9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

sundenHund!IchbatmeineMutter,zurEhreGottesamMontaggleichzumTierarztzu gehenundihmdengeheiltenHundvorzustellen.“(Thread77) AlsErgebniskannfestgehaltenwerden,dasssichhinterdemBegriffsfeld„Re ligion“ mindestens zwei diskursive Muster verbergen, von denen das eine dem AlltagswissenunddasanderedemSpezialwissenzugeordnetwerdenkann.Diese kontextsensible Betrachtungsweise hat Folgen für die Betrachtung anderer Struk turelemente des Wissens wie etwa die Subjektivierung: In Verbindung mit dem Begriffsfeld„Religion“liegtdieVermutungnahe,dassinnerhalbspezialdiskursiv theologischerAussagenderMenschwenigeralsautonomesIndividuumbeschrie ben wird, sondern eher als Subjekt religiöser Riten oder als ‚Teil der Schöpfung’. DagegenistinderOrdnungdesAlltagswissensderMenschvermutlichprimärein glaubendes, betendes Individuum,daseinepersönlicheBeziehungzuGottunter hält.206 NachdemdieUnterschiedezwischenAlltagsundSpezialwissen,diebeidem Lemma „Religion“ besonders markant zu Tage traten, mit dem Begriffskontext erklärt werden konnten, sollen auch diejenigen Lemmata näher untersucht wer den,dieaufÄhnlichkeitenbeiderWissensformeninderBegriffsverwendunghin weisen.AnhandvonBeispielenwirdimFolgendenüberprüft,obhinterdenglei chenBegriffenebenfalls–wieimFallevon„Religion“–unterschiedlichediskursi ve Regeln stehen oder aber ähnliche Zählergebnisse übereinstimmende Formati onsregelnderBegriffeabbilden.Tabelle17führtvierBegriffsfelderauf,dieinden untersuchtenErkenntnisstilengleichgewichtigauftauchen. 12

Tabelle17 Lemma

130H

KoexistenzeneinzelnerBegriffsfelderimAlltagsundSpezialwissen Anzahlaller Nennungen(TAW+TSW gewichtet,n=940)

Anteil Alltagswissen(TAW)

Bewertung

257

Recht&Gesetz

53%

Anteil Spezialwissen(TSW) 47%

177

51%

49%

Krankheit

99

53%

47%

Behinderung

49

51%

49%



 206 MultivariateZusammenhängewiediezwischenderKategorie„Wissensform“undmehrerenBe griffsfeldernkonntenindiesemAnalyseschrittallerdingsnichterschöpfendnachgeprüftwerden. DieserfordertedieAnwendungandererMethoden,aufdiewirin9.5.3ausführlicheingehen.



9.5Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände

223

DasLemma„Bewertung“,207hiermit257NennungenaufdemerstenPlatz,nimmt inderZählungderGesamthäufigkeitendenfünftenPlatzein(vgl.Tabelle14).Es ist anzunehmen, dass die Rahmung des Internetforums einen Einfluss auf dieses Ergebnishatte:EsistkeinEreignismitBildungscharakterodereineExpertenrun de, sondern bietet die Gelegenheit, ungefiltert Meinungen und Bewertungen zu äußern. Allerdings müsste nach unserer Merkmalssystematik das Spezialwissen bei dem Begriffsfeld „Bewertung“ eigentlich niedrigere Fallzahlen ergeben, da es die MerkmaleObjektivität,WertfreiheitundNeutralitätaufweist(vgl.Tab.12).Nach denZählergebnissenzuurteilen,istjedochdieAnknüpfunganSpezialwissenkein Hinderungsgrund, gleichzeitig auch dezidierte Bewertungen zu äußern. Ein Grundhierfürkönntesein,dassinnerhalbderuntersuchtenDiskursarenaBewer tungenanscheinendbessergeeignetsind,umAbgrenzungenundAusschlüssezu markieren,alsz.B.formallogischeDefinitionen,diedenRegelnderSpezialdiskurse gehorchen.SowohldieinstitutionelleRahmungvon„1000FragenzurBioethik“als partizipatives Projekt als auch die mediale Rahmung als Internetforum begünsti gen vermutlich interdiskursive Verknüpfungen von ‚wissenschaftlichen’ Äuße rungen und wertenden Meinungen. In Spezialdiskursen wie auch in elaborierten Interdiskursen,diesichandenRegeln‚rationalerArgumentation’orientieren,un terliegen dagegen offen normative Diskurspositionen einem erhöhten Rechtferti gungsbedarf. Mit demzweiten Begriffsfeld „Recht& Gesetz“ könnte es sichähn lich wie mit dem Lemma „Religion“ verhalten haben. Die benutzten Begriffe208 gehöreneinerseitszumjuristischenSpezialvokabular.Andererseitstrifftmanauf fallendhäufigaufdieRedewendung„ichhabeeinRechtauf…“,diealsElementdes Alltagswissensbetrachtetwerdenmuss. In den beiden anderen Begriffsfeldern „Krankheit“209 und „Behinderung“210 (vgl. Tab. 17) verläuft die Formation der Begriffe anscheinend tatsächlich unab hängig von den Wissensformen. Die Materialsichtung ergibt, dass die jeweiligen SuchbegriffezumeistineinemSatzgeäußertwerden:„DieseKinderwerdenvonih renElternsogeliebt,wiesiesindundwiesieseinwerden,mitallenihrenBehinderungen  207 DieSuchbegriffedesBegriffsfeldeswarenfolgende:*positiv*,*richtig*,*besser*,*falsch*,*lieber*, *schlecht*,*schlimm*,*wichtig*,gut,*negativ*,erstrebenswert,gute,*sinnvoll*,*sinnlos*. 208 DieSuchbegriffewaren:*recht*,*gesetz*,*geltend*. 209 Folgende Suchbegriffe definierten das Begriffsfeld „Krankheit“: *krankheit*, *krank*, *krebs*, *aids*,hiv*,*diabetes*,*unheilbar*. 210 Die Kategorie „Behinderung“ enthielt folgende Suchwörter: *behinder*, *krüppel*, *down syndrom*.



224

9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

und Krankheiten.“(Thread5990); „Behinderte oder Kranke führen genauso erfüllteund schöneLeben“(Thread6233). Den letzten Gegenstand der univariaten Inhaltsanalyse bilden vier Lemmata zu Gefühlen, einem für den Alltagsdiskurs typischen Themenbereich. Drei der Begriffsfelder („Glück Liebe Freude“,211 „Leiden“212 und „Angst“213) implizieren subjektive Wahrnehmungen. Das vierte Lemma „neutral“ beinhaltet Äußerungen mit den Suchwörtern *fühlen*, gefühl, *fühlt*. Nach den Zählergebnissen (vgl. Tabelle18)zuurteilen,kanndieThematisierungvonGefühlenindenerstendrei FällentatsächlichmitAlltagswissen(d.h.mitderDimension:StellenwertdesSub jekts) in Zusammenhang gebracht werden. Die unterschiedliche Akzeptanz emo tional gefärbter Aussagen – im Alltagswissen legitim, im Spezialwissen sanktio niert(vgl.9.2)–scheintsichzubestätigen.Dennochsind„Gefühle“keinexklusiver Diskursgegenstand des Alltagswissens. Das Lemma „Gefühle – neutral“ kommt zwarinsgesamtnichtsehroftvor,verteiltsichaberziemlichgleichmäßigaufbeide Wissensformen. Tabelle18

Begriffsfelder:Gefühle

Lemma

Anzahlaller Nennungen(TAW+TSW gewichtet,n=940)

Anteil Alltagswissen (TAW)

Anteil Spezialwissen (TSW)

Gefühle–GlückLiebeFreude

86

81%

19%

Gefühle–Leiden

61

64%

36%

Gefühle–Angst

50

66%

34%

Gefühle–neutral

34

44%

56%

9.5.3 BiundmultivariateAnalysenderStreuungderBegriffe Festgehaltenwerdenkann,dassdiequantitativenAnalysendesMaterialsderPa tenschaften weitgehend begriffliche Überschneidungen zwischen Alltags und Spezialwissen nahe legen, vor allem bei den meistgenannten Begriffsfeldern (vgl. Tabelle 15). Diese Kongruenzen werden als Hinweis auf die Koexistenz beider Wissensformen gedeutet. Bei näherer Betrachtung der Fundstellen stellt sich je dochheraus,dassdiegleichenBegriffsfelder(z.B.„Religion“)jenachWissensform  211 BenutzteSuchwörterwaren:glück*,*glücklich*,liebe,*liebt*,*freuen*,*freude*,*zufrieden*. 212 AlsSuchwörterwurdenbenutzt:leide*,*schmerz*,*qual*,*quälen*,leid*,*litt*,*leidest*,*leidet*. 213 DieSuchwörterwaren:*angst*,*ängstlich*,*horror*,*furcht*,fürcht*.



9.5Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände

225

mit anderen Lemmata kombiniert werden und dadurch voneinander zu unter scheidendeKontextebilden.Möglicherweisewerdendurchdiesefürdiejeweilige WissensformspezifischenKopplungenvonBegriffsfeldernsogarunterschiedliche Diskursgegenständekonstruiert.AndieserÜberlegungknüpftederfolgendeUn tersuchungsschrittanmitderLeitfrage:GibtesempirischnachweisbareKopplun genzwischenLemmata,diesichnachderWissensformunterscheiden?ImFalldes Nachweises würden sich die heraus gefilterten Begriffsfelder gruppieren lassen undalsIndikatorenfürBegriffsformationengelten.KönntemantypischeBegriffs feldkopplungen ausfindig machen, würde dies in diskurstheoretischer Hinsicht bedeuten,denFormationsregelnvonBegriffenaufdieSpurzukommen:Postuliert wirdnämlich,dassdiesenichtauseinzelnenSchlüsselbegriffenbestehen,sondern ausspezifischenKombinationenbzw.StreuungenvonBegriffen.ZielderAnalyse waresalso,empirischnachgewieseneBegriffsformationenaufdieErkenntnisstile beziehenzukönnen. Im Folgenden sollen nacheinander drei Hypothesen geprüft werden. Erstens: EsgibttypischeKombinationenvonBegriffsfeldern.WährenddieseAnnahmefür das1000FragenMaterialschonbestätigtwurde(vgl.6.3.2),musstederNachweis für die Patenschaften noch erbracht werden. Zweitens: Die Begriffskombinationen unterscheidensichjenachWissensform.Gelängeesnachzuweisen,dassabhängig vom Erkenntnisstil typische Kopplungen der Lemmata auftauchen und dieseun terschiedlicheBegriffskontextekonstruieren,ließesichvoneinemZusammenhang zwischenWissensformundBegriffsformationausgehen.Drittens:DieFormations regeln der Begriffe sind abhängig vom Erkenntnisstil. In anderen Worten, postu liertwirdeinKausalzusammenhang,nachdemzumindesteinigeBegriffsfeldkom binationen sich aus den spezifischen Merkmalen der jeweiligen Wissensform er klärenlassen,Allerdings:ImUnterschiedzudenerstenbeidenHypothesenkann ein solcher gerichteter Zusammenhang nicht direkt am empirischen Material nachgewiesenwerden;hierkommtesaufdiePlausibilitätderInterpretationan.  ErsteHypothese:EsgibttypischeKombinationenvonBegriffsfeldern. Mittels einer quantitativen Analyse sollten zunächst die angenommenen Interde pendenzenaufgedecktwerden.AlsBegriffsfeldkombinationwurdedasgleichzei tige Vorkommen von Suchbegriffenaus zwei odermehr verschiedenen Lemmata ineinerÄußerungdefiniert,d.h.auseinemder916CodingsderStichprobeTAW +



226

9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

TSW.214 Auf der Suche nach Begriffskombinationen in den einzelnen Äußerungen wurde wie schon zuvor das multivariate Verfahren der Faktorenanalyse verwen det (vgl. 6.3.2).215 Zur Erinnerung: Ein Faktor repräsentiert die in ihm enthaltene KombinationvonLemmata.JehöherdieFaktorladung,destobesserpasstdasein zelne Lemma zum Faktor. In die Auswertung (Tabelle 19) wurden die zwölf meistgenanntenLemmataausTabelle14einbezogen. Tabelle19

FaktorenanalysederSpitzengruppenausderGesamtstichprobe

Faktor1:„SpezialdiskursBioethik“



Faktor2

Lemma

Faktorladung



Lemma

Ethik

0,73



Körpermateriell

0,80

Bewertung

0,52



Mensch

0,70

normativeVerben

0,50



Leben

0,44

Recht&Gesetz

0,40







Leben

0,37







 Faktorladung











Faktor3





Faktor4



Lemma

Faktorladung



Lemma

Faktorladung

Familie

0,89



Religion

0,90

normativeVerben

0,41



Mensch

0,34

Bewertung

0,33



normativeVerben

0,30

 Berechnungsgrundlage:TAW+TSW,n=916. HauptkomponentenanalysemitVarimaxRotation.   214 TechnischkamendieDatenwiefolgtzustande:DasCodiertoolderbewährtenMaxDictioSoftware lieferteeineTabellemitdenZählwertenjedesLemmasfürjedenText.DieseTabellewurdeindas StatistikprogrammSPSSimportiert,mitdemdiestatistischenVerfahrendurchgeführtwurden. 215 FürdieersteFaktorenanalysewaralsTexteinheitstattdereinzelnenÄußerungeinganzerThread verwendetworden.



9.5Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände

227

Tabelle 19 weist auf, dass sich aus den zwölf untersuchten Lemmata vier vonei nanderunabhängige Gruppierungen bildeten, die allerdings nicht leichtzuinter pretieren sind. Der erste Faktor könnte beispielsweise als „Spezialdiskurs Bioe thik“tituliertwerden,daEthikderLeitbegriffistund„Leben“ebenfallsaufgeführt wird.ZuihmgehörenaußerdemdieBegriffsfelder„Bewertung“,„normativeVer ben“ sowie „Recht & Gesetz“, deren Affinität zum bioethischen Spezialdiskurs ebenfalls vorausgesetzt werden kann. Beim zweiten Faktor geht es um „Körper materiell–Mensch–Leben“,eineKombination,diegleichzeitignaheliegendund überausmehrdeutigist.DaszentraleBegriffsfelddesdrittenFaktorsist„Familie“ gekoppeltmitdenbeidenLemmata„normativeVerben“und„Bewertung“.Auch dieseKombinationließesichinverschiedeneRichtungeninterpretieren.Dervierte Faktor schließlich bildet eine Verknüpfung aus „Religion – Mensch – normative Verben“. Insgesamt korrelieren alle Begriffe positiv mit dem jeweiligen Faktor; damitreichtdiesesZählergebnisfürdieBestätigungdererstenHypotheseaus:Die UntersuchungderPatenschaftenbringtebensowiedas1000FragenMaterialver schiedene Begriffsfeldkombinationen hervor. Da das explorative statistische Ver fahren die Gruppen nachder quantitativen Streuung der Begriffe und nicht nach einem inhaltlichen Kriterium zusammenstellt, können allerdings die Kombinatio nennurunterZuhilfenahmetheoretischerErwägungenerklärtwerden.DieInter pretation der Faktoren erweist sich als wenig zufrieden stellend. Dafür könnten zwei Umstände verantwortlich sein: Zum einen sind anscheinend zu wenige Be griffeeinbezogenworden,umsinnvolleKontextekonstruierenzukönnen.216Zum anderen werden durch die Gesamtstichprobe als Berechnungsgrundlage die Un terschiedezwischendenWissensformenverwischt.Aufletzterekommtesbeider PrüfungderzweitenHypothesean.  ZweiteHypothese:DieBegriffskombinationenunterscheidensichjenachWissensform. DiezweiteHypotheseformuliertedieErwartung,dasssichtypischeBegriffskom binationen nach der Wissensform unterscheiden. Für die Prüfung der Hypothese wurden alle Lemmata mit 30 Nennungen und mehr berücksichtigt. Dieses Krite riumerfülltenimAlltagswissen(TAW)30undimSpezialwissen(TSW)24Lemmata. Um einen Überblick über die Beziehungsstrukturen aller einbezogenen Be griffsfelderzuerhalten,wurdeimerstenSchrittfürjedeWissensformeineKorrela tionsmatrixerstellt.AnhanddesKorrelationsmaßes(Pearsonsr)konntenLemmata identifiziert werden, die auf der Ebene der Äußerungen statistisch signifikante Paare bilden. Da die Aussagekraft der linearen statistischen Korrelation für Be  216 DieFaktorenanalysedes10.000FragenKorpusbezogalle140Lemmataein.



228

9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

griffszählungen sehr begrenzt ist, wurden die Ergebnisse lediglich als mögliche Begriffsfeldassoziationeninterpretiert.DievisuelleDarstellungderDatenausder Korrelationsmatrix(vgl.Abbildung9und10)zeigtinderjeweiligenWissensform dann eine Verbindungslinie zwischen zwei Lemmata, wenn der Zusammenhang signifikant und nicht zu schwach war.217 Bevor wir auf einzelne Kombinationen eingehen, die durch eine weitere Faktorenanalyse eine besser konturierte Gestalt erhaltenhaben,seidasGesamtbilddargestellt. Abbildung9

BegriffsfeldassoziationeninderTeilstichprobeAlltagswissen

Körper materiell

Mensch

Leben

Recht&Gesetz

Hilfe Embryo Würde

Entscheidung

Natur

Tod&Sterben

Zeit

Krankheit Normative Verben

Fragen

Bewertung

Ethik

Unsterblichkeit

Frau

Technologie Medizin Wissenschaft/ Forschung

WFragen

Religion GefühleGlück, Liebe,Freude

Familie

Wissen

Geburt

Gefühle Leiden

Gefühle Angst

Person

 



 217 p.22.DerKorrelationskoeffizient„r“gibtdieGrößedesstatistischenlinearenZu sammenhangswieder.DerKoeffizientliegtzwischen+1und1(vgl.Diekmann2000,203).



9.5Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände

229

Abbildung10 BegriffsfeldassoziationeninderTeilstichprobeSpezialwissen  Religion Mensch  WFragen Leben  Befruchtung  Körper Wissen materiell  Tod&Sterben  Embryo Gene Krankheit Geburt   Frau Familie Recht&Gesetz   Natur Ethik Medizin  Wissenschaft/  Politik/Staat Geschichte Forschung  Zeit Bewertung  Normative Verben   In beiden Wissensformen ergeben sich sowohl Klumpen aus mehreren Lemmata als auch einfache Paarkombinationen. Begriffsfelder ohne weitere Kombinationen sind diejenigen Lemmata, die einen zu schwachen Zusammenhang zu anderen Begriffsfeldernaufzeigenbzw.derenBeziehungenzuanderenBegriffsfeldernun ter dem Signifikanzniveau liegen. Im Alltagswissen (Abbildung 9) können elf Lemmata mit zwei und mehr Kombinationen, neuneinfache Kombinationenund zehnBegriffsfelderohnerelevanteZusammenhängebeobachtetwerden.ImSpezi alwissen(Abbildung10)bestehtdiezentraleHäufungausdreizehnLemmatamit mehralseinerKombination.WeiterhinfindensichsechsPaareundfünfLemmata ohnebedeutendenZusammenhang. Kann man dieser Übersicht Hinweise darauf entnehmen, dass sich Begriffs kombinationennachderWissensformsystematischunterscheiden?Aufdemersten Blick entdeckt man sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zwischen dem AlltagsunddemSpezialwissen;dieAbweichungenkönntenalsodurchauszufäl ligsein.VergleichtmanaberdieKombinationeninnerhalbderbeidenErkenntnis stilemitdenBegriffskopplungen,welchedieFaktorenanalysefürdieGesamtstich probe errechnet hatte, gewinnt die Unterschiedshypothese mehr und mehr an Plausibilität: Zwar findet sich der Faktor 2 „Körpermateriell – Mensch – Leben“ (vgl. Tabelle 19) in beiden Erkenntnisstilen wieder. Alle anderen Kombinationen, diemittelsFaktorenrepräsentiertsind,sindabermehroderwenigerauseinander 

230

9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

gerissen.Schauenwirunsinsbesonderedenals„SpezialdiskursBioethik“interpre tierten Faktor mit den Lemmata „Ethik“, „Bewertung“, „normative Verben“, „Recht & Gesetz“ und „Leben“ genauer an. Er ist in der Korrelationsmatrix des Alltagswissens nur noch als Rumpfkombination „Ethik – Bewertung – normative Verben“vorhanden,dieanderenbeidenLemmataweisenkeineVerbindungzum Faktorauf.InderTeilstichprobezumSpezialwissenscheintsichdieKombination völlig in ihre Bestandteile aufgelöst zu haben: Unter den „Bioethik“ spezifischen LemmatagibteskeineeinzigesignifikanteVerbindung.DieseBeobachtungbestä tigt nochmals unsere diskurstheoretisch begründete Entscheidung, Bioethik als ‚diskursivesThema’(imLink’schenSinne)zubetrachten(vgl.4.1.2).AlsThemaist BioethikoffensichtlichinderLage,Äußerungenzusammenzubringen,dieander Oberfläche inhaltliche Übereinstimmungen aufweisen mögen – im Onlineforum wird also ‚über Bioethik’ geredet! Diese Übereinstimmungen dürfen jedoch nicht als Ausdruck einer vorherrschenden Diskursordnung interpretiert werden. Führt mannämlichdieÄußerungenaufihreWissenselementezurück,wiehieramBei spielderErkenntnisstileundeinigerBegriffsformationengeschehen,entdecktman HinweiseaufunterschiedlicheWissensordnungen.Umdiesegenauerzubeschrei ben,greifenwirzumSchlussnocheinmalaufdieFaktorenanalysezurück.Anhand vondreiBeispielensollendieerrechnetenStreuungenderBegriffeunterdemAs pektderMerkmalssystematikderWissensformenbeleuchtetwerden.  DritteHypothese:DieFormationsregelnderBegriffesindabhängigvomErkenntnisstil. Die dritte Hypothese postulierte, dass empirisch vorzufindende Begriffsfeldkom binationenausdenMerkmalenderjeweiligenWissensformerklärbarseinmüssen. Dieses Postulat ergab sich aus der theoretischen Annahme, dass im untersuchten diskursivenEreignisderErkenntnisstilwesentlichanderAusprägungderForma tionsregelnderBegriffebeteiligtist.IndiesemArbeitsschrittkamesalsodaraufan zu überprüfen, wie gut die Begriffsformationen der Teilstichprobe Alltagswissen zudenMerkmalendiesesErkenntnisstilspassten;gleichesgaltfürdasSpezialwis sen. Aus methodischer Sicht könnte man zwar einwenden, dass diese Übereins timmungbereitsbeiderBildungderStichprobenhergestelltwordensei.Ausmeh rerenGründenkonntenwiraberdavonausgehen,dassmitdenfolgendenBerech nungen kein Artefakt hergestellt wird: Zum einen umfassten die Codierregeln nichtnuralltagsbzw.spezialdiskursiveBegriffsbildungen,sonderndiesechsDi mensionen der Merkmalssystematik, angefangen vom Stellenwert des Subjekts über die Handlungsrelevanz der Äußerungen bis hin zu den legitimen Sprecher positionen(vgl.Tab.12und9.2).Eskamdurchaushäufigervor,dassÄußerungen, in denen Begriffe aus der Wissenschaft auftraten, als Alltagswissen zu codieren 

231

9.5Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände

waren. Zum anderen hatte die einfache Wortzählung der Lemmata weitgehende Überschneidungen beider Wissensformen ergeben, so dass bei der Mehrheit der einbezogenen Begriffsfelder keine eindeutige Zuordnung zu einer Wissensform möglichwar. EinweiteresMalwurdedieFaktorenanalyseangewendet,umKombinationen vonLemmatazuberechnen,indiesemFallnachdenWissensformengetrennt.Für beideTeilstichprobenwurdedieGesamtheitderBegriffsfelder(vgl.Abb.9und10) einbezogen.InderGruppe‚Alltagswissen‘wurdeninsgesamt13Faktorenerrech net, im Spezialwissen waren es zehn. Schauen wir uns als erstes das Begriffsfeld „Embryo“ genauer an, dessen nach Wissensform unterschiedliche Stellung schon ausAbbildung9und10ersichtlichwar. Tabelle20

KombinationendesLemmas„Embryo“ Alltagswissen

Spezialwissen



Lemma

Faktorladung



Lemma

Embryo

0,83



Befruchtung

0,71

Würde

0,82



Körpermateriell

0,66

Mensch

0,41



Gene

0,65

Embryo

0,57

Mensch

0,34



  Berechnungsgrundlagen: TAW,n=470,TSW,n=446.    HauptkomponentenanalysemitVarimaxRotation.

Faktorladung

 ImAlltagswissenistdasLemmamit„Würde“und„Mensch“gekoppelt;imSpezi alwissen bildet sich dagegen die Kombination „Befruchtung – Körper – Gene – Embryo – Mensch“. Deutlicher als bei den einfachen Wortzählungen lassen sich hier zwei Begriffsformationen voneinander unterscheiden, die zwar beide die Lemmata „Embryo“ und „Mensch“ beinhalten, aber nach der Typik ihrer Aussa gen höchstwahrscheinlich verschiedenen Diskursen zuzuordnen sind. Während dieersteKombinationsointerpretiertwerdenkann,dasshierderEmbryoalsTrä gervonMenschenwürdethematisiertwird,gehtesinderzweitenFormationum einereinnaturwissenschaftliche,d.h.vermutlich‚ethikfreie’KonstruktiondesDis kursgegenstandes Embryo. Treffen diese miteinander inkompatiblen Diskursord nungenaufeinander,kannmansichvorstellen,dassKämpfeumDefinitionsmacht entstehen. Die spezialdiskursive Begriffsformation ist leicht mit den Merkmalen 

232

9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

des wissenschaftlichen Erkenntnisstils in Übereinstimmung zu bringen (Differen ziertheit, Objektivität, Definition der Begriffe etc.). Dagegen fehlen der hier als Alltagswissen codierten Kombination „Embryo – Würde – Mensch“ die für diese Wissensform typischen Dimensionen; sowohl der Pragmatismus als auch die in tensive Subjektivierung sind nicht zu erkennen. In anderen Worten: Das Zähler gebnisdeuteteheraufdenInterdiskursalsaufdenAlltagsdiskurshin.DieseZu ordnungsproblematikistwohlunsererkontrastierendenVorgehensweisegeschul det, nach der eine zusätzliche Teilstichprobe „interdiskursives Wissen“ in dieser quantitativenPhasenichtvorgesehenwar. EindeutigdemAlltagswissenzuzuordnenistdagegendasLemma„Gefühle– Glück Liebe Freude“, das nur in diesem Erkenntnisstil mehr als 30 Nennungen erreicht. Weitere Lemmata zu Gefühlen wie „Gefühle – Leiden“ oder „Gefühle – Angst“ wurden in der Korrelationsmatrix ohne nennenswerte Zusammenhänge beobachtet(vgl.Abbildung9).WieausTabelle21ersichtlich,stehtdasBegriffsfeld in engem Zusammenhang mit dem Lemma „Familie“. Diese Kombination ent sprichtzweifellosdenMerkmalendesAlltagsdiskurses;siekannmitdenDimen sionen‚hoherStellenwertdesSubjekts’,‚elementaresWissen’und‚Sprecherpositi ondesBetroffenen’verbundenwerden.InteressantandiesemErgebnisistdieStel lungdesLemmas„Wissen“,dasoffenkundigausdiesemBegriffsfeldausgegrenzt ist:EshatdiedritthöchsteFaktorladung,erscheintabermitnegativemVorzeichen. Die negative Ladung bedeutet, dass das Auftreten von „Wissen“ gemeinsam mit denbeidenanderenLemmatasignifikantseltenist. Tabelle21

KombinationendesLemmas„Gefühle–GlückLiebeFreude“ Alltagswissen

Spezialwissen

Lemma

Faktorladung

Familie

0,79



Medizin

0,67

Gefühle–GlückLiebeFreude

0,67



Krankheit

0,63

0,24



Gefühle–GlückLiebeFreude

Wissen

Lemma

 Berechnungsgrundlagen:TAW,n=470,TSW,n=446. HauptkomponentenanalysemitVarimaxRotation.







Faktorladung

0,24

233

9.5Spezialwissen,AlltagswissenundihreDiskursgegenstände

Im Spezialwissen taucht wiederum das Lemma „Gefühle – Glück Liebe Freude“ nurinnegativerAbgrenzungauf,indiesemFallinVerbindungmitderKombina tion „Medizin“ und „Krankheit“. Ohne diese Kopplung weiter interpretieren zu wollen, kann man hier eine Leerstelle des Spezialwissens vermuten, die mögli cherweiseaufAusschlussregelnbeiderFormationderBegriffezurückzuführenist. ImletztenBeispielgehtesalsleitendesBegriffsfeldumeinLemma,dasschonals Unterthema des 1000 FragenForums eine Rolle gespielt hat: „Tod & Sterben“ (Tabelle22). KombinationendesLemmas„Tod&Sterben“

Tabelle22

Lemma

Alltagswissen Faktorladung

Spezialwissen Lemma

Faktorladung

Tod&Sterben

0,81



Tod&Sterben

0,79

Hilfe

0,65



Leben

0,59

Leben

0,48



Geburt

0,49

 Berechnungsgrundlagen:TAW,n=470,TSW,n=446. HauptkomponentenanalysemitVarimaxRotation. 

InbeidenWissensformenstehtdasLemmaimZusammenhangmit„Leben“.Das AlltagswissenergänztdieseKombinationum„Hilfe“;dieseKopplunglässtandie alltagsspezifischePragmatikdenken.ImSpezialwissenerhältdasBegriffsfeld„Tod & Sterben“ mit dem dritten Lemmata „Geburt“ einen semantischen Gegenpol. Allerdings ist an dieser Stelle bei der Interpretation Vorsicht geboten: Die durch dieFaktorenanalyseerrechnetenKombinationenlassenwiedereinmaldieGrenzen der Interpretationsfähigkeit von Zählergebnissen deutlich hervortreten, denn denkbarist,dassdieauffälligenKopplungenebensodurchübergreifendesemanti sche Strukturen (z.B. das Wort „Sterbehilfe“) verursacht sein können wie durch diskursiveFormationsregeln.  



234

9DieMachtdesWissensin„1000fragen.de“–EinewissenssoziologischeAnalyse

9.6 Fazit In diesem Kapitel sind wir den Spuren der Macht im Wissen Schritt für Schritt gefolgt.ZunächstließensichdieMerkmalederbeidenuntersuchtenErkenntnissti leAlltagsundSpezialwissenindensechsDimensionenGradderSpezialisierung, Stellenwert des Subjekts, Handlungsorientierung, Logiken, sprachliche Konstruk tionen und mögliche Sprecherpositionen empirisch unterscheiden. Anschließend konntentypischeLegitimationsweisenidentifiziertwerden:ImAlltagswissenzählt diepersönlicheErfahrung,imSpezialwissendagegendiewissenschaftlicheRatio nalität.DarausergabensichfürdieeinzelneWissensformdielegitimenSprecher positionen:‚Betroffene’aufdereinen,‚Experten’aufderanderenSeite. Unsere Vermutung, dass die vorgefundenen Unterschiede zwischen den Er kenntnisstilen in der diskursiven Praxis zu gegenseitiger Abgrenzung und Aus schlüssenführenmüssten,fandenwirteilsbestätigt,teilswiderlegt–eineeindeu tigeRegelließsichdurchdieBetrachtungderformalenKategorie„Wissensform“ allein nicht formulieren. Darum wurde die Forschungsperspektive erweitert und eswurdenVerknüpfungenzwischenderinhaltlichenundderformalenEbeneder diskursivenPraxisbeleuchtet:EntsprechendgingenwirderFragenach,obesem pirisch nachweisbare Zusammenhänge zwischen den Wissensformen und den Diskursgegenständenbzw.Begriffsformationengibt. DiequantitativeUntersuchungderLemmataerbrachtefürdiebeidenErkenn tnisstile das Bild eines sich teilweise überschneidenden Wortschatzes, wobei die Verteilung je nach Begriffsfeld eigene Muster aufwies. Am Beispiel des Lemmas „Religion“wurdedeutlich,dassAlltagsundSpezialwissenauchdann‚imWider streit’liegenkönnen,wennsiediegleichenBegrifflichkeitenverwenden:Einege nauereAnalysederFundstellenlegtewesentlicheUnterschiedeinderKonstrukti onvonGegenständenundBegriffsfeldernoffen.DieinsgesamtnochgeringeAus sagekraft der Streuung einzelner Begriffe über die Wissensformen wurde durch denEinsatzbiundmultivariaterVerfahrenverbessert.FürdieeinzelneWissens formkonntentypischeBegriffskombinationenoffengelegtwerden.DieErgebnisse der Faktorenanalysen wurden diskurstheoretisch als Indikator für Formationsre geln der Begriffe gewertet: Ohne die einzelnen Äußerungen angesehen oder gar hermeneutischgedeutetzuhaben,kannmanimSinneFoucaultspostulieren,dass dieStreuung von Äußerungen z.B.um „Embryo–Würde –Mensch“im Alltags wissenanderenRegelnfolgtundandereDiskursgegenständeerzeugtalseinespe zialdiskursive Streuung „Befruchtung – Körper – Gene – Embryo – Mensch“. In anderenWorten:DerEmbryodesAlltagswissensteiltmitdemEmbryodesSpezi alwissens zunächst einmal nur die Bezeichnung – nicht mehr und nicht weniger. 

9.6Fazit

235

DieseBeobachtungistumsobedeutsamer,alsessichbeidenaufgedecktenForma tionsregelnmöglicherweiseumsolchedesInterdiskurseshandelt,d.h.wirtreffen nunmehr auf einen Wissenstypus, der, wie ausgeführt (vgl. Kap. 8), wegen der MehrdeutigkeitdesverwendetensprachlichenMaterialsnichtsoeinfachzuidenti fizieren ist wie etwa spezialdiskursives Wissen. Aus diesem Grund lohnt es sich, das interdiskursive Wissen – anhand von thematisch fokussierten Fallstudien – genauerzubetrachten(vgl.Kap.10).



10 DieBedeutunginterdiskursiven Wissensverstehen:Fallstudien

Auf unsererSuche nach Strukturenim Onlineforum „1000fragen.de“ hat dasdis kursive Ereignis schon einige seiner Rätsel enthüllt, so dass sich so manche, auf den ersten Blick ‚unsinnig’ erscheinende Diskussionsverläufe besser verstehen lassen.Jedochistabzusehen,dasswegenderalltagsnahenRahmungdieimMate rial konstruierten Diskursgegenstände an den Rändern unscharf bleiben. Gleich wohlmöchtenwirderGrundannahmedieserStudie,dassdieuntersuchtediskur sive Praxis Diskursgegenstände bzw. Wissensbestände produziert, die für den alltagsnahen Interdiskurs charakteristisch sind, weiter nachgehen. Um für den forschendenBlickdieLupenochetwasschärferzustellen,isteineKonzentration auf ausgewählte thematische Ausschnitte des Diskursereignisses sinnvoll. Im fol genden Kapitel werden Fallstudien vorgestellt, die anhand einzelner Diskursge genstände die Funktionsweise des interdiskursiven Wissens beispielhaft beleuch ten:IndererstenStudiezum‚Klon’(10.1)werdenSubjektivierungsmusterthema tisiert; die anschließende Analyse der Äußerung „Jeder soll selbst entscheiden“ bringt die interdiskursive Kombinatorik einer ‚Ethik ohne die Anderen’ hervor (10.2).DiedritteEinzelstudiestelltbekannteundungewöhnlicheGrenzziehungen imVerhältnisvon‚Normalität’und‚Behinderung’vor(10.3).

10.1 Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein) Finden wir im 1000 FragenForum „interdiskursives Material“218 (Link 2005, 90), also Aussagen, Argumentationen, Themen und Kollektivsymbole, die Auskunft gebenkönnenüberdieimalltagsweltlichenSprechenüberBioethikwirksamwer dendenFormenderSubjektkonstitution?HierbietetsichdieSprachneuschöpfung ‚Klon’an,diezuerstimwissenschaftlichenKontextaufgetretenistunddanninden  218 Interdiskursives Material muss einerseits für viele Menschen unmittelbar einleuchtend, d.h. ver allgemeinerbarsein,andererseitsmussessichalsalltagstauglicherweisen,d.h.esdarfsichnicht aufeinSpezialgebietbeschränken(vgl.3.5.2).



10.1Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein)

237

Alltagsdiskursübernommenwurde.DerKlon(gr.)bezeichnetzunächstnichtmehr als eine durch Zellteilung oder ungeschlechtliche Vermehrung entstandene An sammlunggenetischidentischerZellen.ImFrühjahr1997wurdedurchdasSchaf Dolly das Klonen zu einer sichtbaren Wirklichkeit; zwar war das Ergebnis nicht besonders zufriedenstellend, denn Dolly verstarb aufgrund vorzeitiger Alterung sehrschnell(Gaskell/Bauer2001,3ff.);dieMöglichkeit,dieKopieeinesLebewesens –unddamitaucheinesMenschen?–erschaffenzukönnen,hatseitdemjedochals realitätsmächtiges Bild Eingang in das populäre Wissen gefunden (vgl. Bog ner/Menz2006;Graumann/Poltermann2006).Obwohlesden‚menschlichen’Klon nochgarnichtgibt,scheintseineRealisierungdurchdasKlonschafDollyingreif bareNähegerücktzusein.Anfang2003–alsowährendderLaufzeitder1000Fra genDebatte–gabenNachrichtenvonangeblichgeglücktenKlonexperimentenan menschlichen Embryonen diesen Machbarkeitsvorstellungen neue Nahrung.219 ZeitgleichsprachsichdieBundesregierunggegendassogenanntetherapeutische und reproduktive Klonen aus und fasste den Beschluss, sich gemeinsam mit Frankreich vor den Vereinten Nationen für ein weltweites Verbot des Klonens menschlicherZelleneinzusetzen.220AufeuropäischerEbeneverliefendieDebatten jedochuneinheitlich.ImApril2003erklärteeinGerichtinGroßbritannienineinem BerufungsverfahrendieZeugungvonEmbryonenzutherapeutischenZweckenfür rechtmäßig. Mit dieser juristischen Reaktion auf die Klage von Eltern, die ihren tödlich erkrankten Sohn durch die Zellspende eines eigens für diesen Zweck er zeugtenBrudersrettenwollten,wurdeindirektauchdemKloneneinelebenserhal tendeBedeutungzugeschrieben.221ObwohlderErfolgderBehandlungkeineswegs erwiesen war, kam es durch die Verbindung von Reproduktion und Therapie zu einer Verschiebung in der Klonierungsdebatte: Der Klon, mit dem man bislang eher funktionale Menschenzüchtung assoziiert hatte, erhielt eine ‚menschliche’, ‚helfende’ bzw. ‚humanitäre’ Dimension und schien damit seiner moralischen Fragwürdigkeitentledigtzusein.

 219 ImFebruar2003meldetedieitalienischeTageszeitung„IlTempo“unterBerufungaufdenGynä kologen Severino Antinori eine entsprechende Geburt in China – dies wurde von chinesischen Genetikernjedochdementiert(Aktuell2003). 220 Vgl.hierzu:http://www.kritischebioethik.de/deutschland_news_uno2.html(23.04.2008). 221 Vgl.hierzu:  http://forum.politik.de/forum/showthread.php?t=6237(23.04.2008);  http://www.journalmed.de/newsview.php?id=7735(23.04.2008).  StrenggenommenhandelteessichbeidiesemFallnichtumKlonen.  DaszuzeugendeKindsolltenurdasgleicheelterlicheErbguthaben(vgl.10.1.3).



238

10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

Das biologische, gentechnologische, medizinischeund auch juristische Spezi alwissen, das notwendig ist, um die Anwendung von Klonierungstechniken ver stehen zu können, wird in aktuellen Publikationen ausführlich diskutiert (vgl. Heinemann 2005). In dem hier vorliegenden Untersuchungskontext geht es nicht umdieseKlonierungspraxis;vielmehrsollder‚Klon’,wieobenbereitserwähnt,als ein interdiskursives Fundstück betrachtet werden, das Hinweise geben kann auf dieinbioethischenKontextenwirksamwerdendenFormenderSubjektkonstituti on. In diskursanalytischer Perspektive ist davon auszugehen, dass der ‚Klon’ als ein spezialdiskursives (Wissens)Produkt über interdiskursive Verbildlichung in dasAlltagwisseneinfiltriertundhierals‚Entwurf’einesLebewesensmitmenschli chenZügenseineeigeneMaterialitäterhält.ImSinnedesLink’schen„‚Kreativzyk lus’“ handelt es sich dabei keineswegs um einen einseitigen Prozess von „‚oben’ [nach]‚unten’“(Link2003a,15);vielmehrbietetderKloneineProjektionsflächefür „subjektive und sozial alternative Akzentuierungen und Identifizierungen“ (Link 2005, 92). Fragmente alltagsweltlicher SelbstRepräsentation werden in die Kons truktiondesKlonseingespeist.MöglicherweisegeradeweilesdenKlonalsmen schliches Double (noch?) gar nicht gibt, zieht er assoziative Denkfiguren an: In dem‚künstlich’hergestelltenLebewesenrealisierensichBilderundKonzeptevom Subjekt, die durch persönliche Wünsche, Bedürfnisse und Phantasien ebenso wie durch das Fiktionalisierungspotenzial der Wissenschaften (science fiction) angerei chertsind.DieseDiskursverschränkungenanimierendazu,diemitdemKlonver bundenen „existentielle[n] Herausforderungen fort ins Reich der Imagination“ (Geier1999,28)zuspinnen. Die nachfolgende Präsentation wird durch eine Reflexion der für eine inter diskursive Verortung des ‚Klons’ relevanten Begriffe eingeleitet (10.1.1): Formal wirdder‚Klon’als‚Metapher’betrachtet,inhaltlichstehtdas‚Menschenbild’bzw. die SubjektKonstitution zur Diskussion. In Vorbereitung der empirischen Unter suchungwerdenanschließenddiediskurstheoretischenAnschlüssedieserTeilstu die an die Gesamtuntersuchung in Erinnerung gerufen, methodische Überlegun genunddieleitendenFragenpräsentiert(10.1.2).DieErgebnissederempirischen Analyse werden exemplarisch vorgestellt (10.1.3). Abschließend erfolgt ein Resü meeundeswirdeineoffeneForschungsfrageformuliert(10.1.4).

10.1.1 ‚Metapher’und‚Subjekt’ EinediskurstheoretischeSpezifizierungdesmenschlichenKlonskannaufderfor malenundderinhaltlichenEbenevorgenommenwerden.AufderformalenEbene 

10.1Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein)

239

sollderaufdenMenschenangewandte‚Klon’BegriffalsMetapher(gr.metaphorà: Übertragung)betrachtetwerden,alsrhetorischeFigur,dieeinesemantischeLeers telle im ‚eigentlichen‘ Wortschatz ausfüllt.222 In der Interdiskurstheorie von Pêcheux und Link spielen Metaphern eine zentrale Rolle (vgl. 3.5.2 und 3.5.3).223 Für Pêcheux (1984, 98) repräsentieren sie eine „Störung (man könnte auch sagen: eine‚Krankheit’desSinns)“.FürLink(1993,82f.)sindMetaphern„motivierteZei chen“, die „SinnSpeicherung durch symbolische Akkumulation“ betreiben und dadurchdie„HerstellungabweichenderkulturellerMaterialitäten“bewirken.De rartige‚Zeichen’hätteneinenambivalenten,zumTeilparadoxenCharakter:Zum einenneigtensieaufGrundihrertraditionsbildendenFunktionzueinergewissen Schwerfälligkeit. Zum anderen erlaube ihre Bildhaftigkeit immer wieder neue Grenzziehungen; sie seien daher mit einer enormen Flexibilität ausgestattet. Link (1985,108)warntjedochauchvoreinerÜberbewertungvonMetaphernbzw.ihrer kulturellen„Totalisierungen“:224Siedürftennicht„fürdas‚Wesen’,fürdie‚Wahr heit’ der Kreuz und Querschaltungen von Diskursen und Dispositiven genom men“(Link1985,112f.)werden,dasiebloß„durcheine‚zufällige’Folgediskursi ver Ereignisse miteinander [.] gekoppelt worden“ seien (Link 1985, 113, Hervorh. dort). In neueren Studien zur Wissenschaftsgeschichte ist diese Kopplungsfunktion von Metaphern herausgearbeitet worden (vgl. Arnswald 2004; Brandt 2004; Hejl 2000;Sarasin2003).MetaphernsindalsoeintypischesElementsowohldesSpezi aldiskurses als auch des Interdiskurses. Letzterer integriert Wissensbestände un terschiedlichster inhaltlicher oder formaler Provenienz und macht sie subjektiv applizierbar. Der Alltagsdiskurs ist nach Lakoff und Johnson (2004) ebenfalls zu einem großen Teil durch Metaphern organisiert. In der Verbindung von Wahr nehmungundSinnkonstruktionbetonenMetapherngeradenichtdieintellektuell kognitive Seite der Verständigung, sondern bieten eine bildhafte Darstellung des subjektiven Erlebens: Sie repräsentieren Erfahrungen, Erinnerungen, Emotionen und Assoziationen. Derartige ‚Bilder’ erschließen sich ‚auf den ersten Blick’; sie  222 FürSigridWeigel(2006,210)fungierenMetaphern„alsStichwortgeber,undMedienderTheorie bildung.MitihrerHilfekommenBegriffeauseinemWissensfeldzumEinsatz,umdorteinenpro duktiven Umgang mit neuen Fragestellungen zu ermöglichen.“ In der neueren Diskussion wird dasErsetzungsmodellzunehmendvoneinersogenanntenInteraktionstheorieabgelöst.Demnach wird literarische Metaphorik nicht als mechanische Ersetzung des ‚eigentlichen‘ Ausdrucks ver standen,sondernalseigenständiger„ModusderWirklichkeitserfahrung“(Szondi1975,89). 223 Auf Allegorien und deren Standardisierung durch die so genannte „Kollektivsymbolik“ (Becker u.a.1997;Link1982b;1984;2001)sollandieserStellenichtweitereingegangenwerden. 224 Selbst die Foucault’schen Machtdispositive wie beispielsweise die Sexualität funktionieren nach Link(1985,109,Hervorh.dort)„immerauchsemantischsymbolisch“.



240

10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

‚funktionieren’, da weniger die Einzelheiten als vielmehr die hauptsächlichen Merkmale eines Gegenstandes in den Vordergrund gerückt werden (Heid 2000,75).SiesindzudemüberdenMomenthinauswirksamundhabendahereine GedächtnisbildendeFunktion(vgl.Heid2000,76). Auf der inhaltlichen Ebene verweist die KlonMetapher auf zentrale – epo chenspezifische und kollektiv geteilte – Aspekte gegenwärtiger Subjektkonstituti on.225DiepoststrukturalistischeDebatteistbekanntfürihreradikaleSubjektkritik; nachJudithButler(2001,15)mussdasSubjektalseine„inFormierungbegriffene Struktur“betrachtetwerden.Foucault(1994,243)interessiertsichinsbesonderefür die „Weisen der Objektivierung, die Menschen in Subjekte verwandelten“ und widmet dabei den „Teilungspraktiken“ besondere Aufmerksamkeit (vgl. 3.2).226 Durch „Kategorien“Bildung, so schlussfolgern Dreyfus/Rabinow (1994b, 246), werde das Subjekt zu einem „Gegenstand“ (Dreyfus/Rabinow 1994b, 243) inner halb einer MachtWissenFormation. Die an Individualisierung gekoppelten Sub jektivierungspraktiken finden daher in einem Feld statt, in dem sich Macht und Freiheit nicht ausschließen, sondern sich vielmehrin Form von Technologiendes Selbst einen Weg bahnen (vgl. Krasmann 2007).227 Die strukturelle Verkopplung vonSubjekt,WissenundMachtzeigtsichimAlltaginFormvon„Kämpfen“oder „Oppositionen“, „durch den Gegensatz der Strategien“ (Foucault 1994, 245). Der KlonimAlltagsdiskursdes1000FragenForumsvermagalsoAuskunftdarüberzu geben,wiesichdieUser„imgesellschaftlichenKontextunterschiedlichsterdiskur siver Felder und Kämpfe“ (Keller 2004, 70) präsentieren. Entscheidend in diesem Zusammenhangist,welcheFormenundspezifischenElementederSubjektkonsti tution für relevant erachtet werden, oder diskursanalytisch ausgedrückt: welche Regelmäßigkeiten in der Formation der Begriffe, Gegenstände, Diskursstrategien undÄußerungsmodalitätenzuTagetreten.

 225 DieBezeichnung‚Subjekt’wendetsichgegendieimBegriff‚Menschenbild’angelegteOntologisie rung,TranszendierungundAnthropologisierung(vgl.Grundmann/Beer2004). 226 Die Zuschreibung von Höher und Minderwertigkeiten resultiert nicht zwangsläufig aus diesen Teilungspraktiken;‚Grenzziehungen’sindaberdieVoraussetzungfüreineHierarchisierung. 227 Für Foucault (1983, 190) gehört es vielmehr zur Ironie des Aufklärungsdispositivs, dass „es [...] unsglauben(macht),dassesdarinumunsere‚Befreiung’geht“.



10.1Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein)

241

10.1.2 DiskurstheoretischeAnknüpfungspunkteunddasAufspürenvonFundstellen Sondieren wir die im Rahmen des Forschungsprojekts zusammen getragenen Überlegungen,soergebensichfürdieAnalysederKlonMetapherfolgendeAnk nüpfungspunkte:  ƒ Interdiskurstheorie: Eine Analyse der KlonMetapher kann interdiskursive Kopplungenzwischender‚horizontalenEbenedesWissens’undder‚vertika lenEbenederMacht’zuTagefördernsowieEinblickeindie‚(Subjekt)Appli kation’unddenKreativzyklusermöglichen. ƒ Wissenssoziologie: Die KlonMetapher ist wissenssoziologisch betrachtet inter essant wegen ihrer Unschärfe bzw. Mehrdeutigkeit. Von ihrer Bildhaftigkeit geht eine enorme Diskurswirkung – im Sinne einer Neuordnung von Wis sensbeständen–aus. ƒ Mediale Rahmung: Virtualisierung und Anonymität korrespondieren mit der KlonMetapher: ‚Entdualisierungsprozesse’ führen zum Verschwimmen her kömmlicher Grenzziehungen zwischen Fakten und Realität bzw. zwischen MenschundMaschine. ƒ Codebaum:AufderinhaltlichenSeitedesCodebaumsunterderHauptkatego rie „Subjekt“ nimmt der Code „Grenzziehungen“ einen zentralen Platz ein, undzwarmitdemUntercodeMensch/Klon(nebenMensch/Tier,Mensch/Gott, Mensch/Maschine, Mensch/noch nicht Mensch, Mensch/nicht mehr Mensch, [Im]PerfekterMensch).  Es kristallisiert sich ein Begriffshorizont heraus, der ‚Metapher’ bzw. ‚Bildhaftig keit’, ‚Grenzziehungen’, ‚Subjekt’ und die ‚Logik kultureller Umdifferenzierung’ umfasst.WiekanndiesediskurstheoretischeRahmungnunaufdieUntersuchung des Diskursstrangs zum ‚Klon’ angewendet werden? Interessiert an der Frage, welche„epistemologischen,wissenschaftsgeschichtlichenundimaginärenVoraus setzungen die gegenwärtige Genetik und Reproduktionsmedizin ermöglicht ha ben“, hat Sigrid Weigel (2002a, 11) angeregt, den „symbolischen und imaginären Subtext“derBioethikDebattezuuntersuchen.Dieser‚Subtext’versprichtebenfalls Aufschluss zu geben über Brüche, Veränderungen und Transformationen in der Klondebatte.WasdenktdieBevölkerungeigentlichüberdieseFigurder‚schönen, neuen Welt’? Welche Fragen, Unsicherheiten, Zweifel bezogen auf das, was ge meinhinals‚menschlich’betrachtetwird,wirftder‚Klon’auf?WelcheSubjektivie rungsformensindunterdemStichwort‚Klon’angesprochen?Beziehungsweise:In welcherArtundWeiseentwirftsichderMenschimKlonalsSubjekt? 

242

10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

Bevor die Ergebnisse der Fallstudie präsentiert werden (10.1.3), sollen in der gebotenen Kürze die Untersuchungsschritte erwähnt werden: Eine Textsuche mit demStichwort‚Klon’ergab2.330Fundstellen.228DarauffolgtendreiweitereSchrit te:ErstenswurdeinnerhalbdieserThreadseineSuchemitdemStichwort‚Ersatz teil’vorgenommen;hierergabensich145Fundstellen.DieEntscheidungfürdiesen Suchbegriff begründete sich mit der inhaltlichen Korrespondenz zum Code ‚Grenzziehungen’,derimCodebaumzurKategorie‚Subjekt’gehörtunddemder Untercode‚Klon/Mensch’zugeordnetist(vgl.7.3).DieImaginierungdesmenschli chen Klons wird als voraussetzungsvoll erachtet: Wenn Teile des menschlichen Körpers durch Medizintechnik ausgetauscht werden können, ist perspektivisch auchderganzeMensch‚ersetzbar’.DerKlonistscheinbaridentischmitdemOri ginal. Die damit angesprochenen Fragen betreffen insbesondere den Stellenwert vonIdentitätundEmotionenfürdiepostmoderneSubjektkonstitution(vgl.Illouz 2006;Schützeichel2002).UmwiederumdieBedeutungdiesesThemenbereichsfür die Klondebatte einschätzen zu können, wurden mit den Stichworten ‚lieb*’ (133 Fundstellen) und ‚seel*’ (154 Fundstellen) zwei weitere Textanalysen vorgenom men.ZweitenswurdendiespezifischenKopplungenvonWissensformenanBegrif fe/Gegenstände im Reden über den Klon nachvollzogen. Aus den 2.330 Klon Threads wurden zunächst auf der Grundlage der Diktionärseinträge (vgl. 6.3.2) fünf zentrale Begriffe generiert: ‚Sexualität’, ‚Generation’ ‚Individuali tät/Subjektkonstitution’, ‚Körper’ und ‚Evolution’. Diese wurden dann durch die Feststellung einfacher Häufigkeiten dem Spezialdiskurs und dem Alltagsdiskurs zugeordnet. Drittens wurde am Beispiel eines medialen Narrativs die Spezifizie rungdesinterdiskursivenWissenstypusvorgenommenmitdemZiel,diefürden Interdiskurs typische ‚(Subjekt) Applikation’ und den ‚Kreativzyklus’ (vgl. 3.5.2, 8.6) näher bestimmen zu können. Die ausgewählten Diskursfragmente wurden schließlicheiner„‚qualitative[n]’Exploration“unterzogen(vgl.Link1993,86).

10.1.3 WiekonstituiertsichdasSubjektim‚Klon’? Das‚Ersatzteillager’ DerBegriff‚Ersatzteil’,derausdenSpezialdiskursendesMaschinenbausundder Autoindustrie in den Alltagsdiskurs eingegangen ist, bezieht sich in der Klon Debattedes1000FragenForumsvorallemaufdenKörper.Durchmedizintechno logische Neuerungen (z.B. Organtransplantation) hat das ‚Ersatzteil’ eine reale  228 GesuchtwurdeproThreadAbsatz.



10.1Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein)

243

Praxiserhalten.WennaberderMenschmiteinemBegriffausderMaschinenwelt belegtwird,soimpliziertdiesseinFunktionierenbzw.auchdieMöglichkeit,even tuellauftretende‚Fehler’reparierenzukönnen;das‚NichtFunktionieren’verliert damitseineBerechtigung.229DieIdeederKontrollevonSchwächestrahlteineam bivalente Faszination aus. Eine normative Bewertung des Begriffs wird daher im 1000 FragenForum eher verworfen: „‚ersatzteillager’ ist doch recht neutral, nur die kontexte zu diesem wort sind meist(!) horrorvisionär.“ (Thread 7276); „Was, bitte, ist dennaneinemErsatzteillagerschlecht?WennderMenschseinLebenzuEndegelebthat, ist es doch alle Mal besser, ein Ersatzteillager zu sein als in der Erde zu verfaulen!“ (Thread 4723) Bei dem MenschMaschineKonstrukt, das als erstes zentrales Ele mentderKlondebattevorgestelltwerdensoll,handeltessichumeinWissenspro duktderIndustrialisierung:„wenndieWissenschaftsichweiterhinsoanstrengt,dann hoffe ich, dass Menschen in Zukunft unheimlichunglaubliche Mischwesen aus Biologie undTechnikwerdenkönnten!MechanischeErsatzteilewärendasabsoluteHighlightund allemal effizienter als organische Transplantate! Man stelle sich vor, dass ich mir einen RoboterarmanbauenließemiteinemhydraulischenGelenk.Sicher,daswärewaffenschein pflichtig, aber auch sehr hilfreich! :)“ (Thread 5083) In dieser Textstelle werden im Unterschied zu organischen ‚Ersatzteilen’ mechanistische Vorrichtungen favori siert;dasKriteriumistEffizienz.EinhydraulischerArm,derfunktionelleinerWaf fegliche,wirdmiteinemironischenUnterton–manbeachtedasbenutzteEmoticon –als‚hilfreich’erachtet.TechnischeHilfsmittelsindMachtattributediesesfunktio nal konzipierten Klons, eines „Mischwesen[s] aus Biologie und Technik“. Während diesemilitaristischeMensch/MaschineKombinationmännlichkonnotiertist,wird die folgende Mensch/TierKombination mit Weiblichkeitsvorstellungen verbun den. „Das Schwein als Ersatzteillager für Humanorgane: Wäre es möglich, Gewebe der Milch/FettzellenderweiblichenBrüsteimSchweinzuzüchtenbiszurpassendenGröße, umdenFrauen,diedaswünschen,schädlicheSilikonImplantatezuersparen&trotzdem mitEigengewebedaspralleLebenzuliefern?Wennja,wiekönntedasgehen?“(Thread 8691) Die vordergründig helfende Haltung („um den Frauen, die das wünschen, schädliche SilikonImplantate zu ersparen“) wird strategisch eingesetzt, um im näch sten Moment die Frau, quasi durchdie Hintertür,zur Befriedigung sexualisierter Bilder zu funktionalisieren („mit Eigengewebe das pralle Leben zu liefern“). Dieses sexistischeBild–dieFrauwirdnaturalisiertundineinempaternalistischendouble bindgleichzeitigidealisiertunddiskriminiert–ähneltderStrategiedesRassismus (vgl.beispielsweiseHanke2007;Paul2004).  229 Vgl. zum Aspekt des ‚Funktionierens’ auch Foucaults Überlegungen zur Disziplinierung des Körpers(Foucault1983,135).



244

10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

DerKlon BeiderMaterialsichtungwirdoffenbar,dassdieKlonMetapheralsneues,zeitge mäßes Bild das mechanistische Modell des ‚Ersatzteils’ abzulösen scheint. Klone werden im 1000 FragenForum als geheimnisvolle Mischwesen mit fließenden Grenzen zwischen Mensch und Technik imaginiert (vgl. Klöppel 1999); in diesen Entwurf fließen Wissensbestände aus Genetik, Informationstechnologie und Ky bernetik ein. Bevor an einigen Beispielen dieser interdiskursive Charakter der KlonMetapherherausgearbeitetwerdensoll,gehteszunächstdarum,dieempiri sche Verteilung der mit dem Suchwort ‚Klon‘ eruierten Fundstellen zu rekons truieren. Es findet sich eine Schwerpunktsetzung auf Fragen von Sexualität, Zeugung undFortpflanzung.WieTabelle23zeigt,gibtesdieweitausgrößteZahlderFund stellen unter der Kategorie „PID, PND, Wunschkinder“. Während sich im Unter thema„TherapeutischesKlonen“jedochnur32Fundstellenfinden,weistdasUn terthema„ReproduktivesKlonen“621,alsoca.19malsovieleFundstellenauf(vgl. Tabelle 24). Das „reproduktive Klonen“ zieht also die weitaus größere Aufmerk samkeit auf sich. Die Verbindung mit der Kategorie „PID, PND, Wunschkinder“ machtdeutlich,dassVorstellungenvomreproduktivenKlonenaufdenMenschen (und nicht auf Zellen und Gewebe) bezogen sind, und hier ganz konkret auf die Fortpflanzung, auch wenn es sich dabei um den am wenigsten realistischen An wendungsbereich handelt. Der ‚Klon’ scheint vor allem als utopisches Konstrukt von Interesse zu sein: Er bildet eine Projektionsfläche für Wünsche, Hoffnungen undÄngsteundbeflügeltdiePhantasieder1000FragenUser. Tabelle23

FundstellenderZeichenfolge„klon“

Themengruppe

Anzahl derFragen %der Fundstellen %aller Themengruppe Fundstellen

PID,PND,Wunschkinder

2516

25,16%

656

70,16%

Heilen,Forschen,Experimente

2514

25,14%

125

13,37%

Der(im)perfekteMensch

2822

28,22%

81

8,66%

Ethik,Medien,Kommissionen

1112

11,12%

57

6,10%

152

1,52%

7

0,75%

Patente,Rendite,Wirtschaft Sterben,Sterbehilfe,Töten

774

7,74%

6

0,64%

Sonstiges

110

1,10%

3

0,32%

10000

100,00%

935

100,00%

Gesamt

 



245

10.1Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein)

Tabelle24

VerteilungindenThemengruppen „ReproduktivesKlonen“und„TherapeutischesKlonen“

Themengruppe

Unterthema

PID,PND, Wunschkinder

Reproduktives Klonen

Heilen,Forschen, Experimente

Therapeutisches Klonen

Gesamt



Anzahlder Fragen

%der Fragen

Fund stellen

%der Fundst.

749

94,21%

621

95,10%

46

5,79%

32

4,90%

795

100,00%

653

100,00%

 In der Auseinandersetzung mit dem Klon als Metapher für Formen der Subjekt konstitutionstelltsichzunächstdieFrage,obdieses‚Wesen’überhauptalsMensch gedachtwerdenkann.DazugibtesverschiedeneAuffassungen:„Ersteinmalstellt sichdochwohldieFrage,obeinKlonüberhauptetwasMenschlichesist?!Nurweileraus menschlichemMaterialgewonnen(produziert)wird,heißtesnochlangenicht,dassessich hierbeiumeinenMenschen(menschlichesWesen)handelt.[…]“(Thread189)Anande rerStelleheißtes:„DieseFrageistziemlichinteressant.DerKlonistjanichtsweiterals ein eineiiger Zwilling; nur ist er eben später geboren. Und zu einem individuellen Men schenwirder,wennmanihnwiejedenanderenMenschenauchaufwachsenlässt.Verges senwirbittenicht:DieEntstehungeineiigerZwillingeinderNaturistnichtsanderesals dasKlonenderbefruchtetenEizelle.EswachsenzeitgleichzweiKloneheran,unddennoch werden sie eines Tages zwei völlig eigenständige und individuelle Menschen sein. Nicht dasMaterialistderMensch,sonderndas,wassichalsResultatandauernderEntwicklung irgendwanneinstellt.“(Thread2563) In der letzten Äußerung wird das Klonen von Menschen in die Nähe eines ‚natürlichen’ Ereignisses (der Zwillingsgeburt) gerückt. Demzufolge scheint auch derStatuseinesKlonsmitdemeines‚natürlichgeborenen’Menschenidentischzu sein.ImfolgendenThreadhingegenwirddasMenschlichedesKlonsangezweifelt, da subjektive Empfindungen, die sowohl ‚Normalität’ wie auch Einzigartigkeit definieren, in Frage gestellt zu sein scheinen: „Kann sich ein Klon wie ein normaler Menschfühlen?[…]oderstellenwirdieFragemalandersrum:Würdestdudichwieein normalerMenschfühlen,wenneseineKopievondirgäbe?(Thread9841) DieFragenachdenSpezifikadesMenschenalsGattungswesenverweistunter anderemaufdenAspektderHerkunft:„IstesinunsererZeitwirklichwichtigzuwis senwerwirsind.GibtesnichtgenugFällevonunehelichen>Kindernodersolchenwodie Mutter noch nicht einmal weis wer der Vater ist. Oder sind schwere Krankheiten oder 

246

10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

DefekteeineIsolationdieserPersonenwertzuwissenwermanist.Werhatschondie Wahlderzuseindererist.ImFallevonGenetikhättedieElterndieWahlihremKindden bestenStartzuermöglichen,deneineEizellemußaufjedenFallnochvorhandenseinalso aucheineMutter.“(Thread9793) DieFragenachderHerkunftwirdindiesemThreadauchalsFragenachder Identität bzw. nach den Möglichkeiten individueller Selbstbestimmung gestellt (vgl.Castells2002;Kerner2003;Weigel2002b,173).WirdhiernocheineEizelle– „und also auch eine Mutter“ – für notwendig erachtet, so verweist der folgende Thread auf die Unbestimmbarkeit der Herkunft bei einer ungeschlechtlichen Fortpflanzung: „Wenn unser geliebter gestorbener kleiner Sohn geklont werden könnte, werwäreerdann?“–„Aufwasbeziehtsichdas‚er’inderFrage?WennIhrgeliebterge storbener,kleinerSohngeklontwerdenkönnte,wäreerimmernochIhrgeliebtergestorbe ner,kleinerSohn.DerKlondagegenwäreIhrgeliebter(?),lebenderSohn,abereinanderer. Also vergesst das Klonen, macht neue Kinder, es gibt keinen vernünftigen Unterschied. (Thread 3877) In dieser Fundstelle wird Identität betrachtet als etwas, das über emotionaleBindunghergestelltwird.EswirdanbekanntenVerwandtschaftsmus ternangeknüpft(vgl.Becku.a.2007;Weigelu.a.2005),indemderKlonals„kleiner Sohn“bezeichnetwird.Gleichzeitigisterjedochauch„einanderer“,verkörpertalso nichtVertrautheit,sondernFremdheit.DochwirddiegrundsätzlicheUnterscheid barkeit der beiden Herkunftsmuster bestritten, denn was zählt, ist die aktuelle Beziehung.EsgehtumLiebe,unddiesewirdallenKindernohneUnterschiedzu teil.InderKonsequenzwirddafürplädiert,NachkommenaufdemüblichenWeg zuzeugenundnichtzuklonen–sicherauch,umdieimfolgendenThreadangesp rochenen Probleme und Unsicherheiten zu vermeiden: „wie wollen wir jemanden erklärenkein‚natürlicher’menschzusein,andersalsalldieanderenzusein,keineeltern zuhaben,einprojektausdemlaborzusein,einewunschbestellungauseinemkatalog??? man muss sich doch über die folgen eines solchen projektes und daseins klarwerden! wie würde es ihnen gefallen wenn sie jetzt erfahren ein clone, kein natürlich geborener, aus menschlicher liebe entstandener mensch zu sein? scheiß gefühl, oder? mensch ist mensch undnichtgott!!!(Thread9793)IndieserFundstellewirdderKlonals‚unnatürli cher’ Mensch betrachtet, der aber über menschliche Empfindungen verfügt: Er leidetaufgrundmangelnderZuwendungundvorallemaufgrundseinervonMen schen gemachten ‚unnatürlichen Entstehungsgeschichte’. Da der Klon für sein eigenes Schicksal nicht verantwortlich gemacht werden kann, begegnet man ihm mitEmpathie. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zwei entgegen gesetzte Positio nenvorzufindensind:ZumeinenerscheintderKlonalseinWesenmitmenschli chenEmpfindungen;erwirdalsunschuldigbetrachtet,giltalsbemitleidensund 

10.1Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein)

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schützenswert.EswirddiePerspektivedesKlonsbetontunderwirdalsemotiona lesWesengesehen.InderkonträrenPositionwirddieReaktionderUmweltnach vollzogen:DerKlonwirdals‚künstlich’bzw.‚unnatürlich’betrachtet;durchdiese „Verdinglichung“ (Honneth 2005) wird er (bzw. ‚sie’ oder ‚es’) zu einem Wesen, das ohne Bedenken funktionalisiert bzw. ‚ausgeschlachtet’ werden kann. Insge samt tritt eine große Unsicherheit zu Tage, wie ‚menschliche Klone’ tatsächlich ‚aussehen’ bzw. sein könnten. Häufig nähert man sich der Thematik durch das Herausgreifen von Einzelaspekten. Dabei wird den Gefühlen als spezifisch men schliche bzw. den Menschen kennzeichnende Phänomene große Bedeutung bei gemessen.  DerKlonunddieLiebe ImMaterialfindensichauffälligealltagsweltlicheVerschränkungenderKlonund Liebesthematik;siewerdenimFolgendenamBeispieldermitdemSuchwort‚lieb*’ eruierten Threads aufgezeigt. Zunächst wird von der Vorstellung von Liebe als eineremotionalenBindungzwischenMenschen–geradeaufGrundihrerEinzigar tigkeit–ausgegangenundeswirdderWunschsichtbar,dengeliebtenMenschen mittels Klonierungstechnik ersetzen zu können: „du liebst einen menschen, der ge storben ist, und zerbrichst  würdest du ihn dann klonen wollen (z.b. dein eigenes kind, weilesdurcheinenunfallumslebenkam)????“(Thread5705)Einerseitswird,wiein derfolgendenÄußerung,fürmöglichgehalten,dassmanauchzueinemKlonein Liebesgefühl empfinden kann: „Warum geht eigentlich jeder davon aus, dass Klone bzw. InVitroKinder keine Gefühle hätten? Ist das nicht ein bisschen zu pathetisch, was hiermanchmalvonsichgegebenwird?Außerdem:Warumkannsichniemandvorstellen, dass auch Maschinen, sofern es gelingt, ein künstliches Bewusstsein herzustellen, lieben können?“ (Thread 6154) Andererseits bestehen aber auch grundsätzliche Zweifel, ob ein derartiges Beziehungsgefühl zu einem Klon überhaupt existieren kann: „Werliebt(m)einenKlon?“(Thread6335)BeidePhänomenescheinensicheheraus zuschließen,wiediefolgendeFundstellezeigt:„Klonendürftewohlehereinbiologi scherVorgangsein,dieLiebehingegen...na,schnaggelts?“(Thread951) InnerhalbderThreadswirdinderRegeldieEinzigartigkeitderLiebebetont. So haftet beispielsweise der Frage „Kann man Liebe klonen?“ (Thread 1886), eine gewisse Absurdität an. In der nächsten Fundstelle wird die Liebe nicht mehr als Ausdruck eines Gefühlszwischen Menschen betrachtet, sondern als ein von Gott gegebenesGeschenk.„Hallo,vielleichtwillGottjagarnichtdas,wasihrsowollt.Ein 6erimLottomachtauchnichtewigglücklich!!Wersodenkt,istmeinerMeinungnachein Esel! Und Gott liebt zwar die Menschen, aber ich denke, dass die Grenze der Liebe beim Klonenerreichtist!!“(Thread4526)DerKlonmarkierthieroffensichtlichdieGren 

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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

zenderLiebebzw.derLiebesfähigkeit.Das‚Göttliche’verkörpertsichinderLie be,dessenGegenpolistdas‚Menschliche’,repräsentiertdurchdenKlon:„Liebeist göttlichKlonenistmenschlich?Unmenschlichlieblos!“(Thread2000) Der Klon ruft jedoch nicht nur Gedanken an die Einzigartigkeit von Liebe wach,sondernerinnertauchanUngeliebtes,dasmangerneananderedelegieren möchte.ErwirdindiesemZusammenhangalseinWesenvisioniert,überdasver fügtwerdenkann:„Habeichbaldmeinen‚KlonSklaven’,derallesUnliebsamefürmich übernimmt?(Thread1772)DasThema‚Verantwortung’–hierimSinnevon‚Ver antwortungabgeben’wirdauchinderfolgendenÄußerungaufgegriffen,hierin Form eines impliziten Appells, Verantwortung zu übernehmen. „Merkt niemand, dasshinter„Klonbabys“dieIdeologiedes3.ReichesstehtverkleidetimMäntelchender Nächstenliebe? (Thread 3140) Der plakative Verweis auf den Nationalsozialismus kannalsWarnunginterpretiertwerden,sichimHierundJetztGedankenüberdie ethischen Folgen der neuen Reproduktionstechnologien zu machen. Der humani täre Zweck des therapeutischen Klonens wirdals Funktionalisierung bzw. Mach barkeitsphantasie‚entlarvt’. Die beiden ersten Untersuchungsschritte zu ‚Klon/Ersatzteillager’ und zu ‚Klon/Liebe’habendeutlichgemacht,dassderKloneineAuseinandersetzungdar überanregt,wasdenMenschenzumMenschenmacht,bzw.wasals‚menschlich’ bzw. ‚unmenschlich’ definiert werden soll. Als ein spezifischer Aspekt des Men schen kann Emotionalität ausgemacht werden. So wird zwar von einer Empfin dungsfähigkeitdesKlonsausgegangen,aberdieLiebe–alsein‚großes’Gefühl– kann nur mit Mühe mit ihm in Verbindung gebracht werden. Das Besondere an der Liebe ist, dass sie sich als eine Grundform von Sozialität immer auf andere Menschen bezieht, also intersubjektiv erzeugt wird. Diese Bindung scheint beim Klonundenkbarzusein;vielmehrkonstituiertsichindiesemBilddasindividuali sierteSubjektalseinvonFunktionalitätdurchzogenesMachtensemble,dasandas ‚Ungeliebte’erinnert.  DerKlonunddieSeele Bei der Suche mit dem Stichwort „seel*“ ergaben sich mit 154 Fundstellen mehr Diskursfragmente als bei der Suche mitdem Stichwort „lieb*“ (133). Ähnlichwie dieLiebescheintauchdieSeeledenmateriellenKörpermitLebenzuerfüllen;sie ist als eine immaterielle Substanz konzipiert, auf den ersten Blick nicht sichtbar (Geier1999,S.130ff.).230SiemanifestiertsichdennochimErscheinungsbild,kommt  230 Geier (1999, S. 131) weist darauf hin, dass unter dem Sammelbegriff „Seele“ Verschiedenes zu sammengefasstwird:„Empfindungen,Gefühle,Stimmungen,Subjektivität,Selbstbewusstsein.“



10.1Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein)

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durchGestik,MimikunddieStimmezumAusdruck.Die‚Seele’markiertdasUn bekannteeinesMenschen,sieerscheintals„imaginäresIdeal(idéalspéculatif),unter welchem dem Körper Gestalt gegeben wird.“ (Butler 2001, 87) Foucault (1989; 1993)definiertdieSeeleantiessenziell;erbegreiftsiealseineTätigkeit,dieausge übtwirdimSinneinerSorgeumsichselbstbzw.einesBemühensumdenpoliti schenunderotischenStatusdesMenschen.DieEinzigartigkeitderSeele,ihrbild hafter„Logos“(Kristeva1994,12f.)undderalsKopiegedachteKlonscheinenim 100FragenForum–ähnlichwie‚Klon’und‚Liebe’–inkompatibelzusein.Diese Annahme kann durch zahlreiche Textstellen mit dem Suchwort „seel*“ belegt werden:„Wirwissenjaalle,dassderMenschnichtnurMaterieist,diemandurchgenü gend Wissen untersuchen bzw. analysieren kann. Das noch Wesentliche an einem Men schenistseinGeist,seineSeele.DasistdasEntscheidende.UnddamandenUrsprungder Seelenochnichtnachweisenkonnte,istesnatürlichauchunmöglich,dieseaufdieselbeArt undWeisezuprägen,geschweigezu„klonen“odererschaffen.“(Thread9567);„prinzipi ellhateinklongarkeineseele,dajanurseinkörpergeklontwurdeundnichtdas„über sinnliche“.solltealsoeine„seele“existieren,dienachdemtodweiter„existiert“,dannhat nur das original eine seele. ob man einen klon dann noch als mensch bezeichnen kann?“ (Thread8642);„MankannnurdieHülleklonen.WiewillmandenneineSeeleklonen? SiebestehtdochausEmpfindungenundGefühlen,undsoetwaskannnichtgeklontwer den.“(Thread7643) Wie die beiden folgenden Fundstellen zeigen, wird der Vorgang der ‚Besee lung’andieZeugunggeknüpftundalsreligiöserAktgedeutet:„eineseelehat,wem gottdaslebengeschenkthat.unddaslebenentstehtimreligiösensinne,wenn„mannund frau eins werden“. also übersetzt bei der vereinigung von samen und eizelle. irgendwie trifft diese beschreibung nicht so ganz auf den vorgang des klonens zu, oder? (Thread 8642);„HabeneigentlichMenschen,dieimReagenzgezeugtwurden,eineSeele?Dawar keinGeschlechtsaktamLaufen,keinenatürlicheZeugung.DerMenschhatGottübergan genundhateinEiselbstmiteinemSamenvervollständigt.WIESOsollteGottsoeinem künstlichenMenscheneineSeeleschenken???AndererseitshatGottdieEizelleerschaffen unddieDNA.UndGottsagte:‚WenneineEizelleerstmaleinevollständigeDNAhatund sichzueinemMenschenentwickelnkann,werdeichihreineSeelezumGeschenkmachen’. EinKlonist100%iggöttlich.“(Thread8642)Aberesgibtaucheinematerialistische Sichtweise der Seele. Demnach wäre es möglich, sie beim Klonen einfach zu ver vielfältigen:„VielleichtmussmandieFrage‚wasistdieSeele’nochdetaillierterbetrach ten.GenebestimmendenBauplan(Phänotyp)desKörpers.AberderPhänotypansichist nicht eindeutig durch die Gene bestimmt, sondern auch durch die Menge der Ereignisse, die bisher stattgefunden haben (z.B. sehr muskulös, Narbe im Gesicht, Krebs). Nun zur Seele:Mankönntegenausosagen,dassdieSeeleeinekörperlicheKomponentehat(Nerven 

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zellen, die Gefühle ausdrücken, oder Hormondrüsen, die unser Verhalten beeinflussen), aberinweitausgrößeremMaßeerstdurchunsereErfahrungengeprägtwird.Dergeneti scheTeilistdieMaschine.Waswirsehen,istaber(daserlernte)Programm.Kurzum:Jeder Mensch,obgeklontodernatürlichgezeugt,hateineSeele.Daherwirdeskeinerein‚biolo gischeHülle’geben;zumindestwennderganzeMenschgeklontwird.“(Thread7643) DieserpragmatischenSichtweisestehtdieUnsicherheitgegenüber,obdieSee le nicht doch über ein Eigenleben verfügt und sich gegen ihre Vervielfältigung durch Klonen zur Wehr setzen könnte. Die Unberechenbarkeit steht gegen das technischKontrollierbare(vgl.Geier1999,S.163).Möglicherweise,sodieBefürch tung, entwickeln die Klone ja ein Eigenleben und werden in alter Frankenstein Manier zu Monstern:„wenn wir klonen,bleiben die seelen gleich, oder wird aus einem friedliebendenmenscheneinbiest????“(Thread7102)AnandererStellewirddieExis tenz einer Seele völlig negiert, und zwar zu Gunsten des Bewusstseins bzw. der Sozialisation. In dieser nichtessenzialistischen Perspektive ist es völlig gleichgül tig,obessichumeinenKlonoderumeinenMenschenhandelt:„EsgibtkeineSeele! Was du meinst, ist Bewusstsein. Bewusstsein entwickelt man im Verlauf seines Lebens. Neugeborene haben kein oder sehr wenig Bewusstsein, ob geklont oder nicht!“ (Thread 5137) Eine weitere Äußerung zu diesem Thema: „Da Seele eine Metapher ist,werde ichdiesesWorteinfachignorierenundIhreFragefolgendermaßenbeantworten:Wennder Menschgeklontwird,wirderexaktkopiert.Eristallerdingsnichtausgewachsenundbe reitsimErwachsenenalterfertigentwickelt,sondernmusswiejederandereauchineiner Gebärmutterheranreifen.WenndieserKlonineinerähnlichenoderindergleichenUmge bungwiedasOriginalaufwächst,sowirderhöchstwahrscheinlichvonseinerIndividuali täthergleichsein.SolltedasOriginalallerdingsinguterUmgebungaufgezogenworden seinundistniedirektmitGewaltundsonstigeminKontaktgetreten,undderKlonwächst imGhettoauf,seineMutterhurtrum,undderVatersäuftundschlägtihn(dieElternsind natürlichAdoptiveltern),wirdderKlonhöchstwahrscheinlichgewaltbereiterundaggressi versein,alsokeineexakteGleichheitinderPersönlichkeitaufweisen.“(Thread323) Die dem genetischen Diskurs inhärente Frage danach, welche Eigenschaften undVerhaltensweisenangeborenundwelcheanerzogensind,wirdhierzugunsten der Sozialisation und der Umwelt beantwortet. Die Präferenz dieser nicht statischenSichtweiseaufdenMenschenberuhtallerdingsnichtaufeineregalitären Perspektive,sondernwirdinderFundstellemitderStigmatisierungmarginalisier terBevölkerungsgruppenverbunden.  DieKopplungvonWissensformenundGegenständen UmnäherenAufschlussüberdieFormeninterdiskursiverWissensproduktionin derKlonDebattezuerhalten,wurdeanhandderzentralenBegriffe‚Sexualität’, 

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10.1Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein)

‚Generation’‚Individualität/Subjektkonstitution’,‚Körper’und‚Evolution’die KopplungvonWissensformenundGegenständenfürSpezialundAlltagswissen näheruntersucht.FolgendeVorannahmenlagenderÜberprüfungzuGrunde:  ƒ Die‚Sexualität’derKlondebatteistspezialdiskursivgeprägt. ƒ ‚Generation’dagegenistalltagsdiskursivgeprägt. ƒ Individualität/Subjektkonstitutionsinddiezentralen AspektedesKlonThemas. ƒ ‚Körper’und‚Evolution’spieleninderKlondebatteeinewichtigeRolle.  EineSuchemitdenobengenanntenBegriffenergabfolgendeeinfacheMehrheiten: Tabelle25 Code

WissensformenundGegenstände231 Evolution

Generation

Individuum

Körper

Sexualität

Spezialwissen

48

191

144

59

125

Alltagswissen

38

255

224

39

91

 WendetmannundieseHäufigkeitsfeststellungaufdiezuvoraufgestelltenHypo thesenan,soergebensichbeivorsichtigerInterpretationfolgendeErgebnisse:Die ersteundzweiteVorannahmekonntenbestätigtwerden.DiemitdemKloninVer bindunggebrachte‚Sexualität’istspezialdiskursivgeprägt,währendderDiskurs gegenstand‚Generation’typischfürdenAlltagsdiskursist.BeiderUntersuchung derdrittenHypotheseergabsichganzunerwarteteineklareZuordnung:Diemit demKlonengverbundenenFragenvon‚Individualität’undIdentitätsindprimär alltagsdiskursivbestimmt.DieVermutung,dass‚Körper’und‚Evolution’wichtige BegriffederKlonDebattedarstellen,konntegrundsätzlichbestätigtwerden;den noch sind sie im Unterschied zu ‚Generation’, ‚Individuum’ und ‚Sexualität’ von untergeordneter Bedeutung. Interessant ist auch, dass beide Begriffe sowohl im Alltagsdiskurs wie im Spezialdiskurs eine ähnlich wichtige Rolle spielen, mit ei nemleichtenSchwergewichtaufletzterem.  MedialerInterdiskurs Nach Weigel (2002a, 11) stehen Zielvorstellungen, experimentelle Szenarien und BilderinderAuseinandersetzungüberKlonierungspraktikenwieinkeinemande  231 Als Basis dieser Auszählung diente der zuvor für diese Teilstudie erstellte KlonKorpus mit den 2.330Threads(vgl.10.1.1).



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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

ren naturwissenschaftlichen Bereich in enger Korrespondenz mit Phantasie und PhantasmaproduktenausMedien,FilmundLiteratur.DieseÜberlegunglässtAn schlüsseandasinterdiskursiveWissenzu;sielegtaberaucheineengeKopplung andassubjektiveErfahrungswissennahe,dessenfavorisierteÄußerungsformdas Narrativist(vgl.8.3).Fürdas1000FragenForumistnunzuvermuten,dassdurch das verstärkte Auftreten subjektiver Erfahrungen aus dem Alltag in Verbindung mitdermedialenRahmungdiesenarrativeWissensproduktionneubelebtwird. FindetmanBezugnahmenaufdieMassenmedienimForum,sindsiefürsich genommen wenig aussagekräftig, interessant werden sie dann, wenn man sie an subjektives Erfahrungswissen koppelt. Der folgende Beispielthread aus dem 1000 FragenForum, in dem es um eine Episode aus der Fernsehserie „Gute Zeiten Schlechte Zeiten“ (im Folgenden: GZSZ) geht, vermag einen Einblick in dieses medialnarrativeFeldzuvermitteln.DieindersoaperzählteGeschichtewirdzum Anlass genommen, zentrale mit dem Klon verbundene Fragen zu thematisieren. Der plot, um den es geht, handelt davon, dass die Serienheldin für ihr Baby mit NamenAntoniaeinenKnochenmarkspenderbraucht.UmAntoniazuretten,sieht sie sich gezwungen, mit ihrem ehemaligen Partner ein weiteres Kind zu zeugen. Nach viel serientypischem Hin und Her entsteht diese Schwangerschaft, aber in der Zwischenzeit ließ sich bereits ein geeigneter Knochenmarkspender finden, so dasssichdieursprünglicheProblemlageerübrigthat.DasBabyAntoniaistgeret tet,aberdieBeziehungenderbeteiligtenErwachsenen(Mutter,neuerPartner,ihr ExPartner,dessenFreundinetc.)sindzerstört.232 IndemsehrlangenThreaddes1000FragenForums,indemdieseSerienhand lungdebattiertwird,gibtesnureineÄußerung,indersichsubjektiveErfahrung undmedialeAufarbeitungdirekttreffen:„Ichfindeesschonokay,ichhabediesbereits selbstpraktiziertundsomeinerstesKindgerettet.“(Thread6623)Ansonstenwirdsub jektivesErfahrungswissennurindirekteingebracht,zumBeispiel,indemdieUser dieRelevanzvonErfahrungenoderihreeigenenVorstellungenbetonen.Derrote Faden der Diskussion entwickelt sich entlang der Frage, inwieweit die Herkunft bzw. die künstliche Erzeugung eines ‚Klons’ für sein späteres Leben eine Bedeu tung hat.233 In der virtuellen Debatte entsteht eine bipolare Geschlechterinszenie  232 Bei der Auseinandersetzung mit diesem Thread ist zu bedenken, dass das Thema „Klonen“ in dieserFernsehserienureinRandthemaist.NichtdasmoralischeProblemdeszweitenKindesals „Ersatzteillager“,sondern,wiefüreinesoap typisch,die Beziehungen derErwachsenenzueinan derstehenimVordergrund. 233 Es handelt sich nicht um einen Klon im eigentlichen Sinn, denn das menschliche Wesen wäre ja nichtmitAntoniagenidentisch,sondernnurTrägerindesgleichenelterlichenErbguts.



10.1Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein)

253

rungzwischeneinerTeilnehmerin,imFolgendenals‚Frau’bezeichnet,undeinem Teilnehmer,imFolgendenals‚Mann’bezeichnet.234 Frau:„DieseFrageistwirklichgut,ichhabedazueinesehreigeneMeinung.Ichfinde esnichtrichtig,einKindzuzüchten,umeinemanderenzuhelfen.Klar,dasKindbraucht Hilfe, und es tut mir auch leid, aber niemand kann das Kind, das gemacht werden soll, fragen,obesdafüraufdieWeltkommenwill!Wennesspätermalerfahrenwürde,dasses nurfürdiesenZweckausgenutztwurde,wirdeskeineFreudemehramLebenhabenund denken, dass es nicht gewollt wurde und nicht geboren wäre, wenn es nicht das schwer krankeGeschwisterchengegebenhätte.Ichkönntesoetwasglaubeichnichttun,aberum dasbeurteilenzukönnen,müsstemanselbstinderSituationsein.“(Thread6623) Aus weiblicher Sicht ist es nicht zu verantworten, dass Kinder, gleichgültig aus welchenGründen auch immer, ‚gezüchtet’, d.h. für einen bestimmten Zweck gezeugtundgeborenwerden.NurausfunktionalenGründenaufderWeltzusein werdesichaufdasLebensgefühlauswirken,solautetdieArgumentation;geniden tischePersonen,sowirdvermutet,könntenkeineFreudemehramLebenempfin den.DieSprecherinimaginiertsichalspotentielleMutter;siehältesfürmöglich, dass sich ihre Haltung durch eine persönliche Erfahrung verändern könnte. Im Unterschied dazu weist der Mann Ängste und Bedenken gegenüber den neuen technologischenMöglichkeitenalsunbegründetzurück:„Achnöööö[…].DasKind wird sich beim ersten bewussten Sonnenuntergang oder wenn es seinen Liebsten küsst, denken: ‚Danke, danke, danke, dass ihr mich gezüchtet habt, danke, ihr Doktoren, danke, ihr Eltern, danke, dass ich meinem Geschwister helfen konnte und es jetzt mit mir leben kann! Danke, dass ich diese Luft atmen kann, denn mich hat zwar keiner gefragt, aber wennihrmichgefragthättet,wäremeineAntwortJA!gewesen.’Dichhatmanauchnicht gefragt,Mädel,undtrotzdembisseda!Machdichlocker!Binliebernichtgewolltalsnicht existent!Übrigens,ihrFernsehgeschädigten:DieIdeevonGZSZkommtausdemrichtigen Leben.IchglaubinEnglandhateinElternpaargenaudasProblemundquältsichimMo mentdurchdieGerichte,umdieErlaubnisdafürzubekommen!Hoffentlichschaffensiees! Dann gibt es ein weiteres knuddeliges Menschenkind, und ein anderes hat wieder ne Chance.DiewahrenMördersinddiejenigen,dieeinpaarZellenmehrLebensrechtzuspre chen  als mir! Könnte der Junge sagen. Alles Angsthasen da draußen: Aber es könnte... aberwirwerdenwomöglich...vielleicht...aber...mannomann!Memmen!“(Thread6623)

 234 DieProtagonistenmarkierendiebeidenGrundlinienderDebatte,denensichauchdieanderenim Thread geäußerten Stellungnahmen zuordnen lassen. Die geschlechtliche Zuordnung der beiden Positionenkann daherauchalsreinzufälligverstandenwerden;imFolgendenwirdjedocheine einegenderorientierteInterpretationvorgeschlagen.



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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

AusmännlicherSichtwirddieMeinungvertreten,dassohnehinkeinKindge fragtwird,obesgeborenwerdenmöchte;damitseiendieGründe,dieElternfür eine Nachkommenschaft anführen, im Grunde unerheblich. Was zählt, sei der Wert des Lebens selbst – entscheidend sei also, dass ein Kind geliebt werde und diesgeschehequasiautomatisch,wennesersteinmalaufderWeltsei.Schließlich, so wird ergänzt, beruhe die in der soap dargestellte mediale Realität auf einer ‚wahren’ Geschichte. Im Vergleich stechen vor allem die unterschiedlichen argu mentativenStrategienderbeidenDiskursfragmenteinsAuge:Währenddie‚Frau’ sachlichundselbstreflexivargumentiert,versuchtder‚Mann’,mitseinememotio nalisiertenSprachgebrauch‚Stimmungzumachen’. Auch wenn es in dem Diskursfragment, das der männlichen Argumentati onsweise zugeordnet ist, durchaus akzeptabel zu sein scheint, ein Kind aus rein funktionalenGründenindieWeltzusetzen,dominiertdieseSichtweisenichtden ganzenThread.ImGegenteil:Mehrheitlichwirdeherabgelehnt,einKindals‚Er satzteillager’ zu nutzen. Freude, Glück und Liebe stellen die entscheidenden Ar gumente in dieser Diskussion dar. Ein geschlechtsspezifischer Unterschied lässt sichdennochkonstatieren:WährendindermännlichenStellungnahmeFragender Herkunft,Zeugung,FortpflanzungundFamilieehernebensächlichzuseinschei nen, misst die weibliche Sprecherposition den Beweggründen und Motiven, die dafürbzw.dagegensprechen,NachkommenindieWeltzusetzen,einensehrho henStellenwertbei.DerNutzungsgedankenwirdabgelehntmitderBegründung, dasssicheinederartgeplante‚Funktionalisierung’derZeugungaufdasLebensge fühl auswirken könne. Der Zeugungsakt wird nicht nur an (Hetero)Sexualität, sondernauchanLiebegekoppelt.InderFernsehseriewirddieseKopplunginso fernbestätigt,alshierjadieLiebesbeziehungenandemKlon‚Experiment’zerbre chen.DamitrücktdieQualitätvonBeziehungen–unddamitinsgesamtGenerati vität und Bindungsstrukturen zwischen Menschen – ins Zentrum der Aufmerk samkeit. Die von Donna Haraway (1989, 1) aufgeworfene Frage: „Wie sind am Endedes20.JahrhundertsLiebe,MachtundWissenschaftindenKonstruktionen derNaturmiteinanderverbunden?“235scheintauchim21.Jahrhunderteine–noch nichtbeantwortete–Fragezusein.  

 235 EigeneÜbersetzung;imOriginal:„Howarelove,powerandscienceintertwinedintheconstruc tionsofnatureinthelatetwentiethcentury”.



10.1Der‚Klon’:Subjektkonstitutionim1000FragenForum(AnneKlein)

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10.1.4 Ausblick Wie an den Textbeispielen deutlich geworden ist, handelt es sich bei dem ‚Klon’ umeintypischinterdiskursivesWissensprodukt,eineMetapher,dieüberFormen derSubjektkonstitutioninderBioethikDebatteAuskunftgibt.Diediskursanalyti sche Betrachtung macht auf interessante Diskursverschränkungen und kreative Diskurs(um)kopplungen sowie – damit verbunden – auf Verschiebungen in der Subjektkonstitution aufmerksam. In dem Bild des ‚Klons’ zeigt sich Subjektivie rungsowohlalsTeildesMachtWissenKomplexes,aberauchalseine„Ethikdes Subjekts“ (Foucault 1988a, 17), die sich als Selbstsorge und Selbstkenntnis verste henlässt(vgl.Waldschmidt1996).DieVerObjektivierungdesSubjektsim‚Klon’ verweist zudem auf neue Formen „objektorientierter Sozialität“ in einer „post sozialen“Gesellschaft(KnorrCetina2000,89ff.). Die für das Klonen diskutierten Anwendungen – sei es nun das Klonen von Menschen, die Schaffung lebendiger ‚Organbanken‘ oder das therapeutische Klo nen–stellenneueAnforderungenandieherkömmlicheSubjektkonstitution.‚Ge neration’ und ‚Individualität’ sind zentrale Begriffe aus dem Alltagsdiskurs. Im UnterschieddazumussderAspektder‚Sexualität’demerfahrungsundgefühls fernenSpezialdiskurszugeordnetwerden.DieVerarbeitungdesThemasmitHilfe von Massenmedien, hier der Fernsehserie „GZSZ“, weist auf einen gender spezifischen Aspekt hin, dem weiter nachzugehen sich lohnen würde (vgl. Bock von Wülfingen 2007): Die männliche Sprecherposition entwirft Sexualität als all tagsfern; es wird von einer Trennung von Zeugung und Gefühlen ausgegangen undstattdessenLiebe–inFormvonFürsorgeundZuwendungimHierundJetzt –alsentscheidendfürdieSubjektkonstitutionerachtet.DieweiblicheSprecherpo sitionhingegentrenntdieSexualitätnichtvonderFortpflanzung:DerZeugungs aktwirdsogaralskonstitutiverachtetfürdasemotionaleWohlbefindendernach kommendenGeneration.  



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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

10.2 „Jedersollselbstentscheiden“–Selbstbestimmung undEthik(MiguelTamayoKorte) AusgangspunktdieserFallstudieistderSatz„Jedersollselbstentscheiden“,denwir diskursanalytisch als typisierbare Aussage betrachten, deren Funktion die Kons truktioneinesnochnäherzubestimmendenDiskursgegenstandsist.DasZieldie ser Analyse ist, die verborgenen Existenzbedingungen (diskurstheoretisch: die Formationsregeln)fürdieAussage„Jedersollselbstentscheiden“,sowiesiesichim KontextdesOnlineforumszeigt,sichtbarzumachen.EinNebenzielist,dabeidie FunktionsweiseinterdiskursivenWissensbesserzuverstehen. DieersteAnnäherungandenGegenstandbestehtdarin,dieÄußerunginihrer Singularitätund Ereignishaftigkeit zubeobachten.Der Satz„Jeder soll selbstent scheiden“scheintTeileinergängigenArgumentationimOnlineforumzusein.Er trittsooderinleichtabgewandelterFormanvielenStellenauf:„Jedersollfürsich entscheiden“, „Jeder muss allein entscheiden“, „Das bleibt jedem selbst überlas sen“ usw. Die sich wiederholenden Äußerungen wurden bei sämtlichen Codier vorgängen auffällig. Auf den ersten Blick schien es eine strategisch eingesetzte Phrasezusein,dennderRückgriffaufdieEntscheidungsautonomiedesEinzelnen ist eine geschickte und auch gängige Themenwahl für fast jede Auseinanderset zung,nachdemMotto:‚EgalwelchesArgumentdieGegenseiteanbringt,dieEnt scheidung,umdieesgeht,isteinepersönliche’–unddamitauchunangreifbar. Bei genauerer Betrachtung kristalllisieren sich drei Dimensionen heraus, die näher eingrenzen, was hinter der Aussage stecken könnte: eine typisierbare Sub jektvorstellung(„Jeder“/„selbst“),eineethischeDimension(„soll“)undschließlich die Handlungsrelevanz („entscheiden“). Der Bestandteil „selbst entscheiden“ ver weist auf eine IchPerspektive, wie sie für den Alltagsdiskurs typisch ist. Die Be deutungdesBegriffs„jeder“variiertmöglicherweisejenachdem,wiedieAussage inihremKontextsituiertist.IndemWörtchen„soll“stecktdieethischmoralische Dimension,dieinderpragmatischenFrage„Wassollichtun?“ebenfallseinestän dige Begleiterin des Alltagsdiskurses ist. Mit dem „entscheiden“ ist schließlich ein dritter Aspekt des Alltagswissens angesprochen, nämlich die Handlungsrelevanz oder Pragmatik. Hier stellt sich die Frage, auf welche Situationen und Entschei dungsfelderdieAussageangewandtwerdenkann. AufderGrundlageeinererstenSichtungderTextstellenlässtsichderzuun tersuchende Diskursgegenstand mit „individuelle Autonomie“ oder „autonomes Individuum“benennen.SchonaufdenerstenBlickwirddeutlich,dassdieserGe genstandeineKombinationausdenbeidenspezialdiskursivgeprägtenKonzepten ‚Individualität’ und ‚Autonomie’ bildet. Beide Begriffe sindunverzichtbarfürdie 

10.2„Jedersollselbstentscheiden“–SelbstbestimmungundEthik(MiguelTamayoKorte)

257

Ethik der Aufklärung und das Menschenbild der Moderne. Waldschmidt (2004a, 163) weist allerdings darauf hin, dass mit dem Begriff der Selbstbestimmung „[h]öchstunterschiedlicheBedeutungsgehalte“auftreten.Ziehtmandieobenauf geführtenalltagsdiskursivenAspekteinBetracht,sokannmanmiteinigerBerech tigungvermuten,dasseskeinelaboriertes,philosophischfundiertesMenschenbild seinwird,aufdaswirstoßen,sonderneineeigenwilligeKombinationausinterdis kursivenVersatzstücken.VordiesemHintergrundstellensichdreiforschungslei tendeFragen:MitwelchenKlassifikationsweisenentstehtderGegenstand„indivi duelleAutonomie“?WelcheKämpfeumdieGrenzenderSelbstbestimmungwer denausgefochten?UndschließlichwiederderRückgriffaufdeneingangserwähn tenstrategischenAspekt:WelcheAussagensinddurchdasAuftretendesDiskurs gegenstands„individuelleAutonomie“unsagbargeworden? Die Rahmung des Internetforums stellt Bezüge zu Bio, Reproduktions und Medizintechnologien sowie zur Ethik her; sie öffnet außerdem eine diskursive NischefüreinealltagsweltlicheBetrachtungsweisedieserThemen.Möglicherweise kannimOnlineforum–sozusagen‚live’–beobachtetwerden,wiediediskursive PraxisDeutungsmusterimInterdiskurskonstruiert,diez.B.inethischenEntschei dungssituationenhandlungsrelevantwerden,fürdiediemeistenMenschenbisher noch kein „Rezeptwissen“ (Schütz/Luckmann 2003, 158ff.) parat haben. Ob die Muster dieses spezifischen Diskursereignisses repräsentativ für ‚den Alltag’ zu mindest in Deutschland sind bzw. sich in naher Zukunft allgemein durchsetzen werden,kannhiernichtbeurteiltwerden.DochwärederNachweissolcherMuster imRahmendieserStudiebereitseinErkenntnisfortschritt,dainterdiskursiveWis sensbestände nicht durch die Analyse der entsprechenden Spezialdiskurse (z.B. derMedizin)vorhergesagtwerdenkönnen.DasneueWissenausdensogenann ten‚Lebenswissenschaften’,soeineunsererGrundannahmen,sickertnichteinfach in den Alltag ein, sondern durchläuft einen „Kreativzyklus von elementarer und elaborierterKultur“(Link2005,92f.).

10.2.1 MethodischesVorgehen Die Aufgabe der Empirie ist es, Anhaltspunkte für oder gegen die Existenz des vermutetenGegenstandes„individuelleAutonomie“zufinden.Wieimmethodo logischen Teil vorgeschlagen (vgl. Kap. 5), gehen wir von der Wissensoberfläche aus.ZurSichtungdesChaosverstreuterÄußerungenwirdimRahmendieserEin zelstudie bereits im ersten Schritt eine Strukturierung vorgenommen: Beobachtet wird nur die Aussage „Jeder soll selbst entscheiden“ in ihren verschiedenen Va 

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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

rianten.GleichzeitigerfolgteineSystematisierungderKontextedesAuftretensder Aussage.DasverwendeteOrdnungskriteriumistLinksTypologieinterdiskursiven Materials(vgl.Kap.8),zudemwirauchdiePhraseselbstzählen.DieseersteMate rialsammlungwirddurchentsprechendeCodesdokumentiert.ImzweitenSchritt werdentypisierbareKombinationenvonElementenausdemgefundeneninterdis kursivenMaterialrekonstruiert.Eswirdsichzeigen,dasseinnarrativesSchemain Erscheinungtritt,dasmanals„ethischeEntscheidungssituation“bezeichnenkann. ImdrittenSchritterfolgtdieCodierungdesForschungsgegenstandes„individuelle Autonomie“. Auf der nun vorstrukturierten Wissensoberfläche wird gezielt nach den Spuren des Gegenstandes gesucht, indem eine Codierstrategie verfolgt wird, diedendreieingangsvorgestelltenLeitfragennachgeht. Der erste Blickwinkel verfolgt die Frage „Was ist individuelle Autonomie?“, umzuKlassifizierungsmusterndesGegenstandeszugelangen.DieCodierungist anFoucaults(1990a,64)„Spezifikations“oder„Differenzierungsraster“angelehnt, mit denen er die Formation der Diskursgegenstände beschreibt. Die zweite Pers pektiveliefertdieDifferenzbildung,oder,nachFoucault(1990a,63),die„Instanzen derAbgrenzung“:Worinunterscheidetsich‚individuelleAutonomie’vonanderen Gegenständen? Die Differenzbildung schließt Grenzziehungen und Regeln für Ausschlüsseein.AusdiesemGrundlässtdieWahlderAbgrenzungsmöglichkeiten vermutlichauchRückschlüsseaufDiskursstrategienundMachtwirkungenzu,auf diediedritteLeitfrageabzielt.KlassifikationsweisenundDifferenzbildungenvon individueller Autonomie werden von den aufgefundenen narrativen Schemata abgeleitet,indemdieseinihreabstraktenBestandteilezerlegtundaufKonsistenz überprüftwerden.WährendundnachderRekonstruktiondesGegenstandserfolgt eine weitere Überprüfung auf Übereinstimmungen zwischen den im Material markiertenAussagenensemblesunddenMerkmalsdefinitionenderCodes. DieCodiertechnikwirdvondenvorherigenqualitativenPhasenübernommen (groundedtheoryinKombinationmitDiskursanalyse).DerArbeitsschrittdesOffe nenCodierenserübrigtesichallerdings,dabereitszuBeginndesCodiervorganges dieGrundstrukturdeszuerarbeitendenCodebaumsfeststand(Abbildung11):  



10.2„Jedersollselbstentscheiden“–SelbstbestimmungundEthik(MiguelTamayoKorte)

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Abbildung11 GrundstrukturdesCodebaumsder EinzelstudiezurindividuellenAutonomie InterdiskursivesMaterial  Phrase„Jedersollselbstentscheiden“  Themen  Metaphern  Stereotypen  Sonstiges KombinationenausinterdiskursivemMaterial Diskursgegenstand„individuelleAutonomie“  Klassifikationsmuster  Differenzbildungen  ImweiterenVerlaufwurdederCodebaumdifferenziertundergänzt.236AlsDaten grundlage für den ersten Codierdurchgang wurde die Gesamtheit der 10.000 Threads gewählt. Zunächst galt es, den Eindruck zu überprüfen, dem zufolge es sichbeiderzuuntersuchendenPhraseumeinerelativhäufigeÄußerunghandelt. DieWortkombination„selbstentscheiden“wurdevonderSuchfunktion130malin der Gesamtheit der Threads gefunden, abgewandelte Formen weitere 44mal.237 Diese überschaubare Anzahl von Fundstellen bildete aus forschungspragmati schenGründendieAusgangsbasisfürdasCodieren.AufgrundderVorannahmen wurdefürdieweiterführendeAnalysederBegriffderSelbstbestimmungmitein bezogen. Erwar bereitsin das Diktionär der1000Fragenaufgenommen worden. Das Lemma bestand aus den Zeichenfolgen *selbstbestimm* und *autonom* und wurde von den Fragestellern nur 25mal benutzt. Die gleiche Textsuche in allen Threads ergab immerhin 102 Fundstellen. Zusätzlich wurden in einer dritten Co dierphase fünf Patenschaften in den Korpus integriert, deren Leitfragen sich mit SelbstbestimmunginVerbindungbringenließen.238  236 DieVernetzungvonCodes,MemosundzusätzlichenElementenwurdeinderbenutztenSoftware MaxQDA2durchdasvisuelleZusatztoolMaxMapserstellt. 237 „für sich entscheiden“ 29 Fundstellen; „eigene Entscheidung“ 8; „persönliche Entscheidung“ 5; „individuelleEntscheidung“2. 238 Es handelte sich um diese Fragen: „Wer will entscheiden, wann Leben nicht lebenswert ist?“ (Pate: DominiqueHorwitz);„IchhabeeinePatientenverfügunggemacht.Wergarantiertmir,dassgemäßmei nemWillenzueinemvonmirbereitsdefiniertenZeitpunktdieMaschinenwirklichabgestelltwerdenund ich damit von Schmerzen erlöst werde?“ (Patin: Erika Feyerabend); „Ist es nicht die größte Errungen schaftderZivilisation,wenndiemenschlicheSelbstbestimmungauchdiefreieBestimmungüberdaseigene Endemiteinbezieht?“(Pate:Dr.OliverTolmein);„WasberechtigteinenMenschen,überWertoderUn



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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

10.2.2 Analyseergebnisse:DasAussagenensembleum„individuelleAutonomie“ Auf der ersten Untersuchungsebene sehen wir die Aussage im Zusammenhang mitungeordnetem,odernachLink(1999,154)„freiflottierende[m]“interdiskursi venMaterialwieThemen,stereotypenFigurenoderMetaphern.  InterdiskursivesMaterial RechteinfachzuidentifizierensinddieThemenderForumsbeiträge;hiermanifes tiert sich wiederum die Macht der Rahmung: Das Feld möglicher Situationen ist durchdasOberthemaBioethikeingeschränkt.Wieerwähnt,kommtdieÄußerung „Jeder soll selbst entscheiden“ inklusive der abgewandelten Formen 174mal im 1000 FragenMaterial vor. Unter diesen Textstellen sind die häufigsten themati schenKontexte:  ƒ Sterben(79) ƒ Fortpflanzungallgemein(17) ƒ Abtreibung(16) ƒ Wertepluralismus,Religionsfreiheit(12) ƒ sonstigemoralischeFragen(22) ƒ Organspende(3) ƒ Politik(3) ƒ sonstiges(18)  Vereinzeltkommenvor:  ƒ normal,gesundsein(Thread8887) ƒ perfektsein(Thread8572) ƒ demokratischeFreiheit(Thread1555) ƒ Forschungsförderung(Thread5365)  Über die Hälfte der Fundstellen zum Suchbegriff „selbst + entscheiden“ (71 von 130)stehenimKontextmitdemThemaSterbenundSterbehilfe.EinetypischeFra ge lautet: „Warum kann ein unheilbar kranker Mensch, der weiß, dass er in absehbarer Zeitnurnoch‚dahinvegetieren’wird,nichtselbstentscheiden,dasserdannsterbenwill?“  werteinesanderenMenschenzuurteilen?“(Patin:UlrikeFolkerts);„Was,dumeinstplötzlich,dassdie DemokratiedochnichtdasrichtigeKonzeptsei,um‚überlebenswichtigeEntscheidungen’zutreffen?“(Pa te:Prof.Dr.EberhardSchockenhoff)



10.2„Jedersollselbstentscheiden“–SelbstbestimmungundEthik(MiguelTamayoKorte)

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(Thread3906)BeiderUntersuchungder71Textstellenlässtsicheinweiterestypi schesElementdesuntersuchtenMaterialserkennen:einanscheinendweitverbrei tetes Stereotyp, nämlich der unheilbar kranke, Schmerz und Qualen Erleidende, der im Krankenbett seiner Würde beraubte Mensch ohne Hoffnung, der sich nur nochdenTodalsErlösungwünscht,oder,drastischausgedrückt,„einanSchläuche angebundenes,sabberndes,röchelndesStückElend“(Thread9149).Wassinddiekonsti tuierendenBestandteilediesesstereotypenBildes? EsgehtimmerumeinenZustandderHilflosigkeit,hervorgerufendurcheine KrankheitoderBehinderung.EsgehtaußerdemumeineBeeinträchtigungwichti ger Körperfunktionen, meist auch der geistigen Kräfte. Unverzichtbares Element istauchdieUnheilbarkeitderKrankheitoderBeeinträchtigung;siewirdmeistaus einer negativen medizinischen Prognose abgeleitet. Manchmal wird die Situation als ‚hoffnungslos’ charakterisiert, auch wenn abweichende Meinungen Hoffnung machen,z.B.aufeinLebennachdemTod.DasErleidenvonSchmerzundQualen trägt dazu bei, die Situation als unerträglich zu empfinden. Insgesamt beschreibt dasBildeineNähezumTod,dienichtunbedingtzeitlichzuinterpretierenist:Die Qualen könnten ohne aktives Eingreifen Anderer ‚endlos’ weiter verlängert wer den. Was den leidenden Menschen betrifft, gibt es diese Varianten: Die meisten Äußerungen beziehen sich auf ältere Patienten bzw. Bewohner von Altenpflege heimen, manchmal aber auch um Neugeborene oder schwerst Pflegebedürftige unbestimmtenAlters.EineweitereKomponentedesstereotypenBildesistdieals inhuman geschilderte Versorgung der Pflegebedürftigen: Man lässt sie „in Kran kenhäusern an irgendwelchen Maschinendahinsiechen“(Thread 344); sie werden„mit Chemotherapeutika vollgepumpt [.] oder [vegetieren] an Schläuchen dahin[.]“ (Thread 1808).AuchKoma,ZwangsernährungundMorphiumrauschwerdenerwähnt. DiesesBildmachtAngst.AufderMetaEbenebemerkteinUserganzrichtig: „wasmandeutlichausallenBeiträgenentnehmenkann,ist,dassalleAngsthabenunter Qualen und Schmerzen zu sterben.“ (Thread 248) Diese Schlussfolgerung ist unmit telbareinsichtig;siekanneventuelldieMotivationerklären,warumteilweisesehr engagierteBeiträgeindasInternetforumgestelltwerden.Wasallerdingsnachwie vor erklärungsbedürftig bleibt, ist die Verknüpfung des geschilderten Stereotyps mit der untersuchten Phrase „Jeder soll selbst entscheiden“. Vielleicht kann ein weiteres, typisch interdiskursives Diskursfragment helfen, die Angelegenheit zu erhellen: die bereits zitierte Metapher „dahinvegetieren“. Eine Überprüfung ergibt 51FundstellenfürdasSuchwort*vegetier*,dasdamitebensohäufigvertretenist wiedasimZusammenhangmitdemgleichenStereotypgenutzteWort*siech*(50 Fundstellen).Vegetieren–eigentlicheinepflanzlicheLebensform–wirdimMate rialmetaphorischaufMenschenbezogen,derenLebendamitaufsog.‚vegetative’ 

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Körperfunktionenbeschränktwird:Atmung,Verdauung,Stoffwechsel,Sekretion, Wasserhaushalt.DieAnalogiezuPflanzenlässt,wiealleMetaphern,mehrereDeu tungenzu.ZunächstkönntedieKlassifizierungdieÜberschreitungeinerGrenzli nie zwischen Mensch und ‚nicht mehr Mensch’ markieren: Dem ‚vegetierenden’ MenschenfehlenwichtigeEigenschaften,diemenschlichesLebenausmachen,z.B. dieDenkundKommunikationsfähigkeit.VondenUserninsSpielgebrachtwird derethischeBegriffderWürde:„WarummussmeinVaterweitervorsichhinvegetie ren,stattinWürdesterbenzudürfen?“(Thread2414)WürdeisteinmitWertenbela denerBegriffundlegitimierteineHierarchiederethischenBewertungvonLeben: ÜblicherweisewirdderWertpflanzlichenLebensgeringereingestuftalsdertieri schenodermenschlichenLebens.DiemetaphorischeAnalogiezurPflanzebedeu tet also tendenziell eine Herabsetzung des ‚LebensWertes’ der Betroffenen. Wie alle Metaphern funktioniert auch die des ‚Vegetierens’ nur, weil die Analogie se lektivkonnotativ hergestellt wird. Im Falle von Schmerzempfinden stößt dieMe tapherz.B.anihreGrenzen,dadiesesbeiPflanzennichtbekanntist.Jedochistdas Ersparen oder Beenden wollen von Schmerz und Leiden eines der Hauptgründe, um Sterbehilfe zu rechtfertigen. Damit sind wir wieder beim untersuchten Dis kursthema.  EinnarrativesSchema:DieethischeEntscheidungssituation Es zeigt sich, dass das untersuchte, interdiskursive Material nicht ‚frei flottiert’, sondern, wie durch Ähnlichkeiten über viele Textstellen hinweg nachgewiesen werdenkann,systematischeVerknüpfungenaufweist.Führtmandasobenbegon neneBeispielfort,formierensichdievorgefundenenElementedesInterdiskurses zu einem kohärenten narrativen Schema: Mit der Kombination aus dem Thema Sterbehilfe + dem Stereotyp „unheilbar kranker, leidender Mensch“ + der Meta pher„Vegetieren“+derPhrase„Jedersollselbstentscheiden“wirdeinebestimm te, typisierbare Entscheidungssituation konstruiert, nämlich: „lebenserhaltende Apparate abschalten – Ja oder nein?“. Einzelne Elemente dieses Schemas können variieren,z.B.kanndieSituationalsrealgeschildert(„MeinGroßvatermusstevor3 Jahren‚dahinsiechen’imKoma“,Thread3906)oderabstraktfiktivformuliertwerden. AuchkönnenElementefastkomplettausgetauschtund/oderrekombiniertwerden, so dass sich neue Schemata bilden (z.B. „Abtreibung – Ja oder nein?“ oder „Or ganspendeausweis ausfüllen – Ja oder nein?“). Diese im Sinne des 1000 Fragen Forumsals‚ethisch’zubezeichnendenEntscheidungssituationenbildenkomplexe reStrukturenalsdiezuvoruntersuchteninterdiskursivenElemente.Beispielsweise sind sie in der Lage, einen Raum für verschiedene Diskurspositionen zu öffnen, mitdenensichGrenzenzwischenProundContraPositionenmarkierenlassen. 

10.2„Jedersollselbstentscheiden“–SelbstbestimmungundEthik(MiguelTamayoKorte)

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FormationderGegenstände:dasAussagenensemble„individuelleAutonomie“ Während die Konstruktion von Entscheidungssituationen noch auf der ‚Wissens Oberfläche’ der untersuchten diskursiven Praxis verortet werden kann, stellt sich für die abstrakte Ebene der Wissensordnung die analytische Frage: Was sind die Existenzbedingungendafür,dassdievorgefundenen,sichimTextwiederholenden Erzählstrukturen so und nicht anders zusammengesetzt sind? Unter Existenzbe dingungensindhierdieRegelnfürdieempirischzufassendeStreuungvonAus sagengemeint,dievondenMusternderKlassifikationundDifferenzbildungabge leitet werden können. Unter demAspekt der Klassifikation brachte die Codierar beiteinEnsemblevonAussagenhervor,dassichausfolgendenElementen(Codes) zusammensetzt:  ƒ DasautonomeSubjekt ƒ DieindividuelleEntscheidung ƒ Eigenverantwortung ƒ RechtaufAutonomie  Diese Begriffe bildenzusammen das Klassifikationsmusterfür individuelleAuto nomie: ein semantischer Klumpen im diskursiven Ereignis. Sie sollen im Folgen den näher expliziert werden. Die Subjektposition „Jeder“ in der Aussage „Jeder sollselbstentscheiden“istnuraufdemerstenBlickeinPlatzhalterfüreinebeliebi gePersonoderRolle.BeinähererBetrachtungistdasSubjektnichtsobeliebigkon turiert, wie es zunächst den Anschein hat. Vielmehr ist es sehr wohl Einschrän kungenundAusschlussmechanismenunterworfen:„PrinzipiellbinichderMeinung, dassjederMenschfreiüberseineigenesLebenentscheidendarfundsollte.Diessollteaber nurdanngeschehen,wennichnochbeiklaremVerstandbin.“(Thread1338).Einfunk tionierenderVerstand239scheintunverzichtbareBedingungfürdieAutonomiedes Menschen zu sein. Der folgende Bedingungssatz stellt die Beziehung zwischen dem „klaren Verstand“ und der Autonomie her; dabei trifft man auf die Aussage „Jeder kann selbst entscheiden“: „Wenn er bei klarem Verstand ist, kann sich jeder MenschseinenZeitpunktdesTodesjederzeitmittelsSelbstmordselbstwählen.“(Thread 308).240 Auch wenn die Vernunft als Voraussetzung für das autonome Subjekt in denmeistenÄußerungennichtexpliziertwird,kannmansiealsderenExistenzbe dingung annehmen. Es würde einer eigenen Diskursanalyse bedürfen, um den  239 AufdiesesKonstruktwirdhiernichtnähereingegangen. 240 Die Etablierung der Grenzlinie „klarer Verstand“ / „Wahnsinn“ hat Foucault (1978) für die mo derneGesellschaftdetailreichdiagnostiziert.



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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

Ursprung(bzw.dieGenealogie)dieserspezifischenSubjektvorstellungzuergrün den;andieserStelleseilediglichaufdieParallelitätzumSubjektdesbürgerlichen Rechtsverwiesen:DieRechtsfähigkeitbeginntzwarmitderGeburt(§1BGB)und weist dem Individuum bereits damit einen Subjektstatus zu. Den vollwertigen StatusdesmündigenSubjekts(d.h.mituneingeschränktemZugangzumallgemei nen Rechtsverkehr) erreicht der Bürger aber erst mit der Volljährigkeit (§2 BGB) undunterderBedingung,nichtdurcheinegeistigeBehinderungoderpsychische KrankheitbeiderRegelungseinerAngelegenheitenbeeinträchtigtzusein(§1896 BGB). EbensovoraussetzungsvollwiedasKonstruktdesautonomenSubjektsistdas der ‚individuellen Entscheidung’: „der mensch ist herr über sein eigenes leben. somit haterdiefreiheit,überseinlebenzuverfügen.dannsollerauchentscheidendürfen,obes wertist,daslebenzulebenodernicht.“(Thread3475)DasIndividuum(natürlichge dachtalsautonomesSubjekt)giltalsalleinzuständigfürexistenzielleFragen,die dieeigenePersonbetreffen.WederbeinhaltetdieindividuelleEntscheidungeven tuelle Handlungsbeschränkungen, noch das Einbeziehen anderer Personen in die Entscheidungsbildung. Wenn dies dennoch thematisiert wird, befinden wir uns schoninAuseinandersetzungenumdieGrenzenderAutonomie,vondenenspäter nochdieRedeseinwird.EngverbundenmitdiesemAspektistauchdasIdealbild der eigenverantwortlichen Lebensführung: „Nicht zu vergessen die Selbststeuerung des Menschen, der ja sein Leben auch aktiv mitgestaltet. Nicht nur Umwelt und Anlage machenunszudem,derwirsind,sondernauchwirselbst,unserWille!“(Thread9148) DieEinbeziehungvonEigenverantwortungindieKonstruktionvonindividueller Autonomie ist eine logische Folge des Konzeptes einer allein vom freien Willen gelenkten, individuellen Entscheidung: Wenn sonst niemand an der Entschei dungshandlung beteiligt ist, sind auch die Handlungsfolgen eindeutig dem oder der Entscheidenden zuzuschreiben – das (Er)Tragen der Folgen aber ist nichts Anderes als die Wahrnehmung von Verantwortung. Diese Logik findet sich im Onlineforum vor allem im Zusammenhang mit Themen wie Präimplantations diagnostikund„dasbehinderteKind“:„DieEntscheidungliegtbeidenEltern,diedie alleinigeVerantwortungtragen!“(Thread206). DerletzteCode,deramKlassifikationsmusterfürindividuelleAutonomiebe teiligt ist, heißt „Recht auf Autonomie“. Spätestens hier wird deutlich, dass der Diskursgegenstand‚individuelleAutonomie’aucheinesozialeDimensionhat.Die Phrase„Jedersollselbstentscheiden“istalsLeitideenurimRahmeneinersozialen Ordnungsinnvoll,die–paradoxerweise?–dieAufgabegrenzenloserAutonomie durch die Einführung von Spielregeln verlangt. Ein im Onlineforum häufig be nutzterReferenzpunktistdasGrundgesetz(GG):„Ichdenke,dassichschondasRecht 

10.2„Jedersollselbstentscheiden“–SelbstbestimmungundEthik(MiguelTamayoKorte)

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habe, selbst zu bestimmen wann und wie es mit mir endet, aber wer sagt es dem Arzt, wennichimKomaliegehierbedarfeseinerGesetzesgrundlage.Ethischistesausmeiner SichtaufalleFällevertretbar,denndasRechtauffreieSelbstbestimmungistimGGveran kert“(P17130). DieAnalyseergebnissezumDiskursgegenstand‚individuelleAutonomie’ber genimGrundekeineÜberraschungen.ImAllgemeinenfindetmandieVorgaben, dieauchausdenethischen,politischenoderrechtlichenSpezialdiskursenbekannt sind: ein mit Willensfreiheit ausgestattetes Individuum, die ihm zuzurechnenden HandlungensowieeinesozialeundrechtlicheOrdnung,diedieseSubjektvorstel lung als Leitbild akzeptiert. Doch mit dem Klassifikationsraster ist die Beschrei bung des Gegenstandes noch lange nicht vollständig: Funktionsweisen des Inter diskurses wie die Vereinfachung komplexer Wissensbestände, integrierende Ver knüpfungenüberDiskursgrenzenhinwegoderdieHerstellungvonHandlungsre levanzzeigensicherstbeiderBetrachtungderDifferenzbildungen.  DifferenzbildungI:IndividuelleAutonomieals‚EthikohnedieAnderen’ Die Abgrenzung von Diskursgegenständen ist im Interdiskurs, dessen Elemente sich aufgrund von Mehrdeutigkeit und der vorherrschenden assoziativen Logik aufvielfältigeWeisekombinierenlassen,nichtsoeinfachwieinSpezialdiskursen. Man könnte sagen, interdiskursive Diskursgegenstände sind an den Rändern un scharf.DarumwurdefürdieCodierungvonDifferenzbildungengezieltnachsol chenTextstellengesucht,indenenexplizitvonGrenzziehungendieRedeist.Eine typisierbare Aussage über die Grenzen von Autonomie lautet, dass „man dort Grenzensetzenmuss,womananfängt,anderenzuschaden.“(Thread9195)DieEinbe ziehung der „anderen“ in die Konstruktion eröffnet die Möglichkeit einer Diffe renzbildungaufderAchseIndividuum–Gesellschaft.DerindividuellenAutono miewirdalsNegativfoliedie‚Sozialität’gegenübergestellt.DiefürdieDifferenz bildung relevanten Elemente des Diskursgegenstandes „Sozialität“ kann man de finieren,indemmansiezudenElementendesKonstruktes„individuelleAutono mie“inBeziehungsetzt:  DasautonomeSubjekt Ù DassozialeSubjekt DieindividuelleEntscheidung Ù DiekollektiveEntscheidung Eigenverantwortung Ù VerantwortungfürAndere RechtaufAutonomie Ù VerpflichtungendurchWerteundNormen 



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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

Das soziale Subjekt handelt nicht frei, sondern orientiert sich an den anonymen ‚Anderen’ und ist somit unabwendbar gesellschaftlichen Zwängen unterworfen: „Was die Einschränkung des freien Willens angeht, wir Menschen entscheiden niemals frei,sondernimmerabhängigvonirgendwelchenDingen.[...]DassderMenschetwasfrei entscheidenkönnte,isteineIllusion.Daskönnteernur,wennerdurchnichtsbeeinflussbar wäre.AberdannwäreerkeinMensch.“(P17138)IndiesemZitatwirddieVerknüp fungvonWillensbeschränkungundMenschseinbesondersdeutlich. In der kollektiven Entscheidung drückt sich der handlungsrelevante Aspekt von Sozialität aus. Hier lassen sich auch die Diskussionen über gesetzliche Rege lungenoderGesetzesänderungeneinordnen:„Ichfindeesabernichto.k.,dassGeset zeMacher uns das vorschreiben. Für mich waren immer schon die befruchteten Eizellen ‚meineKinder’.DieseFreiheitinmeinemDenkenlasseichmirnichtnehmen,undichwill auch danach handeln dürfen. Darf ich aber laut ESchG in mancher Hinsicht nicht!“ (Thread2140)IndieserFundstellewirddieAbgrenzungvonderkollektivenEnt scheidungdadurchverschärft,dassdasimpolitischenDiskursetablierteStellvert retungsverhältniszwischendemVolkalsSouveränunddenInstanzenderLegisla tivenichtanerkanntwird.DieÄußerungdistanziertsichdeutlichvonden„Geset zeMacher[n]“.UnerwünschteVerpflichtungen,diesichausbindendenWertenund Normen ergeben, bilden auch die Negativfolie für den Code ‚Recht auf Autono mie’.NebenGesetzenistvorallemdiechristlichgeprägteMoraleinSymbolfürdie BeschränkungenvonSelbstbestimmung.InderfolgendensymptomatischenÄuße rung betont der User, dass er sich„von Christenund anderen Moralisten nichtsvor schreibenlassenwill,wennesumGesundheit,eigeneEmbryosusw.geht.“(Thread9024) DaHandlungenoffensichtlichnichtnurFolgenfürdieentscheidendenPerso nen haben, sondern auch für Andere, wie es bei Gesetzen immer der Fall ist, kommtandieserStelledieVerantwortunginsSpiel,genauer:dieVerantwortung für Andere. Interessant ist die Bildung von ‚VerantwortungsRollen’, die beim Codieren zum Vorschein kommen: Der Typus der verantwortlichen Elternschaft zählt fast als einziger zum sozialen Nahbereich; weiter wird die professionelle Verantwortung(meistvonÄrztenundWissenschaftlern)genannt,außerdemsieht mansichinderVerantwortungfürdieMenschheitodergarfürkommendeGene rationen:„Esgehtdochnurdarum,ineinem(möglichstbreiten)KonsensgesetzlicheReg lungenzuschaffen,dieeineBrückezwischenderFreiheitderMenschen,denneuenTech nologien und der Gesundheit der Nachfahren schlagen. Gerade die Nachfahren sind jetzt interessant,inwieweithabensieeinRechtdarauf,freivonvermeidbarenErbkrankheitenzu sein?“(Thread8010) Mit der Konturierung eines Gegenbildes zur individuellen Autonomie ent stehtRaumfürGrenzziehungen:einesTerritoriums,umdasindiskursivenKämp 

10.2„Jedersollselbstentscheiden“–SelbstbestimmungundEthik(MiguelTamayoKorte)

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fengestrittenwird.WiesehendieseKämpfeumGewissheitenkonkretaus?Zum einen finden sie auf der abstrakten Ebene von Regelformulierungen statt, z.B. in dem das normalerweise implizite Autonomiekonzept explizit hinterfragt wird. DieseMetaKommunikationzeigt,dassdenSprechernDiskursordnungenzumin destinTeilbereichendurchausbewusstsind;siesindinderLage,diesezureflek tieren und gegebenenfalls auch abzulehnen. Zum anderen sind auf der Anwen dungsebene, bei den schon genannten Entscheidungssituationen bzw. Kombina tionen interdiskursiven Materials, viele Beispiele für Grenzziehungen zu finden. Zwei Muster der Abgrenzung sollen im Folgenden näher expliziert werden: das komplette Ausblenden der Sozialität zur Aufrechterhaltung einer grenzenlosen individuellenAutonomieunddieAusweitungderAnwendungsebenen. Sobald ein „Recht auf Selbstbestimmung“ postuliert wird, ist offensichtlich, dass dieses Recht durch die Selbstbestimmung Anderer eingeschränkt werden kann – diese Beschränkungen nehmen u.a. die Form bindender Normen an. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts an sich erfordert also eine Grundhal tung von Toleranz und einen gewissen Respekt vor den Anderen: „Ich finde, die individuelle Entscheidung der Betroffenen für ihren eigenen Lebensweg sollte immer res pektiertwerden“(Thread5103) Derfolgende Beitragfordert Freiheit und Beschrän kungimselbenAtemzug:Ichdenkeauch,wirwerdeninunsererEntscheidungsfreiheit vielzusehreingeengt.EinmündigerBürger,dersichausreichendinformierthat,sollteviel mehrselbstentscheidenkönnen.(Thread1549)HierwerdenallerdingsdieBeschrän kungen aus der Sozialität herausgelöst und in das Konzept des autonomen Sub jekts integriert: Die Etablierung der Grenzlinie zwischen klarem Verstand und Wahnsinn, die oben schon erwähnt wurde, kommt auch ohne die Semantik der Sozialitätaus.DieVernunft,hierimGewandderInformiertheit,kanndurchausals eine Eigenschaft des Individuums gedacht werden, sozusagen als dessen Grund ausstattung.SieistnotwendigeundnachdieserGrenzziehungauchhinreichende Bedingung für Mündigkeit, d.h. Autonomie. In anderen Worten, die Sozialität befindetsichjenseitsderAutonomie,dasIndividuumwird–wieesinThread1549 heißt  durch sie „eingeengt“. Der Gesellschaft wird der Status einer „ärgerlichen Tatsache“(Dahrendorf1977,20)zugewiesen. Dieshat zurFolge, dass die Vertre ter/innen individueller Autonomie Ansprüchen auf Befolgung gesellschaftlicher Normen prinzipiell kritisch gegenüberstehen. Selten wird die Forderung nach grenzenloserAutonomiesounverblümtformuliertwieimfolgendenTextbeispiel: „MeinModellsiehtsoaus:AbschaffungallerRegelnundGesetze.AbsoluteEigenverant wortung für jegliches Handeln. Abwägen und Entscheiden nach dem eigenen Wissen, Gewissen und Willen. d.h.: Jeder entscheidet für sich was Recht oder Unrecht ist.“ 

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(Thread 9764) Durch die Abschottung der individuellen Autonomie von ‚Einmi schungen’entstehtimEndeffekteine‚EthikohnedieAnderen’. ImVergleichzumethischenSpezialdiskurs,derdasIndividuumohneSoziali tätnichtdenkenkann,ergibtsicheineradikaleKomplexitätsreduzierung.Derall tagsnaheInterdiskursbrauchtsichnichtmitsystematisierendenÜberlegungenzu Wertehierarchien,AbwägungsprozessenundderenBegründungenabzugeben.Im Onlineforum impliziert Entscheidungsfreiheit häufig die Möglichkeit, zwischen verschiedenen legitimen ethischen Werten wählen zu können; in nicht wenigen ÄußerungenführtdieszueinemkonsequentenWertepluralismus:„IsteinMensch mehr oder weniger wert als ein Wurm? Für wen? Für einen Arbeitgeber oder für einen Angler? Wie viel jedem von uns etwas Konkretes wert ist, wird wohl jeder für sich ent scheiden müssen.  Außer er ordnet sich autoritären Vorgaben unter. Aber auch das ist letztendlich eine Entscheidung. Und  Wertentscheidungen muss niemand begründen, nichteinmalrechtfertigen,umsietreffenzukönnen.Anderekönntenihndafürhöchstens andenPrangerstellen(oderinsFegefeuer),nichtaberinsUnrechtsetzen.“(Thread1734) Wenn Wertentscheidungen keiner Rechtfertigung mehr bedürfen, wird dem ethi schen Spezialdiskurs der Boden unter den Füßen weggezogen; er erweist sich schlichtwegalsüberflüssig. Der‚einmischungsfreie’Bereich,innerhalbdessenalleindieindividuelle,freie und eigenverantwortliche Entscheidung gilt, ist nicht nur Gegenstand eines Ge dankenspiels,wieesdiezitierteÄußerungvermutenlässt.EinzweitesArgumen tationsmuster, um Grenzen zu ziehen, gesteht der Sozialität einen legitimen Ge ltungsbereich zu, nur um diesen gleich darauf so weit wie möglich zu beschrän ken. Diese doppelbödige Integration wird in der großen Mehrzahl der Äußerun gen vollzogen, da sie diskurstaktisch Sinn macht: Mit ihr lässt sich besser Hand lungsrelevanz herstellen. So ist es z.B. möglich, an das Begriffspaar ‚privat öffentlich’ anzuknüpfen, das strategische Anschlüsse an den rechtlichen Diskurs zulässt. Unter den Patenschaften gibt es einen Thread, der mit dieser Grenzzie hung eröffnet wird: „Wer garantiert das Recht auf Privatsphäre und Eigenbestim mung?“ (P52) Die thematische Rahmung Bioethik lässt die vorherrschende Mei nungzumVorscheinkommen,dereigeneKörpergehöreselbstverständlichinden Bereich individueller Autonomie und staatliche oder sonstige Einmischung sei verboten:„FortpflanzungistPrivatsache“(P2428).JeweiterderGegenstandsbereich der Entscheidungssituationen in der Öffentlichkeit verortet wird, desto mehr Zu geständnisseandieRegelnderSozialitätwerdengemacht.Beieindeutigkollekti ven Entscheidungen wie der Gesetzgebung ist es für Vertreter der individuellen Autonomienurnochmöglich,sichzudistanzieren,abernichtmehr,dieKollektivi tätauszublenden.DieDistanzierungerfolgtdann,indemz.B.Misstrauengegenü 

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ber den Regeln demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung geäu ßertwird:„stellteuchmalvor,wasloswäre,wenndieidiotenvonderstraßemitentschei dendürften!“(Thread8349)  DifferenzbildungII:Autonomie/Autonomieverlust WährenddieersteDifferenzierungeinGegenbildzumindividuellenTeildesGe genstandes‚individuelleAutonomie’entwirft,erfolgtdiezweiteDifferenzbildung zwischen Autonomie und Fremdbestimmung: Mit dem Autonomieverlust wird einGegenbildentworfen.AuchhiertauchenSinnElementederindividuellenAu tonomiewiederauf:  DasautonomeSubjekt Ù DasfremdbestimmteSubjekt DieindividuelleEntscheidung Ù DiestellvertretendeEntscheidung Eigenverantwortung Ù Fremdverantwortung RechtaufAutonomie Ù VerlustdesRechtsstatus  Zur diskursiven Konstruktion der individuellenAutonomie gehört unverzichtbar die Opposition zur Fremdbestimmung. Es gibt auch Symbole für das Gegenbild, z.B.dasschonerwähnteStereotypdesqualvollimKrankenhausoderPflegeheim sterbendenGreisesoderdieMetapherdes‚Vegetierens’.Letztereverdeutlichtnoch stärker als das schon beängstigende Stereotyp des hilflos Sterbenden die Bedro hungen der individuellen Autonomie. Da dieses Gegenbild alle Aspekte der Fremdbestimmunginsichvereint(fremdbestimmtesSubjekt,stellvertretendeEnt scheidung, Fremdverantwortung, Verlust des Rechtsstatus), sollen die Differenz bildungsowiedieKämpfeumGrenzziehungenandiesemBeispielnachvollzogen werden. Auffallendist,dassdieÄußerungenimUmfeldderstereotypenSterbesituati on nicht unbedingt auf religiöse Symbole zurück greifen; im Gegenteil werden Religion und Kirche wegen ihrer Ablehnung der aktiven Sterbehilfe scharf kriti siert:„Esmagsein,dasseinGebotsagt,mansollnichttöten.AberwashatdieBibelschon zusagen?Sieisterstunkenunderlogen!Manmussfürsichentscheiden,wasdasBestefür einen selbst ist.“ (Thread663) Auf der anderen Seite gibt es kaum eine Äußerung, die in diesem Kontext den Tod beschreibt, ohne denreligiös konnotierten Begriff der„Erlösung“zubenutzen.241WasistderGrundfürdieseinkonsequenterschei nende Begriffsformation? Wahrscheinlich hat sie mit dem zugrunde liegenden Menschenbild zu tun: In einer materialistischen Wissensordnung wird das auto  241 EineZählungergab225FundstellenfürdenBegriff*erlös*.



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nomeSubjektdurchdieExistenzdesTodesbeleidigt;zumindestlässtderWegfall religiöser Hoffnung auf ein Weiterleben es nicht zu, ihn positiv zu verstehen. SchonNietzsche(1982,Aphorismus125)hatsichinseinerThesevomTodGottes gewundert, dass die Menschen nach diesem ‚Mord’ so gleichmütig weiterleben können. AusdieserSichtlässtsichdieNutzungeinesdiskursivenElementesausdem religiösenDiskurs–indiesemFall‚Erlösung’–fürdieinterdiskursiveKonstrukti onvonSterbesituationenalsChanceverstehen,dochnochetwasGutesanderei genen Endlichkeit zu finden. Die Kraft des Wortes ‚Erlösung’ erschließt sich am bestenauseinzelnenÄußerungen:„MeinMannwartodkrank,erwollteimmerleben, er wusste, er würde sterben, von daher ist der Tod für ihn eine Erlösung gewesen.“ (Thread2146)Wennjemand,der„immerleben“wollte,denTodvorAugenhat,ist das Sterben müssen eigentlich eine Horrorvorstellung. Wird hier „Erlösung“ als Synonym für die Beendigung eines unerfreulichen Zustandes benutzt? Wenn sie dasErlöscheneinesLebenszurBedingunghat,fragtmansich,fürweneigentlich das Heilsversprechen gilt, das mit dem Begriff verbunden ist. Eine andere Fund stelle thematisiert genau diesen Aspekt, dass die ‚Erlösung’ nämlich häufig nicht fürdieSterbenden,sondernfürdiesonstigenBetroffenenvonBedeutungist:„Was diemeistenMenschen,diedieaktiveSterbehilfebefürworten,ersteinmalaußerAchtlassen müssen,istderSchmerz,densiealsAngehörige/Außenstehendeempfinden,wennsieden krankenMenschensehen,weildiesnichtimgeringstenEinflussdaraufhat,obdasLeben desanderenlebenswertistodernicht!“(Thread3475)DerTodeinesMenschenerlöst dieanderen–hierverliertderBegriffseineUnschuldundwirdäußerstfragwür dig. Noch deutlicher wird diemoralische Problematik,wenn „erlösen“ einfach als Euphemismus für ‚töten’ benutzt wird. Im nächsten Textbeispiel könnte man die beiden Vokabeln vertauschen, ohne etwas an der Botschaft ändern zu müssen: „wenneinmenschindennächstenstundensterbenwirdunderunerdenklichleidenmuss, warumkannmanihndannnichterlösen,sondernnurhilflosdanebenstehen?“(Thread 2162).IndemdasWort‚töten’,dasoffenbarnichtsagbarist,durchdenEuphemis mus„erlösen“ersetztwird,wirddieKonnotationquasiumgepolt.Ineinemande renThreadscheintderMechanismusjedochnichtfunktioniertzuhaben;mitHilfe von historischem Wissen und einer alltagsdiskursiven Argumentation lehnt ein UserdenErlösungsbegriffab:„Wirstehenhilflosdaneben,weilwirkeineRoutinemehr haben im Umgang mit Sterbenden. Was man tun kann? Mit dem Sterbenden reden, ihn festhalten,ihmGeschichtenausseinemLebenerzählen,ihmetwasvorsingenoderihmseine Lieblingsmusikvorspielen,vielleichtmitihmbeten.AufjedenFall:ihnnichtalleinlassen!! IchhassedasWort’erlösen’.DashabendieNazisauchbenutzt.“(Thread2162)Dader 

10.2„Jedersollselbstentscheiden“–SelbstbestimmungundEthik(MiguelTamayoKorte)

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Tod unvermeidlich ist, kann niemand ausschließen, selbst in die geschilderten Situationen zu kommen. In diesem Kontext erweist sich die Subjektposition der Aussage„Jedersollselbstentscheiden“alsdieeinerPerson,diesichmitdemeige nen Tod beschäftigt. Die Phrase scheint einer inhaltlichen Formation zugehörig, die eine spezifische Problematisierung vornimmt: Wie kann die individuelle SelbstbestimmungineinersolchenExtremsituationaufrechterhaltenwerden?Das Verknüpfen der Sterbesituation mit dem Autonomiekonzept ist zunächst einmal eine diskursive Leistung, die nicht selbstverständlich ist. Das zeigen vereinzelte Gegenpositionen,die,anstattdiegestelltenFragenzubeantworten,sichgegendie Problematisierungbzw.Fragestellungselbstwenden.ImfolgendenBeispielkont rastiertderKommentardasBilddesautonomenSubjektsmitderreligiösenMeta pher„GottesDiener“. „F:IstSterbehilfenichtmenschlich,wennmanjemandemdamiteinLebenvollerSchmerz undQualerspart? NEIN!DennwenndasinGottesPlansovorkommt,hatdasseineRichtigkeit.Der Menschmussakzeptieren,dasserselbstnureinProduktistunddasserGottesDienerist.“ (Thread6686) In einer diskursiven Formation, die den Menschen als Herrn seiner selbst konstruiert,alsautonomesSubjekt,daszwischenQualundSterbehilfeentscheiden kann,wäreeinesolcheÄußerungnichtsagbar.DerDiskurstheoriezufolgemüsste dieseÄußerungselbstinderrelativoffenendiskursivenPraxisdesOnlineforums sofort einenAusschlussmechanismus in Gangsetzen. Tatsächlich lässt er sich be obachten „Das ist nicht dein Ernst, oder? Wenn du das ernst meinst, würde ich dir zu einemnettenkleinenAufenthaltinderPsychiatrieraten!“(Thread6686)DieÄußerung in das Reich des Wahnsinns zu verweisen, kann fast als ‚klassische’ Reaktion ge lten. Der zurechtgewiesene User – gewissermaßen seiner Vernunft ‚beraubt’ – überlässt daraufhin in dem Thread, der danach noch drei Beiträge enthält, den BefürworternvonSelbstbestimmungdasFeld.DieserVorgangisteinBelegdafür, dass sich in dem untersuchten Material tatsächlich Diskursregeln und diskursive Kämpfe beobachten lassen. In einem weiteren Beispiel für eine Gegenposition verwendetderzweiteKommentareineunverbindlichereFormulierung: „F:Werentscheidet,waslebenswertist? Dassolltejederfürsichentscheiden. Allesundjederistlebenswert.Wirsolltenunsnichtanmaßen,darüberzuentscheiden.“ (Thread4334) Wenn auch nicht so provokant wie der religiöse Verweis in Thread 6686, enthält die zweite Äußerung doch eine unverblümte Kritik an der in der Frage formulierten Verknüpfung zwischen „lebenswert“ und einer Entscheidung. Den 

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WertdesLebenszurDispositionzustellen–seiesaufindividuelleroderkollekti ver Entscheidungsebene –, bezeichnet der Kommentar als „anmaßen[d]“. Interes santist,dassandieserStelledieAussage„Jedersollselbstentscheiden“ebenfalls auftaucht.InderKontrastierungderbeidenKommentarediesesThreaderscheint einneuerAspektdesSelbstbestimmungskonzeptes.DieÄußerungenhabenkeinen sichtbarenBezugzueinander,siescheinenverschiedenendiskursivenFormationen anzugehören: auf der einen Seite der Relativismus der individuellen Autonomie, aufderanderenSeitedasLebenalsBeispieleinesunantastbarenethischenWertes. Der zweite kritische Kommentar wirft die Frage nach den Grenzen der Selbstbe stimmungauf.GewisseGrundwertesolltennachdieserAuffassungbeachtetwer den. An anderer Stelle, bei dem Themenbereich Fortpflanzung bzw. Abtreibung und nach der Diagnose einer potentiellen Behinderung wird eine Konfliktlinie zwischen Selbstbestimmung und dem Lebensrecht von Behinderten aufgebaut: „Wo fängt die ‚lebensunwerte’ Schwerstbehinderung an, und wo die Bequemlichkeit der Eltern, die sich in ihrer ‚Selbstverwirklichung’ behindert sehen?“ (Thread 9866) Die Formulierung legt nahe, dass es bei derartigen ethischmoralischen Konflikten keine deutlich markierten Grenzlinien gibt, sondern nur noch Abschnitte auf ei nem Kontinuum des Abwägens zwischen gleichwertigen Werten. Dies ist eine zentrale Problemstellung im Spezialdiskurs der (Bio)Ethik. Ungeachtet der Vor gabenethischerDenkschulenwerdenimInterdiskursunverblümtundoffenGren zenderSelbstbestimmungmarkiert,umkämpftundüberschritten.  FazitderAnalyseschritteKlassifizierungundDifferenzbildung DasKonstrukt‚individuelleAutonomie’kanndenAnalyseergebnissenzufolgeals strukturelleExistenzbedingungfüreinabgrenzbaresEnsemblevonAussagenan gesehenwerden.DieAussage„Jedersollfürsichentscheiden“wäreohnedieKon zeptionindividuellerAutonomienichtsagbar.DieFundstellenweisendaraufhin, dass die individuelle Autonomie im zivilgesellschaftlichen Diskurs eine strategi sche Position einnehmen kann: Sie kann Grenzen verschieben (wie die zwischen privater und öffentlicher Sphäre), Tabus setzen (z.B. etwa: ‚Der Mensch ist nicht autonom, sondern ein Geschöpf Gottes und sein Diener’), oder auch diskursive Nischenöffnen(z.B.indemethischeWertezurDispositiongestelltwerden). InderAbbildung12sinddieErgebnissederAnalysenocheinmalzusammen gefasst:AufderunterstenEbenebefindetsichdas„freiflottierende[.]“(Link1999, 154), noch wenig strukturierte interdiskursive Material. Dazu gehören neben der untersuchtenPhrase„Jedersollselbstentscheiden“,demAusgangspunktderEin zelstudie,Stereotype,interdiskursiveThemenundMetaphern.DieEntscheidungs situationen,diealsvorherrschendesnarrativesSchemaidentifiziertwerden,stellen 

10.2„Jedersollselbstentscheiden“–SelbstbestimmungundEthik(MiguelTamayoKorte)

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mehroderwenigeroriginelleKombinationendar.Siekönnenaufeineretwasstär ker strukturierten Ebene verortet werden, auf der Handlungsrelevanz hergestellt undOrientierungswissenvermitteltwird.BeideEbenenbefindensichaufderWis sensoberfläche (vgl. Kap. 5) und können induktiv aus den Texten heraus codiert werden. Anders die oberste Ebene der Klassifizierung und Differenzbildung, die als Teil der Diskursordnung zu bezeichnen ist: Hier wird ein Diskursgegenstand postuliert,deranalytischinseineabstraktenBestandteilezerlegtwerdenkann.Das Aussagenensembleum‚individuelleAutonomie’unddiebeidenDifferenzbildun gen‚Sozialität’“und‚Autonomieverlust’sindnachdiskurstheoretischerLesartdie strukturelle Voraussetzung dafür, dass die Kombinationen im narrativen Schema derEntscheidungssituationensoundnichtanderserfolgtsind. Abbildung12 FunktionsweisedesInterdiskursesamBeispiel „individuelleAutonomie“ 

DifferenzbildungI

Sozialität



Klassifizierung

DifferenzbildungII

individuelle Autonomie

Autonomie verlust

Diskursordnung Wissensoberfläche narrativesSchema: Entscheidungssituationen

Aussage: „Jedersoll…“

Stereotype

Sterbehilfe



interdisk. Themen

Abtreibung

PID

Metaphern

Organspende

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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

10.2.3 TheoretischeReflexion:MerkmaleundFunktionsweisedesInterdiskurses Der Interdiskurs reduziert Komplexität und integriert Wissensbestände aus ent fernten Sinnprovinzen mit Hilfe einer eigenwilligen Kombinatorik. Er bietet Sub jektapplikationen an und ist handlungsrelevant. Interdiskursive Logik ist durch Mehrdeutigkeit und konnotativen Sprachstil gekennzeichnet (vgl. Tab. 12, 3.5.2, 8.4). Diese Merkmale und Funktionen sollen am Beispiel des untersuchten Dis kursgegenstandes‚individuelleAutonomie’nachgezeichnetwerden. Das‚autonomeSubjekt’,dasmitVernunftundfreiemWillenausgestattetist, kannmanalsAngeboteiner‚(Subjekt)Applikation’betrachten.ZudieserSubjek tivierungsfoliegehörtdasIdealeinerindividuellen,eigenverantwortlichenLebens führung.SozialeKomponentenbleibenindiesemKonzepttendenziellausgeblen detbzw.siewerdenderindividuellenSelbstbestimmunguntergeordnet. TypischfürdenInterdiskursistweiterhindieHandlungsrelevanz,dieindie ser Fallstudie vor allem die Form von teils konstruierten, teils aus persönlicher ErfahrunggespeistenEntscheidungssituationenannimmt.DieWahlderkonkreten SituationenergibtsichausdenvorgegebenenThemendesOnlineforums.DieBei spielesindsomehrdeutig,dasssieverschiedeneInterpretationenzulassen;dieser Spielraum wird genutzt, beispielsweise wenn User unterschiedliche Diskursposi tionen zum gleichen Thema einnehmen. Die Komplexität reduzierende Funktion desInterdiskurseskannmandaranbeobachten,dassdieKonstruktionvonindivi dueller Autonomie auch dann gelingt, wenn die Sozialität – im Spezialdiskurs Ethik selbstverständlich mit gedacht – ausgeblendet wird. Die Grenzziehung er folgt mit Hilfe desangstbesetzten Gegenbildes eines irreversiblen Autonomiever lustes anstatt einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Beschränkungen derWillensfreiheit.Interessantist,dassbeiderAnwendungaufkonkreteSituatio nen eine Leerstelle offen zutage tritt: Am Beispiel des ‚dahinvegetierenden’ Ster bendenwirddasThemaSterbehilfediskutiert.Zwarglaubtjederzuwissen,wieer persönlich entscheiden würde, aber für die Situation einer fehlenden oder stark eingeschränkten Einscheidungsfähigkeit gibt es keine befriedigende Lösung. Da durch entsteht ein Paradox: Der mutmaßliche Wille, Sterbehilfe zu empfangen, kann nur durch eine stellvertretende Entscheidung,also unterUmgehungindivi duellerAutonomie,erfülltwerden.DasKonzeptderEigenverantwortungisteben falls ausgehebelt, denn die Handlungsfolge (den Tod) trägt nicht die handelnde Person,sonderndiejenige,fürdiestellvertretendgehandeltwird. Solange die Dimension der Sozialität ausgeblendet bleibt, gibt es kein allge meines Kriterium, nach dem eine Entscheidung getroffen werden kann, die die AufrechterhaltungdesAutonomiekonstrukteserlaubt.ErstdieEinbeziehungüber 

10.2„Jedersollselbstentscheiden“–SelbstbestimmungundEthik(MiguelTamayoKorte)

275

individuellerNormenkanneinenAuswegausdemDilemmabieten,etwaindem EthikKonsile nach einer vorhergegangenen Willenserkundung oder die Angehö rigen aufgrund früherer Äußerungen des Betroffenen entscheiden. Im Material wirddieFremdverantwortungalsVerpflichtungderGemeinschaftkonstruiert,die Macht über Leben und Tod nicht zu missbrauchen. Meist werden auch entspre chendeKontrollenoderKontrollinstanzeneingefordert,umsicherzustellen,dass diegeltendenNormeneingehaltenwerden.Dieskommtabereigentlicheinermas siven Beschränkung der Handlungsautonomie des Sterbehelfers gleich. Der ver meintliche Widerspruch wird dadurch aufgelöst, dass darauf hingewiesen wird, dass der Sterbehelfer eben stellvertretend für den Betroffenen handelt und die QualitätdieserstellvertretendeEntscheidunggesichertwerdenmuss.242 Die Komplexität individueller Autonomie kommt also in konkreten Situatio nenquasidurchdieHintertürwiederzumVorschein.Natürlichistesmöglich,die Grenze zwischen Autonomie und ihrem Gegenbild, der Fremdbestimmung, den noch aufrecht zu erhalten. Es wird aber deutlich, dass das interdiskursive Kons trukt‚individuelleAutonomie’prekäreristalsderAutonomiebegriffdesethischen Spezialdiskurses, der tendenziell auf Widerspruchsfreiheit angelegt ist und der ProblematisierungethischerEntscheidungendient. Ein interdiskursiver Mechanismus, der gleichzeitig Komplexitätsreduzierung und integrierende Kombinatorik beinhaltet, ist besonders frappierend und soll des halbnähererläutertwerden:Wieobenerwähnt,wirdderBereichderSozialitätmit denassoziiertenCodesVerantwortung,Normenetc.ausgeblendet,umeineredu zierte, individualistische Autonomie denken zu können. Dieser Reduktionismus führt jedoch zu mangelnder Kohärenz, die am konkreten Beispiel der Sterbehilfe offenzuTagetritt.Indemvermeintlicheherne‚Naturgesetze’dasSozialitätskons truktmitseinenethischoderreligiöslegitimiertenBestandteilenersetzen,kanndie Schwäche quasi wieder ‚ausgebügelt’ werden. Dazu notwendig ist allerdings ein gewagter Brückenschlag über Spezialdiskurse hinweg; er sieht folgendermaßen aus:KanneinIndividuumnichtselbstentscheiden,mussessichnachdieserLogik nicht fremdbestimmen lassen, sondern es unterwirft sich allein den Gesetzen der Natur, die – da ja von Menschen nicht gemacht – im Unterschied zu ethischen WertenundNormennichtzurDispositionstehen.Siegeltenvielmehralsneutral, objektivund–weilfüralleingleicherWeise–schließlichauchals‚gerecht’.Inder SterbesituationebensowieimKontextderPränataldiagnostiklautetdieFragealso: „WarumsollenwirindienatürlicheAusleseeingreifen?WenninderNatureinTierbaby  242 EsbestehtnatürlichgroßesMisstrauengegenübermöglichemMissbrauch.



276

10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

nichtüberlebensfähigist,schenktdieMutterihmkeineBeachtung,daeseinLebenvoller Leidenvorsichhätte!“(Thread172) DieGrenzenderSelbstbestimmungsindnachdieserArgumentationobjektiv legitimiert, denn ‚natürlich’ oder auch ‚naturgegeben’ bedeutet eben auch unver rückbar und unveränderbar. Ein Überschreiten naturgegebener Grenzen wäre demnach ‚widernatürlich’.243 Die Auffassung vom Natur‚gesetz’ als Handlungs normisteinMusterbeispielfürdieÜberbrückungvonWidersprüchenimInterdis kurs.Ohneweiteresscheinen‚Anleihen’ausfremdenDiskursordnungenmöglich: Im naturwissenschaftlichen Spezialdiskurs ist ‚Naturgesetz’ als Regelmäßigkeit definiert; im juristischen Sinne wird der gleiche Begriff als Handlungsnorm be nutzt.NurindiesemBedeutungsfeldisterauchmitGerechtigkeitkonnotiert.Die Verwendung eines solches Naturkonzeptes für die ethische Argumentation wird anvielenStellenimForumkritisiert:„DieEvolutionisteinnatürlicherVorgang,dabei gibt es keine Moral in unserem Sinne. Für uns Menschen heute gilt die Evolution nicht mehr,menschlichmoralischethischeAspektezuunseremDaseindafürumsomehrundder RespektvorjedemEinzelnenalsIndividuum.“(Thread877)DennochlässtdieAnalyse offenbar werden, dass ein verfestigtes interdiskursives Aussagenensemble exis tiert, innerhalb dessen individuelle Selbstbestimmung ohne ethische Dimension gedachtwerdenkann,dafüraberinvermeintlichobjektiveNaturgesetzeeingebet tetwird.DassdieserNaturbezugeinersozialdarwinistischenIdeologieentspricht, wirdausderobenzitiertenTextstelleersichtlich.EsfindetsicheineVielzahlweite rerForumsbeiträge,diedieseVermutungstützen:„DieNaturistschlau.Esgibtein natürliches Gleichgewicht. Natürliche Auslese. Fressen und gefressen werden... Warum nimmtsichderMenschraus,daszuändern?“(Thread877) Resümierend kann man festhalten: Durch die Konzentration auf ein ausge wähltes Aussagenensemble treten die Eigenheiten des Interdiskurses deutlich zu Tage. Die Bezeichnung Interdiskurs markiert nicht zufällig einen ‚Zwischen Raum’. Seine Charakteristika bewirken im Alltagswissen Generalisierungen und eigenwilligeKombinationenmitanderenWissensbeständen;inebensoeigenwilli gerManierwirdmitdemSpezialwissenverfahren.Erstaunlichist,dassdieResul tate der interdiskursiven Kombinatorik als selbstverständliche, keiner weiteren LegitimationbedürfendeGewissheitenindieDebatteeingebrachtwerdenkönnen. GanzoffensichtlichkannderInterdiskursseineIntegrationsfunktionvollerfüllen. FüreineGesamtbetrachtungistzubedenken,dassGegendiskurseundpositionen imRahmendieserFallstudienurkursorischabgehandeltwerdenkonnten.Sietre  243 Möglicherweiseistdas‚Natürliche’auchmitdem‚Normalen’bzw.das‚Widernatürliche’mitdem ‚Unnormalen’verknüpft(vgl.10.3).



10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

277

ten aber in ebenso großer Zahl auf wie etwa der Gegenstand ‚individuelle Auto nomie’. Mit der Aufdeckung der unausgesprochenen Existenzbedingungen der auffallend häufig verwendeten Phrase „Jeder soll selbst entscheiden“ sollte ein BeitragzurKritikdesAlltagswissensgeleistetwerden. 10.3

NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

10.3NormalitätundBehinderung: MächtigeGrenzziehungenimInterdiskurs(AnneWaldschmidt) Zumindest in westlichen Industriegesellschaften hat sich im letzten Jahrhundert das Verhältnis zwischen Normalität und Abweichung verschoben (vgl. Wald schmidt2004b).Währendbisindie1960erJahrehineindieGrenzenzwischenKon formität und Devianz einigermaßen klar gezogen waren und beispielsweise Ho mosexualität und Prostitution als illegal, Scheidung und uneheliche Geburt als anstößig galten, sind heute die Kriterien von Normsetzungen eher zum Problem geworden. AlsFolge desAuseinanderdriftens vonmoralischerWertung und em pirischem Verhalten kann und muss Normalität immer wieder neu hergestellt werden.SieistnichtmehreinEffektapriorigesetzterVorschriften,sonderneina posteriori konstituierter Tatbestand. Die Produktion moderner Normalitäten funk tioniertüberRückkopplungsschleifen.DasWissendarüber,wasdieAnderentun, beeinflusst unser Verhalten; Normalität wirkt nicht länger über äußeren Zwang, sondernwirdvondenhandelndenSubjektenselbsthergestellt. Auch im Fall von Behinderung, einem Phänomen, das üblicherweise als Ab weichungverstandenwird,istetwasinBewegunggeraten:Nochbisindie1970er Jahre handelte es sich bei dem „Dispositiv der Behinderung“ (vgl. Waldschmidt 2003b)–demEnsemblediskursiver,operativerundsubjektiverPraktiken,dieden sozialen Tatbestand ‚Behinderung’ konstituieren – um eine vorwiegend ausgren zende,dieAnstaltsverwahrungundBesonderungförderndeStruktur.Gegenwär tighabenwiresmitPolitiken,HandlungsfeldernundDiskursenzutun,diedarauf abzielen,behinderteMenschenundihreFamilien‚indieMitte’derGesellschaftzu holen, ihre Ausgrenzung von vorneherein zu vermeiden. Wird es vielleicht ir gendwann ‚ganz normal’ sein, mit einer Behinderung zu leben? Noch lässt sich dieseFragenichtmiteinemeindeutigen‚Ja’beantworten. EherwirdmanKämpfezubeobachtenhaben:AuseinandersetzungenumDe finitionsmacht, Konflikte um unterschiedliche Lösungsansätze, Debatten über Ausgrenzung oder Teilhabe – auch und gerade im Interdiskurs. Der Frage nach demSpannungsverhältniszwischenNormalitätundBehinderunggehtdieseTeil studienach;dabeiwirdmitHilfedervierFormationsregeln–Sprecherpositionen, 

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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

Gegenstände,Begriffe,Strategien–vorallemzuerkundensein,wieindemunter suchtenInternetforummitderNormalitätsgrenzeumgegangenwird.

10.3.1 ParadoxiederNormalitätsgrenze In der heutigen „Normalisierungsgesellschaft“, „eine[r] Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden“ (Foucault 1999a, 293), ist insbe sondere die Normalitätsgrenze heftig umkämpft. Sie erweist sich in mehrfacher Hinsicht als paradox (vgl. Link 2006a, 355ff.) und insofern als spannungsreich: Einerseitskannsieletztlichnursemantischsymbolischmarkiertwerden,etwaals StigmaoderalsStandardabweichung.AndererseitsstelltsieeinhartesFaktumdar, daszurealenAusschlüssen,aberauchTeilhabenführenkann.Dieihrimmanente Widersprüchlichkeit ergibt sich aus dem Zusammenspiel zweier Postulate. Das eineGebot,das„Kontinuitätspostulat“(Link2006a,355)besagt,dasseskeinequa litativeGrenzezwischendemNormalenunddemUnnormalengibt,sondernnur einKontinuum,aufdemsichPunktebefinden,diesichprinzipiellverschiebenund immerwiederneuanordnenlassen.DaszweitePrinzip,das„Toleranzgrenzenpos tulat“(Link2006a,355),gehtdavonaus,dassaneinerbestimmtenStelledieNor malität enden und die Anormalität beginnen wird, dass also Normalität ohne ei nen auch qualitativ unterschiedlichen Gegenpol grundsätzlich nicht denkbar ist. Das Toleranzgrenzenpostulat steht somit in Konflikt mit dem Kontinuitätsgebot; jedeNormalitätsgrenzeistvondieserParadoxiegeprägt.KontinuitäteinesFeldes oderklareGrenzziehung–dieserGegensatzkommtauchindenbeiden„normalis tischen Strategien“ zum Ausdruck, die sich Link (2006a, 51ff.) zufolge in der Ge genwartsgesellschaft beobachten lassen. Nach der Theorie desNormalismus (vgl. Link2006a)sind„protonormalistische“AnsätzeanderherkömmlichenNormativi tätausgerichtet;siebauenaufderstriktenTrennungzwischendemNormalenund dem Pathologischen auf und beinhalten die dauerhafte Ausgrenzung der Abwei chenden. Dagegen sind die „flexiblen“ Normalisierungskonzepte weicher und durchlässiger.SiegehenvondemIdealeinerkontingenten,wiederveränderbaren VerteilungderMenschenimsozialenRaumausundlassensichvonderAnnahme leiten,dassmarginalisierteIndividuendieGrenzbereicheoderdenPolderAnor malität auch wieder verlassen und zurück in die Zone des Normalen gelangen können. Während der flexible Normalismus kontinuierliche Normalitäten und bewegliche Normalitätsgrenzen postuliert, beharren protonormalistische Strate 

10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

279

gienaufeinemeindeutigmarkiertenSpektrumdesNormalenundaufebensoklar gekennzeichnetenPolen. WenndiesetheoretischenAnnahmenrichtigsind,müsstensichindemunter suchtenInternetforumentsprechendeKonfliktlinienfindenlassen.Schließlichsind ‚Normalität’und‚Behinderung’interdiskursiveBegriffeunddiebangeFrage‚Bin ich (noch) normal?’ treibt den heutigen Alltagsmenschen in vielfältigster Weise um. Zudem bietet sich eine Debatte über Bioethik geradezu an, über Normalität undAbweichungnachdenken,gehtesbeider„BioMacht“dochumdiePraktiken einer„Macht[…],diedasLebenzusichernhat,[sie]bedarffortlaufender,regulie renderundkorrigierenderMechanismen.Esgeht[…]darum,[…]dasLebendein einemBereichvonWertundNutzenzuorganisieren.“(Foucault1983,171f.)

10.3.2 MethodischesVorgehen Tatsächlich stellt man bei der Materialanalyse fest, dass die Begriffe Normalität undBehinderungsozusagendurchdasDiskursereignis‚geistern’.Zumeinenwird den Usern des 1000 FragenForums das Thema „Normalität“ direkt angeboten, wennsiedieRubrik„Der(im)perfekteMensch“anklicken.Zumanderendarfvor dem Hintergrund der Projektträgerschaft mit einiger Berechtigung angenommen werden,dasssichBezugnahmenaufBehinderunghäufigerfindenwerdenalssol cheaufanderebekanntePhänomenesozialerAbweichungwieetwaDrogensucht, ArmutoderHomosexualität,beidenensichdieNormalitätsfragesicherlichinganz ähnlicherWeiseverhandelnließe.244 Auch die Analyseergebnisse aus früheren Untersuchungsschritten liefern Be gründungenfür eine Untersuchung dieses Diskursstrangs.245 Beispielsweise sticht  244 DieseAnnahmewurdeanhandeinerquantitativenAnalyseüberprüft.BasiswarendieFragenund Kommentare des 1000 FragenForums; ausgezählt wurden insgesamt neun Bereiche, die zu den klassischensozialenProblemengezähltwerden:Sucht,Arbeitslosigkeit,AIDS,Armut,Kriminali tät,Homosexualität,Alter,Krankheit,Behinderung.Eszeigtesich,dassanderesozialeProbleme– entgegenderErwartung–durchausinnennenswerterHäufigkeitvorkommen,trotzderthemati schen Rahmung „Bioethik“, die dies nicht unbedingt vermuten ließ. Deutlich wird jedoch, dass dasThemaBehinderungmitsehrweitemAbstandfastalleanderenüberragt;nurderSuchbegriff *krank* hat mehr Treffer. Allerdings muss bei diesem Zählergebnis berücksichtigt werden, dass dergesuchteWortstamm*behinder*relativunspezifischistundsicherlichauchinanderen,eher allgemeinenKontextenauftaucht(etwainderBedeutungvonblockieren,Barriereetc.). 245 DieBerücksichtigungdesGeschlechteraspektsbeiderThemenwahlweistübrigensNormalitätals ein Thema mit einem überdurchschnittlichen Frauenanteil unter den Fragestellern aus. Die The men, bei denen der weibliche Anteil höher liegt, sind: Organtransplantation, Euthana sie/Sterbehilfe,KünstlicheBefruchtung/IVFundTherapeutischesKlonen(vgl.6.3.1).



280

10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

ins Auge, dass beide Lemmata Eingang in den Diktionär der 10.000 Fragen (vgl. 6.3.2) gefunden haben. Zwar verfehlt Normalität die Gruppe der Stichworte mit 5001.000maliger Nennung. Behinderung lässt sich jedoch dieser Spitzengruppe nochzurechnen;diesistumsobemerkenswerter,alssieimUnterschiedzuNorma lität nicht als eigenes Thema angeklickt werden kann. Beide Begriffe gehören zu denfünfzigamhäufigstengenanntenLemmata:Behinderungstehtanneunterund Normalität an 33. Stelle. Auch im Codebaum (vgl. 7.3) begegnet man dem Be griffspaarwieder.WährendeskeineZuordnungenindieHauptkategorie„Ethik“ gibt, findet sich in der Hauptkategorie „Subjekt“ unter dem Code „Verantwortli che Elternschaft“ der Subcode „Wer will schon ein behindertes Kind?“. In der Hauptkategorie„Macht“tauchenBehinderungundNormalitätgleichanmehreren Stellenauf.SchließlichistbeieinerSichtungdervondenPatenausgewähltenFra gen augenfällig, dass das Begriffspaar hier ebenfalls an prominenter Stelle vor kommt.InsgesamtwirdesvonvierPatinnenundPatenthematisiert;dieseFragen sind im Rahmen der Teilstudie für eine Korpuserweiterung benutzt worden: 1) „Warum wird Behinderung mit Leiden gleichgesetzt?“ (Dr. Manfred Ragati; 87 Kom mentare),2)„Istesnormal,verschiedenzusein?“(Dr.PeterRadtke;110Kommenta re),246 3) „Wie normal sind denn die Normalen?“ (Philosophiekurs der Liebfrauen schule Bonn; 271 Kommentare), 4) „Was ist normal?“ (Prof. Dr. Doris Lucke; 237 Kommentare). Für die Teilstudie wurde ein Vorgehen gewählt, das im Wesentli chenausdenArbeitsschrittenbestand,diesichinfrüherenUntersuchungsphasen bereitsbewährthatten.ZunächstwurdeeineListemöglicherSuchbegriffezusam men gestellt, welche die Grundlage für systematische Suchprozesse im 1000 Fra genForum bildeten. Die gesamten Threads (d.h. Fragen und Kommentare) wur dennachAbsätzendurchforstet,indenendiebeidenganzenWörter„norm“bzw. „normal“, die Wortbestandteile *norm*, *normal*, *anormal* bzw. *anormal*, au ßerdem *behinder*, *krüppel* bzw. *krueppel, *downsyndrom* bzw. die Varian ten *down syndrom* bzw. *downsyndrom* vorkamen. Zusätzlich wurde nach Absätzen gesucht, in denen die Wortbestandteile *behind* und *normal* gemein sambenutztwurden.BereitsaufdieserEbenezeigtensichinteressanteResultate: Der Norm und Normalitätskomplex kam mit allen Varianten in insgesamt 2.923  246 Interessantist,dassim1000FragenForumgenaudiegleicheFragegestelltwurde:„F:Istesnor mal,verschiedenzusein?A.E.“(Thread360)UndandererStellegabesfolgendeVariation:„F:Istes nicht normal, verschieden zu sein??? L. L.“ (Thread 3874) Noch ein drittes Mal wurde das Thema platziert:„F:„‚Esistnormal,verschiedenzusein.’Werhatdasnochmalgesagt?M.H.“(Thread8887) Aber alle drei Threads blieben sozusagen unbemerkt, denn alle drei (!) gehörten zu den Fragen, diekeineKommentareaufsichzogen.ErstmitderprominentenPlatzierungindenPatenschaften sind110Kommentareentstanden.



10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

281

Absätzen vor; zu Behinderung und den entsprechenden Varianten fanden sich insgesamt3.071Absätze.247FürdieThreadskannmanalsoeinethematischeParität konstatieren, während der Diktionär der 10.000 Fragen, wie erwähnt, ein deutli ches Übergewicht des Themas Behinderung aufweist. Die Variante einer gemein samenNennungineinemAbsatzfandsich255mal,undsomitineinerMenge,die derCodierarbeitzugänglichwar;dieserTeilkorpusbildetedieGrundlagefürdas OffeneCodieren.ImErgebnisentstandeinthematischfokussierterCodebaum,der bereitseineausgeprägteStrukturerkennenließundeinervorläufigenInterpretati onunterzogenwurde(Waldschmidtu.a.2006,205214). In der nächsten Arbeitsphase wurden die vier erwähnten Patenschaften für eine Korpuserweiterung benutzt. In einem Wechselspiel zwischen Offenem und SystematischemCodierenwurdemitHilfedieseszusätzlichenMaterialsdieerste Fassung des Codebaums überarbeitet, erweitert und systematisiert; das Ergebnis diesesArbeitsschrittsbildetdieGrundlagedernachfolgendenErgebnispräsentati on.248DabeiderAnalysederPatenthreadsdasSelektiveCodierenimMittelpunkt stand, wurde nun auch die Suchfunktion des benutzten Softwaretools gezielt be nutzt,etwaumdieHäufungeinzelnerBegriffe249oderdieRelevanzvonWortkom binationen und Äußerungen zu überprüfen, für die das Offene Codieren einen besonderen Stellenwert aufgezeigt hatte. Bei diesen Suchprozessen wurden zu meist alle Threads des 1000 FragenForums und die vier thematisch relevanten Patenschaften einbezogen. Weitere Arbeitsschritte in dieser Untersuchungsphase drehtensichumquantitativeZählungen.UmetwadieRelevanzbestimmterSpre cherpositionenundeinzelnerBegrifflichkeitenzuüberprüfen,wurdeeineAuszäh lung von insgesamt 64 Wortkombinationen vorgenommen, bei der das 1000 Fra genForum,alle78PatenschaftenunddievierfürdieseTeilstudieherangezogenen Patenschaftenmiteinanderverglichenwurden.DesWeiterenwurdeeinequantita tiveAnalysederdreiBegriffsfelder„Normativität“,„statistischeNormalität“und „behindertes Kind“ durchgeführt, um, wie in einem früheren Untersuchungs schritt (vgl. Kap. 9), deren Auftauchen in Abhängigkeit von Wissensformen zu überprüfen.  247 Zusammengezählt wurden hier die Suchwörter: *behinder*, *krüppel* bzw. *krueppel, *down syndrom*unddieVarianten*downsyndrom*bzw.*downsyndrom*. 248 DieseüberarbeiteteFassungdes Codebaums„NormalitätundBehinderung“kannimFolgenden nichtvollständig,sondernnurauszugsweisevorgestelltundinterpretiertwerden. 249 Gesucht wurde z.B. nach der Differenzierung zwischen angeborener und erworbener Behinde rung, und zwar mit Hilfe der Suchbegriffe *erworben*+*behinder* und *angeboren*+*behinder*. Diegefundenen28Absätzewurdenanschließendgesichtet.



282

10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

10.3.3 Markierungen–dieMachtderGrenze IndemuntersuchteninterdiskursivenMaterialsindGrenzenundGrenzziehungen allgegenwärtig. Auf allen Formationsebenen des Diskursstrangs – Sprecherposi tionen,Gegenstände,BegrifflichkeitenundStrategien–enthülltsichein‚Sprechen derLeute’überharteoderweiche,fixeoderflexibleDifferenzbildungen.  GrenzziehungI:„DieBehinderten“–„WirNormalen“ Auf der Ebene der Sprecherpositionen ergibt die Kategorisierung, dass sich eine nicht behinderte Diskursgemeinschaft versammelt hat, die aus ihrer Sicht vor zugsweise Behinderung (und damit zugleich auch Normalität) problematisiert. Zwar werden in vielen Äußerungen persönliche Erfahrungen mit behinderten Menschenerwähnt;dieSystematisierungdeutetjedochdaraufhin,dassnichtdie intensive Subjektivierung des Alltagswissens dominant ist, sondern das interdis kursive Wissen. Neben der sehr distanzierten Position einer Bekanntschaft mit Menschen, die Behinderte kennen, hebt eine ganze Reihe von Fundstellen allge meineKontaktehervor,z.B.:„Ichhabedieersten20JahremeinesLebensnebeneinem HeimfürbehinderteMenschenverbracht“(Thread9413).DiedeutlicheMehrheitder Äußerungen kann unter dem Subcode „Ich arbeite mit behinderten Menschen“ zusammengefasstwerden;dasbehindertenpädagogischeStudiumlässtsicheben fallsalsprofessionelleSprecherposition–undzugleichalsdemInterdiskurszuge hörig250 – einordnen. Die User, die sich als ‚BehindertenExperten’ zu erkennen geben, verweisen vorzugsweiseauf eigene Erfahrungen („Jetzt arbeite ich seit ca. 3 JahrenmitgeistigbehindertenundkörperlichbehindertenMenschenzusammen“[Thread 1934]) und erwähnen dabei auffällig oft den Zeitraum ihrer Tätigkeit („seit vielen Jahren“,„seit5Jahren“,„seiteinemhalbenJahr“),umdenlegitimierendenCharakter dereigenenÄußerungzuunterstreichen.AuchenthusiastischeTextstellenfinden sich:„HabeeinJahrlangmitMenschenmitBehinderungengearbeitet,undesistdergröß te und schönste Ausstieg aus dieser „normalen“ Welt!! AUSPROBIEREN!!!!“ (Thread 2160)BehinderteMitschüleroderFreundezuhabenistdagegeneherselten,wäh rend Verwandte mit Behinderungen durchaus vorkommen und behinderte Ge schwister ebenfalls erwähnt werden. Bezeichnenderweise taucht die eigene Part nerschaftbzw.EhemiteinembehindertenMenschensogutwiegarnichtaufund auch der Arbeitskollege bzw. die Arbeitskollegin mit Behinderung kommt nicht vor.  250 Ähnlich wie andere „dominant interdiskursiv fundierte[.] Wissenschaften“ (Link 1999, 155) lässt sich(Behinderten)PädagogikzumInterdiskurszählen(vgl.3.5.2;8.4).



283

10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

Dass auch die Stimme der mittelbar Betroffenen, nämlich der Eltern von be hinderten Kindern in dem untersuchten Diskursstrang eher schwach ist, unters treichtdieInterdiskursivitätderDebatte.WennsiesichzuWortmelden,bietensie ingeradezuklassischerManierintensivsubjektiviertesWissen:„IchbinMuttervon vier Söhnen: Der erste lebt mit einer Hochbegabung (mit circa 12 Jahren kam er zu dem Schluss,dassermindestenssobehindertistwieseinnächstjüngererBruder,deramDu bowitz Syndrom (sehr, sehr seltene körperliche, aber vor allem geistige Behinderung) lei det), unser dritter Sohn starb mit 5 1/2 Monaten am plötzlichen Kindstot, unser vierter SohnwürdelandläufigalsrichtignormalesKindbezeichnetwerden,abererträgtmitSi cherheit die Problematik seiner älteren Brüder als ‚Behinderung’ mit sich durchs Leben.“ (Thread56)ImVergleichamwenigstenmarkantistdieSprecherpositionderoder des direkten Betroffenen: „Ich bin selbst ein sog. Wasserkopfkind. Ich wurde viermal operiertseitmeinerGeburt(unddassiehtmanmirnochnichteinmalan).“(Thread6600) DiequantitativeÜberprüfungderbeidenAusprägungenvonBetroffenheitergibt, dass „Ich bin behindert“ gegenüber „Mein Kind ist behindert“ eindeutig in der Minderheitist. Tabelle26

NormalitätundBehinderung: Sprecherpositionen„Ichbinbehindert“–„MeinKindistbehindert“

Suchbegriffe (gruppiert)

1000FragenForum

78Patenschaften

4ThreadszuNormalität undBehinderung

Ichbinbehindert

110

55

29

MeinKindist behindert

265

261

26

 EineganzeReihevonÄußerungen,beidenenoffenkundigist,dassauseiner‚Wir undSie’BeziehungherausStellungbezogenwird,führtzudemCode„WirNor malen“: „Nicht wir normalen Menschen leiden schrecklich an den Behinderten, sondern die Behinderten leiden an ihrem Schicksal.“ (Thread 7816) „Wir Normalen“ – das ist nach Erving Goffman (1996) die Perspektive derjenigen, die sich vor der Abwei chung gefeit wähnen und aus dieser sicheren Haltung heraus die Stigmatisierten betrachtenbzw.sichbemühen,indergemeinsamenInteraktiondieSpannungzu vermindern: „So läßt man eine ScheinAkzeptierung die Basis für eine Schein Normalitätbilden.“(Goffman1996,152;Hervorh.dort) UmdenStellenwertdieserSprecherpositionzuüberprüfen,wurdezusätzlich quantitativ ausgezählt. Ergänzt um die Nuance der distanzierten Rede, die als 

284

10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

Gebrauch von einfachen oder doppelten Anführungszeichen251 operationalisiert wurde, und getrennt nach dem 1000 FragenForum, allen Patenschaften und den vier thematisch einschlägigen Patenschaften wurden die Selbstpositionierungen entlangderDifferenzierung‚normal–behindert’überprüft(vgl.Tab.27) Tabelle27

NormalitätundBehinderung:Sprecherpositionen „WirNormalen“–„WirBehinderten“

Suchbegriffe (gruppiert)

1000FragenForum

78Patenschaften

4ThreadszuNormalität undBehinderung

WirNormalen

27

16

9

davondistanziert

20

10

6

WirBehinderten

12

4

2

davondistanziert

0

0

0

 DiequantitativeZählungbestätigtdasErgebnisderqualitativenAnalyse:Tatsäch lich gibt es eine größere Häufung der Sprecherposition „Wir Normalen“,252 wäh rend die Perspektive „Wir Behinderten“ geringer ausgeprägt ist. Allerdings ist nicht so sehr dieses Verhältnis überraschend als vielmehr der unterschiedliche GebrauchderdistanziertenRede.WährendoffensichtlichdieMehrzahlderjenigen, die sich zu den Normalen zählen, sich gleichzeitig bemüßigt fühlt, mit Hilfe der Anführungszeichenzuverdeutlichen,dassmandieSelbstkategorisierung‚eigent lich’ kritisch sieht, ist unter denjenigen, die sich der Gruppe der Behinderten zu rechnen,niemand,dereineDistanzierungfürnotwendighält.WasGoffman(1996) imKonzeptder„Perspektiven“anspricht,dassnämlich‚normal’und‚abweichend’ keine fest gefügten Zuschreibungen sind, sondern „ein[.] durchgehende[r] sozia le[r]ZweiRollenProzess,indemjedesIndividuumanbeidenRollenpartizipiert, zumindestineinigenZusammenhängenundineinigenLebensphasen“(Goffman 1996,169f.),wirdhieroffenkundig:„WirNormalen“sindsichderPrekaritätihrer Position durchaus bewusst. Mehr noch: Man fühlt sich unwohl in seiner Haut; eigentlichwillmangarnichtdazugehörenundstellt–vielleichtauchausGrün den der political correctness? – starre Grenzziehungen in Frage. Und doch reaffir  251 DiesesStilelementderSchriftsprachewarbeiderMaterialsichtungaufgefallen. 252 DieSprecherposition„WirNormalen“umfasste24Varianten,angefangenmit*wirnormal*über *wir„nichtbehindert*biszu*uns‚nichtbehindert*etc..„WirBehinderten“beinhaltetesechsVa rianten.



10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

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miert man die Grenze, indem man diese Sprecherposition benutzt. Dass es um IdentitätspolitikgehtundsomitdieZuordnungzu„wirNormalen“oder„wirBe hinderten“immerauchkontingentist,zeigenÄußerungen,indenensichUserals „auch behindert“ oder „unnormal“ bezeichnen: „Kleinwüchsigkeit fängt meines Erachtens nicht bei Körpergrößen unter 1,60 m an. Genauso gut könnte ich dann meine Größevon1,98malsBehinderungempfinden,weilichinkeinCabriopasse(dasistkein Witz,sonderneineTatsache).“(Thread5996)  GrenzziehungII:BehinderungalsStereotyp/NormalitätalsLeerformel DasBildwirdvielschichtiger,wennmansichdieFormationderGegenständean schaut.BehinderungerscheinthieralseinimWesentlichenfestgefügtesStereotyp, währenddieNormalitätsfrageeineganzeReihevonVariationenhervorbringt.Die Bemühungen,Behinderungallgemeinzudefinieren,reichenvondemVerweisauf einenFehlerindergenetischenInformationbishinzuderkonstruktivistischinspi rierten Äußerung, Behinderung liege „im Auge des Betrachters“ (Thread 6040). In derMehrzahlderFundstellenwirdBehinderungalsEinschränkung,Beeinträchti gungoderauchals„Handicap“(Thread649)beschrieben. Folgende drei, auch in anderen Diskursen übliche Binnendifferenzierungen könnenfestgestelltwerden:AlserstesstichtdieUnterscheidungzwischenangebo rener und erworbener Behinderung hervor. Sie wird vor allem benutzt, um zu begründen, warum Menschen mit angeborenen Beeinträchtigungen weniger lei den:„SiekennenihrLebennichtandersundhabensichsehrgutmitihrerBehinderung abgefunden.“(P5741)DerVerweisaufdieerworbeneBehinderungdientwiederum der Untermauerung der These, es könne schließlich jeden treffen: „Und was ist, wenndein gesund zurWelt gekommenes Kind mit einem Jahr in deTeich fällt o.Ä.?? Es gibtaucherworbeneBehinderungen!!!“(Thread5166)ZweitenstrifftmanbeiderUn terscheidungnachgeistigerBehinderung,KörperbehinderungundSinnesbehinde rung ebenfalls auf ein bekanntes Bild. Während Sinnesbeeinträchtigungen eher schwach vertreten sind, zeigt sich der Rollstuhlfahrer – Ikone des Behinderten in derGegenwartsgesellschaft–auffälligpräsent.AberaucherfällthinterdemDown Syndrom deutlich zurück. Diese medizinische Diagnose – auch in der Variante „Trisomie21“–wirdinbemerkenswerterHäufigkeitimmerwiedergenannt.Zu sätzlich ergibt die eher unspezifische Bezeichnung „geistige Behinderung“ einen eigenen Code. Die dritte Differenzierungslinie nach dem Grad der Behinderung wirdvorallembenutzt,umdiesogenannteSchwerstbehinderungalsdenExtrem polimBehinderungsfeldzuthematisieren:„WirredendochdannvonSchwerstbehin derten,dienichtskönnen,außerEssenrunterschlucken,unddiefürdieElterneineechte Belastungsind.“(Thread3220) 

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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

Allesinallemeindurchausbekanntes,dengängigenBehinderungsbegriffrep roduzierendesBild.GleichzeitigaberfindensichauchHinweise,dassdie„Behin derungszone“ (Felkendorff 2003) an den Rändern ausfranst, sich als erweiterbar unddehnbarerweist.DieKontingenzderAbweichungwirdauffallendoftinVer bindung mit der Durchschnitts oder Mehrheitsnormalität angesprochen: „Wir definieren Behinderung ja irgendwie als eine Einschränkung körperlicher oder geistiger Art, die dafür sorgt, dass bestimmte Dinge im Leben nicht so ‚leicht’ ablaufen, wie beim Durchschnitt der Gesellschaft.“ (Thread 2980); „Behinderte sind die, denen gewisse Fä higkeiten fehlen, mit denen ein Mensch standartmäßig ausgestattet ist, z.B. sehen, spre chen, hören, sich fortbewegen aus eigener Kraft. Fehlen diese Fähigkeiten, so kann dies erheblich behindern.“ (P5787) Dass es sich bei Behinderung um keine fest gefügte, trennscharfeKategoriehandelt,kommtauchindenFundstellenzumAusdruck,in denen thematisiert wird, dass tatsächlich jede/r potenziell betroffen sein könne: „Undvorallem:JederkannzujederZeitdurcheinenUnfallodereineKrankheitzumBe hinderten werden. Jeder, auch ein liberaler Manager, für den der Mensch nur noch ein Kostenfaktor ist; der Politiker, der von Selbstverantwortung redet (wie kann ich ein Or ganversagen, einen Unfall o.ä. selbstverantwortlich verhindern?); jeder Mensch zu jeder Zeit.“(P5760) ImUnterschiedzumDiskursgegenstandBehinderung,dertrotzmancherRe lativierung relativ klar konturiert daher kommt, trifft man bei den Versuchen, Normalitätzubestimmen,aufeinegrößereUneindeutigkeit.Hinweiseaufdiehier herrschendeBegriffsverwirrungunddasunübersichtlicheTerrainbietetdierheto rische Frage „Wer oder was ist normal?“, deren verschiedene Varianten einen ei genenCodeergeben.HäufigwirdsieintypischinterdiskursiverManieralsStan dardformel eingesetzt, so als liefere allein das Fragenstellen bereits die passende Antwort:„Aberweristschonnormal?Wasistnormal?WofängtNormalitätanundwo hörtsieauf?“(Thread7997) Die verschiedenen Definitionsversuche, die immer wieder unternommen werden,lassensichinsogenannteKlassikerundinNeuheitenaufteilen.Esfinden sich teils kritische, teils affirmative Bezüge auf die Idealnorm („Eizelle […], die 80 Jahre als normaler (lies: idealer) Mensch durch das Leben geht, ohne Behinderung, ohne kriminellenNeigungen,ohnesozialeInkompetenzenusw.“,Thread649),aufsubjektive Normalitäten(„jeder,denkeich,empfindetsichalsnormal“,Thread9233),aufnatürli cheNormalitäten(„normaleNaturerscheinung“,Thread56)sowieaufkulturellund historisch spezifische Normalitäten („Vielleicht gelten die ‚normal’ gezeug ten/geborenen Kinder als von Gott begnadet. Das gab es ja schon mal: Julius Cäsar war Epileptiker. Damals galt das als göttliche Gabe, heute ist es eine Behinderung.“ Thread 6035) Das technische Genormte lässt sich ebenso heraus filtern wie die Gleichset 

10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

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zung von Normalität undsozialen Normen bzw. Krankheit. Selbst die seit Durk heim(1995,154)klassischeVerbindungvonNützlichkeitundNormalitätklingtan, zumeist allerdings kritisch gewendet, in Form von Klagen über die Macht von Wirtschaft und Medien: „Normal ist das, was der Gesellschaft Nutzen bringt und das freie Denken eigentlich einschränkt! Normal ist es z.B. bei Jugendlichen, sich nach der neuestenModezukleiden,mehrundmehrGeldauszugebenfürDinge,diesiesichnicht selbstausgesuchthaben,sondernvondentelevisionärenMedienvorgegaukeltbekommen.“ (P116) AnandererStellewirdinSprachspielenUnerwartetesgeboten.SowirdNor malität als gleichbedeutend mit Trend verstanden: „Normal ist ein Synonym für trendy. Sollten die Behinderten in Mode kommen, werden die normal.“ (Thread 3164) Außerdemwird‚normal’imSinnevon„vorurteilsfrei“(Thread3500)oderkommu nikationsfähig benutzt: „Für mich ist der normal, der in der Lage ist, in irgendeiner Weisemitmirzukommunizieren,egaloberZeichengibt,mirdieHanddrückt,mitmir redet,mitdemKörpersprichtodermitseinerMimik.“(P43169)EsgibtauchÄußerun gen, in denen Normalität grundsätzlich in Frage gestellt wird: „Normalität als Schwerstbehinderung. Scheitern als Chance“ (Thread 8887). Den Kontrapunkt setzt dieseFundstelle:„NormalitätistdochlediglicheineÜbereinkunftvonSpießern.“(P57 10)Auffallendistzudem,dassimmerwiederaufdieMehrheitsnormalitätunddie statistische Normalität sowie auf Standards und das Typische Bezug genommen wird. Einen Einblick in das Argumentationsmuster liefert diese Fundstelle: „Das Problem ist, dass das Wort ‚normal’ von fast allen Menschen missverstanden wird. Sie denken, ‚normal’ bezeichne etwas allgemein Bekanntes, was man öfters antrifft (so z.B. auch körperlich odergeistigeingeschränkte Menschen), dem ist abernichtso. Normal ist nureinBegriffzurErkennungeinerklarenMehrheiteinergroßenGruppierung(sokann manz.B.nichtSchwarzeoderWeißealsnormalbzw.nichtnormalbezeichnen,dasieun gefährgleichermaßenoftinderGruppe‚Mensch’auftreten).Wennmanz.B.20Pilzehat, und19davonsindChampignonsund1isteinFliegenpilz,dannistdieserFliegenpilznicht normal, auch wenn er in einer Gruppe von 19 Fliegenpilzen und 1 Champignon wieder normal wäre. Ich hoffe, Sie missverstehen mich nicht und denken mal darüber nach, wie missbräuchlich manche Wörter benutzt werden und wie so oft Streit und Diskussionen entstehenkönnen.“(Thread253) Hat Link (2006a, 323ff.) also recht, wenn er die Wirkmächtigkeit der statisti schenNormalitätinder„verdateten“Gesellschaft,ihreRelevanzfürdiemoderne Subjektivität behauptet? Um den Eindruck empirisch zu überprüfen, bei der Mehrheitsbzw.DurchschnittsnormalitäthandleessichwomöglichumeineKon zeption,dieimVergleichzuder„Normativität“(vgl.Link2006a,33ff.),demtradi tionellen Komplex sozialer, juristischer und ethischer (Verhaltens)Regeln, domi 

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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

niert,wurdendieunterschiedlichenBegriffsfelder„Normativität“und„statistische Normalität“gebildetundausgezählt.253 Tabelle28

„Normativität“und„statistischeNormalität“in AlltagswissenundSpezialwissen

Code

Alltagswissen

GezählteWörter Normativität StatistischeNormalität

Tabelle29

Spezialwissen

Gesamt

24326

23898

48224

349

293

642

54

66

120

AnteilederBegriffsfelder„Normativität“und„statistische Normalität“inAlltagswissenundSpezialwissen

AnteildesBegriffsfeldsander GesamtzahlderWörter(n=48224)

Alltagswissen

Spezialwissen

Normativität

0,724%

0,608%

StatistischeNormalität

0,112%

0,137%

 Tatsächlich entsprechen die Zählergebnisse weniger dem qualitativ gewonnenen Eindruck und auch nicht den Vorannahmen der Link’schen Normalismustheorie. Stattdessen bestätigen sie die wissenssoziologischen Überlegungen zum Alltags wissen(vgl.8.3)unddieMerkmalssystematikderWissensformen(vgl.Tab.12):Im Alltagswissen wird viel häufiger auf die Normativität, d.h. auf imperativische Normen und Bewertungen Bezug genommen als im Spezialwissen. Dagegen hat  253 Das Begriffsfeld „Normativität“ bestand aus den Stichworten: Norm, Normen, *normativ*, Nor mativität, Vorgabe, Ethik, *ethisch*, *soll*, *muss*, müssen, *richtig*, *falsch*, *verbindlich*, *bewerten*, Bewertung, *normiert*, Normierung, *normieren*, Gesetz, *Zwang*, *zwingen*, *gezwungen*, *positiv*, *negativ*, *schlecht*, *gut*, *Regel*, *regelwidrig*, *regelgerecht*, *Sanktion*,Moral,*moralisch*.DasBegriffsfeld„statistischeNormalität“umfasstedieStichworte: *Statistik*, *statistisch*, *%*, *Prozent*, *Häufigkeit*, *Mehrheit*, *mehrheitlich*, *häufig*, *Durchschnitt*, *durchschnittlich*, *überdurchschnitt*, *unterdurchschnitt*, *normal*, *Normalität*, *normalisier*, *Normalverteilung*, *Normalisierung*, *Standard*, *Gauss*, *Gauß*, *Kurve*, *üblich*, *am meisten*, *Abweichung*, *typisch*, Überzahl, Unterzahl, *die meisten*. BasisderAuszählungwarendieTeilkorporaSpezialwissen(TSW)mit446CodingsundAlltagswis sen (TAW) mit 470 Codings aus der Zufallsstichprobe (n=1000) der Patenschaften, die bereits für andereWortschatzanalysenbenutztwordenwaren(vgl.Kap.9).



10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

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dasKonzeptderstatistischenNormalitäteinenetwasgrößerenStellenwertimSpe zialwissen. Insgesamt weist das quantitative Resultat in bemerkenswerter Deut lichkeit auf, dass in beiden Wissensformen Normativität (immer noch!) eine wei tausbedeutendereRolleeinnimmtalsdiestatistischeNormalität. Dennoch: Auch wenn in der Masse die Normativität sich weiter als die vor herrschendeDenkfigurerweist,machtdieKategorisierungauchoffenkundig,dass iminterdiskursivenRaumdieNorm(alität)längstinBewegunggeratenist.Neben denbereitserwähntenVersuchen,Normalitätsubjektivistischzubestimmen,deren Häufung im Material auffällig ist, wird in einer ebenfalls beträchtlichen Anzahl von Fundstellen die Relativität von Normalität und Abweichung thematisiert: „Normal,diesesWortalleinmagichschonnicht,fürmichgibtesnurindividuelleMen schen,nicht‚dieNormalen’,jederentwickeltsich,wieerdasmöchte,mitseinenMöglich keiten,dasgiltfürMenschenmitundohneEinschränkungen,obwohlichglaube,wiralle habenunsereeigenenEinschränkungen,ammeistenschränkenwiruns,glaubeich,selber ein.“(P43174)AnandererStellefindetmandieseNarration:„FürmeineMutterist es normal, einkaufen zu gehen, wenn nur noch 6 Dosen Erbsen und Möhren im Regal stehen, für mich ist das total krankhaft. Für sie ist es unnormal, mal Sonntags liegen zu bleiben,Homosexuelle,Farbige,Ausländeretc.genauwieandereMenschenzubehandeln. Für meine Freunde ist es normal, am Sonntag Mittag ein Kaffekränzchen im Garten zu halten,ichfindedaslächerlichundrechtunnormal.“(P43183)Auchdiehäufiger–vor allemamBeispielderPhysikerAlbertEinsteinundStephenHawking–zufinden de Thematisierung von Genialität und Nichtnormalität weist in die Richtung des Relativismus: „Perfekte Menschen? Wir wären nicht da, wo wir heute wären: Albert Einstein war schrecklich schlecht in der Schule. Beethoven war taub. Stevie Wonder ist blind.StevenHawkinsistabdemdrittenHalswirbelgelähmt.Sollichweitermachen?Gut. SovielzuIhrerFrage.“(Thread704)DassessichimEndeffektsowohlbeiNormalität alsauchbeiBehinderungumLeerformelnhandelnkönnte,diemitbeliebigenIn haltenzufüllensind,kommtindieserFundstellezumAusdruck:„Klarkannman ‚behindert’und‚normal’,etc.definieren,wiemanwill.“(Thread4)  GrenzziehungIII:„dasbehinderteKind“–einestereotypeFigur TrotzdervielenBemühungenumeinwenigerbewertendes,durchlässigeres,facet tenreicheres, kurz: flexibilisierendes Denken über Normalität und Behinderung durchziehen das untersuchte interdiskursive Material immer wieder markante Stereotypisierungen. Bei den Begriffsbildungen, die mit Behinderung verknüpft



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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

sind,stichteinCodebesondersdeutlichheraus.Das„behinderteKind“254rangiert mitgroßemAbstandanersterStelle,undzwarimmerinderKonstellation‚nicht behinderteEltern–behindertesKind’.255SicherlichmussandieserStellediethema tischeRahmungdesMaterials,nämlich„Bioethik“berücksichtigtwerden,aufdie eswahrscheinlichzurückzuführenist,dassdievorgeburtlicheDiagnostikunddie Frage „Wer will schon ein behindertes Kind?“ einen großen Stellenwert haben. Dennochkönnteessein,dassessichauchinallgemeinerHinsicht256beidem„be hinderten Kind“ um eine für den Interdiskurs typische stereotype Figur handelt, undzwarausmehrerenGründen:ZumeinenlässtsichmitihrdieKomplexitätder Lebenslage Behinderung auf eine spezielle biographische Situation reduzieren. Zum anderen liefert sie – wiederum für den Interdiskurs charakteristisch – ein Motiv,umüberHandlungsbedarf,einenfürdenalltagsnahenInterdiskursbedeu tendenAspektnachzudenken. „‚Darf’mansicheinbehindertesKindwünschenoder‚darf’mansichtrotzdemüber seinKindfreuen,auchwennmanerfährt,dassesbehindertseinwird?UndauchdieAnt wortengebenAnlasszuneuenFragen:1)SindbehinderteKindernicht‚normal’?2)Wol lenbehinderteKindernursolange‚normal’werden,wiewirinunsererGesellschaftihnen ihre ‚Unnormalität’ vorspiegeln? 3) Warum kann ein ‚behindertes Kind’ nicht auch ein ‚gesundes Kind’ sein?“ (Thread 4415) Die heraus kristallisierten Komponenten der Diskursfigurstellensichzusammenfassendfolgendermaßendar: Bei der zentralen Frage „Wer will schon ein behindertes Kind?“ stehen sich zwei Haltungen unvermittelt gegenüber. Die eine, augenscheinlich dominante Position argumentiert, auf Grund umfänglicher Pflege und lebenslanger Abhän gigkeitstelleeinbehindertesKindeineBelastunginsbesonderefürdieElterndar; die andere Position hält – eher defensiv – dagegen, das Leben eines behinderten  254 Die Relevanz des Begriffsfelds „behindertes Kind“, bestehend aus: behindertes Kind, behinderte Kind, behinderten Kind, behindertem Kind, Kind behindert, kranken Kind, krankes Kind, kran kem Kind, behinderte Kinder, behinderter Kinder, behinderten Kinder, behinderten Kindern, kranken Kinder, kranken Kindern, Kinder behindert, behindete Kind, Kind krank, Behinderung des Kindes, wurde anhand der beiden Teilkorpora Spezialwissen (TSW) und Alltagswissen (TAW) auchquantitativüberprüft.DabeifandsicheineHäufungvonFundstellen,diedeminterdiskursi venWissenzuzuordnenwaren. 255 Dagegen tauchen Überlegungen zur Situation behinderter Eltern nur selten auf. Dass behinderte Menschen nicht nurFamilienangehörige,sondernauchErwerbstätige,KonsumentenundBürger sind,wirdebenfallsnurvereinzelterwähnt. 256 NichtzuletztreproduziertsichhierdieauchinanderenKontextenundDiskursenzubeobachten deTendenzeiner‚Infantilisierung’vonBehinderung.DieDiskursfigur„dasbehinderteKind“wä re eine eigene Untersuchung wert, die sozial und bildungsgeschichtliche, wissenssoziologische, wohlfahrtsstaatlicheundauchverbandspolitischeFacettenzuberücksichtigenhätte.



10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

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Kindesseiauchlebenswert,außerdemexistiertenHilfsangebote,dieinAnspruch genommen werden könnten. Hervorgehoben wird, behinderte Kinder seien – im positiven Sinne – ‚besonders’ oder auch ‚normal’, außerdem gebe es auch ver meintlich ‚normale’ Kinder, die ebenfalls beeinträchtigt seien.257 Ein weiterer As pekt dieser Debatte dreht sich um die Auswirkungen einer Behinderung auf die ElternKindBeziehung;auchwerdengesellschaftlicheReaktionen,dieGefahrder Stigmatisierung und die Bedeutung infrastruktureller und finanzieller Unterstüt zung thematisiert. In vielen Äußerungen findet man Narrative, und zwar offen sichtlich zu dem Zweck, anderen Usern ein mittels persönlicher Erfahrung legiti miertes Orientierungswissen zu bieten. Im Sinne des Belastungsarguments argu mentiert diese Fundstelle: „Eine Nachbarin von uns hatte ein Kind mit einem geneti schenDefekt,derdafürsorgte,dassdasKindniegrößerals75cmwurde,blindwar,nicht sprechen, sondern nur schreien konnte und immer auf dem geistigen und körperlichen Niveau eines halbjährigen Kindes blieb. Zu dem Zeitpunkt, da ich diese Nachbarin das letzteMalgesehenhabe,wardasKindbereits15.15JahreihresLebenshattedieFrauda mitverbracht,füreinKindzusorgen,dasniemalsgrößerwerdenwürde,dasniemalsselbst fürsichwürdesorgenkönnen.WennmanmitsoeinemVorbildAngstvoreigenenKindern hat,hatdaswenigmitPerfektionzutun,sondernüberhauptmitderFragenachdemSinn deseigenenLebens.MöchteichmeinLebeneinemanderenLebenunterordnenohneAus sicht darauf, irgendwann wieder ‚frei’ zu sein?“ (Coding P544) Die „Denormalisie rungsangst“(Link2006a,257)derNormalen,dieBefürchtung,miteinembehinder tenKindselbstinssozialeAbseitszugeraten,kommtindieserÄußerungdeutlich zumVorschein.ImGegenzugbemühensichdieElternbehinderterKinderumdie ‚ReNormalisierung’,indemsieNarrativepersönlicherErfahrungenmitallgemei nenAppellenandieAkzeptanzbereitschaftverknüpfen: „Ich habe eine behinderte Tochter mit DownSyndrom (18 Jahre), die stellte mir die auch für unsunfasslicheFrage: ‚Warst du traurig, als ich geboren bin?’ Wissen Sie,mit derAntwortdaraufhabeichmichauchsehrschwergetan.IchhabemichfürdieWahrheit entschieden.Ja,ichwarlangeZeitsehrtraurig,weilichmichvonderVorstellungdesUn geborenenalsgesundesKindverabschiedenmusste,abermeinMädchenhabeichvonder erstenMinute an geliebt mit all ihren Unzulänglichkeiten, die sie angeblich haben sollte.  257 Die offensivere Variante ergab den Code „Glücklich sein mit Behinderung“: „Wer sagt uns denn, dassnichtaucheinbehindertesKindglücklichseinkann,glücklichdarüber,lebenzukönnen,glücklichdar über, die Welt mit vielleicht anderen Augen zu sehen als wir?“ (Thread 9542) Und: „Auch wenn dein Kind ‚behindert’ auf die Welt kommen wird, es wird Spaß am Leben haben. Ich kenne mehrere (geistig & körperlich) behinderte Menschen, mein Onkel ist mongoloid, und er hat wirklich Spaß am Leben.“ (Thread8887) 



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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

Was auch interessant ist, dass ich in all den Jahren, indenen ichviel Kontakt zugeistig Behinderten hatte, nicht einen erlebt habe, der eine traurige Grundeinstellunghatte bzw. sogar depressiv war. Sie alle sind fröhliche Menschen und leiden keineswegs unter ihrer Behinderung. Worunter sie allerdings leiden, ist Arroganz, Desinteresse, Überheblichkeit undmangelndeAkzeptanzderrestlichen‚gesunden’Gesellschaft.Siespürenganzgenau, egalwieschwerbehindertsieauchsind,wennsieandieWandgedrängtwerdenundnicht amLebenteilhabendürfenwieandereauch.“(CodingP718) BeideVariantenspeiseneigeneErfahrungenindenInterdiskurseinundwir kengleichzeitigstereotypisierend–undzwarauchjeneVersucheeiner‚positiven Diskriminierung’,die,indemsieNäheherstellenwollen,diesozialeDistanzzum Mitleidsobjekt„dasbehinderteKind“nochvertiefen.Dem„doublebind“(vgl.Mit chell/Snyder 1997) der kulturellen Repräsentation von Behinderung – Omniprä senzundTabuisierung–entkommensiejedenfallsnicht.Umdenvorherrschenden Eindruck einer Stereotypisierung von Behinderung zu überprüfen, bot sich ein weitererAspektfürdieAnalysean.DadasOffeneCodierenAnlasszuderVermu tunggegebenhatte,dassindemDiskursstrangauchSprachpolitikbetriebenwird, wurden die benutzten Bezeichnungen der von Behinderung direkt Betroffenen mittelsquantitativerZählungüberprüft(vgl.Tab.30).Beispielsweisehätteessein können, dass die Begriffe „behinderte Person“, „behinderte(r) Mensch(en)“ bzw. „MenschenmitBehinderung(en)“imMaterialgenausohäufigodernochhäufiger vorkommen wie die Bezeichnungen „Behinderte“, „die Behinderten“ bzw. „der Behinderte“.Diezweite,traditionelleRedevondemoderdenBehindertenreprä sentiert eine eher konservative, distanzierte Haltung, d.h. die Orientierung an ei nemindividualistischen,vonMedizinundRehabilitationdominiertenModellvon Behinderung, wie es bis in die 1980er Jahre vorherrschend war. Im Unterschied hierzu lässt sich der erstgenannte, moderne Sprachgebrauch vom behinderten Menschen(bzw.Person)undvonMenschenmitBehinderung(en)alseineakzep tierende, ‚fortschrittliche’ Haltung interpretieren. Zudem kann man hier ein Be mühen um political correctness vermuten und ein Wissen vom behindertenpoliti schen Paradigmenwechsel, der – stimuliert durch die Behindertenbewegung258 –  258 Überprüft wurde in diesem Zusammenhang, ob Anschlüsse an die Behindertenbewegung vor handen sind. Die entsprechenden Suchprozesse im gesamten Material – unter *behindertenbewegung*,*selbstbestimmtLeben*,*selbstbestimmtLeben*,*selbstbestimmtleben*, *selbstbestimmtleben*–bliebenjedochohneTreffer;allein*krüppelbewegung*ergabeineFund stelle. Ähnlich verhielt es sich mit den Suchbegriffen *behindertenverb*, *verband*, *verbände*, woesebenfallsnureinenTreffergab.Unter*selbsthilfe*bliebennachAussortierenvoninsgesamt nur 12 Treffern nur drei übrig, in denen es im Kontext von Behinderung um Selbsthilfegruppen ging; bei den anderen wurde eher der entwicklungspolitische Kontext angesprochen. Selbst die



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10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

mit der Orientierung auf Selbstbestimmung, Inklusion und Teilhabe verknüpft undseitBeginnder1990erJahreimGangeist.IstdieseNeuorientierung,dielängst ihrenNiederschlagindenRehabilitationswissenschaftenundauchinderoffiziel lenBehindertenpolitikgefundenhat,imAlltagswissenangekommen?Diequanti tativeAuszählungderBegrifflichkeitenkanndiesnichtbestätigen.259ImGegenteil zeigt sich deutlich die Dominanz der traditionellen Bezeichnung „Behinderte“, wennauchdiebeidiesemLemmawiederumvergleichsweisehäufigeAnwendung derdistanziertenRede,d.h.derGebrauchvonAnführungszeicheneineminimale diskursiveVerschiebunganzudeutenscheint. Tabelle30

NormalitätundBehinderung:Begriffevom‚Anderen’260

Suchbegriffe (gruppiert)

1000FragenForum

78Patenschaften

4Threadszu Normalitätund Behinderung

behinderte(n) person(en)

5

2

1

Davondistanziert

0

0

0

372

162

40

Davondistanziert

12

5

2

mensch(en)mit behinderung(en)

95

54

15

Davondistanziert

2

1

0

945

556

133

63

12

2

behindertemenschen /behindertermensch

(der,die) Behinderte(n) Davondistanziert

 „BundesvereinigungLebenshilfefürMenschenmitgeistigerBehinderung“,einedergrößtenund einflussreichstenOrganisationenderBehindertenselbsthilfe,wurdenureinmalerwähnt. 259 EineanderequantitativeAuszählunggehtindiegleicheRichtung.DiePhrase„Behindertistman nicht, behindert wird man“ lässt sich als Operationalisierung eines „sozialen Behinderungsmo dells“ (vgl. Waldschmidt 2005) verstehen. Die Suche in dem 1000 FragenForum und den vier thematischrelevantenPatenschaften–indenVarianten*behindertistmannicht,behindertwird man*und*behindertistmannicht.Behindertwirdman*–ergabjedochinsgesamtnurachtTref fer. 260 Bei der Zählung wurde die Grammatik mit berücksichtigt, also auch „behinderten“,“ behinder tem“usw.mitgezählt.BeiderZeichenfolge„Behinderte“wurdedieGroßschreibungberücksich tigt, d.h. nicht mitgezählt werden konnten diejenigen Fundstellen, die die konsequente Klein schreibungbenutzten.



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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

GrenzziehungIV:Grenzenfixierenodererweitern Letztendlich geht es in dem Verhältnis von Behinderung und Normalität um ein Feld,indemGrenzziehungen,nämlichdieUnterscheidungzwischendem,wasals normal,unddem,wasalsabweichendzugeltenhat,vonstrategischerBedeutung sind. Somit stellt sich auf der Ebene der Diskursstrategien diese Frage: Wie und wodurchwerdenNormalitätundBehinderungvoneinanderabgegrenzt? Bei der Kategorisierung des Materialsergeben sichzwei deutlich konturierte Argumentationsfiguren, die sich – ähnlich wie bei den anderen Diskursebenen – fastdiametralgegenüberstehen.261DieeinePositionbemühtsichumdieRechtfer tigungderDichotomie;siekannunterdemCode„EsgibtGrenzen“zusammenge fasstwerden:„WirkönnenzwarimBedürfnisnachxxxcorrectnessunserenBegriffdes ‚Normalen’beliebigdehnen.DieNaturwirdaberdafürsorgen,dassdieserBegriffwieder auf ein brauchbares Maß zurückgeführt wird, indem sie jeder nur durch Sprachgebrauch ‚normalen’ Gesellschaft über kurz oder lang den Garaus macht. Insofern sehe ich es als nichtdiskutierbar,dassdieGesellschaftimInteresseihrerÜberlebensfähigkeitgezwungen ist,denUmfangdesUnnormalenzubegrenzen.DieDosismachtsingeringenMengen hilfreich, in zu großen tödlich.“ (P43111) Andere Varianten der eindeutigen Diffe renzbildungsind:„Eswirdabertrotzdemimmer‚Normal’u.‚Nichtnormal’geben,denn wirMenschenwerdenimmerUnterschiedemachen,Dinge,diewirnietunwürden,diewir nichtakzeptierenkönnenodereinfachnichtverstehen,sindfürunsunnormal.“(P43175); „IchkannnichtübersWassergehen,ichkanndiePreiseimSupermarktnichtselberbe stimmen, und ich kann nicht behaupten, dass Trisomie 21 normal ist.“ (Thread 8143) Auch vor provozierender Polemik wird an dieser Stelle nicht zurück geschreckt: „Behinderte? Würde? Ich lach mich tot. Diese sabbernden, humpelnden, jaulenden, Geld verschlingendenSpastengehöreninnengroßenOfen!Dannerfüllensiewenigstensnoch denZweck,dassesnormaleMenschenschönwarmhaben.:)“(Thread9096) Zu den Versuchen, klare Grenzen zu ziehen, gehört ein Subcode, in dem – ähnlichwieimBegriffsfeld„dasbehinderteKind“–dasAndersseinbzw.dieBe sonderheitvonBehinderungbehauptetwird.DabeikönnendreiPositionendiffe renziert werden, die relativ gleichgewichtig sind. Der erste Standpunkt benutzt  261 Auch in der Debatte um Leid und Mitleid findet man die beiden Strategien. Einerseits wird die Dichotomiebehauptet:„Behinderteleiden!!Sowohlkörperlichalsauchseelisch.“(Thread57)Inande renFundstellenoffenbartsicheinDenkeninKontinuitäten:„Wiesosolltenmenschenmitbehinderung grundsätzlich leiden? ich habe vielkontakt mit behinderten und diejenigen, die mir ihr befinden mitteilen können, haben mich ziemlich komisch angeschaut, als ich sie gefragt habe, ob sie unter etwas leiden. ‚quatsch’ und ‚‘nein’ waren die antworten. ‚mir geht es doch gut!’ bekomme ich zu hören. menschen, die schwerstmehrfachbehindertsind,mögenvielleichtunterdemeinoderanderenleiden,abertundasnichtbe hindertemenschennichtgenauso?!“(P5779)



10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

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eine deskriptive, faktenorientierte Haltung: „Behinderte (speziell geistig Behinderte), verbringen ihr ganzes Leben unter ‚ihresgleichen’, in Händen kompetenter (wünschens wert)Betreuer,Pfleger,etc.SieführeneinsehrausgefülltesLebenunderfahreninihrem Leben meist mehr als so mancher ‚Normale’. In den Werkstätten für Behinderte z.B. herrschteintollesArbeitsklima,alsoichhabdanochkeinenleidengesehen.Vielleichtsollte man Behinderte als eine Gruppierung sehen, die einfach andere Interessen hat und einen anderen Lebensstil verfolgt. Eine der Gruppen, die es unter den ‚Normalen’ zuhauf gibt, auswelcherMotivationauchimmer!!“(P5727)DiezweiteVariantebegreiftBehinde rung explizit als Besonderheit im negativen Sinne; bezeichnenderweise wird an dieserStelleaufsozialdarwinistischesGedankengutzurückgegriffen:„Soistesnun mal.DerSinndesLebens,daraufhatmansichindiesemForumbereitsgeeinigt,bestehtin derWeitergabevonGenen.Behindertewerden,daihrGensatzoffensichtlichnichtinOrd nungzuseinscheint,vonNormalGesundenbeiihrenVermehrungsplänenausgeschlossen und daher, wenn auch unterbewusst, im normalen Leben anders behandelt.“ (Thread 7744) Die dritte Position sieht das Anderssein behinderter Menschen als etwas PositivesanundscheutnichtvoremotionalerEmphaseundungehemmterIdeali sierungzurück:„SovielInividualität,Kreativität,SpontaneitätundHerzlichkeithabeich nochniebeieinem‚normalen’Menschenerlebt,undichbintäglichdankbar,dassesMen schengibt,die ‚anders’ sindund unsdie Grenzenunseres emotionalenStumpfsinns auf zeigen.“(Thread1692) VonderArgumentationsfigur,dieeine–positivodernegativbewertete–Di chotomie herstellt, lässt sich eine zweite Diskursstrategie unterscheiden, die ein FeldgraduellerDifferenzierung,inanderenWorten:die‚NormalitätderBehinde rung’behauptet.„IndieserDiskussionsolltejederauchbedenken,dassBehinderungund Krankheit (im Übrigen zwei völlig verschiedene Dinge!) normale Erscheinungsformen menschlichen Lebens sind.“ (Thread 56) Und: „behinderung ist normal. so wie nicht behinderung auch. ist das so schwer zu verstehen?“ (Thread 8131) Innerhalb dieser PositionfindetmaneineauffälligkonturierteVariante,diesichderGrenzziehung ansichverweigernwillunddieUtopienichtwertenderAnerkennungvonVielfalt verfolgt:„IchfindealleKinderwunderbar,egalobalsbehindertklassifiziert,wassowieso Unsinn ist, oder nicht. Es ist normal, verschieden zu sein!“ (Thread 8887) Die Äuße rungbedientsicheinesSlogans,derinderoffiziellenBehindertenpolitikeinegroße Rollespielt,nämlichderPhrase„Esistnormal,verschiedenzusein“.ImMaterial tauchtsieindenverschiedenstensprachlichenVariantenauf;imErgebnisentstand



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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

ein eigener, facettenreicher Code, der vermuten lässt, dass die Phrase den Status einerAussageimFoucault’schenSinnehat(vgl.Abb.13).262

Abbildung13 NormalitätundBehinderung:„Esistnormal,verschiedenzusein“ Esistnormal,verschiedenzusein  Esistnatürlich,verschiedenzusein  Esistschönundgut,verschiedenzusein  =gutfürSelbstakzeptanz  Konformitätwärelangweilig  VerschiedenheitdientsozialemFortschritt  Wirwollennichtverschiedensein,sondernunsgleichen  Wirwollenbesonderssein  WirwollennormalUNDindividuellsein  Wirsindallenormalundunnormal  Esistnichtnormalverschiedenzusein  Die Interdiskursivität des Materials ist an dieser Stelle besonders auffällig. Zum einengibteseineganzeReihevonFundstellen,indenenohneweiterenKommen tarderSloganalsStandardformelauftaucht,diekeinernäherenErläuterungmehr bedarf.ZumanderenfindetsichinauffälligerHäufungeinePosition,dieeinestark vereinfachteEvolutionstheorienutzt,umdieNatürlichkeitmenschlicherVerschie denheitzubehaupten:„Selbstverständlichistes‚normal’,verschiedenzusein.Injedem MenschenerprobtdieNaturneueGenkombinationen,umdieerfolgreichstedurchÜberle ben und Fortpflanzung weiterzugeben und so auf Dauer den ‚‘perfekten’ Menschen zu erschaffen oder einen, der der Perfektion immer näher kommt.“ (P1156) Die folgende Äußerung argumentiert mit soziologischen Versatzstücken: „Das Wechselspiel der Verschiedenenistdochaberdaseinzige,waseineGesellschaftvoranzubringenvermag,in der Art, dass die Menschen bei der Auseinandersetzung mit den Aufgaben der Unter schiedlichkeit neue Lebensweisen und Lebensweisheiten erlernen.“ (P43250) Andere Fundstellennutzenästhetische,moralischeoderpsychologischeWissenselemente. Häufig wird auch alltagsweltliche Langeweile ins Feld geführt, um gegen den  262 An dieser Stelle zeigen sich die Vorzüge qualitativen Vorgehens: Die Auszählung allein hätte vermutenlassen,dassdiePhrase„Esistnormalverschiedenzusein“keinegroßeBedeutunghat. DieSuchemitHilfederVarianten:*normalverschieden*und*normal,verschieden*ergabinsge samt32Fundstellen,davonabergehörtenallein25zuderPatenfrage:„Istesnormal,verschiedenzu sein?“(Dr.PeterRadtke),nurfünfzuden10.000ThreadsundzweizuanderenPatenfragen.



10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

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ZwangzurAnpassungargumentierenzukönnen:„WennjederMenschgleichwäre, wäreeskeinLebenmehrundeswärelangweilig.“(P1178)AberauchderWunschnach Konformitätistpräsent,währendwiederuminanderenFundstellendasBedürfnis, etwasBesonderesseinzuwollen,herausgestrichenwird.DievermittelndePosition formuliert die Vorstellung, normal und zugleich individuell sein zu können: „… ichglaube, ihr habt schon Recht.Aber: Woher kommtder Wunschvieler Menschen,sich anzupassen?DiemeistenwollendochingewisserWeisebeides:einerseitsunterschiedlich undindividuellsein,aberandererseitsnichtauffallen,alsodochals‚normal’gelten,oder? Undwarum?“(P1197) Eine andere, noch ‚radikalere’ Position versucht, über das Postulat von der Gleichheit der Verschiedenheit hinaus zu gehen und das Normalfeld bewusst in Unordnung zu bringen bzw. es vollständig zu transzendieren. Sie wurde in dem Subcode„Wirsindallenormalundunnormal“zusammengefasst.AndieserStelle findensichÄußerungen,dieschlichtundeinfacheineExistenzdesNormalenbe streiten („weil jeder seine Normalität definiert, kann es keine Mehrheit der Normalen geben...DeshalbgibtesauchdasNormalegarnicht.“[P1124]),dieaufdieNormalität der Nichtnormalen abheben („Auch Kinder mit DownSyndrom gleichen den oben zitieren‘Normalen’:Siekommunizieren,denken,träumen,essen,etc.etc.“[P4329])oder aufdieNichtnormalitätderNormalen(„DieHochkonjunkturbeimPhsychologenzeigt unsja,wieNormalwirallesind.“[P43189]).DieParadoxiederGrenzziehungwird soaufdenPunktgebracht:„wiesowird[…]eigentlichzwischenbehindertundnichtbe hindertunterschieden,wirsinddochallenormalunnormal?“(Thread9779) Gleichsam an dieser Stelle kippt die Aussage „Es ist normal, verschieden zu sein“inihrGegenteilum.InnahezuklassischerManierlässtsichfolgendefürden Normalismus kennzeichnende Dynamik beobachten: Wenn die Gefahr besteht, dass das „Gummiband“ (Link 2006a, 356) reißt, das die beiden Pole miteinander verbindet,wennbefürchtetwerdenmuss,dassdasgesamteNormalfeldauseinan derbricht,dannerfolgt,wieobenerläutert(vgl.10.3.1),der„UmschlagindenPro tonormalismus:Einziehen[…],Festklopfen,VerdickenderNormalitätsgrenzezueiner neuerlichenStigmaGrenze“ (Link2006a, 356f., Hervorh. dort):„Allein durch unse renFortschrittsindwirinzwischensoweitgekommen,behauptenzukönnen,obesnormal ist, verschieden zu sein. ‚Verschiedene’ Personen, netter Euphemismus übrigens, haben überhaupt erst in der heutigen Zivilisation eine Überlebenschance. In der Natur werden solcheAberrationengemäßderEvolutionselektiert.IchkenneselbstbehinderteMenschen undwillmichnichtnegativübersieäußern,dochwürdeichBehinderungennichtalsna türlichundnormalansehen.“(P1180) TatsächlichzeigtsichauchinanderenFundstellen,dassdasBemühenumein FeldohnestrikteGrenzennichtohneWagnisist.Besorgnisistzuerkennenundein 

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10DieBedeutunginterdiskursivenWissensverstehen:Fallstudien

Bewusstseindafür,dassVersuche,dieklareTrennungvonnormalundunnormal zu verwischen, auch für die so genannten Normalen einiges durcheinander brin genkönnten:„…selbstwennwirdenkenheutenochzuden‚normalen’zugehören,sind wiresmorgenvielleichtschonnichtmehr.“(Thread9760)Beunruhigende,dieDenor malisierungsangst stimulierende Perspektiven, die mit den neuen Technologien vielleichtbaldRealitätwerdenkönnten:„F:Waspassiert,wenndurchdieMöglichkei tenderGenetikdieMenschensoverbessertwerden,dassdieheuteNormalenmorgendie Behindertensind?“(Thread2981)

10.3.4 DieMachtderGesellschaft Undweristschuld?Natürlichdie‚Gesellschaft’!–SokönntedieQuintessenzdes untersuchtenDiskursstrangslauten.IneinerVielzahlvonFundstellenmündetdas Nachdenken über die Gründe für Differenzbildung263 in Verweise auf soziale Be dingungen, soziale Strukturen, institutionelle Arrangements, den Staat und die Medien, kurz: auf Instanzen der sozialen Kontrolle. Abgesehen davon, dass die KategorisierungdiesesArgumentationsmusterseinigebekannteStrukturelemente wie die Interaktionsproblematik, das Thema des „Fremden“ (P1163) etc.264 aus weist, fällt vor allem eines auf: Die „Repressionshypothese mit ihren „negativen Elementen – Verbote[n], Verweigerungen, Zensuren, Verneinungen –“ (Foucault 1983,22)feiertfröhlicheUrständ’.„MenschenmitBehinderungwerdennichtalssolche geboren,sondernzusolchengemacht.DieGesellschaftschreibtvor,wiemanzuseinhat.“ (Thread1406)„PferchtmannichtBehinderteinEinrichtungenein,umihneninnerhalb derGesellschaft einen kontrollierten Ort zuzuweisen?“[P437]„Du musst nicht malof fensichtlich behindert oder anders sein, es zählt dem Menschen zur Feststellung deiner WertigkeitdeineKleidungswahl,obdueinenBarthast,brauneHautoderobdustotterst. Von wegen ‚innere Werte’, in der Wirklichkeit interessieren sie nicht, wenn man dafür nichtpassendausschaut.“(P43185) Wenn von Gesellschaft die Rede ist, tauchen in dem untersuchten Material nicht die (neo)liberalen Verheißungen von Freiheit, Flexibilität, Eigenverantwor tungundSelbstgestaltungauf,sondernein‚stummerZwangderVerhältnisse’,der  263 Auchder‚metadiskursive’Code„Grenzziehungenproblematisieren“wurdegebildet,angesichts einergrößerenHäufungvonÄußerungen,dieKategorisierungundBewertungansichhinterfra gen: Reflektiert wird in diesem Zusammenhang, ob und warum Differenzbildungen notwendig sindundobesmöglichwäre,einegleichzeitigenormativeBewertungzuvermeiden. 264 ThematisiertwerdenauchderSozialstaatunddasFürundWiderderHeimunterbringung,sozu sagenevergreens,wennininterdiskursiverRedederGegenstandBehinderungkonstruiertwird.



10.3NormalitätundBehinderung(AnneWaldschmidt)

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sich als diffuser, gleichwohl prägender, äußerer Druck bemerkbar macht. Offen sichtlich werden „die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung“ (Fou cault1999a,293)immernochzuGunstenderersterenmiteinanderverknüpft.In demDiskursstrang„NormalitätundBehinderung“lassensichzwar–ähnlichwie beimThema„derKlon“(vgl.10.1)–PraktikenflexiblerSubjektivierungbeobach ten;auchbestätigendieherausgearbeitetenVerschiebungenindenGrenzziehun gen–mögensieauchminimalsein–dieVorannahmeeinerkreativenDynamikim Interdiskurs. Insgesamt jedoch hält die Komplexität reduzierende, zu Stereotypi sierung neigende, SubjektApplikation bietende, interdiskursive Kombinatorik an der altbekannten Dichotomie zwischen (einem ‚unschuldig’ agierenden) Indivi duum und (einer ‚bösen’, nämlich diskriminierenden, segregierenden und ver ständnislosen)Gesellschaftfest.GewissermaßenalsInversionder‚Ethikohnedie Anderen’ (vgl. 10.2) wird dabei eine ‚Gesellschaft ohne mich’ gedacht: Sozialer ZwangundDruck,KontrolleundDisziplinierung–dafüristeineanonymeMacht verantwortlichundnichtderEinzelne. AnscheinendistdasSubjektsosehrmitdenallgemeinenNormalisierungsan forderungen beschäftigt, dass es dazu neigt, Gesellschaft vorzugsweise als einen gende KontrollMaschine zu verstehen. Letztendlich wird damit neoliberalen Le sartendesflexiblenNormalismus,derVorstellungvomAnythinggoeseineAbsage erteilt.Unddennochfragtmansich:WarumdiesePersistenzdesRepressionsmo dells?SchließlichkommtdabeieinAspektzukurz.DieErweiterungdesNormal feldes bietet gerade für marginalisierte Gruppen wie ‚die Behinderten’ durchaus Chancen. Gesellschaft ist nicht nur ein allgegenwärtiger Disziplinarapparat, son dern gleichzeitig eine – wenn auch ambivalente – Ermöglichungsstruktur. Das ‚WissenderLeute’istjedochvielschichtiggenug,umauchdiesenGedankenzum Vorscheinkommenzulassen:„Ichbinfroh,dassesmöglichist,heutzutagedamitmög lichst‚ohneLeid’zuleben,abernochvoreinigenJahrzehntenhättemanauchbeiunsals Behinderter nicht so einfachüberleben können,und in vielen LändernderWelt gehtdies heuteimmernochnicht.Esistfalschzubehaupten,esseiendieanderen,dieeinenselbst zum Behinderten machen, denn es ist genau andersherum. Andere ermöglichen erst ein normalesLeben.“(Thread4) 



11 Schlussbemerkungen

Von den Diskursprojekten, die bislang im Bereich der Bioethik veranstaltet wur den, ist das Onlineforum „1000 Fragen zur Bioethik“ sicherlich dasjenige mit der größten Publikumswirkung. Als Projektträger fungiert ein zivilgesellschaftlicher Akteur,dieprivateFörderorganisationAktionMensch,deresdarumgeht,dievon Experten und Stakeholdern dominierte bioethische Debatte in ‚die Mitte der Ge sellschaft’ zu holen und damit einen Beitrag zur demokratischen Deliberation zu leisten. Das via Internet gesammelte Material liefert einen Korpus empirischer Daten, der in einzigartiger Weise Einblick in die zivilgesellschaftliche Debatte zu BioundGentechnologie,ReproduktionsundIntensivmedizinermöglicht. MitderwissenschaftlichenUntersuchungdiesesDatenkorpuswardemzufol gedieHoffnungverbunden,zuneuenErkenntnissenüberdenStellenwertunddie Bedeutung des Alltagswissens im Zeitalter des „genetischen Codes“ (vgl. Kay 2005)zugelangen.Zunächststelltesich–vordemHintergrundderLegitimations krisedesExpertenwissensundderForderungennachderPartizipationvonLaien an der Wissensgesellschaft – die Frage, welchen Beitrag das alltagsnahe ‚Wissen der Leute’ zur kontrovers geführten Debatte über biotechnologische Neuerungen überhaupt zu leisten vermag. Dient der übliche Zugang über Meinungsäußerun gen, Umfragen und Abstimmungen lediglich dazu, die Verwissenschaftlichung vonLebensbereichennachträglichzulegitimieren–nachdemMuster:DieWissen schaft setzt die Agenda, und die Bevölkerung hat nur noch die Entscheidung zu treffen,wiesiedamitumgehenwill?OderhatderzivilgesellschaftlicheDiskursbei einer entsprechenden Rahmung das Potenzial, eigene, mit den Spezialdiskursen konkurrierendeWissensordnungenzuentwickelnunddurchzusetzen? Aus der Ausgangsfragestellung ergab sich die Entscheidung, in der empiri schen Untersuchung auf wissenssoziologische Perspektiven zu fokussieren. Zu gleichfordertedasungewöhnlicheMaterialdazuauf,neueWegebeimMethoden design zu gehen. In der Auseinandersetzung mit der Diskurstheorie Michel Fou caults wurde bald deutlich, dass dieses ursprünglich für Spezialdiskurse entwi ckelteKonzeptnurteilweiseaufdenalltagsnahenInterdiskursangewandtwerden konnte.AuchzieltedieFragestellungdieserUntersuchungnichtdaraufab,einen zuvordefiniertenDiskursineinemsystematischzusammengetragenenKorpuszu 

11Schlussbemerkungen

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re oder dekonstruieren; vielmehr ging es um das Auffinden von gegen standsübergreifenden Regelmäßigkeiten einer stark ‚wuchernden’ diskursiven Praxis.AlsmethodologischentscheidenderwiessichdieEinbeziehungvonJürgen Links Interdiskurstheorie und der wissenssoziologischen Ansätze von Peter L. Berger, Thomas Luckmann und HansGeorg Soeffner. Um zu einer Systematisie rung des ungewöhnlich umfangreichen Datenkorpus zu gelangen, bewährte sich zudemdieOrientierungandiskursanalytischenVerfahrensweisenunddergroun ded theory. Der interaktionistische Hintergrund einiger Ansätze hätte dazu verlei tenkönnen,anderOberflächederimOnlineforumverhandeltenThemenzuver harren.DavorbewahrteunsderdiskurstheoretischeBlick,derdaraufausgerichtet war,dieExistenzbedingungenderAussagenanalytischaufzuspüren. Als ebenfalls hilfreich erwies sich die Reflexion der thematischen, institutio nellen und medialen Rahmenbedingungen von „1000fragen.de“. Mit Hilfe der Rahmenanalysekonntebegründetwerden,dassdieInternetplattformalsdiskursi ves Ereignis im Interdiskurs zu konzeptionalisieren war und das spezifische fra ming das Erscheinen von alltagsdiskursiv geprägten Aussagen in der (medial in szenierten) Öffentlichkeit erst ermöglichte. Andere Beteiligungsformen wie Bür gerforenoderUmfragenzeigtensichweitausrestriktivergegenüberdemsubjekti vierenden, pragmatischen, Komplexität reduzierenden und mit ungewöhnlicher Kombinatorik jonglierenden Alltagsdiskurs. Die große Offenheit für das Einbrin gen von Alltagswissen, wie sie für das untersuchte Onlineforum kennzeichnend ist,ermöglichteeinegrößereVielfaltanWissensformen;deutlichwurdeauch,dass die alltagsweltlichen Rationalitäten nicht den Spielregeln vernunftgesteuerter De batten folgten. Zivilgesellschaftliche Muster wie ‚demokratischer Wertekonsens’ odereinebestimmte‚Diskussionskultur’konntenfolglichnichtvorausgesetztwer den. AuchdiegängigeVorstellung,WissenselementeausSpezialdiskursenwürden einfachindenAlltaghineindiffundieren,erschienzuverkürzt,beruhtsiedochauf einereindimensionalenSichtweisevonWissenalsWissensbestand.Wäremandie ser Auffassung gefolgt, hätte man von einem Laienforum im Internet eigentlich nurein‚Rauschen’von‚verzerrten’Elementenausden‚reinen’Expertendiskursen erwarten können. Produktiv war dagegen, Wissen als Prozess anzusehen – damit richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise der Wissensproduktion, die Wissensformen. Die Grundannahme dieser Studie lautete folglich: Zivilgesell schaftliche Diskurse weisen in Inhalt und Form ebenso wie Spezialdiskurse Ge setzmäßigkeitenauf.AusgegangenwurdevondemPostulat,dassesanalogzuden dreiDiskurstypen–demSpezialdiskursderWissenschaft,demAlltagsdiskursund demzwischendiesenbeidenvermittelndemInterdiskurs–auchdreiunterschied 

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11Schlussbemerkungen

licheWissensformenoderErkenntnisstilegibt.AlsErgebnisderwissenssoziologi schenReflexion ließsichfür die drei herausgearbeiteten WissensformenSpezial wissen, Alltagswissen und interdiskursives Wissen eine empirisch abgesicherte Merkmalssystematikentwickeln.DanachkonnteeineÄußerungmitHilfederfol gendensechsDimensioneneindeutigeinerWissensformzugeordnetwerden:  1. GradderSpezialisierung:Handeltessichum‚elementares’,grobgeneralisieren desoderspezialisiertesWissen? 2. Stellenwert des Subjekts: Beinhaltet die Äußerung eine intensive Subjektivie rung, wird eine Subjektapplikation bereitgestellt oder ist sie verobjektivie rend? 3. Handlungsorientierung:IstdieÄußerungmitHandlungsdruckverbunden,mit HandlungsrelevanzoderbestehtkeinerleiHandlungsorientierung? 4. Logik: Ist die Logik der Äußerung pragmatisch, assoziativ oder folgt sie der Formallogik? 5. Sprachliche Erscheinungsform: Ist die Äußerung Bestandteil typischer Textfor men des Alltagsdiskurses (biographische Schilderungen, Alltagsweisheiten, Ratschläge),desInterdiskurses(ElementeausMassenmedien,Literatur,Popu lärwissenschaft usw.) oder des Spezialdiskurses (Beweisführung, Analyse, Theoriebildungetc.)? 6. Legitime Sprecherpositionen: Wessen Äußerungen zum Diskursgegenstand ge lten als kompetent? Sind es Betroffene mit subjektiver Erfahrung, zivilgesell schaftlicheInstitutionenoderwissenschaftlicheExperten?  MittelsderempirischenAnalysekonnteaufgewiesenwerden,dassderAlltagsdis kurstatsächlichmiteinereigenenWissensformverknüpftist.AuchtypischeLegi timationsweisen ließen sich identifizieren: Die persönliche Erfahrung,im Spezial wissenüblicherweise ausgegrenzt und negativ sanktioniert, hat im Alltagswissen denhöchstenStellenwert.EntsprechendstehensichdielegitimenSprecherpositio nen der jeweiligen Wissensform – ‚Betroffene’ auf der einen, ‚Experten’ auf der anderen Seite – diametral gegenüber. Auf Grund der empirisch nachgewiesenen UnterschiedezwischendenWissensformenstelltesichdieFrage,obnichtz.B.die unterschiedlich bewertete Legitimität von Sprecherpositionen zu Konflikten füh renmüsste.DieMachtwirkungvonDiskursenzogsichfolglichwieeinroterFaden durch die Untersuchung. Im direkten Aufeinandertreffen der Wissensformen konnten tatsächlich Muster der Beschränkung oder des Ausschlusses von Äuße rungenentdecktwerden:ZumeinensprachensichUser,diesichalsBetroffenemit subjektiverErfahrungeinbrachten,undUser,diesichaufwissenschaftlicheAuto 

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ritäten beriefen, gegenseitig die Legitimation ab, etwas Gültiges zu einem Thema sagen zu können. Zum anderen waren Bemühungen zu erkennen, diskursive GrenzenderSagbarkeitzuverschieben–etwawenninderDebatteübernormative Beschränkungen der individuellen Willensfreiheit ethisches Wissen einfach aus geblendetwurde. Anhand der Betrachtung der Wissensformen allein konnten jedoch keine ein deutigenRegelnfürgegenseitigeAbgrenzungenformuliertwerden.Darumwurde die Forschungsperspektive auf Verknüpfungen zwischen der inhaltlichen und formalenEbenederdiskursivenPraxiserweitert.SowurdederFragenachgegan gen,obesempirischnachweisbareZusammenhängezwischenWissensformenund Diskursgegenständen bzw. Begriffsformationen gibt. Erst wenn diese Annahme bestätigtwürde,ließesichtatsächlichvon‚neuem’WissenimAlltagsdiskursspre chen. In zwei Untersuchungsphasen – anhand einer quantitativen Analyse von Begriffsfeldern und der Betrachtung einzelner Diskursgegenstände in den drei Fallstudien–konnteanschaulichgezeigtwerden,dasseindirekterWissenstransfer von Spezialdiskursen in das Alltagswissen in der Regel nicht stattfindet. Alltags undSpezialwissenliegenauchdann,wennsiedieselbenBegrifflichkeitenverwen den, ‚im Widerstreit’, da wesentliche Unterschiede in der Konstruktion von Ge genständenundSubjektivitätenzwischenihnenbestehen. Durch den Einsatz bi und multivariater Verfahren gewannen die Analysen zurStreuungeinzelnerBegriffeüberdieWissensformenhinweganAussagekraft. So konnten für die einzelne Wissensform typische Begriffskombinationen offen gelegtwerden.Faktorenanalysenwurdenunternommen,um–imdiskursanalyti schenSinn–IndikatorenfürdieFormationsregelnvonBegriffenzuerhalten:Ohne dassesnotwendigwar,dieeinzelnenÄußerungenzusichtenodergarhermeneu tisch zu interpretieren, fanden wir die These bestätigt, dass die alltagsdiskursive Streuung von Äußerungen anderen Regeln folgt und andere Diskursgegenstände erzeugt als eine Streuung um ein ähnliches Begriffsfeld im Spezialwissen. Bei spielsweise teilt der „Embryo“ des Alltagswissens mit dem „Embryo“ des Spezi alwissenszunächstnurdieBezeichnung;diediskursiveStrukturdesBegriffsfelds ist abhängig von der Wissensform, d.h. dem jeweiligen Ort, an dem der Begriff auftaucht.MitdieserBeobachtunggelanges,FormationsregelndesInterdiskurses ausfindig zu machen, eines Diskurstypus, der auf Grund seiner Mehrdeutigkeit schwierigerzuanalysierenistalsetwaderSpezialdiskurs. DieAnalysederStrukturenimOnlineforum„1000fragen.de“ließdasdiskur sive Ereignis einige seiner Regeln preisgeben, so dass nun eine Reihe von Äuße rungen,dienachdenRegelnwissenschaftlicherLogikkeinenSinnergeben,besser zu‚verstehen’sind.WegenderalltagsnahenRahmungmusstenjedochdievielfäl 

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11Schlussbemerkungen

tigen, in dem Datenkorpus konstruierten Diskursgegenstände an den Rändern unscharfbleiben.DieAnwendungquantitativerVerfahrenstießhierrechtschnell anihreGrenzen;dagegensahensichdiequalitativenAnalysenmitdemProblem konfrontiert, immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem komplexen Material eingehenduntersuchenzukönnen.ZwarkanndieseStudiekeinestatistischeRep räsentativitätbeanspruchen,jedochsindsicherlichdieTeilstrukturendesDiskurs ereignisses–wiesiez.B.imUmfeldderBegriffe‚Klon’,‚individuelleAutonomie’ und‚Normalität/Behinderung’mittelsqualitativerAnalyseherausgearbeitetwur den–als‚typisch’imSinnestabilerMusteranzusehen,zumalsiesichauchinWie derholungen und in unterschiedlichen Zusammenhängen als konstant erwiesen haben. Exemplarisch ließ sich das Funktionieren des interdiskursiven ‚Kreativ Zyklus’ aufzeigen: Ob die im Interdiskurs zur Verfügung gestellten Subjektivie rungsfolien, die sich zumeist in spezialdiskursiv angereicherten Stereotypien äu ßernoderdiesprachlicheFormvon‚Phrasen’undMetaphernannehmen,Akzep tanz finden, darüber entscheidet letztlich der Alltagsdiskurs. Ein weiterer, sehr interessanterAspekt,derindenAnalyseergebnissenaufscheint,kannzumSchluss nur angedeutet werden: Immer wieder – in unterschiedlichen Untersuchungs schritten, bei der Analyse der verschiedenen Begriffe und Gegenstände – zeigte sichdieVirulenzsozialdarwinistischenGedankenguts.Zuerfahren,wieverbreitet diesesDiskursthemainderBevölkerungistundobesZusammenhängezwischen ihm und gängigen Diskurspositionen der bioethischen Debatte gibt, könnte für künftigeAnalyseneinespannendeFragestellungsein. FürwelcheZweckeistdieUntersuchungmöglicherweiseertragreich?DieBe fundekönntenetwafürdieUmfrageforschunghilfreichsein,umetwaFragebögen, die sich zumeist einseitig am bioethischen Spezialdiskurs orientieren, um alltags undinterdiskursive Wissenselemente zu ergänzen.AuchfürdiePraxisderTech nikfolgenabschätzungerlaubtdieStudieSchlussfolgerungen:Beispielsweisesollte das Konzept der Bürgerkonferenz noch einmal überdacht werden, da hier offen sichtlich nicht das gesamte Wissen der Bevölkerung zum Tragen kommen kann und insbesondere dessen alltagsweltlichen Elemente wie beispielsweise das sub jektive Erfahrungswissen ausgespart bleiben. Im Vergleich zu „1000fragen.de“ erweisensichaucheineVielzahlmassenmedialerDiskursereignissesowiederpoli tische Diskurs und nicht zuletzt der Deutsche Ethikrat als höchst selektiv. Unter demGesichtspunktderdemokratischenKulturrücktsomitdieFragenachzivilge sellschaftlicherPartizipationunddamit:derLegitimationinsZentrumderBetrach tung. Das ‚Wissen der Leute’ ist vielstimmig, komplex, eigenwillig und manches Malauchwiderspenstig;eszuignorierenhieße,einenreichenSchatzanErfahrung und Kenntnis auszublenden. Festzuhalten bleibt: Mit Hilfe unseres komplexen 

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Forschungsdesigns zeigte sich die bisherige Leerstelle des Alltagsdiskurses als durchaus zugänglich für eine empirische Untersuchung und der interdiskursive ‚KreativZyklus’ erhielt einen wichtigen Stellenwert. Gleichzeitig haben wir aber auch die Erfahrung gemacht, dass der wissenschaftliche Blick immer wieder auf ein‚unterworfenesWissen’trifft,dassichallenOrdnungsbestrebungenwidersetzt. 



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