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German Pages 212 Year 2013
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Emotion und Kognition Transformationen in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts
Herausgegeben von Sonja Koroliov
De Gruyter
Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Harald Bluhm, Robert Fajen, Wolfgang Hirschmann, Andreas Pecˇar, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Laurenz Lütteken, Jean Mondot, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill Redaktion: Bianca Pick Satz: Kornelia Grün
ISBN 978-3-11-029678-5 e-ISBN 978-3-11-031200-3 ISSN 0948-6070 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
SONJA KOROLIOV Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I
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Empfinden und Erkennen: Historische Auffassungen eines Zusammenhangs
THOMAS MARTINEC Epistemologisches Wissen über Emotionen in der Tragödienpoetik von Gottsched bis Lessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ULRIKE JEKUTSCH Vernunft, Gefühl und Sinne. Zur Verwendung des Begriffs ,þuvstvo‘ bei russischen Autoren des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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LEONHARD HERRMANN Gefühlte Freiheit? Zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Individualität im Sturm und Drang – Herders mystischer Monismus in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele . . . . . . . . . . . . . . .
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ELISABETH VON ERDMANN Glückseligkeit. Kompass und Ziel der Erkenntnis. Wege der Philosophia perennis im russischen Reich des 18. Jahrhunderts und die Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II Emotionen und Literatur II.1 Emotionalisierung der Schriftlichkeit NATALIJA D. KOCHETKOVA Gefühl und moralisches Handeln in der russischen empfindsamen Erzählung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . .
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NATALIE SCHNEIDER Der Brief als emotionale Kommunikation unter Freunden: Chemnicer, Deržavin, Kapnist und L’vov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI II.2 Die Macht des geschriebenen Wortes: Narrative Strategien emotionaler Bewusstwerdung, Kontrolle und Manipulation ANDREY KOSTIN Radishchev’s Diary of One Week as a Story of Madness . . . . . . . . . . . . . . 107 CAROLINE TORRA-MATTENKLOTT Melancholie und Übersicht. Formen und Funktionen der Synopsis bei Karl Philipp Moritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 SARA DICKINSON Thinking and Feeling in Russian Women’s Travel Writing during the Long Eighteenth Century: The Case of Varvara Bakunina . . . . . . . . . . 132 RÜDIGER ZILL Verstand und Mit-Gefühl: Zur Dialektik der Aufklärung in Laclos’ Gefährlichen Liebschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 MARKUS REITZENSTEIN Extreme Gefühle – Zur Subjektkonstitution der Gothic Novel . . . . . . . . . . 163 II.3 What’s the story? Die narrative Basis der Erkennbarkeit von Emotionen DANIEL M. GROSS How Can the Theory of Cognitive and Emotional Extension Alter What We Find in 18th-Century Literature? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 PETER GOLDIE Narratives Denken, Emotion und Planen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Angaben zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
SONJA KOROLIOV (Innsbruck)
Einleitung
Wirft man einen auch nur kurzen Blick auf die publizistische Aufmerksamkeit, die den Emotionen heute zuteil wird, so fällt – neben der schieren Masse schriftlicher wie mündlicher Äußerungen – auf, dass ein angesichts der Vielfalt einschlägiger Probleme, Situationen und Interessen bemerkenswerter Grundsatzkonsens über Emotionalität zu bestehen scheint. Demnach sind es hauptsächlich zwei Überzeugungen, die unser Verhältnis zur Emotionalität leiten: 1) Emotionen sind Mittel, die Welt zu erkennen. 2) Emotionen müssen erkannt werden, damit wir sie beherrschen und zu unseren Gunsten einsetzen können. Das erste Postulat ergibt sich in den meisten Kontexten der Gegenwart ex negativo: Personen, bei denen der westeuropäischen populären Wahrnehmung nach emotional „etwas nicht stimmt“ (von religiös fanatisierten Terroristen bis hin zu den Akteuren unrealistischer Lebenslagen in der scripted reality des Fernsehens) werden nicht, wie man meinen sollte, primär als „kalt“, „gefühllos“ oder „krank“ angesehen,1 sondern als „verrückt“, „verblendet“, „unbedarft“ und auch „unaufgeklärt“; sie werden also mit Attributen belegt, die im Kern auf eine kognitive Unzulänglichkeit verweisen. Das theoretische, neurologisch fundierte Komplement zu dieser eher unscheinbaren Besonderheit in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Devianz lieferte in den 1990er Jahren António Damasio, gewissermaßen als Pionier der breitenwirksamen Emotionsforschung, mit einer Reihe einschlägiger Fallgeschichten über Personen, die, aufgrund von Gehirnschäden „gefühlsblind“ geworden, nicht mehr in der Lage seien, die kognitiven Aufgaben ihres Alltags zu bewältigen.2 Aus der Erkenntnis, dass eine in der erwünschten Weise funktionierende Emotionalität schon aus praktischer Sicht lebensnotwendig sei, folgt jedoch noch kein Imperativ für den Umgang mit den Emotionen selbst – hier operiert vielmehr das zweite Postulat, demzufolge ein erfolgreich geführtes Leben durch Emotionsmanagement optimiert werden kann, wobei ,Emotionsmanagement‘ ein Wissen über die eigenen Emotionen voraussetzt.3 Die Verflechtung dieser beiden Prämis1 2 3
Eine wichtige Ausnahme hiervon bildet der Bereich der medialen Auswertung von Verbrechen. Vgl. António Rosa Damasio: Descartes’ Error: Emotion, Reason, and the Human Brain. New York 1994, S. 29, sowie Ders.: Descartes’ Irrtum. München 1999, S. 64–85. Vgl. z.B. Robert K. Cooper, Ayman Sawaf: Executive EQ. Emotional Intelligence in Leadership and Organizations. New York 1996, S. XII.
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Sonja Koroliov
sen in der öffentlichen Wahrnehmung mündet sichtbar in eine große Vielfalt beratender, präventiver, therapeutischer oder selbsttherapeutischer Maßnahmen, die sich – was im Hinblick auf den vorliegenden Band von besonderem Interesse ist – gänzlich oder zumindest in Teilen auf die eine oder andere Form literarischer Praxis stützen. Der Zugriff auf die Emotionen, insbesondere die jeweils eigenen, wird, so scheint es, überhaupt erst ermöglicht durch Formen und Praktiken des Redens und Aufschreibens. Dabei setzt die Pragmatik dieses Zugriffs in ihren diversen Erscheinungsformen ein komplexeres Bild sowohl der Emotionalität als auch der darauf bezogenen kognitiven Strategien voraus, als durch eine rein epistemologische Konzeption gewährleistet werden kann. Gefühlstagebücher, Gesprächstherapien, Briefserien an fiktive Adressaten, Meditationstagebücher, Selbsterfahrungsberichte und Blogs scheinen zunächst, insofern sie den skopos der Emotionskontrolle verfolgen, an einem nicht-kognitiven bzw. nicht ausschließlich kognitiven Prozedere orientiert zu sein: Der Schreiber will und soll innehalten, aus der (weitgehend unbewussten oder nicht vollständig reflektierten) Bewegung des Lebens zurücktreten, einen Überblick gewinnen. Er soll emotionale Mechanismen erkennen und sich damit in die Lage versetzen, diese auch zu steuern. Dies geschieht allerdings wiederum durch eine zweifache kognitive Anstrengung: einerseits durch den Versuch einer intellektuellen Objektivierung der Emotion selbst, andererseits durch eine zwar emotional initiierte, jedoch nicht primär die Emotion selbst betreffende Klärung eines Wissens-, Wahrnehmungs- und Erkenntnishorizontes. So bedeutet die Tatsache, dass Emotionen einer kognitiven Objektivierung zugänglich und durch diese auch modifizierbar sind, nicht, dass sie auf ihren kognitiven Gehalt reduziert werden können. Und ebenso unklar ist es, ob kognitives Einwirken auf eine Emotion zielgerichtet sein muss, ob also eine Modifikation meines Wissenshorizontes zu einem gegebenen Zeitpunkt ein Erkennen des zu diesem Zeitpunkt wirksamen emotionalen Zustandes einschließen muss, um diesen Zustand beeinflussen zu können Das 18. Jahrhundert als Formierungsepoche nicht nur der europäischen Aufklärung, sondern auch einer modernen Konzeption von Emotionalität, ist nicht nur äußerst reich an Phänomenen, die auch und gerade im Hinblick auf die hier skizzierte Problematik einer Klärung bedürfen, sondern hat unser heutiges Verständnis der Emotionen geprägt und ist daher auch geeignet, Schwierigkeiten und Besonderheiten dieses Prozesses zu erhellen. Im Dickicht der unzähligen Äußerungen von Literaten, Philosophen, Ärzten, Physiologen und Psychologen, Wissenschaftlern sowie Privatpersonen, die im 18. Jahrhundert die Emotionen als Thema neu entdeckten und in den Vordergrund nicht nur privaten wie öffentlichen Schreibens, sondern auch intersubjektiver Praxis stellten, können die im vorliegenden Band versammelten Beiträge vielleicht einige Pfade beleuchten. Der erste Teil des Bandes stellt verschiedene Systematiken vor, in denen Emotionen als Formen der Erkenntnis figurieren. Der zweite Teil wird den Zusammenhang zwischen Emotionalität und Schriftlichkeit näher beleuchten.
Einleitung
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Aufgrund der „Epistemologisierung der Emotionen“4 bei Spinoza, die sich in der Philosophie Leibniz’ und Wolffs fortsetzt und damit das Denken des 18. Jahrhunderts stark beeinflusst, besetzt die Emotionalität in der epistemischen Erklärungsökonomie der Aufklärung zunächst eine ungünstige Stelle. Emotionale Phänomene werden nicht nur verstärkt in derselben Weise behandelt wie Erkenntnisphänomene, sondern in zahlreichen Fällen mit – wenn auch modifizierten – Formen der Kognition identifiziert. Es werden Kognitionsmodelle verwendet, die der jeweils dazugehörigen Emotionstheorie vorgängig sind. Die jeweiligen Emotionskonzepte werden also vorhandenen epistemischen Konzepten nachgebildet und zugeordnet. Dies ist selbst dort der Fall, wo der sinnlichen Erkenntnis (wie bei Baumgarten) eine besondere Sphäre zugewiesen wird. Eine Abwandlung dieses Modells findet sich bei Autoren wie Herder oder dem ukrainischen Philosophen Skovoroda, die ebenfalls in Beiträgen dieses Bandes behandelt werden. Hier handelt es sich um organische Modelle, in denen Erkennen und Empfinden zwar so nahtlos ineinander übergehen, dass keine scharfen definitorischen Trennlinien zu ziehen sind, man also nicht von einer expliziten Herabstufung der emotionalen Sphäre sprechen kann. Unverändert bleibt jedoch der Primat der Epistemologie bestehen, da sowohl bei Herder als auch, noch stärker, bei Skovoroda das Erkennen der Welt als Ziel eindeutig im Vordergrund steht. Diese Tendenz in der Theoretisierung der Emotionen verstellt jedoch den Blick auf die Tatsache, dass einerseits die Beschreibung, Analyse, Präsentation, Inszenierung und Medialisierung von Emotionen, andererseits emotionale Praktiken den Bereich der Kognition ihrerseits beeinflussen, dass also sentimentalische Theorie und Praxis die Formen der Wissensakquisition, -aufbereitung und -umsetzung sowie epistemische Grundpositionen, Strategien und Visionen der Aufklärung nachhaltig prägen. Insbesondere betrifft dies das Alltags- bzw. Lebenswissen;5 durch die enormen gesellschaftlichen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts sieht sich der Einzelne mit einer Vielzahl neuer kognitiver wie normativer Unsicherheiten konfrontiert, die hauptsächlich aus neuen Formen der Intersubjektivität erwachsen und die eine Revision und Erneuerung des kulturellen Wissens und eine kognitive wie praktische Orientierung in einer Vielzahl neuer Herausforderungen notwendig machen: Die neuen Ökonomien, Kontingenzen, Rhetoriken und praktischen Zwänge, denen das Individuum ausgesetzt ist, kann es nur durch die Erlangung eines aufgeklärten
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Vgl. Catherine Newmark: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg 2008, S. 25 und 169f. Zum Begriff des Lebenswissens vgl. das in Potsdam und Frankurt/O. angesiedelte Forschungsprojekt „Lebensformen und Lebenswissen“: http://www.gk-lebensformen-lebenswissen.de/? mod=forschungsprogramm [09.05.2011].
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Alltagswissens6 meistern und in eine Struktur bringen, die ihm an seinem jeweiligen sozialen und kulturellen Ort ein angemessenes Wissen und Handeln gewährleistet. Mehrere der hier veröffentlichten Beiträge belegen eindrücklich, dass dieses primär intersubjektiv verfasste Wissen zu einem nicht geringen Anteil im Vollzug sentimentalischer Praxis entsteht, und zeigen, auf welche Art diese Wirkung zum Tragen kommt. Einer der Bereiche, für den dies besonders deutlich wird, ist das Reisen. Die wachsende Mobilität von sowohl Personen als auch Informationen im 18. Jahrhundert lässt sich an einer gesteigerten Reise- und Publikationstätigkeit ablesen. Die kulturelle Virulenz dieser Entwicklung tritt jedoch erst durch deren Reflexion in den neuen Genres der europäischen Sentimentalismen zutage: Erst die Etablierung ,mobiler‘ Genres wie der Reisebeschreibung und des Briefes als Teil einer autonomen literarischen Praxis generiert einen selbstständigen Mobilitätsdiskurs. Es sind also die sentimentalische Praxis und die ihr eigenen Schreibweisen, die die Mobilisierung konstituieren. So stellen zwar Reiseberichte, Briefe und weitere autobiographische Genres keine formale Neuerung dar, gewinnen jedoch im Sentimentalismus eine neue Eigentlichkeit. Denn erst durch die Zentralsetzung der Emotion im literarischen Zugriff wird das Reisen zum Reisen per se – eine sentimental journey ist eine Reise um des Reisens willen, wie es keine andere Art des Reisens sein kann, und dies kann in ähnlicher Weise auf Briefe, Autobiographien und verwandte Genres übertragen werden. Die Emotionalisierung des Schreibens, die mit der Autonomisierung des literarischen Feldes einhergeht, führt jedoch nicht nur zu einer Neustrukturierung und -positionierung der Gattungen, sondern beeinflusst auch die Wahrnehmungs- und Wissensprozesse, die die einschlägigen Texte prägen. Hier findet eine Mobilisierung des Kognitiven statt, durch die das Prinzip der Bewegung die Kategorien der Kognition erweitert, vertieft und verfeinert. So führen die in vielen klassischen Texten des Sentimentalismus inszenierten Ortswechsel, intersubjektiven Austauschprozesse, komplexen Zeitstrukturen und intertextuellen Vollzüge zu einer Neugewichtung wissensrelevanter Prozesse, etwa der Perspektivierung, der interpersonellen Vergewisserung, der flexibilisierten, reflektierten Verarbeitung von Quellen, der Feststellung und des Umgangs mit kognitiven Störfällen, der Authentifizierung, der experimentellen Verifikation etc. Es entstehen „Wissenswelten“, deren Methoden und Prozesse denen der Wissenschaft zwar verwandt, analog oder nachgebildet sein können, deren Virulenz jedoch allein im Bereich des Alltagsund Lebenswissens zum Tragen kommt.
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Vgl. hierzu Rainer Enskats präzise Ausführungen zum „aufgeklärten Wissen“ in Rainer Enskat: Aufgeklärtes Wissen. Eine verdrängte Erblast des 18. Jahrhunderts. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Berlin 2008, S. 23–44.
Einleitung
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Wie erklärt sich nun vor diesem Hintergrund die Persistenz des normativen Impulses und der anthropologischen Motivation, die in so unterschiedlichen Texten der Epoche gleichermaßen auszumachen ist? Ein Blick auf die in diesem Band behandelten Beispiele legt die Erklärung nahe, dass die Entwicklung und Verfeinerung kognitiver Instrumente in Antwort auf eine Krise geschieht. Diese Krise ist jedoch keine wissenschaftliche, sondern eine pragmatische; sie ist teilweise auf das exponentielle Anwachsen propositionalen Wissens zurückzuführen, speist sich jedoch mindestens ebenso stark aus der Problematik der aufklärungsspezifischen Öffnungssituationen, etwa im Bereich der Sozialität. Die Anforderungen an den Wissenshorizont des Individuums in der Aufklärung sind daher weniger propositionaler als situativer Art. Wenn Moses Mendelssohn in seiner Schrift Über die Frage: was heißt aufklären? eines der Kriterien der Aufklärung in der Fähigkeit sieht, die Masse der Erkenntnisse und deren Wichtigkeit und Bedeutung im Verhältnis zur Bestimmung des Menschen und des Bürgers sowie vor dem Hintergrund einer beruflichen Betätigung einschätzen zu können,7 so beantwortet dies nicht nur die Frage nach der Rolle der Literatur, sondern zum Teil auch die nach der Anthropologie. Denn ein Wissen, von dem ich gemäß meiner Bestimmung als Mensch oder als Bürger Gebrauch machen kann, schließt schon in Hinblick auf diesen seinen pragmatischen Aspekt eine situative Komponente ein. Situativ verankertes Wissen kann jedoch nur aus eigener oder erzählter Erfahrung in und mit konkreten Situationen gewonnen werden. Über die begrenzte, jeweils persönliche Erfahrung hinaus aber ist es die Literatur, die einen medialen Raum schafft, in dem Situativität in der Narrativität aufgehoben werden bzw. wo die Verdichtung des Wissens in Erfahrung nicht durch dessen logische Durchdringung konterkariert werden kann. Martha Nussbaums in diesem Band zitierte These „We learn emotions through stories“8 könnte also für den Bereich des Alltagswissens erweitert werden zu „We learn everything through stories“; Nussbaums weiterer Überlegung, dass die Emotion selbst die Akzeptanz einer bestimmten Art von Erzählung sei, beziehungsweise die Bereitschaft, nach einer bestimmten Art von Erzählung zu leben („emotion itself is the acceptance of, the assent to live according to, a certain sort of story“) müsste demnach hinzugefügt werden, dass die Emotion uns zunächst einmal lehrt, was eine ,story‘ ist oder sein kann, wo sie beginnt, wo sie endet, wie man eine ,sort of story‘ ausmacht und von anderen ,sorts‘ unterscheidet und dergleichen mehr. Die Entscheidung, nach einer bestimmten Art von Erzählung zu leben, ist demgegenüber eine ethische und damit sekundär. Sie setzt die kognitive Erschließung situativer Gegebenheiten und
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Vgl. Moses Mendelssohn: Über die Frage: was heißt aufklären? In: Ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 61.1. Stuttgart 1981, S. 112–19. Martha Nussbaum: Narrative Emotions: Beckett’s Genealogy of Love. In: Dies.: Love’s Knowledge. Essays On Philosophy and Literature. New York, Oxford 1990, S. 286–313, zit. nach dem Beitrag von Markus Reitzenstein in diesem Band.
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das Erlernen der für diese Gegebenheiten einschlägigen Kulturtechniken schon implizit voraus. Mendelssohns Aufklärungskonzeption lässt die Frage nach der konkreten Ausgestaltung eines der Bestimmung des Menschen oder Bürgers angemessenen Wissens und auch Handelns offen. Wie bestimmt sich die Bestimmung des Menschen, wie die des Bürgers? In der sich hier eröffnenden Definitionslücke entspinnt sich die anthropologische Diskussion, der weite Teile des Aufklärungsdiskurses zuzuordnen sind. Einige der hier versammelten Beiträge thematisieren diese Lücke und die daraus erwachsende Furcht, das Ich könnte mithilfe der Emotionalität, d.h. auf Basis jener beunruhigenderweise noch nicht vollständig kartographierten Anteile des Ich’s, so manipuliert werden, dass es nicht nur seine Bestimmung in Hinblick auf eine festgelegte Rolle verfehlt, sondern sogar in Hinblick auf seine eigene innere Struktur. Die Furcht vor Manipulation ist so zugleich eine Furcht vor der eigenen Unkenntlichkeit gegenüber sich selbst und anderen, es ist die Furcht davor, unkenntlich gemacht zu werden, ,nicht mehr ich selbst zu sein‘. Aus der Notwendigkeit, dieser Furcht zu begegnen, speist sich letztlich auch das Interesse daran, Emotionalität nicht nur als theoretisches Problem und philosophische Fragestellung, sondern auch in ihrer situativen Verfasstheit zu erkennen. Die abschließenden Beiträge dieses Bandes sind starke Plädoyers für eine Konzeption der Emotionen als Teil einer welthaltigen, prozessualen, zeitabhängigen und damit narrativen Identität. Die im ersten Teil dieses Bandes versammelten Beiträge behandeln Emotion als eine Form des Erkennens. Während Thomas Martinec in seinem Beitrag Epistemologisches Wissen über Emotionen in der Tragödienpoetik von Gottsched bis Lessing einen Blick auf die Interferenzen zwischen philosophischen Emotionskonzepten bei Wolff, Baumgarten und Mendelssohn und den kontemporären Tragödienpoetiken Gottscheds, Bodmers und Breitingers, J. E. Schlegels, Curtius’, Nicolais und Lessings wirft, zeichnet Ulrike Jekutsch die Entwicklung des Gefühlsbegriffs (þuvstvo) in der russischen Odendichtung des 18. Jahrhunderts nach und führt sie auf deren westeuropäische philosophische Grundlagen zurück. Demgegenüber beschreibt der Beitrag Leonhard Herrmanns Gefühlte Freiheit? Zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Individualität im Sturm und Drang – Herders mystischer Monismus in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele den organioschen Zusammenhang von Fühlen und Wissen bei Herder. Eine ähnliche Konzeption verfolgt Elisabeth von Erdmanns Beitrag Glückseligkeit. Kompass und Ziel der Erkenntnis. Wege der Philosophia perennis im russischen Reich des 18. Jahrhunderts und die Emotionen, der sich dem Denken des ukrainischen Philosophen Skovoroda widmet. Im zweiten Teil dieses Bandes geht es zunächst um die Emotionalisierung der Literatur, die mit der Autonomisierung des literarischen Feldes einhergeht. Verschiedene Emotionalisierungsprozesse werden anhand unterschiedlicher Genres nachgezeichnet. Während Natal’ja D. Kochetkova sich in ihrem Beitrag Gefühl
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und moralisches Handeln in der russischen empfindsamen Erzählung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts der sentimentalischen Erzählung und deren Position innerhalb der ethischen Diskurse im (noch nicht ganz) aufgeklärten Russland widmet, untersucht Natalie Schneider in ihrem Beitrag Der Brief als emotionale Kommunikation unter Freunden: Chemnicer, Deržavin, Kapnist und L’vov die Wandlung und sukzessive Emotionalisierung des russischen Freundschaftsbriefs. Die zweite Gruppe von Beiträgen im zweiten Teil dieses Bandes behandelt im weitesten Sinne Formen gelungener oder gescheiterter Emotionskontrolle. Andrey Kostins Beitrag Radishchev’s Diary of One Week as a Story of Madness beschreibt den Verlust kognitiver Kontrolle aufgrund einer klassischen sentimentalischen Situation. Im Gegensatz dazu geht es in Caroline Torra-Mattenklotts Beitrag Melancholie und Übersicht. Formen und Funktionen der Synopsis bei Karl Philipp Moritz um die Rolle der Übersicht als einer kognitiven wie emotionalen Strategie zur Überwindung der in der konkreten Situation des Protagonisten aber auch in der conditio humana schlechthin angelegten existentiellen Einengung und Begrenztheit. Sara Dickinson wählt in ihrem Beitrag Thinking and Feeling in Russian Women’s Travel Writing during the Long Eighteenth Century: The Case of Varvara Bakunina einen Ausschnitt dieses Feldes und befasst sich mit der Rolle der Schriftlichkeit in der Überwindung von Furcht. In zwei weiteren Beiträgen geht es dann um Emotionskontrolle an der Grenze zur Manipulation. Rüdiger Zill stellt in seinem Beitrag Verstand und Mit-Gefühl: Zur Dialektik der Aufklärung in Laclos’ Gefährlichen Liebschaften zwei zeittypische Arten des Emotionsmanagements einander gegenüber und untersucht deren literarische und philosophische Interferenzen. Daraufhin wirft Markus Reitzenstein in seinem Beitrag Extreme Gefühle – Zur Subjektkonstitution der Gothic Novel einen erhellenden Blick auf den Zusammenhang zwischen dem Gothic feeling und der Angst des Subjekts vor emotionaler Manipulation. Die abschließenden Texte dieses Bandes – Daniel Gross’ How Can the Theory of Cognitive and Emotional Extension Alter What We Find in 18th-Century Literature? und Peter Goldies Narrative Thinking, Emotion, and Planning nehmen schließlich die theoretischen Implikationen unter die Lupe, die aus einer situativen Emotions- und Wissenskonzeption erwachsen. Daniel Gross wendet sich gegen Damasio und plädiert für eine welthaltigere Explikation der Emotionalität, die sich nicht in biophysiologischen Erklärungen erschöpft. Peter Goldie hingegen untersucht die Rolle der Narrativität in der Rekapitulation der Vergangenheit und in Prozessen der Zukunftsplanung sowie die Bedeutung der Emotionen für seine Konzeption des ,narrative thinking‘.
I Empfinden und Erkennen: Historische Auffassungen eines Zusammenhangs
THOMAS MARTINEC (Regensburg)
Epistemologisches Wissen über Emotionen in der Tragödienpoetik von Gottsched bis Lessing Für eine Untersuchung des Verhältnisses von Emotion und Kognition in der Literatur des 18. Jahrhunderts drängt sich die Tragödientheorie geradezu auf. Immerhin war die Tragödie seit der Poetik des Aristoteles als Gattung nicht nur auf Leidenschaften insgesamt, sondern sogar auf besonders starke Leidenschaften (παθοȢ) spezialisiert. Man könnte geradezu sagen, die Tragödie habe die starken Leidenschaften für sich ‚gebucht‘. Sie war diejenige literarische Gattung, die solche Leidenschaften nicht nur zur Darstellung brachte, sondern sie überdies – darin sah man ihre eigentliche Aufgabe – in den Zuschauern bewirken sollte. Dass ihr dies mitunter sehr wirkungsmächtig gelang, bekunden zumindest zeitgenössische Berichte über mitleidsvolle Tränen bei der Uraufführung von Miss Sara Sampson bis hin zu grenzenlosem Entsetzen beim Anblick der Räuber. In dem vorliegenden Beitrag soll es allerdings weniger um eine rezeptionsästhetische Untersuchung der tragischen Leidenschaften gehen als vielmehr um die Frage, wie sich die Poetik der Aufklärung den Umgang der Tragödie mit den Leidenschaften vorgestellt hat. Hierzu ist es unerlässlich, den Bereich der Kognition einzubeziehen. Die faktische emotionale Wirkung der Tragödie wurde im 18. Jahrhundert von einer intensiven theoretischen Diskussion begleitet, in der unter verschiedenen Gesichtspunkten reflektiert wurde, welche Voraussetzungen die Tragödie erfüllen muss, um in den Affekthaushalt des Zuschauers eingreifen zu können und auf diese Weise ihren gattungsspezifischen Zweck zu erfüllen. Dabei standen folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie muss der tragische Held beschaffen sein? In welchem Verhältnis stehen die Charaktere zur Handlung? Wie verhält sich das Trauerspiel zur historischen Überlieferung? Welche Leidenschaften sollen im Zuschauer erregt werden? Was soll mit diesen Leidenschaften im Zuschauer geschehen? Kann der Zuschauer allein durch Leidenschaften gebessert werden? Auf welche Weise kann dies geschehen? Weshalb empfinden wir trotz aller unangenehmen Leidenschaften im Trauerspiel ein Vergnügen an dessen Aufführung? Bei der Untersuchung dieser und weiterer Fragen gibt die aufklärerische Poetik ein differenziertes Wissen über die emotionale Seite der Tragödie zu erkennen. Poetologen des 18. Jahrhunderts zeigen ein auffallend großes Interesse daran, auf welche Art und Weise die Tragödie ihren gattungsbedingten Verpflichtungen auf emotionalem Gebiet gerecht wird. Hier wird sehr gründlich analysiert, wie der Zuschauer emotional auf die Tragödie reagiert. Die Ergebnisse solcher Analysen konstituieren einen Bestand an Wissen über Emotionen, dessen Grundzüge im folgenden dargestellt werden sollen. Ausgeblendet wird dabei die Frage, wie sich
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das Wissen über Emotionen auf die Tragödienpraxis ausgewirkt hat, welche Vorstellungen der Critischen Dichtkunst also etwa der Sterbende Cato, welche Ideen des Trauerspielbriefwechsels Emilia Galotti, welche Impulse des Erhabenen Maria Stuart zu erkennen gibt. So reizvoll solche Fragen der dramaturgischen Umsetzung von theoretischen Wirkungskonzeptionen auch sind, sie dürfen an dieser Stelle vernachlässigt werden, da sie nicht primär die Konstitution von Wissen über Emotionen betreffen, vielmehr dessen Anwendung auf der Bühne. Allein zu zeigen, dass in der Aufklärung ein spezifisches Affektwissen existiert, reicht allerdings nicht aus, um das Verhältnis von Emotion und Kognition in der Tragödienpoetik des 18. Jahrhunderts näher zu bestimmen. Ein Wissen über Emotionen gab es nämlich schon lange vorher. Auch hier ist wieder bei Aristoteles anzusetzen, wobei diesmal die gesamte rhetorische Tradition mit ihrer Affektenlehre und deren Einbettung in das Gesamtsystem der Rhetorik einzubeziehen ist. Die barocke Tragödienpoetik etwa bezieht einen großen Teil ihres Wissens über die tragischen Leidenschaften aus den Beständen der Rhetorik. Neu ist die Tatsache, dass man etwas über Emotionen weiß, in der Aufklärung also keineswegs. Ganz im Gegenteil: Das Wissen der aufklärerischen Poetik, angefangen bei Gottsched über Lessing bis hin zu Schiller, ist bei aller Innovation tief verwurzelt in der humanistischen Tradition. Von dort bezieht man nämlich das tragödienpoetologische Basiswissen über Emotionen: Die Tragödie erregt Leidenschaften und bessert hierdurch den Menschen. Dieses Basiswissen erfährt dann aber im 18. Jahrhundert eine grundlegende Transformation, indem es nicht länger mit den Mitteln der Rhetorik, sondern mit denen der Erkenntniskritik begründet wird. Das tragödienpoetologische Wissen über die Emotion leitet sich in der Aufklärung also in erster Linie aus erkenntniskritischem Affektwissen ab. Um dies zu zeigen, werden im folgenden drei aufklärerische Modelle der Tragödienwirkung mit drei epistemologischen Zugriffen auf den Affekt in Verbindung gebracht.1 Um Mißverständnissen vorzubeugen, sollen zunächst jedoch die beiden Begriffe geklärt werden, die im Zentrum des vorliegenden Tagungsbandes stehen: Emotion und Kognition. Der Terminus „Emotion“ ist in der aufklärerischen Tragödienpoetik nicht gängig. Stattdessen ist hier in erster Linie von „Affekten“ oder „Leidenschaften“ die Rede. Nun wäre es freilich zu begrüßen, wenn man diese beiden Ausdrücke klar voneinander absetzen könnte, etwa in der Weise, dass man „Affekte“ für das rhetorische Wissen über Emotionen und „Leidenschaften“ für das epistemologische Wissen reserviert. Eine solche Trennlinie ist in den Theorien, die an dieser Stelle untersucht werden, aber nicht gegeben. Lessing etwa verwendet beide Ausdrücke für dieselbe Sache. Im seinem Brief vom November 1756 an
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Zu weiteren Ansätzen der Affektbetrachtung vgl. Thomas Mueller: Rhetorik und bürgerliche Identität. Studien zur Rolle der Psychologie in der Frühaufklärung. Tübingen 1990; sowie Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990.
Epistemologisches Wissen über Emotionen
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Nicolai, in dem er seine berühmte Theorie der Tragödienwirkung darlegt, verwendet Lessing das Wort „Leidenschaft“: „Kurz, ich finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleiden.“2 Im Brief vom 2. Februar 1757 an Mendelssohn hingegen verwendet Lessing, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, so doch für dieselbe Sache, den Ausdruck „Affekt“: „daher ich denn in einem von meinen ersten Briefen schon gesagt habe, dass die Tragödie eigentlich keinen Affekt bei uns rege mache, als das Mitleiden.“3 Man wird sich also damit begnügen müssen, „Emotion“ als das Ergebnis einer sinnlichen Wahrnehmung zu verstehen, die sowohl „Affekt“ als auch „Leidenschaft“ genannt wird. Im Gegensatz zum Ausdruck „Emotion“ ist der Ausdruck „Kognition“ zumindest in seiner lateinischen Form „cognitio“ in der frühaufklärerischen Erkenntniskritik sehr wohl präsent, etwa in der Unterscheidung verschiedener „cognitiones“ bei Leibniz, die weiter unten noch darzustellen sein wird. Genau hierdurch wird allerdings eine Begriffsklärung erforderlich. Der Ausdruck „Kognition“ wurde nämlich gerade eben verwendet, um ein Wissen über Emotionen zu beschreiben. Das epistemologische Wissen, um das es im Folgenden konkret geht, zeichnet sich jedoch gerade dadurch aus, die Emotion als eine Erkenntnisart zu begreifen. „Kognition“ bezeichnet dabei also nicht den epistemologischen Wissensbestand, in dem die Emotion reflektiert wird, sondern die Emotion selbst, so wie sie in diesem Wissensbestand erscheint. Genau genommen, geht es hier also nicht um Emotion und Kognition, sondern speziell um Emotion als Kognition. Um diese beiden Kognitionsbegriffe voneinander zu trennen, wird in dem vorliegenden Beitrag der Terminus „Kognition“ je nach spezifischer Bedeutung durch die beiden Termini „Wissen“ und „Erkenntnis“ ersetzt. „Wissen“ bezeichnet dabei einen Bestand von Aussagen über Emotionen, die von Philosophen und Poetologen des 18. Jahrhunderts für wahr gehalten werden, während „Erkenntnis“ das ausdrückt, als was die Emotion in diesem Wissensbestand erscheint: einen spezifischen Erkenntnismodus, dem in der Tragödienpoetik die Aufgabe zugesprochen wird, den Menschen zu bessern.
Wolff – Gottsched Am Beginn der Aufklärung übernimmt Christian Wolff die Leibnizsche Unterscheidung von Erkenntnisarten. Zentrales Kriterium dieser Unterscheidung ist die Aktivität der Seele, durch die das Erkennen konstituiert wird: Wenn die Seele eine Sache wahrnimmt, ohne sie wiederzuerkennen, so ist die „cognitio“ („Erkenntnis“) 2 3
Lessing an Nicolai, Nov. 1756. In: Lessing: Werke. 8 Bde. Hg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 4. München 1970–1979, S. 161. Lessing an Mendelssohn, 2. Feb. 1757. In: ebd., S. 204.
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Thomas Martinec
„obscura“ („dunkel“); kann sie die Sache wiedererkennen, so ist die Erkenntnis „clara“ („klar“). Kann die Seele die Kennzeichen angeben, durch die sich die wahrgenommene Sache von anderen Dingen unterscheidet, so verfügt sie über eine „cognitio distincta“ („deutliche Erkenntnis“), wo dies nicht möglich ist, spricht Leibniz von einer klaren, aber verworrenen Erkenntnis, der „cognitio confusa“.4 Auf der Basis dieser Klassifizierung entwickelt Wolff ein System von zwei verschiedenen Erkenntniskräften: „Das Vermögen das Mögliche deutlich vorzustellen ist der Verstand. Und hierinnen ist der Verstand von den Sinnen und der Einbildungs=Kraft unterschieden, dass, wo diese allein sind, die Vorstellungen nur höchstens klar, aber nicht deutlich seyn: hingegen wo der Verstand dazu kommet, dieselben deutlich werden.“5 Im Rahmen der erkenntniskritischen Untersuchung der Seele ziehen auch die sinnlichen Kräfte des Subjekts einige Aufmerksamkeit auf sich. So wird der „Affect“, der hier gleichbedeutend mit „Gemüthsbewegung“ und „Leidenschaft“ erscheint,6 als „mercklicher Grad der sinnlichen Begierde und des sinnlichen Abscheus“7 im Bereich der undeutlichen Erkenntnis gesehen. Dabei entstehen „die angenehmen Affecten durch undeutliche Vorstellungen vieles Guten, die unangenehmen oder widrigen durch undeutliche Vorstellungen vieles Bösen, und die vermischten durch undeutliche Vorstellungen Gutes und Böses zugleich“.8 Neben dieser Zuweisung nimmt Wolff zudem erstmals eine eingehende Analyse der seelischen Prozesse vor, die den Affekt konstituieren: Wenn man [...] deutlich erklären soll, was in der Seele vorgehet; so ist hier ein völliger Vernunfft=Schluß anzutreffen [...], da der Untersatz die Erfahrung ist, welche wir von der gegenwärtigen Sache oder der Begebenheit haben, der Obersatz die allgemeine Maxime, darnach wir das Gute und Böse beurtheilen und der Hintersatz die Vorstellung, dadurch der Affect erreget wird.9
Indem Wolff alle Erkenntnisarten sowie die ihnen zugrundeliegenden seelischen Abläufe untersucht, weist er einerseits darauf hin, dass sinnliche Regungen das 4
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Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis/Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen (1684). In: Ders.: Philosophische Schriften. Hg. u. übers. v. Wolf von Engelhardt u. Hans Heinz Holz. Bd. 1. 2. Aufl. Darmstadt 1985, S. 32–47. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (= Deutsche Metaphysik). In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. u. bearb. v. J. Ecole u.a. I. Abteilung. Bd. 2. Hg. v. Charles A. Corr. Hildesheim 1983, § 277. Vgl. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit. Darinn alle Philosophische Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden. 2 Teile. Frankfurt a.M. 1965 [ND der Ausg. Leipzig 1733 u. 1734], hier 1. Teil, § 525. Wolff: Deutsche Metaphysik (wie Anm. 5), § 439. Ebd., § 441. In ähnlicher Weise erklärt Georg Friedrich Meier, dass „die Leidenschaften [...] aus einer verworrenen Erkenntnis ihren Ursprung nehmen“ (Ders.: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Teile. Hildesheim, New York 1976, [ND der Ausg. 2. Aufl. Leipzig 1754, 1755, 1759], § 193). Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (= Deutsche Ethik). In: Ders.: Gesammelte Werke. 1. Abteilung. Bd. 4. Hg. v. Hans Werner Arndt. Hildesheim 1976, § 192.
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Ergebnis eines aufklärbaren Ursprungs sind; es erscheint daher einseitig, Wolff als bloßen Rationalisten zu sehen. Andererseits gibt sein System freilich insgesamt eine rationalistische Grundorientierung zu erkennen, insofern sinnliche Abläufe nach dem Muster der rationalen Erkenntnis aufgefasst und mit den Mitteln der Logik beschrieben werden. So trifft Wolff in seiner Darstellung des Affekts auf einen „Vernunfft=Schluß“,10 wodurch der Affekt im Grunde als sensitiver Syllogismus erscheint. Ferner äußert sich die rationalistische Grundorientierung von Wolffs Erkenntnissystem in der Hierarchisierung der Erkenntniskräfte. So werden verschiedene „Grade der Erkäntniß“ unterschieden,11 wobei allein der Verstand „den höchsten Grad der Erkänntniß“ erreichen kann, während „Sinnen und Einbildungskraft“ lediglich „die Grade der unvollkommenen Erkäntniß“ zugänglich sind.12 Der sinnliche Teil der Seele erscheint hier als defizitäre Erkenntniskraft, die der Vernunft unterlegen ist, weshalb die Auseinandersetzung mit diesem Seelenvermögen unter dem Vorzeichen steht, ein im Prinzip unzureichendes Organ der Erkenntnis zum Gegenstand zu haben. Gottscheds Tragödienmodell ist das hier skizzierte Wissen über den Affekt deutlich eingeschrieben. Vor dem Hintergrund der barocken Tradition steht für Gottsched zwar fest, dass die Tragödie die „hefftigsten Affekten“13 und „stärksten Leidenschaften“14 zu erregen habe, untersucht man seinen Umgang mit den tragischen Affekten jedoch genauer, so gibt sich ein nachhaltiger Bedeutungsverlust zu erkennen: Für die Verwirklichung des eigentlichen Tragödienzwecks sind die Affekte nämlich nur noch zweitrangig, weil an erster Stelle, ebenso wie in der Wolffschen Erkenntnishierarchie, die Vernunft steht. Dieser Bedeutungsverlust äußert sich sowohl in Gottscheds Adaption des aristotelischen Handlungsprimats als auch in seinem Umgang mit der sinnlichen Funktionsweise des Trauerspiels. Aristoteles hatte den Charakter als ein Mittel angesehen, dessen Zweck darin besteht, die Fabel zur Darstellung zu bringen.15 Auch Gottsched hält die Fabel für wichtiger als die Charaktere, bezeichnet er doch die Einrichtung der Fabel für „das allerschwerste in einer Tragödie“16 und erklärt: 10 11 12 13 14 15
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Ebd. In derselben Weise spricht Gottsched: Gesamte Weltweisheit (wie Anm. 6). 2. Teil, § 525, von einem „Vernunftschluß in dem Affecte“. Wolff: Deutsche Metaphysik (wie Anm. 5), § 279. Ebd., § 277–282. Gottsched: Der Biedermann. Faks. d. Originalausg. Leipzig 1727–1729. Hg. v. Wolfgang Martens. Stuttgart 1975. 2. Teil, S. 178. Gottsched: Die Schauspiele sind nicht zu verbannen. In: Ders.: Ausführliche Redekunst. Hildesheim, New York 1973 [ND der Ausg. Leipzig 1736], S. 565. „Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit. [...] Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie Charaktere ein.“ (Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, 1450a). Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Vierte sehr vermehrte Auflage. Darmstadt 1962 [ND der Ausg. Leipzig 1751], S. 613.
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„Der Poet wählet sich einen moralischen Lehrsatz, den er seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will. Dazu ersinnt er sich eine allgemeine Fabel, daraus die Wahrheit eines Satzes erhellet. Hiernächst suchet er in der Historie solche berühmte Leute, denen etwas ähnliches begegnet ist.“17 Die Tatsache, dass der Dichter den Lehrsatz „seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will“, ändert jedoch nichts daran, dass der Satz selbst ein Produkt der Vernunft ist und als solches letztlich darauf zielt, die Vernunft des Zuschauers zu erreichen. So spiegelt Gottscheds Tragödienkonzeption die Wolffsche Hierarchie von „oberen“ und „unteren“ Erkenntniskräften wider. Der Unterschied zur erkenntniskritischen Philosophie besteht lediglich darin, dass die Hierarchie nicht so leicht wahrnehmbar ist, weil Gottsched den Affekten vor dem Hintergrund der poetologischen Tradition, der er verpflichtet ist, einen hohen Stellenwert beimisst. Als gattungsspezifische Aufgabe des Trauerspiels muss die Erregung starker Leidenschaften zumindest an der Oberfläche gebührend bedacht werden. Kratzt man jedoch an dieser Oberfläche, so scheint eine philosophische Konzeption durch, in der die Vernunft als Erkenntniskraft favorisiert wird. Der hier skizzierte Bedeutungsverlust zeigt sich indirekt auch darin, dass Gottsched keine klare Vorstellung von dem Mechanismus der affektischen Tragödienwirkung zu erkennen gibt. Mal soll sich der Tragödiendichter „des Schreckens, der Bewunderung und des Mitleidens“18 bedienen, ein andermal ist nur von „Schrecken und Mitleiden“19 die Rede, dann wiederum von Bewunderung und Mitleid,20 schließlich sogar von „Traurigkeit, Schrecken, Mitleiden und Bewunderung“.21 Spricht Gottsched hier von Affekterregung, so fordert er an anderer Stelle zudem die Reinigung. Auch dabei zeigt er kein einheitliches Konzept: Mal hat das Trauerspiel im Sinne des genitivus subjectivus „zur Hauptabsicht, durch die Erregung des Schreckens und Mitleidens, die Gemüthsbewegungen der Zuschauer und Leser zu reinigen; oder sie zu erbauen“,22 ein anderes Mal werden im Sinne des genitivus objectivus „Bewunderung, Mitleiden und Schrecken zu dem Ende erreget, damit sie [= die Fabel] dieselben in ihre gehörige Schranken bringen möge“.23 Die angeführten Widersprüche geben zu erkennen, dass Gottsched kein wirkliches Interesse an der sinnlichen Wirkung des Trauerspiels mehr hat.24 Sein eigentliches Interesse gilt vielmehr dem moralischen Satz, dem Produkt der deutlichen Erkenntnis also, weil in ihm das Potential der Tragödie liegt, den Menschen 17 18 19 20 21 22 23 24
Ebd., S. 611. Gottsched: Biedermann (wie Anm. 13). 2. Teil, S. 178. Gottsched: Critische Dichtkunst (wie Anm. 16), S. 612. Vgl. Der sterbende Cato. Vorrede zur ersten Ausgabe 1732. In: Gottsched: Ausgewählte Werke. Hg. v. Joachim Birke. Bd. 2. Berlin 1970, S. 3–21, hier S. 17. Gottsched: Critische Dichtkunst (wie Anm. 16), S. 606. Gottsched: Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln und Exempeln der Alten. Leipzig 1741 [ND Stuttgart 1972]. 5. Teil, S. 13. Gottsched: Die Schauspiele sind nicht zu verbannen (wie Anm. 14), S. 565f. Vgl. Gustav Maniek: Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit. Leipzig 1897, S. 115.
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zu bessern. Die Gemütsbewegungen weisen dieses Potential vor dem Hintergrund der frühaufklärerischen Erkenntniskritik indes nicht mehr auf. Aus diesem Grund ist es für die Tragödientheorie nicht mehr maßgeblich zu klären, wie die sinnliche Wirkung des Trauerspiels genau funktioniert. Dass Gottsched dies dennoch unternimmt, hängt mit der starken Präsenz des aristotelischen Tragödiensatzes zusammen. Es war schlichtweg undenkbar, sich mit der Tragödie auseinanderzusetzen, ohne deren Wirkung auf die Affekte zu behandeln. Eine stringente Vorstellung von der Art und Weise, in der sich die sinnliche Wirkung des Trauerspiels vollzieht, zeigt Gottsched indes nicht.
Baumgarten – Bodmer, Breitinger, J. E. Schlegel In Baumgartens Ästhetik bleibt das Wissen über den Affekt zwar im Grunde epistemologisch, der Status des Affekts im Gefüge der Erkenntniskräfte ändert sich jedoch nachhaltig. Baumgarten emanzipiert den sinnlichen Teil der Seele von der Vorherrschaft des rationalen Erkenntnisvermögens und schafft zugleich das philosophische Instrumentarium, das eine dezidierte Untersuchung dieser Kraft ermöglicht. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung liegt in der Öffnung eines Erkenntnisbereichs, der ausschließlich dem sinnlichen Teil der Seele zugänglich ist. So richtet Baumgarten in seinen Meditationes das Gedicht konsequent und exklusiv auf den Bereich sensitiver Vorstellungen aus.25 Hierzu wird es von der „oratio“ abgeleitet, die Baumgarten als „seriem vocum repraesentationes connexas significantium“ („eine Reihe von Wörtern, die zusammenhängende Vorstellungen bezeichnen“) versteht.26 Diese Vorstellungen werden eingeschränkt auf solche, „per partem facultatis cognoscitivae inferiorem comparatae“ („die durch den niederen Teil des Erkenntnisvermögens erworben worden sind“). Baumgarten nennt sie, ebenso wie eine Rede, die aus ihnen besteht, „sensitiv“.27 Je mehr Bestandteile sensitive Vorstellungen hervorrufen, als umso vollkommener gilt die Rede bzw. das Gedicht: „Oratio sensitiva perfecta est poema“ („Eine vollkommene sensitive Rede ist ein Gedicht“).28 Während die Poesie also ganz und gar darauf abzielt, sensitive Vorstellungen zu wecken, werden deutliche Vorstellungen, die bei Wolff und Gottsched den „höchsten Grad der Erkänntniß“29 ausmachen, aus dem poetischen Wirkungsfeld 25
26
27 28 29
Vgl. Werner Strube: Alexander Gottlieb Baumgartens Theorie des Gedichts. In: Theodor Verweyen in Zusammenarb. mit Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 1995, S. 1–25. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditiationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus = Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts (1735). Lat.-Dt. übers. u. hg. v. Heinz Paetzold. Hamburg 1983, § I. Ebd., §§ IIIf. Ebd., § IX. Zur Herleitung vgl. ebd., §§ VI–VIII. Wolff: Deutsche Metaphysik (wie Anm. 5), § 279.
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ausgeschlossen: „Repraesentationes distinctae [...] non sunt sensitivae, ergo nec poeticae“ („Deutliche Vorstellungen [...] sind nicht sensitiv, folglich auch nicht poetisch“).30 Da eine sensitive Wirkung auch nur sensitiv wahrgenommen werden kann, erhalten die sensitiven Kräfte der Seele einen Bereich, der ausschließlich ihnen zugänglich ist. Die sensitive Erkenntniskraft wird somit zum „analogon rationis“:31 „Diskursiv-begriffliche und sinnlich-anschauliche Erkenntnis sind zwei gleich ursprüngliche Erkenntnisrichtungen des Menschen. Dies ist eines der wesentlichen Resultate Baumgartens.“32 Die Emanzipierung des unteren Erkenntnisvermögens, die sich in der Begründung der Ästhetik als eigenständiger Wissenschaft von der sensitiven Erkenntnis äußert,33 motiviert ein neues Wissen über den Affekt, das diesen aus dem Zusammenhang rationalistischer Vorstellungen herauslöst. Es ist eine Art Unabhängigkeitserklärung des Affekts im Rahmen des epistemologischen Wissens. Zugleich ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Baumgarten trotz aller Differenzen zu Wolff die sensitiven Kräfte der Seele nach wie vor mit Blick auf deren Erkenntnisfunktion untersucht. Der Affekt wird als ein spezifischer Erkenntnismodus aufgefasst, wodurch die Sinnlichkeit eine „gnoseologische Komponente“34 erhält und als „Erkenntnisweise“35 figuriert. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Georg Friedrich Meier später den Affekt in den Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften als „sinliche Erkentniß (cognitio sensitiua)“ bezeichnet.36 Das gegenüber Wolffs rationalistisch fundiertem Wissen über den Affekt neu akzentuierte Affektwissen Baumgartens zeigt Reflexe in den Tragödienpoetiken von Bodmer, Breitinger und Johann Elias Schlegel. Am deutlichsten äußert sich dies in der gegen Gottsched gerichteten Umkehrung des Handlungsprimates. Bodmer und Breitinger sehen die „Hauptabsicht des Poeten“ darin, den „Charakter 30 31
32 33
34 35 36
Baumgarten: Meditationes (wie Anm. 26), § XIV. Vgl. z.B. Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ (1750/58). Lat.-Dt. übers. u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer. 2. Aufl. Hamburg 1988, §§ 1 u. 9. Paetzold: Einleitung zu Baumgartens Meditationes (wie Anm. 26), S. XLV. Baumgarten positioniert die Ästhetik folgendermaßen: „Weil wir nun aber weit mehrere Vermögen der Seelen besitzen, die zur Erkenntnis dienen, als die man bloß zum Verstande oder der Vernunft rechnen könne, so scheint ihm die Logik mehr zu versprechen, als sie halte, wenn sie unsere Erkenntnis überhaupt zu verbessern sich anheischig macht, und nachher nur mit der deutlichen Einsicht und deren Zurechtweisung beschäftiget ist. Er stellt sie sich also, als eine Wissenschaft der Erkenntnis des Verstandes oder der deutlichen Einsicht vor und behält, die Gesetze der sinnlichen und lebhaften Erkenntnis, wenn sie auch nicht bis zur Deutlichkeit, in genauester Bedeutung, aufsteigen sollte, zu einer besondern Wissenschaft zurück. Diese letztere nennt er die Ästhetik.“ (Philosophischer Briefe zweites Schreiben [1741]. In: Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Lat.-Dt. Übers. u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983, S. 67–72, hier S. 69). Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972, S. 37. Klaus Bohnen: Geist und Buchstabe. Zum Prinzip des kritischen Verfahrens in Lessings literarästhetischen und theologischen Schriften. Köln, Wien 1974, S. 53. Meier: Anfangsgründe (wie Anm. 8). Teil 1, S. 45, § 27.
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derselben [= der Personen] in ihrem besten Lichte mittelst der Handlung vorzustellen“.37 So liegt nunmehr „der vornehmste Werth dieser Gedichtsarten [...] in der geschickten Vorstellung solcher Gesinnungen und Neigungen [...], als die Handlung in den Personen ihren Charaktern gemäß verursachen muß“.38 Die Fabel wird als dasjenige Element der Tragödie angesehen, das „schlechterdings nothwendig ist die Charakter auf die nachdrücklichste Art aus einander zu setzen“.39 In diesem Sinne sagt J. E. Schlegel über seinen Canut, er habe „diejenigen Umstände [aus der Geschichte] gewählt, die mir am bequemsten erschienen, Charaktere ins Licht zu setzen und Gemütsbewegungen zu erwecken“,40 und er stellt grundsätzlich fest: „Ein Stück, darinnen die Handlung sehr wohl eingerichtet und verwirret ist, kann gleichwohl noch ein elendes Stück seyn, wenn die Wahl und Ausarbeitung der Charaktere, und die darinnen angebrachten Gedanken schwach, sich selbst widersprechend, oder gemein sind.“41 Die Qualität der tragischen Fabel wird nunmehr nach der „Anordnung der Begegnisse und Umstände“ bemessen, „in welcher die Charakter und Leidenschaften sich am vollständigsten und deutlichsten aus einander setzen lassen“.42 In der Umkehr des Handlungsprimats in ein Primat der Charaktere äußert sich ein vitales Interesse an der Darstellung sensitiver Prozesse. Der Vorzug des Trauerspiels liegt nun darin, dass „die tieffen Winkel der Seele an den Tag geleget, und die Affekte dadurch mit mehrer Deutlichkeit gezeiget werden“,43 und die Aufgabe des Tragödiendichters ist es, „eine vollständige Schilderey des menschlichen Lebens zu liefern, in welcher man nicht allein die natürlichen Folgen der menschlichen Handlungen, sondern die Temperamente, und die Neigungen der Menschen zu sehen bekommt, mit den innerlichen Beweggründen zu guten Handlungen und zu Abweichungen von den allgemeinen Grundregeln der Tugend“.44 In derselben Weise betont J. E. Schlegel, das Ziel des Dramas sei „eine genaue und feine Abschilderung der Gemüther und Leidenschaften. Die Kenntniß des Menschen macht einen sehr wichtigen Theil der Sittenlehre aus. Diese Kenntniß besteht größtentheils in der Kenntniß der Charaktere und Leidenschaften. Das Theater ist ein Bild von beyden.“45
37 38 39 40 41 42 43 44 45
Johann Jacob Bodmer u. Johann Jakob Breitinger: Critische Briefe. Hildesheim 1969 [ND der Ausg. Zürich 1746], S. 71. Ebd., S. 72. Ebd., S. 86. Johann Elias Schlegel: Vorbericht zum Canut. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. v. Werner Schubert. Weimar 1963, S. 172–216, hier S. 175. Schlegel: Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters (1747). In: Ebd., S. 559–586, hier S. 575. Bodmer, Breitinger: Critische Briefe (wie Anm. 37), S. 85f. Ebd., S. 75. Ebd., S. 76. Schlegel: Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters. In: Ausgewählte Werke (wie Anm. 40), S. 576.
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So wie Gottscheds Votum für das Handlungsprimat ein Wissen reflektiert, dem der Affekt als eine untergeordnete Erkenntniskraft gilt, äußert sich in Bodmers, Breitingers und Schlegels Favorisierung der Charaktere gegenüber der Fabel ein Wissen, das die prinzipielle Gleichwertigkeit rationaler und sensitiver Erkenntniskräfte postuliert. Von nun an steht nicht mehr Gottscheds „Lehrsatz“ im Zentrum des Tragödienkonzepts, sondern vielmehr „die tieffen Winkel der Seele“, die „Affekte“, „Temperamente“, „Neigungen“, „Charaktere und Leidenschaften“.
Mendelssohn – Curtius, Nicolai, Lessing Um die Jahrhundertmitte herum entwickelt Moses Mendelssohn mit den Mitteln der Erkenntniskritik ein elaboriertes Wissen über emotionale Abläufe in der menschlichen Seele, indem er in den Briefen über die Empfindungen (1755) die „Natur des Vergnügens“ analysiert,46 also nach den Prozessen fragt, die sich in der Seele des Betrachters ereignen, wenn dieser Vergnügen empfindet. Im Rahmen einer erkenntniskritischen Analyse wird dabei der Weg nachgezeichnet, auf dem die Seele ein Bewusstsein von dem „Gegenstand des Vergnügens“47 entwickelt. Der Gegenstand selbst ist in diesem Zusammenhang ausschließlich mit Blick auf das wahrnehmende Subjekt von Bedeutung, wodurch sich die Untersuchung des Vergnügens ganz und gar auf dessen seelische Konstitution konzentriert. Was für Mendelssohns Untersuchung des Vergnügens im allgemeinen gilt, das zeigt sich auch in seiner Begründung des Vergnügens an der Tragödie im speziellen. In einem fiktionalen Dialog wird die erkenntniskritische Perspektive des Theokles gegen Euphranors rhetorischen Ansatz abgesetzt. In Euphranors Sicht erregt „die furchtbare, die schreckliche Natur“, die im Trauerspiel zur Darstellung gelangt, „Betrübniß“ und „Wehmut“, also Regungen, die nach rhetorischem Verständnis dem wahrgenommenen Gegenstand entsprechen. Entsprechend wird das Vergnügen am Trauerspiel auf die unangenehme Regung zurückgeführt, weil sonst nichts vorhanden ist, wovon es abgeleitet werden könnte: „diese Betrübniß, diese Wehmut hat für uns unaussprechliche Reitze. Der munterste Jüngling legt seine Freudigkeit ab, und krönt den Dichter, der die boshafte Geschicklichkeit besitzt, ihm Thränen auszulocken.“48 Im Gegensatz hierzu fragt Mendelssohn alias Theokles nach der seelischen Konstitution, die dem Vergnügen am Trauerspiel zugrunde liegt. So setzt seine Erklärung mit dem Satz ein: „Es ist aus der Natur unserer Seele [!] erwiesen [...], dass sie nichts wollen, dass sie sich an nichts vergnügen könne, was sich ihr nicht 46 47 48
Moses Mendelssohn: Briefe über die Empfindungen (1755). In: Ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. v. Otto F. Best. 3. Aufl. Darmstadt 1994, S. 29–110, hier S. 31 (Vorbericht). Ebd., S. 36. Alle Zitate dieses Absatzes ebd., S. 57.
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unter der Gestalt einer Vollkommenheit darstellt.“49 Mendelssohns Herleitung des Vergnügens am Trauerspiel geht also von einer Prämisse aus, die in erster Linie eine Grundbefindlichkeit der Seele reflektiert: Die Seele strebt nach Vollkommenheiten. Von hier aus begibt sich Theokles auf die Suche nach dem Ursprung des tragischen Vergnügens, die er schließlich in der vermischten Empfindung des Mitleids findet. Mit diesem Konzept bricht er Euphranors rhetorisch motivierte Vorstellung von der Lust am Schrecklichen auf, indem er zeigt, dass das Schreckliche eine Unlust erregt, die die Lust an der Vollkommenheit steigert: „Dieses ist die Natur unsrer Empfindungen. Wenn sich einige bittere Tropfen in die honigsüße Schale des Vergnügens mischen; so erhöhen sie den Geschmack des Vergnügens und verdoppeln seine Süßigkeiten.“50 Mendelssohns Untersuchung des tragischen Vergnügens gibt epistemologisches Wissen über den Affekt zu erkennen. Sie basiert auf der Vorstellung, dass die Wahrnehmung eines Gegenstandes von den seelischen Abläufen im erkennenden Subjekt konstituiert wird. Auf dieser Grundlage setzt sich Mendelssohn mit dem Vergnügen als einem konkreten Erkenntnisfall auseinander. Er unternimmt also den Versuch, „in die Tiefen der Empfindungen einen spähenden Blick zu thun“,51 um hierdurch die Abläufe der sinnlichen Erkenntnis zu ermitteln: „Mendelssohn versteht unter ‚Empfindung‘ nicht den physiologischen Prozess sinnlichen Wahrnehmens, sondern die resultathafte Bewußtwerdung eines sinnenvermittelten Reizes. Insofern ist Empfinden schon eine Form des Erkennens.“52 Der ästhetische Gegenstand dient dabei als Portal zur Seele, denn, wie Mendelssohn in den Hauptgrundsätzen der schönen Künste und Wissenschaften erklärt: „Jede Regel der Schönheit ist zugleich eine Entdeckung in der Seelenlehre. [...] Bey welchen Erscheinungen sind [...] wohl alle Triebfedern der menschlichen Seele mehr in Bewegung, als bey den Wirkungen der schönen Künste?“53 Auf der Basis des erkenntniskritischen Wissens über den Affekt fragt die Tragödienpoetik um die Jahrhundertmitte herum in auffallender Weise immer wieder nach den emotionalen Prozessen, die das Trauerspiel im Zuschauer auslöst. Am deutlichsten ist dies bei Lessing zu beobachten, weil hier die epistemologische Frage offen heraus formuliert wird: Das meiste wird darauf ankommen: was das Trauerspiel für Leidenschaften erregt. In seinen Personen kann es alle mögliche Leidenschaften wirken lassen, die sich zu der Würde des Stoffes schicken. Aber werden auch zugleich alle diese Leidenschaften in den Zuschauern rege? Wird er freudig? Wird er verliebt? Wird er zornig? Wird er rachsüchtig? Ich frage nicht, ob ihn der Poet so weit bringt, daß er diese Leidenschaften in der spielenden Person billiget, sondern 49 50 51 52 53
Ebd., S. 87. Ebd., S. 90. Ebd., S. 32. Klaus-Werner Segreff: Moses Mendelssohn und die Aufklärungsästhetik im 18. Jahrhundert. Bonn 1984, S. 88. Mendelssohn: Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften (1757). In: Ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl (wie Anm. 46), S. 173–197, hier S. 173.
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Lessings Frage danach, was der Zuschauer tatsächlich fühlt, wenn er ein Trauerspiel sieht, liegt das epistemologische Wissen zugrunde, dass sich der Gegenstand einer sinnlichen Erkenntnis nicht einfach analog in den sinnlichen Teil des Erkenntnisvermögens überträgt, sich dort also nicht einfach abdrückt. Aus diesem Grund wird nun unterschieden zwischen Gefühlen, die man mit den dramatis personae teilt, und solchen, die man selbst empfindet – eine Unterscheidung, die der rhetorischen Affektpsychologie unbekannt ist. Lessings Antwort auf die Frage nach der tatsächlich gefühlten Leidenschaft bleibt zunächst unbegründet: „Kurz, ich finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleiden.“55 Wenn er die Begründung dieser Antwort in einem späteren Brief an Mendelssohn dann nachholt, äußert sich erneut sein epistemologisches Affektwissen: Indem er hier das Mitleid gegen die „zweiten Affekte“ absetzt, gibt sich nämlich das Kriterium zu erkennen, auf dessen Basis „wirkliches“ Fühlen identifiziert wird: Es ist der Gegenstand, der vorhanden sein muss, damit Lessing einen Affekt als solchen gelten lässt. Alle Affekte, die ein Kunstwerk nachahmt, erregen im Zuschauer „ähnliche Affekten [...], die auf keinen gewissen Gegenstand [!] gehen“.56 Welchen Affekt der Zuschauer auch immer an der spielenden Person wahrnimmt, er kann ihn niemals selbst haben, weil er nicht die Person ist, „auf welche die unangenehme Idee unmittelbar wirkt“;57 es fehlt hier also am „unangenehmen Gegenstand“58 der sinnlichen Erkenntnis. Einzig und allein das Mitleid hat diesen Gegenstand: das Unglück des tragischen Helden. Erkenntnis ist nur da möglich, wo ein Gegenstand existiert. Wo dies nicht der Fall ist, kann auch nichts erkannt werden. Das hier skizzierte epistemologische Wissen über den Affekt ist keineswegs auf Lessings Tragödienmodell beschränkt, sondern es lässt sich um die Jahrhundertmitte herum auch bei Michael Conrad Curtius und Friedrich Nicolai nachweisen. In der Abhandlung von dem Wesen und dem wahren Begriffe der Dichtkunst, die den Anhang zu seiner Übersetzung der aristotelischen Poetik eröffnet,59 unternimmt Curtius den Versuch, Baumgartens Begründung des Gedichts („oratio sensitiva perfecta est poema“) auf die wichtigsten poetischen Gattungen der Zeit anzuwenden. Hierzu zeigt er, dass die jeweilige Gattung „1) in Ansehung der Gegen-
54 55 56 57 58 59
Lessing an Nicolai, Nov. 1756. In: Werke (wie Anm. 2), Bd. 4, S. 161. Ebd. Lessing an Mendelssohn, 2. Feb. 1757. In: Werke (wie Anm. 2), Bd. 4, S. 203. Ebd., S. 204. Ebd. Michael Conrad Curtius: Aristoteles Dichtkunst. Ins Deutsche übersetzt, mit Anmerkungen und besonderen Abhandlungen versehen. Hildesheim, New York 1973 [ND der Ausg. Hannover 1753], hier S. 339–380.
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stände. 2) in Ansehung der Erkenntniß dieser Gegenstände. 3) in Absicht auf den Ausdruck“60 sinnlich ist. Der Nachweis für die Tragödie lautet: Ein Trauerspiel ist die Nachahmung einer großen affectvollen Handlung, welche durch redende Personen vorgestellet wird. Hier herrschet vornehmlich die Sprache des Schreckens, des Mitleidens, der Wuth, der Liebe, und überhaupt aller Leidenschaften. Die Personen, die vorgestellet werden, sind vornehme Unglückliche. Hier sind die Gegenstände. Unser Eingeweide wird bey ihren Unglücksfällen bewegt, wir empfinden selbst, unsere Erkenntnis ist folglich sinnlich. [...] Der Ausdruck ist [...] gleichfalls sinnlich, und das Trauerspiel ist eine vollkommene sinnliche Rede.61
Während Curtius’ Darstellung des Gegenstandes (Punkt 1) und des Ausdrucks (Punkt 3) auch aus der frühneuzeitlichen Poetik stammen könnten, liegt seiner Reflexion der sinnlichen Erkenntnis (Punkt 2) bereits der erkenntniskritische Affektbegriff der Aufklärung zugrunde. Dass „Unser Eingeweide [...] bewegt“ wird, heißt hier nämlich, wie Curtius ausdrücklich hervorhebt: „wir empfinden selbst“. Noch vor Lessing konstatiert auch Nicolai in seiner Abhandlung vom Trauerspiele einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den dargestellten Leidenschaften und der Wirkung, die diese Leidenschaften auf den Zuschauer ausüben. Letztere nennt Nicolai allerdings nicht Mitleid, sondern „Rührung“.62 Während das rhetorische Tragödienmodell etwa davon ausgeht, dass sich der Zorn, die Wut und die Verzweiflung des tragischen Helden als Zorn, Wut und Verzweiflung auf den Zuschauer übertragen, insistiert Nicolai darauf, dass diese Leidenschaften eine Wirkung im Zuschauer hervorrufen, die sich grundlegend von ihnen unterscheidet, insofern sie eben nicht mehr Zorn, Wut und Verzweiflung ist, sondern „Rührung“. Mit dieser Unterscheidung bezieht sich Nicolai in seiner Abhandlung auf Du Bos,63 wenn er erklärt: Es ist jedermann bekannt, dass unser Geist die Unthätigkeit hasset, und die Beschäfftigung liebet; ein gehöriger Gebrauch unserer Kräfte ist jederzeit mit einer angenehmen Empfindung verknüpfet. [...] Was ist aber wohl mehr vermögend uns in Bewegung zu setzen, als die Leidenschaften? [...] Selbst alsdenn noch, wenn uns die Heftigkeit der Leidenschaften unangenehme Empfindungen verursachet, hat die Bewegung die sie mit sich führet noch Annehmlichkeiten für uns.64
60 61 62
63 64
Ebd., S. 356. Ebd., S. 370f. Zum Verhältnis zwischen den Tragödienmodellen Nicolais und Lessings vgl. der Verfasser, Friedrich Nicolai im Trauerspieldisput von 1756/57. In: Rainer Falk, Alexander Kosenina (Hg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008, S. 45–65. Vgl. Jean Baptiste Du Bos: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey. Aus dem Französischen des Herrn Abtes Du Bos. Kopenhagen 1760 u. 1761, S. 34–42. Friedrich Nicolai: Abhandlung vom Trauerspiele. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Hg. v. Phillip M. Mitchell, Hans-Gert Roloff, Erhard Weidl. Bd. 3: Literaturkritische Schriften I. Bearb. v. Phillip M. Mitchell. Frankfurt a.M. u.a. 1991, S. 169–194, hier S. 170.
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Nicolais Verdienst besteht darin, aus Du Bos Konzept vom Vergnügen an unangenehmen Leidenschaften in der Nachahmung die Konsequenz für das Problem der moralischen Wirkung von Trauerspielen zu ziehen: Sollen wir von einer Leidenschaft abwendig gemacht, oder mit dem Aristoteles zu reden, davon gereiniget werden; so müssen uns die unangenehmen Empfindungen und Folgen, die sie hervorbringt, so lebhaft werden, dass sie das Vergnügen verdunkeln, das aus der Bewegung entsteht, von welcher eine jede heftige Leidenschaft begleitet ist. Nun ist aber [...] der Schmerz oder die unangenehme Empfindung, welche die theatralischen Leidenschaften erregen, nur scheinbar und nachgeahmt, die Rührung hingegen geschieht, wie niemand läugnen wird, wirklich, folglich wird sie jederzeit die lebhafteste Empfindung unter beyden bleiben. Sollte sie von einem scheinbaren Schmerze überwunden werden, sie, die der wirkliche Schmerz einer wirklichen Leidenschaft, sehr öfters nicht zu überwinden vermögend ist? Was kann also aus diesem Streit eines scheinbaren Schmerzes und einer wirklichen Rührung entstehen? Das, was Corneille gesagt hat: ein schöner Gedanke – – der aber selten zur Wirklichkeit kömmt.65
Auffallend an dieser Passage ist, dass Nicolai einerseits die Katharsis zwar als Wirkung der Tragödie anerkennt, andererseits jedoch ihren moralischen Nutzen bezweifelt. Im Rahmen der neuzeitlichen Aristoteles-Rezeption wurde die Katharsis zwar gelegentlich bezweifelt, aber sobald sie als Tragödienwirkung akzeptiert wurde, stand ihr moralischer Nutzen außer Frage. Nicolai hingegen akzeptiert die Katharsis, bezweifelt aber ihre moralische Wirkung, weil sein epistemologisches Wissen den Affektstatus der erregten Leidenschaft problematisiert. Die dargestellten Leidenschaften lösen nur noch einen „scheinbaren Schmerz“ aus, der nicht zur Wirkung kommen kann, weil er von einer „wirklichen Rührung“ verdrängt wird. Vor dem Hintergrund seines epistemologischen Wissens über den Affekt kann Nicolai nicht mehr einfach hinnehmen, dass die dargestellten Leidenschaften zugleich die Leidenschaften des Publikums sein sollen, sondern er muss danach fragen, was sich tatsächlich im sinnlichen Erkenntnisvermögen des Zuschauers abspielt. Die zentrale Funktion, die in den hier skizzierten Modellen sowohl dem wirklichen Fühlen des Zuschauers als auch dem Vorhandensein eines Gegenstands für die Bestimmung der tragischen Leidenschaft zugewiesen wird, legt es nahe, das Konzept der empfindsamen Tragödie, deren Ziel ein Fühlen um des Fühlens willen ist, mit Vorsicht zu gebrauchen. Ein solches Konzept beruht nämlich auf der weit verbreiteten Vorstellung, Lessings Mitleidsbegriff meine das sympathetische Mitleiden. So erklärt Lothar Pikulik, es „werden alle ursprünglich differenzierten und auf ein Objekt unmittelbar bezogenen Empfindungen der Bühnenperson im reflektierten Fühlen des Zuschauers zu einer einzigen Empfindung gewissermaßen verschmolzen, dem Sichfühlen, das Lessing hier, wie es naheliegt, Mitleiden nennt“.66 Jochen Schulte-Sasse fasst das Mitleid bei Lessing als „ein Mitzittern unserer ge-
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Ebd., S. 171f. Lothar Pikulik: „Bürgerliches Trauerspiel“ und Empfindsamkeit. Köln, Graz 1966, S. 126.
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genstandsentzogenen Gefühle“ auf,67 als „Mit-leiden in der etymologischen Bedeutung des Wortes“,68 Armand Nivelle spricht von „Mit-Leid“ und „Sym-Pathie im ursprünglichen Sinne des Wortes“69 und Martin Schenkel findet „die ästhetische Seite des Mitleids [...] in dem Selbst-Fühlen der dargestellten Leidenschaft“.70 Auf der Grundlage eines solchen sympathetischen Mitleidsbegriffs erklärt Lothar Pikulik dann: „Die Aufmerksamkeit wird vom Objekt weg auf das Subjekt gelenkt als auf dasjenige, das den Akt des Fühlens vollzieht. Was sich daher in der Reflexion des Fühlens abspielt, ist ein reines Subjekterlebnis. Das Subjekt erfährt sich in seiner Tätigkeit an und für sich, abstrahiert vom Gegenstand, es erlebt also, kurz gesagt, sich selbst.“71 So berechtigt es ist, auf die Bedeutung des fühlenden Subjekts bei Lessing hinzuweisen, so wichtig ist es doch auch, den epistemologischen Hintergrund des Affektbegriffs um 1750 sichtbar zu halten. Bei Lessing ist die tragische Leidenschaft dadurch charakterisiert, dass sie vom Zuschauer „selbst“ gefühlt wird. Da das „Mitleid“ als diese Leidenschaft bezeichnet wird, ist mit ihm der vom Zuschauer „selbst“ gefühlte Affekt, nicht aber das sympathetische Mitleiden an den Affekten anderer gemeint. In seinem Brief an Mendelssohn vom 2. Februar 1757 hebt Lessing ausdrücklich hervor, dass das Mitleid der einzige tragische Affekt sei, weil es im Gegensatz zu den sympathetisch mitempfundenen „zweiten Affekten“ von einem Gegenstand ausgeht.72 Es ist also keineswegs zutreffend, dass die Aufmerksamkeit vom Objekt abgelenkt wird. Auf der Basis des epistemologischen Affektwissens meint das Mitleid – wie im übrigen jeder andere Affekt auch – kein Empfinden, das „allein aus dem Bedürfnis nach Selbstgenuß [erwächst]“,73 sondern eine spezifische Form der Erkenntnis eines Gegenstands. Die Gegenüberstellung von epistemologischem Affektwissen und verschiedenen Tragödienmodellen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat gezeigt, dass sich die aufklärerische Poetik in ihrem Nachdenken über tragische Leidenschaften ein spezifisches Wissen zunutze machte, wodurch sie zu spezifischen, für die Aufklärung charakteristischen Vorstellungen gelangte. Damit ist der Ausgangspunkt formuliert, von dem aus eine ganze Reihe weiterer Fragen zu untersuchen wären. So könnte man den innovativen Impetus des aufgeklärten Affektwissens im Rah67
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Jochen Schulte-Sasse: Nachwort (Kommentare und Analysen) zu: Ders. (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel. München 1972, S. 168–237, hier S. 210. Ebd., S. 212. Armand Nivelle: Literaturästhetik der Europäischen Aufklärung. Wiesbaden 1977, S. 43. Martin Schenkel: Lessings Poetik des Mitleids im bürgerlichen Trauerspiel „Miß Sara Sampson“ – Poetisch-poetologische Reflexionen. Mit Interpretationen zu Pirandello, Brecht und Handke. Bonn 1984, S. 196. Pikulik: Bürgerliches Trauerspiel und Empfindsamkeit (wie Anm. 66), S. 79. Vgl. Lessing an Mendelssohn, 2. Februar 1757, Werke (wie Anm. 2). Bd. 4, S. 204. Pikulik: Bürgerliches Trauerspiel und Empfindsamkeit (wie Anm. 66), S. 90.
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men der Tragödienpoetik schärfer konturieren, indem man die Tragödienmodelle seit Gottsched gegen solche der Frühneuzeit sowie gegen deren Umgang mit den tragischen Leidenschaften absetzt; hierdurch würde man den Wandel vom rhetorischen Konzept des Affekts als „Überzeugungsmittel“74 zum epistemologischen Konzept des Erkenntnismodus sichtbar machen. Mit Blick auf die Entwicklung, die sich nach dem hier dargestellten Zeitraum vollzog, wäre freilich zu fragen, wie sie sich zum Affektwissen der Aufklärung verhält. So wäre z.B. vorstellbar, dass die vielfach konstatierte Entfesselung der Leidenschaften im Drama des Sturm und Drang nicht mehr primär als Gegensatz zur Dramatik der ersten Jahrhunderthälfte zu sehen ist, sondern auch als Fortführung und Weiterentwicklung einer Poetik, die wissen wollte, was es mit den Leidenschaften im einzelnen auf sich hat. Ein weiteres Tragödienmodell, das auf sein Verhältnis zum Affektwissen der Aufklärung untersucht werden müsste, ist freilich Schillers Tragödie des Erhabenen, denn die Analogien zwischen dem Erhabenen, das Schiller selbst als ein „gemischtes Gefühl“ bezeichnet,75 und Mendelssohns Theorie vom Mitleid als „vermischter Empfindung“ sind allzu offenkundig, als dass sie übergangen werden dürften. Man muss allerdings gar nicht in die Zeit vor Gottsched oder nach Lessing blicken, um Fragen zu entdecken, die sich aus dem hier Dargestellten ergeben. Bereits im Rahmen der Poetik in der ersten Jahrhunderthälfte wurden zwei Fragen ausgeblendet, die gleichwohl sehr zentral sind. Die erste betrifft den Tragödienzweck. Leidenschaften werden in der Tragödie ja nicht zum Selbstzweck erregt, sondern sie haben das Ziel, den Zuschauer moralisch zu bessern. Darüber aber, ob dies auf sensitivem Weg gelingen kann, herrscht alles andere als Einigkeit. So einig sich Lessing und Mendelssohn z.B. mit Blick auf die epistemologische Natur des Mitleids sind, so zerstritten sind sie in der Frage, ob das Mitleid den Menschen tatsächlich bessern kann. An dieser Stelle prallen Lessings sensualistische und Mendelssohns rationalistische Moralvorstellungen unvereinbar aufeinander. Die zweite Frage betrifft das Problem des tragischen Vergnügens, das von Aristoteles bis Schiller einen festen Platz in der Tragödienpoetik behauptet. Auch hier wäre zu untersuchen, inwiefern das epistemologische Affektwissen zu neuen Erklärungen geführt hat. All diese Fragen machen noch einmal deutlich, dass sich die Tragödie und ihre Theorie hervorragend dazu eignen, das Zusammenspiel von Emotion und Kognition im 18. Jahrhundert zu untersuchen. Wenn hier in erster Linie danach gefragt wurde, wie sich das Affektwissen der Philosophie auf die Theorie der Tragödie auswirkte, so geschah dies aus einem philologischen Interesse heraus. Die Erkenntniskritik wurde dabei in erster Linie einbezogen, weil der philosophische Hintergrund der entsprechenden Poetologen einen offenkundigen Einfluss auf 74 75
Aristoteles: Rhetorik. Übers. v. Franz G. Sieveke. 5. Unveränd. Aufl. München 1995, 1356a. „Das Gefühl des Erhabenen ist ein gemischtes Gefühl.“ (Über das Erhabene. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 21, S. 38–54, hier S. 42).
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deren Tragödienmodelle hatte. Am deutlichsten zeigte sich dies bei Gottsched, der sich intensiv mit der Philosophie Wolffs auseinandersetzte sowie bei Lessing, der in regem Gedankenaustausch mit Mendelssohn stand. Einflüsse dieser Art sollten jedoch nicht den Eindruck erwecken, die Philosophie sei der kognitive Motor der gesamten Emotionsentwicklung im 18. Jahrhundert gewesen. Philosophie und Literatur beeinflussten sich vielmehr gegenseitig, und so steht die Geschichte der Erkenntniskritik ihrerseits unter dem Einfluss einer ganzen Reihe von Faktoren, die dazu beitrugen, ein spezifisches Wissen über den Affekt zu formen. Bei der Konstitution eines solchen Wissens dürfte nicht zuletzt der literarische Umgang mit Affekten wirksam gewesen sein.
ULRIKE JEKUTSCH (Greifswald)
Vernunft, Gefühl und Sinne. Zur Verwendung des Begriffs ,þuvstvo‘ bei russischen Autoren des 18. Jahrhunderts Während der Begriff ,Emotion‘ und seine Äquivalente bzw. Wortfeldvarianten ,Gefühl‘, ,Empfindung‘ im 18. Jahrhundert weit verbreitet waren und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu Schlüsselbegriffen des Sentimentalismus wurden, gilt dies nicht im gleichen Maße für den Begriff der ,Kognition‘, der erst im 20. Jahrhundert zu einem relevanten Begriff insbesondere für die Psychologie wurde.1 Im Unterschied zum Begriff ‚Emotion‘, der sich mit dem des ‚Gefühls‘ scheinbar problemlos korrelieren lässt, erschließt sich die Verbindung zwischen dem Begriff ,Kognition‘ und seinen Konzeptualisierungen in den modernen Wissenschaften einerseits und den Begriffen des 18. Jahrhunderts andererseits nicht unmittelbar auf derselben Ebene über die damaligen Bezeichnungen ,Verstand‘ und ,Vernunft‘. Erst in der weiter angelegten Perspektive des begrifflichen Wortfelds für den ganzen Bereich der Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten des Menschen eröffnet sich der Kontext, in dem Emotion und Kognition im 18. Jahrhundert angesiedelt sind: Der Kontext der Erkenntnistheorie und der Anthropologie des 18. Jahrhunderts. ,Kognition‘ wird in dieser Zeit v.a. als „lockerer Sammelbegriff zur Etikettierung derjenigen Bewusstseinsvorgänge, die etwas mit der Entstehung von Erkenntnis, von Wissen zu tun haben“,2 verwendet. In der russischen Kultur des 18. Jahrhunderts wurden europäische Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik, Literatur usw. rezipiert und ihre Diskurse verfolgt und z.T. angeeignet. Dazu gehört auch die Lehre vom Menschen, seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten, von seiner dualistischen Zusammensetzung aus Geist und Körper und ihrer Unteilbarkeit im irdischen Leben. Für das 18. Jahrhundert ist die Auffassung vom Menschen als einem Wesen zweifacher Natur grundlegend, als einem aus Geist und Materie zusammengesetzten Geschöpf Gottes, dessen Komponenten im irdischen Leben nur gemeinsam wirken können. Die Grenzen zwischen den Fähigkeiten von Geist und Körper sind dabei im Bereich der Erkenntnis nicht eindeutig zu ziehen, ebensowenig wie die Grenze zwischen den in der frühen Neuzeit häufig synonym verwendeten Begriffen ‚Geist‘ und ‚Seele‘. So spricht man im deutschen Kontext in Bezug auf die geistigen Kräfte des Menschen von seinen „Seelenvermögen“, die man hierarchisch in obere und untere ordnete.3 Zu 1
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W. Prinz: Art. Kognition, kognitiv. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1–13. Basel 1971–2007. Bd. 4, S. 865– 877, hier S. 865f. Ebd., S. 865. Zu der auf Aristoteles zurückgehenden und in der frühen Neuzeit u.a. von Descartes, Leibniz und Christian Wolff neu entwickelten Lehre von den Seelenvermögen s. F. Ricken u.a.: Art.
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den unteren Seelenvermögen gehörten u.a. die fünf Sinne und die Sprache (verstanden als Sprechfähigkeit), als die drei oberen Grund- bzw. Seelenvermögen des Menschen wurden gemeinhin das Erkenntnisvermögen, der Willen und das Gefühl angesetzt.4 Kant unterschied 1790 in der Kritik der Urteilskraft innerhalb der oberen Seelenvermögen zwischen dem Erkenntnisvermögen, dem Begehrungsvermögen bzw. Willen5 und dem Gefühl (der Lust und Unlust). Er selbst setzte sich in seinen Schriften ausschließlich mit dem Erkenntnisvermögen auseinander; eine Ausnahme stellt in diesem Kontext die Kritik der Urteilskraft dar, in der er eine Abgrenzung der sinnlichen Empfindung von den Gefühlseindrücken unternahm, die er zugleich deutlich von der von ihm am höchsten bewerteten Fähigkeit des Erkenntnisvermögens trennte.6 Das Wort ‚Gefühl‘ erscheint im Werk Kants als Bezeichnung für eines der drei oberen Seelenvermögen. Diese Zuordnung des Gefühls zu den oberen Sinnesvermögen ist im 18. Jahrhundert jedoch nicht eindeutig, denn dieses Wort wird zugleich als Bezeichnung auch für Sinnesempfindungen insgesamt und im Deutschen auch als Bezeichnung für eine von ihnen (den Tastsinn) verwendet.7 Während heutige wissenschaftliche Klassifizierungen der Sinne von fünf bzw. sechs Sinnes-
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Seele. In: Joachim Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 1). Bd. 9, S. 1– 89, bes. S. 26–44. Zu der auf Aristoteles zurückgehenden Lehre von den Seelenvermögen s. K. Sachs-Hombach: Art. Vermögen, Vermögenspsychologie. In: Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 1). Bd. 11, S. 728–731. Die Liste der Seelenvermögen differiert bei den einzelnen Autoren; Kant bezeichnet als die drei Grund- bzw. Seelenvermögen des Menschen das Erkenntnis- und das Begehrungsvermögen sowie das Gefühl, wobei er zum Erkenntnisvermögen die reine und die praktische Vernunft sowie die Urteilskraft zählt Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Vorrede zur 1. Aufl. 1790). Zur ab ca. 1800 einsetzenden Kritik an der Lehre von den Seelenvermögen s. Georg Eckhardt u.a.: Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft. Köln, Weimar u. Wien 2001, bes. S. 73ff. „Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt.“ (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Jürgen Lehmann. Stuttgart 1966, Einleitung, I, S. 22). „Wenn eine Bestimmung des Gefühls der Lust oder Unlust Empfindung genannt wird, so bedeutet dieser Ausdruck etwas ganz anderes, als wenn ich die Vorstellung einer Sache (durch Sinne, als eine zum Erkenntnisvermögen gehörige Rezeptivität) Empfindung nenne. Denn im letztern Fall wird die Vorstellung auf das Objekt, im erstern aber lediglich auf das Subjekt bezogen, und dient zu gar keinem Erkenntnisse, auch nicht zu demjenigen, wodurch sich das Subjekt selbst erkennt.“ „Wir verstehen aber in der obigen Erklärung unter dem Worte Empfindung eine objektive Vorstellung der Sinne; und, um nicht immer Gefahr zu laufen, missdeutet zu werden, wollen wir das, was jederzeit bloß subjektiv bleiben muss und schlechterdings keine Vorstellung eines Gegenstandes ausmachen kann, mit dem sonst üblichen Namen des Gefühls benennen. Die grüne Farbe der Wiesen gehört zur objektiven Empfindung, als Wahrnehmung eines Gegenstands des Sinnes; die Annehmlichkeit derselben aber zur subjektiven Empfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird: d.i. zum Gefühl, wodurch der Gegenstand als Objekt des Wohlgefallens (welches kein Erkenntnis desselben ist) betrachtet wird.“ (Kant: Kritik der Urteilskraft [wie Anm. 5], §3, S. 72). Ursula Franke u.a.: Art. Gefühl. In: Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 1). Bd. 3, S. 82–96, hier S. 83.
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organgruppen und zehn bis zwölf verschiedenen Sinnesempfindungen ausgehen, wurden im 17. und 18. Jahrhundert – wie landläufig auch heute – fünf einzelne Sinne angenommen. Dies sind: 1. der Gesichts-, 2. der Gehör-, 3. der Geruchs-, 4. der Geschmacks- und 5. das Gefühl bzw. der Tastsinn; das Gefühl, das wir heute fast ausschließlich als geistig-seelische Emotion auffassen und dessen körperliche Komponente wir zu vergessen geneigt sind, wurde auch im Bereich der Sinne verortet. Über die Empfindungen der Sinnesorgane, so nahm man an, verläuft die primäre, sinnliche Erkenntnis, die im Sensualismus des 18. Jahrhunderts als Anfang und Voraussetzung aller Erkenntnis konzipiert wird: Die Empfindungen als Erregung und Reaktion des Organismus auf äußere Reize rufen eine Vorstellung im empfindenden Subjekt hervor, eine Modifikation seines Bewusstseins, und können zum Anstoß für ein bewusstes Durchdenken und Erkennen werden. Sie stellen so eine Vorstufe der bewussten Erkenntnis dar, gehören jedoch nicht in den Bereich der wissenschaftlichen, der intellektuellen Erkenntnis.8 Schon Descartes hatte die ‚Empfindungen‘ als „konfuse und dunkle Bewußtseinsinhalte“ bestimmt, die als dem Bewusstsein zugehörig jedoch dem Bereich des Geistes zuzurechnen seien.9 John Locke definierte ein Jahrhundert später die ‚Empfindung‘ als „the first capacity of human intellect“ und als Grundlage aller Begriffe des Menschen, wobei er die Empfindungen und die mit ihr auf dieser Stufe verbundenen Reflexionen als rein passive dachte.10 Der Begriff ‚Empfindung‘ ging in verschiedene Diskurse des 18. Jahrhunderts ein, in den medizinisch-naturwissen-schaftlichen, den philosophisch-erkenntnistheoretischen und den ästhetischen. Im Kontext der ästhetischen Geschmacksdiskussion des 18. Jahrhunderts schwankte der Begriff „Empfindung“ / „sentiment“, für den nun auch „instinct“ eintreten konnte, zwischen der neueren Bedeutung „Gefühl“ und älteren Bedeutung „Meinung“11 und wurde auch als unterster Grad des ästhetischen, des „konfusen Urteils“ (jugement confus) aufgefasst.12 Hier interessiert im Folgenden insbesondere der Bereich der Sinne 8
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Bei Fontenelle wird „sentiment“ (Empfindung, Gefühl, Meinung) zum vorweggenommenen Verstandesurteil: „Das durch ‚sentiment‘ begründete Urteil widerspricht bei Nachprüfung durch die Vernunft dieser nicht“, so R. Piepmeier, O. Neumann: Empfindung. In: Ritter: Art. Empfindung. Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 1). Bd. 2, S. 456–474, hier S. 459. Piepmeier, Neumann: Art. Empfindung (wie Anm. 8), S. 456. Ebd., S. 457; John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, II, 1, § 25–26. Auch in der französischen Literatur wurde der Begriff ‚sentiment‘ erst im 18. Jh. mit Gefühl (Liebesgefühl) verbunden, im 17. Jh. verwendete man ihn fast ausschließlich in seiner rationalen Bedeutung „opinion“; s. Frank Baasner: Der Begriff ‚sensibilité‘ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals. Heidelberg 1988 (Studia romanica 69), S. 77f., 156–162. Baumgarten, der seine Ästhetik als „scientia cognitionis sensitivae“, als „Logik der unteren Erkenntniskräfte“ und als ihren Bereich die „Gesetze der sinnlichen und lebhaften Erkenntnis“ beschreibt, sieht ihren Gegenstand in „klaren und konfusen, d.h. nicht disktinkten Empfindungen“. Im Bereich der Ästhetik unterscheidet Baumgarten zwischen deutlichen (rationalen) und undeutlich-verworrenen, sensitiven Vorstellungen, wobei sich die rationalen Vorstellungen an den Verstand, die sensitiven an Gemütskräfte wie Wahrnehmung und Gefühl wenden. Baumgarten qualifizierte als sensitive Vorstellungen: 1) Wahrnehmungen und Empfindungen (re-
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und der Sinnesempfindung und seine Relation zu Verstand, Erkenntnis einerseits und Gefühl bzw. Herz andererseits. Wie wir gesehen haben, konnte das Wort ‚Gefühl‘ in dieser Zeit in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht werden: Wenn es zunächst die Sinnesempfindung allgemein oder einen der fünf Sinne bezeichnete, so begann dies in der philosophisch-psychologischen Terminologie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zweifelhaft zu werden. Im Jahre 1777 gab Johann Nicolaus Tetens (1736– 1897), Professor für Philosophie und Mathematik in Kiel, die erste (bekannte) terminologisch genaue Unterscheidung zwischen ‚Empfindung‘ und ‚Gefühl‘. Ihm zufolge weist das Gefühl auf den Zustand innerer Affizierung, ohne erkennbaren Bezug auf das die Affizierung verursachende, Empfindung dagegen weist auf den Gegenstand und macht den objektiven Bezug der Affizierung aus.13 Kant unterschied entsprechend zwischen der ‚Empfindung‘ als „objektiver Vorstellung der Sinne“ und ‚Gefühl‘ als ‚subjektiver Empfindung‘, bei dem sich die Vorstellung allein auf das Subjekt beziehe und keiner Erkenntnis diene, auch nicht der Selbsterkenntnis des Subjekts. Während die ‚objektive Empfindung‘ in den Bereich der Erkenntnisvermögen gehört, gehört die subjektive in denjenigen des Gefühls. Die Empfindung eines Gefühls ist dabei immer subjektiv, sie gehört nicht zu den intellektuellen Erkenntnisvermögen des empfindenden Individuums. Die ‚Empfindung‘ wurde ferner der ‚Wahrnehmung‘ gegenübergestellt, die man voneinander abgrenzte, indem man ‚Empfindung‘ als „den durch den äußeren Reiz ausgelösten psychischen Inhalt“ und ‚Wahrnehmung‘ als das Erfassen dieses Inhalts, als Perzeption, definierte.14 Diese Positionierung der ‚Empfindung‘ im Zwischenbereich von ‚Gefühl‘ und ‚Wahrnehmung‘ führte im 18. Jahrhundert zur Ausbildung zweier Auffassungen: Die eine beschränkte ‚Empfindung‘ (sensation) mehr und mehr auf den Bereich der Sinnesempfindung, setzte sie sogar mit sinnlicher Wahrnehmung schlechthin gleich (so u.a. Albrecht von Haller, J. N. Tetens), die andere neigte zur Identifizierung von ‚Empfindung‘ und ‚Gefühl‘ bzw. Emotion, indem ihre Vertreter (Descartes, Malebranche u.a.) jeder Empfindung eine Lust-Unlust-Komponente zuschrieben – diese Auffassung wurde dann grundlegend für den Sentimentalismus. Indem dieser ‚Empfindung‘ als immer mit Gefühl verbunden konzipierte, stellte er die subjektive Empfindsamkeit des Menschen, seine Fähigkeit zum affektiven Erfassen der eigenen Empfindungen und derjenigen anderer Menschen als besondere Qualität heraus, die auf der angeborenen Aus-
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praesentationes sensuales), 2) Vorstellungen von Nicht-Gegenwärtigem (phantasmata), 3) Erdichtungen (figmenta vera et heterocosmica), 4) Voraussichten (divinationes) u.a. Zur Rolle der Sinnesempfindungen in Baumgartens Ästhetik vgl. Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972 (Studia Leibnitiana Supplementa 9). J. N. Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur. Bd. 1. 1777, S. 214ff., 167f.; s. auch Piepmeier, Neumann: Art. Empfindung (wie Anm. 8), S. 462. Ebd., S. 457; H. Busche u.a.: Art. Wahrnehmung. In: Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 1). Bd. 12. Basel 2004, S. 190–250, hier S. 190.
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stattung mit den fünf Sinnen beruht. Sie wurde als eine subjektive, individuelle Eigenschaft bzw. Fähigkeit gedacht, die der Entwicklung und Erziehung bedarf. Empfindsames Verhalten, das die Sinnesempfindungen mit Gefühlskomponenten verbindet, wurde als vernünftiges, von ethischen und moralischen Prinzipien geleitetes Verhalten aufgefasst, das erlernt werden kann und soll. Insgesamt steht der Begriff ‚Empfindung‘ als Grundlage der wesentlich von den Sinnen geprägten ersten Stufe der Erkenntnis bzw. seine Korrelation zu Verstand bzw. Geist im Zentrum der Diskussionen der zweiten Hälfte des Jahrhunderts um die Natur des Menschen. Im Folgenden soll nun aufgezeigt werden, wie russische Autoren des 18. Jahrhunderts die Empfindung in Relation zu Verstand und Gefühl gesetzt haben. Da frühere Forschungen zu den hier untersuchten Autoren diese Frage allenfalls am Rande berühren – eine gewisse Ausnahme stellt die Dissertation W. Breitschuhs zu Trediakovskijs Feoptija dar – kann hier nur eine erste Annäherung an diesen Gegenstandsbereich erfolgen. Es wird zunächst das damalige Verständnis des russischen Begriffs „þuvstvo“ (Empfindung, Gefühl) vorgestellt und anschließend die Auseinandersetzung mit diesem Begriff in exemplarisch untersuchten Lehrgedichten, Oden und Abhandlungen der zweiten Hälfte des Jahrhunderts skizziert. Das 1789–94 herausgegebene Wörterbuch der Russischen Akademie15 verzeichnet das Wort „þuvstvo“ unter dem Lemma „þuju“ (ich fühle), das eindeutig eine dem Verstand zugeordnete Sinnesempfindung meint: „ɉɨɫɪɟɞɫɬɜɨɦ ɱɭɜɫɬɜɚ ɩɨɧɢɦɚɸ, ɤɚɤ ɬɨ ɫɥɵɲɭ, ɨɫɹɡɚɸ, ɨɛɨɧɹɸ.“16 Bei „þuvstvo, þuvstvie“ aber werden zwei Bedeutungen angegeben, nämlich 1) Ɉɪɭɞɢɟ ɬɟɥɟɫɧɨɟ, ɩɨɫɪɟɞɫɬɜɨɦ ɤɨɬɨɪɚɝɨ ɱɪɟɡ ɜɩɟɱɚɬɥɟɧɢɟ ɞɟɣɫɬɜɭɸɳɢɯ ɧɚ ɧɟɝɨ ɜɧɟɲɧɢɯ ɩɪɟɞɦɟɬɨɜ ɩɨɥɭɱɚɟɬ ɩɨɧɹɬɢɟ ɱɟɥɨɜɟɤ ɢ ɠɢɜɨɬɧɨɟ ɨ ɤɚɱɟɫɬɜɟ ɨɧɵɯ ɢ ɫɢɟ ɧɚɡɵɜɚɟɬɫɹ ɱɭɜɫɬɜɨ ɜɧɟɲɧɟɟ.17
Hier meint þuvstvo, spezifiert als „äußeres“, das Sinnesorgan und die Sinnesempfindung. Zu den fünf Sinnen werden hier gerechnet „ɡɪɟɧɢɟ, ɫɥɭɯ, ɨɛɨɧɹɧɢɟ, ɨɫɹɡɚɧɢɟ ɢ ɜɤɭɫ“ (Gesichtssinn, Gehör, Riechen, Empfindung / Tastsinn und Geschmack), þuvstvo erscheint hier also nicht wie im Deutschen als Bezeichnung für einen einzelnen Sinn. Die zweite Bedeutung wird als „inneres Gefühl“ (þuvstvo vnutrennee) bezeichnet und beschrieben als: „ȿɫɬɶ ɫɢɥɚ ɞɭɲɟɜɧɚɹ ɧɚɤɥɨɧɹɸɳɚɹ ɨɫɬɚɧɚɜɥɢɜɚɬɶɫɹ ɧɚ ɪɚɠɞɚɸɳɢɯɫɹ ɜ ɧɟɣ ɩɨɧɹɬɢɹɯ, ɤɨɝɞɚ ɨɧɵɹ ɩɪɨɢɡɜɨɞɹɬɫɹ
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Slovar’ Akademii Rossijskoj. ýast’ 1–6. SPb. 1789–1794. Slovar’, þ. 6, S. 836: „Mithilfe des Sinnes / Gefühls verstehe ich, wie ich höre, spüre / taste, rieche.“ Ebd., S. 837; dt.: „Körperorgan, mit dessen Hilfe der Mensch und das Tier durch den Eindruck der auf ihn wirkenden äußeren Gegenstände einen Begriff von deren Eigenschaften empfangen, und dies wird äußerer Sinn genannt“. Sofern nicht anders vermerkt, sind hier und im Folgenden alle Übersetzungen aus dem Russischen, im Haupttext und in den Fußnoten, von der Verfasserin U.J.
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ɩɨɫɪɟɞɫɬɜɨɦ ɜɧɟɲɧɢɯ ɱɭɜɫɬɜ.“18 Hier bezeichnet das Wort das Seelenvermögen Gefühl, dessen Tätigkeit durch die Sinnesempfindungen angeregt und dann aus eigener Kraft aufrechterhalten wird. Um einen Überblick über die russische literarische Konzipierung der Sinne und der Seelenvermögen um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu geben, möchte ich zunächst deren Beschreibung in einigen den Menschen behandelnden Lehrgedichten vorstellen. Der europäische Mustertext hierfür war Alexander Popes Essay on Man, der 1757 von dem Lomonosov-Schüler Nikolaj Popovskij ins Russische übersetzt wurde.19 In französischer Übersetzung war der Text schon früher in Russland zugänglich und regte nach eigenem Bekunden Vasilij Trediakovskij zu dem großen physikotheologischen Lehrgedicht Feoptija (1750–1754) an. Die Feoptija stützt sich jedoch weniger auf Essay on Man als vielmehr auf François Fénelons Prosatraktat Démonstration de l’existence de Dieu, tirée de la nature (1713) – etwa die Hälfte der insgesamt 4720 Verse der Feoptija weisen eine deutliche Nähe zum Traktat auf.20 Darüber hinaus belegt Feoptija Trediakovskijs profunde Kenntnis der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Diskurse um die einander widerstreitenden Ansichten zum Gottes- und Schöpfungsbegriff sowie zur Natur des Menschen und der Tiere.21 Zwei der sechs Episteln des Werks sind dem Menschen gewidmet, in der vierten wird der menschliche Organismus beschrieben, in der fünften das Zusammenwirken von Geist und Körper. Am Anfang der vierten Epistel steht die Betonung der Dualität des Menschen, den Gott als geistiges, vernünftiges (razumnyj) und zugleich körperliches (telesnyj) Wesen geschaffen habe.22 Durch den menschlichen Körper, der angefangen von den Füßen bis zum Kopf aufsteigend beschrieben wird, fließen – durch die Röhren der Nerven – die Lebensgeister (duchi žiznennye), die ständig in Bewegung seien und unmerklich den Körper vom Geist aus in Bewegung setzten. Im Kopf als Sitz von Geist bzw. Vernunft und der Sprache23 („ɜ ɧɟɣ [ɝɥɚɜɟ] ɧɚɲ ɫɦɵɫɥ ɢ ɡɧɚɤɢ ɢɡ ɧɟɟ ɭɦɭ, ɫɥɨɜɚ“)24 sind auch die 18 19
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Ebd., S. 837f.: Das ist eine Seelenkraft, die dazu neigt, bei den in ihr entstehenden Begriffen zu verweilen, wenn diese mithilfe der äußeren Sinne erzeugt werden. Zur Übersetzungsgeschichte und -analyse s. Helmut Keipert: Pope, Popovskij und die Popen. Zur Entstehungsgeschichte der russischen Übersetzung des „Essay on Man“ von 1757. Göttingen 2001 (Abhandlungen d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge 241). Wilhelm Breitschuh: Die Feoptja V.K. Trediakovskijs. Ein physikotheologisches Lehrgedicht im Russland des 18. Jahrhunderts. München 1979 (Slavist. Beiträge 134), S. 2. Genauer dazu Breitschuh: Die Feoptja V.K. Trediakovskijs (wie Anm. 20), S. 22–34, der die Kontexte der in Feoptija aufgegriffenen europäischen Diskurse (Physiotheologie, Medizin, Theologie, Philosophie u.a.) aufzeigt. Trediakovskij polemisiert u.a. auch gegen die Vorstellung, das Tier sei eine Maschine und schreibt den Tieren eine elementare Form der Erkenntnis zu; er verlegt die Grenze zwischen Mensch und Tier in den Bereich zwischen dem konkreten, einzelfallbezogenen und dem abstrakten Denken, zu dem das Tier unfähig sei (ebd., S. 187f., 303–306.) Ebd., S. 239. Weiter behandelt Trediakovskij das Gehirn als Organ und als Sitz des Gedächtnisses, das er überwiegend mit der traditonellen Buchmetapher beschreibt; die Tätigkeit des Gedächtnisses
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meisten Sinnesorgane bzw. ihre Öffnungen angesiedelt, die über die Nerven mit dem Geist koordiniert sind. Trediakovskij beschreibt die fünf Sinne (þuvstva), beginnend mit den Augen, durch die der Verstand sieht („ȼɫɸ ɩɪɢɪɨɞɭ ɜɢɞɢɬ ɨɧ ɫɜɟɬɥɵɦɢ ɨɱɚɦɢ“; „Die ganze Natur sieht er mit hellen Augen“),25 über die Ohren, die Nase und den Mund bzw. den Geschmackssinn bis hin zur Haut und dem mit ihr verbundenen Tastsinn („Ʉɨɠɚ, ɫɩɨɫɨɛ ɱɭɜɫɬɜɚ ɩɪɢɤɚɫɚɬɟɥɶɧɨɝɨ ɜ ɧɚɫ“; „die Haut, das Instrument des Tastsinns in uns“).26 Wird die Haut berührt, so produziert der Verstand ein Urteil über die fremde, äußere Ursache der Empfindung, wobei eine leichte Berührung mit „prijatnost’“ (Annehmlichkeit, Genuss), eine starke mit „Schmerz“ verbunden wird. Daneben nimmt Trediakovskij neutrale Empfindungen an. Er betont, dass die eigentliche Sinneswahrnehmung bei allen fünf Sinnen im Gehirn abläuft. Die die frühe Neuzeit seit Descartes bewegende Frage nach der Verbindung von Körper und Geist bzw. Seele, nach dem „commercium mentis et corporis“, beantwortet Trediakovskij mit dem eindeutigen Votum, dass Erkenntnis und Empfindung ihren Ursprung im Geist nehmen.27 Die möglichen Begleiterscheinungen der Lust bzw. Unlust werden von ihm noch nicht aus dem Bereich der Empfindung ausgesondert. Dem Geist werden Aktivität, Empfindung und Denken zugeordnet, dem Körper nur Passivität, denn „ɜɫɟɯ ɱɭɜɫɬɜɟɧɧɨɫɬɟɣ ɩɥɨɬɶ ɢ ɦɵɫɥɟɣ ɥɢɲɟɧɚ, / ɱɭɜɫɬɜɟɧɧɨɫɬɶɸ ɦɵɫɥɶ ɢ ɭɦɫɬɜɨɦ ɜɡɜɵɲɟɧɚ“ („das Fleisch ist aller Empfindsamkeit und Gedanken ledig, / durch Empfindsamkeit und Denken wird der Geist erhöht“).28 Hier und in der gesamten Feoptija verwendet Trediakovskij, und das ist symptomatisch auch für die Autoren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die heute stärker unterschiedenen Begriffe ‚mysl‘ (Denken, Idee), ‚smysl‘ (Bedeutung, Verstand), ‚um‘ (Verstand, Geist, Denkfähigkeit), ‚razum‘ (Verstand, Vernunft) und ‚duša‘ (Seele) weitgehend synonym als Bezeichnung für die menschliche Befähigung und Fähigkeit zum Denken und Erkennen; ihre jeweilige Bedeutung hängt weitgehend vom Kontext ab, und sie sind daher auch kaum eindeutig zu übersetzen. Trediakovskij zufolge kann die Materie nicht denken: „ɇɟ ɜɢɞɢɦ ɦɵɫɥɟɣ ɡɞɟɫɶ ɜ ɧɟɫɱɟɬɧɨɫɬɢ ɬɟɣ ɬɟɥ, / […] Ɇɵɫɥɢɬɶ ɜɟɳɟɫɬɜɭ ɨɬɧɸɞɶ ɟɫɬɶ ɧɟɜɨɡɦɨɠɧɨ“; „Wir sehen keine Gedanken in dieser Vielzahl der Körper / […]
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wird dabei als die prompte Befolgung einer Folge von Impulsen vorgestellt. Hier deutet sich bereits der Übergang zum Zusammenwirken von Geist und Körper an, der in der 5. Epistel entwickelt wird, deren Ausführungen wieder den ontologischen Dualismus von Körper und Geist (von cartesianischen res extensae und res cogitantes) zur Grundlage haben. Auch hier werden ‚smysl‘, ‚um‘, ‚razum‘ weitgehend synonym verwendet, sind ferner ‚um‘ und ‚duch‘ kaum zu unterscheiden, und ‚mysl‘ wird sowohl in der Bedeutung ‚Gedanke‘ wie ‚Denkvermögen‘ verwendet. Feoptija IV, 34: „in ihm [sind] unser Verstand und seine Zeichen für den Geist“. Feoptija IV, 398. Feoptija IV, 468. Breitschuh: Die Feoptja V.K. Trediakovskijs (wie Anm. 20), S. 314–357. Feoptija V, 15f.
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Der Materie ist es nicht möglich zu denken“).29 Trediakovskij polemisiert hier gegen den anthropologischen Materialismus La Mettries, der in der Nachfolge von Hobbes die Seelentätigkeiten als mechanische Funktionen des Gehirns auffasste, und beschreibt die Zusammensetzung des Menschen folgendermaßen: Der Geist (um smyslennyj) besteht aus drei Komponenten, aus Vernunft bzw. Verstand (razum), Willen (volja) und Begehren (um chotjašþij; wörtl. der begehrende Geist). Der Verstand hat die Fähigkeit, alle Dinge zu begreifen, zu analysieren und wieder zu synthetisieren, ihre Ursachen und Entwicklung zu erkennen, sie zu messen und zu vergleichen; er erkennt die Prinzipien der Logik, Mathematik, Metaphysik durch reines Denken, hat Zugang zu ewigen Wahrheiten und beurteilt das Denken. Der Wille ist die Kraft zur Entscheidung und Verwirklichung; er verfügt über die Freiheit, zwischen Gut und Böse, dem Vernünftigen und Unvernünftigen, Handeln und Nichthandeln, Tugend und Laster zu wählen, wobei Trediakovskij eine Prädisposition des Menschen für das Gute annimmt. Als weitere Fähigkeiten bzw. Bereiche des Geistes werden „mudrost’“ (Weisheit), „dobryj smysl“ (gesunder Menschenverstand) und „dobrota / dobrodetel’“ (Tugend) genannt, die durch die Lehren der Wissenschaften und der Sittlichkeit zu „vernünftigen Gewohnheiten“ („razumnye navyki“) werden.30 Auch in der fünften Epistel wird die Gegenseitigkeit der Verbindung von Körper und Geist betont: ɉɪɟɦɭɞɪɵɣ, ɜɫɟɛɥɚɝɢɣ, ɜɫɟɦɨɳɧɵɣ ɨɧ ɬɜɨɪɟɰ, ɋɨɡɞɚɜɲɢɣ ɭɦɧɭ ɬɜɚɪɶ ɛɥɚɠɟɧɫɬɜɚ ɧɚɤɨɧɟɰ, ɋɨɩɪɹɝ ɞɭɯɨɜɧɵɣ ɭɦ ɜ ɧɚɫ ɫ ɬɟɥɨɦ ɦɢɥɨɫɟɪɞɨ, ɇɨ ɨɛɚ ɫɭɳɟɫɬɜɚ ɫɨɟɞɢɧɢɥ ɬɚɤ ɬɜɟɪɞɨ, ɑɬɨ ɞɟɣɫɬɜɢɣ ɢ ɫɬɪɚɫɬɟɣ ɜɡɚɢɦɧɨɫɬɶ ɜ ɨɧɵɯ ɟɫɬɶ. Ʉɚɤɨɣ ɛɵ ɜ ɬɟɥɟ ɞɜɢɝ ɧɢ ɦɨɝ ɫɟɛɹ ɢɡɜɟɫɬɶ, Ɍɨɝɞɚ ɠ ɬɨɬ ɨɬ ɭɦɚ ɩɨɟɦɥɟɧ ɜɟɫɶ ɛɵɜɚɟɬ: ȼɡɚɢɦɧɨ ɫɤɥɨɧɧɨɫɬɶ ɜ ɫɟɦ, ɜ ɬɨɦ ɞɜɢɝɢ ɜɨɡɛɭɠɞɚɸɬ.31
Trediakovskij unterscheidet zwischen denjenigen Funktionen des Geistes, die primär im Medium des Körpers erscheinen, wie Vorstellen, Phantasie, Erinnern,
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Feoptija V, 31, 34. Ein dem Bereich des Willens zugeordneter Begriff ist „navyk“ (Gewohnheit, Habitus), der oft wiederholte, scheinbar unwillkürlich, ‚geistlos‘ ablaufende Handlungen und Denkkonventionen bezeichnet, wobei Gewohnheiten des Körpers und des Geistes unterschieden werden (Breitschuh: Die Feoptja V.K. Trediakovskijs [wie Anm. 20], S. 313). Diese Vorstellung war Grundlage der Erziehungskonzepte u.a. Fenelons oder J. Lockes; zur didaktisch-pädagogischen Ausrichtung dieser Diskurse in Rußland s. Natal’ja Koþetkova: Literatura russkogo sentimentalizma (Ơstetiþeskie i chudožestvennye iskanija). SPb. 1994, S. 29–40. Feoptija V, 171–178; dt.: „Weise, gnädig, allmächtig ist der Schöpfer, / indem er Segen dem klugen Geschöpf erschuf, / Spannte er unseren Geist barmherzig mit dem Körper zusammen, / Verband aber beide Wesen so fest, / Daß in ihnen die Gegenseitigkeit von Handlungen und Leidenschaften ist. / Welche Regung sich im Körper auch bemerkbar macht, / So wird sie sofort vom Geist als ganze erfaßt: / Gegenseitig erwecken sie in diesem die Neigung, in jenem die Regung.“
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Empfinden und den ausschließlich dem Geist angehörigen reinen Ideen. Das Empfinden wird als durch Sinnesorgane ausgelöste Funktion des Geistes gesehen: ɍɦ ɱɭɜɫɬɜɭɟɬ ɬɨɝɞɚ, ɤɨɝɞɚ ɱɪɟɡ ɱɭɜɫɬɜɚ ɨɧ Ɍɟɥɟɫɧɵ ɬɟ ɜɟɳɟɣ ɩɪɢɫɭɬɫɬɜɨ ɢ ɩɪɢɬɨɧ ȼ ɤɨɥɢɱɟɫɬɜɚɯ ɢ ɜ ɢɯ ɜɫɟɯ ɤɚɱɟɫɬɜɚɯ ɩɨɟɦɥɟɬ32
Im Bereich des Begehrungsvermögens (ɭɦ ɯɨɬɹɳɢɣ) sind Lust, Bewegung und Leidenschaft angesiedelt („ȼ ɭɦɟ ɯɨɬɹɳɟɦ ɫɭɬɶ: ɨɯɨɬɚ, ɩɨɞɜɢɝ, ɫɬɪɚɫɬɶ“; „Im Begehrungsvermögen sind: Lust, Antrieb, Leidenschaft“),33 wobei ‚ochota‘ (Lust) die Neigung zum Guten bezeichnet, ‚podvig‘ (bzw. podvižnost’) die Antriebskraft und ‚strast‘ die Kraft des Willens, die ihm das Gute und das Böse zeigt. Hierzu wird ein Katalog der dazugehörigen Affekte gegeben: Liebe und Hass, Zorn und Wohlwollen, Hoffnung und Furcht, Freude und Trauer, Begierde und Ekel. Als Ursprung der Leidenschaften identifiziert Trediakovskij Selbstliebe, die durch den Anblick von Erstaunlichem erregt werde und stets mit Hochmut und Ehrsucht verbunden sei. Hier neigt Trediakovskij deutlich zu einer Auffasung der Leidenschaft als Sünde und steht damit auf einer anderen Position als Pope, der Verstand (reason) und Leidenschaft (passion) als Antrieb und Hemmung für gleichermaßen notwendig hielt und die Hauptaufgabe des Menschen in der ständigen Harmonisierung von Verstand und Leidenschaft sah. Denken (smysl) umfasst für Trediakovskij die gesamten Bereiche des Geistes, dessen tiefsten Urgrund die Seele darstelle, aus der alle geistigen Fähigkeiten entspringen. Die Seele ist daher für ihn die Voraussetzung für alle Arten von Erkenntnis, von der Registrierung der körperlichen Empfindung bis zum reinen Denken. Es ergibt sich, dass ‚þuvstvo‘ in „Feoptija“ erstens das Sinnesorgan, den Sinn, und zweitens eine von den Sinnen ausgehende, mit subjektivem Gefühl vermischte Erscheinung bezeichnet. Trediakovskijs „Feoptija“ stellt die ausführlichste poetische Auseinandersetzung mit der Lehre vom Menschen in der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts dar; die von ihm genannten grundlegenden Begriffe und Konzepte finden wir in fragmentarischer Darstellung und z.T. anderer Beleuchtung auch in den Lehrgedichten anderer Autoren wieder.34 So beschreibt Ippolit Bogdanoviþ in „Blaženstvo narodov“ (Segen der Völker, 1765) den Menschen des Goldenen Zeitalters als durch eine intuitiv richtige sinnliche Erkenntnis gekennzeichnet, die sein Glück bewirke: „ɉɹɬɶ ɱɭɜɫɬɜ ɟɦɭ ɜɟɳɟɣ ɩɨɡɧɚɧɢɟ ɨɬɤɪɵɥɢ, / Ʉɨɬɨɪɨɟ ɟɝɨ ɤɨ ɫɱɚɫɬɢɸ ɜɟɥɨ“ („Die fünf Sinne öffneten ihm die Erkenntnis der Dinge, / Die
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Feoptija V, 211–213; dt.: „Der Geist empfindet dann, wenn er durch diese Körpersinne / Die Anwesenheit und Färbung der Dinge / In ihrer Menge und in allen ihren Eigenschaften erfaßt.“ Feoptija V, 277 Ulrike Jekutsch: Das Lehrgedicht in der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Wiesbaden 1981 (Opera Slavica NF 2), S. 107–120.
Vernunft, Gefühl und Sinne
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ihn zum Glück führte“).35 Zu den angeborenen Trieben gehört für Bogdanoviþ auch derjenige zur gesellschaftlich nützlichen Arbeit zum Wohl aller: ɋ ɩɪɢɪɨɞɧɵɦ ɱɟɥɨɜɟɤ ɪɨɞɢɬɫɹ ɩɨɛɭɠɞɟɧɶɟɦ Ʉ ɧɟɨɛɯɨɞɢɦɟɣɲɢɦ ɜɨ ɨɛɳɟɫɬɜɟ ɬɪɭɞɚɦ, ɂ, ɩɨɥɶɡɭɹɫɹ ɜɫɟɦ ɞɪɭɝɢɯ ɥɸɞɟɣ ɢɦɟɧɶɟɦ, ȼɡɚɢɦɧɨ ɤ ɩɨɥɶɡɟ ɜɫɟɯ ɬɪɭɞɢɬɫɹ ɞɨɥɠɟɧ ɫɚɦ.36
Während Bogdanoviþ v.a. von einem angeborenen Trieb des Menschen zum Guten ausgeht und auf die Opposition von Tugend und Laster abhebt, betont Michail Cheraskov stärker die Funktion der Wissenschaften für die Entwicklung von Geist und Tugend. Die Fähigkeiten, Wissenschaften zu entwickeln, auszubauen und anzuwenden, d.h. die Kraft des Verstands, unterscheidet für ihn den Menschen vom Tier;37 im Unterschied zu Bogdanoviþ konzipiert er den Menschen jedoch nicht als ursprünglich tugendhaft, sondern als jemanden, dem Verstand nicht immer gegeben sei, und der Tugend durch Belehrung erst erwerben muss: ɇɨ ɛɭɞɟɬ ɬɳɟɬɧɨɟ ɨ ɤɚɱɟɫɬɜɚɯ ɪɚɱɟɧɶɟ, Ʉɨɝɞɚ ɭɦɨɜ ɭ ɧɚɫ ɧɟ ɩɨɞɤɪɟɩɢɬ ɭɱɟɧɶɟ.38
1762 gab Cheraskov seine „Neuen Oden“ heraus,39 eine Sammlung von 28 der Fürstin Daškova gewidmeten anakreontischen Oden, die für die nächsten 30 Jahre zum Muster der russischen anakreontischen Ode wurden.40 Sie sind jeweils mit Gattesbezeichnung und Nummer sowie meistens mit einem Untertitel versehen.41 Das wichtigstes Kriterium dieser Ode ist für Cheraskov nicht die Thematik,
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Ippolit F. Bogdanoviþ: Stichotvorenija i poơmy (BPB. 2. izd.). Leningrag 1957, S. 188. Ebd., S. 189; dt.: Der Mensch wird mit dem natürlichen Antrieb geboren / Zu den in der Gesellschaft notwendigsten Arbeiten, / Und soll sich, indem er das Gut anderer Menschen nutzt, / Gegenseitig zum Nutzen aller mühen. Jekutsch: Das Lehrgedicht (wie Anm. 34), S. 112f. Michail M. Cheraskov: Plody nauk. In: Ders.: Tvorenija, vnov’ ispravlennye i dopolnennye. ýast’ 3. Moskau 1797, S. 1–21, hier S. 8; dt.: Aber alle Heilung der Eigenschaften wird umsonst sein, / Wenn die Belehrung nicht unseren Verstand stützt. Michail M. Cheraskov: Novye ody. SPb. 1762. Die Oden wurden leicht überarbeitet in seine Werkausgabe 1796–1802 u.d.T. „Anakreontiþeskie ody“ aufgenommen (s. Doris Schenk: Studien zur anakreontischen Ode in der russischen Literatur des Klassizismus und der Empfindsamkeit. Frankfurt a.M. 1972 [Frankfurter Abhandlungen zur Slavistik 13], S. 45). Im Folgenden wird nach der Ausgabe 1762 zitiert, eventuelle Abweichungen der späteren Werkausgabe werden in den Fußnoten angeführt. Schenk: Studien zur anakreontischen Ode (wie Anm. 39), S. 63. Die Titel lauten jeweils: Oda I[–28]; die Untertitel: 1. Oda I. K svoej lire, 2. Oda II. O sile razuma, 3. Oda III. O vrede, proizšedšem ot razuma, 4. Oda IV. O vospitanii, 5. O suetnych želanijach, 6. Blagopoluþnyj brak, 7. Istinnoe blagopoluþie, 8. O sile dobrodeteli, 9. Iskrennye želanija v družbe, 10. O važnosti stichotvorstva, 11. Sila ljubvi, 12. Istinnoe utešenie, 14. O dolgote žizni, 15. O razume, 16. Podražennaja Anakreontu, 17. Istinnoe sokrovišþe, 20. Ljubov’ stichotvorcev k muzam, 21. Neutolimaja zloba, 22. Podražennaja Anakreontu, 23. O dobrodeteli, 24. O terpenii, 25. Suety mira, 26. O zlate, 27. Prijatnyj son, 28. Zakljuþenie. Die Oden 13, 18, 19 haben keinen Untertitel.
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sondern die metrische Gestaltung:42 Die russische anakreontische Ode ist nicht strophisch gegliedert, sie ist in reimlosen Versen in verschiedenen kurzen, meist jambischen Metren (zwei- bis dreifüßigen Jamben, drei- bis vierfüßigen Jamben, drei- bis vierfüßigen Trochäen, dreifüßigen hyperkatalektischen Jamben) geschrieben; sie behandelt völlig andere Themen als Anakreon selbst und seine westeuropäischen Nachfolger,43 indem sie, wie Alekseeva aufgezeigt hat, die moralischdidaktisch-reflektierende Tradition der horazischen Ode weiterführt.44 Cheraskov gestaltet seine anakreontischen Oden als moralphilosophische Traktate, die er nach dem rationalen Muster These, Beschreibung, Reflexion, Lösung bzw. Pointe aufbaut,45 in die er zugleich aber erstmals idyllische und sentimentalische Elemente einbringt. Seine „Novye ody“ thematisieren die Gattung, den Menschen und seine Eigenschaften, Laster und Tugenden, und diskutieren die Rolle der Poesie und des Poeten. Die erste Ode, „K svoej lire“ hebt durch die Bezeichnung „novyj ubor“ die innovative Qualität der folgenden Texte deutlich hervor. Sie ruft mit dem Musikinstrument der Leier die Assoziation des hohen Stils und der hohen Ode auf, um diese sofort zu negieren, indem sie sich zur „Einfachheit“ als ihrem Prinzip bekennt. Diese Einfachheit soll die als „razumna Rossijanka“ angesprochene Adressatin „trösten“, wobei eine Ähnlichkeit zwischen ihrem Herz und Geist einerseits und dem „einfachen Gefühlen“ und „kunstlosem Gesang“ der Oden behauptet wird. Der Einfachheit wird damit eine positive Wirkung auf Herz bzw. Gefühl und Geist zugeschrieben. In der folgenden Wendung an die konkrete Adressatin Daškova wird um Vergebung für die „nestrojnost’“ dieser Verse gebeten und zugleich mit zwei Argumenten gerechtfertigt: 1) Sie verlören damit nicht ihren Reiz, wenn sie nur rechtmäßig / gerecht (spravedlivyj) seien, 2) gelten für die Poesie keine anderen Regeln als die, „utile et dulce“ zu mischen sowie vernehmlich und harmonisch zu singen. Die lyrische Persona will nicht mit Homer oder Vergil wetteifern, sondern bekennt, dass die „Einfachheit und Süße“ (prostota i sladost’) der Lieder Anakreons „ihn in Entzücken versetzen“ (v vostorg menja privodjat). Während sie jeden qualitativen Vergleich ihrer Verse mit denen des unvergleichlichen Anakreons ablehnt, will sie mit dem zum Echo einer Schalmei, auf den einfachen Stil herabgestimmten Gesang seiner Leier ‚zufrieden‘ sein. Als ihr einziges Ziel, als einzige Funktion ihrer Verse wird die Zufriedenheit der Adressatin genannt. Die Schlüsselwörter dieses Textes „prostota“, „prostoj“ und „dovol’stvo“, von denen das zuerst genannte fünfmal, das an zweiter Stelle genannte viermal in den 65 Zeilen des Textes erscheint, weisen auf den Sentimentalismus voraus. Einfachheit wird dabei sowohl den Gefühlen (prostye þuvstva) der 42 43
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Schenk: Studien zur anakreontischen Ode (wie Anm. 39), S. 37. Grigorij A. Gukovskij: Ob anakreontiþeskoj ode. In: Ders.: Rannie raboty po istorii russkoj poơzii XVIII veka. Moskau 2001, S. 135; Nadežda Ju. Alekseeva: Russkaja oda. Razvitie odiþeskoj formy v XVII–XVIII vekach. Sankt Petersburg 2005, S. 229f. Alekseeva: Russkaja oda (wie Anm. 43), S. 229. Schenk: Studien zur anakreontischen Ode (wie Anm. 39), S. 50.
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Vernunft, Gefühl und Sinne
eigenen, herabgestimmten Leier wie dem Herz und Geist (serdce / duch) der Adressatin, der „vernünftigen Russin“, zugeschrieben, das Gefühl der Zufriedenheit wird von persona und Adressatin geteilt. „Vostorg“ (Entzücken) empfindet bzw. fühlt das lyrische Subjekt nur bei den Liedern Anakreons. Die zweite Ode ist der Kraft des Verstandes bzw. des Geistes gewidmet, sie beschreibt die Erschaffung der Welt durch das „allmächtige Wort“ (vsesil’noe slovo) und ihre Belebung durch den Atem Gottes. Der Mensch, der „nackt, schwach und ohne Waffen“ auf die Welt gekommen sei, wird als das körperlich am schwächsten ausgestattete Geschöpf vorgestellt, dem als Ausgleich jedoch von der Natur der Verstand (razum) gegeben wurde, mit dessen Macht und Streben er zum allen Tieren überlegenen Herrscher der Erde wird. Eine Lobpreisung des Verstandes beendet die Ode: Ɉ ɪɚɡɭɦ, ɫɢɥɶɧɵɣ ɪɚɡɭɦ! ɐɚɪɟɦ ɬɵ ɱɟɥɨɜɟɤɚ Ɇɝɧɨɜɟɧɧɨ ɦɨɝ ɩɨɫɬɚɜɢɬɶ; ȿɝɨ ɬɵ ɭɤɪɟɩɥɹɟɲɶ, ȿɝɨ ɜɨɨɪɭɠɚɟɲɶ, ȿɝɨ ɬɵ ɫɨɝɪɟɜɚɟɲɶ […]46
Dieser Panegyrik des Verstands stellt die dritte Ode eine ausgesprochene Skepsis gegenüber, indem sie den vom Verstand ausgehenden Schaden thematisiert; dieser erscheint in der Geschichte der Menschheitsentwicklung zu dem Zeitpunkt, als das ursprüngliche Goldene Zeitalter nach der Teilung der Menschheit in Gruppen durch zwischen ihnen aufkommenden Neid zerstört wird. Neid wird zur ansteckenden Krankheit, die den „reinen Geist / Verstand“ („ich razum, þistyj razum“) trübt, die Menschen grausam werden und sie zunächst Tiere und dann sich gegenseitig töten lässt. Das Töten von Tieren (hier: Lämmer) wird als der erste Schritt des Menschen zur Bestialisierung ihres Geistes („zverski mysli“) gekennzeichnet; die geführten Kriege füllen den Geist – nicht das Herz! – mit Zorn47 und lassen ihn neue Waffen erfinden. Der ihm ursprünglich zu seinem Vorteil gegebene „reine Verstand“48 wird damit zur Ursache seines Schadens, zur Quelle seines Unglücks und desjenigen der anderen. Die Klage über die Verderbnis des Menschen, die als Infektion des Geistes vorgestellt wird, endet mit der in der russischen Literatur der damaligen Zeit neuen Relativierung des Verstands als „grausamer Gabe“: ȼɫɟ, ɜɫɟ, ɱɬɨ ɩɨɱɟɪɩɚɟɦ ɢɡ ɥɸɬɚ ɞɚɪɨɜɚɧɶɹ,
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Cheraskov: Novye ody (wie Anm. 39), S. 7; dt.: O Verstand, starker Verstand! / Du könntest den Menschen / Augenblicklich zum Zaren erheben; / Du festigst ihn, / Bewaffnest ihn, / Wärmst ihn […]. „jarost’ v mysl’ vlagajut“; (ebd., S 41). Vgl. dazu die Zeilen: „ɍɠɟ ɫɟɣ ɱɢɫɬɵɣ ɪɚɡɭɦ, / Ʉɨɬɨɪɵɣ ɱɟɥɨɜɟɤɭ / ɋɩɟɪɜɚ ɫɥɭɠɢɥ ɧɚ ɩɨɥɶɡɭ, / Ɍɟɩɟɪɶ ɧɢɱɬɨ ɢɧɨɟ / Ʉɚɤ ɛɟɞ ɟɝɨ ɢɫɬɨɱɧɢɤ“ (Oda III).
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Ulrike Jekutsch Ʉɨɬɨɪɵɦ ɦɵ ɝɨɪɞɢɦɫɹ, ȿɫɬɶ ɦɚɥɵɟ ɭɫɩɟɯɢ […]49
Die vierte Ode, „O vospitanii“, wendet sich dem Instrument der Besserung des Verstands zu, der Erziehung. Sie ist auf den Vergleich des Ackers, der der Ernte wegen in jedem Frühjahr neu bestellt werden muss, mit dem unbeständigen Geist und Streben des Kindes aufgebaut, dessen Verstand (razum) erst durch die Wissenschaft (nauka) „gereinigt“ werden müsse, wenn er sich selbst und der Gesellschaft nützlich sein soll: ɉɨɬɪɟɛɧɨ, ɬɚɤ ɤɚɤ ɩɥɭɝɨɦ, ɉɨɥɟɡɧɨɸ ɧɚɭɤɨɣ ȿɝɨ ɪɚɡɱɢɫɬɢɬɶ ɪɚɡɭɦ ɂ ɫɟɦɟɧɚ ɩɨɫɟɹɬɶ […] Ɍɚɤɨɣ ɩɨɥɟɡɟɧ ɪɚɡɭɦ ɂ ɨɛɳɟɫɬɜɭ ɢ ɪɨɞɭ […]50
Zu denken beginnt der Mensch aufgrund von mehrfachen Sinneseindrücken, wie in „Oda V. O suetnych želanijach“ vorgeführt wird, die die Anfälligkeit des Menschen, sich zur Vanitas verführen zu lassen, beklagt. Der Anblick eines untergehenden Schiffes initiiert einen Denkvorgang in der betrachtenden Persona („Ɍɨɥɢɤɨ ɜɢɞ ɩɥɚɱɟɜɧɨɣ / Ɇɟɧɹ ɨɬɜɥɟɤ ɨɬ ɦɟɫɬɚ; / ɉɨɲɟɞ ɹ ɧɚɱɚɥ ɦɵɫɥɢɬɶ“ – deutsch: Ein so trauriger Anblick / Ließ mich den Ort verlassen; / Ich ging und begann nachzudenken), der sie das Gewinnstreben der Menschen als Ursache des Untergangs erkennen lässt; diese Schlussfolgerung aus der Beobachtung fremden Unglücks bewirkt aber noch keine nachhaltige Einsicht; erst als der Zuschauende selbst in Lebensgefahr geraten und mit knapper Not gerettet worden ist, kommt er zu einem tieferen Verständnis fremden und eigenen Unglücks: Nicht äußere Umstände sind schuld, sondern die Begierden, die „uns dazu bringen, / Vergänglichkeiten nachzujagen“ („ɧɚɫ ɩɪɢɜɨɞɹɬ / Ɂɚ ɬɥɟɧɧɨɫɬɶɸ ɝɨɧɹɬɶɫɹ“).51 Einsicht in die wahren Ursachen wird über Erfahrung gewonnen, dabei wird „Denken“ deutlich in moralischen Kategorien gefasst. Die Ode XV. (O razume) widmet sich der moralischen Erörterung der Frage, wozu der Verstand (razum) dienen kann, fünfmal erscheinen die Fragevarianten 49
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Cheraskov: Novye ody (wie Anm. 39), S. 12; dt.: Alles das, was wir aus / der grausamen Gabe schöpfen, / Worauf wir stolz sind, / Sind nur kleine Erfolge […]. In der späteren Werkausgabe (Michail M. Cheraskov: Anakreontiþeskie ody. In: Ders.: Tvorenija, vnov’ ispravlennye i dopolnennye. ýast’ I–XII, M. 1796–1803; þ. VII, S. 241) ist dies geändert in: dt. Alles das, was wir aus / des Verstandes Gabe schöpfen, […]; russ. ȼɫɟ, ɜɫɟ, ɱɬɨ ɩɨɱɟɪɩɚɟɦ / ɍɦɚ ɢɡ ɞɚɪɨɜɚɧɶɹ […]. Cheraskov: Novye ody (wie Anm. 39), S. 14f.; dt.: Man muß wie mit dem Pflug / Mit der nützlichen Wissenschaft / Seinen Verstand reinigen / Und die Samenkörner säen […] / Solcher Verstand ist nützlich / Der Gesellschaft und dem Geschlecht […]. In der Ausgabe 1796ff. (Cheraskov, Tvorenija, þ. VII [wie Anm. 49], S. 244) ist die letzte Zeile geändert in: dt. […]. In unserem Lebenslauf; russ. […] ȼ ɬɟɤɭɳɟɣ ɧɚɲɟɣ ɠɢɡɧɢ. Cheraskov: Novye ody (wie Anm. 39), S. 19.
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Vernunft, Gefühl und Sinne
„ɇɚ ɱɬɨ ɩɨɥɟɡɟɧ ɪɚɡɭɦ?“ bzw. „ɇɚ ɱɬɨ ɩɨɬɪɟɛɟɧ ɪɚɡɭɦ?“ in gliedernder Funktion im Text. Beantwortet werden sie mit Beispielen, die die geringe Geltung des Verstandes in der Welt und seine amoralische Anwendung bloßlegen,52 so dass reiner Verstand scheinbar sinnlos wird. Die Antwort der Persona lautet: ə ɫɚɦ ɢ ɨɬɜɟɱɚɸ, ɂ ɞɭɦɚɸ, ɱɬɨ ɪɚɡɭɦ ɇɚ ɬɨ ɨɞɧɨ ɩɨɬɪɟɛɟɧ, ɑɬɨɛ ɢɦ ɦɨɝɥɢ ɭɜɢɞɟɬɶ, ȿɝɨ ɤɬɨ ɧɟ ɢɦɟɟɬ, Ɉɬ ɬɟɯ ɱɬɨɛ ɭɞɚɥɹɬɶɫɹ ɂ ɜɢɞɹ ɢɯ ɛɟɡɭɦɫɬɜɨ Ʉɚɤ ɦɨɠɧɨ ɢɫɩɪɚɜɥɹɬɶɫɹ Ⱥ ɩɚɱɟ ɧɭɠɟɧ ɪɚɡɭɦ, ɑɬɨɛ ɥɸɞɹɦ ɨɬ ɫɤɨɬɢɧɵ ȼ ɫɟɣ ɠɢɡɧɢ ɨɬɦɟɧɹɬɶɫɹ.53
Die Ode XVII beschreibt als „wahrhaften Schatz“ des Menschen das ständige Streben nach der Vermehrung des Verstandes durch Wissen und der Verbesserung des Herzens durch Güte, das ihm schließlich den Sieg über seine Schwächen bringen werde.54 Stärkere Gefühle werden vom lyrischen Subjekt fast ausschließlich in den Texten und den Segmenten geäußert, die die Verskunst thematisieren (Oda X. O važnosti stichotvorstva – Ode 10. Über die Bedeutung der Verskunst): Dem die Musen Liebenden erscheinen die Musen in Geist und Herz (Ɇɭɡɵ ɜɨɨɛɪɚɡɹɬɫɹ / ɜ ɭɦɟ, ɤ ɫɬɢɯɚɦ ɜɨɡɠɟɧɧɨɦ / ɂ ɜ ɫɟɪɞɰɟ ɢɦɢ ɩɥɟɧɧɨɦ – Die Musen werden vorgestellt / Im für Verse entflammten Geist / Und im von ihnen gefangenen Herzen); ihre Stimme ist dem dafür empfänglichen Ich ständig hörbar. Die Persona plädiert dafür, dass der Mensch seiner Neigung, Begabung bei der Berufswahl folgen solle, auch derjenige, der eine Berufung zum Dichter spürt, und dafür die 52
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Die erste Antwort, er diene der irdischen Bereicherung, wird als Antwort des „unreifen Verstandes“ qualifiziert, die zweite Antwort behauptet, dass man auch ohne Verstand und Bildung Erfolg in der Gesellschaft v.a. der Frauen haben kann. Die dritte führt vor, dass in der Welt „bezumnye“ für „razumnye“ gehalten werden, die vierte führt den opportunistischen Gebrauch des Verstands in der Schmeichelei vor. Die fünfte Antwort verneint die Notwendigkeit von Verstand in der Welt insgesamt. Cheraskov: Novye ody (wie Anm. 39), S. 48; dt.: Ich antworte selbst / Und denke, daß der Verstand / Allein dafür nötig ist, / Um durch ihn zu sehen / Wer ihn nicht besitzt, / Um sich von ihnen fernzuhalten, / Und wenn wir ihren Unverstand sehen, / sie möglichst zu bessern. / Und weiter ist der Verstand nötig, Um die Menschen vom Vieh / In diesem Leben zu unterscheiden. In der späteren Werkausgabe (Cheraskov: Tvorenija [wie Anm. 49], þ. VII, S. 282f.) lauten die ersten fünf Zeilen: dt. Ich denke, daß der Verstand / Allein dazu nötig ist, / Mit seiner Hilfe zu erkennen, / Wer keine Regeln hat, / Und uns von ihnen fern zuhalten; russ. ə ɞɭɦɚɸ, ɱɬɨ ɪɚɡɭɦ / ɇɚ ɬɨ ɨɞɧɨ ɩɨɬɪɟɛɟɧ, / ɑɬɨɛ ɢɦ ɦɨɝɥɢ ɩɪɨɧɢɤɧɭɬɶ / Ʉɬɨ ɩɪɚɜɢɥ ɧɟ ɢɦɟɟɬ, / Ɉɬ ɧɢɯ ɧɚɦ ɭɞɚɥɹɬɶɫɹ. Vgl. die Zeilen: ɋɬɚɪɚɣɫɹ ɤɚɤ ɜɨɡɦɨɠɧɨ / ɋɬɚɪɚɣɫɹ, ɫɦɟɪɬɧɵɣ! ȼ ɫɜɟɬɟ / ɍɤɪɚɫɢɬɶ ɡɧɚɧɶɟɦ ɪɚɡɭɦ / Ⱥ ɫɟɪɞɰɟ ɞɨɛɪɨɬɨɸ: / Ɍɨɝɞɚ ɩɨɥɭɱɢɲɶ ɤɪɟɩɨɫɬɶ / ɂ ɫɢɥɵ ɪɚɡɫɭɠɞɟɧɢɹ, / Ʉɨɬɨɪɵɦɢ ɩɨɛɟɞɭ / ɇɚɞ ɫɥɚɛɨɫɬɶɦɢ ɨɞɟɪɠɢɲɶ (Cheraskov: Novye ody [wie Anm. 39], S. 52).
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angeseheneren und nützlicheren Berufe im Militär, Zivildienst, Landwirtschaft oder Naturwissenschaft ausschlägt. Um die Gegenstände „klar, der Ordnung nach und harmonisch“ (ɹɫɧɨ, ɩɨɪɹɞɨɱɧɨ, ɫɨɝɥɚɫɧɨ) darstellen zu können, braucht ɟin Dichter, so heißt es, einen „reinen und hellen Verstand“ (ɪɚɡɭɦ, ɤɨɬɨɪɵɣ ɱɢɫɬ ɢ ɫɜɟɬɟɥ), „scharfe Gedanken“ (ɨɫɬɪɵ ɦɵɫɥɢ), um die inneren Zusammenhänge der Natur zu durchdringen, sowie: […] ɞɭɯ ɢ ɫɟɪɞɰɟ, Ʉɨɬɨɪɵ ɨɳɭɳɚɸɬ ɥɸɞɫɤɢɹ ɫɬɪɚɫɬɢ ɬɨɱɧɨ, ɂ ɹɫɧɨ ɫɨɨɛɳɚɸɬ ɂɯ ɫɢɥɭ ɢ ɞɜɢɠɟɧɢɟ, Ɋɚɡɪɵɜ, ɢɡɧɟɦɨɠɟɧɶɟ.55
In Ode XIII wird die panegyrische Ode, als deren Attribut die dröhnende Leier (gremjašþa lira) genannt wird, der anakreontischen Ode gegenübergestellt. Während die panegyrische Lyrik mit hochfliegenden Gedanken, wichtigen Worten, erhabenem Geist verbunden sei, ihr „großartiger Stil“ (slog velikolepnyj) und ihre „schöne Unordnung“ die Gedanken entzücken, mit Donnerdröhnen das Herz durchdringen und überwältigen, wird die anakreontische Ode dem „stillen Seufzen stöhnender Tauben“ verglichen (tichoe vzdychanie / Stenjašþich gorlic). Wie diese lässt die Verkündung der Liebesleidenschaft den Dichter seufzen und veranlasst ihn auf „die Zärtlichkeit im reinen Herzen“ zu hören, „die dem Menschen natürlich ist“.56 Die Persona entscheidet sich für den einfachen Stil Anakreons, im Zusammenhang der Poesie erscheinen die ersten sentimentalischen Topoi, das zärtliche Herz und die Natürlichkeit. Die letzten acht Oden wenden sich vermehrt dem Dichter zu, eine Ausnahme stellt hier die Ode XXV dar, die die Eintrübung des Verstands beim Anblick des Goldes beklagt. Die Ode XX besingt die Liebe des Dichters zu den Musen, die sein Auge und Herz gefangen nehmen; die an die Musen gerichtete Ode XXIV beschreibt die Geduld als Trost und Süße der Verständigen.57 Die vorletzte Ode des Zyklus rühmt noch einmal anhand der Gegenüberstellung von Stadt und Land die Ruhe und Annehmlichkeit des Landlebens, die sich auf die Befindlichkeit, das
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Oda X, S. 34; dt.: Geist und Herz, / Die genau die menschlichen / Leidenschaften empfinden, / Und klar ihre Stärke / Und Dynamik, / Störung, Ohnmacht mitteilen. In der späteren Werkausgabe ist in der letzten Zeile das Wort „Ɋɚɡɪɵɜ“ (Störung) durch „Ȼɨɥɟɡɧɶ“ (Krankheit) ersetzt. Die Wendung „serdce ošþušþaet“ (das Herz empfindet) erscheint auch in Oda XII. Oda XIII, 43; russ.: […] Ɍɭ ɧɟɠɧɨɫɬɶ ɜ ɱɢɫɬɨɦ ɫɟɪɞɰɟ / Ʉɨɬɨɪɚɹ ɩɪɢɪɨɞɧɚ / ɇɚ ɫɜɟɬɟ ɱɟɥɨɜɟɤɚɦ (Cheraskov: Novye ody [wie Anm. 39], S. 43). In der späteren Werkausgabe (Cheraskov: Tvorenija [wie Anm. 49], þ. VII, S. 276) heißt es dt.: die Gefühle im zärtlichen Herzen, die dem Menschen natürlich sind; russ. Ɍɟ ɱɭɜɫɬɜɵ ɜ ɧɟɠɧɨɦ ɫɟɪɞɰɟ, / Ʉɨɬɨɪɵɟ ɩɪɢɪɨɞɧɵ / ɇɚ ɫɜɟɬɟ ɱɟɥɨɜɟɤɚɦ, […]. Vgl. die Zeilen: ə ɫɬɪɭɧɵ ɥɢɪɵ ɧɚɩɪɚɜɥɹɸ, / ȼɨɫɩɟɬɶ ɪɚɡɭɦɧɵɯ ɭɬɟɲɟɧɢɟ, / ɉɨɸ ɞɭɲɟɜɧɨɟ ɬɟɪɩɟɧɶɟ. / Ɍɟɪɩɟɧɶɟ, ɬɵ ɪɚɡɭɦɧɵɯ ɫɥɚɫɬɢ.
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Herz der jeweiligen Bewohner übertrage.58 Die letzte Ode bestätigt die Entscheidung der Persona für den Dichterberuf und das Landleben und bittet die Musen in der Tradition des Bescheidenheitstopos um Verzeihung für sein geringes Talent und um ihren weiteren Beistand, denn „noch sei Zeit, meine Verse und mein Herz zu verbessern“.59 Die Persona zieht sich aus der Welt auf das Land zurück, sie beginnt, ihre eigene innere Zufriedenheit ins Zentrum zu stellen. Die anakreontischen Oden sind deutlich als Zyklus gebaut, in ihrer Gesamtheit stellen sie den Menschen und seine Fähigkeiten in einer Weise vor, die den rationalen Aspekten zwar großen Raum einräumt, sie aber zugleich deutlich relativiert. Verstand und Vernunft werden, da sie fähig sind, die Dinge und Menschen nach moralischen Kriterien zu beurteilen, zwar als entscheidende Fähigkeiten des Menschen dargestellt, aber es wird zugleich auf den weit verbreiteten Missbrauch der Verstandesfähigkeiten in der menschlichen Gesellschaft abgestellt. Als erste Stufe der Erkenntnis erscheint dabei immer diejenige über die Sinnesorgane, über die Empfindungen. Zugleich aber wird die Bedeutung des Herzens und des Gefühls hervorgehoben, das lyrische Subjekt entscheidet sich aus subjektiven Gründen sowohl für die einfache, natürliche Poesie der anakreontischen Ode (sladko, milo) wie für ein ruhiges Leben auf dem Land und damit in relativer Einsamkeit. Damit ist eine erste Umwertung der Geltung von Verstand und Gefühl vorgegeben. Die Forschung hat hier vom Auftauchen erster sentimentaler Elemente auf dem Hintergrund der vernunftbetonten Literatur der 1750er und 1760er Jahre gesprochen60 und Cheraskov als einen Vorläufer des Sentimentalismus beschrieben. Zum Abschluss sei noch kurz auf theoretische Abhandlungen zur Anthropologie im Rußland dieser Zeit eingegangen. Hier spielt, wie die polemischen Bezüge auf europäische Autoren zeigen, die noch kaum aufgearbeitete Übersetzung französischer, deutscher, lateinischer und englischer Referenztexte eine besondere Rolle. V.a. muss zunächst auf die Rezeption des Essay Concerning Human Understanding von John Locke hingewiesen werden, dessen erste Teilübersetzung bzw. Teilzusammenfassung durch Aleksandr Sumarokov 1759 in der Zeitschrift Trudoljubivaja Pþela erschien.61 Sumarokov fasst dort einige Gedanken der ersten beiden Ka58
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Vgl. die Zeilen: Ƚɞɟ ɱɭɜɫɬɜɚɦ ɧɟɬ ɩɨɤɨɹ, / ɇɟ ɦɨɠɟɬ ɬɚɦ ɢ ɫɟɪɞɰɟ / Ɇɢɧɭɬɭ ɛɵɬɶ ɫɩɨɤɨɣɧɨ. Und: Ʉɚɤɭɸ ɜɢɞɢɦ ɪɚɡɧɨɫɬɶ / Ɇɟɠ ɝɨɪɨɞɨɦ ɢ ɩɨɥɟɦ, – / Ɍɚɤɭɸ ɬɨɱɧɨ ɪɚɡɧɨɫɬɶ / ɂ ɜ ɪɚɡɭɦɟ ɢ ɜ ɞɭɯɟ / Ɇɟɠ ɩɵɲɧɵɦ ɝɪɚɠɞɚɧɢɧɨɦ / ɂ ɤɪɨɬɤɢɦ ɫɟɥɹɧɢɧɨɦ. Vgl. die Zeilen: Ɇɭɡɚ, ɢɫɬɨɱɧɢɤ ɜɫɟɯ ɡɚɛɚɜ ɦɨɢɯ, / ə ɬɜɨɸ ɤɨ ɦɧɟ ɯɨɥɨɞɧɨɫɬɶ / ɍɠɟ ɧɚɱɚɥ ɩɪɢɦɟɱɚɬɢ. Und: ȼɪɟɦɹ ɟɫɬɶ ɟɳɟ ɢɫɩɪɚɜɢɬɶ / ɂ ɫɬɢɯɢ ɦɨɢ ɢ ɫɟɪɞɰɟ (Cheraskov: Novye ody [wie Anm. 39], S. 73). Peter Thiergen: Studien zu M.M. Cheraskovs Versepos „Rossijada“. Materialien und Beobachtungen. Diss. Bonn 1970, S. 260–343. Das Ende der 1750er Jahre scheint durch eine verstärkte Rezeption John Lockes gekennzeichnet: Nikolaj Popovskij publizierte 1759 seine Übersetzung der in Rußland bereits in französischer Übersetzung bekannten und sehr einflussreichen Some Thoughts Conderning Education; zur Rezeption Lockes in Rußland vergl. Marcus C. Levitt: Was Sumarokov a Lockean Sensualist? On Locke’s Reception in Eighteenth-Century Russia. In: Maria Di Salvo,
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pitel des ersten Buchs des Essays, in denen es v.a. um die Funktionsweise des menschlichen Denkens und Schlussfolgerns geht, auf zwei Seiten zusammen. Übereinstimmend mit Trediakovskij und Cheraskov verwendet Sumarokov den Begriff ‚þuvstvo‘ in den zwei Bedeutungen als Sinnesempfindung und als Gefühl.62 Eine entsprechende Auffassung kann auch bei Aleksandr Radišþev nachgewiesen werden, dessen Abhandlung O þeloveke, o ego smertnosti i bessmertii63 (Über den Menschen, über seine Sterblichkeit und Unsterblichkeit) bereits im Titel auf eine gewisse Präokkupation der russischen Diskurse der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts um die Natur des Menschen mit religiösen und moralischen Fragen verweist. Der Traktat kann als Resümee dieser Diskurse um materialistische und christlich-idealistische Auffassungen vom Menschen aufgefasst werden.64 Radišþev hat diese Abhandlung in der Zeit seiner sibirischen Verbannung geschrieben;65 sie behandelt in vier Büchern – z.T. in Gestalt eines Dialogs zwischen entgegengesetzten Positionen – das Problem des „commercium mentis et corporis“ in moralischer Perspektive, wobei sie zugleich die Funktion einer Trostschrift für den Autor übernimmt. Die Abhandlung geht von der Frage nach dem Leben des Menschen nach dem Tode aus und sucht in Auseinandersetzung mit materialistischen Konzepten, die ein persönliches Weiterleben nach dem Tode negieren, die Schlüssigkeit christlich-idealistischer Konzepte zu belegen, die die Unsterblichkeit jeder einzelnen Seele und die doppelte Beschaffenheit des menschlichen Denkens als materiell und geistig zugleich annehmen. Dabei wird die individuelle Seele als eigenes, mit dem Körper auf Lebenszeit verbundenes Element herausgestellt, so dass sie als eigenständige den Körper überdauert. Das zweite Buch der Abhandlung ist insbesondere der Frage gewidmet, ob die Empfindungen allein als körperliche Reaktionen der Sinnesorgane – und über diese vermittelt des Gehirns – auf äußere Reize zu sehen seien, und damit das Denken allein der Materie zuzuschreiben sei. Das dritte Buch weist dann die vorher genannten Argumente zurück und argumentiert für die eigene, gesonderte Natur des Denkens bzw. für die Existenz einer vom Körper unabhängigen unsterblichen Seele:
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Lindsey Hughes (Hg.): A Window on Russia. Proceedings of the V. International Conference of the Study Group on Eighteenth-Century Russia, Gargano 1994. Rome 1996, S. 219–227. Ebd., S. 221–223. Aleksandr N. Radišþev: O þeloveke, o ego smertnosti i bessmertii. In: Ders.: Izbrannye filosofskie i obšþestvenno-politiþeskie proizvedenija. Pod obšþej red. […] I. Ja. Šþipanova. Moskva 1952, S. 287–418. Dieser Diskurs ist bisher, wie eingangs gesagt, insgesamt noch wenig erforscht; einige Positionen der Rezeption europäischer Schriften zur Frage der Gotteserkenntnis nennt Andrej Kostin in seiner Abhandlung zu Radišþevs Putešestvie iz Peterburga v Moskvu (Andrej A. Kostin: Religioznye vzgljady A.N. Radišþeva. In: XVIII vek. Sbornik 24. SPb. 2006, S. 255– 280, hier S. 275–280). Darauf verweist der Untertitel zum ersten Buch der Abhandlung: „Naþato 1792 goda genvarja 15. Ilimsk.“
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1. ɋɤɨɥɶ ɧɢ ɢɫɤɭɫɫɬɜɟɧɧɵ ɫɭɬɶ ɞɨɜɨɞɵ Ƚɟɥɶɜɟɰɢɟɜɵ, ɱɬɨ ɜɫɟ ɞɟɹɧɢɹ ɪɚɡɭɦɚ ɫɭɬɶ ɧɟ ɱɬɨ ɢɧɨɟ, ɤɚɤ ɩɪɨɫɬɨɟ ɱɭɜɫɬɜɨɜɚɧɢɟ; ɱɬɨ ɫɩɨɫɨɛɧɨɫɬɶ ɩɨɧɢɦɚɬɶ, ɫɭɞɢɬɶ ɢ ɡɚɤɥɸɱɚɬɶ ɧɟ ɱɬɨ ɢɧɨɟ ɟɫɬɶ, ɤɚɤ ɱɭɜɫɬɜɨɜɚɬɶ ɫɩɨɫɨɛɧɨɫɬɶ; ɧɨ ɯɨɬɹ ɛɵ ɬɨ ɬɚɤ ɢ ɛɵɥɨ, ɢɡ ɬɨɝɨ ɫɥɟɞɨɜɚɬɶ ɬɨɥɶɤɨ ɦɨɠɟɬ, ɱɬɨ ɱɭɜɫɬɜɟɧɧɨɫɬɶ ɟɫɬɶ ɬɨɤɦɨ ɨɪɭɞɢɟ ɪɚɡɭɦɧɵɹ ɫɢɥɵ, ɧɨ ɧɟ ɞɟɣɫɬɜɭɟɬ; ɱɬɨ ɱɭɜɫɬɜɨɜɚɬɶ (ɬɨ ɟɫɬɶ ɩɨɥɭɱɚɬɶ ɧɚ ɱɭɜɫɬɜɚ ɧɚɲɢ ɭɞɚɪɟɧɢɹ ɩɪɟɞɦɟɬɨɜ) ɟɫɬɶ ɫɚɦɚɹ ɫɢɥɚ, ɱɭɜɫɬɜɨɜɚɧɢɹɦ ɢ ɦɵɫɥɢ ɞɟɣɫɬɜɢɬɟɥɶɧɨɫɬɶ ɞɚɸɳɚɹ. ɇɨ ɩɚɱɟ ɧɚɛɥɸɞɟɧɢɹ ɱɭɜɫɬɜɨɜɚɧɢɣ ɧɚɲɢɯ ɭɱɚɬ ɧɚɫ, ɱɬɨ ɦɵɫɥɶ ɨɬ ɱɭɜɫɬɜ ɫɨɜɫɟɦ ɟɫɬɶ ɧɟɱɬɨ ɨɬɞɟɥɟɧɧɨɟ; […] ɂɬɚɤ, ɹ ɬɪɢ ɱɭɜɫɬɜɨɜɚɧɢɹ ɢɦɟɸ ɜɞɪɭɝ, ɫɨɜɫɟɦ ɪɚɡɧɵɟ, ɢɛɨ ɩɨɥɭɱɟɧɵ ɦɧɨɸ ɪɚɡɧɵɦɢ ɱɭɜɫɬɜɚɦɢ, ɧɨ ɜɞɪɭɝ, ɜ ɨɞɧɨ ɦɝɧɨɜɟɧɢɟ; ɧɨ ɹ ɫɟɛɟ ɢɡ ɬɪɟɯ ɱɭɜɫɬɜɨɜɚɧɢɣ ɫɨɫɬɚɜɥɹɸ ɟɞɢɧɨɟ ɩɨɧɹɬɢɟ, […] ɯɨɬɹ ɜɫɟ ɬɪɢ ɱɭɜɫɬɜɨɜɚɧɢɹ ɪɚɡɥɢɱɧɵ, ɹ ɜɞɪɭɝ ɢɯ ɩɨɧɢɦɚɸ; ɢ ɯɨɬɹ ɩɨɧɹɬɢɟ ɨɛ ɨɛɪɚɡɟ, ɡɜɭɤɟ, ɬɜɟɪɞɨɫɬɢ ɢ ɩɪɨɬɹɠɟɧɢɢ ɫɭɬɶ ɪɚɡɥɢɱɧɵɟ, ɧɨ ɫɭɳɟɫɬɜɭɸɬ ɜ ɞɭɲɟ ɫɨɜɨɤɭɩɧɨ. ɂɬɚɤ, ɱɭɜɫɬɜɨɜɚɧɢɟ ɢɥɢ ɭɞɚɪɟɧɢɟ ɩɪɟɞɦɟɬɨɜ ɧɚ ɱɭɜɫɬɜɚ ɧɚɲɢ ɫɭɬɶ ɨɬ ɩɨɧɹɬɢɣ ɧɚɲɟɹ ɦɵɫɥɟɧɧɵɹ ɫɢɥɵ ɨɬɥɢɱɧɵ. […] 2. Ⱦɭɲɚ ɜ ɱɟɥɨɜɟɤɟ ɧɟ ɬɨɤɦɨ ɢɦɟɟɬ ɦɨɝɭɳɟɫɬɜɨ ɬɜɨɪɢɬɶ ɩɨɧɹɬɢɹ, ɤɚɤ ɬɨ ɦɵ ɜɢɞɟɥɢ, ɧɨ ɨɧɚ ɟɫɬɶ ɢɫɬɢɧɧɵɣ ɨɧɵɯ ɩɨɜɟɥɢɬɟɥɶ […].66 Von dieser Beweisführung zugunsten der nichtmateriellen Qualität des Geistes und Denkens gelangt Radišþev dann im vierten Buch zu der Lobpreisung Gottes. Seine Abhandlung wurde im 18. Jahrhundert nicht publiziert; als eine, die in sibirischer Verbannung, fern von Bibliotheken, geschrieben wurde, belegt sie aber die Verbreitung europäischer Referenztexte in der damaligen gebildeten Elite Rußlands und die Lebendigkeit der von ihnen angestoßenen Auseinandersetzungen.
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Radišþev: O þeloveke, o ego smertnosti i bessmertii. In: Ders.: Izbrannye filosofskie (wie Anm. 63), S. 384. Dt.: 1. Wie kunstfertig auch die Beweise des Helvetius sein mögen, daß alle Tätigkeiten des Verstands nichts anderes sind als einfaches Empfinden; dass die Fähigkeit zu verstehen, zu urteilen und zu folgern nichts anderes sei als die Fähigkeit zu empfinden; aber auch wenn es so wäre, kann daraus nur folgen, dass die Empfindsamkeit ein Instrument der Verstandeskraft ist, aber nicht wirkt / handelt; dass zu empfinden (d.h. einen Anstoß von Gegenständen auf unsere Sinne zu erhalten) dieselbe Kraft ist, die den Empfindungen und dem Geist Wirklichkeit gibt. Aber die Beobachtung unserer Empfindungen lehrt uns, dass der Geist etwas von den Sinnen völlig entferntes ist; […] Also, ich habe drei, völlig verschiedene Empfindungen zugleich, denn sie sind von verschiedenen Sinnen empfangen, aber zugleich, in einem Augenblick; aber ich setze mir aus den drei Empfindungen einen einzigen Begriff zusammen, […] obwohl alle drei Empfindungen verschieden sind, verstehe ich sie zugleich; und obwohl die Begriffe von Bild, Ton, Festigkeit und Ausdehnung verschieden sind, so existieren sie in der Seele zusammen. Also, die Empfindung oder der Anstoß von Gegenständen auf unsere Sinne sind unterschiedlich von den Begriffen unserer Geisteskraft. […] 2. Die Seele im Menschen hat nicht nur die Fähigkeit, Begriffe zu erschaffen, wie wir gesehen haben, sondern sie ist ihr wahrhafter Befehlshaber […].
LEONHARD HERRMANN (Leipzig)
Gefühlte Freiheit? Zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Individualität im Sturm und Drang – Herders mystischer Monismus in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele In der deutschsprachigen Literatur der Spätaufklärung wird das Verhältnis von Gefühl und Verstand als jenes zwischen den beiden maßgeblichen „Seelenkräften“ des Menschen zum Gegenstand eines breit geführten Diskurses. Dieser gilt als Teilaspekt der anthropologischen Frage nach dem Commercium mentis et corporis, wobei das Gefühl als Emanenz der menschlichen Physis, der Verstand als Vermögen der immateriellen, traditionell göttlichen Bestimmung des Menschen begriffen wird.1 In der rationalistisch-dualistischen Tradition Descartes’ zählte bei der philosophischen Bestimmung des Menschen dessen Verstand zu den ,oberen‘, sein an die Physis gebundenes Gefühl zu den ,unteren‘ Seelenkräften des Menschen, wobei Erkenntnis, Wahrheit und Rechtschaffenheit nur dann zu erlangen waren, wenn die oberen die unteren Seelenkräfte unter ihrer Kontrolle hatten – eine Dichotomie, die auch in Kontinuität, zuweilen in Parallelität zu theologischen Deutungsmustern stand, die die Leiblichkeit des Menschen primär als irritatives Moment im göttlichen Erlösungsprozess begriffen.2 Doch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickeln sich – im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Ästhetik als philosophischer Disziplin – vermittelnde Positionen, die der Sinnlichkeit, dem Gefühl, eine zunehmend bedeutende Position im Erkenntnisprozess beimessen. Eine lange Forschungstradition deutet diese Entwicklung als eine „Rehabilitation der Sinnlichkeit“.3 Noch ganz vom Dualismus der beiden menschlichen Seelenkräfte gezeichnet ist eine Preisfrage, die die Klasse für Spekulative Philosophie der Berliner Akademie im Jahr 1773 und 17754 ausschrieb. „L’âme possède deux facultés primitives qui 1
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Vgl. dazu Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL = Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 6. Sonderheft. Tübingen 1994, S. 93–154; Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1994; Caroline Welsh, Christina Dongowski u. Susanna Lulé: Einleitung. In: Dies.: Sinne und Verstand. Ästhetische Modellierung der Wahrnehmung um 1800. Würzburg 2001, S. 7–20; Maximilian Bergengruen, Roland Borgards u. Johannes Friedrich Lehmann (Hg.): Einleitung. In: Dies.: Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Würzburg 2001, S. 7–14. Vgl. dazu Catherine Newmark: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg 2008, S. 92–143. Vgl. Riedel: Anthropologie und Literatur (wie Anm.1), S. 105; zur Rehabilitation der Sinnlichkeit als zentraler Deutungskategorie für die Philosophie der Spätaufklärung vgl. ferner: Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002. Die erste Fassung von Herders Schrift u.d.T. Uebers Erkennen und Empfinden der Menschen Seele (1774) entstand aus Anlass der Preisfrage der Berliner Akademie 1773; aus Unzufrieden-
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forment la base de toutes ses opérations; la faculté de coinnoître et la faculté de sentir“.5 Unter dieser Maßgabe bestand die Aufgabe darin, die beiden Fähigkeiten in ihrer ursprünglichen Bestimmung darzustellen, ihre wechselseitigen Einflüsse deutlich zu machen und zu beschreiben, inwieweit sie Genie, Lebendigkeit und Charakter des Menschen beeinflussen. Die Fragestellung geht auf Johann Georg Sulzer zurück, der in seinen Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet, beide ,Seelenkräfte‘ strikt entgegensetzt.6 Entsprechend heißt es auch in der Explikation der Fragestellung, dass im Erkennen sich die Seele ganz ihrem Gegenstand widmen könne, das Empfinden jedoch nicht nur von der Beschäftigung mit dem Gegenstand, sondern auch von einer zirkulären Beschäftigung mit sich selbst gekennzeichnet sei; ist das Erkennen also ein Zustand der Offenheit und Konzentration auf das Objekt des Erkennens, so ist das Empfinden ein Zustand der Verwirrung: Es stiftet entweder ein Wohl- oder Missbehagen, wobei nur das Missbehagen als produktiv gedeutet wird, weil nur dieses eine Zustandsänderung wünscht; das Wohlbehagen dagegen erscheint als Zustand der Trägheit und Passivität.7 Johann Gottfried Herder – zu dieser Zeit Konsistorialrat und Oberpfarrer in der Grafschaft Schaumburg-Lippe – konnte die Preisrichter weder 1773 noch 1775 überzeugen. Seine Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele bestreitet bereits die der Fragestellung zugrunde liegende Hypothese und geht von einem organischen Verhältnis von Empfinden und Erkennen aus.8
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heit über die Ergebnisse wurde dieselbe Frage 1775 erneut ausgeschrieben, Herder beteiligte sich erneut mit einer veränderten Fassung u.d.T. Vom Erkennen und Empfinden, den zwo Hauptkräften der menschlichen Seele (1775); die dritte Fassung erschien schließlich 1778 u.d.T. Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume; vgl. dazu Marion Heinz: Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder (1763–1778). Hamburg 1994 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 17), S. 109; aus pragmatischen Gründen kann hier nur die letzte Fassung berücksichtigt werden; zum Vergleich der einzelnen Fassungen ebd., S. 109–174; zur Textgestalt und Editionsgeschichte vgl. auch: Kommentar zu Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778). In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold u.a. Bd. 10: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hg v. Jürgen Brummack, Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 105), S. 1076–1082. Zit. nach: Kommentar zu Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 4), S. 1076. Heinz spricht von der Aufgabenstellung gar als einer „Zusammenfassung der Hauptthesen“ von Sulzers Schrift, Herders Schrift dagegen beweise „das Gegenteil zu Sulzers Theorie“ (Heinz: Sensualistischer Idealismus [wie Anm. 4], S. 110–111). Vgl. Kommentar zu Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 4), S. 1077. Herder selbst war sich dieses Umstandes bewusst und erwartete gar nicht erst, bei der Preisvergabe berücksichtigt zu werden, vgl. Heinz: Sensualistischer Idealismus (wie Anm. 4), S. 110.
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Gerade dieser Kontext macht Herders Schrift für eine exemplarische Analyse zum Verhältnis von Emotion und Kognition in der europäischen Aufklärung zu einem wertvollen Dokument. Im Folgenden soll deutlich werden, dass sich in ihr exemplarisch ein fundamentaler Transformationsprozess zeigt, der wegführt von der dualistischen Bestimmung des Menschen hin zu einer tendenziell monistischen Deutung, die im (physischen) Empfinden die Basis für das (metaphysische) Erkennen sieht und den Menschen von seinen körperlichen Grundlagen her denkt.9 Indem das ,Gefühl‘ anders als im heutigen Verständnis von „Emotion“ keine primär psychische Regung, sondern eine auf einem physischen Reiz basierende, körperliche Empfindung im Sinne des Tastsinns darstellt, wird die Leiblichkeit des Menschen in seine philosophische Bestimmung integriert. Zugleich zeigt Herders Text, wo die Grenzen dieses Denkens vom ganzen Menschen liegen: Indem sein Erkennen auf seine körperlichen Erfahrungen zurückgeführt wird, wird der Mensch in die Natur integriert und tendenziell deren Determinismus unterworfen. Unter einer systematisch-anthropologischen Sicht muss deshalb die These vom freien Willen des Menschen aufgegeben werden und kann nur durch die bewusste Reintegration dualistischer Philosopheme beibehalten werden. Ein kurzer Ausblick auf dramatische Texte des Sturm und Drang wird zeigen, wie diese Anthropologie literarisch reflektiert wird – nämlich in Form von Figuren, die vollkommen durch ihr ,Gefühl‘ bestimmt werden und nach außen zwar absolute Freiheit für sich in Anspruch nehmen, bei der Realisierung dieses Anspruchs jedoch an äußeren wie inneren Widerständen scheitern. Auf diese Weise soll deutlich werden, dass Texte des Sturm und Drang – indem sie in ihren Figurenkonzeptionen auf die Anthropologie Herders verweisen – nicht einseitig als Apotheose des menschlichen Freiheitsdrangs zu betrachten sind, sondern in ihrer Bestimmung des Menschen von seinen physiologischen Grundlagen her die Freiheit des Einzelnen letztlich als von äußeren Bedingungen begrenzt beschreiben müssen. In diesem Sinne wird die These vertreten, dass der Umstand, dass alle Protagonisten in Texten des Sturm und Drang bei der Realisierung ihrer Ansprüche scheitern, nicht etwa dem zugrunde liegenden anthropologischen Modell widerspricht, sondern gerade in diesem begründet liegt. Bereits die systematische Einleitung, die Herder an den Anfang seiner Darstellung stellt, enthält den gesamten Gedankengang in nuce. Basis allen Erkennens ist nicht der Verstand, sondern das Gefühl. Das Gefühl schafft eine Verbindung zwischen toter Natur und lebendigem Menschen und ist einerseits nur 9
Inka Mülder-Bach spricht von der „Aufwertung des Körpers zum sinnlichen Apriori und unhintergehbaren Medium aller Erkenntnis“ bei Herder und leitet diese Annahme werkbiografisch aus einer Vielzahl weiterer Schriften Herders her, so etwa aus dem Vierten Kritischen Wäldchen (1769) oder aus der nachgelassenen Skizze Zum Sinn des Gefühls (1769), vgl. Inka Mülder-Bach: Kommunizierende Monaden. In: Caroline Welsh, Christina Dongowski u. Susanna Lulé (Hg.): Sinne und Verstand (wie Anm. 1), S. 41–52, hier S. 42f.; vgl. auch Heinz: Sensualistischer Idealismus (wie Anm. 4), S. 81–108.
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aus den natürlichen Grundlagen des Menschen heraus erklärbar, erhebt diesen jedoch andererseits über die „tote Natur“.10 Dieses Fühlen ist zugleich ein dichterischer, imaginativer und ästhetischer Akt: [D]er empfindende Mensch fühlt sich in Alles, fühlt Alles aus sich heraus, und druckt darauf sein Bild, sein Gepräge. So ward Newton in seinem Weltgebäude wider Willen ein Dichter, wie Buffon in seiner Kosmogonie, und Leibniz in seiner prästabilierten Harmonie und Monadenlehre.11
Wirkliche Erkenntnis über den Menschen – und damit wohl die höchste Erkenntnis, die für Herder denkbar ist – bietet nicht die Philosophie, sondern die Poesie: So glaube er, „dass Homer und Sophokles, Dante, Shakespeare und Klopstock der Psychologie und Menschenkenntnis mehr Stoff geliefert haben, als selbst die Aristoteles und Leibnitze aller Völker und Zeiten“.12 Entsprechend sind es für Herder nicht die (rationalen) Gedanken, sondern die (ästhetischen) Empfindungen, die die „größten und kühnsten Theorien geboren haben“ – und zwar als „Ein neues Bild, Eine Analogie, Ein auffallendes Gleichnis“.13 Nicht die logische Operation des Syllogismus sei daher das maßgebliche Verfahren zur Hervorbringung neuer Erkenntnis, sondern das Bilden von Analogien; diese werden nicht kognitiv erschlossen, sondern ästhetisch empfunden: Die stille Ähnlichkeit, die ich im Ganzen meiner Schöpfung, meiner Seele und meines Lebens empfinde und ahnde: der große Geist, der mich anwehet und mir im Kleinen und Großen, in der sichtbaren und unsichtbaren Welt Einen Gang, Einerlei Gesetze zeiget: der ist mein Siegel der Wahrheit.14
Diese (bildhafte) Wahrheit ist für Herder relativer, nicht absoluter Natur: Sie ist die eigentliche „menschliche Wahrheit“, eine andere, gar eine absolute, gebe es nicht. Indem diese menschliche Wahrheit direkt auf den göttlichen Schöpfer verweist, ist sie weniger ein Ergebnis von aktiver Erkenntnis, sondern von passiver Empfängnis. Basis für diese empfundene Erkenntnis der großen Weltzusammenhänge, für deren Wahrnehmung und Wiedergabe im Rahmen eines ästhetischen Aktes ist für Herder „jenes sonderbare Phänomenon, das Haller ,Reiz‘ genannt hat“.15 Die Umwandlung und Verstärkung eines solchen äußeren, physischen Reizes zur Empfindung und schließlich zur Erkenntnis erfolgt innerhalb des menschlichen Körpers, „durch viele Gänge und Stufen der Mechanik und Organisation“.16 Die maßgeblichen Kräfte der Natur – die Ausdehnung und das Zusammenziehen – setzen sich 10 11 12 13 14 15 16
Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778). In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 10 (wie Anm. 4), S. 329. Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 10), S. 330. Zur Funktion der Dichtung für den Einzelnen bei Herder vgl. auch Hans Dietrich Irmscher: Johann Gottfried Herder. Stuttgart 2001, S. 31. Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 10), S. 330. Ebd., S. 330f. Ebd., S. 331. Ebd.
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vermittelt durch den Reiz auch im menschlichen Körper fort; der Reiz bewirkt ein Ausdehnen und Zusammenziehen der „Fibern“ und breitet sich auf diese Weise „durch unser ganzes Ich aus“,17 führt zur Empfindung und schließlich zur Erkenntnis. Verbunden durch den Reiz wird der Mensch auf diese Weise zu einem organischen Teil der Natur. Indem Herder das passive Empfangen eines äußeren „Reizes“ als Basis für Empfindung beschreibt, bewegt er sich in der Tradition der Gefühlstheorie Descartes’ – obwohl seine eigenen Theorien dessen Substanzdualismus überwinden wollen. Die philosophischen Gefühlstheorien waren bis dahin von dem auf Aristoteles zurückgehenden Appetitus-Modell geprägt, das die Ursachen von Passionen sowohl in der Aktivität wie in der Passivität der menschlichen Seele sucht.18 Bei Descartes wird dieses Modell einseitig auf die passiven Elemente reduziert; die „Passionen der Seele“ werden hier „so weit wie möglich als rein körperliche Phänomene“19 erfasst. Bei Herder werden – so scheint es zunächst – diese Emotionen als eben in diesem Sinne passiv erlittene, von außen auf den Menschen treffende Sinnesreize bestimmt; so ist für Herder „Bewegung ein fremder Trieb, ein mitgeteiltes fortwürkendes Streben“,20 und nichts, was dem Menschen von selbst inhärent wäre. Im Unterschied zu Descartes werden diese rein passiven Empfindungen jedoch nicht mehr moralisch ab-, sondern epistemologisch aufgewertet. Herders Bezug auf Hallers Reiz-Begriff zur Herleitung seines organischen LeibSeele-Modells ist jedoch nicht ohne Widersprüche. Haller selbst trennt explizit zwischen Reizbarkeit und Empfindlichkeit bestimmter Körperteile, wobei der Reiz ein rein körperliches Phänomen darstellt, die Empfindungen jedoch Vorstellungen der Seele involvieren.21 Werden bei Haller Reiz und „Leben“ explizit unterschieden, so wird bei Herder der Reiz zu dessen eigentlichem Antrieb. Auf diese Weise bleibt der Leib-Seele-Dualismus, den Herder gerade mit Bezug auf Haller überwinden möchte, bei Haller selbst erhalten. Zugleich werden mit Hallers Lehre und Herders Schrift zwei grundlegend unterschiedliche Codes bedient: Herder werden die rein physiologischen Beobachtungen von Ausdehnung und Kontraktion „zu den grundlegenden, wenn nicht sogar poetischen Figuren eines imaginären Körpers“,22 der nichts mit Hallers medizinischen Begriffen gemein hat. So wird mit Herders „zweckbestimmter Fehlinterpretation“23 das Ziel verfolgt, die Erkenntnisse der Physiologie zu nutzen, um sie im Sinne einer philosophisch-poetisch-ästhetischen Auffassung zu erweitern. Daher kann man bei Herder kaum von einem
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Ebd., S. 332. Vgl. Newmark: Passion – Affekt – Gefühl (wie Anm. 2), S. 19. Ebd., S. 22. Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 10), S. 329. Vgl. Simon Richter: Medizinischer und ästhetischer Diskurs im 18. Jahrhundert: Herder und Haller über Reiz. In: Lessing-Yearbook XXV (1993), S. 83–96, hier S. 87. Ebd., S. 89. Ebd., S. 87.
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Rückgriff auf einen vorhallerschen Stand der Wissenschaftsgeschichte sprechen, sondern von einem ästhetisch-philosophischen Weiterdenken dessen.24 Mit seinem Verständnis von Empfindung bzw. Gefühl als Aufnahme eines rein physischen Reizes durch den menschlichen Körper bewegt sich Herder zunächst vollständig auf der Basis der Wahrnehmungslehre seiner Zeit; dieser gelten die Sinne bzw. die Empfindungen als „ein Vermögen der Seele, von den Objecten afficiret zu werden, und hierdurch sie zu empfinden“,25 das „Gefühl“ wird ausschließlich im Sinne des Tastsinns gedeutet.26 Werkzeuge dieser Sinne sind die Gliedmaßen: Indem diese einen physischen Kontakt zu den Objekten herstellen, nehmen sie eine „Kraft“ (hier noch nicht „Reiz“ genannt) auf, die in der Seele die Empfindungen hervorruft. Diese Empfindungen – als Reaktionen der Seele auf die materielle Welt und den fünf Sinnen zugeordnet – werden bereits in der Jahrhundertmitte mit dem Verstand in Verbindung gebracht: Obwohl sich dieser angesichts der auf ihn eindringenden Empfindungen passiv („leidend“)27 verhalte – und damit seiner eigentlichen Rolle zur aktiven Erkenntnis der Welt nicht gerecht werde –, gehe doch zugleich eine „Action“ in ihm vor, da er die von außen an ihn herangetragene Bewegung aufnimmt. Auf diese Weise haben die Empfindungen eine – wenngleich untergeordnete – Funktion für die Erkenntnis: Sie können eine auf individuellen, sinnlichen Eindrücken basierende „gemeine“ Erkenntnis bewirken, die sich in der individuellen „Erfahrung“ des Einzelnen niederschlägt. Diese Erfahrungen sind nicht nur individuell, sondern zugleich intersubjektiv kommunizierbar – in Form von „Ideen“ als dem „materiellen Theil der Gedancken“.28 Die auf diese Weise entstehende „gemeine“, „natürliche“ Erkenntnis ist jedoch von der „gelehrten“ zu unterscheiden, die „der natürlichen Schwachheit“ der Gliedmaßen – und demzufolge auch der sinnlichen Erkenntnis – „durch künstliche Hülffs-Mittel zu statten kommt“.29 Herder verzichtet auf die Annahme solcher „künstlichen Hülffs-Mittel“ und lässt jede Form der menschlichen Erkenntnis direkt der (sinnlichen) Empfindung entspringen. Doch grenzt er sich – wiewohl auf die „Mechanik und Organisation“ (s.o.) des menschlichen Körpers vertrauend – von einem mechanistischen Weltbild ab, das ein reines Reiz-Reaktions-Schema als Grundlage der physischen Existenz
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Kommentar zu Herder: Vom Erkennen und Empfinden (1778). (wie Anm. 4), S. 1085. Anon.: Sinne, Sensus. In: Johann Heinrich Zedler, Carl Günther Ludovici u. Johann Peter Ludewig (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden […] 64 Bde., 4 Suppl.-Bde. Halle, Leipzig 1732–1753. Bd. 37, Sp.1691–1699, hier Sp. 1691; vgl. dazu ebenfalls: Anon.: Empfindung. In: Ebd. Bd. 8, Sp. 1029. Vgl. Anon.: fühlen, Gefühl, lat. Tactus. In: Zedler u.a. (Hg.): Grosses vollständiges UniversalLexicon (wie Anm. 25). Bd. 9, Sp. 2225–2229; hier auch die enge Zugehörigkeit des Gefühls zur materiellen Welt. Anon.: Empfindung (wie Anm. 25), Sp. 1692. Ebd., Sp. 1653. Ebd.
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des Menschen betrachtet: Das Band zwischen Reiz und Erkenntnis, zwischen Mensch und Natur „hängt von keiner Mechanik ab“, es muss „geglaubt werden […], weil es da ist, weil es sich in hundert tausend Erscheinungen zeiget“.30 Der Reiz als „die Triebfeder unseres Daseins“31 trifft von außen auf die Sinne, die innere, rezeptive Struktur des Menschen, begriffen als ein „Nervengebäude“, das „uns die Gottheit“32 gab und eine „[z]arte Silberbande, dadurch der Schöpfer die innere und äußere Welt, und in uns Herz und Kopf, Denken und Wollen, Sinne und alle Glieder knüpfet“.33 Obwohl der Reiz zunächst ein rein physischer Vorgang ist, erfolgt zwar seine Aufnahme, nicht aber seine Weiterleitung und Verstärkung als Naturgesetzlichkeit; das „Band“ zwischen Körper und Seele, zwischen Empfindung und Erkenntnis, ist kein zwangsläufiges, sondern in seiner Existenz das Ergebnis eines göttlichen, voluntaristischen Schöpfungsprozesses. Durch dieses „Band“ das Innere des Körpers betretend, ist die Empfindung die Basis für die denkende Tätigkeit der menschlichen Seele; sie ist die „Monarchin, die in uns denkt und will“, der Körper „nur Ein Reich unsichtbarer, inniger, aber minder heller und dunkler Kräfte […], das im genauesten Bande“34 ist mit der Seele. Wie also ein König über sein Volk herrscht, das ihm die Lebensgrundlagen liefert, herrscht die Seele über Reize und Empfindungen, von denen sie existenziell abhängig ist. Aus dieser organischen, tendenziell monistischen Anthropologie folgert Herder eine Art monistischer Ontologie, die sich jedoch von einem reinen Materialismus explizit unterscheidet: Auf die Frage eines imaginierten Lesers, ob die menschliche Seele also materiell sei, antwortet Herder, ,materiell‘ und ,immateriell‘ selbst seien nur relationale Begriffe: Er glaube nicht, dass „die Natur zwischen beiden eiserne Bretter befestigt habe“, weil er „die eisernen Bretter in der Natur nirgend sehe“.35 Deutlich wird hier, dass die Abgrenzung von einem Materialismus oder mechanistischen Determinismus durch die epistemologische Selbstreflexion expliziert wird: Indem die Basis allen Wissens das Fühlen ist, kann das Wissen davon, wie Wissen und Fühlen in Zusammenhang stehen, natürlich ebenfalls nur gefühlt bzw. als gefühltes Wissen repräsentiert werden; eine systematische Darstellung der entsprechenden Zusammenhänge ist daher nicht möglich. Herders These entzieht sich dem „Nihilismusverdacht“, dem sich nach Kondylis jede sensualistische Theorie der Aufklärung entgegenzustellen hat, um an der These der Sinnhaftigkeit der Welt festhalten zu können,36 durch den Sensualismus selbst und nicht etwa durch den Versuch, einen Sensualismus auf streng systematisch-rationalistische Weise 30 31 32 33 34 35 36
Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 10), S. 335. Ebd., S. 360. Ebd., S. 346. Ebd., S. 350f. Ebd., S. 353. Ebd., S. 354. Kondylis: Aufklärung (wie Anm. 3), S. 361ff.
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begründen zu wollen – ein performativer Widerspruch, dem Herder aus dem Weg geht, indem er bereits die eigene Logik der mit ihr entfalteten These unterwirft. Das Ergebnis ist der Tendenz nach ein grundlegender Relativismus, der jeder systematischen Fragestellung ein Je n’en sais rien entgegenhält. Doch auch dieser wird eingeschränkt – durch die zwar nur gefühlte und damit ,natürliche‘, aber zugleich absolute Gewissheit der Existenz Gottes, der als Urheber und Garant des menschlichen Seins in die tendenziell monistische Metaphysik reintegriert wird. Herders „Gott“ ist zunächst als Schöpferinstanz erforderlich, denn allein aus der Natur heraus kann der Mensch, der letztlich über die Natur hinausweist, nicht erklärt werden; zudem ist Gott (noch) unverzichtbar, um den Ursprung der Natur als solcher zu erklären. Doch „Gott“ gewährleistet bei Herder darüber hinaus eine gewisse Differenz des Menschen gegenüber den Naturgesetzlichkeiten. Zwar entstammt der Mensch aus der Natur; dennoch steht er – qua göttlichem Wollen, und anders als durch dieses nicht zu erklären – außerhalb der natürlichen Notwendigkeiten. Die Funktion der Wiedereinführung eines Gotteskonzepts in einen tendenziell monistischen Systementwurf erfolgt also nicht auf der Basis einer philosophischen Systematik, sondern, um bestimmte Grundannahmen nicht aufgeben zu müssen. Doch bleibt dieses Gotteskonzept auf einige wesentliche Funktionen beschränkt: Im Unterschied zur christlichen Dogmatik kommt es „ohne providentielle Regelungen aus“ – Körper und Geist sind nicht von außen, sondern aus sich selbst heraus „synchronisiert“.37 Ihm fehlt jede Form von Theodizee, von Schuld- oder Heilslehre.38 Vielmehr ist das Göttliche bei Herder immer auch das Seiende, so wie das Seiende göttlich ist. In diesem Sinne ist Herders Gotteskonzept erheblich vom spinozistischen Deus sive Natura beeinflusst, das Herder – anders als etwa Leibniz oder Jacobi – als nicht-deterministisch deutet, sondern mystizistisch-sensualistisch reformuliert. Herders Schrift Gott behauptet auf diese Weise – just auf dem Höhepunkt des Spinoza-Streites – eine Vereinbarkeit von christlichem Gotteskonzept und der Philosophie Spinozas, indem diese „durch theologisch-weltanschauliche Harmonisierungsbemühungen entschärft“39 wird. Auch in Bezug auf die Integration des Individualitätsgedankens erfährt Spinozas Philosophie durch Herder eine Reformulierung.40
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Mülder-Bach: Kommunizierende Monaden (wie Anm. 9), S. 47. Vgl. dazu auch Marion Heinz: Sensualistischer Idealismus (wie Anm. 4), S. 170, die deutlich macht, dass in den verschiedenen Fassungen von Vom Erkennen und Empfinden die Funktionen des Gotteskonzepts immer weiter abnehmen. Eva Schürmann: „Ein System der Freiheit und der Freude“ – Herder auf den Spuren von Spinoza. Die beiden Auflagen der Schrift Gott in ihrem Verhältnis zur Ethica. In: Dies. u.a.: Spinoza im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 357–376, hier S. 261 sowie S. 362. Ebd., S. 370.
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Ist für die Aufklärung des 18. Jahrhunderts die Natur zunächst die Möglichkeit, den Menschen als frei von der metaphysischen Instanz Gott zu denken,41 so versucht Herder durch dieses Gotteskonzept den Menschen als unabhängig von einem natürlichen Determinismus zu beschreiben und gleichzeitig die menschliche Erkenntnis – ebenso wie die Sprache oder die gesamte menschliche Kulturgeschichte – auf die Natur und die (natürliche) Physis des Menschen zurückführen. Das Gefühl, die Empfindung, die die Basis für alles Erkennen ist, erhält dabei eine zentrale Funktion als Grundlage für eine allumfassende Harmonie des gesamten Daseins, das – ebenso wie der Mensch selbst – als ein Ebenbild des göttlichen Schöpfers zu begreifen ist. Alles fühlt sich und Seinesgleichen, Leben wallet zu Leben. Jede Saite bebt ihren Ton, jede Fiber verwebt sich mit ihrer Gespielin, Tier fühlt mit Tier; warum sollte nicht Mensch mit Menschen fühlen? Nur er ist Bild Gottes, ein Auszug und Verwalter der Schöpfung: also schlafen in ihm tausend Kräfte, Reize und Gefühle; es muß also in ihnen Ordnung herrschen, daß Alle aufwachen und angewandt werden können, daß er Sensorium eines Gottes in allem Lebenden der Schöpfung, nach dem Maße es ihm verwand ist, werde.42
Doch nicht nur durch die Gefahr des Naturdeterminismus sind sensualistisch-monistische Vorstellungen im ausgehenden 18. Jahrhundert hoch problematisch – auch lässt sich mit ihnen keine systematische Ethik beschreiben; mit der Grenze zwischen Körper und Seele, zwischen Gott und Welt, zwischen Denken und Fühlen gerät auch die Grenze zwischen Gut und Böse ins Wanken. Wenn das Meer der sinnlichen, äußeren Reize die Basis für das Erkennen der menschlichen Seele ist – wie kann es dann so etwas wie richtiges Erkennen oder das Erkennen des Guten geben? Kann dann überhaupt zwischen ,gut‘ und ,böse‘, ,richtig‘ und ,falsch‘ unterschieden werden? – Überzeugung, die Herder sowohl als Theologe als auch als Kind seiner Zeit weder aufgeben wollte noch konnte und die daher in die Lehre vom emotionalen Erkennen zu integrieren war. Garant dafür, dass die gefühlte Erkenntnis auf der Basis einer bestimmten Moral steht, ist für Herder ein universaler Humanismus, der das menschliche Fühlen und Erkennen aus einem göttlichen Schöpfungsakt herleitet und daher als notwendig ,gut‘ betrachtet.43 Basis von Erkennen ist ein ,Wollen‘ der erkennenden Seele; Wollen und Erkennen wiederum bedingen sich gegenseitig, sind „Eine Energie der Seele“44 und basieren beide auf dem „Reiz“; zugleich sind beide per se ,gut‘ und 41 42 43
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Kondylis spricht von einem „normativistischen Naturbegriff“, der an die Stelle Gottes rücke, vgl. Kondylis: Aufklärung (wie Anm. 3), S. 342–356. Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 10), S. 361. Nach Inka Mülder-Bach ist die Basis für die von Herder angenommene universale Harmonie das Sympathie-Konzept atomistischer und hermetischer Philosophien der Antike, das von den der Materie selbst inhärenten Grundkräften der Attraktion und Repulsion ausgeht; vgl. MülderBach: Kommunizierende Monaden (wie Anm. 9), S. 46. Doch wie gezeigt werden kann, kann Herder nicht allein auf die Funktionen der Materie vertrauen und integriert einen schöpferischen, liebenden Gott als die letztlich das Weltgeschehen organisierende Instanz. Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 10), S. 360.
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,menschlich‘, dem Bösen aus sich selbst heraus abgeneigt. Eine transzendente, jenseits des menschlichen Daseins bestehende und nicht fühl- und erlebbare Moral, eine Theodizee oder Heilslehre ist für Herder weder vorstellbar noch nötig; die menschliche Empfindung findet aus sich selbst heraus zum Guten, das letztlich nichts anderes ist als die sich schrittweise realisierende Menschlichkeit selbst. Die zentrale, urmenschliche und zugleich göttliche Empfindung ist die Liebe: „Liebe ist das edelste Erkennen, wie die edelste Empfindung. Den großen Urheber in sich, sich in andre hinein zu lieben und dann diesem sichern Zuge zu folgen: das ist moralisches Gefühl, das ist Gewissen“.45 An dieser Stelle wird deutlich, dass Herder – neben seiner grundsätzlichen Rückführung der Empfindung auf äußere, physische Reize – das Aristotelische Appetitus-Modell in sein Konzept von Empfindung integriert: Sind die von außen auf den Menschen einwirkenden Reize moralisch indifferent, so kann die menschliche Seele diese äußeren Reize moralisch beurteilen; gerade die Liebe – als zentrales ,Gefühl‘ im heutigen Sinne – ist damit nicht das Ergebnis eines äußeren Reizes, sondern ein aus ihrem Inneren stammendes Streben der menschlichen Seele. Bemerkenswert an dieser Stelle ist jedoch, dass die menschliche Seele über dieses innere Vermögen gerade nicht kraft ihrer göttlichen Bestimmung verfügt; vielmehr schöpft sie – wie alle Erkenntnis – auch ihr moralisches Urteilsvermögen aus der Empfindung. Auf der Basis der Empfindung entwickelt die menschliche Seele eine Vorstellung vom moralisch Guten, die dann die Modulation der Empfindung zum Guten steuert. Auf diese Weise wird aus einem tendenziell monistischen Entwurf der menschlichen Erkenntnislehre eine optimistische Anthropologie, die das Böse per se ausblendet und gegen Ende weniger einen deskriptiven, sondern zunehmend einen utopisch-heilsgeschichtlichen Charakter bekommt. Zugleich wird an dieser Stelle deutlich, dass Herder zwischen dem physischen „Gefühl“ als dem zunächst äußeren, sinnlichen Reiz und dem „Affekt“46 als innerem Zustand der Seele (wie etwa der Liebe) vermittelt und auf diese Weise zu einer Synthese der beiden Begriffe in einer modernen Bedeutung von „Gefühl“ beiträgt (s.u.). Welchen ontologischen Status Herder für seine These in Anspruch nimmt – ob sie als Beschreibung des gegenwärtig-realen Empfindungsvermögens des Menschen zu verstehen ist oder als Projektion einer Wunschvorstellung – wird im Text gezielt verwischt. Unterlegt ist Herders Argumentation jedoch mit einer geschichtsphilosophischen Perspektive, im Rahmen derer die griechische Antike einen idealen Zustand in der Geschichte darstellt, in welchem „noch alles näher zusammen war, und man die Fäden menschlicher Bestimmung, Gaben und Kräfte noch nicht so losgewunden und aus ihrem verflochtnen Knäuel heraus gezaust 45 46
Ebd.; vgl. dagegen ebd., S. 334, wo die Liebe in eine Reihe gestellt wird mit äußeren Reizen. Zur zeitgenössischen Bedeutung von „Affekt“ als „Neigung in den Gemüthern der Menschen“, die von den moralisch oder rechtlich gebotenen Taten abhält, vgl. Anon.: Affecten, Passiones. In: Johann Heinrich Zedler u.a. (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon (wie Anm. 25). Bd. 1, Sp. 717.
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hatte“, als eine Zeit, in der „Ein Mensch mehr als Eins und jeder alles war, was Er sein konnte“.47 Dies legt eine Lesart nahe, die das Beschriebene als noch ausstehende Wiederherstellung dieser idealen Vorzeit beschreiben könnte. Dagegen sind die anthropologischen Überlegungen Herders eher als deskriptive Aussagen über den Menschen als solchen zu verstehen. Doch auch hier ist Herders Denken vom – wohl bewussten – Ineinsdenken zweier Wissensbereiche gekennzeichnet, die sich just zu seiner Zeit voneinander zu trennen begannen, die er jedoch beide für sich in Anspruch nimmt: die Physiologie und die Philosophie des Menschen. So wartet Herder gespannt auf die Preisfrage, „was das Othemholen eigentlich für Würkungen im lebendigen Körper hervorbringe“48 – schon 1780 entdeckte Lavoisier den biochemischen Zusammenhang zwischen Oxidation und Atmung und lieferte damit einen rein physiologischen Grund für Herders transzendentes Verstehen des „Othemholens“. Doch ist dieses Ineinsdenken wohl nicht als anachronistisch abzuwerten, sondern stellt vielmehr gleich der gesamten Schrift ein projektives Wunschdenken dar, die sich trennenden Wissenssysteme mögen sich wieder vereinen zu einer universalen, erleb- und erfahrbaren Wissenschaft.49 So ist Herders Schrift auch in Bezug auf ihren eigenen ontologischen Status vom Verschmelzen konventionell als Gegensatzpaar gedachter Deutungskategorien gekennzeichnet. Nicht nur Gefühl und Verstand, sondern mit diesen auch Körper und Seele, Sein und Sollen, Mensch und Gott verschmelzen zu einem mystischen Monismus, der einen universalen, nur fühlbaren Zusammenhang des Einzelnen mit dem Weltganzen beschreibt.50 Dieser mystische Monismus versteht sich explizit als Antwort auf das Comercium-Problem, oder vielmehr: negiert es als Problem. Ohne Körper ist die menschliche Seele nicht denkbar, ohne Seele wiederum ist der Mensch als Mensch nicht denkbar. Aus der dichotomisch gedachten Wechselwirkung zwischen Leib und Seele wird ein organisch konzipiertes Auseinanderhervorgehen. Doch in Bezug auf die Vorstellungen vom Einzelnen kann Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele nicht nur als Teil der anthropologi-
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Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 10), S. 375. Ebd., S. 334. Vgl. dazu auch Eva Schürmann: „Ein System der Freiheit […]“ (wie Anm. 39), S. 365, die Herders Ineinsdenken von Natur und Gott auch als dessen Plädoyer für eine theologische Neuorientierung der Naturwissenschaften begreift, die dazu führen solle, dass „der wissenschaftliche Umgang mit der Natur ein achtungsvoller Umgang“ sein müsse. Ulrich Gaier beschreibt Herders Metaphysik als einen systemtheoretischen Ansatz, der auf Johann Heinrich Lamberts Systematologie basiere und sich von den deterministischen Systemen der Naturlehre des 18. Jahrhunderts unterscheide; entsprechend sei auch die individuelle Erkenntnisfähigkeit „systemisch organisiert als Zusammenspiel von Sinnen, Einbildungskraft und Verstand, historischem, poetischem und philosophischem Zugang, empirischem, analogischem und rationalem Ansatz“ (Ulrich Gaier: Hamann und Herder – eine philosophische Alternative zu Kant? In: Tilmann Borsche: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre. München 2006, S. 103–125, hier S. 123f. Vgl. auch ders.: Herders Systemtheori. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 231 [1998], S. 3– 17).
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schen Diskurse seiner Zeit betrachtet werden, sondern zugleich als Teil einer übergeordneten Geschichte der Individualitätskonzeptionen der Neuzeit. Im Rahmen von Niklas Luhmanns Theorie einer sich schrittweise entwickelnden Vorstellung einer zunehmend autonomen Individualität des Einzelnen,51 wird angenommen, dass um 1800 erst- und letztmalig eine Vorstellung vom autonomen Einzelnen entsteht, der zugleich Teil einer harmonischen Gesellschaft ist. Das Bedürfnis, den Einzelnen als autonom zu bestimmen, ist nach Luhmann sozialgeschichtlich induziert und liegt im fundamentalen Wandel der stratifikatorisch differenzierten zur funktional differenzierten Gesellschaft begründet. Herders Bemühen, den Menschen als sinnliches Wesen darzustellen, das über seine je individuellen Lernkanäle zu einer individuellen, weil sinnlichen Erkenntnis gelangt, lässt sich in diesem Sinne als Weg zum modernen Individualitätskonzept begreifen. Basis für die Vorstellungen automomer Individualität ist zunächst die Monadologie Leibniz’. Diese stellt im ausgehenden 18. Jahrhundert immer noch die maßgebliche Basis für die Erklärung menschlicher Individualität dar, wird jedoch als defizitär wahrgenommen, weil sie die zeitgenössischen Erkenntnisse über die menschliche Physis nicht integrieren kann. Leibniz’ Monaden sind „fensterlos“ und damit für Eindrücke von außen unempfänglich. Indem Herder nun gerade die sinnlichen Eindrücke des Menschen zur Basis von dessen Erkennen macht, negiert er deren Inkommunikabilität und entwirft „kommunizierende Monaden“52 als Basis menschlicher Individualität, die sich auf der je individuellen Physis des Menschen gründet. Diese sind zwar gleich denen bei Leibniz fensterlos, erhalten ihre Kommunikationsfähigkeit jedoch durch einen anderen Sinn:53 das Empfinden, das Gefühl im Sinne des Tastsinns. „Der tiefste Grund unsres Daseins ist individuell, so wohl in Empfindungen als Gedanken“54 – dieser Satz Herders ist demnach als eine deutliche Abgrenzung zur rein metaphysisch verstandenen Individualitätskonzeption bei Leibniz zu betrachten. Eine als sinnliche Erkenntnisfähigkeit begriffene Individualität ist für Herder, der an dieser Stelle eine zentrale, bereits zum Gemeingut seiner Zeit gewordene Vokabel seiner Zeit aufgreift, Kennzeichen des „Genies“. Die Integration sinnlicher Erkenntnisinstrumente in die Vorstellungen vom Individuum, das eben nicht nur durch sein seelisches Vermögen, sondern auch durch seine Körperlichkeit zu sich selbst und damit unteilbar wird, ist also nicht nur als „Aufwertung der Sinnlichkeit“, sondern auch als Teil der zunehmenden Betonung individueller Autonomie im Sinne Luhmanns zu begreifen. Doch bedingt durch den anthropologischen Zugriff stößt die Forderung nach Autonomie bei Herder an ihre Grenzen. Am Schluss seines „ersten Versuchs“ der Beantwortung 51
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Vgl. Niklas Luhmann: Individuum – Individualität – Individualismus. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4 Bde. Frankfurt a.M. 1993, Bd. 1, S. 149–258. Mülder-Bach: Kommunizierende Monaden (wie Anm. 9), S. 45. Ebd. Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 10), S. 365.
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der Preisfrage – gleich dem zweiten ein vergeblicher – spielt Herder auf den Streit um die Willensfreiheit zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther an, um – in diesem Punkt durch und durch protestantischer Theologe – Letzterem Recht zu geben: „Von Freiheit Schwätzen, ist sehr leicht, wenn man jedem Reiz, jedem Scheingut als einer uns suffizienten Ursache dienet. […] Da ists wahrlich der erste Keim zur Freiheit, fühlen, dass man nicht frei sei, und an welchen Banden man hafte?“55 Wenn das Erkennen auf äußeren, materiell-natürlichen Sinneseindrücken basiert und, um willkürlich und ungebunden zu sein, Gott benötigt, es also „Stäbe der Aufrichtung, innere Sprache nötig“56 habe, so werde es dem Willen nicht anders gehen.57 Am Schluss seines „ersten Versuchs“ verweist Herder auf Spinoza, „dessen Philosophie und Moral sich ganz um diese Achse bewegt“58 und die ebenfalls die Freiheit des menschlichen Willens bestreitet, um den Einzelnen in ein umfassendes, zugleich göttliches wie natürliches Weltsystem zu integrieren. Freiheit ist für Herder das Erkennen, nicht das Überwinden der Integration des Einzelnen in ein komplexes System aus Bezügen zum Weltganzen.59 Ein Entrinnen daraus ist nicht möglich – aber auch nicht nötig, denn gerade diese Integration kann der Einzelne als „Freiheit“ erfahren. Auf diese Weise verschmilzt auch der Gegensatz von Freiheit und Determinismus im Tiegel von Herders mystischem Monismus: Die Frage, ob der menschliche Wille frei oder abhängig sei, entscheidet sich „aus dem Grunde: daß wahres Erkennen und gutes Wollen nur Einerlei sei, Eine Kraft und Würksamkeit der Seele“.60 Diese Anthropologie Herders kann als Grundlage für viele Figuren der Literatur des Sturm und Drang betrachtet werden. Und dies gilt weit weniger für die Behauptung als für die Begrenzung der menschlichen Freiheiten,61 die diesen Texten inhärent ist. Dies zeigt sich bereits in Goethes Rede Zum Schäkespears Tag von 1771, die als Grund für die Faszination an dem englischen Dramatiker nicht nur das individuelle Aufbegehren seiner Figuren, sondern gerade deren Scheitern an äußeren Grenzen anführt: 55 56 57
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Ebd., S. 262. Ebd. Vgl. dazu Monika Fick: Gottesebenbildlichkeit. Goethes Iphigenie auf Tauris und Herders religiöse Anthropologie. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 2007, hg. von Anne Bohnenkamp, Buch VI, S. 135: „Für Herder ist die Bindung des Wollens an das Empfinden die anthropologische Analogie zur lutherischen Lehre von der Knechtschaft des Willens, der Folge der Erbsünde.“ Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 10), S. 263. Vgl. dazu auch Marion Heinz, die in den verschiedenen Textfassungen eine zunehmend „resignative Einsicht in Begrenztheit“ feststellt (Heinz: Sensualistischer Idealismus [wie Anm. 4], S. 171). Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 10), S. 262. Über die im Folgenden genannten führt Monika Fick eine ganze Reihe weiterer literarischer Figuren Goethes auf, die das Scheitern des Einzelnen an äußeren Grenzen verdeutlichen; dies ist nicht nur auf Herders Anthropologie zurückzuführen, sondern auf die „hermetische[n] Positionen“ des jungen Goethe, nach denen der Einzelne „unüberwindbar in den je eigenen Wirkungskreis“ gebannt ist (Monika Fick: Gottesebenbildlichkeit [wie Anm. 57], S. 127).
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Seine Plane, sind nach dem gemeinen Styl zu reden, keine Plane, aber seine Stücke, drehen sich alle um den geheimen Punkt, (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat) in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt.62
Zu der von ihm selbst ausgerichteten Feier zum Namenstag Shakespeares am 14. Oktober 1771 hatte Goethe Herder schriftlich aufgefordert, seine eigene Shakespeare-Schrift zu senden, was Herder jedoch unterließ. Dass Herder gerade jener Philosoph werden könnte, der die „prätendierte Freiheit unseres Wollens“ mit dem „notwendigen Gang des Ganzen“ (s.o.) zusammenstoßen lässt, deutete sich aber wohl in den persönlichen Begegnungen zwischen Herder und dem jungen Goethe an.63 Der gemeinsame Nenner zwischen beiden war eine „Naturalisierung hermetischer Konzeptionen und Vorstellungskomplexe“.64 „Er [der Mensch, L. H.] strebt und muß also noch nicht haben: stößt sich oft wund an der Decke, die ihn umgibt, an der Schale, die ihn verschließet, geschweige dass er sich immer im Empyreum seiner Allseligkeit fühle“65 – dieser Satz aus Herders Schrift gibt gleichsam das Handlungsschema vieler Texte des Sturm und Drang vor. Götz von Berlichingen, ein nach anthropologischem Verständnis ,ganzer Mensch‘, der sich mit sich selbst und seiner Welt im Reinen zu befinden scheint, scheitert an den sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen: Der frühmoderne, institutionalisierte Flächenstaat lässt keinen Platz mehr für die ritterliche, auf Ehrenwort und Brudertrunk basierende Individualmoral des Götz. Und so stirbt er mit dem Worte „Freiheit!“ auf den Lippen – eine Freiheit, die ihm seine Gegenwart nicht mehr bieten kann. Bezieht man nun die als Absage an die Freiheit des sinnlichen Individuums lesbar gewordene Anthropologie Herders in die Deutung des Dramas mit ein, dann wird Goethes frühes Drama eben nicht nur als dramatischer Untergang eines (positiv konnotierten) Protagonisten deutbar, der an einer (negativ konnotierten) gesellschaftlichen Gegenwart zugrunde geht. Götz scheitert deshalb, weil er eine Freiheit einklagt, die es nach Herders Anthropologie nicht geben kann und er ferner die einzige Form von Freiheit, die nach dieser überhaupt möglich ist – nämlich das Erkennen der Banden, an denen er hängt – wütend verweigert. Die Figur des Werther deutet gar einen pathologischen Zug der Gefühlsdominanz des Einzelnen an, indem deutlich wird, dass die Emotion nicht nur konstitutiv für das Erkennen und die menschliche Subjektivität ist, sondern in ihrem Drang nach unbedingter Realisierung destruktiv wirken kann – zunächst bezogen auf die sozialen Bindungen des Einzelnen, schließlich aber auch auf dessen physische 62
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Goethe: Zum Schäkespears Tag (1771). In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter. Bd. 1.2: Der junge Goethe 1757–1775, S. 413. Zur persönlichen Beziehung zwischen Goethe und Herder vgl. Hans Dietrich Irmscher: Goethe und Herder im Wechselspiel von Attraktion und Repulsion. In: Goethe-Jahrbuch 106 (1989), S. 22–52. Monika Fick: Gottebenbildlichkeit (wie Anm. 57), S. 131. Herder: Vom Erkennen und Empfinden (wie Anm. 10), S. 389.
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Existenz. Von Freiheit kann hier keine Rede sein – das Gefühl impliziert hier die unbedingte Abhängigkeit vom Objekt der Begierde. Auch hier lässt sich die Uneinsichtigkeit in die vom Einzelnen nicht zu überwindenden Grenzen und Barrieren als Grund für das Scheitern annehmen. Anders als bei Götz zeigt die Figur des Werther zwar eine Einsicht in die Begrenztheit der menschlichen Natur, wie Werther gegenüber Albert im Dialog über den Suizid betont: Die menschliche Natur […] hat ihre Grenzen, sie kann Freude, Leid, Schmerzen, bis auf einen gewissen Grad ertragen, und geht zu Grunde, sobald er überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist, sondern ob er das Maß seines Lebens ausdauern kann; es mag nun moralisch oder physikalisch sein, und ich finde es eben so wunderbar zu sagen, der Mensch ist feig, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt.66
Aus der Einsicht in die Bedingtheit und Unfreiheit des sinnlichen Einzelnen wird hier dessen Freiheit gefolgert – jene, den Freitod zu wählen. Doch der Umstand, dass Freiheit nur im im Tod erreichbar ist, betont umso mehr, dass es sie innerhalb der sinnlichen Welt nicht geben kann. Und in diesem Sinne ist es nicht etwa überraschend, dass Goethe bereits 1774 und damit auf dem Höhepunkt der Genie-Zeit eine „Pathologie des genialischen Subjektivismus“67 verfasst; vielmehr ist der pathologische Zug bereits in der Begriffsbestimmung des Genies angelegt. Die Freiheit, die Werther so wütend einklagt, war ihm nicht nur durch die sozialen Verhältnisse literarisch nicht zuzugestehen, sondern auch aufgrund des zugrundeliegenden Menschenbildes, das den „Drang zur elementaren Entgrenzung“68 genau so umfasst wie dessen Nichteinlösbarkeit innerhalb der empirischen Realität. Diese Dichotomie macht die wütenden Selbsthelfer des Sturm und Drang zu tragischen Figuren, deren Scheitern notwendig ist. Utopiefähig wird Herders anthropologisches Konzept erst in jenem Moment, an welchem der Einzelne zur Einsicht in die Unentrinnbarkeit aus dem geschlossenen System des mystischen Monismus fähig ist. Und so lässt sich in Anlehnung an Monika Fick Goethes Iphigenie deuten als literarische Exemplifikation der Einsicht des Menschen in seine Einbindung in ein göttlich-natürliches System,69 das nicht überwunden werden kann, aber auch nicht überwunden werden muss, da ihm das Gute per se inhärent ist. Die Protagonisten des Sturm und Drang verweigern sich dieser Einsicht systematisch; statt auf die göttlich-natürliche Alleinheit vertrauen sie auf sich und ihre eigenen Kräfte, deren Scheitern literarisch vorgeführt wird. 66 67
68 69
Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774). In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Bd. 2.1 (wie Anm. 62), S. 235. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. 3. Aufl. Heidelberg 2004, S. 322. Ebd., S. 325. Diese Integration des Einzelnen besteht für Fick in der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen (Monika Fick: Gottesebenbildlichkeit [wie Anm. 57], S. 148).
Gefühlte Freiheit?
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Die Unmöglichkeit dieser unbedingten Selbstverwirklichung ist als genuiner Bestandteil der Anthropologie, der Figurenkonzeption und – so lässt sich dies an dieser Stelle nur hypothetisch formulieren – des Sturm und Drang als literarischer Strömung zu begreifen. Was aber wird aus der Forderung nach individueller Freiheit, die sich gerade um 1800 in nie gekannter Deutlichkeit artikulierte – so wie es am deutlichsten Niklas Luhmann in seiner Theorie vom Wandel der Inklusionsindividualität des Mittelalters zur Exklusionsindividualität der Moderne vermutet? Herders Versuch macht deutlich, dass im Rahmen des klassischen anthropologischen Modells, das den Menschen dichotomisch zwischen den Polen „Leib“ und „Seele“ zu bestimmen versucht, die Autonomie des Einzelnen nicht systematisch zu begründen ist. Die Aufwertung der Sinnlichkeit und die Forderung nach individueller Freiheit bleiben unvereinbar. Gibt es tatsächlich, so wie Luhmann vermutet, ein durch sozialgeschichtliche Prozesse induziertes Bedürfnis, den Menschen als frei zu bestimmen, dann muss eine gänzlich neue philosophische Ausgangsbasis geschaffen werden. Diese entsteht mit der Kantischen Transzendentalphilosophie; sie erst schafft die Basis für die Annahme unbedingter Freiheit als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Das transzendentale Subjekt erhält seine umfassenden Freiheiten jedoch nicht mehr gegenüber den Referenzgrößen ,Gott‘ oder ,Natur‘; die Freiheit des Subjekts ist vielmehr eine Annahme, die die Transzendentalphilosophie als Bedingung von Erkenntnis definiert, aus der jedoch nicht geschlossen werden dürfe, dass diese Freiheit in der empirischen Welt tatsächlich existiere.70 Das sinnliche Individuum des anthropologisch denkenden Herder und das transzendentale Subjekt Kants sind kategorial voneinander zu unterscheidende Annahmen.71 Kant überwindet die von Physikotheologie und Sinnesphysiologie geprägte Bestimmung des Menschen und geht „sowohl von reinen, a priori gegebenen Formen der sinnlichen Anschauung als auch von reinen, a priori gegebenen Begriffen des Verstandes“72 aus. Dies öffnet zugleich Möglichkeiten für eine gänzliche Neubestimmung des „Gefühls“, das nun nicht mehr (im Sinne des Tastsinns) unmittelbare leibliche Erfahrung des Menschen beschreibt, sondern zunehmend (im Sinne des modernen Sprachgebrauchs) mit den „Affekten“ identifiziert wird.73 Nach Kant sind die Emotionen ein „Gefühl der Lust und Unlust“74 – die psychische Wahrnehmung einer eigenen, inneren Regung durch das Subjekt. Vollendet wird der „Übergang vom Affekt zum Gefühl […] in dem Moment, in dem das Gefühl
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Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1988, Bd. 2, S. 344. Vgl. dazu v.a. Ulrich Gaier: Hamann und Herder (wie Anm. 50), S. 109; hier auch eine knappe Darstellung der Kontroverse zwischen beiden. Caroline Welsh, Christina Dongowski u. Susanna Lulé: Einleitung (wie Anm. 1), S. 11. Newmark: Passion – Affekt – Gefühl (wie Anm. 2), S. 205. Stefan Hübsch: Vom Affekt zum Gefühl. In: Ders., Dominic Kaegi: Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen. Reiner Wiehl gewidmet. Heidelberg 1999, S. 137–150, hier S. 138; im Weiteren dort eine begriffsgeschichtliche Analyse zu ,Affekt‘ und ,Gefühl‘.
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nicht mehr nur als Vermögen zur Empfindung, sondern als Fähigkeit von eigenem Gehalt gilt“.75 Erst in diesem Sinne sind Gefühle auch als apriorische Phänomene möglich76 und werden anders als in der bisherigen philosophischen Tradition weniger zu einem ethischen Problem als zu einer vital nützlichen Funktion.77 Die begriffliche Brücke zwischen den „Affekten“ und dem „Gefühl“ sind die „Passionen“, die passiv empfangen werden, aber anders als das „Gefühl“ primär psychischer Natur sind.78 Auch Herder vollzieht im Rahmen seines mystischen Monismus eine solche Synthese von „Gefühl“ im Sinne des Tastsinns und der „Affekte“ wie Liebe oder Hass,79 indem er die passiv empfangenen „Gefühle“ zur Grundlage für die „Affekte“ als aktives Vermögen der Seele macht, und präfiguriert damit – parallel zu Kant, jedoch auf einer anderen systematischen Grundlage – das moderne Verständnis von „Gefühl“, das eben die ehedem als „Affekte“ aufgefassten psychischen Regungen beschreibt und nicht mehr den eng an die Physis gebundenen Tastsinn. Doch muss er – an die Sinnesphysiologie und Physikotheologie gebunden – sowohl die Freiheit des Menschen von Gott als auch jene von der Natur negieren. Freiheit ist für Herder erst als sekundäre Konsequenz des Erkennens möglich – in der Akzeptanz, nicht im Überwinden der Abhängigkeiten des Menschen. Die Transzendentalphilosophie dagegen macht es möglich, die Freiheit als apriorischen Bestandteil des transzendentalen Subjekts anzunehmen. Erst als solche wird Freiheit systematisch denk-, aber eben nicht: fühlbar.
75 76 77 78 79
Ebd., S. 140. Newmark: Passion – Affekt – Gefühl (wie Anm. 2), S. 214. Ebd., S. 221. Vgl. Stefan Hübsch: Vom Affekt zum Gefühl (wie Anm. 74), S. 138–141. Vgl. dazu auch Gegensätze verschmelzende Formulierungen wie „Jeder treffende Affekt“ (Herder: Vom Erkennen und Empfinden [wie Anm. 10], S. 333).
ELISABETH VON ERDMANN (Bamberg)
Glückseligkeit. Kompass und Ziel der Erkenntnis. Wege der Philosophia perennis im russischen Reich des 18. Jahrhunderts und die Emotionen I Mein Beitrag untersucht die Wechselwirkungen zwischen Erkenntnis und Emotion beim ukrainischen Philosophen Hryhorij Skovoroda, der im 18. Jahrhundert in den Regionen des russischen Reiches lebte und die letzten 20 Jahre seines Lebens auf Wanderschaft zubrachte, um den Menschen seine Lehre näher zu bringen. Skovorodas Erkenntnislehre ist in ihrem Kern hermeneutisch, d.h. literatur- bzw. kulturwissenschaftlich. Sie betrachtet alles, was sicht- und wahrnehmbar ist, als Bild und Gefäß für etwas Unsichtbares, nämlich für die symbolische Ordnung der christlichen Heilsgeschichte. Seine Lehre bestand daher vor allen Dingen in einer Erkenntnishaltung, die von der Bildtheorie der philosophia perennis und der allegorisch-typologischen Bibelexegese geprägt war.1 Allein durch ihre Anwendung sieht Skovoroda das Ziel aller Erkenntnis erreichbar, das für ihn in wahrer Glückseligkeit besteht, die schon den Weg zur Erkenntnis begleitet.2 Skovoroda bindet damit die Glückseligkeit an eine bis in die Antike zurückreichende Erkenntnismethode. Es war einerseits Platons Symposion, das die Entwicklung einer Philosophie auf der Grundlage von Eros und Erkenntnis anstieß, aber andererseits auch die platonische Strategie, die menschlichen Vermögen des Denkens und Fühlens zu trennen, die unterschwellig auf Fragestellungen der Forschung gewirkt hat und noch immer wirkt. Sein Schüler Michajl Kovalyns’kyj überliefert einen Traum Skovorodas, den der Philosoph 1758 träumte und der eine Wende in seinem Leben einleitete. Eine innere Reise führt den Träumer an verschiedene Orte menschlichen Lebens. Im Tempel angelangt, berichtet er: „Ich selbst fühlte, wie ich mich mit dem Diakon vor dem Altar bis zur Erde verneigte und spürte innerlich eine Freude, die ich nicht
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Vgl. hierzu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a.M. 1998, bes. S. 15–63. Vgl. auch meine Artikel: Franciscus Patricius in der Tradition der philosophia perennis. Zur Bildtheorie (im Druck) und: Frane Petriü i barokna poetika. In: Prilozi za istraživanje hrvatske filozofske baštine 67–68 (2008/1–2), S. 27–41. Er verwendet dafür als Begriffe u.a.: vera beatitudo, eudaimonia, ɢɫɬɢɧɧɨɟ ɳɚɫɬɢɟ, ɛɥɚɠɟɧɫɬɜɨ, ɛɥɚɝɨɩɨɥɭɱɢɟ. Vgl. seine Werkausgabe Ƚɪɢɝɨɪiɣ ɋɤɨɜɨɪɨɞɚ: ɉɨɜɧɟ ɡiɛɪɚɧɧɹ ɬɜɨɪiɜ ɭ ɞɜɨɯ ɬɨɦɚɯ. 2 Bde. Ʉɢïɜ 1973. Ich zitiere nach dieser Ausgabe unter dem Kurztitel Werke und der Angabe von Band und Seiten. Die Übersetzungen sind von mir selbst.
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beschreiben kann“.3 Es folgen Szenen der Habgier der Priester und einer schrecklichen Zerreißung und Verspeisung eines Pilgers. Skovoroda berichtet als Ende des Traums: „Dieser wunderbare Traum erschreckte mich nicht weniger, als er mich erquickte. Nach dem Erwachen hörte ich nicht auf, ohne Unterlass und mit Entzücken zu singen: Heiliger Gott“.4 Skovoroda beschreibt hier einen von einer Kraft (ɫɢɥɚ) geführten Erkenntnisprozess, an dem Emotionen bzw. Gefühle in hohem Maß beteiligt sind und die den Träumer dazu veranlassen, sich zu freuen und Gott zu preisen. Ich möchte hier die Bedingungen näher betrachten, unter denen sich dieser Komplex aus Erkenntnis und Emotion ereignet und stoße damit auf die Tradition, die unter dem Namen philosophia perennis Erkenntnis und Offenbarung und damit auch Erkenntnis und Emotion miteinander verbindet.5 Auch wenn eine Untersuchung der Verbindung aus Emotion und Kognition in der philosophia perennis wegen ihres Umfangs hier nicht geleistet sein kann, so bietet sie doch den geeigneten Rahmen für die Inblicknahme der Fragestellung bei Skovoroda. Denn der Einklang mit der göttlichen Schöpfung mittels richtiger Erkenntnis der Welt als Bild Gottes durch die Teilhabe an der göttlichen Weisheit selbst umfasst in seiner Logik auch die emotionale Verfassung des Erkennenden in diesem Gleichklang, der die Heilsgeschichte zu ihrem Ziel führt. Gerade auch die hermetisch angewandten magischen Teile dieser Tradition betonen die Notwendigkeit der passenden Emotion für das Zustandebringen der beabsichtigten magischen Schöpfung. Ich verwende hier wegen des Titels der Tagung überwiegend den Begriff der Emotion, auch wenn mir der Begriff des Gefühls an vielen Stellen der geeignetere zu sein scheint, wenn es sich um eine bereits durch den Filter der Kognition gegangene Emotion handelt, die die Relevanz des Erkannten bewertet und im Leben des Erkennenden einordnet, und die bei Skovoroda so intensiv ist, dass fast von einer Identität zwischen Erkenntnis und Emotion gesprochen werden könnte. „Growing consensus does agree that the distinction between emotion and feeling is important. Feeling can be seen as emotion that is filtered through the cognitive brain centres.“6 Rudolf Sponsel thematisiert die Schwierigkeiten, vor denen solche Diskussionen stehen: „Fühlen ist eine grundlegende und sehr wichtige Grundfunktion des psychischen Erlebens und eine Untergruppe der inneren Wahrnehmung. Eine allgemeine Theorie der Gefühle ist in der Psychologie aus einer ganzen Reihe von Gründen sehr schwierig.“7 3 4 5 6 7
Skovoroda (=Autor); hier aber: Ebd. Bd. 2, S. 429 [Übers. E.v.E.]. Ebd. [Übers. E.v.E.]. Vgl. mein Buch über den Philosophen Skovoroda: Unähnliche Ähnlichkeit. Die Onto-Poetik des ukrainischen Philosophen Hryhorij Skovoroda (1722–1794). Köln, Weimar u. Wien 2005. Cambridge Encyclopedia. Vol. 23: http://encyclopedia.stateuniversity.com/pages/6833/emotion. html; [22.02.2010]. http://www.sgipt.org/gipt/allpsy/fuehl/theorie.htm; [22.02.2010].
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II Die Wechselwirkung zwischen Erkenntnis und Emotion entfaltete sich im Denken von Skovoroda im Kontext des 18. Jahrhunderts im russischen Reich, das geprägt blieb von Einheitsdiskurs und gleichzeitigem Import von Esoterik und Aufklärungsdenken. Im Unterschied zu anderen Regionen Europas hatten sich die einzelnen kulturellen Bereiche in Russland noch nicht ausdifferenziert, sondern verschmolzen durch weitgehende Identität zu einer einheitlichen symbolischen Ordnung, die alles, insbesondere auch Kunst und Gesellschaft, erfasste und als Signum dieser Epoche in Russland gilt.8 Für die Bewertung der Aufklärung, die sich im 18. Jahrhundert langsam in Rußland verbreitete, ist jedoch die Rolle, die Esoterik und Hermetik spielten, besonders konstitutiv, weil die Aufklärung besonders auch durch die Aktivitäten der Freimaurer ins Land kam. Esoterik und Synkretismus sind inzwischen zu einem Gebiet der Aufklärungsforschung geworden. Monika Neugebauer-Wölk hat in dem von ihr herausgegebenen Sammelband zeigen können, dass die Aufklärung einen Begriff von Rationalität pflegte, der Esoterik nicht ausschloss, so dass sie als ein konstitutiver Bestandteil dieser Epoche zu betrachten ist.9 Doch schon Jahrzehnte vor dem Wirken der Freimaurer lehrte der Philosoph Skovoroda eine Erkenntnis und eine durch sie zu erreichende Emotion in der Tradition der philosophia perennis, die grundsätzlich auch eine stark hermetisch orientierte Strömung umfasste, wenngleich Skovoroda innerhalb dieser Tradition eindeutig die theoretisch-philosophische Richtung bevorzugte. Die Durchdringung von Aufklärung und Mystik bzw. Esoterik als Konstitution von Aufklärung praktizierten die Freimaurer. Systematisch realisierte sich diese Durchdringung ein Jahrhundert später im Denken des russischen Aufklärungsphilosophen Nikolaj Strachov und reflektierte den engen Zusammenhang beider Aspekte im Aufklärungsparadigma.10 Die Kontexte Skovorodas und sein Insistieren auf Erkenntnis und Glückseligkeit rücken zwei Gesichtspunkte in den Mittelpunkt meiner Betrachtung: die Praxis der Emotion und ihrer Verbindung mit Erkenntnis und Wahrnehmung in der Esoterik und in ihrer philosophischen Grundlage, der philosophia perennis und die Beziehung zwischen Emotion und Erkenntnis bei Skovoroda, der sich im 18. Jahrhundert den Berufswegen eines Zöglings der Kiewer Akademie verweigerte. Die beiden für Skovoroda wichtigen Rahmenbedingungen, die Identitätskonstitution des 18. Jahrhunderts in den Regionen des russischen Reiches und die alles 8
9 10
Dirk Kretzschmar untersucht diese Eigenschaft in seinem Buch: Identität statt Differenz. Zum Verhältnis von Kunsttheorie und Gesellschaftsstruktur in Russland im 18. und 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2002. Vgl. Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 24). Vgl. Ingeborg Fleischhauer: Philosophische Aufklärung in Russland. Rationaler Impuls und mystischer Umbruch: N. N. Strachov. Rom 1977 (Orientalia Christiana Analecta 203).
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einer Einheit unterwerfende philosophia perennis drängen zu einer Nivellierung aller Diskurse und Bereiche, in deren logischer Konsequenz auch die Gleichschaltung von Emotion und Erkenntnis liegt. Eine reflektierende Wahrnehmung von Emotion als Bestandteil aller kognitiven Prozesse ist bei Skovoroda deshalb nicht sehr wahrscheinlich und wird auch nicht von seinen historischen Rahmenbedingungen gefördert. Aber die Praxis der Einheit von Emotion und Kognition wird unproblematisch geübt, auch wenn die Emotion, zumal in der Aufklärung, durchaus als etwas Negatives und Feind der Vernunft betrachtet werden konnte, so z.B. von Immanuel Kant. Betrachten wir allerdings Skovoroda, so kann von einer negativen Einstellung zumindest gegenüber den Emotionen der Glückseligkeit nicht die Rede sein. Sein Umgang damit sowie auch die Praxis der philosophia perennis könnten einen interessanten Aufschluss darüber geben, dass Emotionen im Zeitalter der Aufklärung durchaus nicht nur eine negative Rolle als Widersacher des Rationalen gespielt haben. Der Komplex aus Kognition und Emotion wird bei Skovoroda und in der Tradition der philosophia perennis unter den Dachbegriff der Erkenntnis gestellt und die Beteiligung von Emotionen nicht weiter problematisiert und reflektiert. Trotzdem gilt die Trennung von Kognition und Emotion bis heute als ein Merkmal abendländischen Denkens. Inzwischen wird die Reduktion des kognitiven Paradigmas auf Wissen und Erkenntnis als überholt betrachtet und der Schwerpunkt stattdessen auf das wechselseitige Beziehungsverhältnis zwischen Emotion und Kognition gelegt, was eine Fülle von Abhandlungen und Diskussionen unter diesem Titel hervorgebracht hat. Ergebnisse der heutigen Kognitionsforschung bestätigen den Zusammenhang von Emotion und Kognition, nachdem lange Zeit die Tendenz überwogen hat, die Erkenntnis einseitig zu betonen und Emotionen als wichtige Faktoren bei Erkenntnisvorgängen zu vernachlässigen. Auch aufgrund neurobiologischer Erkenntnisse können Kognition und Emotion nicht mehr als voneinander unabhängige Faktoren betrachtet werden, so dass Rationalität und Emotionalität in einem Verhältnis zueinander gesehen werden müssen. Affektive Zustände ohne Kognitionsanteile und ausschließlich kognitiv kontrollierte Verhaltensweisen werden heute nicht mehr behauptet.11 Vielmehr wird das Postulat einer emotionalen Intelligenz erhoben12 und wirft in unserem Zusammenhang die Frage auf, ob der Rationalitätsbegriff der Aufklärung nicht nur, wie bereits geschehen, im Hinblick auf die Esoterik, sondern auch im Hinblick auf die Emotion neu zu überdenken sei. Auch heute noch blenden Arbeiten über Philosophie und Denken und sogar Literatur den Aspekt der Emotion häufig aus, so dass Anzeichen für ihr Vorhandensein möglicherweise gar nicht wahrgenommen werden.13 11 12 13
Vgl. Günter L. Huber, Heinz Mandl: Emotion und Kognition. München 1983. Besonders bekannt wurde das Buch von Daniel Goleman und Friedrich Griese von Deutscher: EQ. Emotionale Intelligenz. 20. Auflage. München 2008. Eine gegenläufige Entwicklung ist in den letzten Jahren allerdings nicht mehr zu übersehen: vgl. z.B. das vom Max Planck Institut für biologische Kybernetik Tübingen für den Science
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So ist mir keine Fragestellung bekannt, die den Aspekt der Verbindung von Emotion und Erkenntnis in der philosophia perennis thematisiert hätte. Auch die Untersuchung Skovorodas lenkt den Blick automatisch auf die Erkenntnis, ohne die Bedingungen der emotionalen Anteile an dieser Erkenntnis zu einem eigenen Thema zu machen. Skovoroda und die Tradition der philosophia perennis haben das Verhältnis von Emotion und Erkenntnis zwar nicht ausdrücklich reflektiert und zu ihrem Gegenstand gemacht, doch hat Skovoroda die richtige Erkenntnis ganz automatisch mit der Emotion der Glückseligkeit verbunden. Die Beschreibung seines Traums deutet sogar auf körperliche Reaktionen, wenn er von überwältigender Freude, Erquickung und jähem Schrecken berichtet.14 Die Perspektive auf die Wechselwirkung zwischen Kognition und Emotion eröffnet durchaus neue Wahrnehmungsmöglichkeiten des Denkens Skovorodas. Sichtbar dabei werden kann, wie sein Denken und die ihn prägende Tradition der philosophia perennis ganz selbstverständlich etwas realisieren, das die heutige Erforschung der Wechselwirkungen von Emotion und Kognition als unauflöslichen Zusammenhang bestätigen kann, dass nämlich Emotion und Kognition nicht voneinander isoliert werden können, eine Tatsache, die für Skovoroda und die Tradition der philosophia perennis offensichtlich unproblematisch war. Sie werden damit zu einem Forschungsobjekt für die Frage, wie das Gewebe aus Erkenntnis und Emotion in den Wahrnehmungsprozessen, die in einem System aus philosophischen und ethischen Schlussfolgerungen ausgedrückt werden, beschaffen sein könnte. Es zeichnen sich durchaus Übereinstimmungen mit Ergebnissen heutiger Emotionsforschung ab, wenn Emotionen als Lockmittel, Antrieb und Stimulans von Erkenntnis funktionieren, sie den Drang zu gefühlter höchster Kompetenz der Erkenntnis bedienen, das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Konsistenz in der Erkenntnis erfüllen und ein wichtiges Prinzip der Gedächtnisorganisation darstellen. Skovoroda und die philosophia perennis praktizieren den untrennbaren Verbund von Emotion und Kognition als selbstverständlich und unterstellen ihn der Herrschaft der Kognition. Dabei steht die Emotion sowohl als aktivierendes Stimulans für den Erwerb von Erkenntnis und Wissen als auch als Folge von Erkenntnis und als Beweis für ihre Richtigkeit am Anfang und Ende von Erkenntnis und begleitet sie. Staunen und Glückseligkeit sind in diesem alten Denken konstitutive Bestandteile von Erkenntnis, die als Prämissen nicht zum Gegenstand der Reflexion werden.
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Express konzipierte Projekt: Cognitive Poetics. Visualisierung von emotionalen Reaktionen auf Literatur (www.cognitive-poetics.net, [01.03.2010]). Vgl. Skovoroda:Werke (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 429.
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III Die heutige Emotionsforschung macht die Beteiligung von Emotionen am Erkenntnisprozess zu einem Gegenstand, während Zugänge zu Philosophie, Denken, Kultur und Literatur immer noch dazu neigen, sie und ihre Beteiligung an der Erkenntnis nicht in das Untersuchungsspektrum aufzunehmen. Emotionen entziehen sich nach wie vor eindeutigen Definitionen, die sich oft genug auf die Beschreibung der Phänomenologie von Emotionen beschränken müssen, so zum Beispiel bei Lothar Schmidt-Atzert: „Eine Emotion ist ein qualitativ näher beschreibbarer Zustand, der mit Veränderungen auf einer oder mehreren der folgenden Ebenen einhergeht: Gefühl, körperlicher Zustand und Ausdruck.“15 Eine andere Definition verfährt detaillierter, ohne die genannten Gefühle in irgendeiner Weise näher charakterisieren zu können: „Emotionen sind Vorkommnisse von zum Beispiel Freude, Traurigkeit, Ärger, Angst, Mitleid, Enttäuschung, Erleichterung, Stolz, Scham, Schuld, Neid […].“16 Die fraktale Affektlogik von Luc Ciompi sieht Denken und Fühlen in einem zwangsläufigen und gesetzmäßigen Zusammenhang und versucht, gemäß der Chaostheorie (nichtlineare Dynamik komplexer Systeme): „Partialerkenntnisse aus mehreren beteiligten Fachgebieten zu einer interdisziplinär gültigen Basistheorie von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen zu verbinden.“17 Literaturwissenschaftliche Zugänge können ästhetische Urteile als emotionale Urteile postulieren und die emotionale Disposition des Rezipienten sowie die emotionale Qualität des Stimulus untersuchen.18 Besonders seit den 90er Jahren nehmen die literaturwissenschaftlichen Erkenntnisinteressen an der Funktion der Emotionen zu.19 Ein besonders wichtiger Fortschritt liegt in der Behandlung der im Verbund mit der Kognition stehenden Emotionen als eines auch körperlichen und neurologischen Phänomens: Am Zustandekommen und Ablauf emotionaler Vorgänge sind daher sowohl kognitive (kortikale und subkortikale) Mechanismen der Verarbei15 16
17
18 19
Vgl. Lothar Schmidt-Atzert: Lehrbuch der Emotionspsychologie. Stuttgart, Berlin u. Köln 1996, S. 21. Vgl. Wolf-Uwe Meyer, Rainer Reisenzein u. Achim Schützwohl: Einführung in die Emotionspsychologie. 3 Bde. Bd. 1: Die Emotionstheorien von Watson, James und Schachter. 2. überarb. Aufl. Bern u.a. 1993, S. 23f. Luc Ciompi: Grundsätzliches zu Emotion, Kognition und Evolution aus der Humanperspektive. Manfred Wimmer, Luc Ciompi (Hg.): Emotion, Kognition, Evolution. O.O. 2005, S. 47–66, hier S. 47. Vgl. auch sein Buch: Gefühle, Affekte, Affektlogik. Ihr Stellenwert in unserem Menschen- und Weltverständnis. Wiener Vorlesungen. Wien 2003. Vgl. Henrike F. Alfes: Literatur und Gefühl. Emotionale Aspekte literarischen Schreibens und Lesens. Opladen 1995. Vgl. Thomas Anz (Hg.): Literatur und Emotion. Bielefeld 2007 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54/3 [2007]); Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003; Katja Mellmann: Emotionalisierung – von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn 2007.
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tung externer oder interner Reize, neurophysiologische Muster, motorischer Ausdruck und Motivationstendenzen beteiligt.20 Dieter Ulich und Philipp Mayring gelingt eine Beschreibung dieses komplexen Wirkmechanismus. Sie eröffnen damit Spielräume für eine Untersuchung der Verankerung von Erkenntnis im Körper, wie es in Körpertherapien wie Yoga oder Focusing schon seit geraumer Zeit praktiziert wird: Emotionen sind leib-seelische Zuständlichkeiten einer Person, an denen sich je nach Betrachtungsebene verschiedene Aspekte oder Komponenten unterscheiden lassen: eine subjektive Erlebniskomponente, eine neurophysiologische Erregungskomponente, eine kognitive Bewertungskomponente und eine interpersonale Ausdrucks- und Mitteilungskomponente.21 Skovoroda und die philosophia perennis verbinden die Emotion mit dem Vorhandensein bzw. der Abwesenheit von richtiger Erkenntnis, die er mit dem Organ des Körpers in Beziehung setzt, das als Sitz der Emotionen gilt, dem Herzen. Ich möchte hier den Blick auf einige Aspekte lenken. Die Emotion besteht offenbar aus zwei voneinander zu unterscheidenden Ebenen, der des Körpers und der der Wahrnehmung und Deutung, jedoch können diese beiden Ebenen nicht aufeinander reduziert werden, sondern lediglich als miteinander korreliert betrachtet werden. In dieser Korrelation liegt die Tiefgründigkeit, auf die schon der Hirnforscher Benjamin Libet mit seiner Unterscheidung zwischen der messbaren Nerventätigkeit und der subjektiven Wahrnehmung hingewiesen22 und damit die nicht gelöste Frage problematisiert hat, wie bewusstes subjektives Erleben, Erkennen und Deuten aus Aktivitäten der Nervenzellen im Gehirn entstehen können. Der Verbund von Emotion und Kognition zeigt auf allen Ebenen, dass die Eigenschaften eines Systems nicht anhand der Komponenten beschrieben werden können, aus denen das System besteht. Ich gehe deshalb für den Erkenntnisprozess und die Beteiligung der Emotion an seiner Konstitution von mindestens zwei, aber grundsätzlich mehreren voneinander phänomenologisch unabhängigen Ebenen aus, die nicht aufeinander reduzierbar sind und untereinander in höchst komplexen Wechselwirkungen stehend Emotion, Erkenntnis und Wahrnehmung hervorbringen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, einzelne Ebenen wahrzunehmen, ohne sie ineinander aufzulösen, und einer Erklärung der Korrelation zwischen beiden Ebenen zumindest etwas näher zu kommen. Emotionen erweisen sich als Interaktionsgefüge, insofern kognitive Prozesse Emotionen und Emotionen kognitive Prozesse auslösen können. Im schulischen bzw. universitären Unterricht werden diese Wechselwirkungen zu einem immer intensi-
20 21 22
http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/EMOTION/; [22.02.2010]. Philipp A. E. Mayring u. Dieter Ulrich: Psychologie der Emotionen. Stuttgart u.a. 1992, S. 35. Vgl. Benjamin Libet: Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert. Frankfurt a.M. 2005, bes. S. 21–56.
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ver bearbeiteten Forschungsfeld,23 auch wenn die Gestaltung der Praxis diese Erkenntnisse bedauerlicherweise nicht in gleichem Maße berücksichtigt, zumal an den Hochschulen. Skovoroda jedenfalls folgte in seinen Lehren einem ausgeprägten pädagogischen Impuls und kam nicht auf die Idee, Emotion von Erkenntnis zu trennen. Da die philosophia perennis ihrerseits eine Lehre und Offenbarung vermitteln wollte, wenn auch oft auf geheim gehaltenen Wegen, und die Aufklärung ohnehin das pädagogische Anliegen pflegte, die Menschen aus ihrer Unmündigkeit zu befreien, war die Emotion als Bestandteil oder Begleitung der Erkenntnis immer selbstverständlich präsent und mitumfasst, nur eben nicht ihrerseits in dieser Funktion Gegenstand der Erkenntnis. Die Problematisierung, ob wir denken, was wir fühlen, war zumindest für Skovoroda und für die Logik der philosophia perennis eine nicht in Frage zu stellende Selbstverständlichkeit.
IV Erkenntnis ist bei Skovoroda und in der philosophia perennis nicht eine Anhäufung von Wissen, sondern eine Haltung, die sich in unauflöslicher Verflechtung mit den Emotionen vollzieht, weil nur die entsprechende Erkenntnishaltung das Wissen und die Emotionen positiv und wahr machen, mit der göttlichen Weltverfassung, der göttlichen Weisheit in Einklang bringen und so den Menschen in das Paradigma der philosophia perennis einordnen kann. Deshalb bewirkt die Aussicht auf wahre Erkenntnis die Emotion, die Emotion den Drang zur wahren Erkenntnis und die wahre Erkenntnis die Emotion der Glückseligkeit, die das wichtigste Anliegen von Skovorodas Konzept im Kontext der philosophia perennis darstellt. Ihr widmet Skovoroda weite Teile seiner Schriften, zum Beispiel Das Gespräch der fünf Reisenden über das wahre Glück im Leben.24 Zum Ziel der Erkenntnis wird also die Glückseligkeit: „Das Ziel der Weisheit besteht darin zu verstehen, worin das Glück besteht.“25 Der wichtigste Antrieb, Erkenntnis zu erlangen, ist die Liebe als göttliche Wirkung im Menschen, und so bindet Skovoroda Emotionen an das Vorhandensein oder Fehlen von Erkenntnis.26 Da der Mensch Bild Gottes und Gott deshalb in ihm gegenwärtig ist, wird der Einklang mit ihm durch das Leben gemäß der Natur (secundum naturam vivere) erreicht. Skovoroda verwendet viel Raum darauf, diese 23 24 25 26
Martin Hänze: Denken und Gefühl. Wechselwirkung von Emotion und Kognition im Unterricht. Unveränd. ND d. letzten Aufl. Weinheim, Basel 2009. Skovoroda: Werke (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 324–356 [Übers. E.v.E.]. Ebd., S. 326. Vgl. hierzu das Kap.: Vera beatitudo. In meinem Buch: Unähnliche Ähnlichkeit (wie Anm. 5), S. 427–540.
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Empfehlung der Stoiker (Seneca und Epikur) in sein Konzept, welches das Konzept der philosophia perennis ist, zu vereinnahmen.27 Das zur Glückseligkeit führende Leben gemäß der Natur wird also zu einem Leben in Teilhabe an der philosophia perennis, das den Menschen durch die notwendige Erkenntnis, die leicht ist, weil sie nach der Natur so sein muss, zu seinem Ursprung, zu Gott und in die Glückseligkeit und den Frieden zurückführt (peregrinatio ad patriam). Auf diesem Weg koinzidieren Selbst-, Welt- und Gotteserkenntnis. Die Qualität von Emotionen ist bei Skovoroda daher abhängig von der Erkenntnis. Als Antrieb und Ziel der Erkenntnis wirken also die Emotionen des Staunens, der Sehnsucht, der Liebe und Glückseligkeit. Emotion und Erkenntnis werden damit in einer Erkenntnishaltung zusammengefasst, welche die Rückführung der Welt in Gott, die Entfaltung der Heilsgeschichte bis zur Wiederkehr Christi und die höchste Glückseligkeit zu bewirken vermag. Somit begleiten Emotionen die höchste Kompetenz der Erkenntnis, eine Selbstwerterhöhung des Menschen mit einem festen Platz im Kosmos als Ebenbild Gottes zu erlangen, und deshalb als Vermittler (homo mediator) zwischen den Welten und Naturen zu wirken, der die wahre Wirklichkeit durch seine Erkenntnis erst mitkonstituiert, also zum Mitschöpfer wird. Diese Einheit von Emotion und Erkenntnis im Erkennen der Wahrheit beschreibt Skovoroda auch mit Hilfe von körperlichen Reaktionen etwa der Trunkenheit, des Glückes und der Freude. Skovoroda fasst diesen weltverändernden Verbund aus Emotion und Kognition einerseits unter dem Begriff der Erkenntnis zusammen (ɦɵɫɥɶ, ɩɨɡɧɚɧɢɟ, ɡɧɚɧɢɟ, ɜɟɞɟɧɢɟ) und bezeichnet als Erkenntnisorgan, den Ort des wahren Menschen, das Herz (ɫɟɪɞɰɟ).28 „Der Kopf des Menschen ist das Herz des Menschen. Das ist der eigentliche und perfekte Mensch im Mensch.“29 Skovoroda wendet hier seine beliebte Methode der Gleichsetzung, d.h. der Nivellierung von allem in Bezug auf den Ursprung an: „Und was ist das Herz, wenn nicht die Seele? Und was ist die Seele, wenn nicht der bodenlose Abgrund des Denkens (Gedankens). Und was ist das Denken (Gedanke), wenn nicht die Wurzel und der Samen unseres äußeren Fleisches.“30 Aber andererseits vollzieht er auch eine Zusammenfassung von Erkenntnis und Emotion unter dem Begriff der Liebe, des Friedens und der Glückseligkeit. Die zu erkennende göttliche Wirklichkeit besteht deshalb aus mindestens zwei Komponenten und veranlasst eine Selbstkommunikation des Göttlichen mit sich selbst. Aufeinander treffen das Erkannte als Welt, Gott, Selbst und Text (Bibel) und der Erkennende, dessen richtige Haltung die göttliche Wirklichkeit erst realisiert, wenn die göttliche Erkenntnisfähigkeit in ihm wirksam wird. Es ist also Gott
27 28 29 30
Vgl. hierzu das Kap.: Secundum naturam vivere, ebd., S. 430–449. Z.B. Skovoroda: Werke (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 171; 349; 173. Ebd., S. 349. Ebd.
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selbst im Erkennenden, d.h. im inneren bzw. wahren Menschen, der zur richtigen Erkenntnis befähigt. Die Logik des Vorgangs besagt nicht nur, dass letztlich Gott selbst sich selbst erkennt, sondern dass er sich auch selbst fühlt. Die sich aus Emotion und Erkenntnis zusammensetzende, die wahre Wirklichkeit konstituierende Erkenntnishaltung ist daher in allen Bestandteilen göttlicher Natur, umfasst also auch die Emotion. Den Einklang von Emotion und Erkenntnis vollzieht Skovoroda insbesondere in seinem pädagogischen Konzept der Selbsterkenntnis, die auch zur Gotteserkenntnis wird;31 dieses Konzept, das letztlich auf das Gebot hinausläuft, gemäß der Natur zu leben, ist eines, das die Emotionen mit umfasst, ohne sie zu problematisieren und reflektieren: „Glück hängt vom Herzen ab, das Herz vom Frieden, der Friede von der Berufung, die Berufung von Gott.“32 Wahre Erkenntnis und die Emotionen der Zufriedenheit und Glückseligkeit gehen daher einher mit der richtigen Wahrnehmung der Wirklichkeit, die nicht im Ding, sondern in ihrer symbolischen bzw. allegorischen Verfasstheit gefunden wird. Skovoroda differenziert also überhaupt nicht zwischen Erkenntnis und Emotion und kann deshalb auch nicht über das Verhältnis beider reflektieren. Aber er realisiert ihren Verbund, bildet ihre Wechselbeziehung ab und behandelt sie als eine Einheit, die im inneren Menschen gründet, ihren Sitz im Herzen als dem Erkenntnisorgan hat und letztendlich eine Eigenschaft Gottes ist. Er bindet die Emotion damit unauflöslich an die Erkenntnis durch die Anwendung einer umfassenden Bildtheorie, die das konkrete bildgebende Phänomen, also das Sichtbare, streng getrennt hält von der symbolischen bzw. allegorischen Bedeutung des Bildes, also vom unsichtbaren Inhalt des Gefäßes, das die sichtbare Welt in diesem Konzept darstellt. Skovoroda erlebte in seinem Initiationstraum viele verschiedene Vorgänge, auch solche, die ihn erschreckten. Doch gleichzeitig erquickten und stimulierten sie ihn, Gott ohne Unterlass zu preisen. Das gelingt ihm durch die Erkenntnis der äußeren Vorgänge als Bild und Gefäß für göttliche Inhalte, die mittels der richtigen Erkenntnis zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Dingen Wohnung nehmen und diese miteinander verbinden können, um schließlich sie und den sie erkennenden Menschen zu Gott zurückzubringen und ihm die glücklichen Emotionen zu verschaffen. Alle schönen und aufbauenden wie auch alle schrecklichen Bilder werden der gleichen Deutung unterworfen und zeitigen die gleichen Emotionen, wenn sie als Bild für das Göttliche erkannt werden. Dabei werden beide Ebenen, die sichtbare und die unsichtbare, wahrgenommen, aber nicht miteinander vermischt, doch gleichzeitig auch als unauflöslich miteinander korreliert betrachtet. Aus dem Verbund von richtiger Erkenntnis und glückseliger Emotion gelangt der Mensch nur dann in falsche Erkenntnis, negative Emotion, Tod und Verfall, wenn er diese
31 32
Vgl. hierzu bes. Erdmann: Unähnliche Ähnlichkeit (wie Anm. 5), S. 248–253. Skovoroda: Werke (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 439.
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Bildtheorie der philosophia perennis außer acht lässt und die Anwesenheit Gottes nicht mehr in allen seinen Gefäßen wahrnimmt.
V Der Verbund von Emotion und Kognition bei Skovoroda und in der ihn prägenden philosophia perennis, der unter den Begriffen der Erkenntnis wie der Glückseligkeit fassbar wird, kann Anregungen für die heutige Emotions- und Kognitionsforschung bieten. Denker dieser alten philosophischen und hermetischen Tradition schufen mit ihren Systemen Abbildungen der Wirklichkeitskonstitution durch Wahrnehmung und damit der Bedingungen des Erkennens. Physik, Hirnforschung, philosophia perennis und Skovoroda haben das Problem der Wirklichkeit und ihrer Erkenntnis gemeinsam. Inwiefern nun die heutige Forschung Anregungen bei den alten Denkern gewinnen kann bzw. sich sagen muss, das jene schon lange vor den wissenschaftlichen Ergebnissen genau in die Richtung dieser Ergebnisse gedacht haben, ist eine interessante Frage, und ich möchte hier einige Positionen nennen, die einen vergleichenden Blick lohnen. Jedenfalls vertritt die Quantenphilosophie heute die Vermutung, dass die Wirklichkeit nicht in den äußeren Dingen erkennbar sei und es das objektive Ding an sich nicht gäbe, dass also das, was wir sehen, beobachten, messen und erkennen können, nicht die Wirklichkeit an sich sein könne. Der Quantenphysiker und Philosoph Bernard d’Espagnat bestätigt von Seiten der Quantenphysik die Erkenntnishaltung der allegorisch-typologischen Bibelexegese und der philosophia perennis, welche die Realität nicht in den sichtbaren Dingen sucht und findet, und prägt dafür den Begriff der verschleierten Wirklichkeit.33 Der Physiker betrachtet das Sichtbare nur als Ausbeulung im Schleier der Wirklichkeit und ist davon überzeugt, dass die Physik zur Realität als solcher schweigt. Auch Skovoroda sieht die Wirklichkeit nicht in den äußeren Dingen, die er als Schatten der wahren Wirklichkeit behandelt und die nur das Gefäß für die unsichtbare Natur bilden. Seine mit Emotion verwobene Erkenntnishaltung erfordert daher die symbolische bzw. allegorische Sichtweise. Der Physiker d’Espagnat postuliert heute, ohne den metaphysischen Optimismus Skovorodas, keine Aussagen über die Wirklichkeit als solche, sondern nur Aussagen über ihre Bobachtung treffen zu können, während Skovoroda die richtige Erkenntnis des Menschen zum entscheidenden Faktor der Herstellung der Welt als Bild der göttlichen Wirklichkeit machte. Die strikte phänomenologische Trennung der zwei an der Hirntätigkeit beteiligten Paradigmen in der Forschung von Benjamin Libet unterscheidet zwischen der 33
Vgl. hierzu seine Bücher: Veiled Reality. An Analysis of Present-Day Quantum Mechanical Concepts. Reading/Mass. 1995 (Frontiers in Physics 91) und: In Search of Reality. New York u.a. 1983. Vgl. auch die dt. Ausg. Auf der Suche nach dem Wirklichen. Aus der Sicht eines Physikers. Berlin u.a. 1983.
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objektiv messbaren neurologischen Aktivität, die sichtbar gemacht werden kann, und der subjektiven Wahrnehmung, die unsichtbar bleibt. Der Hirnforscher betont die Notwendigkeit, die Ebenen des gemessenen Dinges und seiner Wahrnehmung durch den Erlebenden nicht aufeinander zu reduzieren, da sie phänomenologisch strikt zu trennende Bereiche seien, die zwar korreliert sind, nicht aber auseinander erklärt werden können.34 Genauso nachdrücklich, wie Skovoroda auf einer symbolisch-allegorischen Sichtweise bestand, so rigoros forderte er auch die Unterscheidung der sichtbaren und unsichtbaren Natur, also der Ebenen des zu beobachtenden Dinges und seiner Wahrnehmung und Deutung durch den Menschen. Es sind also schon in Skovorodas Denkfiguren ganz verschiedene Ebenen, die sichtbare und die unsichtbare Natur und der beobachtende Mensch, die Wirklichkeit konstituieren, indem sie sich durch Korrelation und strikte Unterscheidung auszeichnen. Das Phänomen der nichtlokalen Verschränkung von Teilchen (Quantenobjekten), die trotz räumlicher Trennung voneinander abhängig bleiben, und das Postulat der Unteilbarkeit, dem gemäß sich Wirklichkeit, wie wir sie wahrnehmen können, aus der Einheit von beobachtendem Instrument bzw. Beobachter und dem Beobachteten bildet, haben in der philosophia perennis und ihrer Prämisse des von der Erkenntnis des Menschen über das Sein zu breitenden Analogienetzes bereits ein Bild gefunden. Die Welt als Bild Gottes und Gefäß für ihn bildet ein Gefüge, in dem alles mit allem durch seinen gleichen Inhalt verbunden ist. Deshalb bedeuten Bilder, die äußerlich überhaupt nichts miteinander zu tun haben und sich nicht beeinflussen können, dasselbe und werden zu einem Bedeutungsgewebe. Bereits Niels Bohr, aber auch heute Bernard d’Espagnat begründen, dass das Phänomen, das als wirklich erscheint, nicht von seiner Wahrnehmung getrennt werden kann, da der erkennende Mensch bzw. die messende Apparatur und das Erkannte bzw. das Gemessene erst zusammen das Ganze des Phänomens bilden. So kann d’Espagnat feststellen, dass die Eigenschaften, die wir an ihnen (den Objekten) wahrnehmen, in Wahrheit vom Blick des Menschen und der Apparatur auf sie abhängen. Damit etabliert sich in einem anderen Paradigma der Grundsatz der Erkenntnis in der philosophia perennis, die keine unabhängige oder sichtbare Wirklichkeit als Wirklichkeit anerkennt, sondern die wahre Wirklichkeit erst durch die richtige Erkenntnishaltung des Erkennenden konstituiert sieht. So wie sich in allen Phänomenen Gott in einem Bild ausdrückt, so drückt sich in ihnen gleichzeitig auch die Weise seines Erkennens und deren Aneignung durch den Erkennenden aus. So werden das Erkennen und das Erkannte zu einer Einheit, indem das Funktionieren des Erkennens gleichzeitig auch das Erkannte ist und das Phänomen konstituiert. Das Symptom für den geglückten Vorgang ist bei Skovoroda und in der philosophia perennis die Emotion der Glückseligkeit, die zum Erkenntnisprozess gehört.
34
Vgl. Libet: Mind Time (wie Anm. 22).
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Im Zugang zur Wirklichkeit und ihrer Erkenntnis gibt es nur einen grundsätzlichen Unterschied in beiden Paradigmen. Während d’Espagnat die Wissenschaft als das Studium der Regelmäßigkeiten der Lügen über die Wirklichkeit, die als solche nicht erkennbar sei, bewertet, betrachtet Skovoroda die wahre Wirklichkeit als erkennbar, wenn der Mensch die richtige Erkenntnishaltung in Teilhabe an der göttlichen Weisheit einnimmt, in der Gott sich selbst in seinen Bildern erkennen kann. Die göttliche Struktur des Menschen kann somit die göttliche Struktur der Wirklichkeit erkennen und den Vorgang des Erkennens mit dem Erkannten in der Glückseligkeit zu einem Ganzen fügen. Die Wege der Forschung nähern sich dem Postulat, dass sich im Beobachteten die Struktur des Erkennenden und seiner Erkenntnis ausdrückt, und das Gehirn in seinem Erkenntnisvermögen nur Bilder seiner Beziehung zum Erkannten hervorbringen kann. Die sich abzeichnende Einheit von Wahrnehmendem und Wahrgenommenen hatte die philosophia perennis von Anfang an zur Grundlegung ihrer Praxis gemacht. So wie Dichtung als Selbstdarstellung ihrer Autopoetik verstanden werden kann, so könnte auch Erkenntnis als Selbstdarstellung ihrer Autonoetik begriffen werden. Möglicherweise hält das Konzept der philosophia perennis, der Einheit von Erkenntnis und Offenbarung, weitere Anregungen auch für Zugänge zur unauflöslichen Verwebung von Emotion und Kognition in allen Wahrnehmungsprozessen bereit, in denen Emotion die Funktion einer Verbindungssubstanz zwischen den Ebenen ausüben könnte. Wenn der Mensch durch den Verbund von Emotion und Erkenntnis die in ihm selbst wirksame göttliche Struktur auch in der Welt erkennen und sie als Handlung des Erkennens aktiv realisieren kann, können Emotion und Erkenntnis nicht mehr als Gegensätze betrachtet werden, ein Standpunkt, dem sich die Forschung heute analog nähert: „Some state that there is no empirical support for any generalization suggesting the antithesis between reason and emotion.“35 Die Kognitionsforschung steht heute also auch vor der Frage, inwieweit die Emotion an der Bildung des Phänomens, das wir als Wirklichkeit behandeln, beteiligt ist. Die gemeinsame Betrachtung von Hirnforschung, Quantenphilosophie und philosophia perennis erscheint mir hier ein anregender Weg zu sein, weil die alte Tradition Bilder für das bereithält, was die Forschung heute als neu entdeckt. Jedenfalls haben Skovoroda und die philosophia perennis in ihrem Medium und zu ihrer Zeit die heute aufgestellten und diskutierten Postulate als metaphysisch begründete Gegebenheiten praktiziert und in Bildern ausgedrückt.
35
http://encyclopedia.stateuniversity.com/pages/6833/emotion.html [22.02.2010].
II
Emotionen und Literatur
II.1 Emotionalisierung der Schriftlichkeit
NATALIJA D. KOCHETKOVA (St. Petersburg)
Gefühl und moralisches Handeln in der russischen empfindsamen Erzählung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts Ebenso wie in der europäischen Literatur der Aufklärung ist auch in der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts die Frage nach dem moralischen Handeln ein Dauerthema, das sehr weit gefasst wird. Die ,Veredelung der Sitten‘ wird für die Mehrheit der Autoren zur primären Aufgabe. Während sich aber die Autoren des Klassizismus hauptsächlich den gesellschaftlichen Tugenden widmeten, brachte das Vordringen sentimentalischer Strömungen nach Russland ein besonderes Interesse für das Verhalten des Menschen als Privatperson mit sich, für seine Gefühlswelt und seine Beziehungen zu ihm nahe stehenden Personen. Es entsteht eine neue Kategorie der literarischen Charakterisierung – ɱɭɜɫɬɜɢɬɟɥɶɧɨɫɬɶ (Empfindsamkeit).1 In Russland werden nicht nur Jean-Jacques Rousseaus Nouvelle Heloïse und Goethes Leiden des jungen Werther, sondern auch viele andere Werke mit dem Sentimentalismus verbundener europäischer Autoren gelesen, übersetzt und nachgeahmt. Auf Interesse stoßen die deutschen Moralischen Wochenschriften und die Werke von Autoren wie C. M. Wieland, S. von La Roche, J. H. Campe und Ch. F. Weiße. Ebenso wie in der deutschen hängt auch in der russischen Literatur die Moral insbesondere mit der religiösen Erziehung zusammen. Russische Schriftsteller können insbesondere Campes Formulierung über die Empfindsamkeit als Fähigkeit zu sittlichen Empfindungen, zu Mitleid und Mitgefühl, gut nachvollziehen („die Fähigkeit, sittliche Empfindungen zu haben“).2 1787 erschien in der Zeitschrift Ɂɟɪɤɚɥɨ ɫɜɟɬɚ eine Artikelserie, die eine freie Übersetzung und Nachbildung von P. Holbachs Système social, ou principes naturels, de la morale et de la politique […] (1774) bot. Der Übersetzer, der mit den Initialen N. D. unterschrieben hatte (dies könnte für N. I. Danilovskij stehen) hatte kirchenfeindliche Aussagen gestrichen und dem Text mehrfach eigene Überlegungen hinzugefügt. In dem Abschnitt über die Tugend schreibt er: ɋɨɪɚɞɨɜɚɬɶɫɹ ɜ ɫɱɚɫɬɢɢ ɛɥɢɠɧɟɦɭ, ɫɨɫɬɪɚɞɚɬɶ ɟɦɭ ɜ ɧɟɫɱɚɫɬɢɢ, ɫɨɟɞɢɧɹɬɶ ɫɜɨɢ ɫɥɟɡɵ ɫ ɟɝɨ ɫɥɟɡɚɦɢ ɟɫɬɶ ɞɟɣɫɬɜɢɟ ɧɟɠɧɨɝɨ ɢ ɱɭɜɫɬɜɢɬɟɥɶɧɨɝɨ ɫɟɪɞɰɚ; ɧɟ ɛɵɬɶ ɬɪɨɧɭɬɭ ɩɪɢ ɜɢɞɟɧɢɢ ɫɬɪɚɠɞɭɳɟɝɨ ɜ ɛɟɞɫɬɜɢɢ ɩɨɞɨɛɧɨɝɨ ɫɟɛɟ ɱɟɥɨɜɟɤɚ, ɜɡɢɪɚɬɶ ɪɚɜɧɨɞɭɲɧɨ ɧɚ ɩɪɨɥɢɜɚɸɳɟɝɨ ɜ ɫɬɟɧɚɧɢɢ ɝɨɪɶɤɢɟ ɫɥɟɡɵ ɟɫɬɶ ɞɟɣɫɬɜɢɟ ɨɤɚɦɟɧɟɥɨɫɬɢ ɫɤɨɬɫɤɨɣ ɢ ɧɟɞɨɫɬɨɣɧɨɣ ɱɟɥɨɜɟɤɚ ɧɟɱɭɜɫɬɜɢɬɟɥɶɧɨɫɬɢ.3
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Cf.: Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. 2 Bde. Bd.1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974. Ebd., S. 193. „Sich mit dem Nächsten über sein Glück freuen, sein Unglück mit ihm erleiden, die eigenen Tränen mit den seinigen vereinen, so handelt ein zartes und empfindsames Herz; jedoch unge-
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Natalija D. Kochetkova
Der russische Übersetzer bemüht sich, Holbachs Aufklärungskonzept zu erweitern, indem er die Moralität nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit emotionaler Anteilnahme, also mit der Sphäre des Gefühls, in Verbindung bringt. Dies wirft jedoch eine Frage auf: Ist der empfindsame Mensch denn immer moralisch? In der Mehrheit der russischen empfindsamen Erzählungen halten sich die Protagonisten durchaus an die Regeln einer traditionellen, mit den wesentlichen Postulaten der Orthodoxie übereinstimmenden Moral. Verliebte gehen der Bund der Ehe ein oder werden zwar getrennt und leiden darunter, unterwerfen sich aber dem Willen ihrer Eltern. In N. M. Karamzins früher Erzählung Evgenij und Julija (1789) freut sich Frau L* über die gegenseitige Sympathie ihres Sohnes und ihrer Ziehtochter und sagt zu ihnen: „Ihr seid einander würdig, ihr liebt euch: so vollendet doch mein Glück und vereinigt euch zum ewigen, heiligen Bunde!“4 In P. Ju. L’vovs Erzählung Rosa und Ljubim (1790) „setzen“ die Protagonisten „ihren Wünschen die Krone des heiligsten Gesetzes auf“5 und vollenden ihre Liebe erst nach der kirchlichen Trauung. In der anonymen Erzählung Paramon und Varen’ka (1796) „beschließen“ die Verliebten, ihre Leidenschaft „durch die Ehe zu krönen“,6 die auch den Segen den Eltern findet. Nur äußere Umstände – Krankheiten oder Unglücksfälle – stehen der Verbindung solcher empfindsamen und einwandfrei tugendhaften Helden im Wege. Den tragischen Widerspruch zwischen Gefühl und Moral hingegen zeigt N. M. Karamzin in seinen bekanntesten Erzählungen der 1790er Jahre: Die arme Lisa, Natal’ja, die Bojarentochter (beide 1792) und Die Insel Bornholm (1794). Die empfindsamen Figuren dieser Erzählungen handeln gegen die allgemein akzeptierte Moral. Besonders strenge Sittenwächter könnten die nicht durch die Ehe legitimierte Liebe zwischen Lisa und Erast verurteilen. In seiner Beschreibung ihres ersten Zusammentreffens in der Stadt erwähnt der Autor, dass „einige Passanten stehen blieben, sie ansahen und dabei boshaft grinsten“.7 Allerdings ist Erast kein listiger Verführer und Bösewicht, sondern ein Mensch „guten Herzens, gut von Natur aus, aber schwach und leichtsinnig“. Er ist ein empfindsamer Held, der, nachdem er von Lisas tragischem Tod (sie begeht, von ihm verlassen, Selbstmord) erfahren hat, untröstlich ist und sich selbst als Mörder betrachtet.
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rührt zu bleiben beim Anblick des Unglücks und Leidens eines Menschen wie man selbst einer ist, gleichgültig den anzuschauen, der stöhnend bittere Tränen vergießt – so handelt viehische Starrheit und eine des Menschen unwürdige Gefühllosigkeit.“ In: Ɂɟɪɤɚɥɨ ɫɜɟɬɚ 5/75 (1787), S. 375. Zu diesem Übersetzer siehe auch: Ɇɚɤɨɝɨɧɟɧɤɨ Ƚ. ɉ. Ɋɚɞɢɳɟɜ ɢ ɟɝɨ ɜɪɟɦɹ. Ɇoskau 1956, S. 289–307; Ʉɨɱɟɬɤɨɜɚ ɇ. Ⱦ. Ⱦɚɧɢɥɨɜɫɤɢɣ (Ⱦɚɧɢɥɟɜɫɤɢɣ) ɇ. ɂ.: ɋɥɨɜɚɪɶ ɪɭɫɫɤɢɯ ɩɢɫɚɬɟɥɟɣ XVIII ɜɟɤɚ. ȼɵɩ.1. Ⱥ-ɂ. Leningrad 1988, S. 240f. Ɋɭɫɫɤɚɹ ɫɟɧɬɢɦɟɧɬɚɥɶɧɚɹ ɩɨɜɟɫɬɶ. Zusammengestellt u. hg. mit einer Einf. u. Komm. v. P. A. Orlov. Ɇoskau 1979, S. 92. Ebd., S. 61. Ebd., S. 173. Nikolai M. Karamzin: ɂɡɛɪɚɧɧɵɟ ɫɨɱɢɧɟɧɢɹ. Ɇoskau, Leningrad 1964, Bd. 1, S. 608. Im Weiteren werden Zitate aus dieser Werksausgabe im Text gekennzeichnet.
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Viele Forscher haben auf die Widersprüchlichkeit seines Charakters aufmerksam gemacht und sahen in dieser Figur zu Recht Karamzins besondere künstlerische Leistung. Erast handelt nicht moralisch, besitzt aber die Fähigkeit zur Reue. Lisa wiederum, die ihrer eigenen Unerfahrenheit und Hingabe zum Opfer fällt, bezeichnet sich selbst als Verbrecherin: „Ich habe Angst, dass der Blitz mich als Verbrecherin treffen wird!“.8 Sie entschließt sich zum Selbstmord und begeht damit aus Sicht der orthodoxen Moral eine weitere schwere Sünde. Dennoch beschreibt der Autor sie als zart und von schöner Seele – Bezeichnungen, die der Beschreibung einer empfindsamen Heldin voll entsprechen. Die Stärke ihres Gefühls hat die Bewunderung vieler Leser hervorgerufen. J. M. Lotman hat eine Notiz des Autors A. F. Merzljakov veröffentlicht, der ein Gespräch zwischen einem Handwerker und einem Bauern über Die arme Lisa mitgehört hatte. Diese beiden beeindruckt vor allem, dass das Mädchen sich entschließt, wegen einer unglücklichen Liebe ihr Leben zu beenden. „Das, Bruder, ist wirklich Liebe!“, – sagt der Handwerker, und der Bauer antwortet ihm: „Ja, das ist Liebe!“9 Die Aufrichtigkeit und Stärke des Gefühls der Heldin rechtfertigen ihr Handeln, obgleich es mit traditionellen Moralbegriffen unvereinbar ist. In einer anderen Erzählung, Natal’ja, die Bojarentochter, die ein durchaus glückliches Ende findet, beschäftigt Karamzin wieder der Gegensatz zwischen Gefühl und Moral. Die Tochter des guten Bojaren Matvej verliebt sich in einen geheimnisvollen Fremden, den sie in der Kirche getroffen hat, und stimmt seinem Vorschlag zu, heimlich das Elternhaus zu verlassen und mit ihm zu fliehen. Der Autor ist auf die zu erwartende Reaktion des Lesers vorbereitet: Gemeinsam mit dem Leser geben wir wirklich Natal’ja die Schuld und tadeln sie ernsthaft dafür, dass sie, nachdem sie einen jungen Mann nur dreimal getroffen und ein paar angenehme Worte von ihm gehört hat, sich plötzlich entschließt, mit ihm aus ihrem Elternhaus zu fliehen […] und noch viel mehr – ihren guten, empfindsamen, zartfühlenden Vater zu verlassen […].10
Und sofort beginnt der Autor, seine Heldin zu rechtfertigen: Aber so ist die grausame Liebe! Sie kann den tugendhaftesten Menschen zum Verbrecher machen! Und wer in seinem Leben feurig geliebt und doch niemals gegen die strenge Moral verstoßen hat, der hatte Glück! Sein Glück ist, dass seine Leidenschaft sich niemals im Gegensatz zur Tugend befand – sonst hätte die letztere ihre Schwäche zugeben müssen und Tränen vergeblicher Reue wären reichlich geflossen. Die Chroniken des menschlichen Herzens überzeugen uns von dieser traurigen Wahrheit.11
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10 11
Ebd., S. 616. Jurij M. Lotman: Ɉɛ ɨɞɧɨɦ ɱɢɬɚɬɟɥɶɫɤɨɦ ɜɨɫɩɪɢɹɬɢɢ «Ȼɟɞɧɨɣ Ʌɢɡɵ» Ʉɚɪɚɦɡɢɧɚ (Ʉ ɫɬɪɭɤɬɭɪɟ ɦɚɫɫɨɜɨɝɨ ɫɨɡɧɚɧɢɹ XVIII ɜ. // Ɋɨɥɶ ɢ ɡɧɚɱɟɧɢɟ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɵ XVIII ɜɟɤɚ ɜ ɢɫɬɨɪɢɢ ɪɭɫɫɤɨɣ ɤɭɥɶɬɭɪɵ). In: XVIII ɜɟɤ. Bd. 7. Ɇoskau, Leningrad 1966, S. 281. Karamzin: Werkausgabe, S. 640. Ebd.
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In der Erzählung fügen sich die Umstände so günstig, dass die Protagonisten, nachdem sie ihre Verbindung durch eine kirchliche Trauung gefestigt haben, schließlich zurückkehren und die Vergebung des erfreuten Vaters erlangen. Die größte Schärfe und Tragik erreicht der Widerspruch zwischen Gefühl und Moral in Karamzins Erzählung Die Insel Bornholm, die, wie V. E. Vacuro gezeigt hat, mit der Tradition des Gothic Novel zusammenhängt.12 Das Sujet basiert auf einem Inzest: der illegitimen Liebe zwischen einem jungen Mann und der schönen Lila, die durch ihren strengen, aber tugendhaften Vater in einem unterirdischen Verlies gefangen gehalten wird. Trotz der geheimnisvollen Unausgesprochenheit der Erzählung kann der Leser erraten, dass von einer Liebe zwischen Bruder und Schwester die Rede ist. Der junge Mann, den der Erzähler trifft, singt ein Lied, das mit folgenden Worten beginnt: Die Gesetze verurteilen das, was ich liebe; Aber wer, o Herz! Kann sich dir widersetzen?13
Das Gedicht war äußerst populär, wie man an den handschriftlichen Sammlungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erkennen kann, und in einem Band ist sogar eine Variante überliefert, in der der junge Mann sich an seine Geliebte wendet und sie „meine Geliebte und Schwester, meine Frau und treue Freundin“ nennt.14 Jede der Figuren ist unglücklich: die Verliebten leiden ebenso wie der alte Vater, der so gar nicht dem Bösewicht gleicht, der sein unschuldiges Opfer quält. Der Erzähler erwähnt, dass dieser „ehrwürdige weißhaarige Greis“ ihn „mit eine gewissen traurigen Zärtlichkeit“ ansieht und „mit leiser und angenehmer Stimme“ spricht. All das sind typische Eigenschaften eines empfindsamen Helden. Der alte Mann fragt den Reisenden: „Herrscht denn die Liebe auf dem Erdball? Steigt noch der Weihrauch von den Altären der Tugend auf? Geht es den Völkern in den Ländern, die du gesehen hast, noch gut?“ Die Antwort enthält eine der für Karamzin wichtigsten Ideen: „Sie singen der Tugend ein Loblied und streiten über ihr Wesen.“15 So wird der Begriff der „Tugend“, wie V. E. Vacuro feststellt, relativ: Man kann über die Tugend streiten. Aber man wird kaum der Aussage zustimmen können, dass „aus dieser Relativität die Gewalt und das Verbrechen
12
13 14
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Vgl. Vadim E. Vacuro: Ʌɢɬɟɪɚɬɭɪɧɨ-ɮɢɥɨɫɨɮɫɤɚɹ ɩɪɨɛɥɟɦɚɬɢɤɚ ɩɨɜɟɫɬɢ Ʉɚɪɚɦɡɢɧɚ „Ɉɫɬɪɨɜ Ȼɨɪɧɝɨɥɶɦ“. In: Ⱦɟɪɠɚɜɢɧ ɢ Ʉɚɪɚɦɡɢɧ ɜ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɧɨɦ ɞɜɢɠɟɧɢɢ XVIII – ɧɚɱɚɥɚ XIX ɜɟɤɚ. XVIII ɜɟɤ. Bd. 8. Leningrad 1969, S. 190–209. Karamzin: Werkausgabe, S. 663 Vgl. Kocetkova N. D. Zur Geschichte des Gedichts „Die Gesetze veurteilen […]“ von N. M. Karamzin. In Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts 4 (1970), S. 367–372. Karamzin: Wekausgabe, S. 668.
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entsteht“.16 Karamzin meint hier wohl auch nicht jene Formen „empfindsamer Aktivität“, wie sie Gerhard Sauder im Hinblick auf die Anführern der französischen Revolution oder den Marquis de Sade beschreibt.17 Sich von Didaktik und traditionellen Tugendvorstellungen abzuwenden bedeutet für Karamzin keine Abkehr von ethischen Idealen, sondern ein Streben nach humaneren ethischen Prinzipien ohne übertriebenen Rigorismus. In dieser Hinsicht lässt sich eine Parallele ziehen zwischen den Positionen Karamzins und denen der europäischen Humanisten der Renaissance, insbesondere Petrarcas, der mit seiner Unterscheidung der vollkommenen und unvollkommenen Tugend eine eigentümliche Tugendhierarchie aufgestellt hatte.18 In der psychologischen Studie Der Empfindsame und der Kalte. Zwei Charaktere (1803) stellt der Autor traditionelle Tugendvorstellungen in Frage, indem er neue Kriterien zur moralischen Einschätzung des Menschen ausmacht. Karamzin wendet sich gegen die Vorstellung, dass „unsere natürlichen Fähigkeiten und Eigenschaften gleich“ seien und schreibt: In der Welt sehen wir kluge und empfindsame oder kluge und kalte Menschen, und zwar von der Wiege bis zur Bahre, wie das Sprichwort besagt; und ihre moralische Beschaffenheit hängt so wenig von ihrem Willen ab, dass die Überzeugungen ihres Verstandes und alle ihren festen Vorsätze, den eigenen Charakter zu ändern, wirkungslos bleiben.19
Ihm zufolge bevorzugt die traditionelle Tugendkonzeption gefühlskalte Menschen: „Gleichgültige Menschen pflegen in Allem vernünftiger zu sein, ein ruhiges Leben zu führen, sie stiften weniger Unheil und untergraben seltener die Harmonie der Gesellschaft.“ Dennoch sind die Sympathien des Autors ganz auf der Seite der Empfindsamen: „nur die Empfindsamen bringen der Tugend große Opfer oder erstaunen die Welt mit großen Taten […], sie sind es, die mit Talenten der Vorstellungskraft und der schöpferischen Klugheit glänzen.“20 Protagonisten der Erzählung sind der „empfindsame“ Erast und der „kalte“ Leonid, die von Jugend an trotz ihrer ganz unterschiedlichen Charaktere freundschaftlich verbunden sind. In einer Polemik gegen die verbreitete Überzeugung von der allgewaltigen Rolle der Erziehung macht Karamzin folgende Ansage: „Nur die Natur schöpft und gibt: die Erziehung bildet nur. Nur die Natur sät: Kunst oder Lehre begießen nur den Samen […] alle Überzeugungen des Verstandes, alle festen Vorsätze, sich charakterlich zu ändern, bleiben wirkungslos.“21 Im Laufe der Erzählung stellt sich heraus, dass jeder der Protagonisten auf seine Weise tugendhaft ist, die Tugend 16 17 18 19 20 21
Vadim E. Vacuro: Ʌɢɬɟɪɚɬɭɪɧɨ-ɮɢɥɨɫɨɮɫɤɚɹ ɩɪɨɛɥɟɦɚɬɢɤɚ ɩɨɜɟɫɬɢ Ʉɚɪɚɦɡɢɧɚ „Ɉɫɬɪɨɜ Ȼɨɪɧɝɨɥɶɦ“ (wie Anm. 12), S. 208. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit (wie Anm. 1). Bd. 1, S. 207. Vgl. Natalija Ch. Mingaleeva: ɉɟɬɪɚɪɤɚ ɨ ɞɨɛɪɨɞɟɬɟɥɢ (ɜ ɫɜɟɬɟ ɯɪɢɫɬɢɚɧɫɤɨɝɨ ɭɱɟɧɢɹ). In: Ɏɪɚɧɱɟɫɤɨ ɉɟɬɪɚɪɤɚ ɢ ɟɜɪɨɩɟɣɫɤɚɹ ɤɭɥɶɬɭɪɚ. Ɇoskau 2007, S. 38–47. Karamzin: Werkausgabe, S. 741 Ebd. Ebd., S. 740f.
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sich aber bei beiden unterschiedlich zeigt. Während eines Brandes in dem Haus, in dem beide studieren, „brachte Erast den wertvollen Besitz seines Professors in Sicherheit und dachte nicht an den eigenen“, während Leonid, der jenem „Unvernunft“ vorwirft, sich um der eigenen Besitz der beiden Freunde kümmert. Später treten beide die Beamtenlaufbahn an. Kaum hat er seinen Dienst erfolgreich begonnen, kündigt Erast allerdings auch schon; Leonid aber macht trotz der sich ihm entgegenstellenden Schwierigkeiten eine glänzende Karriere. Als Leonid bemerkt, dass Erasts Frau sich für ihn interessiert, handelt er edel: Er verlässt ohne weitere Erklärung das Haus des Freundes. Als sich aber Erast in einer analogen Situation befindet, da er sich in Leonids Frau verliebt hat, kann er seiner Leidenschaft nicht widerstehen, und nur die Einmischung des vernünftigen Ehemannes verhindert eine tragische Auflösung. Aber zugleich legt Erast Großmut an den Tag, als er heimlich Leonids Schwiegervater aus einer finanziellen Notlage befreit. Leonids vernünftige Tugend zeigt sich ständig in den verschiedensten Situationen, aber seine trockene und umsichtige Art macht ihn für die Menschen unattraktiv. Die Tugend des empfindsamen Erast ist von anderer Art: Seine Handlungen sind widersprüchlich, er kann auch von den strengen Vorschriften der Moral abweichen, aber seine Aufrichtigkeit und sein Edelmut machen ihn anziehend. So scheint selbst der Begriff der Tugend zweideutig zu sein. Die Berücksichtigung der emotionalen Sphäre erlaubt es, tiefer in die menschliche Psychologie einzudringen und die Eindimensionalität ethischer Kriterien zu überwinden. Für viele Zeitgenossen Karamzins war seine Einstellung zu überkommenen Moralvorstellungen noch inakzeptabel, obwohl die Leser Karamzins Erzählungen mit Begeisterung aufnahmen. Das Thema des Selbstmordes beispielsweise wurde unter dem Einfluss von Goethes Werther in der russischen Literatur durchaus variiert, aber dennoch lange mit äußerster Vorsicht behandelt. So beschreibt Maria Boske in dem Prosagedicht Abendspaziergang (1799) ein Treffen mit einem traurigen alten Mann, der den Tod seiner Tochter und ihres Bräutigams betrauert. Er kann sich nicht entschließen, sich das Leben zu nehmen, mit der Begründung: „Die Religion, die heilige Religion hält mich zurück.“22 Eine indirekte Polemik gegen den Autor der Armen Lisa zeigt sich auch in den Werken einiger weiterer Autoren. In Pavel L’vovs Erzählung Dascha, das Dorfmädchen (1803) berichtet die Titelheldin von ihrer Liebe zu einem jungen Edelmann: „Wir trafen uns fast jeden Tag; wir konnten uns aneinander nicht satt sehen, wir hatten nie genug an Worten und Zärtlichkeit. […] Sollen doch forsche Menschen mich verleumden, wie sie wollen, aber Gott ist mein Zeuge, dass er mir niemals Schande angetan hat, und dass er mich mit keinem Wort auch nur in Verlegenheit brachte.“23 Als eine Freundin Daschas ihr sagt, dass ihr Geliebter vielleicht schon „irgendeine reiche 22 23
ɂɩɩɨɤɪɟɧɚ: ɢɥɢ ɍɬɟɯɢ ɥɸɛɨɫɥɨɜɢɹ [1799]. Teil 3, S. 284. Ɋɭɫɫɤɚɹ ɫɟɧɬɢɦɟɧɬɚɥɶɧɚɹ ɩɨɜɟɫɬɶ (wie Anm. 4), S. 65f.
Gefühl und moralisches Handeln
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Dame“ geheiratet und sie selbst verlassen haben könnte, antwortet sie: „Soll er doch eine Prinzessin heiraten; soll er glücklich sein; ich würde Gott auch dafür danken, wenn ich ihn nur sehen könnte.“24 Indem er den Konflikt aus Karamzins Erzählung wiederholt, stellt L’vov seine tugendhafte Heldin der armen Lisa gegenüber, die zunächst der Versuchung nachgibt und anschließend die Nachricht von Erasts Heirat tragisch aufnimmt. Der Autor der Erzählung Dascha, das Dorfmädchen verurteilt auch Lisas Selbstmord. Als L’vovs Erzählung 1804 ins Deutsche übersetzt wurde und unter dem Titel Die arme Dascha erschien, wusste ein Zeitgenosse mitzuteilen: „[D]er Autor war äußerst unzufrieden, dass seine tugendhafte und keusche Dascha vom Übersetzer ebenso betitelt worden war wie die verführte Selbstmörderin – die arme Lisa.“25 Sogar Vladimir Ismailov, der zu Recht als Nachfolger Karamzins gilt, umgeht in seiner Erzählung Die schöne Tatjana, die am Fuße der Vorobyinye Gory lebte (1804) das Motiv der Verführung der Heldin mit größter Vorsicht. Seine Protagonisten sprechen ständig von der Tugend. Tatjana versichert ihrem Vater: „Nur wenn ich aufhöre, dich zu lieben, höre ich auf, die Tugend zu lieben.“26 Als der „vornehme junge Mann“ Melton auf sie aufmerksam wird, beginnen die Dorfbewohner „mit listigen Schmunzeln auf sie zu deuten und mit bedeutungsvoller Miene zu tuscheln“.27 Melton aber, der nicht nur „große Leidenschaft“, sondern auch „Liebe zur Tugend“ besitzt, überwindet sich und setzt sich für Tatjanas Beziehung zu ihrem geliebten Philipp ein. Die Erzählung Die Insel Bornholm wurde zum Teil entschieden verurteilt. So schrieb beispielsweise S. S. Bobrov in einem Text, der nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde: „die Verirrung liegt hier in den Gefühlen selbst. Geliebte und Schwester!.. Die schreckliche Wollust zwischen Bruder und Schwester mit den Gesetzen der Natur zu rechtfertigen, als hätten wir die ersten Jahre des Goldenen Zeitalters […].“28 Mehr als zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Erzählung Die Insel Bornholm, im Jahre 1815, zog diese die Aufmerksamkeit der Zarin Maria Fedorovna, der Witwe Pauls I auf sich (der geborenen württembergischen Prinzessin Sophia Dorothea Auguste Luisa). Am 16. August 1816 schrieb Karamzin ihr Folgendes: Eure kaiserliche Hoheit war so gnädig, an dem Leiden der Unbekannten von Bornholm Anteil zu nehmen und ihr Schicksal dadurch zu verändern: Nachdem sie durch die unerbittliche Strenge ihres Vaters in einer dunklen Höhle hatte leben müssen, hat sie jetzt das Licht erblickt 24 25 26 27 28
Ebd., S. 67. Vgl. Natalya D. Kochetkova: Ʌɢɬɟɪɚɬɭɪɚ ɪɭɫɫɤɨɝɨ ɫɟɧɬɢɦɟɧɬɚɥɢɡɦɚ (ɗɫɬɟɬɢɱɟɫɤɢɟ ɢ ɯɭɞɨɠɟɫɬɜɟɧɧɵɟ ɢɫɤɚɧɢɹ). St. Petersburg 1994, S. 67 (Kursivierung durch Verfassserin). Ɋɭɫɫɤɚɹ ɫɟɧɬɢɦɟɧɬɚɥɶɧɚɹ ɩɨɜɟɫɬɶ (wie Anm. 4), S. 161. Ebd., S. 162. Jurij Lotman, B. Uspenskij: ɋɩɨɪɵ ɨ ɹɡɵɤɟ ɜ ɧɚɱɚɥɟ XIX ɜɟɤɚ ɤɚɤ ɮɚɤɬ ɪɭɫɫɤɨɣ ɤɭɥɶɬɭɪɵ („ɉɪɨɢɫɲɟɫɬɜɢɟ ɜ ɰɚɪɫɬɜɟ ɬɟɧɟɣ, ɢɥɢ ɋɭɞɶɛɢɧɚ ɪɨɫɫɢɣɫɤɨɝɨ ɹɡɵɤɚ“ – ɧɟɢɡɜɟɫɬɧɨɟ ɫɨɱɢɧɟɧɢɟ ɋɟɦɟɧɚ Ȼɨɛɪɨɜɚ). In: ɍɱɟɧɵɟ ɡɚɩɢɫɤɢ Ɍɚɪɬɭɫɤɨɝɨ ɭɧɢɜɟɪɫɢɬɟɬɚ. ȼɵɩ. 358. Ɍɪɭɞɵ ɩɨ ɪɭɫɫɤɨɣ ɢ ɫɥɚɜɹɧɫɤɨɣ ɮɢɥɨɥɨɝɢɢ. XXIV. Tartu 1975, S. 276.
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Natalija D. Kochetkova und ebenso den Melancholiker von Gravesend, der ihr um den Hals fiel mit dem Ausruf: „Du bist nicht meine Schwester, sondern meine Ehefrau!“ Sie verließen die Höhle, heirateten und bezogen ein kleines Haus, das nicht mehr wieder zu erkennen ist: es wurde renoviert und das Unkraut im Garten gejätet. Der alte Hausherr, entzückt von der nunmehr legitimen Liebe seiner Tochter und seines Schwiegersohns, gibt Bälle und tanzt selbst die Polka, und in die finstere Höhle, wo die blasse, schmachtende Schöne saß, wollen sie den gelbgesichtigen, beleibten Napoleon setzen, falls irgendein Sturm ihn nach Bornholm wehen sollte.29
Die offene Ironie, mit der Karamzin hier das tragische Sujet einem banalen Ende zuführt, in dem die Tugend triumphiert und der Gegensatz zwischen Tugend und Gefühl vollends aufgehoben ist, ist nicht zu übersehen. Die Erwähnung des „gelbgesichtigen, beleibten Napoleon“ verleiht dem neuen Sujet eine vollends scherzende Note. Ohne sich von seinen frühen Werken loszusagen, widmete Karamzin sich zu dieser Zeit ganz und gar der Arbeit an seiner Geschichte des russischen Reiches, und die psychologische Erfahrung, die er als Belletrist gesammelt hatte, konnte er sich als Historiker zunutze machen. In seinen Beschreibungen der Schicksale und Charaktere historischer Persönlichkeiten bemüht er sich, jene inneren Motive zu erklären, die zu einer bestimmten Handlungsweise führen. Karamzins unverstellter Blick auf moralische Phänomene manifestierte sich also auch in seinen historischen Schriften, die einen kaum zu ermessenden Einfluss auf die klassische russische Literatur des 19. Jahrhunderts ausübten.
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ɇ. Ɇ. Ʉɚɪɚɦɡɢɧ ɜ ɩɟɪɟɩɢɫɤɟ ɫ ɢɦɩɟɪɚɬɪɢɰɟɸ Ɇɚɪɢɟɣ Ɏɟɞɨɪɨɜɧɨɣ. In: Ɋɭɫɫɤɚɹ ɫɬɚɪɢɧɚ 10 (1898), S. 36.
NATALIE SCHNEIDER (Greifswald)
Der Brief als emotionale Kommunikation unter Freunden: Chemnicer, Deržavin, Kapnist und L’vov Im Russland des 18. Jahrhunderts entstanden, als Voraussetzung und zugleich als Produkt eines neuen bürgerlichen Bewusstseins, literarische Zirkel bzw. Gesellschaften,1 die am Ende des Jahrhunderts schon breite Kreise umfassten. Die Mitglieder dieser Kreise traten für die Verbreitung aufklärerischen Wissens ein. Von Epoche zu Epoche vollzog sich der Form- bzw. Typenwandel literarischer Gruppen genauso wie ihre soziale und historische Bedeutung; so waren literarische Zirkel und Salons in Russland am Anfang des 19. Jahrhunderts besonders verbreitet, aber schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts sind einige Salons sowie seit den 1730er und 1740er Jahren intime literarische Zirkel in Russland nachweisbar.2 Als Beispiel eines literarischen Freundeskreises der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann der Chemnicer-Kapnist-L’vov-Deržavin-Zirkel3 dienen. Das gemeinsame Interesse an Bildung, Kultur und Literatur sowie der gemeinsame Traum, etwas Neues zu schaffen, ließen die Dichter am Ende der 70er Jahre zusammen kommen. Ihr Leben lang blieben die Mitglieder befreundet und durch gemeinsame Tätigkeiten verbunden. Freundschaftskonzepte4 verändern sich während historischer Prozesse und haben unterschiedliche Inhalte in der Literatur der verschiedenen Epochen. In der Frühen Neuzeit galt Freundschaft als rationalisierbar und war auf die Tugend als Grundlage und Ziel ausgerichtet. Die gegenseitige Unterstützung brachte Mitgliedern geselliger Kreise literarisch Gleichgesinnter gesellschaftliche Vorteile, die sich aus der Exklusivität des Kreises ergaben. Die Intimität freundschaftlicher Beziehungen war literarisch noch kaum fassbar. Auch in der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in Russland die Freundschaft als ein unentbehrlicher Teil und die wichtigste Bedingung der Tugend verstanden. Das ganze Unglück der Menschen liege an ihren Schwächen und an der Verachtung der Tugend. Ein Freund aber sei imstande, das fehlerhafte Verhalten des Menschen zu korrigieren und ihn auf den 1
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Vgl. Richard van Dülmen: Freundschaftskult und Kultivierung der Individualität um 1800. In: Richard van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln, Weimar u. Wien 2001, S. 267–286. Vgl. Mark Aronson u. Solomon Rejser: Literaturnye kružki i salony. SPb 2001 sowie Nikolaj Brodskij (Hg.): Literaturnye salony i kružki. Pervaja polovina XIX veka. Hildesheim, Zürich u. New York 1984 [ND der Ausg. Moskau, Leningrad 1930], S. V. Hier sind folgende Dichter gemeint: Ivan Chemnizer (1745–1784), Gavrila Deržavin (1743– 1816), Vasilij Kapnist (1757–1823) und Nikolaj L’vov (1751–1803). Vgl. Ferdinand van Ingen, Christian Juranek (Hg.): Ars et amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Festschrift für Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juli 1998. Amsterdam 1998, S. 46–48, 173–175.
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richtigen Weg zu lenken – derartige Einlassungen konnte man z.B. in einer russischen Zeitschrift wie ɉɨɥɟɡɧɨɟ ɭɜɟɫɟɥɟɧɢɟ lesen,5 in der um Michail Cheraskov gruppierte junge Dichter und Studenten der Moskauer Universität ihre epistolarischen poetischen Werke in den Jahren 1760 bis 1762 publizierten. In der Oktoberausgabe 1760 wurde ein Artikel mit dem Titel Über die Freundschaft veröffentlicht. In ihm stand, dass die Tugend selbst die Freundschaft erschaffe. Während aber Freundschaft in der Mitte des Jahrhunderts noch als eine Erscheinung der pragmatischen Welt, als ein Mittel der Verbesserung des Menschen betrachtet wurde, reduzierte sich zum Ende des 18. Jahrhunderts sowie Anfang des 19. Jahrhunderts der rationale Aspekt zugunsten eines emphatischen Freundschaftsbegriffs. In den Vordergrund traten Kategorien wie Liebe und Bildung. Freundschaft wurde als Zusammenschluss gleich gesinnter und gebildeter Menschen verstanden, die gegenseitige Anerkennung genossen. Sie wurde als wesentliche, für die schöpferische Tätigkeit eines Dichters unentbehrliche Lebensform angesehen. Die gefühlvolle Freundschaft wird auch zum zentralen Thema poetischer Sendschreiben und Briefe. Hier wird die Fähigkeit zur Freundschaft zu den wertvollsten menschlichen Eigenschaften gerechnet. Besonders sichtbar wird das in der Zeit der Romantik, die auch ein neues Individualitätsbewusstsein herausbildet. Gavriil Romanoviþ Deržavin widmete in seinem Notizbuch eine ganze Rubrik diesem Thema. Neben Abschnitten Über die Geschichte, Über Sprachen, Über die Einbildungskraft findet man auch solche mit den Titeln Über die Ehe und das Junggesellentum und Über Liebe und Freundschaft. Er schreibt: Ⱦɪɭɠɛɚ ɭɜɟɥɢɱɢɜɚɟɬ ɪɚɞɨɫɬɶ ɫɭɝɭɛɨ ɢ ɭɦɟɧɶɲɚɟɬ ɫɤɨɪɛɢ ɞɨ ɩɨɥɨɜɢɧɵ. ȼ ɝɨɪɨɞɚɯ ɫɚɦɵɯ ɦɧɨɝɨɥɸɞɧɵɯ ɦɨɠɧɨ ɧɚɣɬɢ ɜɟɥɢɤɨɟ ɭɟɞɢɧɟɧɢɟ. ɇɨ ɱɟɥɨɜɟɤ ɟɞɢɧɫɬɜɟɧɧɨ ɬɨɬ ɟɞɢɧ, ɤɨɬɨɪɵɣ ɧɟ ɢɦɟɟɬ ɞɪɭɡɟɣ; ɜɫɟɥɟɧɧɚɹ ɞɥɹ ɧɟɝɨ ɧɟ ɢɧɨɟ ɱɬɨ, ɤɚɤ ɨɛɲɢɪɧɚɹ ɩɭɫɬɵɧɹ, ɦɟɫɬɨ ɫɫɵɥɤɢ ɢ ɩɟɱɚɥɢ. Ʉɨɝɞɚ ɱɟɥɨɜɟɤ ɩɨɠɢɪɚɟɬ, ɬɚɤ ɫɤɚɡɚɬɶ, ɫɨɛɫɬɜɟɧɧɨɟ ɫɟɪɞɰɟ ɫɜɨɟ; ɢ ɤɚɤ ɨɧ ɡɚɜɟɪɬɵɜɚɟɬɫɹ ɜ ɩɟɱɚɥɶ ɫɜɨɸ, ɬɨ ɫɤɨɪɨ ɨɬɱɚɹɧɢɟ ɢ ɭɠɚɫɧɚɹ ɧɟɧɚɜɢɫɬɶ ɤ ɫɚɦɨɦɭ ɫɟɛɟ ɞɨɜɟɪɲɚɸɬ ɢɡɧɭɪɟɧɢɟ ɟɝɨ, ɟɠɟɥɢ ɨɧ ɧɟ ɢɦɟɟɬ ɜɟɪɧɨɝɨ ɞɪɭɝɚ, ɤɨɬɨɪɵɣ ɛɵ ɢɫɬɨɪɝ ɟɝɨ ɫɬɪɚɯɢ, ɩɨɞɨɡɪɟɧɢɹ ɟɝɨ, ɟɝɨ ɦɪɚɱɧɵɟ ɡɚɛɨɬɵ ɢ ɦɭɱɟɧɢɹ.6
Als Mittel der Kontaktpflege sowie des Erfahrungs- und Wissensaustausches zwischen Freunden verbreitete sich der Briefwechsel besonders im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Dadurch wurden auch dauerhafte Freundschaften trotz der räumlichen Distanz aufrechterhalten. Es vollzog sich ein Funktionswandel des Mediums Brief, was auch als Folge eines umfassenden Verschriftlichungsprozesses der eu5 6
„Nützliche Vergnügung“ [Übers. N. S.] „Die Freundschaft vergrößert besonders die Freude und verkleinert den Kummer um die Hälfte. Selbst in den dichtbevölkerten Städten kann man die größte Einsamkeit vorfinden. Aber nur derjenige Mensch ist einsam, der keine Freunde hat; das ganze Universum ist für ihn nichts Anderes als eine weite Wüste, als ein Ort der Verbannung und der Trauer. Wenn der Mensch sozusagen sein eigenes Herz verschlingt und sich in seine Trauer einhüllt, so enden bald Verzweiflung und schrecklicher Hass sich selbst gegenüber in seiner Erschöpfung. Dies passiert, wenn er keinen treuen Freund hat, der ihn seinen Ängsten, Verdächtigungen und seinen finsteren Sorgen sowie Qualen entreißen könnte.“ [Übers. N. S.] (OR RNB F. 247 t. 2 l. 175).
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ropäischen Kulturen angesehen werden könnte. Nicht mehr nur das Vermitteln der Sachinformation war wichtig, sondern das Erlebte, die Gefühle und Empfindungen traten in den Vordergrund. Das Erlebte sollte durch die Sprache reflexiv beschrieben, durchdacht und im Brief der vertrauten Person vermittelt werden. Die Briefkultur basierte nun auf den Anregungen der Erlebniskultur. […] Lebhafte Personen stellen sich schon bei ihren Selbstgesprächen manchmal einen abwesenden Freund als gegenwärtig vor, dem sie ihre innersten Gesinnungen mitteilen, und so ist auch der Brief eine Art von Selbstgespräch. Denn oft wird ein Freund, an den man schreibt, mehr der Anlass als der Gegenstand des Briefes. Was uns freut oder schmerzt, drückt oder beschäftigt, löst sich von dem Herzen los […].7
Die physische Trennung der Freunde führte zum Ausleben der Beziehung in der schriftlichen Kommunikation, in der der gefühlsvollen und zärtlichen Semantik eine große Rolle zugewiesen wurde. Das wesentliche Streben in solchen Briefen galt nicht der Informationsvermittlung, sondern der Wirkung auf den Adressaten. Strategisch war relevant, „sich selbst als Person zu erfinden und für den anderen sichtbar zu machen“.8 Die Selbstthematisierung und das Finden des eigenen Ichs konnten in drei Gattungen, nämlich in Brief, Tagebuch und Autobiographie, vollzogen werden. Briefe werden von einigen Wissenschaftlern als Biographiegeneratoren9 verstanden, weil sie „Einfluss auf Inhalt und Struktur der in ihnen erprobten Kontingenzspielräume sozialer Identitätskonstruktion“10 nehmen. Als das Subjekt und seine Welt im 18. Jahrhundert in vielen Lebensbereichen ins Zentrum rückte, führte dies zu wesentlichen Veränderungen im Briefverkehr. Gerade in der von der Peripherie ins Zentrum gerückten Gattung Brief fanden die „Literarisierung und Individualisierung der Gesellschaft“ ihre Realisierung.11 In Russland wurde der Rückzug ins Private später als in Europa, erst ab den 70er Jahren erkennbar. Anstelle von Gesellschaft und Staat wurde in der Literatur dem privaten, intimen Leben sowie dem Individuum immer häufiger der Vorrang gegeben. Klassizistische Themen und Gattungen existierten dabei gleichzeitig mit 7
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Johann Wolfgang Goethe: Winkelmann und sein Jahrhundert. Mit einer Einl. u. einem erläut. Reg. v. Helmut Holtzhauer. Leipzig 1969, S. 45f. Auch Sibylle Schönborn vergleicht den Brief mit einem Gespräch von zwei vertrauten Menschen. Dieser Dialog wird „in ein anderes Medium, die Schrift“ überführt (Sibylle Schönborn: Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode. Tübingen 1999, S. 5). Ebd., S. 53. Vgl. Alois Hahn, Herbert Willems: Zivilisation, Modernität, Theatralität. Identitäten und Identitätsdarstellungen. In: Ders., Martin Jurga (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 210f. Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003, S. 41. Koschorke unterstreicht die identitätsstiftende Rolle der Schrift: „[D]ie Schrift als Medium […] entführt in die Welt des Nicht-Existenz, lässt Trugbilder entstehen, an die sich beliebige Wünsche heften, setzt Autoren und Leser in ein anonymes und dadurch imaginativ und erotisch vieldeutiges Verhältnis“ (Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 419). Schönborn: Das Buch der Seele (wie Anm. 7), S. 3.
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den neu zum Vorschein gekommenen sentimentalistischen Tendenzen. Die Briefe des in diesem Artikel beschriebenen Freundeskreises nahmen ihren Anfang und die partielle Fortsetzung in der Zeit der Herausbildung eines neuen Stils und der späteren Zerstörung des alten Gattungssystems mit der anschließenden Sprachreform. Die Briefkommunikation der Mitglieder dieses Freundeskreises war zunächst eher sachlich und verstandesorientiert. Die Schreibenden waren in der Äußerung ihrer Gefühlsregungen noch scheu und zurückhaltend, als ob sie den Grund in diese Richtung abtasteten. Die aus den Zeilen ablesbare Vertrautheit führte nicht zur vollen Preisgabe der intimen Lebenswelt. Die Spuren der neu entstehenden Erlebniskultur sind aber schon zu sehen, fallen jedoch anders aus als in der europäischen Briefkultur der Zeit.12 Besonders zu spüren sind sie in den Briefen Chemnicers aus dem weit entfernten Smyrna. Chemnicer hatte ein unwiderstehliches Verlangen nach seinen abwesenden Freunden – insbesondere nach den jüngeren, L’vov und Kapnist. Zu L’vov und seiner Familie hatte Chemnicer ein besonders inniges Freundschaftsverhältnis. Er unterhielt sich mit ihnen mittels Briefen und sehnte sich nach persönlichen Treffen, Gesprächen und Wärme sowie nach dem Wiederholen der früher gemeinsam durchlebten Tage. Seine Briefe werden zu einem Erkenntnisraum der Bedeutung der Freundschaft, die dem einsamen Chemnicer viel Kraft zum Leben und Überleben gab. Nur dank diesem Gefühl des persönlichen Rückhaltes konnte er in der Ferne durchhalten: „[…] ɫɤɚɠɭ ɬɟɛɟ, ɱɬɨ ɩɢɫɶɦɚ ɨɬ ɜɚɫ, ɚ ɨɫɨɛɥɢɜɨ ɨɬ ɬɟɛɹ, ɜɟɫɶɦɚ ɦɧɨɸ ɨɠɢɞɚɟɦɵ. Ɍɨɥɶɤɨ ɭ ɦɟɧɹ ɢ ɩɪɚɡɞɧɢɤɚ.“13 Die Art des Schreibens – Stil sowie formale Kriterien – hängen noch in starkem Maße von den gesellschaftlichen Kommunikationsnormen der Zeit ab. Diese spiegelten sich in den so genannten Briefstellern (= Briefsammlungen, Brieflehren) wider. Einige Prozesse, die in der epistolarischen Kultur Russlands des 18. Jahrhunderts abliefen, sind anhand der in jener Zeit verbreiteten Briefsteller nachzuvollziehen. Die Briefsteller spiegelten die Praxis des Verfassens von Briefen wieder und beeinflussten sie. Vor dem Hintergrund ihrer Existenz wurden individuelle und literarisch bedeutsame epistolarische Kodizes herausgebildet, darunter auch die Stilistik der freundschaftlichen Briefe („ɞɪɭɠɟɫɤɨɟ ɩɢɫɶɦɨ“). In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die russischen Briefsteller Übersetzungen aus dem Deutschen, in der zweiten Hälfte vollzog sich eine Umorientierung zum Französischen. Russische Briefsteller kopierten die übersetzten Originale aber nicht 12
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„ɉɢɫɶɦɨ ɭɫɤɨɪɹɥɨ ɩɪɨɰɟɫɫ ɫɬɚɧɨɜɥɟɧɢɹ ɫɟɧɬɢɦɟɧɬɚɥɢɡɦɚ ɜ ɪɭɫɫɤɨɣ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɟ, ɛɵɥɨ ɨɞɧɨɣ ɢɡ ɩɟɪɜɵɯ ɝɥɚɜ ɟɝɨ.“ / „Der Brief beschleunigte den Entwicklungsprozess des Sentimentalismus in der russischen Literatur. Er war einer der ersten seiner Abschnitte.“ [Übers. N. S.] (Rimma Lazarþuk: Družeskoe pis´mo vtoroj poloviny XVIII veka kak javlenie literatury. Avtoreferat diss. na soiskanie uþ. step. Kand. filolog. nauk. Leningrad 1972, S. 18). „[I]ch sage dir, dass Briefe von euch, und besonders von dir, sehnlich von mir erwartet werden. Allein dies bringt mir Freude.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 10.1782. In: Ivan Ivanoviþ Chemnicer. Soþinenija i pis’ma. Hg. v. Jakov Grot. Sankt-Peterburg 1873, S. 63).
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wortwörtlich, sondern jeder Übersetzer vermischte nach eigenem Verständnis und persönlicher Auffassung einzelne Teile der französischen bzw. deutschen Vorlagen. In ihrem Artikel Ɋɭɫɫɤɢɟ ɩɢɫɶɦɨɜɧɢɤɢ ɫɟɪɟɞɢɧɵ XVIII – ɩɟɪɜɨɣ ɬɪɟɬɢ XIX ɜ. ɢ ɷɜɨɥɸɰɢɹ ɪɭɫɫɤɨɝɨ ɷɩɢɫɬɨɥɹɪɧɨɝɨ ɷɬɢɤɟɬɚ14 führt Elena Dmitrieva einige Briefsteller an und zeigt ihre Evolution fast innerhalb des ganzen Jahrhunderts. Eine Rubrik für Freundschaftsbriefe war in den Briefstellern des ganzen 18. Jahrhunderts vorhanden, in der sich die freundschaftlichen Briefe aber von den anderen weder in funktionaler noch in stilistischer Hinsicht unterschieden. Man fand unter anderem die Einteilung in bittende, Beileid ausdrückende oder nach einem Ratschlag fragende Schreiben. Erst Nikolaj I. Novikov ging in dem Briefsteller unter dem Titel Ʉɪɚɬɤɢɟ ɩɪɚɜɢɥɚ, ɫɩɨɫɨɛɫɬɜɭɸɳɢɟ ɤ ɧɚɭɱɟɧɢɸ ɫɨɱɢɧɹɬɶ ɪɚɡɧɨɝɨ ɪɨɞɚ ɩɢɫɶɦɚ, ɫ ɩɪɢɨɛɳɟɧɢɟɦ ɩɪɢɦɟɪɨɜ ɢɡ ɫɥɚɜɧɟɣɲɢɯ ɩɢɫɚɬɟɥɟɣ,15 den er aus dem Französischen übersetzt hatte und im Jahre 1788 in Moskau publizierte, auf die Spezifik freundschaftlicher Briefe ein. Ausführlicher werden solche Briefe in den Briefstellern des 19. Jahrhunderts behandelt. Aufklärende Ansichten Novikovs beeinflussten die Erläuterungen von Themen sowie die Auswahl von Texten, die sich im Gegensatz zu den vorherigen Briefstellern nicht auf anspruchslose stereotype Muster, sondern auf herausragende literarische Beispiele stützte. Genauso unterschiedlich war die Einstellung zum obligatorischen Zeremoniell. Im Hinblick auf die erste kompilative Übersetzung eines französischen Briefstellers ins Russische von 1765,16 deren Text mit verschiedenen Modifikationen bis in die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts in den russischen Briefstellern präsent war, riet Novikov, solche konventionellen künstlichen Formeln und schematischen Ausdrücke nur in den Briefen an offizielle Personen oder Gönner zu verwenden. Briefe an Freunde solle man dagegen in einfachen Ausdrücken, ohne Verheimlichung von Gefühlen schreiben und dabei „ɡɚɢɦɫɬɜɨɜɚɬɶ ɦɵɫɥɢ ɨɬ ɫɟɪɞɰɚ“.17 Neue Forderungen thematischer als auch sprachlicher Art finden sich in einem Briefsteller, der unter dem Titel ɇɨɜɵɣ ɢ ɩɨɥɧɵɣ ɩɢɫɶɦɨɜɧɢɤ, ɢɥɢ ɩɨɞɪɨɛɧɨɟ ɢ ɹɫɧɨɟ ɧɚɫɬɚɜɥɟɧɢɟ, ɤɚɤ ɩɢɫɚɬɶ ɤɭɩɟɱɟɫɤɢɟ, ɤɚɧɰɟɥɹɪɫɤɢɟ […] ɞɪɭɠɟɫɤɢɟ ɩɢɫɶɦɚ18 (vermutlich von P. I. Bogdanoviþ) im Jahre 1791 in Sankt Petersburg herausgegeben wurde. Zum ersten Mal wurde im theoretischen Teil des Briefstel14
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„Russische Briefsteller aus der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und die Evolution der russischen epistolarischen Etikette“ [Übers. N. S.] (Elena Dmitrieva: Russkie pis´movniki serediny XVIII – pervoj treti XIX v. i ơvoljucija russkogo ơpistoljarnogo ơtiketa. In: Izvestija AN SSSR, t 45, ʋ 6 (1986), S. 543–552). „Kurze Regeln, die zum Verfassen von Briefen jeglicher Art hilfreich sind, mit dem Einfügen von Beispielen von den berühmtesten Schriftstellern.“ [Übers. N. S.] „ɇɚɫɬɚɜɥɟɧɢɟ, ɤɚɤ ɫɨɱɢɧɹɬɶ ɢ ɩɢɫɚɬɶ ɜɫɹɤɢɟ ɩɢɫɶɦɚ ɤ ɪɚɡɧɵɦ ɨɫɨɛɚɦ, ɫ ɩɪɢɨɛɳɟɧɢɟɦ ɩɪɢɦɟɪɨɜ ɢɡ ɪɚɡɧɵɯ ɚɜɬɨɪɨɜ“ („Die Belehrung, wie man allerlei Briefe an verschiedene Personen verfasst und schreibt, mit dem Beifügen von Beispielen von unterschiedlichen Autoren“ [Übers. N. S.]), hrsg. 1765 an der Universitätsdruckerei in Moskau. „[D]ie Gedanken dem Herzen entnehmen“ [Übers. N. S.]. „Der neue und vollständige Briefsteller oder eine ausführliche und übersichtliche Belehrung, wie man kaufmännische, Kanzlei- und Freundschaftsbriefe schreibt.“ [Übers. N. S.]
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lers eine Forderung nach einem natürlichen und einfachen Sprachstil sowie nach der Widerspiegelung eines mündlichen Gesprächs zum Ausdruck gebracht. Diese angesprochenen Neuerungen des Briefstils wurden auch im praktischen Teil des Briefstellers an angeführten Texten gezeigt. Freundschaftsbriefe des 18. und 19. Jahrhunderts in Russland wurden besonders in den Arbeiten von Stepanov,19 Makogonenko und Lazarþuk erforscht. Stepanov spricht von einem „schöpferischen Laboratorium“, in dem Besonderheiten des neuen Stils und neuer künstlerischer Methoden angedeutet und erarbeitet werden.20 Als charakteristische Eigenschaften21 eines Freundschaftsbriefes nennt er Mosaikartigkeit und Vermischung verschiedener thematischer sowie stilistischer Schichten, Orientierung auf die mündliche Rede, parodistische Verwendung von poetischen und traditionellen Klischeewörtern des hohen Stils, Wechsel zwischen Prosa und Versen. Rimma Lazarþuk bezeichnete den Brief in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Gattungslaboratorium und eine Schule des Stils.22 Die Briefe seien einen Schritt weiter gegangen als zeitgleich erschienene literarische Texte anderer Art. Auf neue, in der Literatur spürbare Konflikte wurde in den Briefen schnell reagiert. Sie boten mehr Raum für individuelle Artikulation persönlicher Empfindungen. Die Reflexion des neuen sentimentalistischen Bewusstseins und der neuen Weltauffassung erfolgte zuerst in den Briefen, danach erst in den zentralen Prosawerken des Jahrhunderts. Der Brief wurde im Zeitraum von 1760 bis 1800 zur Form der Selbsterkenntnis und des persönlichen Ausdrucks und diente zugleich der Erschließung der Wirklichkeit. In den Briefen der zweiten Hälfte waren schon Züge des epistolarischen Romans und des Essays, einer theatralischen Rezension sowie des Sendschreibens zu beobachten. Diese Entwicklungen beschleunigten den Prozess des Zerfalls der klassizistischen Epistel und führten zur Entstehung des freundschaftlichen Sendschreibens. Grundlegende konstruktive Besonderheiten des Briefes wurden zu gattungsspezifischen Merkmalen des Sendschreibens. Auch die Dichter des in diesem Artikel dargestellten Freundeskreises standen im engen Briefwechsel zueinander, in den auch ihre Ehefrauen miteinbezogen waren. Trotz der räumlichen Trennung seit den 80er Jahren litt die poetische Zusammenarbeit und Freundschaft nicht. Chemnicer arbeitete ab 1782 als Generalkonsul in Smyrna, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1784 blieb. L´vov lebte mit der Familie in Petersburg. Kapnist erschien in dieser Stadt nur im Rahmen seiner dienstlichen, seltener privaten Besuche und verbrachte die meiste Zeit auf seinem Landgut Obuchovka in der Ukraine. Deržavin war als Gouverneur zuerst in Petrozavodsk, dann in Tambov. Die Mitglieder des Freundeskreises trafen im Zeitraum 19 20 21 22
Nikolaj Stepanov: Poơty i prozaiki. Moskva 1966. Ein Kapitel zu Freundschaftsbriefen: „Družeskoe pis’mo naþala XIX v“ (Ebd., S. 66–90). Ebd., S. 69. Ebd., S. 73. Lazarþuk: Družeskoe pis’mo (wie Anm. 12), S. 4.
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von 1784 bis 1816 in unregelmäßigen Abständen zusammen; vor allem aber entstand ein reger Briefwechsel, ein so genanntes „schriftliches Gespräch“. Die Briefe vermitteln den Eindruck eines natürlichen und ungezwungenen Umgangs unter Freunden. Die verbindlichen Regeln, wie sie die Briefsteller bislang vorgeschrieben hatten, werden nicht mehr verwendet. Die Briefe sind offenherzig und lebhaft, haben einen frischen Gesprächston. Sie imitieren das mündliche Gespräch, seine Spontaneität, Natürlichkeit und Kürze. Der Brief orientiert sich an den Themen und Relevanzen des mündlichen Austausches und ermöglicht eine freie ungehemmte Kommunikation. In den Briefen der vier Freunde werden unterschiedliche Themen vermischt, die durch scherzhafte Einfälle, freundschaftliche Spötteleien, zufällige Beobachtungen über alltägliche, politische sowie kulturelle Erscheinungen und Reflexionen über verschiedene Gegenstände (auch über Freundschaft).harmonisch ergänzt werden. Der ungeordnete Wechsel von einem Thema zum anderen sowie unerwartete Wendungen sind durch die Umgangssprachlichkeit und Zufälligkeit des Geplauders motiviert. Genauso mosaikartig ist der Stil des Briefes. In den Briefen werden Formen der mündlichen und der schriftlichen Sprache verwendet. Auch unterschiedliche literarische Elemente, wie Parodien, Gedichte, Scherze und Witze, kommen in den Briefen vor. Die Atmosphäre des freundschaftlichen Zirkels kommt in der Semantik der Anspielungen, absichtlichem Verschweigen, Parodien und Kalauern zum Ausdruck. Eine große Bedeutung für die Freundschaftsbriefe hatte die Vielfalt des häuslichen Materials und der autobiografische Charakter, indem der Schreiber nur eine dem Zirkel eigene Semantik,23 alltägliche umgangssprachliche Ausdrücke und Intonationen einflicht. Freunde konnten unter anderem folgende derbe Ausdrücke bzw. Wörter gebrauchen, die außerhalb des Zirkels eine andere Bedeutung hatten. So wurde im Freundeskreis der Dichter das Wörtchen „ɪɨɠɚ“ (die Fratze) öfter benutzt wie z.B. „Ɂɧɚɟɲɶ, ɤɚɤɨɜɚ ɦɨɹ ɪɨɠɚ, ɤɨɝɞɚ ɧɟ ɢɩɨɯɨɧɞɪɢɱɟɫɤɚɹ?“24 oder „ɜɟɞɶ ɬɵ ɢɧɨɝɞɚ ɬɚɤɚɹ ɪɨɠɚ ɜ ɬɚɤɢɯ ɫɥɭɱɚɹɯ, ɱɬɨ ɭɠ ɫɚɦ ɧɚ ɫɟɛɹ ɧɟ ɩɨɯɨɠ“25 oder „ȼɢɞɢɲɶ, ɱɬɨ ɹ ɬɟɩɟɪɶ ɜɟɫɟɥ; ɚ ɜɫɟ ɨɬ ɬɨɝɨ, ɱɬɨ ɬɵ ɦɟɧɹ ɪɨɠɟɣ ɧɚɡɜɚɥ“.26 Bei L’vov finden wir folgenden Satz: „Ɋɚɞ ɹ, ɤɚɤ ɤɨɛɟɥɶ, ɬɚɤ ɫɤɚɡɚɬɶ […] ɱɬɨ ɜɚɦ ɜɟɫɟɥɨ ɢ ɦɧɟ ɥɸɛɨ!“27 Auf solche Weise drückte er seine große Freude aus, dass sich das Ehepaar Deržavin am neuen Ort, 23 24
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Ebd., S. 14. „Weißt du, wie meine Fratze aussieht, wenn sie nicht hypochondrisch ist?“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 08.08.1782. In: Ivan Ivanoviþ Chemnicer. Hg. v. Grot [wie Anm. 13], S. 50). „[D]u hast doch manchmal in solchen Fällen so eine Miene, dass du dir selber nicht ähnelst.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 02.07.1783. In: Ebd., S. 85). „Siehst du, dass ich jetzt fröhlich bin? Und alles deswegen, weil du mich ‚Fratze‘ nanntest.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 10/21.01.1783. In: Ebd., S. 78). „Heiter bin ich wie ein Rüde, so zusagen […] dass Ihr fröhlich seid, so dass es auch mir Freude macht.“ [Übers. N. S.] (Nikolaj L’vov an Gavriil Deržavin am 13.08.1786. In: Konstantin Lappo-Danilevskij (Hg.): N. A. L’vov. Ausgewählte Werke. Köln u.a. 1994, S. 328).
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der Stadt Tambov, glücklich fühlt und von der Gesellschaft akzeptiert wird. Dies war für L’vov erfreulich, denn am vorherigen Dienstort Petrozavodsk waren die Deržavins mit vielen Streitsituationen und Unverständnis konfrontiert. Auch Zitate aus eigenen Werken bzw. aus den Werken der Freunde sind für solche Briefe typisch. Einfügungen von Zitaten und Verszeilen haben häufig parodistischen oder ironischen Charakter. Bei seiner Ankunft in Smyrna z.B. wurde Chemnicer von einer Menge neugieriger Menschen empfangen, die sich am Hafenkai versammelt hatten, um den russischen Konsul zu bestaunen. Dieser Anblick erinnerte Chemnicer an seine Fabel „Ɂɟɥɟɧɵɣ ɨɫɟɥ“ („Der grüne Esel“), die er frei nach Gellert übersetzt hatte. „[…] ɜɫɹ ɧɚɛɟɪɟɠɧɚɹ ɩɨɤɪɵɬɚ ɛɵɥɚ ɧɚɪɨɞɨɦ, ɫɨɛɪɚɜɲɢɦɫɹ ɫɦɨɬɪɟɬɶ ɧɚ ɦɟɧɹ. ɋɨɝɪɟɲɢɥ ɹ ɬɭɬ, ɜɫɩɨɦɧɢɥ ɨ ɫɨɛɫɬɜɟɧɧɵɯ ɫɬɢɯɚɯ, ɩɨ ɭɥɢɰɚɦ ɫɦɨɬɪɟɬɶ ɡɟɥɟɧɨɜɚ ɨɫɥɚ ɤɢɩɢɬ ɧɚɪɨɞɭ ɛɟɡ ɱɢɫɥɚ.“28 Im nächsten Brief griff L’vov diesen Vergleich auf und machte einen Scherz daraus, in dem er dem grünen Esel viel Glück wünschte: „ɋɩɚɫɢɛɨ ɡɚ ɩɪɢɩɟɜ ɡɟɥɟɧɨɦɭ ɨɫɥɭ ɳɚɫɬɢɹ. Ʉɚɛɵ ɞɚ ɜɚɲɢɦɢ ɭɫɬɚɦɢ ɦɟɞ ɩɢɬɶ!“29 In diesem Kontext waren auch Kalauer mit dem Namen der Stadt Smyrna typisch. Die Freunde nutzten seine sprachliche Vieldeutigkeit im Russischen zu witzigen Effekten aus. „Ɍɭɪɤɢ ɦɨɢ ɬɟɩɟɪɶ ɤɚɠɟɬɫɹ ɩɪɢɫɦɢɪɟɥɢ. ȼ ɩɪɨɬɱɟɦ ɨɞɧɚɤɨ ɡɞɟɫɶ ɜɨɨɛɳɟ ɧɟ ɬɚɤ ɫɦɢɪɧɨ, ɤɚɤ ɬɵ ɞɭɦɚɟɲɶ. Ɋɟɠɭɬ ɢ ɪɟɠɭɬɫɹ ɜɫɹɤɢɣ ɞɟɧɶ“,30 schreibt Chemnicer. Das gleiche zitiert er aus einem Brief von L’vov: „ɧɟ ɨɱɟɧɶ ɭ ɧɚɫ ɫɦɢɪɧɨ, ɝɨɜɨɪɹɬ ɭ ɜɚɫ?“31 Auch im einzigen gedruckten Brief Kapnists an L’vov, der von Grot in den Anmerkungen zu Chemnicers Briefen angeführt wird, ist das Wortspiel zu finden: „Ɋɚɞɭɸɫɶ, ɱɬɨ ɧɚɲ ɞɪɭɝ ɭɠɟ ɜ ɋɦɢɪɧɟ; ɠɟɥɚɸ ɢɫɤɪɟɧɧɨ, ɱɬɨɛ ɬɚɦ ɜɫɟ ɫɦɢɪɧɨ ɛɵɥɨ […].“32 Einige Briefe sind eher rational, andere sind jedoch voller sensitiver Beschreibungen und offen dargelegter tiefer Gemütsbewegungen. In den Briefen des ältesten Dichters Deržavin etwa kommt die psychologische Analyse des eigenen Seelenzustandes kaum vor, der Begriff „empfindsame Seele“ ist in seinen Briefen noch nicht zu finden. Dafür aber sind übliche, dem Menschen eigene Emotionen, 28
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„[D]er ganze Kai war voll von Menschen, sich versammelnd, um mich zu betrachten. Da versündigte ich mich, erinnerte ich mich an meine eigenen Verse: der grüne Esel wurde durch die Straßen geführt, das unzählige Volk tobt.“ [Übers. N.S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov im Oktober 1782. In: Ivan Ivanoviþ Chemnicer. Hg. v. Grot [wie Anm. 13], S. 63). „Danke für den herrlichen Gesang mit Glückswünschen an den grünen Esel. Wie schön wär´s, wenn du recht hättest!“ [Übers. N.S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 10/21.01.1783. In: Ebd., S. 76). „Meine Türken sind scheinbar zahm geworden. Ansonsten ist es bei uns doch noch nicht so friedlich, wie du denkst.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 31.12.1782. In: Ebd., S. 74f.). „Nicht so ganz idyllisch geht es bei uns vor, wird bei euch gesagt?“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 02.07.1783. In: Ebd., S. 85). „Ich freue mich, dass unser Freund schon in Smyrna ist; wünsche herzlichst, dass da alles ruhig bleibt […]“ [Übers. N. S.] (Vasilij Kapnist an Nikolaj L’vov am 19.12.1782. In: Ebd., Grots Anmerkungen).
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wie Freude, Trauer, Mitleid etc. wie bei allen drei Freunden auch seinen Briefen zu entnehmen. „Ɋɚɞɭɸɫɶ, ɱɬɨ ɡɞɨɪɨɜɨ ɞɨɟɯɚɥ, ɱɬɨ ɡɞɨɪɨɜɚ Ⱥɥɟɤɫɚɧɞɪɚ Ⱥɥɟɤɫɟɟɜɧɚ ɢ ɱɬɨ ɭ ɬɟɛɹ ɡɚɜɟɥɚɫɶ ɜ ɞɨɦɟ ɩɪɟɦɭɞɪɨɫɬɶ, ɚɜɨɫɶ-ɥɢɛɨ ɛɨɥɟɟ ɫɱɚɫɬɶɹ ɬɟɛɟ ɛɭɞɟɬ.“33 Er freut sich über die gute Ankunft seines Freundes zu Hause, über die gute Gesundheit seiner Frau und über die Geburt von Tochter Sof’ja. Dabei wünscht er der Familie seines Freundes natürlich Glück. Selbstanalyse ist in seinen Briefen nicht präsent, er hat Schwierigkeiten, seine Empfindungen auszudrücken. Dennoch findet man in einzelnen Briefen Ausdrücke von Gefühlen, besonders wenn es um Freundschaftshilfe geht. Sein kompromissloser und unverträglicher Charakter, seine Geradlinigkeit und Willkür in einigen Fragen machten ihm das Dienstleben schwer, er schuf sich viele Feinde – sei es im Senat oder während seiner Arbeit als Gouverneur in Petrozavodsk und Tambov. Oft eskalierte die Situation oder mündete gar in unangenehme Gerichtsverhandlungen. Seine treuen Freunde unterstützten Deržavin jedoch immer und halfen ihm nach Kräften und Möglichkeiten, sich aus diesen schwierigen Lagen zu befreien. Sehr bewegend klingen folgende Zeilen an seinen Freund L’vov: „Ȼɥɚɝɨɞɚɪɸ ɬɟɛɹ […] ɤɚɤ ɞɪɭɝɚ, ɧɟ ɫɥɨɜɚɦɢ, ɧɨ ɱɭɜɫɬɜɚɦɢ ɫɟɪɞɟɱɧɵɦɢ. Ⱥɥɟɤɫɚɧɞɪ Ⱥɧɞɪɟɟɜɢɱ (Ȼɟɡɛɨɪɨɞɤɨ) – ɦɨɣ ɚɧɝɟɥ ɛɥɚɝɨɬɜɨɪɢɬɟɥɶ, ɚ ɬɵ – ɟɝɨ ɩɨɦɨɳɧɢɤ ɜɨ ɜɫɟɯ ɫɥɭɱɚɹɯ, ɫɱɚɫɬɢɟ ɦɨɟ ɭɫɬɪɚɢɜɚɸɳɢɯ ɢ ɧɟɫɱɚɫɬɢɹ ɦɟɧɹ ɢɡɛɚɜɥɹɸɳɢɯ.“34 Wie seine Freunde auf die Niederlagen und Misserfolge Deržavins und seiner Frau reagierten, wie sie sich diese schwer zu Herzen nahmen und mit ihm innerlich litten, können wir einem Brief von Kapnist entnehmen: ɍɦɢɪɚɸɳɢɟ ɬɨɝɞɚ ɨɤɨɥɨ ɦɟɧɹ ɫɵɧɵ ɦɨɢ ɧɟ ɡɚɧɢɦɚɥɢ ɜɫɟɣ ɦɨɟɣ ɞɭɲɢ: ɨɧɚ ɛɵɥɚ ɢɫɩɨɥɧɟɧɚ ɫɤɨɪɛɶɸ ɨ ɜɚɫ, ɫɤɨɪɛɢɸ, ɫɜɨɣɫɬɜɟɧɧɨɸ ɬɨɣ ɞɪɭɠɛɟ, ɤɨɬɨɪɨɸ ɹ ɫ ɜɚɦɢ ɫɜɹɡɚɧ ɢ ɤɨɬɨɪɚɹ ɫɨɫɬɚɜɥɹɟɬ ɜɟɥɢɤɭɸ ɱɚɫɬɶ ɦɨɟɝɨ ɛɥɚɝɨɞɟɧɫɬɜɢɹ. Ȼɟɡɫɢɥɟɧ ɩɨɦɨɝɚɬɶ, ɦɧɟ ɨɫɬɚɜɚɥɨɫɶ ɥɢɲɶ ɫɨɫɬɪɚɞɚɬɶ ɫ ɜɚɦɢ. ɇɟɫɤɨɥɶɤɨ ɪɚɡ ɩɪɢɧɢɦɚɥɫɹ ɩɢɫɚɬɶ ɤ ɜɚɦ; ɩɟɪɨ ɩɚɞɚɥɨ ɢɡ ɪɭɤ; ɩɟɱɚɥɶ ɦɨɹ ɧɟ ɧɚɯɨɞɢɥɚ ɫɥɨɜ. ə ɨɩɚɫɚɥɫɹ, ɱɬɨɛ ɢɡɨɛɪɚɠɟɧɢɟɦ ɱɭɜɫɬɜ ɦɨɢɯ ɹ ɧɟ ɪɚɫɬɪɚɜɢɥ ɛɨɥɟɟ ɜɚɲɟɣ ɝɨɪɟɫɬɢ. […] ɹ ɜɚɫ ɥɸɛɥɸ […] ɜɚɲɟ ɫɨɫɬɨɹɧɢɟ ɦɟɧɹ ɪɚɡɞɢɪɚɟɬ.35
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Gavriil Deržavin an Vasilij Kapnist am 17.04.1797. In: Soþinenija Deržavina s ob’jasnitel’ nymi primeþanijami J. Grota. IX t. Hg. v. Jakov Grot. T. VI: Perepiska (1794–1816) i „Zapiski“. Sankt Peterburg 1871, S. 64. „Ich danke dir […] wie meinem Freund nicht mit den Worten, sondern mit herzlichen Gefühlen. Aleksandr Andreeviþ ist mein Engel und Wohltäter, und du bist sein Helfer in allen Situationen, in denen alles zu meinem Glück geregelt wird und ich vom Unglück erlöst werde.“ [Übers. N. S.] (Gavriil Deržavin an Nikolaj L’vov am 29.04.1785. In: Soþinenija Deržavina s ob’jasnitel’nymi primeþanijami J. Grota. IX t. Hg. v. Jakov Grot. T. V: Perepiska. Sankt Peterburg 1869, S. 842). „Meine sterbenden Söhne beschäftigten damals nicht so meine ganze Seele: Sie war von der Trauer um sie erfüllt, vom Leid, das jener Freundschaft eigen ist, durch die ich mit euch verbunden bin und die den größten Teil meines Wohlstandes bildet. Machtlos gewesen, um zu helfen, blieb es mir nur, mit euch mitzuleiden. Einige Male fing ich an, an euch zu schreiben. Aber jedes Mal fiel meine Feder aus den Händen, ich konnte meinen Kummer nicht in Worte fassen. Ich fürchtete, dass die Schilderung meiner Gefühle euer Unglück noch mehr aufwühlte […] ich liebe euch […] eure Lage, euer Gemütszustand zerreißen mich.“ [Übers. N. S.] (Vasilij Kapnist an Gavriil Deržavin am 10.05.1789. In: Ebd., S. 758).
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Das Gefühl der Dankbarkeit hing in den Briefen der Freunde oft mit der Erwähnung von Kindern zusammen. Die Kinder L’vovs und Kapnists besuchten oft die kinderlosen Deržavins in Petersburg sowie auf dem Landgut Zvanka und lebten über längere Zeiten in deren Haus. Deržavin verhalf den Kindern seiner Freunde bzw. Verwandten zu einer Anstellung in der Hauptstadt. Dar’ja Deržavina behandelte ihre Neffen und Nichten wie ihre eigenen Kinder und wurde von ihnen sogar als „zweite Mutter“ bezeichnet. Kapnist und seine Ehefrau waren dem Ehepaar sehr dankbar für die Sorge um ihre Kinder. Umso verständlicher ist die tiefe Betroffenheit Kapnists, wenn er wie ein besorgter Vater über die Zukunft seiner Söhne schreibt: ɑɭɜɫɬɜɢɬɟɥɶɧɟɣɲɟ ɢ ɨɬ ɢɫɤɪɟɧɧɟɝɨ ɫɟɪɞɰɚ ɛɥɚɝɨɞɚɪɸ ɜɚɫ ɡɚ ɫɬɚɪɚɧɢɟ ɜɚɲɟ ɨ ɩɨɦɟɳɟɧɢɢ ɞɟɬɟɣ ɦɨɢɯ. […] ȼɵ ɧɟ ɢɦɟɟɬɟ ɞɟɬɟɣ, ɬɚɤ ɜɵ ɧɟ ɦɨɠɟɬɟ ɫɟɛɟ ɢ ɜɨɨɛɪɚɡɢɬɶ ɬɨɣ ɛɥɚɝɨɞɚɪɧɨɫɬɢ, ɤɨɬɨɪɭɸ ɹ ɢ ɋɚɲɟɧɶɤɚ ɤ ɜɚɦ ɱɭɜɫɬɜɭɟɦ ɡɚ ɫɢɟ ɜɟɥɢɱɚɣɲɟɟ ɨɞɨɥɠɟɧɢɟ. […] ɋɟɪɞɰɟ ɦɨɟ ɬɚɤ ɫɬɟɫɧɢɥɨɫɶ, ɱɬɨ ɹ ɞɨɥɠɟɧ ɤɨɧɱɢɬɶ ɩɢɫɶɦɨ ɦɨɟ. Ɉɛɧɢɦɚɸ ɜɚɫ ɜ ɦɵɫɥɹɯ.36
Im Leben der zwei Freunde Deržavin und Kapnist, gab es nicht nur positive Momente. In den Jahren 1804 bis 1812 war ihr Verhältnis aus bis heute unbekanntem Grund unterbrochen. Auch ihre Ehefrauen, die leibliche Schwestern waren, hatten keinen Kontakt zueinander. Nach vielen Jahren des Schweigens verfasste Kapnist, der jüngere der beiden Freunde, einen sehr emotionalen und gefühlvollen versöhnlichen Brief: Ʌɸɛɟɡɧɵɣ ɞɪɭɝ, Ƚ. Ɋ. ə ɭɜɟɪɟɧ ɱɬɨ ɦɵ ɞɪɭɝ ɞɪɭɝɚ ɥɸɛɢɦ: ɡɚɱɟɦ ɠɟ ɫɥɵɲɤɨɦ (sic) ɞɨɥɝɨ ɩɪɟɞɫɬɚɜɥɹɬɶ ɩɪɨɬɢɜɧɵɹ ɫɟɪɞɟɱɧɵɦ ɱɭɜɫɬɜɚɦ ɪɨɥɢ? […] ɍ ɦɟɧɹ ɦɚɥɨ ɫɬɨɥɶ ɢɫɤɪɟɧɧɨ ɥɸɛɢɦɵɯ ɞɪɭɡɟɣ, ɤɚɤ ɜɵ. […] ȿɫɥɢ ɹ ɛɵɥ ɜ ɱɟɦ-ɧɢɛɭɞɶ ɜɢɧɨɜɚɬ ɩɟɪɟɞ ɜɚɦɢ, ɬɨ ɩɪɨɲɭ ɩɪɨɳɟɧɢɹ. – ȼɫɹɤ ɱɟɥɨɜɟɤ ɟɫɬɶ ɥɨɠɶ: ɹ ɦɨɝ ɩɨɝɪɟɲɢɬɶ, ɬɨɥɶɤɨ ɧɟ ɩɪɨɬɢɜ ɞɪɭɠɟɫɬɜɚ: ɨɧɨ ɛɵɥɨ, ɟɫɬɶ ɢ ɛɭɞɟɬ ɢɫɬɢɧɧɨɸ ɫɬɢɯɢɟɸ ɦɨɟɝɨ ɫɟɪɞɰɚ; […] Ɉɛɧɢɦɟɦ ɦɵɫɥɟɧɧɨ ɞɪɭɝ ɞɪɭɝɚ, ɢ ɩɨɡɚɛɭɞɟɦ ɜɫɟ ɩɪɨɲɟɞɲɟɟ, ɤɪɨɦɟ ɱɭɜɫɬɜɚ, ɛɨɥɟɟ ɬɪɢɞɰɚɬɢ ɥɟɬ ɫɨɟɞɢɧɹɜɲɚɝɨ ɧɚɲɢ ɞɭɲɢ.37
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„Ich danke euch aus tiefem Herzen für alle euren Sorgen um die Unterbringung meiner Kinder […] Ihr seid kinderlos, deswegen könnt ihr euch meine Dankbarkeit nicht vorstellen. Jene Dankbarkeit für diesen größten Gefallen, die ich und Saschen´ka für euch empfinden […] Mein Herz krampft sich so zusammen, dass ich meinen Brief beenden muss. Ich umarme euch in Gedanken.“ [Übers. N. S.] (Vasilij Kapnist an Gavriil Deržavin am 05.12.1813. In: Vasilij Vasil’eviþ Kapnist. Sobranie soþinenij v dvuch tomach. Hg. v. Dmitrij Babkin. T. 2: Perevody. Stat’i. Pis’ma. Moskva, Leningrad 1960, S. 485). „Ich bin überzeugt, dass wir einander gern haben. Wozu dann so lange den herzlichen Gefühlen entgegengesetzte Rollen aufführen? Ich habe wenige so innig geliebte Freunde wie Sie […].“ Dann bittet er Deržavin um Verzeihung, wenn er ihn je beleidigt haben sollte, und versichert, dass er nie gegen die Freundschaft handeln würde. Freundschaft war, ist und bleibt der wahre und wichtigste Bestandteil seines Herzens. „Lassen Sie uns einander umarmen und das Vergangene vergessen, alles außer dem Gefühl, das unsere Seelen mehr als 30 Jahre vereinigte.“ [Übers. N. S.] (Vasilij Kapnist an Gavriil Deržavin am 18.07.1812. In: Soþinenija Deržavina. Hg. v. Grot. T. VI [wie Anm. 33], S. 236f.).
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Auf dieses Schreiben voller Gefühle antwortete Deržavin positiv, aber rational und wortkarg. „ȼ ɞɪɭɠɛɟ ɦɨɟɣ ɜɵ ɧɟ ɞɨɥɠɧɵ ɛɵɥɢ ɧɢɤɨɝɞɚ ɫɨɦɧɟɜɚɬɶɫɹ. […] ə ɝɨɬɨɜ ɜɫɟɝɞɚ ɬɟɛɹ ɨɛɧɹɬɶ, […] ɢ ɜɨɡɨɛɧɨɜɢɬɶ ɩɪɟɠɧɸɸ ɧɚɲɭ ɫɜɹɡɶ.“38 Der Grund für einen solch zurückhaltenden Ton könnte vielleicht darin liegen, dass Deržavin eigene Gefühle nicht in seinen Schreiben offen legen wollte. Er betrachtete den Brief als ein Medium für die Übermittlung wichtiger Informationen, die äußere Welt und nicht das Innenleben musste dem Adressaten vermittelt werden. ȼɚɫɟɧɶɤɚ, […] ɩɢɲɭ ɤ ɬɟɛɟ, ɧɨ ɩɢɲɭ ɜɫɟ ɤɨɪɨɬɤɨ, ɞɥɹ ɬɨɝɨ, ɱɬɨ ɩɭɫɬɢɬɶɫɹ ɤ ɬɟɛɟ ɩɢɫɚɬɶ ɩɪɨɫɬɪɚɧɧɨ, – ɬɨ ɦɵɫɥɶ ɡɚ ɦɵɫɥɶɸ, ɱɭɜɫɬɜɚ ɡɚ ɱɭɜɫɬɜɚɦɢ ɫɥɟɞɭɸɬ; ɧɟ ɭɜɢɞɢɲɶ, ɤɚɤ Ȼɨɝ ɡɧɚɟɬ ɫɤɨɥɶɤɨ ɧɚɩɨɪɟɲɶ, ɚ ɩɨɝɥɹɞɢɲɶ – ɞɟɥɚ ɧɢɱɟɝɨ. Ⱦɨɠɢɞɚɸɫɶ ɧɟɬɟɪɩɟɥɢɜɨ, ɤɚɤ ɫɚɦ ɩɪɢɟɞɟɲɶ; ɬɨɝɞɚ ɞɭɲɭ ɤ ɬɟɛɟ ɫ ɫɥɨɜɚɦɢ ɜɵɩɭɳɭ ɢ ɧɚɩɨɸ ɬɟɛɹ ɦɨɢɦ ɨɬɤɪɵɬɵɦ ɫɟɪɞɰɟɦ.39
In den Briefen ist Platz für sachliche Auskünfte sowie Geschäftsbeziehungen jeglicher Art, Gefühle und Emotionen bleiben laut Deržavin für das mündliche Gespräch reserviert. Chemnicer dagegen schüttete in seinen Briefen dem Freund L’vov sein Herz aus: „ɜɨɬ ɬɟɛɟ, ɦɨɣ ɞɪɭɝ, ɱɬɨ ɧɚ ɞɭɲɟ ɭ ɦɟɧɹ“40 oder „ɇɭ, ɧɚ ɟɬɨɬ ɪɚɡ ɧɟɦɧɨɠɤɨ ɨɬɜɟɥ ɹ ɞɭɲɭ, ɩɨɝɨɜɨɪɹ ɫ ɬɨɛɨɸ ɱɟɪɟɡ ɩɢɫɶɦɨ.“41 In seinen Briefen findet sich das Motiv der Verbannung, der seelischen Einsamkeit in einer Welt, die ihm als Wüste erscheint. „ɨɞɢɧ ɨɞɢɧɟɯɨɧɟɤ, ɧɟ ɫ ɤɟɦ ɫɥɨɜɚ ɦɨɥɜɢɬɶ […] ɜɫɟ, ɱɬɨ ɞɭɦɚɟɲɶ, ɫɤɪɵɬɶ ɜ ɫɟɛɟ ɫɚɦɨɦ“,42 auch ein Jahr nach seiner Ankunft in Smyrna fühlt er sich immer noch allein: „[…] ɩɪɟɞɫɬɚɜɶ, ɱɬɨ ɱɟɥɨɜɟɤ ɜɫɟ ɱɟɥɨɜɟɤ […] ɨɫɬɚɜɹ ɞɪɭɡɟɣ, ɪɨɞɧɵɯ, ɨɬɟɱɟɫɬɜɨ, ɜɞɪɭɝ ɭɜɢɞɢɬ ɫɟɛɹ ɱɟɥɨɜɟɤ ɩɨɫɪɟɞɢ ɧɟɢɡɜɟɫɬɧɨɣ ɟɦɭ ɡɟɦɥɢ, ɨɛɢɬɚɟɦɨɣ, ɝɨɜɨɪɹɬ, ɥɸɞɶɦɢ, ɤɨɬɨɪɵɯ ɧɟ ɧɚɯɨɞɢɬ, ɨɞɢɧ ɛɟɡ ɞɪɭɝɚ, ɛɟɡ ɪɨɞɧɨɜɚ.“43 Besonders sichtbar erscheint bei seinen
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„An meiner Freundschaft hättet ihr nie zweifeln sollen […] Ich bin immer bereit, dich zu umarmen, und unser früheres Verhältnis wieder aufzunehmen.“ [Übers. N. S.] (Gavriil Deržavin an Vasilij Kapnist am 16.08.1812. In: Ebd., S. 243). „Vasen’ka, […] ich schreibe an dich, schreibe aber kurz. Wenn man sich auf das ausführliche Schreiben einlässt, dann folgt ein Gedanke nach dem anderen, Gefühle folgen aufeinander. Ehe man sich versieht, weiß der Kuckuck wie viel Zeug zusammengefaselt wird. In Wirklichkeit aber keine wesentlichen Sachen, nichts Vernünftiges. Ich warte ungeduldig auf dein Kommen, dann werde ich dir meine Seele mit Worten eröffnen und fülle dich mit meinem offenen Herzen an.“ [Übers. N. S.] (Gavriil Deržavin an Vasilij Kapnist am 29.04.1785, Petrozavodsk. In: Soþînenija Deržavina. Hg. v. Grot. T. V [wie Anm. 34], S. 408). „[H]ier ist es, mein Freund, was ich auf der Seele habe.“ [Übers. N.S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 29/18.02.1784. In: Ivan Ivanoviþ Chemnicer. Hg. v. Grot [wie Anm. 13], S. 92). „[A]lso, dieses Mal redete ich mir alles von der Seele, als ich mit dir brieflich sprach.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov im Oktober 1782. In: Ebd., S. 68). „[V]öllig einsam, kein einziges Wort aussprechen können […] alles, woran man denkt, in dir selber zu verstecken.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 20.11.1782. In: Ebd., S. 67). „[S]tell dir mal vor, dass ein Mensch seine Freunde, Verwandte, Heimat verlassend, sich plötzlich mitten in einem neuen Land sieht, einem von den Menschen bewohnten, zu denen er
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Gemütsbewegungen das lebensnotwendige Bedürfnis nach Freunden, etwa nach seinem Freund L’vov. Analoge Prozesse ergeben sich aus dem Briefwechsel zwischen Denis Fonvizin und seiner Schwester in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts, besonders aber im Gespräch „der verwandten Seelen“ von Michail Murav’ev und seinen nächsten Verwandten, dem Vater und der Schwester, in den Jahren 1776 bis 1781. Murav’evs Briefe wurden zu einer psychologischen Erzählung über das Herzensleben des gefühlvollen und sentimentalen Helden. In Chemnicers Briefen sind vertraute Töne eines freundschaftlichen Gespräches und Gedankenaustausches zu hören. Jeder Brief an L’vov ist wie ein Atemzug. Während des auf solchen Wegen stattfindenden Gesprächs kann sich Chemnicer aussprechen und seine Sorgen offen auf den Tisch legen. Alle Gefahren und Ängste, die Chemnicer seinen Verwandten nicht berichten will, verheimlicht er L’vov nicht. Chemnicer führt in seinen Briefen aber auch Dialoge und Beschreibungen an. Er hat einen feinen Spürsinn für seinen Gesprächspartner, was sich auch in der humorvollen und sorglosen Plauderei der Freunde widerspiegelt. Trotz der Klagen über das Alleinsein verspürt man beim Lesen der Briefe keine Resignation bei Chemnicer. Er versucht, die Mühsal des Lebens humorvoll anzunehmen und die Spannung bzw. Sorgen des Freundes mit leichtem Scherz zu neutralisieren. Obwohl keine Briefe von L’vov an Chemnicer erhalten geblieben sind, kann deren Inhalt laut der Aussagen bzw. Zitierung in den Briefen Chemnicers erahnt werden. Chemnicer wiederholt einzelne Zitate aus L’vovs Briefen, um sie zu beantworten oder dessen Gedanken auf dem Papier weiter zu entwickeln. Häufig versucht er, seinen Adressaten in die konkrete Schreibsituation einzubeziehen. Auf diese Weise wird eine fiktive Gesprächssituation geschaffen, die eine Überbrückung der räumlichen und zeitlichen Distanz ermöglichen soll. Chemnicers Briefe können laut Jakov Grot als „ɧɟɜɨɥɶɧɵɣ ɨɬɩɟɱɚɬɨɤ ɞɭɲɢ“44 betrachtet werden. Der Gesprächston zeigt uns die Ungezwungenheit der Beziehung beider Freunde. Ihre freundschaftlichen Briefe sind von grenzenlosem Vertrauen, Lachen, Scherzen und Witzen durchdrungen. Chemnicers Briefe sind voller offenherziger und respektvoller Dankbarkeit gegenüber seinem, wenn auch jüngeren, einflussreichen Freund. In Chemnicers Briefen finden wir auch Selbstbeschreibungen, die von einem Nachdenken über sich selbst, von einer Reflexion über das eigene Ich zeugen: „Ⱦɪɭɝ ɦɨɣ, ɬɵ ɡɧɚɟɲɶ, ɱɬɨ ɹ ɬɨɥɶɤɨ ə ɫ ɞɪɭɡɶɹɦɢ ɦɨɢɦɢ ɛɵɬɶ ɦɨɝɭ; ɚ ɝɞɟ ɧɟ ɞɪɭɡɶɹ ɦɨɢ, ɬɚɦ ɭɠ ɨɬ ɦɟɧɹ ɬɨɥɤɭ ɧɟ ɠɞɢ: ɝɞɟ ɤɚɠɞɨɟ ɫɥɨɜɨ ɧɚ ɜɟɫɤɢ ɤɥɚɫɬɶ ɧɚɞɨɛɧɨ, ɬɭɬ ɫɚɦ ɡɧɚɟɲɶ, ɲɭɬɢɬɶ ɧɟɥɨɜɤɨ“45 oder „ɇɟɳɚɫɬɢɟ ɦɨɟ, ɱɬɨ ɹ
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keinen Zugang hat, allein ohne den Freund, den teuren.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 10/21.01.1783. In: Ebd., S. 78). „[E]in unwillkürliches Abbild der Seele“ [Übers. N. S.] (Ebd., S. 23). „Mein Freund, du weißt, dass ich Ich selber nur mit meinen Freunden sein kann; wo aber meine Freunde nicht sind, da erwarte nichts von mir. Wo jedes Wort auf die Waage gelegt werden soll, da scheint der Witz unpassend, wie du selber weißt.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 10/21.01.1783. In: Ebd., S. 77).
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ɩɨɞɚɬɶɫɹ ɧɚ ɡɧɚɤɨɦɫɬɜɨ ɧɢɤɚɤ ɧɟ ɦɨɝɭ, ɟɫɬɶɥɢ ɩɨɜɨɞɨɜ ɤ ɡɚɤɥɸɱɟɧɢɸ ɞɪɭɠɛɵ ɧɟ ɩɪɟɞɜɢɠɭ“.46 Chemnicer nimmt in den stillen Stunden des Schreibens die Möglichkeit wahr, sein wesentliches Ich zu Wort kommen zu lassen. Chemnicer lässt in seiner freien Briefkonstruktion schablonenartige Einrahmungen sowie Anrede- und Abschlussformel weg. L’vov dagegen kommt sofort zur Sache oder greift die den letzten Brief abschließende Information auf und nutzt diese zur Fortsetzung des abgebrochenen Gesprächs. „ə ɜɫɟ ɟɳɟ ɜ ɭɝɨɥɶɧɨɣ ɹɦɟ“47 schreibt er z.B. am Briefanfang seinem Freund Deržavin. Schon im Briefsteller von 176548 wurden sowohl innere, inhaltliche als auch äußere Teile („ɱɢɧɨɧɚɛɥɸɞɟɧɢɟ“) des Briefes streng reglementiert. Dabei berief man sich auf die alten Rhetoriken, in denen man alle Teile in allgemeine und besondere unterschied. Zu den nicht so streng eingehaltenen besonderen Teilen zählte man die Einleitung, den Hauptteil sowie das Schlusswort. Obligatorisch war dagegen die genaue Befolgung der allgemeinen Briefteile, derer Verletzung bzw. Ignorierung durch den Absender als ein Zeichen von Unhöflichkeit, Unerzogenheit oder sogar als ein Ausdruck der absichtlichen Beleidigung des Adressaten verstanden wurde. Zu diesen Teilen gehörten die Überschrift bzw. Anrede, Unterschrift, Datum und die Anordnung des Textes auf dem Papierblatt. Solchen Anleitungen und Formalien gegenüber empfanden die Freunde nur Ironie, sie scherzten anlässlich der Etikettenformel: „ɇɚɩɟɪɟɞ ɜɫɟ-ɬɚɤɢ ɭ ɬɟɛɹ ɫɩɪɨɲɭ, ɡɞɨɪɨɜ ɥɢ ɬɵ, ɞɚɪɨɦ, ɱɬɨ ɬɵ ɢ ɟɬɨ ɡɚ ɰɟɪɟɦɨɧɢɚɥ ɫɱɢɬɚɟɲɶ“49 oder „ɋɤɚɡɚɥ ɛɵ ɹ ɬɟɛɟ ɡɞɪɚɜɫɬɜɭɣ, ɫ ɧɨɜɵɦ ɝɨɞɨɦ; ɞɚ ɬɵ ɧɟ ɥɸɛɢɲɶ ɩɨɡɞɪɚɜɥɟɧɢɣ; ɢ ɬɚɤ ɧɟɬ ɬɟɛɟ ɧɢɱɟɜɨ“.50 Einige Briefe der Freunde erwecken den Eindruck eines kollektiven Gesprächs, nicht nur zwei Personen unterhalten sich, sondern andere kommen noch hinzu. Im gemeinsamen Brief von Kapnist und Chemnicer an Deržavin wird eine freundschaftliche Stimmung verbreitet und eine familiäre Atmosphäre des Beisammenseins geschaffen. Kapnist schreibt: „Ʉɨɝɞɚ ɨɧ ɧɢ ɫɥɨɜɚ, ɬɚɤ ɹ ɫɬɚɧɭ ɛɨɥɬɚɬɶ.“51 Oder Chemnicer verwendet stets in seinen Briefen an L’vov das für Kapnist charakteristische Wörtchen „ɜ ɩɪɨɱɟɦ ɤɨɥɢ ɠ“ und unterstreicht es, z.B.: „ȼ ɩɪɨɱɟɦ 46
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„[M]ein Unglück liegt darin, dass ich keine Bekanntschaft anknüpfen kann, wenn ich keinen Anlass zur Freundschaftsschließung verspüre.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 29/18.02.1784. In: Ebd., S. 91). „Ich bin immer noch in der Kohlengrube.“ [Übers. N. S.] (Nikolaj L’vov an Gavriil Deržavin am 18.09.1786. In: Lappo-Danilevskij [Hg.]: N. A. L’vov [wie Anm. 27], S. 329). S.o. „Zuerst frage ich dich doch, ob du gesund bist, auch wenn du dies schon für ein Zeremoniell hältst.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 08.07.1782. In: Ivan Ivanoviþ Chemnicer. Hg. v. Grot [wie Anm. 13], S. 47). „Ich würde dir ‚Grüß Dich zum Neuen Jahr‘ sagen, aber du magst keine Gratulation, dann gibt es auch nichts für dich.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 31.12.1782. In: Ebd., S. 73). „Wenn er kein Wort mehr sagt, dann werde ich plaudern.“ [Übers. N. S.] (Vasilij Kapnist an Gavriil Deržavin am 05.03.1781. In: Vasilij Vasil’eviþ Kapnist. Hg. v. Babkin [wie Anm. 36], S. 260).
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ɤɨɥɢ ɠ ɬɵ ɭɫɬɚɥ ɨɛ ɬɭɪɟɰɲɢɧɟ ɫɥɭɲɚɬɶ, ɬɚɤ ɦɵ ɢ ɨ ɞɪɭɝɨɦ ɡɚɝɨɜɨɪɢɦ.“52 Wie während eines echten gemeinsamen Zirkeltreffens unterbricht ein Gesprächspartner den anderen, widerspricht, fügt noch etwas dazu oder flicht sein Wort in die lockere Unterhaltung ein. Chemnicer ist bedrückt, dass der Kontakt zu seinen Freunden nur auf dem brieflichen Weg möglich ist. Er versucht, durch rasche, einander unterbrechende Phrasen das schriftliche Wort zu beleben und die Situation der lebendigen Anwesenheit im Kreis der Freunde zu erschaffen. So z.B.: „ȿɬɨ ɹ ɜɚɦ ɧɟ ɩɢɲɭ, ɚ ɤɚɤ ɫɭɦɚɫɲɟɞɲɢɣ, ɜɛɟɠɚɜ ɤ ɜɚɦ ɜ ɤɨɦɧɚɬɭ, ɩɪɨɤɪɢɱɚɥ.“53 Während Chemnicer dem Freund über seinen Alltag sowie Probleme berichtet und ihm seine seelischen Gemütsbewegungen anvertraut, soll L’vov die genaue Intonation und Klangfarbe seiner Stimme hören. Auch Chemnicer konnte nach dem „persönlichen“ Gespräch, den witzigen Äußerungen und nützlichen Ratschlägen seines Freundes beruhigt und guter Laune weiter leben und arbeiten. Das sehen wir aus den folgenden Zeilen von Chemnicer: Ƚɨɥɨɫ ɦɨɣ, ɟɫɬɶɥɢ ɩɟɪɟɦɟɧɢɥɫɹ ɜ ɩɪɨɞɨɥɠɟɧɢɢ ɩɢɫɚɧɧɨɝɨ ɬɨɝɞɚ ɩɢɫɶɦɚ, ɢɡ ɠɚɥɨɛɧɚɝɨ ɫɧɚɱɚɥɚ ɜ ɦɟɧɶɲɟ ɭɧɵɜɧɵɣ, ɟɬɨɦɭ ɛɵɬɶ ɧɟ ɦɭɞɪɟɧɨ ɛɵɥɨ […] Ɍɵ, ɩɨɦɧɢɲɶ, ɢ ɫɚɦ ɩɪɢɦɟɱɚɧɢɟ ɟɬɨ ɫɞɟɥɚɥ, ɱɬɨ ɹ, ɤɚɤ ɛɵ ɩɚɫɦɭɪɟɧ ɤ ɬɟɛɟ ɤɨɝɞɚ ɧɢ ɩɪɢɯɨɞɢɥ, ɜɫɟɝɞɚ ɭɯɨɞɢɥ ɜɟɫɟɥɹɟ: ɬɨɠɟ ɫɚɦɨɟ, ɜɢɞɧɨ, ɫɨ ɦɧɨɸ ɩɪɨɢɫɯɨɞɢɬ, ɤɨɝɞɚ ɱɟɪɟɡ ɩɢɫɶɦɚ ɫ ɬɨɛɨɸ ɝɨɜɨɪɸ.54
Aus dem in diesem Artikel dargestellten Briefwechsel der vier Freunde wird deutlich, dass die Intensität des emotionalen Raumes in ihrem Schreiben unterschiedlich ausfiel. Der in Gesellschafts- und Dienstkreisen ernste und bedächtig handelnde Deržavin blieb zurückhaltend auch in seinen Briefen, ohne seine Gefühlswelt dem Blatt anzuvertrauen. Die private Korrespondenz der großen klassizistischen Dichter kennzeichnete sich durch Prägnanz, Sachlichkeit sowie Rationalität, ohne den Einfluss seelischer Regungen. Kapnist, L’vov und Chemnicer hingegen standen den neuen Tendenzen der Zeit55 offener gegenüber als ihr ältester 52
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„Wenn du übrigens die türkischen Themen satt hast bzw. über Türken nichts mehr hören willst, können wir auch von etwas Anderem reden.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 18.02./01.03.1783. In: Ivan Ivanoviþ Chemnicer. Hg. v. Grot [wie Anm. 13], S. 83). „Dies schreibe ich nicht, dies rufe ich Euch zu, wie der Wahnsinnige in Euer Zimmer hineinrennend.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 02.07.1783. In: Ebd., S. 84). „Wenn meine Stimme von einer klagenden zu einer weniger mutlosen wechselte während des damals geschriebenen Briefes, dann ist dies auch kein Wunder […] Du erinnerst dich daran, dass du das damals selbst bemerktest. Wie finster auch ich bei dir vorbei schaute, ging ich immer fröhlicher weg. Das Gleiche passiert anscheinend, wenn ich mich mit dir brieflich unterhalte.“ [Übers. N. S.] (Ivan Chemnicer an Nikolaj L’vov am 10/21.01.1783. In: Ebd., S. 76). „ɇɨɜɨɟ ɬɟɱɟɧɢɟ ɛɵɥɨ ɧɚɫɬɨɥɶɤɨ ɨɪɝɚɧɢɱɟɫɤɢɦ ɢ ɟɫɬɟɫɬɜɟɧɧɵɦ ɩɪɨɹɜɥɟɧɢɟɦ ɫɭɞɶɛɵ ɪɭɫɫɤɨɣ ɞɜɨɪɹɧɫɤɨɣ ɢɧɬɟɥɥɢɝɟɧɰɢɢ ɜ ɩɨɫɥɟɞɧɸɸ ɱɟɬɜɟɪɬɶ XVIII ɜ., ɱɬɨ ɨɧɨ ɜɨɡɧɢɤɚɥɨ ɜ ɫɨɡɧɚɧɢɢ ɪɹɞɚ ɩɢɫɚɬɟɥɟɣ ɤɚɤ ɧɨɜɚɹ ɡɚɞɚɱɚ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɵ. Ɉɧɨ ɜɵɡɪɟɜɚɥɨ, ɧɚɱɢɧɚɹ ɫ 70-ɯ ɝɨɞɨɜ, ɜ ɬɜɨɪɱɟɫɬɜɟ Ɇ. ɇ. Ɇɭɪɚɜɶɟɜɚ, ɇ. Ⱥ. Ʌɶɜɨɜɚ, ɇɟɥɟɞɢɧɫɤɨɝɨ-Ɇɟɥɟɰɤɨɝɨ, ɡɚɬɟɦ ɭ ɂ. ɂ. Ⱦɦɢɬɪɢɟɜɚ, Ʉɚɪɚɦɡɢɧɚ, Ʉɚɩɧɢɫɬɚ, ɏɨɜɚɧɫɤɨɝɨ ɢ ɦɧɨɝɢɯ ɞɪɭɝɢɯ […]“ / „Die neue
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Freund. Dies betraf nicht nur ihr Schaffen, sondern auch die briefliche Kommunikation im engsten Freundeskreis. Vor allem Chemnicer fühlte sich vor dem Papierblatt frei und stellte dar, was und wie er sich fühlte. L’vov konnte seinen Freund durch seine Zeilen besorgt, beängstigt, zweifelnd, aber auch heiter, kühn und witzig erleben. Chemnicers Briefe gaben ihm und geben den heutigen Lesern einen tiefen Einblick in seine damalige Lebens- und Gemütslage. Auch insgesamt gewähren die hier untersuchten Freundschaftsbriefe Einblick in die persönlichen, zwischenmenschlichen Beziehungen sowie in die Gefühls- und Gedankenwelt der Briefpartner. Im Mittelpunkt standen Freud und Leid, Ängste und Nöte, aber auch Motive des Denkens und Handelns. Verschiedene in den Briefen besprochene Themen, die uns eine Vorstellung des Alltags der Freunde, ihrer Emotionen und auch Reflexionen über die eigene Freundschaft vermitteln, machen derartige Briefe auch heute noch zu einer Quelle von besonderer Bedeutung.
Strömung [Sentimentalismus – N. S.] war ein so organischer und natürlicher Ausdruck des Schicksals der russischen Adelsintelligenz im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, dass sie im Bewusstsein einer ganzen Reihe von Schriftstellern als eine neue Literaturaufgabe entstand. Sie reifte beginnend ab den 70er Jahren im Schaffen von M. N. Murav’ev, N. A. L’vov, Neledinskij-Meleckij, später bei I. I. Dmitriev, Karamzin, Kapnist, Chovanskij und vielen anderen […].“ [Übers. N. S.] (Grigorij Gukovskij: Russkaja literatura XVIII veka: Uþebnik. Vstup. st. A. Zorina. Moskva 2003, S. 263).
II.2 Die Macht des geschriebenen Wortes: Narrative Strategien emotionaler Bewusstwerdung, Kontrolle und Manipulation
ANDREY KOSTIN (St. Petersburg)
Radishchev’s Diary of One Week as a Story of Madness*
The text that will be examined here is a classic for scholars in the field of eighteenth-century Russian literature. In fact, students of Russian literature know Russian „sentimentalist“ prose mainly through a handful of works by Nikolai Karamzin and this short narrative by Alexander Radishchev. Considering the text’s importance, it’s no surprise that a significant amount of research has been dedicated to Diary of One Week, including articles in Russian, English and French,1 as well as chapters in monographs on the history of eighteenth-century Russian literature or on Radishchev’s works. At the same time, most of these works deal primarily not with questions of Diary’s specific literary features, but with the problem of dating it. Scholars argue about when it was written – citing dates as varied as 1773, 1790 or 1802 – but often forget to answer questions such as what kind of a narrative this is, what sort of literary context is required for understanding it, and – that naïve question that must be answered before we can begin to interpret a literary work – what is it about? Let us begin by briefly characterising the text for those unfamiliar with it. Diary of One Week is a very short text, no longer than 1600 words, written in the form of a man’s diary. It describes that man’s stay in the capital (Petersburg), alone, in the absence of certain others, whom he calls „friends“ – a word that in Radishchev’s thesaurus can mean „friends“ in its literal sense, but also relatives, members of one’s immediate family (such as wives, children, parents), as well as other loved ones and their children, and so on; the hero’s friends have departed, although evidently for some not-so-distant place, as they are to return in a week. From the Diary’s very first day (its first entry), all of the hero’s thoughts are focused on a single object: the return of his „friends“, and he questions, without any apparent * The author would like to express his heartfelt gratitude to Sara Dickinson for her editing of the English version of this article. 1 L. I. Kulakova: O datirovke ,Dnevnika odnoi nedeli‘. In: Radishchev: Stat’i i materialy. Leningrad 1950, pp. 148–157; V. P. Gurianov: Eshche raz o date ,Dnevnika odnoi nedeli‘ Radishcheva. In: Vestnik Moskovskogo universiteta. Ser. Filologiia i zhurnalistika 1 (1960), pp. 57– 60; G. Ia. Galagan: Geroi i siuzhet ,Dnevnika odnoi nedeli‘ Radishcheva. Vopros o datirovke. In: XVIII vek. Leningrad 1977, vol. 12, pp. 67–71; R. M. Lazarchuk: ,Dnevnik odnoi nedeli‘ A. N. Radishcheva: k probleme datirovki. In: Problemy izucheniia russkoi literatury XVIII veka. Leningrad 1980, vol. 4, pp. 75–84; T. Page: Diary Of One Week: Radishchev’s Record of Suicidal Despair. In: Russian Literature Triquarterly 21 (1988), pp. 117–127; R. Baudin: Espace et intimité dans le journal miniature d’Alexandre Radichtchev. In: Poétique de la miniature. Mélanges offerts au Professeur André Monnier. Paris 2009; R. Baudin: Le Journal d’une semaine d’Alexandre Radichtchev ou le temps vrai du sentimentalisme russe. Forthcoming in Cahiers slaves.
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motivation, „Whether these ,friends‘ will return at all?“ A record of daily changes undergone by the hero – changes in his mental, psychic and bodily condition – and of his attempts to cast off grief constitute the bulk of the Diary’s content. When the promised week comes to an end, the hero goes to the city gates to meet his friends, but they do not return. At this point, he answers the question that has preoccupied him all week: „their stony hearts have lost all feeling; they have forgotten their promise to return today […], they have forgotten me […]“ and concludes that „there are no more friends on this earth since they have decided not to be my friends“.2 As a result, the hero decides to leave the city, but at the very moment when he is ready to depart, his „friends“ come back. It is easy to see from this short retelling, that there’s almost no explicit plot in Diary. Nothing „happens“ in it: the hero goes to his job, comes back home, sleeps, goes to a dinner and gets bored there, takes a walk, goes to the theater to watch B. Saurin’s Beverley, leaves the theater and, occupied with his own thoughts, walks into a tangle of horses and harnesses in the middle of the street, sleeps again, feels listless, decides not to go to work, receives a boring guest, reads, suffers insomnia, visits a cemetery, takes a ride through the city, sleeps again, makes preparations to meet his friends, sleeps, goes to the city gates, decides to leave the city. That’s all, I have retold the story now with the exception of what we might call the hero’s „visible actions“, i.e. the externally observable bodily movements that are described in the text. That said, most of these visual „actions“ are rather random and poorly connected, forming no logical sequence. We should also note that the presence of people other than the hero in the Diary is minimal. Actually, there is only one other person described (the hero’s guest), whose appearance is rendered in a mere 22 words, and the only thing that we learn about him is that he was boring. So, the Diary lacks not only what is commonly accepted as a „plot“, but also dialogue. It is not surprising that the Diary of One Week is commonly considered to be a psychological essay: the narrator’s inner concerns are much better accounted for in this text than his actual life. At the same time, most studies of the Diary have unfortunately gone no further than simply stating that the text is characterised by psychologism. This is rather strange in my view since without defining the nature of such psychologism, it is unlikely that we can arrive at any useful interpretation of the story: after all, if the story is based entirely on the description of the hero’s psychic state, how can we even begin to discuss it without first determining what kind of state that is?
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A. N. Radishchev: Polnoe sobranie sochinenii. Moscow, Leningrad 1938, vol. 1, p. 144; translation by T. Page, Russian Literature Triquarterly 21 (1988), p. 138. Further citations of the Diary refer to the Russian edition; in some instances, I have slightly modified the English translations by Page.
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There is a widespread perception among critics that the Diary describes the regrettable consequences of human solitude and that it implicitly opposes solitude to the assumption of a more active civic role in society.3 In my view, however, this notion seems too rough and too sociological. I am also not sure that we can see in the Diary the figure of a man moving towards suicide, as Tanya Page has suggested. Thoughts of suicide occur just once in the Diary and are expressed rather obscurely; that single reference was made explicit only by Radishchev’s sons when they first published the work nine years after their father’s suicide. Galina Galagan does convincingly demonstrate that changes in the hero’s psychic state form a kind of a plot in the Diary, however, one that advances through an alternation of views – now belief, now doubt – as to whether or not his friends will return. And Olga Goncharova correctly states that the progress of the plot leads the Diary’s hero to „lose his anthropological self“.4 Rimma Lazarchuk, who offers her own dating for the Diary and demonstrates some important parallels between it and some other of Radishchev’s works, adds another important element to critical observations in this field. In her words: Scholars have more than once paid attention to the bitterness and doubt that spoil this friendship, to the awful and incomprehensible suffering of surviving this single week […] that leads the hero to insanity, poignant hallucinations, thoughts of death and suicide.5
Particularly significant here is one word that, I would like to argue, is of foremost importance in understanding both the Diary’s specific literary features and its general nature: the word is „insanity“. In order to explain why this word seems so crucial to me, I would like to demonstrate that the actions, feelings and thoughts of the Diary’s hero agree, for the most part, with standard descriptions of insanity as it was conceived at the end of the eighteenth century. Significant in this regard is an example drawn from Radishchev’s own works, namely the treatise On Man, His Death and Immortality, in which Radishchev shows that man’s physical substance differs in nature from his psychic substance and, among other reasons for this distinction, offers the following:
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„Rousseau leads his reader away from the world, claiming for man the possibility and right to find happiness within himself […] Radishchev tries to give psychological grounds for the unsoundness of the solitude theory […]. In contrast to it, he advances the principle of ,community‘ (ɨɛɳɟɠɢɬɟɥɶɫɬɜɚ)“ (G. P. Makogonenko: Radishchev i ego vremia. Moscow 1956, pp. 160f.; „The discovery of the Other is of primary import in Rousseau’s anthropology […]. The same is demonstrated by Radishchev’s Diary of One Week: its hero explores within himself and comes to the conclusion that alone, without friends, he is nothing – even reaching the point of losing his anthropological self“ (O. M. Goncharova: Vlast’ traditsii i novaia Rossiia v literaturnom soznanii vtoroi poloviny XVIII veka. St. Petersburg 2004, p. 155). Goncharova: Vlast’ traditsii (see note 3), p.155. Lazarchuk: Dnevnik odnoi nedeli (see note 1), p. 78.
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Look at a madman […]. You say, that […] the disorder of his cognitive organ makes him an animal, a beast. But explore the path of his thought. Struck by a single idea, he relates everything, refers everything to it […]. He combines everything in a new manner, submits everything to the thought that dominates him. That’s his madness, but he reasons as well.6
According to this view, then, the madman is one who dedicates all of his thinking to a single idea, which leads him to reason erroneously, although he does nonetheless retain the ability to reason. Radishchev was not alone in understanding insanity this way: the same conception of it can be found in texts that he used when writing his own. In John Locke’s Essay Conserning Human Understanding, for example, we find explanations of madness such as: Madmen […] do not appear to me to have lost the faculty of reasoning, but having joined together some ideas very wrongly, they mistake them for truths; and they err as men do that argue right from wrong principles. […] Hence it comes to pass that a man who is very sober, and of a right understanding in all other things, may in one particular be as frantic as any in Bedlam; if either by any sudden very strong impression, or long fixing his fancy upon one sort of thoughts, incoherent ideas have been cemented together so powerfully, as to remain united.7
As we can see, the main principles in Locke’s description of madness are common to Radishchev: by fixing all of his thoughts on a single overarching idea, the madman ultimately becomes deluded, but he never loses his ability to reason. It seems to me that such an understanding of madness can be wholly applied to the hero of Diary of One Week. On Day One he exclaims: „Oh, my beloved ones! you have left me,“8 and from that moment on, all of his actions and thoughts are subject to the single question of whether or not his friends will return. It is with this question in mind that he contemplates the dinner to which he has been invited, his job, a theatre play; it is with this question in mind that he meditates at the cemetery. And although his actual daily life, as described in the Diary, suggests no reason for him to conclude that these friends won’t return, the hero’s feelings of loneliness and, later, the tardy arrival of his friends on the day appointed convince him that he has been repudiated. In the final diary entry, Radishchev uses syntactic parallellism and phonetic consonance to emphasize the abyss that has appeared between reality and the hero’s imagination. In this entry, the hero says: „Farewell, faithless ones, farewell, unfeeling ones – farewell. Where are you going, unhappy wretch? Where can bliss be if you cannot find it in your own home? – But I am abandoned – but I am alone, alone – alone! […]“ (ɇɨ ɹ ɨɫɬɚɜɥɟɧ, – ɧɨ ɹ ɨɞɢɧ, ɨɞɢɧ – ɨɞɢɧ!). The triple repetition of „alone, alone, alone“ (ɨɞɢɧ, ɨɞɢɧ, ɨɞɢɧ) represents the false idea that has
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Radishchev: PSS (see note 2), vol. 2, p. 117. J. Locke: An Essay Concerning Human Understanding. In Four Books. 17th ed. London 1775, vol. 1, p. 121. Radishchev: PSS (see note 2), vol. 1, p. 139.
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finally gained the upper hand over the narrator’s reason and it finds a parallel in the Diary’s closing words, which represent reality: „The carriage has stopped – they are getting out – oh, joy! Oh, bliss! my beloved friends!.. It’s them!.. It’s them!..“ (Ʉɚɪɟɬɚ ɨɫɬɚɧɨɜɢɥɚɫɶ, – ɜɵɯɨɞɹɬ, – ɨ ɪɚɞɨɫɬɶ! Ɉ ɛɥɚɠɟɧɫɬɜɨ! ɞɪɭɡɶɹ ɦɨɢ ɜɨɡɥɸɛɥɟɧɧɵɟ!.. Ɉɧɢ!.. Ɉɧɢ!..). Here phonetic and syntactic parallelism („ɨɞɢɧ, ɨɞɢɧ – ɨɞɢɧ“, „ɜɨɡɥɸɛɥɟɧɧɵɟ! Ɉɧɢ!.. Ɉɧɢ!..“) indicates the confrontation between actual reality and the false conception of it – and this suggests to me that the Diary’s denouement (the friends’ return) should not be approached as a traditional „happy ending“ at all. It is here that the hero – for the first time in this narrative – confronts reality itself, rather than his own fantasies or conjectures. Up until this point, he has been walking down the road of delusion for ten days,9 and he has gone rather far. As a result, the reader has been obliged to accompany him, thus following the suggestion made in Radishchev’s treatise On Man, i.e. to „explore the path of the madman’s thought“. Understanding Diary in this way brings me to several conclusions, but let me first share with you some of my observations on the exact type of madness that describes the hero’s „case“. Let me also note that my reading of the Diary as a story of madness might, of course, be seen as overinterpretation. And, in point of fact, the characteristics of madness that I have cited here are taken from gnoseological treatises dealing with matters of a much more sublime and general nature. If we take a closer look at works that were written or published at the end of the eighteenth century that specifically address the topic of mental diseases, however, we will find that these texts also describe madness according to the same general characteristics. Moreover, such characteristics are symptomatic of a specific type of insanity – many other symptoms of which are also exhibited by the hero of the Diary. The name of this illness is „melancholia“ or simply melancholy. Let’s look at some examples. Philippe Pinel, an influential psychiatrist of the period and one of the heroes of Foucault’s Folie et déraison: Histoire de la folie à l’âge classique (published in English as The History of Madness), begins a systematic catalogue of types of insanity in his Treatise on Insanity, his most important book, with the following characterisation of melancholy: The symptoms generally comprehended by the term melancholia are taciturnity, a thoughtful pensive air, gloomy suspiction and a love of solitude. […] Melancholics are frequently absorbed by one exclusive idea, to which they perpetually recur in their conversation, and which appears to engage their whole attention.10
This last point – absorption by one single idea – which, as we have seen, comprises the overarching idea of the Diary, reappears again and again in numerous treatises 9 10
In point of fact, this Diary of ,One‘ Week begins on a Saturday and concludes on a Tuesday ten days later. P. Pinel, A Treatise on Insanity, in which Are Contained The Principles of a New and More Practical Nosology of Maniacal Disorders. Trans. D. D. Davis. Sheffield, 1806, p. 136, 141.
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of the period. As a matter of fact, the notion of absorption by a single idea can also be found in the works of Pinel’s predecessors – men whom he otherwise criticises. The description of melancholy found in Francois de Sauvages’s Methodological Nosology, for example, begins: „Melancholics are those who, chained firmly to a single thought, are delirious regarding themselves and their condition, but reason full well regarding all else.“11 Such examples are numerous and they concur both on this general definition of melancholy and on the description of this condition’s specific symptoms. These latter details – melancholy’s specific symptoms – appear to fit the condition of the Diary’s hero as well. What do we know about the hero’s bodily condition that we might be able to call „symptoms“? The first entry of the Diary indicates that the hero had much desired solitude long before ever beginning this record: „delectable silence! longed-for solitude!“ he writes, „In you, I once sought refuge; you were my companions in sorrow and dejection, when my reason strove to pursue the truth; you are now intolerable to me!“12 He frequently „wander[s] aimlessly for a long time around the city“.13 He becomes gloomy in joyful company. He senses disorder in his thoughts: „In a single hour, one hundred projects are born in my heart, and all vanish momentarily.“14 He feels himself weak: „I was in a such a state, almost of insensibility, that had someone come to inform me that the room in which I lay would soon catch fire, even then I would not have stirred.“15 He loses the desire for food: „I wish to fast. I will sacrifice to them […].“ Then: „Why dost thou lie to thyself? There is no merit in it. Thy stomach has grown weak along with thy powers, and requires no nourishment.“16 He suffers insomnia. He pays a visit to a cemetery. It turns out that all of these symptoms are used in eighteenth-century philosophical and medical works to describe melancholy. As we have seen in the definition of Pinel cited above, for example, „the symptoms generally comprehended by the term melancholia [include] a love of solitude“. The desire for solitude is frequently cited as both melancholy’s symptom and cause, as is absorption by a single idea. Further examples may be found in David Hume, who notes in his Treatise of Human Nature, a text used by Radishchev in writing his own treatise On Man, that: Those who take pleasure in declaiming against human nature, have observed, that man is altogether insufficient to support himself; and then when you loosen all the holds, which he has of external objects, he immediately drops down into the deepest melancholy and despair. From
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„Les mélancoliques sont ceux qui, constamment attachés à une pensée, sont en délire sur euxmêmes & sur leur état, tandis qu’ils raissonent à propos sur tous les autres objets“ (F. B. Sauvages: Nosologie méthodique […]. Paris 1771, vol. 2, p. 727). Radishchev: PSS (see note 2), vol. 1, p. 139. Ibid. Ibid., p.140. Ibid, p.141. Ibid.
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this, say they, proceeds that continual search after amusement in gaming, in hunting, in business […]. To this method of thinking I so far agree.17
This notion that the best medicine for melancholy is to find some sort of amusement or serious occupation – is also found repeatedly in medical works of the era. We should thus take note of the fact that the hero’s final emotional breakdown in the Diary occurs after he has given up walking, attending public meetings and, finally, even going to work. As for other texts that speak of solitude leading to melancholy, we might cite the example of Johann Zimmermann, who, in his famous Über die Einsamkeit, devotes an entire section to the topic of solitude as the cause of melancholy. According to Zimmerman, „An unseasonable and ungovernable propensity to Solitude is one of the most general and unequivocal symptoms of melancholy“. Like Hume, Pinel and others, he holds that enjoyments are the best medicine: persons of a melancholy habit should be frequently taught to regard life as various in its enjoyments […], they should be animated to rise from one disappointment to the pursuit of other hopes, more easily attainable […]. If a contrary regimen be pursued, and the dispirited heart be encouraged to decline all exercises, occupations and pleasures, to fix its faculties upon the mournful fear of bitter dissappointment, which corrodes its peace […], it will sink deeper and deeper in despondency and despair, till […] the misery of the soul terminates in madness or death.18
An impulse to walk about was seen to be another symptom and cause of melancholy. In his Methodological Nosology, for example, Sauvages gives a description of a special type of melancholy – a walking or „wandering melancholy“ (mélancolie vagabonde): The victim can’t stay calm in the same place for a single hour; something makes him move, here or there, without knowing where he is. More timid than all melancholics, he shuns society; walks in cemeteries and abandoned places during the night. He knows neither where he goes nor what he’s looking for, nor what he wants.19
Thus, we can diagnose the hero of the Diary as a melancholic from the symptomatic point of view. The diagnosis holds even if we rely on the symptoms that he himself uses to describe his condition. The most frequent of these are „grief“ (ɫɤɨɪɛɶ)20 and „sorrow“ (ɝɪɭɫɬɶ),21 emotions that reach the peak of their intensity 17 18 19
20
D. Hume: Treatise of Human Nature. Ed. by D. F. Norton and M. J. Norton. Oxford 2007, vol. 1, p. 228. J. H. Zimmermann: Solitude considered with respect to its dangerous influence upon the mind and heart. London 1798, pp. 156–158. „Le malade ne peut demeurer tranquile l’espace d’une heure, il est forcé d’aller, çà ou là, sans savoir où il est: plus timide de tous les mélancoliques, il fuit la société; il se promene la nuit dans les cimetieres, et dans les lieux abandonnés; il ne sait ni où il va, ni ce qu’il cherche, ni ce qu’il veut“ (François Bossier de Sauvage: Nosologie méthodique, p. 734). „Where shall I seek even momentarily solace from my grief?“ (ɝɞɟ ɢɫɤɚɬɶ ɦɧɟ ɭɬɨɥɟɧɢɹ ɯɨɬɹ ɦɝɧɨɜɟɧɧɨɝɨ ɦɨɟɣ ɫɤɨɪɛɢ?) Cf. Radishchev: PSS (see note 2), vol.1, p. 140; ibid.: „all will
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on the day before the hero’s final breakdown: „Nothing helps – dejection, distress, anguish, oh, how near is despair! But why grieve so?“ (ɇɢɱɬɨ ɧɟ ɩɨɦɨɝɚɟɬ, – ɭɧɵɧɢɟ, ɛɟɫɩɨɤɨɣɫɬɜɢɟ, ɫɤɨɪɛɶ, ɨ ɤɚɤ ɛɥɢɡɤɨ ɨɬɱɚɹɧɢɟ! ɧɨ ɧɚ ɱɬɨ ɬɨɥɢɤɨ ɝɪɭɫɬɢɬɶ?). As concepts, all of these emotions – grief, sorrow, despair, anguish – were firmly connected at the end of the eighteenth century to the idea of melancholy. Another important example of the linkage of these ideas in the Russian context appears in Nikolai Karamzin’s poem Melancholy (1800): Ɉ Ɇɟɥɚɧɯɨɥɢɹ! ɧɟɠɧɟɣɲɢɣ ɩɟɪɟɥɢɜ Ɉɬ ɫɤɨɪɛɢ ɢ ɬɨɫɤɢ ɤ ɭɬɟɯɚɦ ɧɚɫɥɚɠɞɟɧɶɹ ɇɟ ɥɟɬɚ ɩɵɲɧɨɝɨ ɪɨɫɤɨɲɧɵɣ ɛɥɟɫɤ ɢ ɡɪɟɥɨɫɬɶ Ⱦɥɹ ɝɪɭɫɬɢ ɬɜɨɟɹ ɩɪɢɹɬɧɟɟ ɜɫɟɝɨ ɇɨ ɨɫɟɧɶ ɛɥɟɞɧɚɹ […] Ʉɨɝɞɚ, ɨɫɜɨɛɨɞɹɫɶ ɨɬ ɢɝɚ ɬɹɠɤɢɯ ɦɭɤ ɇɟɫɱɚɫɬɧɵɣ ɨɬɞɨɯɧɟɬ ɜ ɞɭɲɟ ɫɜɨɟɣ ɭɧɵɥɨɣ ɋ ɥɸɛɨɜɢɸ ɟɦɭ ɬɵ ɪɭɤɭ ɩɨɞɚɟɲɶ.22
Also characteristic are the examples taken from dictionaries of synonyms. For example, in the British Synonymy of Hester Piozzi there is an article on the synonyms „dismal, gloomy, melancholy, sorrowfull, dark“ of which it is said that they „are words which excite a train of mournful ideas“.23 In New French Synonyms by Pierre Roubault we read: „The melancholic is in the state of apathy and anxiety; his sorrow is mournful and unquiet.“24 Thus, even the words that are used by Radishchev to describe his hero are themselves fully melancholic. And finally, there is yet another reason that we can – and should – understand the narrative described in Diary as a story of melancholia. There are many narratives from that era, only some of which I’ve cited here, that describe people moving towards a state of melancholy or insanity. And, I should admit that the shortterm absence of one’s friends is far from being the most frequent cause. Nonetheless, there are other instances of such motivation. Burton’s Anatomy of Melancholy, which catalogues dozens of causes of madness, devotes an entire section to the case of a friend’s death. That section begins with this passage: Many are melancholy after a feast, holiday, merry meeting or some pleasing sport, if they be solitary by chance, left alone to themselves, without employment, sport, or want their ordinary companions, some at the departure of friends only whom they shall shortly see again, weep and
21
22 23 24
see the grief on your brow“ (ɜɫɟ ɫɤɨɪɛɶ ɬɜɨɸ ɧɚ ɱɟɥɟ ɬɜɨɟɦ ɭɡɪɹɬ); ibid.: „Perhaps my grief will diminish“ (Ɇɨɠɟɬ ɛɵɬɶ ɦɨɹ ɫɤɨɪɛɶ ɭɦɚɥɢɬɫɹ). „My sorrow, pursuing me incessantly, prevented me even from decently exchanging greetings“ (ibid., p. 139); ibid., p.141: „you will be amazed, [but] boredom somewhat dispelled my sorrow“ (ɩɨɞɢɜɢɬɟɫɶ, ɫɤɭɤɚ ɪɚɡɨɝɧɚɥɚ ɧɟɫɤɨɥɶɤɨ ɦɨɸ ɝɪɭɫɬɶ). Nikolai M. Karamzin: Stihotvorenija. Leningrad 1966, p. 259 (my emphasis). H.L. Piozzi: British synonymy; or an attempt at regulating the choice of words in familiar conversation. London 1794, vol. 1, p. 157. „Le mélancholique est dans un état de langueur & d’anxiété: sa tristesse est morne & inquiete.“ Cf. P.J.A. Roubaud: Nouveaux synonymes françois. Paris 1785, vol. 3, p. 170.
Radishchev’s ,Diary of One Week‘ as a Story of Madness
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howle […] Montanus […] makes mention of a country woman that parting with her friends and native place, became grievously melancholy for many years.25
Taken together, my examples thus demonstrate that Radishchev’s Diary of One Week can be read as a story of a man being, at the very least, on the edge of insanity and that we can call him, at the very least, „melancholic“. Let me also point out that I purposely began this discussion with examples taken from general gnoseological treatises. To begin with, the presence of insanity in the Diary is only visible from this – highly general – perspective. The hero of the Diary is certainly not a clinical case of melancholy like those described in the medical works I’ve cited. He does not consider himself the King of France, or sign his letters with „CHRIST“ or think that his head is made of glass. He merely asks himself a question about whether his friends are fideles to him or not – and here we might add that the question itself reveals, in its very formulation, the hero’s own moral shortcomings (his own lack of faith in his friends) – and, unable to stop thinking about this issue, he reaches an absolutely false answer that has nothing to do with reality. Moreover, the main problem explored in this text relates to the field of gnoseology. In my view, Radishchev wrote the Diary to show explicitly the way in which human delusion unfolds. Radishchev’s hero is a learned philosopher, after all: in the first entry, he says about himself that his „reason has [long] striven to pursue the truth“. And as we have seen, this philosopher becomes subject to both passions and melancholy – the inevitable consequences of the same solitude that he so longed for – and loses his reason, if not his human self. On the plane of logic, then, the Diary comprises yet another study of the paths of reason, one whose structural logic resembles that of the treatise On Man, His Death and Immortality.26 Here again, one’s reason and knowledge of the world are subject to one’s sensibility, to one’s mere sensory perception. It is the hero’s own senses (sight, hearing, etc.) demonstrate to him – impassionately – day after day that he has no friends. If we rely on our senses alone, in other words, we must deny the existence of phenomena that cannot be perceived by the senses such as the immortal soul (as in On Man) or even the fidelity of the friends (as in Diary). In both of his texts, Radishchev demonstrates that without belief in these phenomena man is no longer man, but merely an „insect proud of its reason“.27 And finally. Descriptions of deviant states of mind – at least those that take the form of first-person narration or Ich-Erzählung – are not very frequent in Russian 25 26
27
Robert Burton: The anatomy of melancholy. London 1926, p. 241. The treatise is divided into four parts. The first two explore the reasons given by philosophers to prove the mortality of the soul, while in the last two Radishchev discusses what can be said to prove its immortality. At the end of the second part, Radishchev describes the materialist as „the most ferocious tyrant, a furious barbarian, a cold-blooded misanthrope“, and finally a beast: „O tiger, you don’t feel it [the immortality of the soul]“ (Radishchev: PSS [see note 2], vol. 2, p. 96). Radishchev: PSS (see note 2), vol. 1, p. 140.
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literature of the late eighteenth and early nineteenth centuries. Reading the Diary of One Week in the context of eighteenth-century notions of melancholy allows us, I would like to argue, to remove this text from its own position of enforced solitude – that which it currently holds in the history of Russian literature – and to offer it a well-deserved place among the ranks of such masterpieces as Gogol’s Diary of a Madman, various works by Dostoevsky, Garshin’s Red Flower, Chekhov’s Ward No. 6 and others.
CAROLINE TORRA-MATTENKLOTT (Zürich)
Melancholie und Übersicht. Formen und Funktionen der Synopsis bei Karl Philipp Moritz Besäße Karl Philipp Moritz auch nur ein Fünkchen Sterne’scher Ironie, so könnte man die Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782 als seine sentimental journey bezeichnen: Mindestens soviel wie über Land und Leute erfährt der Leser darin über die seelische Bürde, die Moritz aus Preussen mit über den Ärmelkanal gebracht hat und die er im Gegensatz zu seinem großen Reisekoffer nirgends aufgeben oder unterstellen kann. Die Melancholie lastet und drückt; sie beengt wie ein zu klein gewordenes Kleidungsstück und ist ihrem Träger doch angewachsen wie die eigene Haut. Moritz’ Ankunft in England gleicht dem ersehnten Einlaufen in den heimatlichen Hafen, dem Erreichen des Rettung bringenden Eilands nach einer Odyssee durch die Weltmeere, der Landung auf der Insel der Seligen – und ist doch nichts als der Übergang aus einer beklemmenden Lage in die andere: Auf der Themse den 31sten Mai. Endlich, liebster G[…], befinde ich mich zwischen den glücklichen Ufern des Landes, das zu sehen, schon Jahre lang mein sehnlichster Wunsch war, und wohin ich mich so oft in Gedanken geträumt habe. Vor einigen Stunden dämmerten noch die grünen Hügel von England vor uns in blauer Ferne, jetzt entfalten sie sich von beiden Seiten, wie ein doppeltes Amphytheater. Die Sonne bricht durch das Gewölk, und vergüldet wechselsweise mit ihrem Schein Gebüsche und Wiesen am entfernten Ufer. Zwei Masten ragen mit ihren Spitzen aus der Tiefe empor: fürchterliche Warnungszeichen! Wir segeln hart an der Sandbank vorbei, wo so viel Unglückliche ihr Grab fanden. Immer enger ziehen sich die Ufer zusammen: die Gefahr der Reise ist vorbei, und der sorgenfreie Genuß hebt an. Wie ist doch dem Menschen nach der Ausbreitung die Einschränkung so lieb! Wie wohl und sicher ists dem Wandrer in der kleinen Herberge, dem Seefahrer in dem gewünschten Hafen! Und doch bleibt der Mensch immer im Engen, er mag noch so sehr im Weiten sein; selbst das ungeheure Meer zieht sich um ihn zusammen, als ob es ihn in seinen Busen einschließen wollte; um ihn ist beständig nur ein Stück aus dem Ganzen herausgeschnitten. Aber das ist ein herrlicher Ausschnitt aus dem Ganzen der schönen Natur, den ich jetzt um mich her erblicke.1
Die Enge, die den Reisenden Moritz überallhin begleitet, ist eine existenzielle Enge: Es ist die Enge der häuslichen Verhältnisse seiner Kindheit, wie er sie in seinem autobiographischen Roman Anton Reiser beschreibt, die ewige Knappheit der Mittel, die Armseligkeit seiner Kleider und Unterkünfte in den Lehr- und Studienjahren; es sind die Demütigungen durch Eltern, Lehrer und Mitschüler, und es 1
Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782. In Briefen an Herrn Direktor Gedike von Carl Philip Moriz. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Hg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1997, S. 248–392, hier S. 251.
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ist nicht zuletzt die Tuberkulose, an der er seit früher Kindheit leidet, der er jedoch – anders als seinen psychischen Leiden – in seinen Schriften so gut wie keinen Ausdruck verliehen hat.2 Zugleich – und dies ist wohl der primäre Sinn der zitierten Textpassage – ist die Empfindung der Enge für Moritz das Symptom einer anthropologischen Beschränkung: Den Erkenntniskräften des Menschen ist die Welt immer nur stückweise, in begrenzten Raumausschnitten und im zeitlichen Nacheinander zugänglich. Wenn sie sich dann gleichwohl „wie ein doppeltes Amphitheater“ vor seinen Augen „entfaltet“ – ein Bild, das nicht zufällig an die Leibnizsche Monadologie erinnert, zugleich aber die Doppelseite eines aufgeschlagenen Buchs, das Theater und die Figur des Kreises evoziert –, bedeutet das für Moritz einen jener Glücksmomente, in denen die Lebens- und Erkenntnishindernisse für einen Augenblick zurücktreten, um die Sicht auf ein Ganzes freizugeben. Die gesamte Englandreise ist strukturiert durch den Wechsel zwischen Situationen der Bedrängnis und wohltuenden Momenten des Aufatmens und der Weitsicht. Und wie bereits auf der ersten Seite des Reisetagebuchs entsprechen diese gegensätzlichen Empfindungsqualitäten den räumlichen Gegebenheiten: Auf die „trübe Stunde“, die Moritz, durch einen anhaltenden Regenguss am Blick auf die sanftgrüne Hügellandschaft gehindert, in der Schiffskajüte zubringen muss,3 folgen viele weitere in bedrückenden Provinzorten, unwirtlichen Gasthäusern und engen Postkutschen. Nach einem längeren Stadtaufenthalt lässt die friedliche Uferlandschaft bei Richmond selbst das demokratische London im Rückblick als einen großen, von Kohlendampf geschwärzten Kerker erscheinen: „Wohl mir“, schreibt Moritz, „daß ich jenem melancholischen Gemäuer noch zu rechter Zeit entflohen bin!“4 Die äußeren Umstände dieser Flucht sind richtungweisend für den weiteren Verlauf der Reise. Moritz verlässt London in der Postkutsche, deren Raumorganisation die wahren gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelt: Personen von niedrigem Stande oder geringen Mitteln fahren nicht „inwendig“, sondern auf dem Dach der Kutsche mit, wo man nur mit Mühe sein Gleichgewicht hält; von einem Juden wird erwartet, dass er diese Form des Reisens seines gesellschaftlichen Status wegen klaglos akzeptiert.5 Die komfortablere Fahrt im Innenraum kommt dagegen dem Transport in einer platonischen Höhle gleich: Es war ein schöner Tag, und die herrlichsten Aussichten von beiden Seiten, auf denen das Auge gern länger verweilt hätte, wenn unser Wagen nicht so neidisch vorbeigerollt wäre. […] Von den prächtigen Landhäusern und Lustschlössern, vor welchen wir nun vorbeifuhren, 2
3 4 5
Zu Moritz’ Krankheit und ihrer (weitgehenden) Absenz in seinen Texten vgl. Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Frankfurt a.M. 1987, S. 280–296 sowie Ernst-Peter Wieckenberg: Die Schwindsucht, der Körper und die Aufklärung bei Karl Philipp Moritz. In: text+kritik 118/119 (1993): Karl Philipp Moritz, S. 15– 23. Vgl. Moritz: Reisen eines Deutschen in England (wie Anm. 1), S. 252. Ebd., S. 310. Vgl. ebd., S. 308f. Zum Fahren „on the Outside“ vgl. auch S. 379f.
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konnte ich, aus den Fenstern unsrer Kutsche immer nur stückweise und abgebrochen einen Prospekt haben, welches mich wünschen ließ, bald aus diesem rollenden Kerker befreit zu sein.6
Hinfort reist Moritz zu Fuß. Er entscheidet sich damit nicht nur für die frische Luft, die körperliche Aktivität und den unverstellten Blick auf die Landschaft, sondern auch gegen die englische Gesellschaft und ihre Annehmlichkeiten: Wer zu Fuß auf der Landstraße unterwegs ist, gilt als „a poor travelling creature“ ohne Anspruch auf zivile Behandlung und erweist sich als annähernd chancenlos bei der Suche nach einem Zimmer im Gasthaus.7 Bereits nach zwei Tagen hat Moritz soviel „Ungemach als Fußgänger erfahren“, daß er unschlüssig ist, ob er seine Reise „so fortsetzen soll oder nicht“.8 Neben der authentischen Wanderlust ist es eine Mischung aus Klaustrophobie, Eigensinn und Masochismus, die ihn gleichwohl daran hindert, sich den örtlichen Gepflogenheiten anzupassen und eine Kutsche zu nehmen: Moritz wandert weiter und lässt sich in den Gasthöfen, die ihn aufnehmen, trotz guter Bezahlung „mit Murren und Verachtung, wie einem Bettler“ aufwarten,9 bereits zugesagte Nachtlager wieder aufkündigen und von den bestenfalls mitleidigen, schlimmstenfalls spöttischen und verachtungsvollen Bemerkungen der Einheimischen erniedrigen.10 Moritz ist von den stets prekären und als demütigend erlebten Verhältnissen seiner Jugendzeit zu tief geprägt, als dass er die Exklusionsmechanismen der englischen Provinzgesellschaft mit der Selbstdistanz eines teilnehmenden Beobachters zur Kenntnis nehmen könnte. Das Hohngelächter der Dienstboten trifft ihn ins Innerste,11 und von der Bezeichnung „poor travelling creature“, die ihm „alles Elend eines Menschen, der nirgends eine Heimat hat, und die Verachtung der er ausgesetzt ist, in kurzen Worten auszudrücken“ scheint,12 gellen ihm die Ohren. Umso wohler ist ihm auf einsamen Wegen in der freien Natur, besonders dann, wenn eine Anhöhe den Panoramablick auf die Landschaft gestattet: Daß ich mich mit meinem Gelde in der Tasche so mußte behandeln lassen, bloß weil ich zu Fuße ging, brachte mich dann doch etwas auf. Ich mußte für mein Mittagessen und Kaffee zwei Schillinge bezahlen, die ich hinwarf, und schon den Staub von meinen Füßen schütteln wollte, um diesen unwirtbaren, unfreundlichen Ort zu verlassen, als die grünen Hügel von Windsor, mir so freundlich zulächelten, und mich einzuladen schienen, sie erst zu besuchen, und der Unfreundlichkeit der Menschen zu vergessen. Ich stieg nun durch die Straßen von Windsor einen Hügel hinauf, und ein steiler Weg führte mich endlich ganz auf den Gipfel desselben, bis dicht an die Mauer des Kastells, wo ich auf einmal eine so weite, schöne, herzerhebende Aussicht vor mir hatte, daß ich in dem Augenblick jeden Gedanken an Beleidigung und Unrecht von Menschen vergaß. Denn hier lag nun die 6 7 8 9 10 11 12
Ebd., S. 307, 309. Ebd., S. 375. Ebd., S. 312. Ebd., S. 316. Vgl. ebd., S. 319–322, 325f., 332f., 350, 354. Vgl. ebd., S. 322. Ebd., S. 375.
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ganze reiche, üppige Natur, eine der schönsten Landschaften in der Welt, der herrlichste Stoff, den Popens Muse wählte, zu meinen Füßen, und vor meinen Blicken majestätisch ausgebreitet.13
Gegenstand meiner folgenden Ausführungen ist die Funktion des Panoramablicks bzw. der Übersicht für Moritz’ Psychologie – wobei mit ‚Psychologie‘ sowohl Moritz’ eigentümlicher Affekthaushalt gemeint ist, so wie er sich in seinen Werken darstellt, als auch die von ihm inaugurierte wissenschaftliche Disziplin der Erfahrungsseelenkunde. Das Heraustreten aus einer als bedrängend erlebten psychischen und sozialen Realität und das Einnehmen einer erhöhten Betrachterposition ist ein von Moritz privilegierter Erfahrungsmodus, ein Akt der Selbstbefreiung und häufig auch der Selbstreflexion. Ich werde nun zunächst anhand einiger Textpassagen aus Moritz’ Anton Reiser auf die erkenntnisphilosophischen Implikationen dieser ‚Psychotechnik‘ eingehen. In einem zweiten Schritt möchte ich zeigen, in welchem Maße sie auch die Form seiner wissenschaftlichen Arbeiten prägt: Der wohltuende Blick auf die englische Hügellandschaft findet sein Pendant in den diagrammatischen Darstellungsformen von Tabellen und Indices.
Selbstbeobachtung und panoramatische Sicht im Anton Reiser Was im England-Tagebuch als eher zufällige Aneinanderreihung gegensätzlicher Stimmungen und Reiseimpressionen erscheinen mag, erweist sich im Anton Reiser als ein festgefügtes Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster: Antons Leiden entstehen und akzentuieren sich in den gesellschaftlichen Strukturen, die ihn zugleich einengen und ausgrenzen; sie lassen sich – wenn auch oft nur kurzzeitig und illusorisch – durch Lektüre und Theaterspiel in Bann halten. Das effizienteste und am wenigsten von Eitelkeit und Phantasterei getrübte Mittel gegen die Melancholie ist jedoch auch für Anton Reiser das Wandern: der Weg hinaus in die offene Landschaft, vor allem aber das Umrunden der Stadt auf den Wallmauern, das es Anton ermöglicht, die Schauplätze seines quälenden Alltags von einer distanzierten und erhöhten Position aus zu übersehen – eine Methode der seelischen Entlastung, die Anton zunächst durch Zufall entdeckt, später aber gezielt anwendet und reflektiert.14 Die Suche nach Aussichtspunkten, zu deren Zweck Moritz sich in England nicht scheut, morgens um drei Uhr aufzustehen (um dann allerdings unter großem Ärger bis sechs Uhr hinter den verschlossenen Türen des Gasthofs zu warten oder – auf einer späteren Wanderung – den Aufstieg auf den ersehnten Gipfel von Fuß-
13 14
Ebd., S. 316f. Vgl. hierzu auch C. Torra-Mattenklott: Kreisfigur und Metachematismus bei Karl Philipp Moritz. In: Ulrich Gaier u. Ralf Simon (Hg.): Zwischen Bild und Begriff. Kant und Herder zum Schema. München 2010, S. 155–190, hier bes. S. 170–178.
Melancholie und Übersicht
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angeln versperrt vorzufinden),15 ist also nicht nur ein touristisches, sondern auch und vor allem ein therapeutisches Bedürfnis. In der Psychologie des 18. Jahrhunderts ist diese von Moritz mehrfach literarisch verarbeitete Form der Selbsttherapie in doppelter Weise verankert: Zum einen steht sie im Zusammenhang mit der neuen, u.a. durch die pietistische Praxis der Selbstbeobachtung beförderten empirischen Psychologie, der Moritz mit seinem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde ein Programm und eine gewichtige Sammlung von Beobachtungen und Fallgeschichten gestiftet hat. Teile des Anton Reiser sind zuerst im Magazin erschienen und müssen insofern als Dokumente psychologischer Selbstbeobachtung verstanden werden.16 Zum anderen, und zwar in anthropologischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht, wurzelt sie im traditionellen „Mythos“ von der epistemischen Unvollkommenheit des Menschen, der die Beschränkungen seines Erkenntnisvermögens durch die symbolische Repräsentation ausgedehnter Zusammenhänge kompensieren muss.17 Verliert sich dabei der Bezug zur lebendigen Anschauung, wird die Erkenntnis leer und spekulativ. Um sich dagegen dem Ideal der deutlichen und zugleich intuitiven, alles Seiende simultan erfassenden Erkenntnis anzunähern, müssen die Zeichen die bezeichnete Sache nicht nur repräsentieren, sondern auch darstellen. Das Projekt eines solchen idealtypischen Zeichensystems entwarf Leibniz mit seiner ars characteristica, einer Kunstsprache, die in ihren Strukturen die Strukturen der bezeichneten Gegenstände abbilden und so die abstrahierende Leistung der Sprache mit den diagrammatischen Qualitäten des Bildes vereinigen sollte.18 Bei Moritz verschmilzt die intellektuelle Erfahrung der epistemischen Beschränktheit mit den individuellen, als Komplex lebenslanger Behinderungen erlebten sozialen, emotionalen und körperlichen Mängeln, die ihn selbst die Grenzen des Denkens als physische Hemmnisse empfinden lassen. Ich zitiere hierzu einen Abschnitt des Anton Reiser, in dem von Antons philosophischen Lektüren und Meditationen die Rede ist: 15 16
17
18
Vgl. ebd., S. 311, 320f. Moritz’ Theorie und Praxis der Selbstbeobachtung gehört zu den zentralen Themen der MoritzForschung, vgl. z.B. Raimund Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1983 (Epistemata 14), S. 152–166 und Sibylle Kershner: Karl Philipp Moritz und die „Erfahrungsseelenkunde“. Literatur und Psychologie im 18. Jahrhundert. Herne 1991, S. 47–66. Zu diesem „Mythos“ und seiner Bedeutung für Lessings Poetik und Ästhetik vgl. David Wellbery: Lessings Laokoon: Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge u.a. 1984, bes. S. 30–42 und 191–227. Zur ars characteristica vgl. in diesem Sinne Wellbery (ebd.), S. 35; zur Annäherung der Dichtung als „diagrammatic icon“ an die ars characteristica bei Lessing ebd., S. 237f. Zur Diagrammatik bei Moritz vgl. unter diesem Aspekt auch Wolfgang Schäffner: Das Indiz des Schönen. Ästhetische Autonomie und die Dispositive der Macht bei Karl Philipp Moritz und Friedrich Schiller. In: Ders. u.a. (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Berlin 2000 (Literaturforschung), S. 439–459. Schäffner beschreibt Moritz’ diagrammatische Darstellungsformen im Kontext einer an Foucault orientierten Geschichte der Beobachtung und Disziplinierung als administrative Techniken der Archivierung und der Kontrolle.
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Allein schon damals war es ihm oft, wenn er sich eine Weile im Nachdenken verloren hatte, als ob er plötzlich an etwas stieße, das ihn hemmte, und wie eine bretterne Wand, oder eine undurchdringliche Decke auf einmal seine weitere Aussicht schloß – es war ihm dann, als habe er nichts gedacht – als Worte – Er stieß hier an eine undurchdringliche Scheidewand, welche das menschliche Denken von dem Denken höherer Wesen verschieden macht, an das notwendige Bedürfnis der Sprache, ohne welche die menschliche Denkkraft keinen eigenen Schwung nehmen kann – und welche gleichsam nur ein künstlicher Behelf ist, wodurch etwas dem eigentlichen reinen Denken, wozu wir dereinst vielleicht gelangen werden, ähnliches, hervorgebracht wird. – Die Sprache schien ihm beim Denken im Wege zu stehen, und doch konnte er wieder ohne Sprache nicht denken. – Manchmal quälte er sich Stunden lang, zu versuchen, ob es möglich sei, ohne Sprache zu denken – Und dann stieß ihm der Begriff vom Dasein als die Grenze alles menschlichen Denkens auf – da wurde ihm alles dunkel und öde […].19
Der visuellen Metaphorik, in der das gehemmte Denken hier als eine verschlossene Aussicht dargestellt wird, entspricht das philosophische Gewicht, mit dem Moritz den Überblick im wörtlichen Sinne ausstattet. So gelingt es Anton Reiser im Panoramablick auf das Gassengewirr, in dem sich sein trüber Alltag abspielt, die sukzessiven Stationen seines labyrinthischen Lebenswegs zu einem Gesamtbild zusammenzufassen und sie sich – in perspektivischer Verkürzung – als sinnhafte Struktur zu eigen zu machen.20 Das Stadtbild wird zur diagrammatischen und mithin sowohl anschaulichen als auch gedanklich durchdringbaren Darstellung jener bedrückenden Verhältnisse, die den melancholischen Reisenden bis in die englische Provinz hinein verfolgen. Die Textpassagen im Anton Reiser, an denen sich dies belegen lässt, sind zu verstreut und ausgedehnt, um hier in extenso zitiert zu werden. Ich möchte mich daher auf eine Stelle beschränken, die in denselben zeitlichen Kontext gehört wie die Beschreibung von Antons philosophischen Meditationen. Von Kopfschmerzen geplagt, verlässt Anton die enge Wohnstube des Fleischers, bei dem er logiert, um ausgedehnte Spaziergänge auf den Wallmauern von Hannover zu unternehmen: Um sich nun zuweilen dem Geräusch, das ihn umgab, zu entziehen, scheute er manchmal weder Regen noch Schnee, sondern machte des Abends, wenn es dunkel wurde, […] einen Spaziergang auf dem Walle, um die Stadt; und bei diesen Spaziergängen war es, wo sich sein Geist immer etwas wieder ermannte, und ein Funke von Hoffnung, sich aus seinem schrecklichen Zustande herauszuarbeiten, in seiner Seele wieder emporglimmte. – Wenn er dann auf den Straßen, die an den Wall grenzten, in den Häusern Licht angesteckt sahe, und sich nun dachte, daß in jeder erleuchteten Stube […] eine Familie, oder sonst eine Gesellschaft von Menschen, oder ein einzelner Mensch lebte, und daß eine solche Stube also in dem Augenblick die Schicksale und das Leben und die Gedanken eines solchen Menschen, oder einer solchen Gesellschaft von Menschen in sich faßte; und daß er auch nach dem vollendeten Spaziergange in eine solche Stube wieder zurückkehren würde, wo er gleichsam hingebannt, und wo der eigentliche Fleck seines Daseins wäre; so brachte dies bei ihm zuerst eine sonderbare demütigende Empfindung hervor, als sei nun sein Schicksal, unter diesem unendlichen verwirrten Haufen sich einander durchkreuzender menschlicher Schicksale gleichsam verloren, 19 20
Moritz: Anton Reiser. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Frankfurt a.M. 1999, S. 85–518, hier S. 301 (Hervorh. im Orig.). Vgl. bes. ebd., S. 318–320 und 473f.
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und werde dadurch klein und unbedeutend gemacht. – Dann erhoben aber auch eben diese Lichter in den einzelnen Stuben in den Häusern am Walle, zuweilen seinen Geist wieder, wenn er einen Überblick des Ganzen daraus schöpfte, und sich aus seiner eigenen kleinen einengenden Sphäre […] herausdachte, und sich ein besonderes ausgezeichnetes Schicksal prophezeite, wovon die süße Vorstellung, indem er dann mit schnellen Schritten vorwärts ging, ihn aufs neue mit Hoffnung und Mut belebte. Eine Reihe erleuchteter Wohnzimmer in einem fremden ihm unbekannten Hause […] hat nachher beständig sonderbare Empfindungen in ihm erweckt – die Eingeschränktheit des einzelnen Menschen ward ihm anschaulich.21
Ähnlich wie die englischen Postkutschen und Wirtshäuser sind die Hannoveraner Wohnstuben für Moritz Inbegriff gesellschaftlicher Zwangssituationen. Das Bedrückende ihres Anblicks verkehrt sich jedoch in Mut und Optimismus, sobald der Betrachter seinen eigenen erhöhten Standpunkt mitreflektiert, sich also nicht als Teil des „verwirrten Haufen[s] menschlicher Schicksale“ empfindet, sondern sich bewusst über das Gewirr erhebt und es als Ganzes überblickt. Was ihm dabei „anschaulich“ wird, geht über die gegenständliche Konkretion der erleuchteten Stubenfenster hinaus: Mit der „Eingeschränktheit des einzelnen Menschen“ ist nicht mehr nur die beengende soziale Sphäre gemeint, in die Anton Reiser sich „hingebannt“ fühlt, sondern eine abstraktere, die conditio humana im Ganzen charakterisierende Form der Begrenzung. Der emanzipatorische Effekt der Einsicht in diese Beschränktheit liegt weniger in der Relativierung der individuellen Unzulänglichkeit als im Moment der Distanznahme und Selbstreflexion, das sie voraussetzt – eine Denkfigur, die an die Kantsche Theorie des Erhabenen erinnert. Seiner Form nach nähert sich der Erkenntnisakt, mit dem Anton Reiser sich die Eingeschränktheit des Menschen veranschaulicht, paradoxerweise jenem idealen Erkenntnismodus an, bei dem intellektuelle Erkenntnis und sinnliche Anschauung in einer der Zeit enthobenen Erfahrung der Transparenz miteinander verschmelzen. Die räumliche Disposition der Stadtanlage wird zum Diagramm gesellschaftlicher und anthropologischer Strukturen, ähnlich wie sich die sozio-psychologischen Reaktionsmuster des preussischen Reisenden in den Anhöhen und Niederungen der englischen Provinzlandschaft abbilden. In derselben Lebensphase, in der ihm die Sprache als unüberwindliche Erkenntnisschranke erscheint und der Blick auf die beleuchtete Stadt ihm den Ausweg aus der Enge seiner gesellschaftlichen Verhältnisse weist, entdeckt Anton Reiser die Übersicht auch als Hilfsmittel und Leitfaden der wissenschaftlichen Erkenntnis. Beim einsamen Studieren philosophischer Werke in seiner Dachstube legt er sich Inhaltsverzeichnisse und Tabellen an, um bei der Lektüre stets die Ordnung des Ganzen im Auge zu behalten: Er hatte sich von dem Bücherantiquarius unter andern Gottscheds Philosophie geliehen, und so sehr auch in diesem Buche die Materien durchwässert sind, so gab doch dies seiner Denkkraft
21
Ebd., S. 306 (Hervorh. im Orig.).
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gleichsam den ersten Stoß – er bekam dadurch wenigstens eine leichte Übersicht aller philosophischen Wissenschaften, wodurch sich die Ideen in seinem Kopfe aufräumten. – Sobald er dies merkte, nahm auch sein Eifer, die Sache bald zu übersehen, mit jedem Tage zu. – Er sah, daß das bloße Lesen nichts half – er fing also an, sich auf kleinen Blättchen schriftliche Tabellen zu entwerfen, wo er das Detail immer dem Ganzen gehörig unterordnete, und sich auf die Weise einen anschaulichen Begriff davon zu machen suchte. – Das simple Abschreiben des Hauptinhalts brachte für ihn schon ein vorzügliches Interesse in die Sache – denn indem er nun das Blatt, auf welches er die in dem Buche enthaltenen Materien niedergeschrieben hatte, beim Lesen des Buches vor sich hinlegte, erhielt er dadurch den Vorteil, daß er bei dem Einzelnen nie das Ganze aus den Augen verlor, welches doch beim philosophischen Denken immer ein Haupterfordernis ist, und auch die größte Schwierigkeit macht. – 22
Die räumliche Anordnung des Wissens und die Möglichkeit, sich den Aufbau des gerade gelesenen Werkes auf einem „kleinen Blättchen“ stets vor Augen zu führen, kompensieren den beständigen Wissensverlust, dem das eingeschränkte menschliche Fassungsvermögen durch das Gebundensein ans Nacheinander der Sprache ausgesetzt ist. Die strukturelle Übereinstimmung zwischen dieser Lektüretechnik (die dem systematischen Aufbau der schulphilosophischen Werke entspricht) und dem panoramatischen Blick auf Stadt und Landschaft zeigt sich nicht zuletzt in der Metaphorik, in der Moritz im Anton Reiser die Funktion der Inhaltsverzeichnisse und Tabellen beschreibt: Alles was er noch nicht durchdacht hatte, lag auf dieser Charte [dem „Hauptinhalt“, C. T.-M.] wie ein unbekanntes Land vor ihm, welches genauer kennen zu lernen, er eine ordentliche Sehnsucht empfand. – Die Umrisse, das Fachwerk war durch die die allgemeine Übersicht des Ganzen einmal in seiner Seele gemacht, er strebte nun von den Lücken, die er erst jetzt empfinden konnte, eine nach der anderen auszufüllen. – Und dasjenige, was ihm erst bloß leere Namen gewesen waren, wurden nun allmählich vollgefüllte deutliche Begriffe, und wenn er nun eben den Namen wieder las, oder wieder dachte, und ihm auf einmal alles so licht und helle wurde, so bemächtigte sich seiner ein so angenehmes Gefühl dabei, als er noch nie empfunden hatte – er schmeckte zuerst die Wonne des Denkens. – 23
Das Inhaltsverzeichnis als Landkarte, die Tabelle als Fachwerk: In Anton Reisers Praxis der philosophischen Lektüre spiegelt sich seine Leidenschaft für das Reisen;24 die mentale Anordnung des Gelesenen folgt dem Modell jener durchbrochenen Häuserfassaden, die dem abendlichen Spaziergänger seine anthropologischen Konzepte anschaulich machen. Es ist die diagrammatische Qualität der Überblicksdarstellung, die – wie der Panoramablick auf die Hannoveraner Häuserfronten – den abstrakten Begriffen zur Anschauung verhilft und den Melancholiker aus seiner trüben Stube ins Licht der Erkenntnis führt. 22 23 24
Ebd., S. 299 (Hervorh. im Orig.). Ebd., S. 299f. (Hervorh. im Orig.). Auf seiner Englandreise trägt Moritz eine „Specialcharte von England“ nebst „einem vortrefflichen Wegweiser“ bei sich, mit dessen Hilfe er in der Postkutsche die gefahrene Strecke wenigstens auf dem Papier mitzuverfolgen sucht, vgl. Moritz: Reisen eines Deutschen in England (wie Anm. 1), S. 305f.
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Tabelle, Register und Revision: Formen der Synopsis im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde und in der Deutschen Sprachlehre für die Damen Moritz’ Melancholie lässt sich nicht auf den melancholischen Habitus des Gelehrten reduzieren; die Selbstanalyse im Anton Reiser deutet auf andere, tieferliegende Quellen. Dennoch ist Antons Leiden auch schon in frühen Jahren ein Leiden an der Sprache,25 und die Form der Selbsttherapie, von der auch die Verhaltensmuster des Englandreisenden zeugen, ist zugleich eine Praxis der kognitiven Selbstermächtigung. Moritz’ Hauptwerke, der „psychologische Roman“ Anton Reiser und das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, sind bedeutende Dokumente dieser Praxis: Sie thematisieren die diätetische Funktion der Selbstaufklärung, weisen sich aber auch ihrer literarischen Form nach als Medien und Produkte einer Psychologie aus, zu deren Grundprinzipien die ordnende Übersicht gehört.26 Während der Anton Reiser dabei großenteils der linearen und chronologischen Form der Autobiographie verhaftet bleibt, werden im Magazin, dessen Titel auch in diesem Punkt programmatisch ist, von vornherein andere Darstellungsweisen angestrebt. Im 1782 publizierten Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde entwirft Moritz das Projekt einer Sammlung psychologischer Beobachtungen „unter gewissen Rubriken“, die erst am Ende reflektiert und „zu einem zweckmäßigen Ganzen geordnet“ werden sollen, damit die „Lücken“ des Gebäudes „nicht durch leere Spekulazionen zugestopft, sondern durch Tatsachen ausgefüllt würden“.27 Ein erstes Brainstorming deutet an, wie die zu sammelnden Beobachtungen ausgewählt und vorläufig gruppiert werden könnten: Schon die Geschichte der Missetäter und der Selbstmörder, was für einen reichen Stoff bietet sie dar? Die Geschichte wohlhabender in den Bettelstand geratener Leute, und solcher, die sich aus einem niedern Stande empor geschwungen haben. Die letzten Stunden großer Männer, so wie der Aufsatz von Sulzern im deutschen Museum, und das, was Leisewiz von Lessings Tode schreibt. Eigne wahrhafte Lebensbeschreibungen oder Beobachtungen über sich selber, wie Stillings Jugend und Jünglingsjahre, Lavaters Tagebuch, Semlers Lebensbeschreibung, und Rousseaus Memoiren, wenn sie erscheinen werden. Die Besserungsgeschichten von Jünglingen und Erwachsenen in jedem Alter. Die Art und Weise, wie es jemandem gelungen ist, irgend einen besondern Fehler, als Zorn, Hochmut oder Eitelkeit abzulegen. Der Rückfall in diese Fehler.28 25 26
27 28
Vgl. dazu z.B. Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart 1997, S. 356–384. Vgl. in diesem Sinne auch die epistemologische Charakterisierung von Raimund Bezold in: Ders.: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde (wie Anm. 15), S. 167–180 („,Fakta‘ und ‚Gesichtspunkt‘. Das Wissenschaftskonzept der Erfahrungsseelenkunde und der Anton Reiser“). Bezold konstatiert auch eine Parallele zwischen Moritz’ Wallspaziergängen, seiner Theater-Leidenschaft und der Erfahrungsseelenkunde als Praktiken der Selbstbeobachtung und betont deren illusorischen Charakter (vgl. ebd., S. 9, 152–166). Moritz: „Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde“. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Bd. 1, S. 793–809, hier S. 796f., 798. Ebd., S. 796.
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Die barock anmutende Auflistung erfahrungsseelenkundlicher Themen, die ich hier nur knapp zur Hälfte wiedergegeben habe, ist ein Inventio-Katalog, eine Zusammenstellung möglicher Fundorte, und zugleich ein erster, noch sehr am Konkreten orientierter Klassifizierungsversuch. Sie enthält aber auch einen Hinweis auf die mögliche Disposition des zusammengetragenen Materials: Vergleichbare Gegenstände sollen einander zugeordnet werden, so etwa bei der „Nebeneinanderstellung verschiedener Personen aus der Geschichte, und ihr[em] Verhalten in beinahe ähnlichen Fällen“.29 Dass Moritz das Wort „Nebeneinanderstellung“ in diesem Zusammenhang nicht zufällig gebraucht, erhellt weiter unten im Text: Mit der architektonischen Metapher des Magazins ist ein Darstellungsprinzip benannt, das – im Unterschied etwa zur zukunftsoffenen seriellen Erscheinungsform moderner Wissenschaftsmagazine – die simultane Überschaubarkeit eines geschlossenen Ganzen gewährleisten soll. Die angestrebte Position des psychologischen „Menschenbeobachters“ ist der idealtypische Blickpunkt des göttlichen Auges, dem sich die Geschichte nicht als unübersichtliche Sukzession diskrepanter Ereignisse, sondern als harmonische Totalität darbietet: Aufmerksamkeit aufs Kleinscheinende ist überhaupt ein wichtiges Erfordernis des Menschenbeobachters, und dann die Übung in der Nebeneinanderstellung des Successiven, weil der Mensch bloß aus successiven Äußerungen erkannt werden kann. Nun wird aber dasjenige in der Nebeneinanderstellung oft zur Harmonie, was einzeln genommen, mißtönen würde: dies trifft auch bei dem Menschen ein. Welche Harmonie muß der höchste Verstand vernehmen, indem alles neben einander steht, und zugleich tönet, was uns auf einander zu folgen und einzeln zu tönen scheinet! etwas Ähnliches wird vielleicht einmal das Resultat von allen neben einander gestellten Bemerkungen des Menschenbeobachters sein.30
Eine erste Nebeneinanderstellung dieser Art hat Moritz seinem Bericht nach selbst im Rahmen seiner Tätigkeit als Lehrer am Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster angefertigt. Gegenstand der Beobachtung waren hier die Charaktere seiner Schüler, deren auffallende Züge er über längere Zeit hinweg in einem eigenen „Journal“ festhielt und schließlich sogar in einer Tabelle verzeichnete: Auf diese Weise habe ich mir eine Tabelle von dem abstechendsten Charakter entworfen, wo die Namen oben in einiger Entfernung neben einander stehn, und wo ich unter einem jeden die täglichen Bemerkungen eintrage. Es ist ein Vergnügen diese Karaktere da neben einander figurieren zu sehn, und ihre Nüancen bis in die kleinsten körperlichen Bewegungen, und bis zum Mienenspiele zu verfolgen.
29 30
Ebd. Ebd., S. 801 (Hervorh. im Orig.). Zur Bedeutung dieses Konzepts in der Historiographie des 18. Jahrhunderts vgl. Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde (wie Anm. 15), S. 178f. Zur Tradition der tabellarischen Übersicht in der Geschichtsvermittlung der frühen Neuzeit vgl. Arndt Brendecke: „Tabellenwerke in der Praxis der frühneuzeitlichen Geschichtsvermittlung“. In: Theo Stemmen u. Wolfgang E. J. Weber (Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Berlin 2004 (Colloquia Augustana 18), S. 157–189.
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Indem bei diesem Anblick die Mannigfaltigkeit in den Werken Gottes meiner Seele immer anschaulicher wird, erhebt sich oft mein ganzes Herz.31
In dem Vergnügen, das Moritz dabei empfindet, „diese Karaktere da neben einander figurieren zu sehn“, schwingt seine Leidenschaft für das Schauspiel mit, das als weiterer Bildspender neben dem Magazin und dem Spiegel die visuelle Hintergrundmetaphorik des Vorschlags bereichert. Leider hat Moritz seine Schülertabelle nicht ins Magazin zur Erfahrungsseelenkunde aufgenommen, aber vergleichbare „Nebeneinanderstellungen“ ausgeprägter Schülercharaktere wurden von seinen Lehrerkollegen geliefert und unter der Rubrik „Seelenzeichenkunde“ veröffentlicht. Der Charakterbegriff steht hier sowohl für die psychischen und physiognomischen Eigenheiten der Schüler als auch allgemein für die äußeren Zeichen seelischer Vorgänge und in der oben zitierten Textpassage obendrein für die Buchstaben in Moritz’ Tabelle. Im Verbund mit dem universalistischen Anspruch, die „Mannigfaltigkeit in den Werken Gottes“ anschaulich zu machen, stellt diese akzentuierte Mehrdeutigkeit Moritz’ charakterologisches Projekt in den Kontext der Characteristica universalis. Intendiert ist nicht nur eine Sammlung psychologischer Beobachtungen, sondern auch ihre ebenso analytische wie anschauliche Präsentation. Am konsequentesten hat Moritz dieses Programm in den zum Teil umfangreichen Tabellen seiner Deutschen Sprachlehre realisiert: Sie überführen die Linearität der Sprache in die simultane Darstellungsform des Diagramms und demonstrieren am Leitfaden des menschlichen Körpers die Systematizität und Raumbezogenheit noch der scheinbar abstraktesten Partikel (vgl. Abb. 1, S. 128). Im Hintergrund steht dabei eine Sprachtheorie, die ausgehend vom Ausdruckswert einzelner Laute die These von der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens widerlegen soll.32 Moritz’ Sprachlehre richtet sich an die „Damen“, deshalb kommt sie nicht im strengen Gewand einer wissenschaftlichen Abhandlung daher, sondern nimmt die zwanglose Form eines Spaziergangs an. In seinem Rhythmus gleicht er den Wanderungen, die Moritz auf seinen Reisen unternimmt: Der Weg ist weit, und er führt die Spazierenden zuweilen durch „öde[] Labyrinthe“.33 Wenn sie dabei den Faden nicht verlieren, wird ihr Eifer jedoch mit der Sicht auf eine liebliche Landschaft belohnt. Im Rückblick betrachtet, fügen sich die zunächst einzeln studierten Teile der Sprache zu einem „wunderbaren Ganzen“ zusammen: lassen Sie uns den Faden nicht verlieren, der uns aus diesem Labyrinthe allmälig herausleitet, so werden wir eine Anhöhe nach der andern ersteigen, wo Sie den ganzen Bau und die Anlage 31 32 33
Moritz: Vorschlag zu einem Magazin (wie Anm. 26), S. 807. Vgl. hierzu C. Torra-Mattenklott: Kreisfigur und Metaschematismus (wie Anm. 14), S. 161– 166. Moritz: Deutsche Sprachlehre für Damen. In Briefen von K. Ph. Moritz. In: Ders.: Die Schriften in 30 Bänden. Hg. v. Petra u. Uwe Nettelbeck. Bd. 13. Nördlingen 1988, S. 10.
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dessen, was Ihnen vorher dunkel und verwirrt schien, mit einem Blick übersehen, und das passende Verhältnis aller Theile gegeneinander werden bemerken können. Diese wiederhohlten Rückblicke auf die Gegend, die wir durchwandert haben, werden die Belohnung einer jeden kleinen Anstrengung seyn, womit Sie irgend einen der Gegenstände, die ich Ihnen nacheinander darstellen werde, durchdacht haben. Keine Harmonie kann dem Ohre angenehmer tönen, als die Übereinstimmung einer Reihe von Gedanken, die man erstlich allmälig nacheinander, und dann auf einmal denkt […].34
Ähnlich erhellende Rückblicke hat sich der Herausgeber des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde zum Ziel gesetzt. Vom vierten Jahrgang an ist ein nicht unerheblicher Teil jedes Bandes der Revision des bereits gesammelten Materials gewidmet. Angestrebt und zum Teil auch umgesetzt ist die kritische Sichtung und Neuordnung der vorliegenden Artikel, die Kennzeichnung der Lücken und die abschließende Reflexion bereits hinreichend bearbeiteter Themenfelder. Von Moritz selbst begonnen, werden diese Revisionen während seiner Italienreise (Band V–VII, Jahrgänge 1787–1789) vom Mitherausgeber Pockels weitergeführt; in den Bänden VII und VIII folgt mit der Aufkündigung der Zusammenarbeit eine vernichtende „Revision der Revisionen des Hrn. Pockels in diesem Magazin, von K.P. Moritz“. In den letzten beiden Bänden wird die Rolle des Revisors von Salomon Maimon übernommen, der das Vorhandene durch eigene Beobachtungen und philosophische Reflexionen ergänzt. Der zehnte und letzte Band besteht zu mehr als einem Drittel aus einer „Realübersicht“, in der die wichtigsten Beiträge des gesamten Magazins ein weiteres Mal zusammengefasst werden, und einem „Universalregister oder allgemeine[n] Repertorium“, das die Inhaltsverzeichnisse aller vorangehenden Bände in zum Teil leicht überarbeiteter Form wiederholt.35 Von einer reinen Materialsammlung kann also nicht die Rede sein. Mit dem Fortschreiten des Projekts steigt vielmehr der Anteil an Wiederholungen, Übersichtsdarstellungen und Meta-Revisionen, bis schließlich die Präsentation neuer Beobachtungen ganz eingestellt wird. Wie der Herausgeber selbst, so zeigt auch das Magazin einen starken Hang zu Selbstreflexion, der sich besonders im Erproben verschiedener Formen der mehr oder weniger distanzierten Auf- und Übersicht manifestiert. Sie reichen vom nüchternen Inhaltsregister bis hin zu den angespannten und zuweilen ans Neurotische grenzenden Meta-Kommentaren, mit denen Moritz den von Pockels eingeschlagenen Kurs korrigiert und sich des selbsternannten Mitherausgebers entledigt. Vermutlich erübrigt sich die Bemerkung, dass Moritz’ Wunsch nach Zurückhaltung hinsichtlich moralischer Wertung und theoretischer Spekulation im Magazin nur in seiner eigenen Revision beherzigt wird.36 Die zusammengetragenen Fallge34 35
36
Ebd., S. 10f. Zur enzyklopädischen Tradition und heuristischen Funktion des Buchregisters vgl. Helmut Zedelmaier: Facilitas inveniendi. Zur Pragmatik alphabetischer Buchregister. In: Stemmen u. Weber (Hg.): Wissenssicherung (wie Anm. 29), S. 191–203. Vgl. zu diesem methodologischen Problem des Magazins auch Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde (wie Anm. 15), S. 167–180.
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schichten – wie Moritz bereits im vierten Band missmutig bemerkt, handelt es sich überwiegend um Erzählungen von Wahnwitz und Selbstmord – runden sich nicht von selbst zu einem systematischen Ganzen und bilden zu Maimons abschließenden Ausführungen allenfalls in Ansätzen die empirische Grundlage. Die einzigen Sachgebiete, deren Reflexion Moritz in seiner Revision zu einem vorläufigen Abschluss bringen kann, sind nicht zufällig die Sprachpsychologie und die Taubstummenproblematik, Themen, zu denen er selbst den Großteil der Beiträge geliefert hat. Es ist daher nicht wirklich verwunderlich, dass Moritz sich bereits im dritten Stück des vierten Bandes in einer selbstreflexiven Schleife verfängt, die seine Revision statt auf einer lichten Anhöhe in melancholischer Verfinsterung enden lässt: Er [der Verfasser, C. T.-M.] hat oft in einsamen Stunden über diesen unwiderstehlichen Hang seiner Seele zur Traurigkeit nachgedacht, der ihn oft schon wieder traurig machte, indem er im Begriff war, den Grund dieser Traurigkeit aufzufinden. Er glaubte, einst zu bemerken, daß diese Traurigkeit bloß in einer gewissen Trägheit der Seele gegründet sey; daß es manchmal wirklich bequemer sey, traurig, als vergnügt zu seyn; daß die unangenehmen Eindrücke leichter sind, als die angenehmen, weil sie der Seele nicht so viel Stoff geben, als die reichern und vollern angenehmern Eindrücke; woher nun aber gerade bei ihm wieder diese Trägheit, die einen solchen unerklärlichen Abscheu vor dem reichen und vollen der angenehmen Eindrücke verursacht, welcher mit dem Eckel vor den Speisen so viel Ähnliches hat? – Hier sah er Dunkelheit und Nacht vor sich. – – –37
Bei der Durchsicht der Fallgeschichten bilden die Melancholiker den Abschluss, und hier verengt sich der Blick des Revisors: Er wird sich selbst zum Gegenstand und verfällt, von Trägheit übermannt, in ein kreiselndes Grübeln. Die heilsame Distanz wird eingezogen, die Blickrichtung umgekehrt; der melancholische Affekt ist nicht mehr Thema, sondern Antrieb der Reflexion. Die „Wonnen des Denkens“, so zeigt sich hier, sind nicht dauerhafter als die Freuden Anton Reisers und die Glücksmomente des Englandreisenden; auch auf den Wegen der Wissenschaft bleibt Moritz „im Engen“. Ein Grund dafür mag im prekären epistemologischen Status der Erfahrungsseelenkunde liegen, die das Motto des Magazins programmatisch als eine Disziplin der Selbsterkenntnis definiert („ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ“, „kenne dich selbst“). Die Einheit von Selbsterfahrung und wissenschaftlicher Methode, die sich nicht zuletzt in der Strukturanalogie zwischen den beiden hier beschriebenen Spielarten des Überblicks manifestiert, führt zu einer kaum kontrollierbaren Verflechtung affektiver und kognitiver Impulse.38 Eine Wissenslücke in der Psycholo37
38
Moritz: Fortsetzung der Revision der drei ersten Bände dieses Magazins. In: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazins zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde hg. von Karl Philipp Moritz. Bd. 4, erstes bis drittes Stück, 1786. Nördlingen 1986, S. 193–203, hier S. 203 (Hervorh. im Orig.). Raimund Bezold stellt in diesem Zusammenhang die polemische Frage, ob „der Selbstbeobachter [im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, C. T.-M.] damit nicht den gleichen Illusionen wie der Spaziergänger Reiser“ aufsitze (Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde [wie Anm. 15], S. 9): Selbstbeobachtung – so Moritz’ eigene Einsicht – verführe zur Verstellung, und die Verdopplung des Denkens in der Reflexion sprenge unvermeidlich die gedankli-
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gie des 18. Jahrhunderts ist kein weißer Fleck auf der Landkarte, sondern, wie Moritz’ Formulierung zeigt, eine düstere Region der Seele – und wo das Licht der Erkenntnis nicht hinreicht, lauert der Affekt. Es ist nicht zuletzt diese Labilität des psychologischen Diskurses, die wir heute als authentische Qualität des Moritz’schen Schreibens wahrnehmen: Das depressive Verstummen des Revisors im vierten Band des Magazins hat etwas ähnlich Berührendes wie das unvermittelte Abbrechen des Notentexts in Bachs Kunst der Fuge.
che Einheit auf, die eigentlich ihr Gegenstand sei (vgl. ebd., S. 152–166). Dem lässt sich entgegenhalten, dass faktisch weder der Erzähler des Anton Reiser noch der Herausgeber des Magazins sich diesbezüglich irgendwelchen Illusionen hingeben: Die immer wieder – und mit beeindruckenden Ergebnissen – ins Werk gesetzten Anstrengungen der Selbstbeobachtung sind luzide auch und gerade in der erschütternden Einsicht in ihre Grenzen. Die Stärken des Anton Reiser wie des Magazins können auch und gerade in der Konsequenz gesehen werden, mit der das Projekt der Selbstbeobachtung, das zugleich ein Projekt der Selbstbefreiung ist, trotz dieser Erkenntnis immer wieder bis an den Rand des Scheiterns getrieben wird – und darüber hinaus.
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Abb. 1: Karl Philipp Moritz: Tabelle von den deutschen Präpositionen oder Fügewörtern, aus: Deutsche Sprachlehre für Damen. In Briefen von Karl Philipp Moritz, Nördlingen 1988, S. 226f.
SARA DICKINSON (Genova)
Thinking and Feeling in Russian Women’s Travel Writing during the Long Eighteenth Century: The Case of Varvara Bakunina Very few women wrote travel accounts in the Russian context prior to 1825. For this reason alone, each of them is something of a special case and several – such as Catherine the Great or her associate, the princess Ekaterina Dashkova – are quite extraordinary. Another highly unusual specimen is Varvara Bakunina, who wrote an account of accompanying her husband on a military campaign to Iran (or „Persia“ as she calls it) in 1796. Bakunina, née Golenishcheva-Kutuzova, was from a distinguished Petersburg family and would have been 22 years old at the time of the Persian campaign. Her husband, Michail Michailovich Bakunin, nine years her senior, held the rank of colonel in the Vladimir dragoon regiment.1 Reading Bakunina’s fascinating memoir with an eye towards issues of emotion and cognition brings into focus just how prominently peril – and her response to it – figure in this account. In particular, Bakunina wants to tell her readers about how she faced and conquered fear, an emotion provoked by several of her encounters during the campaign and one that she finds especially troublesome. Her text explores several dangerous aspects of the journey to Persia and the process – always successful – by which she came to terms with these. Interestingly, the strategies employed in overcoming her fears seem to be, to a certain extent, literary ones, and seem to overlap with her strategies for making her memoir the interesting and informative account it is. In part, this article will explore the interrelationship in Bakunina’s memoir between fear and femininity: as she herself acknowledges near the end of her account, many of the anxieties that she confronts are the product of her upbringing. Her interest in defying such fears – and telling her audience about that – thus con-
1
Varvara Bakunina (10 October 1773 – May 1840) was the daughter of Ivan Logginovich Golenishchev-Kutuzov (1729–1802), a „naval writer“ who served as Director of the Naval Corps of Cadets and tutor to Catherine the Great’s son and heir Paul (Sergei Shavrygin: Varvara Ivanovna Bakunina. In: Marina Ledkovsky, Charlotte Rosenthal and Mary Zirin (eds.): Dictionary of Russian Women Writers. Westport, Conn. 1994, pp. 54f.; Varvara Ivanovna Bakunina. In: Russkii biograficheskii slovar’. Ed. by A. V. Polovtsov. Sankt Petersburg, Petrograd 1900–1918, vol. 2, p. 432. Some care must be taken to distinguish V. I. Bakunina from her sister-in-law, Varvara Aleksandrovna Bakunina (née Murav’eva, 1791–1864), mother of the famous revolutionary M. A. Bakunin, who has enjoyed somewhat greater prominence in the historical research of recent years. M. M. Bakunin (1764–1837), uncle of M. A. Bakunin, held various posts during his checkered career in state service, including civil governor of St. Petersburg in the era of the Napoleonic wars (1808–1816) (Mikhail Mikhailovich Bakunin. In: Russkii biograficheskii slovar’, vol. 2, pp. 436f.).
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stitutes a challenge to certain of the limitations imposed upon her by social status and gender: as wife and mother, traveler and writer. Generally speaking, women writers in eighteenth-century Russia limited themselves to genres and themes that were suggestive of the private, familial sphere with its ostensibly minor and intimate concerns, such as the personal letter or the lyric, while „public“ genres, such as historical writing, were as distant from women’s possibilities as was military service itself. Nonetheless, Bakunina boldly presents her brief record as a historical memoir, describing her intent as that of recapping „the ill-fated Persian campaign before the smallest details vanish from my memory“.2 The primary military and political events that she describes are the southward march of the Russian army through Daghestan (along the western coast of the Caspian Sea), the siege and capitulation of Derbent, the capture of Derbent’s young sovereign, Sheikh Ali, and his subsequent escape. Bakunina breaks off after recounting roughly three months of the campaign:3 she does not describe how the Russian forces went on to take the city of Baku, an event in which her husband’s brother lost his life, or the abrupt conclusion of the Persian campaign when, after Catherine’s death at the end of the year, her son and successor Paul unexpectedly withdrew the Russian forces in one of many sudden policy changes that characterized his assumption of the throne. Bakunina’s text is also an indictment of the campaign leaders: she offers critical portraits of the commander Count Valerian Zubov and of various inept and sycophantic members of his staff, while illustrating numerous problems that stem from their poor leadership and decision-making, such as Sheikh Ali’s escape, the direct result of Russian incompetence. Indeed, Bakunina’s reference to the campaign’s „ill-fatedness“ would appear, at least in part, to point a finger at the mistakes of these men. Into this ostensibly public arena, Bakunina brings various private themes as well: for all of its military reportage and commentary, her account opens with introductory comments addressed to a „dear sister“ and contains overtures to the same throughout. Whether or not Bakunina actually wrote for a relative or used these invocations only as a literary device is unclear. This or a similar type of framing would have been virtually required by her gender: a woman taking up the pen in this era – especially in order to write in such traditionally male genres as the historical or military memoir – was obliged to offer some explanatory and „sof2
3
Persidskii pokhod v 1796 g. Vospominaniia Varvary Ivanovny Bakuninoi. Trans. V. V. Timoshchuk. In: Russkaia starina 53 (1887), pp. 343–374, here p. 343. Page citations in this article refer to the Russian publication; the translations are my own, although they have sometimes benefitted from the excerpts of Bakunina’s account translated by Justyna Beinek in Robin Bisha, Jehanne M. Gheith, Christine Holden and William G. Wagner (eds.): Russian Women, 1698–1917. Experience and Expression. An Anthology of Sources. Bloomington 2002, pp. 216–220. Bakunina describes setting off from Kizlyar in March (according to the Julian calendar operative in Russia at that time), from Kargalinka in early April, and the taking of Derbent at the beginning of May; the rest of her text lacks precise dates.
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tening“ contextualization after all, and Bakunina’s suggestion that her document belongs to the realm of private correspondence simultaneously downplays the memoir’s historical pretensions and suggests that its contents have little relevance beyond the feminine or family circle. That said, even an ostensibly private letter – and especially one on such an unusual and newsworthy topic as the Persian campaign – is likely to have traveled beyond its immediate addressees. Moreover, Bakunina’s „letter“ also has a very conscious narrative shape and while, on one hand, it features precise information and dates (suggesting that the text was based on materials dating from the actual trip – such as a diary, notes, or personal correspondence), it also contains a good deal of editorial commentary that benefits from the hindsight of a later period and indicates that she subsequently reworked her text, perhaps for a larger audience.4 Indeed, while it first seemed to me that Bakunina’s criticisms of the campaign’s leadership indicated her intention that this account would circulate solely among a discrete and carefully selected readership, I now think that quite the opposite is true and that her negative judgments of Zubov and other officers were written or reworked with the explicit design of being shared. In point of fact, such remarks even help us to date Bakunina’s memoir to the reign of Paul (1796–1801), when criticisms of General Zubov (the brother of Catherine’s favorite) and his associates were quite the order of the day.5 It is striking that Bakunina’s account of confronting her fears runs parallel to the military events that she describes – and in some sense resembles them. It may be that her attention to this theme reflects some sort of subliminal empathy with the men (and perhaps especially with her husband) as they faced the dangers of combat. That said, her own terrors do not often result from the military conflict itself: while various external circumstances provoke Bakunina’s anxieties, combat, which she witnesses at close range during the siege of Derbent, is not very high on the list. In point of fact, her memoir outlines a parallel though more personal struggle, namely, her own „battle“ against fear that unfolds against the background of reported historical and military events to constitute a similar and overlapping plot. „And how will Bakunina hold out?,“ the reader wonders, „How will she manage to survive the dangers encountered on this campaign?“ Bakunina’s memoir appears intentionally shaped or emplotted, in other words, to demonstrate that her own situation was equally unpleasant and perilous; it both anticipates and responds to questions of the sort „Oh my, you went to Persia with the army? Wasn’t that dangerous?“ Bakunina on the Persian campaign is the very paragon of the intrepid woman traveler, a figure that in late eighteenth century Europe was rapidly becoming an iconic literary and cultural stereotype, and her account takes shape in part accord4 5
The memoir was actually published only in 1887, nearly a century after the events described, and in Russian translation, (see note 2). Bakunina was also associated with Paul through her father (see note 1).
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ing to ideas of how an unusual, courageous and adventurous woman ought to behave. Whether or not Bakunina actually had specific female models in mind is unknown. A native Russian tradition of intrepid female travel might be traced to Catherine II, whose much publicized trip to the Crimea in 1787 was often portrayed – and exaggerated – as an undertaking of adventurous daring;6 Bakunina may also have been familiar with the exotic travel narratives of women such as Lady Mary Montagu or Lady Elizabeth Craven.7 It may also be that she modeled her behavior wholly on that of the various intrepid men, whose exploits Bakunina would have known through the adventure narratives that were popular both in her era and within her own family. She, like most other women authors in eighteenthcentury Russia, belonged to a writerly family and evidently profited from that supportive context. In particular, it seems likely that Bakunina shaped her memoir on the Persian campaign under the literary influence of her brother, Loggin Golenishchev-Kutuzov, who translated numerous accounts of maritime exploration, including those of Captain James Cook, and in 1797 led his own expedition to the White Sea.8 For all her challenging of traditional female behavior, Bakunina often has recourse in her memoir to what we might call „feminine rhetoric“ in order to negotiate the often striking conflict between the role of courageous woman braving a series of obstacles and the more traditional feminine poses of obedient spouse and even good mother. Despite the unusual and decidedly unladylike context, in other words, she frequently attempts to present her own thoughts and behavior as decorous and ladylike, crediting her triumphs over fear to her efforts to be a good wife, for example – albeit one rather far removed from a traditional domestic setting.
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On some of the rhetoric associated with Catherine’s visit to her newly conquered territories, see my „Russia’s First ,Orient‘: Catherine in the Crimea, 1787“. In: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 3/1 (2002), pp. 3–25. Mary Montagu’s account of visiting the Ottoman Empire in 1716–1718 was published posthumously as Embassy Letters (1763) and Elizabeth Craven’s record of her travels in 1785–1786 became A Journey through the Crimea to Constantinople (1789). L. I. Golenishchev-Kutuzov (1769–1846), whose own career unfolded in the Admiralty Collegium under the purview of his father (see note 1), apparently began to translate maritime adventures on the advice of that parent. His publications include a translation from French, A Voyage in the Southern Half of the Terrestrial Globe and Around It in 1772–1775 […] under the Command of Captain Jacob [sic] Cook (1796–1800, 6 vols.), as well as several translations from English: The Voyage of Captain Meares to the Northwest Coast of America in 1786–1789 (1796, vol. 1), The Voyage of La Pérouse in the South and North Pacific in 1785–1788 (1800, vol. 1), and Voyage to the North Pacific under the Command of Captains Cook, Clerke and Gore in 1776–1780 (1805). L. I. Golenishchev-Kutuzov was also a noted maritime cartographer who authored atlases of the White and Caspian Seas (M. P. Lepekhin: Loggin Ivanovich Golenishchev-Kutuzov. In: Slovar’ russkikh pisatelei XVIII veka, Ed. A. M. Panchenko. Sankt Petersburg 1988 (http://www.pushkinskijdom.ru/Default.aspx?tabid=703 [Accessed 26.12.2009]).
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The first major challenge to Bakunina’s nerves occurs during the siege of Derbent. It is not the siege itself that frightens her, however (at least not initially), but the threat of being left in the rearguard camp for the duration. When the Russian forces head off for Derbent, as she explains, they were told to leave everything unnecessary in the wagon fort [vagenburg]. That is the name for a four-sided space, enclosed by carts placed in two rows, one alongside the other. [It is where] they leave the heaviest baggage wagons and everything that might be a hindrance to the troops: and since woman is considered the chief item of baggage, it was decided to leave me in the wagon fort as well.9
Bakunina is quite unhappy with this directive and foresees that being left behind in the wagon fort will be a terrible experience, as indeed it turns out to be. At the same time, she also fully exploits this opportunity to demonstrate – at least rhetorically – an important wifely virtue, namely obedience to her husband: Although I was grieved by this sentence [being left behind], I submitted to it without grumbling, because I had promised my husband when I set out on the campaign that I would never be a hindrance to him and that I would always voluntarily submit to everything that he considered necessary for his own peace of mind and for my safety; in addition, I had promised never to demonstrate weakness or fear.10
Here Bakunina directly links her manifestations of courage – or her attempts to mask or overcome fear – to marital responsibilities and, specifically, to her desire to be (or at least to present herself as being) a model of devoted and seemly femininity. What exactly is it that so frightened Bakunina about the wagon fort? Was she alarmed by the danger that her husband faced during the siege or by physical separation from him? Perhaps she harbored real concern for her own safety: she maintains that the wagon fort was poorly guarded, after all, and that had the „enemy been braver and more energetic, he could have taken [it] without difficulty“.11 The threat of being confined may also have filled Bakunina with anxiety. Movement was very important to her – as evidenced both by her participation in the campaign itself and by her text’s suggestion that many of her more pleasant experiences involve taking long walks – and the wagon fort’s mandatory limitation on her mobility, together with its claustrophobic setting, must have been quite difficult. Numerous other factors made Bakunina’s stay there thoroughly dreadful as well – and she catalogues these with what I take to be a certain narrative gusto. In addition to being populated by „the sick from every regiment“, the wagon fort was subject to a meteorological assault: for two full days and one night, torrential rain and high winds threatened to blow Bakunina’s tent away as she and her companions forewent sleep in order to hang onto the structure, while jackals howled con9 10 11
Vospominaniia (see note 2), p. 351. Ibid. Ibid., p. 352.
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tinually in the background. On the third day, she reports, „I sat up to my ears in mud and was wearied to death“.12 As we will see, Bakunina’s strategy for overcoming fear – at least on paper and in retrospect – often involves subjecting this emotion to a rational process of reflection. Her discussion of jackals, for example, which comprises the last paragraph in her description of the wagon fort, illustrates how the process of intellectually or cognitively engaging with fear can lead to its diminution and relief. This passage also provides an emotive transition from Bakunina’s state of utter apprehension to her subsequent triumph over it: By way of entertainment, I was compelled every evening to hear the howling of jackals, which at first filled me with terror (ɭɠɚɫ). Jackals are something midway between a wolf and a fox: in build and size they resemble both animals, but they are not at all bloodthirsty. They would come very near to our camp [and] their cry is extremely distinctive: it thoroughly resembles the human voice – now mournful, now seeming to express fear (ɫɬɪɚɯ); you can even clearly hear „ai, ai“. It is said that the jackal can produce several different sounds. I cannot confirm that, but since an entire pack of them gathered in the evenings near our camp, we did hear howls of various types.13
At the conclusion of this passage, Bakunina has moved from a passive state of terror to one of active understanding and her voice assumes the distanced and „scientific“ tone of the judicious traveller displaying her knowledge in specific areas of competence. While her comments on jackals obviously reflect the equanimity that Bakunina had achieved at the time of reworking her memoir, they also demonstrate how thought transforms fear into knowledge and experience. It is interesting to bear in mind that Bakunina was not the only woman in the wagon fort. As she notes at the beginning of her memoir, „one other colonel was also allowed to bring his wife“14 and this other woman, „M.K.“, is consigned to the wagon fort as well. There may have been other woman camp followers, too, of course, and it is likely that Bakunina’s domestics included females as well, but she identifies in her memoir only „M.K.“ During the siege of Derbent, Bakunina even suggests that a certain bond existed between them as companions in misery: „I remained behind in the wagon fort in the most dire spirits; an identical fate befell M.K. as well; we ordered that our ,little homes‘ [tents] be placed next to one another.“15 This flicker of communion is soon extinguished, however, for on day four, when Bakunina is finally allowed to pay a visit to the army, she „is able“, in her words, „thanks to my eloquence, to obtain permission to return no more to the damned wagon fort“16 and she nowhere mentions M.K. again. Again, her written account merges with the process it recalls, insofar as the eloquent discourse that 12 13 14 15 16
Ibid. Ibid. Ibid., p. 344. Ibid., pp. 351f. Ibid., p. 353.
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she describes as persuading her husband (and / or his superiors) is likely to have closely resembled the narrative by which she persuades her readers. Such repeated processing of her experiences serves to help Bakunina overcome her fears: if thorough reflection does not eliminate her emotional response to fearful stimuli, it does emphasize her competence in containing fear and triumphing over it. As I have discussed elsewhere, the travel writing of Russian women in this era frequently distinguishes itself from that written by men in its attention to a world of feminine social exchange in which women are the primary actors.17 Bakunina generally refuses to pursue possible connections with other women, however. While obviously conceiving her text as a historical document rather than a record of ladies’ friendships, she is also „very focused on [her] own uniqueness“ and discussions of female peers were likely to dilute the desired impression of adventurousness.18 Indeed, it almost seems that contact with M.K. is one of the factors that sends Bakunina running from the wagon fort – and that her dramatic account of confinement therein has a slightly defensive ring to it, as if consciously serving to help justify her next move, which is pleading exemption from it. After we’ve heard about how terrible the wagon fort was, in other words, Bakunina’s decision to leave it – and to abandon M.K. to her own fate – becomes a very reasonable choice. Once liberated both from feminine isolation and from feminine society, Bakunina rejoins the men outside Derbent and quickly regains her physical independence and psychological serenity. The first activity that she describes is the resumption of her daily strolls, a pastime that indicates both her renewed ease and the justice of her flight: Despite the siege, everything followed its usual course: I took walks every day on the seashore, gathering shells and pebbles, [and] clambered up on the hills, where there were many springs of fine water that flowed down into pools hewn out of the stone.19
More generally, Bakunina’s stay in the wagon fort appears to have been so dreadful that it cured her of whatever terrors the front lines might hold: afterwards, she notes, „I remained in the [main] camp without the slightest fear or uneasiness“.20 The renunciation of female friendships would thus seem to have been part of the process by which she steeled herself for the front. After her escape from the wagon fort, Bakunina’s next challenge is to address the terror inspired in her by combat and its casualties – the dead, the dying and the wounded. For while she promenades, „the soldiers were moving batteries on all 17
18
19 20
Sara Dickinson: Women’s Travel and Travel Writing in Russia, 1700–1825. In: Wendy Rosslyn, Alessandra Tosi (eds.): Women in Russian Culture and Society, 1700–1825. Houndmills, Basingstoke 2007, pp. 63–82. The quoted phrase is from Wendy Rosslyn, personal communication, 22 September 2009. See also her Self and Place in Life-Writings by Late Eighteenth- and Early Nineteenth-Century Russian Noblewomen. In: Slavonic and East European Journal 88/1–2 (2010), pp. 237–260. Vospominaniia (see note 2), p. 354. Ibid., pp. 354f.
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sides for bombarding the city and since they were always within range of the Persian rifles, many of them were wounded.“ This situation affects Bakunina a good deal, although, as she also points out, repeated exposure to injured men vanquishes her initial sense of alarm: On one of my walks I met a wounded soldier from our Vladimir regiment which made a great impression on me, although after a few days had gone by, I grew used to this spectacle. How strange that everything which strikes us at first meeting produces no such strong impression upon repetition.21
Bakunina rapidly explains that what might at first appear to be her indifference is nothing of the sort and that the composure she has achieved should not be mistaken for apathy or an absence of feeling: „Without doubt, I have not become unfeeling towards the suffering of those close to me, but stories of the wounded and killed did not subsequently produce such a dispiriting impression on me as they had at first.“ She thus does not renounce the profound emotional attachments traditionally required of women by social convention, and even concludes with a philosophical remark suggesting that such adaptability is the necessary basis for a serene outlook on life: „How unhappy we would be if time and habit did not weaken our impressionability“.22 Bakunina thus suggests that her exposure to the rigors of war provided the means for her emotional development. Bakunina’s memoir also suggests that she was particularly susceptible to the noise produced by the ongoing military conflict. She characterizes the siege of Derbent, for example, in terms of its overwhelming cacophony: It must be admitted that my first night in camp was not especially peaceful: incessant shooting and the whistling of flying bullets could hardly have seemed especially pleasant music to me. My sleep was also disturbed by the custom of crying „khabarda“ – which resounds constantly in the city. This is the usual cry of the Persians by which they invite the citizens to be on guard [and] the citizens respond to it in chorus. Add to all of that, the lowing of oxen and the braying of donkeys, of which there were many in the city, and you will conceive a notion of the terrible (ɫɬɪɚɲɧɵɣ) noise produced every night. This is what strength of habit means, however: my sleep was disturbed by this uproar only on the first night and on the second I was already sleeping superlatively.23
Again, Bakunina reports overcoming her anxiety through repeated exposure to its source – though the fact that she was able to do so in a single day obviously suggests less „strength of habit“ than strength of character.
21 22 23
Ibid., p. 354. Ibid. Ibid., p. 254. Bakunina’s subsequent removal to another protected area in the interests of safety sends her into despair once again, but she is delivered by the capitulation of Derbent: „It is difficult to convey what I felt in that minute [when sent off]: it wasn’t fear (ɫɬɪɚɯ) or distress, but it seemed that all my nerves were so deadened that I could neither think, nor feel. I was in that state when Count Zubov appeared before me, beaming with the news that he had been presented the keys to the city“ (pp. 355f).
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In the series of fêtes that follows the capture of Derbent, Bakunina uses her memoir to illustrate the conscientious fulfillment of social duties. Here, she is at the height of what we might call her „feminine powers“: organized, gracious, and deferential, she is outstanding in the roles of both wife and hostess. While Bakunina sometimes complains about her social duties being onerous – as the only woman involved in a series of tea parties, for example, she is compelled to always pour out the tea24 – the general picture is sanguine. Indeed, in this section, Bakunina’s voice demonstrates the blend of dynamism and pleasure that is also found in her descriptions of long strolls – as well as in the handful of passages where she reveals her aesthetic discernment and taste, showing herself able to properly judge what is truly interesting and / or aesthetically pleasing in her surroundings, be it a landscape, a custom, or an architectural feature. It thus seems that the assumption of an assertive and physically (or intellectually) active role engenders a different quality of self-expression, that Bakunina „realizes herself“ in these moments of independence and activity. Her fears, on the other hand, often appear to derive precisely from those situations in which she is forced to play a passive role or one that she is particularly maladapted to handle alone – as if terror were in part a function of her dependence on others. Daghestan is a country of many rivers, torrents, and streams – and Bakunina’s text amply documents just how much of the campaign’s difficulty consisted in traversing them. Before setting out, the soldiers had even built a series of portable „floating bridges“ in order to transport materials and supplies across various waterways.25 River crossings are among the most dramatic scenes in Bakunina’s account perhaps because she so fully participates in them herself: while the officers and many of the troops generally traverse rivers on horseback, she herself rides in a carriage – a circumstance that complicates the experience for everyone involved. Her first truly alarming experience occurs at the torrent Urieni, when Bakunina’s postilion (ɮɨɪɟɣɬɨɪ) suffers a momentary loss of equilibrium and falls into the water together with his horse. Although they soon recover and the carriage makes it safely across, this event sets the stage for a general increase in her anxiety and loud, disturbing sounds further add to her distress: This small, completely unexpected occurrence, the fearsome (ɫɬɪɚɲɧɵɣ) plashing of the water beating against the carriage, the rumbling of the pebbles crushed under the wheels, all of this, it must be admitted, instilled terror (ɭɠɚɫ) in me and, for the first time during the campaign, I lost heart.26
Once on the other side of the Urieni, Bakunina reports that her fears subsided and that she was thus able to face the next river with relative equanimity – despite the
24 25 26
Ibid., p. 360. Ibid. Ibid., pp. 360f.
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fact that this was „the terrible (ɝɪɨɡɧɵɣ) Samur that we knew already by reputation and [that we] feared“.27 Generally speaking, we might characterize Bakunina’s style as rhetorically uneven in its attempts both to capture drama (in passages that aim to make us hold our breath) and to convince us of drama’s resolution as she assures us of her bravery. While she professes courage at the crossing of the Samur,28 for example, she also feels apprehensive and wants us to feel so as well. Her concise memoir dedicates nearly two full pages to the description of crossing this river, beginning with its ominous roar, audible from three kilometers away. Moreover, „the Samur’s current is extremely swift, especially at a certain time of day when joined by water from the snows melting in the sun on the nearby mountains. Then it carries off rocks, trees, everything that falls in its path...“.29 While Bakunina is waiting to cross, in fact, a heavily laden ox-cart disappears into the rushing current with two attached oxen and, at the end of the day, the casualties include more oxen together with several horses and camels. In this context, Colonel Bakunin understandably begins to have doubts about sending his wife across. The Colonel’s own „voice“ or opinions appear infrequently in Bakunina’s text – an interesting circumstance given her extensive commentary on military affairs: although Bakunin presumably shared many of his wife’s views, she does not often implicate him in their expression. In domestic affairs, as we have seen, Bakunina sometimes acknowledges being at odds with her husband’s wishes, although bowing to them despite her misgivings. On the banks of the Samur, however, she assumes a more independent position, distinguishing herself from the Colonel and describing his anxieties with greater detachment: [The loss of the oxen] disturbed [my husband] a great deal. He did not know what decision to take and began to reproach me for having insisted upon going with him and to reproach himself for having agreed to my request. He said many things of that sort [and] all of his words were entirely just, but useless at that precise moment and caused me nothing but grief. I responded that all these reflections now led nowhere and that as I had already come too far, no choice remained but to cross the Samur. Moreover, in my opinion, if others had safely reached the opposite shore, there were no grounds for thinking that any accident would befall me.30
This is the voice of the practical wife, of course – enhanced, undoubtedly, by retrospection at the time of writing. It may also be the voice of a woman who sometimes prefers to confront her own fears when they are represented in the person of 27 28
29 30
Ibid., p. 361. „I already told you“ she writes after a dramatic paragraph about the river’s force, „that I did not lose heart upon seeing the Samur. I was completely sure that no danger threatened me thanks to all of the cautionary measures that were taken. You know me well enough to believe, of course, that unfounded rumors alone, no matter how terrible (ɫɬɪɚɲɧɵɟ), cannot frighten me. Besides, the Urieni taught me to be brave and at the Samur I was almost as calm as I am now at the moment of describing all this for you.“ Cf. Vospominaniia (see note 2), p. 365. Vospominaniia (see note 2), p. 361. Ibid., p. 362.
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her spouse; the arguments used by Bakunina in conversation with her husband are equally suitable for convincing herself. In what follows, Bakunina describes a sustained struggle with her husband in which she „employ[s] all of [her] eloquence“ – just as when she had to get out of the wagon fort – „in order to convince [him] that [her] trip to Persia had as many good sides as it did bad“.31 The Colonel eventually concedes to her crossing, thanks largely to the intervention of others, but the clash with him leaves its trace in Bakunina’s record and she claims ultimately to have been troubled less by the river than by discord with her spouse: „It must be admitted that my heart pounded fiercely, not only due to fear, although I was not especially calm, but chiefly due to the vexation that I was causing my husband so much anxiety.“32 While Bakunina was also perhaps frustrated by failing to maintain her agreement or „contract“ with her husband,33 what interests me here is how her presentation of this disagreement emphasizes the ancillary nature of her own wifely role – even while revealing (finally) that the choice to come on the Persian campaign was hers alone. Why Bakunin agreed to his wife’s trip is not explained – and becomes increasingly difficult to imagine in light of other particulars about the family that emerge as the memoir continues: ultimately, it would seem that he, too, was taken by the idea that his wife was or could become an adventurous woman. Meanwhile, as the group waits beside the Samur for the waters to subside, another fearful experience occurs that discomposes Bakunina completely: one of the soldiers finds a scorpion. Despite the fact that Bakunina immediately puts the event in reasoned perspective, her anxieties reach a new pitch with this discovery. In particular, she now experiences fear on behalf of „Vasia“, mentioned here for the first time: You, of course, know [scorpions] by name and have heard that their sting is considered to be dangerous, but that is unjust as we have been able to ascertain on several occasions. At that moment, however, we had no reason to doubt the truth of what the local [Persian] man had told us [i.e. that the bite of the scorpion is deadly]. Everyone gathered around the dangerous arachnid and, holding it carefully, tied a thread to its tail, where the stinger and poison are found; [then they] brought him to our tent and told us what the Persian had said. I confess that at the sight of this scorpion, I got the shivers. I was especially afraid for Vasia and decided to not let him down on the ground at all in such a dangerous place.34
For readers outside Bakunina’s family circle and unfamiliar with her travel arrangements, Vasia’s presence on the trip comes as quite a surprise. While I at first thought that he was a small dog, a subsequent passage indicates that Vasia was her son – and, according to the biographical information that I have since been able to locate, he was less than one year old during the events described. Specifically, 31 32 33 34
Ibid., p. 363. Ibid., p. 364. Rosslyn, personal communication, 22 September 2009. Vospominaniia (see note 2), pp. 363f.
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Vasia set off on the campaign at the age of six months and watched his mother cringing before scorpions at nine months.35 Our discovery of Vasia changes the significance of many passages in Bakunina’s memoir. We suddenly become aware that Bakunina’s „I“ or vague „we“ often refers to both her and Vasia, that he is her frequent companion in the described events, that her walks are motivated in part by a desire to entertain Vasia and / or to take a break from child care, that the enthusiastic greeting extended by the locals on two such excursions36 signals the baby’s presence, and that Bakunina’s retinue of domestic help is likely to have included a wet nurse. Thus, while Bakunina takes pains to describe her own behavior en route as that of a dutiful and respectful wife, she is comparatively reluctant to bring up Vasia and attendant issues of maternal duty. It may be that she refrains from more elaborate remarks about Vasia in view of her intention to circulate this account: her baby would have had little relevance for her avowed historical purpose, after all – save to underline the tension of those particular moments that were heightened by his presence. It seems, in fact, that Bakunina is encouraged to finally mention Vasia by her desire to sustain a suspenseful narrative about the terrors of her trip: called in to help illustrate the peril of river crossings and scorpions, her infant son has the narrative function of adding drama to his mother’s text. Vasia also serves to suggest that Bakunina is a good mother – insofar as her concern for his welfare (like that for her husband’s displeasure) supersedes her concern for herself: During the crossing all of my worries were only for Vasia; I was afraid that the fearful (ɫɬɪɚɲɧɵɣ) noise made by the waves would impress him too strongly and that the fear (ɫɬɪɚɯ) experienced at such an early age would leave traces throughout his life. Thus I exerted all of my efforts to distract his attention and somehow occupy him. I was entirely successful: he wasn’t frightened at all.37
Vasia’s presence on the campaign also raises several questions about Bakunina’s notions of motherhood, of course. Why did she bring her infant son to Persia? And / or why did she go to Persia herself if she had a baby? What motivation could have possibly been compelling enough to justify the joint presence of mother and infant son in this context? Bakunina nowhere explains her reasons for travel, however. Her failure to do so is striking: women’s travel writing from this era that was designed, like Bakunina’s, for public or even semi-public circulation generally offered some type of explanation for the journey described. Women writers were encouraged and / or felt compelled to indicate in their texts not only why they were writing about their travel experiences, but also why they had undertaken travel at all. Certainly, Bakunina’s implicit motivations are clear enough: she liked move35 36 37
See, for example, Mikhail Mikhailovich Bakunin 1764–1837. In: Vserossiiskoe geneaologicheskoe drevo (www.vgd.ru [Accessed 28.12.2009]). Vospominaniia (see note 2), pp. 346, 369. Ibid., p. 355.
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ment, as we have seen, and clearly desired to experience some adventure. The absence of more explicit motivations can perhaps be credited to the fact that she was indeed writing a personal letter and that her „dear sister“ and other intimates would have already known her reasons for travel – or it may be that in pretending to write a personal letter, she took full advantage of the opportunity to avoid explaining her motives. Nonetheless, the decision to take Vasia to Persia would have required justification – to friends and relations, if not to unknown readers: for even if eighteenthcentury noblewomen did not often „bond“ with their babies until they had survived infancy,38 it was hardly standard practice to take one’s infants on military campaigns. Indeed, Vasia’s presence gives us a better idea of what Bakunina and her husband were arguing about on the banks of the Samur, when he was perhaps asking her to think of Vasia and she was perhaps refusing to admit the peril into which she was about to plunge him. And perhaps Bakunina’s structuring of her memoir as a narrative of fears faced and overcome itself constitutes an implicit justification for her trip: „Dear Sister,“ she may be saying, „I wasn’t wrong to bring Vasia: war, scorpions, and rushing rivers aren’t really as threatening as they seem at first once you get used to them. I know that you were a little grumpy about our trip, but, really, things worked out just fine.“ While we’re on the subject of children, it should be noted that Bakunina had another child as well. This was her daughter Evdokiia, who later became a wellknown painter, and who would have been one or two years old in March 1796, when her parents apparently left her in Russia before setting off on the Persian campaign. To complicate family matters still further, Bakunina also seems to have been pregnant during her travels – she twice comments on the limitations of being „in my condition“ (a rather vague phrase, but one which in the Russian translation – v moem položenii-suggests carrying a baby), and she cites excursions on horseback and bumpy carriage rides as particularly uncomfortable under these circumstances.39 In short, the more we learn about Bakunina’s family situation, the more unusual her travel experience becomes – and we begin to grasp just how difficult it would have been for her to articulate an acceptable justification for this trip: she would have been hard pressed indeed to come up with an explanation for her trip that resembled those of other women travel writers from her era, i.e. one that contextualized her journey in the performance of feminine duty, by suggesting that it had been undertaken to fulfill the responsibilities of daughter, wife, or mother. The impossibility of doing so, in fact, may help to explain why this memoir was not published during her lifetime. That said, another implicit justification for Bakunina’s trip appears in an interesting paragraph near the end of the memoir in which she reflects briefly on 38 39
Rosslyn, personal communication, 22. September 2009. Vospominaniia (see note 2), pp. 348, 367.
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the significance of her trip. Such summarizing remarks are fairly rare in travel writing and plainly indicate a desire to define and communicate the meaning of this experience. Here she reports with great satisfaction having achieved notable personal growth during her journey: I am […] indebted to my trip to Persia for the fact that I became braver and got rid of all the fears (ɫɬɪɚɯɨɜ) inculcated in me by my upbringing and by my sedentary life. Now neither mountain nor torrent frightens me; the dangerous road does not exist; I can tolerate without difficulty cold, humidity and extreme heat and can get along without many items that earlier seemed to me objects of absolute necessity.40
Bakunina’s record of her various triumphs over peril, in other words, ultimately lends her memoir the shape of a Bildungsreise. This documented process of personal development also constitutes another implicit justification for her journey. In describing her fears as „inculcated by my upbringing“, Bakunina acknowledges the direct link between these and traditional conceptions of woman’s appropriate social role. Her memoir then argues that through exposure to danger and the exercise of her rational faculties, she was able to vanquish some of her upbringing’s limitations. Indeed, once we learn about her complex family circumstances – the fact that she accompanied the Russian forces not only as an officer’s wife, but also as the mother, pregnant, of an infant and a toddler – it becomes clear just how little traditional roles actually constrained her activity. At the same time, Bakunina’s use of feminine rhetoric indicates that she felt some ambivalence about her desire for such non-traditional enterprises and perhaps even harbored some fears about the consequences of completely rejecting more standard female behaviors to embrace those of the intrepid traveler. As an author, in other words, she remains constrained by the limited notions – that she shared with her contemporaries – of how an intrepid woman might present herself in a written text. As noted, Bakunina was probably inspired by narrative and behavioral models from masculine spheres of activity – ranging from martial combat and circumnavigation of the globe to penning military and historical memoirs. Intrepid female travelers may have served as models for her daring endeavor as well, but maternal archetypes had little or no place in Bakunina’s conceptions of either adventurous behavior or literary genre. As we have seen, her memoir almost entirely obscures her motherly role, leaving untouched a thick layer of personal concerns and, for all her discussion of fear, anxiety about her children is but a relatively small part of what Bakunina relates: pregnancy limits some of her activities and conditions her response to others; the baby Vasia, who accompanies her and undergoes definite risks, is mentioned towards the end of her account in the crescendo of alarm and drama surrounding the Samur crossing; Evdokiia remains a cipher. It is more than likely that Bakunina in Persia wrote an entirely different set of letters to her rela40
Ibid., pp. 366f.
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tives back home in which family concerns are more evident. In the text that we have, however, her relationship with her husband takes precedence over other personal ties. Insofar as her marital role both explains Bakunina’s presence on the campaign and legitimizes her authority as military historian, it, too, implicitly justifies both her trip and her memoir. By assuming the role of daring wife – in which her own concerns echo or unfold in the shadow of male experience – Bakunina indicates that she fully understood – or intuited – just how important this link to the colonel was for both her military adventure and her literary endeavor. ENDNOTES I am grateful to Sonja Koroliov, whose comments on my talk, together with those of Natal’ja Kochetkova, Andrey Kostin and Daniel Gross, were helpful in work on the article. I am also indebted to Wendy Rosslyn, for generously sharing with me her own work on Bakunina, unpublished at the time, and thoughtfully commenting on mine.
RÜDIGER ZILL (Potsdam)
Verstand und Mit-Gefühl. Zur Dialektik der Aufklärung in Laclos’ Gefährlichen Liebschaften 1 Doppelbelichtungen Literarische Stoffe sind – wie der Mythos – die Gesamtheit ihrer Versionen, und zugleich möchte man doch auf das Eigenrecht der einzelnen Schichten und – wo möglich – vor allem des ursprünglichen, impulsgebenden Texts beharren. Für die Gefährlichen Liebschaften gilt das umso mehr, als dieser einzige Roman des Artillerieoffiziers Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos ein Werk mit Konjunkturen ist. Bei seinem Erscheinen im Jahr 1782 ein großer Erfolg beim Publikum1 und bei der Kritik,2 geriet er im 19. Jahrhundert fast völlig in Vergessenheit und erfuhr erst im 20. langsam eine neue Resonanz. In Deutschland wurde der vielstimmige Roman auch deshalb wieder wahrnehmbar, weil er Formulierungshilfe von Heinrich Mann erhielt, der ihn 1905 neu übersetzte. Ihren Wiedereintritt ins allgemeine Bewusstsein erhielten Madame de Merteuil und der Vicomte de Valmont vollends aber erst durch das Kino. Zwar blieb Roger Vadims Versuch von 1959 (immerhin mit Jeanne Moreau und Gérard Philipe) zunächst nur ein Historienfilm unter anderen, aber dass im Jahr 1988 gleich zwei bedeutende Regisseure den Stoff wieder aufnahmen, kann kein Zufall gewesen sein. Sowohl Stephen Frears als auch Miloš Forman beließen die Geschichte dabei in ihrem ursprünglichen historischen Milieu, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Miloš Forman, der auf eine exquisite Rokokoausstattung setzte, fiel dennoch durch, weil Annette Bening als Madame de Merteuil und Colin Firth als Valmont die Charaktere zu verspielt und künstlich umsetzten und das Geschehen verharmlosten. Das wurde erst recht zum Problem, wo man den Stoff modernisierte und in unsere Gegenwart transponierte.3 1 2
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An der Zahl der Auflagen gemessen soll im späten 18. Jahrhundert nur Jean-Jacques Rousseaus Nouvelle Héloise noch erfolgreicher gewesen sein. Friedrich Melchior Grimm schrieb in seinen Literarischen Korrespondenzen: „In der Tat gibt es kein Buch […], in dem die Verwirrung der Grundsätze und Sitten der Schicht, die man die feine Gesellschaft nennt und die man so zu nennen nicht umhin kann, mit mehr Nützlichkeit, Kühnheit und Geist geschildert worden wäre; so wird man sich also nicht wundern, daß selten eine Neuheit so bereitwillig aufgenommen worden ist.“ Melchior Grimm: Paris zündet die Lichter an. Literarische Korrespondenz. München 1977, S. 430f. So etwa die zweiteilige Verfilmung von Josée Dayan mit Catherine Deneuve und Andrzej Zulawski (2003), in der die Protagonisten zu sehr als glatte Schönlinge erscheinen. Cruel Intentions von Roger Kumble (1999, mit Ryan Phillippe, Reese Witherspoon und Sarah Michelle Gellar) degradiert den Stoff vollends zum Mobbingdrama mit Pubertätsphantasien. Er bricht
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Stephen Frears’ Figuren, allen voran Glenn Close als Merteuil und John Malkovich als Valmont, erobern den Zuschauer genau wie ihre innerliterarischen Opfer, weil sie nicht einfach elegante Figuren in historischen Kostümen sind, sondern durch die Präsenz ihrer komplexen Charaktere. Und obwohl – oder besser weil – Frears’ Version aus der Masse ihrer Rivalen herausragt, ist sie die einzige wirkliche Gefahr für Laclos. Frears’ Inkarnationen haben unsere Vorstellung okkupiert und schieben sich so vor das, was Laclos’ Originale an eigener Komplexität zeigen. Der problematische Unterschied zwischen Laclos und Frears ist zunächst einer im Medium. Dabei ist das Entscheidende gar nicht das, was oft beklagt worden ist, dass Literatur generell nun einmal nicht verfilmbar sei. Die Übersetzung in ein anderes Medium ist so lange kein Schaden, so lange dabei eine Version eigenen Rechts entsteht.4 Es ist ein Missverständnis, den Roman als Maß zu setzen, dem unter allen Umständen zu entsprechen ist. Auf den ersten Blick scheint sich Laclos’ Roman sogar besonders gut für eine Verfilmung zu eignen. Denn die Gefährlichen Liebschaften sind neben vielem anderen auch ein Theaterroman. Die Bühnen- und Maskenmetaphorik ist in ihm nicht zu übersehen; das Geschehen lässt sich insgesamt als großes Theater mit mehr oder weniger erfolgreichen Schauspielern betrachten. Gleichwohl sperrt sich der Roman auf merkwürdige Weise seiner theatralischen und damit auch seiner filmischen Umsetzung. Laclos’ Roman büßt als Film zwangsläufig eine entscheidende Reflexionsebene ein, und zwar eine, die ihn in seiner Eigenart konstituiert. Denn er hat keinen auktorialen Erzähler, der das Geschehen vor uns ausbreiten würde, so als seien wir dabei, wie noch die Zuschauer im Theater. Laclos’ Werk ist auch ein Reflexionsroman, in dem uns das Geschehen ausschließlich in der Brechung durch die es vermittelnden Briefe begegnet. Und diese Briefe sind nicht selten Masken, die sich über Masken geschoben haben. Ist schon das Verhalten von Täuschung und Selbsttäuschung, Verhüllung und Verstellung regiert, so wird man die Berichte darüber ihrerseits noch einmal an vielen Stellen als eine von Interessen geleitete Verzerrung lesen müssen. Diese zweite Ebene aber entgeht dem Film zwangsläufig. Die direkte bildliche Umsetzung des Geschehens muss ein Stück weit vereindeutigen, um dem Darstellungsgebot des Mediums zu gehorchen, auch wenn der Akt des Briefschreibens oder der des Lesens natürlich gelegentlich Teil des Films werden muss. Dass es sich immer auch um postalische Kommunikationsakte handelt,5 ergibt sich schon daraus, dass die Briefe in Laclos’ Roman eine doppelte Funktion haben. Sie teilen dem Leser die Handlung mit, zugleich treiben sie sie voran, sie sind Information und
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den Konflikt auf die Marotten verzogener Teenager aus reichem Haus herunter. Die Figuren langweilen uns, weil sie überzeichnet sind. Das gilt natürlich erst recht für Theater-Adaptionen wie Heiner Müllers Quartett von 1980, vgl. ders., Herzstück. Berlin 1983, S. 71–90. Vgl. Ulrike Vetter: Geschickte Liebe. Zur Mediengeschichte des Liebesdiskurses im Briefroman „Les Liasons dangereuses“ und in der Gegenwartsliteratur. Köln, Weimar u. Wien 2002.
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Agitation, Abbild der Situation und Agens der Handlung. Als Leser sehen wir also lediglich durch brechende Medien, naiv nehmen wir in ihnen zunächst nur die dargestellte Handlung wahr, gleichzeitig müssen wir aber mit den Interessen rechnen, denen diese Darstellungen dienen sollen. Dadurch entstehen Verwerfungen, Verzerrungen, Unschärfen. Verfilmungen müssen hier künstlich nachkonturieren.6 Verstärkend mag zu dieser Eigenschaft des Mediums eine seiner Vermarktung hinzukommen. Will man den Roman daher, nachdem man das Kino Stephen Frears’ verlassen hat, noch einmal lesen, muss man diese Doppelbelichtungen wieder sichtbar machen, Überlagerungen und Verzerrungen, für die es unter Umständen keine Spezialbrille gibt, die uns das Ganze wieder zu einem dreidimensionalen Bild umbrechen könnte. Beginnen wir mit den Hauptlinien des Buchs, um vor diesem Hintergrund dann die Bedeutung der Emotionen im Gesamtzusammenhang des Geschehens näher zu beleuchten. Was in diesem Licht sichtbar werden soll, ist eine spezielle emotionale Signatur, die für die Aufklärung charakteristisch ist. Ich lese Laclos’ fiktiven Briefwechsel als paradigmatischen Fall oder besser: als verdichtete Repräsentation eines Paradigmenwechsels. Laclos’ Buch wird zum Kampfplatz des 18. Jahrhunderts, ein Ort, an dem zwei unterschiedliche Modelle der Affektbeherrschung miteinander konkurrieren.7 Am Ende – das scheint mir die besondere Pointe – werden beide scheitern.
2 Die Textur der Erzählung Die Handlung des Romans besteht aus einer komplex ineinander verwobenen Textur verschiedener Stränge. Man merkt ihr den Techniker an, den Artillerieoffizier und gelernten Festungsbaumeister, der Laclos ursprünglich war. Das zentrale Dreieck des Romans wird von dem Vicomte de Valmont, der Marquise de Merteuil und Madame de Tourvel, der Präsidentin, gebildet. Merteuil und Tourvel sind die extremen Gegensätze auf der Skala der Charaktere: Merteuil, die rationale, aber moralisch durch und durch korrupte, Tourvel, die gefühlvolle, aber tugendhafte. Valmont, einst selbst Liebhaber der Merteuil, inzwischen allerdings
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Tzvetan Todorov unterscheidet bei den Briefen solche, die berichten, von solchen, die darstellen, wobei die einen das „Sein“ wiedergeben, während andere den „Schein“ konstituieren, vgl. Tzvetan Todorov: Die Kategorien der literarischen Erzählung. In: Bruno Hillebrand (Hg.): Zur Struktur des Romans. Darmstadt 1978, S. 347–369, hier S. 354ff. Bei näherer Betrachtung ist aber kein Brief interessefrei und damit nie rein das Sein wiedergebender Bericht. Immer muss der Leser das, was geschieht, durch die Darstellungen hindurch extrapolieren. Es geht also weniger um eine unterschiedliche Auffassung und Bewertung von Emotionen, etwa die der Aufklärung vs. Empfindsamkeit wie sie in der Opposition Merteuil – Tourvel repräsentiert sind.
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nur noch in guter Freundschaft mit ihr verbunden, ist der skrupellose Verführer.8 Sein neues Ziel ist die Tourvel, an der ihn besonders die Schwere der Aufgabe reizt. Sie gilt als ebenso uneinnehmbar und fehlerfrei, wie er im Gegenteil allgemein als lasterhaft bekannt ist. Ein großer Teil der Briefe ist diesem Unternehmen gewidmet, das Valmont mit Umsicht und Bedacht angeht. Als zweiter Strang der Erzählung entwickelt sich die Liebesgeschichte zwischen Cécile de Volange, einer jungen Klosterschülerin, die gerade erst von ihrer Mutter nach Paris geholt worden ist, um sich zu verheiraten, und ihrem Musiklehrer Danceny. Dieser zweite Strang hat eine doppelte Funktion: eine analogisch erläuternde und eine funktional eingreifende. Einerseits kommentiert er gewissermaßen die Affäre zwischen Valmont und der Tourvel, als ein Seitenstück mit jüngeren und naiveren Protagonisten. Cécile und Danceny glauben sich zwar wirklich zu lieben, dennoch muss sich ihre Beziehung im Geheimen entwickeln, ist Cécile doch einem anderen versprochen. Viele kleine Details der Tourvel-Geschichte haben ihre Parallelen bei Cécile de Volange, und so erhellen sich beide Ebenen durch Ähnlichkeit und Kontrast. Zum zweiten interagieren beide Handlungsverläufe: Céciles zukünftiger Ehemann ist der Graf Gercourt und durch ihn entsteht der erste Berührungspunkt zwischen den beiden Erzählsträngen. War Gercourt doch einst selbst ein Liebhaber der Merteuil. Allerdings hat er den unverzeihlichen Fehler begangen, sie zu verlassen, um mit einer Geliebten Valmonts anzubandeln. Damit hatte er beide düpiert. Vor allem die Merteuil nimmt ihm das übel und will sich nun, Jahre später, an ihm dadurch rächen, dass sie eine Intrige gegen seine zukünftige Frau spinnt. Gercourt erwartet nämlich eine reine und unschuldige Klosterschülerin. Daher fordert die Marquise den Vicomte auf, Cécile zu verführen, um deren Zukünftigen noch vor der Ehe Hörner aufzusetzen und ihn so zum Gespött der Pariser Gesellschaft zu machen. Für Valmont ist diese Aufgabe aber uninteressant, zu einfach, Zeitverschwendung; seine ganze Energie ist gebunden im Unternehmen Tourvel. Madame de Merteuil hingegen missbilligt Valmonts Anstrengungen, die Präsidentin zu verführen, sie sieht darin keinen Reiz, vor allem gerade deshalb, weil sie Valmonts Kräfte binden, die sie für ihr Projekt benötigt. Schließlich akzeptiert sie aber seinen Plan und verspricht sogar eine gemeinsame Nacht mit Valmont, sollte es ihm gelingen, die tugendhafte Präsidentin zu verführen. Um aber ihr Hauptinteresse voranzubringen, unterstützt sie zunächst die Liebschaft zwischen Danceny und Cécile. Auf dieser Grundkonstellation entwickelt sich die Dynamik der Figuren und der ihnen je eigenen Affektkonstitution. Als zentrale Figur kann man dabei die Mar-
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Zur Stellung Valmonts in der Tradition literarischer Verführer vgl. Susanne Scharnowski: Grausame Liebschaften. Zum literarischen Typus des Verführers. In: Alexander Schuller, Wolfert von Rahden (Hg.): Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen. Berlin 1993, S. 251–275.
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quise de Merteuil betrachten. Sie bleibt zwar die meiste Zeit im Hintergrund, dennoch laufen bei ihr alle Fäden zusammen. Und sie ist der Inbegriff der Aufklärung.
3 Wer ist Aufklärung? „Was ist Aufklärung?“ fragte bekanntlich im Jahr 1783, ein Jahr nach Erscheinen der Gefährlichen Liebschaften, ein Beitrag in der Berlinischen Monatsschrift und provozierte damit einen der berühmtesten Texte der Philosophiegeschichte. Ohne es wohl ahnen zu können, gelang dem Autor aus dem eher marginal gelegenen Königsberg ein diskurs-strategischer Coup. Denn mit seinem Text gewann Immanuel Kant die Definitionshoheit über eine durchaus vielfältige Bewegung, die sich in ihrer Reichweite keineswegs auf diese knappe Schrift verrechnen lässt. Gleichwohl – und daher rührt natürlich sein Erfolg – formulierte Kant einen Gedanken, der in der Luft lag. „Aufklärung ist“, so heißt der bis heute berühmte Paukenschlag, mit dem der Text beginnt, der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.9
Der größte Teil der Menschheit habe diesen Mut leider nicht und er werde bewusst von seinen Vormündern in Unwissenheit gehalten, „darunter das ganze schöne Geschlecht“. „Ich aber, was habe ich gemein mit diesen unüberlegten Frauen?“ schreibt Madame de Merteuil im 81. Brief bei Laclos. Wann haben Sie mich von den selbst auferlegten Regeln abweichen und mich gegen meine Grundsätze verfehlen gesehn? Ich sage meine Grundsätze und sage es mit Fleiß, denn sie werden nicht, wie die der anderen Frauen, aufs Geratewohl erteilt, ungeprüft aufgenommen und gewohnheitsmäßig befolgt. Sie sind die Frucht meines tiefen Nachdenkens; ich habe sie geschaffen und kann sagen, ich bin mein eigenes Werk.10
Die Merteuil ist Kantianerin avant la lettre. 9
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Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?. In: Ders.: Kant’s Werke. Bd. VIII (Akademie-Ausgabe). Berlin, Leipzig 1923, S. 35. 81. Brief, vgl. Choderlos de Laclos: Schlimme Liebschaften. Frankfurt a.M. 1972, S. 222. „Mais moi, qu’ai-je de commun avec ses femmes inconsidérées? quand m’avez-vous vue m’écarter des règles que je me suis prescrites, et manquer à mes principes? je dis mes principes, et je le dis à dessein: car ils ne sont pas, comme ceux des autres femmes, donnés au hasard, reçus sans examen et suivis par habitude, ils sont le fruit de mes profondes réflexions; je les ai créés, et je puis dire que je suis mon ouvrage.“ Choderlos de Laclos: Les Liaisons dangereuses. Paris 2008, S. 214. Laclos wird im Folgenden nach diesen Ausgaben zitiert.
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Die Übereinstimmung ist naheliegend.11 Schon Max Horkheimer und Theodor W. Adorno machen in ihrem Buch über die Dialektik der Aufklärung auf diese Parallele aufmerksam, wenn auch ohne die Konsequenzen auszuarbeiten. Im dritten Teil Juliette oder Aufklärung und Moral heißt es, de Sades Juliette verkörpere die Lust, Zivilisation mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, nicht unähnlich der Merteuil aus den Liaisons Dangereuse […]. Sie liebt System und Konsequenz. Sie handhabt das Organ des rationalen Denkens ausgezeichnet. Was die Selbstbeherrschung angeht, verhalten sich ihre Anweisungen zu denen Kants zuweilen wie die spezielle Anwendung zum Grundsatz.12
Freilich reden Horkheimer und Adorno hier doch über Juliette und nicht über Merteuil. Der Vergleich erscheint nur en passant und wird mit einer sehr lapidaren Fußnote abgesichert. Dort heißt es nämlich, man möge Heinrich Manns Einleitung zur Ausgabe im Inselverlag vergleichen. Dass hier nicht einmal auf den Text selbst referiert, sondern gewissermaßen über die Bande gespielt wird, nämlich über die Autorität des Übersetzers Heinrich Mann, macht das Argument nicht falsch, verlangt aber doch nach einer eigenen Vertiefung. Der 81. Brief ist – und das ist eher untypisch für die Autorin – aus einem gewissen Affekt heraus geschrieben, nämlich aus verletzter Eitelkeit. Valmont hat ihr zuvor in einer kleinen Nebenaffäre Ratschläge erteilen wollen. Damit tritt er ihrer Ehre zu nahe, denn die Merteuil interpretiert seine zudringlichen Ratschläge als Zeichen dafür, dass er, Valmont, sie unterschätze – ausgerechnet er, dem in der gesamten Konstellation eine besondere Rolle zukommt, denn er ist derjenige, von dem sie erwartet, dass er als einziger sie richtig einschätzen und damit auch würdigen könne. Denn nach außen gilt sie als sittsame Frau voll fester Grundsätze, während sie im Geheimen eine Großmeisterin fein gesponnener Intrige und arkaner Affären ist. Der einzige, der darum weiß, ist Valmont. Die Beziehung zwischen der Merteuil und Valmont ist dann auch die treibende Kraft des gesamten Romans, und was zwischen ihnen geschieht ist ein Kampf um Anerkennung, den mancher Interpret als Liebe missdeutet hat. Schon in dieser Grundvoraussetzung sieht man aber eine bestimmte gesellschaftlich bedingte Asymmetrie, denn Valmont ist zwar verrufen, aber als Mann schließt ihn das nicht von der guten Gesellschaft aus. Die Merteuil hingegen könnte sich ein vergleichbares Verhalten als Frau nicht leisten; ihr makelloser Ruf ist ihr symbolisches Kapital. Umso tiefer verletzt sie seine Anmaßung, denn sie agiert unter schwierigeren Voraussetzungen als er und hat dennoch mehr erreicht. Worauf beliefen sich denn 11
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So schreibt z.B. Charlotte Burel in ihrem Nachwort zu der Ausgabe in der Edition Gallimard: „Toute la vie de Merteuil est la manifestation d’un travail, d’un effort constant pour échapper au statut de mineure au sens donné par Kant“ und stellt ihr Bestreben unter die Überschrift „La perversion de la lucidité: les philosophes scélérants.“ Charlotte Burel: Le texte en perspective. In: Choderlos de Laclos: Les Liaisons dangereuses. Paris 2008, S. 495. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Bd. 5, Frankfurt a.M. 1987, S. 118.
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schließlich seine Aktiva? Ein schönes Gesicht, gute Manieren, ein bisschen Geist, der sich zur Not durch Geschwätz ersetzen lasse und „eine Unverschämtheit, die ziemlich lobenswert“ sei, die er vielleicht aber einzig und allein der Mühelosigkeit seiner ersten Erfolge verdanke.13 Sie hingegen habe hart an sich arbeiten müssen, um auch nur mit den männlichen Erfolgen gleichzuziehen.14 Ihre ersten Jahre, in denen man von einer anständigen jungen Frau ohnehin in erster Linie Zurückhaltung und Untätigkeit erwartete, habe sie ganz mit heimlicher Beobachtung verbracht. Sie benimmt sich also durchaus wie ein neuzeitlicher Wissenschaftler, der die Aktionen und Reaktionen seiner Objekte empirisch studiert. Und so versteht sie sich auch, spricht sie doch von „den ersten Elementen der Wissenschaft, die ich erwerben wollte“.15 Gleichzeitig arbeitet sie aber an ihrem eigenen Verhalten, studiert also nicht nur die Theorie, sondern übt auch die Praxis. Denn Grundsätze zu haben, ist das eine, sie und sich zu beherrschen, durchaus etwas anderes. So trainiert sie die Fähigkeit zur Verstellung, vor allem ihr Mienenspiel: Empfand ich etwa Kummer, befleißigte ich mich, heiter auszusehen und sogar freudig. Ich habe den Eifer so weit getrieben, daß ich mir freiwillig Schmerz zufügte, um während dieser Zeit mich um einen vergnügten Ausdruck zu bemühen. Mit derselben Sorgfalt und mehr Anstrengung habe ich mich bearbeitet, um die Zeichen einer unerwarteten Freude zu unterdrücken. So habe ich über meine Physiognomie die Macht erlangt, über die ich Sie manchmal so in Erstaunen gesehen habe.16
Das sind Exerzitien in allumfassender Affektbeherrschung. Von früh auf empörte es die Marquise, dass man sie ihres Ureigensten, ihrer Gedanken, berauben könnte. Daher arbeitet sie mit Erfolg an einer umfassenden Charakterregulierung, eine Arbeit am Selbst, die ihr nun wieder rückwirkend auch zur psychologischen Einsicht in andere verhilft. „Ich bin in mein Herz hinabgestiegen und habe darin das der andern erforscht.“17 Dabei wird sie sich auf ihre Disposition verlassen haben können, denn sie rühmt sich, schon als junges Mädchen am Genuss wenig interessiert gewesen zu sein, 13 14
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Laclos: Les Liaisons dangereuses (wie Anm. 10), S. 211/219, „une impudence assez louable, mais peut-etre uniquement due à la facilité de vos premiers succès […].“ Eine der wenigen anderen überlieferten Schriften Laclos’ ist der Traktat De l’éducation des femmes von 1784/85, in dem er vehement die Rechte der Frauen verteidigt, vgl. dazu auch Lieselotte Steinbrügge: Gefährliche Briefe. Der lustvolle Abschied von weiblicher Tugend bei Choderlos de Laclos. In: Iris Bubenik-Bauer, Ute Schalz-Laurenze: „[…] ihr werten Frauenzimmer auf“. Frauen in der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1995, S. 73–85. „[A]ux premiers éléments de la science que je voulais acquérir.“ (Laclos: Les liaisons dangereuses [wie Anm. 10], S. 215/223). „Ressentais-je quelque chagrin, je m’étudiais à prendre l’air de la sérénité, même celui de la joie; j’ai porté le zèle jusqu’à me causer des douleurs volontaires, pour chercher pendant ce temps l’expression du plaisir. Je me suis travaillée avec le même soin et plus de peine, pour réprimer les symptômes d’une joie inattendue. C’est ainsi que j’ai su prendre, sur ma physionomie, cette puissance dont je vours ai vu quelquefois si étonné.“ (Ebd., S. 214f., S. 223). „Descendue dans ma coeurs, j’y ai étudié celui des autres.“ (Ebd., S. 219/228).
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vielmehr habe sie von jeher Wissen erwerben wollen. Und noch in den erregendsten Momenten bleibt sie die kühl Analysierende. Selbst in der ersten Nacht mit ihrem Ehemann gibt sie sich nicht einfach ihrem Schmerz und ihrer Lust hin, sondern studiert beide gleichzeitig ungerührt: „Schmerz und Lust, ich beobachtete alles genau und erblickte in diesen verschiedenen Empfindungen nur zu sammelnde und zu bedenkende Tatsachen.“18 Bald ist ihr klar, dass die Liebe nicht die Quelle, sondern nur der Vorwand der Freuden ist. Nach dem Tod ihres Mannes zieht sie sich, um dem offiziellen Trauergebot Genüge zu tun, einige Zeit auf ihr Landgut zurück und setzt dort ihre Studien fort. Neben der unmittelbaren Empirie findet sie Anleitung in der Lektüre von Romanen und philosophischen Texten. Zurück in der Stadt, beginnt sie mit der Liebe zu experimentieren, „allerdings nicht, weil ich sie fühlen wollte, sondern weil ich sie eingeben und sie heucheln wollte“.19 Dies gelingt ihr, indem sie den Geist eines Autors mit den Gaben eines Schauspielers verbindet. Für den Geist des Autors bedient sie sich beim Besten, was Literatur und Philosophie der Zeit bereitstellen. So liest sie denn auch zum Beispiel, bevor sie ihren Liebhaber empfängt, schon mal ein Kapitel aus Crebillons La Sopha, einen Brief aus der Nouvelle Héloïse und zwei Geschichten von La Fontaine, so dass sie ihrem Anbeter, um ihn und sich nicht zu langweilen, nacheinander kokett, empfindsam oder, wie sie schreibt, „manchmal sogar liederlich“ erscheinen kann. Die Gaben des Schauspielers, den die Marquise dabei im Sinn hat, findet sie bei Diderot vorgezeichnet. Er verlangt in seinem Paradox über den Schauspieler, man dürfe nicht aus dem Gefühl heraus spielen, nicht ausdrücken, was in einem selbst sei, der Schauspieler müsse vielmehr beherrscht und mit Überlegung nachahmen.20 Nur so seien Genauigkeit und Einheitlichkeit einer Rolle gewährleistet. Anders aber als professionelle Schauspieler sucht die Marquise de Merteuil nicht den „leeren Beifall im Theater“,21 sondern die große Bühne, die das Leben ist.
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„[D]ouleur et plaisir, j’observai tout exactement, et ne voyais dans ces diverses sensations que des faits à recueillir et à méditer.“ (Ebd., S. 216/225). „[N]on pour le ressentir à la vérité, mais pour l’inspirer et le feindre.“ (Ebd., S. 217/226). „Was mich in meiner Meinung bestärkt, ist vor allem die Unausgeglichenheit der Darsteller, die aus der Seele heraus spielen. Erwarten Sie von ihnen keinerlei Einheitlichkeit; ihr Spiel ist abwechseln kraftvoll und schwächlich, feurig und kalt, flach und erhaben. Sie werden morgen an der Stelle versagen, an der sie heute glänzten; dagegen werden sie an der Stelle glänzen, an der sie am Abend zuvor versagt haben. Spielt dagegen ein Schauspieler aus der Überlegung (réflexion) heraus, auf Grund des Studiums der menschlichen Natur, in beharrlicher Nachahmung eines ideellen Modells (modèle idéal), aus der Einbildungskraft und aus dem Gedächtnis, so wird er aus einem Guß (un) in allen Vorstellungen ein und derselbe und immer gleich vollkommen sein.“ Denis Diderot: Das Paradox über den Schauspieler. In: Ders.: Ästhetische Schriften II. Berlin, Weimar 1967, S. 485. „[M]ais au lieu de rechercher les vains applaudissements du Théâtre, je résolus d’employer à mon bonheur ce que tant d’autres sacrifiaient à la vanité.“ (Laclos: Les liaisons dangereuses [wie Anm. 10], S. 218/226).
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Madame de Merteuil ist der Inbegriff von Aufklärung und Wissenschaft und so wird sie auch das Opfer ihrer Dialektik. Denn sie bleibt weiterhin der Gesellschaft, von der sie sich freimachen will, verhaftet, muss sie ihr doch in einer Art Schattenreich immer auch gehorchen. Nach innen frei, muss sie nach außen ihren Regeln aufs Peinlichste genügen. Denn der Anschein der Tugend ist ihr wichtigstes Kapital, mit dem sie insgeheim ihren Lastern umso besser frönen kann. Dabei können Schein und Sein sogar partiell zur Deckung kommen. Céciles Mutter, Madame de Volange, schreibt einmal über die Merteuil, deren Wesen verkennend und es gleichzeitig auf das Genaueste treffend, sie sei eine hochachtbare Frau und ein geschickter Rosselenker, „der sich darin gefällt, einen Wagen zwischen Felsen und Abgründen hindurchzulenken, und den nur der Erfolg rechtfertigt“.22 Madame de Volange ruft hier nicht nur Scylla und Charybdis auf, sondern noch ein anderes berühmtes Motiv aus der Antike: den Platonischen Rossebändiger. Bei Platon ist er die Allegorie der Affektbeherrschung. Die Vernunft als Wagenlenkerin zügelt zwei das Affektive symbolisierende Pferde, den thymos und die epithymiai.23 Diese Tradition wird am konsequentesten von der Stoa weitergeführt.24 Merteuils Brief erhellt nun seinerseits etwas bei Kant. Bei beiden Autoren sind die rechten Grundsätze, genauer betrachtet, Prinzipien gegen die Gesellschaft. Sie müssen aus eigener Kraft erkannt und gesetzt werden und können sich dabei nur auf eine Instanz verlassen, die jenseits und über der Gesellschaft angesiedelt ist, die Vernunft, die sich im eigenen Verstand instanziiert. Doch während die Merteuil die Gesellschaft auch weiterhin immer in ihr Kalkül mit einbeziehen muss, überspringt Kant diese Ebene vollständig. Seine individuelle Haltung knüpft direkt an universale Instanzen an. Nicht umsonst sind, was ihm Ehrfurcht gebietet, das Gewissen in ihm und der gestirnte Himmel über uns. Das ist eine Figur, die wir ebenfalls schon in der Antike, vor allem in der Stoa, finden. Auch der stoische Weise versucht seine Grundsätze unabhängig von seiner unmittelbaren Umgebung und seine Gemütsruhe durch Absehung von äußeren, vor allem gesellschaftlich in Ansehen stehenden Gütern, direkt im Rückgriff auf den alles überspannenden Logos, der ein kosmischer ist, zu finden. Es ist dann nicht überraschend, dass Kant auch für die Praxis, nämlich die Umsetzung der theoretischen Grundsätze im individuellen Verhalten, Anleihen bei der Stoa macht.
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„[C]’est un guide adroit qui se plaît à conduire un char entre les rochers et les précipices.“ (Ebd., S. 85/89). Vgl. Platon: Phaidros, 246 ab. Schon Hugo Friedrich weist darauf hin, dass Madame de Merteuil in dieser Hinsicht nicht nur die Mittel des Cartesianischen Rationalismus, sondern auch der antiken Stoa beerbt, vgl. Hugo Friedrich: Immoralismus und Tugendideal in den „Liaisons Dangereuses“. In: Romanische Forschungen 49 (1935), S. 317–342, hier S. 322; Victor Klemperer sieht Valmont und Merteuil hingegen mehr als ein letztes Produkt der Klassik und in der Tradition der Moralistik, was sich durchaus nicht widersprechen muss, vgl. Victor Klemperer: Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert. Bd. II. Halle 1966, S. 416–424.
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Im Paragraphen 75 seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht heißt es: Das Princip der Apathie: daß nämlich der Weise niemals im Affect, selbst nicht in dem des Mitleids mit den Übeln seines besten Freundes sein müsse, ist ein ganz richtiger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule; denn der Affect macht (mehr oder weniger) blind.25
In der Tat schließt Kant auch insofern an die antike Tradition an, als er auf die Vernunft als allgemein affektzügelnde Kraft setzt. Er ist in dieser Hinsicht ein neuzeitlicher Nachkomme des Platonischen Wagenlenkers, die Aufklärung ein Erbe aristokratischer contenance, nur dass Kant für die Allgemeinheit fordert, was sein antiker Vorläufer nur auf die Philosophenkönige und ihresgleichen beschränkte. So ist Kants Verallgemeinerung der Affektbeherrschung dann erst wahrhaft eine Demokratisierung der Geistesaristokratie. Dass er dennoch eine der Emotionen besonders heraushebt, das Mitleid, ist schließlich doch eine Referenz an die Zeit, die eben jenes Gefühl zum Teil als moralisches privilegieren wollte. Denn dass die Natur diese Anlage in uns eingepflanzt habe, sei eine besondere Weisheit gewesen, um – wie es bei Kant heißt – „provisorisch, ehe die Vernunft noch zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen, nämlich den moralischen Triebfedern zum Guten noch die des pathologischen (sinnlichen) Anreizes, als einstweiliges Surrogat der Vernunft, zur Belebung beizufügen“.26 Das Zugeständnis wird gemacht, nur um im nächsten Satz gleich wieder zu betonen, dass dieser Affekt, für sich allein betrachtet, jederzeit unklug sei.
4 Die Erfindung des Mitleids Wenn wir gewohnt sind, Kant als das Sprachrohr der Aufklärung zu verstehen, darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass er mit Blick auf die Affektbeherrschung völlig ungebrochen einem traditionellen Verständnis verhaftet bleibt. Längst aber hat man auch dessen Probleme erkannt und versucht, Alternativen zu entwickeln. Immer schon war die Forderung nach der Vernunftherrschaft durch das Problem der akrasia, der Willensschwäche, belastet.27 In der Realität zeigten sich die Leidenschaften nämlich allzu oft so gar nicht durch die Vernunft beherrschbar. 25
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Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Ders.: Kant’s Werke Bd. VII. (Akademie-Ausgabe), Berlin 1917, S. 253. Wenn Kant hier von Affect spricht, so ist das im weiten Verstande seiner Zeit zu nehmen, die damit Emotion im allgemeinen Sinne meinte. Zum Sprachgebrauch vgl. J. Lanz: Art. Affekt. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Basel 1971, Sp. 89–100. Kant als erster hat zwischen Affekt und Leidenschaft unterschieden. Vgl. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 252. Ebd., S. 253. Vgl. Platon: Prot. 352ff., s.a. Rüdiger Zill: Meßkünstler und Rossebändiger. Zur Funktion von Metaphern und Modellen in philosophischen Affekttheorien. Berlin 1994, S. 155ff.
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Doch erst die frühe Neuzeit hat den Realismus dieser Beobachtung anerkannt und aus einer Umkehrung des Verhältnisses Kapital zu schlagen versucht. Wenn die Vernunft nur ein Sklave unserer Leidenschaften ist, wie es in einer berühmten Formulierung David Humes heißt,28 dann bedarf es einer anderen Kraft, um die schädlichen Passionen einzudämmen – und das kann nur eine andere emotionale Kraft sein. Der erste, der dies in großem Maßstab in seiner Theorie zu verwirklichen suchte, war Thomas Hobbes. Die Begierden des Einzelnen sind letztlich nicht beherrschbar, es sei denn durch eine gleichwertige Kraft, die Furcht. Im Naturzustand verallgemeinert sich das Gefühl von allein, durch die Verbreitung des aus der allgemeinen Konfusion entstehenden Terrors. Im absolutistischen Staat, der diesen Kriegszustand auf- und ablöst, muss solch eine Gegenkraft künstlich gesetzt werden, durch die Machtmittel des Souveräns. Bereits bei Hobbes kann man sehen, dass ein derartiges Modell systemisch denkt und daher die Gesellschaft oder zumindest einen starken Staat braucht. Die Gedanken aber sind nur die Spione und Kundschafter der Wünsche. Das bedeutet nun auch, dass die Vernunft keine Kraft mehr ist, die selbst etwas bewirken könnte. Die notwendigen Triebkräfte des Einzelnen sind immer die Begierden und Emotionen. Bei aller negativen Anthropologie beginnt hier ein langsamer Aufwertungsprozess des Emotionellen als individuelle und vor allem auch als gesellschaftliche Kraft.29 Dafür wird es in der Folgezeit viele Beispiele geben. In Bernard de Mandevilles Bienenfabel werden private vices zu public benefits. In der Öffentlichkeit stößt diese Behauptung noch auf Ablehnung; der Autor wird als Hobbesianer beschimpft. Wenn Bernard de Fontenelle 1683 in seinen Nouveaux Dialogues des Morts den Herostrat sagen lässt: „Es sind die Leidenschaften, die alles aufwühlen und wieder zunichte machen. Wenn die Vernunft auf Erden herrschte, passierte dort rein gar nichts mehr“,30 dann steht das noch in der Tradition der mit entlarvendem Impetus auftretenden Moralistik. Ungebrochen positiv wird die Argumentationsfigur dann aber von der Aufklärung übernommen, so etwa bei Denis Diderot, bei dem es heißt: „nur die Leidenschaften, und zwar die großen Leidenschaften, können die Seele zu großen Dingen erheben“,31 und in Jean-Jacques Rousseaus zweitem Discours, der konstatiert, das menschliche Erkenntnis28
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„Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.“ (David Hume: A Treatise of Human Nature. Oxford 1978, S. 415). Die Vorgeschichte dieser Entwicklung hat als erster Wilhelm Dilthey in seinem Aufsatz „Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts“ beschrieben, vgl. Ders.: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (Gesammelte Schriften, Bd. II). Leipzig, Berlin 1940, S. 416–492. Bernard de Fontenelle: Totengespräche. Frankfurt a.M. 1991, S. 148. „Man glaubt wohl, die Vernunft zu beleidigen, wenn man ein Wort zugunsten ihrer Rivalinnen sagt; doch nur die Leidenschaften, und zwar die großen Leidenschaften, können die Seele zu großen Dingen erheben. Ohne sie gibt es nichts Erhabenes mehr, weder in den Sitten noch in den Werken, ohne sie sinken die schönen Künste auf die Stufe der Kindheit zurück und wird die Tugend kleinlich.“ Denis Diderot: Philosophische Schriften. Westberlin 1984, S. 3.
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vermögen verdanke vieles den Leidenschaften, durch sie vervollkommne sich der Verstand. Wir nähmen nur die Mühen des Denkens auf uns, weil wir zu genießen wünschen oder die Angst bannen wollen.32 Auch bei Vico sind die ursprünglichen Leidenschaften die Ursache, durch die der Mensch zur Sprache kommt.33 Mit dem größten Nachdruck formuliert es Claude-Adrien Helvétius im 1772 aus dem Nachlass herausgegebenen De l’Homme: „Die Begierde ist die Bewegung der Seele; ist sie der Begierden beraubt, stagniert sie. Man muß begehren, um zu handeln, und handeln, um glücklich zu sein.“34 Aber es geht hier nicht allein um individuelle Handlungsfähigkeit oder das Glück des Einzelnen. Schon 1758 hatte er in De l’Esprit die physikalischen Kräfte der Natur mit den moralischen der Leidenschaften verglichen: Die Leidenschaften sind in der moralischen Welt, was in der physischen Welt die Bewegung ist. Diese erzeugt und vernichtet, erhält und belebt alles, und ohne sie wäre alles tot. Ebenso beleben die Leidenschaften die moralische Welt. Die Gewinnsucht treibt Schiffe über die öden Flächen des Weltmeers; der Ehrgeiz schüttet Täler zu, trägt Berge ab, bahnt sich Wege durch Felsen, errichtet die Pyramiden zu Memphis, gräbt den Mörissee und gießt den Koloß von Rhodos. Die Liebe, so sagt man, hat den Stift des ersten Zeichners gespitzt. […] So verdanken wir den starken Leidenschaften die Erfindung und die Wunder der Künste. Solche Leidenschaften müssen als der produktive Keim des Geistes und als die mächtige Triebfeder angesehen werden, die die Menschen zu großen Taten bewegt.35
Und bei Helvétius zeigt sich auch, wie eng die Aufwertung der Leidenschaften mit dem Prinzip verbunden ist, dass nur Gleiches mit Gleichem zu bezwingen ist: Nun wird sich aber jeder Mensch, der sich mit dieser Untersuchung befaßt, bald darüber klar, daß allein Leidenschaften Leidenschaften bekämpfen können und daß die Vernunftmenschen, die sie angeblich besiegen, sehr schwache Neigungen als Leidenschaften bezeichnen, um sich die Ehre des Triumphs zu verschaffen.36
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„Was auch die Moralisten darüber sagen, das menschliche Erkenntnisvermögen verdankt vieles den Leidenschaften, die der allgemeinen Meinung nach ihm gleichfalls vieles verdanken: Gerade durch ihre Aktivität vervollkommnet sich unser Verstand. Wir suchen nur zu erkennen, weil wir zu genießen wünschen. Es ist nicht begreiflich, warum einer, der weder Wünsche noch Ängste hätte, sich die Mühe nähme, nachzudenken.“ Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). In: Ders.: Schriften zur Kulturkritik. Hamburg 1978, S. 135. Vgl. zu Rousseau ausführlicher Rüdiger Zill: Leidenschaften, in: Iwan D’Aprile u. Stefanie Stockhorst (Hg.): Rousseau und die Moderne. Eine kleine Enzyklopädie. Göttingen 2013. Giambattista Vico: Prinzipien über die neue Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Hamburg 1990. Claude-Adrien Helvétius: Vom Menschen, von seinen geistigen Fähigkeiten und von seiner Erziehung. Hg. v. Werner Krauss: Übers. v. Hans-Manfred Militz u. Theodor Lücke. Berlin, Weimar 1976, S. 396. Claude Adrien Helvétius: Vom Geist. Hg. v. Werner Krauss. Übers. v. Theodor Lücke. Berlin, Weimar 1973, S. 288. Ebd., S. 497, sowie allgemeiner: „In der Moral wie in der Physik ist es das Gleichgewicht der entgegengesetzten Kräfte, das die Ruhe erzeugt.“ Helvétius: Vom Menschen, S. 465. Eine erste emphatische Formulierung dieses Gedankens findet sich in Francis Bacons The Advancement of Learning. In: Ders.: Works. Bd. 3. London 1859, S. 438. Vgl. dazu auch Albert O.
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Will man unter diesen Voraussetzungen nicht in der negativen Anthropologie eines Hobbes verharren, muss im Menschen selbst eine positive Gegenkraft postuliert werden. Das hat wohl als erster Shaftesbury erkannt. In den Jahren darauf führt das zur Karriere von benevolence und sympathy in der schottischen Moralphilosophie und zur Erfindung des Mitleids als zentraler Kategorie gesellschaftlichen Lebens etwa bei Rousseau. Und an dieser Stelle finden wir Madame de Tourvel wieder. Ihre sprichwörtliche Ehrbarkeit und Tugend ist eben nicht die reiner Verstandeskälte. Sie ist – im Gegenteil – eine mitfühlende Seele. Sie spricht die Sprache des Herzens im Dialekt Rousseaus.37 Und das genau ist es, was Valmont sich zunutze machen kann, um sie zu verführen. Dazu entwickelt er eine Strategie, die Empathie und Mitleid auf verschiedenen Ebenen aufruft und für seine Zwecke instrumentalisiert. Er wendet also die eigentlich triebbalancierende Kraft um und stellt sie geradezu in den Dienst ihres Gegners. In einem ersten Schritt benutzt Valmont das Mitleid, damit er überhaupt ins Spiel kommen kann. Denn da er allgemein den Ruf eines gnadenlosen Verführers besitzt, hält ihn die Tourvel zunächst auf Distanz. Um diese Distanz zu überwinden, inszeniert Valmont ein kleines Theaterstück. Während ihrer ersten Begegnung auf dem Landsitz seiner Tante, Madame de Rosemonde, besucht er eine arme Bauernfamilie in einem nahe gelegenen Dorf. Wegen hoher Schulden soll gerade deren gesamtes Hab und Gut gepfändet werden. In großer Geste tritt Valmont hinzu und begleicht die ausstehende Summe, oder wie er selbst schreibt „meinem hochherzigen Mitgefühl (ma généreuse compassion) nachgebend, zahle ich edelmütig die sechsundfünfzig Francs, wegen deren fünf Personen aufs Stroh und zur Verzweifelung gebracht wurden“.38 Er weiß es dabei aber so einzurichten, dass die Tat heimlich von einem Bediensteten der Präsidentin beobachtet wird und auf diesem Wege die Nachricht von seiner Mildtätigkeit auf sie kommt. Auch Valmont ist ein großer Schauspieler; er sieht sich aber nicht nur selbst so, sondern auch die Welt. Über die vor Dankbarkeit in Tränen ausbrechenden Bauern schreibt er „Ich betrachtete dies
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Hirschman: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt a.M. 1980, insbes. S. 28ff. Dasselbe Modell gilt auch für die rationalen Kräfte. Wahrheit entsteht nicht allein durch beherztes Selbstdenken, sondern durch einen Wettkampf der Gedanken in der öffentlichen Meinung. Die Aufwertung der Emotionen ist also nicht gegen die Aufklärung entstanden, sondern als Teil von ihr, vgl. etwa Lothar Müller: Herzblut und Maskenspiel. Über die empfindsame Seele, den Briefroman und das Papier. In: Gerd Jüttemann, Michael Sonntag u. Christoph Wulf (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Göttingen 2005, S. 267–290, hier S. 268ff. Die Präsidentin steht natürlich für die Empfindsamkeit, Laclos knüpft mit seinem Roman an die großen Erfolge des Briefromans von Richardsons Clarissa und Pamela bis zu Rousseaus Nouvelle Héloïse an und wendet die Intention des Genres gegen sich selbst. Die Dialektik der Aufklärung zeigt also durchaus in sich auch eine Dialektik der Empfindsamkeit. Laclos: Les Liaisons dangereuses (wie Anm. 10), S. 62/65: „[C]édant à ma généreuse compassion, je paie noblement cinquante-six livres, pour lesquelles on réduisait cinq personnes à la paille et au désespoir.“
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Schauspiel […]“39 und über sich: „Indessen glich ich inmitten der geschwätzigen Segenswünsche der Familie ziemlich stark einem Dramenhelden, in der Szene der Lösung des Knotens.“40 Nun da Madame de Tourvel durch dieses geschickt inszenierte Exempel überzeugt ist, dass Valmont besser sei als sein Ruf, ja dass sein schlechter Ruf nicht zuletzt durch sein eigenes Understatement zustande gekommen sei, ist der Verführer im Spiel. Valmont ergreift die Tourvel bei ihrem eigenen Mitleid und verwandelt es in Begehren. Als erstes versucht er die Kraft, die er zur Schau gestellt hat, für sich zu mobilisieren. Er gesteht der Präsidentin seine Liebe und stellt sich als Getriebenen dar. Er wisse wohl, dass sein Gefühl gegen Sitte und Anstand verstoße, aber er könne nun mal nicht anders, sein Wille, sein Verstand sei machtlos. Daher ruft er sie um Hilfe an: Geben Sie mich nicht dem Wahnsinn preis, in den Sie mich gestürzt haben. Leihen Sie mir Ihre Vernunft, da Sie mir meine denn geraubt haben. Nachdem Sie mich gestraft haben, erleuchten Sie mich, um Ihr Werk zu vollenden. Ich will Sie nicht täuschen, Sie werden es nicht dahin bringen, meine Liebe zu besiegen; aber Sie werden mich lehren, sie zu regeln. Wenn Sie meine Schritte lenken, meine Reden mir vorschreiben, werden Sie mich wenigstens vor dem grauenhaften Unglück bewahren, Ihnen zu mißfallen […].41
Valmont ruft noch einmal die Vernunft auf, sie ist aber nur die Maske, unter der er an die Begierde appelliert. Die Tourvel wehrt sich zunächst auf ganz traditionelle Weise. Sie versucht, ihr Gefühl zu beherrschen, indem sie seine Ursache bannt: Sie fordert Valmont auf, sich aus ihrer Nähe zu entfernen; sie untersagt ihm zu schreiben. Sie lebe zufrieden ohne ihn, versichert sie: „Ich bin glücklich,“ schreibt sie, und verdirbt es doch gleich wieder mit dem Nachsatz: „ich muss es sein.“ Und zur Unterstützung ruft sie noch einmal einen antiken Topos auf: Auch wenn es stärkere Freuden gäbe, so wolle sie sie nicht erfahren. Gibt es denn süßere, als mit sich in Frieden zu leben, lauter heitere Tage zu haben, ungestört einzuschlafen und ohne Reue aufzuwachen? Was Sie Glück nennen, ist nur ein Tumult der Sinne, ein Ungewitter der Leidenschaften, dessen Schauspiel, selbst vom Ufer aus gesehen, schrecklich ist. Um alles! Wie sollte man solchen Stürmen die Stirn bieten? Wie sollte man’s wagen, sich auf einem Meer einzuschiffen, das bedeckt ist mit den Trümmern von tausend und abertausend Schiffbrüchen? Und mit wem? Nein, mein Herr, ich bleibe am Land.42
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„J’examinais ce spectacles.“ (Ebd., S. 62/65). „Cependant, au milieu des bénédictions bavardes de cette famille, je ne ressemblais pas mal au Héros d’un Drame, dans la scène du dénouement.“ (Ebd., S. 62/66). „[N]e m’abandonnez pas dans le délire où vous m’avez plongé: prêtez-moi votre raison, puisque vous avez ravi la mienne; après m’avoir corrigé, éclairez-moi pour finir votre ouvrage. Je ne veux pas vous tromper, vous ne parviendrez point à vaincre mon amour; mais vous m’apprendrez à le régler; en guidant mes démarches, en dictant mes discours, vous me sauverez au moins du malheur affreux de vous déplaire.“ (Ebd., S. 71f./75f.). „En est-il de plus doux que d’être en paix avec soi-même, de n’avoir que les jours sereins, de s’endormir sans trouble, et de s’éveiller sans remords? Ce que vous appelez le bonheur ne qu’un tumulte des sens, un orage des passions dont le spectacle est effrayant, même à le regar-
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Doch kann sie es nicht vermeiden, wenigstens Valmonts Tumulten zuzusehen; er weiß es durchaus so einzurichten, dass sie die Zuschauerin bei seiner inszenierten Seenot ist.43 Aus dem Schiffbruch mit Zuschauer wird aber bald der Schiffbruch des Zuschauers. Oder wie Valmont voller Raffinesse und nicht frei von Überheblichkeit an die Merteuil schreibt: Eine Frau, die sich darauf einlasse, von Liebe zu sprechen, sei ihr bald selbst ausgeliefert – oder betrage sich doch wenigstens so, als sei sie verliebt.44 Valmonts Rechnung scheint aufzugehen. Die Präsidentin verfällt ihm; sie verliebt sich unsterblich in ihn und ist bereit, ihren Mann zu betrügen. Was Valmont inmitten seines Triumphs unterschätzt hat, ist die Wirkkraft seiner Methode, denn sie schlägt auch auf ihn selbst zurück. Am Ende ist er nicht nur der Verführer, sondern auch der Verführte.45 Er selbst empfindet, was er nur vorzuspielen meinte. Er liebt die Präsidentin. Die Resonanz der Liebe, die er erzeugt hat, bringt seine eigenen emotionalen Saiten mit zum Schwingen. Dass er dafür eine Disposition hat, zeigt sich schon früh. Als er die Schulden des in den Ruin geratenen Bauern begleicht und dieser sich wort- und gestenreich bedankt, empfindet Valmont eine unfreiwillige Rührung, die ihm durchaus köstlich erscheint. Aber noch hat er sich in der Gewalt. Als die Tourvel ihn schließlich erhört, allerdings nicht mehr.46 Dass Valmont die Beherrschung verliert, kann die Merteuil nicht zulassen, denn sie will ihn nicht an die Rivalin verlieren. Dabei ist sie nicht etwa selbst von Liebe getrieben. Sie braucht Valmont in ihrer Machtbalance. Denn er ist ihr idealer Zuschauer. Er allein kann die Meisterschaft, mit der sie sich und ihre Umwelt beherrscht, würdigen, weil er der einzige ist, der hinter ihre scheinehrbare Fassade sehen durfte und auch weil er der einzige ist, der über ähnliche Fähigkeiten verfügt.47
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der du rivage. Eh! comment affronter ces tempêtes? comment oser s’embarquer sur un mer couverte des débris de mille et mille naufrages? Et avec qui? Non, Monsieur, je reste à terre.“ (Ebd., S. 143/148). Hier ist die Theater- mit der Seefahrtsmetaphorik verschränkt, allerdings hat das seit Lukrez eine lange Tradition. Hans Blumenberg hat das in mehreren Büchern kommentiert, vgl z.B. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt a.M. 1979, und Ders.: Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt a.M. 1987. Vgl. den 76. Brief, S. 196 (189). Wenn Susanne Scharnowski dem Vicomte (und den anderen Charakteren der Gefährlichen Liebschaften) Identität und Entwicklung abspricht und konstatiert: „Alle Romanfiguren sind das, was sie jeweils tun, das, als was sie momentan erscheinen, und darüber hinaus nichts anderes ,Eigentliches‘.“ (Scharnowski: Grausame Liebschaften [wie Anm. 8], S. 262), dann ignoriert sie die Dynamik, mit der das Tun doch die Personen beeinflusst und letztlich doch zu Entwicklungen, nämlich zu unintendierten, führt. Die Masken formieren das Fleisch, das sie bedecken. Vgl. hierzu v.a. den 125. Brief. Hugo Friedrich missversteht diese komplizierte Komplizenschaft als „erotische Hörigkeit“ Valmonts der Merteuil gegenüber (Friedrich: Immoralismus und Tugendideal [wie Anm. 24], S. 326f.). Dafür aber spricht nichts: Warum sollte der ehemalige Liebhaber nach all den Jahren ausgerechnet sexuell in den Bann der Merteuil geraten? Die versprochene Nacht ist v.a. ein symbolischer Preis.
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Während sie nach innen, sich selbst gegenüber ein Platonischer Rosselenker ist, gleicht sie nach außen dem absolutistischen Herrscher eines Thomas Hobbes, der im wahrsten Sinne des Wortes souverän die Triebe der anderen gegeneinander ausspielt, um sie alle zu beherrschen. Leidenschaften können nur durch Leidenschaften bekämpft werden, und so mobilisiert sie Valmonts Eitelkeit, die es ihm eigentlich verbietet, in Liebe entbrannt zu sein, und zwingt ihn, mit der Tourvel zu brechen. Die Eitelkeit kämpft seine Liebe nieder, aber am Ende geht er doch daran zu Grunde, denn er hat doppelt verloren: seine Liebe und auch seinen Ruf. Denn wie er der ideale Zuschauer der Merteuil ist, so ist sie seine ideale Zuschauerin. Ihre hartnäckige Weigerung aber, ihn zu „empfangen“, die Wette einzulösen, ist eine Weigerung, die Reinheit seiner Motive anzuerkennen. Und letztlich hat er die Liebe der Madame de Tourvel einer Anerkennung geopfert, die sich nicht einstellen will. So hat er mit dem Gefühl eine Macht aufgerufen, die er nicht beherrschen konnte; sein Spiel ist verloren. Aber das der Rationalistin Merteuil ebenso. Denn weil Valmont alles verloren hat, gelten auch die Regeln seines Pakts mit der Merteuil nicht mehr. Der sterbende Vicomte übergibt die Briefe der Marquise an Danceny, der sie veröffentlicht. Am Ende ist ihr Ruf ruiniert, ihr Kapital aufgebraucht, die Schauspielerin wird in der Oper ausgebuht. Das Prinzip alt-aristokratischer Selbstbeherrschung ist ebenso gescheitert wie seine Alternative, das System von checks and balances, in dem die Leidenschaften sich austarieren sollen. Dazu hat es auch gehört, sich keine Blößen zu geben, keine potentiellen Beweismittel – wie zum Beispiel kompromittierende Briefe – zu hinterlassen, die im Zweifel gegen ihre Schreiberin verwendet werden können. Wo Madame de Merteuil es doch tun musste – wie bei den Briefen an Valmont – glaubte sie sich sicher, weil sie andere Druckmittel zum Ausgleich hatte. Was in ihrem Kalkül allerdings fehlte, war die Möglichkeit des Todes, mit dem sich Valmont am Ende jedem Einfluss entzogen hat.
MARKUS REITZENSTEIN (Gießen)
Extreme Gefühle – Zur Subjektkonstitution der Gothic Novel
I Die Schauergeschichte und der Schauerroman, das ist inzwischen weitläufig erforscht und allgemein bekannt, waren im ausgehenden 18. und im frühen 19. Jahrhundert äußerst beliebte und populäre literarische Formen, und zwar zugleich im englischen wie auch im deutschen Sprachraum. In den letzten Jahren hat eine verstärkte Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft mit dieser Gattung stattgefunden: Wiederkehrende Motive, Handlungsstrukturen und Figurenkonstellationen sowie die gesellschaftliche Relevanz waren gleichermaßen Untersuchungsgegenstand. Recht wenig im Fokus der literatur-wissenschaftlichen Aufmerksamkeit stand bisher allerdings der emotionale Aspekt der Gattung. Dieser ist interessant in zweierlei Hinsicht: Erstens stellt sich schon beim Begriff „Schauerliteratur“ bzw. bei dem ähnliche Assoziationen weckenden Begriff „Gothic Novel“ die Frage, welche Emotionen an den Figuren gezeigt werden, und zweitens, mit welchen Mitteln beim Rezipienten die besagten Schauer oder das gothic feeling erzeugt werden. Die erste Frage scheint zunächst leicht zu beantworten: Natürlich geht es vor allem um die Angst, und die Handlung dreht sich um Figuren in Angst machenden Situationen. Dies mag auch die Antwort auf die zweite Frage scheinen: der Leser soll durch Rezeption dieser Szenen vom angstvollen Schauer überlaufen werden. Bei näherer Betrachtung verschiedener Werke sowie bei Lektüre der umfangreichen Sekundärliteratur wird allerdings schnell ersichtlich, dass Angst nicht gleich Angst ist. Die Frage nämlich, die sich unmittelbar an die beiden bereits gestellten anschließt, wäre die nach den jeweiligen angstbesetzten und als angstmachend gezeigten Themen, die in die Schauergeschichten aufgenommen und mehr oder weniger direkt in literarischer Bearbeitung dargestellt werden. Auf diesem Wege ließe sich erfahren, welche Ängste und angstbesetzten Themen im Zeitraum der Untersuchung kursierten, und welchen literarischen Ausdruck sie fanden. In einem zweiten Schritt nach der Untersuchung der in der Schauergeschichte dargestellten Emotionen wäre zu fragen, welche Emotionen der Rezipient potentiell durchleben kann und mit welchen Gefühlen er aus dem Rezeptionsprozess hervorgeht. Die gerade genannten Ideen sollen exemplarisch konkretisiert werden an E. T. A. Hoffmanns Schauergeschichte Der Magnetiseur von 1814. Wie der Titel bereits vermuten lässt, nimmt der sogenannte, auf die Lehre Friedrich Anton Mesmers zurückgehende animalische Magnetismus, der „im späten 18. und frühen 19. Jahr-
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hundert im Mittelpunkt einer lebhaften wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Diskussion stand“,1 eine zentrale Rolle darin ein. Als eine Art Geistund Körperheilung, die ein in der magnetischen Kunst bewanderter Arzt auf einen (neben anderen Spielarten) in somnambulen Zustand versetzten Patienten ausübte, gehört seine Entstehung und Verbreitung eigentlich ins ausgehende 18. Jahrhundert. Der animalische Magnetismus hatte aber, bedingt durch die Rezeption der Naturphilosophie Schellings und das Aufkommen der romantischen Mentalität, besonders im Preußen des frühen 19. Jahrhunderts Konjunktur. Im Jahr 1812 war dort eine Untersuchungskommission gegründet worden, die sich mit dem von Frankreich an den Bodensee übersiedelten Mesmer und seinen Theorien befasste.2 Hoffmann allerdings setzt den Magnetismus in seiner Erzählung Der Magnetiseur zu ganz eigenen Zwecken ein; die gezeigten Ängste, die sich darin am und um den Magnetismus manifestieren, haben eigentlich ein anderes Thema zum Gegenstand, wie im Folgenden deutlich werden wird. Es sollen im ersten Teil dieses Aufsatzes zunächst Handlung und Form von Hoffmanns Erzählung knapp dargestellt werden. Sodann wird eine Interpretation der Erzählung bzw. eine Untersuchung der dargestellten Emotionen vor dem Hintergrund der Emotionstheorie Martha Nussbaums versucht. Im zweiten Teil wird unter Verwendung des von Terry Heller entwickelten rezeptionsästhetischen Modells der Gothic Novel die potentielle Wirkung aufgezeigt werden, die Hoffmanns Erzählung in emotionaler Hinsicht auf den Rezipienten haben kann. Kurz gesagt, es soll hier in zweifacher Hinsicht um Emotionen gehen: einmal um die der Figuren, und einmal um die (möglichen) des Rezipienten. Hoffmanns etwa 50 Seiten umfassende Erzählung Der Magnetiseur besteht aus den fünf Kapiteln Träume sind Schäume, Mariens Brief an Adelgunde, Fragment von Albans Brief an Theobald, Das einsame Schloß, Aus Bickerts Tagebuch sowie einer sich anschließenden kryptischen Herausgeberfiktion, betitelt Billet des Herausgebers an den Justizrat Nikomedes. Das erste Kapitel, Träume sind Schäume, beginnt mit der Beschreibung einer Situation familiärer und häuslicher Idylle. Im Wohnraum eines alten Schlosses sitzt eine Adelsfamilie, bestehend aus dem gealterten Baron, seinem Sohn Ottmar, seiner Tochter Maria sowie dem fest in die Familie integrierten Hausfreund und Maler Franz Bickert, spätabends bei gemütlicher Unterhaltung zusammen, um sich die Zeit zu vertreiben. Man erzählt einander Geschichten, um den Abend auszufüllen. Der alte Baron erinnert sich aufgrund des aktuellen Datums – es ist der neunte September – an ein Jugenderlebnis aus seiner
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Siehe Kommentar zu Der Magnetiseur in: E. T. A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callots Manier. Text und Kommentar. Hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarb. v. Gerhard Allroggen u. Wulf Segebrecht. Frankfurt a.M. 2006, S. 726. Vgl. Martin Blankenburg: Der „thierische Magnetismus“ in Deutschland. Nachrichten aus dem Zwischenreich. In: Robert Darnton: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich. München, Wien 1983, S. 191–225, hier S. 208f.
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Zeit auf der Ritterakademie, in der ein dänischer Major, der Ausbilder des Barons, in einem Traum desselben als Magnetiseur auftritt. Daraufhin berichtet sein Sohn Ottmar, erklärter Anhänger des vom Baron als gefährlich eingestuften Magnetismus, ein Erlebnis seines Freundes Alban, eines Magnetiseurs. Dieser Alban habe vor Jahren die Verlobte seines Freundes Theobald, mit Namen Auguste, von der unerwünschten Liebe zu einem italienischen Offizier geheilt. Da nach dieser Erzählung der beisammensitzenden Adelsfamilie gruselt, soll nun Maria, die sechzehnjährige Tochter des Barons, einen Punsch bereiten, um eine behagliche Atmosphäre zu erzeugen und die Schauer zu vertreiben. Maria jedoch bricht auf halber Strecke ohnmächtig zusammen. An dieser Stelle tritt Ottmars Freund Alban, der Magnetiseur, auf den Plan, fühlt der Ohnmächtigen den Puls, verordnet Tropfen und verschwindet unmittelbar, wie er auftrat, durch eine Tür, die sich im Nachhinein als von innen verriegelt erweist. Die folgenden Kapitel zeigen Maria unter dem Einfluss des Magnetiseurs Alban und den anschließenden Verfall der Familie. Sowohl Maria als auch Alban und Bickert kommen in Form von Briefen und Tagebucheinträgen als intradiegetische Erzähler zu Wort, was hinsichtlich der Leserlenkung in dieser durch zahlreiche Rahmungen strukturierten Erzählung von entscheidender Bedeutung ist. Wie schon deutlich wurde, wird der Magnetismus in Hoffmanns Erzählung dargestellt als unmittelbar auf die Emotionen einwirkende Kraft, die den Magnetiseur dazu befähigt, seinen Patienten bzw. sein Opfer emotional zu kontrollieren – so, wie es im Traum des Barons der Fall ist: Es war, wie ich mich genau erinnere, in der Nacht vom achten auf den neunten September im Jahr 17 – als ich lebhaft, als geschähe es wirklich, träumte, der Major öffnete leise meine Türe, käme langsam an mein Bette geschritten und lege, mich mit seinen hohlen schwarzen Augen auf furchtbare Weise anstarrend, die rechte Hand auf meine Stirn über die Augen, und doch konnte ich ihn vor mir stehen sehn. – Ich ächzte vor Beklemmung und Entsetzen – da sprach er mit dumpfer Stimme: „Armes Menschenkind, erkenne deinen Meister und Herrn! – was krümmst und windest du dich in deiner Knechtschaft, die du vergebens abzuschütteln strebst? – Ich bin dein Gott, der dein Innerstes durchschaut, und alles was du darin jemals verborgen hast oder verbergen willst, liegt klar vor mir in besonderem Glanze erleuchtet. […] Plötzlich sah ich ein spitzes glühendes Instrument in seiner Hand, mit dem er in mein Gehirn fuhr. Über den fürchterlichen Schrei des Entsetzens, den ich ausstieß, erwachte ich in Angstschweiß gebadet – ich war der Ohnmacht nahe.“3
Diese Ausübung des Magnetismus als mystische Beeinflussung des Geistes taucht in der Rahmenhandlung nicht auf; das Eindringen des spitzen Instruments ins Gehirn des Barons auf intradiegetischer Ebene verbildlicht aber dessen Furcht vor psychisch-emotionaler Abhängigkeit vom charismatischen Ausbilder und die damit verbundene Homosexualitätsangst. Die Figuren in Hoffmanns Erzählung setzen also in den Geschichten, die sie sich erzählen, in einer Art Freudscher Verschie-
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E. T. A. Hoffmann: Der Magnetiseur. In: Fantasiestücke (wie Anm. 1), S. 178–225, hier S. 184.
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bung an die Stelle ihre Ängste vor emotionaler Manipulation, einer realen Gefahr, den Magnetismus. Zwar sind, wie das Beispiel des Barons zeigt, auch Männer von der Angst durch emotionale Manipulation betroffen, doch Ottmars Erzählung von Augustes „Heilung“ und Marias eigene Krankengeschichte, über die sie in ihrem Brief an Adelgunde berichtet, zeigen jeweils eine Frau als Opfer des charismatischen Magnetiseurs, der sich die Emotionen der Frauen zunutze zu machen weiß. Ottmars Erzählung über Augustes „Heilung“ ist faktisch die Erzählung einer emotionalen Manipulation durch einen Fremden und der wiederholten Beeinflussung durch Theobald, um die erste rückgängig zu machen. Auguste wird dabei gezeigt als hilfloses Opfer der Emotionen, die die magnetisch begabten Männer in ihr erzeugen bzw. als Opfer der eigenen Emotionen, die von den Männern kanalisiert und auf das jeweils gewünschte Ziel fixiert werden. Zuerst gelingt es einem italienischen Offizier sozusagen auf der Durchreise, ihre Liebesgefühle, die sich von Rechts wegen auf den Verlobten Theobald zu richten hätten, auf seine Person zu lenken, so dass sie von Sehnsüchten geplagt dahinsiecht; danach rücken Alban und Theobald den angerichteten Schaden wieder gerade, indem sie Auguste in ihren Träumen in ihre Kindheit zurückführen.4 Das Kindheitserlebnis, das sie unter Albans und Theobalds heimlichem Einfluss erneut durchleben muss, ist eines, in dem Liebe und Schmerz sich vermischen. Genauer gesagt erzeugt eine Demütigung, die der kindliche Theobald heldenmütig über sich ergehen lässt, um einem dritten eine väterliche Strafe zu ersparen, in der kindlichen Auguste eben erst jene Liebe, die zur späteren Verlobung der beiden führen wird: Augustens Schmerz war grenzenlos, alle ihre Heftigkeit, ihr gebieterisches Wesen war verschwunden, der sanfte Theobald war nun ihr Gebieter, dem sie sich willig schmiegte. […] Aber so wie das Mädchen jetzt mit ganzer Seele an ihm hing, so war es auch als habe das für sie erlittene Unrecht Theobalds Zuneigung zur glühendsten Liebe entzündet.5
Das vorangehende Zitat macht einmal mehr deutlich, wie in Hoffmanns Erzählung emotional aufgeladene Zweierbeziehungen, die vordergründig durch Liebe begründet scheinen, eigentlich Machtverhältnisse sind.6 Liebe wird gezeigt als Unterwerfung des einen unter den Einfluss des anderen, und der Magnetismus ist das Sinnbild für diese Liebe als Machtspiel. Nachdem Auguste die hier zitierte Kindheitssituation im magnetisch beeinflussten Schlaf neu durchlebt, richtet ihre Liebe sich wieder auf Theobald, als sei nichts geschehen:
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Vgl. ebd., S. 198. Ebd., S. 200. Vgl. Götz Müller: Modelle der Literarisierung des Mesmerismus. Mesmers Versuche, das Unbekannte zu erklären. In: Franz Anton Mesmer und der Mesmerismus. Wissenschaft, Scharlatanerie, Poesie. Hg. v. Gereon Wolters. Konstanz 1988, S. 71–86, hier S. 74.
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Bald nachher gestand sie ihm [Theobald, M.R.] unter vielen Tränen, wie sie sich gegen ihn vergangen; wie es einem Fremden auf eine seltsame Weise gelungen, sie von ihm abwendig zu machen, so daß sie, von einer fremden Gewalt befangen, ganz aus ihrem eigenen Wesen herausgetreten sei, aber Theobalds wohltätige Erscheinung in lebhaften Träumen habe die feindlichen Geister, die sie bestrickt, verjagt […].7
Auguste wird also via Emotionstherapie dazu gebracht, eine den sozialen Rahmen sprengende und daher unerwünschte Verliebtheit nach gelungener Heilung auf den Einfluss mysteriöser Mächte zurückzuführen, die auf ihre Gefühle eingewirkt haben, als müsse dies die einzig mögliche Erklärung dafür sein, dass eine junge Frau die Meinung über ihren Verlobten ändert und ihre Gefühle auf ein anderes Liebesobjekt richtet. Verantwortlich gemacht wird der magnetische Einfluss, der deswegen einerseits bedrohlich ist, andererseits aber gleichzeitig als Heilmittel herangezogen wird – man vertreibt sozusagen den Teufel mit dem Beelzebub, und jedes Mittel ist am Ende recht, um die sozial erwünschten Emotionen in Auguste zu reaktivieren bzw. in die erwünschte Richtung zu lenken. Ähnlich verhält es sich auf der extradiegetischen Ebene mit Maria, die als Spiegelfigur zu Auguste aus Ottmars Erzählung angelegt ist. Im ersten Kapitel wird Maria von den übrigen Familienmitgliedern auf typisch weibliche Funktionen reduziert; der Maler Franz Bickert macht wiederholt Bemerkungen über ihr äußeres Erscheinungsbild, und wenn die Schauergeschichten, die man sich am Abend erzählt, zu bedrohlich werden, ist es Marias Aufgabe, durch das Bereiten ihres „köstlichen Punsch“ wieder für Häuslichkeit, zwischenmenschliche Wärme und Behaglichkeit zu sorgen: [E]s ist eine recht unfreundliche Herbstnacht, wie wäre es, wenn wir noch ein Stündchen zusammenblieben, wenn wir Feuer in den Kamin legen ließen, und Maria uns nach ihrer Art einen köstlichen Punsch bereitete […].8 Als nun der feine flüchtige Duft des türkischen Tabacks durch den Saal zog und Maria auf den Zucker, den sie selbst in Stücke zerschlagen, den Zitronensaft in den silbernen Punschnapf tröpfelte, war es Allen, als ginge ihnen ein freundlicher heimatlicher Geist auf und das innere Wohlbehagen, das er erzeuge, müsse den Genuß des Augenblicks so anregen und beleben, daß alles Vorher und Nachher farblos und unbeachtet bliebe.9
In dieser Rollenzuweisung weiblicher Häuslichkeit, die von äußerlicher Schönheit und Versorgungstätigkeiten bestimmt ist, wird Maria sich allerdings selbst unheimlich wie ein Gespenst; die an sie herangetragenen Erwartungen lassen vor ihren Augen ein Bild ihrer selbst entstehen, das ihr Angst macht, weil sie spürt, dass es ihrer Person nicht gerecht wird: [K]aum habe ich die nächtlichen Fantasien und Erscheinungen überstanden, so findest du in mir selbst etwas geheimnisvolles, und wenn ich auch weder an den fürchterlichen Major noch
7 8 9
E. T. A. Hoffmann: Der Magnetiseur. In: Fantasiestücke (wie Anm. 1), S. 178–225, hier S. 201. Ebd., S. 191. Ebd., S. 192.
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sonst an einen Doppelgänger mehr denke, so laufe ich Gefahr, mir selbst gespenstisch zu werden, und vor meinem eigenen Bilde im Spiegel zu erschrecken.10
Maria erschrickt vor dem, was die übrigen, allesamt männlichen, Familienmitglieder in ihr sehen wollen und befürchtet so, ihr eigenes Spiegelbild nicht wiederzuerkennen und stattdessen einen Geist zu erblicken, der ihr fremd und unheimlich gegenübersteht. Dass diese Angst keineswegs unberechtigt ist, hat die Erzählung des Barons ihr gezeigt, und die sich daran anschließende Erzählung über Augustes magnetische Heilung bestätigt Marias Ängste schließlich so sehr, dass sie unmittelbar darauf einen Zusammenbruch erleidet. Sie identifiziert sich mit der schwachen und ausgelieferten Auguste, die sich nicht wehren kann gegen die emotionale Programmierung durch Alban und Theobald. Das zweite Kapitel, der Brief, den Maria an ihre Freundin Adelgunde schreibt, macht deutlich, wie berechtigt ihre Ängste sind. Hier steht sie bereits so sehr unter dem Einfluss Albans, dass sie alle ihre Vorbehalte gegen den Einfluss des Magnetismus aufgegeben hat und Alban als ihren Herrn und Meister anerkennt, während sie gleichzeitig glaubt, noch an der Liebe zu ihrem Verlobten Hypolit festhalten zu können und Albans Herrschaft über ihre Person sogar als Voraussetzung dafür begreift: Glaube mir, daß Hypolit nie inniger von mir geliebt wurde, ich nenne ihn oft im frommen Gebet um sein Heil. – Die heiligen Engel mögen ihn schirmen vor jedem feindlichen Streich, der ihm in wilder Feldschlacht droht. Aber, seitdem Alban mein Herr und Meister ist, dünkt es mir, nur durch Ihn könne ich meinen Hypolit stärker und inniger lieben […].11
Marias Hoffnung allerdings, in einer Art emotionaler Dreiecksbeziehung erst durch Albans Einfluss Hypolit lieben zu können, erweist sich als grausame Täuschung spätestens im darauffolgenden Kapitel, dem Fragment aus Albans Brief an Theobald, in dem der Rezipient Aufschluss über Albans wahre Intentionen erhält: Marie ganz in mein Selbst zu ziehen, ihre ganze Existenz, ihr Sein so in dem meinigen zu verweben, daß die Trennung davon sie vernichten muß, das war der Gedanke, der, mich hoch beseligend nur die Erfüllung dessen aussprach, was die Natur wollte.12
Alban strebt eine symbiotische emotionale Beziehung zu Maria an, die derart stark ist, dass Maria die geistige Trennung von ihm mit dem Leben bezahlen müsste.13 Hier wird der gewaltsame Aspekt der intradiegetischen Erzählung über Theobald und Auguste ins Extrem gesteigert: War die Erzählung von Auguste noch ansatzweise als Geschichte einer Heilung zu lesen, in der die soziale Ordnung durch die 10 11 12 13
Ebd. Ebd., S. 209. Ebd., S. 216. Zum Magnetismus als Mittel beglückender, aber auch bedrohlicher Entgrenzung vgl. Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart 1995, S. 196.
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Zurückgewinnung der Kontrolle über fehlgeleitete Emotionen wiederhergestellt wird, geschieht am Beispiel Marias das Gegenteil. Die emotionale Manipulation Marias zur symbiotischen Verschmelzung mit Alban leitet den Untergang der gesamten Familie ein. Hoffmanns Erzählung kann also gelesen werden als Geschichte über Emotionen, ihre Macht über das Individuum, ihre Wirkung auf soziale Strukturen und vor allem über die Manipulierbarkeit der Emotionen und die Gefahren der emotionalen Manipulation für die soziale Ordnung. Der Magnetismus ist, wie deutlich wurde, in diesem Zusammenhang eine Chiffre für emotionale Einflussnahme. Die Ängste der Figuren sind allesamt Ängste vor Fremdbestimmung, Identitätsverlust und Einflussnahme bzw. emotionaler Manipulation. Ein Aspekt von Hoffmanns Erzählung wurde in diesem Zusammenhang bisher allerdings noch nicht erwähnt. Wie bereits ausgeführt, treten innerhalb der Handlung fünf intradiegetische Erzähler auf: zunächst der Baron, der die Geschichte seiner magnetischen Beeinflussung durch den dänischen Major wiedergibt, dann Ottmar, der die Geschichte von Theobald und Auguste erzählt, gefolgt von Maria, deren Brief an Adelgunde in den Text montiert ist, alsdann gefolgt von Albans Brief an Theobald, und schließlich der Maler Franz Bickert, aus dessen Tagebuch der Leser einen Auszug präsentiert bekommt. Die vielen Rahmungen, die durch die fünf intradiegetischen Erzähler entstehen, scheinen zunächst mit den Emotionen, die in Hoffmanns Erzählung dargestellt werden, nichts zu tun zu haben. Ein interessanter Zusammenhang ergibt sich allerdings, wenn man Der Magnetiseur mit Martha Nussbaums Essay Narrative Emotions liest, in dem sie über die Bedingungen reflektiert, unter welchen menschliche Wesen sich Emotionen aneignen bzw. Emotionen „erlernen“: We learn emotions in the same way that we learn our beliefs – from our society. But emotions, unlike many of our beliefs, are not taught to us directly through propositional claims about the world, either abstract or concrete. They are taught, above all, through stories. Stories express their structure and teach us their dynamics. These stories are constructed by others and, then, taught and learned. But once internalized, they shape the way life feels and looks.14
Und an anderer Stelle: Indeed, it seems right to say […], not only that a certain sort of story shows or represents emotion but also that emotion itself is the acceptance of, the assent to live according to, a certain sort of story.15
Dies wirft ein neues Licht auf die formale Gestaltung von Hoffmanns Erzählung. Es wird deutlich, dass die vielen intradiegetischen Erzähler und ihre Geschichten 14
15
Martha Nussbaum: Narrative Emotions: Beckett’s Genealogy of Love. In: Dies.: Love’s Knowledge. Essays On Philosophy and Literature. New York, Oxford 1990, S. 286–313, hier S. 287. Ebd.
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eben doch in engem Zusammenhang stehen mit dem zentralen Thema der Kontrollierbarkeit bzw. Unkontrollierbarkeit von Emotionen. Hoffmanns Erzählung kann, auf der Folie von Nussbaums Theorie der Emotionen als Narrative, gelesen werden als Modellerzählung einer Emotionsgenese durch Geschichtenerzählen. Dies erklärt die Spiegelungen von extra- und intradiegetischer Ebene: was Maria aus der Geschichte Ottmars über die Liebe und die Liebesheilung Augustes erfährt, setzt sie sodann im eigenen Leben mit ihrem Verlobten Hypolit und dem Magnetiseur Alban um. Die „stories“, die sie von ihren Familienangehörigen über die Liebe erfährt, sind allesamt Erzählungen emotionaler Beeinflussung und Unterwerfung, und da sie Liebe ausschließlich als Geschichte von der Unterwerfung vermittelt bekommt, kann sie nicht anders, als dem anhand dieser Erzählungen erlernten Liebesmodell zu folgen, indem sie ihre eigene Geschichte magnetischer Beeinflussung und Gefühlskontrolle entwirft.
II Nimmt man mit Martha Nussbaum an, dass Emotionen narrativ erzeugt werden, wäre hinsichtlich Hoffmanns Erzählung also die Frage zu stellen, mit welcher emotionalen Verfassung der Rezipient aus der Lektüre hervorgeht. Diese Frage ist eigentlich nur über empirisches Nachforschen zu klären, und selbst dann entstünden vermutlich Probleme: Verschiedene Lesarten der Erzählung resultieren (wahrscheinlich) in verschiedenen emotionalen Verfassungen. Daher soll unter Bezug auf Terry Hellers rezeptionsästhetisches Modell der Schauergeschichte vor allem die Rolle des impliziten Lesers untersucht werden: es wird im Folgenden also darum gehen, welche Rolle dem impliziten Leser in Hoffmanns Erzählung zugewiesen wird und wie der reale Leser damit umgehen kann. Heller beschreibt in The Delights of Terror, neben weiteren Strukturmodellen der Schauergeschichte, die „terror fantasy“ als Modell, das durch seine formale Gestaltung dazu geeignet ist, den impliziten Leser zwischen zwei konkurrierenden Lesarten gefangen zu nehmen, die beide gleich plausibel sind.16 Der implizite Leser übernehme in der „terror fantasy“ die Rolle eines Detektivs, der die „Wahrheit“, die „richtige“ Lesart, herausfinden wolle. Die Struktur der Erzählung bedinge aber durch eingebaute Ambivalenzen absichtlich die Unmöglichkeit des Unterfangens. Dies bedeutet Heller zufolge, dass der reale Leser seine Rolle als impliziter Leser nach Beenden der Lektüre nicht ohne weiteres aufgeben, die Lektüre nicht abschließen kann, sondern in der Rolle des impliziten Lesers gefangen bleibt, weil die Erzählung keine befriedigende Auflösung anbietet und der reale Leser auch nach Beenden des Lektüreprozesses immer noch damit beschäftigt ist, wie ein 16
Vgl. Terry Heller: The Delights of Terror. An Aesthetics of the Tale of Terror. Chicago 1987, S. 177–186.
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Detektiv nach der richtigen Antwort zu suchen.17 Laut Heller ist bei einer solchen „terror fantasy“ jeder gelingende Versuch, die Ambivalenz aufzuheben, um den Preis einer falschen Lesart und das willentliche Ignorieren der Ambivalenz erzwungen. In diese Kategorie der ambivalenten „terror fantasy“, wie Heller sie beschreibt, scheint auch Der Magnetiseur zu gehören. Nicht nur sorgen die vielfältigen Rahmungen, Perspektivenwechsel und subjektiven Stimmen darin für maximale Unsicherheit in der Beurteilung der Ereignisse; vor allem auch ist es dem Rezipienten nicht möglich, zu entscheiden, ob der Baron tatsächlich von seinem dänischen Ausbilder magnetisch beeinflusst wurde bzw. ob der Baron am neunten September aufgrund des Datums und der Gespenstergeschichten halluziniert, oder ob er es tatsächlich mit dem Wiedergänger des Majors aus seiner Kindheit zu tun hat. Der Text macht es unmöglich zu entscheiden, ob die Mitglieder der Adelsfamilie nun Opfer einer schicksalhaften höheren Macht wurden, oder ob der Zufall im Spiel war. Ähnlich wie in Der Sandmann bleibt der implizite Leser, wie von Heller beschrieben, zwischen zwei alternativen Interpretationen gefangen, und so kann der reale Leser die Ausübung der Rolle, die der Text ihm in Form des impliziten Lesers zuweist, nicht abschließen. Anders gesagt und einfacher ausgedrückt: die Erzählung verfolgt ihn, den realen Leser; sie wird ihm unheimlich, lässt ihn nicht mehr los und „zwingt“ ihn sozusagen zur erneuten Lektüre, in der Hoffnung, die Lösung nun doch noch zu finden. Die Frage wäre nun, warum der reale Leser sich einer solcherart unheimlichen Geschichte überhaupt aussetzen sollte. Was das betrifft, macht Heller einen interessanten Vorschlag: Er behauptet, der Rezipient könne einen psychischen Lustgewinn erleben in jenem Moment, in dem er zu der Rolle, die der Text ihm in Form des impliziten Lesers zuweist, eine ästhetische Distanz einnimmt und diese Rolle als Teil des Kunstcharakters der „terror fantasy“ anerkennt. Der reale Leser muss sich laut Heller also vom Versuch, interpretatorische Eindeutigkeit dort zu schaffen, wo die Struktur der Erzählung keine Eindeutigkeit vorsieht, distanzieren und die Ambivalenz der Erzählung hinnehmen. In dieser Leistung sieht Heller die Chance des realen Lesers zur Anerkennung einer bestimmten anthropologischen Verfassung des menschlichen Geistes: Dieser sei nicht in der Lage, alle Zusammenhänge der menschlichen Existenz in voller Gänze zu überblicken und zu durchdringen – ebenso, wie es sich bei der Interpretation der „terror fantasy“ verhalte. Eben dies ist für Heller der Gewinn, der für den realen Leser aus der Lektüre hervorgehen kann: der reale Leser erhalte die Möglichkeit, die Tatsache der Endlichkeit jeglicher menschlicher Verstandes- und Vernunftbemühungen beispielhaft
17
Als Beispiel nennt Heller Henry James’ Novelle The Turn Of The Screw, nach deren Lektüre es dem Leser unmöglich sei, zu bestimmen, ob die Geister real oder Halluzinationen der Hauptfigur seien.
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vor Augen geführt zu bekommen – eine Einsicht, die für Heller ein Signal psychischer Reife ist. Das Modell der „terror fantasy“ verweist also laut Heller auf die möglichen Probleme einer sich absolut setzenden aufklärerischen Ratio. Es problematisiert formal die Fähigkeit und die Grenzen des menschlichen Verstandes bei der Interpretation und Entschlüsselung der uns umgebenden Welt und inszeniert somit ein Grundthema der Aufklärung bzw. der Aufklärungskritik.
III Wie vermutlich bereits deutlich wurde, bezieht der Titel dieses Aufsatzes – Extreme Gefühle – Zur Subjektkonstitution der Gothic Novel – sich auf zwei Phänomene zugleich. Einerseits geht es um die Subjektkonstitution der handelnden Figuren innerhalb der Narration. Hoffmann zeichnet in Der Magnetiseur das Bild eines seinen Emotionen als einer mystischen Macht ausgelieferten Menschen, der in ständiger Furcht vor emotionaler Beeinflussung lebt und schließlich dennoch unterliegt. Andererseits geht es um die Subjektkonstitution des Rezipienten, dessen emotionaler und psychischer Handlungsspielraum laut Heller im Prozess der Lektüre einer „terror fantasy“ modifiziert und erweitert werden kann, wie vorangehend ausgeführt wurde. Gerade diese mögliche Horizonterweiterung des realen Lesers und der potentielle Erkenntnisgewinn lassen hoffen, dass die implizite pessimistische Aussage von Hoffmanns Erzählung, die das Subjekt als ein seinen Emotionen hilflos ausgeliefertes kennzeichnet, am Ende falsifiziert werden kann. Insofern konterkariert die formale Gestaltung von Hoffmanns Erzählung die implizite Aussage des gezeigten Geschehens, denn der Leser, der die „terror fantasy“ nach Hellers Vorschlag erfolgreich bewältigt hat, kann sich in ästhetischer Distanz zurücklehnen und ist nicht länger in vergebliche und insofern frustrierende Lösungsversuche involviert.
II.3 What’s the story? Die narrative Basis der Erkennbarkeit von Emotionen
DANIEL M. GROSS (Irvine, California)
How Can the Theory of Cognitive and Emotional Extension Alter What We Find in 18th-Century Literature? When the „emotion and cognition“ problematic shapes our treatment of 18th-century literature and culture, what we notice will of course depend on the model of emotion and cognition we mobilize. Typically that model is drawn from the complementary work of Paul Ekman, Antonio Damasio and Joseph Ledoux1 because it provides scholars with a new materialist paradigm where the abstractions of literature can be grounded in the body. Briefly here’s how, in Scientific American, brain scientist Joseph LeDoux describes a fear response to danger in terms similar to Descartes’s in Les passions de l’âme:2 „As the hiker walks through the woods, he abruptly encounters a snake coiled up behind a log on the path.“ (Descartes’s hapless victim likewise encounters a strange and frightful animal.) Immediately, the visual stimulus is processed in the brain by the thalamus, which passes „crude, almost archetypal, information directly to the amygdala“ (while Descartes’s spirits reflected from the image form on the pineal gland). „This quick and dirty transmission allows the brain to start to respond to the possible danger signified by a thin, curved object, which could be a snake“ (whereas Descartes refers to the perceived object’s „close relationship with things that have been formerly hurtful to the body“). Meanwhile, the thalamus also sends visual information to the visual cortex, which „goes about the business of creating a detailed and accurate representation of the stimulus“ (just as Descartes’s „soul“ imposes a more thoughtful judgment between stimulus and response). The snake as an „emotionally competent object“ – to anticipate Damasio’s term – thus precipitates the cascade of events that become the emotion we call fear, registered bodily by way of behavioral, autonomic, and endocrine responses (while Descartes’s nerves dispose the legs for flight). So when scholars draw from this model certain features of the literary object appear salient while others recede. Most importantly for 18th-century specialists, this model suggests we investigate how a novel might serve as an emotionally 1
2
Basic works include Paul Ekman: Emotions Revealed: Recognizing Faces and Feelings to Improve Communication and Emotional Life. New York 2003; Antonio Damasio: The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness. New York 1999; Joseph LeDoux: The Emotional Brain. The Mysterious Underpinnings of Emotional Life. New York 1996. For a fuller discussion see Daniel M. Gross: The Secret History of Emotion. From Aristotle’s Rhetoric to Modern Brain Science. Chicago 2006. René Descartes: The Passions of the Soul. In: The Philosophical Works of Descartes. Trans. E. Haldane and G. R. T. Ross. Dover 1955. Scientific American material reprinted in LeDoux: The Emotional Brain (see note 1), p. 166.
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competent object where certain formal features elicit from the reader a sympathetic or antipathetic response divorced from immediate action. An early example of such criticism would be June Howard’s 1999 American Literary History article „What is Sentimentality?“ that mobilizes Ekman and Damasio in the effort to undermine debates about whether sentimentality is a good or bad thing. More important than this evaluation, argues Howard, is a transdisciplinary investigation of sentimentality that would better explain how reading sentimental fiction is a bodily act where the words that produce „pulse, beats and sobs […] radically contracts the distance between narrated events and the moment of their reading, as the feelings in the story are made tangibly present in the flesh of the reader.“3 Likewise in her influential book Shakespeare’s Brain: Reading with Cognitive Theory (2000), Mary Thomas Crane draws from Damasio to argue for a reading of literature that grounds the mind – including conscious and unconscious mental experiences of perception, thought, and language – in the brain and other bodily systems.4 Finally in Jane F. Thrailkill’s Affecting Fictions: Mind, Body, and Emotion in American Literary Realism (2007), Damasio is mobilized throughout and on the final page where the novel is described as an aesthetic technology of the human organism.5 „In the relatively recent field known as Cognitive Approaches to Literary Studies,“ summarizes Suzanne Keen in her study of empathy and the novel, „the work of LeDoux and Damasio has virtually canonical status“ insofar as matters of affect are generally considered to fall under the umbrella term „cognitive“.6 Among other things that means a cognitive approach to literary studies will gravitate toward certain sorts of drama and the novels of sentiment or realism because that’s where the reader’s response to social virtuality appears central (we should remember what literature falls out of the picture and why). In a 2007 review essay of The Literary Animal: Evolution and the Nature of Narrative,7 Steven Pinker explains how the literary paradigm would be fiction as a kind of „thought experiment, in which agents are allowed to play out plausible interactions in a more-or-less lawful virtual world“, while the reader enjoys vicarious experiences like exploring interesting territories, conquering enemies, hobnobbing with powerful people, and winning attractive mates.8 Pinker’s scheme:
3 4 5 6 7
8
June Howard: „What Is Sentimentality?“. In: American Literary History 11.1 (1999), pp. 63– 81; 64, quoting Karen Sanchez-Eppler. Mary Thomas Crane: Shakespeare’s Brain: Reading with Cognitive Theory. Princeton 2000, p. 4. Jane F. Thrailkill: Affecting Fictions: Mind, Body, and Emotion in American Literary Realism. Cambridge 2007, p. 250. Suzanne Keene: Empathy and the Novel. Oxford 2007, p. 213. Steven Pinker: „Toward a Conciliant Study of Literature“. In: Philosophy and Literature 31 (2007), 161–177; which is a review of Jonathan Gottschall and David Sloan Wilson (eds.): The Literary Animal. Evolution and the Nature of Narrative. Evanston 2005. Ibid., pp. 171f.
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why we tell stories
delight (by-product)
instruct (adaptation)
virtual reality (vicarious experience)
case-based reasoning about local sociocultural norms
simulated gossip
thought experiments about combinatorial game-theoretic interactions
Secondly such literary criticism will gravitate toward those qualities of mind located in the brain and other bodily systems, not in the social world. And that’s where the Damasio / Ledoux model obscures more than it reveals. A robust account of the social world is essential for our treatment of the emotion / cognition problematic in the 18th century or beyond, and therefore any account of the social world that begins with this model leads us astray. On this occasion I won’t rehearse my longer Secret History of Emotion critique that highlights the point at which interesting projects in cognitive science exceed appropriate boundaries thereby obscuring how, for instance, sympathy depends on the social construction of identity and difference. I instead want to foreground what is for our 18thcentury material a more appropriate „rhetorical-pragmatic“ model of cognition where the mind is extended in the brain-body-world nexus. W. Teed Rockwell’s 2005 MIT book Neither Brain nor Ghost: A Nondualist Alternative to the Mind-Brain Identity Theory offers a convenient critique of Cartesianism and its legacy in contemporary cognitive science at the same time that it promotes an alternative, but equally science friendly, model that emphasizes the brain-body-world nexus. Descartes’s mind-brain identity theory is at the root of key problems in cognitive science and beyond, argues Rockwell, and this problem includes the theory of emotion formulated in Descartes’s Principles of Philosophy: „the soul feels those things that affect the body […] only in so far as it is in the brain.“9 Rockwell’s alternative, situated where John Dewey’s and Martin Heidegger’s pragmatism meets the latest dynamical systems approach to cognitive science, models the mind „not merely as a network property of interacting cranial 9
Teed Rockwell: Neither Brain nor Ghost. A Nondualist Alternative to the Mind-Brain Identity Theory. Cambridge/Mass. 2005, p. xi.
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Daniel M. Gross
neurons, but rather as equally dependent on the interactions among a brain, a nervous system, a body, and the world“.10 No doubt for certain activities in neuroscience, concedes Rockwell, „drawing the border between the self and the world at the skull is an effective simplification“ whereas for other activities such as parasynaptic research „the skin is a more effective border“.11 But this border will shift again depending on the activity,12 continues Rockwell, and that’s when we should take notice as practitioners of a different sort. Drawing an objective example from Gilbert Ryle, Rockwell asks Why should we assume that all human behavior is caused by a machine that lives in our skulls? […] Most of what makes a clown’s clowning clever (and I would add amusing or scary depending on whom you ask) takes place in the circus ring, not in the clown’s brain.
Likewise from the subjective perspective we might take into account the exclusions that make certain kinds of data salient. As Rockwell describes it, subjects in perception science experiments do not experience discrete sense data; rather what they experience is „being involved in an experiment, which requires them to look at certain things and follow certain instructions, which they find to be either boring or interesting or important contribution to science“ and so on.13 Individualizing experience and tracing it to the brain is often inappropriate; our „common sense“ (or sensus communis in the language of Vico and Shaftesbury) consists not only of shared concepts, but also shared experience14 that would suggest, for instance, we use a knife and not a lawnmower when someone asks us to cut the cake (an example from John Searle).15 In turn we should note how in this laboratory example the culturally embedded, affective dispositions called „boredom“ and „interest“ shape the very experience of supposedly raw sense data.16
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Ibid., p. xii. Cf. Candace Pert: Molecules of Emotion. New York 1997. T. Rockwell: Neither Brain nor Ghost ( see note 9), p. 90. Ibid., p. 67. Ibid., p. 135. Ibid., p. 138. Similarly cognitive studies of literature that focus on emotion have something to offer reader response theory at the very least; for instance I would love to see a study that tracked variable fMRI imaging of the human brain as readers in a range of cultural and historical situations read Pilgrim’s Progress – a narrative once considered deeply affecting in some circles but now lodged securely at the very top of „most boring book ever“ lists. Which passages affect or disaffect whom? Reading how? Then we could return to the important questions of Why. In the academic best-seller Out of Our Heads: Why You Are Not Your Brain, and Other Lessons from the Biology of Consciousness (New York 2009) UC Berkeley philosopher Avla Noë offers compelling arguments against the assumption that PET and fMRI scans are straightforward traces of psychological or mental phenomena based on the impossibility of establishing a zero point for brain activity, feedback interference, and the three-step translation required for imaging (physical magnitude is correlated with blood flow, bloodflow is correlated with neural activity, neural activity is correlated with with mental activity), cf. pp. 21–24.
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Evoking what appears to be the Damasio / LeDoux model, Rockwell summarizes „We experience a world full of things that we care about,“ and those cares presuppose goals to strive for and unpleasantries to avoid;17 in the Damasio / LeDoux model the worldly unpleasantry might be a snake, and the general disposition of care would take the unpleasant, but adaptive, form of fear. Rockwell thereby renders his model compatible with Darwinian evolutionary theory at the same time that he warns: just because we might identify an evolutionary factor as a cause of some aspect of human behavior it does not follow that we have found the sole cause18 or the most explanatory. If someone storms out of a lecture, for instance, we would consider inadequate the explanation that, upon seeing and hearing the lecturer (i.e. the emotionally competent object), a signal came down from the subject’s brain which triggered the neurons in his or her legs for flight. Instead we would rightly expect an explanation that made reference to the occasion, the people involved, the beliefs at issue, and the emotions at play – in other words, we would want a rhetorical-pragmatic explanation that exceeds what can be explained by either a biological model or a philosophical model of emotional intentionality (imagine three very different explanations: one organized around the call of nature, the second around boredom, and the third around anger). It is this rhetorical-pragmatic model I would now like to take into the 18th century.19 Considering the book series in which this essay appears, it seems appropriate to start with born again testimonials „from the heart,“ as Johann Henrich Reitz described them in his Historie der Wiedergebohrnen which began publication around 1700 and reached over 10,000 copies by midcentury. These born-again testimonials are, moreover, a particularly suggestive starting point for historical inquiry into the emotion-cognition problematic because they help us define the literary object in terms of cultural studies, which is to say in this case sentimentality or fictionality is incidental, whereas narrative is essential. Reduced to its essence, the allegorical structure of salvation runs as follows: 1) göttliche Traurigkeit = godly sadness 2) Wiedergeburt = rebirth 3) Anfechtung = challenge, and finally 4) Zeichen = mani-
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T. Rockwell: Neither Brain nor Ghost ( see note 9), p. 87. Ibid., p. 147. Though distinct from extended-mind philosophers who typically cite artificial intelligence research, not linguistic research, practitioners of „cognitive rhetoric“ drawing on the work of George Lakoff and Mark Turner et al. have produced some interesting lexical analyses of literature, and a perspective in some ways sympathetic with mine insofar as it would endorse this passage from Mark Turner’s October 5, 2001 Chronicle of Higher Education article „Toward the Founding of Cognitive Social Science“: „What can be recruited to mental work depends on social and cultural location. Parts of the repertoire are common and can be assumed for any audience, while other parts are special to special communities or special situations. Consequently, it is a basic principle of rhetorical theory that what works in one situation may not work in another. One of Aristotle’s definitions of rhetoric is: ,the mental ability to see the available means of persuasion in any particular situation.‘“ The foundational book is Mark Turner: Reading Minds. A Study of English in the Age of Cognitive Science. Princeton 1991.
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festation of the new creature.20 In Volume 1 all thirty five anonymous testimonials translated from Vavasor Powell’s Spiritual Experiences, of Sundry Beleevers (1653) adhere to this basic structure, varying only in terms of content and degree of detail. Godly sadness is usually brought on by the death or injury of a loved one, or by sins of vanity (weltliche Eitelkeiten). In this first stage, „natural man“ simply does not understand the ways of the Holy Spirit21 (167) and he or she suffers as a result („H. W.“ speaks of the elender Stand meiner Natur).22 In the second phase, rebirth proper, God’s Word usually speaks through a child, or through conscience, or through the inspired sermon of a preacher (göttliche Einsprechung), and the soul, now reassured, is renewed (Erquickung). But all is not well, and the new creature is faced with continued tests and challenges. In one story a woman well on her way to salvation remains unharmed during an Anglican attack on Liverpool, while people around her are lynched and taken prisoner. This personal good grace seals her faith.23 Then finally, secure in faith, signs of the new creature become manifest: „I clearly find that my love for God is stronger that the love for other things,“ „I am now more willing to leave this world than ever before, and I am ready to die in my current form and condition,“ „I find that my emotions yearn to be exercised in the service of God,“ „My spirit is renewed when I cry over my weaknesses, or when I am in prayer, or in public or private spiritual exercises,“ „I observe in my soul a willing and obedient submissiveness to everything that I consider a Godly truth or the activity of the Holy Ghost“.24 Emotion and cognition, in other words, are deeply embedded in a rhetoricalpragmatic situation irreducible to biophysiology. The situation is pragmatic because it is defined by what matters, and rhetorical because it takes the form of living address. A literary artifact instantiates a rhetorical situation – say the experience of godly sadness – at the same time that it provides a sophisticated map for reading. No doubt we can treat the Historie der Wiedergebohrnen as an emotionally competent object where certain formal features elicit from the reader a sympathetic response, or alternatively we can diagnose the subject organically as a religious fanatic. But I would suggest as scholars of literature and culture we are especially responsible for the distinctive characteristics of the phenomenon at hand. Godly sadness in the 20
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Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen / Oder Exempel gottseliger / so bekandt = und benant = also unbekandt = und unbenanter Christen / Männlichen und Weiblichen Geschlechts / In Allerlei Ständen / Wie Dieselbe erst von Gott gezogen und bekehret / und nach vielein Kämpfen und Aengsten / durch Gottes Geist und Wort / zum Glauben und Ruh ihrer Gewissens gebracht seiend. Ins Hochteutsche übersetzt. Tübingen 1982. Relevant commentary may be found in Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977. Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen, p. 167 Ibid., pp. 16f. Ibid., p. 3. Ibid., pp. 15f.
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context of this history, for instance, can’t be the same thing as Paul Ekman’s sadness best exemplified by an experimental subject photographed after receiving the direction „show me what your face would look like if you learned your child had died“.25 We do see loss of a loved one figures in these histories of the born again, but so again are sins of vanity considered equally precipitous for the emotional condition at hand. How so? Rather than excluding anomalies while focusing on the universality of sadness, we should instead treat the phenomenon in its relevant complexity because, among other things, doing so allows us to distinguish amongst literary artifacts at the same time that it gives us unique access to the emotion-cognition problematic. Sadness according to Ekman has certain stories to tell about triggers and consequences, but those stories certainly aren’t the ones told by our born-again subject. Instead the subject of our example tells a story about how her experience is transformed in the order of sense perception: „I observe in my soul a willing submissiveness to everything I consider a Godly truth.“ Likewise her phenomenal world is transformed: „I clearly find that my love for God is stronger than the love for other things.“ And finally her socially embedded horizons of possibility are transformed: „I am now more willing to leave this world than ever before, and I am ready to die in my current form and condition.“26 As scholars of literature and culture we should be interested in how these related transformations take shape. We are not talking about strictly private experiences nor transformations available to the unrepentant who skip a step in the narrative, nor transformations available to the orthodox. In this case emotion and cognition depend upon a certain religious orientation amongst other things, and we should care about what those things are. New access to the literary object is thus a function of the larger rhetorical situation where more immediate forms of address – which in this case might include the born again narrative and the author’s introduction – make sense against the background of certain social and historical formations specially accessible to the scholar. Instead of highlighting continuities in cognitive theory that run from Descartes through Damasio, for instance, we can highlight contemporaneous anti-Cartesian medicine that situates the emotion-cognition problematic in a larger world. Taking cues from our born-again literature we should consider for instance Halle pietist and professor Georg Ernst Stahl who gave born-again Christianity its medicine and thereby developed a type of medical humanism avant la lettre. According to Stahl and his followers, a born-again narrative is no mere thought experiment imposed on top of an essentially stable nature; our physical existence orients a 25 26
P. Ekman: Emotions Revealed ( see note 1), p. 11. For a critique of face-perception or a science see A. Noë: Out of Our Heads, p. 112. In his Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (Halle 1744), Halle aesthetician Georg Friedrich Meier would note how the soul is transformed according to horizons of possibility: „Einmal, muß diese Vorstellung noch eine Zukünftige Veränderung der Seele zum Gegenstand haben, welche von ihr vorhergegangen wird“ (p. 22).
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divine world and therefore when the subject talks about changes in perception, emotion, and basic disposition, we must take those changes seriously. Human nature is originally fallen, after all, so second nature including human institutions and habits of the soul is an imperative domain for medicine. Of course that means keen interest in psychosomatics as we now call it, including a typical 1707 dissertation De imperio phantasiae in sensus written under the direction of Stahl student and Greifswald rector Eberhardt Barnstorff, which describes the case of a preacher who stuttered only in public and therefore had to be treated with a kind of social psychology.27 „Die Seele baut sich den Körper“ summarizes Stahl in his treatise on the passionate soul’s corporeal effects.28 But following Rockwell we should refrain from collapsing this soul into the mind which we then identify with the brain, leaving us to consider only how the brain influences the body (also an interesting topic). Just like Rockwell’s cognition, Stahl’s passionate soul is irreducibly part of the world. First this means medical diagnostics is obligated to a phenomenology that can recognize the difference between the apparently universal fear response to thunder, a gambler’s habitual affection for cards, and a range of emotional situations that can veer towards the pathological. When it comes to anger, for instance, Stahl provides a brief case history of a man whose speech impediment was cured by expressing his feelings to a significant other.29 In this case a sufficient explanation must go beyond the emotional brain because the cure is tied to a concrete social situation: simply put we need to know about the encounter and the relationship before we can understand the cure. Thus in his treatise on the passionate soul and in his monumental Theoria medica vera (1707) Stahl devotes a good deal of attention to the emotional world. He explains how to exploit emotional „opportunities“ therapeutically and endorses Christian Thomasius’s project30 to build the emotional institutions of a regenerate human nature: for instance love of others, not money.31 Against the background of Augustine’s and Aristotle’s rhetorical theory of emotion,32 love’s institution actually becomes a cornerstone of Halle literature at 27 28 29 30 31
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Eberhard Barnstorff, Siegmund August Pfeiffer: Disquisitio inauguralis medica, de imperio phantasiae in sensus. Greifswald 1707. Georg Ernst Stahl: Über den mannigfaltigen Einfluß von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper. Leipzig 1961, p. 37. Ibid., p. 31. Georg Ernst Stahl: Theoria medica vera. Halle 1707, p. 36 The most important secondary literature on this material includes Johanna Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 13); Carsten Zelle: „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 19). Werner Schneider’s Naturrecht und Liebesethik: Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius (Hildesheim 1971) does an excellent job situating
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the turn of the century, especially in the practical philosophy of Thomasius, who helped found the university in 1694 before he became professor of law, and in 1710 rector. For instance we might consider the continuities between the Ausübung der Sittenlehre where Thomasius develops a theory of love as voluntary obedience, and his 1705 Kurzer Entwurf der politischen Klugheit where a theory of affect takes shape in the sphere of household economics, of all things. Or we might invoke Stahl’s pietist collaborator August Hermann Francke, for whom institutions of household, school, religion, and public affairs must all mobilize love appropriately.33 Moreover for Francke we should note, this emotional world is by no means encountered by some independent thinking machine or brain in a vat. Rechte Liebe of the schoolmaster, for instance, focuses attention in the classroom,34 and in the protocol for his famous orphanage, Francke insists that the appropriate mood for religious reflection emerges only from a world where material practices allow: eating properly, sleeping properly, and so on.35 Returning to Heidegger for the sake of our larger methodological inquiry we might observe that only when Francke’s „cultura animi oder gemüths Pflege“ shape the living world beyond logos, can the proper ontological orientation, or Christliche Klugheit emerge.36 Likewise we can return to our own theorists of the extended mind for a framework that helps us read 18th-century literature. „In building our physical and social worlds“, writes one of our most influential extended mind theorists Andy Clark, „we build (or rather, we massively reconfigure) our minds and our capacities of thought and reason“,37 and in his groundbreaking 1997 book Being There: Putting
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Thomasius’s doctrine of affects in a context that includes centrally Augustine’s love theology and Aristotle’s Rhetoric (p. 188). Particularly noteworthy in the context is father Jakob Thomasius’s Erotemata rhetorica (1670). August Hermann Francke: August Hermann Francke. Pädagogische Schriften. Paderborn 1964, pp. 19, 36, 58, 61. In Der Große Aufsatz (1704), Francke outlines the fallen state of humankind in politics, household, and school (p. 70), insisting that the state apparatus itself must be rebuilt by bureaucrats correctly trained and reborn (p. 78). According to Francke, Halle University provides a starting place for this integration because all faculties are integrated with theology (p. 122). A note to the 1962 Akademie edition I’ve cited names Francke’s most outstanding colleagues including Christian Thomasius on the faculty of law, Friedrich Hoffmann and Georg Ernst Stahl on the medical faculty, and Franz Buddeus on the faculty of philosophy. August Hermann Francke: Der grosse Aufsatz; Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts. Mit einer quellenkundlichen Einführung. Berlin 1962. Much has been written about the relationship between Halle Pietism and the Prussian state under Frederick III including Richard L. Gawthrop: Pietism and the Making of Eighteenth-Century Prussia. Cambridge 1993; Klaus Deppermann: Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Frietrich III. Göttingen 1961; Mary Fulbrook: Piety and Politics. Religion and the Rise of Absolutism in England, Württemberg, and Prussia. Cambridge 1983. Francke: Der Große Aufsatz (see note 33), p. 58. Ibid., p. 172. August Hermann Francke: Werke in Auswahl. Berlin 1969, pp. 125, 147. Andy Clark: Supersizing the Mind. Embodiment, Action, and Cognitive Extension. Oxford 2008, p. xxviii.
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Brain, Body, and World Together Again Clark anticipates the recent turn toward behavioral economics when he explains how our collective successes (and sometimes our collective failures) „may often be best understood by seeing the individual as choosing his or her responses only within the often powerful constraints imposed by the broader social and institutional context of action“.38 Moreover, although Clark doesn’t follow this path, his model implicates literature in interesting ways. So for example when Clark admits he has only scratched the surface of a „large and difficult project,“ namely to understand the way our brains both structure and inhabit a world populated by cultures, countries, languages, organizations, institutions, political parties, e-mail networks, and all the vast paraphernalia of external structures and scaffoldings which guide and inform our daily actions,39
he misses the opportunity to explore in detail how literature does precisely this work insofar as it variously characterizes the brain-body-world nexus.40 In fact literature can map out the variable phenomenology of this brain-body-world nexus better than any other human artifact. What do EM theorists have to say about emotion per se? In his forward to Clark’s Supersizing the Mind: Embodiment, Action, and Cognitive Extension, David Chalmers suggests we might also research extended desires, extended reasoning, extended perception, extended imagination, and „extended emotions.“ „One might have something akin to an extended mood, if not an extended emotion, when one’s environment is always nudging one toward happiness or sadness“ offers Chalmers by way of example (p. xiv), and certain EM theorists such as Alva Noë have begun to work in this direction. „In the Beginning Was the Situation“ offers Noë in a section heading, not some kind of computing machine that builds up internal pictures of the scene, makes plans, and executes them,41 and our „situations“ are profoundly characterized by emotions. If for instance a psychologist is trying to understand why an infant will become distressed when his or her mother becomes still or impassive, that psychologist would go astray in positing the infant as a separate individual observing the mother; instead we should consider the mother „literally one of the structures constituting a child’s psychological landscape“: the baby’s relation to the other unfolds in „an emotional setting“.42 But for 38 39 40
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Andy Clark: Being There: Putting Brain, Body, and World Together Again. Cambridge/Mass. 1997, p. 186. Ibid., p. 191. When describing language as a human artifact and not just a symbol system manipulated by individuals to communicate and express their ideas, Clark does make useful reference to poetry and expository writing: „In constructing a poem, we do not simply use words to express thoughts. Rather, it is often the properties of the words (their structure and cadence) that determine the thoughts that the poem comes to express“ (p. 208). Likewise Elizabethan and Jacobean theatrical practice provides Clark with an illustration of the cognitive potency of a well tailored environment (p. 63). Noë: Out of Our Heads (wie Anm. 16), p. 101 Ibid., p. 31
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all this interest in emotional and cognitive „settings“ and „situations“, EM theorists have done little to explore this worldly side of the equation. In contrast Geisteswissenschaftler have always, and in this regard our 18th-century subjects prove particularly astute. A few more examples. Not surprisingly in the absolutist Prussian state institutions of ambition, or Ehrgeiz, require careful management. Inspired most immediately by Thomasius (Introductio ad philosophiam aulicam 1688 translated into German 1710),43 the 1719 ceremonial science of Johann Christian Lunig explains how emotions are tied to institutional history beginning with man’s fall from grace: If humankind had remained in a state of innocence, no outer customs or ceremonies would have been necessary. But after – after the tragic fall of humankind – unfortunately so! Infected with the damaging poison of a corrupt atmosphere, gross inequalities emerged among them. Those who mastered unbridled ambition increasingly distinguished themselves above others insofar as they could realize their will and impose their order through all sorts of threats and demonstrations of their untamed anger. But an ambitious man always has more in his head, and so for the vainly ambitious this wasn’t enough. It wasn’t enough that their orders were respected merely through their fulfillment; those who were subjected had to exhibit their obedience and reverence through all sorts of outer signs. And so it seems likely arose the origin and true source of so-called ceremonies.44
In other words, for Lunig the basic emotions or haupt-Affekten – including ambition, vanity, rage, resentment, respect, and reverence – orient the „head“ concretely, and thus emotions are „cognitive“ as we would now put it. But these emotions are precisely not natural qualities of the brain or body; instead they are human institutions of inequality following the fall from grace, and they are managed by a tragic discipline. Thus rhetorical pragmatics extend into a broader 18th-century Anglo-European culture because, among other things, institutions of the psyche offer new horizons for political order. In his Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times An43 44
Elger Blühm, Jörn Garber u. Klaus Garber: Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Amsterdam 1982, p. 334. „Wenn das menschliche Geschlecht im Stande der Unschuld geblieben wäre, so hätte man keiner äußerlichen Gebräuche und Ceremonien vonnöthen gehabt. Nachdem aber, nach dem bejammernswürdigen Fall der menschen, Leider! Alle Menchen mit dem schädlichen Gifft der verderbten Lüfte inficiret worden, so ist auch selbst unter ihnen eine große Ungleichheit dadurch entstanden; indem sich diejenigen, welche der unbandige Ehrgeiz übermeistert, nach und nach aus dem Stande der Gleichheit über andre erhoben, auch selbige, durch allerhand Bedrohungen und gegebene Exempel ihres ungezähmten Zorns, zu Vollbringung ihres Willens und ertheilter Befehle genöthiget. Doch wie ein Ehrgeiziger Mensch immer das plus ultra im Kopffe hat, also war es auch denen von eitler ambition getriebenen Leuten nicht genug. Daß Ihre Befehle durch eine behende Vollziehung respectiret wurden, sondern sie waren sodann vornehmlich darauff bedacht, daß diejenige, die sie ihrer Bothmäßigkeit unterworffen, ihren gehörsam und Ehrfurcht auch durch allerhand äusserliche Zeichen gegen sie an den Tag legen musten. Und hieraus erhellet der rechte Ursprung und die wahren Quellen des so genannten Ceremoniels gar wahrscheinlich.“ Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum. Leipzig 1719. Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin 1728, p. 1.
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thony Ashley Cooper, third Earl of Shaftesbury, directly criticizes a Cartesian approach that would „discover only what affects each passion wrought upon the body,“45 while neglecting the relationship between passion and publicity. Passions – for instance the popular fury called panic, or sympathy – are „social and communicative“46 which means that their content will be a function of their social form. „There is no real love of virtue without the knowledge of public good“, Shaftesbury explains by way of example. And where absolute power is, there is no public.47 Then emerging out of the Scottish tradition we might think of Adam Ferguson’s Institutes of Moral Philosophy (1769) translated into German by Christian Garve, who shows with a series of examples how greed, ambition, and vanity are social products that can be treated institutionally.48 Or toward the end of the century we might consider Alexander Crichton’s influential treatise An Inquiry into the Nature and Origin of Mental Derangement (1796) which draws directly from Stahl and Karl Philipp Moritz’s Magazin zur Erfahrungsseelenkunde to diagnose a social sickness like pride: It is impossible to enumerate all the different kinds of pride or vanity, which give rise to insanity. In every society, however, in which riches and family honor are considered as circumstances that raise a man above the level of his fellow creatures, insanity must frequently occur; and hence the reason why we oftener find this disease arising among men who have become rich, and in titled families, especially new ones, particularly where a judicious education has not been instituted, than among any other description of men.49
Here the Damasio / Ledoux model of emotion and cognition can’t help us because pride depends upon the social order. In my work on the politics of pride in David Hume and David Simple (a Sarah Fielding novel), I’ve tried to show what a prideful character sees and hears, what he experiences in the world; his objective opportunities and impediments are colored in this 18th-century context by an emotion unevenly distributed across class and gender. Rhetorical pragmatics does better than Damasio / Ledoux in the case of pride and other worldly emotions because it orients around the distinguishing characteristics of the phenomenon, and thus it must draw its explanatory apparatus not from some remote theory that focuses on biophysiology, but rather from the proximate world of the text.
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Anthony Ashley Cooper Shaftesbury: Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury. Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Cambridge 1999, p. 130. Ibid., p. 10. Ibid., p. 50. Kenneth Dewhurst, Nigel Reeves: Friedrich Schiller. Medicine, Psychology and Literature. Berkeley 1978, 126. Alexander Crichton: An Inquiry into the Nature and Origin of Mental Derangement: Comprehending a Concise System of the Physiology and Pathology of the Human Mind, and a History of the Passions and Effects. New York 1976, vol. 2, p. 167.
PETER GOLDIE (Manchester)
Narratives Denken, Emotion und Planen
Die Rolle, die Erzählungen in unserem Leben spielen, wirft viele grundsätzliche und schwierige Fragen auf. Verschiedene Versuche, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, haben zu einer recht starken Polarisierung der Standpunkte geführt. An einem Ende des Spektrums findet sich die Ansicht, unser Leben sei, in gewissem Sinne, eine gelebte Erzählung, deren Autor wir sind; das Leben selbst habe eine notwendig narrative Struktur und große Ähnlichkeit mit literarischen Erzählungen. Das andere Extrem repräsentieren die Skeptiker mit dem Standpunkt, dass Narrativität weder in unserem Lebensverständnis noch für das Führen eines Lebens selbst eine Rolle spiele oder spielen sollte.1 Zwischen diesen zwei Extremen gibt es jedoch viele Möglichkeiten, und in diesem Aufsatz möchte ich versuchen, eine realistische Rolle für die Narrativität zu skizzieren, und zwar in Hinblick darauf, wie wir über vergangene und zukünftige Episoden unseres Lebens nachdenken bzw. was diese in uns auslösen. Ich werde dabei nicht behaupten, dies sei die einzige Art und Weise, wie man über Vergangenheit und Zukunft nachdenken könne, noch dass dies die einzige Art sei, auf die wir darüber nachdenken sollten. Trotz dieser vermeintlichen Bescheidenheit des Ziels wird sich die Bedeutung der Narrativität jedoch als recht wesentlich herausstellen. Es ist so etwas wie ein Gemeinplatz, dass wir einen großen Teil unseres Lebens damit verbringen, entweder über die Vergangenheit nachzusinnen, etwa darüber, wie unser Leben anders hätte verlaufen können, oder über unsere Zukunftspläne, also darüber, wie die Dinge sich noch entwickeln könnten. Meines Erachtens ist solches Denken genau das, was ich hier als ,narratives Denken‘ bezeichnen möchte. Ich nenne diese vergangenen und zukünftigen Ereignisse ,nicht-aktuelle Episoden‘, und mein bescheidener, inhaltlich jedoch substantieller Plan besteht darin, die Rolle des narrativen Denkens für unseren Zugriff auf solche Episoden zu klären. Zunächst möchte ich deutlich machen, was ich mit diesen zwei Termini meine, also den ,nicht-aktuellen‘ Episoden und ,narrativem Denken‘.2 Danach möchte ich 1
2
Alasdair MacIntyre vertritt die erste Position, ebenso Daniel Dennett. Galen Strawson vertritt die zweite, und auch Andere, z.B. Peter Lamarque, haben bezüglich der Rolle der Narrativität in unserem Leben Zweifel geäußert. Vgl. Alasdair MacIntyre: After Virtue: A Study in Moral Theory. London 1981; ebenso Daniel Dennett: Consciousness Explained. Cambridge/Mass. 1991; anders Galen Strawson: Against Narrativity. In: Ratio 17 (2004), S. 428–454; siehe auch Peter Lamarque: On Not Expecting Too Much from Narrative. In: Mind and Language 19 (2004), S. 393–408. Vieles was ich hier über Narrativität und narratives Denken sage, findet sich andernorts in größerer Ausführlichkeit, vgl. Peter Goldie: One’s Remembered Past: Narrative Thinking,
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Peter Goldie
diskutieren, wie Emotionen, echte und imaginierte, im narrativen Denken zum Tragen kommen; die Ergebnisse möchte ich ausweiten zu einer Untersuchung der Rolle narrativen Denkens beim Planen, einschließlich des kontrafaktischen Denkens und des Nachdenkens über hypothetische Imperative. Schließlich möchte ich kurz darauf eingehen, wie die Beschäftigung mit literarischen Erzählungen uns dabei helfen kann, unser narratives Denken bezüglich unseres eigenen Lebens zu entwickeln und zu verfeinern.
I Nicht aktuelle Episoden und narratives Denken Menschen sind in der Lage, über Nicht-Aktuelles nachzudenken – Ereignisse in der Vergangenheit und Zukunft, imaginäre und fiktive Ereignisse, Dinge, die sich hätten ereignen können, und Dinge, die sich an einem Ort ereignen, an dem wir nicht anwesend sind. Ich kann nachdenken über die Ereignisse, die zum Zweiten Weltkrieg führten, die Ereignisse, die geplant sind, um meinen baldigen Geburtstag zu feiern, die Ereignisse, die in Jane Austens Sense and Sensibility beschrieben werden, oder auch darüber, wie der Zweite Weltkrieg anders hätte ausgehen können, oder über die Unruhen, die derzeit in Pakistan stattfinden. Mein Interesse in diesem Vortrag gilt jedoch nur solchen Ereignissen, die die jeweilige Person direkt betreffen, als Akteur(in) oder auf andere unmittelbare Art, und dies wird hier die begrenzte Bedeutung des Terminus ,nicht-aktuelle Episode‘ sein. Die Unterscheidung zwischen dem Aktuellen und dem Nicht-Aktuellen ist keine präzise, denn das Aktuelle und Nicht-Aktuelle können auf interessante Arten miteinander verflochten sein, wie sich noch zeigen wird. Ein weiterer Grund, warum diese Unterscheidung nicht präzise sein kann, ist, dass auch die Unterscheidung zwischen Ereignissen, die den Akteur direkt betreffen, und solchen, die es nicht tun, nicht präzise ist. Es könnte z.B. unklar sein, ob die Unruhen in Pakistan mich direkt betreffen oder nicht, wenn ich gerade plane, nächste Woche nach Pakistan zu fliegen. Man könnte einwenden, dass ich schon durch den Gebrauch des Ausdrucks ,Episode‘ die Narrativität in gewisser Weise durch das Hintertürchen eingeschmuggelt habe. Das mag richtig sein, aber lassen Sie sie mich nun durch den Haupteingang hineinführen. Eine Erzählung ist eine Art Repräsentation einer Abfolge von Ereignissen. Sie ist jedoch mehr als eine bloße Ansammlung; sie zeigt das, was geschieht, als einen Zusammenhang und baut kausale und andere Verbindungen zwischen Ereignissen zu einer oder mehreren erzählbaren Episoden zu-
Emotion, and the External Perspective. In: Philosophical Papers 32 (2003), S. 301–319, sowie Peter Goldie: Dramatic Irony and the External Perspective. In: Narrative and Understanding Persons. Hg. v. Daniel Hutto. Cambridge 2007 (Royal Institute of Philosophy Supplements Series), S. 69–84.
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sammen. Episoden können von längerer oder kürzerer Dauer sein, und eine Erzählung kann mehr oder weniger kohärent sein, je nachdem, wie sehr ihre einzelnen Episoden zusammenhängen. Für meine Zwecke ist die interessanteste Art der Erzählung die, die Menschen betrifft – ich nenne das people-narrative. Solche Erzählungen können, wenn sie gelungen sind, nicht nur Kohärenz, sondern auch Sinn und emotionale Bedeutung entfalten – sowohl für Personen, die durch die Erzählung betroffen sind, als auch für Personen, die sich damit beschäftigen.3 Diese Eigenschaften eines peoplenarrative – Kohärenz, Sinn, emotionale Bedeutung – entstehen durch den Prozess, den Paul Ricoeur passend als Handlungsmodellierung bezeichnet hat – ein psychologischer Prozess, der mehr oder weniger erfolgreich sein kann.4 Bei einem narrativen Denken, das sich auf Personen bezieht, ist die Repräsentation der Ereignisabfolge, also die Episode, eine mentale Repräsentation – eine Gedankenabfolge, die Kohärenz, Sinn und emotionale Bedeutung aufweisen kann. Wenn man Repräsentation so versteht, wird sofort klar, dass eine Erzählung nicht tatsächlich erzählt, also aufgeschrieben, mündlich geäußert oder auf andere Art in einem öffentlich zugänglichen Medium dargestellt werden muss. Sie kann auch einfach durch eine einzelne Person gedacht werden. Eine so durchdachte Erzählung ist also öffentlich erzählbar, muss jedoch nicht tatsächlich öffentlich erzählt werden.5 Ich kann Erzählungen nicht-aktueller Episoden auf verschiedene Weise denken: indem ich mich episodisch an das erinnere, was mir tatsächlich zugestoßen ist, oder Vermutungen darüber anstelle, was mir hätte zustoßen können, oder was mir in Zukunft noch zustoßen könnte; indem ich propositional denke; indem ich meine Vorstellungskraft gebrauche; indem ich gelassen nachdenke, ohne mich emotional
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Nicht alle Erzählungen leisten das, auch nicht alle, die sich mit Menschen befassen. Auch eine menschenbezogene Erzählung kann vollkommen banal und langweilig ausfallen. Noël Carroll kritisiert David Vellemans Vorstellung, dass Erzählen notwendig einen emotionalen Rhythmus vorgebe – Velleman bezeichnet dies als „emotional cadence.“ Carroll behauptet, „man könne eine affektlose Geschichte erzählen“, ich würde hinzufügen, dass man sich eine affektlose Erzählung auch nur vorstellen kann. Vgl. Noël Carroll: Narrative Closure. In: Philosophical Studies 135 (2007), S. 1–15, hier S. 14; David Velleman: Narrative Explanation. In: The Philosophical Review 112 (2003), S. 1–25. Vgl. Paul Ricoeur: Time and Narrative. Bd.1. Übers. v. Katherine McLaughlin u. David Pellauer. Chicago 1984. Da ich mich auf people-narratives und die Idee einer (mehr oder weniger) erfolgreichen Erzählung konzentriere, bleibe ich neutral in der Frage, ob es Erzählungen geben kann, die bestimmte ,formale Minimalbedingungen‘ erfüllen, indem sie zwei oder mehr Ereignisse zeitlich ordnen, ohne dass Personen dabei sind. Eine Diskussion dieses Aspekts ist zu finden bei Bernard Williams: Truth and Truthfulness: An Essay in Genealogy. Princeton 2002; Lamarque. On Not Expecting (wie Anm.1); Noël Carroll: On the Narrative Connection. In: Ders.: Beyond Aesthetics. Cambridge 2001; Ders.: Narrative Closure; und Susan Feagin: On Noël Carroll on Narrative Closure. In: Philosophical Studies 135 (2007), S.17–25. Offensichtlich bezieht sich eine Großteil der neuesten (und weniger neuen) Diskussion von Narrativität auf die öffentlich zugängliche Narration, aber meines Erachtens ist diese im Grunde nur der Schatten des narrativen Denkens, nicht umgekehrt.
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zu engagieren; indem ich lebhaft und in starken Bildern denke; und auf viele andere Arten, die sich zum Teil auch ähneln oder überschneiden. Ich werde hier zwei gleichbedeutende Begriffe gebrauchen, die alle Arten narrativen Denkens abdecken sollen, insofern es dazu führt, dass eine nicht-aktuelle Episode in narrativer Form mental repräsentiert wird; ,denken‘ und ,imaginieren‘, wobei ich letzteren Begriff eher weit fassen möchte, also etwa im Sinne von ,mental aufnehmen‘ oder ,im Geiste entstehen lassen‘, insofern das, was entsteht, eine Erzählung ist.6 ,Imaginieren‘ in diesem Sinne bietet Neutralität in der Frage, wie sich dies zu anderen Möglichkeiten der Repräsentation nicht-aktueller Episoden verhält. Es soll auch nichts darüber aussagen, ob das Denken als bewusster Prozess stattfindet; theoretisch kann die gedachte Narration mehr oder weniger „auf einmal“, in einem einzigen Moment des Denkens, aufgenommen, gedacht oder imaginiert werden.7 Begriffe wie ,sich vorstellen‘ oder ,sich erinnern‘ mögen selbstverständlicher sein als ,denken‘ oder ,imaginieren‘, aber was ich hier brauche, sind Begriffe, die in zweierlei Hinsicht so neutral wie möglich sind: sowohl im Bezug auf den Inhalt der gedachten Narration als auch in Bezug auf die Art, wie die Narration gedacht wird. Daher die eher technischen Ausdrücke an dieser Stelle.
II Emotionale Bedeutung Wenn eine Erzählung die emotionale Bedeutung des Erzählten zum Vorschein bringt, zeigt, bestimmt oder enthüllt sie, dass eine bestimmte Art der Erwiderung erwartet oder für angemessen gehalten wird. Beispielsweise wird mein Bericht darüber, wie ich eines Abends auf dem Heimweg angegriffen und ausgeraubt wurde, zeigen, dass ich Entsetzen oder Empörung als Reaktion erwarte. Diese emotionale Bedeutung der durchdachten Erzählung könnte eventuell bei mir eine emotionale Reaktion hervorrufen, ob diese nun imaginiert ist oder nicht. Die emotionale Bedeutung einer Erzählung ist daher zu unterscheiden von einer Emotion, die tatsächlich als Reaktion empfunden wird: was passiert ist, war schrecklich, und ich als „externer Erzähler“ könnte mit Schrecken auf meine schreckliche Erzählung der Ereignisse reagieren, oder auch nicht.8 6
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Vgl. hierzu Conceivability and Possibility. Hg. v. Tamar Szabo Gendler u. John Hawthorne. Oxford 2003. Für jene, die der Meinung sind, dass nicht-konzeptuelle Inhalte möglich sind, wäre diese Art von Vorstellung eine nicht-konzeptuelle. Narratives Denken kann sowohl als Prozess verstanden werden – als Emplotment-Vorgang – als auch als Produkt – als der repräsentierte Inhalt dessen, was im Prozess des narrativen Denkens durchdacht wird. (Vgl. Lamarque. On Not Expecting [wie Anm.1] zu dieser Unterscheidung). Im Folgenden wird die gewählten Bedeutung in der Regel aus dem Kontext klar werden, wo nicht, werde ich präzisieren. Der Ausdruck ,externer Erzähler‘ steht hier in Anführungszeichen, weil Erzählungen, die nur durchdacht wurden, zwar erzählbar sind, jedoch noch nicht öffentlich erzählt wurden. Der Ausruck ,externer Handlungsmodellierer‘ wäre wohl korrekter, ist jedoch zu manieriert.
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Emotionale Bedeutung und emotionale Reaktionen in narrativem Denken können grundsätzlich in zwei Gruppen fallen. Sie können entweder als integraler Bestandteil der Erzählung selbst entstehen, dieser also immanent sein; oder sie können als Reaktion auf das Erzählte entstehen, in diesem Sinne also „außerhalb“ der Erzählung angesiedelt sein. Diese zwei Arten von Reaktionen können aber auch zugleich entstehen. Einige Beispiele werden diese Unterscheidung verdeutlichen, die nicht einfach zu beschreiben ist, besonders in Fällen, wo die Person, die narrativ denkt, also der „externe Erzähler“, mir der Person, die in der Erzählung vorkommt, identisch ist. (Allerdings sollte man trotz dieser Erklärungsprobleme nicht vergessen, dass narratives Denken nicht aktueller Episoden eine gängige, alltägliche Erfahrung ist, die uns keinerlei Schwierigkeit bereitet.) Ich werde drei Beispiele betrachten, und zwar in einer Reihenfolge ansteigender Komplexität. Angenommen, ich überlege mir eine Erzählung darüber, wie ich sehr schnell auf einer nassen Autobahn fahre, wie ein Lastwagen direkt vor mir plötzlich eine Spur nach links wechselt und wie ich anschließend ins Rutschen komme und schließlich auf die Leitplanke pralle. Indem ich diese Erzählung durchdenke und im Geiste bilde, denke ich möglicherweise an mich selbst, wie ich zur Zeit des Aufpralls Angst empfinde. Diese emotionale Reaktion ist der Erzählung insofern immanent, als dass es mein Ich in der Erzählung ist, das Angst empfindet – ich als erzählungsinterne Figur also – und in der Erzählung reagiere ich so, weil das Ereignis meinem Ich in der Erzählung Angst macht bzw. weil es für mich dort diese spezielle immanente emotionale Bedeutung hat.9 Als „externer Erzähler“ könnte ich auch, als Ergebnis meiner mentalen Beschäftigung mit diesem erschreckenden Ereignis, tatsächlich Angst empfinden. Diese Reaktion ist außerhalb der Erzählung angesiedelt, da ich selbst, also die Person, die erzählt, diese Reaktion an den Tag lege, weil ich, der „externe Erzähler“, das was passiert ist, ebenfalls erschreckend finde. Man könnte es so formulieren: Die Art und Weise, auf die ich die emotionale Bedeutung des Ereignisses wahrnehme, drückt sich in meinem narrativen Denken aus. Wenn ich das, was geschehen ist, nicht mehr erschreckend fände, würde ich mir eine andere Erzählung der Episode überlegen, die eine andere externe emotionale Bedeutung ausdrücken würde. In diesem letzten Beispiel sind die emotionale Bedeutung und die emotionale Reaktion extern wie intern gleicher Art – der Eigenschaft, erschreckend zu sein, entspricht die Angst. Aber betrachten wir ein zweites Beispiel wo sie sich unterscheiden. Nehmen wir an, ich stelle mir vor (indem ich es als Episode erinnere oder mir vorstelle, wie es ein könnte), ich sei in einer Sitzung an meinem Arbeits9
Eine Version diese Art von Überlegung wäre das zentrale Imaginieren; eine Diskussion darüber findet sich bei Richard Wollheim: The Thread of Life. Harvard 1984, sowie Peter Goldie: The Emotions: A Philosophical Exploration. Oxford 2000. Man muss eine Emotion jedoch nicht zentral imaginieren, damit sie sie zu einer internen Emotion der Erzählung wird; man könnte einfach „die Tatsache, das X Angst hat“ durchdenken, wobei man selbst X sein könnte oder auch nicht.
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platz und werde von der wichtigsten Person dort vor allen gedemütigt. Von einem Standpunkt innerhalb der Erzählung gesehen, könnte ich mir vorstellen, dass ich zu diesem Zeitpunkt Verlegenheit und Scham empfunden habe – das war mein damaliges Gefühl, da mir die Situation peinlich war. Von einem Standpunkt außerhalb der Erzählung könnte ich aber denken, dass die Situation eher Zorn und Ärger über das gänzlich unfaire und unangemessene Verhalten meines Chefs hervorrufen sollte. Diese Gefühle empfand ich nicht zu jenem Zeitpunkt (obwohl ich sie hätte empfinden können), und daher sind sie kein interner Bestandteil der Erzählung; die Art und Weise jedoch, in der ich die Erzählung durchdenke, macht diese Gefühle zu einer angemessenen Reaktion auf die Erzählung. In solchen Bespielen kommt häufig dramatische Ironie zum Tragen, insbesondere wenn die Emotion innerhalb der Erzählung von anderer Art ist als die externe, weil der Erzähler bestimmte entscheidende Fakten bezüglich des Geschehens erst später in Erfahrung bringt; beispielsweise wird der Übergang von hybris zu nemesis in der Erinnerung oft von Reue und Bescheidenheit begleitet – Gefühlen, die zum Zeitpunkt des Ereignisses nicht empfunden wurden. Das dritte Bespiel soll zeigen, wie Emotionen, die Teil des narrativen Denkens über eine nicht-aktuelle Episode sind, sich verändern können, wenn zwei andere Faktoren sich ändern: erstens der Inhalt der durchdachten Erzählung und zweitens die Art und Weise, wie unser narratives Denken über nicht-Aktuelles beeinflusst wird durch unser Begreifen dessen, was in der realen Welt geschieht. Vielleicht warten Sie auf jemanden an einem zuvor vereinbarten Ort, zur vereinbarten Zeit – zum Beispiel um zwölf Uhr mittags an der Bahnhofsuhr; sie beide müssen einen Zug um 12:30 Uhr bekommen, und es ist sehr wichtig, dass Sie gemeinsam reisen – vielleicht ist es eine romantische Gelegenheit, z.B. ein erstes gemeinsames Wochenende. Es wird 12:10 Uhr und sie beginnen, nervös zu werden. Während die Minuten verrinnen, fangen Sie an, sich Geschichten darüber auszudenken, was ihr passiert sein könnte. Vielleicht stellen Sie sich lebhaft vor, wie sie im Bus feststeckt, oder in einen Unfall verwickelt wird, oder sich verlaufen hat, oder schwer krank geworden ist und nicht aufstehen kann. Sie empfinden dann die jeweils angemessene (im oben beschriebenen Sinn externe) Emotion, passend zur durchdachten Erzählung – Frustration, Mitgefühl etc. Dann, während weitere Minuten verrinnen, versuchen Sie sich aufzuheitern mit dem Gedanken, dass sie kommen wird, und wie angenehm ihre gemeinsame Reise sein wird, und Sie entwickeln die für diese Erzählung angemessenen Gefühle: freudige Erwartung, leicht eingefärbt durch die Nervosität ob ihrer tatsächlichen Abwesenheit. Dann, als der Zug schon abfahren soll, trifft sie endlich ein, aufgelöst aber mit einem Grinsen im Gesicht, und sagt: „Komm schnell. Ich erzähl’ dir, was passiert ist, wenn wir im Zug sind.“ Sie empfinden jetzt Erleichterung – Erleichterung, sie zu sehen, und Erleichterung darüber, dass Ihr sorgenvolles Grübeln letztlich grundlos gewesen ist. In seinem äußerst suggestiven Aufsatz über Kant, Hume und die Rolle der Wahrnehmung in der Imagination sagte Peter Strawson:
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Es scheint […] nicht übertrieben, zu behaupten, dass unsere aktuell einsetzende Wahrnehmung eines dauerhaften Objekts als eines Objekts eines bestimmten Typs, oder als eines bestimmtem Objekts dieses Typs, den Gedanken an andere, vergangene oder potentielle Wahrnehmungen desselben Objekts in sich hat, ja davon belebt wird und gewissermaßen damit vollgesogen ist. Nicht aktuelle Wahrnehmungen sind in einem gewissen Sinne in der aktuellen Wahrnehmung repräsentiert und kommen darin zum Leben.10
Strawson dachte an dauerhafte Objekte wie Tische, Stühle und Regenschirme. Ich würde jedoch vorschlagen – und es ist wirklich nur ein Vorschlag – diese Idee auf die Art und Weise auszudehnen, wie wir bestimmte Personen, unter dem Einfluss unseres narrativen Denkens über sie, über eine Zeit hinweg wahrnehmen. Wenn Sie sie endlich kommen sehen, ist Ihre Wahrnehmung durchdrungen von der Erleichterung, die Sie fühlen – in der Kenntnis, dass Ihre Sorgen grundlos sind, und in der Kenntnis der vergangenen, erzählten Möglichkeiten, etwa dass sie es nicht rechtzeitig schaffen würde, und schließlich in dem Bewusstsein der erzählten Möglichkeiten eines zukünftigen Glückszustandes.11 Wie es sich hiermit auch verhalten mag, so haben wir es hier doch mit einem grundlegenden Gedanken hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Aktuellen und dem Nicht-Aktuellen zu tun, ob nun in Form eines vergangenen Ereignisses oder einer zukünftigen Möglichkeit; diesen Gedanken möchte ich unter den Begriff der sich verzweigenden Möglichkeiten bringen.12 Das Bild ist das eines Baumstammes mit Ästen, wo der „Zeitfluss“ nach oben ausgerichtet ist und jeder Knoten eine Stelle darstellt, an der die Möglichkeiten auseinanderdriften. Während Sie also auf sie warten, wird ihr Kommen oder Nicht-Kommen durch einen Knotenpunkt dargestellt, und die Verzweigung, die ihr Nicht-Kommen darstellt, wird sich sogleich in diverse weitere Möglichkeiten aufteilen – die verschiedenen möglichen Erklärungen, warum sie nicht gekommen ist.
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Peter F. Strawson: Imagination and Perception. In: Ders. (Hg.): Freedom and Resentment and Other Essays. London 1970, S. 53. Edmund Husserl erörtert, wie Vergangenheit und Zukunft mit unserer Erfahrung der Gegenwart zusammenhängen. Vgl. Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Hg. v. Martin Heidegger. Halle 1928. Das Folgende betrifft, wie ich hoffe, nicht die Metaphysik möglicher Welten. Allerdings scheint diese Idee mit dem Aspekt sich verzweigender Narrationen im Bereich der künstlichen Intelligenz und der virtuellen Realität zusammenzuhängen; vgl. beispielsweise Rob Miller und Murray Shanahan: Narratives in the Situation Calculus. In: Journal of Logic and Computation 4 (1994), S. 513–530, sowie Javier Pinto: Occurrences and Narratives as Constraints in the Branching Structure of the Situation Calculus. In: Journal of Logic and Computation 8 (1998), S. 778–808.
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III Narratives Denken und Planen Erst jetzt kann ich endlich die Rolle des narrativen Denkens beim Planen erörtern, sowie die Tatsache, dass wir uns auf kontrafaktische Ereignisse einlassen, und die Art, wie diese in unser Planen einfließen. Ich beginne jedoch weder mit dem Planen noch mit dem Kontrafaktischen, sondern mit hypothetischen Imperativen. Ein hypothetischer Imperativ ist ein Imperativ, der einem sagt, was man tun soll, um ein bestimmtes festgelegtes Ziel zu erreichen; um mit Kant zu sprechen: „Jene stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel, zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen, vor.“13 Stellen wir uns beispielsweise folgenden hypothetischen Imperativ vor: „Wenn du den Zug um 16:00 Uhr erwischen willst, musst du spätestens um 11:00 Uhr das Haus verlassen.“ Dies ist irrelevant für Sie, wenn Sie diesen Zug gar nicht nehmen wollen, wenn aber doch, so ist das Mittel (nämlich jetzt aufzubrechen) praktisch notwendig, „um zu dem, was man will, zu gelangen“ (also für den Zweck bzw. das Ziel, diesen Zug zu erreichen). Versuchen wir nun, dieselbe Geschichte im Kontext des kontrafaktischen Denkens zu betrachten. Sie wollen den Zug um 16 Uhr erwischen, es ist jetzt kurz vor 11 Uhr, und spontan beschließen Sie, noch zu duschen; aus diesem Grund verlassen Sie das Haus deutlich nach 11 Uhr. Als Sie zum Bahnhof kommen, ist der Zug weg, obwohl Sie sich unterwegs sehr beeilt haben. Das Ergebnis ist, dass Sie einigen sehr unangenehmen Gefühlen ausgesetzt sind: dem Panikgefühl, das durch die große Eile entstanden ist, und dem Gefühl der Frustration, als Sie erfahren, dass der Zug abgefahren ist. Aber bei diesen negativen Emotionen ist noch keine Reue dabei. Um Reue zu empfinden, müssen Sie kontrafaktisch denken; Sie müssen sich an den entscheidenden Moment erinnern, als Sie beschlossen, doch noch zu duschen, und Ihre Reue ist die externe emotionale Reaktion auf das Geschehene – nämlich auf diese Entscheidung, die Sie jetzt als bedauerlich einschätzen.14 Wichtig ist hier, dass es die negativen Emotionen sind, die das kontrafaktische narrative Denken erzeugen, also das Zurückkehren zu dem entscheidenden Moment und die
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Der Verfasser zitiert aus der engl. Übersetzung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Vgl. Immanuel Kant: Groundwork of the Metaphysics of Morals. Übers. v. H. J. Paton. New York 1964, S. 39. Geduscht und damit die Verspätung verursacht zu haben, ist eine inus-Bedingung für das Verpassen des Zuges: Es war ein nicht ausreichender (insufficient) aber nicht redundanter (nonredundant) Teil einer nicht notwendigen (unnecessary) aber ausreichenden (sufficient) Bedingung für das Verpassen des Zuges; er ist nicht redundant, weil, wenn Sie nicht geduscht hätten, die restlichen Bedingungen für das Verpassen des Zuges nicht ausreichend gewesen wären. Vgl. Mackies Einführung des Begriffs der inus-Bedingung in J. L. Mackie: The Cement of the Universe. Oxford 1980. Carroll (wie oben zitiert) erörtert diesen Begriff im Zusammenhang mit Narrativen und mit dem, was er die narrative connection nennt.
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Reue in Form des Gedankens „Hätte ich doch nur nicht […]“; es ist nicht die Reue selbst, die das kontrafaktische narrative Denken erzeugt.15 Beim narrativen Denken über ein kontrafaktisches Ereignis liegt der natürliche Schwerpunkt der Reue auf jenem Moment, in dem Sie entschieden haben, zu duschen, obwohl es fast Zeit war, aufzubrechen. Sie denken dann zurück an das, was geschehen ist, und betrachten die Episode im Kontext sich verzweigender Möglichkeiten, wo jener Moment, wie sich herausstellt, tatsächlich entscheidend war. Und im Rückblick werden Sie Ihre Reue eventuell in Form einer Selbstkritik ausdrücken: „Wie dumm von mir, so etwas zu beschließen!“16 Dies ergibt eine Art dramatische Ironie: Sie wissen jetzt, was Sie damals nicht wussten, nämlich dass das Duschen dazu führen würde, dass Sie den Zug verpassen, was Sie später bereuen würden. Deswegen ist es bei der Reue so natürlich, sich selbst beim narrativen Denken aus der Perspektive des „externen Erzählers“ zu sehen, und die Reue und den Ärger über die eigene Dummheit zu empfinden, die man vorher nicht empfand. Sie sehen sich selbst als einen Anderen, und Sie haben Emotionen, die nicht Teil des Inhalts der Erzählung sind, und die auf Sie selbst und ihre Handlungen innerhalb der Erzählung gerichtet sind. (Sie könnten sich auch „von innen“ daran erinnern, wie Sie leichthin entschieden, dass Sie genug Zeit hätten, noch zu duschen, bevor sie zum Zug aufbrächen, aber es ist schwierig, dies zu tun, denn es setzt voraus, dass sie beim Erinnern das ignorieren, was Sie jetzt wissen, damals aber nicht wussten.)17 Negative Emotionen, kontrafaktisches narratives Denken und Reue können rückblickend in unseren Begriff der entsprechenden hypothetischen Imperative einfließen und uns helfen, aus Fehlern zu lernen. Zur Erklärung ist es notwendig, hier einen kurzen Überblick über den Begriff narrativer Zeit zu geben, wie ich ihn hier benutzen will. Narrative Zeit (die unterschieden werden muss von subjektiver Zeit, oder Zeit als Phänomen, oder dem, was oft als Zeitbewusstsein bezeichnet wird) ist die Zeit innerhalb der Erzählung. Zusätzlich zur narrativen Zeit innerhalb der Erzählung gibt es aber auch unsere Beschäftigung mit der Erzählung, die eben-
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Es gibt Indizien dafür, dass das meiste kontrafaktische Denken – ungefähr 90 Prozent – spontan durch negative Emotionen erzeugt wird, die selbst durch die von Neal Roese so benannten „negative outcomes“ verursacht werden; vgl. N. Roese: Counterfactual Thinking. In: Psychological Bulletin 121 (1991), S. 133–148. Narratives Denken in der Erinnerung kann in Kombination mit anderen Arten der Erinnerung auftreten, insbesondere den so genannten Blitzlichterinnerungen; vgl. R. Brown, J. Kulik: Flashbulb Memories. In: Cognition 5 (1977), S. 73–99. Sie könnten auch eine Blitzlichterinnerung an diesen Moment haben – davon, wie Sie dort in der Diele stehen, mit dem Schlüssel schon in der Hand. Aber auch eine solche Blitzlichterinnerung kann vergangene und zukünftige Möglichkeiten in sich tragen, ähnlich wie in meiner Erörterung zur Imagination bei Peter Strawson. Vgl. Peter Goldie: Dramatic Irony and the External Perspective. In: Royal Institute of Philosophy Supplement 60 (2007), S. 69–84.
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falls in einer Zeit stattfindet.18 Eine Erzählung über ein Ereignis C, das in der Erzählung vor einem Ereignis E stattfindet, kann als also als Erzählung eines vergangenen oder eines zukünftigen Ereignisses gefasst werden.19 Nehmen wir an, C ist das Fallen einiger Felsen, und E ist die Sperrung der Straße; dann wird in der Erzählung C vor E kommen, aber die narrative Zeit verhält sich neutral zu der Frage, ob die erzählte Episode in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt. Eventuell planen Sie, über einen Bergpass zu fahren und machen sich sorgen, dass ein Fels die Straße versperren könnte bevor Sie dort eintreffen – oder, anders, dass dieser Felsen schon gefallen sein könnte. Während Sie die Episode erzählerisch erfassen, denken Sie sie als vergangen oder zukünftig, aber in jedem Falle wird die Erzählung selbst, ebenso wie die narrative Zeit, dieselbe sein. Um also zu unserem Beispiel zurückzukehren: Sie können sich eine Erzählung über sich selbst überlegen, in der Sie einen Zug um 16 Uhr nehmen wollen, vorhaben, das Haus rechtzeitig um 11 Uhr zu verlassen, sich dann aber entscheiden, eine Dusche zu nehmen, und daraufhin erst nach 16 Uhr am Bahnhof eintreffen, nur um festzustellen, dass der Zug schon weg ist, woraufhin Sie negative Emotionen empfinden. Diese Erzählung kann in der Vergangenheit oder Zukunft erzählt sein; in beiden Fällen wird die interne Zeit dieselbe sein, aber die externe Perspektive darauf wird sich ändern. Wenn wir dies bedenken, können wir sehen, wie kontrafaktisches narratives Denken das narrative Denken über hypothetische Imperative und – wie ich sogleich erörtern werde – auch ganz allgemein das Planen bereichern kann. Wenn Sie die Episode als eine vergangene sehen, wie schon beschrieben, dann werden Sie auf das Geschehene und auf den entscheidenden Moment des Entschlusses, noch zu duschen, mit Reue zurückblicken. Aber nehmen Sie einmal an, es ergibt sich eine spätere Gelegenheit, bei der Sie einen Zug vom selben Bahnhof nehmen wollen. Sie könnten die Erzählung über den verpassten Zug durchdenken, aber nicht als etwas, was vergangen und zu bereuen ist, sondern als zukünftige Möglichkeit; das wäre, grob gesprochen, hypothetisch. Diese hypothetische Erzählung kann Ihnen zeigen, was Sie nicht tun sollten, da es etwas zu bereuen gäbe, wenn Sie es täten. Im Ergebnis könnten Sie im Geiste eine Erzählung formulieren, in der Sie rechtzeitig aufbrechen, wie Sie sollten, und tatsächlich den Zug erreichen; und dieses narrative Denken könnte zu einem Plan werden, eben dieses zu tun, mit 18
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Shaun Gallagher und Dan Zahavi bemerken, dass man narrative Zeit mit McTaggarts B-Serie vergleichen könnte, während unsere externe Beschäftigung mit der narrativen Zeit mit der ASerie verglichen werden könnte. Vgl. Shaun Gallagher, Dan Zahavi: The Phenomenological Mind: An Introduction to Philosophy of Mind and Cognitive Science. London 2008; sowie John McTaggart: The Unreality of Time. In: Mind 17 (1908), S. 457–474. Ich muss mich hier kurz fassen; ich werde in späteren Arbeiten versuchen, mehr über narrative Zeit zu sagen, sowie über deren Bezüge zur narrativen Selbstwahrnehmung. Es könnte auch als fiktional gedacht werden, oder als etwas, was in der trügerischen Gegenwart stattfindet, aber ich werde diese Möglichkeiten hier nicht in Betracht ziehen, da sie für meinen Hauptgedanken nicht relevant sind.
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einem hypothetischen Imperativ im Hintergrund, der durch in der Vergangenheit gemachte Erfahrungen geformt wurde und Ihnen daher umso lebendiger vor Augen stünde. Auf der Grundlage dieses hypothetischen Imperativs könnten Sie sogar beginnen, nach einer Art Maxime oder allgemeinem Grundsatz zu handeln: „Ich werde rechtzeitig zu Verabredungen und Treffen aufbrechen, sonst verspäte ich mich, was ärgerlich wäre und was ich bereuen würde.“ Diese Maxime gewönne an Lebendigkeit durch die von Ihnen erdachten Erzählungen, in denen Sie das tun, was Sie nicht tun sollten – und aufgrund dessen Probleme bekommen. So lernen Sie nicht bloß von Ihren Fehlern; Sie lernen durch das Durchdenken der Fehler, die Sie machen könnten.20 Natürlich gibt es andere Wege, zu planen, sich Handlungsgrundsätze anzueignen oder von Fehlern zu lernen. Ich möchte im Folgenden jedoch behaupten, dass es einen wichtigen Grund dafür gibt, dass wir diese Dinge natürlicherweise mittels des narrativen Denkens tun.
IV Narratives Denken, Planen und Handlungsträgerschaft Wenn wir Pläne schmieden, Grundsätze aufstellen und Absichten entwickeln, werden wir durch eine Reihe von kontingenten Faktoren eingeschränkt, die uns selbst bereffen, zum Beispiel unsere Charakterzüge, Persönlichkeit, emotionale Veranlagung und Fähigkeiten. Selbstverständlich sind wir auch durch äußere Umstände eingeschränkt („Ereignisse“, wie Politiker zu sagen pflegen, sind die eine Sache, die man nicht planen kann), sowie durch andere Personen und deren Pläne, Grundsätze und Absichten. Ebenso sind wir eingeschränkt durch unsere eigenen in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen und das, was wir aus ihnen gelernt haben, und teilweise war das das Thema meiner Ausführungen zu der Frage, wie kontrafaktisches Denken und Reue (echte und mögliche) in hypothetische Imperative, Pläne und Grundsätze für die Zukunft einfließen können. Wenn eine Person über eine Zeit hinweg ihren Charakter, ihre Persönlichkeit und ihre weiteren Einstellungen entwickelt, werden bestimmte Pläne und Grundsätze, die zu einer Zeit als realistisch und bedenkenswert eingeschätzt worden sein mögen, so sehr aus der Überlegung ausgeschlossen, dass sie im Denken dieser Person gar nicht mehr als echte Optionen vorkommen. Letztlich kann diese Art des „automatischen“ Ausschließens bestimmter möglicher Handlungsweisen Teil eines 20
Vgl. Michael Bratman: Toxin,Temptation, and the Stability of Intention. In: Ders.: Faces of Intention: Selected Essays on Intention and Agency. Cambridge 1999; dieser Aufsatz wurde erstmalig publiziert in: Rational Commitment and Social Justice: Essays for Gregory S. Kavka. Hg. von J. L. Coleman und C. W. Morris. Cambridge 1998. Bratman, der hier Versuchung und Reue erörtert, macht eine ähnliche Beobachtung: „Die Voraussicht zukünftiger Reue oder fehlender Reue kann für die Stabilität einer vorhergehenden Absicht eines planenden Akteurs relevant sein.“ (Ebd., S. 86).
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Einstellungsmusters werden, das einen eingebetteten Charakterzug oder eine persönliche Eigenschaft ausmacht: Die rücksichtsvolle Person würde nie jemanden im Stich lassen, bloß weil sich eine bessere Gelegenheit ergibt; der ehrlichen Person würde es einfach nicht einfallen, ein Bestechungsgeld anzunehmen. Die pünktliche Person würde nicht einmal daran denken, so zu trödeln, dass sie sich zu ihrem Rendezvous verspätet.21 In seinem sehr gut durchdachten Aufsatz Reflection, Planning, and Temporally Extended Agency identifiziert Michael Bratman drei „Kerneigenschaften“ menschlicher Handlungsträgerschaft: „unsere Reflexivität, unsere Fähigkeit, zu planen, und unsere Vorstellung von unserer Handlungsträgerschaft als einer zeitlich ausgedehnten.“22 Bratman unterscheidet zwischen einer so genannten schwachen Reflexivität, also der Fähigkeit, gegenüber unseren erstrangigen Begierden übergeordnete Einstellungen zu besitzen, und einer starken Reflexivität, also der Fähigkeit, „als Handelnder einen Standpunkt einzunehmen und festzulegen, wo ich im Verhältnis zu einem gegebenen erstrangigen Bedürfnis stehe“.23 Um diese Kerneigenschaft unserer Handlungsträgerschaft zu erklären, zieht Bratman die zwei anderen heran: unsere Fähigkeit, Pläne zu schmieden, die, wie er sagt, im Gegensatz zu gewöhnlichen Begierden „ausgeprägten rationalen Normen wie Beständigkeit, Kohärenz und Stabilität unterworfen ist“, sowie unsere Fähigkeit „meine Handlung zugleich als die Handlung jenes selben Akteurs zu sehen, der in der Vergangenheit handelte und (hoffentlich) in Zukunft handeln wird“.24 Unsere Pläne und Grundsätze, so Bratman, „haben die Funktion, die zeitlich ausgedehnte Organisation und Koordination unseres Handelns zu unterstützen“.25 Übergeordnete Grundsätze, die auf unsere Pläne und (erstrangige) Grundsätze gerichtet sind, bezeichnet Bratman als selbst-verwaltende Grundsätze; dies seien „Einstellungen, deren Rolle in angemessener Weise mit der zeitlich ausgedehnten Struktur unseres Handeln zusammenhängt“.26 Angemessenheit ist hier Voraussetzung, da Bratman es als möglich zulässt, dass wir übergeordnete Grundsätze haben, von denen wir 21
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Ich erörtere dies in meinem Artikel: Seeing What Is the Kind Thing to Do. Perception and Emotion in Morality. In: Dialectica 61 (2007), S. 347–361, und in meinem Buch: On Personality. London 2004. Michael Bratman: Reflection, Planning, and Temporally Extended Agency. In: Philosophical Review 109 (2000), S. 35–61, Nachdruck in: Ders.: Structures of Agency. Essays. Oxford 2007. Übersetzungen hier vom Herausgeber. Ich bin Susan Feagin sehr dankbar, dass sie mich af diesen Aufsatz aufmerksam gemacht hat, sowie für ihre zum Nachdenken anregende Diskussion desselben in ihrem Aufsatz On Noël Carroll on Narrative Closure, wo sie die Behauptung aufstellt „that psychological connections, which necessarily involve temporal cross reference, […] are a type of narrative connection that implies agency and that they are central to the class of narratives involving human agents“ (ebd., S. 21). Wie sich herausstellen wird, ziele ich im Folgenden darauf, diese Behauptung zu stützen, indem ich sie auf narratives Denken über die eigene Vergangenheit und Zukunft beziehe. Bratman: Reflection, Planning, and Temporally Extended Agency (wie Anm. 22), S. 38. Ebd., S. 42f. Ebd., S.47. Ebd., S. 48.
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„entfremdet“ sind; er arbeitet also mit dem Gedanken, dass man mit einem selbstverwaltenden Grundsatz auch aufgrund einer starken reflektierten Bejahung zufrieden sein kann. Ich kann Bratmans subtile Argumente und Unterscheidungen hier nicht detailliert ausführen, möchte mich aber auf eine gewisse Spannung konzentrieren: die Spannung – einerseits – zwischen Bratmans Konzeption der Rolle, die Grundsätze, übergeordnete, selbst-verwaltende Grundsätze und starke reflektierte Bejahung in unserer psychischen Struktur spielen, und – andererseits – der Rolle, die Charakterzüge, persönliche Eigenschaften und lokalere, spezifischere emotionale Einstellungen dort spielen. Die Spannung wird in meinen Bemerkungen ein paar Absätze zuvor deutlich: Sie liegt in der Idee, dass, wenn Sie einen bestimmten Charakterzug oder eine persönliche Eigenschaft oder eine emotionale Einstellung besitzen, es ein Zeichen dieser Eigenschaft sein wird, dass bestimmte Gedanken oder Arten zu handeln Ihnen gar nicht erst einfallen. Um die Spannung noch etwas zu verschärfen, untersuchen wir Bratmans Beispiele selbst-verwaltender Grundsätze: One might have, say, a policy of developing and supporting a strong concern with honesty in writing, or of trying to be more willing to be playful or less inclined to be impatient with others, or of trying not to be so attracted to chocolates or other temptations, or of never actingon or treating as providing a legitimate consideration in one’s deliberation a desire for revenge, or a desire to demean.27
Nehmen wir an, dies seien alles selbst-verwaltende Grundsätze, mit denen die Person aufgrund starker reflektierter Bejahung zufrieden ist. Was wir an allen Beispielen für selbst-verwaltende Grundsätze bei Bratman bemerken, ist, dass sie immer mit Charakterzügen oder persönlichen Eigenschaften zusammenhängen, insbesondere mit den folgenden: Ehrlichkeit, Verspieltheit, Geduld, Mäßigung, Versöhnlichkeit, Bescheidenheit (oder etwas Ähnliches). Und der übergeordnete Grundsatz besteht de facto darin, diese Eigenschaften in Gedanke, Gefühl und Tat an den Tag zu legen und sich nicht in Versuchung führen zu lassen. Es wird sofort klar, dass, wenn ein solcher Charakterzug oder einer solche persönliche Eigenschaft in der psychischen Struktur der Person voll eingebettet wäre, diese Person diese übergeordneten Grundsätze nicht nötig hätte. Anders formuliert: diese Art von Grundsätzen würde man bei einer Person erwarten, die in der Reflexion eine Eigenschaft bejaht, die in ihrer eigenen psychischen Struktur durchaus nicht eingebettet ist, so dass sie Willensstärke braucht, um dieser Eigenschaft gewissermaßen zu genügen, und zwar zur richtigen Zeit, in der richtigen Art und Weise, gegenüber den richtigen Leuten, mit den richtigen Gefühlen und so weiter. Beispielweise könnte ich meinen Versuch, anderen gegenüber weniger ungeduldig zu sein, stark bejahen, wenn ich die Geduld an sich (von der es heißt, sie sei eine Tugend) stark bejahe und zugleich feststelle, dass ich selbst anderen 27
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gegenüber gelegentlich ungeduldig bin. Oder ich könnte mein Vermeiden eines Rachewunsches stark bejahen, weil ich Versöhnlichkeit als Eigenschaft bejahe und weil ich feststelle, dass ich mich gelegentlich rachsüchtigen Gedanken, Gefühlen oder Taten hingebe.28 Hier geht die Spannung nicht besonders tief, denn Bratman könnte ohne weiteres zulassen, dass die tugendhafte Person eine Person wäre, die, wenn sie darüber nachdächte, solche Grundsätze stark bejahen würde, wenn es sich als notwendig herausstellte, sie anzunehmen – wenn sie zum Beispiel feststellen würde, dass sie etwas vom Pfad der Tugend abgewichen sei. Und es bleibt die Tatsache, dass Reflexivität eine „Fähigkeit“ ist, die wir Menschen besitzen, so dass man sagen könnte, dass die Fähigkeit zur starken reflektierten Bejahung höherer Grundsätze bei einer tugendhaften Person existiert aber nicht aktiviert wird bzw. werden muss.29 Immerhin unterstreicht diese Spannung den Punkt, dass Menschen ein unreflektiertes Leben führen können (und dies oft auch tun), wobei sie verspielt, geduldig, mäßig oder versöhnlich sind, ohne darüber zu reflektieren, und ohne jemals das verlangen oder die Absicht zu entwickeln, nicht nach ihrer Disposition zu handeln; anders gesagt, das Abweichen von tugendhaften Gedanken und Handlungen erscheint ihnen nicht als echte Option.30 Ich möchte nun die Diskussion zurückbringen zur Rolle des narrativen Denkens im Bezug auf Kontrafaktizität und Reue, und zur Frage, wie dies mit Bratmans Erörterung unserer Selbstwahrnehmung als zeitlich ausgedehnter Akteure in Einklang zu bringen ist. Nehmen wir an, Sie sind generell eine recht geduldige Person, obwohl Sie im Einzelfall nicht besonders darüber nachdenken und gewiss keine 28
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Bratman liefert in seinem Artikel Toxin, Temptation, and the Stability of Intention (S. 41) auch ein Beispiel eines niedrigeren Grundsatzes: „Ich schnalle mich im Auto immer an.“ Ich denke, dass höhere Grundsätze bei einer Person, bei der die Eigenschaft voll eingebettet ist, in genau dieser Weise unreflektiert sein können: Man denkt nicht darüber nach, man tut es einfach. In meinem Buch The Emotions (S. 158) führe ich die Idee einer sich selbst überwachenden Disposition (self-monitoring disposition) als Teil eines Charakterzugs ein – es ist die Disposition, „die eigenen Reaktionen daraufhin zu überwachen, ob sie mit meiner Meinung darüber, wie ich einem Charakterzug entsprechend zu reagieren habe, übereinstimmen (monitor her own responses as being in line with how, according to the trait, she thinks she ought to respond)“. Und in Kapitel 3 und 4 von On Personality erörtere ich die Idee einer Fragilität des Charakters (fragility of character) und einer Umsichtigkeit bei vorausschauendem Planen, und zwar im Sinne des Oxford English Dictionary als einer Disposition, „sich Umständen zuzuwenden, die eine Handlung oder Entscheidung beeinflussen können; Vorsicht, Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Umsichtigkeit (attend to circumstances that may affect an action or decision; caution, care, heedfulness, circumspectness)“. Obwohl sie nicht in denselben Worten ausgedrückt sind und obwohl ich die dispositionelle Seite der Selbstrüberwachung mehr betone, denke ich, dass diese Ideen Bratmans Definition eines selbst-verwaltenden Grundsatzes recht nahe kommen. Wichtig ist, die Person, die nicht über ihren Charakter reflektiert und der Aristoteles natürliche Tugend zuschreiben würde (was für Aristoteles weniger hoch zu bewerten war als volle Tugend), von der Person zu unterscheiden, die in dem Sinne unreflektiert ist, den ich hier meine; die letztere erfüllt sehr wohl Aristoteles’ Bedingungen für tugendhaftes Handeln (z.B. weiß sie, was sie tut, und tut es aus den richtigen Gründen), aber sie reflektiert nicht bewusst in der Art und Weise, die Bratman beschrieben hat.
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höheren Grundsätze hierzu aufgestellt haben. Nun verhalten Sie sich bei einer bestimmten Gelegenheit einer anderen Person gegenüber ungeduldig, und diese Person regt sich über das, was Sie gesagt und getan haben, sehr auf. Das regt auch Sie auf, denn Sie sympathisieren mit ihren Gefühlen, und also lassen Sie sich auf das typische kontrafaktische narrative Denken ein („Hätte ich doch […]“), das ich zuvor erörtert habe, und Sie denken zurück an das, was Sie getan haben, und bereuen den Moment, als Sie ungeduldig wurden und es haben sichtbar werden lassen; vielleicht schämen Sie sich sogar für das, was Sie gesagt und getan haben. Sie haben sich sozusagen selbst dabei erwischt, wie Sie vom Pfad der Tugend abgewichen sind. Genau an so einem Punkt wäre es, wie ich meine, natürlich für Sie, einen selbst-verwaltenden Grundsatz zu fassen, nämlich „zu versuchen, Anderen gegenüber weniger zur Ungeduld zu neigen“, und sie würden (oder sollten) dann entsprechende Pläne schmieden, hypothetische Imperative aufstellen und Absichten hegen. Wie Sie nun feststellen, brauchen Sie diesen selbst-verwaltenden Grundsatz gerade an diesem Punkt Ihres Lebens, um auf dem rechten Weg zu bleiben.31 Beim narrativen Denken aber, wenn wir reuevoll auf das zurückblicken, was wir gesagt und getan haben, und nach vorne blicken, während wir im Lichte unserer Reue selbst-verwaltende Grundsätze fassen, betrachten wir uns notwendig als in der Zeit ausgedehnte Akteure. Sie als Denker, als „externer Erzähler“, denken an sich selbst in vergangenen Episoden, daran wie Sie Dinge sagen und tun, und für Sie hat die Episode eine emotionale Bedeutung, die Sie zuvor nicht erkannt haben, und daher legen Sie jetzt eine andere emotionale Reaktion an den Tag als damals. Dementsprechend denken Sie, wenn Sie narratives Denken über sich selbst in der Zukunft betreiben und sich vorstellen, wie Sie sich an den selbst-verwaltenden Grundsatz halten, den Sie wegen Ihrer Reue über das Getane gefasst haben, an sich selbst in zukünftigen Episoden und daran, wie Sie richtig handeln, und im Ergebnis haben Sie (außerhalb der Erzählung) entsprechend positive Gefühle, die Ihre aus der starken reflektierten Bejahung entstandene Zufriedenheit mit diesem selbstverwaltenden Grundsatz ausdrücken. Narratives Denken dieser Art, das natürlicherweise in einem Moment der Reue und des Fassens neuer reflektiert bejahter selbst-verwaltender Grundsätze entsteht, schließt dann notwendig ein, dass „wir uns als in der Zeit ausgedehnte Akteure sehen“, und dass wir unser Handeln „zugleich als das Handeln jenes selben Ak-
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Myles Burnyeat hat einmal sehr schön formuliert, die Scham sei die „Halb-Tugend“ des Lernenden; vgl. Aristotle on Learning to Be Good. In: Essays on Aristotle’s Ethics. Hg. v. A. O. Rorty. Berkeley 1980, S. 62–92. Wir könnten hinzufügen, das Reue der beschriebenen Art auch eine Halb-Tugend ist, ebenso wie das Sich-Entscheiden für Willensstärke, das in den selbst-verwaltenden Grundsätzen verkörpert wird.
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teurs zu sehen, der in der Vergangenheit handelte und (hoffentlich) in Zukunft handeln wird“.32 Natürlich erlaubt es uns die Fähigkeit, uns so zu sehen, auch Andere als Menschen zu sehen, die, wie wir, Erinnerungen haben, Dinge bereuen, Pläne schmieden und so weiter. Andere so sehen zu können, ermöglicht es uns, nicht nur aus unseren eigenen Fehlern zu lernen, sondern auch aus denen Anderer. Und wir können auch aus literarischen Erzählungen lernen. Hier müssen wir jedoch aufpassen, denn Literatur und literarische Figuren sind in wichtigen Punkten nicht wie das reale Leben, nicht wie wir. Zunächst gibt es einfach keinen Autor unseres Lebens, und Alasdair MacIntyre übertreibt, wenn er sagt: „What I have called a history is an enacted dramatic narrative in which the characters are also the authors.“33 Zweitens kann eine gewisse Abgeschlossenheit bzw. die allgemeine Vorstellung, dass das Leben einer Person einen Zusammenhang bildet, nicht einfach daraus geschlossen werden, dass menschliches Leben, wie ich argumentiert habe, erzählbar ist.34 Drittens ist es, wie Anthony Savile argumentiert, „kein Zufall, dass so vieles von dem Inhalt der fiktionalen Erzählungen, die wir kennen und lieben, erfunden ist“.35 Schriftliche Werke der Literatur gehören bestimmten Genres an, und ein Genre beschränkt und bestimmt nicht nur die Auswahl der Ereignisse, sondern auch die Gestalt der einzelnen Charaktere, so dass es „beispielsweise einem tragischen Helden nicht freisteht, ein Feigling zu sein, und feige Handlungen werden daher nicht nur aus der erzählten Handlung ausgeschlossen, sondern auch aus der gedachten Vergangenheit dieses Helden“.36
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In einem Punkt stimme ich hier jedoch nicht mit Bratman überein. Seine Idee ist, dass wir, um uns als zeitlich ausgedehnte Akteure sehen zu können, die „zeitlich ausgedehnte Projekte beginnen, fortsetzen und beenden“, eine Lockesche Konzeption personaler Identität haben müssen, nach der „das Andauern in der Zeit auf relevanten psychologischen Verbindungen […] und Kontinuitäten basiert.“; vgl. Bratman: Reflection, Planning and Temporally Extended Agency (wie Anm. 22), S. 59. Es ist jedoch möglich, diese kontinuierlichen psychologischen Zusammenhänge nicht als unsere Identität konstituierend zu betrachten, sondern, wie David Wiggins es formuliert, einfach als Zeichen des Menschseins; vgl. seine Erörterung in David Wiggins: Sameness and Substance Renewed. Cambridge 2001), S. 198–199. Alasdair MacIntyre: After Virtue. A Study in Moral Theory. London 1981, S. 215. Man beachte auch die Kritik von Paul Ricoeur: Oneself as Another. Übers. v. K. Blamey. Chicago 1992, S. 160, sowie Sam Vice: Literature and the Narrative Self. Philosophy 78 (2003), S. 93– 108. Zweifel daran sowie weitere Kritik an MacIntyre bei Bernard Williams: Life as Narrative. In: European Journal of Philosophy, OnlineEarly Articles (2007), S. 10.1111/j.1468– 0378.2007.00275.x. Williams formuliert es so: „The given whole of a fictional character does present us . . . with a peculiar unity, which consists in its end being there with its beginning; just for this reason, that unity is not available to us“ (S. 8). Vgl. auch Peter Lamarque: On the Distance between Literary Narratives and Real-Life Narratives. In: Narrative and Understanding Persons. Royal Institute of Philosophy Supplements Series. Hg. v. Daniel D. Hutto. Cambridge 2007, S. 117–132. Anthony Savile: Imagination and the Content of Fiction. The British Journal of Aesthetics 38 (1998), S. 136–149, Zitat auf S. 137. Ebd., S. 142.
Narratives Denken, Emotion und Planen
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Aber dies bringt uns dorthin zurück, wo wir begonnen haben: zu einer Position, die ich in diesem Aufsatz zu vermeiden versucht habe, weil sie die Rolle der Narrativität als einer vermeintlich unser Leben definierenden Kraft übertreibt und weil sie eine zu enge Analogie zu literarischen Erzählungen postuliert. In angemessenen Grenzen kann die These von der Bedeutung narrativen Denkens über nicht-aktuelle Ereignisse unseres Lebens jedoch durchaus auch von der Literatur profitieren, und zwar nicht nur von fiktionalen Werken, sondern auch von Biographien und Autobiographien. Denn ebenso wie das Leben ist auch die Literatur voll von Charakteren, die sich an ihre Vergangenheit erinnern, die Fehler machen und sich an diese erinnern, die planen, die auf alle möglichen Arten beschließen, sich zu ändern, und so weiter. Und wenigstens in dieser Hinsicht sind sie erkennbar so wie wir.37
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Ich danke meinem Publikum in Holy Cross Massachusetts, beim Greater Philadelphia Philosophy Consortium, an der University of Kent, an der Queen’s University Belfast und an der Universität Manchester, wo ich frühere Versionen dieses Aufsatzes gelesen habe. Ganz besonders danke ich Michael Bratman, Noël Carroll, Charles Griswold und Susan Feagin für hilfreiche Diskussionen und Kommentare.
Angaben zu den Autoren
Thomas Martinec studierte Germanistik, Anglistik/Amerikanistik und Philosophie in Mainz und New York (NYU). Nach der Promotion in Mainz wurde er Fellow in German am Lincoln College, Oxford University. Seit 2005 ist er Mitarbeiter am Institut für Germanistik, Universität Regensburg, wo er sich 2011 habilitierte. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Tragödienpoetik im 18. Jahrhundert und die Poetologie des Musikalischen um 1900. Ulrike Jekutsch, seit 1994 Professorin für Slawische Literaturwissenschaft an der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald, seit 2011 Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Spezialisierung in den Bereichen Ost- und Westslawistik, slawische Literaturen und Kulturen des 18. bis 20. Jahrhunderts. Forschungsschwerpunkte sind Fragen der historischen Poetik und der Gattungsgeschichte, der Panegyrik im Russischen Reich und der Adelsrepublik Polen, der Gender Studies und der literarischen Übersetzung. Zahlreiche Publikationen zur russischen, polnischen und bulgarischen Literatur, zu Fragen der innerslavischen Komparatistik und zur Übersetzung zwischen und aus slavischen Literaturen. Leonhard Herrmann, seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Leipzig; Dissertation zur Individualitätskonzeption und Rezeptionsgeschichte von W. Heinses Roman „Ardinghello und die glückseligen Inseln“; Forschungsschwerpunkte: Kanon- und Rezeptionstheorie, Literatur um 1800; Literatur und Historiografie; Poetologiegeschichte; Gegenwartsliteratur; aktuelles Forschungsprojekt zur literarischen Vernunftkritik in der Gegenwartsliteratur. Elisabeth von Erdmann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Slavische Literaturwissenschaft an der Otto Friedrich Universität in Bamberg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der russischen, ukrainischen und kroatischen Literatur- und Kulturgeschichte. Natal’ja Dmitrievna Kochetkova, geboren 1938, absolvierte bis 1961 ihr Studium an der Philologischen Fakultät der Leningrader (heute Petersburger) Universität und promovierte 1964 am Institut für russische Literatur (Pushkinskij Dom) der Russischen Akademie der Wissenschaften; dort ist sie seit 1965 bis heute tätig und
205 leitet die dortige Abteilung für die russische Literatur des 18. Jahrhunderts. Mehr als 250 wissenschaftliche Publikationen, darunter drei Bücher. Natalie Schneider studierte 2001–2006 Russistik und Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Seit Oktober 2006 ist sie dort Doktorandin am Lehrstuhl für Slawische Literaturwissenschaft des Instituts für Fremdsprachliche Philologien. Mehrere Publikationen zur russischen Literatur des 18. Jahrhunderts sowie zu russisch-europäischen Literaturbeziehungen. Andrey Kostin, PhD, works as an academic secretary at the Institute for Russian literature (Pushkin House), Russian academy of sciences. He is the author of over 60 academic works. He specialises in Russian 18th century literature, mostly in works by Alexander Radishchev and their perception in Russian culture. He also carries on research in the history of Russian 18th century literature, including biographical studies on numerous Russian authors and publication of their newlyfound works. Caroline Torra-Mattenklott ist Oberassistentin am Institut für Germanistik der Universität Bern. 2009–2011 Projektförderung durch den Schweizerischen Nationalfonds, zuvor Oberassistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich und Redakteurin der Zeitschrift figurationen. gender – literatur – kultur. Studium der Fächer Musikwissenschaft, Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und Italienisch in Berlin und Stanford, 1999 Promotion im Rahmen des Konstanzer Graduiertenkollegs „Theorie der Literatur und Kommunikation“. Publikationen u.a.: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002; „Kreisfigur und Metaschematismus bei Karl Philipp Moritz“, in: Zwischen Bild und Begriff: Kant und Herder zum Schema, hg. von Ulrich Gaier u. Ralf Simon, München 2010, 155–190. Sara Dickinson is Associate Professor of Russian literature and culture at the Università degli Studi di Genova, Italy. Her publications include Breaking Ground: Travel and National Culture in Russia from Peter I to the Era of Pushkin (Rodopi, 2006) and numerous articles on Russian travel writing, the construction of literary spaces in Russian tradition, Russian women’s writing, Nabokov, Il’f and Petrov. Rüdiger Zill, geb. 1958 in Berlin, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie in Berlin und London. 1994 Promotion in Berlin mit der Arbeit Meßkünstler und Rossebändiger. Zur Funktion von Modellen und Metaphern in philosophischen Affekttheorien. Langjährige Tätigkeit als freier Autor für Rundfunk und Zeitungen; 1994–1997 Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden. Seit 1997 Wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, Potsdam.
206 1996 Gastdozent an der New School for Social Research, New York; 2007 Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien. Zus. mit Annalise Acorn Herausgeber der Zeitschrift Passions in Context. Neuere Publikationen u.a.: Hinter den Spiegeln. Zur Philosophie Richard Rortys (MitHrsg. 2001); Gestalten des Mitgefühls (Hrsg. 2006); Ganz Anders? Philosophie zwischen akademischem Jargon und Alltagssprache (Hrsg. 2007); Zum Lachen! (Mit-Hrsg. 2009); Metapherngeschichten. Perspektiven einer Theorie der Unbegrifflichkeit (Mit-Hrsg. 2011); Wahre Lügen. Bergman inszeniert Bergman (Mit.Hrsg. 2012) Markus Reitzenstein promovierte 2010 zum Thema „Abhängigkeit – ein zentrales Motiv der Literatur nach 1945“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo er zurzeit als Lehrkraft für besondere Aufgaben tätig ist und an einem Habilitationsprojekt zu Literatur und Depression arbeitet. Daniel M. Gross is Associate Professor of English and Director of Composition at the University of California, Irvine. He is author of The Secret History of Emotion: From Aristotle’s ,Rhetoric‘ to Modern Brain Science (Chicago 2006) and co-editor, with Ansgar Kemmann, of Heidegger and Rhetoric (SUNY 2005). Current projects include a co-edited volume, with Frank Biess, Science and Emotion after 1945, and a study of sentimental literature from the perspective of situated cognition theory. Peter Goldie (1946–2011) was a British academic philosopher with interests in ethics and aesthetics. He was the Samuel Hall Chair in Philosophy and Head of the Philosophy Discipline Area of the School of Social Sciences at the University of Manchester. After a 25-year career in business in the City of London, Goldie turned to Philosophy in 1990. He studied at University College London and Oxford University for a DPhil, supervised by Bernard Williams, on emotion, mood and character. Following this, he was a lecturer at Magdalen College, Oxford, and King's College London before becoming a professor at Manchester in 2005. His publications include On Personality (London 2004) and The Emotions: A Philosophical Exploration (Oxford 2000). Peter Goldie died on October 22, 2011.