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German Pages 486 [487] Year 2004
KLAUS KONHARDT
Endlichkeit und Vernunftanspruch
ERFAHRUNG UND
DENKEN
Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 95
Endlichl{eit und Vernunftanspruch Die Urkonstellation des Menschen im Lichte der Philosophie
Von
Klaus Konhardt
Duncker & Humblot . Berlin
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© 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: BK-Verlags service, München Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-11419-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
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Für Ulrike
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1998/99 unter dem Titel »Endlichkeit und Vernunftanspruch. Zur Deutung eines fundamentalen Spannungsverhältnisses im Selbstverständnis des Menschen« von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn als Habilitationsschrift angenommen. Sie geht zurück auf eine mehrjährige Beschäftigung mit einem Grundproblem der europäischen Philosophie: der Frage nach der Einheit des Menschen als eines Natur- und Vernunftwesens. Die klassische Bestimmung des Menschen als »animal rationale«, als eines Wesens »zwischen« Natur und Vernunft wirft - wie alle philosophischen Grundprobleme - mehr Fragen auf, als sie befriedigende Antworten zuließe. Dennoch gibt es wohl keine überzeugende Alternative zur überkommenen Formel vom Menschen als einem »vernünftigen Lebewesen«. Die »Urkonstellation« des Menschen, das Spannungsverhältnis von Natur und Vernunft, Endlichkeit und »Unendlichkeit«, Bedingtheit und Unbedingtheit muß jedoch unter den Voraussetzungen von Neuzeit und Gegenwart neu interpretiert werden. Dazu versucht die vorliegende Arbeit einen Beitrag zu leisten, indem sie die Natur- und Endlichkeitsbedingungen des Menschen, seine eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten, aber auch seine Fehlbarkeit und Vergänglichkeit, wie sie insbesondere die metaphysikkritische, nachidealistische Philosophie des späten 19. und des 20. Jahrhunderts reklamiert hat, ernst nimmt, zugleich aber dem Menschen eine tendenzielle »Überschreitung« seiner Endlichkeitsbedingungen zutraut. Diese Überschreitung geschieht durch einen »Ausgriff« auf das Unbedingte in Gestalt des unbedingten Vernunftanspruchs auf moralische Selbstbestimmung der endlichen Subjektivität. Die Anerkennung des Vernunftanspruchs ist dem endlichen Vernunftwesen, einem Wesen »zwischen« Endlichkeit und Vernunft, aber nur diesem, durchaus möglich. »Reinen« Vernunftwesen oder »bloßen« Naturwesen dagegen stünde diese Möglichkeit gar nicht offen, da sie den moralischen Anspruch als solchen nicht verstünden. Erst der Mensch als das Wesen im Spannungsverhältnis von Endlichkeit und Vernunft vermag den selbstgesetzten moralischen Anspruch als Anspruch der Vernunft zu »verstehen«. Zugleich zeigt sich, daß ohne die Affirmation dieses Spannungsverhältnisses, ohne die rückhaltlose Bejahung der »Urkonstellation«, die Menschlichkeit des Menschen, das »Humanum«, nicht hinreichend bestimmt werden könnte. Die Insistenz auf dem Selbstverständnis des Menschen als eines »Zwischenwesens« bedeutet jedoch in der Konsequenz den Abschied von den einseitigen Positionen sowohl des »harten« Naturalismus als auch des überzogenen, »absoluten«
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Vorwort
Idealismus. Beide Ansätze werden der schwierigen Urkonstellation des Menschen nicht gerecht. Eine Reihe widriger Umstände hat die Veröffentlichung der vorliegenden Arbeit leider etwas verzögert. Deshalb kann ich meinem zwischenzeitlich verstorbenen akademischen Lehrer Hans Michael Baumgartner nicht mehr persönlich für sein anhaltendes Interesse an meiner Arbeit und die vielen Diskussionen, die ich mit ihm über das hier traktierte, nach seiner Einschätzung zentrale Problem der abendländischen Philosophie führen durfte, danken. So bleibt mir an dieser Stelle nur, seiner zu gedenken. Für technische Hilfe bei der Erstellung des Typoskriptes danke ich Frau Irene Braun. Herrn Prof. Volker Gerhardt von der Humboldt-Universität zu Berlin danke ich für die Aufnahme des Buches in die Reihe »Erfahrung und Denken«, dem Verlag Duncker und Humblot für seine freundliche und entgegenkommende Zusammenarbeit. Mein besonderer Dank aber gilt meiner Frau, ohne deren Zuversicht und Solidarität das Buch in der vorliegenden Form nicht hätte erscheinen können. Bonn, im Dezember 2003
Klaus Konhardt
Inhalt Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . I.
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»Animal rationale« - Philosophiegeschichtliche Aspekte zum Wandel der Auffassung vom Menschen als eines Sinnen- und Vernunftwesens. . . .
16
1. Die »Urkonstellation« von Endlichkeit und Vernunft als epochenübergreifendes philosophisches Grundproblem .
16
2. Kosmosordnung . .
26
3. Schöpfungsordnung .
44
4. Konturen der »Subjektivität« in der frühen Neuzeit
80
5. Moralische Selbstbestimmung des Menschen: Rousseau und Kant .
106
6. Die »aufgehobene« Endlichkeit. Ein Blick auf den deutschen Idealismus 118 7. Die Depotenzierung der Vernunft und die Rehabilitierung der Endlichkeit 123 im nachidealistischen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . a) Der Wille zum Leben als Quelle des Leidens: Schopenhauer.
126
........ .
130
b) Die Vernunft der Endlichkeit: Nietzsehe
c) Der Mensch als Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit: Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
11. Die Doppelnatur des Menschen - Zum Begriff des endlichen Vernunftwesens im Rückgriff auf Kant . 152 . . . . . .
153
2. Autonomie des Willens
157
3. Das Zwischenwesen
.
167
111. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
176
1. Vernunft
1. »Selbstüberforderung« und »Selbstvergottung« des autonomen Vernunftsubjekts? . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Vernunftkritik als Metaphysikkritik: Heidegger .
188
3. Der Vernunfttorso . . . . . . .
204
a) Zweckrationalität: Max Weber.
206
8
Inhalt b) Die Reduktion der »objektiven« auf »subjektive« Vernunft als geistige »tour de force«: Max Horkheimer . .
215
4. Das autonome Vernunftsubjekt als Illusion
240
a) Der Wegweiser: Nietzsche. . . . . .
242
b) Der »Tod« des Vernunftsubjekts im Denken der »Postmoderne«
250
aa) Das regellose Spiel der »Strukturen« und das »Verschwinden des Menschen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
250
bb) Transversalität versus Transzendentalität: Wolfgang Welsch
269
cc) Autonomes Vernunftsubjekt oder Zufallsprodukt? Zum Widerstreit zweier grundlegender Optionen menschlicher Selbstbestimmung
297
IV. Endlichkeit . . . . . . .
310
I. Endliche Subjektivität: Kontingenz, Exzentrizität und Zweideutigkeit menschlichen Daseins .
310
2. Der Tod des Menschen
345
a) Das Skandalon des Todes
345
b) Das »Dasein« als »Sein zum Tode«: Heidegger .
370
c) Vergänglichkeit und Dauer. . . . . . . . . .
384
3. Das Vernunftprinzip des moralisch Unbedingten und die Idee der Sympathie mit allem Vergänglichen . . . . . . . . .
V. Anerkannte Ambivalenz - Zur Würde des Menschen
398 411
1. Die Frage »Warum moralisch sein?« vor dem Hintergrund der Urkonstellation von Endlichkeit und Vernunftanspruch . . . . . . . . . . .
411
2. Der »Ausgriff« auf das moralisch Unbedingte als tendenzielle Überschreitung der Endlichkeit. . . . . . . . . . . . .
420
3. Die Würde des Menschen: eine tragische Würde?
426
Literaturverzeichnis .
431
Personenregister
457
Sachregister . .
462
Abkürzungsverzeichnis Anthropologie Bemerkungen Conf. De civ. Dei DO Emil Enz. Ep. Ereignis FW GD GM GMS HBf Idee JGB KpV KrV KSA KSB KT KU L M
Met. MPL MSR MST Nachschrift NE Nietzsehe ODD
I. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht I. Kant: Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen A. Augustinus: Confessiones A. Augustinus: De civitate Dei I. Kant: Was heißt: Sich im Denken orientieren? J.-J. Rousseau: Emile, ou de I'education G. W. F. Hege\: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) L. A. Seneca: Epistulae morales ad Lucilium M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) F. Nietzsehe: Die fröhliche Wissenschaft F. Nietzsehe: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert F. Nietzsehe: Zur Genealogie der Moral I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten M. Heidegger: Über den "Humanismus". Brief an Jean Beaufret [üblicherweise zitiert als "Humanismusbrief'] I. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht F. Nietzsehe: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft I. Kant: Kritik der reinen Vernunft F. Nietzsehe: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe F. Nietzsehe: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe S. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode I. Kant: Kritik der Urteilskraft Die Bibel, übersetzt von M. Luther F. Nietzsehe: Morgenröte Aristoteles: Metaphysik J. P. Migne: Patrologiae cursus completus, Series 11: Ecclesia latina I. Kant: Die Metaphysik der Sitten: Rechtslehre I. Kant: Die Metaphysik der Sitten: Tugendlehre S. Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken Aristoteles: Die Nikomachische Ethik M. Heidegger: Nietzsehe, 2 Bde. M. Foucault: Die Ordnung der Dinge
10
PhdG PS Ref1.
Re!. S.c.g. S.th.
SUZ
SVF SvG Ungleichheit Ver. VG WaB WiM WWV Z
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Abkürzungsverzeichnis G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes I. Kant: Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik I. Kant: Reflexionen aus dem handschriftlichen Nachlaß (Akademieausgabe) I. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Th. von Aquin: Summa contra gentiles Th. von Aquin: Summa theologica [Kennzeichnung der Zitate durch Zahlen, z.B. : H-H,123, 2 ad 4 bedeutet: H. Teil des H. Hauptteils (Secunda Secundae), quaestio 123, articulus 2, Antwort auf den 4. Einwand] M. Heidegger: Sein und Zeit Stoicorum veterum fragmenta M. Heidegger: Der Satz vom Grund 1.-1. Rousseau: Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen Th. von Aquin: Quaestiones disputatae de veritate G. W. F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte M. Weber: Wissenschaft als Beruf M. Heidegger: Was ist Metaphysik? A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung Die Bibel (Zürcher Bibel) F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen
Einleitung Der Titel der vorliegenden Arbeit bezeichnet ein ebenso altes wie aktuelles philosophisches Grundproblem. Es ist das Problem der Selbstbestimmung des Menschen als »animal rationale«. Ein »vernünftiges Lebewesen« ist ein organisch verfaßtes und damit natural bestimmtes, begrenztes und sterbliches, kurz: endliches Wesen, das sich zugleich als denkendes und wollendes, sich selbst bestimmendes und seine Endlichkeit gleichsam >>unendlich« überschreitendes, kurz: vernünftiges Wesen begreift. Ist bereits dieses Verhältnis der beiden Bestimmungsmomente »Endlichkeit« und »Vernunft« zumindest interpretationsbedürftig, so wird es vollends zu einem Problem, wenn man die Selbstbestimmung des Menschen als »Vernunftwesen« in der Weise auffaßt, wie sie in weiten Teilen der klassisch-metaphysischen »Vernunftphilosophie« tatsächlich aufgefaßt wurde: als Anspruch des Menschen an sich selbst, durch dessen Anerkennung er allererst im Vollsinne des Wortes »Mensch« wird. Das Problem des Verhältnisses von Endlichkeit und Vernunft besteht vor diesem Hintergrund in der Frage, wie sich ein selbstgesetzter Anspruch, der zugleich ein, wenn nicht das ausgezeichnete, definierende Merkmal des Menschen als Menschen darstellt, in ein Verhältnis zu der gegebenen Komponente der Naturverhaftetheit und Endlichkeit des Menschen bringen läßt. Faßt man, wiederum in Übereinstimmung mit weiten Teilen der »Vernunftphilosophie«, den Anspruch des Menschen an sich selbst, »Vernunftwesen« zu sein, als den von dieser Vernunftbestimmung unabtrennbaren Anspruch auf moralische Selbstbestimmung auf, so gewinnt das Problem des »animal rationale« vollends deutliche Konturen. Denn die Naturkomponente des Menschen als Gegebenheits- bzw. Faktizitätskomponente enthält, rur sich betrachtet, nicht nur kein Vernunftmoment, schon gar nicht ein »moralisch-praktisches«, sondern scheint dem in Gestalt eines Anspruchs auftretenden Interesse des Menschen an moralisch-praktischer, »freier« Selbstbestimmung geradezu entgegenzustehen. Moralische, »Freiheit« voraussetzende Ansprüche scheinen immer nur trotz der naturwüchsigen Interessen des Menschen, ja gegen sie formulierbar und durchsetzbar zu sein. Nun ist die Natur- bzw. Endlichkeitskomponente zweifellos ein ebenso genuiner, integrierender und unverzichtbarer Bestandteil des Menschen wie die Vernunftkomponente. I Läßt sich also, so muß I Die Begriffe »Natur« und »Endlichkeit« sind nicht schlechterdings identisch. Zwar ist alles, was zur »Natur« zählt, »endlich« im Sinne von »vergänglich«. Doch läßt sich "Natur« freilich auch
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Einleitung
gefragt werden, die Vernunft bzw. der Vernunftanspruch, der nach klassischem Verständnis die differentia specifica des Lebewesens Mensch ausmacht, nur in Opposition zur Naturkomponente des Menschen erheben? Wäre demnach das »Wesen« des Menschen nur um den Preis einer »unnatürlichen« Depravation seiner Endlichkeitskomponente bestimmbar? Nicht zuletzt ist zu bedenken, daß sich der Anspruch der Vernunft als solcher an endliche Wesen und nur an diese richtet. Eine Abwertung der Endlichkeit wäre schon aus diesem Grunde problematisch. Offenbar läßt sich keine der beiden Komponenten auf die jeweils andere zurückführen oder aus dieser »deduzieren«. Sie bestehen vielmehr auf eine relativ ungeklärte Weise mit- bzw. gegeneinander. Für die »Einheit« des Menschen als eines endlichen Vernunftwesens aber ist die Frage nach der Kohärenz bei der Komponenten von entscheidender Bedeutung. Unabhängig davon, auf welche Weise ihr Zusammenhang im Verlaufe der Philosophiegeschichte jeweils bestimmt wurde, scheint die Konstellation von Vernunft und Endlichkeit ein echtes, epochenübergreifendes Problem darzustellen, dem wir terminologisch auf die Weise Rechnung tragen, daß wir von einem Spannungsverhältnis sprechen. Die metaphysische Tradition hat diesem Problem dadurch zu entsprechen versucht, daß sie den Menschen als ein »zusammengesetztes«, ein »Zwischen«- oder »Doppelwesen« begriffen hat. Der Terminus »animal rationale« bzw. t00v A.6yov EXOV dokumentiert in seiner scheinbaren Einfachheit und Selbstverständlichkeit die angedeuteten Schwierigkeiten im Selbstverhältnis des Menschen als eines Wesens »zwischen« Endlichkeit und Vernunft, Natur und Freiheit. Denn die Aussage, der Mensch gehöre zur Gattung der Lebewesen und sei innerhalb dieser Gattung durch das Spezifikum, daß er Vernunft »habe«, ausgezeichnet, trägt zur inhaltlichen Bestimmung des Verhältnisses von ßLo~ und A.6yo~, Natur und Vernunft, wenig bei. Gleichwohl scheint es keine Alternative zum Verständnis des Menschen als »Zwischenwesen« zu geben, jedenfalls dann nicht, wenn man eine ausschließliche Bestimmtheit des Menschen entweder durch Natur oder durch Vernunft für absurd oder zumindest für dem Menschen in seiner komplexen Gesamtstruktur unangemessen hält. Daß die im Begriff des »animal rationale« gemeinte »Zwischenposition« des Menschen in der Tat alternativlos, gleichwohl klärungsbedürftig ist, ist die These der vorliegenden Arbeit. Dem »Sinn« der Bestimmung des Menschen als eines Wesens »zwischen« animalitas und unter ganz anderen Aspekten als dem der »Endlichkeit« betrachten, beispielsweise aus der Perspektive der Naturwissenschaften. Uns interessiert hier jedoch die Natur in erster Linie im Verhältnis zur Vernunft. Unter diesem Aspekt ist die Endlichkeit des naturhaft Gegebenen entscheidend. Ihr kontrastiert die mit der» Vernunftbestimmung« schon zu Beginn der abendländischen Metaphysik konnotierte Unendlichkeitstendenz des Menschen (»finitum capax infiniti«), die sich als »Selbstübersteigung« im Sinne des Überschreitens der Endlichkeit begreifen läßt.
Einleitung
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rationalitas soll im folgenden nachgespürt werden. Die vorliegenden Untersuchungen sind von der Überzeugung getragen, daß die Rede von einem »Sinn« des Spannungsverhältnisses von Endlichkeit und Vernunftanspruch nicht selber sinnlos ist. Zunächst ist wenigstens summarisch zurückzublicken auf die metaphysische Tradition, in der der so transparent erscheinende, jedoch problematische Begriff des »vernünftigen Lebewesens« seinen Ursprung hat. Doch auch die sogenannte »nachmetaphysische« Vernunftkritik, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis in die Gegenwart hinein durch eine teils rigorose Kritik am Selbstverständnis des Menschen als des »autonomen Vernunftsubjekts« profiliert hat, darf nicht unberücksichtigt bleiben. Die Probleme der Bestimmung des Menschen als »Zwischenwesen« im Spannungsfeld von Endlichkeit und Vernunftanspruch sind »metaphysisch« wie »nachmetaphysisch« dieselben, auch wenn sie in extremen Versionen nachmetaphysischen Denkens in Form radikaler Kritik an »der« Vernunft überhaupt auftreten. Doch gebührt dem gegenwärtig weitverbreiteten Argwohn gegenüber der Bestimmung des Menschen durch »Vernunft« schon deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil er sich in erster Linie gegen ein als unverzichtbar erscheinendes Implikat der neuzeitspezifischen, insbesondere Kantischen Vernunftauffassung richtet: den Begriff des »autonomen Vernunftsubjekts«. Der Autonomiebegriff aber bildet, wie zu zeigen sein wird, das Herzstück des Vernunftverständnisses der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie. In ihm lassen sich diejenigen Überlegungen bündeln, die seit Kant mit der Idee der moralisch-praktischen Vernunftbestimmung des Menschen verbunden werden und die wir durch den Terminus »Vernunftanspruch« bezeichnen. Zumeist besteht das Mißtrauen der »nachmetaphysischen« Vernunftkritiker schon gegenüber dem »Vernunftanspruch« überhaupt. Doch bei nahezu allen diesen Kritikern entzündet es sich an einem in »idealistischer« Manier zur »absoluten« Freiheit hypertrophierten Autonomiebegriff. Zusammen mit diesem verfällt dann jede Form von vernunftbestimmter Autonomie, d. h. jede Version des Vernunftanspruchs, dem Verdikt der Omnipotenzanmaßung, der Hybris und Selbstvergottung des Menschen. Derartige Warnungen vor überzogenen Ansprüchen des Menschen an sich selbst münden nicht selten im Menetekel einer grandiosen und folgenschweren Selbstüberforderung des Menschen durch dessen Selbstverständnis als »autonomes Vernunftsubjekt«. Gegen diese »autonomistische« Selbstüberforderung reklamieren die Vernunftkritiker seit den Tagen Schopenhauers und Nietzsches die Endlichkeit des Menschen. Es ist die menschliche Ohnmacht gegenüber Beschränkungen, Mängeln und Übeln, bis hin zum Tod, kurz: die Erfahrung des Negativen, die nach Meinung vieler moderner Vernunftkritiker im Konzept des Menschen als »autonomen Vernunftsubjekts« nicht hinreichend oder gar nicht berücksichtigt wird. Die Ausblendung der Endlichkeit aber kann, so die Konsequenz, nur zu einem insgesamt einseitig an der Vernunft orientierten und
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Einleitung
deshalb unangemessenen, durch Selbstüberforderung zu kennzeichnenden Menschenbild führen. Hinter solchen Warnungen steckt jedoch zumeist die Ablehnung nicht nur des neuzeitlichen Begriffs eines »autonomen Vernunftsubjekts«, sondern eine Haltung der kritischen Distanz schon gegenüber dem älteren, »metaphysischen« Begriff des »animal rationale«. Auf Distanz gehalten wird - mit Heidegger gesprochen - die »onto-theologische« Verfassung der metaphysischen Tradition abendländischer Philosophie, d. h. ihre Ausrichtung auf ein Prinzip hin: den letztlich »göttlichen« - "Aoyor; als maßgebendes Definiens des Menschen. Gegenüber der »Einheitsphilosophie« metaphysischer Prägung, als deren Folgefonnation die neuzeitliche Konzeption des »autonomen Vernunftsubjekts« eingestuft wird, reklamieren gegenwärtige Vernunftkritiker die Vielheit der »Rationalitäten«, die verschiedenen Erscheinungsweisen des »Anderen der Vernunft«, die verfemte »Natur«, den Pluralismus der menschlichen »Lebensformen« sowie das konkrete, endliche Individuum überhaupt. Doch - so wird sich zeigen - noch in der Ablehnung der autonomen Vernunftbestimmung des Menschen im Namen einer Rehabilitierung der Endlichkeit erweist sich indirekt ob von den Vernunftkritikern gewollt oder nicht - die Dringlichkeit, die Frage nach der Kohärenz von Endlichkeit und Vernunftanspruch erneut zu stellen. Wir tun dies in fünf Schritten: Zunächst (I.) soll eine philosophiegeschichtliche, am Leitfaden des menschlichen Selbstverständnisses als »vernünftiges Lebewesen« orientierte Skizze des Verhältnisses von »Endlichkeit« und »Vernunft« gegeben werden, die das »Spannungsverhältnis« beider Begriffe vor dem Hintergrund der jeweiligen epochalen Ordnungsvorstellungen wie »Kosmos«, »Schöpfung« und »Subjektivität« thematisiert. Es wird verdeutlicht, daß auf dem Weg von der Antike zur Neuzeit eine Akzentverschiebung von der Auffassung der Vernunft als »Wesensbestimmung« des Menschen über ihr Verständnis als »autonome« und »absolute« Vernunft bis hin zur Erosion ihrer essentiellen Bedeutung überhaupt stattgefunden hat. Die Depotenzierung der Vernunft geschieht, so soll abschließend aufgezeigt werden, im Zusammenhang der Versuche einer Rehabilitierung der Endlichkeit im späten 19. Jahrhundert. Um die im 20. Jahrhundert am Begriff des »autonomen Vernunftsubjekts« geübte Kritik hinreichend nachvollziehen zu können, sollen sodann in einem kürzeren Abschnitt (Il.) im Rückgriff auf Kant die Umrisse der neuzeitlichen Version des »animal rationale« unter dem Namen des »endlichen Vernunftwesens« skizziert werden. An eine Darstellung der aufeinander verweisenden Grundbegriffe »Vernunft« und »Autonomie« schließt sich eine Exposition der beiden »Perspektiven« von »mundus sensibilis« und »mundus intelligibilis«, Bedingtheit und Unbedingtheit, an, deren Verhältnis zueinander das Spannungsverhältnis von Vernunft und Endlichkeit, die Urkonstellation menschlicher Exi-
Einleitung
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stenz, bezeichnet. Zudem hat dieser Abschnitt die Funktion, gleichsam die systematischen Eckpfeiler des einen Poles des Spannungsverhältnisses von Vernunft und Endlichkeit, des f-ernwiftpoles, zu markieren. Die - vermeintliche oder wirkliche - Hypertrophie der Vernunftbestimmung des Menschen unter dem Namen des »autonomen Vernunftsubjekts« wird im 20. Jahrhundert auf mannigfache Weise kritisiert. Diese verschiedenen Formen der Kritik sollen nunmehr anhand ausgewählter, repräsentativer Autoren dargestellt und jeweils metakritisch daraufhin befragt werden, ob sie im Zuge der Kritik des» Vernunftpoles« des Spannungsverhältnisses von Vernunft und Endlichkeit die »Urkonstellation« des Menschen durch Überbewertung des »Anderen« der Vernunft nicht ihrerseits verzerrt darstellen (III.). Der nächste Schritt (IV) umreißt die Konturen des anderen Poles des Spannungsverhältnisses, des Endlichkeitspoles, d. h. derjenigen Dimension menschlicher Existenz, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber der »Vernunftbestimmung« des Menschen als rehabilitierungsbedürftig erscheint. Die Erinnerung an die »Endlichkeit« umfaßt eine ganze Reihe von unleugbaren »Faktizitäten«: von der Kontingenz menschlichen Daseins über die »Zweideutigkeit« der endlichen Subjektivität bis hin zum Wissen um Vergänglichkeit und Tod. Hier ist zu fragen, ob vor dem Hintergrund dieser nicht zu verharmlosenden »Aspekte der Endlichkeit« der Vernunftanspruch in Gestalt der Idee des moralisch Unbedingten noch sinnvollerweise aufrechterhalten werden kann. Auf diese Frage versucht der Schlußabschnitt (V) eine Antwort zu geben. Unter Berücksichtigung beider Pole des »Spannungsverhältnisses«, der Vernunft- wie der Endlichkeitskomponente, soll die ambivalente Urkonstellation des Menschen - gemäß unserer oben genannten These - als ebenso alternativenlos wie »sinnvoll« erwiesen werden.
I. »Animal rationale« - Philosophiegeschichtliche Aspekte zum Wandel der Auffassung vom Menschen als eines Sinnen- und Vernunftwesens 1. Die »Urkonstellation« von Endlichkeit und Vernunft als
epochenübergreifendes philosophisches Grundproblem
Die europäische Denktradition hat seit ihren griechischen Anfangen den Menschen wesentlich als ein vernunftbegabtes, sein Selbst- und Weltverhältnis reflektierendes Wesen verstanden. Doch dieses denkende, selbstbezügliche und weltverstehende Wesen fand sich immer schon zugleich als körpergebundenes, in vielfacher Hinsicht begrenztes, vergängliches, endliches Naturwesen vor. Das Eingespanntsein des Menschen in die Konstellation von Freiheit und Natur, »Ich und Welt«', Vernunft und Endlichkeit, oder wie auch immer man die beiden den Menschen primär bestimmenden Komponenten bezeichnen mag, hat die abendländische Philosophie wie kaum ein anderes Thema beschäftigt und geprägt. Aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung tUr das menschliche Selbstverständnis in der westlichen 2 Philosophie bezeichnen wir diese Konstellation im folgenden als »Urkonstellation«. Diese Urkonstellation des Menschen, Vernunftund Naturwesen zugleich zu sein, benennt zunächst die Crux aller Versuche menschlicher Selbstbestimmung. Denn wenn wir vorab und noch ganz unabhängig von Detailbestimmungen unter» Vernunft« ein dem Menschen »essentiell« zukommendes »Vermögen«, das Gegebene, aber auch das Triviale und Banale gleichsam zu »übersteigen«, verstehen, so kann dennoch nicht übersehen werden, daß der Mensch von unübersteigbaren, persistenten »Gegebenheiten« geprägt ist, die seine vernunftbestimmte Tendenz zu Freiheit und Selbstbestimmung nachhaltig konterkarieren, allen anderen voran seine naturbedingte Endlichkeit. Der mit dem Begriff der Vernunft stets mitgemeinte Anspruch des Menschen, seine eigene Endlichkeit zu »transzendieren«, darf, wie er im einzelnen auch konkretisiert werden mag, nicht so verstanden werden, daß er die
Vgl. W. Schulz (1979). Wir befassen uns in der vorliegenden Arbeit ausschließlich mit der »westlichen«, europäischen Denktradition und verzichten auf eine Auseinandersetzung mit dem sogenannten »östlichen«, d. h. vor allem altindischen, altpersischen und altchinesischen Denken. Die uns interessierende »Urkonstellation« von Vernunft und Endlichkeit ist spezifisch europäisch und findet unseres Wissens im östlichen Denken keine direkte Parallele. 1
2
1. Die »Urkonstellation« von Endlichkeit und Vernunft
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Endlichkeit überspringt, »aufhebt« oder verhannlost. Der »Überstieg« hat die Endlichkeit vielmehr in Rechnung zu stellen als ein unaufhebbares Ingrediens des »vernünftigen Lebewesens« Mensch. Die genannte Crux des Menschen, ein »vernünftiges« Selbstverständnis angesichts der Endlichkeitskomponente herausbilden zu müssen, findet ihren Niederschlag im Begriff des Menschen als animal rationale. Das !;0ov AOYov E~OV3, das Lebewesen, das Vernunft »hat«, ist kein anderes als das in der Urkonstellation von Vernunft und Endlichkeit stehende Wesen. Die klassische Bestimmung des Menschen als animal rationale, sensitivum, corporeum beschreibt ebendiese Urkonstellation, ohne die ihr inhärierenden Probleme zu lösen.' Denn der A6yo~, die Rationalität', d. h. die Reflexions- und Redefähigkeit, die sich der Mensch einerseits selbst zuspricht, ändert nichts daran, daß er andererseits ein sinnliches, körperliches, endliches Wesen bleibt. Die species Mensch, deren artbildender Unterschied (differentia specifica) zu anderen Lebewesen in der rationalitas besteht6 , gehört zur Gattung (genus proximum) der Lebewesen überhaupt. Die allgemeine Bestimmung, Lebewesen überhaupt, oder genauer: »beseeltes« Lebewesen (!;0ov, animaF) zu sein, gilt schon gemäß dem logischen Verhältnis von genus und species für den durch die spezifische 3 Für Aristoteles (NE I, 1098 a 3-4) besteht das dem Menschen - im Unterschied zu Pflanzen und Tieren - Eigentümliche im »Leben in der Betätigung des vernunftbegabten Teiles« der Seele (1tQaX'tLx~ "CLI; ~wT] wu Myov EXOVW~). »Dieser findet sich vor teils als ein der Vernunft gehorchender, teils als ein die Vernunft besitzender und ausübender.(( (wuwu OE tO ~Ev w~ f1tlJtn{}E~ MY41, tO o'w~ EXOV xal OLavooU~EVOV). 4 H. Wagner (1992), S. 190f., hat die Schwierigkeit, den Begriff »animal rationale(( zu begreifen, benannt: »Was soll das heißen, wie soll das möglich sein, daß der Mensch einerseits ganz und gar ein animal und andrerseits doch das einzige animal rationale in der Welt ist?(( , Den Myo~ zu haben, denken und sprechen (AEyav) zu können, läßt sich durchaus mit Hilfe des neuzeitlichen Begriffs der »Rationalität(( übersetzen. Denn gemeint ist die »Richtigkeit((, die logische Konsistenz von Aussagen, die Begründbarkeit von Überzeugungen, Werturteilen etc. Deutlicher wird dies im lateinischen Begriff der »ratio(( (von reri, rechnen), der generell das Reguläre bzw. Regulierende, Richtige im Unterschied zum äAOYO~ meint. Vgl. dazu B. Kible (1992) und Th. S. Hoffmann (1992). Zur gegenwärtigen Rationalitätsdebatte vgl. 1. Bennett (1967); B. R. Wilson (Hrsg.) (1974); 1. Elster (1982); H. Schnädelbach (Hrsg.) (1984); H.-L. Ollig (1986); A. Wüstehube (1991); H. Schnädelbach (1992); P. Kolmer/H. Korten (Hrsg.) (1994); A. Wüstehube (1995). 6 Dazu beispielsweise Cicero (Oe legibus I, 22): »Animal hoc prouidum, sagax, multiplex, acutum, memor, plenum rationis et consilii, quem uocamus hominem ... Solum est enim ex tot animantium generibus atque naturis particeps rationis et cogitationis, quom cetera sint ornnia expertia.(( (»Dies vorausschauende, findige, vielschichtige, scharfsinnige, sich erinnernde, vernunftund planerftillte Lebewesen, das wir Mensch nennen ... Allein nämlich ist es unter so vielen Arten und Naturen von belebten Wesen der Vernunft und des Denkens teilhaftig, während alle übrigen nicht daran teilhaben.((). 7 Vgl. dazu H.-G. Gadamer (1987), S. 164: »Zoe ist klar dem entgegengesetzt, was keine Zoe hat, das heißt dem, was nicht lebendig ist. Was es auszeichnet, ist Psyche, Seele. Im griechischen Denken meint das Dasein von >Seele(, daß ein solches Seiendes durch Lebendigkeit ausgezeichnet ist. >Lebendigkeit( ist hier wie eine Art Atem und bezeugt sich in Selbstbewegung.((
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I. »Animal rationale«
Differenz der »rationalitas« bestimmten Menschen selbstverständlich weiterhin. Lebewesen aber haben, unabhängig von ihrer sie als solche definierenden »Beseeltheit«, eine bestimmte »Lebensweise« (ßLO~)8. Der Organismus der species Mensch ist, wie der der Tiere, durch bestimmte Gegebenheiten wie Körperlichkeit, Empfindungsflihigkeit, »Primärbedürfnisse« etc. gekennzeichnet. Kurz: das »Vernunftwesen« Mensch ist zugleich ein »biologisches«, organisch verfaßtes, endliches Naturwesen mit für solche Wesen typischen Bedürfnissen und Trieben, beispielsweise dem Selbsterhaltungstrieb. In diesem »zugleich« spiegelt sich die Problematik der »Urkonstellation« des Menschen wider. Der Mensch ist, mit W. Schulz gesprochen, »ein widersprüchliches Wesen. Er hat an der reinen Vernunft, wie sie einem Gott zukommt, ebenso Anteil wie an der reinen Vitalität, durch die die Tiere bestimmt sind. Als animal rationale ist er auf der einen Seite dem Geistigen und auf der anderen Seite dem Leiblichen zugehörig. Dies bedeutet: der Mensch hat in sich selbst ständig den Konflikt von Vernünftigkeit und Triebhaftigkeit auszutragen«.Das im Begriff des »animal rationale« benannte Verhältnis von ßLo~ und Natur und Freiheit, Endlichkeit und Vernunft kann demnach, jedenfalls im Gefolge der europäischen Denktradition, gar nicht anders denn als Spannungsverhältnis aufgefaßt werden. Das animal rationale scheint zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit lO angesiedelt zu sein, zwischen Tier und Engel, wie es traditionell hieß. 1. G. Herder hat die »menschliche« Vernunft in diesem »Zwischenstatus« treffend beschrieben: »Eine Vernunft der Engel kennen wir nicht, so wenig als wir den innern Zustand eines tiefem Geschöpfs unter uns innig einsehn; die Vernunft des Menschen ist menschlich.«11 A.6yo~,
Aber was besagt der Begriff einer »menschlichen Vernunft« genauer? Das spezifisch »Menschliche« an der Vernunft ist sicher kein »Drittes« neben »reiner« Unendlichkeit und »reiner« Endlichkeit, sondern gleichsam der SchnittV gl. Gadamer, ebd. W. Schulz (1989), S. 268. Ähnlich umreißt E. Fink (1969), S. 21, das Grundproblem des »animal rationale«: »Wir sind in eine schon-seiende Natur versetzt, finden uns in ihr vor als Naturgeschöpfe, gehören hinein in die Vegetation, in das Große Wachstum, das alle Lebewesen umfängt. Wir verstehen uns selbst aus dem Umkreis des Lebendigen, fassen uns als >animaianimal rationaleAnimal< im griechischen Sinne (= ~0ov) bedeutet nicht Tier = bestia, sondern jedes >beseelte (= lebende) Wesenunbedingten« Geltung des Vernunftgesetzes par excellence, des Moral- bzw. Sittengesetzes, ist, wie am Beispiel Kants noch zu zeigen sein wird, identisch mit der Anerkennung des »Anspruchs« der Vernunft auf die Willensbestimmung überEbd. Ebd. 35 Ebd. 36 Guzzoni, a. a. 0., S. 67. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 H. Krings (1989), S. 700. Philosophiegeschichtliche Erörterungen zum Begriff der Vernunft, insbesondere des 18. Jahrhunderts, finden sich bei P. Hazard (1949). 40 Zur Unterscheidung und Zusammengehörigkeit der Begriffe »Person« und »Subjekt« vgl. D. Henrich (1982), S. 107 und (1982a), S. 137ff. sowie (1982b), S. 20f. 33
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I. »Animal rationale«
haupt, eines Anspruchs, ohne den von einem Selbstverständnis des Menschen als Vernunftsubjekt bzw. als »Person« nicht die Rede sein könnte. Läßt sich Vernunft in ihrer theoretischen Dimension ebenso wie in ihrer praktischen als Inbegriff einer »allgemeinen« bzw. »allgemeingültigen« Ordnung fassen, so scheint die Endlichkeit des Menschen in der Tat gleichsam der Antagonist der Vernunftordnung zu sein. Die mit der Endlichkeit des menschlichen Daseins verbundenen Bedingtheiten und Begrenzungen physischer, psychischer und geistiger Art erscheinen als etwas Negatives, Privatives in Gegenüberstellung zur »unendlichen«, unbedingten Ordnung der Vernunft. 4l Die Ausrichtung am Wahren, Richtigen, Gültigen und Kohärenten, aber auch am Guten gehört zur Struktur der menschlichen Vernunft, so daß die Oppositionsbegriffe des Unwahren, Falschen, Ungültigen, Unstimmigen und Schlechten bzw. »Bösen« a limine als negativ, weil der Vorstellung des Positiven in ihren genannten Entfaltungsweisen nicht entsprechend, bewertet werden. Faßt man Vernunft als Inbegriff derjenigen Ordnungsstrukturen, die für die Lebensführung des Menschen als »anima I rationale« unabdingbar sind, so ist die Orientierung an der Vernunft keine Depravation des »Vorrationalen«, d. h. der Natur in und außer uns, sondern der Versuch des Menschen, zu einer Selbstbestimmung zu gelangen, die seiner Position als »Doppelwesen« gerecht wird. Welterschließende und Orientierung stiftende Vernunft »produziert« nicht die - unter dem Begriff der Endlichkeit zusammenfaßbaren - Vorgegebenheiten menschlicher Existenz, sondern bestimmt die Position des Menschen als Vernunftsubjekt im Verhältnis zur Endlichkeit. So ist auch die mit der Endlichkeit stets verbundene, bewußte »Erfahrung des Negativen«42 im Sinne des moralischen und des metaphysischen »Übels«43 nur dem Menschen als dem in der Urkonstellation »zwischen« Vernunft und Endlichkeit stehenden Wesen möglich. Die Faktizitäten der Fehlbarkeit, der Schuld und des Bösen, um hier nur einige Formen der Endlichkeit aus praktischer Perspektive zu nennen, bleiben für den Menschen sicher unaufhebbar. Doch sie als Negativitäten zu benennen und, 4\ Im Rahmen einer Schelling-Interpretation faßt W. Schulz (1981), S. 21, das der Ordnung der Vernunft Entgegenstehende als "UnvernünftigkeitPhilebos< 35 c, wo Platon darauf hinweist, »daß die Begierde auf etwas abzielt, was nicht physisch gegenwärtig ist und folglich nicht von körperlichen Sinnen, sondern nur von der Seele erkannt werden kann.« (Hare, a. a. 0., S. 97). In bezug auf die Frage, ob die Seele einheitlich oder trichotomisch »geteilt« ist, legt sich Platon nicht eindeutig fest.
2. Kosmosordnung
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Der Körper (owlla) aber gehört dem x.601l0~ oQaL6~, der sichtbaren Welt der Dinge an und teilt mit diesen, sofern es sich um lebendige Wesen handelt, das Schicksal der Bedürftigkeit l27 und mit allen Dingen das der Zeitlichkeit, Begrenztheit l28 und Vergänglichkeit, kurz: der Endlichkeit. Wie der unbedürftige, göttliche voi}~ bzw. J...6yo~ die Seele gleichsam »von oben her« bestimmt, so bestimmt sie der Körper »von unten her«. Genauer gesagt ist die Seele nichts anderes als der focus, der Ort des Aufeinandertreffens von voi}~ und oWlla. Kann die Doppelnatur des Menschen als eines körperlichen und zugleich vernunftbestimmten Wesens in ihrer Asymmetrie zugunsten der Vernunftbestimmtheit kaum deutlicher beschrieben werden, als es in Platons Lehre von den Seelenteilen geschieht, so wird der Vorrang des AOYLO'tLX.6v vor den beiden anderen Seelenteilen endgültig dokumentiert in Platons Lehre von der Trennung von Leib und Seele beim Tod des Menschen. Schon nach altgriechischer Auffassung sind die Menschen »die Sterblichen« (OL 1'tvTjwL) im Unterschied zu den unsterblichen Göttern. 129 Das Sterbliche wird definiert als das Begrenzte, das Unsterbliche (a1'tavaLo~) als das Unbegrenzte. Das delphische »1'tVTj'tCt >niederen« Motivationen »herrschen« zu lassen, die »Geteiltheit« der Seele. Auffällig ist, daß die späteren Dialoge, vor allem der >PhilebosPoliteia< und der >TimaiosPhaidon< die Version der Einheit der Seele dominierte. 127 Vgl. Z. B. Politeia 369 b 5 - c 11; Protagoras 320 b-323 a. Man kann - mit P. Rica:ur (1971), S.26 - den »{}U[lOC;«, das Gemüt, die »unbeständige und zerbrechliche Funktion schlechthin« nennen und von daher auch Platons »"EQwC;«-Mythos im >Symposion< als Streben der »philosophierenden Seele« aus dem Status der ontischen »Bedürftigkeit und Armut« (Rica:ur, a. a. 0., S. 27) des Menschen (die im »Leid der Beschränkung«, aber auch im moralischen Übel besteht, vgl. ebd.) zum »Guten« hin verstehen, d. h. als Erstreben dessen, was der Mensch in seiner Bedürftigkeit und Begrenztheit selbst weder ist noch besitzt. Ähnlich wie Platon, wenn auch ohne mythische Tönung, spricht Aristoteles von den Lebewesen als stets sich mühenden, angestrengten Wesen (vgl. NE VII, 1154 b 7). 128 Nach Aristoteles (vgl. NE X, 8,1178 b 5ff.) bedarf der Mensch - anders als die vollkommenen und glücklichen Götter - der ethischen Tugenden, um als Mensch unter seinesgleichen zu leben. Die Götter haben - aufgrund ihrer Vollkommenheit (vgl. Met. A, 6, 1074 b) weder Erkenntnis- noch Handlungsprobleme. Es wäre »Iächerlich«, schreibt Aristoteles, ihnen derartige Probleme beizulegen (vgl. NE X, 8,1178 b 1I f.). Dazu J. Passmore (1975), S. 52: »Es wäre vermutlich gleichermaßen absurd, anzunehmen, daß Gott geistige Probleme haben könnte oder daß es etwas gebe, das er entdecken müsse.« 129 Dazu W. Schadewaldt (I 975b), S. 22: »Die Grundbedeutung des Begriffs des >Menschlichen< offenbart sich von seinem Ursprung in der Religion des delphischen Gottes her als das Sterbliche. Das Sterbliche in seinem Abstand, seiner Begrenztheit vor dem unsterblichen Gott, das eben ist das >Menschliche, der im Tode abgeschlossen ist, zielt auf die Befreiung, die »Rückkehr« der Seele zu ihrem eigentlichen, wahren Wesen, der reinen Geistigkeit des x6a~o~ vo'y)'t6~, beginnt aber schon im Hier und Jetzt durch bewußte Loslösung von allem Körperlichen, Endlichen. Die Ausrichtung der Seele auf die ewige Ordnung des Ideenkosmos, verstanden als »Umwendung« bzw. »Aufschwung«'43 von der Begrenztheit zeitlich-vergänglichen Daseins zur Unbegrenztheit des Göttlichen, ist nur möglich durch Ausbildung ethischer Tugenden. Diese aber werden, wie K. Düsing herausgearbeitet hat, »von Platon nämlich ohne unterscheidende Abgrenzung der Ethik von einer theoretischen Wissenschaft des Seienden, der später so genannten Metaphysik, als Ideen von ontologischer Bedeutung konzipiert .... «144 Befreit sich der Mensch durch Ausbildung der »ideenbaften« Tugenden, d. h. durch Gewinnung eines sittlichen Habitus (cpQ6V'Y)0l~) aus dem die Seele tendenziell verderbenden Einfluß des Leiblich-Vergänglichen, so nimmt er im Leben wissentlich-willentlich das im Tode geschehende Ereignis der endgültigen Läuterung der Seele gleichsam vorweg und erfüllt auf diese Weise ethisch seine ontologische Bestimmung. Das Verständnis von Philosophie als »Sterben lernen«l45 bzw. »Bedachtsein auf den Tod«'46 (~EA.E't'Y) 'tOU 1tUV(l'tOU) erweist sich Platon, Phaidon 66 b - d (Übers. F. Schleiennacher). kann - mit R. Spaemann/R. Löw (1981), S. 43 - die Läuterung der Seele als »Aufhebung der Entfremdung des Endlichen von seinem Grund« verstehen. 141 P. Aubenque (1978), S. 50, verweist auf die frühgriechischen Wurzeln dieses Gedankens: »Das griechische Sollen ist kein kategorischer Imperativ, sondern der Imperativ des Könnens, und das Können ist selbst das Offenbarwerden des Seins. Das Axiologische wird also stets vom Ontologischen abgeleitet. Altgriechisch ausgedrückt: der richtige Nomos ist deIjenige, der in der Physis gründet.« 142 Vgl. Platon, Politeia 501 b 1- c2; Nomoi 716b8 - d I. 143 rrEglaY{J)Y~ (vgl. Platon, Politeia, 7, 518 d) bzw. EnuvoÖo Dvn c'iga ... , olog{hiiunmöglich« ist, »etwas von Gott und den Geschöpfen in völlig gleichem Sinne auszusagen« (ebd.), die aber die Aussage zuläßt, daß das Seiende als Geschaffenes Gott als dem esse subsistens in der Hinsicht ähnlich ist, daß es »ist«, d. h. am »Sein« Gottes teilhat, so daß das Geschöpf Gott zugleich ähnlich und nicht ähnlich ist. Die similitudo zwischen Sein und Seiendem bewahrt demnach im Partizipationsgedanken die unendliche Differenz zwischen Schöpfer und Schöpfung, ohne eine völlige Beziehungslosigkeit zwischen beiden annehmen zu müssen. 186 Dazu W. Marx (1986), S. 57: »Für die Griechen lag darin, daß sie den Kosmos als vom Logos geordnet dachten, zugleich, daß er notwendigerweise die Gestalt einer Einheit oder Ganzheit hatte; umgekehrt lag in diesem Gedanken der Einheit oder Ganzheit der Welt derjenige einer Ordnung ... Für die christliche Spätantike und für das Mittelalter war die Welt, der Mundus, vom göttlichen Gesetz geordnet ... «. 187 Vgl. W. Kluxen (1972), S. 216: Von »Gottes unausdenkbare(r) Selbstrnitteilung« können »wir überhaupt nur reden ... , weil sie schon in Gnade und Offenbarung erfolgt ist.« Insofern kann Gott nicht nur »esse subsistens« sein, sondern muß darüber hinaus als Person i.S. eines intentional konstituierten Wesens begriffen werden. Denn »praktische« Begriffe wie z. 8. »Gnade« sind aus der »theoretischen« Bestimmung der Subsistenz Gottes allein nicht herleitbar. 188 1. Passmore (1975), S. 87, benennt die wichtigsten Inhalte dieses - primär für das Alte Testament geltenden - Glaubens. Es ist der »Glaube an einen persönlichen Gott, der die Welt durch einen Akt seines Willens erschafft, völlig verschieden von ihr ist und in ihr seine Gnade ausübt.« 189 Die »Mitteilung« oder »Selbstmitteilung« Gottes ist nicht oder nicht nur als »Emanation« des »Einen« i. S. Plotins zu verstehen, sondern ist auch ein »praktischer«, verstehende Personen voraussetzender Begriff. 190 F. Kambartel (1986), S. 242, bezeichnet diesen schöpfungstheologischen Versuch, das Geglaubte mit Mitteln der Vernunft einsehen zu wollen, als »das aussichtslose Interesse ... , erklärend (wenn auch gewissermaßen )pragmatisch< erklärend) hinter das )Faktum< der Welt zu gelangen.«
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I. »Animal rationale«
nung« erst verständlich, wenn in Ergänzung zur Idee der Schöpfung selbst zwei - miteinander eng verwandte - weitere Grundgedanken des Christentums angesprochen sind: einmal das gedankliche Gerüst der Schöpfungsordnung, das theologische Schema der Heilsgeschichte, und zum zweiten die Ablösung des zyklischen Weltmodells durch die lineare Zeitvorstellung. Wir skizzieren zunächst letztere und wenden uns anschließend der für das Selbstverständnis des Menschen im Rahmen der »Schöpfungsordnung« fundamentalen Idee der Heilsgeschichte zu. Der aus der Idee der Schöpfung folgende, nächstliegende Gedanke, daß geschaffene Wesen als solche einen zeitlichen Anfang (und ein zeitliches Ende) haben müssen, wenn denn die Nichtidentität von Schöpfer und Schöpfung aufrechterhalten werden soll, stellt das Fundament der dem Christentum eigenen linearen Zeitvorstellung dar. 191 Bei Augustinus heißt es, es gebe »kein Geschöpf«, das, wie Gott, der »vor allen Zeiten der ewige Schöpfer aller Zeiten«192 ist, »vor alle Zeit hinausreicht.«193 Es gelte einzusehen, »daß keine Zeit sein kann ohne Schöpfung .... «194 Die Idee einer creatio überhaupt ist zwar nicht die einzige Idee, die das Frühchristentum zur Überwindung des zyklischen Weltmodells der Antike auf die Vorstellung einer linear verlaufenden Zeit führte 195, wohl aber die primäre, da es noch keiner Differenzierung der Geschöpfe, d. h. auch noch nicht der Erschaffung des Menschen bedarf, um einzusehen, daß Kreaturen als solche einen Anfang in der Zeit haben müssen. Generell dient die Vorstellung der Linearität der Zeit im Judentum und Frühchristentum dazu, die Welt als eine Bewegung, einen Ablauf, ein »Geschehen«, einen - zudem noch einmaligen, irreversiblen und zielgerichteten - zeitlichen Prozeß aufzufassen. 196 Einen - wiederum nicht den einzigen - Hintergrund dafür, die kosmische, zyklische Weltzeit durch eine »Geschichtszeit« zu ersetzen, bildet das christliche Theorem der »creatio continua«, der fortwährenden Neuschaffung und dadurch gesicherten Erhaltung alles Daseins durch Gott. 191 In Gen. 1 ist von einer Erschaffung der Zeit nicht explizit die Rede. Nach Gen. 1, 14 - 18, läßt sich jedoch indirekt auf die Erschaffung der Zeit schließen, wenn es heißt, daß Gott die Gestirne (»Lichter an der Feste des Himmels«) geschaffen habe, die »als Zeichen dienen und zur Bestimmung von Zeiten, Tagen und Jahren«. (Gen. 1,14, Z). Der Zusammenhang von Astronomie und »objektiver« Zeit ist also in der >Genesis< angesprochen. 192 ».. . ante omnia tempora aeternum creatorem omnium temporum ... « (Conf. XI, 30). 193 Ebd. 194 Ebd. (»Videant itaque nullum tempus esse posse sine creatura ... «). Zu Augustinus' Zeit- und Geschichtsvorstellung insgesamt vgl. L. Honnefelder (1986). 195 Dazu H. Plessner (1985), S. 233: »Aber die Lehre von der Erschaffung der Welt aus dem Nichts setzt einen absoluten Anfang und damit dem Bilde vom Weltkreis ein Ende. Das große Jahr macht einer linearen Chronologie Platz, die, göttlichem Vorhaben entsprungen, das Gerüst für eine Geschichte bildet.« 196 Oder umgekehrt: Die Auffassung der Welt als »Ablauf«, »Geschehen« oder »Prozeß« erfordert die Vorstellung der Linearität der Zeit.
3. Schöpfungsordnung
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Nach diesem Theorem hat Gott die Welt zwar aus dem Nichts erschaffen, aber er erhält alles Geschaffene zudem durch permanente Neuschöpfungen im Sein, um den Rückfall seiner Geschöpfe ins Nichts zu verhindern. Die Vorstellung der »creatio continua«, wie die Erstschöpfung ebenfalls ein Gnadenakt Gottes, läßt die »Geschichte« der Geschöpfe als Geschichte der Erhaltung ihrer Existenz, und das heißt, vorwegnehmend gesprochen, als »Heilsgeschichte« erscheinen. Die Gnade des »Heils« i. S. der Unversehrtheit des Daseins und des Wesens der Geschöpfe kann nur von Gott als dem Schöpfer gespendet, d. h. zugesagt und gewährleistet werden. Der erste, fundamentale Schritt zur Einlösung dieser Zusage ist, abgesehen von der Anfangsschöpfung, die »creatio continua«. Jede Kontinuität 197 von etwas oder jemandem aber setzt die linear verlaufende Zeit voraus. Auch um Gottes fortwährendes (Neu-) Schaffen denken zu können, mußte also die Linearität der Zeit angenommen werden. Sowohl die Schöpfung der Welt als auch die Erhaltung aller Kreaturen in ihrem Sein lassen sich demnach zwar der in einem weiten Sinne aufgefaßten »Heilsgeschichte« zurechnen, doch der Voll sinn dieses Begriffs ist damit noch nicht erreicht. Die Heilsgeschichte, deren Stufen bzw. Epochen wir sogleich nennen und in der Folge skizzieren wollen, setzt, wie schon der Schöpfungsakt, wiederum einen Begriff von Gott als einem personalen, intentional verfaßten Wesen voraus. Denn die »Geschichte« der Welt, d. h. der Schöpfung, geschieht gemäß dem Plan Gottes. Die Weltgeschichte ist die Heilsgeschichte. Oder anders - mit M. Gatzemeier 198 - formuliert: »Der Kosmos hat einen Anfang und ein Ende und ist einzigartig, weil Gott ihn nur einmal geschaffen hat und in ihm seine einmalige Heilsgeschichte verwirklichen will.« Es ist eine exegetische Frage, ob man die »Welt« bloß gleichsam als Forum rur die Verwirklichung des Heilsplanes Gottes oder selber schon als erste Stufe der umfassenden Heilsgeschichte ansetzen will. Vieles spricht rur letzteres, so auch das auf frühchristliches Gedankengut zurückgehende und im Kern rur den christlichen Glauben bis heute verbindliche Schema der Heilsgeschichte. Diesem gemäß läßt sich die Heilsgeschichte in fünf Stufen einteilen: 1. Weltschöpfung, 2. Sündenfall, 3. Menschwerdung Gottes, 4. Gericht und 5. Erlösung. Unterlegt man hier die lineare Zeitskala, so bezeichnet die Weltschöpfung den Anfang (»Urzeit«), die Menschwerdung Gottes die Mitte und die Erlösung bzw. die Parusie das Ende (»Endzeit«) der Heilsgeschichte, d. h. aber: das Ende der bzw. »dieser« Welt. Nach diesem schöpfungstheologischen Grundschema ist die Weltschöpfung also die Initialstufe der Heilsgeschichte. Was in diesem Akt geschaffen wird, ist aber doch die »Welt«, das Ganze selber, so daß es strenggenommen keinen Sinn ergibt, die geschaffene Welt bloß als den Ort der 197 Umfassende Analysen zur Idee der Kontinuität, auch und insbesondere in der »Geschichte«, hat H. M. Baumgartner (1972) vorgelegt. 198 M. Gatzemeier (1976), S. 1172.
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I. »Animal rationale«
Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes anzusehen. I •• Allenfalls könnte man sagen, die Abfolge der fünf »Stufen« sei, als» Weltgeschichte«, der historisierte und das heißt einschlußweise: der temporalisierte Kosmos selbst. Wie dem auch sei: die Weltgeschichte zielt, versteht man sie als Verwirklichung des Heilsplanes Gottes, von vornherein auf die Erlösung der Kreaturen. 2OO Wovon aber sollen diese erlöst werden? Wenn vorläufig von der Gesamtheit der Kreaturen und noch nicht nur vom Menschen die Rede ist, kann die Antwort auf der Basis bloß der 1. Stufe der Heilsgeschichte nur lauten: von ihrer Kreatürlichkeit selbst, und das heißt vor allem: von der Zeitlichkeit bzw. Endlichkeit ihrer Existenz. Obwohl dieser Gedanke aufgrund der notwendigen Zeitlichkeit aller Kreaturen einleuchtet, darf er im Rahmen christlich-schöpfungstheologischen Denkens nicht dahingehend überzogen werden, daß die Heilsgeschichte auch die »Erlösung« unserer Mitgeschöpfe, vor allem der Tiere, von den Beschränkungen der Endlichkeit ihres Daseins mit einschlösse. Den Tieren wird bekanntlich sowohl in der Bibel als auch bei den meisten Kirchenvätern und Interpreten der Heiligen Schrift keine so prominente Position eingeräumt, wie der die Erschaffung aller Kreaturen voraussetzende Gedanke von »Heil« und »Erlösung« der Kreaturen nahelegen könnte. Es fehlt den Tieren nach christlichem Verständnis jene Qualität, die schon die griechisch-römische Antike »Seele« (1j!ux~, anima), oder spezieller: »Geistseele«201 nannte und die dem Menschen vorbehalten bleibt. Die antike Idee eines »höheren« Seelenteils findet ihre Parallele in der christlichen Lehre von der »Ebenbildlichkeit« des Menschen zu Gott. Die Imago-Dei-Lehre ist, in engem Zusammenhang mit dem Begriff des »Intellekts« des Menschen, unabdingbare Voraussetzung für das Verstehen der 2. Stufe der Heilsgeschichte, des »Sündenfalles«. Sie sei deshalb kurz skizziert: Das biblische Zeugnis für die Lehre von der Ebenbildlichkeit des Menschen zum Schöpfergott findet sich in Gen. 1,26 und 27: »Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen nach unserm Bilde, uns ähnlich (xa{t' O!lOlWOlV) ... «202 bzw. »Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn ... «203. Abgesehen von durchaus möglichen Exegesen, nach denen
199 Diese Auffassung vertritt K. Löwith (1990), S. 139, in seiner Augustinuskritik, wenn er schreibt: »Innerhalb des theologischen Schemas von übergeschichtlicher Schöpfung, Sündenfall, Menschwerdung Gottes, Gericht und Erlösung ist die Weltgeschichte als solche ohne einen ihr eigenen Sinn, und nur innerhalb des Heilsplans der Schöpfung tritt das profane Geschehen überhaupt in den Gesichtskreis von Augustin.« 200 Dazu G. von Natzmer (1980), S. 83: »Dort ... , wo Zeit und Geschichte als einmaliger Ablauf aufgefaßt werden, ist der Weltprozeß ursprünglich schon auf Erlösung angelegt.« 201 Zur Übernahme und Interpretation des aristotelischen Begriffs der Geistseele durch Thomas von Aquin vgl. De ente et essentia, 4. und 5. Kapitel. 202 Gen. 1,26 (Z). 203 Gen. 1,27 (Z).
3. Schöpfungsordnung
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hiermit gemeint sei, daß der Mensch in Entsprechung zur Güte Gottes gut sein 204 oder - als Krone der Schöpfung205 - ebenso wie die gesamte Schöpfung von Gottes Herrlichkeit zeugen solle, besteht der Sinn der Imago-Dei-Lehre wohl vornehmlich darin, daß der Mensch als Vernunftwesen, oder, augustinisch gesprochen, als geistige Einzelseele (Person) Gott »ähnlich«, ihm als dem Schöpfer verantwortlich und deshalb von ewigem, »absolutem« Wert ist. Bei Thomas heißt es: »Nur das vernunftbegabte Geschöpf ist fähig, Gott zu fassen; denn es allein kann ihn explizite erkennen und lieben .... «206 Und ferner: » ... nur in der vernunftbegabten Kreatur findet sich die Gottesähnlichkeit im Modus des Bildes ... «207. In gewisser Weise sind alle Geschöpfe Gott ähnlich, aber »Ebenbild« Gottes ist nach christlichem Verständnis allein der Mensch als Vernunftwesen. Nur er kann Gott »fassen«, Gottes Wesen selbst schauen. 208 Die Begabung der Kreatur Mensch mit dem »intellectus« ist selbst ein Gnadenakt Gottes. 209 Die unermeßliche Gnade, die dem Menschen auf diese Weise zuteil wird, läßt sich in ihrem Ausmaß erst erahnen, wenn man bedenkt, daß der Mensch durch den ihm verliehenen »intellectus« - freilich nicht oder weniger durch die »ratio« - am Sein des ewigen, überzeitlichen Gottes partizipiert. 2lO 1. B. Lotz hat diesen thomanischen Gedanken zusammengefaßt: »Folglich bleibt die ratio von der Zeit geprägt, während der intellectus auf die dem Menschen mögliche Weise die Zeit überwindet oder zu einem wenigstens geringen Anteil der Ewigkeit gelangt und sich darin entfaltet. Hieraus ergibt sich schließlich: weil der intellectus an den Rand der Ewigkeit rührt, ist er dem Überzeitlichen und Ewigen zugewandt; weil hingegen die ratio an die Zeit gebunden ist, richtet 204 Vgl. z. B. Thomas von Aquin, Ver., q. 22, a.2 ad 2: »ipsum esse creatum est similitudo divinae bonitatis ... « (»Da das geschaffene Sein selbst ein Bild der göttlichen Güte ist .. .«). 205 Ps. 8,6f.: »Du machtest ihn wenig geringer als Engel, mit Ehre und Hoheit kröntest du ihn. Du setztest ihn zum Herrscher über das Werk deiner Hände ... « (Z). Vgl. Thomas von Aquin, S.c.g. III, 22: »Der Mensch ist der Zweck der ganzen Schöpfung«. (»homo est finis totius generationis«). 206 Thomas von Aquin, Ver., q. 22, a.2 ad 5 (Übers. E. Stein). 207 Thomas von Aquin, S.th. I, 93,6: » ... in sola creatura rationali invenitur similitudo Dei per modum imaginis ... «. 208 Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 1-11, 3,8. Daß der Intellekt des Menschen Gottes Wesen erfassen kann, bedeutet für Thomas, abgekürzt gesprochen, daß er am intellectus divinus gleichsam indirekt, d. h. vermittelt über das Erkennen der Schöpfungsordnung bzw. der Ordnung des geschaffenen Seienden, teilhat. Vernunft reproduziert so ideell die gottgeschaffene Seinsordnung und damit die lex Dei (vgl. S.th. 1-11, 91,2 und 91,6). Über die interne Differenzierung zwischen »lex aeterna«, »lex naturae«, »lex humana« und »lex divina« bei Thomas informiert H. Reiner (1963), bes. S. 246. 209 Vgl. Thomas von Aquin, S.th. I, 12,5. 210 Noch bei 1. G. Herder (1784), S. 79f., ist etwas von der Erhabenheit dieses Gedankens zu spüren, wenn er schreibt: »Das Wesen, das alles schuf, hat wirklich einen Strahl seines Lichts, einen Abdruck der ihm eigensten Kräfte in unsre schwache Organisation gelegt, und so niedrig der Mensch ist, kann er zu sich sagen: )Ich habe etwas mit Gott gemein; ich besitze Fähigkeiten, die der Erhabenste, den ich in seinen Werken kenne, auch haben muß; denn er hat sie rings um mich offenbaret. ( Augenscheinlich war diese Ähnlichkeit mit ihm selbst die Summe aller seiner Erdeschöpfung.«
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1. »Animal rationale«
sie sich auf das Zeitliche oder Welthafte als das ihr entsprechende Gegenstandsfeld. Da ferner die ratio ganz vom intellectus lebt, gründet das Urteilen über das Zeitliche im Ergreifen des Ewigen.«2ll Der intellectus »vernimmt« also, ähnlich dem griechischen voü~, die Wahrheit des überzeitlichen, immerwährenden Seins, nun allerdings nicht des Kosmos, sondern Gottes. Als animal rationale partizipiert der Mensch am Plan Gottes zur Schaffung und Erhaltung der Welt (lex aeterna). Die Vernunftnatur des Menschen entspricht also der lex aeterna, d. h. diese ist für den Menschen als Vernunftwesen lex naturalis. 212 Ist nach alledem die Vernunft des Menschen der Grund für dessen Gottebenbildlichkeit, so besagt dies, daß die gottähnliche Vernunft die Schöpfungsordnung gleichsam widerspiegelt. Doch »die vernünftige oder geistige Seele« kann, so schon Augustinus, »sich nicht selbst Licht sein«, sondern leuchtet »nur durch Teilhaben an einem anderen, dem wahren Lichte ... «213. Der Mensch ist zwar Geschöpf und Ebenbild Gottes, aber er ist nicht selber Gott, sondern - kraft seiner Vernunft - nur »gottähnlich«. Er hat jedoch - ob vom Schöpfer gewollt, ist eine sehr delikate Frage - noch eine andere, scheinbar gänzlich »ungöttliche« Komponente, über die die Bibel in der >Genesis( im Zusammenhang mit der 2. Stufe der »Heilsgeschichte«, dem »Sündenfall«, berichtet: die Fähigkeit zum »Bösen«. Um dies zu verstehen, muß jedoch über die Imago-Dei-Lehre hinaus ein zwar mit der »Vernunft« zusammenhängendes, doch eher »praktisches« Vermögen des Menschen angesprochen werden: seine (endliche) Freiheit. Als Ebenbild Gottes ist der Mensch, ebenso wie Gott, in seinen Entscheidungen »frei«, allerdings, anders als Gott, nur partiell, nur in einem eingeschränkten Sinne. Er ist, wie Gott, »Person«, d. h. ein vernünftiges, intentional verfaßtes Wesen. Seine Handlungen gehen auf Absichten zurück, d. h. ihm muß ein Vermögen, etwas zu bewirken, zugesprochen werden. Dieses Vermögen ist 211 J. 8. Lotz (1967), S. 86. Zu dieser Unterscheidung zwischen »ratio« und »intellectus« bei Thomas vgl. S.th. 79,9; ferner S.th. 79,8: »Ratiocinari comparatur ad intelligere sicut moveri ad quiescere, vel adquirere ad habere: quorum unum est perfeeti, aliud autem imperfecti.« (»Die Ratio verhält sich zum Intellekt wie die Bewegung zur Ruhe oder der Erwerb zum Besitz: die eine ist vollkommen, die andere unvollkommen.« Übers. J. C. Cruz). Der intellectus ist, allgemein gesprochen, das Vermögen der ruhigen Schau der ewigen, göttlichen Wahrheit, während die ratio das diskursive, die Vorstellungen »durchlaufende«, bewegte Verstandesvermögen ist: »Intellectus cognoscit simplici intuitu. ratio vero discurrendo de uno ad aliud« (S.th. I, 59, I ad I). Augustinus differenziert auf ähnliche Weise zwischen »ratio superior«, die sich auf die höchsten Ideen, auf zeitlose Objekte bezieht, und »ratio inferior«, die sich auf sinnlich Erfahrbares, d. h. zeitliche Objekte bezieht. Vgl. z.B. De Trinitate XII, 3,4,7,8. Dazu J. C. Cruz (1980), bes. S. 26ff. 212 Dazu W. Kluxen (1972), S. 189: »Thomas sieht in der Vernunft ein >Naturverlangen< (desiderium naturale) wirksam, das über alle Begrenzung des menschlichen Denkens hinausdrängt und erst dort zur Ruhe kommt, wo es den höchsten, sein Vermögen ausfüllenden Gegenstand wahrhaft >schaut>unendlich«, wie bei Gott, sondern begrenzt, »endlich«. Menschen sind, m.a.W., nicht »absolut« frei in der Wahl ihrer Entscheidungen, sondern sie sind an bestimmte, ihre Wahlmöglichkeiten einschränkende Bedingungen gebunden, beispielsweise an ihren beschränkten Verstand (ratio) und ihren Leib. Die »Freiheit« ihres Willens ist aber dennoch in dem Sinne »negative« Freiheit, daß die Menschen nicht vollends durch ihre »animalitas« detenniniert sind, sondern über eine gewisse Spontaneität verfügen 21S , d. h. fahig sind, etwas, z. B. einen Sachverhalt oder einen Zustand, »von selbst« anfangen zu lassen. Kurz: die Freiheit des Menschen ist nicht »absolut«, sondern begrenzt, »endlich«, aber sie ist nicht nichts, ist keine Illusion. Daß der Mensch überhaupt das Vennögen der Willensfreiheit besitzt, ist letztlich - vennittelt über den Gedanken der »Ähnlichkeit« zwischen Gott und dem Menschen hinsichtlich ihres Personseins - in der Schöpfungsordnung, d. h. in der lex Dei, vorgesehen. Die Freiheit des menschlichen Willens ist also nach christlicher Auffassung gottgewollt. Augustinus etwa weist »die Ordnung der Ursachen und ihre Verknüpfung dem Willen und der Macht des höchsten Gottes« zu, »von dem man mit Fug und Recht und wahrheitsgemäß glaubt, daß er alles vorherweiß und nichts ungeordnet läßt, und von dem alles Vennögen herrührt, wenn auch nicht das Wollen aller.«216 Das arbitrium liberum ist dasjenige Geschenk des Schöpfers an den Menschen als sein vernunftbegabtes Geschöpf, durch das dieses die gute Schöpfungsordnung und damit Gott selbst als deren Ursprung bejahen kann. Die freie Anerkennung der Größe und Herrlichkeit Gottes ist die höchste Möglichkeit, zu der sich der freie Wille zu entscheiden vermag. In diesem Falle winkt dem
214 Dem entspricht grosso modo dasjenige »Vermögen«, das später, bei Kant, »Willkürfreiheit« genannt wird. 215 Augustinus drückt dies so aus: » ... daß ich so sicher um meinen freien Willen wußte, wie daß ich lebte. Wenn ich infolgedessen etwas wollte oder es nicht wollte, so war es unumstößlich mir gewiß, daß nicht ein anderer als ich es wollte oder es nicht wollte ... « (Conf. VII, 3). Man mag in diesem Zitat übrigens so etwas wie eine frühe, allerdings praktisch-voluntative Vorstufe zu Descartes' Selbstvergewisserung im )Ego cogito, ego existo( sehen. 216 Augustinus, De civ. Dei V, 8. Die Einschränkung »wenn auch nicht das Wollen aller« bestätigt indirekt, daß das gottgegebene Vermögen des freien Willens als solches das tatsächliche Wollen jedes konkreten Menschen inhaltlich nicht festlegt. Denn anderenfalls wäre der Wille nicht »frei«, dieses oder jenes zu wollen.
I. »Animal rationale«
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Menschen die Nähe zu Gott, d. h. die »Seligkeit«.217 Doch der Mensch kann sich kraft seines freien Willens auch ausschließlich oder primär auf sich selbst beziehen, »in sich selbst zurückgebogen, zurückgekrümmt sein« (incurvatum esse in se ipsum). Er kann, m.a.W., sich selbst gleichsam zum Zentrum der Welt aufwerfen, Herr seiner selbst bzw. durch sich selbst (dominus sui ipsius) sein wollen, d. h. die Egoität und Selbstliebe zur obersten Maxime seines Handeins erheben. 218 In diesem Falle mißbraucht der Mensch seinen freien Willen dazu, sich selbst zum Schöpfer hochzuspielen, wodurch die göttliche Schöpfungsordnung »verkehrt«, pervertiert wird. Augustinus nennt diese Haltung eine »verkehrte Imitation Gottes«219. Der seine Kreatürlichkeit ignorierende, sich Gott selbstisch widersetzende Mensch mißbraucht seine Willensfreiheit220 zur »Verkehrung« der Schöpfungsordnung. Dieser Mißbrauch kommt dem »Abfall« von Gott als »dem, das zuhöchst ist«, gleich, d.h dem Bösen. 221 Das Böse, der gewollte Abfall von der lex Dei, ist, wie Augustinus unmißverständlich formuliert, »freiwillig«, d. h. dem arbitrium liberum zuzurechnen. 222 Die Abweichung, der Abfall von Gott, »jene altkirchliche )Depravationshypothese< «223, ist die »Sünde« (peccatum, vitium) überhaupt bzw. bildet die Grundlage für alle möglichen menschlichen Sünden. 224 Daß es »Sünde« nach alledem nur im Rahmen der »Schöpfungsordnung«, näherhin durch die Freiheit des menschlichen Willens, geben kann, erhellt auch aus dem Mythos vom »Sündenfall« (Gen. 2,16 und Gen. 3), der die 2. Stufe der »Heilsgeschichte« bildet. Das Verbot, von dem »mitten im Garten«225 Eden
Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 1-11,5,3 ad I. J. Passmore (1975), S. 96, erinnert daran, daß das zentrale Thema der >Theologia GermanicaEigentum< halte - die Wurzel alles Bösen ist.« Luther, so Passmore, war »zutiefst durch die >Theologia Germanica< beeinflußt .... « 219 »Perverse te imitantur ornnes, qui longe se a te faciunt et extollunt se adversum te.« (»In Verkehrtheit wollen alle dir es gleichtun, die sich von dir fortmachen und sich erheben wider dich.«) (Conf. II, 6). 220 Augustinus, De civ. Dei XII,22, spricht von einer hochmütigen und ungehorsamen Beleidigung Gottes unter Mißbrauch des freien Willens. 221 Augustinus, De civ. Dei XII,7: »Denn abfallen von dem, das zuhöchst ist, zu dem, was geringer ist, ist der Anfang des bösen Willens.« 222 Augustinus (De civ. Dei XII,8) sagt, daß dasjenige »abfallen kann, was aus nichts geschaffen ist.« »Desgleichen weiß ich, daß böser Wille nicht entstehen würde, wenn das Wesen, in welchem er entsteht, es nicht wollte, daß also der Abfall nicht notwendig, sondern freiwillig ist .... « 223 8. Bavink (1947), S. 43. 224 Die endliche (Willens-)Freiheit bildet auch nach Thomas von Aquin die Voraussetzung für die Möglichkeit zu sündigen, d. h. im moralischen Sinne »Böses« zu tun. Für Paulus besteht die Sünde letztlich darin, daß sich das Geschöpf Mensch gegenüber der göttlichen Ordnung als dem unbedingt Guten verschließt, was es vor allem dann tut, wenn es ein endliches Willensobjekt, gleichsam ein Objekt seiner Begierde (concupiscentia), absolutsetzt. Vgl. dazu Röm. 1,22f. 225 Gen. 3,3. 217 218
3. Schöpfungsordnung
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stehenden »Baume der Erkenntnis des Guten und des Bösen«226 zu essen, kann sich, als Verbot, nur an die Menschen als solche Wesen richten, die die Möglichkeit besitzen, das von Gott ausgesprochene Verbot zu mißachten. Diese Möglichkeit ist keine andere als die der Willensfreiheit im oben genannten Sinne bzw. die Fähigkeit zu ihrem »Mißbrauch«. Eine gewisse exegetische Schwierigkeit besteht darin, daß der Mißbrauch des freien Willens einerseits schon selbst als »böse« zu qualifizieren war, andererseits erst die Mißachtung des Verbots, vom »Baume der Erkenntnis« zu essen, zum Wissen um die Differenz von »gut« und »böse« führen soll. Die Schlange 227 , der Inbegriff der Versuchung zur Übertretung oberster göttlicher Gebote, sagt zu den Menschen: »Gott weiß, daß, sobald ihr davon esset, euch die Augen aufgehen werden und ihr wie Gott sein und wissen werdet, was gut und böse ist.«228 Die Menschen, die über die Möglichkeit der Entscheidung verfügen, von besagtem Baume zu essen oder nicht zu essen, wählen im Aktus der Entscheidung, von dem Baume zu essen, sicher nicht »das Böse«, schon weil sie gar nicht wissen, was sie tun. Es ist allein - so wird man interpretieren müssen - die Mißachtung des vom Schöpfer ausgesprochenen Verbotes (dessen Sinn die Menschen, anders als die »Schlange«, im Stande ihrer paradiesischen Unschuld noch gar nicht verstehen konnten), durch die die Entscheidung, vom Baume zu essen, zu einer »bösen« wird. Denn Gottes eigene - im Verbot manifestierte - Schöpfungsordnung wird so durch den »selbstischen« Willen pervertiert. Die Menschen, oder, nach dem Text der >GenesisWiederkunft(255) Christi. Diese in unmittelbarer Nähe erwartete Ankunft Christi 249 Die Detailschilderungen des» Weltgerichts« finden sich in Matth. 25,31-46, die Zentrierung auf den »Tag« des Gerichts in Röm. 2,16. 250 Offb. 20,15 (Z). 251 Ebd. 252 Joh. 3,17 (Z). 253 Joh. 3,19 (Z). 254 Joh. 3,18 (Z). 255 Die »Ankunft« (Jtago1Jola, adventus) Christi konnte deshalb als »Wiederkunft« oder, je nachdem, ob man, abgesehen von der Inkarnation selbst, die »Epiphanie« (vgl. Luk. 24,34 und 36-48) mitzählen wollte, als »zweite Wiederkunft« bezeichnet werden. Zudem hat der »Chiliasmus«, d. h. die sich auf die Erwartung einer »tausendjährigen«, friedvollen Zeitspanne zwischen der Wiederkunft Christi und dem endgültigen »Heil« beziehende Stelle in Offb. 20,4, zur Bildung der Bezeichnung »zweite Wiederkunft Christi« und damit zur Verwirrung bei der Zählung der »Wiederkünfte« beigetragen. Auch wie sich, so M. Reiser (1989), S. 159, in den »Ablauf der Endereignisse ... das Gericht einordnet und ob der Gerichtstag ... mit dem >Tag des Herrn< zusammenfallt, wird nicht ganz klar.« Für das Verstehen der »Heilsgeschichte« insgesamt sind jedoch sowohl der »Chiliasmus« wie die genannten terminologischen Unklarheiten bezüglich der »Parusie« von untergeordneter Bedeutung.
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1. »Animal rationale«
als universales Ereignis war ein selbstverständliches Stück der urchristlichen Hoffnung.«256 In der Parusie und der mit ihr verbundenen »Erlösung« vollendet sich die »Heilsgeschichte«. Die Ankunft Christi symbolisiert die rettende Tat Gottes am Ende der Geschichte: »Jetzt ist das Heil und die Kraft und die Herrschaft unsrem Gott und die Macht seinem Gesalbten zuteil geworden ... «257. Unter dem »neuen Himmel«, auf der »neuen Erde«258 wird Gott bei den Menschen »wohnen«259, d. h. die Übel, die auf so nachhaltige Weise die Geschichte der Menschheit bestimmt haben, werden nicht mehr existieren. In der Eschatologie, der biblisch bezeugten Lehre von den »letzten Dingen«, erweist sich nach christlichem Verständnis die »Weltgeschichte« endgültig als das, was sie von Anbeginn und einschließlich aller ihrer »Stufen« war: als Heils-Geschichte. Vor dem Hintergrund dieser spirituellen »Geschichte« der Welt und der Menschen, einer Geschichte, die durch und durch eschatologisch bestimmt ist, läßt sich die oben angesprochene Ablösung des zyklischen Weltmodells der Antike durch die lineare Zeitvorstellung des Christentums nunmehr als allgemeiner gestellte Frage nach der Vereinbarkeit von »Kreis und Kreuz«26o stellen. Nach K. Löwith sind die beiden Vorstellungen unvereinbar: »Einmalige Schöpfung der Welt aus dem Nichts und Ewigkeit der Weltbewegung, eschaton und Wiederkehr des Gleichen, Kreis und Kreuz, sie sind in der Tat so unvereinbar wie die antike Bereitschaft zum Schicksal ... mit der christlichen Pflicht zu hoffen im Glauben an den Erlösertod Christi.«26l In der christlichen Eschatologie wird die Zukunft zur entscheidenden Dimension für die Geschichte, indem sie »als der Horizont einer letzten Erfüllung«262 betrachtet wird, wodurch der Kosmos zur »Welt um des Menschen willen«263 mutiert. Denn Heil und Erlösung sind »auf ein besonderes Geschöpf, das einzige Ebenbild Gottes, den Menschen«264, geschlüsselt. Ist, anders als beim physischen Kosmos der Antike, »die ganze Welt eine persönliche aber vergängliche Schöpfung, dann eröffnet sich, auf dem Weg über den biblischen Gott, ein anthropologischer Weltbegriff, der auch die Grundlage unseres geschichtlichen ist. Das Heilsgeschehen wird zur Weltgeschichte. Die Welt wird aus der von Gott gewollten Schöpfung zu einer Welt M. Reiser (1989), S. 159f. Oftb. 12, I 0 (Z). 258 Vgl. Oftb. 21,l. 259 Vgl. Oftb. 21,3. 260 K. Löwith (1990), S. 137. 261 Löwith, ebd. 262 Löwith, a.a.O., S. 136. Ähnlich schreibt W. Kamlah (1957), S. 314: »Daß die Zeit nicht allein abläuft im Umlauf der Gestirne, daß sie überhaupt nicht beständig im Kreise läuft, sondern als die Zeit des Menschengeschlechts unwiederholbar auf eine entscheidende Zukunft zuläuft, ist ein Leitgedanke jüdisch-christlicher Tradition. Zu dieser Tradition gehört Eschatologie, das Denken der Zukunft als der alles entscheidenden Endzeit.« 263 K. Löwith (1985), S. 280. 264 Löwith, ebd. 256 257
3. Schöpfungsordnung
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umwillen des Menschen. «265 Gemessen an den Vorsokratikern, »die mit dem selbständigen Kosmos beginnen und an ihm auch das Göttliche erblicken und den Menschen den >Sterblichen< nennen«, ist demnach »der Übergang vom Griechentum zum Christentum ... ein entschiedener und entscheidender Bruch ... «266. Ebenso wie Löwith hält auch H. Plessner Griechentum und Christentum fiir unvereinbar: »Beide Traditionen, das griechische Sein- und Ursachendenken und das jüdisch-christliche Glaubensdenken leben, trotz der Amalgamierung, die sie früh schon miteinander eingegangen sind, in unaufhebbarer Spannung zueinander. Denn der ontologische und der nihilistisch-creative Weltbegriff, der Gedanke der kosmischen Immanenz und der Gedanke der absoluten Gnadentranszendenz sind ... miteinander unverträglich.«267 Doch bei all diesen sicher nicht zu leugnenden Unterschieden zwischen dem antiken und dem mittelalterlichen Weltdeutungsrahmen besteht eine wesentliche Konvenienz zwischen Griechentum und Christentum, Kosmosordnung und Schöpfungsordnung. Es ist der schon angesprochene Gedanke der dem Menschen, näherhin der menschlichen Vernunft, vorgegebenen Ordnung des Weltganzen, sei diese nun zyklisch oder temporal-dynamisch gedacht. In bei den Fällen findet der Mensch in der Weltordnung Sinn und Geborgenheit, im einen Falle durch seine nahezu problemlose Einordnung in die immerwährende, gute und göttliche Ordnung des Kosmos, im anderen Falle durch die Grundüberzeugung, daß der Schöpfer in seiner Güte und Gnade die Welt und - a fortiori sein Ebenbild nicht nur geschaffen hat, sondern auch trägt, erhält und letztlich, unter gewissen Voraussetzungen, von aller irdischen Mühe und Unbill erlöst. Mit W. Kamlah gesprochen: »Der unwiederholbaren ontologischen Auszeichnung eines göttlichen Seins, in dessen Anschauung der antike Philosoph von der bedrängenden vordergründigen Welt sich löste, entspricht die unwiederholbare christliche Auszeichnung eines Gottmenschen, der weltliches und überweltliches Sein als Mittler verbindet. Denn hier wie dort ist naive Vernunft als Erbe des Mythos am Werke, so daß Griechentum und Christentum im hierarchischen Weltbau des Mittelalters vorläufig vereinigt werden konnten.«268 Die Erlösung des Menschen am Ende der Geschichte geschieht im christlichen Denken durch den ewigen, selber nicht in die Heilsgeschichte einbezogenen, überzeitlichen Gott, der, anders als die endlich-zeitlichen Menschen (und dem frühgriechischen Denken nicht unähnlich) Anfang und Ende miteinander verbinden kann 269 : »Ich bin das A und das 0, der Anfang und das Ende, spricht Gott der
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267 268
K. Löwith (t98tb), S. 304. Löwith, a. a. 0., S. 327. H. Plessner (1985), S. 236.
W. Kamlah (1949), S. 67.
269 »Alkmaion behauptet, daß die Menschen deswegen zugrunde gehen, weil sie nicht imstande
sind, den Anfang mit dem Ende zu verknüpfen«, nämlich so, »wie das die göttlichen Gestirne in
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I. »Animal rationale«
Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige.«27o Zwar ist die Schöpfung einmalig und zeitlich begrenzt, aber der »neue Himmel« und die »neue Erde« werden, wenn sich die Schöpfung nicht wiederholen soll, anders, vermutlich nicht zeitlich gebunden, sondern überzeitlich wie Gott selbst sein. Die Welt, wie die Menschen sie kennen, die geschaffen ist und in die hinein die Menschen geboren werden und in der sie mehr schlecht als recht leben und schließlich sterben, geht als ganze und Gottes Plan gemäß zugrunde, so daß K. Löwith, noch einmal den Unterschied zum Griechentum benennend, schreiben kann: »Die Rühmung des Kosmos verwandelt sich in Weltverachtung und Weltüberwindung«271, aber mit dem Ende dieser Welt beginnt nach christlichem Verständnis ja allererst das »eigentliche« Leben in Seligkeit. Dieses unbegrenzte, ewige Leben, wie immer wir uns dies auch vorstellen mögen, ist dem ewigen Kosmos der Griechen durchaus vergleichbar; denn die göttliche Ordnung bleibt bestehen, ungeachtet aller Unterschiede zwischen beiden Weltdeutungen. Die bislang skizzierte schöpfungstheologische Vorstellung der »Heilsgeschichte« mit ihren fünf Stufen bzw. Epochen läßt nicht nur die genannten Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich zur antiken »Kosmosordnung« erkennen, sondern bildet auch die Grundlage für das Verständnis der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Versuche, sich von der Konzeption der »Schöpfungsordnung« nachhaltig abzusetzen. Um die »Epochenschwelle« zwischen Mittelalter und Neuzeit, die sich nicht zuletzt durch den Wandel im Selbstverständnis des Menschen vom »Geschöpf« zum sich selbst bestimmenden »Subjekt« dokumentiert, hinreichend zu verdeutlichen, soll im folgenden zunächst denjenigen Implikationen der christlichen Schöpfungstheologie unser Augenmerk gelten, die für die Bewertung der Endlichkeit des Menschen entscheidend sind. Erst vor diesem Hintergrund ist ein abschließender, zugleich auf die frühe Neuzeit vorausweisender Blick auf die Vernunft des Menschen innerhalb der Heilsgeschichte und damit des »endlichen Vernunftwesens« im Rahmen der »Schöpfungsordnung« möglich. Um die schöpfungstheologisch begründete Endlichkeit des Menschen zu verstehen, muß nochmals auf die Vorstellung der Schöpfung und damit implizit auf die Differenz zwischen Schöpfer und Schöpfung rekurriert werden. Augustinus stellt heraus, daß jede mögliche »Welt« endlich sein muß272, und auch für ihren Kreisbahnen tun.« So der Text bei W. Capelle (1968), S. 112 und S. 112, Anm. I, mit Bezug auf Diels. Vgl. auch oben, S. 38, Anm. l31 und 132 zu Abschnitt 1.2. 2700ffb. 1,8 (L). Vgl. Offb. 21,6 und 22,13. 271 K. Löwith (l98Ib), S. 304f. 272 Vgl. Augustinus, Epistulae 186,7, in: MPL 33. Der von Augustinus hier herausgestellte Gedanke, daß es aufgrund der Endlichkeit jeder möglichen Welt eine schlechterdings beste Welt nicht geben könne, nimmt ansatzweise Leibniz' Überlegungen zur Theodizee vorweg.
3. Schöpfungsordnung
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Thomas von Aquin ist die Endlichkeit Attribut des Geschöpfes als solchem 273 , was jedoch nicht ausschließt, daß es den endlichen Geschöpfen möglich ist, am unendlichen Sein Gottes teilzuhaben. 274 B. Casper bringt den Unterschied zwischen Schöpfung und Schöpfer auf den Punkt: »Die Schöpfung als die Fülle der Gestalten ist die Fülle der endlichen Gestalten. Wenn die Schöpfung nicht mit dem Schöpfer identisch sein soll, muß sie endlich sein.«275 Endliche Gestalten aber sind einzelne, individuierte Wesenheiten und als solche in vielerlei Hinsicht begrenzt. Die Begrenzungen, wie beispielsweise die Eingebundenheit in die Natur, der bloß »diskursive« Verstand, die moralische Fehlbarkeit etc. werden vom Menschen als einem seiner selbst bewußten Geschöpf in stetem Vergleich mit Gott als dem unbegrenzten, unendlichen und vollkommenen Sein als Unvollkommenheit oder gar als Übel, jedenfalls als unabänderliche, leidbegründende Gegebenheit aufgefaßt. L. Boff hat das menschliche Leiden am Übel der Unvollkommenheit trefflich beschrieben: »Das Wesen der Geschöpflichkeit ist im ontologischen Sinne das Abfallen. Das hat die Scholastik sehr gut erfaßt, wenn sie vom metaphysischen Übel spricht, das nicht vom Menschen abhängt, sondern schon vor ihm besteht, ein Übel, das nicht durch die Freiheit gesetzt werden kann, weil es ein ontologischer Zustand und an das Geheimnis der Geschöpflichkeit gebunden ist. Denn weil die Welt nicht Gott ist, ist sie begrenzt und abhängig, von Gott getrennt und verschieden. Sie mag noch so vollkommen sein, nie ist sie so vollkommen wie Gott; ihm gegenüber ist sie immer unvollkommen. Dieses Übel ist die bewußte Endlichkeit der Welt, eine Begrenztheit, die vom bewußten Leben als Leiden erlebt wird.«276 Sind Kreatürlichkeit und Individuation im Plan der »Schöpfung« vorgesehen, d. h. ontotheologische Vorgegebenheiten, die im Bewußtsein des Menschen das malum metaphysicum, das Übel der Endlichkeit ausmachen, so ist der in der Erzählung vom »Sündenfall« metaphorisch beschriebene »Abfall« des Menschen von Gott der Grund für das malum morale, das Böse als sittliches Übel. Aber auch der »Abfall« ist nur einem - zudem mit freiem Willen begabten - endlich-kreatürlichen Wesen möglich. Im Mythos vom »Sündenfall« verschränken sich der ontologische und der moralische Aspekt der Endlichkeit menschlichen Daseins. Dies wird deutlich an der Art und Weise, wie das gravierendste Merkmal der Endlichkeit, der Tod, vor dem Hintergrund des Mythos vom »Sündenfall« im christlichen Denken thematisiert wird. Auf das Verbot, vom Baume der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen, folgt in der >Genesis( die Todesdrohung: » ... denn sobald du davon issest, 273 Thomas von Aquin, S.th. IIJ, 7,11: »Omne creatum est finitum.« Zum Verhältnis des endlichen Geschaffenen zur Unendlichkeit Gottes vgl. S.th. I, 12,7,1 und S.th. I, 12,1,4. 274 Thomas von Aquin, S.c.g. 1,43: »Ipsum esse, absolute consideratum, infinitum est; nam ab infinitis et infinitis modis participari possibile est.« 275 B. Casper (1981), S. 70. 276 L. Boff (1976), S. 552.
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I. »Animal rationale«
mußt du sterben.«277 Der Tod ist »durch einen Menschen«278 gekommen, heißt es noch bei Paulus, genauer: »Deshalb, gleichwie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und durch die Sünde der Tod [Hervorh. K. K.] und so der Tod auf alle Menschen übergegangen ist, weil sie alle gesündigt haben ... «279. Kurz: »Denn der Sünde Sold ist der Tod.«280 Gottes Schöpfungsordnung sieht demnach den Tod als Strafe rur die Ursünde, den »Abfall« vom Willen Gottes, vor. Doch genau dieser Gedanke bereitet erhebliche Interpretationsschwierigkeiten. Denn wie kann der Tod, das Sterbenmüssen, das ja auf der einen Seite als definierendes Merkmal der endlichen Kreaturen als solcher betrachtet werden muß, auf der anderen Seite durch die »Sünde« des Menschen in die Welt gekommen sein?281 Gott, schreibt Paulus, ist »der König der Könige und Herr der Herrschenden, der allein Unsterblichkeit hat (6 !lOVOC; EXWV a:ttuvuotuv)«282. Da der Mensch im Mythos vom Sündenfall durch das verbotenerweise erworbene Wissen, »was gut und böse ist«, schon wie Gott geworden ist, soll es nicht überdies geschehen, daß er »seine Hand ausstrecke und auch von dem Baume des Lebens breche und ewig lebe.«283 Um dies zu verhindern, vertreibt Gott den Menschen aus dem todlosen Garten Eden und bestraft ihn und seine Nachkommen mit der Sterblichkeit. Den Hintergrund rur diese Strafe bildet nicht etwa der anthropomorphisierende Gedanke, daß Gott die nur ihm selbst vorbehaltene Unsterblichkeit nicht mit seinem Geschöpf teilen mochte, sondern die Überlegung, daß die durch den Menschen in die Welt gekommene Sünde nicht auf Dauer gestellt, d. h. in den Status der »Ewigkeit« erhoben werden darf, wenn Gottes eigene Schöpfungsordnung nicht mit einem bleibenden Makel behaftet sein soll. Deshalb muß die Strafe des Todes über den Menschen verhängt werden, d. h. auf das malum morale muß das malum metaphysicum zwangsläufig folgen. Die Strafe rur den Hochmut des Geschöpfes, wie der Schöpfer selbst sein zu wollen, ist die sich im Tode dokumentierende Festschreibung des ontologischen Status der Endlichkeit des Geschöpfs Mensch. Dieses gleichsam »doppelt« über den Menschen verhängte Los der Endlichkeit macht nur einen Sinn, wenn der Mensch ein »besonderes«, d. h. mit Vernunft und freiem Willen begabtes Geschöpf ist, das - anders als alle anderen Geschöpfe - die Möglichkeit des »Abfallens« von der Schöpfungsordnung besitzt. Die alternative Interpretation, dergemäß der »Abfall« keine dem Menschen zuzurechnende Handlung, sondern Gen. 2,17 (Z). 1. Kor. 15,21 (Z). 279 Röm. 5,12 (Z). 280 Röm. 6,23 (Z). ('tU YUQ O'IjJWVLU 'tfjUnberechenbar«347 geworden, worauf noch Descartes' berühmte Befiirchtung, es könne sich um einen »Betrügergott« handeln, der dem Menschen die Ordnung der Dinge und das heißt ihre Erkennbarkeit nur vorgaukelt, schließen läßt. Aber selbst die Vorstellung von Gott als dem »ganz Anderen« läßt spätmittelalterlich und frühneuzeitlich beileibe keinen - und schon gar nicht einen hartgesottenen - »Atheismus« aufkommen. Die Entstehung der neuzeitlichen europäischen Philosophie mag vielerlei Ursachen haben, aber ganz sicher nicht einen plötzlich aufbrechenden »Atheismus«, mit dem der frühneuzeitliche »Selbststand« der menschlichen Vernunft bis hin zu ihrer »Autonomie« nicht eben selten verwechselt wird. 348 Mit dem Verlust des Vertrauens auf Gott als den Garanten der Erhaltung der Schöpfungsordnung gerieten auch die Eckpfeiler der »Heilsgeschichte« ins Wanken. Insbesondere die Erlösungshoffnung der Menschen wurde zusehends fragwürdiger. 349 Denn der »verborgene« Gott konnte nicht mehr wie ehedem als der Erlösergott empfunden werden, so daß der Tod als Pforte zu unbekannten Gefilden betrachtet und das »Jenseits« als Ort des Schreckens gefiirchtet wurde. Im Spätmittelalter, insbesondere im 14. und 15. Jahrhundert, konnte deshalb ein neues, in der Epoche vom Frühchristentum bis zur Hochscholastik nicht vorstellbares Vergänglichkeitsbewußtsein platzgreifen. 350 Die» Vergänglichkeit aller Dinge« wurde, wie J. Choron schreibt, zum »Genera1thema«.351 Die Stimmung 347 D. h. dem menschlichen Logos entzogen. 348 Vgl. dazu Abschnitt III.1. der vorliegenden Arbeit. 349 Wie übrigens auch die antike Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Dazu einschlägig
Pietro Pomponazzis >Tractatus de immortalitate animae< von 1516 (Pomponazzi 1990). 350 Vgl. dazu J. Choron (1967), insb. S. 97-103 sowie J. Huizinga (1975), insb. S. 190-208. 351 J. Choron, a. a. 0., S. 98. Huizinga (a. a. 0., S. 190) schreibt: »Keine Zeit hat mit solcher Eindringlichkeit jedermann fort und fort den Todesgedanken eingeprägt wie das fünfzehnte Jahrhundert. Unaufhörlich hallt durch das Leben der Ruf des Memento mori .... Aus dem großen Gedankenkomplex, der um das Sterben kreist, konnte diese Zeit in ihr Bild des Todes eigentlich nur
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I. »Animal rationale«
des »media in vita in morte sumus« bestimmte nachhaltig das Lebensgefühl der Menschen. 352 Nach Ph. Aries »hatte der Mensch gegen Ende des Mittelalters ein sehr geschärftes Bewußtsein davon, daß er ein Toter auf Abruf war, daß der Aufschub kurz bemessen war und der im eigenen Inneren stets gegenwärtige Tod seine Bestrebungen zunichte machte und seine Freuden vergiftete.«353 Nun wird man nicht behaupten können, daß der Tod im Früh- und Hochmittelalter kein Thema gewesen wäre, mit dem sich die Menschen nicht ebenso intensiv auseinandergesetzt hätten. Aber die einst noch ungebrochene Erlösungshoffnung mit der Aussicht auf ein neues, gar besseres Leben im Jenseits vermochte dem Tod seinen Schrecken weitgehend zu nehmen. Schwindet diese Hoffnung nun dahin, so gewinnen Endlichkeit und Tod zwangsläufig an Gewicht, wie die herangezogenen Studien zum Spätmittelalter zeigen. Es spricht vieles dafür, daß heide Phänomene, die von der lex Dei abgetrennte, subjektivierte Vernunft und das gegen Ende des Mittelalters sich verbreitende Vergänglichkeitsbewußtsein als miteinander zusammenhängende Reflexe der nominalistischen Wende im Gottesverständnis zu deuten sind. Wohl behält die menschliche Vernunft ihre Dominanz gegenüber der Komponente der »Endlichkeit«, aber sie stellt sich der neuen Aufgabe ihrer Selbstvergewisserung jetzt im Bewußtsein der Endlichkeit bzw. der bipolaren Verfassung des Vernunft- und Naturwesens Mensch. Der »Rückzug« Gottes aus der Schöpfungs- bzw. Weltordnung aber bereitete im Spätmittelalter nicht nur die Neubewertung der menschlichen Vernunft vor, sondern ließ zugleich durch den aufkeimenden Zweifel an der Zuverlässigkeit des eschatologischen Konzepts eine Grundstimmung der Verlorenheit und Melancholie entstehen, in deren Gefolge sich ein geschärftes Bewußtsein für die »andere« Komponente des Menschen, die Komponente der Endlichkeit, fast zwangsläufig einstellen mußte. Die spätmittelalterliche Stimmung des »memento mori« wurde jedoch alsbald, in der Renaissance, durch ein »memento vivere«35\ eine neue Hinwendung zum »Diesseits«, abgelöst, die freilich keine Restitution der schöpfungstheologischen Zuversicht, Endlichkeit und Tod seien für den Menschen als das logoshafte Ebenbild Gottes dauerhaft »überwunden«, bedeutete. Vielmehr läßt sich die prononcierte Favorisierung des »Lebens« in der Renaissance als Gegenreaktion auf das vorhergehende, jedoch fortwirkende und im Grunde nicht mehr zu tilgende Endlichkeitsbewußtsein deuten. Wie auch immer der Mensch in der Folgezeit »seine« Vernunft und »sein« Leben einschätzen wird: jenseits des einen Zug aufnelunen: den Begriff der Vergänglichkeit. Es scheint, als hätte der spätmittelalterliche Geist den Tod unter keinem anderen Gesichtspunkt sehen können als nur unter dem der Vergänglichkeit.« 352 Vgl. Choron, a. a. 0., S. 97. 353 Ph. Aries (1981), S. 9. Vgl. auch Aries' umfassende Untersuchung über die Geschichte des Todes (Aries 1980). 354 Vgl. Choron, a. a. 0., S. 99.
3. Schöpfungsordnung
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Bewußtseins der unaufhebbaren Endlichkeit sollte eine Selbstbestimmung des Menschen als des »endlichen Vernunftwesens« fortan nicht mehr dauerhaft möglich sein. Die christliche Vorstellung der »Schöpfungsordnung«, so dürfen wir resümieren, perpetuiert in gewisser Weise das antike, ontologische Modell der »Kosmosordnung«, modifiziert durch den Gedanken eines personalen Schöpfers und der auf dessen freien Willen zurückgehenden, die antike Kosmosordnung verzeitlichenden bzw. prozessualisierenden »Heilsgeschichte«. Doch die platonische Konzeption »zweier Welten«, die Unterscheidung zwischen einer »unteren«, sichtbaren und einer »oberen«, unsichtbaren, gedanklichen Welt bleibt auch für das Selbstverständnis des Menschen im Rahmen der »Schöpfungsordnung« bedeutsam. Noch für Thomas von Aquin ist die »geistige Seele« des Menschen der »Horizont« zwischen dem Körperlichen und dem Unkörperlichen355 , gleichsam der Schnittpunkt zweier Welten. Die Diremtion beider »Welten« aber wird weder im Rahmen der »Kosmosordnung« noch der »Schöpfungsordnung« als endgültiger Status anerkannt. Platons Mythos vom "EQ(J)~, der Sehnsucht nach der Restitution des »ursprünglichen« Einheitszustandes, d. h. nach der »Überwindung« des durch Individuation entstandenen Zustandes der »Zerrissenheit« des Menschen, bringt ebenso wie der christliche Glaube an die »Überwindung der (diesseitigen) Welt« durch den Gottessohn und die Verheißung der »Seligkeit« als eines Zustandes unmittelbarer Gottesnähe ein tiefsitzendes Unbehagen an der »Gespaltenheit« des Menschen zum Ausdruck. Doch die mythischen und schöpfungstheologischen Metaphern der entweder vergangenen und zyklisch wiederkehrenden oder schlechterdings zukünftigen »Einheit« der »Welten« lassen wenn schon nicht die Einsicht, so doch die Ahnung durchscheinen, daß die Bipolarität der menschlichen Konstitution, die »Urkonstellation« des Menschen, ein Wesen »zwischen« Vernunft und Endlichkeit, Freiheit und Natur zu sein, unaufhebbar ist. Diese Einsicht bleibt auch dann bedeutsam, wenn der x6o~o~ vo1']'t6~ der Griechen oder der »Himmel« des Christentums als dem Menschen ontologisch oder onto-theologisch »vorgegebene« Ordnungen, an denen er partizipiert, verstanden werden. Denn die Dichotomie zwischen wahrnehmbarer Welt und Ideenwelt, »Erde« und »Himmel« läßt sich ebensowohl als onto-theologische Überwölbung der »Urkonstellation« des Menschen, ein Wesen zwischen End-
355 Vgl. Thomas von Aquin, S.c.g. II, c. 68: »Et inde est quod anima intellectualis dicitur esse quasi quidam horizon et confinium corporeorum et incorporeorum ... « (»Daher sagt man, die geistige Seele sei gleichsam der Horizont und die Grenze des Körperlichen und Unkörperlichen ... «). Dies ist sie deshalb, so erläutert Thomas, weil sie unkörperliche Substanz und Form des Körpers zugleich ist. An anderer Stelle (S.th. I, 29, 4 ad 2) beantwortet Thomas die Frage »Was ist der Mensch?« ganz im aristotelischen Sinne: »Das vernünftige und sterbliche Lebewesen.« (» ... ut cum quaeritur, Quid est homo? et respondetur, Animal rationale mortale.«). Vgl. auch S.c.g. III,39.
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lichkeit und Unendlichkeit, Natur und Vernunft zu sein, verstehen, wie sich umgekehrt die menschliche Urkonstellation als »Spiegel« der immerwährenden bzw. auf Gottes freien Entschluß zurückgehenden Differenz zwischen »Idee« und »Erscheinung« resp. »civitas Dei« und »civitas terrena« begreifen läßt. Die »Welten« sind des Menschen »Welten«, und zugleich spiegelt - onto-theologisch gesprochen - seine »Zerrissenheit« die Dichotomie »der« Welt wider. An dem Bewußtsein der Unaufhebbarkeit der für den Menschen charakteristischen Urkonstellation wird sich auch in der frühen Neuzeit nichts ändern. Zwar werden, zumindest bei der Mehrzahl der neuzeitlichen Denker, die bergenden, sinnstiftenden und »tröstenden« Ordnungen des »Kosmos« und der »Schöpfung« keine maßgebende Rolle mehr spielen, aber die eigentliche Brisanz der Dichotomie der beiden »Welten«, d. h. das Spannungsverhältnis zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, Vernunft und Natur, wird in seiner ganzen Problematik auch das Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen bestimmen. Auch die neuzeitliche Philosophie wird versuchen, die beiden »Welten« der Endlichkeit und der Unendlichkeit zusammenzudenken. Diese Welten waren, sind und bleiben - epochenübergreifend - des Menschen Welten.
4. Konturen der »Subjektivität« in der frühen Neuzeit Die Selbstbestimmung des Menschen als eines Sinnen- und Vernunftwesens bleibt zwar auch in der »Neuzeit« ein Grundanliegen der Philosophie, aber die neuzeitlichen Versuche, die »Urkonstellation« begrifflich zu fassen und auszudeuten, stehen vor einer bis dahin ungeahnten Schwierigkeit: sie müssen das Verhältnis von Vernunft und Endlichkeit weitgehend unabhängig von den ontologischen bzw. schöpfungs theologischen Weltdeutungsrahmen bestimmen, d. h. sie müssen es neu bestimmen. Bekanntlich macht diese »Unabhängigkeit« von Kosmos- und Schöpfungsordnung, ins Positive gewendet, nach Meinung nicht weniger Philosophiehistoriker gerade das Spezifikum, wenn man so will das »Neue« an der »Neuzeit«J56 aus. So zutreffend eine solche Diagnose für die 356 Eine ausführliche Diskussion der Schwierigkeiten bei der Bestimmung von Begriff und Phänomen der »Neuzeit«, so etwa das sogenannte »Epochenschwellenproblem« oder der Versuch eines mit historischen, sozio-kulturellen, politischen, wissenschaftlichen, ökonomischen, technischen oder religionsgeschichtlichen Mitteln zu bestimmenden Katalogs von Merkmalen derjenigen Epoche, zu der wir uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch zählen und die erst seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts üblicherweise als »Neuzeit« bezeichnet wird, ist hier nicht angezielt. Zu den verschiedenen einzelwissenschaftlichen Aspekten, unter denen das Neuzeitproblem diskutiert wird, vgl. beispielsweise F. Tönnies (1935); W. Kamlah (1949); H. Freyer (1955); W. Kamlah (1957); W. Kamlah (1969); 1. Mittelstraß (1970); 1. Huizinga (1975); R. Koselleck (1979); SI. Skalweit (1982); c.-F. von Weizsäcker (1984); A. Hahn (1984); H. U. Gumbrecht/U. Link-Heer (Hrsg.) (1985). Die im engeren Sinne philosophischen Aspekte des Problems der Bestimmung der »Neuzeit« sowie die hierzu relevante Literatur werden im folgenden nur insoweit berücksichtigt, als sie
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Ausgangssituation der neuzeitlichen Philosophie auch sein mag: die Genesis des in der frühen Neuzeit zweifellos neuerwachten Zutrauens des »Subjekts« zu seinen eigenen Möglichkeiten, d. h. des Bewußtseins der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des» Vernunftsubjekts«, darf im Rahmen der Fragestellung, in welcher Weise die »Urkonstellation« in der neuzeitlichen Philosophie gedeutet wird, dennoch nicht außer acht bleiben. Die »Subjektivität«, der Leitbegriff aller Versuche menschlichen Selbstverständnisses in der Neuzeit, fällt, bildlich gesprochen, nicht vom HimmeP57, sondern hat Entstehungsbedingungen, ohne deren Berücksichtigung der gar nicht zu überschätzende Umbruch in der Selbstund Weltdeutung des Menschen zu Beginn der Neuzeit nicht verstehbar wäre.
Zunächst ist festzuhalten, daß sich die vorläufig mit dem Begriff der »Subjektivität« umschreibbaren philosophischen Versuche der Neuzeit, zu einer tragfähigen Selbstdeutung des Menschen zu gelangen, in Auseinandersetzung mit der christlichen Lehre vom Schöpfergott als absolutem Ursprung alles Seienden herausgebildet haben. Daß die bergende und haltgebende Schöpfungsordnung ihre Verbindlichkeit allmählich einbüßte, wurde frühneuzeitlich ohne Frage als Verlust empfunden, so daß wir mit W. Kamlah vom Mittelalter als einer »verlorenen Welt«358 oder mit H. M. Baumgartner und B. Irrgang vom »geistigen Zerfall des einheitlichen abendländischen und christlichen Weltbildes im ausgehenden Mittelalter«359 oder mit D. Henrich vom »Zerfall der symbolischen Weltdeutung«36o sprechen können. Die Erosion der mittelalterlichen »Schöpfungsordnung« fUhrt frühneuzeitlich zu einer Loslösung des Menschen von überkommenen Bindungen oder, wenn man diese Wendung bevorzugt, zum Herausfallen des Menschen aus den antik-mittelalterlichen onto-theologischen Ordnungen überhaupt. Auch wenn man - mit W. Weier - fordert, es dürfe nicht »ungeklärt« bleiben, »in welchem geistigen, daher übergeschichtlichen und unableitbaren Urphänomen« die neuzeitlichen »Wandlungen in der Weltschau, im Selbstverständnis und Transzendenzbewußtsein des Menschen eigentlich für unsere Leitfrage nach dem Verhältnis von Vernunft und Natur, einschlußweise der Frage nach der »Subjektivität«, von Belang sind. Für einen Überblick über die philosophischen Probleme der Abgrenzung der Neuzeit von Antike und Mittelalter vgl. H. Günther (1984). Zu den Themenkreisen »Ende der Neuzeit«, »Postmoderne« etc. vgl. Abschnitt III der vorliegenden Arbeit. 357 In gewisser Hinsicht fallt das »Subjekt«, behält man das doppeldeutige Bild bei, allerdings zu Beginn der Neuzeit sehr wohl vom »Himmel«; denn das neugewonnene Zutrauen des Subjekts zu sich selbst läßt sich durchaus als Reflex auf das Verblassen der schöpfungstheologischen Orientierungslinien des Mittelalters deuten. 358 W. Kamlah (1957), S. 320: »Das Mittelalter ist uns nicht nur das Zeitalter, das wir hinter uns haben, sondern das wir überwunden oder das wir verloren haben, oder beides zugleich. >Modeme Menschen< sind wir, indem wir zurückblicken auf überwundene >mittelalterliche Zustände>Und der in ihm verbürgten potentia ordinata ... keinen Zugang.«365 Der allmächtige, potentiell despotische Willkürgott des Nominalismus war nicht mehr der Gott der Menschen, so daß der der Vernunft nicht mehr zugängliche Gott bei anhaltendem menschlichen Interesse an Gewißheit und Geborgenheit aus dem Horizont der Philosophie herausfiel und stattdessen der Mensch, genauer: der Mensch als Vernunftsubjekt, notgedrungen zum letzten Gewißheitsfundament avancierte. Das gezwungenermaßen auf sich selbst gestellte Vernunftsubjekt fand in seinem eigenen autonomen Freiheitsbewußtsein jenes fundamentum inconcussum, welches dereinst im Gott der »potentia ordinata« bzw. in der prinzipiell der Vernunft zugänglichen göttlichen Schöpfungsordnung gesucht und gefunden wurde. Blumenberg schreibt: »Die Philosophie gewann ihre Autonomie gerade in der Erneuerung der >gnostischen< Voraussetzung, daß der Allmachtsgott und der Heilsgott, der verborgene Gott und der geoffenbarte Gott für die Vernunft in ihrer Identität nicht mehr begreifbar und damit auch vom Weltinteresse des Menschen her nicht mehr aufeinander beziehbar waren. Die Rolle des Philosophen ist definiert durch die Reduktion der Gewißheit unter dem Druck der Voraussetzung, daß die göttliche Omnipotenz sich keine den Menschen begünstigenden Einschrän361 W. Weier (1988), S. 4f. 362 363
364 365
Siehe oben Abschnitt 1.3., S. 75ff. Vgl. vor allem Blumenberg (1974), S. 141-266. Blumenberg, a. a. 0 ., S. 201. Blumenberg, ebd.
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kungen auferlegt haben könnte.«366 Dieses zunächst also aus innertheologischen Gründen erzwungene bzw. freigesetzte Bewußtsein des Menschen, auf sich selbst gestellt zu sein, dieses in einem doppelten Sinne »negative« Freiheitsbewußtsein vertrug sich frühneuzeitlich, wie Blumenberg schon früh herausgestellt hat, freilich auch nicht mehr mit der biblischen Gnadenlehre: »... so war es doch vor allem die Kluft zwischen dem neu erwachten menschlichen Freiheitsbewußtsein und einer theologischen Gnadenlehre überhaupt«, was den Menschen der frühen Neuzeit dazu bringt, daß er »sein Bewußtsein von der Rücksicht auf jene (sc. nominalistische) despotische Willkür und Macht ganz losreißt und nur bei sich selbst und in sich selbst Gewißheit und Sicherheit sucht.« »Schon der Verdacht«, so Blumenberg weiter, »daß eine Religion, in deren Mitte der Gnadenbegriff stand, in welcher dogmatischen Gestalt auch immer, eine Infragestellung der Freiheit des Subjekts bedeuten könne oder gar notwendig bedeuten müsse, depotenzierte die Möglichkeiten des Christentums im Kern, begründete die Faszination des anderen Weges.«367 Blumenberg zeichnet auf diese Weise die Grundlinien jenes spätmittelalterlichen Gottes- und Weltverständnisses nach, welches durch Akzentuierung des Allmachtsattributes Gottes und gleichzeitige Erosion der Idee der guten Schöpfungsordnung, in der der Mensch aufgrund seiner »Vernunft« den privilegierten Status der Gottesebenbildlichkeit innehatte, unausweichlich eine Stimmung der Verlassenheit und Einsamkeit des Menschen erzeugen mußte. Dies sind zweifellos einsichtige Überlegungen zur Genesis des frühneuzeitlichen Subjektbewußtseins, doch erklären sie bis hierher noch nicht, wie es überhaupt zu jenem nominalistisch-voluntaristischen Bruch im Gottesverständnis hat kommen können, aufgrund dessen die neuzeitliche Idee der Subjektivität entstehen konnte. Aber auch für diese Frage hält Blumenberg eine plausible Antwort parat. Er zieht Verbindungslinien zwischen dem spätmittelalterlichen Nominalismus und der spätantiken Gnosis 368 , indem er auf die Dualität im Gottesbegriff, die opponierenden Vorstellungen vom Allmachts- und Heilsgott verweist. War das christliche Mittelalter der erste Versuch einer Überwindung der Gnosis, so ist die Neuzeit der zweite: »Die Neuzeit ist die zweite Überwindung der Gnosis. Das setzt voraus, daß die erste Überwindung der Gnosis am Anfang des Mittelalters nicht gelungen war. Es schließt ein, daß das Mittelalter als Jahrhunderte überspannende Sinnstruktur von der Auseinandersetzung mit der spätantiken und frühchristlichen Gnosis seinen Ausgang genommen hat und daß die Einheit seines Systemwillens aus der Bewältigung der gnostischen Gegenposition begriffen werden kann.«369 In der Gnosis wie im Nominalismus, so wird man interpretieren dürfen, drängt jene Tendenz zur Weltvernichtung an die Ober366 Blumenberg, ebd. 367 H. Blumenberg (1954), 368 369
S. 555. Vgl. oben, S. 82, Anm. 364. H. Blumenberg (1974), S. 144f.
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fläche, die dem dualistischen Gottesverständnis eignet und deren mythischelementarer Kraft die mittelalterliche Vorstellung einer »potentia ordinata« nicht hat Herr werden können. 37o Der genuin christliche, im Zusammenhang mit der Idee der »Eschatologie« stehende Erlösungsgedanke wurde, so ist zu vermuten, eingeholt von der nur scheinbar überwundenen gnostischen Grundstimmung der Angst vor der Weltvernichtung, einer Angst, die sich zumindest als Befürchtung elementarer Sinnlosigkeit der Welt im ganzen begreifen läßt. Wird der Ursprung der Weltvernichtungstendenz in gnostischer Manier in Gott selbst, in Gottes »alter ego« bzw. im »Anderen seiner selbst«, oder wie immer man die Dualität in Gott selbst beschreiben mag, gesucht, so ist eine Dominanz des göttlichen Machtattributes über das Attribut der Güte nicht ausgeschlossen, d. h. eine Indifferenz Gottes gegenüber menschlichen Belangen steht jederzeit zu befürchten. Diese Befürchtung aber zieht ein Schwinden der Erlösungshoffnung nach sich, zumal die Erlösungszusage nur im Rahmen der guten, vom Heilsgott verbürgten Schöpfungsordnung ihren Ort hat. Verliert die Schöpfungsordnung ihre verbindliche Kraft und gewinnt die Eschatologie für den Menschen unheilvolle Züge, so überlagert und erstickt die Weltvernichtungsangst auch und zumal den Erlösungsgedanken. Ohne Erlösungshoffnung aber sieht sich der Mensch auf sich selbst, auf seine endliche Existenz zurückgeworfen. Im puren Faktum seiner Endlichkeit findet er freilich keinen Anhalt für eine neue Hoffnung oder Sinngebung. Doch er ist, so hat ihn die antike und mittelalterliche Tradition jahrhundertelang bestimmt, nicht ausschließlich ein endliches Wesen. Das neue Selbstverständnis des Menschen zu Beginn der Neuzeit rekurriert, wenn auch nicht in bruchloser Kontinuität mit der alten Onto-Theologie, auf den »anderen« Pol des Spannungsverhältnisses von Vernunft und Endlichkeit, den Pol der Vernunft. Aus dieser Perspektive betrachtet läßt sich der Rückzug des Menschen auf sich selbst, d. h. aber auch die Besinnung auf seine eigene Kraft zur Weltgestaltung371 und Weltinterpretation, indirekt als Folge des nominalistischen Got370 Noch der eschatologische Gedanke selbst, die letzten Stufen der »Heilsgeschichte«, in denen von Weltvernichtung und Gericht (freilich auch von »Erlösung«) die Rede ist, kann so ausgelegt werden, daß es einer »weltkonservativen« Bewegung bedurfte, um die Endzeitkatastrophe abzuwenden. So versteht O. Marquard (1983), S. 81 - in der Nachfolge und Weiterfiihrung des B1umenbergschen Ansatzes - die Neuzeit: »Die Neuzeit ist theologisch provoziert, erzwungen; aber das Theologische - das Motiv der eschatologischen Weltvernichtung - wirkt nicht direkt, als Position, sondern indirekt, als Trauma: wo Gott zum Weltvernichter wird, muß die Welt ohne ihn und gegen ihn (außertheologisch, theologieneutral oder gegentheologisch) bewahrt werden: zu diesem Zweck mußten die Menschen die Neuzeit erfinden, das Zeitalter der Neutralisierung der - aus der Bibel kommenden - Eschatologie.« Vgl. auch O. Marquard (1981), S. 116: »Diese eschatologische Weltnegation nicht zu wollen ist das Motiv zur Neuzeit ... Das Motiv zur Neuzeit ist ... weltkonservativ: die Neuzeit ist das eigentlich konservative Zeitalter.« 371 Hier wäre auch an den sogenannten »Baconismus«, den Gedanken der Weltbeherrschung durch Wissen, auch an Descartes' Vorstellung von den Menschen als »maitres et possesseurs de la
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tes- und Weltverständnisses verstehen. Die Idee der »Subjektivität« steht fortan - auch wenn der Terminus selbst noch gar nicht verwendet wird - als Ausdruck für die Neubesinnung und das neuerwachte Zutrauen des Menschen zu sich selbst als eines »freien« Vernunft- und Willenswesens. Das Freiheits- und Autonomiebewußtsein, das (Selbst-)Bewußtsein eines vernunftgeleiteten Willenswesens, das sich die Regeln seines HandeIns selbst, unabhängig von vorgegebenen Autoritäten, gibt, ist in philosophischer Perspektive das ausgezeichnete Merkmal neuzeitlichen Denkens. Die Subjektivität, die im Aktus der »eigenen« Gesetzgebung ein Moment von Verbindlichkeit setzt, das an Strenge und Apodiktizität den traditionellen Handlungsvorschriften, etwa dem Dekalog, um nichts nachsteht, definiert sich durch Freiheit der Selbstbestimmung, d. h. sie versteht sich in erster Linie als »autonome« Subjektivität. Man könnte meinen, das frühneuzeitliche Subjekt attestiere sich selbst all jene Prädikate, die einst dem Schöpfergott zugesprochen wurden. Behält man jedoch die Genesis des frühneuzeitlichen Selbstbewußtseins im Auge, so vermag die Vorstellung einer derart simplen Transposition der göttlichen Attribute auf den Menschen nicht recht zu überzeugen. Zu tief mußte das Bewußtsein des »Freigesetztseins«, und das heißt nicht zuletzt: der Gottverlassenheit, den nachnominalistischen, frühneuzeitlichen Menschen bestimmt haben, als daß er im Ernste hätte glauben können, er selbst vermöchte die Stelle des (verlorenen) Gottes einzunehmen. Daß er nach wie vor ein endliches, bedürftiges und sterbliches Wesen war, kann dem Menschen auch und gerade nach dem Verlust der göttlichen Bürgschaft für seine privilegierte Position in der Welt nicht verborgen geblieben sein. Doch die frühneuzeitliche Besinnung des Menschen auf seine eigenen Kräfte besagt auch gar nicht, daß er gewähnt hätte, »gottgleich« zu sein. Vielmehr entdeckte sich das »Ich« notgedrungen aus sich selbst heraus, blieb jedoch gleichzeitig der Endlichkeit stets eingedenk. Erst später, im nachkantischen »deutschen Idealismus«, wird episodenhaft der Versuch unternommen werden, die »Subjektivität« allen Ernstes aus sich selbst zu »begründen«. Die frühneuzeitliche Entdeckung des »Ich« ist jedenfalls nicht umstandslos als »Imitation« göttlicher Allmacht, d. h. als »Sünde«, vor der schon die Bibel und später Augustinus gewarnt hatten, zu verstehen. Die Subjektivität spricht sich vielmehr eine »eigene«, in der Tat gänzlich neue Qualität zu, d. h. sie gewinnt das Bewußtsein eines »Selbst-Standes«372, der nicht als bloßer Abglanz göttlicher Vollkommenheit beschreibbar ist. Die Freiheit der Selbstbestimmung bildet sich neuzeitlich als Freiheit des Vernunftwesens heraus, ohne daß die »Vernunft« lediglich als menschlich-allzumenschliche Kopie des göttlichen Logos verstan-
nature« (Discours de la Methode VI, Abs. 62), den Fortschrittsoptimismus und das, was gegenwärtig kritisch als für die Neuzeit typische» Technikgläubigkeit« apostrophiert wird, zu denken. 372 F. Kaulbach (1990), S. 7, spricht von der Freiheit des »Selbst-Standes« des gesetzgebenden Subjekts in der Neuzeit.
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den werden dürfte. 373 Jedoch stellt sich das nachnominalistisch-frühneuzeitliche Selbstbewußtsein zunächst in der Tat als Konglomerat aus (verlorener) Gottesebenbildlichkeit, »neuern« Selbstbewußtsein und grenzenlosem Optimismus der Weltdurchdringung und Weltbeherrschung dar. Allemal spielt anfänglich noch die schöpfungstheologische Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit in den Begriff der Vernunft hinein. Die »Loslösung« vom mittelalterlichen Welt- und Menschenbild läßt sich, aufs Ganze gesehen, nicht anders denn als langwieriger und schwieriger Prozeß verstehen, innerhalb dessen sich die Konturen der »Subjektivität« erst nach und nach abzeichnen. Nur allmählich schält sich die Überzeugung heraus, daß sich der Mensch auch unabhängig vom Adel der Gottesebenbildlichkeit und unter Anerkennung seiner unauthebbaren Endlichkeit als eigenständiges Tlernunftwesen zu betrachten habe. Die oben skizzierte nominalistische Wende im Gottesverständnis war dazu, wenn auch auf den ersten Blick nicht erkennbar, ein erster, allerdings wichtiger Schritt, mehr noch nicht! Doch die Idee einer sich selbst bestimmenden, autonomen Subjektivität ließ sich, einmal in die Welt gesetzt, nicht mehr rückgängig machen. Die neuzeitlichen Vorstellungen von Rationalität und Autonomie entwickelten vielmehr zunehmend eine Eigendynamik und Innovationskraft, die es verbieten, sie, wie wiederum H. Blumenberg herausgearbeitet hat, als bloße »Säkularisate« und demnach die Neuzeit insgesamt schlichtweg als »christliche Häresie«374 zu verstehen. Die Rede von der Neuzeit als Epoche der »Säkularisierung«, d. h. der Profanisierung religiöser Gehalte, ist nach Blumenberg »historisch illegitim«375, jedenfalls wenn damit der Nerv des neuzeitlichen Subjektivitätsbewußtseins getroffen werden soll.376 Die Neuzeit ist selbstverständlich ohne den Hintergrund bzw. die »Antezedenz« des Christentums nicht zu denken. Das weiß selbstverständlich auch H. Blumenberg: »Vieles an der Neuzeit ist >undenkbar ohne< die christliche Antezedenz. So weit kann man sich das fast schon selbst denken.«377 Begreift man jedoch die Entstehung der Neuzeit, vermittelt über den 373 Das Vernunftsubjekt versteht sich selbst vielmehr gleichsam als »Ursprung der Ordnung« überhaupt. Dazu H. Krings (1962), S. 125: »Nach den Weltordnungen des Altertums, die Götterordnungen waren, und nach der des Mittelalters, die eine Gottesordnung war, Ordnungen, in denen Welt und Person geborgen, aber auch in gewissem Grad verborgen waren, hat der Mensch sich in einer personhafteren und bewußteren Authentizität und Selbsthaftigkeit entdeckt. In der Metaphysik der Neuzeit wurde das Subjekt zum Ursprung der Ordnung.« Ähnlich W. Schulz (1992), S. 18: »Welt - so die Maxime der Neuzeit - ist nicht mehr vorgegebene Ordnung, in die man eingefügt ist, Welt ist neu zu gestalten und zu einer besseren Stätte des Menschen zu machen.« 374 Vgl. H. Blumenberg (1964), S. 265, wo er die Neuzeit durchaus als Resultat des theologisch geprägten Mittelalters begreift, sich aber dagegen wendet, sie als bloße Metamorphose der theologischen Substanz des Mittelalters, d. h. als ein Derivat und eine »christliche Häresie« zu verstehen. 375 Vgl. Blumenberg (1964) sowie Blumenberg (1974), S. 7-140. 376 Die Neuzeit als Säkularisat einzuschätzen, ist nach Blumenberg ein Theologumenon, das die Absicht verfolgt, eine ganze Epoche mit Hilfe eines ihr eingeredeten Schuldbewußtseins ins Unrecht zu setzen und unter Rechtfertigungsdruck zu stellen. Vgl. Blumenberg (1964), S. 256. 377 Blumenberg (1974), S. 39.
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nominalistischen Gottesbegriff, als Versuch der Loslösung vom »theologischen Absolutismus«378, so ist die Kategorie der »Säkularisierung« schlechterdings unbrauchbar zum Verständnis jener authentischen Leistungen, die - hier unter der Etikette der »Subjektivität« zusammengefaßt - die Neuzeit ausmachen. 379 Man kann - mit H. Lübbe - feststellen, »daß die Kategorie der Säkularisierung keine Kategorie von hohen spekulativen Würden ist. Ihre Geschichte erweist sie überhaupt weniger als eine Kategorie, durch die man begreift, denn als Funktion, ja gelegentlich als Parole in den ideenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Glauben und moderner Welt.«380 Kurz: die »Neuzeit« behielt nicht einfach mittelalterliches Gedankengut im Kern bei und »verweltlichte« es bis zur Unkenntlichkeit. Gewisse Säkularisierungstendenzen mögen zwar einzelne neuzeitliche »Geschichtsphilosophien« bis zu einem gewissen Grade bestimmt haben 381 , doch die Authentizität der Grundbegriffe des Selbstverständnisses der neuzeitlichen »Subjektivität«, Vernunft und Freiheit, steht außer Zweifel. Deshalb ist auch, vorwegnehmend gesagt, der häufig gegen die neuzeitliche Subjektivität erhobene Vorwurf der »Selbstüberforderung« zumindest problematisch. Denn soll mit diesem Vorwurf gemeint sein, das Subjekt setze sich an die Stelle Gottes, so kann der Vorwurf als solcher überhaupt nur sinnvoll erhoben werden unter der Voraussetzung der ungebrochenen Akzeptanz des ontotheologischen Welt- und Menschenbildes zu Beginn der Neuzeit, einschließlich der Säkularisierungsthese. Von dieser Voraussetzung aber ging die frühe Neuzeit eben nicht mehr ohne weiteres aus, die onto-theologischen Grundannahmen wurden vielmehr zunehmend bestritten. Zweifellos kehren die antiken und mittelalterlichen Fragen nach dem Ursprung von Ordnung und Struktur der Welt im ganzen auch neuzeitlich wieder, und in der Tat tritt neuzeitliche Vernunft an mit der Absicht und der Zuversicht, die Ordnung der Dinge selbst zu denken. Doch umstandslos von einer »Ersetzung« der christlichen Lehre durch »menschliche Vernunft« in der Neuzeit zu sprechen, wie dies W. D. Rehfus 382 tut, ist sicher unzutreffend. Denn eine solche Rede bestreitet eben die Authentizität der »Subjektivität«, prägt der Neuzeit wiederum das Signum eines bloßen Surrogates auf und glaubt so, den Vorwurf der Selbstüberforderung gegen die »autonome«
Vgl. Blumenberg (1974), S. 141-266. Zur weitverzweigten Diskussion über die Frage nach der Bestimmung der Neuzeit als Epoche der »Säkularisierung« vgl. - neben Blumenberg - beispielsweise W. Kamlah (1949) und (1957); H. Lübbe (1964), (1974), (1975) und (1986); G. Marramao (1992) und (1996). 380 H. Lübbe (1964), S. 239. 381 Dazu G. Altner (1982), S. 101: »Die auf die eschatologische Offenbarung gerichtete Heilshoffnung des Christentums wird im Zuge der Säkularisierung zum revolutionären Wunsch, das Reich Gottes mit menschlichen Mitteln selbst herbeizufiihren.« 382 W. D. Rehfus (1990), S. 79, schreibt dazu: »Die europäische Neuzeit jedenfalls zeichnet sich dadurch aus, daß die Legitimationsinstanz des mittelalterlichen Denkens und Handeins, die christliche Lehre, ersetzt wird durch die menschliche Vernunft.« 378
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Vernunft383 bekräftigen zu können. Wird, wie H. Krings meint, die Vernunft in der Moderne »der säkulare Erbe des ehemals theologisch verstandenen facere de potentia absoluta«384, dann, d. h. unter der Voraussetzung der Säkularisierungsthese, ist der Vorwurf der »Selbstüberforderung« berechtigt. Doch die Säkularisierungsthese ist, wie gesagt, weder triftig noch hilfreich zum Verständnis der neuzeitlichen »Subjektivität«. Daß die neuzeitliche Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch in der Tat zunehmend gleichsam zum »Schöpfer« ihrer eigenen Produkte avanciert, ist zuzugestehen. Doch genau dieser praktischkreative Aspekt bildet, wie noch zu zeigen sein wird, das Herzstück der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie in ihrer Vollgestalt und ist zur Abstützung der Säkularisierungsthese gänzlich ungeeignet. Auch wenn der Versuch, die Neuzeit pauschal als Epoche der Säkularisierung zu begreifen, eher abwegig erscheint, so ist der Einfluß der mittelalterlichen Gottesvorstellung, und sei es in der nominalistischen Variante, auf die frühneuzeitlichen Anstrengungen der Selbstvergewisserung und Selbstsicherung des »Ich« dennoch nicht zu übersehen. Wenn Descartes das sich seiner selbst vergewissernde Ich als denkendes, den ganzen Menschen aber zugleich als leibgebundenes, empfindungsfähiges, d. h. aus Körper und Geist zusammengesetztes Wesen 385 begreift, so »entdeckt« sich der Mensch, wie W. Schulz interpretiert, »als endliches Subjekt«386, als »reales Weltwesen«387. Als ein solches aber kann er »seinen Weltbezug nicht von sich aus fundieren«388, sondern bleibt »abhängig« (dependentum) von dem Wesen, das das »Größere« (majora), nach dem der Mensch als »unvollständiges« (incompletum) Wesen bloß strebt, »wirklich unendlich in sich hat, und deshalb Gott ist.« (reipsa infinite in se habere, atque ita Deum esse).389 Gott als das unendliche Wesen ist die Ursache des Daseins des Menschen als eines endlichen Wesens. 390 Für Descartes, den Begründer der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie, steht noch fest, daß der denkende, nach Selbstvergewisserung strebende Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist: »Einzig und allein daher, daß Gott mich geschaffen hat, ist es ganz glaubhaft, daß ich gewissermaßen nach seinem Bilde und seinem Gleichnis geschaffen bin ... «391. Das geschaffene Wesen aber ist, ganz im traditionellen Sinne, zumal aber vor dem Hintergrund des nominalistischen Gottesbegriffs, 383 Vgl. Rehfus, a. a. 0., 384 H. Krings (1987), S.
S. 82 und passim. 14. 385 Vgl. Descartes, Meditationes de prima philosophia III,1. 386 W. Schulz (1989), S. 107. 387 Schulz, ebd. 388 Ebd. 389 Descartes, Meditationes III,38. 390 Vgl. Descartes, Meditationes III,33. 391 Descartes, Meditationes III,38: »ex hoc uno quod Deus me creavit, valde credibile est me quodammodo ad imaginem et similitudinem ejus factum esse ... « (Übers. A. BuchenauIL. Gäbe).
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ein endliches, fehlbares und irrtumsfähiges, kurz: ein >>ungesichertes«392 Wesen. So fließen in Descartes' tastenden, aber zugleich die Philosophie der Neuzeit auf den Weg bringenden Versuchen, das Subjekt in seiner Eigenständigkeit zu denken, drei Strömungen ineinander: die christliche Imago Dei-Lehre, die nominalistische Vorstellung des unendlich »anderen« Gottes und der Wille zur Selbstvergewisserung des denkenden, aber zugleich körperlichen, räumlich »ausgedehnten« Ich. Das cartesische Denken stellt, sieht man auf seine Grundzüge, ein markantes Zeugnis dar für den Umbruchcharakter jener nicht leicht zu fassenden Epoche, die wir heute die »frühe Neuzeit« zu nennen pflegen. Die mittelalterliche Schöpfungsordnung hat - freilich nicht erst seit Descartes, sondern schon im Nominalismus Wilhelm von Ockhams und der Ockhamisten ihren bergenden, haltgebenden Charakter im Grunde eingebüßt, aber von einem wirklich gesicherten »Selbst-Stand« des Subjekts kann noch keine Rede sein. Wenn Descartes nachdrücklich auf die »Unvollständigkeit« des Menschen als eines endlichen Wesens verweist, so wird der etwa zum Zeitpunkt von Descartes' Tod geborene G. W. Leibniz jene Merkmale der »Endlichkeit« des Menschen explizit thematisieren, die Descartes noch eher beiläufig behandelt hatte: die von altersher mit der menschlichen Ursituation gegebenen »Übel«. Doch auch Leibniz' Versuch, den Übeln einen Sinn zuzusprechen, ist noch der frühen Neuzeit als einer Umbruchsphase zuzurechnen. Seine »Theodizee«, die den endlichkeitsbedingten Übeln, primär dem »Übel der Endlichkeit« (mal um metaphysicum) selbst, Rechnung zu tragen sucht, ist in unserem Zusammenhang nur insoweit von Interesse, als in ihr - Descartes' Ansatz nicht unähnlich - die für die frühe Neuzeit charakteristische Schwierigkeit zutage tritt: das Problem, die wesentlichen Topoi der mittelalterlichen »Schöpfungsordnung« einerseits nicht anzutasten, andererseits aber mit der Intention zu verbinden, die »Rationalität« als letztgültige Beurteilungs und Rechtfertigungsinstanz393 zu etablieren. Bei Leibniz bestimmt die »Vernunft« die Grenzen der 392 Dazu W. Schulz, a. a. 0., S. 107: »Descartes hält aber trotz allen Vertrauens auf die ratio an dem Gedanken fest, daß der Mensch im Ganzen seines Seins ungesichert ist, nicht nur im Leben, sondern letztlich auch in der theoretischen Welterkenntnis.« 393 Der Versuch einer »Rechtfertigung« der Übel durch die Theodizee, erzwungen durch das nach dem Ende des Mittelalters konstatierbare »Comeback« der »nicht moralisierbaren Übel« (0. Marquard, 1983a, S. 61) der Endlichkeit und des physischen Schmerzes, läßt sich nach H. Lübbe (1989), S. 9, interpretieren als Anstrengung, »die handlungssinntranszendente Kontingenz der Welt und des Lebens ... in Handlungssinn« zu transformieren bzw. »Realität als gerechtfertigte Realität zu erweisen.« (Lübbe, a. a. 0., S. 10). Hier ist ersichtlich eine Rationalität am Werk, die moralische, und das heißt in diesem Zusammenhang: »menschliche« Beurteilungsmaßstäbe auf »Gott« als die einzige Instanz, die für das bloße Faktum des »malum metaphysicum« und des »malum physicum« verantwortlich zu sein scheint, anwendet, d. h. die ihre eigenen Kriterien auf Gott appliziert. V. E. Frankl (1980), S. 276f., hat die anthropomorphistische Struktur des Unterfangens einer rationalen Theodizee erkannt: »Welch ein Anthropomorphismus ist doch die bloße Fragestellung der Theodizee! Während sich die Frage einer Pathodizee darauf beschränkt, zu fragen, welchen Sinn das
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göttlichen Macht, was sie nicht daran hindert, Gott vom Vorwurf der Zulassung der Übel in der Welt freizusprechen. Vielmehr bildet die von der Vernunft geleistete Bestimmung der Grenzen göttlicher Möglichkeiten die Voraussetzung für den »Freispruch« Gottes vom Vorwurf der Zulassung der Übel. Auf dem »Richterstuhl« sitzt die Vernunft; Gott selbst, an dessen Logos sich einst die menschliche Vernunft bemaß, wird, auch wenn er letztlich aus Vernunftgründen »freigesprochen« wird, vors Gericht der Vernunft gezerrt. Eine solche Vorstellung spricht durchaus für das neuerwachte Selbstvertrauen der menschlichen Vernunft, doch bindet Leibniz die Vernunft wiederum zurück an ihren göttlichen Ursprung. Deswegen, ganz gleich, wie die Theodizee zuletzt ausgeht, ist Leibniz' Ansatz typisch für die frühe Neuzeit als eine Phase des Umbruchs. 394 Wo, wie c.-F. Geyer deutlich macht, die tradierten religiösen Vorstellungen )>ungebrochen das Welt- und Selbstverständnis des Menschen bestimmen, ist eine Theodizee (noch) nicht nötig, wo sie sich gänzlich aufgelöst haben, ist eine Theodizee nicht (mehr) nötig - und auch nicht mehr möglich.«395 Doch in der frühen Neuzeit sieht sich das »Vernunftsubjekt« angesichts der persistierenden Übel und der Unergründlichkeit des (nominalistischen) Gottes vor die Frage gestellt, warum es überhaupt die Übel in der Welt gibt, wenn doch der »allmächtige« und nach traditioneller Vorstellung zugleich »allgütige« Gott existiert. Die Theodizeefrage: »Si Deus est, unde malum, si non est, unde bonum?« (»Wenn Gott ist, woher kommt denn das Übel, und wenn er nicht ist, woher kommt das Gute?«)396 spricht indirekt die unter Berücksichtigung der fortdauernden Übel logisch widersprüchlich erscheinenden Gottesprädikate der All-
Leiden habe, stellt die Theodizee die Frage, welchen Grund Gott gehabt habe, das Leiden und das Übel zuzulassen. Aber steckt nicht im Ausdruck )zulassen< die Insinuation eines Kompromisses, das der Schöpfer mit seiner Schöpfung zu schließen gezwungen war? Es heißt beispielsweise: Das Übel dient zur Kontrastwirkung; wenn der Mensch nicht leiden müßte, dann könnte er sich auch nicht freuen ... als ob Gott nicht imstande gewesen wäre, eine Schöpfung zu schaffen, die auch ohne Kontrastwirkung ausgekommen wäre ... Solche Antworten auf die Theodizeefrage sind nichts anderes als ein einziger großer Anthropomorphismus. Mit der Kontrastwirkung, mit der Läuterung kommen, heißt menschliche Maßstäbe anlegen an die Motivation des Schöpfers.« H. M. Baumgartner (1995), S. 247, spricht unter Rückgriff auf Kant von einem »proton pseudos«, das dem Problem der Theodizee zugrunde liegt: Es besteht »in der Beirrung, daß der Mensch mit seiner Vernunft ein absoluter Gerichtshof sein könne.« 394 Dazu c.-F. Geyer (1982), S. 403: »Die Theodizeeproblematik, die charakteristischerweise aufbricht in der Krisis der religiösen Überlieferungen, erweist sich als Paradigma eines tiefreichenden Traditionsbruchs, der in der Diskussion der Frage nach der Möglichkeit einer Rechtfertigung der Gottheit angesichts des Negativen lediglich variiert wird.« 395 c.-F. Geyer, a. a. 0., S. 399. 396 G. W. Leibniz: Die Theodizee (Buchenau-Ausg.), S. 110, Übers. A. Buchenau. F. Billicsich (1952), S. 10, verweist darauf, daß Leibniz hier Boethius (De consolatione philosophiae I, pr. 4) folgt.
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macht und der Allgüte 397 an und bringt auf diese Weise die menschliche Rationalität zur Geltung, ohne sich jedoch von der traditionellen Gottesvorstellung zu verabschieden. 398 Die Stellung der Leibniz-Theodizee zwischen Mittelalter und Neuzeit wird bereits hinreichend deutlich, wenn man nur ihre Pointe betrachtet. Vor dem Hintergrund des Systems der »prästabilierten Harmonie« und des »Prinzips des Besten«399 entwickelt Leibniz den Gedanken, daß Gott im Schöpfungsakt eine Möglichkeit aus der in seinem göttlichen Verstand präsenten Allheit der Möglichkeiten auswählt, ja auswählen muß. Er hätte durchaus auch andere Welten wählen können, was aber nichts daran ändert, daß er in jedem Falle hätte wählen müssen. Der Schöpfungsakt ist ein Akt der Realisierung einer 397 Schon Epikur hatte, wenn man so will, ein Anti-Theodizee-Argument formuliert. Laktanz (De ira Dei 13,19, zit. nach F. Billicsich, Bd.l, 1955, S. 70, Anm. 36 sowie Bd. Ir, 1952, S. 10) hat es wiedergegeben: »Gott will entweder die Übel nicht beseitigen oder kann es nicht; oder er kann es, will aber nicht; oder er will es weder noch kann er es; oder er will es und kann es. Wenn er es kann und nicht will, so ist er mißgünstig, was Gott billigerweise fremd sein sollte. Wenn er es weder will noch kann, so ist er mißgünstig und schwach und daher auch kein Gott. Wenn er es aber will und kann, was allein Gott zukommt, woher stammen also die Übel oder warum beseitigt er sie nicht?« Ganz in Epikurs Sinne formuliert ~ drastisch ~ heute D. Z. Phillips (1988), S. 599, zit. nach W. Oelmüller (1990), S. 85: »At its best, it portrays God as acting as a less than averagely decent father. At its worst, given the extent of the divine experiment with human suffering, it portrays a monster.« In den Gottesvorstellungen aller Theodizeen ist der Vatergott nach D. Z. Phillips demnach bestenfalls ein unterdurchschnittlich ordentlicher Vater, schlechtestenfalls ein Ungeheuer. 398 Ohne die spezifisch nominalistische Gottesvorstellung wäre die Theodizeefrage vermutlich gar nicht aufgekommen. So sieht L. Oeing-Hanhoff (1986), S. 220, die Ausgangsfrage der Theodizee: »Hauptgrund für die Dringlichkeit des Theodizeeproblems in der beginnenden Neuzeit war nicht die mit dem Fortschrittsbewußtsein eröffnete neue Möglichkeit einer Weltverbesserungstheodizee, sondern die spätscholastische Gottesvorstellung. Weil Gott de potentia sua absoluta alles tun kann, was nicht in sich widersprüchlich ist, steht er jenseits von Gut und Böse. Er bestimmt ja willkürlich, was als gut und böse zu gelten hat.« Doch die nominalistische Vorstellung eines Willkürgottes konnte sich freilich nur in Absetzung von der scholastischen Gottesvorstellung, in welcher Allmacht und Allgüte Gottes unbefragt nebeneinander bestanden hatten, herausbilden. Deshalb läßt sich Leibniz' Fragestellung vermutlich nur so begreiflich machen, daß die »Vernunft« durch den Nominalismus zwar veranlaßt wurde, die Theodizeefrage überhaupt zu stellen, zugleich aber genötigt war, auf das der nominalistischen Gottesvorstellung vorausgehende scholastische Gottesbild, in dem die Gottesprädikate der Allmacht und der Allgüte problemlos miteinander harmonierten, zurückzugreifen. So wird man jedenfalls Oeing-Hanhoff verstehen müssen, wenn er (a. a. 0., S. 221) schreibt: »Wer, wie Leibniz, überzeugt ist, daß Gott nicht wie ein Despot zu fürchten, sondern liebenswert ist, muß seine Güte gegen die Vorstellung seiner jenseits von Gut und Böse stehenden Macht verteidigen. Daher die Dringlichkeit des Theodizeeproblems in der frühen Neuzeit.« Anzumerken ist vielleicht noch, daß Oeing-Hanhoff in dem hier zitierten Beitrag allen Ernstes eine neue, »moderne« Theodizee im Sinne des Freispruchs Gottes von der Verantwortung für das Leiden in der Welt intendiert. 399 Zur Funktion des Systems der »prästabilierten Harmonie«, d. h. der Zusammenstimmung aller »Monaden« zum Ganzen der Welt, und des Satzes vom »zureichenden Grund«, dem »Prinzip des Besten« (»Nihil est sine ratione sufficiente«, Theodizee, § 307) für das Unternehmen der Theodizee vgl. H. Poser (1981) und W. Janke (1973).
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Möglichkeit aus dem Gott zur Auswahl stehenden Gesamtspektrum (Allheit) der Möglichkeiten und schränkt als solcher, d. h. als Realisierungsakt, die »Allmacht« Gottes ein. Gott selbst, die Ur-Monade, die die »prästabilierte Harmonie«, d. h. die Zusammenstimmung aller »Monaden« zum Ganzen der Welt vor seinem Entschluß zur Schöpfung bereits gedacht hat, muß als schlechthin vollkommenes Wesen gedacht werden. Wählt er nun eine »mögliche« Welt als zu erschaffende, d. h. zu realisierende, aus, so kann diese Welt nicht schlechthin vollkommen, nicht wie Gott selbst sein. Denn wäre sie dies, so ließe sie sich gemäß dem Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren (principium identitatis indiscernibilium) - nicht von Gott selbst unterscheiden. M.a.W: eine schlechthin vollkommene Welt wäre eine »Verdoppelung« Gottes als des einzig denkbaren schlechthin Vollkommenen. Die geschaffene Welt ist also nicht die schlechthin vollkommene, sondern die »beste« aller möglichen Welten. Das aber besagt, daß die Weltstücke auf unterschiedliche Weise vollkommen sind, d. h. es muß in der »besten« aller möglichen Welten auch Unvollkommenes bzw. bloß Vervollkommnungsfähiges geben. Erst in ihrer - vom selber unvollkommenen, endlichen, geschaffenen Menschen nicht durchschaubaren - Gesamtheit bilden die Weltstücke, analog der »prästabilierten Harmonie« der »Monaden«, eine »gute« Ordnung. Gott läßt das Unvollkommene, Fehlerhafte, Böse etc. demnach zu, weil es - aufs Ganze gesehen - zur Bonität der Welt beiträgt, ja notwendig ist. Das, was dem Menschen als Mangel oder als Übel erscheint, bestätigt - gleichsam aufs Ganze der Welt »hochgerechnet« - bloß die gute, göttliche Schöpfungsordnung"oo Ersichtlich spielen in diesen Gedanken der Rechtfertigung der Güte des Ganzen durch die Existenz der Mängel und Übel im Besonderen und Individuellen frühchristliche, näherhin augustinische Überlegungen hinein. Die Funktionalisierung der (kleineren) Übel zum (größeren) Schmuck der Welt401 erinnert an Augustinus' Vorstellung eines gelungenen Gemäldes, in dem es neben Licht eben auch Schatten geben muß, usf. Doch entscheidend für unseren Zusammenhang ist die von Leibniz nicht in Frage gestellte schöpfungstheologische Grundaussage, daß alles Geschaffene, d. h. im Aktus der Schöpfung Realisierte, als solches endlich und insofern unvollkommen, wenn auch partiell vervollkommnungsfähig sein muß. Das Übel ist als Merkmal des endlichen Seienden nichts als »privatio boni«, Mangel am Guten, d. h. im Grunde ein »Nichts«. Doch eine derartige, schon in der antiken Ontologie geläufige Stabilisierung der guten Ordnung des Ganzen durch eine verharmlosend-funktionalisierende Interpretation konkreter, den Menschen bedrängender »Übel« stand schon zu Leib400 Dazu K. Löwith (1985), S. 285: Das »in sich hannonische Ganze ist jedoch überwiegend gut, d. h. für Leibniz aber nicht >gut< im engeren, moralischen Sinn, sondern vortrefflich wie eine gut funktionierende Maschine, in der alle Teile zusammenstimmen und deren Bewegung wohl geordnet
ist.«
401
Vgl. beispielsweise Leibniz, Theodizee, § 147.
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niz' Zeiten im Widerspruch zum erwachenden Selbstbewußtsein der »Subjektivität«. Das sich seiner Endlichkeit durchaus bewußte »Subjekt« mochte die negativen Merkmale der Endlichkeit nicht kompensatorisch zur Bestätigung der guten Ordnung des Ganzen, und das hieß jetzt: der »Schöpfungsordnung« verwendet wissen. Das neue Selbstverständnis des» Vernunftsubjekts« ließ es nicht zu, den Menschen - mit W Schulz gesprochen - umstandslos als bloße »Funktionsgröße im System«402 zu betrachten, zumal das »System« der mittelalterlichen »Schöpfungsordnung« durch den Nominalismus ohnehin ins Wanken geraten war. Leibniz' mit Mitteln nachnominalistisch-frühneuzeitlicher »Rationalität« unternommener Versuch einer Restituierung der »Schöpfungsordnung« gegen deren nominalistische Infragestellung vermochte auf Dauer nicht zu überzeugen. So sehr die nominalistische Vorstellung eines fremden, unberechenbaren und femen Gottes entschärft, die Idee der göttlichen »potentia absoluta« depotenziert werden sollte durch ein Mixtum aus schöpfungstheologischen und »rationalen« Argumenten, so wenig konnte die Funktionalisierung und Instrumentalisierung des Menschen als eines realen, vernunftbegabten Wesens zugunsten einer Wiederbelebung der gleichsam nominalistisch perforierten »Schöpfungsordnung« gelingen. M.a.W: Leibniz verharmlost die Übel und trägt der Endlichkeit schon deshalb nicht hinreichend Rechnung, weil er sie integriert bzw. aufhebt in eine mit »rationalen« Mitteln konstruierte und mit schöpfungstheologischen Versatzstücken angereicherte eherne, ewige Weltordnung. Daß Gott selbst vom Vorwurf der Zulassung der Übel »entlastet« werden soll, kann bei Leibniz nur dadurch »gelingen«, daß er, wie oben angedeutet, Gott in seinen Kalkül einbezieht403 und so gleichsam berechenbar macht. Doch die auf diese Weise geleistete »Rechtfertigung« Gottes ändert, abgesehen von den internen Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens, nichts am Fortbestehen der Übel, vordringlich des Übels der Endlichkeit selbst. Der Mensch leidet nach wie vor unter den Übeln, auch wenn Gott deren Zulassung nicht mehr vorgeworfen werden kann. Man kann nun allerdings, wie es L. Oeing-Hanhoff getan hat, mit den Mitteln scholastischer Distinktionen versuchen, die Einschätzung der Endlichkeit als Übel überhaupt zu bestreiten. Dies wäre eine prima facie interessante Version der Theodizee, gleichsam eine Theodizee (besser Pathodizee) durch Neutra/isierung des Übels der Endlichkeit. Doch erstens trifft sie Leibniz' Intention nicht404 (was nicht grundsätzlich gegen sie spräche), und zweitens verkennt 402 W. Schulz (1989), S. 114.
403 Die »Heiligkeit, Gerechtigkeit und Güte Gottes«, so H.M. Baumgartner (1995), S. 247, können »wir nicht ins Kalkül ziehen«. 404 Vgl. Leibniz' Einteilung der Übel (mala) in das malum metaphysicum, das malum physicum und das malum morale: »Man kann das Übel im metaphysischen, physischen und moralischen Sinne auffassen. Das metaphysische Übel besteht in der einfachen Unvollkommenheit, das physische im Leiden und das moralische in der Sünde.« (G. W. Leibniz: Die Theodizee, B, 1. Teil, § 21, Bu-
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sie die »Urkonstellation« des Menschen, indem sie die Endlichkeit zu einem neutralen, gleichsam in der »Schöpfungsordnung« vorgegebenen, deshalb hinzunehmenden und nicht zu bedauernden Faktum menschlicher Existenz herunterspielt. Oeing-Hanhoff schreib!"o,: »In der Endlichkeit und Unvollkommenheit schon ein Übel sehen hieße privatio, d. h. das Fehlen von etwas, das wie die Sehkraft bei Menschen sein soll, und simplex negatio verwechseln, also etwa das Fehlen der Sehkraft beim Stein, der deshalb ja nicht blind ist. Es ist gut, daß es endliche Wesen, u. a. uns Menschen, gibt, die ja gar nicht wären, wären sie nicht endlich. Nicht Gott zu sein ist also für den Menschen kein Übel, wie es für den Esel kein Übel ist, nicht ein Pferd zu sein ... Das malum metaphysicum, sofern es in der Endlichkeit endlicher Wesen bestehen soll, ist ein eingebildetes Übel, es als wirkliches Übel anzusehen, ist, wie jeder Irrtum, ein >gnoseologisches Übek« Deshalb kann Oeing-Hanhoff »nicht den Gedanken nachvollziehen, daß die Endlichkeit ein Übel ist«406. Wenn er schreibt: »Die Endlichkeit ist also an sich kein Übel, wohl aber die entscheidende Möglichkeitsbedingung für alle Übel«40" so versteht er - mit Leibniz408 - unter »Übeln« z. B. Mißgeburten und dergleichen. Doch die »einfache Unvollkommenheit«, mit der Leibniz das malum metaphysicum charakterisiert, ist als Unvollkommenheit fiir Menschen schon selbst ein Übel; denn Menschen denken - als endliche Vernunftwesen das Vollkommene, Unendliche etc. in Gott als absolut Vollkommenes, gemessen an dem die menschliche Existenz in all ihren Facetten unvollkommen sein muß, wenn man von der relativen Vollkommenheit bestimmter Fähigkeiten (Tüchtigkeiten, CtQELUL im aristotelischen Sinne) einmal absieht. Die Unvollkommenheit menschlichen Denkens und Handeins aber ist schon dem Wortsinne nach eine Beschränkung, Begrenzung bzw. »Limitation«40\ eben weil sie gar nicht anders denn als in Relation zum Vollkommenen, Unbegrenzten, Unendlichen etc. gedacht werden kann. Jede so verstandene Beschränkung wird vom Menschen deshalb als Mangel, privatio etc., kurz: als Übel aufgefaßt. Davon bildet die Endlichkeit selbst, deren Charakter als Begrenzung ja wiederum nur in Relation zum Oppositionsbegriff der Unendlichkeit zustandekommt, wahrlich keine Ausnahme. Oeing-Hanhoffs Analogie »Esel/Pferd - Mensch/Gott« ist deshalb nicht triftig, weil - bleibt man in der Analogie - der Mensch Gottes Vollkommenheit chenau-Ausg., s. 110f.); vgl. auch Die Theodizee, Anhang IV: Verteidigung der Sache Gottes ... , §§ 29ff. (Habs-Ausg., 11. Bd., S. 256ff.). Vgl. auch a. a. 0., § 20 (Buchenau-Ausg., S. 110): »Es gibt nämlich in der Kreatur eine ursprüngliche Unvollkommenheit vor aller Sünde, weil Begrenzung zum Wesen der Kreatur gehört: daher kann sie nicht alles wissen, sich täuschen und andere Fehler begehen.« 405 L. Oeing-Hanhoff (1986), S. 222. 406 Oeing-Hanhoff, a. a. 0., S. 229. 407 A. a. 0., S. 222. 408 Vgl. Leibniz, Die Theodizee, § 241. 409 Nach H. M. Baumgartner (l99Ia), S. 208, macht der Begriff der »limitativen Opposition ... von Endlichkeit und Unendlichkeit« die »Grundstruktur« der endlichen Vernunft aus.
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durchaus als Maß für seine eigene Unvollkommenheit betrachtet, der Esel dagegen schwerlich das Pferd in irgendeiner Weise als Maß für sich selbst denkt, schon weil er, wie das bei Eseln gemeinhin der Fall ist, gar nichts als Maß denkt, womöglich sogar gar nichts »denkt«. Wir denken in der Tat unsere Endlichkeit und Unvollkommenheit als privatio, nicht als simplex negatio des Unendlichen und Vollkommenen. Dem Menschen ist, anders als dem »Esel« oder dem »Stein«, seine Endlichkeit und mangelnde Vollkommenheit bewußt, und eben deshalb empfindet er sie auch als Übel. Dies hat Leibniz, anders als Oeing-Hanhoff, durchaus berücksichtigt. Auch wenn er alle drei Übel letztlich durch eine »rationale« Analyse des Gesamtsystems der göttlichen Weltordnung, d. h. durch einen Blick aufs »Ganze«, aufhebt, so gesteht Leibniz doch zu, daß die Übel, auch und gerade die Endlichkeit als Grundübel, dem eingeschränkten menschlichen Blick als Übel erscheinen müssen. Für den rationalen Gesamtkalkül, d. h. für den - von Leibniz mit Mitteln der» Vernunft« erschlossenen Über-Blick Gottes, stellen sich die Übel als Bonitäten dar, aber aus der eingeschränkten Perspektive des Menschen erscheinen sie nach wie vor als Übel. »Unsere« Perspektive, die des endlichen Vernunftwesens, aber können wir nicht aufgeben, unsere Endlichkeit nicht als bloße »simplex negatio« des Unendlichen betrachten und auf diese Weise neutralisieren. Weil die Übel trotz der »Theodizee«, die zu deren »rationaler« Erklärung entworfen wurde, persistierten, mußte der Leibnizsche »Optimierungskalkül«410 auf das frühneuzeitliche »Subjekt«, das im Begriffe war, sich »auf sich selbst zu stellen«, geradezu lähmend wirken, wies er doch zumindest tendenziell fatalistische Züge auf. Doch hat die Leibniz-Theodizee vermutlich ohnehin schon zu ihrer Zeit den Lebensnerv, die Grundstimmung der Zeitgenossen nicht getroffen und mußte schon allein aus diesem Grunde Episode bleiben. Die nominalistische Vorstellung eines gegenüber menschlichen Belangen indifferenten Gottes wird zu wirkmächtig gewesen sein, als daß sie sich durch den eher angestrengten Kalkül der Leibniz-Theodizee hätte neutralisieren lassen. In bezug auf die Persistenz des »Übels« der Endlichkeit selbst kann dies nun jedoch nur bedeuten, daß das auf sich gestellte frühneuzeitliche Subjekt, wie W. Kamlah herausgestellt hat, »seine Preisgegebenheit an die alte Not des endlichen menschlichen Seins (Pascals Antwort auf Descartes), die nun trotz Leibniz in keiner rationalen Theodizee mehr aufgehoben werden kann«411, umso intensiver empfunden haben mußte. Wenn der nominalistische Gott seinen wahren Willen nicht mehr in der »Schöpfung« zeigt, ist das notgedrungen auf sich selbst und nur auf sich selbst gestellte »Subjekt« auf jene »alte Not« zurückgeworfen, die wir als die »Urkonstellation« von Endlichkeit und Vernunft umrissen haben.
410
R. Spaemann (1989), S. 164. Kam1ah (1957), S. 330.
411 W.
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Das frühneuzeitliche »Subjekt« hat - jenseits aller »Theodizeen« - in Auseinandersetzung mit bzw. in Absetzung von der mittelalterlichen Schöpfungsordnung versucht, die alte Frage nach dem Verhältnis von Endlichkeit und Vernunft auf eigenständige, den neuen Leitbegriffen »Vernunft« und »Freiheit« entsprechende Weise zu beantworten. Diese Antwort ist dokumentiert im frühneuzeitlich erstmals aufgetretenen, später mannigfach modifizierten Theorem der »Selbsterhaltung« bzw. »Selbstbehauptung«. Auch hier mag, wie schon bei der Leibniz-Theodizee, eine Skizze der Grundgedanken ausreichen, um den Umbruchcharakter der frühen Neuzeit herauszustellen. Im frühneuzeitlichen Theorem der »Selbsterhaltung«412 (conservatio sui bzw. perseveratio) zeichnen sich die Konturen der »Subjektivität« sehr viel deutlicher ab als in der Theodizee. Die Einsicht in die Unaufhebbarkeit der durch Theodizeen nicht mehr kompensierbaren Übel, primär des Übels der Endlichkeit allen Lebens, verleiht - freilich wiederum vor dem Hintergrund der nominalistischen Gottesvorstellung - der Idee der Selbsterhaltung ihre rur die frühe Neuzeit charakteristische Gestalt, ja bringt sie allererst auf ihren Weg. Die Intensität und Härte, mit der das Bewußtsein von Endlichkeit, Vergänglichkeit und Tod frühneuzeitlich aufkommt, wäre ohne die nominalistische Zersetzung der mittelalterlichen Schöpfungsordnung, d. h. des grundsätzlich teleologisch bestimmten Welt- und Selbstverständnisses des Menschen41 \ sicher nicht vorstellbar. Der Begriff der »conservatio sui« war nicht nur als Oppositionsbegriff zum schöpfungstheologischen Begriff der »creatio continua« konzipierti" sondern läßt sich zugleich als Gegenwendung gegen den »theologischen Absolutismus«415 des nominalistisch geprägten Spätmittelalters verstehen. Die Vorstellung eines de potentia absoluta handelnden Gottes, die das Bild des mittelalterlichen Gottes als eines alles Seiende durch permanente Neuschöpfung in seinem Sein erhaltenden Schöpfers verdrängt hatte, mußte aufgrund des nunmehr unberechenbaren, »absolutistischen« Charakters Gottes das Bewußtsein des Verlassenseins, der »metaphysischen Einsamkeit«, der Endlichkeit und Vergänglichkeit alles Lebendigen geradezu heraufbeschwören. Die Idee der »Selbsterhaltung« war nun, kurz gesagt, die frühneuzeitlichem Denken offenbar einzig verbleibende Antwort auf das theologisch induzierte bzw. durch Erosion ehemals unbefragt geltender theologischer Deutungsmuster entstandene Problem der Endlichkeit alles Seienden. Das Bewußtsein der Gefährdung und Bedrohung des Menschen (und aller anderen »gottverlassenen« Kreaturen) ver412 Vgl. dazu die in H. Ebeling (Hrsg.) (1976) versammelten Beiträge zum Thema »Subjektivität und Selbsterhaltung«. 413 Vgl. G. Buck (1976), S. 219: »Solange aber der Interpretationsrahmen der mittelalterlichen Teleologie intakt ist, kann die Selbsterhaltung nicht zur fundamentalen Kategorie alles Seienden werden.« 414 Vgl. H. Blumenberg (1976). 415 Vgl. H. Blumenberg (1974), S. 141-266.
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lieh der Frage des Menschen nach sich selbst, die sich neuzeitlich als Frage nach der »Subjektivität« darstellt, frühneuzeitlich eine im Begriff der »Selbsterhaltung« zum Ausdruck kommende existentielle Dimension. Ohne den Hintergrund der Schöpfung und Erhaltung des Menschen durch Gott und die Auflösung dieses schöpfungstheologischen Rahmens im Nominalismus wäre der Gedanke der Selbsterhaltung vermutlich nicht in dieser Form aufgekommen, denn noch in der Opposition zur »creatio continua« thematisiert der Begriff der »conservatio sui« das Problem der Erhaltung des Menschen, ein Problem mithin, das in der mittelalterlichen Schöpfungsordnung eben noch keines war, durch deren Erosion jedoch eines, und zwar ein dringliches, wurde. Die neuzeitlichen Leitbegriffe der »Subjektivität« und des »Selbstbewußtseins« lassen den schöpfungstheologischen und nominalistischen Hintergrund, von dem das frühneuzeitliche Subjekt sich abzusetzen im Begriffe war, lange nicht so deutlich werden wie der Begriff der »Selbsterhaltung«. Denn noch in der Zurückweisung jeder - auch göttlicher - »Fremderhaltung«416 zugunsten menschlicher »Selbsterhaltung« scheint das göttliche »System« der Schöpfung und Erhaltung der Kreaturen als dasjenige System durch, von dem das neuzeitliche Subjekt sich abzusetzen beabsichtigte. Pointiert gesagt sah sich die neuzeitliche Subjektivität genötigt, die Erhaltung des menschlichen »Wesens«, die einst vom allmächtigen und allgütigen Schöpfergott garantiert wurde, selbst zu leisten. Humane Selbstbehauptung avancierte zur vordringlichen Aufgabe des, so D. Henrich, »auf sich selbst gestellten Menschseins«417, dessen »Möglichkeiten« die neuzeitliche Philosophie »gegen überkommene Bindungen geltend gemacht«418 hat, ohne auf einen »Begriff vom unverfügbar Gründenden ... , von einem Grunde, der die Energie der Selbstbehauptung legitimiert oder zumindest doch ihr nicht entgegensteht«419, zu verzichten. Die hervorstechendste »Aktivität« frühneuzeitlichen Denkens »ersetzt die unendliche Selbstmacht Gottes nicht dadurch, daß sie dieselbe Macht nunmehr dem erkennenden Subjekt zuerkennt, sondern dadurch, daß sie von einer Form von Tätigkeit ihren Ausgang nimmt, die sich nach dem Schema der Frage nach Schöpfung, Formierung oder Veränderung von Dingen gar nicht fassen läßt: Sie ist ihrer selbst nicht mächtig und schon gar nicht Ursprung ihrer selbst und doch in sich von einer Art, die es ausschließt, daß sie von anderem erhalten wird. Dies ist die für die modeme Theorie dessen, was >Freiheit< heißen kann, charakteristische Ausgangslage.«42o Der Begriff »Selbsterhaltung« kann demnach nicht anders denn als Ausdruck 416 Im Kontext einer Kant-Interpretation schreibt H. Ebeling (1973), S. 469, daß »sich über Selbsterhaltung sinnvoll nur sprechen läßt, wenn wenigstens vorausgesetzt werden darf, daß eine durch ein nicht-menschliches >ens rationis< erwirkte Fremderhaltung ausgeschlossen werden muß.« 417 D. Henrich (1976), S. 115. 418 Henrich, ebd. 419 Ebd. 420 Henrich, a. a. 0., S. 137. Vgl. auch a. a. 0., S. 115: Selbstbewußtsein »kann seine Struktur ebensowenig konstruieren wie es sich selbst ins Dasein bringen kann.«
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für das Problem der »Selbsterhaltung des vernünftigen Wesens«421 verstanden werden, d. h. der Erhaltung und Behauptung eines seiner selbst bewußten und zugleich weder die Struktur seines Selbstbewußtseins noch den Grund seines Daseins begreifenden Wesens. Insofern bezeichnet »Selbsterhaltung« die paradoxe Lage des endlichen Vernunftwesens zu Beginn der Neuzeit, eine Lage, in der die überkommene Ordnung sei es des »Kosmos«, sei es der »Schöpfung« zerbrochen, das endliche Vernunftwesen erstmals radikal auf sich selbst gestellt bzw. auf sich selbst zurückgeworfen war und notgedrungen vor der Aufgabe stand, seinen eigenen Status als »endliches Vernunftwesen« zu verstehen und zu »erhalten«. Die endliche Subjektivität wird im Verlaufe der Geschichte der »neuzeitlichen Metaphysik« nicht davon ablassen, nach dem »Grund« ihrer selbst, dessen Unverfügbarkeit ihr bewußt war und blieb, zu fragen. Aber sie wird ihn, anders als in der onto-theologischen Tradition der Antike und des Mittelalters, in sich selbst als endlicher Subjektivität suchen. Bevor jedoch der Gedanke der »Selbsterhaltung« seine für die Neuzeit charakteristische Bedeutung als »humane« Selbsterhaltung im Sinne des »SelbstStandes« des Menschen als endlichen Vernunftwesens erlangen konnte, dominierte - bei Thomas Hobbes - das Interesse an Selbstbehauptung des Menschen als eines endlichen Lebewesens. Hobbes' Intention, politische und soziale Strategien zur Sicherung des Überlebens der von Anbeginn an schon durch den individuellen Erhaltungswillen und die nicht nur mögliche, sondern historisch mehr als gut belegte Kollision der Einzelinteressen gefahrdeten, vom Tode bedrohten menschlichen Gattung zu entwerfen422 , ist typisch für das Denken der frühen Neuzeit, in der der Gedanke der eudämonistischen wie schöpfungstheologisch begründeten Teleologie nahezu bedeutungslos geworden war. Wenn weder das »gute Leben« im Rahmen eines wohlgeordneten Kosmos noch die Bestimmung des Menschen als einer logoshaften und deshalb dem Bilde Gottes entsprechenden Kreatur als Fundament für die menschliche Selbstbestimmung mehr gelten, wird das (Über-)Leben selbst zum höchsten Telos des Menschen. 423 Henrich, a. a. 0., S. 132 [Hervorh. K. K.). Für Hobbes ist der Tod das größte natürliche Übel, welches der Mensch »flieht«: »Fertur enim unusquisque ad appetitionem eius quod sibi bonum, et ad fugam eius quod sibi malum est, maxime autem maximi malorum naturalium, quae est mors; idque necessitate quadam naturae non minore, quam qua fertur lapis deorsum.« (»Denn jeder verlangt das, was gut, und flieht das, was übel für ihn ist; vor allem flieht er das größte der natürlichen Übel, den Tod; und zwar infolge einer natürlichen Notwendigkeit, nicht geringer als die, durch welche ein Stein zur Erde fällt.«) (De cive 1,7. Übers. M. Frischeisen-Köhler/G. Gawlick). Doch dieser Selbsterhaltungstrieb ist, bezieht man die gesellschaftliche Perspektive, d. h. die Kollision der Interessen verschiedener Individuen, Gruppen und Staaten mit ein, ambivalent: Im status naturae führt die Kollision der individuellen Selbsterhaltungstriebe zu kriegerischen Auseinandersetzungen (bellum omnium contra omnes, vgl. De cive 1,12), weshalb es der politischen bzw. gesetzlichen, d. h. vernunftgeleiteten Steuerung menschlichen Zusammenlebens bedarf. Daß dieser Ansatz von Inkonsistenzen und Inkohärenzen nicht frei ist, zeigt H. Ebeling (1979), S. 43-53. 421
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Physische Selbsterhaltung wird zum Gebot der Stunde, und die »Vernunft« dient bloß noch zum Instrument der Erhaltung des endlichen, individuellen Lebens, indem sie Strategien zur Vermeidung von Kriegen und anderen lebensbedrohlichen Auseinandersetzungen zu entwerfen hat. Den Frieden zu sichern ist nach Hobbes »das fundamentale Naturgesetz«424, d. h. eine Vorschrift, die, wie alle Richtlinien der lex naturalis, »sich auf die Vernunft gründen und dem Menschen verbieten, irgend etwas zu tun, was zur Zerstörung seines Lebens führt - oder was ihm jene Mittel raubt, die ihm zur Erhaltung seines Lebens dienlich sind.«425
Das beklemmende Bild, das Hobbes vom Menschen als einem gleichsam »komparativ-kompetitiven«426, vom schieren Selbstinteresse und ruhelosen Bedürfnis nach Machtsteigerung getriebenen, dabei stets vom Tode bedrohten Wesen zeichnet, einem Wesen, das die einst seine Gottähnlichkeit begründende »Vernunft« lediglich als Medium zur Erhaltung seines bloßen Lebens einsetzt, wäre ohne die Erfahrung des Verlustes der teleologischen wie theologischen Weltordnungen der Antike und des Mittelalters vermutlich nicht so drastisch ausgefallen. Doch ohne die Einbindung des Menschen in bergende, seine krude animalitas transzendierende, teleologische Ordnungen scheint frühneuzeitlich das Interesse an der Selbstbehauptung des »poietischen Subjekts«427, das seine ohnehin begrenzten, endlichen Belange konsequent und kompromißlos selbst bestimmt und regelt, zwangsläufig im Vordergrund zu stehen. Aber die Hobbes'sche Konzeption der Selbstbehauptung als des letzten, alle anderen Intentionen überwölbenden Telos des Menschen hatte keine Antwort parat auf die Frage des sich erhaltenden »Selbst« nach seinem eigenen Grund und Wesen. 423 Vgl. R. Spaemanns Verständnis der frühneuzeitlichen Selbsterhaltungstendenz als »Inversion der Teleologie«: »Die neuzeitliche Ontologie aber kennt Zwecke nur als Tendenzen der Selbsterhaltung, d. h. der Erhaltung dessen, was ist. Man kann die Definition der Teleologie als Selbsterhaltungstendenz eine Inversion der Teleologie nennen.« (R. Spaemann, 1978, S. 485; vgl. ders., 1976, S. 80). Ähnlich H. Krämer (1976), S. 78: Während das Selbsterhaltungsprinzip »in seinen Ursprüngen in der stoischen Oikeiosis-Lehre über die bloße Daseinsfristung weit hinausreichte und alle Arten der Selbstentfaltung einschloß, vollzog sich in der Neuzeit seit Hobbes eine zunehmende Reduktion auf den bloßen Trieb des Überlebens.« Vgl. auch H. Schnädelbach (1985), S. 97: »Die Grundlage aber und Vorbedingung der Selbstbestimmung ist die Selbsterhaltung; sie tritt an die Stelle dessen, was Aristoteles einmal das gute Leben (eil zen) genannt hatte. Die Erhaltung des eigenen Lebens, unabhängig von aller weiteren Qualifikation, die ja dem freien Willen überlassen ist - das Überleben also, und nicht das gute Leben - , dies ist das einzige, was von der objektiven Teleologie übrigblieb.« 424 The »Fundamentall Law of Nature; which is, 10 seek Peace, and follow it.« (Th. Hobbes: Leviathan 1,14). 425 Th. Hobbes: Leviathan 1,14: »A Law ofNature, (Lex Naturalis,)is a Precept, or generall Rule, found out by Reason, by which a man is forbidden to do, that, which is destructive of his life, or taketh away the means of preserving the same ... « (Deutsche Übers. D. Tidow). 426 Vgl. G. Buck (1976), S. 236f. 427 Vgl. G. Buck, a. a. 0., S. 229, mit Bezug auf eine Formulierung von Bemhard Willms.
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Das Pathos der Selbstbehauptung vermochte das Interesse der Subjektivität an sich selbst als Subjektivität nicht auf Dauer zu verdrängen. M.a.W.: Das Problem der Urkonstellation, des Verhältnisses von Endlichkeit und Vernunft, ließ sich durch die einseitige Akzentuierung der Erhaltung des Menschen als eines endlichen, allenfalls mit technisch-praktischer Vernunft begabten Wesens nicht gänzlich überdecken. Auch Baruch de Spinoza, in dessen Denken, ähnlich wie bei Hobbes, das Theorem der »conservatio sui« einen zentralen Platz einnahm428 , vermochte zur Klärung des Verhältnisses von Vernunft und Endlichkeit wenig beizutragen. Spinoza versteht, anders als Hobbes, Selbsterhaltung nicht als ein aus der lex naturalis ableitbares, durch Vernunft zu begründendes Gebot für den Menschen, die Erhaltung des eigenen Lebens allen anderen Zielen voranzustellen, sondern er begreift »conservatio sui« als allen endlichen Dingen inhärierende Tendenz. Die endlichen Dinge aber »sind Modi, durch welche die Attribute Gottes auf gewisse und bestimmte Weise ausgedrückt werden, Dinge, welche Gottes Vermögen, wodurch Gott ist und handelt, auf gewisse und bestimmte Weise ausdrücken.«429 Gottes »Vermögen« (potentia) aber ist sein »Wesen« (essentia) selbst. 430 Die »potentia« Gottes ist Seinsmacht, Macht der Existenz. »Gottes Dasein und Gottes Wesen sind ein und dasselbe. «43 1 Kurz: Das Wesen Gottes besteht in seiner Macht zu sein, d. h. zu existieren. Gott, die eine Substanz, die alles Seiende in sich faßt432 , ist essentiell Dasein. Wenn also, mit D. Henrich formuliert, Selbsterhaltung »Gottes grundlegender Wesenszug ist«433 und die endlichen Dinge Gottes Wesen auf bestimmte Weise ausdrücken, so folgt, daß auch alle endlichen Dinge nach Selbsterhaltung streben: »Unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur.«434 W. Schulz interpretiert: »Spinoza stellt den Satz auf, daß alles Seiende auf seine Selbsterhaltung aus ist. Diese Behauptung gilt primär für Gott. Gott ist Ursache seiner selbst. Dies impliziert die Selbsterhaltung. Diese Behauptung gilt aber auch für alles 428 Die »Philosophie der Selbsterhaltung, das suum esse conservare als ersten, tiefsten Trieb, der das menschliche Streben in all seinen Abstufungen und Äußerungen inspiriert«, fand Spinoza nach Th. de Vries (1978), S. 35, bei Campanella und Telesio vorgeprägt. Beispielsweise heißt es bei Tommaso Campanella: »Conservatio igitur summum bonum est rerum omnium.« (»Die Erhaltung ist somit das höchste Gut aller Dinge.«) (T. Campanella: De sensu rerum et magia, Frankfurt 1620, zit. nach SpaemannlLöw, 1981, S. 107). 429 B. de Spinoza: Ethica III,6, Demonstratio (Übers. K. Blumenstock). 430 Vgl. Spinoza: Ethica 1,34. 431 Ethica 1,20: »Dei existentia, ejusque essentia unum et idem sunt.« 432 Ethica 1,15: »Quicquid est, in Deo est, et nihil sine Deo esse, neque concipi potest.« (»Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden.« Übers. K. Blumenstock). 433 D. Henrich (1976), S. 102. 434 Spinoza: Ethica III,6. (»Jedes Ding strebt, so viel an ihm ist, in seinem Sein zu beharren.«). Ähnlich Ethica III,7: »Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter ipsius rei actualem essentiam.« (»Das Bestreben, wonach jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, ist nichts als die wirkliche Wesenheit des Dinges selbst.« Übers. K. Blumenstock).
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Seiende, insofern dieses Gott ausdrückt ... Dieser Satz zeigt die Struktur der Welt als in sich ruhend an. Das transitive Erhaltungsprinzip, das die Tradition bestimmte und das besagte, daß Gott alles Seiende erhält, ist zugunsten der intransitiven Selbsterhaltung aufgehoben.«435 Das endliche Seiende erhält sich demnach für Spinoza analog zur Selbsterhaltung des als Substanz, als »Inbegriff des Ganzen«436 gedachten Gottes. Auch wenn der Spinozistische Gott freilich nicht der persönliche Gott des Christentums ist, so darf die »Selbsterhaltung« der endlichen Dinge dennoch als im Wesen Gottes vorgegeben begriffen werden. Von spezifisch »humaner« Selbsterhaltung als Ausdruck des »Selbst-Standes« der endlichen Subjektivität kann bei Spinoza jedenfalls keine Rede sein. Jedes Endliche ist ein bestimmter »Modus«, in dem sich Gottes »Vennögen« ausdrückt, sonst nichts! Unter Einbezug der ethischen Implikationen der Spinozistischen Metaphysik spricht W. Schulz sogar von der »Aufhebung menschlicher Endlichkeit«437. Wie dem auch sei, das gänzlich »auf sich selbst gestellte« endliche Subjekt, dem die »Erhaltung« seiner selbst als endliches Vernunftwesen nach der nominalistischen Auflösung der mittelalterlichen Schöpfungsordnung zum Problem wurde, erfährt in der Philosophie Spinozas, die den mittelalterlichen Gottesbegriff rationalistisch modifiziert, keine Berücksichtigung. Weder Spinoza noch Hobbes, deren Überlegungen zur »Selbsterhaltung« der endlichen Dinge überhaupt (Spinoza) und des Menschen als endlichen, durch und durch selbstischen Wesens (Hobbes) als repräsentativ für das Denken der frühen Neuzeit gelten, qualifizieren das »Humanum«, gleichsam das »Selbst« der Selbsterhaltung, inhaltlich, so daß erkennbar würde, um ein wie beschaffenes »Selbst« oder »Subjekt« es sich eigentlich handelt, dessen »Erhaltung« nunmehr zum Programm wird. Selbst wenn man, was Spinoza betrifft, einwenden könnte, daß die endlichen Dinge als Modi der Attribute Gottes inhaltlich als durch diese bestimmt gedacht werden, so ändert dies nichts daran, daß sie insgesamt, d. h. einschließlich des Menschen, durch Gott bestimmt werden, d. h. sich nicht selbst bestimmen. Eben darin aber, in der Selbstbestimmung bzw. Selbsterhaltung, wird das neuzeitliche Problem der Subjektivität virulent. Strenggenommen sieht Spinoza dieses Problem noch gar nicht, während Hobbes es zwar sieht, es aber einseitig, d. h. durch Depotenzierung der Vernunft zum Organon der physischen Selbsterhaltung, »löst«. Physische Selbsterhaltung als letztes Telos des Menschen anzusetzen und somit das »gute Leben« auf das »nackte Leben«43' zu reduzieren bedeutet, die »innere Gestalt«439 selbstbewußten Lebens zu ignorieren. M.a.W.: Die Maxime der bloßen Selbstbehauptung, ohne Reflexion auf qualifizierende Wesensmerkmale des »Selbst«, läuft gleichsam 435 436 437 438 439
W. Schulz (1989), S. 109.
Schulz, ebd. (bei Schulz kursiv). Schulz, a. a. 0., S. 111. Vgl. auch Schulz (1977), S. 551. Vgl. R. Spaemann (1989), S. 66. Spaemann, ebd.
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leer, d. h. sie ist sinnlos. H. Reiner hat die Sinn- und Substanzlosigkeit der bloßen Erhaltung und Fortzeugung des menschlichen Daseins auf den Punkt gebracht: »Wenn der Sinn des Daseins allein der ist, daß dieses Dasein nur sich selbst erhält und neues Dasein produziert, dann fehlt diesem angeblichen Sinn in Wahrheit jede Substanz; und ein Grund, weshalb es besser sein sollte, dieses fortlaufende Rad der Selbst- und Arterhaltung weiterrollen zu lassen, als es zu zerbrechen und so seinem Lauf ein Ende zu setzen, ist aus dieser Sicht unseres Daseins nicht zu gewinnen.«44o Soll die Anstrengung der »Selbsterhaltung« nicht selber sinnlos sein, so muß das auf sich selbst gestellte Subjekt - wenn ihm denn in der frühen Neuzeit der ungebrochene Rückgang auf eudämonistische und schöpfungstheologische Ansätze versperrt ist - den Begriff des »Selbst« der Selbstkontinuierung über seine bloß negative Bestimmung als Freiheit von aller Fremdbestimmung hinaus positiv bestimmen, d. h. inhaltlich qualifizieren. Nun war es nicht nur in der frühen, sondern in der gesamten Neuzeit«1 schwierig genug, dem »Subjekt« einen eigenen Inhalt zu geben, d. h. ein Selbstverständis des Subjekts zu formulieren, das den »Grund« der Subjektivität erkennen läßt, ohne ihn wiederum in antiken und mittelalterlichen onto-theologischen Vorgaben zu suchen und ohne ihn durch bloße »Emanzipation« von diesen Vorgaben, mithin wiederum bloß negativ zu gewinnen. Der in diesem Zusammenhang naheliegende, von H. Blumenberg in die Diskussion um die Bestimmung des »Selbst« eingebrachte Begriff der »humanen Selbstbehauptung«, der - als Leitbegriff für die frühe Neuzeit - die Eigenständigkeit und »Autonomie« der Subjektivität kennzeichnen sollte, gibt zweifellos die Fragerichtung an, bleibt jedoch solange Etikette, wie nicht herausgestellt ist, wodurch das »Humanum« spezifiziert werden kann. 442 Hinter dieser Aufgabe verbirgt sich nichts Geringeres als das Ansinnen, ein menschliches Selbstverständnis zu formulieren, welches, wie oben angedeutet, das tragende Fundament des Menschseins in diesem selbst, d. h. im Menschen nicht als genuinem Teil des immergleichen Kosmos und auch nicht als Geschöpf Gottes findet. Es muß eine Qualität des Menschseins freigelegt werden, die die antiken und mittelalterlichen Bestimmungen des Menschen weder unterbietet noch sich bei diesen H. Reiner (1964), S. 37. Zur Frage nach dem ))Ende« der Neuzeit, die hier nicht thematisch gemacht werden soll, vgl. Abschnitt III, insb. III.l. und IIl.4.b) der vorliegenden Arbeit. 442 K. Löwith (1968), S. 200, verkennt allerdings die frühneuzeitlich doch zumindest angestrebte und in Umrissen schon erkennbare Selbstbestimmung des Menschen, wenn er die »Autonomie« der »humanen Selbstbehauptung« - wiederum nur negativ - als bloße »Emanzipation von religiösen Bindungen« beschreibt: »Auch die )Autonomie< der )humanen Selbstbehauptung>Ungesicherte« Weise interpretiert. Das sich auf sich »selbst« besinnende frühneuzeitliche »Subjekt« beginnt, sich als ein endliches, gleichwohl auf noch recht unbestimmte Weise freies Wesen zu betrachten, das diesen seltsamen Zwischenstatus für wert erachtet, »erhalten« zu werden. Es mag sein, daß, wie R. Spaemann meint, die »Selbsterhaltung« im Sinne der »Tendenz zur Fortdauer in der Zeit« neuzeitlich »sozusagen die Nachahmung einer nicht erreichbaren Identität mit dem Ewigen«443 darstellt. Doch die Selbstwertschätzung des Menschen als eines endlichen Freiheitswesens, aus der der Gedanke fließt, dieses Wesen sei in dem Sinne der »Erhaltung« wert, daß es nicht »nichts«, d. h. ontologisch unbedeutend ist, läßt sich mit der Kategorie des Mimetischen nicht adäquat umschreiben. Auf die Hobbes'sche »Selbstbehauptung« des Naturwesens Mensch, das seine »Vernunft« als Organon zu ebendieser Selbstbehauptung begreift, mag Spaemanns Analyse zutreffen444 , nicht jedoch auf den neuzeitlich allmählich Raum gewinnenden Gedanken des »Selbst-Standes« eines Wesens, das sich als Freiheits- und zugleich als Naturwesen, kurz: als endliches Freiheitswesen begreift. Denn dessen Primärintention ist nicht die »Fortdauer in der Zeit«, sondern eine gegen den Verdacht der eigenen Bedeutungslosigkeit aufbegehrende Selbstwertschätzung, die frühneuzeitlich im Begriff der »Selbsterhaltung« ihren terminologischen Niederschlag gefunden hat. Freilich ist das aus dem Aufbegehren gegen den Verdacht der Bedeutungslosigkeit entstandene Beharren auf dem Selbstwert der Subjektivität zunächst wiederum bloß negativ bestimmt: die Insistenz auf der Sinnhaftigkeit des endlichen Freiheitswesens als eines solchen ist geboren aus dem Gefühl der Unerträglichkeit, ein »gottverlassenes« und nach traditionellen Maßstäben deshalb sinnloses, weil »haltloses«, endliches Dasein fristen zu müssen. Doch der Gedanke der »negativen« Freiheit als Unabhängigkeit von »Fremdbestimmung«, der zunächst zweifellos von der Grundstimmung des Ausgesetztseins im Sinne der »metaphysischen Einsamkeit« durchherrscht war, barg durchaus wenn auch vorerst nur umrißhaft - das Potential einer »positiven« Bestimmung ebendieser »Freiheit« in sich. Ohne Frage sind es die in der frühen Neuzeit ja noch präsenten Vorstellungen des »guten Lebens« und, deutlicher, weil zeitlich näher, der Qualifikation des Menschen als logoshaften »Ebenbildes« Gottes 443 444
R. Spaemann (1978), S. 485. Auch wenn die Dimension des »Ewigen« in Hobbes' Ansatz gerade keine Rolle spielt.
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gewesen, die dazu angetan waren, die zunächst bloß »negative« Freiheit der Unabhängigkeit von jeder Fremdbestimmung gleichsam »positiv aufzuladen«, d. h. dem Menschen nunmehr all jene Eigenschaften als Potentialitäten zuzusprechen, die ihn einst als der» Teilhabe« am Ideenkosmos fähig und später als »Krone der Schöpfung« ausgewiesen hatten. Der vo'Ü~, der A6yo~, die ratio (bzw. der intellectus), d. h. dasjenige Potential, in dem sich traditionell das »Göttliche« im Menschen zeigte, wurde frühneuzeitlich als des Menschen ureigene, sein »Selbst«, seine Identität ausmachende Fähigkeit »entdeckt« bzw. uminterpretiert. Die »Gottesverlassenheit« oder die zunächst bloß »negative« Freiheit vernunftgeleiteter Selbstbestimmung erwiesen sich frühneuzeitlich, bestärkt durch die nominalistische Vorstellung eines »fremden« Gottes, als Chance zu einem neuen Verständnis des Menschen von sich selbst, das die für ihn »positiven« Momente althergebrachter Selbst und Weltdeutungsmuster bewahrte, ohne den onto-theologischen Hintergrund mit all seinen nunmehr verblaßten Orientierungen weiterhin als verbindlich anzuerkennen. Wurden »Vernunft« und »Freiheit« nunmehr als Konstituentien des auf sich gestellten »Menschseins«, d. h. des neuentdeckten »Humanums« begriffen, so mußte in ihnen - und nur in ihnen - der »Grund«, die »Substanz« der Subjektivität gesucht werden. Bedenkt man die weittragende Uminterpretation der ehemals auf andersgearteten, aber »tragenden« Weltdeutungsmustern beruhenden »Grund«-Begriffe der neuzeitlichen Subjektivität, »Vernunft« und »Freiheit«, so nimmt es nicht wunder, daß das in diesen Grundbestimmungen der »Humanität« schlummernde Potential allererst »neu entdeckt« werden mußte. Da jedoch die ehedem gültigen onto-theologischen Rahmenbedingungen obsolet geworden waren, bedurfte das »freigesetzte« Vernunft bzw. Freiheitspotential einer neuen inhaltlichen Bestimmung. Diese aber konnte - so die neuzeitlich allmählich Gestalt annehmende Überlegung - nur in einer konsequenten »Steigerung« des bislang nur schemenhaft erkennbaren, »neuen« und allenfalls im Ansatz »verstandenen« Potentials der »Vernunft« gesucht werden. »Von außen« war keine Hilfe mehr zu erwarten, so daß die einzige »Chance« einer den traditionellen Weltund Selbstdeutungsmustern adäquaten Selbstbestimmung des Menschen im Verständnis seines» Vernunftstatus« als einer allererst zu entfaltenden Potentialität bestand. Der zunächst seltsam anmutende Begriff der »Selbsterhaltung« erwies sich so lediglich als Vorstufe zu jenem Begriff, der das neuerwachte Zutrauen der Subjektivität zu sich selbst im Verlaufe der Neuzeit adäquat zum Ausdruck bringen sollte: dem Begriff der »Selbststeigerung«. Nun sind, bloß formal betrachtet, aus dem Begriff der »Selbststeigerung« ebensowenig inhaltliche Bestimmungen des »Selbst« zu gewinnen wie aus dem Begriff der »Selbsterhaltung«. Doch eine solche Betrachtungsweise würde den Kern des menschlichen Selbstverständnisses in der Neuzeit verkennen. Denn die Idee der Vervollkommnung (»Steigerung«) des wie auch immer >>Unbe-
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griffenen« Potentials der »Vernunft«, aus dem heraus sich die neuzeitliche Subjektivität versteht, basiert nicht auf dem Gedanken einer »Gegebenheit« und völligen Transparenz der Vernunftbegabung des Menschen, sondern auf dem Verständnis dieses aus onto-theologischen Zusammenhängen herausgelösten, dem Menschen lediglich als reflexiv nicht einholbare Grundlage »gegebenen«, in seiner Vollstruktur jedoch erst »herzustellenden«, zu »vervollkommnenden« Potentials. M.a.W.: die »Vernunftbestimmung« des Menschen, aus der heraus sich neuzeitliche »Subjektivität« versteht, wird als Aufgabe, d. h. als Anspruch des Menschen an sich selbst begriffen. Vernunft- bzw. Freiheitswesen zu werden, besser: sich zu einem solchen zu machen, ist der »Inhalt« des »Selbst«. Kurz: das »Vernunftsubjekt« definiert sich durch diese selbstgestellte Aufgabe. Das im frühneuzeitlichen Begriff der humanen Selbstbehauptung angezielte »Humanum« tritt nach neuzeitlichem Vertändnis in Gestalt eines Anspruchs des Menschen an sich selbst auf. Insofern ist »Selbsterhaltung ... des menschlichen Daseins«, wenn sie »im Gefolge der neuzeitlichen Inversion auftritt, sogleich synonym mit >Selbststeigerung>unendliche Aufgabe« der Selbsterhaltung des Menschen im Sinne der Erhaltung des »Humanums«. Einen gegenüber der frühen Neuzeit deutlicheren Begriff von moralischer Selbstvervollkommnung (»perfectibilite«) entwickelt im 18. Jahrhundert Jean-Jacques Rousseau.
5. Moralische Selbstbestimmung des Menschen: Rousseau und Kant Rousseau entwickelt sein Konzept der »perfectibilite« auf der Grundlage eines für die neuzeitliche Philosophie wegweisenden FreiheitsbegrifJs. In seiner Auffassung von der Willens- bzw. Wahlfreiheit, deren Bedeutung für das Selbstverständnis der neuzeitlichen Subjektivität nicht zu überschätzen ist, spiegelt sich die Ambivalenz des gänzlich auf sich selbst gestellten Menschseins in einer später kaum noch einmal erreichten Deutlichkeit wider. Wohl vermag Rousseau erstmals eine inhaltliche, zudem überaus zuversichtliche Bestimmung des »Humanums«, gleichsam des »Selbsts der Selbsterhaltung« zu geben, aber zugleich zeichnet er ein schwarzes, geradezu trostloses Bild vom faktischen Verlauf der Menschheitsgeschichte. Wir skizzieren im folgenden zunächst den Ansatz Rousseaus insoweit, wie es für das Verständnis des mehrdeutigen Begriffs der »perfectibilite« erforderlich ist und wenden uns anschließend der moralischen Bedeutung des Begriffs der »Selbstvervollkommnung« zu, in der Rousseaus spezifisch neuzeitliche Freiheitslehre kulminiert. Der Mensch ist für Rousseau durch eine ursprüngliche, vorreflexive Beziehung zu sich selbst gekennzeichnet. Diese in einem neutralen, sittlich indifferenten Sinne zu verstehende Selbstbeziehung bedeutet zweierlei: zum einen geht der Mensch, im Unterschied zum Tier, nicht in der Natur auf, sondern »wählt und verwirft« seine »Bewegungen« und Handlungen »durch einen Akt der Freiheit« (liberte)44" zum anderen ist er »alles für sich selbst. Er ist (zahlenmäßig) eine Einheit und ein absolutes Ganzes. Er hat nur Beziehungen zu sich selbst und seinesgleichen.«448 Die Fähigkeit zur »Selbstbeziehung« hebt den Menschen aus
447 448
Vgl. J.-J. Rousseau: Ungleichheit, S. 106f. J.-J. Rousseau: Emil, S. 14.
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der Natur heraus und ist, versteht man sie als »Selbstliebe« (I 'amour de soimeme)449, als elementares Selbstinteresse, ursprünglich gut (naturellement bon)450, ja geradezu ein Quell der Tugend und der Moral. »Ursprünglich« bedeutet für Rousseau: im fiktiven, hypothetisch angesetzten »Naturzustand«451 des »homme naturei«, in dem »seine eigene Erhaltung« (sa propre conservation) die »nahezu einzige Sorge« (presque son unique soin), das einzige Problem des »Wilden« (l'homme sauvage)'52 ist. 453 Die »eigene Erhaltung« aus »Selbstliebe« ist »gut« (bon) in einem sehr weiten, ursprünglichen Sinne; die »Selbstliebe« ist eine noch unverdorbene, heile Form der Selbstbeziehung des Menschen. Doch die Vergesellschaftung in allen ihren Facetten ließ die Selbstliebe (amour de soi) zur Selbstsucht (amour-propre) verkommen:54 Während die Selbstliebe ein »natürliches Gefühl« aller Tiere und des Menschen ist, »über ihre Erhaltung zu wachen«455 (und beim Menschen »von der Vernunft geleitet« wird456 ), ist die Selbstsucht »nur ein relatives, künstliches, in der Gesellschaft geborenes Gefühl«457, das als Ursprung aller zwischenmenschlichen Übel (les maux)458 angesehen werden muß. Dieses »künstlich« erzeugte Gefühl des amour-propre, das den homme nature I zum homme artificiel depravieren ließ, hat die Menschheitsgeschichte de facto bestimmt. Zwar ist »der« Mensch gut, aber: »Die Menschen sind schlecht«459, d. h. ihre gesellschaftliche Entwicklung ist schlecht verlaufen. Der »Emile« faßt diesen betrüblichen Sachverhalt in die berühmten Worte: »Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen.«46o Gemeint sind die durch Vergesellschaftung und Zivilisation verursachten Depravationen des )>ursprüng-
Rousseau: Ungleichheit, S. 169. Rousseau, a. a. 0., S. 111. 451 Der »pur etat de nature« ist rur Rousseau kein Zustand, in dem sich die Menschen einstmals tatsächlich befunden hätten (vgl. Ungleichheit, S. 78), d. h. es geht Rousseau nicht um »historische Wahrheiten«, sondern um »hypothetische und bedingte Überlegungen, die eher zur Erhellung der Natur der Sache als zum Aufweis des tatsächlichen Anfangs geeignet sind.« (Ungleichheit, S. 78. Übers. K. Weigand). Der »Naturzustand«, heißt es im Vorwort des »Zweiten Diskurses«, ist ein Zustand, »der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat und der wahrscheinlich niemals existieren wird.« (Ungleichheit, S. 66). 452 Ungleichheit, S. 104. 453 Den »homme natureI« kennzeichnet R. Spaemann (1980), S. 13, als »narzißtisches Bedürfniswesen«, um ihn vom »zoon politikon« und vom »zoon logon echon« (Spaemann, ebd.) abzusetzen. 454 Vgl. Ungleichheit, S. 168. 455 Ebd. 456 »Dirige dans I'homme par la raison« (ebd.). 457 »L'amour-propre n'est qu'un sentiment relatif, factice, et ne dans la societe ... « (ebd.). 458 Vgl. ebd. 459 »Les hommes sont mechants.« (Ungleichheit, S. 110 [Hervorh. K. K.]). 460 Rousseau: Emil, S. 11. 449
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lieh« heilen Zustandes der Dinge:61 Rousseau, der im »Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars« im »Emile« schreibt: »Es ist der Mißbrauch unserer Kräfte, der uns unglücklich und böse macht«46>, verwendet an solchen Stellen eine geradezu biblische bzw. augustinische Diktion, die den Anschein erwecken könnte, er denke den Ursprung der Übel analog zum »Sündenfall«-Mythos und hänge der Lehre von der »Erbsünde« an. Doch zumindest letzteres trifft auf Rousseau nicht zu, wie E. Cassirer herausgearbeitet hat. 463 Gleichwohl liegt der Ursprung der Übel - auf eine dem biblischen »Sündenfall« vergleichbare Weise - im Menschen selbst, d. h. in seiner Freiheit zum Guten wie zum Bösen. Rousseau schreibt unmißverständlich: »Mensch, suche nicht weiter nach dem Urheber des Übels; dieser Urheber bist du selbst. Es existieren keine anderen Übel als die, die du tust oder leidest, und die einen wie die andern kommen von dir selbst her. Das allgemeine Übel könnte nur in der Unordnung bestehen, aber ich sehe im System der Welt eine Ordnung, die sich nie verleugnet. Das besondere Übel existiert nur in der Empfindung des leidenden Wesens, und diese Empfindung hat der Mensch nicht von der Natur empfangen, er hat sie sich selbst zugezogen.«464 Es sind die Tendenz zum (zivilisatorischen) Fortschritt und die mit ihr verbundenen Laster des »amour-propre«, die die menschenspezifischen (»besonderen«) Übel465 verursacht haben. Könnten wir uns von der Fortschrittstendenz und ihren Folgelasten befreien, wäre alles »gut«: »Nehmt unsern unheilvollen Fortschritt, nehmt unsere Irrtümer, unsere Laster und alles Menschenwerk von uns hinweg, und alles ist gUt.«466 Wie für Rousseau die Tendenz zum Fortschritt und zur Vervollkommnung und mit ihr die Entfremdung des Menschen, die Depravation der »Selbstliebe« zur »Selbstsucht«, überhaupt haben entstehen können, muß jedoch ohne Berücksichtigung seines Freiheitsbegriffs unklar bleiben und wird auch unter Einbezug dessen nicht gänzlich transparent. Doch das alte Problem des Ursprungs der Übel ist nicht die vordringliche Frage Rousseaus. Seine Primärintention besteht vielmehr zunächst darin, den Zusammenhang von »Freiheit« und »Selbststeigerung« aufzuzeigen, 461 Wenn für Hobbes bereits der Naturzustand durch Selbsterhaltungstendenzen im Sinne bloßen Machtstrebens gekennzeichnet war, so gehören derartige Tendenzen für Rousseau nicht zum Urzustand, sondern zur schon depravierten menschlichen Existenz, d. h. zur »Geschichte« der Menschheit. Der Urzustand ist rein und gut, die Identität des Menschen noch heil, unentzweit und unentfremdet. 462 Rousseau: Emil, S. 319. 463 E. Cassirer (1989), S. 37: »Was Rousseau, bei all seinem echten und tiefen religiösen Pathos, ein für allemal von allen traditionellen Glaubensformen trennt: das ist die Entschiedenheit, mit der er jeden Gedanken an eine ursprüngliche Verschuldung des Menschen verwirft.« 464 Rousseau: Emil, S. 319. 465 »Das moralische Übel ist unbestreitbar unser Werk, und das physische Übel würde nichts sein ohne unsere Fehler, durch die es uns erst fühlbar geworden ist. Läßt uns die Natur unsere Bedürfnisse nicht unserer Erhaltung wegen fühlen? Ist nicht der körperliche Schmerz ein Zeichen, daß die Maschine gestört ist, und eine Mahnung, für sie zu sorgen?« (Emil, ebd.) 466 Emil, S. 319f.
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um auf dieser Grundlage das »Menschsein« des Menschen durch eine eminent moralische Aufgabe zu definieren. Dieser Absicht dient die Einführung eines fiktiven, »idealen« Urzustandes, und es ist nicht die Frage, wie es möglich war, einen als real angenommenen »guten« Urzustand, und das heißt einschlußweise: die unentfremdete Identität des Menschen, derart zu entstellen, daß »aus ihm« die Übel, insbesondere die Selbstentfremdung des Menschen, gleichsam herauswachsen konnten. Die Übel erfohrt Rousseau vielmehr - wie jeder halbwegs wache Zeitgenosse - als gegenwärtige, und er sieht sie zudem die bisherige Menschheitsgeschichte durchherrschen und bestimmen. Aus dieser Eifahrung heraus entwickelt er seine Lehre von der Notwendigkeit eines moralischen Selbstverständnisses des Menschen. Diejenige Tendenz, die die Menschen - oberflächlich betrachtet - in den »entarteten« Zustand des »amour-propre« hineingetrieben hat, ist die »Fähigkeit zur Vervollkommnung«467 im Sinne eines Strebens nach Perfektionierung ihrer Fähigkeiten, d. h. des »Fortschritts« in mannigfacher Hinsicht. Die »Vervollkommnungsfahigkeit« (»perfectibilite«)468, d. h. die Fähigkeit zur Selbststeigerung, unterscheidet den Menschen zwar vom Tier4 69 , ist aber zugleich faktisch »die Quelle alles Unglücks des Menschen«470 gewesen. Die »perfectibilite« aber beruht letztlich auf der »Freiheit«, genauer: der Willens- bzw. Wahlfreiheit des Menschen, d. h. sie ist deren hervorstechendster Ausdruck. Wenn der Mensch nicht nur irgend etwas, sondern seine elementaren Fähigkeiten, basalen Eigenschaften etc. zu »vervollkommnen« in der Lage ist, so muß er die »Freiheit« zur Veränderung und »Steigerung« für ihn wesentlicher Potentialitäten aus eigenem Willen besitzen. Anders gewendet: er ist nicht - auch nicht in bezug auf sein »Wesen« - strikt auf die ihm von Natur aus gegebenen Möglichkeiten festgelegt7!, er ist »nicht festgestellt«, wie Nietzsche später sagen wird. In ebendiesem Sinne versteht Rousseau in der Tat den Menschen, wenn er die »faculte de se perfectionner« als die dem Menschen eigentümliche, ihn vom Tier »unterscheidende Eigenschaft«472 betrachtet. Ein Tier ist nicht in der Lage, auch nicht über Generationen hinweg, wirkliche »Fortschritte« zu erzielen. »Die Natur befiehlt jedem Wesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch fühlt gleichfalls ihr Drängen, aber er erkennt sich als frei (il se reconnait libre), um nachzugeben oder zu widerstehen.«473 In der Fähigkeit zur »Selbstperfektionierung« zeigt sich »La faculte de se perfectionner« (Ungleichheit, S. 106). Ungleichheit, S. 108. 469 Vgl. Ungleichheit, S. 107. 470 »La source de tous les malheurs de I'homme« (Ungleichheit, S. 108). 471 Es sei denn man würde seine Willensfreiheit und Vervollkommnungsfähigkeit einschließlich aller durch sie geschaffenen »Produkte« selber noch zur »Naturanlage« des Menschen zählen, wodurch der Naturbegriff jedoch aufgespreizt und unspezifisch würde. 472 » ... cette difference de l'homme et de l'animal, il y a une autre qualite tres specifique qui les distingue ... « (Ungleichheit, S. 106). 473 Ungleichheit, S. 107. Übers. K. Weigand. 467 468
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also letztlich des Menschen »nicht festgestelltes« Wesen: seine »Willensfreiheit« (»sa qualite d'agent Iibre«)'74. Diese, und nicht sein Erkenntnisvermögen, unterscheidet den Menschen vom Tier. 475 Dadurch, daß Rousseau die Willensfreiheit als des Menschen ureigene »Fähigkeit« herausstellt, begreift er den Menschen als ein prinzipiell >>Offenes«476 und zugleich gänzlich auf sich selbst gestelltes Wesen. Seine »Freiheit« ist fundamental, damit aber auch »offen« im Sinne der Nichtfestgelegtheit und Unberechenbarkeit. 477 Dennoch ist es seine Freiheit, die den Menschen allererst zum Menschen macht: »Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch ... verzichten ... Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen.«478 Die Freiheit des Willens, d. h. zugleich: die Handlungsfreiheit, ist das ausgezeichnete Merkmal des Menschen. »Der Mensch ist also frei in seinen Handlungen und als freies Wesen von einer immateriellen Substanz beseelt«47., schreibt Rousseau, und ferner: »Der Urgrund einer jeden Handlung liegt im Willen eines freien Wesens, darüber kommt man nicht hinaus.«48o In »Abwendung vom alten teleologischen Denken«, so G. Buck481 , faßt Rousseau den »Akt freier Selbstbestimmung«482, die Spontaneität des Willens als das Eigentümliche des Menschen auf. 483 Wohl ist ihm bewußt, daß eine so verstandene Willensfreiheit die Entscheidung des Menschen durchaus nicht nur zum »Guten«, sondern auch zum »Bösen« ermöglicht. Aber nur um den Preis der Verleugnung unseres Wesens können wir darauf verzichten, Freiheitswesen in diesem ambivalenten Sinne zu sein. Rousseau bekennt sich emphatisch zu dieser Freiheit: »Wie! Um zu verhindern, daß der Mensch böse sei, sollte sie [sc. die göttliche Allmacht] ihn auf den Instinkt beschränken und zum Tier machen? Nein, Gott meiner Seele, niemals werde ich Vorwürfe gegen dich erheben, daß du mich nach deinem Bilde geschaffen hast, A. a. 0., S. 106. Vgl. ebd. 476 Diese »Offenheit« ist nicht identisch mit der »Instinktoffenheit« bzw. »Weltoffenheit«, mit deren Hilfe die »Philosophische Anthropologie« Plessners und Gehlens im 20. Jahrhundert den Menschen charakterisiert, obwohl sie natürlich ähnliche Züge aufweist. Rousseau akzentuiert stärker als die genannten Autoren, »daß der Mensch sich oft zu seinem Schaden« von den durch den Instinkt vorgeschriebenen Gesetzen »entfernt« (Ungleichheit, S. \07). 477 Es läßt sich vermuten, daß Rousseau die Willensfreiheit des Menschen nach Maßgabe des nominalistischen Gottes bestimmt, so daß die Unberechenbarkeit des »Deus absconditus« im Menschen ihren zwar endlichen, aber nichtsdestoweniger unergründlich-bedrohlichen Niederschlag gefunden hat. 478 Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, S. I \. Der Übersetzer kommentiert (a. a. 0., S. 156, Anm. 15): »Eigentlicher Kerngedanke Rousseaus: Das Wesen des Menschen liegt in seiner Freiheit.« 479 Rousseau: Emil, S. 318. 480 Ebd. 481 G. Buck (1976), S. 215. 482 Rousseau: Emil, S. 308. 483 Für 1. Habermas (1988), S. 167, ist es der »Begriff der selbsttätigen Subjektivität ... ,aus dem die Moderne ihr Freiheitsbewußtsein, überhaupt den ihr eigentümlich normativen Gehalt von Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zieht ... «. 474 475
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damit ich frei, gut und glücklich sein kann wie du!«484 Das Ebenbild Gottes besitzt demnach dessen Potentialitäten auch in der Hinsicht, daß es über die grundlegende Freiheit der Entscheidung nicht nur über dieses und jenes, sondern über »gut« und »böse« verfügt, freilich eingeschränkt durch die Grenzen seiner Endlichkeit. 485 Nach alledem ist die »faculte de se perfectionner« als Ausdruck fundamentaler Willensfreiheit ebenso ambivalent wie diese selbst. Die neuzeitliche Subjektivität, deren doppeldeutiges Wesen Rousseau mit seiner Lehre von der Willensfreiheit erstmals klar benennr86, ist fahig zur »Selbststeigerung« im positiven wie im negativen Sinne. Die Menschen haben bislang - daran besteht für Rousseau kein Zweifel - die elementare Fähigkeit zur Selbststeigerung und damit ihre fundamentale Freiheit überwiegend negativ »genutzt«; der marode Jetztzustand entfremdeter Subjektivität legt davon hinreichend Zeugnis ab. Doch Rousseau ist Optimist. Er traut dem Menschen zu, seine »ursprüngliche« Potentialität der »guten« Selbstbeziehung in Gestalt des »amour-de-soi« (wieder-)herzustellen. Die »Selbstentfremdung« muß nicht zwingend das letzte Wort über den Menschen sein. Zur Etablierung des Zustandes eines nichtdepravierten Selbstinteresses aber bedarf es einer Umkehr in der Weise, daß die »faculte de se perfectionner« nicht mehr im technisch-praktischen, sondern zunehmend im moralischpraktischen Sinne begriffen und genutzt wird. Die »perfectibilite« darf nicht länger als »blinder« Fortschritt im Sinne des »citius-altius-fortius« um seiner selbst willen verstanden werden, sondern als Selbstvervollkommnung des Menschen in einem eminent moralischen Sinne. Zwar erreicht der Mensch als endliches Freiheitswesen das »Gute« nicht in dessen absoluter Bedeutung, aber er hat es anzustreben, indem er das jeweils »Bessere« intendiert. 487 In der so verstandenen »Selbststeigerung«, im moralischen Verständnis der »perfectibilite«, im Begreifen der Sittlichkeit als Aufgabe, als »ständigen Erwerb«488 besteht für Rous-
Rousseau: Emil, S. 319. Spätestens hier zeigt sich, daß Rousseau dem Menschen Züge des nominalistischen Gottes, zumindest dessen uneingeschränkte und unergründliche Entscheidungs- und Handlungsfreiheit, verleiht. Der Mensch ist nicht nur gottähnlich, sondern ähnelt dem nominalistischen Gott.Die Fähigkeit, sich zum Guten oder zum Bösen entscheiden zu können, betrachtet Rousseau als dem menschlichen Wesen genuin zugehörig und stuft sie nicht als Folge der Mißachtung eines göttlichen Verbotes ein. Der Mensch ist vielmehr ab ovo ein Wesen von freiem Willen, einschließlich der damit verbundenen Konsequenzen. 486 Dazu R. Spaemann (1980), S. 14: »Die modeme Subjektivität, die in ihm (sc. Rousseau) ihre unvergleichliche Darstellung findet, findet durch ihn auch ihre unnachsichtige Entlarvung.« 487 Rousseau konkretisiert das »Streben« nach dem Besseren bekanntlich als Erziehungs- und Bildungaufgabe. »Vervollkommnung« versteht er demgemäß als unabschließbaren Bildungsprozeß. 488 Vgl. E. Cassirer (1989), S. 61: »Die >Perfektibilität< ... soll ihm [sc. dem Menschen] wieder den Weg zur Freiheit bahnen. Denn die Freiheit ist kein Geschenk, das eine gütige Natur dem Menschen in die Wiege gelegt hat. Sie besteht nur, sofern er sie sich selbst erwirbt, und ihr Besitz ist von diesem ständigen Erwerb unabtrennbar.« 484 485
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seau die Bestimmung, das Wesen des Menschen" 89 Der Mensch als mit freier Willkür begabtes Lebewesen ist »nicht festgelegt«; daran ändert sich nichts. Aber gerade vor dem Hintergrund dieses gleichsam wesenlosen Wesens des Menschen sieht sich Rousseau genötigt, die zunächst sittlich indifferente Freiheit des »amour-de-soi« durch einen eminent moralischen Inhalt zu bestimmen. Nur dadurch findet die nach neuzeitlichem Verständnis »auf sich selbst gestellte« Subjektivität überhaupt zu einer tragfähigen inhaltlichen Bestimmung ihres »Wesens«. Menschliche Freiheit kann deshalb Freiheit im Vollsinne nur als moralisch-sittliche sein. Gott hat, schreibt Rousseau, »unsere Natur mit solchen Vorzügen ausgestattet ... , daß er mit unsern Handlungen eine Moralität verbunden hat, die sie veredelt ... «490. Die Moralität als »wesentliches« Merkmal des Menschen und damit die moralisch-praktische Bestimmung der menschlichen Freiheit lassen sich für Rousseau nicht theoretisch demonstrieren, sondern nur intuitiv erfassen. Es ist das »Gewissen« (conscience), jener »instinct divin«49I , in dem sich die moralischen Prinzipien dem Menschen kundtun: »0 Tugend, erhabene Wissenschaft der schlichten Seelen - bedarf es so großer Mühen und Vorbereitungen, um dich zu erkennen? Sind deine Prinzipien nicht in alle Herzen eingegraben? Genügt es nicht, um deine Gesetze zu erkennen, wenn man in sich geht und die Stimme des Gewissens hört, wenn die Leidenschaften schweigen? Das ist die wahre Philosophie!«492 Rousseaus Hinweis auf das »Gewissen« als den Ort, an dem sich die Moralität zeigt, verdeutlicht zweierlei: Zum einen kann die Moralität, da die »Stimme des Gewissens« unmittelbar »spricht«, keine abgeleitete bzw. »deduzierte« menschliche Bestimmung sein, sondern muß, wie angedeutet, als intuitiv erfaßtes Grundvennögen des Menschen begriffen werden. Zum anderen machen wir - wie G. Buck herausgearbeitet hat - »im Vernehmen der Stimme des Gewissens ... immer die Erfahrung der Selbstbeziehung und zugleich die Erfahrung, daß wir über den Grund dieser Selbstbeziehung nicht verfügen. Eben dies ist der Ursprung der Moralität. Wir sind aktiv und hinnehmend zugleich. Wir regeln uns, indem wir uns ausdrücklich regeln lassen.«493 Daß wir »über den Grund dieser Selbstbeziehung nicht verfügen«, zugleich aber dem Gewissen als unserer »inneren«, d. h. in uns selbst auftretenden Stimme folgen, zeigt, daß wir im Hören auf die Stimme des Gewissens unserer selbst als endlicher und zugleich in einem fundamentalen Sinne auf uns selbst bezogener Wesen gewahr werden. Die zunächst im Modus der sittlichen Indifferenz auftretende »Selbst-
489 Nach H. Böckerstette (1982), S. 176, »möchte Rousseau die Moralität als den ureigensten Wesens grund des Menschen aufzeigen«. 490 Rousseau: Emil, S. 318. 491 Vgl. Emil, S. 331. 492 Rousseau: Über die Wissenschaften und Künste ... (Erster Diskurs), 57. Übers. K. Weigand. 493 G. Buck (1976), S. 277.
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beziehung« in Gestalt des »amour-de-soi« erhält ihre inhaltliche Bestimmung durch die explizite Berücksichtigung des Gewissensphänomens, welches seinerseits den Aspekt der Endlichkeit unseres Daseins auf die Weise ins Spiel bringt, daß der Subjektivität bewußt wird, »in der Selbstbeziehung nicht zugleich ihr eigener Seinsgrund zu sein ... «494. Für Rousseau reflektieren - anders als noch rur Hobbes - die Subjekte ihre Endlichkeit »als Moment dieser Selbstbeziehung«495. M.a.W.: Die Endlichkeit erweist sich als konstitutiv rur die Selbstbeziehung der Subjektivität. Das aber heißt: die Aufgabe der moralischen Selbstbestimmung besteht als solche nur rur ihrer Endlichkeit bewußte Wesen. Für die durch den Einbezug des »Gewissens« erst vollends deutlich gewordene Struktur der »ursprünglichen«, fundamentalen Selbstbeziehung der Subjektivität in Gestalt des »amour-de-soi« sind die - ihrerseits aufeinander verweisenden - Bestimmungsmomente der Endlichkeit und der Moralität konstitutiv. Dies, daß der Mensch als endliches Lebewesen in der Moralität seine wesentliche Bestimmung, gleichsam sein »eigentliches Selbst« erblickt, adelt ihn und erhebt ihn, wie Rousseau mit der ihm eigentümlichen Schlichtheit und Plastizität des Ausdrucks formuliert, noch über die Engel: »Was rur ein Verdienst läge rur den menschlichen Geist, wenn er frei und rein geblieben wäre, darin, die Ordnung zu lieben und zu befolgen, die er festgesetzt vorfande und die zu stören er gar kein Interesse hätte? Er würde glücklich sein, das ist wahr, aber seinem Glück fehlte der höchste Grad, der Ruhm der Tugend und das gute Zeugnis seiner selbst. Er wäre wie die Engel, aber ohne Zweifel ist ein tugendhafter Mensch mehr als sie.«496 Denn die Engel sind, anders als der Mensch, nicht »mit einem sterblichen Leib durch ebenso mächtige wie unbegreifliche Bande verbunden«497, und ihre Seele wird nicht, wie die des Menschen, »durch die Sorge rur den Körper bewogen, alles auf sich zu beziehen«498. Wenn also der Mensch, trotz der unvermeidlichen Sorge um die Erhaltung seines Körpers, seine wesentliche Bestimmung in der Anerkennung der »moralischen Aufgabe« sieht, dann und nur dann ist das »Humanum«, das »Selbst der Selbsterhaltung«, positiv bestimmt, ohne die Komponente der Endlichkeit auszublenden. »Erhebt« sich der Mensch also zur »Idee der Freiheit«, »strebt« er über seinen Status als endliches Naturwesen hinaus499 , so schafft er sich durch die
Buck, a. a. 0., S. 265. Buck, ebd. 496 Rousseau: Emil, S. 333 . 497 Ebd. 498 Emil, S. 333f. 499 So E. Cassirer (1989), S. 60: »Der Mensch ist >von Natur gut< - sofern eben diese Natur nicht in sinnlichen Trieben aufgeht, sondern sich, von sich aus und ohne äußere Hilfe, zur Idee der Freiheit erhebt. Denn die spezifische Gabe, die den Menschen von allen anderen Naturwesen unterscheidet, ist die Gabe der Perfektibilität. Er bleibt nicht bei seinem ursprünglichen Zustand stehen, sondern strebt über ihn hinaus ... «. 494 495
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»Anerkennung eines sittlichen Gesetzes«soo eine nicht von der Natur vorgegebene, sondern »neue eigene Form der Existenz«sol. Das gänzlich auf sich selbst gestellte Subjekt darf keine göttliche Hilfe erhoffen, sondern »muß zu seinem eigenen Retter und im ethischen Sinne zu seinem Schöpfer werden«so2. Indem es sich der bergenden Ordnung der »Natur« begibt, sieht es sich »auf einen unendlichen Weg hinausgewiesen«503 und ist freilich auch »allen Gefahren dieses Weges preisgegeben«504. Im Angesicht dieser Gefahren geschieht der Aktus der Anerkennung des sittlichen Gesetzes gleichwohl aus freien Stücken, das Gesetz ist vom Subjekt »selbstgegeben«505. Es ist allein »die sittliche Freiheit«, die »den Menschen zum wirklichen Herrn seiner selbst macht«; denn »der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit.«so6 In der hier von Rousseau formulierten Idee der moralischen Autonomie, die sich das selbstbezügliche und den Endlichkeitsbedingungen unterstehende Subjekt als seine für sein Selbstsein wesentliche Bestimmung zuspricht, ist das entscheidende Charakteristikum, gleichsam das Herzstück der neuzeitlichen Philosophie der »Subjektivität«, erstmals deutlich benannt. Im Begriff der sittlichen »Selbstgesetzgebung« findet der Anspruch des endlichen Freiheitswesens an sich selbst: sich in allem Ernste und ungeachtet aller Gefahren, Unwägbarkeiten und Unberechenbarkeiten, die mit der endlichen Existenz seit jeher verbunden sind, moralisch selbst zu bestimmen, seinen adäquaten Ausdruck. Der zur »Vervollkommnung« in vielerlei Hinsicht fähige Mensch erblickt das Wesen seiner nach wie vor ambivalenten - Freiheit in der Moralität und verleiht so dem frühneuzeitlich errungenen »Selbst-Stand« der Subjektivität mit Hilfe der Idee der moralischen Autonomie einen erstmals wirklich eigenen Inhalt. Kant, nach eigenem Zeugnis durch Rousseau »zurecht gebracht«507, hat Rousseaus Idee der moralischen Selbstbestimmung des Menschen aufgegriffen und ihr im Rahmen seiner großangelegten Studien über das menschliche Vernunftver500 Cassirer, ebd. 501 Cassirer, a. a. 0., S. 61. 502 Cassirer, a. a. 0., S. 39; vgl. S. 68. 503 Cassirer, a. a. 0., S. 61. 504 Cassirer, ebd. 505 Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 23. 506 Rousseau, ebd. Dazu E. Cassirer (1989), S. 22: Für Rousseau besagt Freiheit »die Bindung an
ein strenges und unverbrüchliches Gesetz, das das Individuum über sich selbst aufrichtet.« Die »selbständige Zustimmung zu ihm ist das, was den echten und eigentlichen Charakter der Freiheit ausmacht.« 507 I. Kant: Bemerkungen, XX, S. 44: »Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bei jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen und ich verachtete den Pöbel der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren und ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert erteilen könne, die Rechte der Menschheit herzustellen.«
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mögen systematische Gestalt verliehen. Intentionsgleich mit Rousseau, doch mit dem Unterschied, das »moralische Gesetz« als Gesetz der (praktischen) Vernunft zu begreifen, hat Kant die wesentliche Bestimmung des Menschen in seiner Bindung an das selbstgegebene Moralgesetz gesehen. Dem Moralgesetz als Gesetz der praktischen Vernunft »Eingang zu verschaffen« in den Willen, d. h. in die »Maximen«, bedeutet für Kant, den unbedingten Anspruch des Menschen an sich selbst: endliches Vernunftwesen, »animal rationale« im Vollsirme dieses Begriffs zu sein, wenigstens tendenziell zu erfüllen. Um den Einfluß Rousseaus auf Kant zu ermessen, mag es hier genügen, zum einen an Kants Lehre von der »Autonomie des Willens«508 zu erirmern, die ohne Rousseaus Idee eines »selbstgegebenen« Moralgesetzes wohl nicht die pointierte Form gefunden hätte, in der sie in der )Kritik der praktischen Vernunft< präsentiert wird. Zum anderen findet eine Grundidee Rousseaus, daß sich die Moralität als wesentliche Bestimmung des Menschen nicht theoretisch, sondern nur praktisch-intuitiv erfassen läßt, in Kants Lehre vom »Faktum der Vernunft«509 ihren Niederschlag. Doch für unseren Zusammenhang wichtiger noch ist die Übereinstimmung Rousseaus und Kants in bezug auf die Einschätzung der menschlichen Tendenz zur »Selbststeigerung«. Werm für Rousseau die »faculte de se perfectionner«, die durchaus ambivalente Fähigkeit des Menschen, seine Gaben zu diesem oder jenem, zum Guten wie zum Bösen zu nutzen, durch eine entschieden moralische Zielvorstellung geleitet werden muß, um die Depravation des »amour-de-soi« zum »amour-propre« zu verhindern, so denkt auch Kant an die Aufgabe, an den Anspruch des Menschen, seine zunächst bloß animalischen »Anlagen« aus eigener Kraft gleichsam zu überbieten durch eine eminent moralische Selbstbestimmung. Für beide Denker leitend - und darin zeigt sich ihr spezifisch neuzeitlicher Ansatz - ist die Einsicht, daß die Selbststeigerung des Menschen vom Status bloßer »animalitas« hin zur Moralität seine ureigene, durch keine kosmische Ordnung oder transzendente Macht abgesicherte Aufgabe ist, d. h. daß der Mensch sich als gänzlich auf sich selbst gestelltes, »autonomes« Weltwesen in allem Ernste selbst durch diese Aufgabe bestimmen muß. Diese Selbstbestimmung durch die Idee der Moralität hat der Mensch als reales »Weltwesen« angesichts seiner Leibgebundenheit, seiner Triebstruktur, seiner Fehlbarkeit und nicht zuletzt seiner Sterblichkeit, kurz: angesichts seiner Endlichkeit zu leisten. Er kann seine Naturgebundenheit ebensowenig außer acht lassen wie er auf den Anspruch autonomer Selbstbestimmung durch die Idee der moralischen Verpflichtung verzichten kann. Ohne die Selbststeigerung im genannten Sirme bliebe das »eigentliche Selbst«, d. h. das den Menschen auszeichnende Selbstverständnis als der Moralität fähiges Willenswesen oder, Kantisch formuliert, als der Zurechnung fähiges Vernunftwesen unterbestimmt, werm nicht gar unbestimmt.
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Vgl. dazu Abschnitt 11.2. der vorliegenden Arbeit. Vgl. dazu K. Konhardt (1979), S. 215-230.
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Die folgende kurze Passage aus der >ReligionsschriftKritiken< geht es Kant um ein Begreifen dessen, was er das »Vermögen eines endlichen vernünftigen Wesens überhaupt«524 nennt. Der Gang der Interpretation, der bei der Selbsterhaltung des Menschen in seiner »animalischen Natur« beginnt und über die elementare »Vernunftfähigkeit« des Menschen bis hin zur »Achtung für das moralische Gesetz« führt, zeigt, durch Rousseau vorbereitet, daß die spezifische Rationalität des Menschen, die Vernünftigkeit des »animal rationale«, für Kant letztlich moralisch zu bestimmen ist. Ohne die moralische »Selbststeigerung«, die sittliche »Perfektionierung«, die ihrerseits nur für endliche Vernunftwesen einen Sinn macht, bliebe der »Selbst-Stand«, der zentrale Begriff der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität, ein inhaltsleerer Begriff. 519 Anthropologie, VII, S. 321. 520 Ebd. 521 KpV, V, S. 61f. 522 Die Natur hat den Menschen
nicht als ihren »besondern Liebling aufgenommen«, sondern »ihn vielmehr in ihren verderblichen Wirkungen, in Pest, Hunger, Wassergefahr, Frost, Anfall von andern großen und kleinen Tieren u.d.gl., eben so wenig verschont, wie jedes andere Tier ... « (KU, V, S. 430). 523 Vgl. KpV, V, S. 76; vgl. S. 79. V Gerhardt (1990), S. 67, faßt das »vernünftige Wesen« ganz in Kants Sinne auf, wenn er schreibt, es müsse die »Erfahrung eigener Bedürftigkeit« machen, »ohne die es wohl weder zu Handlungen noch zu einem Begriffvon sich selbst noch zur Konzeption von Zwecken kommen kann.« 524 KU, V, S. 401.
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6. Die »aufgehobene« Endlichkeit. Ein Blick auf den deutschen Idealismus Bei seinem Versuch, die natürliche Existenz vernünftiger Wesen begrifflich zu fassen, hatte Kant, aufbauend auf zentralen Einsichten Rousseaus über die Notwendigkeit eines moralischen Verständnisses menschlicher »perfectibilite«, die Unterwerfung unter das Gesetz der »praktischen« Vernunft als für die Selbstbestimmung des »endlichen Vernunftwesens« unverzichtbar herausgestellt. Gibt sich der Mensch als Vernunftwesen die Gesetze seines Handeins vor, so stellt er sich als endliches Vernunftwesen >>Unter« diese sich autonom gegebenen Gesetze. Kant hat nicht der Illusion nachgehangen, das »Mixtum« aus Vernunft und Endlichkeit, als welches sich der Mensch seit der klassischen griechischen Philosophie begreift, wirklich »verstehen« zu können. Vielmehr hat er - auf der Höhe neuzeitlichen Philosophierens - versucht, dem sich immer schon als »vernünftig« verstehenden, aber zugleich auch aufgrund ebendieser Vernunftbegabung seiner unaufhebbaren Endlichkeit bewußten Menschen eine Orientierung zu geben, die letztlich in nichts anderem als der Anerkennung des Vernunftgesetzes als eines für endliche Vernunftwesen im Modus eines »Imperativs« auftretenden Gesetzes besteht. Einer solchen Orientierung bzw. »Sinngebung« bedarf das selbstverständlich auch für Kant als den »neuzeitlichen« Denker par excellence »auf sich selbst gestellte« Subjekt ebenso wie seinerzeit der in der Kosmos- oder der Schöpfungsordnung geborgene Mensch. Doch vor dem Hintergrund des spätmittelalterlich-nominalistischen Zerfalls der »alten« Ordnungen und des frühneuzeitlichen Ringens um »Selbsterhaltung« und Selbstbestimmung des auf sich selbst zurückgeworfenen Subjekts konnte die Sinngebung, die Kant mit seiner »kritisch gereinigten« Metaphysik zweifellos intendierte, nicht jenseits der frühneuzeitlich gewonnenen Einsicht in die Endlichkeit menschlichen Daseins ersonnen werden. Die aus gutem Grund »rigorose«, kompromißlose Selbstbestimmung des Subjekts »durch Vernunft« geschieht bei Kant vielmehr jederzeit mit Blick auf die Endlichkeit des Menschen. Diejenige Denkbewegung, die unter dem Namen des »deutschen Idealismus« geläufig ist, also insbesondere Fichte, Schelling und Hegel, trägt prima facie dem Begriff der Endlichkeit ebenfalls Rechnung, integriert ihn jedoch - vor allem bei Hegel - in den spekulativen Zusammenhang einer Philosophie des »Absoluten« und beraubt ihn so seiner ihm von Rousseau und Kant noch zugesprochenen Brisanz. Die Endlichkeit wird - was hier im Rahmen unseres Überblicks über den Wandel der Auffassungen vom Menschen als eines Vernunft- und Sinnenwesens bloß angedeutet werden kann - im deutschen Idealismus systemimmanent funktionalisiert und verharmlost. Es wird, so J. Schwartländer, »eine Grundeinsicht Kants aufgegeben oder doch entschieden zu wenig beachtet: die unaufhebbare Endlichkeit des Menschen, oder genauer: die nicht zu >vermittelnde< Grundspannung zwischen der im sittlichen Bewußt-
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sein unbedingt geforderten Freiheit und der unaufhebbaren Bedingtheit alles menschlichen Tuns ... «525. Die Bedingtheit und Kontingenz menschlichen Daseins und Handeins wird im deutschen Idealismus zumeist nicht thematisiert oder zumindest nicht in der ihr fur das menschliche Selbstverständnis zukommenden Bedeutung berücksichtigt. Diese nach dem Vorgang Rousseaus und Kants geradezu unglaublich erscheinende Depotenzierung der Endlichkeitskomponente des Menschen 526 wird jedoch nachvollziehbar - wenn auch aus heutiger Sicht nicht akzeptabel -, wenn man berücksichtigt, daß es den Denkern des deutschen Idealismus zuvörderst darum zu tun war, die Struktur der Subjektivität selbst zu analysieren, was ihnen nur auf dem Wege der Selbstreflexion des »Ich« bzw. der »Vernunft« möglich erschien. Ein solcher Ansatz fuhrt letztlich zwangsläufig auf die Denkfigur der »absoluten Reflexion«527, d. h., mit W. Schulz gesprochen, es geht den Denkern des deutschen Idealismus »darum, die absolute Subjektivität als ein reines Aus-Sich zu deuten«528. Die absolute Subjektivität, sei sie nun »absolutes Ich«, »absolute Vernunft«, »absoluter Geist« oder wie auch immer genannt, ist sich des Weltlichen als eines Momentes ihrer selbst bewußt. Sie hat alles Weltliche gleichsam immer schon transzendiert, indem sie es in den - bei Hegel prozessual gedachten - Aktus der Selbstreflexion integriert. Wird die Subjektivität im Prozeß der Selbstreflexion zum Ursprung des Weltlich-Endlichen, d. h. wird dieses zum Medium, zur »Stufe« des Selbstentäußerungs- und Selbstfindungsprozesses der »absoluten« Subjektivität, so ist es gleichsam »nichts außerdem«, sondern erschöpft sich in seiner Funktion, integrierendes Moment des Prozesses der Selbstreflexion der absoluten Subjektivität zu sein. M.a.W.: Die »Vernunft« bzw. das »Ich« oder der »Geist« gewinnt die Bedeutung eines allumfassenden Prinzips, d. h. von dem »einen« geistigen Prinzip her wird das »Ganze« konstituiert und transparent gemacht. Das »eine« Prinzip der »Subjektivität« wird im Aktus der Selbstreflexion gleichsam zum Weltprinzip und in diesem Sinne zum »absoluten« Prinzip. Vor einem solchen Hintergrund kann das »Weltliche«, »Zeitliche« und »Endliche«, zumal die »endliche Subjektivität«, freilich keine Eigenständigkeit bewahren, so daß nicht nur die Endlichkeit, sondern mit ihr auch das Spannungsverhältnis von Vernunft und Endlichkeit auf eine elegante, aber wohl allzu elegante Weise »aufgehoben« wird. E. Coreth hat diese Konsequenz der Denkfigur des deutschen Idealismus umrissen: »Das endliche Subjekt wird zum Erscheinungsort und Entfaltungsmoment des absoluten Geistes (Hegei). Der Mensch erscheint primär, wenn nicht ausschließlich, als reines Vernunftwesen. 1. Schwartländer (1981), S. 22. Die Depotenzierung der Endlichkeit im deutschen Idealismus wird nicht weniger unglaublich, wenn man, wie der Verfasser, die zentrale Bedeutung des deutschen Idealismus für die neuzeitliche Philosophie der Subjektivität nicht verkennt. 527 W. Schulz (1979), S. 266. 528 Schulz, ebd. 525
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Und die endliche Vernunft des Menschen wird aufgehoben in einem unendlichen Vernunftprozeß, in dem die Eigenständigkeit des endlichen Subjekts untergeht.«529 Das Besondere, Einzelne, Individuelle, das Weltliche, Zeitliche und Endliche wird zum bloßen Mosaikstein im System des Allgemeinen, Ganzen, Allumfassenden, Überzeitlichen und Unendlichen, auf welches die» Vernunft« nach dem Verständnis der abendländischen Denktradition und freilich auch bei Kant sozusagen »ausgriff«, welches aber nun, im deutschen Idealismus, zum gleichsam »eigentlichen« und alleinigen Medium der »Vernunft« hochstilisiert wird. Die Erkennbarkeit und Explizierbarkeit des Weltlich-Endlichen gilt in der Philosophie der »absoluten« Subjektivität schon deshalb als gewährleistet, weil - so der Anspruch - es im Rahmen des allumfassenden Vernunft- bzw. Geistessystems eine bestimmte, dieses selbst mitkonstituierende und stabilisierende Funktion errullt und unabhängig von diesem System strenggenommen nicht einmal gedacht werden kann. Wenn, mit W. Schulz gesprochen, »die Subjektivität zum absoluten Ich und weiterhin zur absoluten Vernunft erhöht wird«530, so »radikalisiert« sich die »Vorstellung der Subjektivität ... zu der Idee einer absoluten Subjektivität, die die Endlichkeit >abstreift( ... «531. Diese Übersteigerung der Vernunftbestimmung des Menschen bei gleichzeitiger Depotenzierung seiner Endlichkeitskomponente soll im folgenden am Beispiel Hegels 532 kurz vor Augen geruhrt werden, auch um die nachidealistischen Versuche einer Rehabilitierung der Endlichkeit würdigen zu können. Das »absolute Subjekt« geht rur Hegel der Welt weder logisch noch zeitlich voraus, sondern ist - auf eine verzwickte, »dialektische« Weise - mit dem Weltprozeß eins. Der Weltprozeß selbst erweist sich, wie die Analyse seiner einzelnen »Stufen« zeigt, letztlich als Relation zwischen Endlichem und Unendlichem. Bei genauerem Hinsehen allerdings stellt sich diese Beziehung als durchaus asymmetrische dar: Das Endliche, Mannigfaltige, das Besondere und Einzelne sind notwendige Momente desjenigen »Prozesses«, den das »Subjekt« zu absolvieren hat, um ganz »bei sich« zu sein. Das Eine und Umfassende, das Allgemeine und Unendliche, das traditionell die Essenz der Welt im ganzen E. Coreth (1980), S. 34. W. Schulz (1992), S. 139: Vgl. a. a. 0., S. 137: »Der Weg von Descartes zu Hegel ist durch ständige Überhöhung des Ich, d. h. durch die ständige Eliminierung menschlicher und endlicher Züge der Ichhaftigkeit bestimmt.« Vgl. auch a. a. 0., S. 240. 531 Schulz, a. a. 0., S. 141. 532 In Fichtes Ansatz beim »sich selbst setzenden«, »absoluten« Ich und in Sc hellings Frage nach der Abkunft des Endlichen aus dem »Absoluten« ließe sich die Tendenz zur Depotenzierung der Endlichkeit freilich ebenfalls nachweisen. Doch zum einen wird die Übersteigerung der Vernunftbestimmung in Hegels Konzeption der »absoluten Subjektivität« auf die Spitze getrieben, und zum anderen gilt Hegels Ansatz - ob berechtigterweise oder nicht - bis heute als Abschluß und »Synthese« der neuzeitlichen Metaphysik insgesamt, so daß sich auch die» Vernunftkritiker« des späten 19. und des 20. Jahrhunderts eher auf Hegel als auf Fichte oder Schelling bezogen haben und noch heute beziehen. 529
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ausmachte, wird bei Hegel prozessualisiert, d. h. verzeitlicht. Hegels Pointe besteht darin, daß der Prozeßcharakter der Selbstexplikation des Einen, Urspriinglichen, »Absoluten« nicht ontologisch oder quasi-ontologisch, d. h. gleichsam »subjektfremd« oder »übersubjektiv« vorgegeben ist, sondern durch den Aktus der Selbstreflexion des Subjekts allererst zustandekommt. Die endliche Subjektivität selbst denkt das Unendliche als Prozeß, doch zugleich führt diese Reflexionsleistung der Subjektivität zu der Einsicht, die Stufen dieses Prozesses als Bestimmungen der Subjektivität selbst begreifen zu müssen. Das heißt aber: die endliche Subjektivität übersteigt sich in der Reflexion auf das Unendliche selbst zur »absoluten« Subjektivität, indem sie die Stufen des Prozesses durchschreitet und zuletzt, gleichsam auf der »höchsten«, absoluten Stufe den gesamten Prozeß als solchen erst vollends »begreift«. Der Selbstexplikationsprozeß des »Geistes«, die »Geschichte« des Geistes, erweist sich letztlich als Selbstexplikationsprozeß der »Subjektivität«, die im Durchschreiten und Durchschauen der Stufen der Geschichte des Geistes ihren Endlichkeitsstatus hinter sich läßt und sich zur »absoluten« Subjektivität aufschwingt. Die Stufen der Geschichte des Geistes, die Formen, in denen sich der Geist gleichsam weltlich sedimentiert, bilden, vom »Ende«, d. h. von der Warte des »absoluten« Geistes her gesehen, die Etappen desjenigen Prozesses, den wir» Weltgeschichte« nennen. Die Phasen der »Weltgeschichte« sind also letztlich, als Stufen der Geschichte des »Geistes«, Stufen der Selbstreflexion der »absoluten Subjektivität«. Insofern ist, wie wir oben sagten, das »absolute Subjekt« mit dem »Weltprozeß« eins. Dieser allumfassende Reflexionsprozeß hebt, mit anderen Worten gesagt, als >>unendlicher« Vernunftprozeß die endliche Vernunft des Menschen auf. Das endliche Subjekt wird, wie oben angedeutet, zum bloßen Ausgangs- bzw. Entfaltungsmoment des »absoluten« Geistes, d. h. der »absoluten« Subjektivität. Im >>unendlichen« Prozeß der Selbstentfaltung des »Geistes« wird das Endliche absorbiert. Das aber heißt: das endliche, individuelle menschliche Leben besitzt keine Eigenbedeutung mehr, sondern wird »aufgeopfert und preisgegeben«533. Das Eine, Allgemeine, Unendliche, Absolute degradiert im Prozeß seiner Selbstbeziehung, der »Weltgeschichte« als Apotheose des »Geistes«, das Viele, Besondere, Endliche, Relative zur bloßen Funktion. Das Endliche hat kein »wahres« Sein, menschliche Geschichte ist nichts als bloße »Schädelstätte des absoluten Geistes«534. So ist die Asymmetrie im Weltprozeß als der Relation 533 G. W. F. Hegel, VG, S. 105: )}Das Besondere hat sein eigenes Interesse in der Weltgeschichte; es ist etwas Endliches und muß als solches untergehen .... Aber eben im Kampf, im Untergange des Besondern resultiert das Allgemeine .... Das Partikuläre ist meistens zu gering gegen das Allgemeine; die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben.« Ähnlich VG, S. 48f.: »Dabei, daß einzelne Individuen gekränkt worden sind, kann die Vernunft nicht stehen bleiben; besondere Zwecke verlieren sich in dem Allgemeinen.« 534 G. W. F. Hegel, PhdG, S. 564.
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I. »Animal rationale«
zwischen Endlichem und Unendlichem offenkundig: Das Endliche ist »nicht das Wahre, sondern schlechthin nur ein Übergehen und Übersichhinausgehen«535, etwas, »was seinen Grund nicht in sich selbst hat«536, der Geist aber ist »das an sich Ewige«, an dem es ist, das »Vernichtigen des Nichtigen, das Vereiteln des Eitlen in sich selbst zu vollbringen«537. »Der Geist als Geist ist nicht endlich, er hat die Endlichkeit in sich, aber nur als eine aufzuhebende und aufgehobene.«538 Er »bleibt in seiner Verendlichung unendlich, denn er hebt die Endlichkeit in sich auf ... «539. Die dialektische »Aufhebung«54o der Endlichkeit, d. h. der endlichen Subjektivität, impliziert für Hegel freilich auch die Aufhebung des gravierendsten Merkmales der »Endlichkeit«: des Todes. Hegel verschiebt, so W. Schulz, die Frage nach dem Tod »vom ontischen Aspekt des Individuums und seiner Zukunft auf die Frage nach dem Subjekt als einer alle Endlichkeit übersteigenden Geistigkeit«541. Für ihn ist es unzweifelhaft, »daß der Mensch als Geist unsterblich ist ... , über die Endlichkeit, Abhängigkeit, über äußere Umstände erhaben, die Freiheit von allem zu abstrahieren; es ist darin gesetzt, der Sterblichkeit entnommen zu sein«542. Gemessen am »Leben des Geistes« ist der Tod eine »Unwirklichkeit«543, bei der der »Geist«, und das heißt letztlich die »absolute Subjektivität«, nicht stehenbleiben kann, die er als Geist vielmehr immer schon »aufgehoben« hat. In einer solchen Metaphysik des »absoluten Geistes« ist, wie E. Fink bemerkt, »kein Platz für das Nichts, das sich im Menschentod meldet ... «544. Auf der Höhe des deutschen Idealismus, in Hegels Philosophie des Absoluten, werden die »Begrenzungen«, durch welche die Endlichkeit insgesamt charakterisiert werden kann, als notwendige, aber aufzuhebende »Bestimmungen« des »Geistes« im Prozeß seiner Selbstfindung aufgefaßt. Der Mensch ist, ähnlich wie bei Platon, »wesentlich« Geist, doch, anders als bei Platon, »integriert« Hegel die Endlichkeitsmomente in den Prozeß, in den Gang des Geistes »zu sich« und hebt so, wie eingangs gesagt, das Spannungsverhältnis von Vernunft und Endlichkeit, »Geist« und »Natur« auf eine besonders feinsinnige Weise auf. Den frühneuzeitlich errungenen »Selbst-Stand« der Subjektivität, der dann bei G. W. F. Hegel, Enz III, § 386, Werke, Bd. 10, S. 35. Ebd. 537 Ebd. 538 Hegel, a. a. 0., S. 36. 539 A. a. 0., S. 37. 540 Die »Aufhebung« einer Stufe im dialektischen Prozeß ist bei Hegel bekanntlich immer im Sinne nicht nur von »tollere«, sondern zugleich auch von »conservare« und »elevare« zu verstehen. 541 W. Schulz (1992), S. 140. 542 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion 11, Werke, Bd. 17, S. 260. 543 Hegel, PhdG, S. 29. 544 E. Fink (1969), S. 163. 535
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7. Die Depotenzierung der Vernunft
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Rousseau und Kant angesichts der nicht »aufzuhebenden« Endlichkeit durch Freiheit (Rousseau) bzw. durch »praktische« Vernunft (Kant) qualifiziert wurde, überzeichnet Hegel zum absoluten Selbst-Stand der Subjektivität, zum unendlichen und todlosen »Geist«. Der Selbst-Stand, den sich das neuzeitliche Subjekt einst angesichts der nominalistischen Erosion der mittelalterlichen »Schöpfungsordnung« notgedrungen und eher zaghaft zugesprochen hatte, gewinnt im deutschen Idealismus die Gestalt eines die Endlichkeit überwindenden, »absoluten« Selbst-Standes. Das »Subjekt« selbst avanciert so - quasi-ontologisch zum Prinzip und Ursprung der Ordnung der Dinge, eine Vorstellung, die Rousseau und Kant noch fernliegen mußte. Doch es ist die Frage, ob ein solches Verständnis der Subjektivität als »absolute Vernunft«, »absoluter Geist« oder »absolutes Ich« der komplexen Wirklichkeit selbstbewußten menschlichen Lebens gerecht wird. Die Überakzentuierung des Vernunft- bzw. Geistescharakters des Menschen im deutschen Idealismus, insbesondere bei Hegel, hat dem Vorwurf der »Selbstüberforderung« gegenüber dem »Vernunftsubjekt« ja denn auch nachhaltig Nahrung gegeben. Daß die Endlichkeit menschlichen Daseins sich in der Manier einer »Philosophie des Absoluten« nicht »aufheben« läßt: diese Einsicht hat die idealismuskritische Philosophie des späten 19. Jahrhunderts auf den Plan gerufen. Und bis heute besteht gegen die »Philosophie des Absoluten« derjenige Verdacht, den E. Fink, der Endlichkeit des Menschen eingedenk, geäußert hat: »Die Metaphysik des >Absoluten< noch hängt in ihrer Begriffsschöpfung aufs engste zusammen mit der Sterblichkeit des Menschen. Auf ein unzerstörbares Sein hofft am Ende ein Lebewesen, das zittert im Wind der Zeit.«545
7. Die Depotenzierung der Vernunft und die Rehabilitierung der Endlichkeit im nachidealistischen 19. Jahrhundert Das Ende des »deutschen Idealismus«, von Philosophiehistorikern nicht selten mit dem Ende der »Metaphysik« überhaupt gleichgesetzt, bezeichnet ganz sicher einen Einschnitt, wenn nicht gar einen »Bruch«546 im neuzeitlichen Denken. Nun gibt es in der Philosophie des 19. Jahrhunderts mannigfache Strömungen und Tendenzen 547, die nur mit Blick auf den gesamten kulturund geisteswissenschaftlichen Hintergrund und unter Einbezug der naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritte dieses bewegten Jahrhunderts verständlich sind. Doch kaum eine philosophische Strömung des 19. Jahrhunderts dürfte sich gänzlich unabhängig von dem »Bruch«, den das Ende des »deut-
545 546 547
Fink, a. a. 0., S. 48. Vgl. K. Löwith (1981 e). Vgl. H. Schnäde1bach (1983) und W. Hogrebe (1987).
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schen Idealismus« darstellt, herausgebildet haben. Noch die Parze liierung der Philosophie in natur- und geistes- bzw. kulturwissenschaftliche Fragebereiche und freilich auch solche Tendenzen wie der »Historismus« oder der »Relativismus« lassen sich direkt oder indirekt als Reflex auf die Erosion der »neuzeitlichen Metaphysik« als Wesensphilosophie begreifen. In der Retrospektive läßt sich das Verhältnis durchaus auch umkehren, so daß die durch die Wissenschaften entstandenen neuen Gegenstandsbereiche in ihrer kaum überschaubaren Auffacherung und mit ihren veränderten Schwerpunktbildungen das Ende der prinzipienorientierten neuzeitlichen Metaphysik mitverursacht haben. Es ist schwer auszumachen, ob die Skepsis gegenüber der idealistischen Konzeption einer »absoluten Vernunft« die veränderten wissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen erzwungen hat oder ob die neuen Fragestellungen als eigenständige, authentische Leistungen des nachidealistischen Denkens betrachtet werden müssen und erst sekundär zu der Einsicht führten, daß der Anspruch des Idealismus, die Ordnung der Dinge deduktiv, d. h. aus einem Prinzip zu erklären, der konkreten Vielfalt der Wirklichkeit nicht gerecht werden konnte. Wie dem auch sei: die Skepsis gegenüber der angemaßten Deduktionskapazität des Idealismus nahm jedenfalls zumeist die Gestalt der kritischen Distanz gegenüber jeder Form von »Metaphysik« an. Vor allem Hegels System des sich durch alle Lebens- und Kulturbereiche hindurch seiner selbst vergewissernden »Geistes« ließ sich als Weiterführung und Kulminationspunkt der klassischen, onto-theologisch orientierten Metaphysik auffassen, so daß die Kritik des Idealismus sich zugleich als Kritik der Metaphysik überhaupt verstehen konnte. Kurz: die Metaphysikkritik des späteren 19. Jahrhunderts entzündete sich an den idealistischen Konzeptionen des »absoluten Geistes« bzw. der »absoluten Vernunft« und wendete sich damit in einem ausgeweiteten Sinne gegen jede »Metaphysik«, d. h. gegen jede Art von »Wesensphilosophie«. Läßt sich - verkürzt gesprochen - die neuzeitliche Metaphysik, d. h. die Spanne von Descartes bis Hegel, als neuzeitliche »Vernunjiphilosophie« etikettieren, so bedeutete der »Bruch« im Denken des 19. Jahrhunderts eine Zäsur im Verständnis des Begriffs der Vernunft als des Leitbegriffs der Metaphysik insgesamt. Hatte sich aus der Perspektive der nachidealistischen Vernunftkritiker des 19. Jahrhunderts der Idealismus in seinen Anstrengungen, Denken und Sein, die Ordnung der Welt überhaupt aus einem Prinzip, dem »Vernunftprinzip«, zu deduzieren, gleichsam »übernommen«, so mußte der in allen »metaphysischen« Konzepten explizit oder implizit als philosophischer Grundbegriff anerkannte Vernunftbegriff generell in Mißkredit geraten. Damit aber verabschiedete das nachidealistische Denken nicht weniger als die Vorstellung einer essentiellen Bestimmung des Menschen »durch Vernunft«. Wenn man so will, war dieser Verzicht auf die Vernunft als den »Wesenskern des Menschen«548 und die hier548 O. F. Bollnow (1988), S. 13f., hat die tiefgreifende Verunsicherung des seines» Wesenskernes« beraubten Menschen im späteren 19. Jahrhundert treffend geschildert: »Erst in dem Augenblick
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durch platzgreifende Verunsicherung des nachidealistischen Denkens der Preis rur die Hypertrophierung der Vernunft im deutschen Idealismus. Das seit der frühen Neuzeit mühsam errungene Bewußtsein eines »Selbst-Standes« des Menschen als endlichen, aber »autonomen« Vernunftwesens, ein Bewußtsein, das sich noch bei Rousseau und Kant unter ausdrücklicher Berücksichtigung der Endlichkeitskomponente des Menschen konstituierte, wird im nachidealistischen 19. Jahrhundert, in Abkehr von der Vorstellung eines sich gleichsam weltlos ausschließlich selbst reflektierenden Vernunftsubjekts 549, weitgehend preisgegeben. Das »Subjekt« wird nunmehr - anders als in der frühen Neuzeit - nicht auf sich selbst als »Vernunftsubjekt« zurückgeworfen, sondern der Mensch konzentriert sich, jenseits aller» Vernunftbestimmung«, auf sich selbst als ein bedingtes, konkretes, natürliches, lebendiges, individuelles, zeitliches, kurz: endliches Wesen. H. Wagner hat diesen Weg von der idealistischen Vernunftbestimmung des Menschen zum nahezu ausschließlichen Interesse an der Endlichkeitskomponente beschrieben: Der Idealismus hatte »mit seinem Insistieren auf Unbedingtheit und Unendlichkeit alles Menschlichen das Bewußtsein der Zeit gleichzeitig überfordert, und dieses Bewußtsein rächte sich nun, und zwar je länger je mehr, darur. Es setzte ein sich steigerndes und immer mehr sich ausbreitendes Interesse gerade rur alle Bedingtheit und Endlichkeit des menschlichen Wesens ein.«550 Die Rede von der »Endlichkeit« aber bedeutete nunmehr nicht bloß den Hinweis auf die Weltgebundenheit und Begrenztheit der »Subjektivität«, sondern das Bewußtsein der Vergänglichkeit, der Sterblichkeit allen Lebens, auch des bewußten. Ähnlich wie im 15. Jahrhundert 551 wird sich, so ist zu vermuten, eine »nihilistische« Grundstimmung der unaufhebbaren Einsicht in die Vergeblichkeit und Nichtigkeit alles Daseins verbreitet haben, allerdings mit dem Unterschied, daß das »Memento mori« jetzt nicht mehr vom Vertrauen in die gute Schöpfungs ordnung getragen sein konnte, ja nicht einmal mehr vom Vertrauen in die »Vernunft«. Wie einst der Nominalismus mit Erschrecken vermutete, Gott sei vielleicht der »ganz Andere«, der menschenfeme Gott, der sich um die Belange des endlichen Menschen nicht kümmere, so argwöhnte nunmehr das nachidealistische Subjekt, die Vernunft, einst die »Spur Gottes« im Menschen, sei - wie ihre Selbstvernichtung durch also, wo der Glaube an die Vernunft als den entscheidenden Wesenskern des Menschen hinfällig geworden ist, erst in dem Augenblick, wo der Mensch in seinem Verhältnis zum Leben und zur Welt einer früher nicht gekannten Unsicherheit ausgeliefert war, entstand als Ausdruck dieser wirklichen Verlegenheit die Frage: Was ist der Mensch? Und diese Frage heißt darum genauer: Wodurch wird der Mensch in seinem Wesen bestimmt, wenn wir dieses nicht von der Vernunft her zu begreifen imstande sind? « 549 Vgl. dazu W. Schulz (1989), S. 193: »Auch wenn ich mich in der Innenschau mit mir selbst befasse, bleibe ich von Grund aus weltgebunden. Es gibt keine absolute Subjektivität, die nur sich selbst reflektiert. « 550 H. Wagner (1992), S. 168. 551 Vgl. oben, Abschnitt 1.4. der vorliegenden Arbeit.
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Hypertrophie erwiesen habe - »im Grunde« eine Illusion. Das vordringliche Interesse an der Endlichkeitskomponente menschlichen Daseins jedenfalls ließ die »Vernunft« des Menschen allenfalls noch als Epi- oder Oberflächenphänomen erscheinen, dem »in Wahrheit« tiefere, arationale bzw. prärationale Schichten, Kräfte oder Strukturen zugrundeliegen. Dies ist die eigentliche, auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, noch nachwirkende Wende, der eigentliche »Bruch« im Denken des nachidealistischen 19. Jahrhunderts: die »Vernunft« als Wesensbestimmung des Menschen hat abgedankt. Im folgenden soll dieser Wandel in der Auffassung der »Urkonstellation« von Vernunft und Endlichkeit exemplarisch an den Ansätzen Schopenhauers, Nietzsches und Kierkegaards aufgezeigt werden.
a) Der Wille zum Leben als Quelle des Leidens: Schopenhauer Schopenhauers Ablehnung der Vernunftphilosophie des deutschen Idealismus, vor allem Hegels, ist bekannt und eindeutig. Doch seine Stellung zur »Metaphysik« ist ambivalent. Zwar vermitteln die alten metaphysischen Globaldeutungen von Welt und Mensch, auch die der Neuzeit von Descartes bis Hegel, für Schopenhauer ganz sicher keine lebensweltliche Orientierung mehr, aber auch Schopenhauers eigener Ansatz erhebt den Anspruch, Wesensaussagen über den Menschen zu machen, die als solche durchaus »metaphysisch« genannt werden können. Schopenhauers Grundaussage über die Metaphysik besteht darin, daß diese zu nichts anderem fcihig sei als zur radikalen Erkenntnis der Negativität der Welt in allen ihren Erscheinungsformen. Das Dasein ist in toto nichtig und vergeblich, schlechterdings sinnlos. W Schulz bezeichnet Schopenhauers Ansatz aufgrund solcher umfassenden, insgesamt negativen Welt- und Lebensdeutungen treffend als »negative Metaphysik«5S2. Sie ist, so ließe sich zugespitzt sagen, das ins Negative gewendete Denkmodell Hegels. War bei diesem die Wirklichkeit alles dessen, was ist, gleichsam vernunft- bzw. geistdurchtränkt und somit in einem exorbitanten Maße »sinnvoll«, so läuft Schopenhauers Globaldiagnose auf die »Sinnlosigkeit« alles Seienden hinaus. Schopenhauers Zentralbegriff, der» Wille«, ist ersichtlich nicht empirischen oder historischen, sondern metaphysischen Ursprungs. In seiner Struktur liegt die Malaise, die Sinnlosigkeit alles Daseienden beschlossen. Der Wille ist Wille zum Leben, die entscheidende Grundkraft, das Wesensmerkmal des Lebens überhaupt. Der Wille ist bei Schopenhauer nicht als volitive Potenz eines
552 W. Schulz (1989), S. 160. Unter »negativer Metaphysik« versteht Schulz »eine Metaphysik, für die die Welt im Ganzen unter dem Signum der Sinnlosigkeit steht, die sich verschieden zeigt und zu der man vor allem gegensätzlich, sie verneinend oder bejahend, Stellung nehmen kann. Schopenhauer und Nietzsche sind die Repräsentanten dieser Ansätze. «
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wesentlich vernunftbegabten Subjekts zu verstehen, sondern als dumpfe, blinde, triebhafte, grund- und zwecklose, a-rationale Macht, die allem Lebendigen zugrundeliegt. Die einzige Intentionalität, besser: Quasi-Intentionalität, die man ihm zusprechen muß, ist die Absicht, zu sein. M.a.W.: Der Wille »will« im Grunde gar nichts, vor allem hat er keine einzelnen, diskreten Ziele. Was er »will«, ist: sich selbst, seine eigene Erhaltung, seine »Selbsterhaltung«. Zwar strebt alles Erscheinende, jedes Phänomen, als solches nach Selbsterhaltung, aber hinter den Erscheinungen steht, diese begründend, der »Wille«. Letztlich ist es also der »Wille« selbst, der in den Erscheinungen nach Selbsterhaltung strebt. Er »strebt« nicht nach etwas außer ihm, sondern er ist grundloses, »endloses Streben«5S3. Für das Erscheinende selber ist im Grunde genommen das Streben nach Selbsterhaltung sinnlos, ja geradezu absurd. Es gibt für Schopenhauer keinen »Grund« für den Selbsterhaltungswillen der Individuen. Vielmehr gilt, daß »das Leben unsers Leibes nur ein fortdauerndes gehemmtes Sterben, ein immer aufgeschobener Tod ist«554. Deshalb erscheint jede optimistische Haltung dem menschlichen Leben gegenüber »nicht bloß als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart ... , als ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit«555. Ist die Welt also »im Grunde«, gleichsam übersubjektiv bzw. »an sich«, nichts als »Wille« im genannten Sinne, so ist die Welt des erkennenden Subjekts dagegen» Vorstellung«. Unter» Vorstellung« subsumiert Schopenhauer, abgekürzt gesprochen, all diejenigen Fähigkeiten oder Vermögen, die man klassisch die »intellektuellen« genannt hätte, vor allem Verstand und Vernunft. Diese haben - und nur das ist in unserem Zusammenhang entscheidend - gegenüber dem Willen eine bloße Dienstfunktion. 556 Sie gehören nur der Gedankenwelt des Menschen an, der jedoch - gleichsam in seiner Tiefendimension - Objektivation des Willens ist und, wie alle anderen Lebewesen auch, primär eben nicht Vernunftwesen, sondern ein von der anonymen Macht des Willens bestimmtes Lebewesen ist. Wiederum der Struktur nach Hegels Modell von »Entäußerung und Rückgang« verpflichtet, denkt Schopenhauer den »Willen« als mit sich selbst »entzweit«. Doch anders als in der metaphysischen Tradition begreift er die »Entzweiung« des Willens nicht primär als »Entäußerung«, d. h. als Hervorgang des Mannigfaltigen aus dem »Einen«, sondern als Streit des Willens mit sich selbst. Die so verstandene Entzweiung des Willens dokumentiert sich im Streit seiner Objektivationsstufen, d. h. alles Lebendigen bis hin zum Menschen, der die 553
A. Schopenhauer: WWv, SW I, S. 240.
Schopenhauer: WWv, SW I, S. 427. wwv, SW I, S. 147. Vgl. auch WWv, SW II, S. 744. 556 Dazu H. Schnädelbach (1992), S. 24: »Nach Schopenhauer ist die Vernunft nicht Mittel des Außervernünftigen - denn das kann keine Zwecke setzen -, sondern dessen Funktion. Vernunft als Funktion dessen, was wesentlich nicht Vernunft ist - des Willens, des Lebens, der Evolution -, dieser Funktionalismus der Vernunft wird nach Schopenhauer fast nur noch naturalistisch vorgebracht.« 554 555
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höchste Objektivationsstufe des Willens darstellt. Die Entzweiung im Willen selbst findet ihren Niederschlag im Streit, zugespitzt gesagt: im Kampf der lebendigen Wesen untereinander. Da das einzige, was der Wille wirklich »will«, seine Selbsterhaltung ist, geht es auch im Kampf seiner Objektivationen, der Tiere und Menschen, letztlich um nichts anderes als die Selbsterhaltung im Sinne der bloßen Selbstbehauptung. 557 Ist schon in der nichtmenschlichen Natur »Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden«558, so verhält es sich beim Egoismus (der für Schopenhauer ein Synonym für Selbsterhaltung ist) des Menschen ähnlich. Der Egoismus, die Grundtriebfeder des Menschen, ist der Trieb zur individuellen Existenz bzw. zu deren Erhaltung und Behauptung gegen andere Individuen. Im Menschen, als der höchsten Objektivationsstufe des Willens, offenbart sich die Selbstentzweiung am deutlichsten. Kurz: der Egoismus und alle aus ihm abzuleitenden Formen menschlicher Bosheit entspringen dem mit sich selbst »entzweiten« Willen. Das bedeutet: Im menschlichen Trieb zur individuellen Existenz richtet sich der Wille letztlich gegen sich selbst. Der Wille will nur sich selbst, aber als grenzenlos »hungriger« Wille »zehrt« er auf die Weise des »Streites« seiner Objektivationsstufen an sich selbst. Daher rührt das Leiden aller lebendigen Wesen in der Welt: es ist im Grunde das Leiden des sich tendenziell selbst verzehrenden, mit sich entzweiten Willens. Deshalb ist das Leiden auch nicht ohne weiteres, etwa durch menschliche, aus der »Vernunft« begründete Handlungen aufzuheben. Denn, wie gesagt, die Vernunftbestimmung des Menschen ist bloß »Vorstellung« und reicht nicht in die Tiefendimension des Willens hinab. Die klassische Vorstellung eines autonomen Vernunftsubjekts hat für Schopenhauer etwas bloß Marionettenhaftes an sich. Ist das ausschließliche Sich-selbst-wollen, der leidenerzeugende Egoismus des Willens, der sich im egoistischen Trieb der Lebewesen (obenan des Menschen) zur individuellen Existenz widerspiegelt, gleichsam das Grundgesetz der Welt, so ist es um diese ersichtlich schlecht bestellt. Schopenhauer hat das Leiden alles Lebendigen wie kein zweiter eindringlich geschildert. Da ist die Rede vom Leben als Tretrad, von der Last des Daseins, das durch die sich stets erneuernde, sinnlose Kette von Mangelempfindung, Befriedigung und sich dar-
557 Hier bestehen zweifellos Affinitäten zu Hobbes, aber dieser verzichtet grundsätzlich auf »metaphysische« Grundannahmen, wie beispielsweise die Dominanz des »Willens« als einer ursprünglichen Kraft. 558 Schopenhauer: WWv, SW 11, S. 744: »Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehn, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, ... dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist schreiend.« In der Biologie wird diese »Kette von Martertoden« bekanntlich ebenso sachlich distanziert wie euphemistisch schlicht als »Nahrungskette« bezeichnet.
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aufhin einstellender Leere und Langeweile bestimmt wird usf. Kurz: das Leben ist insgesamt nichts als Betrug, der Optimismus als Lebenshaltung niederträchtig. Denn es ist offenkundig, daß das Los aller Lebewesen auf dieser Welt im Leiden und nur in diesem besteht. Alles andere, beispielsweise Glücksvorstellungen und Freuden, ist sekundär, ja trügerisch. Das transitorische Glück des Individuums wird stets um den Preis neuen Unglücks und Leidens erkauft. Wir können nicht umhin, »Arbeit, Entbehrung, Not und Leiden, gekrönt durch den Tod, als Zweck unsers Lebens zu betrachten ... «559. Kernpunkt dieser niederschmetternden Diagnose ist das - den Egoismus des »Willens« widerspiegelnde - Individuationsprinzip, d. h. der Trieb zur individuellen Existenz. Solange dieser Trieb nicht gebrochen wird, ist das Leiden nicht aufzuheben. Man kann das Leiden nach Schopenhauer nur lindern, beispielsweise durch Mitleid, durch Sympathie mit allem Lebendigen als Leidenden, aber aufheben kann man es nicht. Die Ethik (des Mitleids) ist also nicht ganz vergeblich, doch dies ändert nichts daran, daß das Leiden solange andauern wird, wie das Individuationsprinzip vorherrscht. In diesem Zusammenhang verwendet Schopenhauer moralische, näherhin biblische Kategorien, um das Individuationsprinzip schärfer zu fassen. Analog zur »Erbsünde«, die er für den »Kern des Christentums«560 hält, versteht er die Individuation, den Willen zur individuellen Existenz, als Urschuld des Menschen. Durch einen - dem Egoismus des Weltwillens entsprechenden - metaphysischen Willensakt gab sich das Individuum seine Einzelexistenz. Die Schuld besteht demnach in der Bejahung des Willens zum Leben; denn mit dem Leben ist unzertrennlich das Leiden verbunden, welches in der Affirmation des Lebenswillens mit bejaht wird: »Will man den Grad von Schuld, mit dem unser Dasein selbst behaftet ist, ermessen; so blicke man auf das Leiden, welches mit demselben verknüpft ist.«561 Die Bejahung individuellen Lebens unter Einschluß des Leidens ist deshalb Egoismus, radikale Bosheit, Selbstsucht par excellence, mit einem Wort: Schuld. Das Ende des Individuums, den Tod, versteht Schopenhauer demgemäß konsequent als Abtragen dieser Schuld, als »Kapitalabzahlung«562. Der Tod ist zwar auch, wie so häufig in der Geschichte der Philosophie, »der Musaget der Philosophie«563, aber zugleich ist er »die große Gelegenheit, nicht mehr Ich zu
559
Schopenhauer: WWv, SW H, S. 749.
560 »Wirklich ist die Lehre von der Erbsünde (Bejahung des Willens) und von der Erlösung
(Verneinung des Willens) die große Wahrheit, welche den Kern des Christentums ausmacht; während das übrige meistens nur Einkleidung und Hülle oder Beiwerk ist.« (WWV, SW I, S. 550). 561 Wwv, SW H, S. 743. 562 Ebd.: »Die Kapitalabzahlung geschieht durch den Tod. - Und wann wurde diese Schuld kontrahiert? - bei der Zeugung. -« 563 Wwv, SW H, S. 590: »Der Tod ist der eigentliche inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie, weshalb Sokrates diese auch als {}UVClTOU flEAE'tT] (00') definiert hat. Schwerlich sogar würde auch ohne den Tod philosophiert werden.«
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sein«56\ eine Erlösung mithin von den Drangsalen des »Willens«. Wird der individuelle Lebenswille aufgehoben, die Fortzeugung des Menschengeschlechts verweigert, so ist die Macht des »Willens« gebrochen. Einzig diese »Askese« bedeutet fiir Schopenhauer »Erlösung« sowohl - unmittelbar - von der Schuld durch Zeugung als auch - mittelbar - vom »Willen« selbst. Solange der» Wille«, die in sich sinnlose Urquelle unseres Daseins, herrscht, bleibt unser Handeln, ja unsere Existenz insgesamt von Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit gekennzeichnet. Unser endliches Leben ist nichtig und sinnlos, und die einzige Möglichkeit, dieser Nichtigkeit zu entkommen, ist selbst eine durch und durch »negative«: die »Askese« gegenüber dem »Lebenswillen«, d. h. das Ende der Fortzeugung. 565 Für Schopenhauer, so können wir resümieren, gibt es nur unsere (sinnlose) Welt und das Nichts. Es gibt keine bergende Kosmos- oder Schöpfungsordnung, aber auch keine» Vernunftordnung«, die geeignet wäre, die Nichtigkeit unserer Existenz aufzuheben oder wenigstens zu relativieren. »Vorstellungen« sind bloße Oberflächenphänomene, »Moral« ist bloß zur Linderung, nicht zur Aufhebung des Leidens tauglich, moralisches »Sollen« gar bloß »theologisch« begTÜndbar. Die noch fiir Rousseau und Kant dringliche Frage nach der natürlichen Existenz vernunftbestimmter Wesen, der sinnhaften Einheit von Endlichkeit und Vernunftanspruch, hat Schopenhauer in dieser Form gar nicht mehr gestellt, von der »idealistischen« Präsupposition einer »absoluten« Vernunft ganz zu schweigen. Das Leiden der endlichen Existenz ist fiir Schopenhauer das letzte Wort, auch wenn er dieses Leiden noch einmal »metaphysisch«, aus der selbstischen Struktur des »Weltwillens«, begründet. Auf eine solche metaphysische Instanz will Nietzsche, bei aller anfänglichen Nähe zu Schopenhauer, vollends verzichten. b) Die Vernunft der Endlichkeit: Nietzsche Die abendländische Denktradition, in der sich der Mensch als »animal rationale«, als ein auf ungeklärte und wohl auch nicht vollends erklärbare Weise durch Vernunft bestimmtes Lebewesen verstand, erscheint in ihrem Selbstverständnis als »Metaphysik« fiir Nietzsche insgesamt kritikwürdig. Ihr liegt eine falsche Verortung des Menschen in einer ebenso falsch bestimmten »Welt« zugrunde. Die Selbstbestimmung des Menschen als »Vernunftwesen«, aus der seit Platon explizit oder implizit der »metaphysische« Anspruch auf Erkenntnis »absoluter« Wahrheit hergeleitet wurde, ist fiir Nietzsche ebenso ein Irrtum wie wwv, SW II, S. 649f. Den individuellen Suizid hält Schopenhauer übrigens für kein probates Mittel, die Macht des »Willens« zu brechen. 564 565
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die der »Metaphysik« eignende grundlegende Annahme einer »wahren Welt«.566 Wenn Nietzsche dem Menschen überhaupt »Vernunft« zuspricht56" dann begreift er diese nicht als Organon der Erkenntnis wahrer Weltzusammenhänge, strenggenommen nicht einmal als intellektuelles Vermögen, sondern als »Leibvernunft«. Dieser nicht unmittelbar verständliche Terminus läßt sich nur vor dem Hintergrund von Nietzsches Metaphysik- und Idealismuskritik aufschlüsseln, ist er doch bewußt als Oppositionsbegriff zum platonischen voüc;, zum mittelalterlichen »intellectus« und zur neuzeitlichen »ratio« konzipiert. Doch aus Nietzsches Metaphysik- und Idealismuskritik allein läßt sich der Gedanke der »Leibvernunft« nicht verstehen. Nietzsches Grundintention, sein eigener Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Endlichkeit, muß parallel zur Metaphysik- und Idealismuskritik - im Auge behalten werden, um dem rätselhaften Begriff der »Leibvernunft« einen Sinn abzugewinnen. Deshalb sei diese Grundintention Nietzsches vorab benannt: Nietzsche klagt - wie vor ihm Schopenhauer - die Natur- bzw. Leibgebundenheit, d. h. die Endlichkeit allen Lebens gegenüber jeder Philosophie des »Absoluten« ein, und dies auf so radikale - Schopenhauer weitaus überbietende Weise, daß der Endlichkeit, dem »Leben« selbst, jene sinnstiftenden Qualitäten zugesprochen werden, die einst dem »Absoluten«, »Unendlichen« und »Unbedingten« vorbehalten waren. Doch Nietzsches Pointe besteht darin, daß die »Sinnstiftung« in nichts anderem als der bewußten Affirmation der grundlegenden Sinnlosigkeit alles Daseins gesucht werden muß. Wenn man so will, zeigt sich die »Vernunft« des Menschen in der Bejahung der in sich ziel- und zwecklosen Vernunft des »Leibes«, des »Lebens« selbst. Entscheidend ist, daß Nietzsche den Menschen, entgegen dem ersten Anschein, keineswegs auf ein bewußt-loses, bloßes Naturwesen reduziert, sondern an der Idee eines Selbstverhältnisses des Menschen festhält. Doch dieses Selbstverhältnis gewinnt der Mensch nun nicht mehr als ein vom »Leben«, von der »Natur« distanziertes oder Leben und Natur »idealistisch« in den Prozeß seiner Selbstfindung integrierendes Geistwesen, sondern durch die - einzig noch als möglich erscheinende - Bejahung des »Lebens« selbst als des durch keine leibtranszendente »Vernunft« zu überhöhenden Urfaktums. Die Bejahung des »Lebens«, der »Endlichkeit«, der »Natur« in ihrer Zweck- und Ziellosigkeit, und das heißt: in ihrer Vernunftlosigkeit, ist Privileg des Menschen, der sich dadurch von den bewußtlosen Kreaturen abhebt, wohl wissend, daß in dieser Bejahung der Endlichkeit sein einziges, zudem nicht einmal auf Dauer zu stellendes, sondern selber endliches Privileg besteht. Diese von der »Metaphysik« verleugnete Grundeinsicht des nachidealistischen Denkers Nietzsche läßt dessen Polemik gegen die »platonisch« bestimmte abendländische Metaphysik verständlich erscheinen, hatte diese doch, jedenfalls 566 567
Vgl. Fr. Nietzsche: GD: Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde (KSA 6, S. 80f.). Vgl. auch unten, Abschnitt 1I1.4.a) der vorliegenden Arbeit.
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bei der Mehrzahl ihrer Repräsentanten, die Natur, das Werden, das Leben, die Individualität, das Besondere und »Andere«, das Sinnliche, das Bedingte und Endliche eher stiefmütterlich behandelt und dem Geist, der Vernunft, dem Allgemeinen und Einen, der Dauer, der Substanz, dem Sein, dem Unbedingten und Unendlichen eindeutige Präferenz zugesprochen. Diese »metaphysische« Einschätzung des Verhältnisses von Natur und Vernunft verwirft Nietzsche, wenn er von der »Lüge der Einheit«, der »Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer«568 spricht und die »Ursache, daß wir das Zeugnis der Sinne fälschen«, in der »Vernunft«569 findet. »Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht ... «570, und »das Sein« ist »eine leere Fiktion«571. Kurz: »Die >scheinbare< Welt ist die einzige: die >wahre Welt< ist nur hinzugelogen ... «572. Belege für diesen >>umgedrehten Platonismus«573 finden sich in Nietzsches Schriften zuhauf. 574 Entscheidend ist, daß Nietzsche die gesamte teleologisch bestimmte metaphysisch-idealistische Tradition verwirft, insbesondere deren an der Idee des »Absoluten« orientierte Transzendenz- und »Geist«Ordnung. Die »Fratze« des »Platonismus«, »Plato's Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich«575, ist der die abendländische Metaphysik bestimmende Grundirrtum, die »Lüge«, die von der tatsächlichen Verfaßtheit der Welt und der Stellung des Menschen in ihr ablenkt. In Wahrheit findet sich der Mensch allein, d. h. unabgesichert durch transzendente, haltgebende Mächte, in einer durch und durch chaotischen, von keiner »Vernunft« strukturierbaren, von keiner »systematischen« Philosophie576 kategorisierbaren 577 Welt vor. Der »Text« der Welt, sofern dieser einen Sinn haben sollte, muß dem Menschen unbegreiflich bleiben. Kein Sinn »an sich«, keine Ordnung der Welt ist ihm vorgegeben. »Der Gesamt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhe568 Nietzsche: 569 Ebd. 570 Ebd. 571 Ebd.
GD: Die »Vernunft« in der Philosophie, 2 (KSA 6, S. 75).
572 Ebd. Vgl. auch GD: Die »Vernunft« in der Philosophie, 6 (KSA 6, S. 78) und Nachgelassene Fragmente. Nov. 1887 - März 1888, 11 [415] (KSA 13, S. 193). 573 »Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.« (Nachgelassene Fragmente. Ende 1870April 1871,7 [156], KSA 7, S. 199). 574 Beispielsweise Ecce homo. Warum ich ein Schicksal bin, 8 (KSA 6, S. 373f.). Vgl. auch FW, 5. Buch, Aph. 372 (KSA 3, S. 624), wo vom »philosophischen Idealismus« als einer »Krankheit« die Rede ist. 575 JGB, Vorrede (KSA 5, S. 12). 576 GD: Sprüche und Pfeile, 26 (KSA 6, S. 63): »Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.« 577 Vgl. Nachgelassene Fragmente. Sommer 1886 - Frühjahr 1887,6 [11] (KSA 12, S. 237), wo es heißt, es seien »die größten Abstraktions-Künstler, die die Kategorien geschaffen haben«.
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tischen Menschlichkeiten heißen.«578 Das »All ... ist weder vollkommen, noch schön, noch edel, und will Nichts von alledem werden, es strebt durchaus nicht darnach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urteile getroffen! Es hat auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe; es kennt auch keine Gesetze.«579 In dieser ordnungs- und strukturlosen Welt nimmt der Mensch nicht etwa - wie sollte das auch möglich sein? - einen zentralen Platz ein. Vielmehr lebt er, kurz genug 580 , »in irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls«581, d. h. er fristet eine kosmische Randexistenz, zudem mit der einzigen Gewißheit seines eigenen Todes. 582 Kurz: »Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer noch ohne Sinn ... «5". Dieses düstere Gemälde, das Nietzsche von der menschlichen Grundsituation zeichnet, bewegt ihn jedoch nicht dazu, wie Schopenhauer eine vollends pessimistische Grundhaltung einzunehmen. Die Diagnose der Sinn- und Zwecklosigkeit menschlichen Daseins, die bei Nietzsche nicht auf der Annahme einer metaphysischen oder quasi-metaphysischen Instanz wie Schopenhauers blindem »Willen«, sondern auf der prima facie nüchternen Analyse des bloßen» Lebens« des von allen onto-theologischen Illusionen »befreiten« Menschen beruht, führt vielmehr zur Haltung, ja zum Aufruf des »Ja-Sagens« zum nicht Änderbaren, d. h. zu einer grundsätzlichen Affirmation des dem Menschen gegebenen »Lebens«. Nietzsche fordert dazu auf, die Lebenssituation, die »objektiv« sinnlose Stellung des Menschen im Kosmos, nicht resignativ hinzunehmen, sondern zu begrüßen. In der geradezu überschwenglichen Bejahung des »Lebens« in all seiner Amoralität und Härte 584 besteht des Menschen einzige Freiheit: die Freiheit der Selbstbestimmung im Sinne der Akzeptanz jener harten Notwendigkeit, durch die das »Leben« gekennzeichnet ist. Der Mensch gewinnt, will man die FW, 3. Buch, Aph. 109 (KSA 3, S. 468). Ebd. 580 Vgl. Nachgelassene Schriften: Fünf Vorreden zu fiinfungeschriebenen Büchern: I. Über das Pathos der Wahrheit (KSA 1, S. 756), wo von der menschlichen Existenz als der Existenz »erbärmlicher kurzlebender Wesen« die Rede ist, »als welche, engen Bedürfnissen überliefert, immer wieder zu denselben Nöten auftauchen und mit Mühe eine geringe Zeit das Verderben von sich abwehren. Sie wollen leben, etwas leben - um jeden Preis.« 581 Nachgelassene Schriften: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1 (KSA 1, S. 875). 582 nv, 4. Buch, Aph. 278 (KSA 3, S. 523): »Und Alle, Alle meinen, das Bisher sei Nichts oder Wenig, die nahe Zukunft sei Alles: und daher diese Hast, dies Geschrei, dieses Sich-Übertäuben und Sich-Übervorteilen! Jeder will der Erste in dieser Zukunft sein, - und doch ist Tod und Totenstille das einzig Sichere und das Allen Gemeinsame dieser Zukunft!« 583 Za I, Vorrede, 7 (KSA 4, S. 23). 584 In JGB 9, 259 (KSA 5, S. 207) heißt es: »Leben ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung ... «. Vgl. auch JGB 1,9 (KSA 5, S. 21 f.). 578 579
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Leitvokabel der frühen Neuzeit noch einmal aufgreifen, seinen »Selbst-Stand« durch expliziten Verzicht auf alle - fur Nietzsehe ohnehin illusionären - die »Natur« bzw. das »Leben« überwölbenden »idealistischen« Bestimmungen. Insbesondere ist der Mensch kein autonomes Vernunftsubjekt, das sich selbst aus der »Vernunft« herleitbare moralische, überdies mit dem Anspruch auf absolute Geltung auftretende Gesetze zu geben in der Lage wäre. Anders als etwa Rousseau, fur den der Mensch ethisch sein eigener Schöpfer sein sollte'"', denkt Nietzsehe die »Selbstschaffung« des Menschen als bewußten Akt der Bejahung des amoralischen und vernunftlosen »Lebens«. Die »Sich-selberGesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden ... müssen Physiker sein, um, in jenem Sinne, Schöpfer sein zu können ... «'86. Der »Physiker« ist fur Nietzsehe der, der vor dem »Notwendigen in der Welt«'87 nicht die Augen verschließt, d. h. der, der die »Mechanik« der Natur und des Lebens anerkennt und der Versuchung widersteht, diese Mechanik noch einmal »metaphysisch«, sei es durch »Vernunft«, sei es durch »Geist« oder »Moral« zu überhöhen. Die so verstandene Selbstbestimmung bzw. »Selbstschaffung« des Menschen durch Anerkennung des »Lebens« als des letzten und höchsten Wertes stellt sich dar als einzig noch verbleibende Möglichkeit eines durch und durch endlichen Wesens, diesem, seinem endlichen Dasein einen Sinn zuzusprechen. Die Paradoxie dieses Sinnbegriffs läßt sich jedoch erst vollends ermessen, wenn man sich über die schon genannten Bestimmungen hinaus vor Augen fuhrt, durch weIche Grundcharakteristika (um nicht von »Prinzipien« zu sprechen) fur Nietzsehe die »Welt«, das »Leben« und insbesondere das Leben des Menschen gekennzeichnet sind. In einer berühmten Nachlaß-Notiz schreibt Nietzsehe: »Und wißt ihr auch, was mir >die Welt< ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft ... Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht - und nichts außerdem!«'88 Ist schon die »Welt« als ganze, verstanden »als Spiel von Kräften und Kraftwellen«S89, die aufeinander bzw. gegeneinander wirken, durch dieses Wirkenwollen, durch einen ursprünglichen »Machtwillen« im Sinne einer fundamentalen Dynamik charakterisierbar, so ist dieser Wille zu wirken natürlich auch und auf besonders augenfällige Weise allem Lebendigen zueigen: »Wo
Vgl. oben, Abschnitt 1.5. der vorliegenden Arbeit. FW, 4. Buch, Aph. 335 (KSA 3, S. 563). 587 Ebd. 588 Nachgelassene Fragmente. Juni ~ Juli 1885,38 [12] (KSA 11, S. 610f.). Ähnlich JGB 2, 36 (KSA 5, S. 55): »Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren >intelligiblen Charakter< hin bestimmt und bezeichnet ~ sie wäre eben >Wille zur Macht< und nichts außerdem.« In JGB 5, 186 (KSA 5, S. 107) spricht Nietzsche von »einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist«. 589 Nachgelassene Fragmente. Juni ~ Juli 1885, 38 [12] (KSA 11, S. 610). 585
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ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht ... «590. »Der leibhaftige Wille zur Macht«, heißt es an anderer Stelle 591 , »wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht gewinnen wollen, ... weil er lebt, und weil Leben eben Wille zur Macht ist.« Daß der Mensch als lebendiges Weltwesen aus dieser Charakteristik nicht herausfällt, belegt der schon zitierte Satz: »Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht - und nichts außerdem!« Den »Kräften«, deren »Spiel« die »Welt« bestimmt, eignet als solchen eine Tendenz zu wirken, wenn man so will eine ursprüngliche Kausalität, die im Falle des Organischen deutlichere Züge gewinnt, indem diesen eine elementare Tendenz zur Selbsterhaltung, und das heißt auch: zur »Aneignung« VOn Anderem, zum (Überlebens-)Kampf etc., zugesprochen wird. Diese aus der Mechanik und der Biologie geläufigen Termini rubriziert Nietzsche - insoweit relativ unspektakulär unter den Begriff des Machtwillens. Daß er die genannten Tendenzen überhaupt einem »Willen« zuspricht, ist ganz sicher Schopenhauers Erbe, freilich mit einem gravierenden Unterschied, auf den G. Colli aufmerksam gemacht hat: »Die Verwandtschaft des neuen philosophischen Prinzips vom >Willen zur Macht< mit dem Schopenhauerschen Prinzip vom >Willen zum Leben< ist offenkundig und unbestreitbar (Nietzsche sagt das selbst), ja, das erste erweist sich als eine Variante des zweiten. Der Kern der beiden Konzeptionen ist derselbe, und Schopenhauers Prinzip war ebenso immanenter Art wie das VOn Nietzsche: In beiden Fällen handelt es sich um eine irrationale Substanz, die in uns ist (jede Theologie ist überwunden) und deren wir durch ein unmittelbares Erfassen teilhaftig werden. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß Schopenhauer diese Substanz ablehnt und verneinen möchte, Nietzsche sie dagegen akzeptiert und bejahen will.«592 Die »irrationale Substanz« des Lebenswillens, von der Colli spricht, kann »Wille« genannt werden, weil jeder Wille, jede volitive Grundpotenz VOn altersher durch »Intentionalität«, durch Aus-sein-auf etwas, durch »Streben« nach etwas, durch »Bewirkenwollen« definiert ist. Was der als umfassend gedachte Lebenswille »will«, ist allerdings nicht irgendetwas, SOndern er »will« ausschließlich sich selbst. Als elementarer Lebensdrang bzw. Lebenstrieb ist er insofern Wille zur »Macht«, als er sein eigenes Strukturprinzip, das bloße »Sein« bzw. »Seinwollen« in allen seinen Objektivationen, d. h. in jedem konkreten, lebendigen Individuum zur Geltung bringen »will« und »nichts außerdem« anerkennt. Ein bloß statisches Verständnis des» Willens zur Macht« wäre diesem unangemessen; vielmehr muß die Tendenz des Willens zu wirken als dynamische Tendenz auch in dem Sinne verstanden werden, daß jedem Lebendigen der »Wille zur Macht« als Wille zur »Steigerung« seiner eigenen Möglichkeiten innewohnt. So wie der »Wille« als intentionale Potenz niemals ganz »bei sich selbst« sein kann, sondern als Prinzip des Werdens, des 590 591
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Za 11: Von der Selbst-Überwindung (KSA 4, S. 147). JGB 9, 259 (KSA 5, S. 208). G. Colli (1980), S. 416.
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Lebens, gleichsam immer nur »auf dem Wege« ist, so ist die (Selbst-)Erhaltung alles konkreten Lebendigen, a fortiori des (selbst- )bewußten Lebendigen, ein ständiger und immer unabgeschlossener Prozeß der »Selbstfindung«, der gar nicht anders denn als durch »Machtstreben« im genannten Sinne gekennzeichnet sein kann. Im bewußten Leben nimmt das »Spiel der Kräfte«, das die »Welt« bestimmt, die gleichsam »subjektive«, innere Gestalt des Willens zum Leben als Willens zur Macht an. Insofern begreift Nietzsche den Menschen, das bewußte Leben, wie eingangs gesagt, durchaus als ein Wesen, das die Fähigkeit besitzt, sich zu sich selbst in ein Verhältnis zu setzen, d. h. sich selbst als ein so und so bestimmtes Wesen zu denken: es denkt sich als »Willen zur Macht«. Damit verläßt es zwar nicht den Bannkreis der Natur - dies gerade nicht! -, aber es versteht sich als vom Willen zur Macht bestimmtes Naturwesen. Sein »Selbst«, so sieht es ein, ist »nichts außer« Wille zur Macht, doch diese Selbstbestimmung ist eine Einsicht, d. h. ein geistiger Akt, eine gedankliche Leistung. S93 Hier, an dieser Stelle, ist - wenn man im Rahmen einer Interpretation des Antisystematikers Nietzsche überhaupt so reden darf - der systematische Ort des zunächst rätselhaft erscheinenden Begriffs der Leibvernunft, der »großen Vernunft« des Leibes. 594 Die »Vernunft in deinem Leib«595 ist zwar ohne jeden Abstrich Leib-Vernunft, d. h. sie ist kein dem »Leib«, d. h. der Natur entgegengesetztes, leibtranszendentes Vermögen, aber sie ist, ebenfalls ohne Abstriche, Vernunft. Nietzsche spricht der Natur, unter dem Namen des »Leibes«, eine Kohärenz und Stimmigkeit, d. h. einen Zusammenhang, einen Sinn zu, der nur aus ihr selbst stammt und sich nicht von einer die Natur überschreitenden oder gar begründenden Instanz herleitet. Die Natur, und das heißt: das endliche Leben, hat zwar keine »Gesetze«, wohl aber eine Art innerer Logik, die terminologisch als Leibvernunft, inhaltlich als »Wille zur Macht« bestimmt wird. »Dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich.«596 Das bewußte Leben des Menschen gewinnt sein »Selbst« in Abkehr vom leibtranszendenten, »idealistischen« Ich 597 und durch Rückbesinnung auf seine ureigene, natürliche Kraft, die Kraft des »Lebens«, den »Willen zur Macht«. Nietzsche bezieht den »Geist«, die Vernunftbegabung des Menschen, seine Fähigkeit der Selbstreflexion in den» Willen« mit ein: »Der schaffende Leib schuf sich den
593 Nach V Gerhardt (1992), S. 182, bezeichnet der »Begriff) Wille zur Macht< ... die ursprüngliche Einheit aller geistigen und physischen Kraft«. 594 Vgl. Za I: Von den Verächtern des Leibes (KSA 4, S. 39). 595 Za I, a. a. O. (KSA 4, S. 40). 596 Za I, a. a. O. (KSA 4, S. 39). 597 »Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. )Was sind mir diese Sprünge und Flüge des Gedankens? sagt es sich. Ein Umweg zu meinem Zwecke. Ich bin das Gängelband des Ich's und der Einbläser seiner Begriffe.< « (Za I, a. a. O. KSA 4, S. 40).
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Geist als eine Hand seines Willens.«59' Die traditionell als »Geist« bestimmte Vernunft wird zum Organon des »Leibes« und seiner »großen Vernunft«: »Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du >Geist< nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft.«599 Doch was beinhaltet die »große Vernunft des Leibes«? Ihr einziger Inhalt ist der »Wille zur Macht«, die Selbsterhaltung des endlichen, leiblichen »Selbst«. Sie versteigt sich nicht zu Präskriptionen oder Normen des Handelns 60o , schreibt dem Menschen nichts vor, außer dem, was er als trieb- und interessengeleitetes, intentional verfaßtes Bedürfniswesen ohnehin schon »von Natur aus« tut: seine »Selbsterhaltung« mit Nachdruck, d. h. mit »Machtwillen« zu verfolgen. Nietzsche integriert die »Vernunft« des Menschen in seine Leiblichkeit, Natur- und Willensverhaftetheit, kurz: in die Endlichkeit seines Daseins. Die Leibvernunft ist, pointiert gesagt, die »Vernunft der Endlichkeit«, und nichts außerdem! Die Vernunft der Endlichkeit ist diejenige »Vernunft«, die die rückhaltlose Bejahung des endlichen Daseins anempfiehlt, und sonst gar nichts! Es ist, anders gesagt, vernünftig, die Endlichkeit in all ihren Facetten zu bejahen, schon weil alle die Endlichkeit »übersteigenden« Ansprüche illusionären, ja »sentimentalen« Charakter haben. Nietzsche trifft den Nerv des nachidealistischen Denkens im 19. Jahrhundert, wenn er schreibt: »Das neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit. - Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: dies ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Tür steht der Affe, nebst anderem greulichen Getier, und fletscht verständnisvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! ... Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgend ein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten! «601 Der Mensch ist ein radikal endliches, »diesseitiges« Wesen, dessen »Vernunft« negativ als Instanz der Zurückweisung onto-theologischer und teleologische~02 Selbst- und WeltdeuZa I, a. a. O. (KSA 4, S. 40). Za I, a. a. O. (KSA 4, S. 39). 600 Dazu W Schulz (1989), S. 170: »Das eigentliche Ziel der Metaphysik Nietzsches ist es, eine neue Unmittelbarkeit zu gewinnen. Der Mensch soll sich nicht mehr vom Unmenschlich-Übermenschlichen her seinem Wesen fremde Gebote auferlegen. Es gilt von dem >Du sollst< zum >Ich will< zu kommen.« 601 Nietzsche: M, I, 49 (KSA 3, S. 53f.). Daß hier Darwinsche Hypothesen im Hintergrund stehen, liegt auf der Hand. 602 Als Gegenmodell zum teleologischen Denken kann Nietzsches »Lehre« von der »ewigen Wiederkehr« des Gleichen verstanden werden, die im Kern die Gleich-Gültigkeit und Vergeblichkeit alles Seienden meint und von Nietzsche selbst als »das größte Schwergewicht« (vgl. FW, 4. Buch, Aph. 341, KSA 3, S. 570) bzw. als »der lähmendste Gedanke« (Nachgelassene Fragmente. Sommer 1886 - Herbst 1887, 5 [71], KSA 12, S. 213) bezeichnet wird. »Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich 598
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1. »Animal rationale«
tungen begriffen werden kann und positiv als Fundament der Bejahung der Endlichkeit menschlichen Lebens selbst fungiert. Darin, daß die »Vernunft« dazu auffordert, das endliche (Da-)Sein als solches zu affirmieren, d. h. sich selbst, als »große Vernunft des Leibes«, zu wollen, besteht rur Nietzsche durchaus ein, ja der einzige Sinn der Existenz selbstbewußter lebendiger Wesen. Einen anderen, gar »höheren« Sinn der Existenz solcher Wesen gibt es nach der Erosion der christlichen Idee einer »eschatologisch« ausgerichteten »Heilsgeschichte« und nach dem Zusammenbruch des »Idealismus« schlechterdings nicht mehr. Daß vor diesem Hintergrund Nietzsches Idee der Affirmation des »objektiv« sinnlosen Seins überhaupt die Funktion einer Sinnstiftung beansprucht, hat H. Plessner treffend bemerkt: »Hält der Glaube an den geoffenbarten Sinn der eschatologischen Zeitordnung dem Zweifel nicht stand und entschwindet dem Bewußtsein die transzendente Bedeutung des einsinnig gerichteten Weltverlaufs, so verödet die Zeit zur schlechten Unendlichkeit des bloßen Nacheinander ohne Anfang und Ende ... und es bedarf eines neuen Mythus, eines neuen Bekenntnisses zum puren Sein, um den nach Sinn verlangenden Menschen einen Ersatz rur den verlorenen Glauben zu bieten. Willkür< festhält, ist es klar, daß man bei ihm zwischen Willensfreiheit als Autonomie des Willens und als Wahlfreiheit (arbitrium liberum) oder Spontaneität, d. h. Vermögen eine Kausalkette zu beginnen, unterscheiden muß.«61 Ähnlich schreibt L. W. Beck62 : »Wenn man auch bedauern muß, daß Kant manchmal> Wille< schreibt, wenn> Willkür< korrekt wäre, so glaube ich doch nicht, daß er jemals >Willkür< gebraucht hat, um sich auf den Willen als reine praktisch gesetzgebende Vernunft zu beziehen.« Der positive Begriff der Freiheit, d. h. der Freiheit des Willens, ist Autonomie im praktischen Sinne: »Der negative Begriff der Freiheit ist Independenz, der positive Begriff: Autonomie durch Vernunft.«6' Und: »Was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.«64 Wenn »Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens ... beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe«65 sind und »das moralische Gesetz nichts anderes ... als
K. Marc-Wogau (1977), S. 2. GMS, IV, S. 396. 61 K. Marc-Wogau (1977), S. 25, Anm. 11. 62 L. W. Beck (1974), S. 172. 63 Refl. 6076, XVIJI, S. 443. Ähnlich KpV, V, S. 33: »Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen und als solche praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande.« Vgl. auch GMS, IV, S. 450. 64 GMS, IV, S. 446f. Vgl. GMS, IV, S. 440: »Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.« 59
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11. Die Doppelnatur des Menschen
die Autonomie der reinen praktischen Vernunft«66 ausdrückt, so kann nicht mehr bezweifelt werden, daß der Begriff »Autonomie des Willens« bei Kant für die moralisch-praktische Dimension der Vernunft reserviert ist. Mit L. W. Beck gesprochen: »Das moralische Gesetz, das nichts als die Autonomie der Vernunft ausdrückt, ... drückt aus, daß die reine Vernunft praktisch gesetzgebend ist.«67 Auf diese Weise wird der oben zitierte und als erläuterungsbedürftig bezeichnete Satz »Der Wille ist also ... die praktische Vernunft selbst«68 verständlich. Es ist der praktische Begriff der Autonomie des Willens, in dem der sich im Moralgesetz artikulierende Anspruch der reinen praktischen Vernunft auf Bestimmung detjenigen volitiven Grundpotenz des Menschen, die Kant »Willkür« nennt, als erfüllt gedacht wird. In der »Autonomie des Willens« gibt sich der Mensch selbst eine vernunftbestimmte Ordnung in Form eines unbedingt verpflichtenden Moralgesetzes und qualifiziert sich dadurch allererst zum »animal rationale« im Sinne eines freien, autonomen Vernunftwesens. Der Mensch als dasjenige Willenswesen, das den moralischen Anspruch der Vernunft anerkennt, d. h. willens ist, diesem unbedingten Anspruch auch gegen alle bloß der »Glückseligkeit«69, dem »Material« des Wollens, dienlichen Maximen zu entsprechen, ist nach Kant »Subjekt der Moralität«70 bzw. »Subjekt des moralischen Gesetzes ... «71, d. h. moralische »Persönlichkeit«. »Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.«72 Der sich in der »Autonomie des Willens« manifestierende Anspruchs- bzw. Appellationscharakter des Vernunftgesetzes macht zweierlei deutlich: Zum einen könnte der Anspruch nicht gegenüber einem Wesen erhoben werden, das gar nicht in der Lage wäre, ihn als Anspruch zu verstehen. Das wäre ein bloßes Naturwesen, dessen Willkür, wie oben gesehen, »brutum«, d. h. instinktgeleitet wäre. Von einem solchen Wesen könnte nicht gesagt werden, daß es »Vernunft hat« im Sinne des arbitrium liberum. Zum anderen könnte der Anspruch aber auch nicht erhoben werden gegenüber einem vollends vernunftbestimmten Wesen, einem Wesen also, das gar nicht vor die Alternative gestellt wäre, dem Anspruch zu entsprechen oder nicht zu entsprechen. Ein solches »reines Vernunftwesen« würde den Anspruch als solchen ebensowenig verstehen, wie das bloße Naturwesen ihn verstünde. Der Anspruch kann deshalb nur
GMS, IV, S. 450. KpV, V, S. 33. Nach GMS, IV, S. 440 gebietet der kategorische Imperativ »nichts mehr oder weniger als gerade diese Autonomie ... «. 67 L. W. Beck (1960/61), S. 280. 68 MSR, VI, S. 213. 69 Nach KU, V, S. 209 ist die »Glückseligkeit ... mit der ganzen Fülle ihrer Annehmlichkeit bei weitem nicht ein unbedingtes Gut.« 70 Vgl. KU, V, S. 435. 71 KpV, V, S. 131. 72 GMS, IV, S. 436. 65 66
2. Autonomie des Willens
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ergehen an ein Wesen von »freier Willkür«, ein Wesen mithin, das ebenso naturwie vernunftbestimmt ist, kurz: ein animal rationabile. Ein solches Wesen hat keinen »heiligen Willen", d. i. einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen flihig wäre ... «74. Maximen bilden zu können, die dem Anspruch des Sittengesetzes »widerstreiten«, ist vielmehr durchaus menschenmöglich. 75 Denn die Willkürfreiheit ist eben nicht die Freiheit eines »von aller Sinnlichkeit freien Wesen(s)«76, sondern die eines durch »Sinnlichkeit, mithin auch ... Endlichkeit«77 nicht unerheblich mitgeprägten Wesens. 78 Die Willkürfreiheit als der Ort der Bildung von »Triebfedern«, »Interessen« und »Maximen«, die zusammengenommen die intentionale Struktur des Menschen ausmachen, ist das grundlegende Charakteristikum des Menschen als eines endlichen und zugleich vernünftigen Wesens. »Alle drei Begriffe aber, der einer Triebfeder7\ eines Interesse und einer Maxime, können nur auf endliche Wesen angewandt werden. Denn sie setzen insgesamt eine Eingeschränktheit der Natur eines Wesens voraus, da die subjektive Beschaffenheit seiner Willkür mit dem objektiven Gesetze einer praktischen Vernunft nicht von selbst übereinstimmt; ein Bedürfnis, irgendwodurch zur Tätigkeit angetrieben zu werden, weil ein inneres Hindernis derselben entgegensteht. Auf den göttlichen Willen können sie also nicht angewandt werden.«80 Die menschliche Willkür, deren Bestimmung durchs Vernunftgesetz bloß möglich ist, die also durchaus die Stufe der »Autonomie des Willens« verfehlen
73 Ebensowenig besitzt es - um die Parallele zum theoretischen Vernunftgebrauch noch einmal zu ziehen - einen »göttlichen Verstand« (Refl. 6041, XVIII, S. 431), d. h. einen »intellectus originarius. nicht derivativus ... intellectus archetypus. Nicht Denken. Nicht Vernunft im Umweg.« (ebd., vgl. KrV, B 72 und B 723). So wie der »göttliche Verstand« derjenige wäre, der »die Dinge erkennt schlechthin, wie sie an sich selbst sind« (Refl. 6041, XVIII, S. 431), so wäre der »heilige Wille« der in keiner Weise empirisch affizierte, sondern schlechthin durch praktische Vernunft bestimmte, »reine« Wille. 74 Kp V, V, S. 32. 75 Dazu K. Marc-Wogau (1977), S. 8: » Während der heilige Wille notwendig durch das Sittengesetz bestimmt ist, hat der Wille des Menschen nur die Möglichkeit, vom Sittengesetz bestimmt zu werden.« 76 Kp V, V, S. 76. 77 Ebd. [Hervorh. K. K.J. 78 Zwar sind die »Begriffe und Gesetze« der praktischen Vernunft »aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt abzuleiten« (GMS, IV, S. 41If.), d. h. man darf nicht versuchen, »die Prinzipien von der besonderen Natur der menschlichen Vernunft abhängig zu machen« (ebd.), aber zugleich gilt nach Kant, daß, wenn »die Vernunft für sich allein den Willen nicht hinlänglich« bestimmt, »mit einem Worte ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß (wie es bei Menschen wirklich ist)« (GMS, IV, S. 412f.), das moralische Gesetz »nötigend« auftritt: »Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ.« (GMS, IV, S. 413). 79 Zur Definition des Begriffs »Triebfeder« vgl. KpV, V, S. 71f. 80 KpV, V, S. 79.
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II. Die Doppelnatur des Menschen
kann, ist prinzipiell auch durch der moralisch-praktischen Vernunft fremde Triebfedern bestimmbar. Kant verwendet hierftir den Oppositionsbegriff zu »Autonomie«, den Begriff der »Heteronomie«81, um anzuzeigen, daß in solchen - bei Menschen als endlichen, aufs eigene Glück bedachten Wesen überwiegenden - Fällen der unbedingte Anspruch der Vernunft auf Bestimmung der Willkür gleichsam ins Leere läuft. Denn wird in Situationen des Konflikts zwischen der Befolgung des Moralgesetzes und der Bestimmung der Willkür durch Maximen der eigenen »Glückseligkeit«82 das Moralgesetz nicht zum obersten Bestimmungsgrund der Willkür gemacht, so bedeutet dies, daß die Befolgung des mit dem Anspruch auf unbedingte Geltung auftretenden Vernunftgesetzes von vernunft- bzw. sittlichkeitsfremden Bedingungen abhängig gemacht wird, was ersichtlich widersprüchlich ist. Die Rede von der Unbedingtheit des Sittengesetzes, oder, wie wir auch sagen können, der Unbedingtheit des moralischen Sollens (Imperativ!) findet ihre Entsprechung in der Rede von der Autonomie der Vernunft bzw. der Autonomie des Willens. 83 Diese besagt, negativ gesprochen, die Zurückweisung jeglicher Heteronomie in dem Sinne, daß vernunftfremde Motive (Bestimmungsgründe) die Willkür primär bestimmen dürften. Im Abweis von Fremdbestimmung stellt sich das der Möglichkeit nach autonome Vernunftsubjekt bewußt auf sich selbst, und das heißt: auf sich selbst als ein endliches Wesen, das dem Anspruch der moralisch-praktischen Vernunft entsprechen will, kurz: »Subjekt der Moralität« sein will. M.a.W.: Bestimmt sich die Willkür nach dem (unbedingten) Gesetz der reinen praktischen Vernunft und nicht durch (bedingte) Objekte, d. h. »fremde Antriebe«8" so sprechen wir vom autonomen Willen. 85 Kants Kontrastierung der Begriffe »Autonomie« und »Heteronomie« hat im Rahmen seiner praktischen Philosophie vornehmlich die Funktion, den Menschen (als das Wesen von »freier Willkür«) als ein endliches und zugleich dem unbedingt geltenden Gesetz der reinen praktischen Vernunft unterstehendes Vgl. GMS, IV, S. 433; S. 44Iff.; KpV, V, S. 33. Nur solche Entscheidungssituationen sind hier relevant, nicht etwa sittlich indifferente, moralneutrale Situationen, in welchen selbstverständlich auch für Kant die Beförderung der eigenen Glückseligkeit in der »Natur des Menschen« liegt und kein Problem darstellt. Vgl. z. B. KpV, V, S. 61. 83 Dazu H. Krings (1987), S. 15f.: »Das sittliche Prinzip ist die reine Selbstbestimmung des Willens. Das Gesetz des Willens ist ein Gesetz aus reiner Vernunft. Die Qualität des Sittlichen ist schlechterdings dadurch begründet, daß der Wille autonom, nicht heteronom bestimmt ist.« 84 Vgl. GMS, IV, S. 444. 85 Vgl. dazu o. Höffe (1986), S. 72: »Die moralische Freiheit oder Autonomie des Willens besteht nun darin, daß der Wille sich letztlich nicht von etwas anderem: von der Macht der Triebe und Leidenschaften, von den Gefühlen von Sympathie und Antipathie oder auch von sozialen Zwängen, bestimmen läßt; eine solche Fremdbestimmung (Heteronomie) wäre der genaue Gegensatz zur Autonomie. Positiv gewendet: Die Autonomie bedeutet, daß der Wille selbst Ursprung seines So-und-nicht-anders-Wollens ist, daß er sich selbst seine Gesetze gibt.« 81
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2. Autonomie des Willens
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Wesen aufzufassen. Klar ist zunächst, daß der Mensch als endliches, sinnliches Wesen begriffen werden muß, um überhaupt die Maximen seiner Willkür »heteronom« bestimmen zu können. Denn ein Wesen mit einem »heiligen« Willen wäre, wie gesehen, dazu gar nicht fähig. Ebenso klar aber ist - und dies ist die eigentliche Pointe der diesbezüglichen Kantischen Erörterungen -, daß der Mensch auch als »Subjekt der Moralität«, als im moralisch-praktischen Sinne »autonomes Vernunftsubjekt«, zugleich als sinnlich-endliches Wesen begriffen werden muß. Denn anderenfalls könnte er sich die Sittlichkeit (das Moralgesetz) nicht zur »Triebfeder« machen, d. h. keine »Achtung fürs Gesetz«'6 haben. 87 Versteht man den Ausdruck »Achtung fürs Gesetz haben« in dem Sinne, daß er genau das meint, was Kant als »dem Sittengesetz Eingang verschaffen« bezeichnet, letzteres aber, wie oben gezeigt, als Synonym für die »Autonomie des Willens« aufgefaßt werden kann, so wird klar, daß der Mensch auch als autonomes Vernunftsubjekt zugleich als endliches Wesen begriffen werden muß. Wesen, »denen das moralische Gesetz Achtung auferlegt«, sind endlich und vernünftig zugleich, d. h., negativ formuliert, »daß einem höchsten oder auch einem von aller Sinnlichkeit freien Wesen, welchem diese also auch kein Hindernis der praktischen Vernunft sein kann, Achtung fürs Gesetz nicht beigelegt werden könne«88. So läßt sich resümieren, daß auch die Lehrstücke von »Autonomie und Heteronomie« und von der »Achtung fürs Gesetz« den Menschen als ein endlich-vernünftiges Doppelwesen herausstellen. Man sollte, wie J. Schwartländer89 bemerkt, »keinen Augenblick vergessen, daß die von Kant gemeinte Autonomie sich auf die Sittlichkeit bezieht, und zwar auf die Sittlichkeit des Menschen.« Kants Idee der sittlichen Autonomie »soll die Freiheit einerseits gegen alle naturalistischen Verkürzungen des Menschseins verteidigen. Sie soll aber andererseits gegen alle Schwärmerei absoluter Freiheit die Endlichkeit bewußt werden lassen. «90 Wenn am Anfang von Kants Denkweg zur »Autonomie des Willens« die Überlegung stand, daß die Freiheit »im strengsten, d. i. transzendentalen Verstande«91 als (denk)möglich erwiesen werden mußte, sollte nicht der Determinismus das letzte Wort behalten, so ist bereits in der Intention, die Freiheit zu
Kp V, V, S. 76. »Und so ist die Achtung fürs Gesetz nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet.« (ebd.). 88 Ebd. Dazu K. Marc-Wogau (1977), S. 2: »Die Handlungen Gottes und anderer heiligen Wesen, die keine Pflicht oder Nötigung voraussetzen, können nicht in diesem Sinne moralisch genannt werden.« 89 J. Schwartländer (1981), S. 24. 90 Schwartländer, a. a. 0., S. 25. 91 KpV, V, S. 29. 86
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166
11. Die Doppe1natur des Menschen
»retten«92, Kants weitergehende Absicht erkennbar. Sie besteht darin, dem Menschen als jenem auf eigentümliche Weise aus Endlichkeit und Unendlichkeit, Natur und Vernunft, Bedingtheit und Unbedingtheit zusammengesetzten Wesen, diesem Mixtum aus natural er Bestimmtheit und vernünftiger (Selbst-)Bestimmung, eine Orientierung zu geben, die es ihm erlaubt, nicht auf die Anlage der »Tierheit« (in ihm selbst) zu regredieren, sondern sich im Bewußtsein der gegebenen, unabänderlichen Zugehörigkeit zur »Natur« gleichwohl einer ihm durchaus möglichen Qualität ebenso bewußt zu werden: seiner Anlage zur moralischen »Persönlichkeit«. Als Mensch, d. h. gemäß seiner Anlage zur »Menschheit«, kann er auf die Stufe der »Tierheit« zurückfallen (z. B. durch Verrohung, Abstumpfung, Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen der Mitmenschen etc.), er kann sich aber auch gegenüber einem ihm durchaus möglichen, von ihm selbst gesetzten (autonomen) Anspruch öffnen: dem Anspruch der Vernunft, die Stufe der »Persönlichkeit« zu erreichen. »Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört ... Aber er ist doch nicht so ganz Tier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein und diese bloß zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses als Sinnenwesens zu gebrauchen.«93 Die Anstrengungen, die »transzendentale« Freiheit und ihr praktisches Pendant, die »Freiheit der Willkür«, zu »retten«, dienten also der weitergehenden Absicht einer Grundlegung der Moral, genauer: der moralischen Bestimmung als des »eigentlichen Selbst«94 des Menschen. Denn wären bereits die Spontaneität der Vernunft und die Willkürfreiheit nichts als Chimären, so stünden auch der moralisch-praktische Anspruch der Vernunft und mit ihm die sittliche Selbstbestimmung des Menschen unter dem Verdikt der Sinnlosigkeit. Von »Autonomie des Willens« könnte keine Rede sein. Damit aber erwiese sich auch jenes Moment der Unbedingtheit als Illusion, welches - in der Entsprechung zum »Bedürfnis« der theoretischen Vernunft, das zu allem Bedingten schlechthin Unbedingte zu suchen - in der Dimension der praktischen Vernunft als unbedingte moralische Verpflichtung auftritt. Wenn nun »ein unbedingtes Gesetz bloß das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft«95 ist, d. h. die Idee des moralisch Unbedingten die Struktur der reinen praktischen Vernunft gleichsam auf den Begriff bringt, so läßt sich Kants Denkweg von der »transzendentalen Freiheit« über die »Freiheit der Willkür« bis hin zur »Autonomie des Willens« pointiert gesagt als Rettung des Kernbestandes der Vernunft überhaupt, d. h. der Idee des Unbedingten, rekonstruieren. 92 KrV; B 564: »Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. Alsdann ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit ... «. 93 KpV; V; S. 61. 94 Vgl. GMS, IV; S. 457; S. 458. Vgl. dazu K. Konhardt (1986). 95 KpV; V; S. 29.
3. Das Zwischenwesen
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Die Begriffe »Vernunft« und »Autonomie des Willens« sowie ihre Synthese, der Begriff des »autonomen Vernunftsubjekts«, sind nach alledem die Entfaltungsweisen dessen, was wir oben als die »Vernunftseite«, den »Vernunftpol« des endlichen Vernunftwesens Mensch deklariert hatten. Die Vernunftbestimmung läßt sich jedoch, wie gezeigt, nicht isoliert von der Komponente der »Endlichkeit« des Menschen begreifen. Eine Illustration der Art und Weise, wie der unbedingte Anspruch der reinen praktischen Vernunft oder, wie wir jetzt abgekürzt sagen können, der Autonomieanspruch rur das endliche Vernunftwesen in Erscheinung tritt, bietet die Lehre von den »Standpunkten«, die im folgenden und als Abschluß unseres Rückgriffs auf Kants Konzeption der Doppelnatur des Menschen kurz skizziert werden soll.
3. Das Zwischenwesen Kants Lehre von den beiden »Standpunkten«96 der Sinnenwelt (mundus sensibilis) und der Verstandeswelt (mundus intelligibilis)97 reflektiert auf das Verhältnis von Natur und Freiheit, wie es sich rur den Menschen als endliches Vernunftsubjekt darstellt. Die Standpunkt- bzw. Perspektivenlehre, in der Kant-Literatur häufig auch als »Zwei-Welten-Lehre« apostrophiert, ist, wenn man so will, kritisch gereinigte »Metaphysik«98. Allerdings modifiziert sie die dem klassisch-metaphysischen Vokabular entlehnte Begrifflichkeit zweier »Welten« auf eine eigentümlich neuzeitspezifische Weise. Die beiden »Welten« sind rur Kant keine Seinsmodi, d. h. sie dürfen, anders als in der platonischen Tradition, nicht als ontologisch fundiert vorgestellt werden. 99 Der Mensch ge-
Vgl. GMS, IV, S. 458. Vgl. KrV, B 312. 98 Vgl. dazu G. Anders (1980), S. 10: »Denn worin hätte die Leidenschaft der Philosophie, und zwar die der disparatesten Philosophen, denn bestanden, wenn nicht in der großartigen Abwendung vom Kontingenten, vom >mundus sensibilisEigentlichemmundus intelligibiliskosmein, kosmos, kosmios, kosmi96 97
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Ir. Die Doppelnatur des Menschen
hört nicht seiner »Natur« nach zwei an sich gegebenen, diskreten »Welten« an. Deshalb ist auch die Bezeichnung des Menschen als »Zwischenwesen«, die der Sache nach in Darstellungen der platonischen Tradition durchaus legitim ist, in der Rekonstruktion des von Kant Gemeinten nur unter Vorbehalt zu verwenden. Es muß jederzeit mitbedacht werden, daß in bezug auf Kant die ontologische Bedeutung der Rede von den »zwei Welten« unangemessen ist und infolgedessen Ausdrücke wie »Zwischenwesen«, »Doppelnatur« etc. nur dann verwendet werden sollten, wenn sie auf ontologische Konnotationen verzichten. 100 Für Kant ist der Begriff der» Welt« ein Totalitätsbegriff der Vernunft, d. h. es gibt» Welt« und demnach auch die Vorstellung von »Welten« überhaupt nur für das Vernunftsubjekt. Das betrifft den mundus sensibilis ebenso wie den mundus intelligibilis. Beide sind Perspektiven, Standpunkte, d. h. verschiedene Weisen, unter denen der Mensch sich selbst betrachtet: »Der Mensch, der sich ... als Intelligenz betrachtet, setzt sich dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und in ein kosDing an sich< oder >Ich an sich< ... bezeichnen nicht Gegenstände einer geheimnisvollen Hinter- oder Unterwelt. Sie sind vielmehr Reflex dessen, daß wir im Umgang mit der Wirklichkeit, die wir vorfinden, und mit der, die wir sind, Momente der Unverfiigbarkeit erleben. Und diesem Erleben allein verdanken diese Ausdrücke ihre Bedeutung.« 113 GMS, IV; S. 458. 114 Ebd. 109
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3. Das Zwischenwesen
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nunft andererseits erforderlich ist. 115 Diese Synthese zu leisten, läuft auf die berühmte Kantische Frage, wie ein kategorischer Imperativ »möglich« sei, hinaus. Er ist dadurch möglich, »daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, wodurch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen, welches kategorische Sollen einen synthetischen Satz apriori vorstellt, dadurch daß über meinen durch sinnliche Begierden affizierten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält ... «"6. Diese Idee eines zur intelligiblen Welt gehörigen reinen Willens ist für das ja gleichzeitig der Sinnenwelt angehörende Vernunftwesen eine normativ-sittliche Leitidee, von der es »einen größeren inneren Wert seiner Person erwarten kann« 117. Das Gesetz der praktischen Vernunft, das Moralgesetz, tritt also mit Hilfe der Fähigkeit des Menschen, beide »Perspektiven« zugleich einzunehmen, dabei aber der Perspektive der noumenalen Welt eine gewisse Präferenz einzuräumen, als Sollen, d. h., wie oben gezeigt, mit dem Charakter der »Nötigung« auf. 118 Kurz: das Moralgesetz nimmt für den Menschen die Form eines unbedingt (kategorisch) verpflichtenden Imperativs an. Über seine für die theoretische Vernunft bloß »negative« Bedeutung hinaus besitzt der Begriff einer intelligiblen Welt für die »Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche« also durchaus »objektive Realität« und wird dementsprechend »moralische Welt«119 genannt. Die Perspektive der »moralischen Welt« ist der die Ordnung der moralisch-praktischen Vernunft symbolisierende »Standpunkt«, den ein zugleich sinnliches wie vernunftbegabtes Wesen »einzunehmen« genötigt ist, will es dem Anspruch der Vernunft genügen, d. h. sich als autonom im oben dargestellten Sinne auffassen. Der Autonomieanspruch ist letztlich ein Anspruch, den der Mensch als endliches Vernunftwesen an sich selbst stellt, d. h. es ist der Anspruch auf vernünftige Selbstbestimmung des Menschen. Mit dem Vokabular von Kants Perspektivenlehre ausgedrückt wäre es gleichsam eine Unterbietung Vgl. dazu GMS, IV, S. 420, Anm. GMS, IV, S. 454. 117 GMS, IV, S. 455. Kant spricht an dieser Stelle von der »besseren Person«, die der Mensch zu sein glaubt, »wenn er sich in den Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt versetzt ... « (ebd.). Nach KrV, B 426 fühlt der Mensch sich »innerlich dazu berufen ... , sich durch sein Verhalten in dieser Welt, mit Verzichtung auf viele Vorteile, zum Bürger einer besseren, die er in der Idee hat, tauglich zu machen«. 118 Nach KpV, V, S. 43 ist das moralische Gesetz »das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt ... , deren Gegenbild in der Sinnenwelt, aber doch zugleich ohne Abbruch der Gesetze derselben existieren soll.« Dazu F. Kaulbach (1978), S. 193: »Nur für das auch in der Sinnlichkeit wurzelnde Vernunftwesen gibt es Sollen, Verpflichtung und Verbindlichkeit.« 119 KrV, B 836 [Bei Kant Fettdruck]. 115
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II. Die Doppelnatur des Menschen
der Möglichkeiten des vernünftigen Subjekts, ausschließlich den Standpunkt der Sinnenwelt einzunehmen. Strenggenommen liefe dies, d. h. die Ausblendung des Standpunktes der »moralischen Welt«, auf eine Perspektivenlosigkeit hinaus. Denn die ausschließliche Festlegung auf die Sinnenwelt wäre als solche gar keine Perspektive, weil ihr die Alternative der »anderen« Perspektive fehlen würde. 120 Aber wie dem auch sei, nach Kant jedenfalls bedeutet die Bevorzugung der Perspektive der »moralischen Welt« eine Option, eine Grundentscheidung des beider Perspektiven fähigen endlichen Vernunftwesens für sein Selbstverständnis als »Subjekt der Moralität«, d. h. als Wesen mit »freiem Willen« im Sinne der »Autonomie«. Daß ein solches Selbstverständnis aus der Perspektive der Sinnenwelt weder herleitbar noch verstehbar ist, darauf deutet der in der Form der »moralischen Welt« auftretende Begriff des Noumenalen hin. Die Unterscheidung der beiden Perspektiven einer Sinnenwelt und einer moralischen Welt läßt sich in gewisser Weise auf die allem Vernunftgebrauch eigentümliche Differenzierung zwischen Bedingtheit und Unbedingtheit abbilden. In bei den Versionen reflektiert der Mensch als endliches Vernunftwesen auf seinen Status als Subjekt, näherhin als Subjekt der Perspektivenbildung. Denn die Selbsteinschätzung des Menschen als eines endlichen, auf vielfache Weise »bedingten« Wesens ist ebenso eine »Perspektive«, ein »Standpunkt«, den der Mensch einzunehmen nicht umhin kann, wie die Selbsteinschätzung als »Bürger einer besseren Welt« ein »Standpunkt« ist, den der Mensch unter dem Aspekt der unbedingten Geltung des Moralgesetzes einzunehmen genötigt ist. Den moralischen Anspruch der praktischen Vernunft begreift der Mensch demnach ebenso als einen unbedingten, nicht aus der Sphäre des Bedingten ableitbaren, wie er die Idee der moralischen Welt als unbedingte Norm versteht. Die »Einheit« beider, auf der einen Seite die von Bedingtheit und Unbedingtheit, auf der anderen Seite die von Sensibilität und Intelligibilität (resp. Moralität), ist für den Menschen niemals eine vorfindbare. Sie muß vielmehr allererst hergestellt, geleistet werden, und das Subjekt dieser - schwierigen - Einheitsleistung ist der Mensch als »Zwischen« von Bedingtheit und Unbedingtheit, Endlichkeit und Vernunftanspruch. Die Synopsis von Endlichkeit und Vernunftanspruch, wie sie in Kants Standpunktlehre hervortritt, ist ein neuzeitlicher, wenn nicht gar der ausgezeichnete neuzeitliche Beitrag zur philosophischen Durchdringung des epochenübergreifenden Grundproblems, das wir als »Urkonstellation« des Menschen als »Doppelwesens« bezeichnet haben. Pointiert gesagt ist der Mensch, wie Kant ihn 120 Das gälte entsprechend auch umgekehrt ftir die ausschließliche Festlegung auf den Standpunkt der Verstandeswelt. Doch ist das eher eine »akademische« Frage; denn im Ernst wird sich kein Mensch als »reines« Vernunft- oder Verstandeswesen betrachten, es sei denn, er hätte buchstäblich den Verstand verloren. In diesem Falle wäre es schon analytisch klar, daß er kein Verstandeswesen wäre und einschlußweise kein »reines«.
3. Das Zwischenwesen
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versteht, das In- und Gegeneinander der bei den Perspektiven Endlichkeit und Unendlichkeit bzw. Bedingtheit und Unbedingtheit. Nur dem Menschen scheint, nach allem, was wir wissen, dieser »Zwischenstatus« zuzukommen, weil er ihn selbst erdenkt. Deshalb stellt er aber auch nur für den Menschen ein gravierendes Problem dar, das, abgekürzt gesprochen, darin besteht, aus der von ihm selbst für sich als Menschen diagnostizierten Urkonstellation des »Zwischen« heraus die Frage nach seinem »Wesen«, seiner »Natur«, nach dem, was sein »eigentliches Selbst« sei, zu stellen und womöglich einigermaßen zufriedenstellend zu beantworten. Daß diese Frage weder leicht noch ein für allemal gültig zu beantworten ist, wird einsichtig, wenn man sich die Gegensätze etwas konkreter vor Augen führt, die sich hinter den relativ abstrakten Begriffen »Bedingtheit« und »Unbedingtheit«, »Endlichkeit« und »Vernunftanspruch« verbergen. Es handelt sich - ohne daß die Liste Anspruch auf Vollständigkeit erheben würde und ohne daß wir die einzelnen Begriffe hier detailliert diskutieren wollten - um folgende Kontrarietäten: Absolutheit (z. B. absolutes Wissen, absolute Geltung) und Relativität, Einheit und Vielheit, Überzeitlichkeit (Ewigkeit) und Zeitlichkeit, Unendlichkeit und Endlichkeit, Unbegrenztheit und Begrenztheit, Notwendigkeit und Kontingenz, Wahrheit und Irrtum, Apriorität und Empirie etc., aber auch, will man auf die Inhalte der praktischen Philosophie im weiteren Sinne abstellen: Freiheit und Natur, Normativität und Faktizität, Essenz und Existenz, Heil und Unheil, Glück und Unglück, Gut und Böse, Vollkommenheit und Unvollkommenheit, Fülle und Mangel (Übel), und nicht zuletzt: Unsterblichkeit und Sterblichkeit. Diese selbstverständlich nicht gleich gewichtigen und auch aus differenten Kontexten stammenden Kontrarietäten l21 waren von jeher Gegenstand philosophischen Denkens. Alles menschliche Nachdenken, soweit es, wenn man so will, das »Erste« und das »Letzte« betrifft, ist durch reflexiven Umgang mit den genannten und weiteren Kontrarietäten, d. h. mit dem Spannungsverhältnis von Bedingtheit und Unbedingtheit, Endlichkeit und Vernunft, gekennzeichnet. Diese Urkonstellation des Menschen, die wir soeben - etwas euphemistisch - als für den Menschen spezifisches »Problem« bezeichnet haben, kann man auch, mit E. Fink, als »eine tiefe und wesenhafte Not des endlichen Geistes überhaupt« bezeichnen, »der in endlichen Weisen und im Widerspruch solcher das Un-Endliche anzudenken versucht«122. Für Kant - und nicht zuletzt darin erweist er sich als neuzeitlicher Denker bleibt uns für das Erkennen (den theoretischen Vernunftgebrauch) nur der Ausgriff auf das Unbedingte. In der Terminologie seiner Standpunktlehre gesprochen hieße das, wie gezeigt: das Noumenon ist von bloß negativem Gebrauch, ein »Grenzbegriff«. Im praktischen Vernunftgebrauch verfügen wir jedoch 121 Zur Bedeutung solcher Gegensätze für das Selbstverständnis des Menschen vgl. H. M. Baumgartner (1990). 122 E. Fink (1990), S. 114.
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II. Die Doppelnatur des Menschen
ebensowenig über das Unbedingte. Es hat, so hieß es, gleichwohl »objektive Realität« für den Menschen als dasjenige Wesen, das sich dem Anspruch der moralisch-praktischen Vernunft auf die Willensbestimmung nicht verschließt. Die vollständige, d. h. ausnahmslose Erfüllung dieses Anspruchs, die umfassende »Realisierung« des Gebots der praktischen Vernunft, ist endlichen Vernunftwesen auch nach Kant gleichwohl nicht möglich: »Der moralische Imperativ verkündigt durch seinen kategorischen Ausspruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwang, der also nicht auf vernünftige Wesen überhaupt 123 (deren es etwa auch heilige geben könnte), sondern auf Menschen als vernünftige Naturwesen geht, die dazu unheilig genug sind, daß sie die Lust wohl anwandeln kann, das moralische Gesetz, ob sie gleich dessen Ansehen selbst anerkennen, doch zu übertreten ... «124. Dennoch können wir, wenn wir uns denn überhaupt als Vernunftwesen begreifen und die Subjektivität nicht einebnen, d. h. uns selbst als bloße Naturwesen verstehen wollen, nicht auf die normative Idee des Unbedingten verzichten. 125 Die Subjektivität, das» Vernunftsubjekt«, bestimmt sich vielmehr selbst als autonom, d. h. als unter dem Gesetz der moralisch-praktischen Vernunft stehend. Auf diese Weise bestimmt sich der Mensch, der sich ja durchaus als begrenzt, fallibel, endlich usf. begreift, dennoch primär und essentiell als ein Wesen, das den unbedingten Anspruch der Vernunft als seinen eigenen, an ihn als Menschen selbst gerichteten Anspruch anerkennt. Dies ist Kants auf die Moralität als die »eigentliche«, den Menschen in seinem Selbstverständnis zuhöchst betreffende Dimension der Vernunft zugespitzte Variante des schon in der frühen Neuzeit entwickelten Gedankens des »Selbststandes« der Subjektivität. Dieser besagte, kurz gesagt: Der Mensch definiert selbst, was ihn zum Vernunftwesen macht. Bei Kant ist es die Anerkennung des Moralgesetzes als des unbedingte Geltung beanspruchenden Vernunftgesetzes par excellence. Daß der Mensch sich als endlich begreift, daß er die Perspektive der Sinnenwelt einnehmen muß, bedeutet eine Einsicht, die als solche überhaupt nur einem »animal rationabile« möglich ist. Das Sich-dem-VernunftanspruchUnterstellen bedeutet ebenfalls eine Einsicht, ist also auch nur einem Wesen möglich, das sich von seiner naturalen Determination wenigstens partiell distanzieren kann. Beide Einsichten sind - und hierin liegt das punctum saliens der Kantischen Überlegungen - nur einem endlichen Vernunftwesen möglich. Die
123 Ein Problem stellt, wie H.1. Paton (1962), S. 99, feststellt, »die Freiheit vernünftig handelnder Wesen«, d. h. vollends vernünftiger Wesen, dar. Wenn, so wird man sagen können, Handelnkönnen auf der Fähigkeit (und Angewiesenheit) zur Maximenbildung, d. h. auf der »Freiheit der Willkür« beruht, dann können vollends vernünftige Wesen auch nicht handeln, jedenfalls nicht in dem uns Menschen geläufigen, Wahlfreiheit voraussetzenden Sinne. 124 MST, VI, S. 379. 125 Vgl. dazu auch H. Krings (1977), S. 112: »Um begründeterweise ein Wollen und Handeln als sittlich gut oder sittlich böse zu beurteilen, ist der Bezug auf ein Unbedingtes unerläßlich.«
3. Das Zwischenwesen
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erstere erscheint prima facie als bedrückend, die letztere als »erhebend«126, wenn auch nicht in dem Sinne, daß das endliche Vernunftwesen seinen Status gleichsam auf Dauer stellen, d. h. sich als unsterblich denken könnte. »Erhebend« ist die Selbsteinschätzung des endlichen Vernunftsubjekts als eines solchen nur in der Hinsicht, daß es sich trotz seiner unbestreitbaren Zugehörigkeit zur Reihe der Naturwesen durchaus als zur Anerkennung des moralisch-praktischen Vernunftanspruchs fähig und insofern als Vernunftwesen im »eigentlichen« Sinne betrachten darf. Es läßt sich nach alledem mit K. Marc-Wogau daran erinnern, »daß Kant den Menschen als ein sinnlich-vernünftiges Wesen einerseits den Tieren, die rein sinnliche Wesen ohne Vernunft sind, und andererseits Gott und anderen nichtsinnlichen, rein rationalen Wesen, die ganz von ihrer Vernunft regiert werden, gegenüberstellt.«127 Diese Zwischenstellung, die wir anhand der Kantischen Lehre von den zwei »Standpunkten« exponiert haben, ist die Position des Menschen im Spannungsverhältnis von Endlichkeit und Vernunjtanspruch. Der Begriff des »Spannungsverhältnisses« indiziert eine in der Struktur des endlichen Vernunftsubjekts als solchen verankerte, nicht aufhebbare Ambivalenz. Es ist, mit 1. Schwartländer gesprochen, »die unaufhebbare Spannung, die ihren Grund in dem Zugleich von unbedingter Freiheit und unaufhebbarer Endlichkeit hat« 128. Der Mensch ist und bleibt, wie W. Schulz generell, aber auch in bezug auf Kant herausgearbeitet hat, ein »zweideutiges Wesen«129. Diese ambivalente Urkonstellation des Menschen, ein Topos, der die abendländische Denkgeschichte seit Platon bestimmt hat, wird auch durch Kants eindringliche Bestimmung des Menschen als eines zum »Subjekt der Moralität« tauglichen Vernunftwesens nicht aufgehoben. Allerdings vermochte Kant im Selbstverständnis des Menschen als eines endlichen und zugleich autonomen Vernunftsubjekts keine »Selbstüberforderung« zu entdecken. Dieser Vorwurf gegenüber der Konzeption des »autonomen Vernunftsubjekts« wurde, vorbereitet durch die »nachidealistische« Philosophie des 19. Jahrhunderts, im 20. Jahrhundert in mannigfachen Abwandlungen und aus unterschiedlichen Gründen erneuert und zugespitzt. Einige für das 20. Jahrhundert repräsentative Varianten dieses Vorwurfs sowie der Kritik an der Idee des »autonomen Vernunftsubjekts« überhaupt sollen im folgenden diskutiert werden.
126 Aus diesem Kontext heraus ist auch Kants Lehrstück vom »Erhabenen« in der )Kritik der Urteilskraft< zu verstehen. Vg!. auch Re!., VI, S. 50, wo vom »Gefühl der Erhabenheit« der »moralischen Bestimmung« des Menschen die Rede ist. 127 K. Marc-Wogau (1977), S. 1. 128 J. Schwartländer (1981), S. 26. 129 Vg!. W. Schulz (1989), S. 131.
111. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik Die Vernunftkritiken des 20. Jahrhunderts sind facettenreich. Ihr Spektrum reicht von der Infragestellung »der« Vernunft überhaupt als Instanz des »Absoluten« und »Unbedingten«, als des Vermögens der »Einheit«, der Systematizität und des Prinzipienwissens über die Skepsis gegenüber ihrem Verständnis als eines grundlegenden Potentials der »Kritik« und der Reflexivität bis hin zum (»ideologiekritischen«) Verdacht, jede Inanspruchnahme von »Vernunft« kaschiere nichts als einen elementaren Herrschafts- und Machtwillen über das »Andere« der Vernunft, das Naturwüchsige, Plurale, Individuelle und Authentische, kurz: das in sich vielgestaltige und sich gegen die »Vereinheitlichungstendenz« der Vernunft sperrende »Leben«. Ersichtlich sind einige Formen dieser Vernunftkritik nicht rur das 20. Jahrhundert spezifisch, sondern gehen, wenn sie nicht ohnehin so alt sind wie die von jeher bestehende Kritik am Selbstverständnis des Menschen als eines logoshaften, »vernunftbestimmten« Wesens, auf die nachidealistische Philosophie des 19. Jahrhunderts zurück, andere stellen den Kernbestand des neuzeitlichen Vernunftverständnisses, die Konzeption des »autonomen Vernunftsubjekts«, ebenso in Frage wie deren »idealistische« Zuspitzung im Begriff einer »absoluten« Vernunft. Die Kritik an der neuzeitlichen Vernunft- bzw. Subjektivitätsphilosophie basiert zwar häufig auf der Zurückweisung schon der antiken und mittelalterlichen »Metaphysik«, als deren Folgeformation sie betrachtet wird, doch ist es insbesondere die neuzeitspezifische Idee der Selbstbestimmung des Menschen als autonomen Vernunftsubjekts, die - aus unterschiedlichen Motiven - im 20. Jahrhundert ein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber allen Versuchen der Inanspruchnahme von» Vernunft« als letzter Deduktions-, Begründungs- und Rechtfertigungsinstanz erzeugt hat. Der Leitgedanke nahezu aller aus diesem Mißtrauen heraus erwachsenen Vernunftkritiken ist zunächst ein bloß negativer und äußert sich in dem Verdacht, in seinem Selbstverständnis als »autonomes Vernunftsubjekt« überschätze und überfordere sich der Mensch, indem er sich Kompetenzen zuspricht, die ihm nicht zustehen, oder schlichter gesagt: über die er als endliches Lebewesen gar nicht verrugt. Vernunftbestimmte Autonomie ist so gesehen nichts als ein bloßer Traum, wenn nicht eine Anmaßung und Selbstermächtigung des Menschen. Wenn die »Vernunftkritik« im 20. Jahrhundert auf den Plan tritt, wenn »Anklage gegen die Vernunft« I erhoben wird, sitzt deshalb zwar vordergründig betrachtet »die« Vernunft überhaupt auf der Anklagebank, bei näherem Hin1
Vgl. M. Landmann (1976). Vgl. auch Landmann (1971), (1975).
1. »Selbstüberforderung« und »Selbstvergottung«
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sehen aber ist es fast immer die Vernunft der Neuzeit oder der »Moderne«2, die »angeklagt« wird, und das heißt stets: das »autonome Vernunftsubjekt«. An der Idee der Vernunftautonomie als Etikette für eine vorgeblich verfehlte Selbsteinschätzung des Menschen entzünden sich all diejenigen »Vernunftkritiken«, die die neuzeitlichen Versuche, den »Selbst-Stand« des Vernunftsubjekts zu begründen, als Signum für den »Verfall« einer ganzen - unserer - Epoche ansehen. Die »positiven« Bilder vom Menschen, die diese »negative« Einschätzung der neuzeitlichen Vernunftautonomie rechtfertigen sollen, fallen im Gesamtspektrum der mit dem Vorwurf der »Selbstüberforderung« gegenüber der Konzeption des »autonomen Vernunftsubjekts« operierenden Vernunftkritiken allerdings sehr unterschiedlich aus. Ihre Konturen werden - wenn überhaupt - erst sichtbar, wenn man sich einige dieser Vernunftkritiken etwas näher vor Augen führt. 1. »Selbstüberforderung« und »Selbstvergottung«
des autonomen Vernunftsubjekts?
Die These, der Mensch der Neuzeit »überfordere« sich selbst, wenn er sich als autonomes Vernunftsubjekt bestimme, wird nicht ausschließlich, aber zumeist von religiös inspirierten Denkern vorgetragen. Dahinter steht der Gedanke, daß die Idee der Vernunftautonomie zwangsläufig auf einen Begriff »absoluter«, sich selbst begründender Vernunft führe, von dem das »idealistische« Ansinnen, im Aktus der Selbstbegründung der Vernunft zugleich» Welt« zu begründen, nicht zu trennen sei. Wenn sich das endliche Subjekt, oder, in christlicher Diktion gesprochen: das »Geschöpf«, in toto als »Vernunftwesen« (und nichts außerdem) versteht, wenn es seine Vernunftbegabung als Kapazität zur »Erklärung« von »Ich und Welt« begreift, dann setzt es sich als endliches Subjekt absolut. Diese Absolutsetzung ist ersichtlich eine Fehleinschätzung und Selbstüberforderung des Menschen, ignoriert sie doch die nicht »aus Vernunft« erklärbare Vielgestaltigkeit menschlichen Daseins ebenso wie die Erfahrung mannigfacher, mit der Endlichkeit (bzw. Geschöpflichkeit) des Menschen gegebener Beschränkungen. Vor allem aber ist es dem endlichen Vernunftwesen verwehrt, sich als Vernunftwesen selbst erklären zu können. Ich und Welt aus der sich selbst als »absolut« verstehenden Vernunft erklären zu wollen, liefe in der Tat auf eine Omnipotenzanmaßung3 des endlichen Vernunftwesens, auf eine Apotheose der Vernunft, eine »Selbstvergötzung des Menschen«4 hinaus. Vgl. L. Kolakowski (1991). 1. Habennas (1985), S. 179, spricht von der als »omnipotentes Ur-Ich« erscheinenden »transzendentalen Subjektivität«. M. Schreiber (1988), S. 202, setzt das Ansinnen einer »Ratio, die sich endgültig begreifen will«, mit dem Versuch ihrer Selbstbemächtigung gleich. 4 Vgl. H. Lenk (1983), S. 8. Ähnlich G. Cottier (1972), S. 17: »Die menschliche Vernunft beansprucht für sich die Vorzüge der absoluten Vernunft. Sie strebt nach Vergöttlichung, insofern sie sich als oberstes Gesetz konstituiert.« 2
3
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III. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
Doch der Begriff der »Autonomie« des endlichen Vernunftwesens führt nicht notwendig in die Aporien der Konzeption einer »absoluten« Vernunft hinein. Er wird von den Vernunftkritikern des 20. Jahrhunderts dennoch meist stellvertretend für eine sich zum »Absoluten« aufspreizende Vernunft genommen. Zudem dient er als Platzhalter für eine Philosophie der »Subjektivität«, die - als neuzeitspezifische - für eine ganze Reihe von neuzeitlich-modemen Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht wird. Der »Baconismus«, die Fortschritts- und Technikgläubigkeit, in deren Gefolge die Zerstörung der Biosphäre und andere katastrophenschwangere Erscheinungen der Gegenwart werden dem neuzeitlichen Begriff vom Menschen als» Vernunftsubjekt«, und das heißt: dem Menschen als seinem Selbstverständnis nach »autonomen« Subjekt angelastet. Dahinter steht fast immer die vorgeblich aus »Erfahrung« stammende und zur »Gewißheit« geronnene Vermutung, die neuzeitliche Selbsteinschätzung des Menschen als autonomes Vernunftsubjekt enthalte ein (selbst-)destruktives Potential.' Diese Vermutung wiederum, die ohne den »idealistischen«, namentlich Hegeischen Ansatz wohl gar nicht hätte entstehen können, ist gekoppelt an das vage Gefühl des Verlustes einer ehedem als unverbrüchlich eingeschätzten onto-theologischen Weltordnung, sei es der Antike, sei es des Mittelalters. Aus diesem Verlustempfinden heraus aber hatte sich, wie oben 6 gezeigt, notgedrungen das für die Neuzeit charakteristische Bewußtsein der ))Autonomie« bzw. des Auf-sich-selbst-Gestelltseins des ))Subjekts« allmählich herausgebildet. Das frühneuzeitlich keineswegs ))omnipotente« Subjekt, dem dieses Attribut auch bei Rousseau und Kant noch nicht zugeschrieben werden konnte, erhielt ))omnipotente« Züge erst in Hegels ))subjekttheoretischer« Modifikation onto-theologischer Selbst- und Weltdeutungsansätze. Das Vernunftsubjekt übernimmt so die Rolle des ))Ur-Ichs« bzw. des ))Weltschöpfers« und übernimmt sich auf diese Weise gründlich. Für diese gleichsam mit Händen greifbare Selbstüberforderung des Menschen mußte der Begriff der ))Autonomie« stellvertretend herhalten. Bereits die ethische Autonomie, wie sie von Rousseau und Kant gedacht wurde, geriet so in den Verdacht, den Menschen zu ))überfordern«, artikulierte sie doch ein neues, für die insgesamt auf einer Selbstüberschätzung des Menschen beruhende ))Neuzeit« typisches Selbst- bzw. Subjektbewußtsein. In dieser Perspektive betrachtet muß das auf sich selbst gestellte Subjekt notwendig scheitern; denn versteht man bereits die ethische Autonomie als Vernunftautonomie in dem Sinne, daß sich Vernunft hier selbst zum ))Un-Bedingten erklärt«", dann muß Vernunft sich a la longue schon deshalb selbst zerstören, weil ihr Selbstverständnis als ))Unbedingte« Vernunft schlechterdings hybrid Alle Formen einer »Dialektik der Aufklärung« basieren auf dieser Annahme. Vgl. oben, Abschnitt 1.4. der vorliegenden Arbeit. 7 Vgl. W. D. Rehfus (1990), S. 79f.: »Sowohl der Grieche als auch der Christ dachten sich in einem Un-Bedingten verankert. Die Neuzeit hingegen findet ihre Würde genau darin, nicht von einem Un-Bedingten abhängig zu sein. Der Adel des Modemen ist, alles sich selbst zu verdanken. 5
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1. »Selbstüberforderung« und »Selbstvergottung«
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und superb ist. W. D. Rehfus macht sich zum Sprecher dieser vernunftkritischen Richtung, wenn er die Ansicht vertritt, wir lebten »in einer Zeit, in der die Vernunft die Alleinherrschaft übernommen hat«8, d. h. in der »Epoche der Aufklärung«\ die »untergehen« muß, weil sie »von ihrem eigenen Prinzip zerstört [wird], von der autonomen Vernunft«!O. Die Aufklärung geht »ihren eigensinnigen Gang; sie kritisierte den Menschen aus aller Tradition heraus, und schließlich kritisierte sie sich selbst. Damit zog sie sich den Boden unter den eigenen Füßen weg. Das ist ihr Ende.«!! »Die Aufklärung hat die Vernunft zerstört, denn sie hat sie autonom gemacht, kritisch und reflexiv. Die Dreifaltigkeit der aufklärerischen Vernunft, Autonomie, Kritik und Reflexivität, hat sie in den Selbstmord getrieben.«!2 Eine derartige Vemunft- und Autonomiekritik, wie sie von Rehfus vorgebracht wird, könnte man sich selbst überlassen, artikulierte sich in ihr nicht eine wirkmächtige vernunftkritische Richtung des 20. Jahrhunderts, in der die »autonome Vernunft« als die Neuzeit insgesamt bestimmendes Prinzip begriffen wird, dieses Prinzip aber zugleich als Grund für die Verfehltheit und Abgründigkeit der Epoche der Neuzeit insgesamt betrachtet wird. Die neuzeitliche »Dreifaltigkeit«, um noch einmal mit Rehfus zu reden, von »Autonomie, Kritik und Reflexivität« ist in dieser Perspektive offensichtlich nichts als Teufelswerk und stellt die Weiterfiihrung der schon biblisch bezeugten »Geschichte der Autonomie des Menschen«!3 dar: »von der Vertreibung aus dem Paradies über den Brudermord, die Sintflut, Vaterschändung und Sprachverwirrung bis hin zu Sodom und Gomorra«!4. »Als Eva den Apfel brach, begann die Aufklärung, und mit der Neuzeit fand sie zurück zu sich selbst.«!5 Das neuzeitliche autonome Vernunftsubjekt ist der Irrtum, die Hybris!6 schlechthin, und es bleibt nur eine Hoffnung auf Überwindung der Autonomie: »Christus entlastet von der Bürde der Autonomie. Der gläubige Christ kann das Kind sein, das vertrauensvoll an der Hand des himmlischen Vaters geführt wird.«!? Bei aller Hochachtung vor Rehfus' biblischem Vertrauen auf die »Entlastung« von der Autonomie erscheint sein Verständnis
Um nun dennoch den universalistischen Anspruch wahren zu können, mußte an die Stelle des unbedingten Kosmos und des unbedingten Gottes die Vernunft zum Un-Bedingten erklärt werden.« 8 W. D. Rehfus, a. a. 0., S. 11. 9 Ebd. 10 Ebd. !! Ebd. !2 Rehfus, a. a. 0., S. 8. 13 A. a. 0., S. 280. !4 Ebd. !5 A. a. 0., S. 279. !6 Ähnlich schreibt A. Hartmann (1957), S. 1132, der autonome Mensch glaube, jenseits aller sittlichen oder religiösen Normen »die Freiheit zu gewinnen, sich selbstherrlich letzte Zwecke zu setzen und in voller Unabhängigkeit zu verfolgen.« !7 W. D. Rehfus, a. a. 0., S. 280.
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III. Das autonome Vemunftsubjekt im Lichte der Kritik
der Neuzeit als einer abgründigen Epoche denn doch als zu simpel. Man wird dem schwierigen und mühsamen Weg der Herausbildung des neuzeitlichen »Vernunftsubjekts« nicht gerecht, wenn man den Autonomiebegriff und mit ihm die neuzeitliche Vernunftphilosophie pauschal als Beweis für die Wahrheit der biblischen Sentenz »Hochmut kommt vor dem Fall« hernimmt. Darauf jedenfalls läuft Rehfus' Perhorreszierung der »Autonomie« hinaus. Sein am Begriff der Autonomie orientiertes Bild von der neuzeitlichen Vernunft ist undifferenziert. Insbesondere unterscheidet er nicht oder nicht hinreichend zwischen dem - schon von Kant kritisierten - Vernunftverständnis der Epoche der »Aufklärung«, der Kantischen Konzeption einer »praktischen« Vernunft (in der der Begriff der Autonomie in Form der »Autonomie des Willens«18 entwickelt und gerechtfertigt wird) und dem »idealistischen« Begriff einer »absoluten« Vernunft. Eine solche Differenzierung aber hätte vor einer allzu pauschalen Aufklärungs- und Autonomieschelte, zu der sich Rehfus hinreißen läßt, bewahren können. Allerdings darf sich Rehfus in der Nachfolge eines seinerzeit hochgeschätzten Autonomiekritikers sehen. Rehfus reproduziert und überzeichnet gegen Ende des 20. Jahrhunderts diejenige Neuzeitkritik, die schon in der Mitte dieses Jahrhunderts von Romano Guardini mit seiner These von der »Unwahrheit« des Autonomiegedankens vorgetragen wurde. R. Guardini stellt in seiner Schrift >Das Ende der Neuzeit(19 das für ihn wesentlich durch den Gedanken der Autonomie bestimmte neuzeitliche Menschenbild der Anthropologie des Mittelalters entgegen und kommt zu dem Ergebnis, daß letztere, »im Grundlegenden wie im Ganzen gesehen, der neuzeitlichen überlegen«2o sei. Das Mittelalter, die Zeit der »Summen«, in denen Welt gedanklich »konstruiert« wurde 21 , war noch von der Überzeugung getragen, »die Gesamtordnung des menschlichen Daseins müsse von der überweltlichen Hoheit Gottes her begründet und durchgegliedert werden«22.Wenn die Gebiete der Welt und des Lebens und ihre Verhältnisse zueinander noch »auf das Ewige bezogen sind«", durchwaltet »eine universelle Symbolik das ganze Dasein«24, d. h. das Dasein besteht für den mittelalterlichen Menschen »nicht aus Elementen, Energien und Gesetzen, sondern aus Gestalten. Die Gestalten bedeuten sich selbst, aber, über sich selbst hinaus, Anderes, Höheres; zuletzt das Eigentlich-Hohe, Gott und die ewigen Dinge. So wird jede Gestalt zum Symbol. Sie weist über sich hinaus.«25 Bis hin zum 14./15. Jahrhundert wurde nach
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Vgl. oben, Abschnitt 11.2. der vorliegenden Arbeit. R. Guardini (1951). Guardini, a. a. 0., S. 28. Vgl. ebd. A. a. 0 ., S. 30. A. a. 0 ., S. 33. Ebd. A. a. 0 ., S. 36.
1. »Selbstüberforderung« und »Selbstvergottung«
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Guardini Gott als das »Eigentlich-Hohe« als »Autorität«26 fraglos anerkannt, d. h. Autorität war (und ist) »wesenhafte Verkörperung von Hoheit«27, der Hoheit Gottes, die die einheitliche Gesamtordnung von Welt und Mensch verbürgt. In diesem Sinne war das Mittelalter durchaus durch eine »autoritäre Denkweise«28 geprägt, die erst aus dem »Autonomie-Erlebnis der Neuzeit«29 heraus in die Nähe des Begriffs »)UnfreiheitGen.( 3,ss' den Mißbrauch der menschInhalte bereits im Schöpfungsplan vorgesehen und insofern theologisch harmlos. Die »Säkularisierung« hat - anders als der »Säkularismus« der »Heilslehren und Ideologien« (a. a. 0., S. 143) und des »Nihilismus« (ebd.) - »ihren Ansatz im Glauben selbst« (a. a. 0., S. 102). Die Säkularität der neuzeitlichen Welt tangiert für Gogarten die Wahrheit des Glaubens nicht, sondern ist gleichsam der Ort, an dem sich der Glaube zu bewähren hat. Insofern weist für Gogarten zwar der »Säkularismus« verhängnisvolle Züge auf, nicht aber die profanisierte neuzeitliche Welt überhaupt. Vgl. auch Gogarten (1963), in sb. S. 55-78. 78 W. Kamlah (1957), S. 318. 79 Vgl. H. Krings (1982). 80 R. Guardini (1951), S. 90. 81 O. Marquard (198Ia), S. 213, Anm. 2, schreibt in bezug auf die »Autonomiethese« des deutschen Idealismus: »Menschliche Autonomie lebt von der Ohnmacht Gottes ...«. Marquards leitende Absicht, aufzuzeigen, daß es das »Theodizeemotiv« war, welches »die Autonomiethese erzwang« (Marquard, 1973, S. 63), muß hier nicht ausführlich diskutiert werden. Vgl. dazu auch Marquard (1981) und (1986). 82 Guardini, a. a. 0., S. 90. 83 Ebd. 84 Nach Gen. 3,5 suggeriert die »Schlange« dem »Weibe«, Gott wisse, daß den Menschen, sobald sie vom Baume der Erkenntnis gegessen haben werden, »die Augen aufgehen« und sie »wie Gott sein« werden.
1. »Selbstüberforderung« und »Selbstvergottung«
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lichen Freiheit, d. h. dessen, was Guardini unter Autonomie versteht, im Sinne der Bibel als »Sünde« aus: Der Mensch »kann sich weigern, seine Endlichkeit und Sterblichkeit anzunehmen; er kann wie Gott sein wollen (... ). Wie ist Gott? Er ist genau das, was dem Menschen unmöglich ist: unendlich, unsterblich, grundlose Grundlage: Die Sünde besteht darin, das Unmögliche zu wünschen, sein zu wollen, was Gott ist ... Die Sünde ist der sinnlose, weil aussichtslose Versuch, sich selbst zu bewirken, sein zu wollen, was der Mensch nie sein kann: Grundlage seiner selbst, absolut unabhängig, Schöpfer seiner selbst. Daher ist alle Sünde Abirrung vom Sinne der Geschöpflichkeit, gewaltsame Trennung von Gott und selbstsüchtige Hinwendung zu sich selbst.«85 Erkennt der Mensch seinen Status als endliches Geschöpf nicht an, wird diese Verweigerungshaltung in biblisch-christlicher Diktion »Sünde« oder auch »causa-sui-Lüge«86 genannt, in psychoanalytischer Diktion ist die Rede von der »Selbstüberforderung« des Menschen.87 Der Autonomiegedanke wird häufig als Inbegriff einer geradezu prometheischen Grundhaltung betrachtet, die neuzeitliche Subjektphilosophie insgesamt als Versuch des Menschen, sich »durch Selbstgeburt zur Welt zu bringen«88, interpretiert, d. h. als Versuch, dem man die »Überanstrengung«89 anmerkt. Aufgrund dieser Selbstüberforderung des Menschen wird das »Subjekt« in seiner neuzeitlich zugespitzten Form sich selbst letztlich »als zugleich unhaltbare und unauflösliche Fiktion durchsichtig - manche sagen als göttliche Lügengeschichte«90. Doch worin genau soll die »Überanstrengung«, die »Selbstüberforderung« des Menschen bestehen? Sie besteht für nahezu alle »Autonomiekritiker«, ob christlicher oder anderer Provenienz, in der Anmaßung des Menschen, nach dem »Tode Gottes«9! dessen weltbegründende und -erhaltende Funktion selbst zu übernehmen. Mit H. Blumenberg gesprochen, ist »der triumphale Klang« der
L. Soff (1976), S. 552. Vgl. G. Altner (1987), S. 7. H. E. Richter (1979), S. 29, schreibt: »Der lange Zeit als großartige Selbstbefreiung gepriesene Schritt des mittelalterlichen Menschen in die Neuzeit war im Grunde eine neurotische Flucht aus narzißtischer Ohnmacht in die Illusion narzißtischer Allmacht. Der psychische Hintergrund unserer so imposant scheinenden neueren Zivilisation ist nichts anderes als ein von tiefen unbewältigten Ängsten genährter infantiler Größenwahn. Wie das Kind, das sich gewaltsam und illusionär selbst in eine allmächtige Elternfigur verwandelt, um seinen unverläßlichen Eltern nicht länger wehrlos ausgeliefert zu sein, trägt unsere Zivilisation seit damals zahlreiche Merkmale einer krampfhaften Selbstüberforderung.« Im folgenden (a. a. 0., S. 30) ist die Rede von »Unkritischer Selbstüberschätzung«, »Größenwahn« und »Selbstvergötterung«. Insgesamt führt Richter die »Selbstüberforderung« des neuzeitlichen »Ich« auf einen »Unbewußten Ohnmacht-Allmacht-Komplex« (vgl. a. a. 0 ., S. 30) zurück. 88 P. Sioterdijk (\ 989), S. 183. 89 Sioterdijk, a. a. 0., S. 197. 85
86 87
90 A. a. 0., S. 9! Zu diesem
204.
Gedanken Nietzsches vgl. unten, Abschnitt III.4.a) der vorliegenden Arbeit.
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III. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
Proklamation vom Tode Gottes im 20. Jahrhundert verhallt: »Auch wo der Verlust Gottes nicht beweint wird, ist die Ratlosigkeit derer spürbar, die Gott überlebten, und die Last des unübersehbaren Anspruches, der aus dem Erbe des toten Gottes erwächst.«92 Das Erbe des »toten Gottes« erscheint als zu schwer für den Menschen. Der Autonomieanspruch des endlichen Vernunftwesens, versteht man ihn als Anspruch auf »Selbstbegründung«, auf »Selbstbehauptung« und »Selbsterhaltung« in einem umfassenden Sinne, d. h. als vollständige Autarkie, stellt sich angesichts der kosmischen und existentiellen »Ortlosigkeit« des Menschen als unerfüllbar dar. Doch in der Bedeutung von »Autarkie« ist, wie gegen Guardini und die anderen »Autonomiekritiker« des 20. Jahrhunderts eingewendet werden muß, der Begriff der »Autonomie« nicht zu verstehen, jedenfalls nicht in seiner durchdachtesten und elaboriertesten Form, der Kantischen. Wie oben gezeigt93 , bedeutet der Anspruch des »Willens«, sich selbst sein Gesetz zu geben, die Forderung des endlichen Vernunftwesens an sich selbst, sich zum »Subjekt der Moralität« zu qualifizieren, gerade nicht ein Überspringen der Endlichkeitskomponente des Menschen. Die Anerkennung der unbedingten Geltung des Moralgesetzes ist auch weit entfernt von einer Selbsteinschätzung des Menschen als eines »autarken« Wesens. 1. Schwartländer hat diese Fehlinterpretation der »Autonomiekritiker« in bezug auf Kant deutlich herausgestellt: »Die Forderung der sittlichen Autonomie hat also bei Kant gerade die umgekehrte Bedeutung wie die, die ihr von der Autonomismuskritik unterstellt wird: Die Auto-Nomie soll an die Stelle der )souveränen< AutArkie treten. Die Selbst-Gesetzgebung ist das Vernunftprinzip, das an die Stelle der für jede Willkür offenen Selbst-Herrschaft treten soll. Sittliche Autonomie verlangt also die Abkehr von dem natürlichen Selbstvollendungswillen und die Hinwendung zu einer alles nur natürliche Wollen übersteigenden Vernunft- oder Freiheitsordnung.«94 Daraus erhellt auch die Haltlosigkeit des Vorwurfs der »Selbstvergottung« gegenüber dem autonomen Vernunftsubjekt. Dazu nochmals 1. Schwartländer: »Gerade der Mensch, der gut handeln will, indem er sein Wollen unter der Idee des reinen, vernünftigen Willens sieht, weiß um die durch nichts zu behebende Kluft zwischen dem moralischen Willen des Geschöpfes und dem heiligen Willen des Schöpfers.«9' »Autonomie« bedeutet demnach weder »Autarkie« noch irgendeine Form von Megalomanie oder »Hybris«. Um die am Autonomiebegriff orientierte Subjektphilosophie der Neuzeit angemessen zu würdigen, genügt es, mit W. Schulz gesprochen, »keineswegs, sich mit der Auskunft zu begnügen, an die Stelle der Ordnung habe sich die Subjektivität voller Hybris und im Willen, Gott gleich sein zu wollen,
H. Blumenberg (1954), S. 554. Vgl. oben, Abschnitt 11.2. und 11.3. der vorliegenden Arbeit. 941. Schwartländer (1981), S. 25. 95 Schwartländer, a. a. 0., S. 24. 92
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1. »Selbstüberforderung« und »Selbstvergottung«
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zur bestimmenden Größe gesetzt. Diese Auskunft ist zu einfach.«96 Zu einfach ist auch beispielsweise Friedrich Schlegels aus der Annahme der Verankerung des Sittengesetzes in Gott hergeleiteter Vorwurf, Kants Begründung der Moral »aus reiner Selbstbestimmung der Vernunft« sei »verwerflich«.97 Derlei Vorwürfe verkennen den Charakter der »Autonomie« des endlichen Vernunftwesens gründlich. Mit »Selbstvergottung« hat die Selbstgesetzgebung des vernunftbestimmten Willens nichts zu tun. E. Feil hat herausgearbeitet, daß bei Kant »der Terminus >Autonomie< nicht Gott gegenüber verwendet ist; die Autonomie des Menschen wird durch Gott nicht beeinträchtigt oder gar aufgehoben. Eine Verabsolutierung von Autonomie unter Berufung auf Kant verbietet sich also.«98 »Autonomie bedeutet keine universale und absolute Selbstbestimmung, sondern Selbstbestimmung im Rahmen einer übergeordneten, inneren Bestimmung. Sie ist daher von Souveränität und Autokratie zu unterscheiden, die über Autonomie hinausgehen.«99 Die »übergeordnete, innere Bestimmung«, von der E. Feil hier spricht, ist keine andere als die Bestimmung durch das Sittengesetz. Diese ist die Vernunflbestimmung, die in Kants Sinne als gleichsam »unendliches«, »unbedingtes« Bestimmungsmoment des Menschen verstanden werden muß, d. h. als selbstgesetzter, >>Unbedingter« Anspruch, ohne den von einem »eigentlichen Selbst«, und das heißt von der Würde des Menschen keine Rede sein könnte. 100 Sich der Glückseligkeit »würdig zu erweisen« bedeutet nach Kant doch nichts anderes als: sich angesichts der Endlichkeit als »Subjekt der Moralität« zu bestimmen. Eine solche Selbstbestimmung, die sich im Begriff der »Autonomie« terminologisch niederschlägt, sollte, so dürfen wir festhalten, mit Selbstvergottung oder »profaner, verschlossener Selbstmächtigkeit« 101 nicht verwechselt werden. 102 Wenn nun die moralische Autonomie, der Anspruch des endlichen Vernunftwesens, sich als »Subjekt der Moralität« zu betrachten, als »Selbstüberforderung« des Menschen begriffen wird, wäre zu fragen, ob der auf diese Weise anempfohlene Verzicht auf moralische Selbstbestimmung nicht auf eine SelbstW. Schulz (1989), S. 25. F. Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern, 8: Kritik der Moralprinzipien, in: ders.: Werke, Erg.-Bd. 3 (1848), S. 255ff. Zit. nach R. Pohlmann (1971), S. 711. 98 E. Feil (1982), S. 424. 99 Feil, a. a. 0., S. 435f. 100 Deshalb ist es auch höchst problematisch, inmitten der »Neuzeit« mit Karl Barth zu behaupten: »Der Mensch hat von sich aus keine Würde, ebensowenig wie die Gemeinschaft der Menschen untereinander.« (K. Barth: Kirchliche Dogmatik 1,1. Zit. nach J. Passmore, 1975, S. 117). 101 So W. Kamlah (1949), S. 38. 102 H. Krings (1980), S. 218, hat den Autonomiekritikern der Moderne, denen »die Geschichte der Neuzeit als eine Geschichte der Entchristlichung der Welt« erscheint, vor Augen geführt, daß die »Vorbehalte«, die Geschichte der Neuzeit »als die eigene Geschichte anzuerkennen«, fragwürdig bleiben müssen: »Der Versuch, die Freiheitsgeschichte abzuweisen, wäre jedoch nicht nur problematisch, sondern auch vergeblich.« 96 97
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III. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
losigkeit, d. h. auf die Verabschiedung vom Selbstverständnis des Menschen der Neuzeit als eines Vernunftsubjekts überhaupt hinausliefe. Dies kann nicht im Ernst die Absicht der »Autonomiekritiker« des 20. Jahrhunderts sein, auch nicht die Absicht derer, die, wie W. Kamlah, »darauf den Nachdruck legen, daß Vernunft wieder Einfalt zu sein hat, wenngleich nun eine wissende Einfalt, die durch das Scheitern der Überanstrengungen des Geistes hindurchgegangen ist.«lo3 Das »positive« Menschenbild der Kritiker des »autonomen Vernunftsubjekts«, nach dem wir eingangs fragten, ist bis hierhin, wie zu vermuten war, nicht sehr viel transparenter geworden. Einig sind sich die Kritiker lediglich in »negativer« Hinsicht: »Autonomie« in der Bedeutung der »Selbstvergottung« ist eine Selbstüberforderung des Menschen. Die »Geschöpflichkeit« im Sinne der »Endlichkeit« lebendiger, bewußter Lebewesen nicht aus den Anstrengungen einer dem Menschen gerecht werdenden Selbstbestimmung auszuklammern, ist wohl der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Intentionen der Autonomiekritiker bringen lassen. Auf die Rehabilitierung der Endlichkeit, allerdings nicht im Sinne der »Geschöpflichkeit«, zielt auch Martin Heideggers Vernunftkritik. Heidegger bescheidet sich jedoch nicht mit einer Neuzeitkritik, sondern betrachtet die gesamte Epoche der »Metaphysik« als eine zu »verwindende«. Seine Kritik am anthropologischen Grundbegriff der abendländischen Metaphysik, dem Begriff des »animal rationale«, soll im folgenden in groben Umrissen skizziert werden.
2. Vernunftkritik als Metaphysikkritik: Heidegger Heideggers Vernunftkritik läßt sich nur im Rahmen seines Verständnisses der Epoche der »Metaphysik« begreifen. Seine Einschätzung der Metaphysik wiederum ist abhängig von einer eigentümlichen, im Laufe des Heideggerschen Denkweges mehrfach modifizierten Auslegung des »Seins«. Ist schon der »fundamentalontologische« Ansatz von >Sein und Zeit< (1927) durch die Frage nach dem »Sinn von Sein« gekennzeichnet, so ist der Begriff »Sein« bzw. »Seyn« oder auch »(~)« zentraler Topos auch und gerade der Spätphilosophie Heideggers, d. h. seines Denkens nach der sogenannten »Kehre«. Vor und nach der »Kehre« - unter der man Heideggers Wende vom »existenzialontologischen« zum »seinsgeschichtlichen« Denken versteht, d. h. seinen Versuch, das »Sein« nicht mehr vom Verstehen des zeitlich verfaßten Menschen (»Dasein«) her zu erschließen, sondern es in seiner »Geschichtlichkeit« gleichsam aus sich selbst heraus sprechen zu lassen - geht es Heidegger, zugespitzt gesagt, um ein und dasselbe: den »Sinn von Sein« wenn schon nicht zu begreifen, so doch wenig103
W. Kamlah (1949), S. 169.
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stens im Denken zu »erfahren«, ihn »anzudenken« oder wie immer man in Anlehnung an die Heideggersche Diktion lO4 das Erleben desjenigen »Ereignisses«, das Heidegger »Sein« nennt, umschreiben mag. Auch wenn also das »Sein« in den einzelnen Phasen des Heideggerschen Denkens unterschiedlich zur Sprache kommt, läßt sich dennoch eine Grundtendenz seines Verständnisses von »Sein« benennen, die für unsere Absicht, die »Vernunftkritik« Heideggers zu diskutieren, auch ohne filigrane Differenzierungen zwischen dem »frühen« und dem »späten« Heidegger l05 ausreichen mag. Noch vor allen Detailbestimmungen des »Seins« steht bei Heidegger der Gedanke, daß sich das Sein dem Menschen auf eine eigentümliche, als »Verbergung« und »Entbergung« bezeichnete Weise »zuschickt« bzw. offenbart. Die Dialektik l06 von »Verbergung« und »Entbergung«, »Entzug« und »Unverborgenheit« des Seins weist darauf hin, daß das »Sein« selbst keine nach Art eines V:7tOXELflEVOV, einer »Substanz«, zugrunde liegende, d. h. das, was »ist«, das »Seiende« begründende, statische Größe ist, ja selbst überhaupt nicht als Entität begriffen werden kann, sondern nur im dynamischen Prozeß, im »Geschehen« von Verbergung und Entbergung selber »ist«.lo7 Es »entzieht« sich, indem es sich im Seienden offenbart. lo8 Es »verbirgt« sich immer nur als zugleich »Entbergendes«, und es offenbart sich vi ce versa immer nur als sich zugleich »Entziehendes«. Kurz: Das »Sein« ist selber »geschichtlich«, und das heißt für Heidegger: außerhalb dieses Geschehens von »Zuschickung« und »Entbergung«, sozusagen »an sich« betrachtet, ist das Sein nichts. Über das Sein selbst, isoliert vom Seienden betrachtet, ist nichts zu »sagen«. Es gehört dem Seienden auf eine unverfügbare Weise zu. Diese Unverfügbarkeit dokumentiert sich darin, daß sich das Sein »entzieht«, noch indem es sich dem Menschen »zuschickt« bzw. »zuspielt«.109 M.a.W.: Das Sein ist nicht »festzustellen«, nicht
104 Eine Übernahme der Diktion Heideggers trägt zur sachlichen Klärung der von ihm thematisierten Probleme meist wenig bei, obwohl er es den Interpreten schwer macht, sich ihm ohne Adaptation seiner eigenwilligen Sprache zu nähern. Um die Intention der Heideggerschen Vernunftkritik zu verstehen, genügt es jedoch, seinen Grundansatz in einiger Distanz zu seiner Terminologie zu umreißen. 105 Auf einige wenige, mit der Vernunftkritik Heideggers zusammenhängende Unterschiede zwischen seinem Denken vor und nach der »Kehre« kommen wir in diesem Kapitel weiter unten zu sprechen. 106 Den Ausdruck »Dialektik« entlehnen wir in diesem Zusammenhang W. Schulz (1989), S. 229. 107 In der Interpretation G. Vattimos (1986), S. 97: »Das Sein ist nicht, es ereignet sich.« 108 Vgl. z. B. M. Heidegger (1963), S. 310: »Das Sein entzieht sich, indem es sich in das Seiende entbirgt.« 109 Nach W. Schulz (1953/54), S. 226, bleibt dem Menschen nur, sich auf das »Geschick« so einzustellen, »daß er es als Zugeschicktes zu bedenken sucht«. »Das Sein als das verbergend Offenbare ist je schon über das Geschehen hinaus, das sich >aus< ihm vollzieht. Aber es ist darum nichts, was >von oder >über< dem Geschehen stünde, sondern es ist das Unerschöpfliche, als der Sinn
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III. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
zu vergegenständlichen. Als das, was das Geschehen bestimmt und durchwirkt, ist es selbst nicht von der Art des Geschehens, obwohl es nicht jenseits des Geschehens für sich selbst betrachtet werden kann. Es »ereignet« sich im Zeitlichen, wirkt in dieses hinein, ohne mit ihm identisch zu sein oder zu werden. 110 Die Verzeitlichung des Seins ist dessen Selbstverzeitlichung, seine »Selbstzuschickung«. Heideggers Metaphern vom »Geschick«, der »Zuschickung« oder auch »Lichtung« des Seins dienen allesamt der Akzentuierung ein und desselben Grundgedankens: daß der »Sinn« dessen, was ist, sich zwar immer nur im konkreten, zeitlichen Geschehen zeigt, zugleich aber jeder Versuch, diesen Sinn ein für allemal dingfest zu machen, notwendig scheitern muß. Das »Sein«, die Metapher für den Geschehenssinn, ist dem EV, dem »Einen« des Plotin in der Hinsicht ähnlich, daß sowohl Heideggers »Sein« als auch Plotins »Eines« in den »zeitlichen« Erscheinungsweisen gleichsam durchscheinen, ohne endgültig benannt werden zu können. Doch Heideggers »Sein« ist als sich »lichtendes« dennoch weder von der Art eines »Lichtes«, das theoretisch »geschaut« werden könnte, noch tritt die Mannigfaltigkeit des Seienden in Form von »Emanationen« des »Einen« auf. 11 1 Das, was über das bloß Zeitliche gleichsam hinausweist, ist nur vom Zeitlichen her erfahrbar, aber die reine »Unverborgenheit« (f\A.~ttELa)112 dessen, worauf vom Zeitlichen her verwiesen werden kann, ist als solche nicht begrifflich fixierbar. Denn das »Sein« ist, als nur von der »Geschichte« des Menschen her erahnbar, selber »geschichtlich«. Auf diesen Gedanken der »Seinsgeschichte« sollen die Metaphern von »Verbergung« und »Entbergung« etc. eine Anzeige geben. Das niemals begrifflich eindeutig fixierbare »Sein« schickt sich dem Menschen nicht nur zu, sondern es schickt sich ihm epochal unterschiedlich zu. Diese verschiedenen Weisen der Selbstzuschickung des Seins sind dessen des Geschehens, woraus sich die Menschen immer schon verstanden haben und verstehen werden, weil dieser Sinn sie immer überschwingt.« 110 Dieser Gedanke besitzt freilich eine gewisse Ähnlichkeit mit Kierkegaards Überlegung, daß sich das Ewige nur im Zeitlichen zeige. Doch Heideggers »Sein« ist eben nicht das »Ewige«, wenn auch nicht einfach das »Zeitliche«. Heidegger selbst hat Übereinstimmungen zwischen seinem und dem christlichen Ansatz stets zurückgewiesen. 111 Eher schon weist Heideggers »Sein« verwandte Züge mit Fichtes »Licht«, an dem der »Begriff« sich »vernichtet«, auf. Aber auch der »idealistische« Ansatz wird von Heidegger, ebenso wie der christliche, zurückgewiesen. 112 Auch wenn nach Heidegger (1963), S. 310, die frühgriechischen Denker »die Unverborgenheit des Seienden« dachten, so ist es gerade diese dem Seienden »gewährte Helle«, die »das Licht des Seins« nicht selbst erstrahlen läßt, sondern es »verdunkelt«. Die Dialektik von» Verbergung« und »Entbergung« des Seins durchzieht die Geschichte der Philosophie von Anbeginn an: »Das Griechische, das Christentum, das Neuzeitliche, das Planetarische und das ... Abend-Ländische denken wir aus einem Grundzug des Seins, den es als die f\A~{}ELa in der A~&rJ eher verbirgt, als enthüllt. Doch dieses Verbergen seines Wesens und der Wesensherkunft ist der Zug, in dem das Sein sich anfänglich lichtet, so zwar, daß ihm das Denken gerade nicht folgt. Das Seiende selbst tritt nicht in dieses Licht des Seins.« (ebd.).
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»Geschichte«. »Sein« ist nicht stets gleichbleibendes Geschick, sondern es »schickt sich« dem Menschen auf je verschiedene Weise zu. Die Art und Weise, wie sich das »Sein« je und je offenbart, ist seine jeweilige »Lichtung«. Nun vermag der Mensch keineswegs von sich aus die jeweilige Erscheinungsweise des Seins zu bestimmen oder zu lenken, sondern die »Lichtung«, der Modus des Seins-»Geschicks«, geht vom Sein selber aus. Die Philosophie hat keinen Einfluß auf das »Geschick« des Seins. Vielmehr hat sich das Sein »dem Denken schon zugeschickt. Das Sein ist als das Geschick des Denkens.«"J Die Philosophie vermag das »Geschick« des Seins zwar ex post facto zu artikulieren, aber sie kann es nicht bestimmen. '14 Vielmehr sind die jeweiligen epochenbestimmenden Grundprobleme der Philosophie selber Ausdruck jenes Spiels von »Verbergung« und »Entbergung«, das das Sein mit dem Menschen spielt und durch das es selber wesentlich »geschichtlich« ist. Noch wenn die Philosophie, wie in der Epoche der »Metaphysik«, das Ewige und Überzeitliche als das »Wesentliche« denkt, ist auch dieses Denken nichts als eine Weise der Zuschikkung des Seins, d. h. eine Epoche der »Seinsgeschichte« selbst. Fragt die Metaphysik zuallererst, was das Seiende als Seiendes (ov TI OV, ens ut ens) ist, so erkauft sie dessen zutage gefOrderte »Unverborgenheit« (aA.11'frELU" S) um den Preis der »Verbergung« bzw. der »Verborgenheit« (A.11th]) des Seins selbst. M.a.W.: Glaubt die Metaphysik, durch ihre gegenüber dem Alltagsdenken durchaus »reflexive« Frage nach dem »Seienden als Seiendem« dessen »Wesen« ans Licht gebracht zu haben, so »entzieht« sich zugleich und ebendadurch die Offenbarkeit des »Seins«. Jede gedankliche Fixierung, jeder »Begriff« von etwas verdeckt bzw. »verbirgt« den Fluß, die »Geschichte« und damit die »Wahrheit« des »Seins«. Wie das Sein des Seienden sich selber »lichtet«, diese Frage wird durch die Bestimmung des Seienden als Seienden gerade nicht beantwortet. Vielmehr bleibt das Sein in der auf das Wesen des Seienden gerichteten Frage der »Metaphysik« selber aus: »Die Metaphysik gilt und weiß sich selbst ... als das Denken, das überall und stets >das Sein< denkt, wenngleich nur im Sinne des Seienden als solchen. Allerdings kennt die Metaphysik dieses >wenngleich nur ... VernunftGeistDenkenLogosSubjektivität< zu begründen, kann je das Wesen der Unverborgenheit retten.«173 »Die Philosophie spricht zwar vom Licht der Vernunft, aber achtet nicht auf die Lichtung des Seins. Das lumen naturale, das Licht der Vernunft, erhellt nur das Offene«17" nicht aber, so darf ergänzt werden, die »Entbergung«, das »Ereignis« des Seins selber. Das Sein »entzieht« sich, »verbirgt« sich l75 der »rechnenden« ratio 176, oder umgekehrt: das Selbstverständnis des Menschen als »animal rationale« verhindert die »Lichtung« des Seins. Deshalb müssen wir »uns hüten, jetzt die Zuflucht zu irgendwelchen >Eigenschaften< und >Vermögen< des Menschen zu nehmen, z. B. zur Vernunft«l77. Die sich im Laufe der Metaphysikgeschichte von der »die Seiendheit im Ganzen unmittelbar« vernehmenden l78 zur bloß noch berechnenden wandelnde Vernunft hat eine »Scheinherrschaft«17. errungen, die aber »eines Tages zerbrechen«180 wird, was sich in der Neuzeit, der Epoche »ständiger Steigerung der> Vernünftigkeit< als >Prinzip< der Machenschaft« 181 bereits ankündigt. Heidegger versteht das »metaphysische« Selbstverständnis des »bisherigen« Menschen als »animal rationale« deshalb als Irre bzw. Irrnis, weil es seiner Ansicht nach notwendig in die totale »Rationalisierung«182, d. h. in die Vorherrschaft der technisch-praktischen Vernunft (im Kantischen Sinne dieses Tenninus) hineintreibt. Das »vorstellende«, »berechnende« Denken der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie bedeutet nichts Geringeres als eine zwar von vornherein in der »Metaphysik« angelegte, aber erst in der Neuzeit vollends sichtbar gewordene Selbstennächtigung und Selbstüberschätzung des Menschen, der für die »Lichtung« des Seins nicht mehr offen ist, den »Anspruch« des Seins nicht mehr »hört« (»vernimmt«), sondern die Ordnung der Dinge gleichsam aus sich selbst heraus konstituieren zu können venneint. Näherhin sind es die Wissenschaften und die Technik, in denen sich der Herrschaftswille der neuzeitlichen Subjektivität dokumentiert. Die Vernunft, die Rationalität des sich und anderes 173 Heidegger (1954), S. 51. 174 175
176 177
178
179 180 181
182
Heidegger (1969), S. 73. Vgl. Heidegger, SvG, S. 98. Vgl. a. a. 0., S. 166ff. Heidegger, Ereignis, S. 453f. Vgl. a. a. 0., S. 336. Ebd. Ebd. Ebd. Heidegger (1969), S. 79.
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auf sich selbst »stellenden« Subjekts ist ihrer Struktur nach technische Verrugungsvernunft. Heidegger betrachtet die technische Vernunft nicht etwa als Schwundstufe einer ehedem umfassender gedachten Vernunft, sondern die Vernunft der Metaphysik war immer schon im Ansatz eine das »Anwesende« als »Seiendes« (fest)stellende und es insofern verrugbar machende Herrschaftsvernunft. Im »Ge-stell«, Heideggers »Name rur das Wesen der modemen Technik«183, der »Weise des Entbergens, die im Wesen der modemen Technik waltet und selber nichts Technisches ist«184, wird der Mensch »auf den Weg jenes Entbergens, wodurch das Wirkliche überall, mehr oder weniger vernehmlich, zum Bestand wird« 185 , gebracht. Das »Ge-stell« ist - wohlgemerkt - nicht vom Menschen gemacht, sondern ist selbst eine Weise des »Geschicks der Entbergung«186. Doch die »Unverborgenheit, in der alles, was ist, sich jeweils zeigt, birgt die Gefahr, daß der Mensch sich am Unverborgenen versieht und es mißdeutet«187. Jede Weise, in der das »Geschick« sich »entbirgt«, ist eine, ja »die Gefahr I88 «. »Waltet jedoch das Geschick in der Weise des Ge-stells, dann ist es die höchste Gefahr.«189 Wenn den Menschen, wie im Falle der Technik, das Unverborgene nicht einmal mehr als »Gegenstand« betrifft, sondern »ausschließlich als Bestand«190, der Mensch )>nur noch der Besteller des Bestandes ist«, dann »geht der Mensch am äußersten Rand des Absturzes, dorthin nämlich, wo er selber nur noch als Bestand genommen werden SOll.«191 Die Rede von der Reduktion des Menschen auf den bloßen »Besteller des Bestandes« bedeutet, daß das »Entbergen von der Art des BestelIens« derart dominiert, daß der Mensch »nirgends mehr sich selber, d. h. seinem Wesen«192, begegnet. Wo das »Ge-stell« in dieser Weise herrscht, »vertreibt es jede andere Möglichkeit der Entbergung«19\ »prägen Steuerung und Sicherung des Bestandes alles Entbergen«194. Der Mensch versteht das Geschick des »Ge-stells« nicht mehr als Anspruch, nicht mehr als »ein erstes, bedrängendes Aufblitzen des Ereignisses«195, als »Vorform des Ereignisses selbst«196, sondern »spreizt sich ... in die Gestalt des Herrn der Erde auf«197, indem die »Natur« von ihm »gleichsam 183 184 185 186
187 188 189 190 191 192 193 194 195 196
197
Heidegger (1967a), S. 20. Ebd. A. a. 0., S. 24. Vgl. a.a.O., S. 26. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. A. a. 0., S. 27. Ebd. Ebd. Heidegger (1957), S. 27. Heidegger (1969a), S. 57. Heidegger (1967a), S. 26.
200
III. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
gestellt«198 wird. Hinter dem Herrschaftswillen des Subjekts, seinem »bedingungslosen Sichdurchsetzen«199, verbirgt sich das» Wesen der Technik«20o. »Erst in der modemen Zeit beginnt sich dieses als ein Geschick der Wahrheit des Seienden im Ganzen zu entfalten, während bislang ihre verstreuten Erscheinungen und Versuche in den umfassenden Bereich von Kultur und Zivilisation eingebaut blieben.«201 Der Rationalisierungs- und Technisierungsprozeß in Neuzeit und Modeme ist für Heidegger in der neuzeitlichen Willensmetaphysik vorgeprägt. »Was den Menschen längst schon mit dem Tod und zwar mit demjenigen seines Wesens bedroht, ist das Unbedingte des bloßen Wollens im Sinne des vorsätzlichen Sichdurchsetzens in allem.«202 Diese Tendenz aber ist schon früh in der abendländischen Metaphysik angelegt, nämlich im Selbstverständnis des Menschen als »animal rationale«. Es ist »das vorbestimmte Wesen des bisherigen Menschen, das animal rationale zu sein«20\ eine »Kennzeichnung des Menschen«, die für Heidegger ebenso »geläufig« wie »voreilig« ise 04 Das »animal rationale« ist »der Mensch der Metaphysik«205, und zusammen mit dieser geht er unter. Die »Technik«, ihrerseits eine Folge der neuzeitlichen Philosophie der »Subjektivität«, ist das letzte Stadium der Metaphysik206 , das Endstadium des »animal rationale«. Der Schwund der Einsicht in die Offenbarkeit des Seins zum bloß noch vergegenständlichenden und berechnenden Denken der »Vernunft« und schließlich zur bloßen Sicherung des »Bestandes« im Geschick des »Ge-stells« wird zumeist nicht als Zeichen für die bevorstehende» Vollendung«207 der Metaphysik und d. h. für den »Untergang der Wahrheit des Seienden«208 erkannt, das Vorherrschen der bloß noch »technischen« Denkweise nicht als Vorbote des »Ereignisses« begriffen. »Daß der Mensch als animal rationale ... die Wüste der Verwüstung der Erde durchirren muß, könnte ein Zeichen dafür sein, daß die Metaphysik aus dem Sein selbst und die Überwindung der Metaphysik als Verwindung des Seins sich ereignet.Sein und Zeit< ist - trotz aller in dieser Phase des Heideggerschen Denkens noch überwiegenden Insistenz auf dem »Ganzseinkönnen«, der »eigentlichen« Existenz etc. - im wesentlichen kein anderes »Dasein« als der auf den Anspruch des Seins »hörende«, sich ums Sein sorgende »Hirt des Seins« der Heideggerschen Spätphilosophie. In beiden Phasen seines Denkens »entwirft« Heidegger den Menschen gleichsam vom Sein her, um die >>unendliche«, >>unbedingte« Selbstbestimmung des Menschen als »Subjektivität« zu unterlaufen. »Das Wesen des Menschen besteht aber darin«, schreibt Heidegger 1947 auch im Rückblick auf >Sein und ZeitMehr< darf hier nicht additiv verstanden werden, als sollte die überlieferte Definition des Menschen zwar die Grundbestimmung bleiben, um dann nur durch einen Zusatz des Existenziellen eine Erweiterung zu erfahren. Das >mehr< bedeutet: ursprünglicher und darum im Wesen wesentlicher. Aber hier zeigt sich das Rätselhafte: der Mensch ist in der Geworfenheit. Das sagt: der Mensch ist als der ek-sistierende Gegenwurf des Seins insofern mehr denn das animal rationale, als er gerade weniger ist im Verhältnis zum Menschen, der sich aus der Subjektivität begreift. Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. 219 In: Der Spiegel 30 (1976), Nr. 23, S. 209. 220
Vgl. unten, Abschnitt IV2.b) der vorliegenden Arbeit.
2. Vernunftkritik als Metaphysikkritik: Heidegger
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Der Mensch ist der Hirt des Seins. In diesem >weniger< büßt der Mensch nichts ein, sondern er gewinnt, indem er in die Wahrheit des Seins gelangt. ... Der Mensch ist in seinem seinsgeschichtlichen Wesen das Seiende, dessen Sein als Ek-sistenz darin besteht, daß es in der Nähe des Seins wohnt. Der Mensch ist der Nachbar des Seins.«221 Die schon in >Sein und Zeit< spürbare Tendenz, die Vernunftbestimmung des Menschen durch Hinweis auf seine Abhängigkeit von einem - »Sein« genannten - unverfügbaren, aber wirkmächtigen Ursprungsgeschehen zu depotenzieren, verstärkt sich in der Spätphilosophie Heideggers zur Haltung der Hinnahme des je und je sich wandelnden Geschicks 222 des Seins: »Was immer sich mit dem geschichtlichen Menschen begibt, ergibt sich jeweils aus einer zuvor gefallenen und nie beim Menschen selbst stehenden Entscheidung über das Wesen der Wahrheit.«223 Die Haltung der Hinnahme des Seinsgeschicks, die Heidegger dem Menschen anempfiehlt, ist nichts als ein anderer Ausdruck für die Einschätzung des neuzeitlichen Subjektbewußtseins als eines - wenn auch schon im »Platonismus« angelegten - zutiefst irrigen Selbstverständnisses des Menschen. Es ist vermutlich die Befürchtung einer »Selbstüberforderung« des Menschen durch dessen Begriff von sich als »Vernunftsubjekt«, die Heideggers Kritik an der »Metaphysik« und »Subjekt«-Philosophie auf den Plan gerufen hat. Dahinter steht die Annahme, daß in der - zumal neuzeitlichen - »Vernunftphilosophie« die Endlichkeit, die »Bedingtheit« des Menschen ungebührlich vernachlässigt worden ist. Nur so läßt sich ein Satz wie der folgende verstehen: »Wir sind - im strengen Sinne des Wortes - die Be-Dingten. Wir haben die Anmaßung alles Unbedingten hinter uns gelassen.«224 Daß demnach auch und vor allem die neuzeitliche Bestimmung des Menschen als eines moralisch unbedingt verpflichteten, autonomen Freiheitswesens von Heidegger in Frage gestellt wird, ist bekannt und muß hier nicht im Detail belegt und erörtert werden. Auch daß Heidegger auf seine Weise die Idee der Subjektivität überhaupt depotenziert, indem er das »Subjekt« als Phase oder Etappe jenes unergründlichen »Seinsgeschicks« darstellt, liegt am Tage. Man wird seine fundamentale Option für die Einbindung des »Vernunftsubjekts« in das Spiel von Verbergung und Entbergung des »Seins« nicht mit den Mitteln der »Vernunftphilosophie« als irrig erweisen können225 , aber man wird die Idee der »Seinsgeschichte«, wenn sie Heidegger, HBf, S. 89f. Schon kurze Zeit nach dem Erscheinen von >Sein und Zeit< spricht Heidegger (WiM, S. 49) vom »Denken« als »Wahrung der Gunst des Seins«. 223 Heidegger (1954), S. 50. 224 Heidegger (l967b), S. 53. Vgl. auch Heidegger, Ereignis, S. 449: »Daß sich die Subjektivität des Subjekturns schließlich zur absoluten entfaltet, ist nur das dunkle Zeichen dafür, wie ständig der Entwurf seit Anfang der Seinsgeschichte west und sich ankündigt als das Nicht-gemachte und -machbare und daß er gleichwohl schließlich doch erklärt wird aus dem Unbedingten, das auch und gerade das Sein bedingt. Mit dieser >Erklärung< ist die Philosophie an ein Ende gestoßen.« 221
222
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UI. Das autonome Vemunftsubjekt im Lichte der Kritik
denn konsistent gedacht sein soll, zumindest mit Skepsis betrachten müssen. Denn auch wenn die »metaphysischen« und metaphysisch-subjekttheoretischen Anstrengungen der neuzeitlichen Philosophie, zu einer Neubestimmung des menschlichen Ortes in der Welt im ganzen zu gelangen, ihrerseits als eine Epoche der »Seinsgeschichte« und somit die Suche nach einem fundamentum inconcussum im »Subjekt« selbst als »Beirrung« des Menschen durch das »Sein« selber betrachtet werden, könnte sich doch die »künftige« Weise menschlicher Selbstbestimmung, der »andere Anfang« im »Denken« jenseits der »Philosophie«, dereinst selbst wiederum als »beirrende« Epoche der »Seinsgeschichte« erweisen. Die »Seinsgeschichte« selber wäre dann ihrer Grundstruktur nach Nietzsches - von Heidegger noch der Epoche der Metaphysik zugeordnetem - Gedanken des »ewig rollenden Rades des Seins« nicht unähnlich. So hat Heidegger seinen Ausdruck »Seinsgeschichte« freilich nicht verstanden wissen wollen, aber es ist vermutlich schwierig, eine solche Interpretation gänzlich von der Hand zu weisen. Läßt man zudem noch Nietzsches emphatisches »Ja« zur »ewigen Wiederkehr« beiseite, ein Gedanke, den Heidegger sich ohnehin ganz und gar nicht zu eigen gemacht hat, so attestiert Heideggers Idee der »Seinsgeschichte« dem Menschen letztlich ein bloßes, ihm gleichsam »ursprünglich« zukommendes Marionettendasein. Die prä- oder hyperrationale »Seinsgeschichte« depotenziert aber den Menschen nicht nur zur Marionette, sondern läßt die Anstrengungen der neuzeitlichen Philosophie, den Menschen als sich in gewisser Weise selbst bestimmendes, auf das »Unbedingte« ausgreifendes Vernunftwesen zu begreifen, vom Menschen her gesehen als tragisch, vom »Sein« selber her gesehen eher als tragikomisch erscheinen.
3. Der Vernunfttorso Das komplexe, mehrdimensionale Geruge der Vernunft, das Ineinanderspielen ihrer »theoretischen« und »praktischen« Dimension, wie es auf der Höhe neuzeitlichen Philosophierens von Kant konzipiert wurde, bot trotz des - wohIbegründeten - »Primats« der »moralisch-praktischen« Dimension der Vernunft vor der »theoretischen« und »technisch-praktischen« keinen Anlaß fiir den Verdacht, eine der Vernunftdimensionen sei so angelegt, daß sie die anderen tendenziell
225 Auch nicht durch K.-O. Apels (1984, S. 27) Hinweis auf Heideggers »LogosvergessenheitVorstruktur des In-der-Welt-Seins< für den Philosophen nicht nur die >Faktizität< des je schon geschichtlich-kontingentgeprägten >Vorverständnisses< gehört, sondern auch >immer schon< die Inanspruchnahme der rationalen Kompetenz, d. h. der Fähigkeit, eben die >Faktizität< und insofern die >GeworfenheitGeschichtlichkeitSeinsvergessenheit< der traditionellen Metaphysik um den Preis der >Logosvergessenheit< überwunden.«
3. Der Vemunfttorso
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dominieren oder gar eliminieren müsse. Dennoch hat es im neuzeitlichen Denken - wenn auch nicht primär durch die innerphilosophische Diskussion, sondern eher durch wissenschaftlich-technische Entwicklungen und die Reflexion auf deren Bedeutung fiir das neuzeitliche» Vernunftsubjekt« vorangetrieben - nicht wenige und nicht unbedeutende Strömungen gegeben, in denen durch besondere Akzentuierung des »technisch-praktischen«, »instrumentellen« Aspekts der menschlichen Vernunftbegabung der Eindruck entstehen konnte, die »neuzeitliche« Vernunft insgesamt sei primär, wenn nicht ausschließlich als »Zweckrationalität« zu charakterisieren. Das »Erwachen« des Vernunftsubjekts in der frühen Neuzeit, sein Zutrauen zur eigenen Kraft, das Bewußtsein des »Selbst-Standes« des Subjekts226 hat, in enger Liaison mit den wissenschaftlich-technischen Erfolgen, den Verdacht genährt, neuzeitliche Vernunft finde ihre höchste, eigentliche Bestimmung als formales Instrumentarium der Auswahl geeigneter Mittel zur Realisierung bestimmter, selber nicht oder nicht notwendig »aus Vernunft« gesetzter Zwecke. Eine so verstandene »Vernunft« ist ersichtlich eine effizienzorientierte, »strategische«, »berechnende« Vernunft. Diese Tendenz der Vernunft zur »Berechnung«, ihre Attitüde, als Instanz der Beurteilung und Rechtfertigung verschiedenster Geltungs- und Sinnstiftungsansprüche aufzutreten, hatte Heidegger schon in der vorneuzeitlichen, abendländischen »ratio« am Werk gesehen227 und die neuzeitlich-moderne Dominanz der »Zweckrationalität« über die anderen Dimensionen der Vernunft als immer schon in der Gesamtstruktur der Vernunft angelegt begriffen. Andere Autoren sehen nach dem »Scheitern« der neuzeitlichen, insbesondere idealistischen Vernunftkonzeptionen - in denen Vernunft noch in Fortführung der klassisch-metaphysischen Tradition als den Menschen auszeichnendes, inhaltlich bestimmendes »Vermögen« betrachtet wurde - den bloß methodischen, formalen Begriff der »Rationalität« als heute einzig noch legitim vertretbaren Vernunftbegriff an. Vollends seit Max Weber den Begriff der Zweckrationalität mit dem der Rationalität überhaupt nahezu identifiziert hat, gilt Zweckrationalität als die Vernunftform unseres »nachmetaphysischen« Zeitalters. 228 So ist es kein Zufall, daß der Begriff der »Zweckrationalität« auch im 226
Arbeit.
Zu diesem Aspekt neuzeitlichen Selbstbewußtseins vgl. oben, Abschnitt 1.4. der vorliegenden
227 Heidegger (SvG), S. 210, weist darauf hin, daß »das Wort ratio, ursprünglich ein Wort der römischen Kaufmannssprache«, »rechnen« in einem weiten, »Rechenschaft geben« einschließenden Sinne bedeutet. 228 Vgl. dazu O. Höffe (1984), S. 145f.: »Max Weber neigt sogar dazu, den Begriff der Rationalität mit dem der Zweckrationalität zu identifizieren ... , Rationalität auf Zweckrationalität zu verkürzen ... «. Die bei Weber )fioch problematische Engführung der Rationalität zur Zweckrationalität wird in der Folge so gut wie selbstverständlich, und Zweckrationalität wird nicht nur aus methodischen Gründen schlicht als )Rationalität< bezeichnet. Ob offen oder versteckt, ob mit Arroganz oder eher in Bescheidenheit - es wird ein genereller Universalitätsanspruch erhoben; nur noch die Zweckrationalität gilt als rational.« Auch K.-O. Apel (1984), S. 28, erwähnt die gegenwärtig ))weithin vorherrschende Gleichsetzung von Rationalität überhaupt mit instrumenteller )Zweckrationalität< (Max Weber) bzw. mit strategischer Rationalität ... «.
206
III. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
Spektrum der Kritiken des »autonomen Vernunftsubjekts« eine besondere Rolle spielt, wird ihm doch nicht eben selten attestiert, das mehrdimensionale Gefüge der neuzeitlich-klassischen Vernunftkonzeptionen verdrängt oder ersetzt zu haben. Ist aber die Zweckrationalität gänzlich an die Stelle der anscheinend obsolet gewordenen, klassischen »Wesensvernunft« getreten, so wird freilich auch der Begriff des »autonomen Vernunftsubjekts« verabschiedet, gilt er doch als Repräsentant jener verblichenen Vernunftform der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie. Webers nüchterne Diagnose der Alleinherrschaft zweckrationalen Denkens in der Gegenwart beabsichtigt nicht, den Abschied vom »Vernunftsubjekt« zu bedauern oder zu begrüßen, und ganz sicher hat Weber die Zweckrationalität nicht als Einengung oder Verarmung eines ursprünglich weitaus inhaltsreicheren Vernunftkonzeptes bewerten wollen. Dennoch ist zu fragen, ob die These von der gegenwärtigen Vorherrschaft der Zweckrationalität den neuzeitlich-klassischen Vernunftbegriff nicht ebenso vorschnell wie folgenreich auf einen seiner Bedeutungsgehalte reduziert und auf diese Weise der Kritik am Begriff des »autonomen Vernunftsubjekts« Vorschub geleistet hat.
a) Zweckrationalität: Max Weber Für Max Weber ist die »intellektualistische Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik«229, der »wissenschaftliche Fortschritt«230, wie er uns gegenwärtig geläufig ist, alles andere als ein plötzlich und unvorbereitet in Neuzeit und Modeme auftretendes Phänomen. Vielmehr ist er »ein Bruchteil, und zwar der wichtigste Bruchteil jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen, und zu dem heute üblicherweise in so außerordentlich negativer Art Stellung genommen wird«231. Hatte Heidegger die Wurzeln neuzeitlicher »Technik« in der abendländischen »Metaphysik« gesucht, so geht Weber - dem die Heideggersche Auslegung der Metaphysik als Epoche der »Seinsgeschichte« freilich fremd war - offensichtlich in der Zeit noch weiter zurück, um den Ursprung des uns heute noch bestimmenden Rationalisierungs- bzw. Intellektualisierungsprozesses ausfindig zu machen. Die »Jahrtausende«, von denen Weber spricht, sind ganz sicher nicht bloß die ca. zweieinhalbtausend Jahre von Platon bis zum 20. Jahrhundert n. ehr., sondern Weber setzt den Beginn des Intellektualisierungsprozesses vermutlich mit dem Auftauchen des »homo sapiens« gleich. Der »Rationalismus der Weltbeherrschung«232 ist jedenfalls für Weber sehr viel älter als die Anfänge der »Metaphysik« im Griechentum. Doch kulminiert auch für Weber, in dieser Ein229 230 231 232
M. Weber, WaS, S. 535. Weber, ebd. Ebd. V gl. dazu W. Schluchter (1980).
3. Der Vernunfttorso
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schätzung Heidegger nicht unähnlich, der langandauernde Rationalisierungsprozeß des Menschen im wissenschaftlich-technischen Fortschritt der Gegenwart. Die Tendenz zur Weltbeherrschung ist in der »Rationalität« des Menschen, d. h. in der von Anbeginn an aufs Herstellen, Machen und Verändern kaprizierten Vernunftbegabung des Menschen angelegt. Die »Zwecke«, die sich der homo sapiens ab ovo setzte, sind bis heute im wesentlichen dieselben geblieben und lassen sich im obersten Zweck der Selbstbehauptung bündeln. Selbstbehauptung aber kann nur als Welt- bzw. Naturbeherrschung im weitesten Sinne, einschließlich der Behauptung des Individuums gegenüber seinesgleichen, gelingen. Um die geeigneten Mittel zur Realisierung des obersten Zwekkes auszuwählen, bedarf es jener - gegenüber der inhaltlichen Bestimmung der Zwecke neutralen, insofern »formalen« - Grundpotenz der »Rationalität«. Als das Vermögen der Wahl geeigneter (»zweckmäßiger«) Mittel zur Realisierung von Zwecken überhaupt ist die Rationalität die Vernunft der Zweck-Mittel-Relation, mit einem Wort: »Zweckrationalität«. Die Zweckrationalität weist die gesetzten Zwecke und Ziele menschlicher Handlungen nicht ihrerseits »rational« aus, sondern prüft bloß die Geeignetheit der Mittel, gesetzte Zwecke effizient zu realisieren. Insofern ist die Vernunft der Zweck-Mittel-Relation gleichsam der Inbegriff des Instrumentariums zur Realisierung vorgegebener Zwecke. Sie ist instrumentelle Vernunft. Wenn Weber »zweckrationales Handeln« durch »rationales Abwägen« der Zwecke, Mittel und Nebenfolgen von Handlungen definiert233 , so besagt dies nicht, daß die Rationalität selber die obersten Zwecke setzt und sie beispielsweise nach Kriterien ihrer moralischen Erlaubtheit, Gebotenheit und Verbotenheit prüft, sondern die »Abwägung« geschieht ausschließlich nach Effizienzgesichtspunkten. Jeder gesetzte Zweck ist bedingt, d. h. es gibt keinen »unbedingten« Zweck, keinen »Zweck an sich selbst« oder »Endzweck«, um mit Kant zu reden. Jeder Zweck kann, wie V. Heins zutreffend analysiert hat, selber wiederum als Mittel zur Realisierung weiterer, »höherer« Zwecke gebraucht werden: »)Zweckrationalität< bedeutet genaugenommen, daß es keine (letzten) Zwecke mehr gibt, rur welche man arbeitet, insofern nämlich alle Zwecke transformiert werden in Mittel rur weitere Zwecke, und so weiter ad infinitum.«234 Zweckrationalität steht als instrumentelle Vernunft, ähnlich wie bei David Hume 23S , im Dienste des menschlichen 233 M. Weber (1966), S. 21: »Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt.« 234 V Heins (1990), S. 70. 235 Vgl. D. Hume (1985), S. 415: »Reason is, and ought only to be the slave ofthe passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.« Ganz in Humes Sinne schreibt heute H. A. Simon (1993), S. 16: »Wir sehen, daß die Vernunft im ganzen nur ein Werkzeug ist. Sie kann uns nicht sagen, wohin wir gehen sollen; sie kann uns bestenfalls zeigen, wie wir dorthin gelangen. Sie ist ein Söldner, der sich in den Dienst jedweder Sache stellt, ob gut oder böse.«
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III. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
Selbstbehauptungsinteresses, Herrschaftswillens und Machtstrebens. Die Zwecke selber bilden sich aufgrund des »Willens«, der »Natur« der Individuen, jedenfalls nicht mehr aus der »praktischen Vernunft«, weder im aristotelischen noch im kantischen Sinne dieses Begriffs. Die Zweckrationalität, die, anders als die Vernunft des Zeitalters der Aufklärung, für Weber jenseits aller »charismatischen Verklärung«236 steht, dominiert seit der Renaissance die Weltläufte, hat die Dinge »berechenbar« gemacht. Als technisch-ökonomische, strategischpragmatische Rationalität ist sie die dem »stählernen Gehäuse«237 des neuzeitlichen Kapitalismus und den »(indirekt) protestantisch und puritanisch be einflußte(n)«238 neuzeitlichen, empirischen Wissenschaften entsprechende Vernunftform. 2J9 Denn die in der Neuzeit »zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet ... das Wissen davon oder den Glauben daran, daß man ... alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnung beherrschen könne.«240 Diese Grundüberzeugung, dieses Vertrauen auf die Kraft zweckrationalen, methodisch orientierten Denkens, wenn man so will: dieser auf »Zweckrationalität« verkürzte »Vernunftglaube«, hat die empirischen Wissenschaften und die wissenschaftlich orientierte Technik in der Neuzeit nicht nur in einem bis dahin unvorstellbaren Maße befördert, sondern hat zugleich alle Lebensbereiche des Menschen »entzaubert«, d. h. für das »rationale« Denken transparent gemacht. Der Glaube an die Berechenbarkeit der Dinge »bedeutet: die Entzauberung der Welt«241 im Sinne der Überzeugung, daß es »prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen ... «242. Anders als »in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt«243 muß der zeitgenössische Mensch mit der »Grundtatsache« fertig werden, »daß er in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben das Schicksal hat ... «244. Heute, »da alle diese früheren Illusionen: >Weg zum wahren SeinWeg zur wahren KunstWeg zur wahren NaturWeg zum wahren GottWeg zum wahren GlückEigenart< der amerikanisch-europäischen Gesellschaftsentwicklung zugrunde liegt, bezwingt keineswegs die Schicksalsmächte, gegen die die Aufklärung einst angetreten war, sondern schafft ein neues Fatum.« Es ist das »Schicksal« des »>stahlharten Gehäuses< der kapitalistischen Produktion, dieser >schicksalsvollsten MachtGeboten< oder gemäß >ForderungenDialektik der Aufklärung< initiierende Gedanke. Er ist im wesentlichen deckungsgleich mit Horkheimers bisher skizzierten Überlegungen zur bloß noch der »Selbsterhaltung« dienenden, »instrumentellen« Vernunft.
Horkheimer (1991), S. 125. Horkheimer, a. a. 0., S. 59. In Horkheimer/Adorno (1986), S. 15, heißt es: »Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität ... Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen.« 322 Horkheimer (1991), S. 59. 323 Daß »der Übergang der Aufklärung in Positivismus am Ende den Begriff der Vernunft selbst als eine Art letzte Position der Mythologie kassierte« (Horkheimer, 1972, S. 51), gilt fur Horkheimer als erwiesen. Der Positivismus sei »ancilla scientiae, die Magd der Wissenschaften«, schreibt Horkheimer (I 986a), S. 85, und ferner: »Positivismus ist Hypostasierung des Funktionalismus, eine Art Verzicht auf Philosophie ... Positivismus ist der letzte Ausläufer der Aufklärung in einer Zeit, in der ihre historische Mission, der bürgerlichen Gesellschaft durch Auflösung des Aberglaubens den Weg zu bereiten, schon hinfällig geworden ist.« (ebd.). 324 Vgl. Horkheimer/Adorno (1986), S. Illf. 325 Vgl. z. B. Horkheimer (1985). 326 Horkheimer/Adorno (1986), S. 15. 320 321
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Aufklärerisches Denken, ganz gleich, ob in der antiken Sophistik, den vielfältigen Varianten der philosophischen Skepsis oder dem an einem emphatischen Vernunftbegriff orientierten »Zeitalter« der Aufklärung, hat sich von jeher gegen die Macht von Mythen, gegen der Vernunft nicht zugängliche Aussagen über transzendente Gegenstände, Animismen und Okkultismen aller Art gewendet. Aufklärerisches Denken ist immer auch »Entmythologisierung« in einem weiten, über die Bultmannsche Bedeutung dieses Begriffs hinausgehenden Sinne. Für Horkheimer und Adorno ist Aufklärung primär nicht Selbstzweck, sondern hat von jeher »das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen«327. Ganz im Weberschen Sinne heißt es: »Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.«328 An der Berechtigung des grundsätzlichen Anliegens der Aufklärung bestehen also für Horkheimer keine Zweifel: »In der Tat war es notwendig, daß die Vernunft sich von den gegenständlichen Momenten ablöste und selbständig machte, um dem blinden Naturzwang sich zu entwinden und die Natur in jenem Maße zu beherrschen, das uns freilich heute selbst in Schrecken setzt.«329 Doch bei aller Berechtigung der aufklärerischen Kritik an Mythen, antiquiertem Autoritätsglauben und dergleichen darf nicht vergessen werden, daß die Vernunft der Aufklärung, die die Entzauberung leisten soll, die »subjektive« Vernunft im oben dargestellten Sinne ist. Was in ihrem Sinne noch »vernünftige Einsicht« oder »Sinn« heißen darf, ist ganz und gar nicht das, was noch zum Sinnbegriffsarsenal der selber zweckebestimmenden, »objektiven« Vernunft gehörte. Im Gegenteil: Die in der objektiven Vernunft gründenden Sinn- und Zweckvorstellungen, beispielsweise die Ideen »der Gerechtigkeit, der Gleichheit, des Glückes, der Demokratie«330 usf., fallen aus dem Wirkungsbereich der subjektiven Vernunft heraus. 331 Es »wird der Inhalt der Vernunft willkürlich auf den Umfang bloß eines Teils dieses Inhalts reduziert, auf den Rahmen nur eines ihrer Prinzipien ... «332. Dieses eine Prinzip besteht im formalistisch-instrumentellen Aspekt der subjektiven Vernunft 333 , konkreter: »Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei der Beherrschung des Menschen und der Natur ist zum einzigen Kriterium gemacht
Horkheimer/Adorno, a. a. 0., S. 9. Ebd. 329 Horkheimer (1972), S. 56. 330 Horkheimer (1991), S. 42. 331 Daß das Gesamtspektrum der Vernunft überhaupt wesentlich weiter gefaßt ist als der Wirkungsbereich der »subjektiven« Vernunft, macht Horkheimer unmißverständlich deutlich, wenn er »die Reduktion der Philosophie auf subjektive Vernunft ... , die geschmeidigste Anpassung des Mittels an den subjektiven Zweck, die Ausbildung des Denkens zum reinen Instrument ... bei aller Großartigkeit der Erfolge doch ein isoliertes Moment der Vernunft« (1972), S. 50, nennt. 332 Horkheimer (1991), S. 42. 333 Vgl. ebd. 327 328
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IlI. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
worden.«J34 Horkheimer nennt diese Reduktion der objektiven auf subjektive Vernunft eine »tour de force im Bereich des Geistigen«JJ5, die letztlich darin besteht, das Prinzip der Operationalität, der Instrumentalität der Vernunft, ihre Dienstfunktion gegenüber der Selbstbehauptung des Subjekts, absolutzusetzen. Genau darin aber besteht der Verlust der Autonomie der Vernunft bzw. des Vernunftsubjekts: »Nachdem sie die Autonomie aufgegeben hat, ist die Vernunft zu einem Instrument geworden. «JJ6 Dies gilt es festzuhalten: Die - im Grunde begrüßenswerte - »Entzauberung« wird von der bloß noch instrumentellen, nicht mehr autonomen Schwundvernunft geleistet. Der Verlust ihrer Autonomie ist der Preis, den die Vernunft für das Gelingen der »Aufklärung« zu zahlen hat. Die Indienstnahme der Vernunft zum Zwecke der gelingenden Selbstbehauptung des Menschen um den Preis der Verzerrung der Vernunft zu einem egalisierenden Machtinstrument'17 war nach Horkheimer und Adorno schon in der altjüdischen und altgriechischen Religion grundgelegt: »Der eine Unterschied zwischen eigenem Dasein und Realität verschlingt alle anderen. Ohne Rücksicht auf die Unterschiede wird die Welt dem Menschen untertan. Darin stimmen jüdische Schöpfungsgeschichte und olympische Religion überein.«JJ8 Doch wie altehrwürdig diese Tradition auch sein mag, sie führt zu keinem guten Ende. Im Gegenteil: Die im Sinne der Beförderung der Selbsterhaltung durchaus erfolgreiche, ihrer Autonomie allerdings verlustig gegangene Vernunft weiß, da sie keinen eigenen Inhalt, keinen genuinen Zweck mehr hat, letztlich nicht mehr, welches »Selbst« es eigentlich mit ihrer Hilfe zu erhalten gilt. »Das Thema dieser Zeit ist Selbsterhaltung«, sagt Horkheimer im Interview mit H. Gumnior von 1970, »während es gar kein Selbst zu erhalten gibt.«JJ9 Und schon 1941/42 schreibt er mit Bezugnahme auf Ernst Mach: » >Das Ich ist umettbar< und der Selbsterhaltung entschwindet ihr Subjekt. Für wen soll eine Handlung nützlich sein, wenn das biologische Einzelwesen nicht mehr als identisches Ich seiner selbst sich bewußt wird?«J40 Selbsterhaltung wird zum Selbstzweck, durch Vernunft nicht mehr hinterfragbar. Denn Vernunft - als »subjektive« hat auf ihr ehedem - als »objektive« - genuines Anliegen, die höchsten Zwecke des Menschen zu bestimmen, verzichtet. Das Subjekt der Wesens- bzw. Zweckbestimmung hat sich durch die Reduktion der objektiven auf subjektive Vernunft selbst »liquidiert«.J41 Anders gewendet: Die Vernunft zerstört sich selbst Ebd. Ebd. 336 Ebd. [Hervorh. K. K.). 337 Vgl. Horkheimer/Adorno (1986), S. 15: »Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen.« 338 Horkheimer/Adorno, a. a. 0., S. 14. 339 Horkheimer (1970a), S. 87. 340 Horkheimer (1970), S. 31. 341 Horkheimer (1991), S. 106: »Die totale Transformation wirklich jedes Seinsbereiches in ein Gebiet von Mitteln führt zur Liquidation des Subjekts, das sich ihrer bedienen soll.« 334 335
3. Der Vernunfttorso
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durch Minimierung ihrer Vollstruktur auf einen ihrer Aspekte, den technischpraktischen, der bloßen Selbsterhaltung dienlichen. 342 Es ist dieser Gesichtspunkt, aus dem, in Kantischer Terminologie gesprochen, Imperative der »Geschicklichkeit«, allenfalls der »Klugheit«, nicht aber der »Sittlichkeit« abgeleitet werden können. 343 Eine bloß noch dienstbare, formale, nicht mehr autonome Vernunft, die angetreten war, die prä- bzw. extrarationalen Zwänge, unter denen der Mensch steht, abzubauen und den Menschen zu befahigen, Herrschaft über sich selbst und die Natur auszuüben, treibt nach Horkheimer und Adorno ihr Entzauberungsverfahren auf die Spitze: sie entzaubert sich selbst, und zwar in dem Sinne, daß sie alles, was ihrer »subjektiven« Variante nicht genügt, schlechterdings aus der Sphäre des Vernünftigen überhaupt ausschließt. Vernunft hat für Horkheimer344 »Mythologie und Aberglauben zusammengeworfen mit allem, was auf den beschränkten subjektiven Geist sich nicht reduzieren läßt. Nicht in dem, was die Vernunft vollbringt, sondern in ihrer Selbstinthronisierung lag das Unheil, das die Selbstzerstörung nach sich zog.« Vernunft wird, abgekürzt gesprochen, »exklusiv«. Genau diese Tendenz zur Exklusion des Nicht-Identischen, Ungleichen, Nicht-Berechenbaren etc. läßt die subjektive Vernunft autoritär, ja totalitär werden. 34s Vernunft, deren nunmehr einziger Zweck im Dienst an der Selbsterhaltung des Individuums besteht, setzt aber auf diese Weise eine schlicht naturale, vorrationale Komponente des Menschen über alle anderen menschenmöglichen Zwecke. Diese der Selbsterhaltung zugebilligte Präferenz führt zur - von der subjektiven Vernunft anfangs ganz sicher nicht intendierten - Wiederkehr dessen, was im Zuge der »Aufklärung« gerade ausgeschlossen werden sollte: der Herrschaft des »Natürlichen«, einschließlich des Unmenschlichen, Unkultivierten, Brachialen und Barbarischen
342 Dazu Horkheimer (1972), S. 51: » ... all dies zeigt, daß der Vernunftbegriff der Selbsterhaltung in den der Selbstzerstörung überzugehen droht.« 343 Vgl. 1. Kant, GMS, IV, S. 414ff. Über die Imperative der Geschicklichkeit schreibt Kant: »Ob der Zweck vernünftig und gut sei, davon ist hier gar nicht die Frage, sondern nur, was man tun müsse, um ihn zu erreichen.« (GMS, IV, S. 415). Es ist dies die Definition dessen, was Max Weber »Zweckrationalität« und Max Horkheimer' »subjektive Vernunft« nannten. Daß rur Horkheimer (1991), S. 27, das »Interesse des Subjekts im Hinblick auf seine Selbsterhaltung« rur die »subjektive« Vernunft zentral wird, läßt diese zwischen den Kantischen »Regeln der Geschicklichkeit« und den »Ratschlägen der Klugheit« (GMS, IV, S. 416), die sich »auf die Wahl der Mittel zur eigenen Glückseligkeit« (ebd.) beziehen, changieren. Imperative der Geschicklichkeit und der (Lebens-) Klugheit sind fiir Kant bekanntlich bloß »hypothetische«, unter bestimmten Bedingungen geltende Imperative, während der Imperativ der Sittlichkeit »kategorisch«, unbedingt, ohne Einschränkungen fiir alle endlichen Vernunftwesen als solche gilt. Nur im kategorischen Imperativ der Sittlichkeit hat, so könnte man sagen, die Vernunft einen eigenen, genuinen Inhalt und erschöpft sich nicht in der rur die »Zweckrationalität« spezifischen Funktion, die optimalen Mittel fiir die Realisierung eines der Vernunft selbst fremden Zweckes zu bestimmen. 344 Horkheimer (1972), S. 56. Vgl. dazu Horkheimer/Adorno (1986), S. 9: »Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.« 345 HorkheimerlAdomo (1986), S. 31: »Denn Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein System.«
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III. Das autonome Vemunftsubjekt im Lichte der Kritik
über den Menschen. Dies ist die der Aufklärung nach Horkheimer und Adorno innewohnende »Dialektik«. Mit H. Schnädelbach gesprochen: »Die Dialektik der Aufklärung besteht darin, daß die Vernunft durch die eigene Formalisierung, mit der sie ihren Herrschaftsbereich immer mehr auszudehnen sucht, wieder in die Naturverfallenheit zurücksinkt, der sie doch zu entrinnen hoffte.«346 Die totalitär gewordene Schwundvernunft, die die inhaltlichen, normativ-praktischen Prinzipien der »objektiven« Vernunft, also ihre ehemals eigenen Prinzipien, über Bord geworfen, »entzaubert« hat, zerstört sich selbst als Vernunft, indem sie entgegen ihren ursprünglich aufklärerischen Intentionen dem bloß Naturwüchsigen, Brachialen, »Irrationalen« - unter dem Namen der »Selbsterhaltung« - absolute Präferenz einräumt. Die Vernunft, die, so könnte man sagen, den »Ballast« der sie selbst als Vernunft konstituierenden Autonomie abgeworfen hat, wird von der Schwindsucht, die sie sich in bester, aufklärerischer Absicht selbst zugezogen hat, dahingerafft. Das allein noch maßgebende Selbsterhaltungsinteresse saugt die Inhalte der objektiven Vernunft auf. Horkheimer 347 diagnostiziert eine »Krise der Vernunft«, weil das konsequent aufklärerische Denken »die Idee des objektiv Vernünftigen ... selbst als Trug, als ein Stück Mythologie, zu negieren beginnt.« Subjektive Vernunft muß sich also schließlich »selbst, ihrem eigenen Prinzip der Prüfung und des Zweifels folgend, als qualitas occulta ins Reich der Gespenster verbannen«348. Kurz: Vernunft wird sich selbst zum Mythos, das autonome Vernunftsubjekt eliminiert sich selbst. Die Selbstreduktion der Aufklärungsvernunft auf eine bloß noch instrumentelle Verfahrensvernunft, die Entsubstanzialisierung der »objektiven« Vernunft bedeutet nicht nur nach Horkheimers und Adornos Untersuchungen zur »Dialektik« der Aufklärung, sondern schon nach neuzeitlich-klassischem Vernunftverständnis eine Art Zerstörung der Vernunft. Denn, um noch einmal auf Kant zu rekurrieren, eine »Vernunft«, der man das Prädikat der »Autonomie« absprechen muß, kann strenggenommen gar nicht mehr als Vernunft angesprochen werden. Eine bloß noch instrumentelle Vernunft ist, wie angedeutet, ersichtlich nicht mehr »autonom«. Läßt sich Vernunft aber ihre Prinzipien gleichsam von außen vorgeben, was ja bei der ausschließlich der Selbsterhaltung des Indivi346 H. Schnädelbach (I 987a), S. 220. Vgl. auch J. Habennas (1985), S. 141: »Mit dieser Art der Kritik wird die Aufklärung zum ersten Mal reflexiv; sie vollzieht sich nun an ihren eigenen Produkten - an Theorien. Allerdings erreicht das Aufklärungsdrama erst seine Peripetie, wenn die Ideologiekritik selbst in Verdacht gerät, keine Wahrheiten (mehr) zu produzieren - und die Aufklärung zum zweiten Mal reflexiv wird. Der Zweifel erstreckt sich dann auch auf die Vernunft, deren Maßstäbe die Ideologiekritik in den bürgerlichen Idealen vorgefunden und nun beim Wort genommen hatte. Diesen Schritt vollzieht die Dialektik der Aufklärung - sie verselbständigt die Kritik noch gegenüber den eigenen Grundlagen.« 347 Horkheimer (1972), S. 50. 348 A. a. 0., S. 57.
3. Der Vemunfttorso
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duums dienenden Vernunft fraglos der Fall ist, so wird sie »heteronom« bestimmt und verliert ihre eigenen, genuinen Inhalte bzw. »Zwecke«. Das aber ist ein hinreichender Grund, ihr das Prädikat »Vernunft« überhaupt abzusprechen; denn (praktische) Vernunft ist durch ))Autonomie« geradezu definiert. 349 Eine heteronom bestimmte Vernunft setzt, wie sowohl Webers als auch Horkheimers Darlegungen zur ))Zweckrationalität« bzw. zur ))instrumentellen Vernunft« deutlich gezeigt haben, aus sich heraus keine Zwecke im Sinne normativ-praktischer Prinzipien. Eine solche ))Vernunft« wird der Situation des Menschen als eines sowohl sinnlichen wie durch Vernunft bestimmbaren Wesens nicht gerecht. Nach Kant ist der Mensch zwar ))ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört ... Aber er ist doch nicht so ganz Tier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein und diese bloß zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses als Sinnenwesens zu gebrauchen.«3so Dies ist exakt die Definition der ))instrumentellen« Vernunft. Kant bestreitet gar nicht, daß Vernunft auch ))einen nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern«351, hat, aber wenn sie dem Menschen ))llur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet«, wäre sie ))llur eine besondere Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie Tiere bestimmt hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen.«3S2 Wie die ))höheren Zwecke« im Detail bestimmt sein mögen, ist hier nicht vordringlich von Interesse. Aber daß sie zu dem gehören, ))was Vernunft für sich selbst sagt«, d. h. was sie autonom bestimmt, steht außer Frage. Die Reduktion der Vernunft auf ein Organon zur Bedürfnisbefriedigung, auf einen Instinktersatz, zerstört sie demnach auch schon nach Kant ebenso nachhaltig, wie es die Autoren der )Dialektik der Aufklärung< aufgezeigt haben. Wir fragten zu Beginn dieses Abschnittes, worin Horkheimer die Gründe für die - letztlich in ihrer Selbstzerstörung endenden - Reduktion der objektiven auf subjektive Vernunft sieht. Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns Horkheimers Kritik der mit dem Begriff der objektiven Vernunft verbundenen Ansprüche vergegenwärtigen. Die Theorie der objektiven Vernunft, so sahen wir, ))zielte darauf ab, ein umfassendes System oder eine Hierarchie alles Seienden einschließlich des Menschen und seiner Zwecke zu entfalten.«353 Einen solchen Anspruch konnte diese Theorie stellen, weil sie von der Prämisse ausging, daß ))Vernunft ein der Wirklichkeit innewohnendes Prinzip ist ... «354. 349 Daß dies ftir die theoretische Dimension der Vernunft mutatis mutandis ebenso gilt, wurde oben, Abschnitt 11, dargelegt. 350 I. Kant, KpY, Y, S. 61. 351 Kant, ebd. 352 Kant, a. a. 0 ., S. 61 f. 353 Vgl. oben, S. 217, Anm. 293. 354 Horkheimer (1991), S. 28.
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III. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
Der Gedanke »einer umfassenden Vernünftigkeit, von der Kriterien fiir alle Dinge und Lebewesen abgeleitet wurden«35S, ist der einer »Totalität«, die der subjektiven Vernunft »zugleich gegenübersteht und sie selber umfaßt«356. Dieser »von der Hybris des sich emanzipierenden Subjekts vergessene Zusammenhang war, wie sehr auch in unreflektierter, naiver Form, in der Lehre einer objektiven, nicht in der reinen Zweck-Mittel-Funktion sich erschöpfenden Vernunft festgehalten«3S7. Die idealistische Ontologie hat nun diese Totalität als wahre, vernunftdurchwirkte und deshalb auch prinzipiell mit Mitteln der Vernunft erfaßbare Ordnung verstehen wollen. Vernunft, so wendet Horkheimer dagegen kritisch ein, »darf freilich nicht hoffen, sich über die Geschichte zu erheben und aus sich selbst die wahre Ordnung zu erschauen, wie der idealistische Schwindel der Ontologie es wi11.«358 Die Theorie der »wahren Ordnung« entspricht der »Thesis einer absoluten Ordnung«, die »den Anspruch auf Wissen vom Ganzen, von der Totalität, vom Unendlichen«359 voraussetzt. Über ein solches absolutes, die Endlichkeit des Menschen gleichsam unendlich überschreitendes Wissen verfügen wir als endliche Wesen jedoch nicht, weswegen Horkheimer sich gegen alle Bestrebungen wendet, »das Gewicht der Einsicht in die irdische Ordnung zu vermindern, indem man den Blick auf eine vorgeblich wesenhaftere lenkt ... «360. Der Schwierigkeit, daß wir als endliche Wesen des Wissens vom Unendlichen nicht fähig sind, versucht der Idealismus mit Hilfe einer zusätzlichen Denkfigur auszukommen: »Wissen vom Unendlichen muß selbst unendlich sein. Eine Erkenntnis, die sich selbst für unvollendet hält, ist nicht Erkenntnis des Absoluten. Deshalb tendiert die Metaphysik dazu, die ganze Welt als Vernunftprodukt zu betrachten. Denn vollendet erkennt die Vernunft nur sich selbst.«361 Daß »die Vernunft nur von sich selbst absolute Erkenntnis gewinnen kann, ist das Geheimnis der Metaphysik überhaupt.«362 Der Gedanke, das Ganze mitzubedenken, der in der Theorie der objektiven Vernunft noch präsent war, schützt vor der Isolation, dem »herausgelösten, 355 Ebd. 356 Horkheimer (1972), S. 57. 357 Ebd. Diesen an Hegel orientierten Totalitätsbegriff hat Horkheimer in der Kontinuität seines
»materialistischen« Ansatzes der 30er Jahre mit Marxschen Inhalten gefüllt. So schreibt er noch 1951, daß die eingeschränkte, subjektive Vernunft »nicht sich selbst, sondern in sehr hohem Maß der Teilung der Arbeit, dem Prozeß der Auseinandersetzung von Mensch und Natur ihr unabhängiges Dasein verdankt« (1972, S. 56f.) Zum materialistischen Ansatz Horkheimers in den 30er Jahren vgl. insb. >Materialismus und Metaphysik< (1933), >Materialismus und Moral< (1933) und >Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie< (1934), alle abgedruckt in M. Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1988. 358 Horkheimer (1970), S. 55. 359 Horkheimer (I 988a), S. 86f. 360 Horkheimer, a. a. 0., S. 86. 361 A. a. 0., S. 87. 362 Ebd.
3. Der Vernunfttorso
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isolierten Charakter«363 der subjektiven Vernunft. Doch die der objektiven Vernunft eignende Abspaltung »von den materiellen Momenten der Existenz«, vom »gesamten Lebensprozeß der Menschheit«, führt zur Verklärung des Denkens, wenn »die endliche beschränkte Reflexion«364 absolutgesetzt wird. Die Totalität, das Umfassende, darf nicht nach Art der idealistischen Ontologie als wißbar begriffen werden, ein Irrtum, durch den die Subjektivität sich in die Isolation manövrierte, indem sie sich durch den Anspruch absoluten Wissens des Absoluten selbst verabsolutierte. Die idealistische Übersteigerung der Vernunft ins Absolute ist demnach zurückzuweisen, ohne daß Horkheimer auf die Idee der Totalität verzichten wollte. Diese taucht in idealismuskritischer Absicht als »gesamter Lebensprozeß der Menschheit« wieder auf. Nun ist der Lebensprozeß der Menschheit bekanntlich noch durch ganz andere Momente als das der Totalität geprägt. Horkheimer hat besonders in der 30er Jahren auf die Endlichkeit, die »Diesseitigkeit« und die mit dieser verbundene Not und das Elend der Menschheit hingewiesen 365 und die Berücksichtigung dieser Endlichkeitsmomente auch im Zusammenhang einer Theorie der »Totalität« des menschlichen Lebensprozesses eingeklagt. Noch 1962 spricht er von dem »Mißverhältnis zwischen dem sinnlosen Elend in der bisherigen Geschichte und dem vernünftigen Begriff ... , der in der Philosophie entwickelt wurde und der es nicht fassen kann«366. H. Brunkhorst bringt Horkheimers Intentionen der 30er Jahre auf den Punkt: »Worum es Horkheimer wirklich geht, ist der Gedanke der Diesseitigkeit und Endlichkeit des menschlichen Lebens.«367 »Horkheimers Materialismus dekonstruiert jeden Versuch der intellektuellen Konstruktion einer >unbedingten OrdnungJenseits< das Leben tötet ... Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich nicht bloß ... «.448 »In letzter Konsequenz«, interpretiert V Gerhardt44\ »führt die ressentimentgeladene Grundstimmung der 443 Vgl. Za III: Der Genesende, 2 (KSA 4, S. 274): »Das allein lernte ich bisher, daß dem Menschen sein Bösestes nötig ist zu seinem Besten, - daß alles Böseste seine beste Kraft ist ... und daß der Mensch besser und böser werden muß.« 444 Der Antichrist, 43 (KSA 6, S. 217). 445 Der lebendige Körper, schreibt Nietzsche (JGB 9, 259, KSA 5, S. 207f.), »wird der leibhaftige Wille zur Macht sein müssen, ... - nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er lebt, und weil Leben eben Wille zur Macht ist.« Vgl. auch M 1,9 (KSA 3, S. 22): »Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in Allem von sich und nicht von einem Herkommen abhängen will: in allen ursprünglichen Zuständen der Menschheit bedeutet >böse< so viel wie >individuellfreiwillkürlichungewohntUnvorhergesehenunberechenbarDing an sich< gibt - dies ist selbst ein Nihilism, und zwar der extremste.«451 Es ist der »aktive Nihilism«, ein »Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes«, der ein »Zeichen von Stärke«452 sein kann, wohingegen der »passive Nihilism« ein »Zeichen von Schwäche«453 ist. Der »starke«, »extremste« Nihilismus ist eine Geisteshaltung, aus der heraus jeder überlieferte, vorgegebene »Sinn« als nichtig, als Illusion durchschaut wird. Ihm gemäß haben weder die Welt im ganzen noch das Dasein des Menschen irgendeine »überzeitliche« Bedeutung. Zu dieser »Einsicht« hat sich der »aktive« Nihilist durchgerungen und mit ihr muß er fortan leben. Die Entscheidung, wollte man es paradox formulieren, die »absolute Sinnlosigkeit« rückhaltlos zu bejahen, ist freilich von ungeheurer Tragweite rur das Selbstverständnis des Menschen. Um diese Grundhaltung des »aktiven Nihilismus«, das Lebensgeruhl des nachmetaphysischen Menschen, zu verdeutlichen, wählt Nietzsehe die Metapher vom »Tode Gottes«. Sie meint nicht nur das Verblassen platonisch-christlicher Orientierungslinien, aber auch nicht nur die zu feiernde »Überwindung« des »Nihilismus der Schwäche«. Nietzsches Rede vom» Tode Gottes« ist vielmehr durchaus ambivalent. »Gott« ist nicht einfach als morsch gewordene Gestalt des Lebens aufzufassen, er ist nicht schlicht abgestorben, ins Nichts übergegangen, sondern er ist - so Nietzsches Pointe - »ermordet« worden. Nietzsehe kennt auch seinen »Mörder«: wir selbst, d. h. wir, die wir die »Metaphysik« als Illusion durchschaut haben, die wir nicht mehr auf eine allumfassende Antwort auf die großen Menschheitsfragen hoffen, haben Gott »getötet«: »Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!«, schreibt Nietzsehe in der >Fröhlichen WissenV. Gerhardt (1992), S. 160. Der »Umwertung« voraus geht immer, wie Nietzsche deutlich macht, »daß die obersten Werte sich entwerten«, d. h.: »es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das) Warum?offnes MeerGott tot istGott ist tot< bedeutet: die übersinnliche Welt ist ohne Kraft. Sie spendet kein Leben. Die Metaphysik, d. h. für Nietzsche die abendländische Philosophie als Platonismus verstanden, ist zu Ende . ... Wenn Gott als der übersinnliche Grund und als das Ziel alles Wirklichen tot, wenn die übersinnliche Welt der Ideen ihre verbindliche und vor allem ihre erweckende und bauende Kraft eingebüßt hat, dann bleibt nichts mehr, woran der Mensch sich halten und wonach er sich richten kann .... Der Nihilismus, >der unheimlichste aller GästeGott ist tot< bezeichnete Ende der Metaphysik selbst als eine Epoche der »Seinsgeschichte«. Dies wird nochmals deutlich an dem Satz: »Noch einmal sei eingeschärft: das Wort Nietzsches nennt das Geschick von zwei Jahrtausenden abendländischer Geschichte.« (Heidegger, a.a.O. , S. 196f.). Vgl. auch oben, Abschnitt 111.2. der vorliegenden Arbeit. 454 455
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III. Das autonome Vemunftsubjekt im Lichte der Kritik
besonderen Nachdruck legen wird - auch der »bisherige« Mensch. Es »verschwindet« das (Vernunft-)Subjekt, der Träger der Idee prinzipiell »wahrer« Erkenntnis464 und prinzipiell »richtigen«, weil vernunftbegründeten Wo liens und Handeins. Das »Verschwinden des Subjekts« zugleich mit dem »Tode Gottes« ist jedoch für Nietzsche kein Anlaß zum Bedauern. Die in der Rede vom »Tode Gottes« gemeinte Überwindung metaphysisch-christlichen Denkens eröffnet vielmehr die Möglichkeit einer neuen Selbstbestimmung des Menschen jenseits bzw. »diesseits« seines überkommenen Selbstverständnisses als »Vernunftsubjekt«. Nietzsche ist es, wie angedeutet, durchaus bewußt, daß sich der Abschied von der Vernunftmetaphysik nur allmählich und um den Preis tiefgreifender Verunsicherung des Menschen zu vollziehen begonnen hat und weiterhin vollziehen wird. Im Grunde genommen erfordert dieser Abschied eine geradezu »übennenschliche« Härte des Menschen gegen sich selbst. Dennoch ist dieser schmerzhafte Prozeß für Nietzsche unvenneidlich: »Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.«465 Und: »Der Übennensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übennensch sei der Sinn der Erde!«466 Die Vision des »Übennenschen« verdeutlicht nochmals, daß der jenseits der »Metaphysik« zu erringende Selbst-Stand des neuen Menschen keine »Sicherheiten« und Geborgenheiten bietet'67, sondern nach wie vor ein »Nihilismus« (der »Stärke«) bleibt. 468 Doch will der Mensch sich zukünftig nicht erneut der trügerischen Illusion einer durch »Gott« verbürgten Geborgenheit hingeben, so ist es unvenneidlich, auch noch Gottes »Schatten« zu »besiegen«46" d. h. die Nachwehen platonisch-christlich orientierten Selbstverständnisses des Menschen zu überwinden. Auch das ist eine geradezu »übennenschliche« Aufgabe, denn die tiefgreifende Orientierungslosigkeit des »neuen« Menschen ist nach wie vor von einer Melancholie begleitet, die selbstverständlich auch Nietzsche nicht entgangen ist. So fragt der nachmetaphysische Mensch, der »Mörder Gottes«: »Wie vennochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den 464 Vgl. dazu V. Gerhardt (1989), S. 264: »Nietzsches berühmt-berüchtigte These: >Gott ist todt! < hat ihren Grund ... in der (... ) Einsicht in die Endlichkeit des menschlichen Erkennens.« 465 Nietzsehe: Za I, Vorrede, 3 (KSA 4, S. 14). 466 Ebd. 467 Vgl. dazu V. Gerhardt (1992), S. 178: »Wenn kein Gott das Dasein des Menschen garantiert, kann es jederzeit damit zu Ende sein. Daran erinnert der Begriff des Übermenschen in durchaus ernüchternder Weise.« 468 Daß der Nihilismus noch keineswegs durch neue Sinnstiftungsmuster überwunden ist, deutet Nietzsehe an, wenn er (Za IV: Das Lied der Schwermut 2, KSA 4, S. 370) diejenigen anspricht, »die ihr am großen Ekel leidet gleich mir, denen der alte Gott starb und noch kein neuer Gott in Wiegen und Windeln liegt ... «. 469 FW, 3. Buch, Aph. 108 (KSA 3, S. 467): »Gott ist tot: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. - Und wir - wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen.«
4. Das autonome Vernunftsubjekt als Illusion
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ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?«47o Auch Nietzsche weiß, daß der »aktive Nihilismus« und damit der »Übermensch« eine Vision bleiben wird, die stets wieder eingeholt wird von der lebensnotwendigen Fiktion des »kleinen Menschen« und seines schematischen, an »Gott« und »Grammatik« glaubenden Denkens. 471 »Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist, der kleine Mensch ... Und ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! - Das war mein Überdruß an allem Dasein!«472 Der Glaube an absolute Wahrheit und an die Verbindlichkeit der Moral sind nützliche Irrtümer, »Kunstgriffe« zur »Erhaltung des Lebens«4?3 und machen als solche einen guten Teil der Komödie unseres Daseins aus. Dennoch ist es dem Menschen nach Nietzsches Einschätzung möglich, die Vision des »freien Geistes«, des »Übermenschen«, des »souveränen Individuums« aufrechtzuerhalten. Soll die »Subjektivität«, das Vernunftsubjekt als Träger der Weltordnung im idealistischen Sinne, überwunden werden47., so gibt es schon aus Gründen der »Redlichkeit«475 zum »Nihilismus der Stärke« keine Alternative. »Ekel« und »Überdruß« an der ewigen Wiederkehr »auch des Kleinsten« müssen ertragen werden, d. h. die »Freiheit« des Menschen als leiblichen, endlichen Erdenwesens besteht nicht zuletzt im Akzeptieren und Affirmieren der Unmöglichkeit, das Bewußtsein des »höheren Menschen« auf Dauer zu stellen. Es gilt, das mit dem »Leben« stets verbundene Leiden, nicht zuletzt das Leiden an der »ewigen Wiederkunft« der metaphysischen »Illusionen«, zu ertragen. Als »Wille zur Macht« bringt das Leben notwendig Leiden mit sich, und »die Philosophie selbst« ist, wie G. Colli 476 interpretiert, für Nietzsche »eine Maske, um dieses Leiden zu ertragen«, d. h. ästhetisch zu bewältigen. Das Ende des »alten«, metaphysikgläubigen Menschen macht den Anfang der Vision des »höheren«, »neuen« Menschen, der sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, daß er das Leiden selbstbewußt-endlichen Lebens, ja die Endlichkeit des menschlichen Daseins in ihrer Vielgestaltigkeit überhaupt akzeptiert, ohne sie noch einmal »metaphysisch« zu überhöhen. Der Mensch ist kein »reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis«47" der Begriff einer »reinen Vernunft« ohnehin ein »contradiktorischer Begriff«478.
470 471
FW, 3. Buch, Aph. 125: Der tolle Mensch (KSA 3, S. 481). GD: Die »Vernunft« in der Philosophie, 5 (KSA 6, S. 78): »Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben .. .«. 472 Za III: Der Genesende 2 (KSA 4, S. 274). 473 GM 3, 13 (KSA 5, S. 366). 474 Vgl. Nachgelassene Fragmente. Herbst 1887,9 [108] (KSA 12, S. 398): »Das >Subjekt< ist ja nur eine Fiktion ... «. 475 Vgl. Za IV: Vom höheren Menschen 8 (KSA IV, S. 360). 476 G. Colli (1980), S. 420. 477 GM 3, 12 (KSA 5, S. 365). 478 Ebd.
III. Das autonome Vemunftsubjekt im Lichte der Kritik
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Jenseits »der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei«479 der überkommenen Philosophie gilt es daran zu erinnern, daß »alle obersten Fragen, alle obersten WertProbleme ... jenseits der menschlichen Vernunft«480 liegen. »Die Grenzen der Vernunft begreifen - das erst ist wahrhaft Philosophie ... «481. Im »Ring des Seins«48>, im »großen Jahr des Werdens«483, der »ewigen Wiederkunft«484 aller Dinge ist das Vernunftsubjekt für Nietzsehe nichts als eine transitorische Erscheinung, die auftaucht und vergeht, wie alles, was ist. Die Vernunft überzubewerten hieße für Nietzsehe, zu vergessen, daß sie »auf eine unvernünftige Weise, durch einen Zufall ... in die Welt gekommen ist«48S, eine Überzeugung, die schon fast »postmodern« klingt. b) Der »Tod« des Vernunftsubjekts im Denken der »Postmoderne« aa) Das regellose Spiel der »Strukturen« und das» Verschwinden des Menschen« Folgt man Walter Schulz, so ist es gegenwärtig nicht gut um das Vernunftsubjekt und die Metaphysik bestellt: »Die Destruktion der Subjektivität und das Erlöschen der großen Fragen kennzeichnet die geistige Situation der Gegenwart.«486 Der postmoderne Denker Gianni Vattimo gelangt zu einem ähnlichen Befund über »die Daseinsverfassung des spätmodemen Menschen: In dieser Verfassung scheint mir das Ideal eines Subjekts als versöhntes Selbstbewußtsein, als wieder-in-Besitz-genommenes Ich seine Bedeutung verloren zu haben ... Heute sind neue Menschlichkeitsideale möglich, die nicht mehr an die metaphysische Subjektauffassung gebunden sind.«487 Die Richtung, in der diese >>Deuen Menschlichkeitsideale« zu suchen sind, hat für Vattimo neben Heidegger vor allem Nietzsehe vorgegeben, »der unter anderem sagte, dem modemen Menschen sei es möglich, sich nicht mehr als >unsterbliche SeeleMenschkriteriologischen< Dogmatismus« nicht zu entgehen, hatte S. Benhabib (1986), S. 110, Lyotard vorgeworfen. 579 Die »Rede vom Tod des Subjekts« sei, so Welsch (1987), S. 315, »erstens nicht eine Erfindung der Postmodernisten, sondern eine Unterstellung der gegen sie kämpfenden Modernisten. Zweitens kommen diese damit aber ein Vierteljahrhundert zu spät und treffen nicht mehr die richtigen Adressaten an. Denn einen Mord am Subjekt mochte man den Strukturalisten vorhalten, auf die Poststrukturalisten aber und gar auf die Postmodernen trifft dergleichen nicht mehr zu.«
4. Das autonome Vemunftsubjekt als Illusion
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wieder, als daß sie noch immer dementiert würde.«580 Allerdings »ist der Typus Subjekt, der postmodern wiederkehrt, anders konturiert als der moderne«581. Er ist, wie sich noch herausstellen wird, völlig anders konturiert. Ebensowenig wie die »Vernunft« will Welsch das »Subjekt« aufheben, sondern bloß »verflüssigen«. »Postmoderne Subjekte ... sind zu Übergängen besonders befähigt. Transversalität wird zu ihrem ausgezeichneten Vermögen. Das ist im Alltag schon mannigfach abzulesen. Nur die offiziöse Orientierungsrhetorik will dem noch wenig Glauben schenken. Ihre Direktiven hinken der tatsächlichen Subjektverflüssigung - die keineswegs Subjektauflösung bedeutet - hinterher.«582 »Subjekte« konstituieren sich, kurz gesagt, dadurch, daß sie Übergänge und Verknüpfungen zwischen verschiedenen Möglichkeiten, Lebensformen, Konzepten etc. herstellen. »Der Mensch der Postmoderne ist kein uomo universale, kein verschwindendes Antlitz im Sand des Einerlei, keine Monade. Er ist vielmehr eine Figur des Übergangs und der Verknüpfung verschiedener Möglichkeiten. Weder kann er das Ganze sich anmaßen noch mit dem Singulären sich zufriedengeben. Er ist kein Proteus, aber auch kein Polyphem. Seine Individualität bildet sich in der Konstellation von Differentem. Ein Odysseus ohne Ithaka-Projekt könnte sein Urbild sein.«583 »Transversale« Vernunft ist für Welsch »die exemplarisch postmoderne Form von Vernunft«58\ indem sie Verbindungen herstellt und insofern eine integrative Leistung vollbringt. »Integrative Momente sind unverzichtbar. Nur muß dabei eine Totalisierungssperre klar eingebaut und erkennbar sein.«585 »Verschleifungen, Übergänge, Verbindungen«586 sind »das Dominium transversaler Vernunft«587, die »jenseits der Regelhaftigkeit und diesseits der Regellosigkeit«588 operiert und versucht, »eine in der spezifischen Situation sinnvolle Fortsetzungsmöglichkeit zu finden«589. Welsch faßt zusammen: Transversale Vernunft ist »das überschreitende Vermögen ... , auf Totalität zwar bezogen, aber in einem Ebd. A.a.O., S. 316. 582 Welsch (l988b), S. 40. 583 Ebd. Vgl. dazu die einfallsreiche Interpretation der Sirenen-Episode aus Horkheimers und Adornos >Dialektik der Aufklärung< in Welsch (1995), S. 74-98. Danach praktizierte Odysseus eine Vernunft, »die Unterschiedliches zu verbinden wußte und so die alte Allobsession nach ihrer besseren Seite hin einlöste: als Vernunft vielseitiger (nicht totalitärer) Verbindungen.« (a. a. 0., S. 97; vgl. auch a. a. 0., S. 762, Anrn. 8). 584 Welsch (1987b), S. 186. 585 Welsch (1987), S. 167. 586 A. a. 0., S. 259. 587 A. a. 0., S. 261. Vgl. Welsch (1995), S. 754: Vernunft deckt »bestehende Verbindungen auf und bahnt neue Verknüpfungen an«. Verflechtungen dienen der Vernunft als »Brücken des Übergangs«. Vgl. auch a.a.O., S. 748f.; S. 751f. 588 Welsch (l987b), S. 180. 589 Ebd. 580 581
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radikal un-begrifflichen Sinn, in der Weise allein des Übergangs und der Überschreitung. Daher wird diese Vernunft hier als transversale bezeichnet.«'9o Transversale Vernunft ist demnach für Welsch deshalb die gegenwärtig probate Vernunftfonn, weil sie »polyperspektivisch«'91 Übergänge herstellt zwischen »verschiedenen Sinnsystemen und Realitätskonstellationen«'92 und somit der irreduziblen Pluralität aller Lebensbereiche gerecht wird und zugleich dem Menschen eine situations- und konstellationsspezifische Flexibilität zuspricht, die ihm im eher starren Rahmen der klassischen Konzeption des» Vernunftsubjekts« angeblich verwehrt war. Um die Verbindungsleistung der transversalen Vernunft zu verstehen, muß besonders darauf geachtet werden, was, d. h. welche Fonnen, Bereiche, Felder, »Sektoren« usw. sie miteinander verbindet und wie diese Fonnen und Bereiche definiert sind. Der von Welsch durchgängig bevorzugte Tenninus zur Bezeichnung der zu verknüpfenden Bereiche ist der Begriff der »Rationalitätsfonnen« oder auch »Rationalitätsfelder« bzw. »Rationalitätstypen«. Solche »Rational itätsfonnen« denkt Welsch ähnlich den Habennasschen »Expertenkulturen«593, den »Wissenskomplexen«'94 bzw. »Wertsphären Wissenschaft, Moral und Kunst«'9' und umschreibt sie als» Wissensfonnen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster«'96. Es sind konkrete »Fonnen von Vernunft«597 mit jeweiligem Eigenrecht. Doch mit welcher Berechtigung, so darf gefragt werden, können diese »Rationalitätsfelder« überhaupt als solche bezeichnet werden? Sind sie gleichsam von sich aus »Vernunftfonnen«? Bedeutet die Aussage, daß sie sich »eigentätig als sinnvoll«'98 ausweisen, daß sie immer schon und fraglos als Sphären oder Dimensionen der »Vernunft« anerkannt sind? Und wie wäre dies zu denken? Gibt es Kriterien, die »Rationalitätsfelder« von anderen »Feldern« menschlichen Lebens zu unterscheiden? Es ist ja nicht jede menschliche Lebensäußerung genuin vernunftbestimmt oder vernunftgeleitet. Kriterien der Auszeichnung bestimmter »Fonnen« oder »Felder« als der Vernunft zugehöriger gäbe es sicher, wenn man den Menschen in einem sehr weiten Sinne als »vernunftbegabtes Lebewesen« verstünde. In diesem Falle müßten, wie auch immer im Detail zu bestimmen, diejenigen »Lebensäußerungen« des Menschen, die ohne ein elementares »Haben« von Vernunft gar nicht verstehbar wären, als
Welsch, a. a. 0., S. 181. Vgl. auch Welsch (1995), S. 803f. Vgl. Welsch (1995), S. 827. Vgl. Welsch (1989), S. 225; S. 231. 592 Welsch (1993), S. 69. 593 Vgl. J. Habennas (1981), S. 462. 594 Habennas, a. a. 0., S. 453. 595 Habennas, a. a. 0., S. 452. Vgl. Welsch (1995), S. 126ff. und Welsch (1987), S. 107ff.; S. 159-165. 596 Welsch (1987), S. 5. 597 Welsch, ebd. 598 Ebd. 590
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»Rationalitätsformen« oder »Vernunftformen« ausgezeichnet werden können. 599 Dazu bedürfte es jedoch, verkürzt gesprochen, eines transzendentalen (Vernunft-) Subjekts, welches die »Vernunftformen« als solche allererst zu konstituieren hätte. Ein solches Vernunftsubjekt denkt Welsch, in Übereinstimmung mit den anderen Postmodernisten, aber gerade nicht. Vielmehr scheinen sich in seinem Konzept die »Vernunftformen« den »Lebensformen« (naturwüchsig?) anzupassen, was zur Folge hat, daß es eben keine Kriterien der Auszeichnung der Vernunft- oder Rationalitätsformen als besonderer, von anderen unterscheidbarer Lebensformen gibt. Doch lassen wir dieses Problem vorerst offen und werfen zunächst einen Blick auf die Art und Weise, wie die »transversale« Vernunft die Übergänge und Verknüpfungen zwischen den verschiedenen »Rationalitätsfeldern« herstellt, um daran anschließend erneut nach dem die Rationalitätsfelder konstituierenden »Subjekt« zu fragen. Der grundsätzliche Pluralismus der Postmoderne ist »interferentiell«60o, d. h. die »Modelle«601, Felder und Bereiche der »Rationalität« überlappen sich wechselseitig. Es bestehen »Verschränkungen und Korrespondenzen zwischen den Rationalitätsfeldern«60" Vernetzungen und Verflechtungen, die zusammengenommen ein hyperkomplexes, mit dem altbackenen Begriffsinventarium von »Einheit« und »Ganzheit« klassischer Vernunftkonzeptionen nicht mehr beschreibbares oder gar systematisierbares Gebilde darstellen:03 Es gibt auch keine »Hegemonie eines Rationalitätstypus«6o" sondern alle bestehen gleichrangig nebeneinander. In dem komplexen Gefüge des interferentiellen Pluralismus verweisen die »Sektoren« aufeinander. Das bedeutet, »daß die scheinbar autonome Bestimmung eines Sektors stets auf zumeist einige angrenzende Sektoren in bestimmter Weise bezogen ist«605. »Eine jede sektorielle Definition ist tragfahig nur in der Konstellation mit kompossiblen Definitionen anderer
599 Welsch (\ 987), S. 274, hat dieses Problem selbst gesehen: »Der Streit geht im Grunde ausschließlich darum, ob jenseits der Vielheit auch noch eine Einheitsform der Vernunfttypen ins Auge zu fassen ist, und wenn ja, welche. Liegt das Heil in der reinen Vielfalt oder bedürfen die diversen Vernunftformen noch eines vereinigenden Prinzips oder Bandes, um überhaupt für Formen von Vernunft gelten zu können?« 600 Vgl. Welsch (l987a), S. 115. 601 Vgl. ebd. 602 Welsch (\ 987), S. 258. 603 Dazu Welsch (\ 987), S. 320: »Die alten Spiel formen von Einheit und Vielheit gelten nicht mehr. Die entsprechende Schachliteratur der Philosophie - hochkarätig und bewundernswert in ihrer Weise - muß umgeschrieben werden. Ihre Eröffnungszüge sind veraltet - von den Endspielen ganz zu schweigen ... Aussichtslos wäre das Unterfangen, der Pluralisierung sich entgegenzustellen.« Ähnlich wie Welsch geht es A. Wellmer (1985), S. 109, um »die Aufhebung der einen Vernunft in einem Zusammenspiel pluraler Rationalitäten«. 604 Welsch (\987b), S. 185. 605 Welsch (1987), S. 299.
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Sektoren.Person an sich(Wirklichkeiten, in denen wir leben< (Stuttgart 1981). 710 Welsch (1987), S. 200. 711 Ebd; vgl. auch Welsch (1989), S. 240. 712 Welsch (1989), S. 239.
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III. Das autonome Vemunftsubjekt im Lichte der Kritik
als solche bestimmen lassen, muß auch in bezug auf die regionalen »Verbindlichkeiten« gefragt werden, aufgrund welcher Kriterien sie sich überhaupt als Verbindlichkeiten ausweisen lassen. Welsch versteht die Verbindlichkeiten lediglich als Üblichkeiten und blendet bewußt die kriterielle Funktion eines nach Kantischer Vorstellung der praktischen Dimension der einen Vernunft zugehörigen - moralischen Beurteilungsprinzips der Verbindlichkeiten aus. 7IJ Wenn Vernunft nicht über Prinzipien verfügt, dann freilich auch nicht über ein Moralprinzip. Ein universal geltendes Moralprinzip mit Verbindlichkeitsanspruch ist wie die »eine« Vernunft für Welsch schlicht eine Wahnvorstellung. »Verbindlichkeit des generalistischen oder universalistischen Typs« sei »jetzt gewiß dahin«714. »In einer Situation wirklicher Pluralität ist daher der Wunsch nach inhaltlicher Einheitlichkeit und absoluter Verbindlichkeit mehr als dubios, in ihm sind - psychoanalytisch gesprochen - Herrschafts- und Unterwerfungssehnsucht sado-masochistisch gepaart, und Kastrationsangst bestimmt den Charakter.« 715 Wenn hinter der Theorie der regionalen Verbindlichkeiten eine Ethik stehen sollte, dann eine Lebensformenethik, eine Ethik der Lebensklugheit, der die Vorstellung einer pragmatischen, in bestimmten Konstellationen und Situationen so, in anderen anders »übergehenden« und »verknüpfenden« Vernunft korrespondiert. »Die äußerste Aufgabe der Vernunft liegt darin, in dieser Mischverfassung von Heterogenität und Konnexion treffsicher zu operieren«, heißt es bei Welsch 71 \ und was für die Transversalität der Vernunft in bezug auf die Rationalitätsformen gilt, kann entsprechend auch in bezug auf die Verbindlichkeiten gesagt werden. Auch zwischen ihnen hat die Vernunft treffsicher zu operieren, überzugehen usw. Doch wann operiert transversale Vernunft im Falle der vielen Verbindlichkeiten »treffsicher«? Aus sich selbst als einer reinen Vernunft der »Übergänge« kann sie das Kriterium (Prinzip!) beispielsweise für die Beurteilung solcher »Verbindlichkeiten«, die im klassischen Sinne als »moralisch verboten« einzustufen wären, nicht nehmen. In solchen Fällen hilft ein Austarieren und Schaffen von »Übergängen« wenig bis nichts. Im Falle von Kollisionen zwischen »regionalen« Verbindlichkeiten innerhalb des »Subjekts«, d. h. zwischen seinen »Teilen«, mag ein gewisses Austarieren hilfreich sein. Wenn aber eine »Verbindlichkeit« als moralisch verboten beurteilt werden muß, kann und darf es kein Austarieren mehr geben. Das moralische (Ver713 Vgl. dazu l. Kant: Eine Vorlesung über Ethik (1990), S. 46: )) Wir haben hier auf zwei Stücke zu sehen: auf das Principium der Dijudikation der Verbindlichkeit und auf das Principium der Exekution oder Leistung der Verbindlichkeit. ... Wenn die Frage ist: was ist sittlich gut oder nicht, so ist das das Principium der Dijudikation, nach welchem ich die Bonität der Handlung beurteile ... «. 714 Welsch (1989), S. 238. 715 Welsch, a. a. 0., S. 238f. 716 Welsch (1995), S. 756. Vgl. a. a. 0., S. 934: )Nemunft bedeutet die Fähigkeit, sich inmitten einer Vielfältigkeit in Übergängen bewegen zu können.« Vgl. auch a. a. 0 ., S. 948.
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nunft-)Gesetz erlaubt in diesem Falle keine »Ermäßigung rigoroser Verbindlichkeitsansprüche«, die nach Welsch durch die» Vielfalt der Rationalitätsformen ... erfordert«717 sei. Was S. Benhabib gegen Lyotard eingewandt hat, trifft in gewissem Sinne auch auf Welsch zu: »Wir können uns den Geltungsfragen, die uns unausweichlich gestellt werden, nicht dadurch entziehen, daß wir verwundert die Vielfalt der Sprachspiele und Lebensformen betrachten.«71' Auch wenn Welsch die Pluralität der Lebensformen und der durch diese begründeten» Verbindlichkeiten« nicht schlicht »verwundert betrachtet«, sondern »Übergänge« zwischen ihnen aufspüren will und das Vermögen dazu »Vernunft« nennt, ermangelt sein Konzept doch eines klaren Beurteilungskriteriums für solche »Verbindlichkeiten«, die als moralisch verboten und solche, die als moralisch erlaubt oder als moralisch geboten gelten müssen. Die Verknüpfungsvernunft alleine, deren »ganzes Prozedieren ... horizontal und übergängig«719 ist, erbringt ein solches Kriterium nicht. Das wäre nur dann der Fall, wenn ein Vernunftprinzip den Modus der »Verbindungen« bestimmen würde. Doch das wäre für Welsch ganz sicher» Vernunfthybris«, d. h. eine »Unterstellung autonomer Prinzipienvernunft«72o. Welsch schreibt: »Im übrigen hindert die >Prinzipienlosigkeit< - oder Reinheit - der Vernunft keineswegs, daß diese Vernunft Forderungen erhebt. Zu Vernunft gehört ein Verwirklichungsimperativ. Vernunft dringt darauf, daß ihre Tätigkeit nicht abgebrochen, sondern vollendet werde ... «721. Doch wie wäre eine solche »Vollendung« der Tätigkeit transversaler Vernunft vorstellbar? Selbst wenn die Vollendung der Vernunftbestrebungen nicht naiv als faktisch erreichbar unterstellt, sondern - etwa im Sinne Kants - als bleibende Aufgabe und Anstrengung des endlichen Vernunftwesens verstanden würde, wäre der Begriff einer »Vollendung« der Vernunfttätigkeit nur dann sinnvoll, wenn in ihm das Prinzip des »Unbedingten«, d. h. die Idee eines selbst nicht Bedingten, wohl aber anderes Bedingenden, gedacht würde. 722 Bezüglich der lokalen Verbindlichkeiten würde ein - wie auch immer im einzelnen zu entfaltendes - Prinzip des moralisch Unbedingten ein »negatives« Kriterium für die Beurteilung solcher »Verbindlichkeiten« liefern. Welsch jedoch ordnet die Idee des moralisch Unbedingten der >>unlebbaren Verbindlichkeits-Obsession«723 der »Totalrationalität« zu. »Lebbar« ist demnach offensichtlich bloß das, was wirklichkeitskonform ist, d. h. die Vielheit der »Rationalitätskonstellationen« auf die Weise berücksichtigt, daß keine jeweils zu »starken« Ansprü-
717 Welsch (I987a), S. 138. 718 S. Benhabib (1986), S. 126, Arun. 32.
Welsch (1987), S. 296. Welsch (1995), S. 764. 72l A. a. 0 ., S. 764, Anm.lO. 122 1. Kant: PS, XX, S. 287: Zum »Unbedingten (principium, quod non est principiatum) zu gelangen ... , fordert die Vernunft, um ihr selbst genug zu tun.« 723 Vgl. oben, S. 289, Anm. 712. 119
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che erhoben werden. Der »stärkste«, im Modus der Kategorizität auftretende Vernunftanspruch ist nun jedoch in der Tat der eines unbedingte Geltung beanspruchenden Moralgesetzes. Er hat freilich in der Konzeption der »transversalen« Vernunft keinen Platz, auch wenn er das gesuchte Beurteilungskriterium, aufgrund dessen »Verbindlichkeiten« überhaupt erst solche sein können, bereitstellen würde. Stattdessen verknüpft und verbindet transversale Vernunft bloß die in der kruden »Wirklichkeit« vorkommenden »Rationalitätsfelder«, »Realitätskonstellationen«, Situationen und »Verbindlichkeiten«, um zwischen ihnen eine Art von Gleichgewicht herzustellen, durch welches »Ungerechtigkeiten«724 vermieden werden. Die gewachsenen Lebensformen und -konstellationen haben ihren jeweiligen Eigenwert und, so muß man folgern, jeweils gleichgewichtige »Verbindlichkeiten«, die nicht unter das Joch einer universalistischen Vernunftethik gezwungen werden dürfen. Die »Autonomie« des »feldartig« strukturierten »Subjekts« besteht für Welsch in »einer Art von Souveränität«725 im situativ jeweils erforderlichen »Übergehen« zwischen den »Lebensformen«. Die »traditionell ... wohl zu glatt und zu absolut«726 beschriebene moralische Autonomie des endlichen Vernunftwesens in seiner Orientierung an dem einen Vernunftprinzip in seiner Formulierung als »Sittengesetz« oder »kategorischer Imperativ« lebt postmodern bloß noch als »Tugend« der Geschmeidigkeit und Wendigkeit im situativen Orientieren weiter. Es darf allerdings nochmals gefragt werden, ob nicht auch Welsch durch seine Reduktion der Vernunft auf ein bloßes Instrument zum pragmatischen Übergehen zwischen Lebensformen, d. h. auf eine formale, inhaltsleere Verfahrensvernunft, den Begriff des »autonomen Vernunftsubjekts« vollends verabschiedet und auf diese Weise - ob gewollt oder ungewollt - den »theoretischen Antihumanismus« des Poststrukturalismus prolongiert hat. Die »Prinzipienlosigkeit« der »transversalen« Vernunft hat einen - zu hohen - Preis. Das »Spiel der Interferenzen, Kombinationen und Übergänge als Vollzug von Leben«727, die »Vision« von »Vielheit ohne letzte Koordinierung als Gestalt von Freiheit«728 überlagert und erdrückt eine nach wie vor nicht geringe Chance des Menschen: sich selbst und seinesgleichen als autonomes Vernunftsubjekt zu begreifen. Das Konzept der »transversalen Vernunft« befOrdert entgegen allen anderslautenden Bekundungen den poststrukturalistisch gedachten moralischen Konformismus im Sinne der Anpassung an »vorgegebene« Strukturen oder »Lebensformen«. Es vermag letztlich nicht den gegen den Postmodernismus gerichteten Vorwurf der Relativität und Beliebigkeit unseres Wissens und Han724
715. 725 726 727
728
D. h. letztlich »Ausschlüsse« einzelner Rationalitätsformen. Vgl. dazu Welsch (1995), S. 698Welsch (1995), S. 852. Ebd. Welsch (1987), S. 202. Ebd.
4. Das autonome Vernunftsubjekt als Illusion
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delns auszuräumen. Dies aber war der Vorwurf, gegen den es auf den Plan getreten war. Wegweisend rur Welschs Konzept einer »transversalen Vernunft« ist, wie rur nahezu alle postmodernen Ansätze in der Philosophie, Nietzsches Perspektivismus. Die Heterogenitäten und Vernetzungen der Rationalitätsfelder und -paradigmen, die Rede von den »Subjektanteilen« und nicht zuletzt auch die Favorisierung der vielen Verbindlichkeiten, mit einem Wort: der Pluralismus, trägt überdeutliche Züge der Philosophie Nietzsches. Welsch bekennt sich auch ausdrücklich zu Nietzsche als Vorbild. Er spricht von »Nietzsches einschneidender Subjektkritik und ihrer Vorbildlichkeit rur die gegenwärtige Diskussion. Die Kritik am traditionellen Subjektbegriffund das Plädoyer rur ein plurales Subjekt gehören bei Nietzsche wie in der >Postmoderne< zusammen wie die Vorder- und Rückseite eines Blattes.«729 Ob Welsch nun feststellt, daß schon bei Pico della Mirandola »der Typus Mensch ... der Möglichkeit nach plural geworden«730 ist, oder daß Leonardo da Vinci »Universalität als universale Anverwandlungsfähigkeit«731 verstanden hat: immer interpretiert Welsch derlei Beispiele aus der Geistes- und Kunstgeschichte als Vorstufen der prägnanten »Hypothese« Nietzsches: >>>das Subjekt als Vielheit>unordentlich« wie die Vernunft selbst. Lassen sich nach alle dem Vernunft und Wirklichkeit überhaupt noch unterscheiden? Einerseits adaptiert Welsch die Vernunft der Wirklichkeit, anderer-
R. Rorty (1992), S. 42. Welsch (1995), S. 945. 740 Ebd. 74l Vgl. ebd. 742 Ebd. 743 Ebd. Unübersehbar hat hier Hegels Gedanke einer vernunftdurchwirkten Wirklichkeit Pate gestanden, freilich mit dem Unterschied, daß die Wirklichkeit für Welsch nicht Einheit und Ordnung, sondern Pluralität und »Gemenge« der Vernunft widerspiegelt. 738
739
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III. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
seits soll die Vernunft ihre eigene Struktur in der Gemengelage der Realitätskonstellationen, rationalen Komplexe etc. wiedererkennen. Letztlich amalgamiert Welsch Vernunft und Wirklichkeit zu einem Vernunft-WirklichkeitsGemenge, einschließlich eines »Geschiebes« zwischen den jeweiligen Präponderanzen. Wie dem auch sei: »archimedisch-jenseitig« operiert transversale Vernunft jedenfalls nicht. In ihrer der Pluralität der Wirklichkeit entsprechenden Struktur ähnelt sie eher Nietzsches »großer Vernunft des Leibes«, d. h. der Vernunft des vielfältigen »Lebens«, die sich in den vielen Rationalitätsformen sedimentiert. Sie ist, wie oben angesprochen, durchaus lebensdienlich-pragmatisch, indem sie die Nähe zur Vielfalt der »Wirklichkeit« wahrt und alle normativen, »prinzipiellen«, »jenseitigen« Ansprüche traditioneller Vernunft als obsolet gewordene hinter sich läßt. Es bleibt jedoch die Frage, ob der allzu grobe Raster von »jenseits« und »diesseits« (der »Wirklichkeit«) nicht eine sachgerechte Würdigung der neuzeitlichen Idee des autonomen Vernunftsubjekts zumindest erschwert. Wenn Welsch sich durchgängig an Kant anschließt, zugleich aber eine der zentralen Intentionen Kants, den der Vernunft eigentümlichen »Ausgriff«744 aufs Unbedingte, seiner eigentlichen Pointe dadurch beraubt, daß er der Kantischen Idee des Unbedingten ihre moralisch-praktische Bedeutung nimmt, um sie auf eine vage »vertikale Dimension prinzipieller Unfaßlichkeit«745 bzw. Undarstellbarkeif46 zu verdünnen, dann liegt die Vermutung nahe, daß letztlich auf nichts anderes »ausgegriffen« wird als auf die Gegebenheit miteinander verflochtener und zugleich heterogener Lebensformen und Realitätskonstellationen. Denn »plurale« Vernunft kann, will sie sich selbst treu bleiben, auf nichts anderes, noch so »Unfaßliches«, ausgreifen als auf Pluralität! Die im Kantischen Gedanken des »Unbedingten« gedachte »Einheit« muß nach der Struktur der »transversalen Vernunft« ein obsoleter, »jenseitiger« Gedanke bleiben, ein Gedanke, der stets schon überholt ist durch die zugrundeliegende »Pluralität« der vielen» Wirklichkeiten«. Im Vernunft-Wirklichkeits-Gemenge ist kein Platz für die dem autonomen Vernunftsubjekt so wesentliche Idee des »Unbedingten«; und letztlich ist im Postmodernismus insgesamt kein Platz für das autonome Vernunftsubjekt selbst. Dies soll abschließend durch einen Blick auf das Denken Richard Rorty's verdeutlicht werden.
744 745 746
Vgl. Welsch (1987), S. 295. Welsch (1989), S. 236. Vgl. auch Welsch (1987), S. 325. Vgl. Welsch (1995), S. 944f.
4. Das autonome Vernunftsubjekt als Illusion
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cc) Autonomes Vernunftsubjekt oder Zufallsprodukt? Zum Widerstreit zweier grundlegender Optionen menschlicher Selbstbestimmung Die postmoderne Vernunftkritik hält generell die Idee des »Unbedingten« nicht bloß für entbehrlich, sondern für den Inbegriff jener »Einheitsobsession« traditioneller Vernunftkonzeptionen, die im Zuge eines der »Pluralität« verpflichteten Denkens zu überwinden sei. Das Vernunftprinzip des moralisch Unbedingten ist nach Kant für die Konstitution der Einheit der Person im Sinne des »Subjekts der Moralität« unerläßlich, doch ist dieser Einheitsaspekt, anders als die postmoderne Aversion gegen den Begriff der Einheit glauben machen will, nicht gleichbedeutend mit einer Nivellierung der vielfältigen Unterschiede zwischen den Individuen oder der Differenzen zwischen verschiedenen »Lebensformen«. Auch die mannigfachen Maximen, Tendenzen und Intentionen, die in der Psyche eines Individuums einander »widerstreiten«, sich überlagern oder auch ergänzen, werden durch den Vernunftbegriff der unbedingten Geltung des Moralgesetzes (als eines negativen Beurteilungskriteriums für die Tauglichkeit der Maximen zur Grundlage einer »allgemeinen Gesetzgebung«) nicht unterdrückt oder gar eingeebnet. 747 Im Gegenteil: Der Widerstreit der Maximen, Neigungen und Interessen ist auch für Kant ein Charakteristikum endlicher Vernunftwesen 748 , und Kant ist weit davon entfernt, ihn aufheben zu wollen. Das für endliche Vernunftwesen im Modus des Sollens auftretende Sittengesetz verbietet lediglich, im Falle der Kollision von Maximen bzw. Zwecksetzungen »bedingte«, beispielsweise auf »eigene Glückseligkeit« gerichtete Zwecke zum obersten Bestimmungsgrund der »Willkür« zu machen und diese so den zur Grundlage einer »allgemeinen Gesetzgebung« tauglichen Maximen vorzuziehen. Daß die Vielheit der Maximen, Interessen und Zwecke dadurch nicht angetastet wird, bedeutet freilich nicht, daß sich das auf die moralische Integrität bzw. »Einheit« der sittlichen Persönlichkeit abzielende Gesetz der praktischen Vernunft der Pluralität der individuellen Interessen und Lebensformen »anzupassen« hätte. Das moralische Gesetz ändert seinen Inhalt nicht in Abhängigkeit von »Situationen«. Eine solche, den mannigfachen »Realitätskonstellationen« angepaßte »Pluralisierung« des einen Moralgesetzes würde dessen Funktion, den obersten Maßstab für alle möglichen, moralisch qualifizierbaren Maximen zu formulieren, schlicht verfehlen. Das Vernunftprinzip des moralisch »Unbedingten« steht - in seiner Formulierung als kategorisch geltender »Imperativ« - vielmehr für die Selbsteinschätzung des Menschen als »moralische Persönlichkeit« und ist als solches schlechterdings nicht »plurali747 Zu diesem, lange vor der »Postmoderne« gegen Kant erhobenen Vorwurf schreibt A. Liebert (1931), S. 11: »Der Klageruf, daß ... die Vorliebe für das Gesetzlich-Normale die Anerkennung und die Geltung des Individuellen, des Persönlichen, des Lebendigen unterdrücke, hat in der Philosophie und Wissenschaft und für sie keinen rechten Sinn.« 748 Vgl. oben, Abschnitt II der vorliegenden Arbeit.
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III. Das autonome Vemunftsubjekt im Lichte der Kritik
sierbar«. Der normativ-praktische Aspekt des Prinzips des Unbedingten wäre negiert, der Charakter des Unbedingten als solchen aufgehoben, ließe es sich von der Vielheit des Bedingten, d. h. dessen, wofür es selbst un-bedingter Maßstab ist, bedingen. Eben dies aber wäre der Fall, wenn das »Subjekt« ohne Einheitsprinzip, bloß noch als >>unordentlich« strukturiertes Spiel seiner »Anteile« verstanden würde. Spiegeln sich, wie oben herausgestellt, zudem im »subjektlosen« Spiel der Subjektanteile die anonymen Strukturen und Prozesse im Sinne Foucaults wider, so kann - mit H. M. Baumgartner - gefragt werden: »Denn welche sittliche Bedeutung etwa soll angesichts der ... anonymen Prozesse, in denen Subjektivität marginalisiert oder gar zum Verschwinden gebracht wird, eigentlich unserem je individuellen, konkreten Handeln noch zukommen können, vor allem, wie soll es noch möglich sein, sich kritisch gegenüber dieser Anonymität zu artikulieren?«749 Die Preisgabe der Einheit des Subjekts entspricht einem Verzicht auf das Vernunftprinzip des Unbedingten als des einen und einzigen750 , selber nicht bedingten sittlichen Beurteilungsprinzips unserer Handlungsmaximen. Wenn die Postmodernisten die Struktur der klassischen, an Einheit, Zusammenhang und Kohärenz des Denkens ebenso wie an dem einen, unbedingt geltenden Gesetz des moralischen Handeins orientierten Vernunft aufbrechen, so läuft eine solche »Verflüssigung« der Vernunft im Grunde genommen auf ihre Eliminierung hinaus. Wollte man jedoch, ob eingestandenermaßen oder verdeckt, in allem Ernste von der Vernunft »loskommen«, dann müßte man, mit V Gerhardt gesprochen, »den Dingen ihren Lauf lassen und schweigen«751. Der Versuch, den Vernunftideen ihren Prinzipiencharakter abzusprechen, das Prinzip des Unbedingten theoretisch wie praktisch zu eliminieren und das Einheitsbestreben der Vernunft zu einer Wahnidee zu erklären, hat schon deshalb den völligen Verzicht auf autonome Selbstbestimmung des Menschen zur Konsequenz, weil mit der Auflösung der Grundstruktur der Vernunft auch deren normative Funktion für die autonome menschliche Selbstbestimmung »verabschiedet«752 wird. Das Geflecht von »Lebensformen« und »Realitätskonstellationen« enthält als solches keine normativen Leitprinzipien, von denen her der Anspruch des Menschen an sich selbst, sich als »Subjekt der Moralität« zu begreifen, verstehbar wäre. R. Rorty beispielsweise macht keinen Hehl aus
749 750
H. M. Baumgartner (1993), S. 14.
H. Nagl-Docekal (1988), S. 235f., hat zu Recht vermutet, daß sich z.B. Lyotards Aversion
gegen das »Allgemeine« und seine dementsprechende »Verdächtigung des Subjekts« im Grunde gegen »das praktische Subjekt Kants« richtet, d. h. auf das »durch den kategorischen Imperativ, als ein einziges Sittengesetz, bestimmte Subjekt zugeschnitten« ist. 751 V. Gerhardt (1990), S. 61. 752 Vgl. den von O. Marquard (1981b) vollzogenen »Abschied vom Prinzipiellen«. Marquard ist sich in dieser Hinsicht merkwürdig einig mit den von ihm ansonsten eher ironisierten Postmodernisten. Zur Postmoderne-Kritik vgl. Marquard (1986a).
4. Das autonome Vemunftsubjekt als Illusion
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seiner Ansicht, die normative, moralisch-praktische Funktion der Vernunft sei heute obsolet geworden. Er vertritt »den Standpunkt, daß die Vorstellung von einer zentralen, universalen Komponente des Menschen namens >VernunftMoral< selbst« sei »nicht mehr nützlich«755. Moralität sei nicht »die Stimme des gottgleichen Teils unserer Seele«, sondern »nur eines von vielen >Experimenten< der Natur«756. Die an den Begriff der »praktischen« Vernunft gekoppelte Kantische Vorstellung der Moralität als einer normativen Idee menschlicher Selbstbestimmung soll also nach Rorty der hier stellvertretend fiir die postmodernen Denker stehen mag - zum alten Eisen geworfen, die Akten menschlichen Bemühens um vernunftbestimmte moralische Autonomie endgültig geschlossen werden. Den Hintergrund fiir derlei vernunft- und moralitätskritische Überlegungen postmodernen Denkens bildet die auch in dieser Hinsicht an Nietzsehe orientierte Vorstellung, alles, wirklich alles, sei zufällig entstanden757 und sei als solches und nur als solches zu denken und zu bewerten. Das Generaldiktum der Kontingenz alles dessen, was ist, umfaßt in der Tradition Nietzsches selbstverständlich auch die Vernunft selbst. Lassen wir die vor einigen Jahren heftig gefiihrte Debatte über die sogenannte »Evolutionäre Erkenntnistheorie«, in der nicht zuletzt über Sinn und Unsinn des Gedankens einer zufälligen »Entstehung« bzw. »Entwicklung« der Vernunft gestritten wurde, einmal beiseite und betrachten bloß die Stoßrichtung der postmodernen Verwendung des Gedankens einer alles bestimmenden Kontingenz, so ist folgender Zusammenhang augenfällig: Die postmoderne Renaissance des Nietzeanischen Gedankens von der Alleinherrschaft des puren Zufalls versteht sich als Gegenposition zu traditionellen, »metaphysischen« Sinnstiftungsversuchen und Einheitsvorstellungen, in denen Begriffe wie Einheit, Vernunfteinheit, Einheit der Person, Autonomie,
R. Rorty (1992), S. 313; vgl. S. 84f. Rorty, a. a. 0., S. 84. 755 A. a. 0., S. 106. 756 A. a. 0., S. 108. Vgl. Rorty's freudianische Kantinterpretation a. a. 0., S. 63f., wo es u. a. heißt: »Kants Auffassung von Bewußtsein macht das Selbst zum Gott.« Vgl. auch a. a. 0., S. 71. 757 Vgl. a. a. 0., S. 50: Wir sollten versuchen, »an den Punkt zu kommen, wo wir nichts mehr verehren, nichts mehr wie eine Quasi-Gottheit behandeln, wo wir alles, unsere Sprache, unser Bewußtsein, unsere Gemeinschaft, als Produkte von Zeit und Zufall behandeln.« 753
754
300
III. Das autonome Vemunftsubjekt im Lichte der Kritik
Unbedingtheit, unbedingte Verpflichtung, Absolutheit usf., d. h. »feste«, essentielle Vorstellungen von Mensch und Welt für das menschliche Selbstverständnis als unverzichtbar galten. Das postmoderne Denken hält derlei Begrifflichkeiten, in denen stets die Idee eines unverrückbaren »Wesens« des Menschen bemüht wird, für überholt, teilweise auch für »totalitär« und »exklusiv«, jedenfalls für ungeeignet, ein für die Gegenwart zutreffendes Menschenbild zu zeichnen. 75 " Wie oben schon angedeutet, entspricht der Versuch, eine Wesensaussage über den Menschen zu treffen, insbesondere die für die abendländische »Metaphysik« charakteristische Bestimmung des Menschen als »anima I rationale«, einer Option, die der »wirklichkeitsnahen«, nichts als Kontingenzen akzeptierenden postmodernen Option schlechterdings widerstreitet. Folgt man dem »mainstream« postmodernen Denkens, so besitzt der Mensch keine objektive, »immanente Natur«759, kein ein für allemal festliegendes »Wesen«, sondern es gibt den Menschen, wie Rorty meint, lediglich »wie die Tiergattungen, die Resultate einer ganzen Reihe von Zufällen sind .... Von Kontingenz oder Zufälligkeit zu reden heißt nur, mit Nietzsche, Dewey und anderen Denkern nach Darwin zu sagen, daß wir Tiere sind, daß wir kluge Tiere sind. Was für Tiere gilt, gilt auch für uns.«760 Die postmodernen Anhänger der These einer schlechterdings unhintergehbaren Kontingenz, die, wie Rorty, »auf der schieren Kontingenz der individuellen Existenz insistieren«76I , einer Kontingenz, die unser Bewußtsein einschließf6Z, sind im Entwerfen einer Szenerie allumfassender Zufälligkeit vermutlich geprägt von der Überzeugung, daß sich die (aufklärerische) Idee der Vernunft, des autonomen »Selbst«, des »Subjekts der Moralität« auf Erden nicht hinreichend sichtbar durchgesetzt hat. Von dieser Enttäuschung bis zum Verdikt der Obsoletheit der Vernunft und des Selbst ist es nur ein kurzer Schritt: die mangelnde Durchsetzungskraft der Vernunft verführt zum Diktum der Alleinherrschaft des puren Zufalls. Diese Option aber besagt letztlich nichts anderes als das vollständige Illusionsverdikt gegenüber der »Vernunft« und dem »Subjekt« als Bestimmungsmomenten menschlichen Daseins. Wenn die» Wirklichkeit« ausschließlich von Zufällen geprägt ist und »wirklichkeitstranszendente« Kategorien bloßer Schein sind, bleibt für ideelle und normative, auf» Vernunft« zurückgehende Vorstellungen kein Raum mehr. Von der Kraftlosigkeit hehrer Ideen wie Vernunft, Subjekt, Autonomie etc. überzeugt, schließen postmoderne Denker wie Rorty auf deren illusionären Charakter und »verabschieden« sie zugunsten einer emphatischen, Nietzsche nachempfunde-
758 Nach M. Foucault (ODD), S. 412, kann man »alljenen, die noch fragen nach dem Menschen in seiner Essenz, ... nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen - das heißt: ein zum Teil schweigendes Lachen«. 759 Vgl. R. Rorty (1992), S. 23; S. 29. 760 R. Rorty (1994), S. 17f. Vgl. auch Rorty (1997). 761 Rorty (1992), S. 57. 762 Vgl. Rorty, a. a. 0., S. 51.
4. Das autonome Vemunftsubjekt als Illusion
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nen Affinnation der kontingenten, vernunftlosen »Wirklichkeit«. Die Erkenntnis, daß ein »Netzwerk von Kontingenzen«'63 uns in toto bestimme, führt nunmehr auch zu einem gegenüber der »metaphysischen« Tradition veränderten Begriff von Freiheit, d. h. zur »Freiheit als Erkenntnis der Kontingenz«'64, einer negativen Freiheit, die darin besteht, )>Uns von unseren )tiefen metaphysischen Bedürfnissen< zu heilen«'65. Denn auch solche Bedürfnisse sind letztlich kontingent, wie Rorty's »Ironikerin« weiß: »)Ironikerin< nenne ich eine Person, die der Tatsache ins Gesicht sieht, daß ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind - nenne ich jemanden, der so nominalistisch und historistisch ist, daß er die Vorstellung aufgegeben hat, jene zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse bezögen sich zurück auf eine Instanz jenseits des raum-zeitlichen Bereiches.«'66 »Eine Ironikerin ist ... Nominalistin und Historistin. Sie meint, nichts habe eine immanente Natur, eine reale Essenz.«'6' Die »Freiheit« des Menschen, die nach Rorty in der Erkenntnis und Affinnation der Kontingenz besteht, ist die Freiheit endlicher Wesen. Rorty kann »nichts mehr mit der Vorstellung anfangen ... , der Sinn des Lebens endlicher, sterblicher, zufällig existierender menschlicher Wesen leite sich von irgend etwas anderem ab als endlichen, sterblichen, zufällig existierenden Menschen.«'68 Er verwendet die Begriffe »Kontingenz« und »Endlichkeit« nahezu synonym, aber entscheidend ist für ihn allein der Charakter der Zufälligkeit alles Existierens. Die Kategorie des Zufalls wird, als der menschlichen Existenz einzig gerecht werdende, der - für Rorty religiös vorbelasteten - Kategorie der Notwendigkeit entgegengesetzt. Wenn »in einer Kultur ... die Erkenntnis der Kontingenz, nicht der Notwendigkeit, die allgemein akzeptierte Definition von Freiheit wäre«, gäbe es das »Pathos der Endlichkeit« nicht mehr.'69 Der Gedanke an Endlichkeit und Sterblichkeit macht für Rorty wenig Sinn, wenn er auf religiöse Dimensionen von Unendlichkeit770 und Unsterblichkeit hinaus763 A. a. 0., S. 66; vgl. a. a. 0., S. 80f. Rorty's »Netzwerk von Kontingenzen«, Foucaults »anonyme Strukturen« und Welschs »Lebensfonnen«, »Rationalitätsfelder« und »Rationalitätsparadigmen« haben gemeinsam, daß sie der vorgeblich illusionären Selbsteinschätzung des Menschen als autonomes Vernunftsubjekt voraufliegen. Die Strukturen werden, wie W. Schulz (1992), S. 269f., analysiert, »gleichsam als Quasisubjekt« eingesetzt. »Das Geschehen wird hier bestimmt von einem Subjekt, das alle Züge der Personenhaftigkeit abgelegt hat, so daß die Struktur als ein subjektlos gewordenes Subjekt zu bestimmen ist.« 764 Rorty, a. a. 0., S. 87. Vgl. a. a. 0., S. 56: »Die bedeutenden Philosophen unseres Jahrhunderts sind jene, die versuchen, den romantischen Dichtern zu folgen, indem sie mit Platon brechen und Freiheit als Erkennen der Kontingenz verstehen.« Vgl. auch a. a. 0., S. 79. 765 A. a. 0., S. 87. 766 A. a. 0., S. 14. 767 A. a. 0., S. 129. 768 A. a. 0., S. 86. 769 A. a. 0., S. 79. 770 Vgl. dazu auch M. Foucaults »Analytik der Endlichkeit« in 000, S. 377-384, bes. S. 382f., die »das Ende« der »Metaphysik des Unendlichen« bzw. deren Nutzlosigkeit offenbare.
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III. Das autonome Vernunftsubjekt im Lichte der Kritik
weist. Nach der »Entgötterung«771 der Welt in der von Rorty angestrebten »Kultur des Liberalismus« bleibt »keine Spur von Göttlichem, weder in Form einer vergöttlichten Welt noch eines vergöttlichten Selbst«772. In einer solchen »poetisierten« Kultur gibt es lediglich noch private »Formen des Umgangs mit der eigenen Endlichkeit«773, denn auch der eigene Tod ist ein kontingentes Ereignis, womit für Rorty alles über ihn gesagt ist. 774 Eine über die Anerkennung der Kontingenz hinausgehende Vorstellung eines »höheren« Zweckes menschlicher Existenz ist nach Nietzsches Diktum vom Tode Gottes für Rorty nicht mehr möglich: »Wenn wir mit Nietzsche sagen, daß Gott tot ist, heißt das, daß wir keinen höheren Zwecken dienen.«775 Solche »höheren«, religiös begründeten Zwecke traten traditionell mit dem Nimbus der »Notwendigkeit« auf, wofür in Rorty's durch und durch zufallsbestimmter Welt kein Platz ist. 776 Solche »Bastionen« der Notwendigkeit sind heute aufzugeben. 777 Zu sehr erinnern sie an vergangene religiös-metaphysische Kulturen778 , an »eine Ordnung jenseits von Zeit und Veränderung, die festsetzt, worauf es im Leben ankommt, und eine Hierarchie der Verpflichtungen einrichtet«779. Daß der kontingent existierende Mensch in seiner Endlichkeit nichts anderes als eben seine Kontingenz sehen sollte, läßt sich nach Rorty dadurch plausibel machen, daß unter dem Gedanken an den eigenen Tod traditionell der Tod eines Ich, eines Selbst, eines Vernunftsubjekts etc. verstanden wurde. Derlei Begriffe aber entstammen, ebenso wie die Vorstellung einer festliegenden, mit Notwendigkeit so und nicht anders zu bestimmenden »Natur« des Menschen, dem abgelebten »Notwendigkeits«-Vokabular des Platonismus, des Christentums oder der neuzeitlichen Metaphysik. Können wir aber heute mit Begriffen wie »Ich« oder »Subjekt« keinen Sinn mehr verbinden, dann ebensowenig mit dem Begriff »Tod« (des »Ich«): »Denn das Wort >ich< ist ebenso hohl wie das Wort >TodKrise des Ich< mit den herkömmlichen philosophischen Mitteln reflexiver Selbstvergewisserung zu lösen ... «107. W. Schulz meint, Plessners Begriff der »Exzentrizität« des Menschen sei »ein reines Selbstverhältnis und gar nicht äußerlich beschreibbar; die biologische Methode, die als solche nur organische Modale feststellen kann, ist hier überschritten« 108. Plessner selbst kommt, wiederum in einer gewissen Verwandtschaft zu Schulz' Begriff der »Zweideutigkeit«, zu folgendem Ergebnis seiner philosophisch-anthropologischen Studien: »Exponiertheit und beschränkte Weltoffenheit als Kennzeichen menschlicher Grundverfassung geben einer ambivalenten Lage Ausdruck, die bald in Überlegenheit, bald in Schwäche und Unsicherheit manifestiert wird.«109 Äußerst verkürzt wiedergegeben, besagt Plessners Theorem der »exzentrischen Positionalität« des Menschen folgendes: Während alles außermenschlich Lebendige von seinem »Zentrum« aus gegen seine Umgebung »positioniert«
103
H. Plessner (1981 a), S. 151.
104 Erstmals 1928 im Schlußkapitel >Die Sphäre des Menschen< von >Die Stufen des Organi-
schen und der Mensch16 und stellt seine oben zitierte Hoffnung, die »Schwebe« könne die eigentliche, uns heute noch offenstehende Möglichkeit der Selbstbestimmung sein, erneut in Frage. Wenn der »Schwebezustand« wie Schulz zunächst anzunehmen schien - mehr sein soll als die Einsicht in die Vergänglichkeit aller Versuche, der Subjektivität einen Halt zu geben, muß in ihm die Möglichkeit liegen, trotz der Vergänglichkeit aller auf Orientierung abzielenden Bemühungen eine spezifisch menschliche Weise der Bestimmung des Verhältnisses von Subjektivität und Welt zu formulieren. Denn anderenfalls wäre nicht einzusehen, warum Schulz zum einen überhaupt von der »Schwebe« spricht und nicht vielmehr die Vergänglichkeit umstands los als letzte Antwort auf die »große Frage«217 nach dem Verhältnis der Subjektivität zur Welt betrachtet, und warum er zum anderen überhaupt die Hoffnung hegt, die »Schwebe« könne als Bedingung einer positiven Selbstbestimmung des Menschen angesehen werden. Doch die »Schwebe« scheint nunmehr für Schulz keine Aussicht auf irgendeine Orientierung und Halt gebende letzte Antwort auf die »große Frage« des Menschen mehr zu bieten. Sie fuhrt - als Resultat einer philosophischen »Erkenntnis der Situation« - lediglich noch zur Haltung der »Gelassenheit«, d. h. zu einem Habitus, in dem der Fragende »auf letzte Antworten verzichtet«218. Nun werden letzte, »große« Fragen, wie natürlich auch Schulz weiß, nicht gestellt, um »gelassen« auf »letzte« Antworten zu verzichten. Es hat in jeder Epoche der Denkgeschichte »letzte« Antworten auf die großen Fragen gegeben 219 , und selbst wenn wir vergangene Antworten heute als unzulänglich einstufen und sie insofern ihres ehedem unterstellten Letztheitscharakters entkleiden, müssen auch unsere heutigen Antworten - sofern sie wirklich als Antworten auf die »großen Fragen« des Menschen gedacht sind - dem Anspruch nach »letzte« Antworten sein, d. h. sie müssen mit dem Anspruch auf Wahrheit auftreten. 220 Es kann strenggenommen fur das denkende Subjekt keine Haltung des »Verzichts« auf »letzte Antworten« geben221 , weil mit diesem Verzicht
216 Vgl. a. a. 0., S. 369: »Die Einsicht in die Negativität der Welt bleibt grundlegend.« Und Schulz beschließt sein Werk über die >Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter< nicht von ungefähr mit dem Schweitzer-Zitat: »Resignation ist die Halle, durch die wir in die Ethik eintreten.« 217 Vgl. oben, S. 339, Anm. 206. 218 Schulz (1992), S. 32. 219 Vgl. dazu beispielsweise H. Heimsoeth (1974). 220 Vgl. dazu H. Wagner (1992), S. 234: »Wahrheit und Erkenntnis und Wissen sind uns Menschen genau so weit möglich, als es uns - inmitten aller unserer Bedingtheiten und unserer Endlichkeit, und ihnen zum Trotz - gelingt, unser Meinen durch jenen Inbegriff von Erkenntnisprinzipien zu bestimmen, der mit dem spekulativ zu verstehenden Titel >Denken< bezeichnet sein soll. Denken aber, als Prinzip und als dieser Inbegriff von Erkenntnisprinzipien, ist in der Tat unbedingt, absolut.« 221 Wir können auf »metaphysische« Fragen und ihnen entsprechende Antworten ebensowenig »verzichten«, wie wir ihnen gleichgültig gegenüberstehen können. So schreibt I. Kant (KrY, A X):
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IV. Endlichkeit
zugleich auf jede Orientierung, auf jeden Halt »verzichtet« würde. Wenn die klassischen Antworten auf die »großen Fragen« heute zumeist unbefriedigend erscheinen und durch andere, »nachmetaphysische« Antworten ersetzt werden, so erheben diese neuen Antworten - ob eingestandenermaßen oder nicht ihrerseits den Anspruch auf Wahrheit und Gültigkeit, ganz gleich, ob sie aus der klassischen Perspektive betrachtet »bodenlos« oder »haltlos« erscheinen mögen. So stellt die Diagnose des »gebrochenen Weltbezuges« selbst eine Antwort auf die »große Frage« nach dem Bezug der Subjektivität zur Welt dar, und es hat den Anschein, daß diese Antwort für Schulz durchaus eine »letzte« ist. Aber Schulz bleibt auch hier skeptisch, d. h. er legt sich nicht auf das resignative Moment, das der Diagnose des »gebrochenen Weltbezuges« zweifellos anhaftet, fest: »Es ist aber dabei zu beachten, daß der gebrochene Weltbezug in sich selbst eine eigenständige Möglichkeit ist, die nur der Mensch verwirklichen kann.«222 Schulz' doppelte Optik, den »gebrochenen Weltbezug« einerseits resignativ, d. h. im Sinne verlorener »Sicherheit«, andererseits als »eigenständige«, nur dem Menschen offenstehende Möglichkeit zu betrachten, ist kein Zeichen mangelnder Konsequenz und schon gar nicht eine Marotte, sondern liegt in der Sache begründet. Sofern er die verlorene »Sicherheit« herausstellt, nimmt Schulz die - von Resignation durchwirkte - Perspektive des Menschen in der »metaphysischen Einsamkeit« ein, sofern er dagegen die »Ortlosigkeit« und »Gebrochenheit« als spezifisch menschliche Möglichkeiten positiv bewertet, trägt er dem »relativen Vorrang der Subjektivität« gegenüber der» Welt« Rechnung, d. h. er traut der Subjektivität gleichsam eine letzte, nach der Einsicht in die Illusion aller »stabilen« metaphysischen Vorgaben einzig noch mögliche Selbstverortung auf schwankendem Boden zu. Die »Schwebe«, so die Hoffnung, könnte sich als der dem Menschen adäquate Status erweisen. Eine solche Ortsbestimmung in der Ortlosigkeit erscheint zunächst jedoch bloß als Paradoxie. Daß sie darüber hinaus eine positiv zu bewertende, spezifisch menschliche Möglichkeit darstellen könnte, bleibt bislang bloße Hoffnung. Ebendeshalb mag sich Schulz nicht festlegen: die Resignation, in der das Bewußtsein des Verlustes »fester« Orientierungspunkte die Oberhand gewinnt, scheint ebensowenig eine »Möglichkeit« zu sein, mit der der Mensch leben kann, wie auf der anderen Seite die von bloß zaghafter Hoffnung begleitete Einsicht in den Zustand der »Schwebe«. Die Subjektivität läßt sich demnach nur bestimmen in dem asymmetrischen Verhältnis von Rationalität und Animalität, wie es in der »Epoche der Metaphysik« zwar durchaus thematisiert wurde, aber erst »nach-metaphysisch« aufgrund des Ernstnehmens der Animalitätskomponente des Menschen vollends zum Tragen kommen konnte. Danach kann sich endliche Subjektivität nur als auf »Welt« verwiesene und zugleich »welttrans»Es ist nämlich umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann.« 222 Schulz (1989), S. 25.
1. Endliche Subjektivität
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zendierende« Subjektivität verstehen. Der bloß »relative« Vorrang der Subjektivität gegenüber der »Welt«, der bei aller »Relativität« immerhin ein »Vorrang« ist, läßt jedoch schon von sich aus erkennen, warum der »gebrochene Weltbezug« durchaus positiv, als »eigenständige Möglichkeit« des Menschen eingeschätzt werden darf. Zwar sind die orientierenden Sinnentwürfe, deren der Mensch fähig ist, wirklich bloß »menschliche Produkte«, aber sie entspringen als Orientierungsversuche eines seiner Endlichkeit bewußten Vernunftwesens ja nicht der Endlichkeits- bzw. Naturkomponente des Menschen, sondern seiner Vemunft- bzw. Subjektivitätskomponente. In ihrem Anspruch auf Orientierungs- und Sinnstiftung »überschreiten« sie die Endlichkeitskomponente, ohne sie zu negieren oder zu überspringen. Sie sind tendenziell »unendlich« in dem Sinne, daß sie die vergängliche, endliche Welt der Natur auf Distanz halten, d. h. sie stehen in einem distanzierten und insofern »gebrochenen« Verhältnis zur Endlichkeit. Vom »relativen Vorrang der Subjektivität« läßt sich deshalb überhaupt nur reden unter Zugrundelegung eines »gebrochenen Weltbezuges« der Subjektivität. Denn ein »ungebrochener« Weltbezug wäre strenggenommen gar kein »Bezug«, d. h. es gäbe nicht die für jede Relation zur Welt notwendig zu denkende Weltdistanz. Diese Distanznahme aber ist nur einem »Subjekt« möglich, oder anders gesagt: durch diese Distanzierungsmöglichkeit ist das »Subjekt« geradezu definiert. Auf der anderen Seite wäre ein vollständiger Mangel an »Weltbezug«, d. h. ein suisuffizientes »Selbst«, zwar denkbar, aber für die AufgabensteIlung der menschlichen Selbstbestimmung irrelevant. Beide »Sicherheiten«, die des »subjektlosen« Weltstücks und die des gänzlich weltunabhängigen, »solipsistischen« Subjekts, sind dem Menschen verwehrt, und zudem kann sich der Mensch als zwischen Animalität und Rationalität eingespanntes »Zwischenwesen« auch gar nicht ernsthaft vorstellen, seinen Status als Zwischenwesen aufzugeben, weder in die Richtung der Subjekt- noch in die der Weltlosigkeit. So gesehen ist die »Subjektivität« in ihrem »gebrochenen Weltbezug« eine zutreffende Umschreibung der menschlichen Urkonstellation und als solche weder ein Grund zur Resignation oder Verzweiflung an den allzu beschränkten noch zur Euphorie über schier unbeschränkte, »absolute« Möglichkeiten. Das endliche Vernunftwesen ist nicht bloß natural bestimmt, aber auch nicht in einem »absoluten« Sinne frei. Ersteres wäre eine Unterbestimmung, letzteres eine hypertrophe Bestimmung des Menschen. Die »eigenständige Möglichkeit«, die dem Menschen aus seinem »gebrochenen Weltbezug« erwächst, besteht nach alledem - wie Schulz im Rückgriff auf Kant darlegt - in der Vernunftbestimmung, wobei Vernunft für Schulz jedoch »kein fester Inbegriff eindeutiger Wahrheiten«223 ist, sondern »ein offenes Vermögen«224, die »Möglichkeit ... , Ordnungen zu konstituieren, die nie endgültig
223
224
A. a. 0., S. 135. Ebd.
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IV. Endlichkeit
sind«225. Solche Ordnungen sind fiktiv, gelten im Modus eines Anspruchs und dürfen nicht mit vorgegebenen, gleichsam »natürlichen« Ordnungen verwechselt werden. Doch die endliche Subjektivität ist in ihrem »gebrochenen Weltbezug« auf die Konstitution derartiger orientierungsstiftender Ordnungen angewiesen. Daß diese Ordnungen »nie endgültig« sind, kann nicht bedeuten, daß sie nicht den Anspruch auf endlichkeitstranszendierende, »überzeitliche« Geltung erheben müßten. Der Mensch in seiner Vernunftdimension oder, mit Plessner gesprochen, in seinen »außerempirischen Dimensionen«, ist selbst »die >Stelle< des Hervorgangs aller überzeitlichen Systeme ... , aus denen seine Existenz Sinn empfangt«226. Solche Systeme sind Ordnungen der menschlichen, endlichen Vernunft, die das endliche Vernunftwesen »in Freiheit«, d. h. in Distanz zu seiner Endlichkeit entwirft. Für das Selbstverständnis des Menschen als eines endlichen Freiheitswesens sind derlei Ordnungen unverzichtbar, es sei denn, der Mensch begreife sich als bloßes Naturwesen und »verzichte« somit a limine auf seine Freiheits- und Vernunftbestimmung. Die Selbstinterpretation als Naturwesen aber kann wiederum nur von einem Wesen geleistet werden, das zumindest in der Lage ist, die Natur in und außer sich zum Gegenstand seiner Betrachtung zu machen, d. h. sich gedanklich von ihr zu distanzieren bzw. sich in ein Verhältnis zu ihr zu setzen. Ebendiese Fähigkeit sprechen wir gemeinhin einem (Vernunft-)Subjekt zu, so daß auch die Selbstdeutung des Menschen als »Naturwesen« nur unter Inanspruchnahme der Vernunft möglich ist. Sofern sich der Mensch überhaupt als Naturwesen, als Freiheitswesen oder als endliches, an die Natur gebundenes Freiheitswesen bestimmt, hat er den »Bruch« mit der Natur bereits vollzogen und die »Freiheit« zur Selbstdeutung schon in Anspruch genommen, d. h. er kann sich gar nicht ernsthaft als bloßes, jeder vernunftbestimmten Distanznahme zur Natur unfahiges Naturwesen betrachten. M.a.W.: Für jede Selbstbestimmung bzw. Selbstdeutung des Menschen wird die Vernunftdimension bereits in Anspruch genommen. Sie ist zugleich der nichtnatürliche oder »übernatürliche« Ursprung jener Ordnungsvorstellungen, deren der Mensch zu seiner Orientierung bedarf oder aus denen, wie Plessner formuliert hatte, »seine Existenz Sinn empfangt«. »Sinn«, »Orientierung« etc. sind praktische, d. h. Freiheitsbegriffe. Sie entstammen der »praktischen« Dimension der Vernunft, in der - wie Kant klargemacht hat - die Frage, ob »das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkender Ursachen nicht wiederum Natur sein möge«227, uns nichts angeht. Die inhaltlichen Ausgestaltungen und geschichtlich wandelbaren Konkretisierungen der orientierungsstiftenden Vernunftordnungen liegen freilich nicht apriori fest, aber das ändert nichts an ihrem empirieunabhängigen Charakter als Vernunftordnungen überhaupt. Der »gebrochene Weltbezug« als 225 226 227
Ebd.
H. Plessner (l98Ia), S. 148.
1. Kant: KrY, B 831.
2. Der Tod des Menschen
345
Bestimmung der menschlichen Grundsituation ist, wie oben angedeutet, selber eine solche vernunftbestimmte Aussage über den Menschen, die zum einen eine Orientierungsleistung darstellt und zum anderen den Anspruch empirieunabhängiger, »überzeitlicher« Geltung erheben muß, soll sie nicht vom Charakter bloßer Meinung sein. Sie nimmt die »Freiheit« der Distanzierung von der »Welt« in Anspruch. Das aber heißt, daß auch und gerade in der Rede vom »gebrochenen Weltbezug« an der Selbstbestimmung des Menschen als »endlichen Freiheitswesens« bzw. »endlicher Subjektivität« festgehalten werden muß. Es zeigt sich, daß unsere oben gestellte Frage, ob ein Ernstnehmen der Endlichkeitskomponente des Menschen notwendig einen »Verzicht« auf den Vernunft- bzw. Freiheitsanspruch nach sich ziehe, mit einem klaren Nein beantwortet werden muß. Die» Weltgebundenheit« bleibt zwar ein nicht aufhebbares Charakteristikum der »endlichen Subjektivität«, aber der Weltbezug der Subjektivität ist »gebrochen«, d. h. das Subjekt geht nicht ungebrochen in der Welt auf. Im Entwerfen vernunftbestimmter Ordnungen »überschreitet« es die Endlichkeit, an die es zugleich gebunden bleibt. Auch wenn die »Zweideutigkeit«, die »Schwebe«, die »exzentrische Positionalität«, die »Ortlosigkeit« des Menschen ebenso wie der »Zwiespalt« des animal rationale als zutreffende Umschreibungen der »Urkonstellation« des menschlichen Daseins gelten dürfen, so sind all diese »Strukturen des gebrochenen Weltbezuges«, um abschließend noch einmal W. Schulz zu Wort kommen zu lassen, letztlich doch »nur vom Todesbewußtsein her ganz zu entschlüsseln ... «228. Deshalb wenden wir uns im folgenden dem zweifellos gravierendsten Aspekt der »Endlichkeit« zu, dem »Tod des Menschen«.
2. Der Tod des Menschen a) Das Skandal on des Todes
Daß Vergänglichkeit und Tod die massivsten Formen aller unter dem Begriff der »Endlichkeit« zusammengefaßten Begrenzungen und Beschränkungen des menschlichen Daseins darstellen, ist in der Geschichte des abendländischen Denkens selten bestritten worden. Zwar läßt sich, wie E. Fink bemerkt, bereits das Faktum, daß >>Unsere Intelligenz mit Sinnlichkeit vermischt und bemengt ist, unsere Vernunft durch das sinnliche Vernehmen getrübt und verdunkelt
228 W. Schulz (1992), S. 131. Ganz ähnlich schreibt 1. Wunderli (1974), S. 170: »Eine merkwürdige Brüchigkeit durchzieht die ganze Natur und insbesondere unser eigenes Menschsein. Der biologische Tod ist nur der letzte und radikalste Ausdruck der grundsätzlichen Gebrochenheit.«
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IV. Endlichkeit
wird«229, als einschneidende Beschränkung unseres Selbstverständnisses als »Vernunftwesen« begreifen, aber die »Endlichkeit« hat gleichwohl »ihren schärfsten Ausdruck, ihren bittersten Geschmack im Tod«'30. »Die Todesgewißheit durchbebt unser gesamtes Verständnis von Sein, macht es brüchig und fragwürdig.«231 Wir erfahren, so M. Horkheimer, »Leid und Tod als Markierungen einer Grenze, als Zeichen unserer Beschränktheit«232, ja wir hegen angesichts des Todes Zweifel an der Sinnhaftigkeit unseres Daseins überhaupt. Denn, so M. Müller: »Wo kein Wirkliches mehr ist, kommt der Sinn micht mehr anwie behauptet sich die Sinn-Erfahrung gegenüber der erfahrenen Drohung der Wirklichkeitsvernichtung?«>unerträgliches Ärgernis« für den Menschen, das er »nur >verdrängen< ... , niemals aber wirklich akzeptieren«'37 kann, betrachtet wurde. Die dem Menschen im Gedanken an den Tod nachdrücklich E. Fink (1969), S. 30. Fink, a. a. 0., S. 208. 231 A. a. 0., S. 36. 232 M. Horkheimer (1970a), S. 71. 233 M. Müller (1971), S. l31. 234 M. Adler (1924), S. 260. 235 G. von Natzmer (1980), S. 83. 236 P. Kampits (1983), S. 351. 237 J. Amery (1981), S. 45. Amery fährt fort: »Den Tod in der ganzen Masse seines gewaltigen spezifischen Gewichts in das Ich aufnehmen hieße das Leben refiisieren.« (a. a. 0., S. 45f.). 229
230
2. Der Tod des Menschen
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vor Augen tretende Endlichkeit seines Daseins, das »malum metaphysicum«, gilt seit Leibniz als Grundübel der menschlichen Existenz, und dies nicht nur und nicht in erster Linie, weil es die Beschränkungen unseres Erkennens und Handeins bezeichnet, sondern primär deshalb, weil es das Endenmüssen unserer ganzen, auf »Sinn« ausgreifenden, personalen und zugleich naturgebundenen, zeitlich begrenzten Existenz ins Bewußtsein hebt. Das »malum morale« und das »malum physicum« können wir, wenigstens partiell, bekämpfen und lindern, das »malum metaphysicum«, das »Übel der Endlichkeit«, müssen wir dagegen hinnehmen. Schon dieser Unterschied verleiht der Rede vom Übel der Endlichkeit als »Grundübel« eine gewisse Plausibilität. Vor dem Hintergrund, daß das Problem des Todes der der Vernunftbestimmung opponierenden Endlichkeitsdimension menschlichen Daseins erst die letzten, schärfsten Konturen verleiht, sollen im folgenden nahezu ausschließlich die philosophischen Aspekte 2J8 des Todesproblems zur Sprache kommen. Denn die Spannung zwischen Vernunft und Endlichkeit ist eine genuin philosophische Thematik, zu der spezialwissenschaftliche Untersuchungen lediglich einzelne, materiale Beiträge liefern können. Auf soziologische239 , medizinische 240 , theo10gische241 und andere 242 Arbeiten zum Problem des Todes sei deshalb an dieser Stelle bloß verwiesen. Doch zeigen ethnologische, anthropologische, kulturund religionsgeschichtliche Studien zur Geschichte des Todesproblems, daß der Tod schon in den »Urformen des Totenglaubens«243, in frühen Mythen und Heldenepen 244 von zentraler Bedeutung für das menschliche Selbstverständnis war. Bei Homer haben, so W. Schapp, »die Sterblichen ihren Namen vom Tode ... «245, und nach 1. Ziegler markiert »das Bewußtsein von seinem eigenen Tod ... jene entscheidende Wende in der Menschheitsgeschichte, mit der im 238 Für einen Überblick vgl. 1. Choron (1967) und G. Scherer (1979) und (1985). Zum Todesproblem im Zusammenhang mit der Frage nach den ))Übeln« vgl. F. Billicsich (1952-1959) und c.-F. Geyer (1983). 239 Vgl. vor allem Ph. Aries (1980) und (1981) sowie Th.H. Macho (1987). 240 Aus der umfangreichen medizinischen Literatur zum Todesproblem sei nur auf das Buch )Wie wir sterben< des Chirurgen S. B. Nuland (1994) verwiesen. Der Autor hat neuerdings ein das menschliche Leben aus medizinischer Sicht erörterndes Werk () Wie wir lebenhinter< die Phänomene zurückzufragen, nach einer Tiefendimension im Seienden auszuspähen«, mag, so E. Fink, »viele Gründe« haben, - »ein Grund ist die Unmöglichkeit, mit dem Menschentod fertig zu werden, ihn als ein Phänomen wie vieles andere zu fassen«256. Die philosophischen Anstrengungen, die Erfahrung der Endlichkeit in ihrer massivsten Gestalt, dem Problem des Todes, reflexiv zu »bewältigen«, lassen sich angemessener nachvollziehen, wenn man das Faktum der Vergänglichkeit alles Lebendigen von dem Problem des Menschentodes unterscheidet. Die Trivialität, daß der Tod des Menschen ein bloßer Fall der Regel der Vergänglichkeit alles Lebendigen ist, trägt zur Beantwortung der spezifischen Frage nach dem Menschentod wenig bis nichts bei. Vollends problematisch wird der Versuch, durch die bloße Subsumtion des Menschentodes unter die Vergänglichkeit alles Lebendigen die Brisanz aus dem Problem des Todes herauszunehmen, wenn man innerhalb des Begriffs des Menschentodes noch einmal differenziert zwischen dem »Tod der Anderen« und dem »eigenen« Tod. Insbesondere das Problem des »eigenen« Todes, des Todes des Subjekts oder, verkürzt gesprochen, »meines Todes«257 ist aus philosophischer Perspektive ebenso relevant wie diffizil. Die Endlichkeit des Menschen als eines Vemunftwesens, um deren Verständnis es uns letztlich zu tun ist, kann jedenfalls ohne die Frage nach dem »eigenen Tod« bzw. des Bewußtseins oder Wissens des eigenen Todes nicht himeichend deutlich thematisiert werden. Dies gilt es im folgenden zu zeigen. Menschen sind, wie alle Naturwesen, gewordene Wesen. Die Einsicht, daß alles Gewordene auch wieder vergehen muß 258, d. h. der Aspekt der Vergänglichkeit alles zeitlich Existierenden, betrachtet den Menschen als bloßen Teil der Natur, als welcher er selbstverständlich auch unter deren Gesetzen steht. Doch das Bewußtsein der Vergänglichkeit alles Gewordenen, näherhin alles Lebendigen, eignet - soviel wir einsehen - nur selbstbewußtem Leben. Physikalische und biologische, »objektive« Betrachtungen des Werdens und Vergehens von Materie oder Organismen blenden als solche die Perspektive auf den Menschen als selbstbewußtes Leben bzw. auf die »Subjektivität als Selbstbezug«259 aus. Daß der Tod aus der Sicht der Biologie etwas »Natürliches«, ein >>unveräußerlicher Bestandteil der Naturordnung«26o ist, ändert nichts daran, daß K. Wuchterl (1982), S. 33. E. Fink (1969), S. 22f. 257 Dazu in der >Encyclopedia of Philosophy< ein eigener Artikel. Vgl. P. Edwards (1967). 258 Dazu gehören freilich auch anorganische Substanzen, deren »Vergehen« uns jedoch hier nicht primär interessiert. 259 Vgl. W. Schulz (1992), S. 143: »Der Tod wird objektiv betrachtet, die Subjektivität als Selbstbezug wird eingeebnet.« 260 B. Bavink (1947), S. 30. Bavink (ebd.) gibt das allbekannte und sicher zutreffende Argument 255
256
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IV. Endlichkeit
der Mensch seinen eigenen Tod nicht ausschließlich als »natürlich« und damit unproblematisch zu betrachten bereit ise 61 Das auf sich selbst und - unter anderem - auch auf die Vergänglichkeit aller gewordenen Dinge reflektierende Subjekt unterscheidet seinen Subjektcharakter und in der Folge seine »Individualität« von seiner Zugehörigkeit zur vergänglichen Gattung der Menschen. Erst aus dieser Perspektive, aus der die »natürliche«, »objektive« Betrachtungsweise der Naturwissenschaften als »distanziert«, d. h. als weitab vom menschlichen Selbstverständnis als selbstbezügliches Subjekt erscheint, kann das »Problem« des Todes und - a fortiori - des eigenen Todes entstehen. Die »subjektive« und die »objektive« Betrachtung des Todes lassen sich als zwei Ebenen des Vergänglichkeits- und Todesthemas verstehen, die nicht ineinanderlaufen sollten. Ein »harter« Naturalismus wird nur die »objektive« Betrachtungsweise akzeptieren und insofern auch jede Rede vom »Problem« des Todes zurückweisen. Er wird aber auch die Rede von »Vernunft« ebenso wie die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Endlichkeit nicht wirklich als »Problem« begreifen wollen. Deshalb würde eine Auseinandersetzung mit Vertretern des »harten Naturalismus« uns bei unserem Versuch, das problematische Verhältnis von Vernunft und Endlichkeit auch durch Einbezug des Todesproblems aufzuhellen, nicht weiterhelfen. Grund genug, hier auf eine solche Auseinandersetzung zu verzichten. Fern von aller Polemik gegen den Naturalismus dürfte einsichtig sein, daß der »objektive Standpunkt«, der den Tod des Menschen und auch »meinen« Tod als bloßes Naturereignis einstuft, ungeeignet ist, die Rede vom Tod als »Skandalon« zu konkretisieren. Für J. Amery ist der eigene Tod »niemals natürlich«26Z, vielmehr »erscheint manchmal die ganze Frage über Natürlichkeit oder Unnatürlichkeit des Todes als eine bloß semantische«263. »Mein Tod ist jenseits von Logik und Gewohnheitsdenken, für mich widernatürlich im höchsten Grade, ist vernunft- und lebensverletzend. Der Gedanke an ihn ist nicht auszuhalten.«264 Der »brutale Gewaltstreich des matürlichen< Todes«265 ist schwer zu kompensieren, so daß S. Freud vermutet, auch der »Glaube an die innere Gesetzmäßigkeit des Sterbens [sei] auch nur eine der Illusionen, die wir uns geschaffen haben, >Um die Schwere des Daseins zu von der Notwendigkeit des Generationenwechsels wieder: »Ohne den Tod der früheren Generationen hätten die folgenden keinen Platz zu ihrer Entfaltung und damit auch nicht zur Höherentwicklung der Arten gehabt.« 261 W. Kamlah (1976), S. 12, hat diese - im Grunde selbstverständliche - Weigerung des einzelnen Menschen, seinen eigenen Tod als bloßen Fall eines Naturgesetzes zu betrachten, noch einmal in Erinnerung gerufen: »Wer sich mit dem Tod eines geliebten Menschen, vor allem aber, wer sich mit seinem eigenen Tod konfrontiert sieht, dem hilft es gar nichts mehr zu wissen, daß der Tod des Individuums die Arterhaltung fOrdert.« 262 J. Amery (1981), S. 43. 263 Amery, ebd. 264 A. a. 0 ., S. 49. 265 M. Adler (1924), S. 258.
2. Der Tod des Menschen
351
ertragenDie Braut von MessinaKritik der reinen Vernunft< warnt. Vgl. I. Kant: KrY, A 341-405 bzw. B 399432. 272
273
2. Der Tod des Menschen
353
»Welt«. Mit seinem Verenden verginge demnach auch keine» Welt«, so daß das eigentliche Problem, wie es verstanden werden soll, daß zusammen mit »mir« auch »meine« Welt endet, in diesem Falle gar nicht bestünde. Die Rede von »meiner Welt«, die zugleich mit »meinem Tod« endet, hat nach alledem offensichtlich nur dann einen Sinn, wenn man die Bedingung des »Habens« (m)einer Welt, eine Bedingung, die wir jetzt abkürzend »Vernunft« nennen wollen und die als solche einen noumenalen, die Phainomena »überschreitenden« Charakter besitzt, so mit der endlich-zeitlichen» Welt« der Phänomene bzw. der» Welt« des Lebendigen zusammendenkt, daß eine - und sei es noch so problematische - »Einheit« von Vernunft und Endlichkeit vorstellbar wird. Denn - um das Problem zusammenzufassen - das »transzendentale« Subjekt als solches ist nicht in der Zeit und kann nicht »enden«, das »empirische« Subjekt aber wäre ohne seine Relation zum »transzendentalen« Subjekt ein endliches Phainomenon, nicht aber das Subjekt einer »Welt«. An der Einheit von Vernunft und Endlichkeit, wie sie versuchsweise im neuzeitlichen Begriff der »endlichen Subjektivität« gedacht wird, muß also festgehalten werden, wenn die zweifellos berechtigte Rede vom Tod des Menschen als »Skandalon« nachvollziehbar bleiben soll. Das Problem dieser Einheit aber ist das Problem des »animal rationale«, was hier am Beispiel der Frage nach dem »Tod« der »endlichen Subjektivität« nochmals deutlich wird. Die »Einheit« von Animalität und Rationalität zu denken ist, wie wir durchgehend zu zeigen versucht haben, eine schwierig zu denkende Einheit. Das Problem »meines« Todes, mit dem zugleich »meine« Welt endet, bestätigt diesen Befund. So müssen wir, was das Todesproblem betrifft, wohl- mit Th. Nagel- zugeben: »Mein Tod als Ereignis in der Welt ist leicht zu denken, das Ende meiner Welt dagegen nicht.«'" Die endliche Subjektivität »versteht« die Synthese von Rationalität und Animalität nicht, die sie nach ihrem Selbstverständnis doch »ist«. Das Verlöschen dieser Synthese im Tode »versteht« sie noch weniger. Daß Lebendiges als solches endet, verstehen wir hinlänglich, gehört es doch zum Begriff des Lebendigen, als Gewordenes auch irgendwann an sein Ende zu kommen. Aber daß wir als »Vernunftwesen« zugleich mit unserem körperlichen Substrat enden sollen, läßt sich mit Mitteln der Vernunft nicht einsehen, d. h. es läßt sich überhaupt nicht einsehen. Denn es soll gedacht werden, daß ein weltverstehendes und seiner selbst bewußtes Wesen aufhört zu sein, d. h. daß alle »Welten« und Verhältnisse, die das Ich vorstellt und wodurch es sich als »Vernunftwesen« versteht, annihiliert werden. Kurz: Das endliche Vernunftwesen soll seine eigene Aufhebung, sein Nichtsein als Vernunftwesen, denken. Was diesem Gedanken seine Brisanz verleiht, ist nicht zuletzt die Einsicht, daß mit dem Enden »meiner Welt«, d. h. meiner selbst als Vernunftwesens, gleichsam »jede« Welt zugrunde geht; denn das »Subjekt« stellt in einer unvermeidlichen Egoität 275
Th. Nagel (1992), S. 389.
354
IV: Endlichkeit
alle Bezüge zur »Welt« selbst her, d. h. es gibt für es als Subjekt im Grunde genommen keine »anderen« Welten als die »seine«. M.a.W.: Daß »die« Welt, »objektiv« oder »intersubjektiv« betrachtet, nach »meinem« Tode weiterbesteht, ist »subjektiv« betrachtet ohne Belang. Pointiert gesagt: Das Skandalon »meines« Todes besteht darin, daß »ich selbst« als der Fokus aller »meiner« Weltbezüge enden soll wie ein bloßes Weltstück, daß der Mensch als - soweit wir wissen - einziges weltverstehendes Wesen trotz dieser seiner einzigartigen Fähigkeit im Tode wieder auf einen bloßen, reflexionslosen Teil der Welt nivelliert werden soll. Wenn wir an dieser Stelle scheinbar umstandslos von »meinem Tod« zum »Tod des Menschen« übergegangen sind, so bedeutet dies, daß mit dem Problem »meines« Todes immer auch zugleich die Frage nach dem »Tod der endlichen Subjektivität« gestellt ist. Der Subjektcharakter, die »Subjektivität«, ist eine Vorstellung vom Menschen, die dieser sich selbst prädiziert, und zwar so, daß sie noch als Grundlage aller weiteren, z. B. »individuellen« Prädikationen gedacht werden muß. Als solcher endet der Subjektcharakter »des Menschen überhaupt« freilich nicht mit dem Tod eines menschlichen Individuums, aber das ändert nichts daran, daß jeder einzelne Mensch, der sich Subjektcharakter zuspricht, als einzelner eine Realisationsweise der Idee der Subjektivität überhaupt darstellt, zugleich aber im Tode zugrunde gehen soll. Die Idee der Subjektivität, die Idee der Vernunft, die Idee der Freiheit etc. sind als Ideen nicht »sterblich«, aber sie werden gedacht von sterblichen, endlichen Individuen, und - soweit wir wissen - nur von diesen. »Subjektivität«, »Vernunft« usw. sind nicht Attribute oder Sedimentierungsmodi eines» Weltgeistes«, sondern Ausdrücke der Selbstcharakteristik des endlichen und seinem Anspruch nach die Endlichkeit tendenziell transzendierenden Menschen. Daß diese Überschreitung der Endlichkeit im Tode des Einzelnen anscheinend wieder eingeholt wird, dies ist das Unverständliche und »Skandalöse« des Menschentodes. 276 Nach alledem ist es gewiß nachvollziehbar, wenn E. Fink schreibt: »Unser Denken versagt vor dem Sterben ... «277. Und: »Am meisten beirrt uns das Vergehen des seinsverstehenden Wesens selbst, - die Hinfälligkeit des Seinsverständnisses ist das Skandal on unserer Vernunft.«218 Auch ein Rückgriff auf die abendländische Denktradition hilft uns nach Fink nichts: »Das ausgearbeitete Seinsverständnis, die Metaphysik, kann den Tod nicht denken. Ihre Begriffe 216 Vor diesem Hintergrund ist es wohl zu verstehen, wenn W Schulz (1989), S. 271, schreibt, daß es im Gedanken an meinen Tod »um mich als ganzen Menschen geht, das heißt, daß das Ich selbst im ganzen auf dem Spiel steht. Es wäre völlig abwegig, dies Ich, um das es geht, auf den biologischen Lebenswillen zu reduzieren.« 211 E. Fink (1969), S. 26. Fink meint hier sogar, daß unser Denken »vor dem Enden von Lebendigem« überhaupt versagt. 218 Fink, a. a. 0., S. 89. Vgl. a. a. 0., S. 99: Es sei eine »Frage des Denkens: die Vernunft ist skandalisiert durch unsere Todgeweihtheit«. Für J. Amery (1969), S. 27, »hebt der Tod den Sinn jeglicher Vernunft auf«.
2. Der Tod des Menschen
355
versagen vor dem Nichts, kommen ihm nicht bei.«279 Was wir nicht verstehen, ist unser eigenes Nichtsein, besser: den Übergang vom Sein ins Nichts. H.-G. Gadamer gibt zu bedenken, ob es nicht hinsichtlich der Frage, was der Tod sei, »am Ende gerade für diese Frage zerstörerisch [ist], was am Ende für alle Fragen des Menschen gilt, daß sie nämlich auf die Lebensgewißheit des Menschen bezogen bleiben, und muß nicht der Todesgedanke einen letzten existentiellen Unernst behalten, weil er vom Lebendigen ertragen wird? Ein Todesgedanke, der mich weiterleben läßt, scheint nicht viel anders als und nicht wesentlich unterschieden von all den anderen Lebensträumen, die wir träumen und in denen wir befangen sind, solange wir leben. Es scheint hier eine sich ausschließende Abstoßung zu bestehen, die Tod und Gedanke auseinanderhält. Das Denken des Todes scheint ihn bereits in etwas, was er nicht ist, umzuwandeln.«280 »Wie soll ich das verstehen, daß ich, in dem jetzt in diesem Moment eine denkende Bewegung da ist, einmal nicht bin? So scheint das Denkend-Sein der Grund für die Unbegreiflichkeit des Todes zu sein und zugleich das Wissen um diese Unbegreiflichkeit zu enthalten.«281 Auch nach W. Kamlah bleibt es dabei, »daß wir den Tod nicht verstehen ... «282, und V E. Frankl hält den Glauben an ein Verstehen des Todes für Selbstbetrug: »Wer wirklich glaubt, er könne den Tod eines Menschen fassen, belügt irgendwie sich selbst; so letzten Endes unfaßlich ist das, was er meint und glauben machen will: daß ein personales Wesen einfach damit, daß der von ihm getragene Organismus zu einem Kadaver geworden, schlechterdings aus der Welt geschafft worden sei, also keinerlei Form von Sein mehr zugehöre.«283 So scheint »die Philosophie dem Tode gegenüber hilflos« zu sein, wie M. Müller gegen die platonische Vorstellung von der Philosophie als »!U;Ath"11 TOU {tavaTOlJ, von der Sorge geleitete Einübung in den Tod«284, einwendet. Und auch W. Schulz konstatiert: »Die Zeit der großen Metaphysik ist dahin, und das bedeutet: es ist erfordert, im Gegenzug zu den metaphysischen Ansätzen, den Tod ernst zu nehmen, und das heißt, die Vermittlung von Sein und Nichts, wie sie sich in der Metaphysik darstellt, auszuschließen. Die reflektierende Subjektivität weiß, daß der Tod den Gang in das Nichts bedeutet.«285 Doch genau dies, den »Gang in das Nichts«, verstehen wir nicht. Das Subjekt vermag seine unwiderrufliche Vernichtung nicht zu begrei279 E. Fink, a.a.O., S. 187. Für H.-G. Gadamer (1987), S. 165, stellt schon das Denken der Griechen »über das Allgemeine der Lebendigkeit, zu der das Totsein vielleicht wirklich als die andere Seite desselben gehört, das Wissen um das eigene Leben und den eigenen Tod, und es erscheint als Problem, daß für solches >gewußtes( Leben die andere Seite, das eigene Nichtsein, unfaßlich ist«. 280 H.-G. Gadamer (1987), S. 167. 281 Gadamer, a. a. 0., S. 171. 282 W Kamlah (1976), S. 25. 283 V E. Frankl (1980), S. 249. 284 M. Müller (1971), S. 153. 285 W Schulz (1992), S. 163.
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IV. Endlichkeit
fen. Zugespitzt fonnuliert: Wenn nur der Mensch fähig ist, den Tod, wie wir oben mit 1. Choron sagten286 , zu »entdecken«, dann geht mit dem Tod des Menschen auch die Vorstellung vom Tod überhaupt zugrunde. Mit dem Tod des Subjekts »vernichtet« sich jeder Begriff vom Tod. Der Tod als das Ende aller »Möglichkeiten« ist ein Gedanke, den exklusiv ein »endliches Subjekt« fassen kann. Es »gibt« den Tod nur rur die endliche Subjektivität. Aber zugleich vennag sie ihn nicht wirklich zu »fassen« oder zu »verstehen«. Dies ist eines der großen Paradoxa der endlichen Subjektivität. Es liegt begründet in der Urkonstellation des Menschen, dem Grundproblem des »anima I rationale«, sein »Selbst« im Spannungsverhältnis von Natur und Vernunft, Körper und Geist herausbilden zu müssen, ohne das »Eingelassensein« des Geistes in den Körper, seine »Verkörperung«, begreifen zu können. Mit dem Bewußtsein der »Verkörperung« aber hängt unser Vorauswissen vom eigenen Tod zusammen, mit diesem wiederum die Todesangst. Wir skizzieren deshalb im folgenden diesen Zusammenhang, um anschließend einige Versuche der »Bewältigung« der Todesangst sowie des Todesproblems überhaupt zu diskutieren. Auch wenn wir Probleme haben, die Verbindung von Geist und Körper, als welche sich der Mensch gemeinhin versteht, zu begreifen oder zu »erklären«, müssen wir der elementaren Tatsache Rechnung tragen, daß der Mensch ein physisches Lebewesen ist, einen Körper bzw. einen Leib »hat« und insofern, wie oben angedeutet, auch den natürlichen Gesetzen von Entstehen und Vergehen unterworfen ist. Ohne der naturalistischen Auffassung, aufgrund seiner organismischen Verfassung sei dem Menschen der Tod ein »natürliches« und insofern nicht weiter zu problematisierendes Ereignis, das Wort zu reden, darf, mit H. Plessner gesprochen, die» Verkörperung«, d. h. »die elementarste, gegen alle Deutungen invariante Daseinsweise«287 des Menschen auch und gerade in bezug auf das Todesproblem nicht übergangen werden. Denn das Bewußtsein der» Verkörperung« schließt die intuitive Gewißheit seiner Negation, des Bewußtseins der »Entkörperung«, von vornherein mit ein. »... Todeserfahrung und Lebenserfahrung bilden von allem Anfang an eine Einheit, weil in der Verkörperung die Entkörperung als ihr Gegenzug mit enthalten ist«, schreibt Plessner. 288 Die intuitive Gewißheit des Vergehens, die der Mensch freilich nicht nur in Hinsicht auf seinen eigenen Körper, sondern auch aus der Erfahrung des Verendens anderer Lebewesen gewinnt, die »Vertrautheit mit dem Negativen, die den Tieren fehlt, bildet ihrerseits die Grundlage rur die Todeserfahrung und die Sorge um das eigene Leben«289. Das auf der »Verkörperung« beruhende intuitive Vorauswissen
286 Vgl. oben, S. 348, Anm. 247. 287 H. Plessner (1983b), S. 209. 288 Plessner, a. a. 0., S. 210. 289 Plessner, ebd.
2. Der Tod des Menschen
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der »Entkörperung« ist das »Wissen«29o um den eigenen Tod. Es ist dem Menschen, der um seine »Verkörperung« weiß, vorbehalten. »Nur der Mensch weiß, daß er sterben wird.«291 Dieser aus der Denkgeschichte geläufige Topos292, der dem Menschen im Vergleich zu anderen Lebewesen ein Sonderwissen über sich selbst einräumt, beschert ihm jedoch damit zugleich auch Sonderprobleme, d. h. Probleme, die sich aus diesem Vorauswissen des eigenen Todes ergeben. Daß der Mensch vom Verenden alles Lebendigen, von, so H. Plessner, der »Faktizität des ausnahmslosen Sterbenmüssens« und mittelbar von seinem eigenen Tod weiß, »enthebt ihn der puren Endlichkeit, die ihm damit als Verhängnis, als ein in aller Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit wesenswidriges und zufallendes, zustoßendes Faktum zum Bewußtsein kommt. «293 Wenn »mit dem Wissen um das Sterbenmüssen eine Abspaltung oder Abhebung von der eigenen Endlichkeit gegeben ist«294, dann bedeutet dies zwar keine Aufhebung der Endlichkeit, »das heißt es bleibt bei der Endlichkeit des Menschen, aber als einem nur vom Organischen her zu rechtfertigenden und ihm, der darum weiß, verhängten Faktum. Dem Menschen ist der Tod nicht immanent wie Tieren und Pflanzen, sondern transgredient, ein ... ihm äußerliches und eindringendes Ingrediens seiner Menschenhaftigkeit.«295 Die Fähigkeit, seinen eigenen Tod vorauszuwissen, erhebt den Menschen über alle bloß endlichen, reflexionslosen Lebewesen, d. h. sie erhebt ihn über die Endlichkeit, aber um den Preis, einsehen zu müssen, daß auch er aufgrund seiner organismischen Verfaßtheit dem Tode nicht entrinnen kann. So ist der Mensch gezwungen, das Faktum des Todes in sein Selbstverständnis zu integrieren, was jedoch immer nur partiell gelingen kann. Der Gedanke an den Tod ist dem Menschen vertraut, muß ihm aber zugleich immer fremd bleiben. Denn die Fähigkeit, »meinen« Tod vorauszuwissen, endet, wie alle reflexiven Fähigkeiten des »Subjekts«, mit »meinem« Tod. Mit dem Verenden des menschlichen Organismus endet auch die Einheit von Natur und Vernunft, d. h. es endet die menschliche Existenz als ganze. Dieses Ende, das der Mensch, und nur er, vorausweiß, ist es, vor dem er sich ängstigt, d. h. die Todesangst ist die Angst vor dem Zerfall der 290 M. Scheler (1957), S. 22, spricht von der »intuitiven Todesgewißheit« des Menschen als Lebewesens, das den Lebensprozeß als einen auf das Ende hin »gerichteten« erfahrt und insofern ein »Wissen« von seinem Tod hat. 291 H. Plessner (I 983b), S. 209. 292 Als Beispiele mögen hier aus der frühen Neuzeit B. Pascal und aus der Gegenwart W. Kamlah genügen. Pascal (Pensees, fr. 128/347) schreibt: » ... so wäre der Mensch noch edler als das, was ihn tötet, denn er weiß, daß er stirbt ... «. Vgl. fr. 1/194: »Alles, was ich weiß, ist, daß ich bald sterben muß, aber was ich am wenigsten kenne, ist dieser Tod selbst, dem ich nicht entgehen kann.« Bei Kamlah (1976), S. 7, heißt es: »Denn der Mensch als das >Lebewesen, das Sprache hatfertigzuwerdenverstehenEntsetzens>>immanente< Auffassung des Todes« genannt hat, »in der die mechanistische Erklärungsweise ebenso verworfen wie andererseits strenge Zurückhaltung geübt wird gegenüber Lösungsversuchen, die von Glaubensnormen und Ewigkeitsgedanken bestimmt sind«302. Die Gegenwart ist, so W. Kamlah, von der »Vorherrschaft des katastrophischen Todesverständnisses«303 geprägt. Darunter versteht Kamlah die Auffassung, der Tod sei »eine Katastrophe, durch die ein Lebewesen, das eine Zeitlang gelebt hat, für alle Zukunft zu leben aufhört, und diese Katastrophe vernichtet irgendwann jedes Lebewesen, den Menschen nicht ausgenommen.«304 In unserem Zusammenhang interessiert daran nur der Aspekt, daß die Vorstellung von der Endgültigkeit des Todes für den Menschen eine »Katastrophe« darstellt. Dieses katastrophische Todesverständnis führt, so W. Schulz, zwangsläufig dazu, »daß sich das Leben als Sein in der Welt als ein fast absoluter Wert darstellt, verglichen mit dem Nichtsein ... «305. Das Leben ist sozusagen »die letzte Gelegenheit«306. Doch diese Hochschätzung des Lebens ist häufig an die Vorstellung des Lebens als Besitz307 gekoppelt. Wenn »das Leben als ein Besitz erlebt wird«, schreibt E. Fromm, »hat man nicht vor dem Sterben Angst, sondern davor, zu verlieren, was man hat: seinen Körper, sein Ego, seine Besitztümer und seine Identität, die Angst, in den Abgrund der Nichtidentität zu blicken, >verloren< zu sein.«308 W. Schulz faßt das »In-der-Welt-bleiben-wollen« nicht als Folge einer »Berechnung über den Wert des Lebens« auf, sondern »dies Bleibenwollen als Sich-haben-wollen ist ein Zeichen der Egoität. Ich bin mir selbst immer da als Zentrum, als das >Für mich>unbeirrbar uns auf die Zukunft ausrichten und an ihr uns orientieren«, so wissen wir doch nur zu gut, »daß das allein sichere Ende dieses Zukünftigen der eigene Tod ist. Daß wir es als Lebende überhaupt aushalten, mit dem Tod vor Augen zu existieren ... , mag damit zusammenhängen, daß wir jeweils in eine uns spannende Geschichte verstrickt sind, deren Ausgang wir nicht kennen.«3!3 Doch hält unser Interesse an diesen »spannenden Geschichten« aufgrund unseres Vorauswissens des eigenen Todes nicht unendlich lange an, weshalb das in der »Geschichte des Todes«3!" d. h. in der Geschichte der menschlichen Todesvorstellungen wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, aber dennoch regelmäßig auftauchende »Memento mori!« seinen guten Sinn behält. Wir sind nicht unsterblich, und wir sind, wie G. Abel in einer Montaigne-Interpretation schreibt, »keine Götter, und mit dieser simplen Einsicht Ernst zu machen, ist ein erster wichtiger Schritt in Richtung Weisheit«3!'. Zu dieser Weisheit gehört es auch, den Gedanken an den eigenen Tod nicht zu verdrängen oder zu überspielen, sondern ernst zu nehmen. Für den um das eigene Ende Wissenden ist es, so E. Fink, nicht mehr möglich, »sorglos dahinzuleben, in den Geschäften des Tages sich zu verlieren, wenn unaufhaltsam unsere Lebenszeit verrinnt - wie Sand im Stundenglase .... Wir wissen um
310 Vgl. dazu W. Kamlah (1949), S. 23: »)Im Grunde< ist jeder Einzelne als nur er selbst so besitzlos wie machtlos. In dieser ohnmächtigen Armut sind alle Standes- und Klassenunterschiede hinfällig.« 311 1. Wunderli (1976), S. 54. 312 M. de Montaigne (1980), S. 52. 313 H. Arendt (1985), S. 184. 314 Vgl. Ph. Aries (1980), passim. 315 G. Abel (1993), S. 18.
2. Der Tod des Menschen
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das Enden und die Endlichkeit unseres hinfälligen und gebrechlichen Seins. Wir wissen darum - und gleichwohl versagt sich das Gewußte einem wahrhaft begreifenden Begriff.«316 Die unreflektierte Ignoranz gegenüber dem eigenen Tod, die Max Scheler »den )metaphysischen Leichtsinn< des Menschen« nennt, die »Unheimliche Ruhe und )Fröhlichkeit< angesichts der Schwere und Evidenz des Todesgedankens«J17, vermag die durch das Todesbewußtsein verschärfte Frage des Menschen nach sich selbst, wie E. Fink sie gestellt hat, auf Dauer nicht zu unterdrücken: »Was ist der Mensch - der verstehend die Welt umfaßt, aber das Enden seines weltumfassenden Verstehens nicht versteht?«318 Das Sterblichkeitsbewußtsein nötigt der endlichen Subjektivität eine gedankliche Auseinandersetzung mit dieser Frage ab, auch wenn die Chance einer »endgültigen« Antwort eher gering oder gar unmöglich ist. Die Auseinandersetzungen mit dem Todesproblem, speziell mit dem Problem des eigenen Todes, haben in der Geschichte der Philosophie nicht selten den Charakter von Bewältigungsversuchen angenommen. Eine »Bewältigung« des Todesproblems kann in der Form versucht werden, daß den Menschen durch allerlei tiefsinnige Überlegungen die Todesangst genommen werden soll. Eine andere, die Grenzen der Philosophie überschreitende Weise der »Bewältigung« des Todes wird in den Religionen versucht. Die religiösen Antworten auf die Frage nach dem Tod haben zumeist eine Trostfunktion, die selbstverständlich von den Versuchen, den Menschen die Todesangst zu nehmen, nicht abgekoppelt werden kann. Und nicht zuletzt sind in der Menschheitsgeschichte immer wieder »Bewältigungen« versucht worden, die in irgendeiner Form den Tod positivieren, d. h. seine Unverzichtbarkeit für ein »menschliches« Leben aufzuzeigen beabsichtigen. Viele der Bewältigungsversuche wirken heute verstaubt und obsolet, einige - vornehmlich die religiös motivierten - entziehen sich ehedem wie heute der philosophischen Zugangsweise, teilen jedoch mit dieser zumeist die Einsicht in die Unumgänglichkeit einer Auseinandersetzung mit den »letzten Fragen« der menschlichen Existenz. Einige, meist gegenwärtige Ansätze haben die Intention aufgegeben, eine »Bewältigung« zu versuchen. Wir greifen aus dem Spektrum der Antworten auf die Frage nach dem Tod wenige, für unsere Absicht, anhand des Todesproblems die Unabweislichkeit einer Auseinandersetzung mit der »Endlichkeit« des menschlichen Daseins aufzuzeigen, besonders geeignet erscheinende heraus.
E. Fink (1969), S. 13f. M. Scheler (1957), S. 28. Schon M. de Montaigne (1980), S. 55, hatte Ähnliches zu bedenken gegeben: »Im lauten Jubel und in der stillen Freude, immer können wir einen Ton hören, der uns mahnt, was der Mensch ist; wenn wir noch so sehr genießen, immer einmal sollten wir dann doch daran denken, wie diese Fröhlichkeit rings vom Tod bedroht ist, wie leicht er da hineingreifen kann.« 318 E. Fink (1969), S. 199. 316 317
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IV. Endlichkeit
Die alte, schon Platons Verständnis von Philosophie als IlEAE1:l] 'tO'U 1'taveb:olJ leitende, im Spätmittelalter zur Grundstimmung der Menschen verdichtete Einsicht des »Media vita in morte sumus«, die Einsicht, daß der Tod das menschliche Leben durch seine allgegenwärtige Präsenz teils direkt, teils indirekt mitbestimmt, hat im Grunde alle Versuche einer »Bewältigung« des Todesproblems auf den Weg gebracht. Wenn es schon nicht möglich ist, sich der beispielsweise von Montaigne formulierten Wahrheit, daß der Tod »in unserem Leben immer gegenwärtig«319 ist, zu entziehen, dann sollte wenigstens versucht werden, dem Todesbewußtsein die Härte und Dringlichkeit zu nehmen. In diesem Zusammenhang allbekannte Versuche, durch besondere Akzentuierung der Freuden des Lebens etc. vom Todesproblem abzulenken, müssen hier nicht eigens diskutiert werden. Ein Versuch jedoch, der des Epikur, der bis heute eine nicht geringe Anhängerschaft besitzt, bestreitet, daß der Tod das Leben des Menschen von Anfang an zwangsläufig und nachhaltig bestimmt, ja überhaupt eine Bedrohung für den Menschen darstellt. Epikurs Ansicht über den Tod ist der wohl berühmteste Versuch, den Menschen die Todesangst zu nehmen. Er sei deshalb hier zitiert: »Gewöhne dich auch an den Gedanken, daß es mit dem Tode für uns nichts auf sich hat. Denn alles Gute und Schlimme beruht auf Empfindung; der Tod aber ist die Aufhebung der Empfindung. Daher macht die rechte Erkenntnis von der Bedeutungslosigkeit des Todes für uns die Sterblichkeit des Lebens erst zu einer Quelle der Lust, indem sie uns nicht eine endlose Zeit als künftige Fortsetzung in Aussicht stellt, sondern dem Verlangen nach Unsterblichkeit ein Ende macht. Denn das Leben hat für den nichts Schreckliches, der sich wirklich klar gemacht hat, daß in dem Nichtleben nichts Schreckliches liegt. Wer also sagt, er fürchte den Tod, nicht etwa weil er uns Schmerz bereiten wird, wenn er sich einstellt, sondern weil er uns jetzt schon Schmerz bereitet durch sein dereinstiges Kommen, der redet ins Blaue hinein. Denn was uns, wenn es sich wirklich einstellt, nicht stört, das kann uns, wenn man es erst erwartet, keinen anderen als nur einen eingebildeten Schmerz bereiten. Das angeblich schaurigste aller Übel also, der Tod, hat für uns keine Bedeutung; denn solange wir noch da sind, ist der Tod nicht da; stellt sich aber der Tod ein, so sind wir nicht mehr da. Er hat also weder für die Lebenden Bedeutung noch für die Abgeschiedenen, denn auf jene bezieht er sich nicht, diese aber sind nicht mehr da.«320 Wenn die Einsicht richtig ist, daß wir Lebenden uns des Gedankens an den Tod nicht entschlagen können, daß das Vorauswissen des eigenen Todes das Humanum wesentlich mitbestimmt, dann trifft Epikurs Bewältigungsversuch ins Leere. Wohl ist dem Argumentationsteil »Stellt sich aber der Tod ein, so sind wir nicht mehr da« zuzustimmen, doch 319 M. de Montaigne (1980), S. 372. 320 Epikur: Brief an Menoikeus, zit. nach Diogenes Laertius (1967), S. 281. (X. Buch, S. 124-
125). Eine ähnliche Argumentation findet sich bei T. Lucretius Carus: De rerum natura; Buch III, Zeile 847-856.
2. Der Tod des Menschen
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mit dem Argumentationsteil »Solange wir noch da sind, ist der Tod nicht da« läßt sich das Vorauswissen, das der Mensch von seinem Tod hat, nicht eliminieren. Gerade dies aber, gleichsam das Hineinragen des Todes in unser bewußtes Leben durch das» Vorauswissen«, bestimmt den Menschen nachhaltig, es sei denn er konstruiere sich mühsam eine Haltung der Verdrängung oder der Indifferenz zusammen, die es ihm - aber ganz sicher auch bloß zeitweise - erlaubt, sich den Gedanken an den Tod zu versagen. 1. Amery hat Epikurs Versuch, das Todesproblem zu bewältigen, hart, aber zutreffend kritisiert: »Mein Tod, eine Scheinfrage: solange ich bin, ist er nicht, und wenn er ist, bin ich nicht mehr. Das wissen wir seit der Antike und es war solches Wissen noch niemals jemandem zu etwas nütze, ist für jedermann, dem der Tod sich nähert, nur ein abgeschmackter Witz.«321 W. Kamlah nennt Epikurs Argumentation ein »Todessophisma«, ein »Musterbeispiel des Hervorgangs törichten Scharfsinns aus einem Körnchen Wahrheit. Der Tod geht uns nämlich durchaus an, lebenslang, sofern wir lebenslang auf ihn zugehen, sofern wir als sprechende, vorauswissende Lebewesen wissen, daß er unaufhaltsam und am Ende übermächtig auf uns zukommt.«322 Auf die Weise Epikurs läßt sich das Todesproblem also wohl nicht aus dem Fragehorizont der Philosophie hinauseskamotieren. Der Gedanke an den eigenen Tod bildet vielmehr einen integrierenden - oder, je nach Perspektive, desintegrierenden - Bestandteil der Reflexion auf Einheit und »Sinn« menschlichen Lebens. Nun ist der Tod, wie Montaigne in einer gewissen Affinität zu Epikur bemerkt, »wohl das Ende, aber nicht das Ziel des Lebens. Das Leben muß seinen Augenpunkt, seinen Sinn in sich selbst haben ... «323. Doch läßt sich der »Sinn« des Lebens unter Ausblendung des Todesproblems wirklich bestimmen?324 Besonnener erscheint der Vorschlag Ph. Merlans, »Sterblichkeit als eine qualitative Bestimmung des menschlichen Lebens nachzuweisen. Sterblich sind wir schon bevor wir gestorben sind; nicht erst der Tod ist es, der unsere Sterblichkeit beweist«325. Der Gedanke an den eigenen Tod, so unausdenkbar das Enden unseres Denkens einschließlich des Denkens an den eigenen Tod auch sein mag, behält etwas Bedrückendes und stellt insofern auch nach Epikur und Montaigne eine Bewältigungsaufgabe dar.
1. Amery (1969), S. 115. W. Kamlah (1976), S. 25. 323 M. de Montaigne (1980), S. 355. 324 Montaignes Absicht (1980), S. 354, war es, derjenigen Epikurs nicht unähnlich, den Menschen die Todesangst zu nehmen: »Wir bringen Unruhe in unser Leben durch die Sorge um den Tod, und in unser Sterben durch die Sorge um das Leben; dadurch wird uns das Leben zuwider und der Tod zum Schrecken.« 325 Ph. Merlan (1964), S. 228. Zur Subjektivität gehört das Mitreflektieren der eigenen Sterblichkeit, was freilich nicht besagt, die leitenden Gestaltungsprinzipien unseres Lebens müßten sich am Tod als Telos orientieren. Wir kommen auf die Vorstellung vom Tod als »Vollendung« unseres Lebens noch zu sprechen. 321
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IV. Endlichkeit
Doch kann es heute, nach dem Ende der großen, »metaphysischen« Daseinsdeutungen überhaupt noch eine »Bewältigung« des Todesproblems geben? Nach W. Schulz sind alle Bewältigungsansinnen aussichtslos, d. h. »es gibt keine Möglichkeit, den Tod zu bewältigen, er bewältigt mich«326. Schulz zielt hier auf die Unwiderruflichkeit und Unausweichlichkeit des eigenen Todes, an der keine gedankliche Verarbeitung, keine »Bewältigung« etwas zu ändern vermag. Nun haben die im weiteren Sinne religiösen Welt- und Menschheitsdeutungen der Tradition zumeist genau das, was den Grund für die Unmöglichkeit einer »Bewältigung« des Todes darstellt, bestritten: die Endgültigkeit des Todes. Die großen Daseinsdeutungen, schreibt G. v. Natzmer, »wollen Tod und Vergänglichkeit den Stachel nehmen, indem sie dieses eine Leben in einem weiter gespannten Zusammenhang begreifen«327. In religiös inspirierten Weltdeutungen, in denen die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode die Grundlage bildet für die »Bewältigung« des Todesproblems, wird der Tod, abgekürzt gesprochen, als Wandel, nicht als Ende der personhaften Existenz betrachtet. Solchen Deutungen ist hier nicht im Detail nachzugehen. 328 Doch haben religiöse Motive bis in die Gegenwart hinein auch in philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Skandal on des Todes ihren Niederschlag gefunden. Mit der Hoffnung auf eine personale Fortexistenz nach dem Tode verbindet sich bei religiös inspirierten Denkern häufig der Gedanke der» Vollendung«329 des irdischen Lebens durch den Tod, d. h. der Besiegelung eines auf ewig bewahrenswerten, einzigartigen Menschenlebens. Dahinter steht die Überlegung, daß ein geglücktes, im »rechten Augenblick« beendetes, »ganzes« Leben in seiner Einmaligkeit einen »absoluten« und deshalb »in alle Ewigkeit« unzerstörbaren Wert besitzt. Ohne die Überzeugung, daß sich in dem durch den Tod »vollendeten« Leben gleichsam eine Spur des Göttlichen findet, ein Moment des »Ewigen im letzt«330, welches das Zeitlich-Endliche immer schon überschwingt und die irdische Existenz des Menschen in die göttliche Ewigkeit integriert, wäre die Vorstellung vom Tode als »Vollendung« schwer nachvollziehbar. Sie hat jedoch - zumindest indirekt - eine ganze Reihe von eher »säkularen« Denkern bei ihren Versuchen einer »Bewältigung« des Todes beeinflußt. Das christliche Gedankengut ist häufig entweder unverkürzt präsent, d. h. vor allem die Vorstellung des Fortlebens der »Person« über den Tod hinaus wird kritisch gegen das Diktum von der Endgültigkeit des Todes eingebracht, oder aber der Gedanke der »Einmaligkeit« des Menschenlebens wird - bewußt oder
W. Schulz (1992), S. 167. G. von Natzmer (1980), S. 84. 328 Zu einigen Aspekten religiös inspirierter Deutungen des menschlichen Todes vgl. unten, Abschnitt ry.2.c) der vorliegenden Arbeit. 329 Vgl. z. B. 1. B. Lotz: )Tod als Vollendung< (1976). 330 Vgl. P. Tillich (1964). Zum hier angesprochenen Gesamtzusammenhang vgl. oben, Abschnitt 1.3. der vorliegenden Arbeit. 326 327
2. Der Tod des Menschen
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unbewußt - aus seinem christlichen Kontext herausgelöst und dient in verselbständigter Form zur »Bewältigung« des Todesproblems. Zur ersten Gruppe zählt beispielsweise 1. B. Lotz, für den der Mensch im Tode »seine irdische Leibesgestalt wie ein Gewand, über das er hinausgewachsen ist, und damit die ganze Welt samt der ihr eigenen Raum-Zeit-Struktur hinter sich zurück«33l läßt. 1. Wunderli ist zuversichtlich, daß das »Sterben im >Kairos(332, im richtigen Augenblick«, ein Sterben ist, »welches zur sinnvollen Krönung unseres Lebens werden kann«333. Der Tod ist »nicht nur der große Zerstörer, sondern der große Umwandler - das ist unsere Hoffnung, vielleicht unsere Gewißheit«33'. Für Max Scheler ist »jeder Tod ... im Menschen Fortwirken seiner Geistperson in Gott«335. »Die Teilhabe an Gott qua Geist ist nicht abhängig von Leben und Tod.«336 Und B. Casper schließlich, dessen Denken ebenfalls in der christlichen Tradition verwurzelt ist, stellt die »Einmaligkeit« des durch den Tod besiegelten menschlichen Lebens heraus: »Der innere Aspekt des menschlichen Todes ist aber gerade der, daß ein Menschenleben in seiner Einmaligkeit und Endlichkeit im Tode endgültig wird; ewig gültig.«337 Die der anderen, eher »weltlich« orientierten Gruppe zuzurechnenden Denker bedienen sich dieses Gedankens der durch den Tod besiegelten ewigen Gültigkeit des individuellen Lebens in seiner Einmaligkeit und akzentuieren die Unaufhebbarkeit und Bewahrungswürdigkeit des »gelebten Lebens«, ohne die christliche Vorstellung eines »Fortlebens« zu bemühen. »Der Tod«, schreibt 1. Ziegler, » ... verleiht jeder meiner Handlungen eine unvergleichbare Würde und jedem Augenblick seine Einmaligkeit. Er hebt mich aus der verrinnenden Zeit hervor. Ohne ihn wäre ich - im präzisen Sinn des Wortes - niemand.«338 Die Vorstellung der »Einmaligkeit« der Handlungen
33l 1. B. Lotz (1981), S. 102. 332 Dem auf frühgriechische Dichter wie Hesiod zurückgehenden Begriff xmQ6~ (rechtes Maß;
rechte, günstige Zeit; entscheidender Augenblick) hat außerhalb der Theologie vor allem Max Müller besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Vgl. z. B. M. Müller (1967) und (1971). Den »Augenblick« als etwas »Kostbares« hat R. Spaemann (1982), S. 32, treffend geschildert: »Der Augenblick gewinnt ja seine Kostbarkeit dadurch, daß er als dieser Augenblick im Leben nie wiederkehrt. In einem endlosen Leben gäbe es nichts Kostbares. So ergibt sich die paradoxe Sachlage: Ohne Sorge um das vom Ende bedrohte Leben gibt es kein erfülltes Dasein.« In ähnlicher Weise hat R. Marten (1987), S. 10, den eigenen Tod als etwas »Kostbares« gewertet: Menschen tun »gut daran, im eigenen Tod etwas von unschätzbarem Wert und außerordentlich Kostbares zu erkennen. Gäbe es dies Vertrauteste und Geheimste des Lebens nicht, dann fehlte ihm ein unersetzbarer verläßlicher Halt; es geriete außer sich: aus seiner Bahn; es verlöre sich.« 3331. Wunderli (1974), S. 123. 334 1. Wunderli (1976), S. 141. 335 M. Scheler (1987), S. 332. Dahinter steht bei Scheler der spekulative Gedanke, der Mensch als Person sei »ein dauerndes und über ihr Leben fortdauerndes Vehikel der göttlichen Selbsterlösung, ein in Gott Fortwirkendes und Fortdauerndes« (a.a. 0., S. 331). 336 Scheler, a. a. 0., S. 332. 337 B. Casper (1981), S. 65. 338 1. Ziegler (1977), S. 12.
IV. Endlichkeit
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emes menschlichen Individuums lebt von der Idee der Unwiederholbarkeit emes einzelnen Menschenlebens. Das Unwiederholbare besitzt als solches den Charakter der Einzigartigkeit. Das Einzigartige aber ist unvergleichlich und unersetzlich und gilt deshalb als wert- und sinnvoll. »Jedes wahre Einzelleben ... «, schreibt Jacob Burckhardt, »darf als schlechthin unersetzlich gelten, sogar als nicht ersetzlich durch ein anderes ebenso treffiiches.«339 Trotz dieser durch den Tod ennöglichten Einschätzung des individuellen, personal bestimmten Menschenlebens als wert- und sinnvoll, weil »einzigartig«, bleibt der »eigene« Tod ein Skandalon. Denn der Verstorbene, so ahnt der Lebende, blickt nicht auf ein »vollendetes« und »einzigartiges« Leben zurück, sondern er ist, wie E. Fink bemerkt, »voll-endetfertigunsterblich< ist, doch ein paar hundert Jahre bedeuten noch nicht Unsterblichkeit.«
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IV: Endlichkeit
nicht ernst genug nehmen. Kategorisch fonnuliert H. Blumenberg: »Niemand läßt sich darüber trösten, daß er sterben muß. Alle Argumente sind schlecht bis lächerlich, die dafür Trost- und Tröstungsfähigkeit unterstellen.«342 »Knappheit und Tod sind die Urerfahrungen«343 des Menschen, die ihn zu einem »absolut« trostbedürftigen344 Wesen machen und dennoch keinen Trost zulassen. Das Bewußtsein der »Grenze der Lebenszeit, und damit der konstitutive Zeitmangel des Organismus Mensch«345 bleibt das nicht aufhebbare, nicht zu »bewältigende« Skandalon der menschlichen Existenz, über das sich der Einzelne schlechterdings nicht hinwegzutrösten vennag. Das »Ärgernis« des eigenen Todes besteht nach Blumenberg für den Menschen näherhin darin, »daß die Welt über die Grenzen seiner Lebenszeit hinweg unberührt fortbesteht«346. Die »Zeitschere«34", das »Auseinanderklaffen von Weltzeit und Lebenszeit«348, aber auch die »Disproportion zwischen dem Zeitquantum der Menschengeschichte und dem der Weltgeschichte«34\ »das Bewußtsein der menschlichen Episodizität«350, erscheinen uns unerträglich und lassen den - von Blumenberg als »absoluten Narzißmus«351 charakterisierten - Wunsch aufkommen, »Lebenszeit und Weltzeit sollten koinzidieren«352. Da es diesen Zusammenfall jedoch nicht gibt, kann der narzißtische Wunsch des Menschen nicht in Erfüllung gehen. Solange es Menschen geben wird, solange wird auch die Crux fortbestehen, »daß ein Wesen mit endlicher Lebenszeit unendliche Wünsche hat. Es lebt in einer Welt, die keine Grenzen des ihm Möglichen vorzuzeichnen scheint, ausgenommen die eine, daß er sterben muß«353. Das Wissen um den eigenen Tod, die Erfahrung »konstitutiven Zeitmangels«354 und das »Ärgernis« der »Zeitschere« beschreiben die Ohnmacht und Tröstungsunfähigkeit des endlichen Vernunftwesens, das als Vernunftwesen »unendliche Wünsche« hat, aber als endliches Vernunftwesen um die durch die Kürze der Lebenszeit bedingte Unerfüllbarkeit dieser Wünsche weiß. Doch so eindringlich Blumenbergs Darstellung der Disproportion zwischen Lebenszeit und Weltzeit auch ist, besteht das eigentliche Skandalon des »eigenen Todes« wohl weniger in dieser »Zeitschere« als in der oben diskutierten H. Blumenberg (1987), S. 153. H. Blumenberg (1986), S. 37. 344 Vgl. Blumenberg (1987), S. 153. 345 Blumenberg (1986), S. 269. 346 Blumenberg, a. a. 0., S. 78. 347 Vgl. Blumenberg, a. a. 0., Zweiter Teil: >Öffnung der Zeitscherec 348 A. a. 0 ., S. 73. 349 A. a. 0., S. 370. 350 Ebd. 351 A. a. 0., S. 80. 352 A. a. 0., S. 79. 353 A. a. 0., S. 71f. 354 Vgl. dazu Blumenberg, a. a. 0., S. 72: »Das Paradies hatte Paradies sein können, so paradiesisch, wie man es ihm zutrauen möchte, weil dort kein Mangel an Zeit war.« 342 343
2. Der Tod des Menschen
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Unmöglichkeit, sich den mit dem Eintritt des Todes zu denkenden Übergang der endlichen Subjektivität vom »Sein« ins »Nichts« vorzustellen. Th. Nagel hat auf dieses Skandal on im Zusammenhang einer Erörterung von Problemen, die den Blumenbergsehen sehr ähnlich sind, aufmerksam gemacht: »Wir sind so sehr an ein paralleles Voranschreiten der subjektiven und der objektiven Zeit gewöhnt, daß uns davor graut, uns vor Augen zu führen, daß die Welt auch nach unserer Auslöschung gemächlich ihren Fortgang nehmen wird. Hierin liegt die äußerste Form des Preisgegebenseins.«355 Doch Nagel ergänzt, daß es eine »Erwartung des Nichts« gibt, »ein ganz unverwechselbares Erlebnis, das uns ständig alarmiert und nicht selten beängstigt und das sich grundlegend von der gewöhnlichen Erkenntnis unterscheidet, daß unser Leben nur eine begrenzte Zeitspanne dauern wird ... «356. Und schließlich: »Es ist meine eigene Aussicht auf das künftige Nichts selbst, die verstanden werden muß, und nicht der Gedanke, daß die Welt auch ohne mich ihren Fortgang nehmen wird.«357 Diese »Aussicht auf das künftige Nichts«, m.a.w.: das Nichtsein meiner selbst als denkender, fühlender und wollender endlicher Subjektivität vermag der Mensch eben nicht zu verstehen. Nach wie vor, d. h. auch nach Durchgang durch die verschiedenen Aspekte des Todesproblems einschließlich der Versuche zu seiner »Bewältigung«, besteht das eigentliche Skandalon, das »Grundübel« des Todes in der Unfähigkeit der endlichen Subjektivität, ihr eigenes Nichtsein zu »verstehen«. Der Tod ist, wie W. Kamlah schreibt, keine »Handlung, deren Sinn, deren Zweck wir verstehen könnten ... , sondern pures Widerfahrnis«358. Er kommt, so K. Wuchterl, »von allein, ungerufen, meist gegen unsere Absicht und in diesem Sinne zufällig oder >kontingentSein und Zeit< von 1927, aber auch in seiner Spätphilosophie vorliegen, operieren mit einem sehr eigenwilligen Begriff des Todes, komplementär zu Heideggers nicht minder eigenwilligem Begriff vom Menschen. Es geht bei Heidegger, um es vorweg zu sagen, nicht um den Tod jenes Kompositums aus »animalitas« und »rationalitas«, als welches die abendländische Denkgeschichte, die Metaphysik von Platon bis Hegel, den Menschen im wesentlichen bestimmt hatte. Das ist fiir sich genommen keineswegs überraschend, sieht Heidegger doch, wie oben gezeigt170, in der Vernunftbestimmung des Menschen das hervorstechende Merkmal der »Metaphysik« als der zu »verwindenden« Epoche der »Seinsgeschichte«. Und gänzlich irrelevant ist fiir Heideggers »Fundamentalontologie« die »animalitas« als die naturale Komponente des Menschen. Sind demnach zum einen fiir Heidegger Vernunft und Natur nicht die wesentlichen Konstituentien des Menschen, und haben wir zum anderen bisher die Paradoxie und das Skandal on des menschlichen Todes anhand des Spannungsverhältnisses ebendieser beiden Komponenten aufzuzeigen versucht, so darf vermutet werden, daß von Heidegger kein weiterfiihrender Gedanke zu unserem Grundproblem zu erwarten ist. Daß wir dennoch einen Blick auf Heideggers Todesanalyse werfen)7!, sei dadurch begründet, daß das wohl schwärzeste und trostloseste Bild vom Menschen, das ein Denker des 20. Jahrhunderts gezeichnet hat, im Rahmen einer Darstellung der Endlichkeit des Menschen nicht unerwähnt bleiben darf. Überdies zeigt sich die Unverzichtbarkeit der traditionellen Grundbestimmung des »animal rationale« besonders deutlich in der Diskussion eines Ansatzes, der die Urkonstellation des Menschen durch ein anderes, vorgeblich fundamentaleres Verständnis des »Daseins« glaubt ersetzen zu müssen. J72 Die Seinsweise des menschlichen »Daseins« ist fiir Heidegger zu kennzeichnen durch die Grunderfahrungen der »Geworfenheit«, der »Endlichkeit« (Zeitlichkeit), der »Sorge«, der »Angst«, des »Seins-zum-Tode« und des »Nichts«. Bereits eine solche telegrammstilartige Auflistung der wesentlichen Bestimmungsmomente menschlicher Existenz erweist Heidegger als einen »nachmetaphysischen« Denker, der in der Tradition der Metaphysik (»Onto-Theologie«)7)) mit ihren Grundannahmen einer bleibenden und unzerstörbaren, überzeitlichen und übergeschichtlichen »Substanz«, eines unverlierbaren »Wesens« (essentia) Vgl. oben, Abschnitt II1.2. der vorliegenden Arbeit. Grundgedanke zum Problem des menschlichen Todes. Ausführlichere Darlegungen finden sich bei 1. M. Demske (1963); H. Ebeling (1967), insb. Kap.II; D. Stemberger (1977); H. Ebeling (1979), insb. 2. Teil; H. Ebeling (1982); F. S. Gardiner (1984), insb. Abschnitt III. 372 Für H. Jonas (1970), S. 8, zeugt es »von geringer Nachdenklichkeit, ... die ehrwürdigste, älteste Idee von einer Essenz und Norm >des( Menschen - sei es in der klassischen Form des animal rationale, sei es in der biblischen des imago Dei - leichthin (oder gar triumphierend) preiszugeben«. 373 Zum Begriff der »Onto-Theologie« vgl. WiM, passim. )70
37! Uns interessiert hier ausschließlich Heideggers
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IV. Endlichkeit
und einer unsterblichen »Seele« des Menschen keinen Ankerpunkt mehr findet. Aber auch die christliche Schöpfungsordnung und die neuzeitlich-aufklärerische Vernunftidee eines wie auch immer im Detail zu denkenden »Unbedingten«374 können den »Sterblichen«375 nicht als Orientierung und Maß dienen. Vielmehr ist der Mensch als »Sterblicher«376 in sein Existieren, seine pure Faktizität, sein »Da«, »geworfen«377. Das besagt, mit G. Anders gesprochen: »Heideggers >Geworfen-sein< protestiert nicht nur gegen das von Gott Geschaffen-sein, also gegen supranaturalen Ursprung, sondern auch gegen das Geworden-sein, also gegen den natürlichen Ursprung. «378 Was immer der Mensch außerdem sein mag: für Heidegger ist er allen anderen Bestimmungen voran geworfenes Da-Sein. Die entscheidende Bestimmung ist nun aber die, daß der »Grund« des Daseins das Nichts, die Nichtigkeit ist. Sie bestimmt das Dasein von Grund auf, durch und durch. Das Dasein ist »In-der-Welt-sein«, so daß die faktische Existenz, das Dasein in der Welt als solches, auf dem Grunde des »Nichts« aufruht, d. h. eben nicht »aufruht« im Sinne des Ruhens auf einem festen Fundament, sondern als In-der-Welt-sein von vornherein von der Nichtigkeit bedroht, ja ihr überantwortet ist. »Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts.«37. Das Nichts, verstanden als »vollständige Verneinung der Allheit des Seienden«380, ist gleichsam die einzige Perspektive, die einzige Aussicht des Daseins als In-der-Welt-seins. M.a.W.: Das In-der-Welt-sein ist »Sein zum Tode«381. Heideggers zentraler Ausdruck »Sein zum Tode« besagt also nichts anderes als die fundamentale, »existenziale« Bestimmung des Menschen als eines Seins zum Nichts. Die Todgeweihtheit des Menschen ist die »Hineingehaltenheit in das Nichts«! Eine solche - sit venia verbo - Perspektive der Perspektivenlosigkeit ängstigt das »Dasein«: »Die Angst erhebt sich aus dem
374 M. Heidegger (I 967b), S. 53: »Wir sind - im strengen Sinne des Wortes - die Be-Dingten. Wir haben die Anmaßung alles Unbedingten hinter uns gelassen.« 375 M. Heidegger (l967c), S. 24: »Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt, den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt und zwar fortwährend, solange er auf der Erde, unter dem Himmel, vor den Göttlichen bleibt.« 376 In Anspielung auf Kants »Ich denke« formuliert H. Ebeling (1986), S. 72: »Das >Ich sterbe< muß für Heidegger alle meine Vorstellungen begleiten können, dieses >Ich sterbe< unterwandert deshalb die gesamte Geschichte der Metaphysik einschließlich ihrer Vor- und Nachgeschichte. Es opponiert allem> Ich wirke und bewirkeIch denke< die transzendentale Einheit der Apperzeption wäre.« 377 Vgl. SUZ, §§ 29, 38 und 58. 378 G. Anders (1980), S. 326, Anm. 25. 379 WiM, S. 35. 380 WiM, S. 29. W. Marx (l986a), S. 101, hat auf Heideggers Differenzierung »zwischen dem >wesenden Nichts< und dem Nichts als einem bloßen >Gegenbegriff< zum Seienden (... ), d. h. als dessen Vemeinung« hingewiesen. 381 Vgl. SuZ, §§ 46-53.
2. Der Tod des Menschen
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In-der-Welt-sein als geworfenem Sein zum Tode.«382 Als »In-der-Welt-sein« ist das »Dasein« (der Mensch) selbst der Grund der Angst, d. h. die Angst »entspringt aus dem Dasein selbst«383, ist dessen »Grundstimmung«384. »Die Angst offenbart das Nichts«38S, d. h. die Angst vor dem Tode ist Angst vor dem Nichts. 386 Um das Bild des Menschen als des »Daseins« zu vervollständigen, muß die Tendenz des Daseins, sich in seinem Sein erhalten zu wollen, als Versuch, der Nichtigkeit zu entkommen, interpretiert werden. Das zeitlich-geschichtlich bestimmte Dasein, das als solches niemals »ganz«, niemals abgeschlossen sein kann, intendiert nicht nur seine Selbsterhaltung im Sinne eines bloßen Überlebenswillens, sondern will darüber hinaus ganz es selbst sein. 387 Dem Dasein geht es um sich selbst: »Das Seinkönnen ist es, worumwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist.«388 Die »Seinsverfassung« des Daseins ist die, »daß es diesem Seienden um sein Sein geht«389. Heideggers Ausdruck rur das fundamentale Interesse des »Dasein« genannten Seienden an seiner Erhaltung und seinem »Ganzseinkönnen«39o ist »Sorge«. Sorge ist »ontologisch-existenzial«391 382 SuZ, S. 344. In WiM, S. 31 f., grenzt Heidegger, Kierkegaard folgend, die Angst von der Furcht ab: »Angst ist grundverschieden von Furcht. Wir furchten uns immer vor diesem oder jenem
bestimmten Seienden, das uns in dieser oder jener bestimmten Hinsicht bedroht.« Mit der Angst verhält es sich anders: »Wir >schweben< in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. Darin liegt, daß wir selbst - diese seienden Menschen - inmitten des Seienden uns mitentgleiten.« 383 SuZ, S. 344. 384 WiM, S. 33. 385 WiM, S. 32. 386 K. Löwith (1 984b), S. 75, Anm. 10, zeigt, daß »die Angst vor dem Nichts und der Gedanke an den Tod« fur Heidegger dieselbe Funktion haben, nämlich »das Sein des Daseins, seinen Seinssinn als solchen zu erhellen, zu zeigen, daß es überhaupt >istDas DingSein und Zeit< und - wenn auch nicht mehr ausdrücklich - in >Was ist Metaphysik?Analyse< des Gewissens dient im Grunde allein dazu zu verschweigen, daß Gewissen Todes->gewissen< ist.« 388 SuZ, S. 193. 389 Ebd. 390 Vgl. SUZ, vor allem §§ 45 und 62. 391 SuZ, S. 192.
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IV. Endlichkeit
immer »Selbstsorge«392 im Sinne der Angst um das ins Nichts hineingehaltene Dasein. Andernorts spricht Heidegger diesen Zusammenhang deutlich aus: »Die so, d. h. fundamentalontologisch verstandene >Angst< nimmt der >Sorge< von Grund aus die Harmlosigkeit einer kategorialen Struktur. Sie gibt ihr die dem Grundexistenzial notwendig eigene Schärfe und bestimmt so die Endlichkeit im Dasein nicht als vorhandene Eigenschaft, sondern als das ständige, obzwar meist verborgene Erzittern alles Existierenden.«393 Das Dasein »hat« nicht die Sorge, sondern die Sorge »ist« das Sein des Daseins. 394 Das »Sein des Daseins« aber war oben als »Sein zum Tode« bestimmt worden. Deshalb kann Heidegger abkürzend und lapidar formulieren: »Die Sorge ist das Sein zum Tode.«395
Wenn »Zeitlichkeit« der »Sinn der eigentlichen Sorge«396 ist, so besagt dies nichts anderes, als daß die Temporalität, die Unabschließbarkeit, die Unmöglichkeit des »Ganzseinkönnens«, mit einem Wort: die Endlichkeit im Sinne des »Seins zum Tode« der Grund der Sorge des Daseins um sich selbst ist. Die Sorge, die Grundstimmung der Angst und die noch anzusprechenden weiteren Bestimmungen des »Daseins«, wie beispielsweise die »Entschlossenheit«, drehen sich bei Heidegger insgesamt um ein und denselben Angelpunkt: die Endlichkeit als Sein zum Tode bzw. zum »Nichts«. Sie ist in ihrer Endgültigkeit und Unumgehbarkeit bestimmend für alles »eigentliche« Dasein. 397 Wie bewältigt das »Dasein« nun diese ernüchternde, illusions lose Einsicht? Naheliegend wäre eine resignative Grundhaltung oder allenfalls eine Haltung der »Abschiedlichkeit« nach dem Vorbild Montaignes und Weischedels. Blickt man nicht nur auf >Sein und ZeitSein und Zeit< die Geworfenheit ins Da, die im Grunde eine Preisgegebenheit ans Nichts ist, noch »entschlossen« zu übernehmen ist - eine Übernahme, die H. Plessner als »Endlichkeitsheroismus«398 kritisiert hat -, wird der Tod in der Spätphilosophie als »Schrein des Nichts«399 bezeichnet, mit der Aura des »Geheimnisses des Seins selbst«40o 392 SuZ, S. 193: »Der Ausdruck >Selbstsorge< nach der Analogie von Besorgen und Fürsorge wäre eine Tautologie.« 393 Heidegger (1965), S. 215. 394 Vgl. SUZ, §§ 39-44. 395 SuZ, S. 329. 396 SuZ, S. 326. 397 K. Löwith (1990), S. 133, interpretiert: »Das Dasein ist sich selbst voraussetzend und letzten Endes von der Ankunft des Todes als seiner letzten Möglichkeit in Anspruch genommen. Der Tod ist somit das weltliche eschaton des in der Welt existierenden endlichen Daseins. Er ist die >oberste AutoritätSein und Zeit< die dem Dasein als »eigentlichem« Sein mögliche Grundhaltung der Anerkennung seiner Endlichkeit. Der Tod durchwirkt das Dasein von Anbeginn an, bestimmt dessen entscheidende, alternativenlose Seinsweise, das »Sein zum Ende«: »Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden. Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist.«402 Diese »Übernahme« aber bedeutet die Anerkenntnis, daß der Tod ein »Existenzial«, d. h. eine existentielle, das Dasein als solches bestimmende Grundkategorie ist. Die »diesseitige ontologische Interpretation des Todes«40\ die »Herausstellung der ontologischen Struktur des Seins zum Ende des Daseins«404, gipfelt darin, daß das Dasein im »Vorlaufen« die Möglichkeit »der Unmöglichkeit der Existenz überhaupt«4os anerkennt, d. h. es denkt und bejaht seine eigene 406 Nichtexistenz!407 Das Dasein als solches steht in der Möglichkeit, nicht mehr zu sein,,08 Durch die Übernahme der »Möglichkeit« seines eigenen Nicht-mehr-seins ist es »vorlaufend«, antizipatorisch »ganz es selbst«. »Im Vorlaufen kann sich das Dasein erst seines eigensten Seins in seiner unüberholbaren Ganzheit vergewissern.geworfen in den Tod< sein kann. Es hat nicht ein Ende, an dem es nur aufhört, sondern existiert endlich.«412 Daß »das Dasein als geworfenes Sein zu seinem Ende existiert«41J, Sein zum Tode ist, bedeutet eine wesenhafte, dem Dasein als solchem inhärente »Unheimlichkeit«41\ angesichts derer das Dasein nur dann »es selbst« sein kann, wenn es dem Tod nicht auf die Weise des »Man«415, der Alltäglichkeit und der »Uneigentlichkeit« ausweicht416 , ihn ignoriert, verharmlost oder leugnet, sondern ihn in »vorlaufender Entschlossenheit«417 übernimmt. »Die vorlaufende Entschlossenheit ist kein Ausweg, erfunden, um den Tod zu >überwindenjenseitiger< Perspektive wird verwandelt in den Reichtum einer >DiesseitigkeitEndlichkeit< des Daseins«, 1. Wunderli (1976), S. 55, von einer» Tapferkeit zum Absurden und Trostlosen«. Vgl. dazu ausführlich F. 1. von Rintelen (1951), insb. 3. Kapitel. Man ist angesichts der Heideggerschen Positivierung von Endlichkeit und Tod an die paradoxe Spruchweisheit erinnert: »Du hast keine Chance; nutze sie!« 435 Vgl. SUZ, S. 338. Der Terminus »Augenblick« bedeutet »die entschlossene, aber in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet« (ebd.). 436 Dies kommt der Unmöglichkeit nahe, »ex pumice aquam«, aus Bimsstein Wasser auszupressen, wie Kant (KpV; V; S. 12) in anderem Zusammenhang Plautus zitiert.
2. Der Tod des Menschen
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Doch zu deutlich hat Heidegger schon in >Sein und Zeit< das »Nichts« als den letzten Horizont des Daseins herausgestellt, als daß man die »Entschlossenheit« des Vorlaufens auf den eigenen Tod als einen nachvollziehbaren und rur die Selbstbestimmung des Menschen tauglichen Habitus erachten könnte. Zwar betont Heidegger noch in den Jahren 1936-1938, der Vollzug des »Seyns zum Tode« sei »notwendig im Umkreis der Aufgabe der Grund-Iegung der Frage nach dem Seyn«43\ nicht »um das >Seyn< zu verneinen, sondern um den Grund seiner vollwesentlichen Bejahung zu stiften«438, aber er spricht hier - ebensowenig wie in >Sein und Zeit< - nicht klar aus, worin denn die »Wahrheit des Seyns«439 besteht, die es zu bejahen gelte. 440 Die Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 (>Was ist Metaphysik?Sein und ZeitSein und Zeit< keinen Zweifel gelassen. Aber was dies besagen sollte, wird erst vollends deutlich durch den Satz von der Endlichkeit des Seins selbst. Hatte >Sein und Zeit< noch - jedenfalls auf den ersten Blick - den Eindruck vermittelt, trotz der Endlichkeit des Menschen sei das »Sein« selber, nach dem ja durchgehend »gefragt« wird, eine unzerstörbare, durch die Endlichkeit des Menschen nicht 437 Ereignis, S. 285. 438 Ereignis, S. 284. 439 Ereignis, S. 285.
440 Heidegger hat sich in >Vom EreignisHumanismusbrief< von 1947 (HBf, S. 114): »Das Nichtende im Sein ist das Wesen dessen, was ich das Nichts nenne.« Wenn »der Tod das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns« (Ereignis, S. 284) ist, bezeugt er doch damit nicht weniger als diese »wesenhafte Zugehörigkeit des Nicht zum Sein«. Wie anders sollte die Formulierung von 1929: »Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts« verstehbar sein? 441 WiM, S. 40.
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IV. Endlichkeit
betreftbare, alles überwölbende und bergende Ordnung, so wird der schon durch die substantivische Fonn (»das Sein«) suggerierte, zumindest quasi-substanziale Charakter des Seins durch dessen Temporalisierung (»Seins geschichte«) nunmehr aufgeweicht. Wir wissen nicht, was das »Sein« ist. Es verbirgt und entbirgt sich, hat selber den Charakter eines »Ereignisses«, d. h. es ist selber geschichtlich, hat eine (Seins-)Geschichte und somit - wie jede Geschichte ein Ende! Unser eigener Tod, besser: unser »Sein zum Tode«, gibt uns ein Zeugnis, eine Anzeige auf die Endlichkeit des Seins selber. Unser Tod als »Schrein des Nichts«, wie es in der Spätphilosophie heißt44>, bedeutet uns die Art und Weise, wie das »Sein« selbst »west«: es ist - ebenso wie der Mensch endlich, d. h. Sein zum Ende. Dieser Zusammenhang wird überdeutlich, wenn man den von uns in Teilen schon herangezogenen Satz aus der Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 vollständig zitiert: »Sein und Nichts gehören zusammen, aber nicht weil sie beide vom Hegeischen Begriff des Denkens aus gesehen - in ihrer Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit übereinkommen, sondern weil das Sein selbst im Wesen endlich ist und sich nur in der Transzendenz des in das Nichts hinausgehaltenen Daseins offenbart.«443 Als selber endliches444 »offenbart« sich das Sein im endlichen, und das heißt im Tode mit dem Nichts konfrontierten »Dasein«. Ist der Tod der »Schrein des Nichts«, das Nichts aber »das Geheimnis des Seins selbst«44\ so »birgt« der Tod »das Wesende des Seins in sich«446. In )Der Satz vom Grund< heißt es: ))Der Tod ist die noch ungedachte Maßgabe des Unermeßlichen, d. h. des höchsten Spiels, in das der Mensch irdisch gebracht, auf das er gesetzt ist.«44? Das ))Spiel«, in das der Mensch, mit Begriffen aus )Sein und Zeit< zu reden, als ))Sein zum Tode« geworfen ist, ist das ))Spiel« des Seins selber, dessen ))Unenneßlichkeit«, d. h. dessen ))Geheimnis« in seiner eigenen Endlichkeit besteht. Der Tod des Menschen spiegelt gleichsam den ))Tod« des Seins selbst wider und lüftet somit, wenn man so will, das Geheimnis des Seins. Deshalb ))vennag« der Tod ))als äußerste Möglichkeit des Daseins das Höchste an Lichtung des Seins und seiner Wahrheit«448. Die »Wahrheit« des Seins besteht in dessen Endlichkeit. Sollte eine Interpretation möglich sein, die Heideggers änigmatischen Begriff des ))Seins« in der Weise versteht, daß das Sein überhaupt nur Sein
Heidegger (1967b), S. 51. Vgl. oben, S. 374, Anm. 399. WiM, S. 39f. 444 Vgl. dazu W. Marx (1986a), S. 103: »Die hierin liegende, die traditionelle Ontologie umstürzende Konsequenz ist: Das Sein selbst ist endlich.« 445 Heidegger (1967b), S. 51. Vgl. oben, S. 374, Anm. 400. 446 Ebd. 447 SvG, S. 187. 448 SvG, S. 186f. 442
443
2. Der Tod des Menschen
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für den Menschen und das heißt »an sich« nichts ist, so ginge das Sein mit dem Tode des Menschen selber zugrunde. Das würde bedeuten, daß die oben449 diskutierte Paradoxie, dergemäß mit »meinem« Tode auch »meine« Welt zugrunde ginge (bzw. zusammen mit dem Ende der weltverstehenden Subjektivität nicht nur die >>jemeinige«, sondern gleichsam jede »Welt« annihiliert wäre), auch im Denken Heideggers ihren Ort hätte. Aber - soweit wir sehen - läßt sich diese Spekulation an den Texten Heideggers nicht belegen. Wohl aber ist Heideggers Ansatz durch einen, wie G. Vattimo dies ausdrückt, »besonderen Nihilismus«45o gekennzeichnet, der das »Sein« als werdendes und »sterbendes«, d. h. endendes begreift. Vattimos Auslegung wird nicht zu widersprechen sein: »Schließlich scheint sich Heideggers Philosophie in der Tatsache zusammenfassen zu lassen, die Idee von Sein als Ewigkeit, Stabilität, Stärke durch jene von Sein als Leben, Reifung, Geburt und Tod ersetzt zu haben: Es ist nicht das, was weiterbesteht, sondern in auffallender Weise (... ) das, was wird, geboren wird und stirbt. Die Übernahme dieses besonderen Nihilismus ist die wahre Verwirklichung des Programms, das der Titel Sein und Zeit umreißt.«451
Heideggers »existenzialontologisches«, am »Sein« und dessen »Wahrheit« orientiertes Menschenbild ist entgegen allen anderslautenden Bekundungen düster und trostlos, weil die Grundbestimmung des Menschen, »Sein zum Tode« zu sein, in bewußter Opposition zum überlieferten, seinerseits freilich keineswegs unproblematischen Selbstverständnis des Menschen als »animal rationale« steht und die in dieser Konzeption liegenden Möglichkeiten zu einer weniger düsteren Selbsteinschätzung des Menschen a limine zurückweist. Es sind, wie oben angedeutet, beide Komponenten des »animal rationale«, die »animalitas« und die »ratio«, die aus Heideggers Neubestimmung des Menschen als »Sein zum Tode« eliminiert werden. Daß auf diese Weise die Frage nach der Einheit des »vernünftigen Lebewesens« gar nicht erst thematisiert werden kann und soll, versteht sich von selbst. Der >Humanismusbrief< versucht, eine »wesentlichere« Bestimmung des Menschen jenseits bzw. diesseits des »animal rationale« zu gewinnen: »Das Wesen des Menschen besteht aber darin, daß er mehr ist als der bloße Mensch, insofern dieser als das vernünftige Lebewesen vorgestellt wird. >Mehr< darf hier nicht additiv verstanden werden, als sollte die überlieferte Definition des Menschen zwar die Grundbestimmung bleiben, um dann nur durch einen Zusatz des Existenziellen eine Erweiterung zu erfahren. Das >mehr< bedeutet: ursprünglicher und darum im Wesen wesentlicher.«452 Doch die Eigentümlichkeit des Heideggerschen Ansatzes, den Menschen »wesentlich« als »Sein zum Tode« zu bestimmen, wird in der Ungeheuer-
449 450 451
452
Vgl. oben, Abschnitt IV2.a) der vorliegenden Arbeit. G. Vattimo (1986), S. 93. Ebd. HBf, S. 89f. Vgl. oben, S. 202f., Anm. 221 der vorliegenden Arbeit.
382
IV. Endlichkeit
lichkeit ihrer Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis erst vollends deutlich, wenn man Heideggers Ausblendung sowohl der »Natur«- als auch der »Vemunft«komponente isoliert voneinander betrachtet. Wir tun dies abschließend, indem wir einige Kritiker des Heideggerschen »Logos des Todes«45', d. h. seines Todesverständnisses, zu Wort kommen lassen. Zunächst zur Komponente der »Natur«: H. Plessner spricht von einer »bedenkenlosen Heraushebung des Menschen aus seiner Einbettung in das naturhafte Leben«454. Ähnlich wie es für Max Scheler »zum Wesen der Erfahrungjedes Lebens ... « gehört, »daß sie die Richtung auf den Tod hat«455, daß das »Erlebnis der Todesrichtung«456 zu den »konstitutiven Elementen nicht nur unseres, ja alles vitalen Bewußtseins selbst gehört«457, reicht für H. Plessner »die Beziehung zwischen dem Tod und der Zeit ... selbst in die außermenschlichen Dimensionen organischen Lebens und gehört den die menschliche Existenz umgreifenden Ordnungen der Welt an .... Folgt man dagegen der existentialistischen Sicht und isoliert man die Endlichkeit als Zeitlichkeit gegen die außermenschliche Sphäre, wie das etwa Heidegger versucht hat, so wird die Verinnerlichung des Verhältnisses zwischen Zeit und Tod mit dem Verlust ihrer kosmischen Dimension erkauft.«458 Nun ist das Problem des menschlichen Todes ganz sicher nicht hinreichend erfaßbar, wenn der auf die Subjektivität als Selbstbezug gerichtete Aspekt völlig ausgeblendet wird zugunsten einer Betrachtung des »natürlichen Todes« aller Organismen oder auch des Menschen als eines bloßen Naturwesens. 459 Doch Heidegger konzentriert sich umgekehrt ganz auf die Endlichkeit des »Daseins im Menschen«460. Dieses aber ist, wie W. Schulz in Übereinstimmung mit Plessner schreibt, »nichts anderes als die für sich gesetzte Dimension der reinen Innerlichkeit«461 . »Heideggers Todesanalyse«, so Schulz, »ist der bisher radikalste Versuch, den Tod zu subjektivieren, und das heißt, ... daß die Tendenz zur Weltbindung radikal ausgeschaltet wird.«462 »Der Tod des Daseins ist kein Ereignis, das den Menschen als Lebewesen betrifft. Das leibliche Sein wird von Heidegger, weil das Dasein ja nur
453 Dieser Ausdruck darf hier wörtlich genommen werden, wenn man mit H. Ebeling (1986), S. 72, interpretiert, Heidegger habe »den Logos des Todes nicht fassen ... können, aber ... wollen - wie jeder klassische Subjektivitätstheoretiker den Logos der Vernunft fassen wollte«. 454 H. Plessner (1985), S. 259. 455 M. Scheler (1957), S. 22. 456 Scheler, a. a. 0., S. 20. 457 A. a. 0., S. 17. 458 H. Plessner (1985), S. 249. 459 Vgl. oben, Abschnitt rY.2.a) der vorliegenden Arbeit. 460 Heidegger (1965), S. 204-208. »Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des Daseins in ihm.« (a. a. 0., S. 207; bei Heidegger gesperrt). 461 W. Schulz (1992), S. 159; vgl. auch Schulz (1979), S. 35. 462 Schulz (1992), S. 159.
2. Der Tod des Menschen
383
sich verstehender Selbstbezug ist, grundsätzlich ausgeklammert.«463 Das »Sein zum Tode« hat, kurz gesagt, mit dem wirklichen Sterben eines leib gebundenen und zugleich seiner selbst gewissen Wesens nichts zu tun. Diese Abkoppelung des »Daseins« in seiner Bestimmung als »Sein zum Tode« vom wirklichen Ende des »vernünftigen Lebewesens« ist schwer nachvollziehbar. So auch für K. Löwith: »Denn es hat mir nie eingeleuchtet, daß das existenzial-ontologisch verstandene >Sein zum Tode< von dem natürlichen Phänomen des Lebens und folglich auch des Ablebens und Sterbens isoliert werden könnte ... «:64 Und »auch dann, wenn sich das Dasein selbst übernimmt, sein Ende kann es gerade nicht in derselben Weise übernehmen, weil das wirkliche Ende keine eigenste Möglichkeit ist, sondern eine uns allen bevorstehende natürliche Notwendigkeit, in der wir mit jedermann übereinkommen«46'. Die »Entschlossenheit« ist, worauf Löwith aufmerksam macht, »ihrer wirklichen Möglichkeit nach in dem angstvollen Vorblick auf die nackte, sinnbare Tatsache des wirklichen Sterbenmüssens begründet«466. Und nochmals H. Plessner: »Mag die privilegierte sogenannte Existenz das Verhalten zu einem Verhältnis sein und können sich daraus besondere Möglichkeiten der Stellung zum Tode herleiten, so gibt ihm sein ontisches Gewicht doch nur seine offenbare Verklammerung mit der Lebendigkeit.«467 Diese Einwände sind schwer zu widerlegen. Auch wenn man berücksichtigt, daß Heidegger mit dem »entschlossenen Vorlaufen« zum eigenen Tode die bewußte Übernahme des Todes als Voraussetzung für eine »kairologische« Selbstbestimmung des Menschen hat begreifen wollen, so wäre der »Augenblick« gleichwohl der Augenblick im Leben des sich wie auch immer als »Selbstverhältnis« begreifenden Menschen. Die Ausblendung der Komponente der Natur in Heideggers Todesanalyse bleibt problematisch. Zur Komponente der» Vernwift>Unvollkommen« oder gar wertlos, was nicht zuletzt eben dadurch »begründet« wird, daß sie »vergänglich«, d. h. nicht von Dauer sind. 475 Die platonisch geprägte Metaphysik hat durchgehend dem »Bleibenden« eine eindeutige Präferenz gegenüber dem »Wandelbaren« zugesprochen, eine Vorstellung, die noch im Selbstverständnis 472
Vgl. die »Erste Analogie«, den »Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz« in Kants KrY, B
473
Kant: KrY, B 228.
224ff.
474 Vgl. hierzu auch oben, Abschnitt 1.2. der vorliegenden Arbeit. 475 Nach 1. Passmore (1975), S. 23f., »nehmen Metaphysiker oft an, daß es das Unvollkommene
an einem Ding sei, daß seine Existenz irgendwie von etwas anderem abhänge, daß es zusammengesetzt, endlich oder vergänglich ist. Der Besitz solcher Merkmale wird als Beweis dafür erachtet, daß der jeweilige Gegenstand nicht wirklich vollständig sei. Wenn der Gegenstand eine Ursache oder unterscheidbare Teile hat, von denen sich einer entfernen läßt, dann liegt etwas für seine Existenz Wesentliches außerhalb seiner selbst.«
2. Der Tod des Menschen
387
des Menschen als eines des »ewigen« voü~ teilhaftigen Weltwesens ihren Niederschlag gefunden hat. Das »Selbst« gewinnt sich als solches allererst durch die Fiktion des Auf-Dauer-gestellt-seins, wie auch immer diese im einzelnen gedacht wird. Nur die Partizipation am »Unvergänglichen«, und das heißt in der Vorstellungswelt der klassischen Metaphysik: am »Göttlichen«, verleiht dem Menschen eine für sein Selbstverständnis unverzichtbare Dignität. Denn die Teilhabe am Unvergänglichen, so die »metaphysische« Vorstellung, erhebt den Menschen )>unendlich« über seine endlichen Beschränkungen, unter denen er als an die »Natur« gefesseltes Wesen steht. Mit der Vorstellung der )>unendlichen« Bestimmung des Menschen verbindet sich meist die Idee der Sinnhaftigkeit seiner Existenz, was umgekehrt besagt, daß ein vollends der Welt des Werdens und Vergehens zugehöriges Wesen letztlich ein sinnloses, weil jeder Idee eines »Übergreifenden« ermangelndes Leben zu führen, besser: zu ertragen hätte. Der dem Dasein aller vergänglichen Lebewesen anhaftende Sinnlosigkeitsverdacht, die Vermutung der Vergeblichkeit und »Eitelkeit«476 endlichen Tuns und Treibens überlagert noch die Selbsteinschätzung des endlichen, vom »Vorauswissen« seines eigenen Todes irritierten Vernunftwesens, das deshalb dahin tendiert, das eigene Leben in irgendeiner Form an dem als in sich sinnvoll vorgestellten »Unvergänglichen«, »Beharrenden« und »Göttlichen« auszurichten. 477 Nur so glaubt der Mensch, der Vergeblichkeit seines vergänglichen Lebens entrinnen zu können. Das die Menschheitsgeschichte durchziehende Bewußtsein der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit allen Tuns, ja des vergänglichen menschlichen Lebens überhaupt darf als Grund der Sehnsucht nach Dauer und Beständigkeit nicht unterschätzt werden. Die Überzeugung, daß »unser im Wind der Zeit verwehendes Menschsein«478 in keiner Weise Spuren hinterläßt479 , nirgendwo »aufbewahrt« wird und entgegen der christlichen Vorstellung vom »Ewigkeitswert« des »einmaligen« personalen Einzellebens480 im Nichts versinkt, erschien den Menschen in allen Epochen als unerträglich, auch wenn dieser Gedanke einer endgültigen Auslöschung der individuellen Existenz erst in der Neuzeit wirklich radikal zu Ende gedacht wurde.'81 W. Schulz hat berechtigte Zweifel angemeldet 476 Das Alte Testament (Pred. 1,14) beschreibt die »Eitelkeit« irdischen Lebens in kaum überbietbarer Deutlichkeit: »Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht; und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind.« (L). 477 Eine hier nicht genauer zu verfolgende Sonderfonn der »Annäherung« an das »Unsterbliche« ist der mystische Gedanke einer Vereinigung bzw. Verschmelzung des Endlichen mit dem »Göttlichen« und »Ewigen«. 478 E. Fink (1969), S. 9. 479 1. Amery (1969), S. 29, beschreibt eindringlich das spurlose Verschwinden des Menschen im Tode: »Haus und Hof, Buch, Bild und Grabmal, es wird alles sein wie die Liebes- und Schmerzensnächte des Verstorbenen: so gut, als sei es nie gewesen.« 480 Vgl. dazu oben, Abschnitt IY.2.a) der vorliegenden Arbeit. 481 G. von Natzmer (1980), S. 84, erinnert, daß Shakespeares »Hamiet« mit literarischen Mitteln
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IV. Endlichkeit
an der Fähigkeit der »Subjektivität«, die Vorstellung der »radikalen ~rgäng lichkeit« zu habitualisieren: »Vom Tod her tritt die Endlichkeit im Sinne der radikalen ~rgänglichkeit in das Zentrum und entlarvt den Versuch, sich festzuklammern, als letztlich sinnlos. Man begreift, daß es keinen absoluten Halt in der Welt gibt, weil hier alles vorläufig ist. Es ist jedoch festzuhalten, daß die Subjektivität eine solche GrundeinsteIlung wohl nicht als DauereinsteIlung durchhalten kann.«482 Zu sehr bestimmt den Menschen die Hoffnung auf Dauer und Bestand dessen, was sein irdisches Leben insgesamt, sein »Selbst«, seine »Person« ausgemacht hat, als daß er den Gedanken seiner radikalen Vergänglichkeit zu ertragen vermöchte. »Faust« hat diese Hoffnung gegenüber »Mephisto« schon eher als Zuversicht formuliert: »Es kann die Spur von meinen Erdetagen nicht in Äonen untergehn.«483 Die Bedrohung der Einheit und Sinnhaftigkeit des menschlichen Einzellebens durch den als »Gang ins Nichts« vorgestellten Tod ist für den Menschen als ~rnunftwesen nicht auszuhalten; denn es ist die »Vernunft«, die Einheit und Sinn des menschlichen Lebens allererst stiftet. Ihr» Tod«, ihre zeitliche Begrenztheit und Episodizität ist das, was sich der Mensch letztlich nicht vorstellen kann und was der Struktur »seiner« Vernunft, und das heißt der Konstitution des Menschen als eines seinem Selbstverständnis nach »durch« Vernunft bestimmten Wesens entgegensteht. Die Ideen von Dauer und Bestand scheinen so in der» Vernunftstruktur« selbst »angelegt« zu sein und würden sich dementsprechend nur dann als »Illusionen« decouvrieren lassen, wenn es gelänge, die Idee der Vernunft selbst als Chimäre zu entlarven. Dazu bedürfte es allerdings »vernünftiger« Argumente, d. h. des Rückgriffs auf das, was kritisiert werden soll: die Vernunft. Der »Zirkel« wäre evident. Doch es bleibt die Frage, ob die Vorstellung der »Dauer«, gar der »Ewigkeit« und »Unsterblichkeit« der »Person« unbestreitbar in der Vernunftstruktur angelegt ist. Darauf würde, so ließe sich vermuten, noch am ehesten der Vernunftbegriff des »Unbedingten« hindeuten. Die Idee des Unbedingten bildet, wie oben gezeigt48" den Kernbestand des Vernunftgefüges, wie es in der Neuzeit in erster Linie Kant gedacht hat. Doch offen bleibt, ob das »Unbedingte« zwingend in Form des »Dauernden«, »Beständigen« oder gar »Ewigen« vorgestellt werden muß. Nicht wenige Denker des 20. Jahrhunderts haben die Ideen von »Fortleben«, »Dauer« und »Ewigkeit« als für den (sterblichen) Menschen spezifisch und für sein Selbstverständnis unverzichtbar angesehen. So meint G. Krüger, der die »völlige Vernichtung jeglicher Individualität« beschrieben hat: »Der große Cäsar tot und Lehm geworden, verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden. Oh, daß die Erde, der die Welt gebebt, vor Wind und Wetter eine Wand verklebt.« (zit. nach G. von Natzmer, ebd.). 482 W. Schulz (1992), S. 165. 483 1. W. von Goethe: >FaustFleischesMeister< sein kann, Lenker und Leiter des Vitalen, so habe ich >keinen Grund< anzunehmen, daß das sterbe, was nicht altert und krank wird; was durch nichts von außen verletzlich ist ... «. 494 Zum Gesamtzusammenhang der Frage nach der »Ewigkeit« vgl. H. Echtemach (1972). Vgl. auch oben, Abschnitt 1.2. der vorliegenden Arbeit.
2. Der Tod des Menschen
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Bedeutung des Bestehens »auf immer«, in »endloser Zeit«. Die Vorstellung der sempitemitas liegt dem Gedanken der »Unsterblichkeit« bzw. der »Unvergänglichkeit«, verstanden als »duramentum«, »stabilitas« und »immutabilitas«, zugrunde. Doch, wie H. Plessner gezeigt hat, ist die >>unendliche Dauer« (sempitemitas) wohl ohne die Idee des »Zeitlosen« (aetemitas) gar nicht vorstellbar: »Nur auf dem Grunde der aetemitas gibt es sempitemitas, das Nacheinander und die Modi der gezeitigten Zeit.«495 Die »unendliche Dauer«, eine aus der Extrapolation der Zeit gewonnene Vorstellung, wäre in bezug auf das über den Tod hinausreichende »Fortleben« des Menschen ein kaum tröstlicher, fast möchte man sagen sinnloser Gedanke, läge ihm nicht in irgendeiner Form die Idee der Partizipation am »Überzeitlichen« im Sinne der »aetemitas« zugrunde. Der als »Gang ins Nichts« vorgestellte Tod beirrt und schreckt den Menschen ja letztlich nur deshalb, weil das »Nichts« als absolute Negation des »Seins« im Sinne des »ewigen« Seins begriffen wird. Die >>unendliche Dauer« in der Bedeutung der »sempitemitas« stellt sich in dieser Perspektive gleichsam als eine Art Auxilium, als eine Hilfsvorstellung zur Erlangung des aus der Sicht des sterblichen Menschen schlechthin erstrebenswerten »Zustandes« der »Ewigkeit« im Sinne der »aetemitas« dar. Das Ewige als das schlechthin »Sinnvolle« und »Bleibende«, weil essentiell nicht von den Beschränkungen der Endlichkeit Betreftbare erscheint dem vergänglichen, vom Tode bedrohten Menschen als »eigentliches« Telos, als »Endzweck« seines eigenen Daseins ebenso wie der Welt überhaupt. Zur »Überbrückung« des Hiatus zwischen zeitlich-uneigentlichem und überzeitlich-eigentlichem Sein erdenken »die Sterblichen« ihre eigene »unendliche Dauer«, ihre »Unvergänglichkeit«. Doch die »sempitemitas« ist ein quantitativer Begriff, der das dem irdischen Leben der »Sterblichen« zugemessene Zeitquantum bloß ins »Unendliche« verlängert, im Grunde genommen ein anrührend hilfloser Versuch des Menschen, die qualitative, unüberbrückbare Differenz zwischen seinem endlich-unvollkommenen und dem »göttlichen«, unendlich-vollkommenen, »ewigen« Sein doch noch zu überbrücken. Die Vorstellung von der »Unsterblichkeit der Seele«, eine platonisch-christliche 496 Vorstellung, beinhaltet also nichts Geringeres als den möglichen Übergang des Menschen als »Person« vom Status der »Endlichkeit« zu dem der »Ewigkeit«. E. Fink hat diesen Wechsel derselben Person in eine »andere Dimension« in kritischer Distanz formuliert: »Wo immer man den Tod als einen >Übergang< interpretiert, als einen Übergang in eine andere Dimension, in ein übersinnliches Reich, behauptet man einen Wechsel der Schauplätze und zugleich eine Selbigkeit der Person.«497 Wenn die Idee eines solchen »Schauplatzwechsels« vor dem Hintergrund der qualitativen Differenz zwischen »Zeitlichkeit« und »Ewigkeit«, »mundus sensibilis« und »mundus intelligibilis«, 495 H. Plessner (1985), S. 258. 496 Vgl. Matth. 10,28, wo es heißt, die »Seele« könne nicht »getötet« werden. 497 E. Fink (1969), S. 52.
IV. Endlichkeit
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»Weltlichem« und »Göttlichem« etc. nachvollziehbar bleiben soll, dann muß der Mensch als »Person« von vornherein als gleichsam heiden »Welten« zugehörig aufgefaßt werden. M.a.W.: Die »Person« ist »immer schon«, d. h. ihrem Wesen nach, eingespannt zwischen endlicher Beschränkung und unendlicher Bestimmung. Eine »Spur« des Ewigen muß im Zeitlichen auffindbar sein, um das Ansinnen der »Überbrückung« des qualitativen Unterschiedes zwischen der Welt des Werdens und Vergehens und der in sich ruhenden, vom Wandel nicht betreftbaren, »ewigen« Welt nicht von vornherein aussichtslos erscheinen zu lassen. Es ist nach platonisch-christlicher Vorstellung die Person gleichsam der Ort, an dem das »Ewige« im »Zeitlichen« in Erscheinung tritt. Deshalb bedarf es strenggenommen gar nicht der auxiliaren Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele oder der Person im Sinne ihrer »unbegrenzten«, vom Tode nicht betreftbaren »Dauer«. Denn die »Person« ist das lebendige Symbol des »nunc stans«, des »Augenblicks«, in dem »Ewiges« und »Zeitliches« sich begegnen. Die Person darf deshalb weder als »andauernd« noch als »vergehend« aufgefaßt werden, sondern ist »immer schon« ewig, oder umgekehrt: das Ewige zeigt sich »immer schon« in der Person, und nur in ihr. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Vorstellung der »sempiternitas«, der unendlichen Dauer der Person, als entbehrlich oder gar als abwegig. Sie wäre allenfalls als Versuch der »Sterblichen« aufzufassen, ihre ihnen vertraute zeitliche Existenz in die »ganz andere«, ihnen im Grunde »fremde« Dimension des Ewigen hinüberzuretten. Dies aber wäre ein die »Ewigkeit« im Sinne der »aeternitas« vermenschlichender Gedanke, der dem Menschen nur vordergründig dienlich und der Ewigkeit unangemessen wäre. Doch die platonisch-christliche, »metaphysische« Vorstellungswelt, für die die Ideen von Ewigkeit und Unsterblichkeit konstitutiv waren, bildet in Neuzeit und Gegenwart nicht mehr das tragende Fundament für das Selbstverständnis des sich jedoch nach wie vor um den »Bestand« seines Wesens sorgenden Menschen. In der Haltung der »Abschiedlichkeit« wird der Mensch der Gegenwart vielmehr, so W Weischedel, »die Vergänglichkeit auf sich nehmen, wenn auch unter Schmerzen. Er wird daher nicht der Illusion verfallen, es gebe etwas wahrhaft Beständiges; er wird keine Träume von Ewigkeit und Unsterblichkeit träumen.«498 Dem »Wesen des gegenwärtigen Menschen« entspreche die Einsicht, »daß er, endlich, wie er ist, nicht an einer absoluten Sphäre teilhaben kann.«499 Lassen wir die Kritik am Gedanken einer »Teilhabe« am Ewigen im Sinne des »Absoluten« oder im Sinne der »aeternitas« hier einmal beiseite und betrachten nur die gegenwärtige Kritik an der »Unsterblichkeit«, verstanden als »sempiternitas«, so verdient ein von B. Williams vorgetragenes Argument be-
498 499
W. Weischedei (1980), S. 196. Weischedei, a. a. 0., S. 180.
2. Der Tod des Menschen
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sondere Beachtung. Anders als Weischedel, der im Grunde nur ein Obsoletheitsverdikt gegen die »metaphysisch« begründete Idee der Unsterblichkeit ausspricht, hat Williams die Vorstellung der Unsterblichkeit als sinnlos, ja überdies denjenigen »Sinn«, den der Tod stiftet, gefährdend erachtet. 500 Dahinter steht die auch von etlichen anderen Autoren der Gegenwart verfolgte Absicht, das zeitlich begrenzte, endliche Leben des Menschen ganz im Gegensatz zur metaphysischen Tradition als einzig »sinnvolles« nachzuweisen, die Endlichkeit also gleichsam zu positivieren. 501 Williams arbeitet jedoch die Kritik an der Vorstellung der Unsterblichkeit unter dem speziellen Aspekt der »Kontinuität« desjenigen »Selbst« heraus, das als menschliches, endliches Selbst ein Leben zu »führen« hat und aufgrund dieser Erfahrung in besonderer Weise mit sich selbst vertraut ist. Insofern gehen Williams' kritische Erörterungen in die selbe Richtung wie unsere oben geäußerte Vermutung, die Unsterblichkeit im Sinne der »sempiternitas« lasse sich als Versuch des Menschen interpretieren, seine ihm vertraute zeitliche Existenz in die Dimension des »Ewigen« hinüberzuretten, allerdings mit dem Unterschied, daß Williams die Dimension des »Ewigen« gar nicht erst bemüht, sondern jede Verlängerung der endlichen Existenz des Menschen über den Tod hinaus aus der Perspektive des endlichen Lebens als unsinnig verwirft. Williams schreibt: »Unsterblichkeit, so meine ich, oder ein Zustand ohne Tod wäre sinnlos; es ist also im gewissen Sinne der Tod, der dem Leben Sinn gibt.«502 Der Tod gibt dem menschlichen Leben Sinn, d. h. nur ein endenkönnendes Leben wie das menschliche kann »sinnvoll« sein, wohingegen »ein endloses Leben sinnlos wäre« und »keine Gründe dafür sprechen, auf ewig ein menschliches Leben führen zu wollen«503. Der Kernpunkt der Williamsschen Kritik an der Vorstellung eines endlosen menschlichen Lebens besteht darin, daß das, was das »menschliche« Leben ausmacht, niemals ohne das Ende dieses Lebens erfaßt werden kann, »menschliches« und »endloses« Leben also einander widersprechen. Wenn überhaupt an ein »ewiges«, )>unsterbliches« Leben gedacht werden soll, dann darf »von zwei wichtigen Bedingungen« eines solchen »Lebens« nicht abgesehen werden, »nämlich daß offensichtlich ich es bin, der ewig lebt. Die zweite wichtige Bedingung besagt, der Zustand, in dem ich weiterlebe, müsse so beschaffen sein, daß er mir bei meiner Zukunftsbetrachtung als ein Leben erscheint, das in angemessener Beziehung zu den Absichten steht, die ich jetzt mit dem Wunsch verbinde, überhaupt überleben zu wollen.«504 Wenn man es für unbestreitbar ansieht, daß jemand »im Verlaufe eines endlichen Lebens einen Charakter, Interessen, Geschmacks-
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Vgl. B. Williams (1978). Zu diesem Gedanken vgl. auch oben, Abschnitt IY.2.a) der vorliegenden Arbeit. B. Williams (1978), S. 133. Williams, a. a. 0., S. 145. A. a. 0., S. 148.
Iv. Endlichkeit
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vorlieben und Abneigungen angenommen hat«'o" die insgesamt dasjenige ausmachen, was wir seine endliche Persönlichkeit, sein »Ich« nennen können, so stellt die Kontinuität dieses »Ich« über den Tod hinaus, »in Ewigkeit«, ein unlösbares Problem dar. Denn der »Charakter«, die »Interessen« usw. haben sich unter Bedingungen der Endlichkeit herausgebildet und haben auch nur unter diesen Bedingungen ihren »Sinn«. Das zu »führende« Leben unter Endlichkeitsbedingungen läßt sich nicht so ins Unendliche prolongieren, daß man ernsthaft annehmen könnte, es sei ein und dieselbe Person, ein identisches »Ich«, welches »weiterlebt«. Zudem muß ein Zustand, der durch das Fehlen der Endlichkeitsbedingungen bestimmt ist, für das »Selbst«, das unter diesen Bedingungen einen »Charakter« ausgebildet hat, zumindest »langweilig« erscheinen.'o. D. h. der Zustand, in dem das Selbst »weiterlebt«, kann nicht »in angemessener Beziehung« zu den Intentionen und Interessen des hier und jetzt lebenden Selbst stehen. Kurz: Die Vorstellung der Unsterblichkeit scheitert daran, »daß man ein ewiges Leben nicht führen kann«,o7. Ein menschliches Einzelleben, d. h. eines, das »geführt« werden muß, kann nicht als »ewig«, als von )>unendlicher Dauer« vorgestellt werden. Ganz ohne Frage steht hinter der Idee der »Unsterblichkeit« als der »unendlichen Dauer« eines Einzellebens der Wunsch, das mit sich vertraute »Selbst« nicht untergehen zu lassen, es aber gleichzeitig von den Unvollkommenheiten, dem Fragmentarischen, Brüchigen und Kontingenten »dieser« Welt zu befreien. Eine )>unendliche« Kontinuierung unseres Lebens mit all seinen Unvollkommenheiten, Leiden und Zumutungen wird niemand ernsthaft wollen können. Die auf Dauer gestellte Fehlbarkeit und »Zweideutigkeit« menschlichen Lebens wäre nicht »sinnvoller« als das endliche, fehlbare Leben, wie wir es kennen. Deshalb steht die Idee des »Fortlebens« des »ganzen Menschen« in dem Dilemma, den nur in der Auseinandersetzung mit endlichkeitsbedingten Schwierigkeiten bildbaren »Charakter« des »Selbst« losgelöst von diesen Schwierigkeiten, gleichsam »rein« weiterbestehen zu lassen. Das endliche Vernunftwesen faßt die Idee seines auf Dauer gestellten, )>unendlichen« Selbst, ohne das Vertrautsein mit sich als eines endlichen Vernunftwesens preisgeben zu wollen. Daß beides zusammen nicht zu haben ist, d. h. die Einsicht in den aporetischen Charakter der Idee eines unendlich dauernden »menschlichen« Lebens, hat in der Neuzeit dazu geführt, die Idee der Unsterblichkeit überhaupt fallenzulassen und den »Sinn«, der einst mit der Vorstellung der Unsterblichkeit des Menschen verbunden war, nunmehr im endlichen Dasein des Menschen, und nur hier, zu suchen. Die wohl wichtigste Quelle dieses neuen Zutrauens zur Möglichkeit weltimmanenter, »diesseitiger« Sinnstiftung ist jene menschliche
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A. a. 0 ., S. 154. Vgl. ebd. A.a.O., S. 162.
2. Der Tod des Menschen
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Grunderfahrung, ohne die die »Einheit« der endlichen Subjektivität nicht zu denken wäre: die »Vertrautheit« des Menschen mit sich selbst. Denn das »Vertrautsein mit sich« ist nicht zuletzt ein Vertrautsein mit all den Formen von Sinn, die das »Subjekt« im Laufe seines endlichen Lebens teils für sich selbst, teils in Gemeinschaft mit anderen Subjekten herausgebildet hat. Die als »sinnvoll« und für das Selbstverständnis des Subjekts unabdingbar erscheinenden Relationen: das Selbstverhältnis, das Verhältnis zum Anderen und das Verhältnis zur Welt, die insgesamt die endliche Persönlichkeit konstituieren, können vom EinzeIsubjekt nur um den Preis der Auflösung seiner selbst als dieser einen und unverwechselbaren Persönlichkeit »aufgegeben« werden. Nach der in der Gegenwart vorherrschenden Ansicht zerstört der Tod diese Einheit der endlichen Persönlichkeit unwiderruflich, so daß die Sinnentwürfe des Menschen sich nicht mehr über den Tod als die Grenze des Lebens hinaus erstrecken, sondern Orientierungen für die »Lebensführung« der endlichen Subjektivität, und nur dieser, bieten. Wenn in der Gegenwart überwiegend auf endlichkeitsüberschreitende, »metaphysische« Sinnstiftungen »verzichtet« wird, so bedeutet dies nicht, daß die Welt des Menschen, seine »Lebenswelt«, als gänzlich sinnleer erfahren würde. Vielmehr ist, mit W. Marx gesprochen, »das sinnerfahrende Leben ... immer schon auf die ihm vorgegebene Lebenswelt bezogen ... «508, die in ihren vielfältigen Facetten selber als »sinnvoll« betrachtet wird, ohne daß ihr Sinn als von einer sie übergreifenden, »ewigen« Ordnung abhängig gedacht würde. Die »Lebensweit« stellt in sich ein Geflecht von Beziehungen, ja von subjektiven »Welten« dar, dessen Gesamtzusammenhang a limine als sinnvoll unterstellt wird. Doch ist der »Gesamtsinn der Lebenspraxis«509 nicht als Einheit und Ganzheit in ontologisch-metaphysischem Sinne zu verstehen, sondern als »Ordnung eines Strukturzusammenhanges, die in einer sich durchhaltenden Einstimmigkeit von Geltungen beruht und für den Eintritt neuer Geltungen und somit für geschichtliche Wandlungen offen bleibt«51O. Das Sinnverstehen »wohnt«511 gleichsam »in diesem Gesamtsinn Lebenspraxis und seinen Bezügen«512, d. h. es ist »innig«513 mit ihm vertraut. Die lebenspraktischen Beziehungen, die insgesamt die offene »Lebenswelt« des Menschen ausmachen, besitzen, wenn man so sagen darf, einen Eigensinn, der weder von »ewigen« Sinnkonstellationen noch von der Mutmaßung »kosmischer«, allumfassender Sinnleere tangiert wird. Die »Lebenswelt« bildet
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W. Marx (1986), S. 51. W. Marx, a. a. 0., S. 83. Ebd. Vgl. a. a. 0., S. 84. Ebd. Ebd.
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IV. Endlichkeit
so gleichsam eine Insel der fraglosen Sinnhaftigkeit514 im Meer der offenen Sinnfragen. Das Subjekt, das sich auf die »Selbstverständlichkeit«515 der Lebenswelt kapriziert, sieht von allen Ewigkeits- und Absolutheitsvorstellungen ab, aber auch von sich selbst als auf ein »Unbedingtes« ausgreifender »Subjektivität«.516 Es ist jedoch zu bezweifeln, daß sich das »Selbst« anhaltend darauf verstehen kann, die Grenzen der - in sich »sinnvollen« - Lebenswelt zugleich als Begrenzungen seines Fragehorizontes anzuerkennen. Das Hinausfragen über die Begrenzungen des Einzellebens scheint die Qualität ebendieses Einzellebens nicht unwesentlich mitzubestimmen, wie Th. Nagel deutlich gesehen hat: »Zum Leben eines Menschen gehört vieles, was sich außerhalb der Grenzen seines Körpers und Geistes abspielt, und zu dem, was ihm widerfährt, kann vieles gehören, das sich außerhalb der Grenzen seiner Lebensdauer abspielt.«517 Ähnlich wird man sagen dürfen, daß der »endlichen Subjektivität« viel weitgehendere, die »Selbstverständlichkeit« der »Lebenswelt« überschreitende Fragedimensionen offenstehen, ja daß das Hinausfragen über die Lebenswelt zu den unverzichtbaren Bestimmungsmomenten der endlichen Subjektivität gehört. Sinnfragen als solchen wohnt die Tendenz inne, sich aufs »Ganze« und »Letzte« zu erstrecken, was in bezug auf die »Lebenswelt« bedeutet, daß sich solche Fragen nicht bei gleichsam regionalen, begrenzten Sinnkonzeptionen beruhigen. Der »interne«, auf das Ordnungsgefüge der Lebenswelt restringierte »Sinn« bleibt trotz seiner Unverzichtbarkeit für die »Lebenspraxis« vorläufiger, begrenzter, »endlicher«, fragmentarischer Sinn. Aber schon um ein - endliches Leben »führen« zu können, und das heißt nicht zuletzt: sich in den mannigfachen Konstellationen und Relationen eines solchen Lebens orientieren zu können, muß die endliche Subjektivität - in der Sprache der »Metaphysik« ausgedrückt - auf einen »unendlichen« Sinn ausgreifen. Oder, in der Diktion der neuzeitlichen »Vernunftphilosophie« gesprochen: das endliche Vernunftsubjekt greift auf ein »Unbedingtes« aus, oder wie immer man den Gedanken eines »übergreifenden« und »beständigen« Orientierungs- bzw. Sinnmusters artikulieren mag. Nota bene: die endliche Subjektivität, das endliche Vernunftwesen denkt das Unbedingte als Unverbrüchliches und insofern »Beständiges«, d. h. das Unbedingte »besitzt« diese Qualität für die endliche Subjektivität, nicht etwa
514 H. Blumenberg (I986), S. 22, sagt über die »Lebensweltunendlich Dauernden«, das »Verbindliche« die des »Ewigen« an usw. Das, was fiir zeitlich-endliche Wesen wie den Menschen gilt, muß, fiir sich betrachtet, nicht notwendig »von unendlicher Dauer« o.ä. sein. Es ist die »metaphysische«, platonisierende Optik, die alles »Geltende« und »Verbindliche« mit der Aura des >>unendlich Dauernden« (sempiternitas) oder gar »Ewigen« (aeternitas) umgibt. Ebenso wird in dieser Perspektive nur dasjenige als »sinnvoll« eingeschätzt, was »Dauer« hat. Unter erkenntnistheoretischem Aspekt hatte, woran 1. Passmore erinnert, schon »Aristoteles gegen Platon darauf hingewiesen, daß etwas Weißes, das ewig ist, nicht
IV. Endlichkeit
398
weißer ist als etwas Weißes, das nur von kurzer Dauer ist.«518 In praktischer Hinsicht gibt es als »gut« zu qualifizierende Taten, die ihren »Wert« in sich selbst haben, ganz gleich, ob sie sehr lange zurückliegen oder zum aktuellen Geschehen gehören. Die »gute Tat« (oder, Kantisch gedacht, der »gute Wille«) ist »überzeitlich«, »absolut«, »ohne Einschränkungen«, »unbedingt« gut, unabhängig von den zeitlichen Bedingungen, unter denen sie getan wird. Bei dieser Einschätzung des »unbedingten« Gutseins von etwas neigen wir, worauf P. Edwards aufmerksam gemacht hat, dazu, ihm »ewigen« Wert zuzusprechen. Man müsse sich fragen, so P. Edwards, »was die Behauptung, daß der Wert einer guten Tat >ewig< ist, anderes bedeuten soll als die Behauptung, daß die meisten Menschen geneigt sind, eine solche Tat unabhängig davon gutzuheißen, wann und wo sie stattfand«5I9. Auch hier überlagert die Terminologie der Zeitdimension die der Dimension praktischer Geltung. Wenn etwas »unbedingten« Wert als »absolute« Geltung besitzt, so ist gemeint, daß es diesen Wert bzw. diese Geltung »zu aller Zeit« im Sinne von »zu jedem beliebigen Zeitpunkt«, d. h. ohne Einschränkungen und Ausnahmen besitzt. In dieser Bedeutung ist also - um unsere oben gestellte Frage wieder aufzugreifen - der der »endlichen« Vernunft eignende »Ausgriff aufs Überzeitliche« zu verstehen. Das »Geltende« und »Verbindliche«, das »Wesentliche« und »Sinnvolle«, ohne das eine humane, endliche Existenz wohl nicht vorstellbar ist, hängt also nicht von seiner »unendlichen Dauer« ab. Es dauert nicht »unendlich«, sondern es gilt »jederzeit«. Das in diesem Sinne Überzeitliche »überschreitet« mithin sehr wohl die Grenzen des Bedingten und Kontingenten, indem es - als Idee des »Unbedingten« - über das vergängliche Dasein des Menschen hinausweist in eine Dimension, die aus der puren Endlichkeit allein nicht zu gewinnen ist: die Geltungsdimension. Dieser »Ausgriff« aufs »Unbedingte« gehört, wie wir im Anschluß an Kant herausgestellt hatten, zum Kernbestand der Struktur »endlicher« Vernunft als der »Vernunft des Menschen«. Menschliche Vernunft als Vernunft eines »Doppelwesens«, d. h. eines im Spannungverhältnis von Bedingtheit und Unbedingtheit stehenden Wesens, sucht den »Sinn« menschlichen Daseins nicht in der »Unsterblichkeit«, aber ebensowenig vermag sie ihn allein in der endlichen, »vergänglichen« Existenz des Menschen zu erblicken.
3. Das Vernunftprinzip des moralisch Unbedingten und die Idee der Sympathie mit allem Vergänglichen Zu den unaufhebbaren und unhintergehbaren »Vorgegebenheiten« der »endlichen Subjektivität« gehört nicht nur die Begrenztheit ihres Erkennens, die
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J. Passmore (1975), S. 301. Vgl. Aristoteles: NE, 1096 b 3-5.
P. Edwards (1979), S. 301.
3. Das Vernunftprinzip des moralisch Unbedingten
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Fehlbarkeit ihres Wollens und Handeins und ihr Vorauswissen des eigenen Todes, kurz: die Komponente der Endlichkeit, sondern auch jene »Grundbegabung«, die wir das »Haben« von Vernunft in einem sehr elementaren Sinne genannt hatten. Die »Vernunftbegabung« kann nicht als Epiphänomen zur »grundlegenden« Verfassung des Menschen als eines endlichen Naturwesens betrachtet werden, sondern stellt im menschlichen Selbstverständnis eine ebenso fundamentale »Gegebenheit« wie seine Naturgebundenheit dar. Es ist die Vernunft, die den Menschen allererst befähigt, seine Naturgebundenheit und in der Folge seine Vergänglichkeit einzusehen. Vernunft lehrt den Menschen, sich als endliches Naturwesen begreifen zu müssen, zugleich aber ermöglicht sie ihm, sich als »endliche Subjektivität«, als seiner selbst und seiner Stellung zur »Welt« der Dinge bewußtes Lebewesen einzuschätzen. Und sie lehrt den Menschen ein Drittes: das Wissen um die Endlichkeit nicht nur seines leibgebundenen Daseins, sondern auch seiner Existenz als endlicher Subjektivität, als endlichen Vernunftwesens. Dieses Wissen des Menschen um das Enden seiner selbst als naturgebundener Subjektivität, die Einsicht in die zeitliche Begrenztheit jener Synthese von Vernunft und Natur, als die sich das »animal rationale« von jeher verstanden hat, gehört also, vermittelt durch die »Vernunftbegabung«, zu den Grundgegebenheiten humaner Existenz. Die Gewißheit des eigenen Todes als nur durch Vernunft mögliches »Sonderwissen«, ein Wissen, über das kein anderes Lebewesen als der Mensch verrugt, hebt diesen aus der Reihe aller anderen Lebewesen hervor. Doch die Todesgewißheit stellt - wie oben gezeigt - zugleich eine ungeheure Belastung rur den Menschen dar, so daß der Status der vernunftlosen Tiere, die nichts von ihrem Ende wissen, aus dieser Perspektive betrachtet als beneidenswerter Zustand erscheinen mag. Wie dem auch sei: die Vernunft und alle durch sie vermittelten Einsichten, einschließlich derjenigen in den Tod als das sichere Ende aller »Möglichkeiten«, ist gleichsam das unabwendbare Schicksal des Menschen. Doch dieselbe Vernunft, aufgrund derer der Mensch einerseits die schreckliche Gewißheit seines eigenen Todes besitzt, ist andererseits dasjenige »Vermögen«, das ihn in all seiner endlichkeitsbedingten Unfertigkeit und Fehlbarkeit die Idee des »Unbedingten« als einer letzten, von keinen »höheren« Bedingungen mehr abhängigen, unverbrüchlichen Orientierung fassen läßt. Noch vor aller detaillierteren Bestimmung der Idee des Unbedingten darf diese aufgrund dessen, daß sie zum Kernbestand derselben »Vernunft« gehört, die den Menschen - vermittelt durch die Fähigkeit, die Zukunft vorauszuschauen520 - befähigt, seinen eigenen Tod »vorauszuwissen«, als Ausdruck der Weigerung des endlichen Vernunftwesens, die eigene Endlichkeit als letzte, unüberbietbare Wahrheit seines Lebens zu akzeptieren, verstanden werden. In 520 Die menschenspezifische »überlegte Erwartung des Künftigen« läßt uns nach I. Kant (Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, VIII, S. 113) »nach einem mühseligen Leben« das mit Furcht voraussehen, »was zwar alle Tiere unvermeidlich trifft, ohne sie doch zu bekümmern, nämlich den Tod ... «.
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IV. Endlichkeit
der Anerkennung dieses Unbedingten als letzten Orientierungspunktes für seine Lebensmaximen spricht sich das endliche Vernunftwesen selbst eine Dignität zu, die dem Anspruch nach weit über den Status eines bloß endlichen Lebewesens hinausgeht. Zugleich aber ist das endliche Vernunftwesen jederzeit dessen eingedenk, daß diese Würde kein auf Dauer zu stellender »Zustand« ist, der auf irgendeine Weise, und sei es durch »Unsterblichkeit«, als »erreichbar« zu denken wäre. Jede Vorstellung eines »Zustandes« des endlichen Vernunftwesens, die dessen Seinsweise sei es retrospektiv als »paradiesisch«, sei es prospektiv als in irgendeiner Form »vollkommen« beschreibt, ist von der Idee des »Unbedingten« fernzuhalten. Das Unbedingte ist - als »Vemunftbegriff«521 - keiner bildhaften Veranschaulichung fähig. Überdies laufen derartige Illustrationen stets gefahr, für die Sache selbst genommen zu werden und führen so eher vom Verstehen des Gemeinten ab, als daß sie ihm dienlich wären. Kurz: die Idee des Unbedingten bezeichnet in keiner Weise einen »erreichbaren Zustand«, sondern ist als in der Vernunftstruktur selber begründete, normativ-praktische, orientierungsstiftende Idee S22 des endlichen Vernunftwesens aufzufassen. Um die Wichtigkeit der Idee des praktisch Unbedingten für das Selbstverständnis des Menschen zu ermessen, muß man sich vor Augen halten, daß sie zum Kernbestand der Vernunft gehört, die »Vemunftbegabung« des Menschen aber zugleich dasjenige» Vermögen« ist, aufgrund dessen der Mensch überhaupt Einsicht in seinen Endlichkeitsstatus zu gewinnen vermag. M.a.W.: Die Vernunft vermittelt dem Menschen seine Todesgewißheit, läßt ihn die Begrenztheit und Bruchstückhaftigkeit all seiner Intentionen, seines Strebens und Handeins wissen und formuliert zugleich in der Idee des moralisch Unbedingten einen »letzten«, von allen Bedingtheiten und Begrenztheiten unbetreffbaren, ganz und gar nicht fragmentarischen, sondern unverbrüchlichen, mit dem Anspruch auf unbedingte Geltung für alle endlichen Vernunftwesen auftretenden Orientierungspunkt in Gestalt des »moralischen Gesetzes«. Wie dieses Vernunfigesetz zu formulieren ist, ob als »kategorischer Imperativ« oder sonstwie, ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung. Entscheidend ist einzig, daß es als Gesetz der »praktischen« Vernunft für solche Wesen unbedingte Geltung beansprucht, die sich im Bewußtsein ihrer Endlichkeit gleichwohl in dem Maße als »frei« von der Nötigung durch endlichkeitsbedingte Begrenzungen bestimmen können, daß sie in der rückhaltlosen Anerkennung dieses Vernunftgesetzes ihr »eigentliches Selbst«, ihren Wert als »Person«, ihre »Würde« erblicken. Vor diesem Hintergrund wird augenfällig, daß das Wissen des Menschen um die Endlichkeit seiner 52 1 Bei Kant heißen Vernunftbegriffe »Ideen« (vgl. oben, Abschnitt I!. der vorliegenden Arbeit). Das »Unbedingte« ist gleichsam der Inbegriff aller »Ideen« der reinen Vernunft bzw. das den »Gebrauch« der Vernunftbegriffe leitende »Prinzip«. 522 Vgl. H. Krings (1980), S. 220: »Der Sinn einer Idee besteht nicht darin, Vorbild für die Wirklichkeit zu sein; sie dient vielmehr dazu, dem Wollen und Handeln des Menschen eine der Vernunft gemäße Orientierung zu geben.«
3. Das Vemunftprinzip des moralisch Unbedingten
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Existenz und die Idee eines die Endlichkeitsbedingungen »überschreitenden«, unbedingten Maßstabes rur alles unter diesen Endlichkeitsbedingungen geschehende Handeln synoptisch betrachtet werden müssen. Das heißt: die Idee des »Unbedingten« ist die Idee eines zugleich endlichen und »vernunftbegabten« Wesens und hätte rur ein bloß endliches Naturwesen ebensowenig einen »Sinn« wie rur ein »reines« Vernunftwesen. Den Charakter absoluter Verbindlichkeit, durch den das unbedingte Geltung beanspruchende moralische Gesetz gekennzeichnet ist, besitzt dieses rur solche Wesen, die, wie der Mensch, ein Leben unter Endlichkeitsbedingungen zu ruhren haben, jedoch nicht bereit sind, sich ihre Prinzipien der Lebensgestaltung von der »Natur« vorgeben zu lassen. Im bloß endlichen, von der »Natur« vollends determinierten Dasein als solchem vermag ein Wesen, das um diese Determination einschließlich des Verendenmüssens aller ihr unterworfenen Lebewesen weiß, keinen »Sinn« zu erblicken. Die Prinzipien menschlicher Selbstbestimmung verweisen vielmehr erst auf einen Sinn, wenn sie - als (Vernunft-)Prinzipien - einen Orientierungspunkt rur den sich seiner Endlichkeit als leibgebundenen Naturwesens bewußten Menschen benennen, einen Orientierungspunkt, der in der endlichen, »bedingten« Natur gar keinen Ort hat. Einen solchen Orientierungspunkt, ein solches »Maß«, in dessen Anerkennung das »freie« und zugleich endliche Vernunftwesen seinen nicht beliebigen, sondern »letzten und höchsten« Daseinssinn erblickt, bezeichnet die Vernunftidee des moralisch Unbedingten. Sie ist, anders gesagt, als der humanen Existenz genuiner Versuch zu verstehen, ihre »Urkonstellation«, das Eingespanntsein »zwischen« Vernunft und Endlichkeit, als »sinnvollen« oder wenigstens nicht von vornherein völlig sinnlosen Status zu begreifen. In ähnlicher Weise hat Werner Marx der moralischen Idee des Unbedingten eine orientierende, den Tod des Menschen zwar nicht aufhebende, so doch seine Bedrohlichkeit relativierende Funktion zugesprochen. In seiner strikt auf die Endlichkeitsbedingungen menschlicher Existenz beschränkten, »nachmetaphysischen« Ethik hat er Figuren des »moralisch Unbedingten« benannt, die rur die »Sterblichen« absolute Verbindlichkeit besitzen sollen, ohne auf »metaphysische« Vorstellungen von Überzeitlichkeit und Ewigkeit rekurrieren zu müssen. Wir benennen im folgenden kurz das Fundament der Ethik von W. Marx und wenden uns anschließend seiner zentralen Kategorie des »Mit-leiden-könnens« zu, die, auch über W. Marx' Ansatz hinaus, in nahezu allen »nachmetaphysischen« Endlichkeitsethiken an die Stelle der klassischen Idee des »Unbedingten« getreten ist, ohne jedoch rur diese ein Äquivalent bilden zu können. Marx versteht seine Ethik als »Nichtmetaphysische Nächstenethik«523, die »in einer gestimmten und intuitiv vernünftigen Weise der Begrenztheit und Ver-
523
W. Marx (l986a), S. 12.
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IV. Endlichkeit
gänglichkeit des menschlichen Daseins inne wird«524. Diese Ethik will im Ausgang von der absoluten Gewißheit unseres Sterblichseins 525 , »weder Glauben noch Metaphysik voraussetzend, zu einem Maß für verantwortungsvolles Handeln führen«526. Daß wir »Sterbliche« sind, bildet für W. Marx den Ausgangspunkt und die Grundlage aller ethischen Reflexion. Es bedeutet, »daß in uns, daß in unserem Dasein der Tod ständig, ja stündlich am Werke ist. Dieses immer schon geschehende ständige Vergehen können wir erfahren. Wir können und sollten erfahren, daß eben dies, unser Sterblichsein, die Wahrheit unseres Seins mit ausmacht.«527 Die Gewißheit unseres Sterblichseins, die Todesgewißheit, ist für W. Marx das hervorstechendste Merkmal unserer endlichen Existenz und muß deshalb in jeder »nachmetaphysischen« Ethik von vornherein Berücksichtigung finden. Anders als die »metaphysisch« orientierten, klassischen Ethiken, in denen Vergänglichkeit und Tod zumeist in umfassenden Seinsordnungen »aufgehoben« wurden, nimmt W. Marx' »nichtmetaphysische Nächstenethik« die Endlichkeit unseres Daseins nicht nur ernst, sondern setzt sie als unveränderlichen Rahmen für alle weiteren, konkreteren ethischen Überlegungen an. Umgekehrt besagt dies: ohne oder unter nur beiläufiger Berücksichtigung der Endlichkeit kann es heute, im »nachmetaphysischen« Zeitalter, keine überzeugende Ethik mehr geben. Ethik heute ist Ethik von »Sterblichen« und für »Sterbliche«. Mit den klassischen Ethiken teilt W. Marx' »Nächstenethik« die Einsicht, daß es ein »Maß« für des Menschen »praktisch-ethische Orientierung auf Erden«528 geben muß, auch wenn es dem Menschen nicht mehr möglich sei, dieses Maß von Gott als dem Absoluten, Maßgebenden her zu nehmen. 529 Anders als noch Hölderlin, der, in Übereinstimmung mit der christlichen Tradition, den Menschen »ein Bild der Gottheit«530 nannte und die Frage, ob es »auf Erden«, d. h. in der Welt der »Sterblichen«, ein »Maß« gebe, verneinen zu müssen glaubte 531 , meint W. Marx, daß es dieses »Maß auf Erden«, auf welches wir zur Bestimmung verantwortlichen Handeins gar nicht verzichten können, durchaus gibt, und zwar in den »Erscheinungsweisen der Liebe, des Mitleids und der mitmenschlichen Anerkennung«532. Diese sind zwar, wie auch W. Marx sieht, »säkularisierte religiöse Sinngehalte«533, aber das ändert nichts daran, daß W. Marx (1986), S. 10. Vgl. a. a. 0., S. 16: »Gibt es für den, der nicht gläubig und nicht mehr metaphysisch orientiert ist, überhaupt etwas >absolut Gewisses