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German Pages 509 [512] Year 1995
A. James Reimer Emanuel Hirsch und Paul Tillich
W G DE
A. James Reimer
Emanuel Hirsch und Paul Tillich Theologie und Politik in einer Zeit der Krise
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1995
Aus d e m Amerikanischen übersetzt von Doris Lax Titel der Originalausgabe:
The Emanuel Hirsch and Paul Tillich Debate: A Study in the Political Ramifications of Theology Erschienen 1989 im Verlag T h e E d w i n Mellen Press, L e w i s t o n / U S A
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek —
CIP-Einheitsaufnahme
Reimer, A. James: Emanuel Hirsch und Paul Tillich : Theologie und Politik in einer Zeit der Krise / A. James Reimer. [Aus dem Amerikan. übers, von Doris Lax]. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1995 Einheitssacht.: The Emanuel Hirsch and Paul Tillich debate
ISBN 3-11-012933-7
© Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Vorwort
Diese Studie nahm 1975 ihren Anfang als bescheidener Aufsatz Uber die Kontroverse zwischen Paul Tillich und Emanuel Hirsch in den Jahren 193435, geschrieben für Professor Herbert W. Richardson in einem Doktorandenseminar an der Universität St. Michael's College, Toronto, Canada. Lange Zeit schon hatte ich Interesse an der Theologie Paul Tillichs gehegt, besonders fasziniert von seinem früheren Leben in Deutschland, seinem Konflikt mit der Nazi-Herrschaft und seiner Emigration nach New York City im Jahre 1933. Er war einer der ersten protestantischen Akademiker, der zusammen mit vielen jüdischen Freunden das grausame Schicksal derer ertrug, die sich der nationalsozialistischen Revolution, die zu jener Zeit in Deutschland stattfand, entgegenstellten. Im Frühjahr 1933 wurde er von seiner Professur für Philosophie an der Universität Frankfurt suspendiert. Ich selbst studierte 1971-72 am Union Theological Seminary, wo Tillich in seinen ersten 22 Jahren in Amerika gelehrt hatte, und stellte mir vor, eine große Untersuchung Uber Paul Tillich durchzuführen, speziell Uber die Beziehung seiner Theologie zu seiner politischen Haltung. Richardson schlug vor, mit einer Untersuchung zu beginnen über die Debatte der Jahre 1934-35 zwischen Tillich und Emanuel Hirsch, einem frühen Freund Tillichs, der jedoch 1933 einen ganz anderen theologischen und politischen Weg eingeschlagen hatte. Überzeugt davon, daß Hitler und der Nationalsozialismus göttlich inspirierte Instrumente zur nationalen Erneuerung Deutschlands seien, war Hirsch zum leidenschaftlichen Fürsprecher der sogenannten „Deutschen Christen" geworden, die die evangelische Kirche Deutschlands dazu drängten, den Nationalsozialismus voll zu unterstützen. Es war mir unbegreiflich, daß ein ernsthafter christlicher Theologe Hitler hatte unterstützen können. Ich hatte nie zuvor von Emanuel Hirsch gehört, geschweige denn eines seiner Werke
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Vorwort
gelesen, und so begann, wovon ich erwartete, daß es eine eher einfache Darstellung dessen würde, was ich für Hirschs entstellte Theologie hielt, und eine recht einfache Apologie dessen, was ich unkritisch als Tillichs klarere und verständlichere Position annahm. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich merkte, daß die Dinge beträchtlich komplexer waren, als ich mir vorgestellt hatte. Während des Studiums von Emanuel Hirschs Schriften, je öfter ich seine Freunde und Kollegen traf und mit einigen seiner Nachkriegsstudenten sprach, desto mehr sah ich mich fasziniert von diesem intellektuellen Giganten - einem der beeindruckendsten und recht rätselhaften Theologen dieses Jahrhunderts - und seiner ihm eigenen Art, die „Krise der Moderne" anzupacken. Hier war ein Mann mit einem erstaunlichen historischen Wissen Uber die westliche philosophische und theologische Tradition, einer, der sich auseinandersetzte mit dem modernen kritischen Denken in seinen tiefsten Schichten, der sich sowohl der positiven wie der negativen Konsequenzen der Aufklärung für das moderne Christentum und die Gesellschaft voll bewußt war. Hirsch machte sich wenig Illusionen Uber Macht und Parteipolitik und sah im Nationalsozialismus sowohl die gefährliche Möglichkeit eines katastrophalen Ruins für Deutschland als auch das Potential für eine neue, einzigartig deutsche, nach-monarchische und nachdemokratische Synthese von Freiheit und Gemeinschaft. Für ihn gab es keine Rückkehr zum vorangegangenen Zeitalter des deutschen Pietismus oder der Lutherischen Orthodoxie, und doch war er tief religiös, geprägt einerseits von der Theologie Martin Luthers, andererseits von Sören Kierkegaard. Er war jemand, der theologische Integrität und sozialpolitisches Engagement mit äußerster Ernsthaftigkeit verfolgte. Wie war es möglich für einen Denker seines Formats, im Jahre 1933 die politischen Entscheidungen zu treffen, die er traf? - Das wurde zu meiner Frage. Noch komplizierter wurde alles durch meine Entdeckung, daß Tillich und Hirsch seit ihrer Jugend Freunde gewesen waren, Persönlichkeiten mit ähnlichem familiärem Hintergrund und gleicher liberaltheologischer Ausbildung, offensichtlich persönlich wie intellektuell voneinander angezogen. Ich fand heraus, daß es eine umfangreiche, unveröffentlichte Korrespondenz zwischen ihnen gab, daß jeder von Anfang an die intellektuelle Karriere des anderen ver-
Vorwort
VII
folgte, daß sie die Bücher des jeweils anderen lasen und gelegentlich rezensierten, daß sie mit dem Privatleben des anderen vertraut waren, wobei Hirsch häufig die Rolle des Vertrauten für Tillich übernahm. Ich kam zu der Einsicht, daß ich ihn, ob ich nun mit Hirschs endgültigen theologischen und politischen Urteilen einverstanden war oder nicht, würde ernst nehmen müssen. Am wichtigsten für meine Studie war, daß ich seine Kritik an Tillichs Theologie würde sorgsam in Betracht ziehen müssen, da hier jemand war, der Tillichs Persönlichkeit und intellektuelle Position besser verstand als die meisten. So führte das, was als relativ einfältige Studie und Verteidigung von Tillichs Beschuldigungen gegen seinen alten Freund Emanuel Hirsch in den Jahren 1934-35, als eine Art Fallstudie zu Tillichs Kampf gegen die Nazis, begonnen hatte, zu einer eher übermäßig langen Untersuchung der intellektuellen Entwicklung und des tragischen persönlichen Schicksals zweier Individuen, die im Netz der Geschichte eines der die Welt am meisten zerrüttenden Ereignisse der modernen Geschichte gefangen waren. Ich begriff, daß, wollen wir jemals anfangen zu verstehen, was in Hitlerdeutschland und im Dritten Reich geschah, was zur gleichen Zeit in anderen Teilen der Welt geschah, das auf irgendeine Weise zum Verlauf der Ereignisse beitrug, und warum hochintelligente und religiöse Denker die nationalsozialistische Bewegung unterstützten, wir besonders einfühlsam in die Gedankenwelten von Leuten wie Paul Tillich und Emanuel Hirsch eindringen müssen. Das ist, was ich so gut wie möglich in der folgenden Studie durchzuführen versucht habe. Ich bin davon überzeugt, daß der Theologiehistoriker, der dieses Gebiet untersucht, dazu angehalten ist, wo nötig, historisch-kritische Urteile zu fällen; gleichzeitig muß er aber Einfühlungsvermögen für seine Themen zeigen und die theologische Integrität derer ernst nehmen, die scheinbar falsche politische Schlüsse aus ihren theologischen Voraussetzungen zogen. Dreh- und Angelpunkt dieser Studie ist die öffentliche Auseinandersetzung zwischen Tillich und Hirsch in deutschen Zeitschriften in den Jahren 1934 und 1935: eine Analyse von Tillichs beiden scharfen offenen Briefen an seinen Freund und politischen Gegner Hirsch, in denen er ihn des Plagiats und der Heiligung einer endlichen irdischen Realität (des Nationalsozialismus und der deutschen Nation) bezichtigt; und Hirschs Antwort, in der er sich überzeu-
Vili
Vorwort
gend gegen Tillichs Angriffe zur Wehr setzt und zum Gegenangriff übergeht. Ursprünglich war dies der erste Teil meiner Arbeit und all die f o l g e n d e n Kapitel sollten den Versuch darstellen, den Hintergrund dieser Debatte zu verstehen und Klarheit Uber die Berechtigung der gemachten Vorwürfe zu erlangen. In der jetzigen Struktur ist jedoch die 1934-35er Debatte der Höhepunkt der Studie als Teil 3: Kapitel 8 konzentriert sich auf Tillichs offene Briefe gegen Hirsch; Kapitel 9 widmet sich Hirschs Antwort; und Kapitel 10 faßt den Widerhall der Debatte in den deutschen akademischen und kirchlichen Kreisen zusammen und bewertet dabei kritisch die Genauigkeit der Angriffe und Gegenangriffe im Licht der gesamten Untersuchung. Das Kapitel schließt mit einigen Anregungen zu Tillichs und Hirschs Denken für die politische Aufgabe der Theologie im allgemeinen. 1
Es gibt nur wenige Studien über die Hirsch-Tillich-Debatte, und diese sind kurz und skizzenhaft. Eine davon ist Walter Bense, Tillich's Kairos and Hitler's Seizure of Power: The Tillich-Hirsch-Exchange of 1934-35, in: Tillich-Studies 1975, ed. by John Carey, Tallahassee: North American Paul Tillich Society, 1975, S. 39-50. Zwei meiner eigenen Aufsätze geben einen Uberblick über die Debatte und untersuchen die Genauigkeit der Hauptvorwürfe auf beiden Seiten im Lichte der biographischen und theologischen Voraussetzungen: A. James Reimer, Theological Method and Political Ethics: The Paul Tillich-Emanuel Hirsch Debate, in: Journal of the American Academy of Religion XLVI1/1 Supplement (March 1979), S. 177-192, und A. J. Reimer, Theological Stringency and Political Engagement: The Paul Tillich-Emanuel Hirsch Controversy Over National Socialism, in: Studies of Religion / Sciences Réligieuses 16, 3 (1987), S. 331-345. Jens Holger Schjorring beschäftigt sich in seinem Buch: Theologische Gewissensethik und politische Wirklichkeit. Das Beispiel Eduard Geismars und Emanuel Hirschs (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979) auf einigen Seiten mit dem Tillich-Hirsch-Briefwechsel im Zusammenhang mit seiner Studie über Hirsch und Geismar: Kap. „Die Auseinandersetzung zwischen Tillich und Hirsch", S. 295-298. David Hopper konzentriert sich im dritten Kapitel seines Buches: Tillich: A Theological Portrait (Philadelphia: Lippincott Company, 1968) auf Tillichs ersten offenen Brief an Hirsch, um Tillichs eigene Entwicklung zu erhellen: Kap. „The Hirsch Affair - and After", S. 65-100. Gunda Schneider-Flume untersucht die Debatte in ihrer Studie über Hirsch: Die politische Theologie Emanuel Hirschs 1918-1933 (Frankfurt/Main: Verlag Peter Lang, 1971), S. 145 ff. Weiterhin untersucht sie in einem Aufsatz die „politischen Theologien" Paul Tillichs, Emanuel Hirschs und Richard Shaulls; sie nimmt dabei auch Bezug auf die Debatte: Kritische Theologie kontra theologisch-politischen Offenbarungsglauben. Eine vergleichende Strukturanalyse der politischen Theologie Paul Tillichs, Emanuel Hirschs und Richard Shaulls, in: Evangelische Theologie 2, 33 (März-April 1973), S. 114-137. Jüngst hat Jack Forstman in seiner Studie über die verschiedenen Kontroversen zwischen großen Theologen während der nationalsozialistischen Zeit der Hirsch-Tillich-Debatte einen Abschnitt gewidmet: Christian Faith in Dark Times: Theological Conflicts in the Shadow of Hitler (Louisville, Kentucky: Westminster I John Knox Press, 1992), S. 210-221.
Vorwort
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Die Teile 1 und 2 sollten gelesen werden als auf Teil 3, den Angelpunkt der Studie, in konzentrischen Kreisen zulaufend, oft von ähnlichem Material handelnd, aber immer kleiner werdend und sich immer mehr auf die Punkte konzentrierend, die Tillich und Hirsch 1933, 1934 und 1935 trennten. Teil 1 ist der äußere Kreis, in dem das biographisch-intellektuelle Portrait der beiden Freunde mit recht groben Strichen gezeichnet wird. Viele der späteren theologischen und politischen Themen werden hier zum ersten Mal genannt im Kontext ihres Familienhintergrundes, ihrer frühen Ausbildung und ihrer ersten Begegnung (Kapitel 1); ihre unterschiedlichen Erfahrungen, Schriften, Lehren und intellektuellen Entwicklungen während der Kriegsjahre und der Weimarer Republik (Kapitel 2); der radikale Bruch ihrer Beziehung im Jahre 1933, bedingt durch ihre unterschiedlichen politischen Antworten auf Hitler und den Nationalsozialismus, und daraus folgend ihre verschiedenen beruflichen Karrieren (Kapitel 3); und abschließend eine Art Epilog zur Studie in Kapitel 4 - die Endphase ihres Lebens, wo sie Gelegenheit hatten, sich nochmals kurz zu treffen und über ihr Leben und ihre Freundschaft nachzudenken. Teil 2 ist der zweite Kreis. Nachdem in Teil 1 die meisten der wichtigen Punkte und viele der Schriften vorgestellt sind, konzentriere ich mich hier auf eine detailliertere Analyse der Hauptschriften, die besonders mit ihrer politischen Ethik und den theologischen Voraussetzungen in den drei Perioden zu tun haben: der Erste Weltkrieg, 1914 - 1918 (Kapitel 5); die Weimarer Zeit, 1918 - 1933 (Kapitel 6); die Zeit des Nationalsozialismus 1933 (Kapitel 7). Kapitel 7 ist die Brücke zu Teil 3 (dem Ziel der Studie): eine Untersuchung und kritische Bewertung der theologischen und politischen Überzeugungen, die Tillich und Hirsch 1933 voneinander trennten und wie sie 1934 und 1935 öffentlich debattiert wurden. Die Konfrontation zwischen Tillich und Hirsch ist nicht einfach ein weiterer kasuistischer Händel zwischen zwei pedantischen Theologen. Sie handelt in den tiefsten Schichten von einer der kritischsten Fragen, die in der Moderne oder überhaupt zu jeder Zeit an die Theologie gerichtet werden: Was ist die Beziehung des Göttlichen zum Menschlichen? Angenommen, daß Gott in der menschlichen Geschichte handelt, sogar in politischen Bewegungen, welches sind die Kriterien, an denen die göttliche Gegenwart in endlichen Ereignissen
χ
Vorwort
festgestellt werden kann? Die Beschuldigungen, die Tillich und Hirsch bezüglich der oben genannten Fragen gegeneinander erheben, sind von universaler Bedeutung, und ihre schicksalhaften Entscheidungen, die sie in den frühen 30er Jahren trafen, hatten weitreichende Konsequenzen und Bedeutung für ihre Zeitgenossen und zukünftige Generationen. Die Bewertung dieser Epoche deutscher Geschichte ist hochempfindlich und komplex, voller Fragen, und sie läßt keine vereinfachenden Moralurteile und Verallgemeinerungen zu. Meine Absicht ist es daher, nicht einfach Beweise zur Stützung der einen oder der anderen Seite zu sammeln, sondern die je eigene theologische und politische Entwicklung dieser beiden Denker von ihren frühen Jahren bis zu ihrer schicksalhaften Wahl im Jahr 1933 so getreu wie möglich in ihrer je eigenen Berechtigung nachzuzeichnen. Am Ende fälle ich doch Urteile - dies ist eine viel zu ernst zu nehmende Epoche, als daß ihre Erforscher im scheinbar neutralen Bereich der Schaukel stuhl analyse verharren könnten. Die Greueltaten jener Zeit müssen unmißverständlich angeprangert werden, und ihre Ursachen, einschließlich der intellektuellen Voraussetzungen, müssen zurückverfolgt und aufgedeckt werden, wenn sie in Zukunft vermieden werden sollen. Die historischen Ursachen dieser Greuel reichen indes weiter zurück, als wir zu denken wagen, und die Verantwortung ruht häufig auf mehr Schultern, als man zugeben mag. In dieser Studie über Tillich und Hirsch versuche ich zu verstehen, warum ihr Leben und ihr Denken sich gerade so entwickelten und warum sie 1933 die Wahl trafen, die sie trafen. Wir werden sehen, daß wir es hier mit zwei radikal unterschiedlichen, nichtsdestotrotz konsequenten Weisen zu tun haben, Geschichte und geschichtliche Ereignisse zu lesen, das Christentum zu interpretieren und die theologische Aufgabe zu verstehen, von denen jede bis heute ihre Anhänger behalten hat. Mein Schluß besteht daher nicht so sehr in einer Wahl zwischen Tillich und Hirsch als im Erklären ihrer eigentümlichen theologischen „Modelle", indem ich zeige, wie diese beiden unterschiedlichen theologischen Denkweisen mit zwei verschiedenen Verstehensweisen sozialer und politischer Ethik übereinstimmen, und schließlich einige Probleme bei jeder dieser Auffassungen herausstelle. Nur durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Denken und Leben sowohl Tillichs als auch Hirschs in
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XI
den Jahren, die zum Sieg des Nationalsozialismus führten, können wir hoffen, ihre schicksalhaften Entscheidungen 1933 zu verstehen, von ihnen zu lernen und die Fallstricke zu vermeiden. Nur indem wir das Wesen der theologischen und politischen Schlachten, die in den 20er und frühen 30er Jahren tobten, wirklich verstehen, können wir hoffen, besser zu begreifen, weshalb Denker wie Tillich und Hirsch - mit großer intellektueller Kraft und persönlicher Integrität, Persönlichkeiten mit gleichen sozialen und religiösen Wurzeln - so radikal unterschiedliche Entscheidungen trafen angesichts einer der schicksalhaftesten Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Ich bin vielen Personen und Institutionen zu Dank verpflichtet für die Rolle, die sie bei den verschiedenen Stufen der Planung und Nachforschung, sowie dem Schreiben, Tippen, Index Erstellen und Edieren dieser Untersuchung übernommen haben. Ich möchte vor allem Gregory Baum danken, der die ursprüngliche Fassung dieser Studie als Dissertationsschrift durchsah. Herbert W. Richardson schlug mir als erster dieses Thema vor und half mir besonders in den Anfangsphasen. Mein Dank gilt all jenen, die durch Gespräche und Korrespondenz zu meinem Verständnis des Lebens von Hirsch und Tillich beigetragen haben, darin eingeschlossen in Deutschland: HansJoachim Birkner (+), Horst Bögeholtz, Hayo Gerdes (+), Hans Hirsch (Emanuel Hirschs Sohn), Hans Martin Müller, Trutz Rendtorff, Hans Renz, Joachim Ringleben, Klaus Scholder (+), Hans-Walter Schutte, Wolfgang Trillhaas (+); und in Nordamerika: James Luther Adams, Walter Bense, Wilhelm Pauck (t) und Aarne Siirala. Frau Gertraut Stöber, Göttingen, half mir freundlicherweise in den frühen Phasen der Forschung, besonders bei der Transkription der meisten schwer lesbaren handschriftlichen Briefe Hirschs an Tillich. Meine besondere Dankbarkeit gilt Walter Buff, einem persönlichen Freund Emanuel Hirschs und langjährigem Archivar der Hirschmaterialien in Hannover. Buff machte mir nicht nur sehr viel wertvolles Material zugänglich, sondern las große Teile dieser Studie sorgfältig und kritisch durch und gab mir unschätzbare Hilfen beim Verstehen nicht nur des Lebens und Denkens von Emanuel Hirsch, sondern auch der Zeit, in der er lebte. Ich bin Pamela Fawcett dankbar für das Tippen des ursprünglichen Manuskripts, Carol Kieswetter für die Eingabe der endgültigen Version in den Computer, Bruce
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Vorwort
Uttley für die Durchführung des Layout, Margaret Loewen Reimer für ihre Hilfe bei der Bibliographie und für Stunden des Korrekturlesens, Dave Kroeker für seine sorgfaltige Arbeit als Redakteur und Tim Wiebe sowie Daryl Culp für ihre Hilfe bei der Vorbereitung des Index. Schließlich danke ich der Andover Library, Harvard Divinity School, für den Zugang zum TillichArchiv, der Provinz Ontario, Canada, für Stipendien, dem Social Sciences and Humanities Research Council von Canada für Doktorandenstipendien, der Universität Waterloo
und dem Conrad Grebel College
für finanzielle
Unterstützungen in verschiedenen Stadien der Manuskriptvorbereitung. Juli 1989
A. James Reimer
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Es ist mir eine Ehre, daß der Verlag Walter de Gruyter & Co. sich dazu entschlossen hat, die deutsche Ausgabe meines 1989 in englisch erschienenen Buches: „The Emanuel Hirsch and Paul Tillich Debate: A Study in the Political Ramifications of Theology" zu veröffentlichen. In Deutschland wurde weder Hirsch noch Tillich, allerdings aus völlig unterschiedlichen Gründen, die kritische wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil, die jedem von ihnen gebührt. Hirsch war in vielerlei Hinsicht ein Mann der Renaissance mit einem breiten Interessenspektrum, das sich Uber Geschichte, Politik, Philosophie, Theologie und Literatur erstreckte. Seinem geistigen Erbe wurde wegen seiner politischen Entscheidungen und Schriften in den 30er Jahren wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Doch bewahrte eine kleine Gruppe ehemaliger Studenten und Freunde die Erinnerung an ihn, und erst kürzlich erschienen mehrere bedeutende Monographien zu seinem Denken. Sein Werk ist nicht ins Englische übersetzt, und erst in den letzten Jahren haben einige nordamerikanische Wissenschaftler damit begonnen, ihm bei ihren Studien zur deutschen Theologie während der Hitlerzeit ernsthaft Aufmerksamkeit zu schenken. Tillich wurde im Gegensatz dazu nach seiner Emigration 1933 schnell zum Ziehsohn der amerikanischen Theologie. Seine Bücher fanden noch weit Uber theologische und geisteswissenschaftliche Kreise hinaus ihre Leserschaft. Im Grunde war sein Name in aller Munde. Dennoch wurde auch ihm in Deutschland nicht die gleiche wissenschaftlich-kritische Aufmerksamkeit oder Popularität zuteil wie anderen Philosophen und Theologen geringeren Formats. Die Deutsche Paul-Tillich-Gesellschaft versucht durch ihre Symposien und Veröffentlichungen, dies zu korrigieren. Ich hoffe, diese
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
Übersetzung trägt dazu bei, die Bedeutung sowohl Hirschs als auch Tillichs für die gegenwärtige Diskussion mehr und mehr zu erkennen. Hirsch und Tillich befaßten sich beide mit der Krise der Moderne und betrachteten ihre theologische Arbeit jeweils als Wege kreativer Auseinandersetzung mit dieser Krise. Jeder sprach auf seine eigene Weise den Verlust des sozialen, politischen, moralischen und religiösen Zusammenhalts in der modernen Welt an. Für uns, die wir in ein postmodernes Zeitalter eintreten, hat sich das Gefühl von Diskontinuität, Zerfall und Zusammenhanglosigkeit in unserer Kultur nur noch verstärkt. In dieser Hinsicht können heutige und zukünftige Generationen viel aus der Kontroverse zwischen Tillich und Hirsch lernen. Die Intensität, mit der der Nationalismus als einflußreiche politische und theologische Macht in der gesamten Welt um sich greift, läßt den Diskussionen um Volk, Nationalität, Religion und Theologie, die während der 20er und 30er Jahre geführt wurden, eine Bedeutung zukommen, Uber deren Ausmaß ich mir zu Beginn meiner Studien Uber Hirsch und Tillich nicht vollkommen klar war. Jede sorgfältige Analyse der modernen und postmodernen Gesellschaft wird die Doppeldeutigkeit des Nationalismus, insbesondere in seiner Verbin-dung mit Religion, aufzeigen müssen. Nationalismus und Religion können als negative, zerstörerische Kräfte betrachtet werden, die Völker sich auf ihre Volkszugehörigkeit und Religion konzentrieren lassen und in Intoleranz und Rassismus treiben. Sie können aber auch als positive Kräfte zur Befreiung unterdrückter Völker gesehen werden, wenn sie auf dem Boden der Gerechtigkeit, der Autonomie und dem Recht auf Selbstbestimmung und Würde bleiben. Oft finden sich beide Komponenten im Nationalbewußtsein, und dem Theologen obliegt die Aufgabe der Unterscheidung, der Unterstützung des Positiven und des Widerspruchs gegen das Negative. Eine Untersuchung der Werdegänge Emanuel Hirschs und Paul Tillichs, ihre jeweilige persönlichgeistige Entwicklung, ihre stürmische Freundschaft und ihre leidenschaftliche Debatte um Hitler und den Nationalsozialismus helfen uns dabei, theologische und politische Kriterien zu finden, anhand derer positive wie negative Elemente in nationalen Emeuerungsbewegungen zu unterscheiden sind.
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
Die englische Ausgabe hat sowohl in Nordamerika als auch in Deutschland gute Kritiken erhalten. Eines meiner Hauptziele in dieser Studie war, sowohl Hirsch als auch Tillich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und vereinfachende Urteile zu vermeiden. Die meisten Rezensenten haben mir zugestanden, dieses Ziel erreicht zu haben. Ein Rezensent meinte gar, daß dies aufgrund meiner konfessionellen (mennonitischen) und
nationalen
(kanadischen) Distanz möglich gewesen sei. Manche haben mir vorgeworfen, Hirsch gegenüber zu großzügig und gegen Tillich voreingenommen gewesen zu sein. Dies lag nicht in meiner Absicht. Möglicherweise habe ich diesen Eindruck schlicht dadurch erweckt, daß ich annahm, Tillich brauche wenig Verteidigung, besonders in Nordamerika, wo er so bekannt und Hirsch fast völlig unbekannt ist. Das Urteil der Geschichte ist schließlich auf Tillichs Seite; Hirsch trägt die Bürde der Beweislast. Daher habe ich jeden Versuch unternommen, Hirsch gerecht und ausführlich zu behandeln. Ich möchte all jenen danken, die mich auf Fehler und falsche Übersetzungen in der amerikanischen Ausgabe aufmerksam gemacht haben. Ich habe versucht, diese Fehler auszumerzen. Meinen deutschen Freunden schulde ich Dank für ihre Unterstützung bei dieser Studie, besonders Herrn Dr. Hasko von Bassi, Verlagsdirektor des Verlages Walter de Gruyter, für seine Ermutigung und Geduld bei der Begleitung des Unternehmens von Anfang an. Vor allem jedoch möchte ich meiner Dankbarkeit für Frau Doris Lax, Saarbrücken, Ausdruck verleihen, die die gewaltige Aufgabe der Übersetzung, der Korrektur von Fehlern und stilistischer Änderungen übernommen hat. Ihre eigenen Kenntnisse der Schriften Tillichs, sowie Erfahrungen bei der Übersetzung theologischer Texte haben dazu beigetragen, dieses Buch für die deutsche Leserschaft verständlicher zu machen. Ebenso dankbar bin ich Frau Dr. Anne-Kathrin Finke im Verlag de Gruyter, die das gesamte Manuskript einer gründlichen Überarbeitung in inhaltlicher wie formaler Hinsicht unterzogen und so ebenfalls wesentlichen Anteil an dem jetzt vorliegenden Werk hat.
Dezember 1994
A. James Reimer
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Vorwort zur deutschen Ausgabe Teil 1: Ein biographisch-intellektuelles Portrait
VI XIII 1
1 Theologische Anfänge und der Beginn einer Freundschaft 1907-1914
3
Eine enge Freundschaft beginnt
3
Hirschs frühe religiös-geistige Entwicklung
5
Tillichs frühe geistige Formung
16
Zwei unterschiedliche Naturen
22
2 Theologischer, politischer und persönlicher Scheideweg, 1914-1933
27
Hirsch entwickelt ein national-politisches Bewußtsein
27
Tillich wird ein klassenbewußter Sozialist
37
Zuspitzung der Konfrontation zwischen den Freunden
44
Unterschiedliche Vorstellungen von Gott und religiöser Erfahrung: Korrespondenz von 1917-1918
45
Frühe private und politische Differenzen: Die Korrespondenz von 1919-1922
53
Geistiges Auseinanderstreben: Gegenseitige Buchbesprechungen, 1922-1927
60
XVIII
Inhaltsverzeichnis
3 Zwei getrennte Wege: Der Bruch einer Freundschaft, 1933-1945...
65
Hirsch und der deutsche Kirchenkampf
66
Die Krise der Moderne
66
Der verborgene Souverän
72
Hitler als Instrument der Vorsehung
76
Glaube und moderne Weltlichkeit
77
Die ökumenische Bewegung
83
Die Affaire „Dehn"
86
Die Deutschen Christen
88
Bischof Ludwig Müller und die neue evangelische Volkskirche
95
Barth und die Bekennende Kirche
106
Die Arierfrage
116
Hirsch als Dekan der Universität
126
Tillich: „Auf der Grenze zwischen Heimat und Fremde"
131
Physische Emigration
133
Geistige Emigration
146
4 Epilog: Jahre der Trennung und Anbahnung der Versöhnung Reputationen in der Nachkriegszeit
155 155
Erneuerung einer Beziehung
156
Letzte Kontakte, 1948-1963
163
Teil 2: Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
164
5 Der Erste Weltkrieg und die frühe politische Prägung Hirschs und Tillichs
165
Hirschs frühe Gedanken über Krieg, Volk und Staat
166
Krieg als heilige Begegnung mit Gott
166
Inhaltsverzeichnis
Ein christlicher Nationalstaat
XIX 172
Der Pazifismus: Eine Verwechslung des Reiches der Liebe mit dem Reich der Gerechtigkeit
174
Tillichs Kriegsjahre: Eine Zeit der Ernüchterung
183
6 Religiöser Nationalismus und Religiöser Sozialismus: Zwei Optionen in der Weimarer Republik
187
Die politische Instabilität der Weimarer Republik
187
Das Schicksal des Volkes aus Hirschs Sicht, die Aufgabe der Kirche und das Einzelgewissen
192
Gesellschaft
193
Nation
196
Recht, Staat und Moral
199
Zwei Reiche
202
Deutschlands Schicksal und die Aufgaben des Christentums Tillichs Religiöser Sozialismus und das internationale Proletariat..
208 216
Christentum und Sozialismus
216
Masse, Persönlichkeit und das Heilige
223
Exkurs: Hirschs Kritik an Tillichs Verständnis des Proletariats
238
Prinzipien des Religiösen Sozialismus
241
Das Proletariat und das protestantische Prinzip
249
7 Entgegengesetzte Antworten auf den Erfolg des Nationalsozialismus
265
Der Nationalsozialismus als Höhepunkt der Volksbewegung
265
Die Entstehung der politischen Theologie
270
Hirschs Interpretation der Ereignisse von 1933 und seine Unterstützung des Nationalsozialismus
274
Deutschlands Erwachen aus philosophisch-politischer Sicht
276
Eine theologische Interpretation der Ereignisse von 1933 ...
283
XX
Inhaltsverzeichnis
Tillichs Kritik am Nationalsozialismus und seine Verteidigung einer wahrhaft sozialistischen Entscheidung im Jahre 1933
298
Ja und Nein zum Volk
298
Die Forderung einer wahrhaft sozialistischen Entscheidung
302
Der innere Widerspruch der politischen Romantik
307
Der innere Konflikt des Sozialismus
311
Die Notwendigkeit eines neuen Sozialismus
316
Zweideutige Haltung zur revolutionären Romantik
323
Zwei Formen von Wagnis
332
Teil 3: Grundlegende Fragen der Debatte von 1934-35
335
8
337
Religiöser Sozialismus und Kairos Der Vorwurf des Plagiats in Tillichs erstem offenen Brief an Hirsch
339
Entlehnte Kategorien und Begriffe
343
Verzerrung der religiös-sozialistischen Begriffe
348
Der eigentliche Sinn der religiös-sozialistischen Kategorien
353
Sakramentale Verzerrung existentialistischer und somatischer Philosophie
354
Offenbarung, Wagnis und der Kairos
358
Die Notwendigkeit einer Gesellschaftsanalyse
362
Volk und Staat
364
Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche
370
Reservatum und Obligatum
372
Tillichs zweiter offener Brief: Neufassung und Klärung
375
Geschichtliche Verpflichtung
376
Theologische Heterodoxie
377
Politische Theologie
379
Zusammenfassung
380
Inhaltsverzeichnis
XXI
9 Nationalsozialismus und christliche Freiheit: Hirschs Antwort auf Tillichs Brief
383
Falsche Darstellungen - Gegenvorwürfe
384
Falsche Zitate und Interpretationen
387
Die „Grenze" betreffend
390
Den Kairos betreffend
397
Der Vorwurf des Irrglaubens
405
Eine zweite Offenbarungsquelle
417
10 Eine kritische Bewertung der Debatte und ihrer Bedeutung für die politische Aufgabe der Theologie
425
Echos auf die Debatte in deutschen theologischen Kreisen
425
Eine kritische Beurteilung der Vorwürfe
435
Implikationen für den politischen Auftrag der Theologie
459
Literaturverzeichnis
469
Namenregister
485
TEIL EINS
Ein biographisch-intellektuelles Portrait
1
Theologische Anfänge und der Beginn einer Freundschaft 1907 - 1914
Eine enge Freundschaft beginnt Emanuel Hirsch und Paul Tillich waren lebenslang Freunde, die von Anfang an einen intensiven persönlichen, politischen und theologischen Ideenaustausch pflegten. Ihre zunehmenden Differenzen traten während des Ersten Weltkrieges zutage, verstärkten sich in den 20er Jahren und kamen zu ihrem Höhepunkt in einem öffentlichen Bruch ihrer Freundschaft während einer Debatte über den Nationalsozialismus in den Jahren 1934-35. Es war die Tiefe ihrer Freundschaft, die ihrem Bruch wegen Hitler eine gewisse Bitterkeit verlieh. Das Auseinanderstreben dieser beiden herausragenden deutschen Geister, die auf entgegengesetzten Seiten momentaner politischer Ereignisse gefangen waren, dient als Fallstudie für den allgemeinen Bruch, der sich zu dieser Zeit in der deutschen Gesellschaft und der deutschen evangelischen Kirche vollzog. Tillich und Hirsch trafen sich offensichtlich zum ersten Mal bei einem Studenten treffen des Wingolf irgendwann im Herbst 1907 in Berlin. 1 Es 1
Die offenbar erste erhaltene Notiz Hirschs an Tillich, mit Datum vom 11. Februar 1908, findet sich in der Andover-Harvard Theological Library, Harvard Divinity School. Die meisten von Hirschs Briefen an Tillich sind im Tillich-Archiv der Andover-Harvard Theological Library in Harvard aufbewahrt (zit. als: Hirsch an Tillich, Datum). HansWalter Schütte behauptet, Tillich und Hirsch hätten sich zum ersten Mal bei einem Wingolftreffen gegen Ende ihrer Studienzeit 1908 getroffen (in: Subjektivität und System, in: Hirsch Tillich Briefwechsel 1917 - 1918. Berlin, Schleswig-Holstein: Verlag Die Spur, 1973, S. 43; zit. als: Hirsch Tillich Briefwechsel). In einem Brief an Tillich vom 17. Februar 1963 erinnert sich Hirsch jedoch an eine Begebenheit im November 1907, als er den mit Fieber zu Bett liegenden Tillich besuchte. Bei dieser
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Ein biographisch-intellektuelles Portrait
scheint, daß sie intellektuell schnell voneinander angezogen wurden und schließlich eine besonders enge und dauernde Freundschaft entwickelten. 2 Was ihrer geistigen Affinität einen außergewöhnlich persönlichen Zug, besonders auf Hirschs Seite, gab, war dessen unerwiderte Zuneigung zu Tillichs Schwester Johanna. Sein Wunsch, sie zu heiraten, wurde durchkreuzt von der plötzlichen, überraschenden Bekanntgabe ihrer Verlobung mit einem anderen engen Freund Tillichs, Pfarrer Albert Fritz („Frede"). 3 Der hohe Wert, den Hirsch Freundschaft und Treue innerhalb persönlicher und intimer Beziehungen beimaß, wird vielleicht am deutlichsten ausgedrückt nicht nur in seiner andauernden Verbindung mit Tillich bis zu dessen Lebensende, sondern auch zu Fritz und noch mehr in seiner unaufdringlichen Freundschaft mit Johanna bis zu ihrem Tod im Januar 1920. Dies wird ironisch in einem kleinen Stück dargestellt, das Tillich und Hirsch gemeinsam schrieben und bei einer
Gelegenheit habe er Tillich zum ersten Mal beim Vornamen genannt, was bedeutet, daß sie sich schon einige Zeit kannten (Hirsch an Tillich, 17.2.1963). Horst Bögeholtz machte mich als erster auf diese Unstimmigkeit aufmerksam. Marion Pauck meint, „sie fühlten sich zueinander hingezogen auf Grund ihrer humanistischen Erziehung und ihres gemeinsamen Talents zu begrifflicher Schärfe und Analyse." Sie erwähnt, daß .freunde, die beide auf ihren langen Spaziergangen in Berlin begleiteten,... kaum einen Unterschied in ihrem Denken [bemerkten], es erschien ihnen fast völlig identisch. Das erklärt zum Teil die Bitterkeit ihrer späteren Entzweiung. Solange die Freundschaft erhalten blieb, erwies sie sich als äußerst fruchtbar und war für beide eine starke, anregende Kraft" (Wilhelm und Marion Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Band 1: Leben. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1978, S. 44; zit. als: Tillich. Leben). Entgegen dem, was Pauck hier meint, endete die Freundschaft zwischen Tillich und Hirsch und die Zuneigung, die sie füreinander hegten, nie, sondern dauerte bis an ihr Lebensende. Schütte, ein enger Bekannter und Schüler Hirschs, spricht ebenfalls von der Intimität der frühen Freundschaft: „E. Hirsch, der um zwei Jahre Jüngere, fand in Tillich nicht nur den ebenbürtigen sondern den überlegenen Freund. Er verdankte dieser Bekanntschaft die vielleicht tiefreichendste Anregung" (Schütte, Subjektivität und System, in: Hirsch Tillich Briefwechsel, S. 43). Die Tiefe von Hirschs Gefühlen für Johanna und das Ausmaß, in denen sie Teil von Hirschs Bewufitsein blieben und seine Ansichten darüber prägten, wie sich verheiratete Männer anderen Frauen gegenüber verhalten sollten, kamen in seiner privaten Korrespondenz mit Tillich zum Ausdruck (vgl. Hirsch an Tillich, 21.7.1921). Ich bin Gertraut Stöber zu großem Dank verpflichtet für die Transkription der meisten dieser in schwer zu entziffernder deutscher Handschrift geschriebenen Briefe in Maschinenschrift. Marion Pauck sagt zur überraschenden Verlobung: . f ü r Emanuel Hirsch war diese Überraschung sehr schmerzlich. Auch er liebte Johanna und war entschlossen, um ihre Hand anzuhalten. Aber er wartete zu lang, und der Gedanke an sein Versäumnis stürzte ihn fast in Verzweiflung. Johanna ihrerseits hatte in Hirsch immer nur einen Freund gesehen" (Pauck, Tillich. Leben, S. 48). Hirsch heiratete im November 1918, und trotz seiner andauernden Liebe zu Johanna betonte er die Wichtigkeit der Treue in d a Ehe.
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Verlobungsfeier für Johanna vor einer kleinen Gruppe von Freunden aufführten. 4 Obwohl die Differenzen zwischen Hirsch und Tillich schon früh sichtbar wurden, ist - wie wir sehen werden - das Ausmaß ihrer frühen Gemeinsamkeiten bemerkenswert. Sie hatten den gleichen Hintergrund. Obgleich Tillich in einer eher weltoffenen Umgebung aufgezogen wurde, wuchsen beide in streng lutherisch-orthodoxen Pfarrhäusern heran. Sie hatten beide gleiche theologisch-akademische Anfänge. Beide studierten bei liberal-theologischen Professoren in Berlin. Sie hatten gleiche intellektuelle Vorlieben und Interessen. Beide kannten sich gut in moderner kritischer Philosophie aus und waren eifrig damit beschäftigt, kritisches Denken bei theologischen Fragen anzuwenden. Keiner von beiden war zufrieden mit einer unkritischen Akzeptanz orthodox-lutherischer Formulierungen. All diese Gemeinsamkeiten trugen zur Entwicklung einer intensiven frühen Freundschaft in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg bei.
Hirsch: Frühe religiös-geistige Entwicklung Emanuel Hirsch wurde am 14. Juni 1888 in Bentwisch, Westprignitz, unweit von Berlin geboren, wo er auch aufwuchs. Sein Vater, Albert Hirsch, stammte aus einer Familie von Bauern und Handwerkern. Nur durch viel Ausdauer hatte Albert Hirsch den Widerstand der Familie dagegen brechen können, daß er lutherischer Pfarrer wurde. Seine Mutter stammte seit Generationen von Seeleuten ab, einige mit hugenottischen Vorfahren. Zu Emanuels häuslicher Umgebung sagt Buff: „Der Geist seines Elternhauses, eine ernste, zurückhaltende, orthodoxe Frömmigkeit, die bei aller eigenen Festigkeit doch noch von großer praktischer Toleranz war, hat einen starken 4
Das Stück, das am 11.9.1912 aufgeführt wurde, besteht aus elf Charakteren, von denen Tillich den Landgerichtspräsidenten spielte und Hirsch den Part des philosophischen Ehesachverständigen: Der Prozeß: Eine individual-typologische Vorehekomödie, verfaßt von Paul Tillich, Gelegenheitsdichter und Zufallskomödiant, meistens Doktor der Philosophie unter respektiver Gegenwirkung der „PrínzeBcafékommission 'Gemischtes Eis'"sowie des philosophischen Ehesachverständigen „ M a n e Hirsch". Unveröffentlichtes Typoskript im Tillich-Archiv, Marburg.
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bleibenden Einfluß auf ihn ausgeübt" 5 Diese tiefe inneiiiche Frömmigkeit charakterisierte Hirsch bis an sein Lebensende und fand Ausdruck in Büchern wie: „Der Sinn des Gebets", das 1921 zum ersten Mal publiziert wurde.6 Emanuel zeigte seine geistige Unabhängigkeit und offenbarte zugleich die geistige Enge seines Vaters, als er seine theologischen Studien an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin aufnahm, trotz der Einwände seines Vaters gegen ein Studium bei liberalen Theologieprofessoren. Sein unabhängiger Geist und sein Bestreben, für sich selbst zu denken, werden in einer unveröffentlichten autobiographischen Skizze: „Über mich selbst", erkennbar.7 In dieser Studie beschreibt Hirsch, wie entschlossen er war, selbst herauszufinden, ob seine liberalen Professoren im Irrtum waren. Sein Vater verstummte schließlich angesichts der Entschlossenheit seines Sohnes, um voller Schmerz mit anzusehen, wie die liberale Kritik am Dogma begann, den jungen Emanuel zu beeinflussen. Aber sein Vater war überrascht, so fügt Hirsch hinzu, zu sehen, „daß dies mein Verhältnis zu Jesus und seiner Passion, zu Gebet und Gehorsam nicht im mindesten anzutasten schien, daß also die religiöse Determinante meines Elternhauses sich auch nach Preisgabe der theologischen Determinante am Leben erhielt."8 Hirsch behauptet, er habe seine theologischen Studien nicht als Zersetzung, sondern eher als Vertiefung seines christlichen Glaubens erfahren. Diese frühen Studienjahre gewährten Hirsch Einsichten, die zu herausragenden Themen in seinem Denken bis zum Lebensende werden sollten. Die wichtigste Informationsquelle für diese frühen Jahre des Studiums ist eine Reihe von drei autobiographischen Aufsätzen, die Hirsch im Jahre 1951 schrieb.9 Im ersten, „Meine theologischen Anfänge", erwähnt Hirsch so gut 5
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Walter Buff, Emanuel Hirsch, in: Die Spur: Beiträge, Mitteilungen, Kommentare. Berlin: Bund Evangelischer Lehrer, 1968, S. 76. Hirsch, Der Sinn des Gebets. Fragen und Antworten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1921. Eine zweite, völlig überarbeitete Auflage erschien 1928. Diese unveröffentlichte autobiographische Skizze war mir nicht zugänglich; allerdings nimmt Schütte, Subjektivität und System, in: Hirsch Tillich Briefwechsel, S. 39 ff. des langerai darauf Bezug. Ibid., S. 39. Alle drei Aufsätze wurden 1951 in der Zeitschrift .freies Christentum" veröffentlicht: Meine theologischen Anfänge, 3.Jg., Heft 10 (1951), S. 2-4; Mein Weg in die Wissenschaft (1911-16), 3.Jg„ Heft 11 (1951), S. 3-5; Meine Wendejahre (1916-21), 3.
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wie nichts aus seinen frühen Kindheitstagen, außer daß er einen Hang zu Beobachtung und Reflexion hatte und daß er in einem einfachen, frommen, kirchentreuen Pfarrhaus aufwuchs, wenig berührt von den Strömungen modernen Denkens. Er macht drei anfängliche, jedoch höchst bedeutsame Beobachtungen Uber seine ersten theologischen
Studienjahre:
(1)
Ironischerweise bewahrte ihn die kritische Theologie für den christlichen Glauben, indem sie seine verborgene persönliche Frömmigkeit vertiefte und ihn zwang, sich mit den großen Ideen der christlichen Geschichte auseinanderzusetzen und für den endgültigen Sinn und Inhalt des traditionellen Christentums zu kämpfen; (2) von Anfang an war ihm klar, daß er für die 'kritische' Theologie Partei ergreifen müsse, dabei zwischen der Wahrheit des Herzens - „der frommen Selbstbesinnung des vor Gott stehenden Herzens" und „der kritischen Wachheit des Forschers und Denkers" unterscheidend; (3) vom ersten Moment an war er davon überzeugt, einen unabhängigen theologischen Weg gehen zu müssen, der weder liberal noch orthodox war: „Ich konnte weder liberaler noch orthodoxer Theologe werden. Ich mußte mich von Anfang an strecken nach etwas, das jenseits von beiden lag ...". Einerseits würde er kritischer sein müssen als es der Liberalismus gewesen war; andererseits würde er einen Teil der frommen Unschuld des traditionellen Glaubens bewahren müssen. Er war dazu entschlossen, einen Weg zu gehen, der „schwer zu gehen [war] und noch schwerer verständlich zu machen für andere." 10
Jg., Heft 12 (1951), S. 3-6. Es ist bemerkenswert, daß, wie Jens Holger Schjorring richtig beobachtet, Hirsch „in diesen Aufzeichnungen ... nur sehr wenig auf sein praktischpolitisches Engagement während des 1. Weltkrieges und dessen theologische Folgerungen" eingeht. (Jens Holger Schjorring, Theologische Gewissensethik und politische Wirklichkeit. Das Beispiel Eduard Geismars und Emanuel Hirschs. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979, S. 59, Anm. 16; zit. als: Theologische Gewissensethik). Schjorrings Studie zu Hirsch und Geismar läuft in vielerlei Hinsicht methodisch parallel zu meiner eigenen über Hirsch und Tillich. Hirsch, Meine theologischen Anfänge, S. 3. In persönlichem Briefwechsel unterbreitete mir Walter Bense den interessanten Gedanken, daß Kail Barth zu oft als der Hauptvertreter der Neoorthodoxie verstanden werde, daß aber tatsächlich Barth, Tillich und Hirsch verstanden werden könnten als Repräsentanten dreier bestimmter neoorthodoxer Alternativen der 20er Jahre (Bense an Reimer, 1.7.1976). Die von Hirsch zum Ausdruck gebrachte Kritik am Liberalismus einerseits und eine starke Verteidigung der klassischen Theologie Luthers andererseits stützen Benses Gedanken. Was Bense in seiner These
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Ein biographisch-intellektuelles Portrait
Es ist wichtig zu verstehen, daß, wie obige Bemerkungen zeigen, Hirsch sich selbst weder als liberal noch als orthodox-konservativ verstand, sondern schon in jungen Jahren versuchte, eine gewisse traditionelle Frömmigkeit mit einer strengen kritischen Perspektive zu verbinden. Er war ein unabhängiger Denker, der, stark beeinflußt von der modernen kritischen Methode (dem theologischen Libera-lismus), fest dazu entschlossen war, traditionelle Begriffe für die gegenwärtige Zeit neu zu interpretieren, ohne dabei den traditionellen Sinn religiöser Frömmigkeit zu verlieren. Hirschs Ansichten reaktionär zu nennen in dem Sinn, daß er traditionelle orthodoxe Kategorien in ihrer ursprünglichen Reinheit wiederentdecken wollte in der Absicht, einfach den theologischen (oder politischen) status quo zu verteidigen, heißt, dieses extrem kritisch-theologische Element in Hirschs Denken mißzuverstehen. Die beiden grundlegenden Themen, die Hirsch von Anfang an beschäftigten, waren das epistemologische Problem - die Möglichkeiten und Grenzen mensch-lichen Wissens von dem, was jenseits des Erfaßbaren liegt - und die historische Frage - die geschichtliche Natur dessen, was in der Begründung des christlichen Glaubens liegt. Die erste Frage trieb ihn dazu, Kants Hauptschriften gründlich durchzuarbeiten, was bei ihm bis zum Ende des ersten Studienjahres die religiöse Metaphysik zerstört hatte, auf der sich die traditionelle kirchliche Dogmatik und die „gemeine" Frömmigkeit gründeten. In der zweiten Frage kam Hirsch durch seine biblisch-kritischen und dogmengeschichtlichen Studien zu der Überzeugung, die Hauptlehren der Kirche seien Produkte menschlich-geschichtlichen Denkens, die der gleichen historischen Untersuchung und Kritik zu unterwerfen sind, wie jeder andere Aspekt der Religionsgeschichte. In einem bemerkenswerten Zugeständnis schrieb Hirsch: „Ich habe das, was mir damals einstürzte, niemals wieder aufbauen können: die Wahrhaftigkeit hat es nicht gelitten." 11 Statt dessen tendierte er in seinem späteren Denken gar dazu, die Implikationen dieser frühen kritischen Einsichten noch exakter fortzusetzen.
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nicht genügend in Betracht zieht, ist, wie wir sehen werden, Hirschs emphatische Kritik an der lutherischen Orthodoxie und der Scholastik. Hirsch, Meine theologischen Anfange, S. 3.
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Was Hirsch an epistemologischer und historischer Gewißheit bezüglich des christlichen Glaubens verlor, gewann er an existentiellem Verstehen von Jesus, Paulus und Luther. Hirsch nennt diese Erfahrung ein geistiges „Erdbeben", das seinen Ursprung im verborgenen, namenlosen Mysterium Gottes hat. Die Person und der Lehrer, der nun einer der einflußreichsten Mentoren in Hirschs Entwicklung wurde, war Karl Holl. 12 Holl war derjenige, der hauptverantwortlich war für das Wiederaufleben der Lutherforschung in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Hirsch den Eingang in die Lutherstudien finden ließ. Holl, der sich selbst einen Schüler von Ferdinand Christian Baur nannte, „war als historischer und dogmatischer Kritiker, als unerbittlich scharfsinniger dogmen- und theologiegeschichtlicher Analysator, wenigstens in seinen jüngeren Jahren, als ich ihn hörte, weit radikaler als der neben ihm stehende Harnack." 13 Nach Hirsch war es Holl, der zu einem weiteren Zerbrechen seines Kindheitsglaubens beitrug; gleichzeitig führte Holl ihn jedoch zu einem Verständnis von Luthers Rechtfertigungslehre, zu einem Verstehen des Mysteriums von Schuld und Vergebung und zu einer persönlichen Vertiefung seines christlichen Glaubens. 14 Als Hirsch Jahre später Uber seine theologischen Anfänge nachdachte, stellte er drei Motive fest, die sein eigenes Denken von dem der meisten anderen Akademiker und praktischen Theologen unterschieden. Er glaubte erstens, „daß Wahrheit im Gottesverhältnis allein in der und für die Subjektivität ist",
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13 14
In einem seiner Briefe an Tillich macht Hirsch die Aussage, daß er Holls Seele ebenso gut kenne wie seine eigene (Hirsch an Tillich, 10.7.1921). In Schjorrings Worten: „Die Lutherstudien Hirschs sind ohne den EmfluB Karl Holls undenkbar. Dies zeigt sich nicht nur im theologischen Konsens, sondern auch darin, daB sich beide unter dem Eindruck des Krieges dazu aufgerufen fühlten, das lutherische Verständnis des Verhältnisses zwischen Evangelium und Gesellschaft wieder neu zu beleben. Beide wollen Luthers Gedanken für die gesellschaftliche Problematik fruchtbar machen, beide aber wollen auch in der historischen Analyse an der Zeitbedingtheit der Aussagen Luthers festhalten" (Theologische Gewissensethik, S. 59). Hirsch, Meine theologischen Anfänge, S. 3. Weil Hirschs theologisches Verhältnis zu Holl so entscheidend ist für das Verständnis seiner theologischen Entwicklung und seiner theologischen Haltung in den 20er und 30er Jahren, muß dies Thema einer gesonderten Arbeit bleiben. Dennoch sollte festgehalten werden, daß Hirsch trotz seiner großen Bewunderung für Holl und seiner Arbeit an Luther und trotz des grundlegenden Einflusses von Holl auf sein Denken, seine eigene Dogmatik und Ethik als eine Entwicklung jenseits derjenigen Holls und in unabhängiger Richtung verstand (ibid.).
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eine Einsicht, die durch seine Lutherstudien bestärkt wurde - besonders durch Luthers Verständnis des Deus absconditus - und durch den aufkommenden Einfluß Kierkegaards. Hirsch fand in diesen Denkern die Bereitschaft, die Wahrheit den Regeln des menschlichen Wissens unterzuordnen, objektive kirchliche und dogmatische Stützen fallenzulassen und sich dem göttlichen Mysterium zu ergeben.15 Zweitens erfuhr Hirsch die Freiheit religiösen und theologischen Denkens, das sich selbst auf dem Weg sah, nicht festgelegt war und gekennzeichnet von einer Art Gelassenheit inmitten der Erschütterung der Grundfesten des Glaubens. Hirsch entdeckte, daß die verborgene Liebe Jesu eher gegenwärtig ist, „wenn er ein Licht auf dunklem und gefahrvollem Wege der Erkenntnis ist, als wenn er als Kronleuchter im Tempel einer reinen bekenntnismäßigen Lehre hängt." 16 Das dritte Motiv, eng mit dem zweiten verbunden, war das allmähliche Aushöhlen der Unterscheidung zwischen Nichtchristsein und Christsein und dem Weg des Christseins in ein 'tieferes' Christsein, was beides eine Einheit in der Dialektik der menschlichen Bewegung zu Gott hin bildet Besonders bedeutsam in Hirschs früher theologischer Entwicklung ist das Ausmaß, in dem er mit der Kantschen epistemologischen Revolution kämpfte, d.h. mit der Unmöglichkeit traditioneller Gewißheit objektiven Wissens über Gott und göttliche Dinge. Hirschs Denken wurde grundlegend von den Einsichten des modernen Historismus geprägt, d.h. der wesentlich geschichtlichen Natur der Grundlagen des christlichen Glaubens. Was derart von der modernen kritischen Theorie und vom Historismus zerstört war, wurde von der Gewißheit eines subjektiven „Wissens" um den verborgenen Gott ersetzt, wie es von Luther und Kierkegaard hervorgehoben wird. Eben diese starke Betonung der Subjektivität wird zentral für Hirschs Haltung in den 30er Jahren und in seiner Auseinandersetzung mit Tillich in den Jahren 1934-35. Im zweiten autobiographischen Entwurf, „Mein Weg in die Wissenschaft (1911-16)", beschreibt Hirsch seine Entscheidung, sein Leben dem Akademischen zu widmen statt der institutionellen Kirche, eine Entscheidung, die stark von seinem Mentor Karl Holl unterstützt wurde. Hirsch kam dazu, sein 15 16
Hirsch, Meine theologischen Anfänge, S. 4. Ibid.
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akademisches Leben als Gottesdienst zu verstehen.17 Nach dem erfolgreichen Abschluß seines kirchlichen Examens 1911 nahm er im Oktober 1912 eine Stelle als Stiftsinspektor in Göttingen an. Im Frühjahr 1914, nach seiner Promotion, akzeptierte er das Angebot der Bonner Fakultät für die gleiche Position am dortigen Seminar, wo er seine Studien für die Habilitation fortsetzte, und lehnte gleichzeitig ein Angebot für eine gutbezahlte Stellung als Hilfspfarrer in einer Berliner Kirche ab. Als Privatdozent in Bonn lernte Hirsch die Bedeutungen von Ethos und Vorsehung in dreierlei Hinsicht verstehen. Die sich daraus ergebenden Beobachtungen decken das Ausmaß auf, in dem er sich der Zweideutigkeiten der menschlichen Situation, der menschlichen Geschichte, der ethischen, religiösen und beruflichen Wahlmöglichkeiten des einzelnen bewußt wurde. Bei der Lektüre dieser Reflexionen von 1951 Uber die früheren Ereignisse bekommt man den deutlichen Eindruck, daß Hirsch implizit etwas sehr Bedeutsames über seine Entscheidungen im Jahre 1933 aussagt. Erstens, so sagt er, bemerkte er, daß es außerhalb der äußere Disziplin und Ordnung betreffenden Gesetze kein sittlich-religiöses Gesetz gibt, das in der Lage ist, einem klar zu sagen, was in unklaren Situationen richtig ist. Die Begegnung des Einzelbewußtseins mit Gott in solchen Situationen hat rätselhaften Charakter. Man kann nicht im voraus wissen, ob man in zweideutigen Situationen die richtige Entscheidung trifft oder nicht - ob man Gottes Willen versteht und ihn tatsächlich ausführt. Man entdeckt Gottes Willen erst im Eingehen von Risiken, erst im Rückblick, erst wenn die Würfel bereits gefallen sind. Selbst dann versteht man ihn nicht in irgendeinem endgültigen Sinn, sondern höchstens annäherungsweise in neuerlichem Wagen, im Durchdenken und Durchleiden der eigenen Entscheidungen.18 Im Kontext solcher Zweideutigkeit, solch unvollständigen Lebensverstehens, kam Hirsch zweitens zu der Überzeugung, daß man ein Gefühl der Begnadigung haben müsse, das stärker ist, als das der zielbewußten Selbstführung. „Dem gewöhnlichen Vorsehungsglauben pietistischer Frömmigkeit", so merkt er an, „bin ich schon als Student sehr ferne geworden. Statt 17 18
Hirsch, Mein Weg in die Wissenschaft, S. 3. Ibid.
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dessen ist in mir gewachsen das Erahnen einer Macht, welche durch ... die strengen Schickungen des Daseins den Willen zu dem mir Bestimmten in mir weckte und wachhielt oder richtiger ihn aus mir herauszwang, ihn spannte und probte, läuterte und begrenzte, ihn ohne durchreflektiertes Programm oder Ziel immer den nächsten gebotenen Schritt tun hieß." 19 Diese Sicht der Vorsehung, dieses Gefühl einer Macht, die der Ausdruck der eigenen Persönlichkeit und des eigenen Willens und in der Lage ist, einen vor Entscheidungen zu stellen, sogar gegen den eigenen Willen, diese Kraft, die das Schicksal und die Bestimmung eines jeden einzelnen ausmacht, ist zentral für Hirschs Denken und Erfahrung. Sie ist der Kern seiner Ansichten von Gesetz, Zwang und Verpflichtung, Begriffe, die in den 30er Jahren äußerst wichtig für ihn wurden. Drittens erkannte Hirsch während dieser frühen Jahre in Bonn, daß Luther Recht hatte mit seiner Einsicht, daß vor Gott alle Werke gleich sind und daß die Pflicht im Leben den Vorrang vor den Gefühlen persönlicher Selbsterfüllung haben muß. „Alles menschliche Tun, das besondere wie das alltägliche", sagt Hirsch, „hat sein ethisches Gepräge daran, daß es allein bei strenger Selbstbescheidung, bei Überordnung der sachlichen Aufgabe Uber das persönliche Verlangen recht vollbracht werden kann. Es mißrät, wenn seine größere oder geringere geschichtliche und geistige Bedeutung die Grundlage und Rechtfertigung letzten persönlichen Wertgefühls wird." 2 0 Was von Intellektuellen und Künstlern gefordert ist, ist Hingabe: Selbstvergessenheit. Obwohl diese Gedanken über die Jahre 1911-16, die Hirsch 1951 anstellte, sicherlich durch seine Erfahrungen von 1933 bis 1945 und später gefiltert sind, spielen sie eine große Rolle, spiegeln sie doch seine eigenen Vorstellungen darüber wider, wie die Einsichten jener frühen Jahre ihn auf die wichtigen Ereignisse und Entscheidungen in den 20er und 30er Jahren vorbereiteten. Hirsch kam zu der Überzeugung, daß sittliche Entscheidungen einen zweideutigen Charakter haben, daß es eine Vorsehung gibt, die das Schicksal bestimmt und einen dazu treibt, bestimmte Schritte zu tun, die nicht notwendig Teil eines gut durchdachten Programms sind, und endlich, daß das, was von 19 Ibid. 2 0
Ibid.
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uns verlangt wird, e i n starker Sinn für die Pflicht, für Verpflichtung und H i n g a b e i m Leben ist, die über persönliche Selbsterfüllung hinausgehen, ein Gefühl des tätigen Gehorsams g e g e n Gott, d e m verborgenen Grund unseres Lebens. D a s Charakteristischste
an H i r s c h s T h e o l o g i e
war jedoch
seine
einzigartige Kombination der Philosophie Fichtes mit der T h e o l o g i e Luthers. 2 1 D a s D e n k e n des deutschen Idealisten Johann Gottlieb Fichte ( 1 7 6 2 - 1 8 1 4 ) hatte einen tiefen und bleibenden Einfluß auf Hirsch. Ironischerweise war es Tillich g e w e s e n , der Hirsch als erster dazu brachte, Fichte zu studieren als Mittel zur L ö s u n g des e p i s t e m o l o g i s c h e n Problems, das die Kantsche Metaphysik aufwirft, b e s o n d e r s in B e z i e h u n g z u m G o t t e s b e g r i f f . 2 2 T i l l i c h , der sich m i t Fichtes D e n k e n erstmals ernsthaft an der Universität Halle befaßt hatte, hielt s e i n e A n t r i t t s v o r l e s u n g an der Universität Breslau über F i c h t e s Frei-
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Hans-Walter Schütte stellt richtig heraus, daß Hirschs Vorliebe für Fichte im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Hirsch und Tillich in den Jahren 1917-18 stand. Schütte stellt fest: „Der christliche Gehalt, der sich für E. Hirsch mit dem Namen Luthers verbindet und dessen Entfaltung einen erheblichen Teil seiner schriftstellerischen Arbeit ausmacht und ausmachen sollte, empfängt in der Fichteschen Philosophie seine gleichsam formelle begriffliche Klärung. Diese vielleicht überraschende Kombination von Luther und Fichte erweist sich für die Theologie Hirschs als überaus folgenreich" (Subjektivität und System, in: Hirsch Tillich Briefwechsel, S. 40). Das Ausmaß, in dem Fichtesches Denken tatsächlich Hirschs Lutherverständnis prägte, ist ein sehr komplexes Gebiet und muß Thema einer unabhängigen Untersuchung bleiben. Aber daß es eine sehr bedeutende Rolle in Hirschs Denken spielte, steht außer Frage. Ibid., S. 43. Vgl. auch Hirsch, Brief an Herrn Dr. Stapel, in: Christliche Freiheit und politische Bindung: Ein Brief an Herrn Dr. Stapel und Anderes. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1935, S. 46; auch in: Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. VI, hg. v. Renate Albrecht und René Trautmann. Frankfurt: Evangelisches Verlagswerk, 1983, S. 177-213. Nach Schjorring ist Hirschs Interpretation von Fichte entscheidend für Hirschs Denken als ganzes. Fichte wurde zum Vorbild für Hirsch, indem er seine philosophische Definition von Moral mit einer praktischen Betonung versah. „Hirsch sieht die Bedeutung Fichtes darin, daß dieser eine Religionsphilosophie geschaffen habe, die durch logische Stringenz, innere Geschlossenheit und Gültigkeit für alle Lebensbereiche bestimmt sei." Fichte überwand den letzten Rest von Dogmatismus in seiner Wissenschaftstheorie. Besonders wichtig für Hirsch war Fichtes Gottesverständnis in Beziehung zur Einzel- und Gesellschaftsmoral, daß sich „diese Sittlichkeit nicht nur in formalen Kategorien beschreiben läßt, sondern sich auch in der materialen Ethik niederschlägt" (Schjorring, Theologische Gewissensethik, S. 54f.; vgl. auch S. 55, Anm. 9). Trotz dieser positiven Wertung Fichtes blieb Hirsch kritisch gegenüber Fichtes Tendenz, von Gott und Persönlichkeit begrifflich abstrakt zu denken, Leben und Existenz nicht genügend dialektisch zu sehen und das Denken selbst nicht kritisch zu beurteilen.
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heitsbegriff. 2 3 Dennoch wurde er bald mehr von Friedrich W. J. Schelling (1773-1854) angezogen, von dem er dachte, daß er adäquatere Lösungen auf die von der idealistischen Tradition aufgeworfenen Fragen bot. Hirsch, den Rat seines Freundes Tiliich befolgend, widmete Fichte zwei Jahre intensiven Studiums. 1913 vollendete Hirsch seine Inauguraldissertation über Fichte, die 1914 in zwei Teilen veröffentlicht wurde. Ebenfalls 1914 vollendete er eine zweite Arbeit, seine Habilitationsschrift, über das Christentum und die Geschichte in Fichtes Philosophie. Sie wurde 1920 veröffentlicht. 24 Hirsch setzte sich weiterhin mit dem Fichteschen Denken auseinander, indem er versuchte, es mit dem Christentum zu verbinden. Dieses Ringen mit Fichteschen Kategorien, verbunden mit seinem späteren intensiven Studium von Luther und der Theologie der Reformation, bestimmten weitgehend die Richtung, in der sich Hirschs Denken ein Leben lang bewegte. 2 5 23
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Das Thema dieser Antrittsvorlesung lautete: „Die Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte", die Tillich das Recht gab, Philosophie zu lesen (vgl. Register, Bibliographie und Textgeschichte zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. XIV, hg.v. Renate Albrecht. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1957, S. 223; 2. Auflage Berlin: De Gruyter, 1990; Hinweise zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich erfolgen in der Form: GW, Band, Seite; Hinweise zu den Ergänzungs- und Nachlaßbänden zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich stehen in der Form: EGW, Band, Seite). Hirschs Dissertation wurde zuerst unter dem Titel: Die Religionsphilosophie Fichtes zur Zeit des Atheismusstreits in ihrem Zusammenhange mit der Wissenschaftslehre und Ethik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1914 veröffentlicht; eine zweite Publikation trug den Titel: Fichtes Religionsphilosophie im Rahmen der Gesamtentwicklung Fichtes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1914. Seine zweite Arbeit über Fichte erschien als: Christentum und Geschichte in Fichtes Philosophie, Tübingen: Mohr, 1920. 1926 veröffentlichte Hirsch ein Hauptwerk über die Beziehung des deutschen Idealismus zum Christentum: Die idealistische Philosophie und das Christentum. Gesammelte Aufsätze, Studien des apologetischen Seminars. Gütersloh: Bertelsmann, 1926. Ein Buch über verwandte Themen erschien 1930: Fichtes, Schleiermachers und Hegels Verhältnis zur Reformation. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1930. Hirsch wurde bekannt als Lutherforscher durch seine vielen Schriften über Luthers Theologie, Zusammenstellungen und Herausgaben von Luthers Werken, derer zu viele sind, um sie hier aufzulisten. Für eine ausführliche Liste von Hirschs Werken über Luther vgl.: Bibliographie E. Hirsch 1888-1972, hg.v. Hans-Walter Schütte. Berlin, SchleswigHolstein: Verlag Die Spur, 1972. Ein frühes bedeutendes Werk, das von Luthers Gottesbegriff handelt, ist Hirschs: Luthers Gottesanschauung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1918. Viele von Hirschs späteren Schriften erwachsen aus dieser frühen Studie und sind Versuche von Hirsch, Luthers Denken auf die zeitgenössische deutsche und europäische Situation anzuwenden; so z.B.: Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens. Ein Versuch zur Geschichte der Staats- und Gesellschaftsphilosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1921 (zit. als: Reich-
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Fichte, sagt er, half ihm beim „Durchbruch durch die Enge des theologischen Horizonts und durch die Dumpfheit der theologischen Begrifflichkeit." Durch Fichte gelangte er zu einer neuen Perspektive aller Fragen über das menschlich-geschichtliche Leben und zu einer Klarheit Uber die Ernsthaftigkeit und den Umfang der zeitgenössischen Krise, „in die das Verhältnis des Ethisch-Religiösen und des Menschlichen, des Christlichen und des Menschlichen geraten" war. 26 Er sah seine frühe Fichtearbeit, die er unabhängig von seinen Lehrern verfaßt hatte (einschließlich Karl Holl, der keine gute Meinung vom deutschen Idealismus hatte), als Teil der allgemeinen Vorkriegsstimmung der deutschen Jugend - eine Protesthaltung gegen westlichen Positivismus und eine Suche nach einer passenderen Grundlage für eine echt deutsche Menschheit und Kultur. 27 Fichtes Anziehungskraft auf ihn war auch verwurzelt in seiner Überzeugung, daß man keine tiefe Spiritualität allein auf der Basis von Kants Philosophie und Ethik entwickeln konnte. Fichte stellt Hirsch sein besonderes Verständnis von Subjektivität zur Verfügung, das eine stärkere Ausarbeitung in Hirschs späterer, extensiver KierkegaardInterpretation findet und das ihm auch die Möglichkeit bietet, in besonderer Art das Menschliche und das Christliche miteinander zu versöhnen. 28 Hirschs intensive Beschäftigung mit Luther, die seiner Auseinandersetzung mit Fichte folgte, hob ihn auf eine neue Stufe geistiger Entwicklung und gab seinem Gottesverständnis, seinem Verständnis der menschlichen Persönlichkeit, der Ethik und der Geschichte eine lutherische Prägung, die deutlich von der Tillichs unterschieden ist.
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Gottes-Begriffe) und: Schöpfung und Sünde in der natürlich-geschichtlichen Wirklichkeit des einzelnen Menschen. Versuch einer Grundlegung christlicher Lebensweisung. Beiträge zur systematischen Theologie, Bd. 1. Tübingen: Mohr, 1931. E n wichtiges Buch, um Hirschs Auseinandersetzung mit der frühen Theologie Luthers und der Reformation zu verstehen, ist: Die Theologie des Andreas Oslander und ihre geschichtlichen Voraussetzungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1919. Hirsch, Mein Weg in die Wissenschaft, S. 4. Vgl. Hirsch, Über mich selbst, zit. in: Schütte, Subjektivität und System, in: Hirsch Tillich Briefwechsel, S. 41. Hirsch wurde als Kierkegaard-Kenner bekannt, indem er Kierkegaards Werke interpretierte, edierte und übersetzte, was aufzuführen zu umfangreich wäre. Vgl. Schütte, Bibliographie E. Hirsch, S. 11-12.
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Ein biographisch-intellektuelles Portrait
Tillichs f r ü h e geistige F o r m u n g
Paul Johannes Tillich war das erste Kind von Johannes Oskar und Wilhelmine Mathilda Tillich. Er wurde am 20. August 1886 in Starzeddel geboren, einer kleinen Industriestadt in der Mark Brandenburg, heute Polen. W i e Hirsch wuchs Tillich in der religiösen Umgebung eines lutherischen Pfarrhauses auf, obwohl seine Eltern, wie er sagt, die „bevorzugte Klasse" repräsentierten.29 1890 zog seine Familie nach Schönfließ/Neumark, w o sein Vater, Pfarrer der Preußischen Landeskirche, Superintendent wurde. Die Stadt hatte 3000 Einwohner und eine mittelalterliche Festung; Tillich nimmt an, daß ihr gotischer Charakter seinen ,/omantischen" Neigungen sehr entgegenkam. Diese Romantik, meint er, brachte ein besonderes Verhältnis zu Geschichte und Natur mit sich, eine „vorwiegend ästhetisch-betrachtende Haltung [zur Natur], die sich von der wissenschaftlich-analytischen oder technisch-beherrschenden unterscheidet." 30 Er fügt hinzu, daß dies der Grund dafür ist, daß Schellings Philosophie später einen solch grundlegenden Einfluß auf ihn ausübte und er sich uneins mit der Ritschlschen Theologie und deren Verbündeten im amerikanischen Calvinismus und Puritanismus fand. Letztere hatten eine moralischere und technischere Haltung der Natur gegenüber als etwas zu Kontrollierendes, ohne Sinn für ein „mystisches Teilhaben an der Natur",
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Tillich sagt von der heimatlichen Umgebung der 'bevorzugten Klasse': „ D i e Zugehörigkeit zu der bevorzugten Klasse hat in dieser frühen Zeit das soziale Schuldbewußtsein erzeugt, das später für meine Arbeiten und mein Lebensschicksal so entscheidend werden sollte" (Auf der Grenze. Aus dem Lebens werk Paul Tillichs. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1962, S. 17). In dieser Autobiographie, die gerade ein Jahr nach seiner Debatte mit Hirsch geschrieben wurde, beschreibt Tillich, wie entschlossen er war, auf der Grenze zwischen „zwei Möglichkeiten der Existenz" (S. 13) zu stehen. Er beginnt mit einer Beschreibung seiner selbst als zwischen zwei Charakteren stehend: dem des westlichen Deutschland, repräsentiert durch seine rheinländische Mutter, charakterisiert durch „Lebensfreude, sinnliche Anschaulichkeit, Beweglichkeit, Rationalität und Demokratie", und dem des östlichen Deutschland, repräsentiert durch seinen Vater mit seiner „schwermütig spekulative[n] Veranlagung, gesteigerte[m] Pflicht- und Schuldbewußtsein" und starkem Autoritätsgefühl. Es war sein Vater, dessen Einfluß dominant war und mit dem er darum rang, die eigene Position zu entfalten (S. 13f.). Hier finden wir eine weitere Parallele zwischen dem jungen Hirsch und dem jungen Tillich - beide kämpften gegen streng autoritäre Väter in ihrem Versuch, ihre eigenen, unabhängigen geistigen und intellektuellen Persönlichkeiten zu entwickeln.
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Paul Tillich, Autobiographische Betrachtungen, in: G W XII, S. 59.
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ohne Verständnis für die Natur als „endlichefm] Ausdruck des unendlichen Grundes aller Dinge." 31 Eine der Wurzeln seiner Haltung Geschichte und Natur gegenüber sei die lutherische Betonung darauf gewesen, daß das „Endliche das Unendliche zu fassen vermag, und daß infolgedessen in Christus beide Naturen sich gegenseitig durchdringen." 32 Ein verwandter Aspekt in Tillichs früher Entwicklung war die Erfahrung des „Heiligen" in Natur und Geschichte, so daß die mystische Erfahrung der göttlichen Gegenwart zum Anfangspunkt seines Nachdenkens Uber Gott wurde, methodisch vor dem ethischen, logischen und systematischen Aspekt der Theologie, ein Faktor, von dem er sagt, er habe Friedrich Schleiermacher und Rudolf Otto seiner eigenen christlichen Mystik geistesverwandt
gemacht. 3 3 Die Beschäftigung mit der Relation des
„Menschlichen" und des „Göttlichen" und die Versöhnung dieser beiden Bereiche sollte sowohl für Tillich als auch für Hirsch im Vordergrund stehen und das Zentrum ihrer Differenzen bilden. Tillich jedoch sollte trotz seiner Bindung an die prophetische Tradition, die später in seinem Religiösen Sozialismus Gestalt annahm, sehr viel stärker eine mystische Richtung einschlagen bei seinem Versuch, den christlichen Gottesbegriff mit der Natur und der menschlichen Geschichte zu versöhnen. Hirsch dagegen sollte trotz seiner Betonung der Subjektivität und der innerlichen menschlichen Begegnung mit dem Mysterium Gottes sehr viel mehr Wert auf die personalethische Weise 31
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Ibid. Hier finden wir einen frühen Unterschied zwischen den Charakteren Tillichs und Hirschs. Tillichs Haltung der Geschichte und der Natur gegenüber war in der Tendenz mystischer als die Hirschs, dessen Neigungen personalistischer und ethischer waren. Diese Unterscheidung findet später Ausdruck in ihren unterschiedlichen GottesbegrifTen Tillich entwickelte eine eher mystisch-dialektische Idee und Hirsch eine mehr 'traditionell' theistische und personalethische Sicht. Ibid., S. 60. Tillich beschreibt hier nicht so sehr Luthers Theologie selbst, als vielmehr das, was er aus seiner Sicht als den Hauptunterschied zwischen kontinentaler reformiertcalvinisti scher Theologie und lutherischer Theologie auffaßt. Vgl. ibid., S. 61. In seiner Schellingdissertation von 1912 schreibt Tillich: „'Mystik' ist der religiöse Ausdruck für die unmittelbare Identität von Gott und Mensch" (Tillich, Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, in: GW I, S. 11 - 108, hier: S. 20). Die christliche Kirche habe immer für die Auflösung des Widerspruchs von „Identität" und „Gegensatz" zwischen Gott und Mensch gekämpft: „Mystik und Schuldbewußtsein, Gefühl der Einheit mit dem Absoluten und Bewußtsein des Gegensatzes zu Gott, Prinzip der Identität von absolutem und individuellem Geist und Erfahrung des Widerspruchs zwischen dem heiligen Heira und dem sündigen Geschöpf..." (S. 17).
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einer Überbrückung des Abgrundes zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen legen. Wenn „Romantik" einer der ersten Faktoren in der Formung Tillichs war, dann war die Erfahrung und Zurückweisung des „preußischen Autoritätssystems" fast ebenso wichtig. Konservativer lutherischer Autoritarismus und militant bürokratischer Zentralismus, so Tillich, charakterisierte jede Facette der preußischen Gesellschaft zu Ende des 19. Jahrhunderts: König und Kaiser an der Spitze, darunter das Militär, das Beamtentum, die öffentlichen Schulen und schließlich die Familie. Am unmittelbarsten traf Tillich diese Autorität zu Hause. Seine Eltern waren beide starke Persönlichkeiten. Sein Vater war „ein gewissenhafter, würdevoller, überzeugter und manchmal zorniger Vertreter des konservativen Luthertums." 34 Seine Mutter, die aus dem liberaleren und demokratischeren Rheinland stammte, war beeinflußt von der strengen Moral der reformierten Tradition. „Trotz liebevollster Fürsorge - oder gerade deswegen - fühlte ich mich aus diesem Grunde immer in meinem Denken und Handeln gehemmt. Jeder Versuch des Ausbruchs wurde durch das unvermeidlich folgende Schuldbewußtsein, hervorgerufen durch die Gleichsetzung elterlicher mit göttlicher Autorität, verhindert." 35 Tillichs Durchbruch zu einer autonomen Persönlichkeit kam hauptsächlich in den philosophischen Diskussionen mit seinem Vater zustande. „Dieser schwierige und schmerzhafte Durchbruch zur Autonomie hat mich gegen jedes System des Denkens oder Lebens, das Unterwerfung fordert, immun gemacht." 36 Dieser frühe Kampf gegen die Autorität bildet die Grundlage für seine spätere Zurückweisung der Prinzipien der Heteronomie einerseits und der selbstsicheren Autonomie andererseits zugunsten der Theonomie - einer Synthese und Aufhebung beider. 37 Zudem hilft er bei der Erklärung seines 34 35 36 37
Tillich, Autobiographische Betrachtungen, S. 62. Ibid., S. 63. Ibid. In einem Aufsatz von 1923 definiert Tillich Theonomie folgendermaßen: „Theonomie ist die Einheit von heiliger Form und heiligem Gehalt in einer konkreten Geschichtslage. Die Theonomie erhebt sich in gleicher Weise über die Fonnindifferenz der sakramentalen Geisteshaltung wie über die Gehaltsentleerung der formalen Autonomie. Sie erfüllt die autonomen Formen mit sakramentalem Gehalt. Sie schafft eine heilige und zugleich gerechte Wirklichkeit" (Tillich, Grundlinien des Sozialismus, in: GW II, S. 94).
Theologische Anfange und der Beginn einer Freundschaft
frühen Gefühls der Abneigung
gegen
den
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nationalsozialistischen
Totalitarismus und seiner leidenschaftlichen Ablehnung dessen, was er richtig oder falsch - für seines Freundes Hirsch Befangenheit in theologischer und politischer Heteronomie hielt. 38 Wichtig für unseren Vergleich der persönlichen und intellektuellen Ausformung dieser beiden Denker ist dieses Doppelmotiv in Tillichs früher Entwicklung: (1) seine „Romantik", die sich früh in seinem höchst mystischen Gottesverständnis und Verstehen der religiösen Erfahrung ausdrückt, im Gegensatz zu Hirschs mehr „individuell frommer" Gotteserfahrung; und (2) sein früher leidenschaftlicher Protest gegen alle Formen der Heteronomie, der mit dem Protest gegen seinen Vater begann und sich weiterhin ausdrückte in seinem philosophischen, theologischen und politischen Zurückweisen aller Formen einer heteronomen Autorität, im Gegensatz zu Hirschs viel größerem Gespür dafür, daß das Individuum es braucht, sich der Disziplin und den sittlichen Ansprüchen einer höheren Macht unterzuordnen und zu beugen. Nachdem Tillichs Familie 1900 nach Berlin gezogen war, wo sein Vater Superintendent, Pfarrer der Bethlehemgemeinde und Konsistorialrat - Mitglied des Brandenburgischen Konsistoriums, unter anderem verantwortlich für die Prüfung der Pfarramtskandidaten - geworden war, trat Tillich ins FriedrichWilhelm-Gymnasium ein, wo er 1904 das Abitur ablegte. Er nahm sein theologisches Studium auf und studierte in den Jahren 1904 bis 1909 an den Universitäten Berlin, Tübingen, Halle und wiederum Berlin. Von Januar bis Herbst 1909 war Tillich Assistent bei Pfarrer Ernst Klein in Lichtenrade nahe Berlin, wo er einen Großteil seiner Zeit mit dem Studium Schellings verbrachte. Dort besuchte Hirsch Tillich. 39 Tillichs Pfarrerausbildung lief parallel zu seiner
akademischen
Weiterbildung. Nachdem er im Frühjahr 1909 das erste kirchliche Examen bestanden hatte und ein Jahr am Seminar in Berlin verbracht hatte, war er für 38
39
Tillichs Beschuldigung, daß Hirsch eine heteronome Sicht Gottes und religiöser Erfahrung habe, taucht immer wieder auf, wie wir sehen werden. Hirsch seinerseits wies diesen Vorwurf zurück, wie aus einem unveröffentlichten Brief Hirschs an Walter Buff vom 3.8.1970 ersichtlich (von Walter Buff, Hannover, zur Verfügung gestellt) und ebenso aus Hirschs Brief an Tillich vom 22.5.1918 (Hirsch Tillich Briefwechsel, S. 32). Vgl. Pauck, Tillich. Leben, S. 44.
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ein Jahr Vikar in Nauen bei Berlin. Im Juni 1912 bestand er seine letzte kirchliche Prüfung und wurde zum Pfarrer der Evangelischen Kirche der Preußischen Union, Berlin, ordiniert. Von 1912 bis 1914 war er Hilfsprediger in einem Arbeiterviertel in Berlin. 4 0 In diesen Jahren schrieb und veröffentlichte Tillich zwei Dissertationen Uber Schelling, eine über Schellings religionsgeschichtliche Konstruktion (an der Universität Breslau im Jahr 1910) und die zweite Uber Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings Denken (an der Universität Halle im Jahr 1912). 41 1912 hatte Tillich sich dafür entschieden, Universitätsprofessor zu werden; während seiner Zeit als Aushilfsprediger nahm er in seiner Freizeit die Arbeiten an seiner Habilitationsschrift für die Universität Halle auf. Seine Habilitationsschrift handelte vom Begriff des Übernatürlichen vor Schleiermacher.42 Wie Hirsch war Tillich befaßt mit der Notwendigkeit einer Brücke zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, dem Geschichtlichen und dem Transzendenten, dem Philosophischen und dem Theologischen. Seine Liebe zur griechischen Sprache und Kultur erwachte in seinen Gymnasialjahren in Königsberg und Berlin und sollte sich zu einem lebenslangen Versuch wandeln, eine Synthese der humanistischen und christlichen Traditionen zu finden. Seine Studentenjahre in Halle 1905 bis 1907 waren besonders bedeutsam in seiner intellektuellen Entwicklung. Hier hörte er große Theologen und diskutierte mit ihnen. Hier lernte er, daß die protestantische Theologie nicht veraltet war, „sondern, ohne ihre christliche Grundlage aufzugeben, streng wissenschaftliche Methoden, kritische Philosophie, ein realistisches Verständnis des Menschen und der Gesellschaft, sowie kraftvolle ethische Prinzipien und
40
41
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Vgl. ibid., S. 47. Die Fülle dieses biographischen Materials verdanke ich Marion Paucks Biographie. Paul Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie. Ihre Voraussetzungen und Prinzipien. Breslau: Fleischmann, 1910. Paul Tillich, Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung. Gütersloh: Bertelsmann, 1912. Paul Tillich, Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher. 1. Teil: Königsberg/Neumark: Madrasch, 1915; 2. Teil: Unveröffenüichtes Manuskript. Theologische Habilitationsschrift Halle-Wittenberg. Vgl. Register und Bibliographie, GW XIV, S. 139.
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Motive enthalten" konnte. 4 3 Hier übte auch Kierkegaards „dialektische Psychologie", wie er sie nannte, ihren ersten Einfluß aus. An der Universität Halle traf Tillich den Lehrer, der einen grundlegenden Einfluß auf seine Interpretation Luthers und der Theologie der Reformation ausüben sollte, vergleichbar mit dem Einfluß von Holls Lutherverständnis auf Hirsch. Dieser Lehrer war Martin Kähler. Wenn, wie wir später sehen werden, die „Zwei-Reiche-Lehre" und die „Dichotomie von Gesetz und Evangelium" Hirschs Schlüssel zu Luthers Theologie werden sollten, so wurde die Einsicht in das „protestantische Prinzip" - die er Kähler verdankte zu Tillichs Schlüssel für die Theologie der Reformation. Das protestantische Prinzip sollte für Tillich den Protest gegen alle Formen der Heteronomie repräsentieren. Kähler half, Tillich dieses Prinzip zu vermitteln: „Die Kraft des protestantischen Prinzips wurde mir zum ersten Mal in den Übungen meines theologischen Lehrers, Martin Kähler, deutlich, eines Mannes, der in seiner Person und seiner Theologie die Tradition des Renaissance-Humanismus und der deutschen Klassik mit einem tiefen Verständnis der Reformation und mit starken Elementen der religiösen Erweckung in der Mitte des 19. Jahrhunderts vereintfe]." 44 Für Tillich wurzelte das protestantische Prinzip in der Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben. Auch hier folgt Tillich seinem Mentor Martin Kähler, der, wie er sagt, verantwortlich war für seine „Einsicht, daß das Prinzip der Rechtfertigung durch den Glauben sich nicht nur auf das religiös-moralische, sondern auch auf das religiös-intellektuelle Leben bezieht. Nicht nur der, der in der Sünde ist, sondern auch der, der im Zweifel ist, wird durch den Glauben gerechtfertigt."45 Darum befreit die Rechtfertigung sowohl von der religiös-moralischen als auch von der intellektuellen Heteronomie. Das protestantische Prinzip als von der Lehre der Rechtfertigung hergeleitetes ist 43 44
45
Tillich, Autobiographische Betrachtungen, S. 65. Tillich, Das protestantische Zeitalter. Einleitung, in: P. Tillich, Der Protestantismus. Prinzip und Wirklichkeit. Stuttgart: Steingrüben-Verlag, 1950, S. 13. Ibid., S. 15. Vgl. auch das von Tillich verfaßte Vorwort zur Übersetzung von Kählers „Der sogenannte historische Jesus und der historisch-biblische Christus": Tillich, Foreword, in: Martin Kähler, The So-Called Historical Jesus and the Historie Biblical Christ. Translated, edited and with an introduction by Carl E. Broaten. Philadelphia: Fortress Press, 1964, S. XI - XII.
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jedoch nicht nur die Zurückweisung der Heteronomie, sondern auch eine Ablehnung der „selbst-sicheren Autonomie" wie im profanen Humanismus. Es verlangt nach Theonomie, nach einer „selbsttranszendierenden Autonomie". 46 Diese frühe Begegnung mit der Theologie der Reformation unter der Anleitung Martin Kählers, verbunden mit Tillichs Schellingstudien, sollte Tillichs Denken in einer Art prägen, die vergleichbar ist mit dem Einfiuß der Fichteund Lutherstudien auf Hirschs Denken. 47
Zwei unterschiedliche theologische Naturen In diesem ersten Kapitel haben wir kurz die frühen Kindheitserfahrungen, die geistige Entwicklung und die theologische Ausbildung Tillichs und Hirschs zurückverfolgt. Wir haben den Beginn einer ungewöhnlich
engen
Freundschaft zwischen zwei Individuen beschrieben, die in bemerkenswert gleichartigem Boden wurzelten. Beide wuchsen in streng lutherischen Pfarrhäusern auf und kämpften um die Unabhängigkeit von strengen preußischen, autoritären elterlichen Personen, die dennoch andersartige Meinungen tolerierten. Jeder erbte von seinen Eltern eine tiefe Religiosität und ein Verlangen nach Theologie und Philosophie - Charakteristika, die die beiden Männer schließlich zueinander zogen. Beide widmeten ihren scharfsinnigen Verstand der Suche nach Antworten, die ihre lutherische Erziehung offengelassen hatte. Keiner war zufrieden mit den d o g m a t i s c h e n
46 47
Tillich, Das protestantische Prinzip, S. 17. Tillich selbst sagt, daß das, was er von Schelling lernte, bestimmend für seine philosophische und theologische Entwicklung wurde (vgl.: Perspektiven der protestantischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, EGW II) Nach Ansicht von Victor Nuovo „offenbaren" die beiden Schellingdissertationen, die Nuovo beide ins Englische Ubersetzte, „den ersten Eindruck der Methode und des Systems, das er nie wieder verließ, und seine prinzipiellen Themen, mit denen er während seiner ganzen Karriere befaßt war." Nuovo meint, daß „Tillichs Dissertationen die 'tiefe Struktur' seines Denkens offenlegen, die vergleichbar ist mit der 'Sprache', in der man von der Existenz 'spricht'" (Translator's Introduction, in: P. Tillich, The Construction of the History of Religions in Schelling's Positive Philosophy. Lewisburg: Bucknell University Press, 1974, S. 12; Übersetzungen aus nur in englischer Sprache vorliegenden Werken wurden von der Übersetzerin gefertigt und sind gekennzeichnet mit dem Zusatz: Übersetzung aus dem Original - Ü.a.d.O ).
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Formulierungen, die von der traditionellen evangelischen Frömmigkeit und der starren Orthodoxie geboten wurden. Für beide wurde die protestantischscholastische Orthodoxie vom Historismus und Skeptizismus liberaler Professoren in Berlin zerschlagen. Obwohl beide, Tillich und Hirsch, sich mit der Lösung der Probleme beschäftigten, die vom modernen kritischen Denken aufgeworfen worden waren, insbesondere durch die von Immanuel Kant aufgebrachte Frage nach dem Verhältnis
des
„Menschlich-Natürlichen"
zum
„Göttlich-
Übernatürlichen", entwickelten sich frühe Differenzen im theologischen Charakter bereits in diesen Jahren. Die zentrale Frage dieser Studie, die Tillich und Hirsch im Rückblick betrachtet, ist, warum diese beiden Freunde und theologischen Giganten mit so ähnlichen religiösen Hintergründen, Interessen und theologischen Ausbildungsgängen im Jahre 1933 so radikal verschiedene Wege gehen sollten. Diese ganze Untersuchung ist der Versuch einer Klärung dieser Frage. Natürlich gibt es nicht nur einen einzigen Schlüssel, der die Tür zu diesem Geheimnis öffnet. Wir werden feststellen, daß es eher ein Zusammenwirken von mehreren Faktoren ist, das ihre auseinanderstrebenden politisch-theologischen Schicksale bestimmte. Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, daß es ihre unterschiedlichen Antworten auf den Ersten Weltkrieg und seine Folgen waren, die ihren Bruch 1933-35 begründeten. Aber selbst diese Erklärung läßt eine Hauptfrage offen: Was in ihrer Vorkriegsentwicklung bereitete den Boden für ihre gegenläufigen Reaktionen auf den Krieg und die Ereignisse von 1918? Trotz der Gewichtigkeit wird eine rein sozio-politische Beschreibung nicht ausreichen, diese Unterschiede zu erklären. Eine psycho-historische Analyse allein, sei sie auch noch so wichtig, ist ebenso unangebracht. Hirsch ist kein psychologischer Selbstbetrachter. Wir wissen, daß er einer langen Linie von Bauern und Handwerkern entstammt, aber das scheint nicht allzu sehr auf seinem Lebensweg zu zählen - zumindest für Hirsch selbst. Wir erfahren auch, daß er von zu Hause eine tiefe innere Frömmigkeit erbte und einen unabhängigen Geist, der ihm bis zu seinem Lebensende blieb. Außerdem wissen wir, daß er den Widerstand seines strengen Vaters gegen das Studium bei liberalen Professoren in Berlin überwinden
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mußte. Wir werden sehen, daß seine Gesundheitsprobleme, die ihn untauglich für den Kampf im Ersten Weltkrieg machten, seine patriotischen Gefühle zu verstärken schienen. Die Bedeutung dieser sozio-psychologischen Faktoren bei der Ausformung seines theologischen und politischen Charakters können nicht geleugnet werden. Tillich, weit eher ein autobiographischer Denker als Hirsch, neigt sehr viel mehr zum Nachdenken über den Einfluß seines „bevorzugten" Status und der „romantischen" Umgebung seiner frühen Kindheit, sowie seines Kampfes um Autonomie von seinem autoritären Vater bei der Formung seiner persönlichen Veranlagung, seiner zukünftigen Theologie und seiner politischen Entscheidungen. Tatsächlich erhält man bei Tillich den deutlichen Eindruck, daß er gelegentlich in dieser Art psychologischer SelbstprUfung geradezu schwelgt und psychologischen Faktoren bei der Formung seiner Theologie und politischen Meinung zu viel Glauben schenkt. Obwohl ihr Erbe, ihr sozio-ökonomischer Status und ihre verschiedenen frühen psychologischen Umgebungen ganz klar eine Rolle spielten, bilden sie meiner Meinung nach nicht den letzten Schlüssel für die Erklärung der unterschiedlichen Wege, die Tillich und Hirsch gingen. Entscheidend war die Ausformung der unterschiedlichen theologischen und philosophischen Charaktere. Tillich und Hirsch unterlagen dem Einfluß unterschiedlicher Lehrer und trafen einige wichtige
theologische
Entscheidungen in den Vorkriegsjahren, aufgrund derer sie sich in unterschiedliche Richtungen zu bewegen begannen. Hirschs Studien in Berlin hatten den Effekt der Unterminierung der traditionellen objektiven Stützen des Glaubens zugunsten einer inneren Gewißheit und der Wichtigkeit der Subjektivität. Er kam zu der Überzeugung, daß er an einem unabhängigen Kurs jenseits des Liberalismus des Kulturprotestantismus einerseits und der Starrheit der lutherischen Orthodoxie andererseits würde festhalten müssen. An diesem Punkt wurde der Einfluß von Karl Holl wichtig, indem er ihm den Anstoß zu einer neuen Synthese gab, in der eine existentialistische Interpretation von Jesus, Paulus und Luther entscheidend war. Sein Studium des deutschen Idealismus durch die Augen von Fichte und Kierkegaard, verbunden mit seinem geradezu gierigen Aufnehmen von Luther, sollte sein ureigenstes Amalgam von innerer Frömmigkeit und seiner Vorstellung von
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moralischer Verpflichtung seinem Land gegenüber für immer prägen. Während der frühen Jahre als Lektor in Berlin wurde er mehr und mehr von den Zweideutigkeiten der menschlichen Situation und aller handlungsethischen Entscheidungen Uberzeugt. Er entwickelte eine Sicht der Vorsehung, in der der göttliche Wille im Leben eines Menschen nicht im Sinn von klaren absoluten ethischen Normen, sondern als Risiko betrachtet werden muß. Hirsch meinte, durch Wagnis in unklaren Situationen verleihe man seiner Ergebenheit an den verborgenen Herrn der Geschichte Ausdruck. Von Anfang an war Tillich mehr zu einer mystischen Sicht des Göttlichen in seinem Verhältnis zu Geschichte und Natur hingezogen. Für ihn wurde das Einwohnen der zwei Naturen in Christus beispielhaft für die dialektische Beziehung von Endlichem und Unendlichem, dem Endlichen im Unendlichen und dem Unendlichen im Endlichen. Dieser mystische Anfang sollte seine Theologie bestimmen wie auch seine politische Ethik, in der er wie besessen war vom Kampf gegen jede Form der nicht-dialektischen Heteronomie und des Totalitarismus. Seine geistige Entwicklung und dialektische Theologie wurden dauerhaft geprägt von seinen Studien an der Universität Halle, dem traditionellen Sitz des deutschen Pietismus, wo er in den Bann Martin Kählers geriet. Von Kahler ererbte er einige seiner grundlegenden theologischen Begriffe, besonders sein Verständnis der Rechtfertigung und des protestantischen Prinzips. Seine Ausbildung an der Universität Halle, der Einfluß von Martin Kähler und seine intensive Arbeit an der mystischen Theologie Schellings formten einen theologischen Charakter und einen Begriff von Gott und menschlicher Geschichte, der ihn mehr und mehr vom Denken und Charakter seines Freundes und zukünftigen Gegners Emanuel Hirsch unterscheiden sollte. Was könnte die unterschiedlichen Schicksale dieser beiden Denker erklären? Man könnte vermutlich diese zwei Persönlichkeiten einfach als in einem Netz historischer, sozio-psychologischer Umstände gefangen sehen, das ihren auseinanderstrebenden Naturen Ausdruck gab und aus dem einen einen Religiösen Sozialisten, aus dem anderen einen religiösen Nationalisten machte. Obwohl unzweifelhaft einige Wahrheit in dieser Sicht liegt, wird sie weder den Selbstwahrnehmungen der beiden gerecht, noch reflektiert sie angemessen die
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Freiheit, mit der sie 1933 ihre Entscheidungen trafen, noch die Verantwortung, die sie persönlich_für diese Entscheidungen Ubernahmen. Was entscheidend ist, und das ist die These dieser Studie, ist die frühe theologisch-philosophische Ausbildung Hirschs und Tillichs, die, getestet und erprobt, bestätigt und modifiziert von ihren Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, zusammen mit ihren frei gewählten Wegen, die Hauptrolle beim Abstecken der Richtungen spielte, die ihre Leben einschlagen sollten.
2 Theologischer, politischer und persönlicher Scheideweg 1914 - 1933
Bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg waren persönliche Differenzen zwischen Paul Tillich und Emanuel Hirsch offensichtlich. Es war jedoch der Krieg und ihre unterschiedlichen Reaktionen auf den Krieg, die beide in ihrer Person wie auch ihrem Verhältnis zueinander veränderten. Beide meldeten sich bei Ausbruch des Krieges voller Begeisterung freiwillig zum Militärdienst. Hirsch wurde aus Gesundheitsgründen zurückgewiesen und mußte den tragischen Verlauf des Krieges als Pfarrer und Lehrer beobachten. Tillich wurde Militärpfarrer an der Westfront und machte vor Ort die Erfahrung der Unzulänglichkeit traditioneller theologischer Kategorien angesichts von sinnlosem Leiden und Tod. Wie diese Kriegserfahrungen ihrer jeweiligen Theologie Form gaben und wie dies wiederum schicksalhafte Konsequenzen für ihr zukünftiges Leben hatte - ihre intellektuelle Entwicklung und ihre politischen Entscheidungen - gibt uns einen Schlüssel zum Verständnis ihrer gegensätzlichen Positionen in der Debatte von 1934-35.
Hirsch entwickelt ein national-politisches Bewußtsein Die Zeit von 1914 bis 1921 war eine Zeit der Veränderung sowohl für Tillich als auch für Hirsch. Tillichs Erfahrung der Kriegsschrecken als
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Militärpfarrer machten ihn zum klassenbewußten Sozialisten. 1 Hirschs Erfahrungen als Lehrer in Bonn, als Pfarrer in Süddeutschland, als Patient, der gegen Blindheit kämpfte, und als jemand, der zum akademischen Leben in Bonn zurückgekehrt war, halfen mit, sein Nationalbewußtsein und seine Antipathie gegen den Sozialismus zu stärken.2 Er verschrieb sich zunehmend der Erneuerung des Nationalstolzes und einer „politischen Theologie", die ihre Aufgabe und Verantwortung im Herzen der Nation ernst nahm. Es ist daher kein Zufall, daß Hirsch seinen dritten autobiographischen Aufsatz „Meine Wendejahre (1916-21)" 3 nannte. Während seiner beiden Jahre des Studiums und des Lehrens in Bonn 1914-16 nahm der Hauptumriß dessen, was seine lebenslangen akademischen Interessensgebiete sein sollten, Gestalt an: der deutsche Idealismus und die Geschichte des europäischen und deutschen theologischen und philosophischen Denkens, Reformationstheologie, Religions-, Geschichts- und Staats-
Nach Marion Pauck wurde Tillich durch den Krieg „völlig verändert. ... Diese Jahre", sagt sie, „bilden den Wendepunkt in Paul Tillichs Leben - den ersten, letzten und einzigen (Tillich. Leben, S. 53f.). Daß dies der einzige Wendepunkt in Tillichs akademischer Karriere war, ist bestreitbar. Es gibt Argumente dafür, daß Tillichs Konzentration auf psychologische und ontologische Themen in seiner nordamerikanischen Schaffensperiode eine Hauptveränderung gegenüber seiner früheren Konzentration auf sozial- und politischethische Themen während seiner deutschen Periode darstellt. Stumme argumentiert so in seiner Einleitung zur englischen Übersetzung von Tillichs "Die sozialistische Entscheidung" (Introduction, in: P. Tillich, The Socialist Decision, transi, by Franklin Sherman, New York: Harper & Row, S. IX). Obwohl eine solche Veränderung offensichtlich ist, sollte nicht übersehen werden, daß Tillichs psychologisches und ontologisches Interesse bereits in seinen frühesten Schriften auftaucht, und es gibt starke Anhaltspunkte für die Durchgängigkeit seines Denkens sowohl bezüglich psychologischontologischer als auch politisch-ethischer Probleme. Nach Walter Buff mochte Hirsch den Begriff 'Nationalismus' nicht, um seine Ansicht zu beschreiben, weil er ihn als Charakterisierung einer unheiligen Vaterlandsliebe und als eine Verabsolutierung der eigenen Nation und des eigenen Staates ansah. Er zog es vor, von Vaterlandsliebe, Nationalbewußtsein und Nationalgefühl zu reden (vgl. Buff an Reimer, 20.9.1979). Hirsch beschreibt im Rückblick diese Jahre mit den Worten: „Mein Leben war in schmalen stillen Gleisen gelaufen, rein in der Richtung auf Geist und Innerlichkeit zu. Sollte ich ein rechter theologischer Lehrer werden, der in den heraufziehenden Zeiten der Not und Krise des Volkes seinen Mann stand, so war hier etwas nachzuholen. Die Lenkung griff ein und warf mein persönliches Leben in eine Reihe von Wenden und Krisen hinein, in denen mein wesentlicher Wille gleichsam kunstgerecht erprobt, klargestellt und zurechtgehämmert wurde" (Meine Wendejahre, S. 3-4). Bei meinen Studien habe ich keinen besonderen Hinweis von Hirsch auf sein eigenes Werk als 'politische' Theologie gefunden. Dennoch ist es - wie wir sehen werden - durchaus zu rechtfertigen, Hirschs Theologie in dieser Weise zu umschreiben.
Theologischer, politischer und persönlicher Scheideweg
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philosophie, sowie Kirchengeschichte - besonders die Geschichte des frühen Christentums und Studien zum historischen Jesus. 4 Obwohl, wie er sagt, seine natürliche Neigung in Richtung Systematische Theologie ging, entschied er sich für Kirchengeschichte, weil eine Habilitation in Systematik in Bonn nicht möglich war. Einige Semester lang war er der einzige Lehrer im Bereich Kirchengeschichte, eine Last, die er als andere Form von Militärdienst ansah. 5 1916 gab Hirsch seine Position an der Bonner Fakultät auf und wurde Pfarrer an der Kirche in Schopfheim im Schwarzwald, w o er sich zwischen Februar und Oktober 1917 in eine Reihe pfarramtlicher und administrativer Aufgaben stürzte, die von einer ernsten Augenkrankheit beeinträchtigt wurden. 6 Seine Arbeit als Pfarrer machte ihn nachdenklicher und ließ ihn einen unabhängigen theologischen Standpunkt entwickeln, der von immer größerer
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Bei seinem Kirchengeschichtsstudium interessierte sich Hirsch hauptsächlich für die wichtige Rolle, die große historische Persönlichkeiten im Verlauf der Geschichte spielten. Die wichtigste dieser Personen war natürlich Jesus selbst, und Hirsch war fasziniert vom historischen Menschen Jesus, seinen Versuchungen, seiner Gott-Verlassenheit und der Beziehung zwischen Glaube und Geschichte, die dies zur Folge hatte. Er kam zu der Überzeugung, daß ein ,,wesentliche[r] Gegensatz zwischen Jesus und der alttestamentlichjüdischen Religion und Frömmigkeit" bestehe. Seine besondere Sicht des historischen Menschen Jesus, sagt er, sollte ihn dazu bestimmen, einen einsamen Weg durch die kommende Zeit der Dialektischen Theologie zu gehen (Hirsch, Mein Weg in die Wissenschaft, S. 4). Seine zahlreichen Schriften, die dieses Thema berühren, beinhalten: Studien zum vierten Evangelium. Text, Literarkritik, Entstehungsgeschichte. Beiträge zur historischen Theologie. Tübingen: Mohr, 1936; Das vierte Evangelium in seiner ursprünglichen Gestalt verdeutscht und erklärt. Tübingen: Mohr, 1936; Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums. Tübingen: Mohr, 1936; Die Auferstehungsgeschichten und der christliche Glaube. Tübingen: Mohr, 1940; Frühgeschichte des Evangeliums. Erstes Buch: Das Werden des Markusevangeliums. Tübingen: Mohr, 1941. Zweites Buch: Die Vorlagen des Lukas und das Sondergut des Matthäus. Tübingen: Mohr, 1941; Betrachtungen zu Wort und Geschichte Jesu. Berlin, 1969. Hirsch beschreibt seine Lehrtätigkeit in Bonn zwischen 1914 und 1916 folgendermaßen: „Diese Arbeit war bis etwa Spätherbst 1916 mein Kriegsdienst, und er gab mir den Freunden draußen und den bald nicht fehlenden kriegsversehrten Studenten gegenüber das Gefühl der Ehre und Verbundenheit zurück, das mir meine Untauglichkeit zum Kriegsdienst (ich war ein überkurzsichtiger, schwächlicher Mensch, der nur ganz wenige Pfund über hundert wog, und Heben und Tragen war mir ärztlich verboten) zu nehmen drohte" (Mein Weg in die Wissenschaft, S. 4). Im Winter 1917-18 mußte Hirsch seine kirchliche Arbeit wegen einer Augenkrankheit aufgeben, die trotz einer Operation Blindheit auf dem linken Auge zur Folge hatte. Im August 1919 entwickelte sich die gleiche Krankheit auf dem rechten Auge. Durch fortschrittliche medizinische Behandlung wurde das Auge gerettet, und so blieben ihm weitere 25 Jahre, in denen sein Augenlicht teilweise erhalten blieb. 1946 erblindete er vollends. Dieser Kampf gegen die Erblindung trug zu seiner in gewisser Weise 'tragischen' Sicht des Lebens bei.
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Einfachheit und Innerlichkeit geprägt war. 7 Die folgenden Jahre waren schwierig: die Augenkrankheit machte ihn teilweise blind, er und seine junge Braut 8 befanden sich in finanziellen Schwierigkeiten, und er erfuhr einige Zurückweisungen durch deutsche theologische Fakultäten und die Kirche. 9 Hirsch schien nicht in die traditionellen kirchlichen Schulen hineinzupassen. Die Haltung der deutschen theologischen Fakultäten Hirsch gegenüber scheint teilweise begründet durch die „Gerüchte Uber meine Gefährdung und auch über meine zu keiner theologischen und kirchlichen Richtung passende Querheit", sagt Hirsch. 10 Seine Stunde kam 1921, als ihm endlich die Stellung eines Professors für Kirchengeschichte in Göttingen angeboten wurde, trotz starken Widerstandes seitens der Mehrheit der Fakultät. Etwa zur gleichen Zeit wurde ihm die anspruchsvolle, aber auch angesehene Schriftleitung der „Theologischen Literaturzeitung" übertragen, eine akademische Zeitschrift, die von Adolf von Harnack begründet und ursprünglich herausgegeben worden war. 1 1 Hirschs schwierige persönliche und berufliche Erfahrungen während des Krieges und unmittelbar danach nährten in ihm das Selbstverständnis einer inneren Identität und Konformität mit dem national-deutschen Schicksal und führten ihn vor das, was er die entscheidende Frage für sich selbst während
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Hirsch sagt von seiner Erfahrung als Pfarrer: „So wurde Theologie zu Meditation und Reflexion zur Gebärerin der Worte, auf deren schwanker zerbrechlicher Brücke das Geheimnis des Göttlichen zum Nächsten ging. Orthodoxer ist meine Theologie bei dieser Umschichtung wahrlich nicht geworden. Es war eher eine Vereinfachung und Verinnerlichung, bei welcher die Ferne zur Begrifflichkeit der Amtsgenossen, die Fremdheit zu dem, was ich theologische Schnurrpfeifereien nannte, noch stieg" (Meine Wendejahre, S. 4). Hirsch heiratete im November 1918. Aus irgendeinem Grund lehnte seine Heimatkirche seine Bewerbung als Pfarrer ab. Darüber hinaus wurden ihm wahrend eines Zeitraumes von eineinhalb Jahren von fünf deutschen theologischen Fakultäten Anstellungen in Aussicht gestellt, schließlich wurden ihm jedoch immer andere Bewerber vorgezogen. Meine Wendejahre, S. 4. Dazu Hirsch selbst: „Dann setzte sie [die Göttinger Fakultät] mich zu Herbst 1921 (gegen den Willen der Fakultätsmehrheit und mit dem Separatvotum des greisen N. Bonwetsch, eines streng orthodoxen Lutheraners) in das Göttinger kirchengeschichtliche Ordinariat und warf mir zum Uberfluß gleich noch die Schriftleitung der von Hamack und Schürer gegründeten 'Theologischen Literaturzeitung' zu, welche durch die Inflation in Seenot geraten war und eines das Segeln gegen den Wind nicht scheuenden jungen Steuermanns bedurfte" (ibid.).
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der Wendejahre nannte: Er lernte das „Nichtsein" und den „Abgrund des Deus absconditus [die Abwesenheit Gottes]" erfahren. Philosophisch hatte er einige Zeit Gott betrachtet als „die das Denken verzehrende Grenze, der gegenüber die wissenschaftliche Gravität der philosophisch-dogmatischen Gotteslehre etwas Grotesk-Komisches hatte." 12 Aus religiöser Sicht erkannte er die Notwendigkeit, sein eigenes Leben und Wollen dem „rätselhaft Verborgenen" anheim zu geben. „In seiner Tiefe", fügt er an, „ist das Gottesverhältnis nicht bloß gedachte, sondern gelebte Antinomie (Widersprüchlichkeit)."13 Erst in der Begegnung mit diesem Mysterium des verborgenen Gottes und im gehorsamen, nicht etwa verzweifelten Folgen des Rufes zu Dienst und Arbeit wird aus einem Theologen ein Mann. Hirschs theologische und philosophische Vorkriegsentwicklung war, wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben, geprägt worden durch sein Studium des deutschen Idealismus, besonders in seiner Fichteschen Ausprägung. Dieser zweite Lebensabschnitt (1914-1933) war in erster Linie durch sein Erleben der politischen Ereignisse und seine Lutherstudien bestimmt. Es wäre ungerecht, seine geistige Entwicklung besonders seine Lutherinterpretation - einzig als Produkt seines Versuches anzusehen, einen Sinn in den sozialpolitischen Ereignissen zu finden, die ganz Deutschland in diesen Jahren Uberfluteten. Dennoch ist klar, daß Hirsch sich zum Zwecke der eigenen theologischen und politischen Orientierung während dieser Zeit der nationalen Krise Luthers Theologie zuwandte. Sozio-politische Erfahrungen und geistig-theologische Entwicklung beeinfiußten sich gegenseitig in einem dynamischen, dialektischen Prozeß. Da eine sorgfältigere Analyse von Hirschs politischen Ansichten und seiner Verwendung von Luthers Theologie Gegenstand eines späteren Kapitels sein wird, schneiden wir hier nur einige der Themen an, die für Hirschs geistige und persönliche Entwicklung von zentraler Bedeutung sind. Stark beeinflußt von seinem Mentor Karl Holl kam Hirsch zu der Überzeugung, daß Luthers Theologie - besonders Luthers Sicht der Beziehung zwischen Gesetz und Evangelium, sein Gottesbegriff und seine Rechtfertigungslehre sowie sein
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Ibid. Ibid.
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Verständnis der zwei Reiche - große Bedeutung für Deutschlands sozialpolitische Probleme während des Krieges und in der Nachkriegszeit hatte. Hirsch war vor allem interessiert ein der sittlichen Bedeutung dieser theologischen Lehren. Er war beeindruckt von der paradoxen Natur des lutherischen Gottesbegriffs, bei dem Gericht Gottes und Gnade, Zorn und Vergebung, Verborgensein und Offenbarsein immer Hand in Hand gingen. Dies bestimmte in paradoxer Weise sowohl die menschliche Freiheit als auch die menschliche Knechtschaft, Vergebung und Verwerfung. Jens Holger Schjorring formuliert: „Dies bedeutet weiter, daß die ethische Haltung, das Sittlichkeitsprinzip, das dem Leben des Christen in der Freiheit entspringen sollte, all den Versionen mißverstandener christlicher Ethik widerspricht, die Hirsch (und mit ihm Holl!) in den Jahren 1917-18 Uberall verbreitet sah: dem asketischen Pazifismus Leo Tolstois, der religiös-sozialen Ethik des Schweizers Leonhard Ragaz, dem Utopismus der Sozialdemokratie (der in den Augen Hirschs verkappter Egoismus und offenbare Gottlosigkeit war), oder auch der englischen Nützlichkeitsmoral, die nur notdürftig weltimperialistische Ambitionen verdecken sollte und als Legitimation z.B. für die Hungerblockade gegen Deutschland diente." 14 Hirsch hielt eisern daran fest, daß in Treue zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre das weltliche Reich und das Reich Gottes - die sichtbare Gemeinschaft der Gesellschaft und Politik und die unsichtbare Gemeinschaft der Liebe und universalen Brüderlichkeit - klar unterschieden werden müssen. Und dennoch lehnte er die totale Trennung und Isolierung der beiden Reiche ab. Sein Studium Fichtes und des deutschen Idealismus hatte ihn vom dialektischen Verhältnis zwischen dem Reich des Geistes (absoluter Idealität) und dem Reich der menschlichen Geschichte, in dem menschliches Handeln sich aktualisiert, überzeugt. 15 Wie diese beiden Bereiche zu unterscheiden und dennoch zu verbinden sind, erwies sich als eines der zentralen Probleme für Hirsch. Hirsch löste das Problem der Verbindung beider Bereiche durch sein Verständnis des menschlichen Gewissens - ein Begriff, der zum Dreh- und
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Schjomng, Theologische Gewissensethik, S. 60. Ibid., S. 71.
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Angelpunkt für seine Sicht der menschlichen Persönlichkeit, sowohl der menschlichen Geistigkeit als auch des menschlichen Handelns, wurde. Er kam zu der Überzeugung, daß das Einzelgewissen der Punkt sei, in dem sich das Verhältnis des einzelnen zu Gott mit dem Verhältnis des einzelnen zur Welt schneidet. Wie Schjorring es ausdrückt: „Der Glaube im reformatorischen Sinne läßt sich nach Hirsch deshalb nicht auf einen passiven forensischen Akt reduzieren, er ist vielmehr als eine Tat zu verstehen, die die Persönlichkeit dynamisch macht, den Willen zur Festigkeit formt, eine neue Gesinnung bildet." 1 6 Dennoch wäre es ungenau, Hirschs Lösung des Problems einer Verbindung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Bereich ausschließlich als eine individualistische zu sehen. Hirsch sah Gottes Souveränität nicht nur in Geltung Uber das individuelle Gewissen, sondern auch Uber die Nation und die Geschichte als ganze sich ausbreitend. Zentral in seiner Sicht der Geschichte, wie er sie in jenen Jahren entwickelte, war der Gedanke der verborgenen Souveränität Gottes - Gott als der souveräne Herr der Geschichte, als ihr „unergründlicher, lebendiger Wille", als „die unsichtbare, geheimnisvolle Triebkraft in der Geschichte" - ein Gedanke, den er gern als den „theistischen Charakter seiner Geschichtsauffassung" betrachtete.17 Wie wir in einem späteren Kapitel eingehender untersuchen werden, entwickelte Hirsch auf der Grundlage seiner einzigartigen Verbindung von deutschem Idealismus und lutherischer Theologie eine „konservative" politische Ethik, die sich der nationalen Erneuerung verschrieb. Er stand der Novemberrevolution von 1918, allen Formen der sozialen und parlamentarischen Demokratie und dem internationalen Pazifismus extrem kritisch gegenüber. Für ihn spielte der Pazifismus nur dem britischen Imperialismus in die Hände. Er verteidigte eine spezifisch deutsche Sicht des autoritären Staates. Es war eine Staatstheorie, die sich deutlich unterschied von der britisch-calvinistischen Tradition (die, wie er sie sah, von einer utilitaristischen Moral im Dienst des Weltimperialismus gekennzeichnet war) und von der französisch-sozialistischen Tradition (charakterisiert durch ihre utopische Vision der universalen
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Ibid., S. 60. Ibid., S. 66 und 72-73.
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Brüderschaft und eines säkularen Gottesreiches). Für Hirsch stimmte ein solcher autoritärer deutscher Staat völlig überein mit Luthers Ansichten über die zwei Reiche und die legitime, von Gott verfügte Autorität der Regierung. 18 Während des Krieges und direkt danach schrieb und veröffentlichte Hirsch eine beeindruckende Zahl theologisch-politischer Abhandlungen, die diesen Fragen gewidmet waren, Arbeiten, in denen er versuchte, die soziale und politische Wirklichkeit in Europa und Deutschland emsthaft anzugehen. 1 9 Die wichtigste dieser politisch orientierten Schriften war zweifellos sein Buch: „Deutschlands Schicksal", zum ersten Mal 1920 veröffentlicht, von dem er sagt: „Es war ein kleines Wagestück, diese Vorlesungen im Sommer 1920 zu halten und dann gleich in die Druckerei zu schicken." 2 0 Da er die deutsche Nation und das Ethos bedroht sah von einer fremden, angelsächsischen Sicht des Staats, eines Staates, der jeglichen sittlich-religiösen Inhalts entleert war, fühlte sich Hirsch dazu berufen, eine Theorie des Nationalstaates, einzig auf Deutschland passend, zu verteidigen, eines Staates, in dem das „nationale Lebensgefühl" und das „Humane", das „Humane" und das „Christliche" auf
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Ibid., S. 63-79. Zu diesen Schriften gehören: Unsere Frage an Gott, in: Evangelische Wahrheit 5, 22 (1914), S. 370-372; Volksernährong und Biergenuß, in: Wingolfsblätter 1916; Demokratie und Christentum, in: Der Geisteskampf der Gegenwart 54, 3 (1918), S. 5460; Ein christliches Volk, in: Der Geisteskampf der Gegenwart 54, 7 (1918), S. 163166; Rauschgeist und Glaubensgeist, in: Der Geisteskampf der Gegenwart 55, 2 (1919), S. 40-42; Was die Liebe tut, in: Der Geisteskampf der Gegenwart 55, 10 (1919), S. 192193; Nation, Staat und Christentum, 30 Thesen, in: Mitteilungen zur Förderung einer deutschen christlichen Studentenbewegung 6 (1923), S. 82-84; Zum Problem der Ethik, in: Zwischen den Zeiten 3 (1923), S. 52-57; Zur Grundlegung der Ethik. Eine Auseinandersetzung mit Albert Schweitzer, in: Die Tat 16,4 (1924), S. 249-260. Meine Wendejahre, S. 5. Hirsch sah, daß dieses Wagnis über die traditionellen akademischen Betätigungsfelder hinaus auf soziales und politisches Gebiet für einen Theologen nicht ohne Risiko war. Er wurde jedoch von innerem Mut getrieben: „Meine schon einige Jahre bestehende Vorstellung, daß ich als Nichtsoldat neben meiner eigenen Arbeit her die eines Gefallenen mittun müsse, hatte sich in den langen Monaten des Dunkels zu einem Entschluß verdichtet. Falls ich Licht zur Arbeit wieder empfange, solle es nicht bloß theologischem Forschen und Lehren im engeren Sinne dienen, sondern (ohne jede Verkürzung solchen Dienstes) auch noch dazu, meinem Volke in der es mit innerer Auflösung bedrohenden geistigen Krise durch helfendes Denken den Weg zu finden" (ibid.). Das Buch, auf das Bezug genommen ist, heißt: Deutschlands Schicksal. Staat, Volk und Menschheit im Lichte einer ethischen Geschichtsansicht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1920. Die dritte Auflage, die hier benutzt wird, erschien 1925 (zit. als: Deutschlands Schicksal).
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eine spezifisch deutsche Art zusammengehalten wurden. 21 Dieses kontroverse Buch wurde von nationalen Gruppen der Nachkriegszeit, wie den jungnationalen Lutheranern, die sich leidenschaftlich der nationalen Erneuerung verschrieben hatten, überschwenglich begrüßt. 22 Das Buch verhalf Hirsch zu einer festen Anstellung an der Universität Göttingen, eine Stelle, die er von 1921 bis zu seiner Pensionierung 1945 innehatte. ,.Deutschlands Schicksal" sollte der Vorgänger zu Hirschs Vorlesungen von 1933-34 und dem Buch: „Die gegenwärtige geistige Lage" werden, das er als Ausarbeitung seines früheren Buches ansah und das im Ergebnis die Hirsch-Tillich-Debatte auslöste. 23 Seit jener Zeit bis zu seinem Tode 1972 steuerte Hirsch einen unabhängigen Kurs, der nicht unmittelbar in die Begrifflichkeit einer theologischen Bewegung oder kirchlichen Partei einzuordnen ist. Sein ganzes Leben lang war er eine umstrittene Person in theologischen, kirchlichen und politischen Kreisen, blieb jedoch ein sehr einflußreicher und kreativer Denker sowohl im Politischen als auch im Kirchlichen. Obwohl er festgefügte politische Ansichten vertrat und der Weimarer Republik extrem kritisch gegenüberstand, war Hirsch wie Tillich mehr Theoretiker denn parteipolitischer Aktivist in theologisch-politischen Angelegenheiten. Welcher Partei er sich während der Weimarer Zeit wirklich
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Meine Wendejahre, S. 5. „Deutschlands Schicksal" provozierte umgehend Erwiderungen von Seiten der deutschen theologischen Gemeinschaft. Hirsch beschreibt die Reaktion folgendermaßen: „Die Staats- und Geschichtslehre des jungen nationalen Luthertums, die sich in den Jahren nach dem Zusammenbrach bildete, knüpft deutlich an es an. Ich habe von da an unter den jungen nationalen evangelischen Theologen und darüber hinaus unter den eine nationale Wiedergeburt ersehnenden geistigen Deutschen manche persönlichen Freunde gehabt und bin stolz darauf gewesen. Aber ich spürte von Anfang an die durch das eherne Schicksal schmerzhaft gezogenen Grenzen dieser Wirkung. Theologie und Kirche gingen unter dem Einfluß der dialektischen Theologie weithin andere, entgegengesetzte Wege und verschlossen sich, soweit sie das taten, auch um des Gegensatzes zu 'Deutschlands Schicksal' willen allen Einwirkungen meiner theologischen Arbeit. Da wurde es natürlich schwer, wenn nicht unmöglich, radikalen jungen Stürmern und Drängern zur richtigen Einsicht in das Verhältnis des Christlichen und des Humanen zu helfen. Für mich persönlich aber ist 'Deutschlands Schicksal' der Anfang zu einer unerschöpflichen Gedankenbewegung geworden, die mich immer tiefer in das Durchdenken der allgemeinen geistigen Lage unseres Zeitalters hineinführte" (ibid.). Hirsch, Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung. Akademische Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1934 (zit. als: Die gegenwärtige geistige Lage).
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zugehörig fühlte, ist nicht völlig nachvollziehbar. Aus einem unveröffentlichten Brief an Karl Barth vom 9.8.1921 ist ersichtlich, daß Hirsch zu jener Zeit in keiner politischen Partei Mitglied war, obwohl seine Sympathie der konservativen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) gehörte. In seinem Brief an Barth betont er, daß er gegen jedwede internationale Partei sei, die die Auffassung der Nationalität und der Eigenstaatlichkeit unterminiere. Gleichzeitig kritisiert er die DNVP wegen ihrer wirtschaftspolitischen Ansichten und ihrer Taktik und äußert als Christ Vorbehalte, sowie eine gewisse Enttäuschung bezüglich Heuchelei und Verstellung, die jede politische Partei zu charakterisieren scheinen. 24 Nach Walter Buffs Aussage trat Hirsch nicht vor Ende der 20er Jahre in die DNVP ein. 25 Trotz seines Mißtrauens gegenüber politischen Parteien wurde Hirsch zu einer einflußreichen Person einer politisch-theologischen Bewegung im Deutschland der 20er und 30er Jahre und setzte sich dafür ein, dem wachsenden Nationalismus eine theologische Grundlage zu geben. Diese Bewegung, die sich der nationalpolitischen Erneuerung verschrieben hatte, spielte in den frühen 30er Jahren eine bedeutende Rolle bei der Öffnung der deutschen evangelischen Kirche gegenüber der nationalsozialistischen „Revolution". Jenem Kreis „politischer Theologen" gehörten neben Emanuel Hirsch weitere theologische Persönlichkeiten wie Paul Althaus, Friedrich Gogarten und Wilhelm Stapel an, für die der Begriff des Volkes zu einer zentralen Kategorie jeglichen theologisch-politischen Denkens wurde. 26
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Hirsch an Barth, 9.8.1921. Karl Barth Archiv, Basel, Schweiz; von Walter Buff, Hannover, zur Verfügung gestellt. Buff an Reimer, 19.6.1980. Weitere Ausführungen zu Stapel und seiner Beziehung zu Hirsch finden sich weiter unten, S. 243 dieser Studie. Klaus Scholder widmet dem Erstehen der konservativpolitischen Theologie in den 20er Jahren beträchtliche Aufmerksamkeit und zeigt, wie Paul Althaus, Friedrich Gogarten, Wilhelm Stapel und Emanuel Hirsch dabei mithalfen, diesem neuen Typus modemer Theologie eine Form zu geben, in der die „Verantwortung für die Gemeinschaft des Volkes zur entscheidenden theologischen Aufgabe [wurde], der sich Theologie und Kirche unter keinen Umständen entziehen durften." Nach Scholder ist „gewiB ... jede Theologie politisch. In der modernen politischen Theologie aber wird die politische Ethik zur Schlüsselfrage theologischen Verstehens und kirchlichen Handelns. Das ist ihr allgemeines Merkmal und Kennzeichen" (Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934. Frankfurt/Main: Ullstein 1977, S. 125ff, bes. S. 130). Einer der wertvollsten Beiträge in Scholders Untersuchung
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Tillich wird ein klassenbewußter Sozialist Während Hirsch von 1914 bis 1916 in Bonn studierte und 1917 in Schopfheim als Pfarrer tätig war, ließ Tillich seine akademische und berufliche Karriere seit 1914 für vier Jahre ruhen, um als Militärpfarrer in Frankreich zu dienen. Die Fronterfahrung der Kriegsschrecken veränderte seine politischen und theologischen Ansichten dramatisch. Er wandelte sich vom begeisterten und patriotischen Befürworter des Kriegs zum kritischen und glühenden klassenbewußten Sozialisten. Unmittelbar nach dem Krieg half er, den Kreis der Berliner Religiösen Sozialisten, den „Kairos-Kreis", zu gründen, der beabsichtigte, christliche Theologie und sozialistisches Denken miteinander zu versöhnen. Als Militärpfarrer konfrontiert mit extremem Leiden und dauerndem, sinnlosem Sterben, wurde Tillichs Theologie immer radikaler und eschatologischer, sein Rechtfertigungsverständnis gründete auf dem Paradox des „Glaubens ohne Gott." 2 7 Diese zunehmend eschatologische und sogar „skeptische" religiöse Orientierung sollte Tillichs theologische Ansichten von denen Hirschs in den kommenden Jahren unterscheiden. Tillichs akademische Karriere begann erst nach dem Krieg (1919), als er eine Stellung als Privatdozent für Theologie an der Universität Berlin annahm, wo er bis 1924 lehrte, hauptsächlich befaßt mit der Entwicklung einer „Theologie der Kultur". Wie Hirsch war auch Tillich daran interessiert, die Wahrheiten des traditionellen Christentums mit denen der modernen Kultur zu vermitteln, wobei es sein besonderes Anliegen war, die Einsichten und Methoden verschiedener Disziplinen wie Theologie, Philosophie, Soziologie,
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ist, daß er das theologisch-politische Denken solcher Deutschen Christen und Nationalsozialisten wie Emanuel Hirsch ernst nimmt. In einem privaten Brief an Maria Rhine vom 27.11.1916 sagt er zu seiner neugewonnenen Betonung der Eschatologie: „Und dann das Leiden der Menschen - ich bin reinster Eschatologe; nicht daß ich kindliche Weltuntergangsphantasien hätte, sondern daß ich den tatsächlichen Weltuntergang dieser Zeit miterlebe. Fast ausschließlich predige ich das Ende" (GW XIII, S. 70). Ein Jahr später, am 5.12.1917, schreibt Tillich folgendes an Rhine: „Und nun Weihnachten! Ich meine damit das theologische Problem, das wir angeschnitten haben! Ich bin durch konsequentes Durchdenken des Rechtfertigungsgedankens schon lange zu der Paradoxic des 'Glaubens ohne Gott' gekommen, dessen nähere Bestimmung und Entfaltung schon lange den Inhalt meines gegenwärtigen religionsphilosophischen Denkens bildet..." (ibid.).
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Kunst und Politik miteinander in Einklang zu bringen. Tillichs zahlreiche Schriften aus den Nachkriegsjahren zeigen nicht nur sein Interesse an Theologie und Kultur im allgemeinen, sondern insbesondere an Theologie und Politik. 28 Im Gegensatz zu Hirsch, der sich selbst sehr viel mehr als „gespannte" Person sah, hatte Tillich eine gesellige Art - eine Leidenschaft, persönlich die schöpferischen und chaotischen Aspekte der modernen Kultur zu erfahren. 29 Tillich sagt über diesen Abschnitt seines Lebens: „Die Situation in Berlin war in diesen Jahren für einen solchen Versuch sehr günstig. Die politischen Probleme bestimmten unsere ganze Existenz, auch nach der Revolution und Inflation waren sie für uns eine Frage von Leben und Tod. Die soziale Struktur befand sich in einem Zustand der Auflösung. Die menschlichen Beziehungen - Autorität, Erziehung, Familie, Sexus, Freundschaft und Vergnügen - befanden sich in einem schöpferischen Chaos. Die revolutionäre Kunst trat immer mehr in den Vordergrund, von der Republik unterstützt, von der Mehrheit des Volkes angegriffen. Psychoanalytische Ideen breiteten sich aus und hoben Wirklichkeiten ins Bewußtsein, die von früheren Generationen sorgsam unterdrückt worden waren." 30 Tillich war nicht nur ein guter Beobachter jener Phänomene, sondern nahm aktiv an ihnen teil, was, wie er sagt, „mannigfaltige Probleme, Kon-
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Unter diesen frühen Schriften sind: Der Sozialismus als Kirchenfrage. Berlin: Gracht, 1919; auch in: GW II, S. 13-20; Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: Religionsphilosophie der Kultur. Berlin: Reuther & Reichard, 1919; auch in: GW IX, S. 13-31; Christentum und Sozialismus (I), in: Das neue Deutschland 8 (1919), S. 106110; auch in: GW II, S. 21-28; Christentum und Sozialismus (II), in: Freideutsche Jugend 6 (1920), S. 167-170; auch in: GW II, S. 29-33; Masse und Persönlichkeit, in: Die Verhandlungen des 27. und 28. Evangelisch-Sozialen Kongresses. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1920; auch in: GW II, S. 36-56; Masse und Religion, in: Blätter für den Religiösen Sozialismus 2 (1921), S. 1-3, 5-7, 9-12; auch in: GW II, S. 35-90; Kairos 0). in: Die Tat 14 (1922), S. 330-350; auch in: GW VI, S. 9-28; Grundlinien des Religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf, in: Blätter für den Religiösen Sozialismus 4,8-10 (1923), S. 1-24; auch in: GW II, S. 91-119; Kirche und Kultur. Tübingen: Mohr, 1924; auch in: GW IX, S. 32-46; Christentum, Sozialismus und Nationalismus, in: Wingolf-Blätter 53 (1924), S. 78-80; auch in: GW XIII, S. 161166. Hirsch selbst weist auf den Charakterunterschied zwischen sich und Tillich in einem privaten Brief vom 21.6.1921 hin. Tillich, Autobiographische Befrachtungen, in: GW XII, S. 68-69.
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flikte, Befürchtungen, Erwartungen, Ekstasen und Zweifel, sowohl praktisch wie theoretisch" schuf. 3 1 Sein Teilnehmen an den neuen Lebens- und Denkweisen brachten ihm Konflikte mit Familie, Freunden und Kirche. Der Briefwechsel zwischen Tillich und Hirsch aus diesen Jahren zeigt, wie es ihn auch in Schwierigkeiten mit seinem Freund Hirsch brachte, dem Tillichs Lebensstil deutlich mißfiel, besonders sein Verhältnis zu Frauen, und der ihn konsequent aufforderte, von der theologischen Fakultät zur Philosophie zu wechseln. 32 1924-25 nahm Tillich, in hohem Maße ermutigt von seinem Freund, dem Erziehungsminister Carl Becker, eine Assistenzprofessur an der Universität Marburg an. Er blieb nur drei Semester lang, aber es war eine Zeit, die an ihm und an einigen seiner lebenslangen Freunde, die dort seine Studenten waren, unauslöschliche Spuren hinterließ.33 In Marburg spürte er zum ersten Mal die ,.radikalen Auswirkungen" der neoorthodoxen Theologie auf Studenten, lernte er den Existentialismus durch die Person Martin Heideggers kennen und begann erstmals an seiner großen fünfteiligen Systematischen Theologie zu arbeiten. Zu dieser Zeit veröffentlichte er auch sein bedeutendes Buch: „Die religiöse Lage der Gegenwart". In ihm versuchte er mit Hilfe einer Untersuchung der verschiedenen sozialen, politischen und künstlerischen Phänomene des modernen kulturellen Lebens die Hohlheit des „Geistes des Kapitalismus", der auf selbst-genügsamer Vernunft und Autonomie basierte, zu verstehen und zu entlarven. 34 31 32
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Ibid., S. 69. Wie wir später sehen werden, befassen sich fünf Briefe von Hirsch an Tillich, die in der Zeit vom 11.6. bis 28.6.1921 geschrieben wurden, mit Gerüchten um Tillichs Beziehungen zu mehreren Frauen und damit, daß Hirsch eine völlig andere Sicht dessen hatte, was solche Beziehungen kennzeichnet. Marion Pauck beschreibt diese drei Semester in Tillichs Lehrtätigkeit als eine Zeit, in der „er manch schmerzliche Erfahrung [machte], aber es gelang ihm, sich durchzusetzen." Die Studenten waren in der Mehrzahl entweder Barthianer oder stark beeinfluBt von den Professoren Rudolf Bultmann und Martin Heidegger und tendierten dazu, andere Ansichten abzulehnen, besonders solche, die in Beziehung zum theologischen und kulturellen Liberalismus standen. Allmählich sammelte Tillich eine Gruppe von Studenten um sich, die begeistert war von seiner einzigartigen Art, von Glauben und Gott zu sprechen, die sich wesendich von der Karl Barths unterschied (vgl. Pauck, Tillich. Leben, S. 106). In seinem Buch schreibt Tillich „Der 'Geist der bürgerlichen Gesellschaft', der im Mittelpunkt der Betrachtung steht, ist nicht der Geist einzelner Menschen, auch nicht
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Ein biographisch-intellektuelles Portrait Trotz seiner scharfen Kritik am modernen Kapitalismus blieb Tillichs
Haltung gegenüber der Moderne, besonders der modernen Technik, dialektisch. Von 1925 bis 1929 war er Professor für Philosophie und Religion an der Dresdner Technischen Hochschule und für einen Teil der Zeit (1927-1929) auch noch außerordentlicher Professor für Systematische Theologie an der Universität Leipzig. Das technologische und kosmopolitische Wesen dieser großen Zentren urbaner Kultur, wie zuvor Berlin und später Frankfurt und nach 1933 N e w York, war für Tillich stets von besonderer Faszination. Es bewahrte ihn vor der ,/omantisierende[n] Feindschaft gegen die technische Kultur" und lehrte ihn, „die Bedeutung der großen Stadt für die kritische Seite des geistigen und künstlerischen Lebens zu sehen." 3 5 In den riesigen Metropolen lernte er die Bohème auf sympathische Art kennen und verstehen, wie auch die sozialen und politischen Bewegungen, die in großen Städten keimten. Viele von Tillichs Schriften aus der zweiten Hälfte der 20er Jahre, von denen die meisten aus Reden und Vorlesungen erwuchsen, handeln von seinem Versuch, die christliche Theologie dialektisch in ihrer Beziehung zu den schöpferischen, offenen und dynamischen Aspekten der modernen städti-
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einer Klasse oder einer Partei, sondern er ist das Symbol für eine letzte, grundlegende Welt- und Lebenshaltung" (Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart. Berlin: Ullstein, 1926, S. 8; auch in: GW X, S. 9-20, hier S. 9f.). Wie ist diese bürgerliche Haltung zu beschreiben? Es ist eine Haltung, bei der „von einem Hinausgehen über sich, von einer Heiligung des Daseins ... in alledem nichts zu spüren [ist]. Die Formen des Lebensprozesses sind völlig selbständig gegenüber der Lebenstiefe geworden. Sie ruhen in sich und schaffen eine in sich ruhende Gegenwart. Und alle Seiten des Lebens, die dem Geist der rationalen Wissenschaft, Technik und Wirtschaft unterworfen sind, zeugen von der in sich bleibenden, sich selbst und ihre Endlichkeit bejahenden Zeit" (ibid., S. 22-23; GW X, S. 18). Tillichs Buch beginnt nicht mit „traditionellen" (theologischen und lutherisch-theologischen) Kategorien, sondern vielmehr mit einer Analyse der Unzulänglichkeiten der modernen Kultur. Er untersucht verschiedene Proteste gegen die der modernen Kultur innewohnende Religion der Selbstgenügsamkeit - in Wissenschaft, Kunst, Politik, Ethik und Religion - und schlägt Hann seine eigene, passendere Sicht der Kultur vor, nämlich einen „gläubigen Realismus", der einen Glauben an Transzendenz mit einer realistischen Annahme der historischen Wirklichkeit der gegenwärtigen Situation kombiniert. Zur Diskussion dessen, was Tillich meint mit „gläubigem Realismus" oder „belief-ful realism", wie Richard Niebuhr Tillichs Begriff übersetzt, vgl. „Translators Preface", in: Tillich, The Religious Situation, transi, by Richard Niebuhr. New York: The World Publishing Comp., 1967, S. 13 ff. Es ist erwähnenswert, daß Hirschs Buch: „Die gegenwärtige geistige Lage" von 1934, das Tillichs Zorn hervorrief und als Ergebnis den öffentlichen Streit der beiden Freunde von 1934-35 provozierte, einen erstaunlich ähnlichen Titel wie Tillichs „Die religiöse Lage der Gegenwart" trägt. Tillich, Auf der Grenze, S. 15-16.
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sehen Kultur zu interpretieren. 36 Immer wandte Tillich eine dialektische Methode an: . f r a g e und Antwort, Ja und Nein einer Diskussion, diese Grundform alles Dialektischen, ist die meinem Denken angemessenste Form", stellt Tillich für sich selbst fest. 3 7 Es war eine Methode theologischen Denkens, von der Hirsch meinte, sie hielte seinen Freund Tillich davon ab, eindeutig Position zu beziehen, klare Verbindungen in tatsächlichen geschichtlichen Situationen einzugehen, eine Methode, die im Endeffekt den christlichen Glauben selbst aushöhle. 38 1929 wurde Tillich Professor für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt, an der er bis April 1933 blieb. Seine Antrittsvorlesung in Frankfurt und seine zahlreichen Schriften und Veröffentlichungen während dieser kommenden vier Jahre zeigen, in welchem Ausmaß Tillich mit sozialer und politischer Ethik während dieser seiner „Goldenen Jahre" in Deutschland befaßt war. 39 Er knüpfte enge Kontakte mit einer Vielzahl von Gelehrten aus 36
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Einige Beispiele dieser Schriften sind: Logos und Mythos der Technik, in: Logos 16 (1927), S. 356-365; auch in: GW IX, S. 297-306; Das Christentum und die Moderne, in: Schule und Wissenschaft 2 (1928), S. 121-131, 170-177; auch in: GW XIII, S. 113-130; Die technische Stadt als Symbol, in: Dresdner Neueste Nachrichten 115 (1928), S. 5; auch in: GW IX, S. 307-311; Das Christentum und die moderne Gesellschaft, in: The Student World 21, Genf 1928, S. 282-290; auch in: GW X, S. 100-107. Tillich, Autobiographische Betrachtungen, in: GW X, S. 71. In seiner Besprechung von Tillichs „Religionsphilosophie" (Berlin: Ullstein, 1925) kritisiert Hirsch Tillichs dialektische Methode, die er als Flucht vor der Unmittelbarkeit des Lebens in die höchste Form der Abstraktion sieht: „Auch T.s Abriß der Religionsphilosophie ist kein zugängliches Buch. So kristallklar und sauber T.s Gedankenentwicklung ist, sie liegt doch im Elemente allerhöchster Abstracktheit [sie!], in der die Unmittelbarkeit des Lebens so gut wie verloschen ist" (Hirsch, Paul Tillich: Religionsphilosophie, in: Theologische Literaturzeitung 51, 5 [März 1926], S. 98). Tatsächlich empfand Hirsch Tillichs Religionsphilosophie als fundamentalen Angriff auf den christlichen Glauben selbst. In der gleichen Besprechung sagt Hirsch: „Dennoch, wer ein schlichtes ja Gottes zu Christus und damit auch zum Christen kennt, wer es als Aufhebung der ihm von Gott aufgezwungenen Personheit versteht, bloß geisttragende Gestalt, d.h. bloß Ort von zugleich gerechtfertigtem und gerichtetem Sinnvollzuge zu sein, wer den Glauben an ein diese Welt zerbrechendes ewiges Gottesreich festhält, wem der lebendige Gott kein Symbol ist, sondern der Urgrund alles Lebens selbst, - der wird T.s Religionsphilosophie als zentralen wissenschaftlichen Angriff auf den christlichen Glauben empfinden müssen. So geht es mir" (ibid., S. 102). Seine Antrittsvorlesung trug den Titel „Philosophie und Schicksal" und erschien in: Kant-Studien 34 (1929), S. 300-311; auch in: GW IV, S. 23-35. Andere Schriften der kommenden Jahre, die soziale und politische Fragen in ihrer Beziehung zu Religion und Theologie behandeln, sind u.a.: Sozialismus, in: Blätter für den Sozialismus 1 (1930), S. 1-12; auch in: GW II, S. 139-150; Religiöser Sozialismus, in: Neue Blätter für den Sozialismus 1 (1930), S. 396-403; auch in: GW II, S. 151-158; Religiöse
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vielen verschiedenen Disziplinen, einschließlich führender Persönlichkeiten vom Institut für Sozialforschung und Repräsentanten der berühmten Frankfurter Schule für Kritische Theorie. 40 Hier nahmen seine politischen Ansichten Gestalt an auf dem Hintergrund regelmäßiger Gespräche mit anderen führenden Intellektuellen, mit denen er hitzige Debatten über Wirtschaft, Soziales, Politik, Philosophie und Theologie führte. In den 20er Jahren vermied Tillich direktes parteipolitisches Engagement und widmete sich der theoretischen Ausarbeitung des Religiösen Sozialismus,
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Verwirklichung. Berlin: Furche, 1930; Protestantisches Prinzip und proletarische Situation. Bonn: Cohen, 1931; auch in: GW VII, S. 84-104; Sozialismus II. Religiöser Sozialismus, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, hg.v. H. Gunkel und L. Zscharnack, Tübingen: Mohr, 1931, Sp. 637-648; auch in: GW II, S. 159-174; Das Problem der Macht. Versuch einer philosophischen Grundlegung, in: Neue Blätter für den Sozialismus 2 (1931), S. 157-170; auch in: GW II, S. 193-208; Kirche und humanistische Gesellschaft, in: Neuwerk 13 (1931), S. 4-18; auch in: GW IX, S. 47-61; Zehn Thesen, in: Die Kirche und das Dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen, hg.v. L. Klotz, Gotha: Klotz, 1932, S. 126-128; auch in: GW XIII, S. 177179; Der Sozialismus und die geistige Lage der Gegenwart, in: Neue Blätter für den Sozialismus 3 (1932), S. 14-16; Protestantismus und politische Romantik, in: Neue Blätter für den Sozialismus 3 (1932), S. 413-422; auch in: GW II, S. 209-218; Die sozialistische Entscheidung. Potsdam: Protte, 1933; auch in: GW II, S. 219-365; Das Wohnen, der Raum und die Zeit, in: Die Form 8 (1933), S. 11-12; auch in: GW IX. S. 328-332. Diese repräsentativen Schriften zeigen, in welchem Ausmaß Tillich mit den sozialen und politischen Fragen beschäftigt war, die aus der modernen westlichen, europäischen und deutschen Situation erwuchsen und auf das religiöse, theologische und kirchliche Denken aufprallten. Dennoch hat Hirsch recht, wenn er sagt, daß Tillichs Interesse an sozialpolitischen Fragen später erwachte als sein eigenes. Theodor W. Adorno arbeitete in seiner Habilitationsschrift über Kierkegaards Ästhetik unter Tillichs Aufsicht und wurde mit Tillichs Hilfe 1931 Privatdozent. Tillich hielt Seminare zusammen mit Max Horkheimer, unterstützte ihn 1929 bei seiner Bewerbung auf einen philosophisch-soziologischen Lehrstuhl und half ihm 1930 dabei, Direktor des neomarxistischen Instituts für Sozialforschung zu werden. Zu seiner näheren Bekanntschaft gehörten auch andere führende intellektuelle Persönlichkeiten, darunter Adolf Löwe, Karl Mannheim und Friedrich Polloch, mit denen er kontroverse und hitzige Debatten über Wirtschaft, Soziales, Politik, Philosophie und Theologie in einer Diskussionsrande führte, die sich regelmäßig zu diesem Zweck traf. Für biographische Informationen zu Tillichs Frankfurter Zeit und seinen Kontakten zu führenden Intellektuellen, vgl. Pauck, Tillich. Leben, S. 124 ff; John R. Stumme, Introduction, in: Paul Tillich, The Socialist Decision, S. IX-XXVI; Stumme, Socialism in Theological Perspective: A Study of Paul Tillich 1918-1933. Missoula: Scholars Press, 1978, S. 44 ff; sowie Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950. Frankfurt/Main: Fischer, 1976, S. 43,44, 48, 50, 91,332. Seine Freundschaft zu jüdischen Neomarxisten während der Weimarer Zeit hilft erklären, warum Tillich früher als andere die Gefahren der nationalsozialistischen antisemitischen Haltung erkannte und warum er unter den ersten war, der zusammen mit einigen jüdischen Freunden seinen akademischen Lehrstuhl verlor.
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er erhoffte und verfocht eine gerechte soziale Ordnung in der jüdischprophetischen Tradition - eine Gesellschaft, die die Parteigrenzen Ubersteigen würde. 4 1 Trotz seiner Abneigung, einer politischen Partei beizutreten, trat er 1929 schließlich doch in die SPD ein, wie viele seiner Freunde aufgerüttelt durch das Erstarken des Nationalsozialismus. 42 Eine zweite öffentliche politische Handlung zu etwa der gleichen Zeit war sein Mitwirken bei der Gründung und Herausgabe der ,»Neuen Blätter für den Sozialismus". 4 3 Obwohl er den Berliner Wingolf explizit anprangerte und schließlich wegen dessen vermeintlich rechter Ansichten unter Protest austrat und obwohl er
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1936 beschrieb Tillich seine Abneigung dagegen, mit irgendeiner Partei identifiziert zu werden folgendermaßen: „Mein Bekenntnis, an der Grenze des Marxismus zu stehen, fügt dem, was ich über mein Verhältnis zum religiösen Sozialismus gesagt habe, politisch nichts Neues hinzu. Es besagt nichts über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei. Wenn ich aber sagen würde, ich hätte trotz der Zugehörigkeit zur deutschen Sozialdemokratie zwischen den Parteien gestanden, so wäre das in einem anderen Sinne gemeint als das 'zwischen' in den übrigen Teilen dieser Schrift. Es würde bedeuten, daß ich innerlich keiner Partei zugehört habe und zugehörte, weil mir das wichtigste im Politischen gerade das zu sein scheint, was in den Parteien gar nicht oder nur verzerrt zum Ausdruck kommt. Meine Sehnsucht war und ist ein 'Bund', der an keine Partei gebunden ist, obgleich er der einen näher steht als der anderen, und der ein Vortrupp ist für eine gerechtere Gesellschaftsordnung aus dem Geiste der Prophetie und gemäß der Forderung des Kairos" (Auf der Grenze, S. 63). Wie bereits gesehen, äußerte auch Hirsch starke Vorbehalte und Enttäuschung bezüglich der Heuchelei und Maskerade, die anscheinend bei jeder politischen Partei zu finden waren (vgl. S. 36 dieser Studie). Ebenfalls 1936 schrieb Tillich über seine Entscheidung, in die SPD einzutreten: „Nur schwer konnte ich mich darum entschließen, einer so verbürgerlichten Partei wie der deutschen Sozialdemokratie beizutreten" (Auf der Grenze, S. 18). Tillich könnte bereits seit 1919 Mitglied der USDP gewesen sein (vgl. Stumme, Socialism in Theological Perspective, S. 24 ff, 58, Anm. 62). Daß Tillich dies irgendwie als politischen Akt ansah, obwohl er selbst nicht in praktischer Parteipolitik engagiert war, zeigt seine eigene Aussage: .»Nicht anders war es, was mich persönlich anbetrifft, im Verhältnis zur sozialdemokratischen Partei, der ich in den letzten Jahren angehörte, um durch Ausgestaltung der Theorie auf sie wirken zu können. Zu diesem Zwecke gründete ich mit den Freunden der religiös-sozialistischen Arbeitsgemeinschaft und mit einer Gruppe jüngerer Sozialisten die Zeitschrift Neue Blätter fiir den Sozialismus. Wir hofften, auf diesem Wege die starr gewordene Ideologie des deutschen Sozialismus aufzulockern und von religiöser und philosophischer Besinnung aus umzubilden. Von politischer Praxis blieb ich selbst fern, während viele Mitarbeiter in ihr standen und unsere Zeitschrift dadurch in die Spannungen der aktuellen politischen Situation hineingezogen wurde. Ich lehnte die Beteiligung nicht ab, wo bestimmte Aufgaben an mich herantraten. Aber ich suchte sie nicht auf - wiederum vielleicht zum Schaden einer Theorie, die einem politischen Ziel dienen und der Bewegung einer politischen Gruppe begrifflichen Ausdruck geben sollte. Andererseits schwächten schon die verhältnismäßig seltenen Berührungen mit der politischen Praxis die wissenschaftliche Konzentration, die gerade in diesen Jahren durch meinen Beruf besonders stark gefordert wurde" (Auf der Grenze, S. 27).
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nationalsozialistische Ansichten öffentlich verspottete, beteiligte er sich nach Pauck nicht an direkten antinationalsozialistischen Aktionen. 44 Er konzentrierte sich vielmehr auf die theoretische Analyse der politischen Situation in Deutschland und auf die Ausarbeitung seiner eigenen politischen Orientierung, nämlich eines Sozialismus, der seine Tiefe und seinen Grund in einer religiösen Lebensauffassung hat.
Zuspitzung der Konfrontation zwischen den Freunden Nachdem wir kurz die persönliche, geistige und politische Entwicklung Tillichs und Hirschs in den Jahren 1914 bis 1933 getrennt dargestellt haben, wollen wir uns nun ihrer persönlichen Freundschaft während dieser Zeit und ihren zunehmenden begrifflichen und beruflichen Divergenzen zuwenden. Hierbei beziehen wir uns besonders stark auf die veröffentlichte und unveröffentlichte Korrespondenz zwischen Tillich und Hirsch sowie auf die gegenseitigen Rezensionen ihrer Schriften. Unglücklicherweise ermöglicht es uns die Korrespondenz dieser Zeit nicht, ein vollständiges Bild ihrer Beziehung zu zeichnen, zum einen, weil es während einer langen Periode zwischen 1923 und 1933 keinen Briefkontakt zwischen ihnen gegeben zu haben scheint zumindest keinen erhaltenen - und zum anderen, weil die recht ausführliche Korrespondenz aus den Jahren 1919 bis 1922 unvollständig ist. Aus diesen Jahren sind nur die Briefe Hirschs an Tillich erhalten.45
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Vgl. Pauck, Tillich. Leben, S. 132 ff. Nach Pauck: „Trotz seiner Ausbrüche und Verwarnungen versäumte es Tillich wie auch viele andere deutsche Bürger, sich folgerichtig und beständig an politischen Aktivitäten gegen die Nazis zu beteiligen. Bei etlichen hitzigen Wortwechseln bestürmte ihn sein Freund Adorno, die Sprache und Ideologie der Nazis deuüicher zu verwerfen" (ibid., S. 134). Die meisten von Hirschs Briefen an Tillich werden im Tillich-Archive der AndoverHarvard Theological Library, Harvard Divinity School aufbewahrt. Es scheint jedoch, daß Hirsch die meisten der an ihn geschriebenen Briefe, einschließlich der Korrespondenz von Tillich, nicht aufhob, mit Ausnahme des von Schütte 1973 veröffentlichten Briefwechsels. Ich danke der Andover Harvard Library, die mir den Zugang zur unveröffentlichten Korrespondenz von Hirsch an Tillich gestattete. Die Hirsch-Nachlaßverwaltung untersagte mir die direkte Übernahme von Zitaten aus diesen Briefen, weshalb ich mich auf eine grobe Paraphrasierung beschränkt habe.
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Unser Bild des Tillich-Hirsch-Verhältnisses der Jahre 1915 bis 1935 beruht daher auf folgenden Dokumenten: (1) einem Einzelbrief von Tillich an Hirsch, am 12.11.1917 geschrieben, nachdem er von seiner Schwester Johanna Uber Hirschs Einweisung ins Krankenhaus in Bonn erfahren hatte; (2) sechs Briefen (einen davon nur aufgesetzt und ohne Datum), drei von Hirsch und drei von Tillich, aus den Jahren 1917-1918, die hauptsächlich von theologischen Themen handeln und 1972 von Hans-Walter Schütte veröffentlicht wurden; 46 (3) einer Serie von vier Briefen, alle von Hirsch an Tillich aus den Jahren 1919 bis 1921, die vor allem von theologisch-politischen Fragen handeln; (4) einer Gruppe von fünf Briefen, wiederum alle von Hirsch an Tillich, im Juni 1921 geschrieben, die sich mit sexuellen und ehelichen Fragestellungen befassen; (5) zwei Briefe von Hirsch von 1921 und 1922, die persönliche und politische Differenzen betreffen und (6) eine Reihe von Rezensionen, eine von Hirsch über ein Buch Tillichs von 1926 und drei von Tillich über Hirschs Bücher aus den Jahren 1921 bis 1927. Diese Briefe und Rezensionen gewähren für die Nachkriegszeit einen packenden Einblick in den geistig angeregten Austausch zwischen diesen beiden schöpferischen deutschen Theologen.
Unterschiedliche Vorstellungen von Gott und religiöser Erfahrung: Korrespondenz von 1917 - 1 9 1 8 Anlaß für den ersten Brief vom 12.11.1917 war die von Tillichs Schwester Johanna überbrachte Nachricht der Einweisung Hirschs in ein Bonner Krankenhaus. Es ist ein kurzer Brief von der Länge einer Seite, der hauptsächlich Tillichs Verständnis des Rechtfertigungsbegriffs in seiner Beziehung zum Paradox des Glaubens ohne Gott gewidmet ist. Ein Atheist, so meint er, kann sich gerechtfertigt wähnen von einer Realität, die jenseits des Gottes, den er leugnet, steht. Tillich schlußfolgert, daß diese theologische 46
Hans-Walter Schütte war ein Student und Freund Hirschs gegen Ende von dessen Leben und erhielt die besondere Erlaubnis von Hirsch, diese Reihe von Briefen zu veröffentlichen.
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Überzeugung aus der Beobachtung der katastrophalen, besonders in Berlin zum Ausdruck kommenden Negativität Nietzschescher Prägung erwachse, die das Zerstörerische des Krieges hervorgerufen habe. Er endet mit der Hoffnung auf Hirschs Antwort und läßt Hirschs zukünftige Braut grüßen. 47 Wir gehen jetzt über zu den sechs weiteren Briefen zwischen Hirsch und Tillich aus den Jahren 1917 und 1918, die mit Hirschs Erlaubnis 1973 von Hans-Wal ter Schütte veröffentlicht wurden. Hirsch schreibt aus der Bonner Augenklinik, wo er wegen seiner Augenkrankheit behandelt wird. Tillich ist Militärpfarrer in Frankreich. Alle sechs Briefe sind in höchstem Maße theologisch und verdienten eine genauere Untersuchung als in diesem Zusammenhang möglich. Das zentrale Anliegen Tillichs ist, wie er es in seinem ersten Brief vom Dezember 1917 zum Ausdruck bringt, seine wachsende theologische Skepsis. Er fragt sich, wie theoretisch-intellektueller Zweifel und die Gewißheit des Glaubens zu versöhnen seien. Er zeigt drei mögliche Wege, solche Skepsis zu Uberwinden, auf: (1) den mystischen Versuch, die SubjektObjekt-Spaltung zu transzendieren; (2) die intellektuelle Gewißheit, die auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Gottesbegriffs erreicht wird; und (3) die Überwindung von Skepsis und Zweifel durch Betonung der sittlich-religiösen Wirklichkeitserfahrung. Während Hirsch die dritte Möglichkeit wählt, findet Tillich sich unter den Anhängern der zweiten Möglichkeit. Die Religionswissenschaft kann durch eine phänomenologische Analyse des subjektiven Moments der Religion dabei helfen, das wieder aufzubauen, was die Wissenschaft zerlegt und zerstört hat. Tillich hält daran fest, daß einzig das subjektive Moment der Religion gegenüber der Skepsis immun ist. Er faßt den entscheidenden Unterschied zwischen sich und Hirsch folgendermaßen: Während Hirsch in seiner Schlußanalyse Zweifel als unsittlich ansieht, glaubt
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Tillich an Hirsch, 12.11.1917. Veröffenüicht in: EGW, VI, S. 97. Auch die sechs anderen in: Hans-Walter Schütte (Hg.), Hirsch Tillich Briefwechsel 1917-1918 herausgegebenen und veröffentlichten Briefe sind in EGW VI wiederabgedruckt. Es gibt wenigstens zwei frühere Briefe von Hirsch an Tillich, einen undatierten, in dem Hirsch Tillich fragt, wo man bei Hegel oder Schelling eine gute Kritik von Kants Ethik finden könne, und ein weiterer vom 16. Mai 1912, der handgeschrieben und schwer lesbar ist.
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er (Tillich), daß solcher Zweifel (oder Skepsis) zur moralischen Ausstattung eines aufrichtigen Geistes gehöre. 48 In seiner Antwort auf Tillichs Brief vertritt Hirsch die Ansicht, daß es zwei Grundtypen religiöser Erfahrung gibt, die nicht beweisbar sind und daher jenseits der Skepsis liegen, wovon Tillich den ersten angemessen beschrieben hat - nämlich die Dialektik des Geistes, die Subjekt-Objekt-Identität, die die Voraussetzung allen Lebens und Denkens ist und wissenschaftlich und phänomenologisch erklärt werden kann. Auf dieser ersten Stufe stimmt Hirsch Tillich zu. Beide sind trotz allem in ihrem jeweiligen Verständnis des dialektischen Geisteslebens dem deutschen Idealismus tief verpflichtet, besonders dem Denken Fichtes und Hegels. Aber es gibt eine zweite Stufe religiöser Erfahrung, die jenseits der Skepsis steht und die Tillich und andere, die in der idealistischen Tradition stehen, ignorieren. Es ist die unvermittelte geistige Erfahrung Gottes als des „Anderen" und des „Fremden", die vor jeglicher begrifflichen Interpretation steht, die wahre Quelle jeder Religion ist und nicht intellektuell oder wissenschaftlich untersucht werden kann. Gott selbst kann niemals mit diesem dialektischen Leben des Geistes identifiziert oder auf es reduziert werden. Hirsch gibt zu, daß, obwohl er sich Gottes durch dessen sittliche Forderung bewußt geworden sei, Gott selbst immer verborgen bleibe und jeglicher Ethik und jedem menschlichen Werk vorausgehe.49 Tillichs einleitende Bemerkungen in seiner Antwort vom 20.2.1918 auf Hirschs Brief veranschaulichen die akademische Bewunderung, mit der er Hirsch betrachtete: „Dein Brief ist das Tiefste, was seit Schellings 'positiver Philosophie' ein Theologe geschrieben hat." 50 Tillich geht soweit, andere systematische Theologen, einschließlich Troeltsch, verglichen mit Hirsch „zwerghaft" zu nennen. Nichtsdestoweniger ist Tillichs Brief ein einziger Widerspruch gegen Hirschs Auffassung, daß Gott als das „Andere" unmittel-
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Tillich an Hirsch, Dezember 1917, in: Hirsch Tillich Briefwechsel 1917-1918, S. 9-13. Undatierter Entwurf eines Briefs von Hirsch an Tillich, in: ibid., S. 14-20. Dieser Brief Hirschs an Tillich ist eine in sich geschlossene Abhandlung mit einer komplexen und kompliziert argumentierenden Verteidigung von Hirschs Ansicht über die religiöse Erfahrung. Meine Zusammenstellung wird Hirschs Argumentation nicht gerecht, sie versucht lediglich, seine grundlegenden Argumente gegenüber Tillich herauszulösen. Tillich an Hirsch, 20.2.1918, in: ibid., S. 21.
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bar erfahrbar sei. Es gibt nach Tillich keine Erfahrung des „absolut Fremden", die jeder begrifflichen Interpretation vorausgeht. Das sittliche Beugen des Geistes unter etwas Höheres, etwas „Anderes" oder „Fremdes" ist phänomenologisch richtig, dennoch bleibt dabei der Geist in sich selbst. Tillich gibt zu, daß sein Streiten mit Hirsch einen Zwist in ihm selbst widerspiegelt. Tillich will die Einheit des erfahrenden Selbst aufrechterhalten. Sein eigenes Denken drängt ihn immer tiefer in die drei Momente dessen, was er als autonome Lebensimmanenz bezeichnet, wie sie in der modernen Literatur und Dichtung ihren Ausdruck findet: Autonomie statt sich beugende Unterwerfung, Leben statt Selbstaufgabe, Immanenz statt Transzendenz. In einem Brief vom 9.5.1918 arbeitet Tillich diese Antwort weiter aus. Er hat gerade Rudolf Ottos Buch: „Das Heilige" gelesen. Er ist inspiriert von seinem antisupranaturalistischen mystischen Geist, einem Geist, den er auch im späten Schelling zu finden meint und der seiner eigenen Vorstellung des Paradox, des ,,praktische[n] Irrationalismus, Antilogismus und Antimoralismus" entspricht - etwas, das durch seine Erlebnisse an der Front verstärkt worden war. 51 Tillich beendet diesen Brief mit der Bemerkung: „Ich glaube, wir sind uns näher gekommen", eine Haltung, die charakteristisch ist für einen Großteil der Tillich-Hirsch-Briefe, die einen tiefen Respekt beider für die jeweilig andere intellektuelle Position wie auch ein ehrliches Streben nach Übereinstimmung in grundsätzlichen Fragen ausdrückt.52 Hirsch beginnt am 22.5.1918 seine Antwort auf Tillichs Brief in ähnlich gefälligem Ton. „Lieber Päul! Ich danke Dir für Deine beiden Briefe. Ich will versuchen, Dir zu antworten, obwohl ich zur Zeit nur einen kleinen Rest meiner Kraft zur Verfügung habe und gegen Dich stets meinen ganzen Geist gebrauchen mußte. Ich habe das Gefühl, daß Du Dich mir bedeutend genähert hast. Ja, wir sind vielleicht noch näher beieinander, als Du glaubst. Denn Du
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Tillich an Hirsch, 9.5.1918, in: ibid., S. 28. Ibid., S. 30. In seinem vorhergehenden Brief hatte Tillich geschlossen mit: „Nun leb wohl! Ich habe den Eindruck, daß wir nicht so weit voneinander entfernt sind, als ich zuerst dachte! Die 'Quarte' in das System der Kultur will auch ich schlagen, nur nicht durch eine Supra-Kultur" (ibid., S. 27). Tillich will Kultur von innerhalb der Kultur kritisieren. Er weist den Dualismus Natur-Übernatur zurück, von dem er glaubt, Hirsch führe ihn fort.
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hast mich nach der philosophischen Seite nicht ganz verstanden." 53 Obwohl Hirsch in weiten Teilen Tillichs Analyse der Dialektik des Geistes zustimmt, hält er Tillichs Sicht für zu rationalistisch und nicht paradox genug. Seiner Meinung nach verhindert gerade ein paradoxes Verständnis der Gott-MenschBeziehung die „Heteronomie und sonstigen theologischen Naivitäten", die Tillich so sehr kritisierte. 54 Hirsch nennt seine eigene Position „theistischen Idealismus". Er akzeptiert die idealistische Analyse der Dialektik des Geistes, behauptet aber, daß hinter dieser Dialektik der christliche Gott steht, vor dem alle Systeme relativ sind; Wissen ist unvollkommen, und jedes System Tillichs wie auch Hegels - ist dem Urteil der Geschichte unterworfen. Hirsch stellt zwei Unterschiede zwischen sich und Tillich fest, die beide in ihren unterschiedlichen Gottesbildern begründet sind. Erstens, so schreibt Hirsch an Tillich: „Du wagtest nicht, das von Dir anerkannte dialektische Verhältnis, das ich beschrieb, theistisch zu verstehen. Du mußt es Dir darum wegerklären vom Standpunkt Deiner Geistesphilosophie aus." Zweitens, meint Hirsch: „Ich habe das Empfinden, daß das, was Du meinst [wenn Tillich von Gott als dem 'Anderen' oder 'Fremden' spricht], ästhetischer, stimmungsmäßiger ist als das, was ich meine." 55 Hirsch behauptet, sein eigener Theismus gründe in Luthers Theologie, und schlägt vor, Tillich möge sein bald erscheinendes Buch „Luthers Gottesanschauung" lesen. Sein eigener Gottesbegriff könne nicht als supranaturalistisch beschrieben werden, sondern müsse als eine Art idealistisch-theistischer Realismus verstanden werden. „Wohl aber hat bei mir das idealistische System einen realistischen Unterton
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Hirsch an Tillich, 22.5.1918; ibid., S. 31. Hirsch sagt: „Daß diese Grundposition nicht zu Heteronomie und sonstigen theologischen Naivitäten führen muß, habe ich in meinem Briefe zu zeigen versucht, und Du könntest das gewiß noch sehr viel besser als ich; gerade wenn man sich den philosophischen Ausdruck der religiösen Paradoxie erarbeitet hat, ist man gefeit gegen alle unphilosophischen heteronomen Waldungen des Gedankens. Du dagegen bist in Gefahr, daß eine ganz elementare religiöse Kritik an Dir nicht nur Deinen Rationalismus (um den wäre es nicht so schade), sondern auch alle Vernunft hinwegschwemmt" (ibid., S. 32). Ibid., S. 35. Hervorhebung von mir.
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bekommen. Die idealistische Erkenntnistheorie ist richtig, aber sie hat einen religiösen Realismus zur geheimen Voraussetzung."56 In seinem letzten Brief dieser veröffentlichten Reihe, datiert vom 7.7.1918, fügt Hirsch einige klärende Bemerkungen zu seinem vorausgegangenen Brief hinzu, besonders seinen Gottesbegriff betreffend. Er stimmt mit Tillich darin Uberein, daß Gott nicht als Gegenstand betrachtet werden darf, fügt hinzu, daß Luther Gott nicht als Objekt sah, und drückt sein Erstaunen darüber aus, wie erfolgreich Luther sich philosophischer „Zergliederung" entzieht. Er hält dennoch gegen Tillich daran fest, daß Gott nicht heruntergezogen werden dürfe „in die dialektische Schaukel des Geistes." 57 Er betont, daß der Gottesbegriff und das menschliche Verhältnis zu Gott mit letztem Ernst betrachtet werden müssen und nicht einfach im Sinne einer personhaften Spannung zwischen zwei einander entgegengesetzten Polen gesehen werden dürfen. Er (Hirsch) sei nicht naiv und habe seine eigene Position gewissenhafter philosophischer Prüfung unterzogen: „Ich denke, das wirst Du auch durch meine einfache Darstellung durchfühlen, daß ich das, was ich sage, vor meinem philosophischen Gewissen habe prüfen lassen auf Herz und Nieren. Ich bin gar nicht naiv." 5 8 Obwohl Tillich gegen alle Formen der Vergegenständlichung Gottes protestiere, sei es ironischerweise Tillich selbst, so Hirsch, der in der Gefahr der Vergegenständlichung Gottes stehe: „Vielleicht darf ich die Dinge auch auf den Kopf stellen und sagen: Du bist viel eher als ich in Gefahr, Dir Gott zu vergegenständlichen. Du machst - brieflich wenigstens - das Unendlichkeitsbewußtsein zu etwas, womit der Geist spielt. Damit wird es aber verendlicht, vergegenständlicht. Gegenstand sein heißt doch wohl, Moment im [Leben des] Geiste[s] sein. Nur das ist nicht Gegenstand in uns, bei dem es in der Art, wie wir davon reden und denken, zum Ausdruck kommt, daß es nur per paradoxian in uns ist. ... Ich habe seit
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Ibid., S. 36. Zuvor schreibt Hirsch: ,Jch hoffe, wir kommen zusammen. Du wirst Dich für Deine Kritik an mir am ehesten richtig einstellen, wenn Du mich nicht unter das Schema des Supranaturalismus bringst, das trifft mich nicht." Hirsch an Tillich, 7.7.1918, in: ibid., S. 37. Ibid., S. 37.
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Deinem Besuch das bestimmte Gefühl, daß wir uns zusammenphilosophieren werden." 5 9 Besonders bemerkenswert an dieser frühen Debatte zwischen Tillich und Hirsch ist trotz ihrer häufigen Anspielungen auf ein philosophisches Aufeinanderzugehen der augenfällige Unterschied in ihren Gottesauffassungen und ihren Ansichten Uber das Wesen der religiösen Erfahrung. Hirsch verteidigt eine scheinbar traditionellere, theistische Gottesvorstellung von Gott als dem „Fremden" und „Anderen", der sich den Menschen unmittelbar, vor jedem Begreifen offenbart und der eine demütige, folgsame und sittliche Antwort und Hingabe verlangt - die Preisgabe autonomer Egozentrik. Tillich, der alle Formen von Heteronomie und Supranaturalismus stark bekämpft, betont in diesen frühen Briefen eher die Wichtigkeit der Autonomie als das Preisgeben des Selbst, 60 eher eine immanente als eine absolute Transzendenz. Er versteht die Gotteserfahrung als Teil des dialektischen Lebens des Geistes selbst, als „relativ transzendent", als ein „Anderes", aber ein anderes, das eine Polarität im Leben des Geistes selbst ist. Tillich ist mehr damit befaßt, die Einheit der erfahrenden Person oder des Bewußtseins zu erhalten. Obwohl beide, Tillich und Hirsch, stark vom deutschen Idealismus und seiner Sicht der dialektischen Natur des Geisteslebens beeinflußt sind, will Hirsch im Gegensatz zu Tillich das Leben des Geistes einbinden in den Kontext eines theistischen Gottesverständnisses, Gottes als des Schöpfers, der vom Geist getrennt ist und der de facto den Geist geschaffen hat. Wie Tillich lehnt auch er jede „Vergegenständlichung" Gottes ab, verwahrt sich jedoch gegen das, was er als Tillichs Hereinziehen Gottes in das dialektische Leben des Geistes selbst sieht. Er sagt, daß Tillichs dialektische Sicht des Geistes so weit richtig ist, behauptet aber, daß dahinter der christliche Schöpfergott stehe.
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Ibid., S. 37. Philosophisch kamen sie sich nicht näher, sondern drifteten weiter auseinander; dennoch bringt dieser auf beiden Seiten wiederholt geäußerte Wunsch, zu irgendeinem Einverständnis über theologische Streitpunkte zu kommen, das starke Freundschaftsgefühl zum Ausdruck, das sie während dieser Jahre und bis zum Ende ihres Lebens hatten. Wie bereits erwähnt weist Tillich in seiner reifen Theologie sowohl Heteronomie wie auch Autonomie zurück und tritt ein für das, was er Theonomie nennt, eine Kategorie, zu der wir weiter unten zurückkehren werden. In diesen Briefen befaßt Tillich sich jedoch mehr damit, gegen alle Formen der Heteronomie (Unterwerfung unter ein äußerliches Gesetz) anzugehen, und argumentiert für eine relative Autonomie.
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Die Beziehung der Menschheit zu Gott, des Geistes zu Gott, muß, so argumentiert er, paradox gesehen werden. Es sei eben diese Betonung des Paradox, sagt Hirsch, die ihn vor der Art Heteronomie und Supranaturalismus bewahre, deren Tillich ihn fälschlicherweise beschuldige und die dieser so sehr zu überwinden suche. Wir werden später sehen, daß diese unterschiedlichen philosophischen und theologischen Voraussetzungen eine entscheidende Rolle bei ihren späteren Divergenzen sowohl in sozialen als auch in politischen Fragen spielen werden. Diese frühen Briefe, die eine Art Minidebatte und Vorbote der sehr viel dramatischeren Kontroverse von 1934-35 sind, liefern uns einige wichtige Schlüssel zum Verständnis der Gründe, weshalb Tillich und Hirsch während der Weimarer Zeit und den frühen Jahren des Dritten Reiches so unterschiedliche politische Richtungen einschlugen. Ihre verschiedenartigen frühen Gottesbegriffe und Vorstellungen der religiösen Erfahrung zeitigten direkte Auswirkungen auf ihre spätere politische Ethik. Für Hirsch ist Gott in gewisser Hinsicht absolut transzendent und verlangt unbedingten sittlichen Gehorsam und Unterwerfung im Persönlichen wie im Gesellschaftlichen. Tillichs Gottesvorstellung ist eher immanent, er betrachtet Gott als Teil des autonomen geschichtlichen Geisteslebens. Hirschs Verständnis fügt sich leichter ein in eine „konservativ-nationale" sozialpolitische Ethik, während Tillichs Sicht sich eher für eine radikal prophetische, eschatologische und sozialistische Ethik eignet. Dennoch gibt es auch einige bedeutsame Übereinstimmungen zwischen den beiden Denkern und ihren theologisch-philosophischen Voraussetzungen, Gemeinsamkeiten, die dabei helfen, den ungerechtfertigten Vorwurf des „Plagiats" zu erklären, den Tillich 1934 gegen seinen Freund und politischen Gegner vorbringen wird.
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Frühe private und politische Differenzen: Die Korrespondenz von 1919 - 1 9 2 2 Obgleich Tillich und Hirsch in den Jahren 1919 bis 1922 in einem regen Briefwechsel über wesentliche Themen standen, sind, wie bereits erwähnt, nur Hirschs Briefe an Tillich erhalten. So bekommen wir einen umfassenden, jedoch einseitigen Einblick in die Freundschaft zwischen Tillich und Hirsch während dieser Jahre, in eine bemerkenswert vertrauliche und aufrichtige Beziehung. Trotz der Einseitigkeit gewähren uns die zahlreichen Briefe Hirschs an Tillich während dieser vier Jahre einen guten Einblick in die diskutierten Themen und die vertretenen Positionen, wie auch wertvolle Einsicht in Hirschs eigenes Denken und in seine Sicht der Beziehung. Die ersten vier Briefe befassen sich in erster Linie mit persönlichen und politischen Themen. Am 14.5.1919 z.B. legt Hirsch seine Sicht des Krieges dar. Er argumentiert, daß, obwohl Liebe als das höchste Prinzip angesehen werden sollte, auch die Gerechtigkeit zwischen egozentrischen Nationen ernst genommen werden muß. Er kritisiert Tillichs sozialistische Einstellung, indem er dessen Sicht des Staates und der Autorität mit der der Wiedertäufer des 16. Jahrhunderts vergleicht, und verteidigt die Idee der nationalen Erneuerung, indem er die Wichtigkeit des Individuums und die Notwendigkeit eines mächtigen charismatischen Führers mit einem starken Verantwortungsgefühl für das Volk hervorhebt. 61 Ein Brief vom 5.7.1919 ist persönlicher gehalten und bringt zum Ausdruck, daß Hirsch, obwohl sie sich politisch weiter voneinander entfernen (es war etwa die Zeit, in der Tillich bei der Gründung des religiös-sozialistischen „Kairos-Kreises" in Berlin mithalf), entschlossen ist, ihre intime Freundschaft und ihre gegenseitige Zuneigung, wenn irgend möglich, zu erhalten. Er verspricht, Tillichs Bücher zu lesen, auch wenn ihre Weltanschauungen sie in unterschiedliche Richtungen tragen und auch wenn Tillich, wie er vermutet, nicht in gleicher Weise an seinem (Hirschs) Denken
Unveröffentlichter Brief von Hirsch an Tillich, 14.5.1919. Es ist interessant, Hirschs Ruf nach einem charismatischen Führer, der das Volk gottverantwoitlich lenken werde, schon 1919 zu vernehmen, eine Forderung, die in seinen Schriften stets wiederkehrt und die uns hilft, seine Unterstützung für Hitler zu erklären.
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und Schreiben interessiert ist. Er hofft besonders, daß Tillich sein bald erscheinendes Werk Uber Andreas Oslander lesen wird.62 Der Hintergrund von Hirschs Brief vom 8.10.1920 ist nicht völlig klar; der Bezug jedoch ist offensichtlich Tillichs angespanntes Verhältnis zur Berliner Kirche. Tillichs zunehmende theologische und politische Radikalität, sowie möglicherweise sein Familienstand, scheinen seine Position in der Kirche und die Fortsetzung seines Martin-Kähler-Stipendiums der theologischen Fakultät gefährdet zu haben.63 Hirsch war gerade von einer ermüdenden Reise nach Berlin zurückgekehrt, wo er Karl Holl besucht und Tillichs Fall mit ihm besprochen hatte. Die Situation scheint durch die Tatsache erschwert gewesen zu sein, daß Tillichs eigener Vater eine führende Position im Brandenburgischen Konsistorium innehatte. Hirsch, der offensichtlich Tillichs Haltung kritisch gegenüber stand und Verständnis für das Dilemma der Kirche hatte, scheint dennoch eine Art Verteidigerrolle für seinen Freund gegenüber Holl eingenommen zu haben. Im Brief zollt Hirsch Tillichs geistiger Größe Respekt und schreibt, daß er ihm sein letztes Buch (wahrscheinlich „Deutschlands Schicksal") schicken wird, ein Buch, das, wie er sagt, die Unterschiede in den Ansichten zwischen ihnen klar zutage legt. Er erwähnt, daß er Tillichs Arbeit zur Theologie und Kultur so oft gelesen habe, daß er es sehr gut kenne, einschließlich aller versteckten Diskrepanzen.64 Er befürchtet, daß sein Buch Tillich gegen ihn aufbringen werde, drückt jedoch seine Überzeugung aus, daß sie nun versuchen müssen, so viel überwindende Liebe wie möglich aufzubringen, um ihre entgegengesetzten Intellekte zu verstehen. 62
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Hirsch an Tillich, 5.7.1919. Der nächste Brief von Hirsch an Tillich folgt mehr als ein Jahr später und legt nahe, daß an diesem Punkt ihr Schriftverkehr für einige Zeit unterbrochen war, da Tillich offenbar die vorgegebene Diskussion nicht fortführen wollte. Am 16. Mai 1919 befragte das Evangelische Konsistorium von Brandenburg Tillich über seine politischen Aktivitäten, möglicherweise alarmiert durch seinen Vortrag vor einer Gruppe der Unabhängigen Sozialdemokraten zu Anfang des Jahres 1919 in BerlinZehlendorf. Es ist umstritten, ob Tillich Mitglied der USDP war. Kurze Zeit später gab Tillich seine Antwort an die Berliner Kirche mit dem Titel „Christentum und Sozialismus. Bericht an das Konsistorium der Mark Brandenburg" (GW XIII, S. 154160). Zur Diskussion dieser Ereignisse vgl. Stumme, Socialism in Theological Perspective, S. 35 ff. Hirsch bezieht sich hier auf Tillichs „Über die Idee einer Theologie der Kultur", in: Religionsphilosophie der Kultur. Philosophische Vorträge veröffentlicht von der KantGesellschaft, Nr. 24. Berlin: Reuther & Reichard, 1920, S. 27-52.
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In den Jahren 1920 bis 1922 veröffentlichte Tillich eine Reihe kleinerer Arbeiten zum Verhältnis der proletarischen Massen zu Persönlichkeit, Religion und Geist. 65 Hirschs Ansichten zu diesen Themen unterscheiden sich eindeutig und grundlegend von denen Tillichs. Sein Brief vom 19.4.1921 an Tillich ist größtenteils einer kritischen Analyse dieser Schriften Tillichs gewidmet. In diesem Brief beschuldigt Hirsch Tillich ironischerweise der „Heiligung" des Proletariats (ironischerweise, weil Tillich 1934 Hirsch vorwirft, die nationalsozialistische Bewegung zu heiligen). 66 Die Arbeiter, so Hirsch, haben das gleiche Recht wie die Unternehmer und Bauern, für ihre legitimen Interessen im Namen der Gerechtigkeit zu kämpfen, aber sie dürfen sich niemals als Vertreter einer religiösen oder heiligen Bewegung verstehen. Hirsch beschuldigt Tillich, er sehe die Massen als eine Erscheinung des Göttlichen an. Dies, sagt er, sei eine Form von Heidentum ohne jegliche Bußfertigkeit gegenüber dem Ewigen. Gerade diese sittliche Dimension der Demut und Reue der individuellen Persönlichkeit vor Gott sei der Schritt des Christentums Uber das Heidentum hinaus. Hirsch betont, daß Gottes Liebe nur von jenseits und durch einzelne, gehorsame Herzen in die menschliche Geschichte und die Strukturen der Gesellschaft eindringe. Eine sozialistische Ordnung, wie von Tillich postuliert, sei eine kulturelle Angelegenheit, während das Reich Gottes eine Sache des Einzelgewissens in seiner Beziehung zum Ewigen sei. Jede irdische Ordnung, die sich nicht diesem in ihr verborgenen Gottesreich unterwerfe, werde zusammenbrechen. In einem Anhang zu diesem Brief schreibt Hirsch, daß, während der Brief vom Winter 1918 aus politischer Passion heraus verfaßt worden sei, dieser Brief in Leidenschaft für das Evangelium geschrieben sei;
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„Masse und Persönlichkdt"(1920); „Masse und Religion" (1921) und „ M a s s e und Geist" (1922); zusammen unter dem Titel: „Masse und Geist" in: GW II, S. 35-90. In seinem Brief vom 19. April 1921 bezieht sich Hirsch auf die erste und möglicherweise die zweite dieser drei Tillicharbeiten. Sowohl Tillich als auch Hirsch wenden den Begriff „heilig" auf irdische, geschichtliche Ereignisse und Bewegungen an. Weil die Vorwürfe der Vergöttlichung einer irdischen Wirklichkeit, die jeder gegen den anderen erhebt, größtenteils bedingt sind durch die jeweilige Sicht dessen, was die Heiligkeit eines Ereignisses ausmacht, wird eine genauere Bestimmung der .¿eiligen" Qualität irdischer Ereignisse beider in einem der folgenden Kapitel erarbeitet werden.
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er fordert Tillich dazu auf, die gleiche Leidenschaft seinem eigenen Denken entgegenzubringen. Er hält daran fest, daß in ihren Arbeiten zwei unterschiedliche Geister miteinander ringen. Die Unterschiede, die zwischen Hirsch und Tillich während der Nachkriegsjahre an die Oberfläche traten, waren jedoch mehr als nur theologischer und politischer Natur, sie betrafen auch Sexualethik und die Frage, wie man sich als Christ und Theologe Frauen gegenüber verhalten sollte. Fünf Briefe, in der Zeit zwischen 11. und 28.6.1921 von Hirsch geschrieben, befassen sich mit höchst sensiblen Bereichen der Sexualethik. Sie enthalten Klatsch Uber den unkonventionellen Lebensstil, den Tillich und andere Religiöse Sozialisten angeblich in Berlin führten, Klatsch, der gemischt mit Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unwahrheiten, unter Studenten und in Fakultäten anderer deutscher Universitäten Verbreitung fand.67 Eine gewisse Kenntnis des persönlichen Lebensstils Tillichs in den Jahren 1919 bis 1924, als er in seiner Berliner Wohnung in der Taunusstraße lebte - eine Zeit, die er selbst als Periode des „schöpferischen Chaos" bezeichnete -, ist notwendig zum Verständnis dieser Reihe höchst persönlicher Briefe Hirschs an Tillich vom Juni 1921. 68 Wir wollen hier weder tief in Tillichs Sexualleben ein-
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Diese fünf Briefe aus dem Jahr 1921 von Hirsch an Tillich sind alle aus Bonn geschrieben, wo Hirsch Privatdozent war, und datieren vom 11. Juni, 14. Juni, 21. Juni, 26. Juni und 28. Juni. Hirsch hat gerade einen Ruf als Professor nach Göttingen erhalten und kündigt Tillich im ersten dieser Briefe an, daß er am 1. Oktober 1921 nach Göttingen gehen werde. Er sagt, er habe Gerüchte in Bonn gehört, daß die Berliner Religiösen Sozialisten die Heiligkeit der Ehe sowohl theoretisch als auch praktisch in Frage stellen, und er bietet sich als Vermittler an, um zu versuchen, Tillichs Namen zu reinigen und Wahrheit von Lüge zu trennen. In den folgenden Briefen entspinnen sich recht ausgedehnte Diskussionen über das Wesen der Ehe, Sexualethik und vertretbare Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Zu Tillichs eigener Beschreibung dieser Zeit des „schöpferischen Chaos", vgl. seine „Autobiographischen Betrachtungen", S. 68-69. Zu den privaten und tragischen Ereignissen in Tillichs Leben, einschließlich der Ehe mit Grethi Wever 1914, dem Verlust ihres Kindes im Säuglingsalter, ihre Affäre und das daraus entstandene Kind (Juni 1919) mit Tillichs Freund Richard Wegener, ihre Trennung von Tillich im Frühling 1919 und Tillichs folgende Beziehungen zu mehreren anderen Frauen, vgl. Pauck, Tillich. Leben, S. 90 ff. Mit Paucks Worten: „Tillich überdachte seinen nicht einwandfreien Ruf mit Nüchternheit. Er war Hirsch außerordentlich dankbar für seine Aufrichtigkeit und Liebe und bewunderte dessen persönliche Stärke, ja, ging so weit, ihm eine heroische religiöse Ethik zuzuschreiben. Seinen Rat aber lehnte er ab. Er war nicht bereit, den dazu nötigen hohen Preis zu zahlen: den Verlust der Natur, des Dämonischen, der Welt der Kunst, der intuitiven Wahrheit und der Mystik. Und was seinen eigenen Ruf
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dringen, noch Hirschs Briefe genauer untersuchen. Schließlich muß die geistige Integrität und Schlüssigkeit eines Werkes vom Werk selbst und nicht vom Privatleben seines Urhebers her beurteilt werden. Und dennoch hat man das Gefühl, daß hinter diesen Differenzen in der Sexualethik - im Gegensatz zu Tillich war Hirschs Haltung, was Beziehungen zu Frauen angeht, von sehr viel größerer Selbstdisziplin, Selbstkontrolle und traditionellen Ansichten christlicher Treue geprägt - verschiedene Gottesbegriffe und Vorstellungen von den sittlichen Forderungen, die Gott an den einzelnen stellt, stehen. Die Briefe erhellen das Ausmaß ihrer Vertrautheit, ihre gegenseitige Offenheit und verdeutlichen, in welch hohem Maße die Differenzen die Privatsphäre berührten. Hirsch warnt Tillich davor, menschliche Beziehungen zum Zwecke intellektueller und schöpferischer Anregung zu benutzen. Er betont, daß eine reine Liebe auf einer nicht-erotischen Ebene bleiben müsse, wenn man eine gewisse Mannigfaltigkeit an ernsthaften menschlichen Beziehungen bewahren wolle. Obwohl Tillich vielleicht eine offenere, anziehendere und spontanere Persönlichkeit sei, fehle es ihm möglicherweise an echter Tiefe, meint Hirsch. 69 Er macht sich Sorgen darüber, daß Tillich bestimmte konventionelle Moralvorstellungen nur um eines ruhigen Gewissens, seines guten Rufes und der Sache des Religiösen Sozialismus willen befolge - ein Verhalten, das bereits bei kleinsten Diffamierungen und übler Nachrede zu heftigen Angriffen führen kann. Tillich müsse, so Hirsch, sich der allgemein anerkannten Moral unterordnen, wenn er die fundamentalen Schwächen der bürgerlichen Ordnung überwinden wolle. 70 Hirsch schlägt vor, Tillich solle von der theologischen Fakultät zur philosophischen überwechseln, um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, und erwägen, sich
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betraf, fand er, wenn man nur überhaupt einen habe, sei das ein Segen. Er spürte wohl, daß der Bruch in seinem Leben und Werk überwunden werden müsse, wußte aber zugleich, daß er nie wieder zu den alten Verhaltensweisen zurückkehren konnte, von denen er sich in solch schmerzhafter Weise gelöst hatte" (ibid., S. 94-95). Diese Seite von Tillichs Leben ist auch in aufsehenerTegenden Einzelheiten von Hannah Tillich in ihrem Buch: Ich allein bin. Mein Leben, Gütersloh: Mohn, 1993, beschrieben. Hirsch an Tillich, 21.6.1921. Hirsch an Tillich, 11.6.1921.
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aus dem Wingolf, der älteren Moralvorstellungen verpflichtet ist, zurückzuziehen. 7 1 In den darauffolgenden Briefen verläßt Hirsch die Diskussion über persönliche und familiäre Dinge und spricht das Thema der wissenschaftlichen Methode und Strenge an. Ein Brief vom 10. Juli 1921 ist in erster Linie eine Erwiderung auf eine offensichtlich von Tillich erbetene Auskunft über das Werk Karl Holls und dessen Meinung zu Tillichs Werk. Hirsch sagt, er kenne Holls Seele gut, und fügt hinzu, daß Holl kein Freund Tillichs sei, sondern Tillichs Werk mit einigen ernsthaften Zweifeln betrachte. Holl vermisse bei Tillich die Disziplin und Strenge, die für fundierte geistige Arbeit nötig seien, eine Einschätzung, die Hirsch teilt, obwohl er der Überzeugung ist, daß Tillich die Fähigkeit zu exakter wissenschaftlicher Arbeit habe, daß Tillich in der Tat einen größeren Intellekt habe als er selbst und daß er lediglich diesen Intellekt der Strenge der selbstdisziplinierten Arbeit unterordnen müsse. 72 Hirschs Kritik an dem, was er als Tillichs Mangel an wissenschaftlicher und methodischer Strenge sieht, kommt ein halbes Jahr später, in einem Brief vom 22. Januar 1922 sehr viel heftiger zum Ausdruck. Tillich hat Hirsch gerade sein Buch: „Masse und Geist" zugesandt. Hirschs Brief enthält eine lange Analyse und Kritik dieses Werks. Er beginnt mit der Beobachtung, daß ihre geistige Entwicklung sie zunehmend weiter auseinandertreibt und wie schwer nun gemeinsame Voraussetzungen zu finden sind. Tillich ist für Hirsch zum Übersetzer und Repräsentanten des modernen Denkens und der modernen Krise geworden, deren Grundgedanken Hirsch strikt ablehnt. Aber es ist im besonderen die Methode Tillichs, die Hirsch für unangebracht hält. 71
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Hirsch an Tillich, 26. und 28.6.1921. Bei all diesen Briefen ist bemerkenswert, wie hautnah Hirsch in Tillichs private Probleme verstrickt wird und wie sehr er sich um Tillichs Ruf und akademische Laufbahn sorgt, trotz ihrer zunehmenden theologischen und politischen Divergenzen. Wiederholt drückt Hirsch sein tiefes Gefühl der Zuneigung zu und Loyalität gegenüber Tillich aus. Hirsch an Tillich, 10.7.1921. Hirsch vermutet, daß Tillichs Ausbildung in grundlegenden Dingen und in wissenschaftlicher Disziplin an der Universität Halle zu wünschen übrig gelassen habe. Er schlägt vor, Tillich möge sich von Berlin in eine kleine, ruhige Stadt zurückziehen. Die Kraft des Geistes könne sich nur in solch innerer Einsamkeit und innerem Rückzug entfalten und nicht durch bühnenwirksame Beeinflussung vieler Menschen. In einem Brief an Eduard Geismar vom 26. Januar 1926 sagt Hirsch über Tillich: „Er ist einer unserer begabtesten jüngeren, aber leider ganz heidnischen Denker" (zit. in: Schjorring, Theologische Gewissensethik, S. 131, Anm. 30).
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Tillichs Stärke liegt in begrifflicher Schematisierung, aber es fehlt an Ernsthaftigkeit und Hingabe, es fehlt der Drang, letzte Schlüsse zu ziehen. Hirsch wirft Tillich vor, die historische Realität nicht einer emsthaften Analyse zu unterziehen, was persönliches Engagement verlange. Tillichs Überlegungen blieben abstrakt und unvollständig. Nach diesen Bemerkungen zu Tillichs Methode im allgemeinen bespricht Hirsch Tillichs „Masse und Geist" im einzelnen. In diesem Teil des Briefes wird schnell klar, wie weit die beiden in ihrer Theologie, ihrer theologischen Methode und in ihrer Ethik in Bezug auf Politik und Gesellschaft voneinander entfernt sind. Möglicherweise gibt Hirsch hier einen weiteren Schlüssel zum Verständnis ihrer Differenzen in ihrem späteren Streit. Es handelt sich - in Tillichs Terminologie - um Hirschs Sicht des Persönlichkeits- und Massetyps. Nach Hirschs Auffassung muß die Einzelpersönlichkeit in erster Linie in der Beziehung des Einzelgewissens zu Gott und erst in zweiter Hinsicht auf ihre soziale Funktion und deren Beziehungen hin betrachtet werden. Hirsch hat das Gefühl, daß Tillichs dialektischer Ansatz ihn des Respekts für die evangelische Lehre des Gewissens vor Gott beraubt hat. Durch Tillichs Versuch, ständig zwischen zwei Antithesen zu vermitteln, um zu einer höheren Synthese zu gelangen, ist er unfähig, sich für oder gegen eine bestimmte Seite zu entscheiden. 7 3 Die Korrespondenz von 1917-1918 stellt, die theologischen und philosophischen Voraussetzungen betreffend, einen frühen „Bruch" zwischen den beiden dar. Ihr Briefwechsel in den Jahren 1921-1922 scheint sich, wie wir sahen, mehr mit Politischem und Persönlichem beschäftigt zu haben. Man könnte sagen, daß die frühere Auseinandersetzung den theoretischen Grundstein für die spätere, konkretere und mehr an der Praxis orientierte Meinungsverschiedenheit gelegt hat. Ihre unterschiedlichen Ansichten zum Wesen der religiösen Erfahrung und ihre unterschiedlichen Gottesbegriffe bilden die theoretischen Grundlagen für ihre unterschiedlichen Lebensstile,
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Hirsch an Tillich, 27.1.1922. Wieder spürt man hinter diesem Brief zwei verschiedene Gottesbegriffe und Vorstellungen vean Verhältnis des einzelnen zu Gott.
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akademischen Arbeitsgewohnheiten und, was noch wichtiger ist, ihre entgegengesetzten politischen Überzeugungen in den 20er Jahren.
Weiteres geistiges Auseinanderstreben: Gegenseitige Buchbesprechungen, 1922 - 1927 Tillichs Schriften zu Masse und Persönlichkeit, Religion und Geist in den Jahren 1920 bis 1922, die ihren Höhepunkt in „Masse und Geist" fanden, und Hirschs Buch: „Deutschlands Schicksal" von 1920 sind, mehr als ein Jahrzehnt vor ihrer eigentlichen Entzweiung in den frühen 30er Jahren, eine grundlegende theologische und politische Wegscheide. Diese frühe Meinungsverschiedenheit zeigt sich am abrupten Abbruch der Korrespondenz zwischen 1922 und 1933. Während ihre Briefe von 1921 und 1922, zumindest auf Hirschs Seite, ein ehrlicher Versuch gewesen waren, des anderen Position zu verstehen und die Freundschaft aufrechtzuerhalten, durchläuft ihre Beziehung nun eine Durststrecke, auf der bemerkenswerterweise jeglicher direkte Kontakt fehlt (sofern das Fehlen von Briefen als Indiz gesehen werden kann). Dennoch scheint ein Interesse an den Schriften des anderen weiter bestanden zu haben. Was wir haben, ist eine Anzahl von recht fundierten Buchbesprechungen des jeweils anderen - wenigstens drei von Tillich und eine von Hirsch. 1922 besprach Tillich Hirschs „Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens. Ein Versuch zur Geschichte der Staats- und Gesellschaftsphilosophie" (1921) und „Der Sinn des Gebets" (1921). 74 In der Besprechung des ersten Werks faßt Tillich Hirschs Analyse der englischen liberal-utilitaristischen, der französischen utopisch-sozialistischen und der deutschen idealistisch-humanistischen Staats- und Gesellschaftstheorien zusammen. Tillich erkennt die Stärke von Hirschs Kritik am englischen Utilitarismus und am französischen säkularen Sozialismus an, kann aber nicht
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Tillich, Emanuel Hirsch: Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens. Ein Versuch zur Geschichte der Staats- und Gesellschaftsphilosophie, in: Theologische Blätter 1 (1922), S. 42-43; Tillich, Emanuel Hirsch: Der Sinn des Gebets, in: Theologische Blätter 1 (1922), S. 137-138.
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verstehen, weshalb Hirsch den Religiösen Sozialismus mit seinem Versuch, über die Säkularisierung des Reiches Gottes innerhalb der sozialistischen Bewegung hinauszukommen, dem allgemeinen Sozialismus einverleibt. Tillich kritisiert auch, daß Hirsch einen vierten Typus der Soziallehre, nämlich den der konservativ-lutherischen Gesellschaftslehre mit seinen feudalistischen und militaristischen Elementen, nicht behandelt. Trotz dieser Kritik hofft Tillich auf eine zweite Auflage des Buches, zum einen um seines geistigen Wertes willen und zum anderen, weil es den Blick erweitert, indem es die Reich-GottesProblematik in einen größeren, Uber das reformatorische Denken hinausgehenden Zusammenhang stellt. 75 Hirschs Buch und Tillichs Kritik rühren an ihre wichtigen unterschiedlichen Ansichten zum Reich Gottes und sollen in einem späteren Kapitel näher behandelt werden. In Tillichs Besprechung von Hirschs „Der Sinn des Gebets" kritisiert er wiederum dessen Gottesvorstellung und das, was er als Hirschs heteronome Sicht der Beziehung des einzelnen zu Gott sieht. Hirsch, so seine Kritik, stelle Gott und Menschheit als Objekte einander gegenüber, etwas, was nach Tillich „weder dem Wesen des Unbedingten [entspricht], das jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt steht, noch ... [dem] Bedingten, das von dem gegenständlichen Unbedingten rettungslos zerdrückt wird." 76 Für Tillich ist dies die größte Quelle für die Übertragung von Gesetzestreue auf das Gebet, also eine Form von Heteronomie, und führt zu einer einseitig autonomen Reaktion. Tillich führt fünf Jahre später, 1927, seine Kritik in gleicher Weise fort in einer Besprechung von Hirschs „Die idealistische Philosophie und das Christentum", ein Buch, das Tillich preist als das möglicherweise „Reifste, was die Arbeit der letzten zwanzig Jahre am Idealismus geleistet hat" und das er besonders empfiehlt, vor allem jenen, die daran interessiert sind, Fichte zu verstehen. 7 7 Wiederum kritisiert Tillich, was er als Hirschs Vergegen75 76 77
Vgl. Tillich, Emanuel Hirsch: Die Reich-Gottes-Begriffe, S. 43. Tillich, Emanuel Hirsch: Der Sinn des Gebets, S. 138. Tillich, Christentum und Idealismus. Zum Verständnis der Diskussionslage, in: Theologische Blätter 6 (1927), S. 29-40; auch in GW XII, S. 219-238. In dieser Zusammenschau diskutiert Tillich die Arbeiten von Friedrich Brunstädt, Emil Brunner, Wilhelm Lütgert und Emanuel Hirsch. Seine Besprechung von Hirschs „Die idealistische Philosophie und das Christentum" erscheint auf den letzten Seiten (vgl. GW XII, S. 235-238).
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ständlichung Gottes bezeichnet. Obwohl er begrüßt, daß Hirsch sich der idealistischen Tradition in ihrem Kampf gegen die Vergegenständlichung Gottes anschließt, argumentiert er dahingehend, daß Hirschs besonderes Verständnis des Gottseins Gottes, der Ich-Du-Beziehung zwischen dem Menschen und Gott und Gottes sittlicher Forderung wenig hilfreich ist, sondern entgegen Hirschs Absichten zu eben solcher Vergegenständlichung führt. „Das isolierte, ontologisch unfundierte Ich-Du-Verhältnis muß zu einer neuen 'dogmatischen Vergegenständlichung' des göttlichen 'Du' führen, sofern nicht diejenige Schicht des Seins erfaßt wird, in der jede Vergegenständlichung aufgehoben ist." 78 Erneut deckt diese Besprechung auf, welches Ausmaß die Unterschiede zwischen Tillich und Hirsch bezüglich ihrer verschiedenen Gottesvorstellungen, der menschlichen Beziehung zu Gott und des Wesens und der Grundlage der sittlichen Forderung in diesen Jahren angenommen haben. Aus dieser Zeit liegt wenigstens eine Rezension Hirschs von einem Buch Tillichs vor. Es handelt sich um die Besprechung von Tillichs „Religionsphilosophie" 7 9 vom Winter 1926. Er beginnt mit der Erklärung, weshalb Tillichs „System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden" von 1923, das er „eine der reifsten Leistungen neuerer deutscher systematischer Philosophie" nennt, nicht in der „Theologischen Literaturzeitung" (von Hirsch herausgegeben) besprochen wurde. 80 Zwei seiner Rezensenten hätten das Vorhaben einer Besprechung wegen der Schwierigkeit der Materie aufgegeben. Dieses neue Buch sei auch nicht einfach zugänglich, fügt er hinzu. Er habe sich dafür entschieden, das Buch seines Jugendfreundes selbst zu besprechen, obwohl er sich in fast vollständiger Opposition zu seinem Inhalt befinde. Hirsch fährt mit einer ausführlichen Darstellung von Tillichs theologischer Methode fort, mit seiner Sicht der Beziehung zwischen Religion und Kultur, seiner Gottesvorstellung als Symbol, in der Theonomie und 78 79
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Ibid., S. 238. Hirsch, Paul Tillich: Religionsphilosophie, in: Theologische Literaturzeitung 52, 3 (1926), S. 97-103. Ibid., S. 97. Hirsch bezieht sich hier auf Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden. E n Entwurf. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1923; auch in: GW I, S. 109-294.
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Autonomie versöhnt sind, seiner Überzeugung, daß der Glaube Atheismus und Theismus gleicherweise in sich trägt, und seiner Sicht des dämonischen Willens. Interessanterweise stellt Hirsch Tillich in die Tradition der Barthschen Dialektischen Theologie und argumentiert weiter, daß Tillich de facto aus dieser Theologie den letzten Schluß gezogen habe; nämlich, daß alles, was von Gott und Gottes Ja zum Menschlichen und Geschichtlichen gesagt werden kann, in paradoxe Begriffe gefaßt werden müsse. Eine Theologie, die wesentlich dialektisch sein will, sagt er, muß zu Tillichs radikaler Symbolik bezüglich Gott führen. Hirsch, der die Vorstellung eines lebendigen Gottes verteidigt, der kein Symbol, sondern der Urgrund allen Lebens ist, sieht Tillichs Religionsphilosophie als einen akademischen Angriff auf den christlichen Glauben selbst. 81 Trotzdem preist er Tillichs Buch nicht nur als gelehrt, eine Fülle von Ideen enthaltend, sondern als ernsthafte Schrift, „in der ein ganzer Mensch mit aller Kraft um die Lösung der größten und tiefsten Fragen ringt - eine Schrift darum, die jeden reicher macht, der die Kraft hat, mit ihr in einen geistigen Kampf sich einzulassen."82 Außer diesen vier Rezensionen und gelegentlichen Verweisen Hirschs auf Tillich in größeren Werken, 83 haben wir wenig direkte Anzeichen für die sich verbreiternde Kluft in ihrem Denken bis zum offenen Streit und Bruch 193435, abgesehen von zwei kurzen Aufzeichnungen, denen wir uns im nächsten Kapitel zuwenden wollen. Wir haben im vorangegangenen Überblick und der Analyse des biographischen Materials, der veröffentlichten Werke, der privaten Korrespondenz und Rezensionen festgestellt, daß die Unterschiede zwischen Tillich und Hirsch nicht plötzlich in den Jahren 1934-35 hervorbrachen, sondern theologisch bereits 1917-18, politisch und persönlich in den direkten Nachkriegs-
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Hirsch, Paul Tillich: Religionsphilosophie, S. 102. In einer kurzen „Erklärung" vom Januar 1927 wiederholt Hirsch seine hohe Meinung von Tillichs Buch „Religionsphilosophie" und verteidigt Tillich gegen den Vorwurf des Atheismus, den ein gewisser D. Traub erhoben hatte (vgl. Hirsch, Erklärung, in: Monatsschrift für Pastoraltheologie 22,3 [192η, S. 62-63). Vgl. Hirsch, Paul Tillich: Religionsphilosophie, S. 102-103. Vgl. z.B. Hirschs Bezüge auf Tillich in seiner Arbeit „Schöpfung und Sünde" von 1931, S. 90-97, Anm. 2 , 8 , 4 2 und 54. Aus Anmerkungen dieser Art wird klar, daß Hirsch weiterhin bewuBt seine eigene Theologie als Gegenpol zu der Tillichs entwickelt.
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jähren und in ihren Schriften in den frühen 20er Jahren vorhanden waren und in den darauffolgenden Jahren immer expliziter wurden. Wesentliche theologische Unterschiede - verschiedene Gottesvorstellungen, unterschiedliche Ansichten Uber das Wesen der religiösen Erfahrung und der Ethik bilden die Grundlage für ihre Debatte 1917-18. Grundsätzliche politische Unterschiede - Unterschiede in ihrer Sichtweise und ihren Erfahrungen des Krieges, in ihren Überzeugungen, politische Lösungen für Deutschland betreffend, in ihrem Verständnis der Beziehung zwischen „Persönlichkeit" und den „proletarischen Massen" - sind augenfällig in einer Reihe von Briefen Hirschs an Tillich in den Jahren 1919 bis 1921 wie auch in Publikationen der frühen 20er Jahre. Persönliche und das Privatleben angehende Unterschiede sind sichtbar in einer Reihe von Briefen Hirschs an Tillich zum Thema Sexualethik im Jahre 1921. Methodische Unterschiede - Unterschiede bezüglich dessen, was strenge wissenschaftliche Arbeit und Methode ausmacht werden 1921 und 1922 von Hirsch in Briefen an Tillich zum Ausdruck gebracht. Weitere grundlegende theologische und methodische Differenzen kommen in einer Reihe von veröffentlichten Rezensionen zu Werken des je anderen in den Jahren 1922, 1926 und 1927 unverhohlen zum Ausdruck. Diese zunehmenden Unterschiede in theologischen, politischen, persönlichen und wissenschaftlich-methodischen Fragen schaffen zusammen den notwendigen Hintergrund für das Verstehen des Wesens und der Richtigkeit der Beschuldigungen, die sie in ihrer Debatte von 1934-35 gegeneinander erheben sollten. Dennoch dürfen diese offensichtlich zunehmenden Differenzen nicht Uber die Existenz entscheidender Übereinstimmungen in vielen wesentlichen Punkten hinwegtäuschen. Es waren ihre Ähnlichkeiten, die sie ursprünglich intellektuell und persönlich angezogen hatten. Sie waren die Motivation für ihre Korrespondenz, dafür, ihre Bücher gegenseitig zu lesen und zu besprechen, ernsthaft und beharrlich mit dem Intellekt des anderen zu ringen, und sie schufen dieses tiefe Verlangen nach Übereinkunft, das jeder der beiden immer wieder zum Ausdruck bringt. Letztendlich waren es diese Ähnlichkeiten, die den Bruch 1934-35 so heftig und schmerzvoll machen sollten.
3 Zwei getrennte Wege: Der Bruch einer Freundschaft, 1933-1945
Bisher haben wir die geistige Entwicklung und die Freundschaft Paul Tillichs und Emanuel Hirschs durch zwei Zeitspannen hindurch verfolgt: den Beginn ihrer Freundschaft von 1907 bis 1914 und ihre geistige Auseinanderentwicklung zwischen 1914 und 1933. In diesem Kapitel wenden wir uns dem entscheidenden Jahr von Hitlers Machtergreifung (Hitler wurde im Januar 1933 deutscher Kanzler) und den Jahren des Dritten Reiches bis zum Jahr 1945 zu, einschließlich der Jahre des öffentlichen Streits zwischen Tillich und Hirsch 1934-35, der im Detail nochmals in Teil 3 behandelt werden wird. Die Jahre 1933, 1934 und 1935 sind der Höhepunkt sowohl die Unterschiede als auch die Ähnlichkeiten ihres theologischen und politischen Denkens betreffend. Einerseits bringen diese Jahre den endgültigen Bruch ihrer Beziehung aufgrund ihrer unversöhnlichen Haltungen, das Zerbrechen einer Freundschaft, die in den vorangegangenen Jahren zunehmend durch Spannungen belastet worden war. Einfach gesagt obsiegten die unterschiedlichen Diagnosen bezüglich des Ersten Weltkrieges, der Revolution von 1918/19 und der Weimarer Republik und ihre unterschiedlichen Prognosen und Vorschläge für Deutschlands Zukunft Uber ihre persönliche Freundschaft. Der endgültige Bruch zwischen Hirsch und Tillich hatte seine unmittelbare Ursache in Hirschs starker Unterstützung der „Deutschen Christen" und der nationalsozialistischen Bewegung im Unterschied zu Tillichs schroffer Kritik an der Wendung, die die Ereignisse nahmen, was seine Amtsenthebung von seinem Lehrstuhl an der Universität Frankfurt durch die Nationalsozialisten und seine Flucht ins Exil nach New York zur Folge hatte, wo er eine neue Karriere auf fremdem Boden begann. Ihre öffentliche Kontroverse von 1934-35 war der für jeder-
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mann weithin sichtbare äußere Ausdruck dieser grundlegenden Spaltung zwischen ihnen. Andererseits legt die Leidenschaft, mit der diese Kontroverse geführt wurde, nahe, daß etwas Tiefergreifendes vor sich ging als nur die Entzweiung zweier Freunde aufgrund unterschiedlicher politischer Entscheidungen im Jahre 1933. Der hitzige Schlagabtausch, besonders aber die Vehemenz, mit der Tillich das Buch des alten Freundes, „Die gegenwärtige geistige Lage", angriff, legt nahe, daß Hirsch für Tillich eine Art alter ego war. Was in ihrem 1934-35er Schriftwechsel an die Oberfläche kommt, sind nicht nur die Unterschiede zwischen diesen beiden Theologen, sondern auch wesentliche Ähnlichkeiten. Die zentrale These dieser Arbeit, die in einem späteren Teil bei der Behandlung der Vorwürfe und Gegenangriffe der Kontroverse ausführlich diskutiert werden wird, ist, daß es, trotz der offensichtlichen Unterschiede einige strukturelle Verwandtschaften zwischen Tillichs religiös-sozialistischen und Hirschs religiös-nationalistischen Kategorien gibt, die für eine Erklärung der Intensität der Konfrontation der beiden hilfreich sind. In diesem Licht muß, so meine ich, der Vorwurf des „Plagiats", den Tillich gegen Hirsch erhob, verstanden werden. In einem späteren Kapitel werden wir einige theologisch-politische Hauptwerke Tillichs und Hirschs aus den Jahren 1933-1935 ausführlich analysieren. Hier konzentrieren wir uns mehr auf ihre Biographien, d.h. auf einen groben Überblick Uber ihre Leben, ihre Ansichten und ihre kürzeren Schriften, die sie während der Jahre des Dritten Reiches, 1933-45, geschrieben haben.
Hirsch und der deutsche Kirchenkampf
Die Krise der Moderne Robert P. Ericksen behauptet zurecht in einer neueren Studie Uber drei lutherische Theologen, die Hitler und den Nationalsozialismus unterstützten, daß für die Erklärung der Positionen von Gerhard Kittel, Paul Althaus und
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Emanuel Hirsch in den Jahren ab 1933 ihr ausgeprägtes Gespür für die „Krise der Moderne" von Nutzen ist.1 Die industrielle und technologische Revolution hatte allgemein anerkannte Traditionen und Familienbande unterminiert zugunsten eines Pluralismus disparater Kulturen und Ideale. Die demokratische Revolution hatte versucht, individuelle Rechte und persönliche Freiheiten, wiederum auf Kosten anerkannter traditioneller Werte, zu festigen. Die moderne intellektuelle Revolution hatte Rationalismus und Empirismus unterlaufen, die seit der Renaissance zu Säulen der Wahrheit geworden und in der Aufklärung gefestigt worden waren. Die Theologie, insbesondere die moderne deutsche Theologie, spürte die Hauptlast dieser intellektuellen Krise der Moderne. Die Mythen der Religion, der Wissenschaft und der Vernunft wurden um die Jahrhundertwende zerbrochen und im August 1918 vollends zerstört Der erste Weltkrieg und die Zeit der Weimarer Republik machten allen ernsthaften theologischen Denkern in Deutschland bewußt, daß die vornehme Tradition der deutschen Liberalen Theologie des 19. Jahrhundert zu Ende war. Karl Barths Krisentheologie (unterschiedlich benannt als Theologie der Krise, Wort-Gottes-Theologie, dialektische Theologie oder neo-orthodoxe Theologie) war lediglich das extreme Beispiel für die Desillusionierung und die Zurückweisung des vorangegangenen Zeitalters der Liberalen Theologie. Die verschiedenen theologischen Fronten, wie sie sich in den 20er und 30er Jahren in Deutschland herausbildeten (sowohl Barths Krisentheologie auf der einen und Hirschs Nomos-Theologie auf der anderen Seite als auch Tillichs KairosTheologie in der Mitte) konnten nicht voneinander unterschieden werden anhand der Tatsache, ob sie die Krise der Moderne erkannten oder nicht (alle sahen sie), sondern nur daran, wie sie mit dieser Krise umzugehen suchten. Was jene Theologen, die Hitler und die nationalsozialistische Revolution unterstützten, wie Kittel, Althaus und Hirsch, von denen unterschied, die ihre entschiedenen Gegner waren, war nicht das Fehlen einer kohärenten intellek-
Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus. Aus dem Amerikanischen von A. Lösch. München: Hanser, 1986, S. 7-46 (zit. als: Theologen unter Hitler). Obwohl ich Ericksens Arbeit erst gegen Ende meiner eigenen Forschungen las, habe ich dankenswerterweise seiner ausgezeichneten historischen Studie zusätzliche biographische Informationen über Hirsch für dieses Kapitel entnehmen können.
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tuellen Position. Hirsch beispielsweise war nach Ericksen „intelligent und respektiert; und er widmete sich der Suche nach einem Verständnis des intellektuellen und spirituellen Erbes des Abendlandes auf intensivere Weise [als die meisten], drang tiefer in die Krise der Zeit ein. Statt ihn aber vor Irrtümern zu bewahren, ließ ihn dies zu einem noch stärkeren Befürworter Hitlers und des Nationalsozialismus werden." 2 Was diese Hitler befürwortenden Theologen von ihren Kritikern unterschied, war die Tatsache, daß sie „die gleiche Auffassung zum deutschen Nationalismus und den traditionellen, deutschkonservativen christlichen Wertvorstellungen [hatten]. Jeder von ihnen setzte der Entwicklung des Pluralismus in Deutschland seinen Widerstand entgegen, das heißt, sie alle stemmten sich gegen das Aufkommen der Moderne. ... Also hatte jeder von ihnen die Vision eines idealen Deutschland, in dem Autorität, Gehorsam und nationalistische Einheit zur Gemeinschaft führen würden." 3 Jeder von ihnen (Kittel, Althaus und Hirsch) hatte eine unterschwellig ambivalente Einstellung zur Aufklärung, die sie in gewisser Hinsicht als die Ursache der Krise der Moderne betrachteten. Jeder von ihnen lehnte einige, wenn nicht sogar die meisten Aspekte der Aufklärung ab. Hirschs Haltung zur Aufklärung und ihrer grundlegenden Annahmen ist vielleicht die am schwersten zu beurteilende. Mehr als Kittel und Althaus „begrüßte [er] das wissenschaftliche, rationale Erbe der Aufklärung mit Begeisterung als die selbstverständliche Haltung des modernen Menschen. Das heißt, er unterstrich den intellektuellen Modernismus, während er sich gleichzeitig gegen den politischen, sozialen und kulturellen Modernismus wandte. Die daraus resultierende Spannung stellte die Herausforderung für Hirschs Lebenswerk dar." 4 Nach Ericksen betrachtete jedoch jeder von ihnen seine eigene theologische und politische Position als einen Weg zur Wiederherstellung eines verlorengegangenen sozialen, moralischen und religiösen Zusammenhalts in einer modernen pluralistischen Welt. Jeder von ihnen verachtete die Weimarer Republik als Inbild der negativen Konse-
2 3 4
Ibid., S. 168. Ibid., S. 256-257. Ibid., S. 257.
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quenzen der Aufklärung wie in einem Mikrokosmos und begrüßte das Aufkommen des Nationalsozialismus als Neubeginn für Deutschland. In einem Brief von 1920 an einen vertrauten Freund machte Hirsch, der gerade eine Professur an der Universität Göttingen angenommen hatte, einige prophetische Bemerkungen über sich selbst. Seine Absicht sei es, sagt er, einen unabhängigen Weg zu gehen, und er sieht voraus, daß er sowohl von der Rechten als auch von der Linken schwer kritisiert werden wird. Die Rechte werde ihn als gefährlich einstufen, weil er ihnen zwar sehr nahestehe, aber dennoch keiner der ihren sei. Die Linke werde, wie sie es bereits tue, in ihm jemanden sehen, der der Rechten trotz seiner Erziehung im kritischen Denken und einiger radikal klingender Äußerungen anhänge. Er hoffe, einige außergewöhnliche Leistungen zu vollbringen und ein vermittelnder Theologe für die zukünftige Generation zu werden. 5 Wenn wir Hirschs Rolle im deutschen Kirchenkampf untersuchen und beurteilen, ist es wichtig, seine grundlegende Absicht im Gedächtnis zu behalten, daß er nicht hinter die Aufklärung zurückgehen wollte, wie Ericksen stellenweise behauptet, sondern theologisch wie politisch als ein vermittelnder Theologe in ein post-modernes Zeitalter voranzuschreiten gedachte. Dieses Ziel hatte Hirsch sich bereits früh gesteckt. Die Unabhängigkeit des Geistes, die nicht einfach in den Kategorien von links oder rechts unterzubringen ist, hat Hirsch von jeher charakterisiert, sogar zu Zeiten, in denen es zumindest oberflächlich den Anschein gehabt haben mag, als habe er seine Gedanken über die theologische Aufgabe der Kirche allzu sehr an das Denken der sogenannten nationalsozialistischen „Wiedergeburt" Deutschlands angepaßt. Einige jüngere Studien zu Hirschs Rolle im deutschen Kirchenkampf bestätigen meine eigene These in dieser Arbeit, nämlich, daß Hirschs Entscheidung, 1933 Hitler und dem Nationalsozialismus seine rückhaltlose Unterstützung zuteil werden zu lassen, wie auch sein aktiver Einsatz zugunsten der Deutschen Christen und Ludwig Müllers Kandidatur für das neu geschaffene Amt des Reichsbischofs, dem maßgebenden Kopf der neuen
Brief vom 29.8.1921; Bezugnahme darauf in einem unveröffentlichten Manuskript von Walter Buff, Hannover: .Abschied von Emanuel Hirsch."
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Reichskirche, keineswegs opportunistisch waren, wie einige behaupten, sondern sich in genereller Übereinstimmung mit seiner vorangegangenen geistigen und politischen Entwicklung befinden.6 Dies bedeutet durchaus nicht, zu leugnen, daß sich opportunistische Elemente in seinen Schriften und Taten während des Dritten Reiches finden, daß während der hitzigen kirchenpolitischen Ereignisse, besonders im Frühjahr und Sommer 1933, seine politischen Überlegungen seine tieferen theologischen Überzeugungen stellenweise Uberwogen. Im ganzen betrachtet, zeigt sich hingegen eine bemerkenswerte Kontinuität in allem, was er schrieb, und in alledem, wofür er vor und nach der Wende von 1933 einstand. Hirschs politische Ansichten, wie er sie in zahlreichen Abhandlungen während der 20er Jahre äußerte, von denen die wichtigste „Deutschlands Schicksal" von 1920 war, in dem er eine konservative politische Ethik vertrat, die der Revolution von 1918 und der sozialdemokratischen Regierung der Weimarer Zeit kritisch gegenüberstand, und in dem er für eine Rückkehr zu einem autoritären und zentral isti sehen deutschen Nationalstaat Bismarckscher Prägung unter einem starken charismatischen Führer eintrat, befanden sich in grundlegender Kontinuität mit dem, was er nun 1933 in Hitler und der NSDAP als den Auserkorenen für das neue Deutschland sah. Es ist sogar der Gedanke geäußert worden, daß sein Buch „Die gegenwärtige geistige Lage" von 1934, das aus einer Reihe von 1933 gehaltenen, die Ereignisse des Jahres positiv interpretierenden Vorlesungen besteht, und das Tillich so ärgerte und ihn dazu brachte, seinen ersten offenen Brief an Hirsch zu schreiben, eine Art vierter Auflage von „Deutschlands Schicksal" sei.7 Hirschs frühere theologische Sichtweisen, besonders seine Lutherinterpretation während der 20er Jahre und hierbei die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und der Trennung der zwei Reiche, konnten nun gut dazu dienen, um einerseits Bischof Müllers Vision einer nationaldeutschen Volkskirche zu untersützen,
Vgl. Ericksen, Theologen unter Hitler, S. 170 ff; Jens Holger Schjoning, Theologische Gewissensethik, S. 152. Diese Meinung vertrat Walter Buff, Hannover, in einem Gespräch am 16. Juni 1978. Die Bedeutung dieses Gedankens liegt darin, daß er die Durchgängigkeit von Hirschs früherem und späterem Denken betont.
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der Autonomie für die deutsche evangelische Kirche hinsichtlich ihrer Hauptaufgabe forderte, nämlich das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten, und andererseits dem neuen totalitären Staat uneingeschränkten Gehorsam entgegenzubringen. Darüber hinaus gab es einen direkten Zusammenhang zwischen seiner wissenschaftlichen Arbeit Uber Kierkegaard - er schrieb das Abschlußkapitel seiner Monographie Uber Kierkegaard im Herbst 1933 - und seiner politischen Unterstützung des Nationalsozialismus. Die zweifache Kierkegaardsche Betonung, einerseits des radikalen Einbrechens Gottes in die Geschichte und andererseits der Wendung zu subjektiver Innerlichkeit, in der der einzelne allein demütig und ergeben vor dem Herrn der Geschichte steht, wurde zur theologischen und philosophischen Grundlage, auf der Hirsch sein Konzept des „Wagens" einer uneingeschränkten Überantwortung an die nationale Wiedergeburt Deutschlands entwickelte, voll bewußt der Gefahren, die mit diesem Wagnis verbunden waren. 8 1933 nahm Hirsch mit seiner beeindruckenden historischen, theologischen und philosophischen Gelehrsamkeit Einfluß auf die gerade aufflammende Bewegung, den „heiligen Sturm", der Uber Deutschland hinwegfegte, den er als Gottes direkte Begegnung mit dem deutschen Volk betrachtete. Seine enthusiastische Unterstützung dieser Massenbewegung lag begründet in der tiefen Überzeugung, daß dem (politischen) Programm Hitlers und der NSDAP-Führung getraut werden könne und daß sie sowohl die katholische als auch die protestantische Kirche als unentbehrlich für das deutsche Ethos ansahen. Hirsch war von Hitlers Erklärungen, daß die Partei mit den beiden großen Konfessionen im Kampf gegen Materialismus und Gottlosigkeit und für die Schaffung eines neuen, gottesfurchtigen deutschen Staates zusammenarbeiten wolle, zweifelsfrei Uberzeugt.9 In seiner Rede vor dem Reichstag am 23.3.1933 sagte Hitler: „Die nationale Regierung sieht in den beiden christlichen Konfessionen wichtigste Faktoren zur Erhaltung unseres Volkstums. ... Die nationale Regierung wird in Schule und Erziehung den
8 9
Schjorring, Theologische Gewissensethik, S. 159 ff. Ibid., S. 178.
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christlichen Konfessionen den ihnen zukommenden Einfluß einräumen und sicherstellen." 10 Hirsch nahm diese öffentlichen Äußerungen für bare Münze und betrachtete sie als Anzeichen einer wirklichen Abkehr von der vorausgegangenen Weimarer Vision eines säkularen Staates. Dies wird in einer Reihe kleinerer Schriften aus dieser Zeit klar. Ericksens Behauptung, daß Hirsch „das wissenschaftliche, rationale Erbe der Aufklärung mit Begeisterung [begrüßte], während er sich gleichzeitig gegen den politischen, sozialen, kulturellen Modernismus wandte", trifft nur dann zu, wenn man politische, soziale und kulturelle Moderne eng als demokratischen Pluralismus definiert. Hirsch selbst sah seine eigene intellektuelle und politische Haltung nicht als Rückzug in die Zeit vor der Aufklärung oder der Moderne, sondern als eine neue vermittelnde Synthese, die über die Aufklärung und das 19. Jahrhundert, sowie die Moderne hinausging und nicht dahinter zurückblieb. Dies fand in einer Reihe seiner Schriften aus den frühen Jahren des Dritten Reiches deutlichen Ausdruck: „Vom verborgnen Suverän" (sie!) (1933), „Rede auf der Kundgebung deutscher W i s s e n s c h a f t " (November 1933), „Weltanschauung, Glaube und Heimat" (Januar 1936) und „Die Lage der Theologie" (Februar/März 1936).
Der verborgene Souverän Für die Erhellung seiner politischen Ansichten ist „Vom verborgnen Suverän" (sie!) vielleicht die wichtigste dieser Schriften. 11 In dieser kreativen Abhandlung politischen Denkens weist Hirsch sorgfältig nach, wie er und ein Kreis gleichgesinnter Denker während der Weimarer Zeit damit begannen, ein neues evangelisches Konzept des Staates zu entwickeln. Trotz gewisser Übereinstimmungen geht er in dieser Abhandlung hinaus Uber (a) die Lehre der Reformation vom unbedingten Gehorsam gegenüber der göttlich eingesetzten herrschenden Obrigkeit und (b) die konservative Sicht des 19. Jahr-
10 11
Zit. in: Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 286. Hirsch, Vom verborgnen Suverän (sie!), in: Glaube und Volk 2 , 1 (1933), S. 4-13.
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hunderte, daß der Staat nicht auf der Souveränität der Mehrheit fuße, sondern auf dem göttlichen Recht der Monarchie und ihrer Erbfolge. Was die Sicht des 19. Jahrhunderts von der Lehre der Reformation unterschied, war ja, daß sie den Gehorsam vom jeweiligen Obrigkeitstyp abhängig machte und damit wenigstens theoretisch bereit war, eine Revolution hinzunehmen. Die Novemberrevolution von 1918 gegen den Kaiser wurde bekanntlich von konservativen Lutheranern als Ungehorsam gegenüber der legitimen Obrigkeit angesehen und mußte daher bekämpft werden. Weder das Konzept des 16. noch das des 19. Jahrhunderts waren vereinbar mit der
Weimarer
Staatstheorie, gemäß der das Parlament einerseits und der Präsident andererseits direkt gewählt und somit nicht etwa einer höheren Autorität unterworfen, sondern einzig den Bürgern verantwortlich waren. Hirsch selbst lehnte die Novemberrevolution nicht deswegen ab, weil sie eine besondere Art der Revolution war. Darin war er dem Staatsverständnis des 19. Jahrhunderts näher als der reformatori sehen Sichtweise des unbedingten Gehorsams. Dennoch hätte er, obwohl er aus seiner Opposition zur Weimarer Republik keinen Hehl machte, die Konterrevolution in der gegebenen Situation nie geduldet. Dieser neue Staatsbegriff, den Hirsch zusammen mit einigen gleichgesinnten Lutheranern in der schwierigen Situation der Weimarer Zeit entwickelte, gründete in dem Autoritätsverständnis, daß jeder dem verborgenen Souverän unterworfen ist: der Volkszugehörigkeit. Weder die gerade herrschende Obrigkeit (wie im Sinne der Reformation), noch eine besondere Staatsform (wie im Sinne des 19. Jahrhunderts), sondern die Volksgemeinschaft als ganze wurde nun das Kriterium für jegliches politisches Denken und Handeln. Hirsch drückt dies folgendermaßen aus: Jedes Glied des Volkes ist durch sein bestimmtes Sicheingliedern in das Volk gerufen an seiner Stelle und mit der ihm gegebnen Vollmacht, Deuter und Vollstrecker des Willens dieses vorborgnen Suveräns (sie!) zu sein und damit rechte Staatlichkeit mit zu erfüllen und zu gestalten. Jede wirkliche oder beanspruchte Gewalt im Staate muß nach dem Maßstabe des, das nach dem Willen des verborgnen Suveräns (sie!) recht ist, geprüft und geurteilt werden in eignem Gewissensentscheid, der sich selbst nach dem
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Maße seiner Vollmacht durch Gott begrenzen läßt, und danach muß dann im Ja des Vertrauens oder Nein der Abwehr gehandelt werden.12 Volkszugehörigkeit, diese in gewisser Weise schwammige Grundlage für jegliches soziales und politisches Handeln (das, worauf sich Hirsch bezieht als „Grenze für"), die Norm, der sich das Volk als ganzes (einschließlich seiner Führer) unterzuordnen hat, darf nicht mit einer bestimmten Staatsform gleichgesetzt werden, sondern ist die notwendige Quelle eines jeden gesunden Staates. Hirsch und seine politischen Weggefährten wußten sehr wohl um die und wollten sich distanzieren von der vorherrschenden Mythologisierung und Glorifizierung des Volkes, die sie als Mißverständnis des richtigen Verhältnisses zur Volkszugehörigkeit ansahen und die nach ihrer Überzeugung möglicherweise von der jungen deutschen Freiheitsbewegung Uberwunden werden würde. Gefordert war eine konsequente Erziehung des Einzelgewissens in Bezug auf die wahre Natur und Sendung des Volkes und dessen Selbstbegrenzungen, die vor Gott verantwortet werden müssen. Obwohl Hirsch und jene Gleichgesinnten die Kontinuität sowohl mit der reformatorischen
Lehre als auch mit dem Kern des altpreußischen
Verständnisses von Gehorsam und Loyalität dem Staat gegenüber wahren wollten, unterschied sich der neue evangelische Staatsbegriff, der auf der Volkssouveränität aufbaute, in wenigstens zwei Aspekten von der Sichtweise des 19. Jahrhunderts. Erstens war man bereit, jede historisch gegebene Staatsform zuzulassen, solange sie dem wahren Kräftepotential und der Sendung des Volkes dienlich war. Der Weimarer Staat genügte diesen Ansprüchen eindeutig nicht. Dennoch konnte er als vorläufige politische Form, die für die deutsche Freiheit und ein neues nationales Selbstbewußtsein focht, in gewisser Weise bejaht werden. Weimar ermöglichte es einzelnen, wie z.B. Hirsch selbst, ein neues politisches Bewußtsein zu entwickeln. Zweitens konnte in gewisser Hinsicht die demokratische Staatsform, obwohl für Deutschland nicht geeignet, mit ihrer modernen Betonung der freien Partizipation all ihrer Bürger am Staat ein Zwischenstadium auf dem Weg zu
12
Ibid., S. 7.
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einem nationalbewußten Staat sein, in dem alle Mitglieder Rechte haben und Verantwortung für die Gestaltung der Gesellschaft Ubernehmen. Die Entwicklung und Umsetzung dieses dritten Weges, wie Hirsch ihn nennt, ist ein langsamer, schwieriger Prozeß und verlangt Geduld, besonders dann, wenn er verlangt, eine einfache Anpassung dieser Entwicklung an die Taktiken der Tagespolitik zu verhindern. Hirsch kritisiert besonders den ideologischen Mißbrauch der Reformationstheologie für die Legitimation des lauten Rufes nach einer Diktatur von Seiten jener, die in keiner Weise gedenken, die reformatorische Lehre vom unbedingten Gehorsam gegenüber bestehender Autorität, gleich welcher Art, zu akzeptieren. Für viele dieser Opportunisten ist der Ruf nach der Rückkehr zu einem reformatorischen Autoritätsverstandnis nach Hirschs Sicht eine Tarnung ihres eigenen unmittelbaren politischen Machtstrebens. Er betrachtet seine eigene Ansicht als eine dialektische, in der die reformatorische Lehre wirklich überwunden und an eine moderne Form des politischen Lebens angepaßt und dabei weder konservativ, noch demokratisch, noch sozialistisch ist. In der gegenwärtigen Situation muß daher die evangelische Kirche einerseits ihre Unabhängigkeit gegenüber allen Menschen, Bewegungen und Mächten bewahren, die in Deutschland miteinander ringen, und andererseits muß sie ihre unauflösliche Bindung zur Nation als ganzer in der Zeit des Kampfes für ein neues nationales Sein und Staatswesen erkennen und akzeptieren. Diese prekäre Position der Kirche ist nicht ungefährlich, jedoch ist sie das Risiko wert. Hirsch kritisiert scharf all diejenigen Theologen, die nicht bereit sind, dieses Wagnis für die Zukunft einzugehen und sich einfach auf die Sicherheit der Bibel, des Katechismus und des Bekenntnisses zurückziehen. Gottes Evangelium ist kein ein für allemal festgeschriebenes Gesetz. Das Evangelium befreit den Menschen nicht vom Wagnis des Denkens und Handelns in an neue historische Situationen angepaßten Bahnen: „Wir sind Gottes Mitarbeiter auch im Mitweben seiner Geschichte, auch in dem Ringen um neuen Raum und neue Möglichkeit und neue Staatsgestalt für unser Volk." 13
13
Ibid., S. 13.
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Hitler als Instrument der Vorsehung Als der Widerstand gegen Hitlerdeutschland sowohl im Inland als auch im Ausland wächst, scheint sich Hirschs eigener Entschluß, den Nationalsozialismus bedingungslos zu unterstützen, zu verfestigen. Dies wird deutlich in seiner „Rede auf der Kundgebung deutscher Wissenschaft" v o m 11.11.1933, in der er versucht, seine Interpretation der Ereignisse von 1933 zu rechtfertigen, ebenso wie die Meinung, daß der Nationalsozialismus und Deutschland, entgegen allen Widerständen, sich vereint hinter den Führer stellen sollten und würden. 14 Nach Hirsch hatte nichts zur Zerstörung der Moral und großen ethischen Ideen mehr beigetragen als der Versailler Vertrag, der versuchte, eine nationale Gemeinschaft auf Unwahrheit und Lügen aufzubauen. Für die jüngere Generation schien alles hoffnungslos. Es gab kein Ziel und keine Arbeit. Hirsch erinnert sich daran, daß er selbst bitter wurde und durch und durch davon überzeugt war, daß, wenn die Nation, die natürliche Basis menschlichen Lebens, krank sei, auch evangelischer Glaube und Leben krank seien. Glaube und Volk seien untrennbar. Dazu kam, daß der Marxismus das deutsche Volk in der Mitte gespalten hatte. Er kam zu der Überzeugung, daß, solange diese grundlegende Spaltung innerhalb der Deutschen bestehe, es kein wirkliches Gemeinschaftsleben geben könne, und daß Privatisierung und Neutralisierung alles Ethischen und Religiösen weiter um sich griffen. Dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung änderte sich dramatisch im Jahre 1933. Hirsch entdeckte plötzlich neue Hoffnung und Freude in den Augen seiner Studenten, sah, wie sie erkannten, daß sie nun eine Regierung hatten, die Disziplin und Opfer von der jungen Generation erwartete. Die einzig angebrachte Antwort auf diese wundersame Erneuerung von Hoffnung und Vertrauen in die Nation war: „Gott sei Dank, hier ist uns ein Grund gegeben, eine Möglichkeit, darauf läßt sich bauen, läßt sich auch Hirsch, Rede auf der Kundgebung deutscher Wissenschaft: veranstaltet vom sächsischen Gau des nationalsozialistischen Lehrerbundes zu Leipzig am 11. November 1933, S. 55-58.
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die Verkündigung des Höchsten und Letzten bauen. Gott sei Dank, unsre Arbeit als Lehrer der Wahrheit und Erzieher in Geist und auf Glauben ist wieder sinnhaft geworden." 15 Die marxistische Spaltung der Nation war Uberwunden. Hirsch versichert am Ende dieses kleinen Artikels, daß er auf Hitlers religiöse Integrität vertraue als auf jemanden, der offen zugibt, nichts anderes als das Instrument der Vorsehung und des Schöpfers aller Dinge zu sein. „Wir Deutsche", sagt Hirsch, „sind auf dem Wege fort aus dem Lande des Unglaubens, zurück zu dem Heiligen, das wir zu vergessen in Gefahr waren, und ohne das wir nicht leben können als einzelner und als Volk." 16 Seine abschließende Loyalitätsbekundung gegenüber Hitler ist rückhaltlos und enthusiastisch: „Das 'Ja' zu dieser Stunde ist in mir lebendig, ist von Herzens Grunde in mir lebendig als ein Dank gegen den Gott, der nach langer Schande und Nacht uns allen in Flammen aufgegangen ist. Wenn auf morgen der Führer uns ruft, uns zu dem neuen nationalsozialistischen Deutschland zu bekennen, Mann für Mann, Frau um Frau, so antwortet es aus mir: Ja. Ich sage es als deutscher Mann, als evangelischer Christ und Theologe, als Lehrer der Universität. Ich sage es mit als eine kleine Stimme in dem großen Chor, der auf den Ruf des Führers antwortet: Wir sagen Ja, wir folgen ihm. Heil Hitler!" 17
Glaube und moderne Weltlichkeit Obwohl Hirsch einer der wenigen bekannten deutschen lutherischen Theologen war, die ihre Meinung zum Nationalsozialismus nie öffentlich revidierten, lassen manche seiner Schriften bis 1936 zumindest indirekt vermuten, daß er nicht von Hitler, sondern davon, daß die Kirche dem Führer ihre Unterstützung versagt hatte, ernstlich enttäuscht war. So schrieb er nach den ersten drei Jahren des Dritten Reiches im Januar 1936 den kleinen Artikel „Weltanschauung, Glaube und Heimat", in dem er den Kampf der Kirche als 15 16 17
Ibid., S. 57. Ibid., S. 58. Ibid.
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schmerzvollen Übergang zu einer neuen Form christlichen Verstehens und christlicher Theologie interpretiert. Er sagt, der Nationalsozialismus habe den christlichen Kirchen einen wahren Dienst erwiesen, nicht nur indem er sie vor der Bedrohung durch den Bolschewismus bewahrt habe, sondern sie auch gezwungen habe zu durchdenken, was wirklicher Glaube an das Evangelium in der modernen Welt bedeute: „Denn er hat uns in die Lage gebracht, in der wir verloren sind, wenn wir die lutherische Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium und zwischen irdischem und ewigem Reich nicht von Grund auf neu lernen." 18 In diesem Artikel reiht Hirsch die nationalsozialistische Revolution in die moderne westeuropäische Geschichte ein. Große Veränderungen gehen im politischen, wirtschaftlichen, persönlichen und religiösen Selbstverständnis der Europäer im allgemeinen und der Deutschen im besonderen vor sich und machen eine Rückkehr zu einem vorangegangenen, voraufklärerischen Bekenntniszeitalter unmöglich. Nach Hirsch ist der Nationalsozialismus
ein
echter Versuch der Sinnfindung in einer modernen nachaufklärerischen säkularen Welt. Nach den Zerstörungen des 30jährigen Krieges war es noch möglich gewesen, das deutsche Volk auf der Basis gemeinsamer Werte, eines inneren religiösen Zusammenhaltes, einer auf eine gemeinsame biblische, lutherischkonfessionelle Weltanschauung gegründeten Einheit aufzubauen. Die Deutschen fühlten, eine unverfälschte, religiös begründete Heimat zu haben. Im Laufe zweier Jahrhunderte wurde dieses Heimatgefühl jedoch allmählich zerstört. Dies geschah einerseits durch die moderne Technologie und Wirtschaft, andererseits durch die Auflösung des biblisch begründeten Weltbildes durch den modernen intellektuellen Geist. Hirsch läßt keinen Zweifel daran, daß es sinnlos ist, zu versuchen, das alte Zusammengehörigkeitsgefühl neu aufleben zu lassen. „Wir haben nicht den sinn- und hoffnungslosen Versuch zu machen, ob wir in die Kinderstube des bibel- und konfessionsgebundenen deutschen Lebens nach dem Dreißigjährigen Kriege
Hirsch, Weltanschauung, Glaube und Heimat, in: Zweifel und Glaube (Frankfurt a.M.: Verlag Moritz Diesterweg, 1937), S. 52-64, hier: S. 64; ursprünglich veröffentlicht in: Deutsches Volkstum, Januar 1936, S. 17-25.
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zurückkehren können. Wir haben die Lage anzunehmen und in ihr eine neue deutsche Heimat für uns und unsere Nachfahren aufzubauen." 19 Nach Hirsch hatte die nationalsozialistische Revolution durch eine neuerliche Verschmelzung von Moral und Ordnung die Schaffung einer neuen deutschen Heimat und eine neue lebenserhaltende Weltanschauung ermöglicht. Die dämonische Atomisierung des modernen ökonomischen und intellektuellen Lebens wurde überwunden. „Und es soll geschehen auf dem Boden und mit den Mitteln einer Einsicht in das menschliche Leben und seinen letzten Zusammenhang, die die Zerstörung des biblischen und konfessionellen Weltbildes durch die geistige Arbeit der Menschheit der letzten Jahrhunderte mit vorbehaltloser Ehrlichkeit annimmt." 20 Hirsch sieht den Nationalsozialismus nicht als ein auf Deutschland begrenztes Phänomen, sondern als bedeutsam für das Schicksal der modernen europäischen Kultur Uberhaupt. Er kann nur im westlichen Kontext der modernen Säkularität richtig verstanden werden. Im Kern der Bewegung steht nach wie vor die religiöse Frage: Was geschieht nun in einem nach-konfessionellen Zeitalter mit dem christlichen Glauben, der in den vergangenen Jahrhunderten eine so entscheidende Rolle bei der Schaffung einer deutschen Heimat gespielt hat? Die einzige Möglichkeit für den christlichen Glauben, weiterhin eine bedeutende Rolle in der westlichen und deutschen Sozialgeschichte einnehmen zu können, ist eine klare Unterscheidung von ewigem und irdischem Reich. Das Reich Jesu Christi ist nicht von dieser Welt; es kann nicht länger als offenkundige Bestimmung der äußeren Ordnung des kollektiven nationalen Lebens betrachtet werden. Hierin unterscheidet sich die zeitgenössische evangelisch-christliche Sicht klar von der j ü d i s c h e n Gesetzesreligion wie auch von der heidnischen Stammesreligion (die unglücklicherweise in Deutschland eine Wiedergeburt erlebt hat). Die neue deutsche Sicht des Lebens und der Gesellschaft unter dem Nationalsozialismus rühmt sich nicht länger biblisch-konfessioneller Wurzeln. Christen müssen daher den christlichen Glauben als in erster Linie die Ewigkeit angehend und als den ver-
19
20
Ibid., S. 54. Ibid.
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borgenen Grund der menschlichen Existenz verstehen. So mangelt es ihm nicht an Bedeutung für das soziale Leben, sondern er übt seinen Einfluß lediglich als verborgene Macht aus, die bei der Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens und der Schaffung einer gemeinsamen Weltanschauung hilft. Weder das jüdische Himmeisgesetz noch das heidnische heilige Volksgesetz trennten das ewige und das irdische Reich korrekt voneinander. Hierin übertrifft die christliche Verkündigung beide, denn Christus ist das Ende des Gesetzes und gibt dem Menschen die Freiheit, vorbehaltlos für die Gestaltung des Gemeinschaftslebens nach den jeweiligen nationalen Bedürfnissen und Erfordernissen einzutreten, ohne dabei die ewige und die irdische Sphäre zu vermischen. Die deutsche Weltanschauung und der christliche Glaube sind daher zwei verschiedene Dinge, die unverfälscht in ein und derselben Person miteinander existieren können, obwohl man nicht voraussetzen kann, daß alle Mitglieder des deutschen Volkes einen solchen christlichen Glauben haben. Der vierte oben angesprochene Artikel, „Die Lage der Theologie", hat den bitteren Beigeschmack tiefer Enttäuschung darüber, daß die evangelische Kirche durch den deutschen Kirchenkampf auseinander gerissen wurde und daß sie versagte, die Gunst der Stunde zu nutzen, um tatkräftig der Bewegung der nationalen Erneuerung Gestalt zu geben.21 Hirsch wurde klar, daß, wann immer auch die Theologie auf dominante Weise versucht, die Form der Kirche zu bestimmen, sie die Möglichkeit der Kirchenspaltung heraufbeschwört. Trotz seiner Enttäuschung hält er jedoch standhaft und eindeutig an dem, was er als Forderung der Stunde betrachtet, fest. Hirsch beginnt mit der Frage des sogenannten Weltanschauungskampfes, indem er diejenigen mit einigem Hohn abtut, die die deutsche Glaubensbewegung als ihren Hauptfeind sehen, die in seinen Augen jedoch eine unbedeutende Minderheit und ein vorübergehendes Phänomen ist. Der Kernpunkt ist, daß ohne eine geeinte geistige Heimat, ohne die Disziplin, die im Rahmen einer gemeinsamen Weltanschauung auf dem Boden eines gemein-
21
Hirsch, Die Lage der Theologie, in: Deutsche Theologie 3,2/3 (Februar/März 1936), S. 36-66.
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samen Glaubens an Gott möglich ist, das deutsche Volk dem Untergang anheim gegeben ist. Die eigentliche Aufgabe der Kirche und der Theologie ist es nicht, gegen die erstarkende Bewegung der nationalen Erneuerung anzukämpfen, sondern als gläubige Christen ihr zu dienen und zu helfen. Dazu ist ein wirkliches Verständnis der Unterscheidung von Evangelium
und
Weltanschauung nötig. Einige Theologen hatten bereits in der Zeit zwischen 1918 und 1933 damit begonnen, beides zu trennen, indem sie das Evangelium betrachteten als etwas, das freien Einlaß in das ewige Leben gewährt, und die Weltanschauung als etwas, das die nötige Stabilität und den Zusammenhalt des irdischen Lebens gibt. 22 Sie irrten sich aber darin, daß sie den Durchschnittsbürger sich weiterhin in seiner eigenen säkularen Weltanschauung mit natürlich-historischen Realitäten bar jeden ethischen und religiösen Idealismus beschäftigen ließen. „Nie werden wir Weltanschauung und Evangelium richtig gegeneinander abzugrenzen lernen, wenn wir uns nicht getrauen, der ganzen volkhaften und menschlichen Sphäre unsers natürlich-geschichtlichen Daseins ethisch-religiös so die Ehre zu geben, daß wir sie als die Stätte, an der Gott Menschen ruft und findet, und an der auch das Christentum lebendig empfangen werden will, kennen und daraus die Folgerungen ziehen für unser theologisches Denken und unsre kirchliche Arbeit." 23 Was nach Hirschs Ansicht die Ereignisse des Jahres 1933 zum folgenschweren Wendepunkt in der deutschen Geschichte macht, ist, daß sie der Höhepunkt einer neuen Weltanschauung sind, die während der vergangenen dreihundert Jahre herangewachsen ist und sich noch immer im Prozeß der Entwicklung befindet. Wie diese neue Weltanschauung letztendlich aussehen wird, ist nicht völlig klar, denn was gerade durchlebt wird, ist eine Phase des Übergangs. Die altprotestantische Form von Theologie und Kirche ist jedoch immer weniger in der Lage, den Bedürfnissen dieser sich neu entwickelnden Weltanschauung gerecht zu werden. Dieser Übergang von der Weltanschauung des 19. Jahrhunderts und ihrer Theologie zu der kommenden neuen ist unglaublich schwierig für Theologie und Kirche, muß aber mit Mut in
22 23
Ibid., S. 40. Ibid., S. 41.
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Angriff genommen werden. „Wir hängen nun schon seit langem gleichsam nackt und bloß zwischen der Gestalt des christlichen Glaubens, die für uns vergangen ist, und der neuen, die noch nicht da ist." 24 Was diesen Übergang zu einer neuen Weltanschauung für Theologie und Kirche so schwierig macht, ist die Tatsache, daß das traditionelle reformatorische Bibelverständnis und die dogmatischen Voraussetzungen der lutherischen Orthodoxie und des Konfessionalismus nicht länger das Denken der großen Mehrheit prägen. Die traditionellen theologischen Lehren sind überholt, obwohl sie zum Teil wesentliche Erkenntnisse enthalten, die eine Anpassung an die neue Situation ermöglichten. Die reformatorische Wiederentdeckung und Veränderung des Evangeliums durch Martin Luther kann gegenwärtig nur von nutzen sein, wenn wir durch sie in irgendeiner Weise ein neues christliches Verständnis entwickeln können, das unserer Situation angepaßt ist. Ein einfaches Wiederauflebenlassen veralteter theologischer Dogmen wird nicht genügen. Hirsch ist besonders kritisch gegenüber jenen, die noch immer unkritisch an der altprotestantischen Orthodoxie festhalten, die das Evangelium in eine Ansammlung starrer Dogmen verkapseln, die nicht länger die Kraft haben, die moderne Situation zu erleuchten und aufklärend auf sie zu wirken. Luther selbst wußte, daß Lehren menschlich und zeitlich bedingt sind und dem Evangelium selbst untergeordnet werden müssen. Er hatte ein dialektisches Verständnis der Beziehung zwischen Evangelium und der geschichtlichen Situation, was für die heutige Generation ein Anknüpfungspunkt sein kann. Die Aufgabe und die Sendung der evangelischen Kirche können nicht auf ein parteipolitisches Programm, weder links noch rechts, reduziert werden. Denn die „politische Gemeinschaft und Gemeinschaft des Glaubens und der Anbetung stehn nicht unter dem gleichen Lebensgesetz. In der politischen Gemeinschaft ist der Grundwille die vernünftige Selbstbehauptung allen Mächten des Daseins gegenüber, in der Gemeinschaft des Glaubens und der Anbetung ist der Grundwille das verlangende Offenstehen vor der geheimnisvoll sich bezeugenden göttlichen Wahrheit Eine Kirche, die ihre Lehre und ihr Bekenntnis wie ein Parteiprogramm und einen Marschbefehl braucht, hat den
24
Ibid., S. 42.
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Grundwillen der Gemeinschaft des Glaubens und der Anbetung verleugnet und ist zu einer pseudopolitischen Gemeinschaft geworden." 25 Dies geschah im 19. Jahrhundert hinter der Maske einer wissenschaftlichen Weltanschauung, bei der die Wahrheit zum Parteigänger geworden war. Hirsch sagt: „Und das ist jedem Verständigen klar: eine steif auf Lehre und Bekenntnis sich gründende Kirche vermöchte heute, sie sei so geschickt wie sie nur kann, nichts zu sein als eine Weltanschauungspartei, die gegen andere Weltanschauungen Front macht, und würde daher ein Riß durch die Gemeinschaft derer bleiben, die zusammen glauben und anbeten sollten." 26 Hier denkt Hirsch offensichtlich nicht nur an die Barthianer und die Mitglieder der Bekennenden Kirche, die eine Liste von sechs bekennenden Thesen gegen die Deutschen Christen auf der Barmer Synode vom 29.-31. Mai 1934 verfaßt hatten, sondern auch an andere konservative Lutheraner, die, obwohl sie nicht Mitglieder der Bekennenden Kirche waren, eine Beschränkung auf die altlutherische Orthodoxie gegen die weniger konfessionell denkenden Deutschen Christen forderten.
Die ökumenische Bewegung Während der Jahre des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik waren Hirschs politische Äußerungen vorwiegend theoretischer Natur. In den frühen 30er Jahren, besonders im Frühling und Sommer 1933, wurde er jedoch sehr viel stärker in die aktive Kirchenpolitik verstrickt. Die kontroversen Positionen, die er während dieser turbulenten Jahre einnahm, können nur im Licht der theologischen und politischen Voraussetzungen recht verstanden werden, die bereits aufgezeigt wurden. Einer der ersten kirchenpolitischen Anlässe, die ihn auf den Plan riefen, war die ökumenische Bewegung. Bereits 1925, im Jahr der Weltkirchenkonferenz von Stockholm, hatte er bezweifelt, daß die Einflechtung Deutschlands in das internationale ökumenische Netz
25 26
Ibid., S. 62. Ibid., S. 63.
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klug sei, und äußerte den Verdacht, daß der Ruf nach Kircheneinheit Uber nationale Grenzen hinweg nur politisch motiviert sei, und die Überzeugung, daß die Grenzen des Volkes und der Kirche im Idealfall zusammenfallen sollten. Hirschs Rolle in der Debatte verstärkte sich 1931 bei einem Treffen der internationalen ökumenischen Führerschaft in Hamburg, als er und Paul Althaus einen gemeinsamen Protest gegen die deutsche Teilnahme an der internationalen Ökumene veröffentlichten. Wie sein Protest gegen den internationalen Pazifismus beruht Hirschs Kritik an der weltweiten Ökumene auf der Überzeugung, daß in allen internationalen Organisationen Deutschland stets benachteiligt werde. Dies war die Konsequenz aus der politischen Situation nach dem ungerechten Versailler Vertrag mit seiner falschen Kriegsschuld-Klausel, den
destruktiven
Reparationsforderungen der Alliierten und dem Verbot deutscher Kolonialherrschaft. Danach half jede internationale Kirchenzusammenarbeit unter Beteiligung deutscher evangelischer Kirchenführer mit, die internationale Ausbeutung Deutschlands weiterhin zu verschleiern. Hirsch und Althaus standen mit dieser Meinung nicht allein. Obwohl ihr Protest von 1931 sowohl im Inland als auch im Ausland hauptsächlich negativ aufgenommen wurde, erfuhren sie in Deutschland zunehmend Unterstützung und scheinen einen bemerkenswerten Einfluß auf Teile der deutschen evangelischen Kirchenführung bei deren Umstimmung gegen die ökumenische Bewegung gehabt zu haben. 27 Mit seinem Artikel: „Oxford 1937 und Herr Oldham" übte Hirsch erneut öffentlich an der weltweiten ökumenischen Organisation und ihren Unterorganisationen Kritik, da sie, trotz ihres oberflächlichen Eintretens für weltweite soziale Probleme, die wahren politischen Ungerechtigkeiten, wie sie seit dem Versailler Vertrag gegen Deutschland verübt wurden, nicht öffentlich anprangerten. 28 Dr. J. H. Oldham, Vorsitzender der Forschungskommission des Ökumenischen Rates, hatte im Vorgriff auf die Weltkonferenz in Oxford vom 12.-26. Juli 1937 ein Buch über „Church, Nation and State" geschrieben, in dem er die Gefahren für den christlichen Glauben beim Namen nannte, die 27 28
Vgl. Ericksen, Theologen unter Hitler, S. 194-197. Hirsch, Oxford 1937 und Herr Oldham, in: Deutsches Volkstum. Monatsschrift für das deutsche Geistesleben (März 1937), S. 196-203.
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von den neuen totalitären Regimes in Rußland, Italien und Deutschland ausgingen. Hirsch kritisiert vor allem Oldhams Vergleich des nationalsozialistischen Staates mit Rußland. Aber viel wichtiger ist, daß er Oldham, diesen international tätigen englischen Christen, beschuldigt, antichristliche Regungen in Deutschland genau zu einer Zeit zu schüren, in der das neue Regime endlich der jungen Generation nach Jahren der nationalen Schmach und Schande Ehre, Freiheit und Brot zurückgegeben habe. Statt Propaganda gegen Deutschland zu machen und Bolschewismus und Nationalsozialismus als identische Gefahren für die europäische Kultur abzustempeln, sollten die christlichen Kirchen der Welt dem deutschen Nationalsozialismus dankbar dafür sein, daß er ein europäisches Bollwerk gegen den antichristlichen Bolschewismus errichte. Oldham nütze, so behauptet Hirsch, seine offizielle Position aus, um seine privaten Ansichten zu verbreiten, um als politischer Handlanger für eine bestimmte Auffassung der weltgeschichtlichen Situation zu agieren und damit das Christentum und die Kirche zu schädigen. Hirsch fragt, was passieren würde, wenn etwa die deutschen nationalsozialistischen Christen das Forum der Weltkonferenz benutzten, um eine gemeinsame Proklamation zu verabschieden gegen die Gefahr für die christliche und kirchliche Disziplin, die von den demokratischen Freiheitsbewegungen in England, Nordamerika und Frankreich ausgeht. Hinter Hirschs Aussagen steht die feste Überzeugung, daß es einen wesentlichen Unterschied zwischen dem anglikanischen und reformierten Christentum einerseits und dem deutschen lutherischen Christentum andererseits gibt. Nach lutherischem Verständnis ist nur ein einziges gemeinsames christliches und kirchliches Wort möglich, nämlich die Verkündigung Jesu Christi, d.h. die Verkündigung des ewigen Lebens durch die freie Gabe von Gottes Liebe in Jesus Christus. Auf welche Weise dies im einzelnen Christen verwurzelt ist und sich auf dessen nationales Leben und die Kultur auswirkt, kann nicht von einer internationalen Kirchenkonferenz geklärt werden. Lediglich Einzelchristen und Lehrer, die relativ kleine Personenkreise vertreten und voll am Leben ihres eigenen Volkes teilhaben, können dies leisten. Hirsch erkennt an, daß die anglikanische und die reformierte Christenheit niemals völlig die lutherische Lehre bezüglich Gesetz und Evangelium akzeptiert haben
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und daher schon immer ein anderes Verständnis der Beziehung zwischen Kirche und Staat hatten; was ihn jedoch verwundert, ist die Naivität, mit der Oldham versucht, die Weltkirchenkonferenz im Sinne der anglikanisch-reformierten Auffassung des Christentums und der Beziehung der Kirche zum öffentlichen Leben zu gestalten. Anschließend fordert Hirsch die Christen aus aller Welt, die sich bei der Konferenz in Oxford versammeln werden, auf, sich den Deutschen Christen dahingehend anzuschließen, daß sie die Freiheit des einzelnen christlichen Gewissens und die Einheit, die im persönlichen Glauben an Jesus Christus liegt, anerkennen, ohne sich in nationale oder Kirchenpolitik zu verstricken. Die deutschen nationalsozialistischen Christen betreffend fügt Hirsch zuversichtlich hinzu: „Wir werden als Jünger Jesu Christi, die dem Evangelium im Glauben gehören, unsern Weg auf Erden in Treue und Hingabe an unser Volk und unsern Staat gehen und werden unser Leben und unser Herzblut im Kampfe um die Vollendung des deutschen nationalsozialistischen Neuaufbaus einsetzen." 29 Daraus wird klar, daß Hirsch, obwohl von der theologischen und kirchlichen Uneinigkeit in Deutschland, die aus dem deutschen Kirchenkampf resultierte, enttäuscht, 1937 noch nicht vom Nationalsozialismus als solchem und seiner Form der nationalen Erneuerung desillusioniert war. Die Affaire „Dehn" Eine zweite politische Angelegenheit, in die Hirsch hineingezogen wurde und die seine akademisch-universitären Belange und seine zukünftige Haltung in Berufungsfragen prägte, war die .Affaire Dehn". Günther Dehn (1882-
Ibid., S. 203. In einem später im gleichen Jahr geschriebenen Artikel „Nachruf auf Oxford", denkt Hirsch weiter über die ökumenische Bewegung im Licht der OxfordKonferenz nach und kritisiert dabei nicht so sehr die anerkannten Führer der Bewegung, denn die Bewegung selbst: „Es ist Schuld der Institution", sagt er. „Die ökumenische Bewegung, so wie sie bisher aufgezogen ist, ist eine Art internationaler Kirchenparlamentarismus. Das Wesen des Parlamentarismus ist, daß das Können und die Verantwortung des tüchtigen Einzelnen und vieler tüchtiger Einzelner untergeht im verantwortungs- und inhaltslosen Gerede" (in: Deutsches Volkstum [Oktober 1937], S. 738-740, hier: S. 740).
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1970) wurde 1932 trotz seiner ausgesprochen pazifistischen Tendenzen und seiner harschen Kritik am deutschen Militarismus und konservativen Nationalismus zum Professor für Praktische Theologie an der Universität Halle berufen. Dehns Berufung nach Halle rief wachsende Unruhen und Ablehnung von seiten der dortigen konservativen Studenten hervor und erlangte bald landesweit Aufmerksamkeit, was Theologen vom Format eines Hirsch einerseits und eines Barth andererseits auf den Plan rief. Am 27. Januar 1932 verfaßten Hirsch und ein theologischer Kollege aus Göttingen, Hermann Dörries, eine gemeinsame Verlautbarung, in der sie sich im Endeffekt auf die Seite der Studierenden gegen Dehn schlugen. Ursprünglich hatte sich Hirsch absichtlich nicht in die Kontroverse eingeschaltet, da er den undisziplinierten Aktionen der Studenten kritisch gegenüberstand und befürchtete, seine Einmischung könne noch mehr Unruhe auslösen. Doch nach Dehns Publikation „Kirche und Völkerversöhnung" von 1931 sah ersieh nicht länger in der Lage zu schweigen. In ihrer gemeinsamen Verlautbarung bekräftigen Hirsch und Dörries die Wichtigkeit der akademischen Freiheit und die einzige Bedingung für alle akademischen Anstellungen: akademische Qualifikation für Forschung und Lehre. Bei der gegenwärtigen Verwirrung unter den Deutschen bezüglich der Kriegsfrage erkennen sie darüber hinaus die Notwendigkeit an, theologischen Denkern die Freiheit zuzugestehen, unparteiisch ihre eigene Position bei diesem wichtigen Gewissensentscheid zu durchdenken. Nach diesem Zugeständnis stellen sie jedoch die folgende Bedingung für alle Akademiker, sogar für solche mit pazifistischen Tendenzen wie Dehn: „Zunächst die Erkenntnis, daß die Nation und ihre Freiheit bei aller Fragwürdigkeit des kreaturlichen Lebens auch für den Christen von Gott geheiligte Güter sind, die seine ganze Hingabe des Herzens und des Lebens fordern, und aus dieser Erkenntnis folgend das Bekenntnis zu dem leidenschaftlichen Freiheitswillen unseres Volkes, das von macht- und habgierigen Feinden geknechtet und geschändet wird." 3 0 Diese Erkenntnis war es, die die jungen Deutschen 30
Hirsch und Hermann Dörries, Zum halleschen Universitätskonflikt, in: Die Wartburg 31, 2 (1932), S. 46-47; hier: S. 47. Vgl. auch: Ericksen, Theologen unter Hitler, S. 198.
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zurecht bei Dehn vermißten, und so hatte Dehn selbst mit seinen öffentlichen Äußerungen die eigene Autorität als Lehrer dieser jungen Menschen untergraben. Hirsch und Dörries danken der deutschen Jugend für ihr Engagement für Freiheit und Volk und bekunden ihre Solidarität mit ihr.
Die Deutschen Christen Wir kommen nun im einzelnen zu Hirschs politischen Verflechtungen mit den Deutschen Christen und seinem Eintreten für die Sache des Nationalsozialismus. Wie viele andere konservative Nationalisten hatte Hirsch bis 1932 die rechte Deutschnationale Volkspartei, die Hitler und der radikaleren Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) in gewisser Weise skeptisch gegenüberstand, unterstützt. Als der schicksalhafte Sieg Hitlers und der Nationalsozialisten immer sicherer wurde, galt jedoch der NSDAP seine Loyalität. Unter der Überschrift: „Ich werde Hitler wählen!", erklärt er seine Entscheidung in einem strategischen Brief an eine örtliche Parteizeitung, dem Göttinger Tageblatt, am 9. April 1932, dem Vorabend der Präsidentschaftswahlen: Sie wissen, daß ich nicht Nationalsozialist bin und mehr als ein durchaus nicht leichtes Bedenken gegen die NSDAP habe. Sie wissen auch, daß ich Hugenberg für den von seinem Volke nicht erkannten rechten Staatsmann für die gegenwärtige Notzeit halte. ... Aber ich komme nicht um die Tatsache herum, daß in der ohne mein Zutun entstandenen verfahrenen Lage am zehnten April sich mir Hitler als einziger Repräsentant eines Willens zum Bruche mit den Fehlern des Jahrzwölfts 1919 bis 1931 und zu einem neuen deutschen Anfang bietet 31 Hirschs Wechsel in das andere politische Lager spiegelt seinen starken Glauben daran wider, daß etwas Vorbestimmtes und Schicksalhaftes keime und daß Hitler das Sprachrohr des Volkes geworden sei. Das Volk sprach. Gleichzeitig zeigt dies seine weiterhin bestehende Gespaltenheit gegenüber der Partei und einiger ihrer politischen Entscheidungen, eine Gespaltenheit, die Zit. in: Ericksen, Theologen unter Hitler, S. 200 und S. 312, Anm. 112.
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jedoch schnell in den Hintergrund gedrängt wurde. Mit seinem starken Gespür für die Tragik des Schicksals nicht nur in seinem persönlichen, sondern auch im Leben des Volkes verteidigte Hirsch, nachdem er einmal seine Wahl getroffen hatte, unbeirrbar die neue Richtung, in die die Nationalsozialisten Deutschland nun führten. Dennoch trat er bemerkenswerterweise erst am 1. Mai 1937 der Partei offiziell bei, lange nachdem viele protestantische Theologen und Pfarrer enttäuscht der Sache bereits wieder entsagt hatten. 32 Warum er zu einem solch späten Zeitpunkt eintrat, ist nicht völlig geklärt, aber es zeigt wiederum, daß Hirsch nicht opportunistisch handelte, sondern bestätigt die Unabhängigkeit seines Charakters und politischen Denkens. Sehr viel schwerer abzuschätzen ist Hirschs Beziehung zu den Deutschen Christen, jener Fraktion innerhalb der deutschen evangelischen Kirche, die Hitler Glauben schenkte und Unterstützung angedeihen ließ, einschließlich seiner Rassenpolitik, und Hirschs Verbindung zur Kirchenadministration unter der Leitung Ludwig Müllers. Nach Klaus Scholder, „gehört [Hirsch] zweifellos zu den am schwersten zu deutenden Personen der Theologiegeschichte."
33
neueren
In der Zeit nach dem ersten nationalen Konvent der
Deutschen Christen Anfang April 1933, auf dem die Deutschen Christen eine Angleichung der evangelischen Kirche an den neuen Staat und die Schaffung einer nationalen deutschen protestantischen Kirche (Reichskirche) unter der Leitung eines nationalen Bischofs (Reichsbischof) forderten, wurde Hirsch zu einer zentralen Figur am Puls der deutschen kirchenpolitischen Ereignisse und des deutschen Kirchenkampfes. 34 Um Hirschs Beziehung zu den Deutschen Christen gerecht zu beurteilen, ist es wichtig, die Splittergruppen innerhalb dieser Bewegung zu unterscheiden. James A. Zabel hat die verschiedenen deutsch-christlichen Gruppierungen angemessenerweise in einen konservativen, einen opportunistischen und einen radikalen Hügel unterteilt. 35 Alle drei hatten gemeinsame Wurzeln
32 33 34 35
Vgl. Unterlagen des Berliner Dokumentationszentrums. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 127. Ibid., S. 178 ff. James A. Zabel, Nazism and the Pastors. Missoula: Scholars Press, 1976. Vgl. auch: Helmreich, The German Churches Under Hitler, S. 78 ff.
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im deutschnationalen Denken des 19. Jahrhunderts, das von Denkern wie J. G. Fichte und Ernst Moritz Arndt repräsentiert wird, und doch hatte jeder Hügel seine besondere Ideologie, die in den jeweiligen Zeitschriften Ausdruck fand. Der konservative
Hügel, vertreten durch die
Christlich-Deutsche
Bewegung (CDB), existierte als eigenständige Gruppe seit 1930 bis zu ihrer Auflösung im Herbst 1933. Zu ihren Mitgliedern zählte sie führende Universitätsprofessoren wie Emanuel Hirsch, Heinrich Bornkamm und Paul Althaus. Bemerkenswert an dieser Gruppe, so Zabel, ist, daß sie sich hauptsächlich aus Gliedern der „besseren Gesellschaft" zusammensetzte, die politisch die „Tradition des konservativen preußischen Nationalismus" unterstützten und sich eher zur Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) hingezogen fühlten als zu den Sozialdemokraten oder dem Zentrum. Aufgrund ihrer lutherisch-orthodoxen Theologie - sie war die einzige Gruppierung, die den Begriff „christlich" vor „deutsch" stellte - konnte die CDB die vorchristlichen Ansichten der radikaleren nationalistischen Gruppen nicht akzeptieren. Dennoch, sagt Zabel, „ließ sie den Bestrebungen der Nationalsozialisten von 1933 an die Anerkennung und Unterstützung eines großen Teils des deutschen Protestantismus zuteil werden." 36 Die zweite Gruppierung war die Glaubensbewegung Deutsche Christen (GDC), die seit ihrer Gründung im Juni 1932 durch den Berliner Distriktleiter der Partei, Wilhelm Kube, bis zu ihrem faktischen Ende nach dem SportpalastFiasko im November 1933 eine Art Schirmorganisation für alle anderen Gruppierungen Deutscher Christen war. 37 Nach Zabels Ansicht war das Unterscheidungsmerkmal dieser Gruppe gegenüber der CDB, daß sie „die Wurzeln des modernen Bösen im Bismarck-Reich sah und daher nach einer neuen Lösung für das deutsche Schicksal suchte, die sie besonders in der 36 37
Zabel, Nazism and the Pastors, S. 224 (Ü.a.d.O.). Eine kurze Zusammenfassung des Sportpalast-Fiaskos vgl.: Arthur C. Cochrane, The Church's Confession Under Hitler. Pittsburgh: The Pickwick Press, 1976, S. I l l ff. und Helmreich, The German Churches Under Hitler, S. 149 ff. Am 13. November fand im Berliner Sportpalast eine Massenkundgebung der Deutschen Christen statt, bei der in radikalen Reden von Repräsentanten der Bewegung, wie etwa Joachim Hossenfeider und besonders Dr. Reinhold Krause, die Bewegung der Deutschen Christen diskreditiert wurde.
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nationalsozialistischen Partei zu finden glaubte." 38 Zabel bezeichnet diese Gruppe als „opportunistisch", da sie versuchte, alle national Gesinnten unter den nationalsozialistischen Zielen zu vereinigen, was in meinen Augen nicht für alle ihre Mitglieder gerechtfertigt ist. Ihre Wortführer, so Zabel, setzten letztlich „Parteiprinzipien an die erste und christliche Prinzipien an die zweite Stelle", wie es sich in ihrer leichtfertig zustimmenden Interpretation des Eintretens der Partei für ein „positives Christentum" widerspiegelt. 39 Die Gruppierung verwarf auch das Elitedenken der CDB zugunsten eines radikalegalitären Denkens der „unteren Schichten". Ihre Gesinnung war stärker antisemitisch und stimmte grundsätzlich mit der nationalsozialistischen Rassenpolitik und ihrer autoritär strukturierten Organisation überein, was in den zehn Leitlinien vom 6. Juni 1932 festgelegt wurde. 4 0 Eines ihrer Hauptziele war die Schaffung einer Reichskirche unter der Leitung eines Reichsbischofs. Pfarrer Joachim Hossenfelder war der nationale Führer der GDC, und Ludwig Müller, der spätere Reichsbischof, war einer ihrer frühen Mitstreiter, der jedoch im November 1933 gezwungen wurde, sich von Hossenfelder zu distanzieren. Zabel stellt fest, daß mit der Auflösung der konservativen CDB 1933 einige ihrer führenden Mitglieder, unter ihnen Emanuel Hirsch und Paul Althaus, der GDC beitraten. Obwohl also Zabels Charakterisierung der GDC als „opportunistisch" wegen ihres Versuchs, eine 38 39
Zabel, Nazism and the Pastors, S. 224 (Ü.a.d.O.). Der Ausdruck „positives Christentum", wie er bei der NSDAP ab 1930 benutzt wurde, war ein schwammiger Begriff, der eine Vielzahl von Auslegungen zuließ. Zabel schreibt dazu: „So wie das Wort 'Sozialismus' im Begriff 'Nationalsozialismus' vage und offen für verschiedene Interpretationen war, so war 'positives Christentum' ein den Nationalsozialisten nützlicher Begriff, wiegt er doch die Gläubigen in Wunschvorstellungen, ohne eine konkrete Bedeutung zu entfalten" (in: Nazism and the Pastor, S, 112-113; Ü.a.d.O.). Eine detaillierte Diskussion der verschiedenen Interpretationen des Begriffes während der Hitlerzeit in: Zabel, S. 111-129. Das neunte Prinzip der „Richtlinien der Glaubensbewegung Deutsche Christen" lautete: ,Jn der Judenmission sehen wir eine schwere Gefahr für unser Volkstum. Sie ist das Eingangstor fremden Blutes in unseren Volkskörper. Sie hat neben der Äußeren Mission keine Daseinsberechtigung. Wir lehnen die Judenmission in Deutschland ab, solange die Juden das Staatsbürgerrecht besitzen und damit die Gefahr der Rassenverschleierung und Bastardisierung besteht. Die Heilige Schrift weiß auch etwas zu sagen von heiligem Zorn und sich versagender Liebe. Insbesondere ist die Eheschließung zwischen Deutschen und Juden zu verbieten" (in: Joachim Hossenfelder, Unser Kampf. Schriftenreihe der .JDeutschen Christen", Nr. 1. Berlin: Verlag Max Greveninger, 1933, S. 6-7).
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gemeinsame protestantische Front zur Unterstützung der nationalsozialistischen Ideologie zu bilden, in gewisser Weise berechtigt sein mag, ist sie, einzelne Theologen wie Hirsch betreffend, der im großen ganzen nicht opportunistisch genannt werden kann, nicht differenziert genug. Die dritte Fraktion in Zabels Schema war die
thüringische
Kirchenbewegung Deutsche Christen (KDC). Diese Gruppe, deren Anfänge in das Jahr
1927 zurückreichten und deren Führer die pietistischen
„Erweckungsprediger" Pfarrer Siegfried Leffler und Julius Leutheuser waren, bildete die radikalste und unorthodoxeste von allen; sie überlebte unter verschiedenen Namen bis 1940. Sie zog die unteren Schichten der Bevölkerung an, „Menschen, deren Theologie emotional, eingänglich und enthusiastisch w a r " 4 1 , und sie war am fanatischsten und revolutionärsten in ihrer Gleichsetzung des „politischen Glaubens an Hitler mit dem Glauben an Gott" 42 , indem sie Adolf Hitler und die deutsche Volksgeschichte de facto als etwas Göttliches und als Offenbarung betrachtete. Sie war nicht intellektuell und dogmatisch orientiert, betonte vielmehr praktisches Christentum und Religiosität Uber alles und besaß keine führenden Theologen in ihren Reihen. Eine der interessantesten Fragen ist natürlich, was Hitler und die Parteielite über diese verschiedenen Gruppierungen in der evangelischen Kirche dachten, die sich dem neuen Staat mehr oder weniger eifrig anbiederten. Hitler wollte erwiesenermaßen Parteipolitik von Kirchenpolitik trennen und rief wiederholt, besonders nach der Machtergreifung, einige führende Nationalsozialisten dazu auf, die Partei nicht mit einer bestimmten kirchlichen Gruppierung ineins zu setzen. Aber 1932 und im Frühjahr und Sommer des Jahres 1933 benutzte er die GDC zur Festigung seiner Macht. Andererseits ist erwiesen, daß Hitler versuchte, sich nach dem Sportpalast-Debakel von der GDC zu distanzieren und dazu sogar seinen früheren Freund und Vertrauten Ludwig Müller preisgab, der so immer mehr zu einer einsamen Figur mit wenig Einfluß innerhalb der Partei und der evangelischen Kirche wurde. Nach Helmreich hatte Hitler dagegen dem fanatischeren nordisch-religiösen Hügel
41 42
Zabel, Nazism and the Pastors, S. 171 (Ü.a.d.O.). Ibid., S. 181 (Ü.a.d.O.).
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der Deutschen Glaubensbewegung nie viel Beachtung geschenkt, obwohl führende Parteifunktionäre an dessen jährlichen Ritualen teilgenommen zu haben scheinen. 43 Wo war nun Hirsch im Spektrum der Deutschen Christen im allgemeinen und den verschiedenen Splittergruppen innerhalb der uneinheitlichen Deutschen Christenbewegung im besonderen anzusiedeln? Dieser Frage wollen wir auf den folgenden Seiten nachgehen. Um ein genaues Bild zu bekommen, ist es notwendig, die Chronologie der Ereignisse im Frühling und Sommer 1933, dazu eine Reihe von veröffentlichten Werken Hirschs, sowie seine persönliche Korrespondenz jener Zeit zu betrachten. Es ist ziemlich klar, daß Hirsch ideologisch vor Beginn des Jahres 1933 in die Reihen der ersten Gruppe Deutscher Christen, d.h. in die von Zabel als konservativ definierte Christlich-Deutsche Bewegung, einzuordnen ist. Wie viele andere Mitglieder dieser Gruppe schätzte Hirsch gründliches theologisches Denken, obwohl es etwas irreführend ist, ihn als orthodox-lutherisch, wie Zabel die zu dieser Gruppe Gehörenden charakterisiert, einzustufen, besonders angesichts Hirschs beharrlicher Kritik an der lutherischen Orthodoxie und am Konfessionalismus (Altprotestantismus). Wie wir oben sahen, wollte Hirsch einen dritten Weg außerhalb des Altprotestantismus und des theologischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts einschlagen, einen Weg, der Luthers Theologie ernst nahm, sie aber intellektuell wie politisch dem neuen Zeitalter anpaßte. Er war höchst kritisch gegenüber scholastisch-lutherischen Dogmatikern, die strikt an einer Christologie und Trinitätslehre des 4. Jahrhunderts in einer Zeit festhalten wollten, in der diese Lehren eine geringe oder gar keine Bedeutung für die Mehrzahl der Deutschen hatten. 44 Darin hatte er mehr mit der zweiten Gruppe in Zabels Schema, der Glaubensbewegung Deutsche Christen, gemein, die weniger dogmatisch orientiert war und beabsichtigte, die traditionelle Theologie an die gegenwärtigen politischen und kirchlichen Bedürfnisse und Aufgaben anzupassen oder neu zu interpretieren.
43 44
Helmreich, The German Churches Under Hitler, S. 407 ff. Ibid., S. 241 ff.
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Ein biographisch-intellektuelles Portrait An dieser Stelle muß jedoch betont werden, daß Hirschs Identifikation mit
den Deutschen Christen im Winter 1932 und Frühling 1933 nuancierter war, als es oft dargestellt wird. 4 5 Schjorring behauptet zurecht, daß Hirsch nicht einfach unkritisch das deutsch-christliche Verständnis von Kirche und deren Verhältnis zum Staat Ubernahm. Er zitiert dazu einen Brief Hirschs an den Landesbischof von Hannover, August Marahrens, vom 15. April 1933, in dem Hirsch das deutsch-christliche Ziel der Errichtung einer Volkskirche als einerseits ein unmöglich erreichbares, gleichzeitig jedoch unausweichliches bezeichnet. In dieser Situation wurde Hirsch zum kirchenpolitischen Realisten und unterstützte nach Kräften die Forderung nach einem „evangelischen Nuntius" als dem Repräsentanten der Kirche gegenüber dem nationalsozialistischen Staat, und forderte, eine solche Person binnen 14 Tagen zu finden. In der damaligen Lage meinte er, die einzigen drei für eine solche Position allein in Frage kommenden Kandidaten seien Paul Althaus, Heinrich Rendtorff und möglicherweise er selbst, seien sie doch die einzigen drei Theologen, die die Ziele der jungen nationalistischen Bewegung entschieden vertraten.46
Einerseits verteidigt er in seinen Schriften jener Zeit die allgemeine deutsch-christliche Haltung und identifiziert sich mit ihr. Andererseits gehörte er den Deutschen Christen offiziell nur kurze Zeit an und kritisierte die radikalen und enthusiastischen Mitglieder der Bewegung. In einem Gespräch mit Walter Buff (das von Buff aufgezeichnet wurde) vom 11. Mai 1963 berichtete Hirsch über die Jahre 1933-34. Er betonte, sich 1933 geweigert zu haben, dem Berliner Kreis der Deutschen Christen beizutreten. 1934 sei er Mitglied des Hannoveraner Kreises geworden, jedoch im August des gleichen Jahres wieder ausgeschieden, weil er nicht habe verhindern können, daß Christentum und Volkstum vermischt wurden. Er sagte, die Deutschen Christen seien nicht willens gewesen, die Kreuzzugsidee fallen zu lassen und Evangelium und Volk, sowie Christentum und politische Gemeinschaft nicht zu vermischen (Buff an Reimer, 11. Januar 1980). Hirsch kommentierte das gleiche Thema in einem Brief an Hans Grimm von 1958. Darin schrieb er, keine offizielle oder repräsentative Meinung über die Ansichten der Deutschen Christen geben zu können, da er zwar 1933 und Hann wieder nach dem Herbst 1934 ein Deutscher Christ, aber nicht offiziell Mitglied gewesen sei. Hossenfelder, sagt er, habe ihn nicht als Mitglied haben wollen, weil dieser ihn als einen zu großen Freidenker betrachtet habe. Nach dem Herbst 1934 habe er mit der einzig noch verbliebenen Gruppe, den Thüringer Deutschen Christen, nicht zur Ubereinstimmung gelangen können, weil diese Parteidisziplin verlangt hätten und er erklärt habe, er würde unter keinen Umständen seine Freiheit aufgeben, einen persönlichen Standpunkt einzunehmen - das Wort Emanuel Hirschs müsse immer das reine, verantwortliche Wort Emanuel hirschs bleiben (Hirsch an Grimm, 3. Juni 1958; Hans-Grimm-Archiv, Lippoldsberg/Weser; von Walter Buff zur Verfügung gestellt). Schjorring, Theologische Gewissensethik, S. 179; vgl. auch: Ericksen, Theologen unter Hitler, S. 201.
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Bischof Ludwig Müller und die neue evangelische Volkskirche Am 25. April 1933, wenige Tage nach jenem Brief an Marahrens, berief Hitler den Königsberger Armeepfarrer Ludwig Müller (1883-1945) zum außerordentlichen Verbindungsoffizier zwischen dem Staat und den protestantischen Kirchen. Müller wurde schnell zu einer der Schlüsselfiguren der kirchenpolitischen Ereignisse der folgenden Monate. Nachdem Hirsch das besondere Vertrauen bemerkt hatte, das Hitler in Müller setzte, ließ er Müller seine volle Unterstützung angedeihen und wurde neben Karl Fezer, einem jungen und angesehenen praktischen Theologen an der Universität Tübingen, Mitglied einer internen Beratergruppe um Müller.47 Müllers Charakter und Handlungen sind von Historikern des deutschen Kirchenkampfes scharf verurteilt worden. Klaus Scholder beispielsweise hat wenig Liebenswertes über Müller zu sagen: „Ludwig Müller, der durch Hitlers Erlaß am 25. April plötzlich aus der Anonymität heraustrat und der dann im Herbst für einige Zeit der erste und einzige Reichsbischof der Deutschen Evangelischen Kirche werden sollte, war ein schwacher Charakter. Der damals 50jährige stammte aus Westfalen, war im Krieg Marinepfarrer geworden und bei dieser Laufbahn geblieben, die ihn 1926 als Wehrkreispfarrer nach Königsberg geführt hatte. Er war in seinem Amt der Typ des frommen Routiniers, der sich allen Situationen anzupassen verstand und die Sprache der pietistischen Kreise Westfalens ebenso beherrschte wie den forschen Ton der Reichswehrkasinos." 48 Nach Scholders eher einseitiger Einschätzung fand Müller sich nach dem Sommer 1933 unter dem Einfluß fragwürdiger Berater in ein immer dichter werdendes Netz von Lügen und Intrigen verstrickt, bis er nicht nur für die Kirche sondern auch für Hitler, der das Vertrauen in ihn vollständig verloren hatte, völlig inakzeptabel geworden war. Nach 1935 bis zu seinem Tode in Berlin 1945 wurde er zur Randfigur. Hirsch war einer jener engen Berater, die Müller gerade deswegen unterstützten, weil er, zumindest
47 48
Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 403. Ibid., S. 391.
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anfänglich, einerseits die Unterstützung und das Vertrauen Hitlers genoß und er andererseits die allgemeinen Vorstellungen der Deutschen Christen von einer Volkskirche vertrat. Tatsächlich nahm Müller eine Art Mittelposition innerhalb der Deutschen Christen ein und hoffte wirklich, die Kirche unter einer
neuen
Kirchenadministration zu einen, eine Hoffnung, die auch zu Hirschs Enttäuschung bald aufgegeben wurde. Obwohl Müller und sein enger Beraterkreis sich mit der Sache der Deutschen Christen identifizierten, bemerkten sie bald, daß sie sich vom radikaleren Flügel der Deutschen Christen distanzieren mußten, wollten sie diese Einheit erreichen. Das Haupthindernis für eine Kircheneinigung waren schon immer die Spannungen zwischen den drei Bekenntnistraditionen der Lutheraner, Reformierten und Unierten gewesen. Die radikaleren Deutschen Christen wollten von diesen Bekenntnisrichtungen zugunsten einer größtenteils lutherisch geprägten, vereinten evangelischen Kirche ablenken. Die konservativen Traditionalisten hielten an der Unverletzlichkeit der verschiedenen konfessionellen Strömungen fest und waren lediglich willens, sich auf eine Kircheneinheit in Form eines losen konfessionellen Zusammenschlusses zuzubewegen. Ludwig Müller und sein engster Kreis versuchten, einen Kurs zwischen diesen beiden Positionen zu steuern, indem sie die Notwendigkeit einer dauerhaften, verfaßten Union, die lediglich auf den Gemeinsamkeiten aller Bekenntnisse fußte, betonten. Letztlich aber forderte Müller ein neues Bekenntnis, das die Unterstützung des gesamten deutschen Volkes genösse. Dieses gemeinsame Element zu finden, erachteten er und seine Berater nun als die frommste Aufgabe der deutschen evangelischen Christenheit. Müllers Absicht wurde in einer Reihe von Interviews im Mai 1933 deutlich, in denen er ein neues Bekenntnis forderte, das an die historischen Bekenntnisse anknüpfte und das Fundament einer neuen Reichskirche bilden sollte. Tatsächlich stand Müllers Vision dieses neuen Bekenntnisses in Einklang mit den ostpreußischen deutsch-christlichen Richtlinien, die besagten: „Die Ewigkeitswahrheit Gottes, wie Christus sie gelehrt hat, soll in einer der deutschen Seele verständlichen Sprache und Art
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verkündigt werden." 49 Als Ergebnis seines Wunsches, einen Mittelweg zu gehen, sah Müller sich bald auch uneins mit Joachim Hossenfelder, mittlerweile der nationale Führer der Deutschen Christen, und nahm zusammen mit Hirsch und Fezer Einfluß auf die Ausarbeitung der neuen modifizierten Richtlinien der Deutschen Christen vom 16. Mai 1933.50 Der deutsche Kirchenkampf konzentrierte sich somit im Mai 1933 auf eine vorgeschlagene Verfassung und die Wahl eines nationalen Bischofs für die neu gegründete evangelische Kirche. Besonders die Wahl des Reichsbischofs rief Hirsch auf den Plan. Müller wurde am 18. Mai offiziell vom ostpreußischen Flügel der Deutschen Christen nominiert, nachdem die traditionelle Bekenntnisbewegung den bekannten und geachteten Pfarrer aus BethelBielefeld, Friedrich von Bodelschwingh, als Kandidaten aufgestellt hatte. Die nationale deutsche Christenbewegung, mit Hossenfelder an der Spitze, stellte sich bald hinter den Kandidaten Müller. Wir können hier nicht auf Einzelheiten der dann folgenden verwirrenden Ereignisse eingehen, wie etwa die Treffen zu später Stunde, die Angriffe und Gegenangriffe der verschiedenen kirchlichen Fronten, die schließlich zur Wahl von Bodelschwinghs am 27. Mai führten. Die Deutschen Christen waren allerdings nicht willens, diese Wahl zu akzeptieren und fochten sie formal an, um damit von Bodelschwinghs Führerschaft, wo immer möglich, zu unterminieren. Am 24. Juni schließlich sah sich von Bodelschwingh zum Rücktritt gezwungen, und Müller ging aus den neu anberaumten Kirchenwahlen als Sieger hervor. Offiziell wurde er am 27. September 1933 auf der nationalen Synode der Deutschen Evangelischen Kirche in Wittenberg zum Reichsbischof gewählt. Er sollte von einem „geistlichen Rat" unterstützt werden, der aus einem Juristen und Repräsentanten aller drei Bekenntnisse bestand. In seiner Antrittsrede verkündete Müller: „Das Alte geht zu Ende, das Neue kommt herauf. Der kirchenpolitische Kampf ist vorbei. Der Kampf um die Seele des Volkes
49
50
Ibid., S. 396. Es ist fast Ironie, daß Müllers Forderungen nach Bekenntnisemeuerung den Appellen von Hans Asmussen und den Anfangen der Bekennenden Kirche, sich auf das Bekenntnis zu besinnen, ähnelte, obwohl dahinter deutlich unterschiedliche theologische Absichten standen (Scholder, S. 395 ff). Schjoning, Theologische Gewissensethik, S. 180.
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beginnt." 51 Wenig wußte er davon, daß der Kirchenkampf de facto gerade erst begonnen hatte und daß die Einheit der Kirche in wenigen Monaten eine Ruine sein würde. Hirschs wichtige Rolle bei den Ereignissen im Kampf um den Reichsbischof darf nicht geleugnet werden. Er scheint ein gut Teil dazu beigetragen zu haben, daß von Bodelschwinghs Führung unhaltbar wurde. Am 4. Juni wurde eine von Hirsch in der Nacht vom 16. zum 17. Mai verfaßte Erklärung in der Zeitschrift „Evangelisches Deutschland" abgedruckt, in der er vorbehaltlos Müller als Reichsbischof unterstützte. Am 7. Juni rief Hirsch im gleichen Blatt zu einem Volksentscheid auf, in dem allen Kirchenmitgliedern die Möglichkeit gegeben werden sollte, ihre Meinung über die neue vorgeschlagene Verfassung und den Reichsbischof kundzutun. 52 Nach Schjorring, der generell der Ansicht ist, daß Hirschs Entscheidungen und Positionen von 1933 mit seinem Denken während der 20er Jahre übereinstimmten, waren Hirschs Handlungen während dieser Phase des Kampfes politisch bestimmt und genügten in jeder Hinsicht Hitlers politischen Interessen. 53 Schjorring faßt Hirschs Position in dieser Phase des deutschen Kirchenkampfes folgendermaßen zusammen: ,3s gibt in dieser Phase nicht einen wesentlichen Punkt, in dem er politisch von der Parteilinie abwich. Er trat theologisch und politisch für einen gemäßigten deutsch-christlichen Kurs ein und blieb als einer der wenigen Theologieprofessoren auch dann dem Reichsbischof treu, als nach der Kundgebung der Deutschen Christen im Berliner Sportpalast am 13. November der Zerfall der deutsch-christlichen Einheitsfront offenkundig wurde." 54 Deshalb konnte Hirsch im August an Eduard Geismar schreiben, daß er die Entwicklungen in Deutschland bereitwillig annehmen könne. 55 Und Schjorring zitiert den folgenden Brief Hirschs an Müller vom November 1933: J c h glaube, Ihren für mich maßgeblichen Weg und Willen so zu verstehen, daß ich bei den Deutschen Christen bleibe und den Weg von Fezer und
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Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 626. Ericksen, Theologen unter Hitler, S. 203-204. Schjorring, Theologische Gewissensethik, S. 183. Ibid., S. 184. Ibid., S. 184, Anm. 79.
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Schumann nicht mitgehe. Ich trage darum auch gerne die Gefahr, verketzert zu werden. Mein Gefühl ist einfach: Ich verlasse meine Fahne nicht in dem Augenblick, wo scharf geschossen wird. Ich verstehe und ehre die Beweggründe von Fezer und Gen[ossen]. Sie sind redlich und sauber. Aber ich kann nicht mit, wenn sie jetzt die Scheidung vollziehen. Ich stehe nicht unter dem Gewissenszwang wie sie." 56 Hirschs Unterstützung für Müller und die neu etablierte Kirchenadministration war jedoch nicht blinde und naive Loyalität, wie das Zitat vermuten lassen könnte. Die Errichtung einer vereinigten Kirchenfront war ihm ein ernstes Anliegen. Tatsächlich entwickelte er bald grundlegende Vorbehalte gegenüber dem eingeschlagenen Kurs und den von Müller und den Kirchenverwaltern im Frühjahr, Sommer und Frühherbst 1934 angewandten skrupellosen Methoden. Im Frühling jenes Jahr verstärkte sich die Polarisierung zwischen der offiziellen Kirchenverwaltung und der Opposition, als Müller und August Jäger, Beauftragter für Kirchenangelegenheiten im Ministerium für Wissenschaft, Kultur und Erziehung und zugleich juristischer Vertreter im geistlichen Amt der Kirche, mit der Anwendung
von
Zwangsmaßnahmen zur Einverleibung der Territorialkirchen in die Reichskirche begannen. In den Wochen direkt vor Müllers Amtseinführung als Bischof wurden seine und Jägers Aktionen immer geharnischter, als sie erfolglos versuchten, widerspenstige Landeskirchen (die sogenannten ,.intakten Kirchen" von Hannover, Württemberg und Bayern) in den Schoß der Reichskirche zu treiben. 57 Durch Kommentare, wie z.B., daß Adolf Hitler der evangelischen Kirche so nahe stehe, daß er fast als Mitglied betrachtet werden könne, verschlimmerte
Müller
die Lage. 5 8 Trotz dieses
offensichtlichen Mangels an vereinter evangelischer Unterstützung ging Müllers Amtseinführung mit viel Pomp und großer Zeremonie am 23. 56 57
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Ibid., S. 184-185, Anm. 79. Helmreich, The German Churches Under Hitler, S. 169 ff. Die „intakten Kirchen" waren diejenigen Territorialkirchen (vor allem Bayern, Württemberg und mit einigen Einschränkungen Hannover), in denen im Gegensatz zu den sogenannten „gestörten oder zerstörten Kirchen", in denen die Deutschen Christen an die Macht gekommen waren, eine Kirchenführung und -administration mit Sympathien für die Bekennende Kirche bestehen geblieben war (Helmreich, S. 163 ff). Ibid., S. 170.
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September 1934 im Berliner Dom vonstatten, wobei lediglich Bischöfe der Deutschen Christen und einige wenige Parteifunktionäre zugegen waren. Hirsch war der Gang der Ereignisse so unangenehm, daß er am 16. September an den Präsidenten der Reichssynode, Nikolaus Christiansen, schrieb und um Nachsicht für seine, Jägers und des damaligen Reichsführers der Deutschen Christen, Christian Kinder, Entscheidung bat, der Amtseinführungszeremonie nicht beizuwohnen. 59 In diesem Brief kritisiert Hirsch aufs schärfste die Vorgehensweise der Verwaltung in den vorangegangenen Wochen und sagt, er könne nicht an einem Einführungsgottesdienst teilnehmen, der lediglich eine Siegesfeier ohne allgemeine Unterstützung sei, solle er seine verantwortliche Mithilfe beim Aufbau der neuen Evangelischen Kirche fortsetzen. Der Brief spiegelt die zunehmende Enttäuschung Hirschs Uber die Richtung wider, in die sich die Dinge entwickelten. Keine der Aktionen und Proklamationen der vorangegangenen Wochen, sagt Hirsch, zeige die Großmut der Sieger in ihrer Verantwortung gegenüber jenen, die noch immer für die Bewegung gewonnen werden sollen. Es sei kein theologisches Wort zu hören und keine Geste der Kameradschaft zu sehen gewesen. Sein inneres Vertrauen in den Reichsbischof sei zerstört worden, als er mehr und mehr erkannte, daß Müllers Position unhaltbar geworden sei. Erneut bekräftigt er sein Engagement für die Sache an sich, einschließlich seiner Arbeit für den „Verfassunggebenden Ausschuß" der Kirche, aber er findet es unmöglich, sich mit den Feierlichkeiten zu identifizieren, geschweige denn ihnen beizuwohnen. Er schließt mit der Hoffnung, daß die Feiernden gerade jetzt vermeiden werden, die Flammen des Widerstandes im gesamten Land weiter zu entfachen. Hirschs Position, die sich während des Jahres 1933 entfaltet, ist recht gut in einer Reihe von acht kleinen, in jenem Jahr verfaßten Artikeln dokumentiert, die er unter dem Titel „Das kirchliche Wollen der deutschen Christen" herausgab und Wehrkreispfarrer Ludwig Müller widmete. 60 Chronologisch gelesen,
Hirsch an Nikolaus Christiansen, 16.9.1934; von Walter Buff, Hannover, zur Verfügung gestellt. Hirsch, Das kirchliche Wollen der deutschen Christen. Berlin-Charlottenburg: Max Grevemeyer, 2.Aufl. 1933 (zit. als: Das kirchliche Wollen).
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so meine ich, zeigen die Aufsätze in diesem Bändchen, daß Hirschs Entscheidung, sich mit den Deutschen Christen und Ludwig Müller zu identifizieren, nicht einem plötzlichen politischen Opportunismus entspringt, sondern die natürliche und stimmige Konsequenz aus seinen stets vertretenen theologischen und politischen Ansichten ist. Die Hauptthese von „Kurzer Unterricht in der christlichen Religion" vom Mai 1933 beispielsweise schrieb Hirsch lange bevor er sich in der Bewegung der Deutschen Christen engagierte. In Hirschs Worten: „Nur weil ich weiß, daß Mitarbeit in diesem Geiste bejaht wird, bin ich Deutscher Christ geworden." 61 Die zwölf Artikel dieser Schrift kreisen um die klare Unterscheidung zwischen der ewigen geistigen „Gemeinde von Brüdern und Schwestern, die durch alle Zeiten und Lande geht", und der natürlichen irdischen Gemeinschaft, die durch unterschiedliche Familien, Nationalitäten und Staaten gekennzeichnet ist. 62 Am 5. Mai erschien Hirschs „Die wirkliche Lage unserer Kirche", worin er seine Aufforderung begründet, die evangelische Kirche möge sich den Deutschen Christen anschließen, um bereitwillig und helfend das mitzugestalten, was in Deutschland unter dem Nationalsozialismus geschieht. 63 Denn zur Zeit habe kein noch so starker Widerstand gegen die Bemühungen der Deutschen Christen die geringste Aussicht auf Erfolg angesichts des stürmischen Willens dieser jungen Bewegung. Wichtiger sei jedoch die historische Gelegenheit, die sich der Kirche eröffnet, nicht nur bei der Erneuerung des Staates sondern auch beim Aufbau eines neuen nationalen Lebens mitzuwirken. „Es ist das eigentliche Anliegen der Deutschen Christen, uns eine volksverbundene Kirche zu geben, so daß wirklich die Kirche ein Volk und das Volk eine Kirche hat." 64 Natürlich bringe ein solches von den Deutschen Christen beabsichtigtes Experiment Gefahren mit sich, aber Glaube beinhalte immer, Wagnisse einzugehen. Diese Verwurzelung der Kirche im wirklichen Volksleben solle nicht als Versklavung unter irdische Gesetze angesehen wer-
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Hirsch, Kurzer Unterricht in der christlichen Religion, in: Das kirchliche Wollen, S. 17. Ibid., Artikel 6, S. 18; vgl. auch Art. 9, S. 19. Hirsch, Die wirkliche Lage unserer Kirche, in: Das kirchliche Wollen, S. 20 ff. Dieser Artikel erschien zuerst in: Monatszeitschrift für Pastoraltheologie 4 , 5 (Mai/Juni 1933). Ibid., S. 22.
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den, sondern im Gegenteil als wahre Freiheit, dem Herrscher aller Herren im Volk zu dienen. Nur so könne die Kirche wahrhaft zum Salz des Lebens werden, das das Volk vor dem Untergang rettet. Theologen und Pfarrer seien nun gefordert, freudig und vorbehaltlos das Wagnis der neuen Situation einzugehen. Die folgenden drei Artikel widmen sich besonders Hirschs Unterstützung von Ludwig Müllers Kandidatur für das Amt des Reichsbischofs. Der erste ist das strategisch wichtige Papier: „Volk, Staat und Kirche", von Hirsch verfaßt in der Nacht vom 16. zum 17. Mai in Vorbereitung eines wichtigen Treffens am folgenden Tag in Loccum, wo ein kurz zuvor gebildetes dreiköpfiges Gremium sich mit Müller traf, um die Ausarbeitung einer n e u e n Kirchenverfassung zu diskutieren. 65 Am 18. Mai wurde Müller offiziell von der ostpreußischen Gruppe der Deutschen Christen für das Amt des Reichsbischofs nominiert. Zur Verteidigung der grundlegenden Umwälzung des deutschen Lebens und Geistes durch den nationalsozialistischen Staat gibt Hirsch der Überzeugung Ausdruck, daß der neue Staat um die Vergeblichkeit seiner Arbeit ohne Würdigung des christlichen Glaubens weiß, und er betont nach nochmaliger Differenzierung der eigentlichen Aufgaben von Kirche und Staat den Bereich, in dem die evangelische Kirche und der Nationalsozialismus eine gemeinsame Verantwortung tragen: den uneigennützigen Dienst am Volk. Für die Kirche selbst sollte dieser Dienst als Vorbereitung auf die wahre Aufgabe der Kirche gesehen werden, die darin besteht, Menschen für das Reich Gottes zu gewinnen. Dieser Vorbereitungsdienst „hilft nur eine Form volkhaften Lebens und volkhaften Geistes schaffen, die von christlichen Maßstäben und christlichen Zielen durchglüht ist", die der Erfüllung der inneren Bestimmung der Kirche dienen. 66 Hirsch schließt mit der Forderung, die Richtlinien der Deutschen Christen zu unterstützen und Ludwig Müller für das Amt das Reichsbischofs zu nominieren. „Der Mann, den wir für das Reichsbischofsamt vorschlagen", sagt Hirsch, „hat das Vertrauen aller
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Hirsch, Volk, Staat und Kirche, in: Das kirchliche Wollen, S. 25-27. Dieser Artikel erschien zunächst in: Evangelisches Deutschland 10,23 (4. Juni 1933). Ibid., S. 26.
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evangelischen Christen, die bei ihrem Kampfe um die Erneuerung unsers Volkes um die letzte Verantwortung vor Gott und das Evangelium wissen." 67 Im zweiten dieser Artikel, „Nationalsozialismus und Kirche. Um die Berufung des evangelischen Reichsbischofs", vom 28.-29 Mai 1933, präzisiert Hirsch sein tiefes Vertrauen in die Hochachtung, die Hitler dem Christentum entgegenbringt: „Kein einziges Volk der Welt hat so wie das unsere einen führenden Staatsmann, dem es so ernst um das Christliche ist; als Adolf Hitler am 1. Mai seine große Rede mit einem Gebet Schloß, hat die ganze Welt die wunderbare Aufrichtigkeit darin gespürt. Die Kirche hat dem Nationalsozialismus also viel zu danken. Eben darum hat er aber auch von der Kirche etwas zu fordern. Sie soll um Gottes Willen nicht Politik treiben und soll um Gottes Willen nicht anfangen, sich die befehlende Art des Staates anzueignen. Aber die Arbeitsgemeinschaft mit dem werdenden nationalsozialistischen Staate muß sie freudig bejahen." 68 Hirsch will keine Kirche, die vom Nationalsozialismus kommandiert wird, sondern eine, die sich aus freien Stücken und im Geiste mit dem Nationalsozialismus zu einer gemeinsamen Aufgabe vereint sieht. Nach der Beendigung der Vorreden kommt Hirsch sofort zum Eigentlichen: einem wortgewaltigen und überzeugenden Aufruf an die Kirche, Ludwig Müller als Reichsbischof zu unterstützen. Müller habe, so Hirsch, lange Jahre am nationalsozialistischen Kampf teilgenommen und kenne Hitler seit sechs Jahren persönlich. Er habe starke Führungsqualitäten. Er sei sich der Unterstützung zahlreicher Theologen sicher, die sich dafür verbürgten, daß mit ihm die Erhabenheit des Evangeliums und des Bekenntnisses der Kirche gesichert würden. Darüber hinaus fänden die von ihm aufgestellten Richtlinien der Deutschen Christen bei hohen Kirchenbeamten Anerkennung. Obwohl Müller schließlich zum Reichsbischof gewählt wurde, war nach der Reihe recht schmutziger Machenschaften, die zuerst zur Wahl und dann zum Rücktritt von Bodelschwinghs führten, Hirschs persönliche Integrität
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Ibid., S. 27. Hirsch, Nationalsozialismus lind Kirche. Um die Berufung des evangelischen Reichsbischofs, in: Das kirchliche Wollen, S. 24. Dieser Artikel wurde zuerst publiziert in: Völkischer Beobachter 26,148/149 (28./29. Mai 1933).
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schwer angeschlagen und seine Beteiligung an den Vorgängen von Mitte Mai bis Anfang Juni wurde stark angegriffen, was ihn verbitterte und desillusionierte. Im dritten Aufsatz,
„Zur
Geschichte des Streits um den Reichsbischof",
vom 2. Juni 1933 (veröffentlicht am 7. Juni), versucht Hirsch, die Geschehnisse ins rechte Licht zu rücken, indem er seine eigene Version des Loccumer Treffens mit Hermann Kapler, August Marahrens, Hermann Hesse und Müller, sowie der darauffolgenden Ereignisse gibt. Er weist die Schuld an der Uneinigkeit einzig und allein jenen zu, die nicht in Einklang mit der nationalen Erneuerungsbewegung stehen. Darüber hinaus beschuldigt er die jungreformatorische Bewegung, rein kirchliche Vorgänge durch die Ankündigung der Nominierung von Bodelschwinghs vor der Klärung grundlegender Verfassungsfragen unterlaufen zu haben. Daher sei mehr die Person als das Amt in den Vordergrund gerückt worden, was die Deutschen Christen in die Position getrieben habe, binnen kürzester Zeit offiziell ihren Gegenkandidaten Ludwig Müller aufzustellen. Hirsch schlägt eine landesweite Befragung der Kirchenmitglieder zur neuen Kirchenverfassung und der Person des Reichsbischofs vor. 69 Am 24. Juni trat von Bodelschwingh zurück, weil er sich außerstande sah, seine Pflichten unter dem neuen Kommissar der Preußischen Kirchen, August Jäger, zu erfüllen. Die Reichskirchenwahlen, bei denen die Deutschen Christen zwei Drittel der Sitze erhielten, fanden am 23. Juli statt. Ludwig Müller wurde auf der ersten Reichssynode der neu verfaßten evangelischen Kirche in Wittenberg am 27. September 1933 zum Reichsbischof gewählt. Am 15. Juli veröffentlichte Hirsch ein kurzes „Nachwort" zum Kampf um den Reichsbischof. Er verteidigt seine Aussage vom 2. Juni mit weiteren Erklärungen, in denen er feststellt, daß er, da seine persönliche Integrität ernstlich in Frage gestellt worden war, keine andere Wahl gehabt habe, als sich selbst zu verteidigen, um seinen Ruf als Professor zu wahren. 70
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Hirsch, Zur Geschichte des Streits um den Reichsbischof, in: Das kirchliche Wollen, S. 29-31; zuerst erschienen in: Der Reichsbote. Tageszeitung für das evangelische Deutschland 130,7 (Juni 1933). Hirsch, Nachwort, in: Das kirchliche Wollen, S. 32; mit Datum 15. Juli 1933.
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Die Ernennung des Rechtsbeauftragten für die Landeskirchen und unnachgiebigen Nationalsozialisten August Jäger zum Kommissar der Preußischen Kirche am 24. Juni bedeutete eine verstärkte politische Einmischung in kirchliche Angelegenheiten. Jäger löste schnell eine Reihe preußischer Körperschaften auf, tauschte die Superintendenten der Landeskirchen aus und setzte Deutsche Christen in Schlüsselpositionen der Verwaltung. Das Ergebnis war nicht allein von Bodelschwinghs Rücktritt, sondern auch eine Flut von Protesten entlassener Bediensteter, ehemaliger Vorstände, Pfarrer und Laien. 71 Vor diesem Hintergrund schrieb Hirsch am 30. Juni seinen Artikel „Freiheit der Kirche, Reinheit des Evangeliums". 72 Zusammen mit dem längeren Artikel, „Das kirchliche Wollen der deutschen Christen" vom 15./16. Juli 1933,73 den Hirsch als Antwort auf Karl Barths berühmten Traktat: „Theologische Existenz heute" (von Barth in nur zwei Tagen, dem 24. und 25. Juni 1933 geschrieben) verfaßte, ist dieser kurze Aufsatz besonders wichtig für die Klärung der Unterschiede zwischen Hirschs Ansatz und der sich entwickelnden Theologie der Bekennenden Kirche, die schließlich in den sechs Artikeln des Barmer Bekenntnisses der Synode vom 29.-31. Mai 1934 ihren Ausdruck fand. Die Freiheit der Kirche, so Hirsch im ersten der beiden Aufsätze, ist nicht durch den nationalsozialistischen Staat gefährdet, sondern durch jene, die die Chancen und Forderungen der Stunde nicht erkennen, durch jene, die den Staat in die Selbstverteidigung gegen die Zerschlagung der nationalsozialistischen Bewegung treiben. Die nationalsozialistische Revolution ist mehr als eine Umstrukturierung des Staates und der Wirtschaft, sie will den Menschen verändern und formen. Bei dieser Formung des deutschen Volkes muß die Kirche mit dem Staat kooperieren. Daher sollte die Kirche nicht von der Freiheit von einer Bejahung der gegenwärtigen Stunde reden, sondern von der
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Helmreich, The German Churches Under Hitler, S. 137-141. Hirsch, Freiheit der Kirche, Reinheit des Evangeliums. Ein Wort zur kirchlichen Lage, in: Das kirchliche Wollen, S. 27-28; zuerst publiziert in: Evangelisches Deutschland 10, 28 (9. Juni 1933), S. 245 ff. Hirsch, Das kirchliche Wollen der deutschen Christen. Zur Beurteilung des Angriffs von Karl Barth (Theologische Existenz heute, München 1933), in: Das kirchliche Wollen, S. 5-17, Juli 1933.
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Freiheit zum Dienst an Gott und dem Evangelium im Volk ohne Einmischung des Staates. Hirsch ist der Meinung, daß diese Freiheit, das nationalsozialistische Volk zum Gehorsam unter das Evangelium zu rufen, nicht gefährdet ist. Theologisch gründet er seine Position auf ein Paradox. Einerseits ist Christus der entscheidende Faktor für die Verkündigung des Evangeliums; nichts Menschliches und Zeitliches kann das ändern. Andererseits kann die Aufgabe der Verkündigung Christi nur dann erfüllt werden, wenn menschliche Verbundenheit und menschliches Verstehen die natürliche Grundlage für die Rede von Gott sind. Diese zweite, natürliche Seite ist immer bedingt durch besondere zeitliche und geschichtliche Faktoren, wie z.B. die Volkszugehörigkeit: ,Am leichtesten bildet sich die natürliche Voraussetzung der Verkündigung da, wo zwei Menschen durch Blut und Schicksal in einem gemeinsamen irdischen Ring zusammengeschlossen sind." 74 Die Aufgabe der Kirche als sichtbarer Leib ist durch diese beiden Aspekte der Verkündigung bedingt. Dies birgt seine Gefahren, aber die Kirche wird so immer eine menschliche Kirche bleiben und die Grenzen und Fehler des Volkes und der Zeiten tragen. Gottes Gnade rechtfertigt trotz dieser Unzulänglichkeiten und läßt das Evangelium durch sie hindurchscheinen.
Barth und die Bekennende Kirche Wie bereits angedeutet, war Hirschs Schrift: „Das kirchliche Wollen der deutschen Christen" eine direkte Antwort auf Barths Polemik gegen die Deutschen Christen in seinem berühmten Aufsatz: „Theologische Existenz heute". Hirsch beginnt seinen Artikel: „Mit Karl Barth ist für uns Deutsche Christen kein Reden. Er nennt uns 'offene wilde Ketzer'." 75 Der Artikel ist in vier Teile gegliedert: Die zwei Aufgaben der Kirche in der gegenwärtigen Situation, Christlicher Glaube an Gott, Christenheit und Deutschtum, sowie Kirchenführung, von denen jeder grundlegende Unterschiede zwischen der 74
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Hirsch, Freiheit der Kirche, Reinheit des Evangeliums, in: Das kirchliche Wollen, S. 27. Hirsch, Das kirchliche Wollen der Deutschen Christen, in: Das kirchliche Wollen, S. 5.
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Barthschen Bekenntnistheologie und der Theologie der Deutschen Christen offenlegt. Zunächst nennt Hirsch die beiden Aufgaben der Kirche: a) die Verkündigung und b) die Pflege sittlicher und religiöser Disziplin und Erziehung als Vorbereitung auf die vorrangige Aufgabe der Verkündigung. Die Erfüllung beider Aufgaben ist eine Form des Gehorsams und Dienstes für Jesus Christus als dem Herrn, der der Geist ist, und als Geist unsere täglichen Handlungen und Entscheidungen innerhalb unseres natürlichen irdischen Lebens erleuchtet. Die zweite, vorbereitende Aufgabe ist bedingt durch die natürlichen Eigenheiten der Völker und die Einmaligkeit der historischen Stunde und somit entsprechenden Änderungen unterworfen. Dies, glaubt Hirsch, versteht Karl Barth nicht, wenn er die Antwort der Deutschen Christen auf Gottes Forderung in der Stunde der nationalsozialistischen Revolution häretisch, als Abfall der Kirche vom Gehorsam unter Gottes Wort bezeichnet. Nach Hirsch kann man daraus nur schließen, daß Barths Kirchenverständnis, als nur vom Wort Gottes bestimmtes, völlig ungeschichtlich ist. Er verteidigt seine Rechtgläubigkeit und die der Deutschen Christen damit, daß er die zweite Aufgabe nur als Vorbereitung auf die erste und vorrangige Aufgabe bezeichnet, nämlich die Verkündigung des einen Evangeliums Jesu Christi, des ewigen Lebens und der geheimnisvollen Gegenwart des Gottesreiches, das alle Völker und Zeiten umspannt. Jeder, der wie Barth den Deutschen Christen den Vorwurf macht, diese Verkündigung nicht als absolute Norm des kirchlichen Handelns anzuerkennen, redet falsches Zeugnis wider seinen Nächsten. Desweiteren widerspricht Hirsch Barths Christologie, insbesondere seiner Behauptung, daß Gott für uns nur in seinem Wort gegenwärtig sei, daß der Inhalt des Wortes nichts anderes sei als Jesus Christus, und daß Jesus Christus nur in der Heiligen Schrift gefunden werden könne. 76 Hirsch akzep-
Ibid., S. 8. Hirsch weist Barths enge Christologie, wie sie im folgenden deutlich wird, zurück: „In der Kirche ist man sich darüber einig, daß Gott für uns nirgends da ist, in der Welt ist, in unserm Raum und in unsrer Zeit ist als in diesem seinen Wort, daß dieses sein Wort für uns keinen anderen Namen und Inhalt hat als Jesus Christus und daß Jesus Christus für uns in der ganzen Welt nirgends zu finden ist als jeden Tag neu in der heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments. Darüber ist man sich in der Kirche einig, oder man ist nicht in der Kirche."
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tiert, daß das lebendige Wort Gottes, das Jesus Christus ist, für die Kirche zentrale Bedeutung hat. Auch er hält an der heiligen Schrift als der vorrangigen Trägerin dieses lebendigen Wortes, als der Norm jeglicher Verkündigung in der Kirche fest. Aber er kritisiert, was er (zu Recht oder Unrecht) für Barths allzu enge Christusvorstellung, als Knechtung Christi und des Evangeliums unter den biblischen Text hält. Unsere Kenntnis Gottes in Christus ist für Hirsch nicht die erste, noch die einzige Bezeugung Gottes für uns. Offenbarte sich Gott uns nicht auf irgendeine Weise auch in den weltlichen Ereignissen des Alltagslebens, könnte uns das Wort des Evangeliums niemals erreichen, noch könnten wir jemals dem Evangelium gemäß leben. Dies kritisieren Hirsch und Tillich gleichermaßen an Barths Theologie. Auch Tillich argumentierte gegen Barth, daß, wenn uns Gott nicht in einem apriorischen Sinn gegenwärtig wäre, seine Offenbarung in Christus in uns Anknüpfungspunkt finden könnte.
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keinen
Hirsch präzisiert seine beiden
Kritikpunkte an der Wort-Gottes-Theologie Barths folgendermaßen: Christusglaube muß konkret werden als gläubiges Hinnehmen und Gestalten der bestimmten geschichtlichen Lage, und das gläubige Hinnehmen und Gestalten der bestimmten geschichtlichen Lage muß wahr werden im Christusglaube. Das wäre das eine. Das andre aber ist dies, daß Barth sich Uber die reformatorische - wenigstens die lutherische Bestimmung des Verhältnisses von Christus, lebendigem Wort Gottes und Bibelbuch nicht klar geworden ist. Welches ist das Wort Gottes, durch das Christus seine Kirche regiert, in dem er gegenwärtig ist? Allein das im Bibelbuch Aufgeschriebene? Nein, sondern jedes lebendige Wort des evangelischen Zeugnisses, das von Mund zu Ohr und, im Wunder des Geistes, von Herz zu Herz geht.™ Die Deutschen Christen, behauptet Hirsch, nehmen beide Voraussetzungen todernst. Sie verlangen, daß christliches Leben in den wirklichen Situationen, in denen sich die Menschen vorfinden, konkret werden muß. Zudem sind die Deutschen Christen der Überzeugung, daß das evangelische
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Tillich bezeichnet dies im philosophischen Sinne als „mystisches apriori" und im theologischen als „theologischen Zirkel". Vgl. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 8. Aufl., unv. photomechanischer Nachdruck, 1987, S. 15 ff. Hirsch, Das kirchliche Wollen, S. 9-10.
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Zeugnis nur dann lebendig bleiben kann, wenn jede neue Generation die Wahrheit des Evangeliums in einer neuen Sprache, in neuen Bildern und in neuen Erfahrungsgehalten verkündigt. Drittens weist Hirsch Barths Beschuldigung zurück, daß die Absicht der Deutschen Christen, Christentum an Deutschtum und die Kirchenführung an Menschen deutschen Blutes zu binden, heidnisch sei. In diesem Punkt verdient Hirschs ansonsten Uberzeugende Argumentation gegen Barths Theologie uneingeschränkte Kritik. Selbst wenn man in gewisser Weise bereit wäre, Hirschs Aussage zu akzeptieren, daß „alles menschliche Schaffen und Gestalten ... gegrenzt und gebunden [ist] in der natürlichen Art, die wir mitbringen ins Leben", so ist es im Rückblick unmöglich geworden, den in dieser Äußerung impliziten natürlichen Determinismus, geschweige denn die Gleichsetzung von Blut und angeborener natürlicher Begrenzung zu vertreten. Folgendes Zitat spiegelt die politische und kulturelle Ideologie der Zeit wider und bereitet damit indirekt den Boden für die nationalsozialistische Rassentheorie: Verdirbt das Blut, so geht auch der Geist zugrunde-, denn der Geist der Völker und Menschen steigt aus dem Blute empor." 79 Trotz seines sonst so unabhängigen Charakters scheint Hirsch hier der mehrheitlichen Meinung von 1933 zum Opfer gefallen zu sein; vollends wenn er der Kirche vorwirft, dieses Blut nicht gewissenhaft geschützt zu haben: „Sie hat den Mischheiraten (ebenso dem Überwuchern der Minderwertigen) gleichgültig zugesehen und nicht begriffen, daß jene nur als seltne Ausnahme, kraft besondrer göttlicher Führung, gerechtfertigt waren." 80 Hirsch entschuldigt die Rücksichtslosigkeit nicht, mit der der Staat die Politik der rassischen Reinheit umsetzt. Nichtsdestoweniger ermahnt er die Kirche, das Geschehen nicht nur im Lichte von Einzelschicksalen zu beurteilen, sondern das zu erkennen, was in der Umwandlung als ganzer gesund ist und Gottes Willen entspricht. Hirsch hält daran fest, daß die schwierigen Fragen offen angegangen werden müssen und nicht verschwiegen werden dürfen. Darin gebühre den Deutschen Christen Dank: „An Aufhebung der
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Ibid., S . l l . Ibid.
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Abendmahlsgemeinschaft mit Judenchristen hat niemand von ihnen gedacht." 81 Mit anderen Worten gehört für Hirsch die Judenfrage, wie wir unten sehen werden, in den Bereich der staatlichen Ordnung und nicht der Soteriologie. Das eigentliche Problem hinter diesen Fragen, das Problem der blutmäßig Nichtdeutschen, das die opponierenden Seiten des deutschen Kirchenkampfes wirklich voneinander trennt, ist die Notwendigkeit, daß sich Christentum und Deutschtum innerlich in der deutschen evangelischen Kirche finden müssen. Nach Hirsch treibt die Barthsche Theologie junge Menschen nur in die Arme der radikaleren deutsch-religiösen Gruppen. Hirsch führt als Kern seiner Ablehnung der Barthschen Theologie zwei theologische Gründe an, die seiner Meinung nach für den Widerstand innerhalb der Kirche gegen die Unterstützung einer deutschen Form des evangelischen Christentums verantwortlich sind. Erstens sei nicht genug theologische Arbeit zum Begriff des „Natürlichen" geleistet worden. Der natürliche Mensch, das Naturgesetz, die natürliche Gotteserkenntnis seien alles schemenhafte Begriffe, die unterschiedslos auf alle Menschen, j e d e n Geschichtstyp, jeden Staat und jede Wirtschaftsordnung angewandt würden. Was die Juristerei bereits vor geraumer Zeit festgestellt habe - daß das Natürliche nur als volkhafte, geschichtliche Individualität existiert -, habe die Theologie noch immer nicht gelernt. Jedes Volk habe seinen eigenen nationalen Nomos: „Natürlicher Mensch, natürliches Gesetz,
natürliche
Gotteserkenntnis, das heißt konkret etwas andres unter Deutschen und unter Indern." 82 Zweitens sei die Unterscheidung innerhalb des Natürlichen nicht ernsthaft in der Theologie behandelt worden. Wenn eine Person, die im Glauben neu geboren wird, sich unter die Herrschaft des Gottesgeistes stellt, dann wird nach Hirschs Auffassung das Natürliche nicht verneint, sondern in den Dienst Gottes genommen. Christliches Denken, Sprechen und Handeln sind volkhaft und geschichtlich verwandelt. Das Wunder des biblischen Wortes besteht darin, daß unter seiner Herrschaft der natürlich-geschichtliche
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Ibid., S. 12. Ibid.
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Charakter und die lebendig-schöpferische Gestaltungskraft eines Volkes nicht zerstört, sondern gesteigert werden. Zum Schluß verteidigt Hirsch in einem vierten Punkt die deutsch-christliche Forderung einer starken autoritären Kirchenführung, einschließlich eines Reichsbischofs, gegen Barths Vorwurf, die Deutschen Christen würden leichtfertig nicht zur Kirche passende politische Ideen nachahmen und sich aneignen. Hirsch sagt, die reformierte Christenheit habe niemals die lutherische Idee verstanden, daß die Kirche frei darin ist, ihre Verfassung an den Forderungen der Stunde zu orientieren, ohne die Kirchenverfassung damit zu einem Dogma zu erheben. Die evangelische Kirche habe immer in ihren Ordnungen und ihrer Verfassung gewisse Merkmale der vorherrschenden politischen Verfassungsformen widergespiegelt. Es sei daher natürlich, daß sie unter den gegenwärtigen veränderten Umständen erneut so handeln werde. Dies allein zeige, daß die deutsche evangelische Kirche sich mit dem deutschen Volk und Staat identifiziere. Der entscheidende Aspekt des neuen autoritären Führungsprinzips mit seiner Forderung einer aggressiven Gestaltung der Kirche von oben nach unten sei die Notwendigkeit, einzelnen Raum zu schaffen, denen die volle Macht und Verantwortung übertragen worden sei, Neues zu wagen. Dies kompromittiere in keiner Weise die absolute Treue der Kirche zu ihrem Herrn Jesus Christus. Hirschs Verteidigung des s t a r k e n Führungsprinzips in der Kirche beruht auf einem Staatsbegriff, der sich von dem Barths unterscheidet, bei dem es heißt: „Die Kirche glaubt an die göttliche Einsetzung des Staats als des Vertreters und Trägers der öffentlichen Rechtsordnung im Volke." 83 Hirsch bezeichnet dies als liberale Anschauung, bei der der Staat lediglich als Ausführungsorgan der öffentlichen Ordnung betrachtet wird, ohne Auswirkungen auf die Privatsphäre zu haben. Er stellt seine eigene Definition dagegen: „Ich stelle eine dem gegenwärtigen deutschen Staat gerecht werdende Begriffsbestimmung daneben, nicht als Dogma, sondern einfach als Erfassung der uns geschenkten Wirklichkeit: Staat ist das als
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Zit. nach: ibid., S. 16.
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unabhängige Macht durch den Führer rechtlich und wirtschaftlich zusammengeschlossene und seelisch zur Lebensgemeinschaft geeinte Volk." 84 Bei der Lektüre dieser verschiedenen, unter dem Haupttitel „Das kirchliche Wollen der Deutschen Christen" zusammengefaßten Aufsätze von 1933 kann man leicht die Beweggründe einsehen, die Hirsch (und die Deutschen Christen) zur unbedingten Unterstützung eines totalitären Regimes einerseits und ihrem Bekenntnis zu absoluter Treue gegenüber dem Herrn Jesus Christus andererseits trieben. Beide werden als koexistente, unterschiedliche Bereiche der menschlichen Erfahrung gesehen. Der erste betrifft die irdische Pflicht und Verantwortung und gründet sich auf Liebe; der zweite Bereich ist das Evangelium des ewigen Lebens in Christus. Beide stehen jedoch unter der geheimnisvollen Herrschaft Gottes als des Herrn der
Geschichte.
„Totalitarismus" hatte für Hirsch nicht die gleichen negativen Konnotationen wie für uns als Rückblickende. Für ihn bedeutete er, wie in seiner oben zitierten Definition des Staates impliziert, nicht eine Rückkehr zu traditionellem Autoritarismus, sondern die frei gewählte Unterwerfung eines ganzen Volkes unter besonders begnadete Führer. Diese Führer, wie Hitler als politischer und Müller als kirchlicher Führer, seien im Idealfall vom Volk als die Verkörperung seiner eigenen Interessen und Schicksale anerkannt. Ihnen sei die Macht, die Verantwortung und das Vertrauen gegeben, jeden Lebensbereich für den Kampf um die nationale Einheit und Unabhängigkeit nutzbar zu machen. Nach Hirsch besitzen die Deutschen Christen und die Anhänger der Bekennenden Kirche fundamental verschiedene Ansichten Uber die Beziehung der Kirche zur politischen Ordnung, die Kirchenverfassung und die Beziehung Gottes zur Geschichte (einschließlich der Offenbarung). Die Unterscheidung zwischen Weltanschauung
und Evangelium
ist für die Unterstützung der
nationalsozialistischen politischen Ordnung durch die Deutschen Christen von zentraler Bedeutung. Der Nationalsozialismus ist eine allgemeine Weltanschauung, was jedoch das Evangelium, wie die Anhänger der Bekennenden Kirche fälschlicherweise meinen, nicht ist Folglich können die evangelischen
84
Ibid., S. 16-17.
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Christen den Nationalsozialisten bereitwillig helfen, den traditionell eingeschränkten Bereich des Politischen zu einer totalen, alles umfassenden Lebensordnung auszuweiten. Die Nationalsozialisten nicht zu unterstützen hieße den Prozeß der nationalen Erneuerung gefährden. Im Gegensatz zu der vollkommen an den Staat gebundenen Kirche vor 1918 und der völligen Trennung von Kirche und Staat zwischen 1918 und 1933 ist die neue Vision eine Kirche, die voll in das Leben des Volkes und des Staates integriert ist. Dies gefährdet nicht, sondern fördert eher die Freiheit der Kirche, ihre vorrangige Aufgabe der Verkündigung des Wortes Gottes und der Verwaltung der Sakramente wahrzunehmen. Mit anderen Worten: Der nationalsozialistische Staat und die Kirche haben eine gemeinsame religiös-sittliche Aufgabe, nämlich die Erziehung des deutschen Volkes zu einer gemeinsamen Weltanschauung. Damit haben Volk, Ehre und Rasse für Christen die gleiche Bedeutung wie für Nichtchristen. Christen müssen jedoch jede Verabsolutierung der Begriffe ablehnen, damit sie nicht für die Beziehung des einzelnen zu Gott bestimmend werden. Im Gegensatz dazu betrachtet die Bekennende Kirche das Verhältnis der Kirche zum nationalsozialistischen Staat als Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Weltanschauungen. Für die Bekennende Kirche kann nur die Offenbarung in Christus und nicht das Volk die Grundlage für die Entwicklung einer Weltanschauung sein. Nach Meinung der Bekennenden Christen müsse die Partei und ihre Bewegung auf den äußeren politischen Bereich im engen, nicht-weltanschaulichen Sinne begrenzt werden. Nur dann könne die Kirche sich gehorsam unterordnen. Im Blick auf die Kirchenverfassung glauben die Deutschen Christen, daß die äußere Ordnung und Verfaßtheit der Kirche Sache der christlichen Freiheit ist. Solange die Kirche frei darin ist, sich zur Andacht zu versammeln, ohne Einmischung Christus als Erlöser zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten, ist sie frei, sich äußerlich den Bedingungen der geschichtlichen und politischen Situation anzupassen. Äußere Ordnung sollte nicht zu einem Dogma oder einem Bekenntnis gemacht werden. Die Bekennende Kirche versteht im Gegensatz dazu die Frage der Kirchenordnung, theoretisch eine Sache der Freiheit, als praktisch zur Bekenntnisfrage gewordene. Sie meint fälschli-
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cherweise, die Deutschen Christen verrieten das Evangelium an eine politische Bewegung und lösten die Unterscheidung von Kirche und Staat auf. Die Bekennende Kirche will also die Bekenntnis-Kirche, die vom modernen Geist ausgehöhlt wurde, neu aufleben lassen. Letzten Endes wirft Hirsch der Bekennenden Kirche vor, die scholastische Orthodoxie des 16. und 17. Jahrhunderts (die sie irrtümlich mit dem Bekenntnis zu Christus gleichsetzt) gegen die Deutschen Christen und den Reichsbischof auszuspielen. Schließlich weist Hirsch den Vorwurf der Bekennenden Kirche zurück, die Deutschen Christen hätten andere Götter neben dem einen Gott, der sich in Jesus Christus offenbarte. Die erste These der Barmer Theologischen Erklärung lautet: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen." 85 Hirsch glaubt dagegen, daß Gott sich außer in Christus auch in der Geschichte den Menschen und Völkern offenbart; aber diese Form der Offenbarung bedeutet keine persönliche Erlösung. Persönliche Erlösung und die Gabe des ewigen Lebens werden uns einzig in Jesus Christus gegeben. Andererseits glaubt die Bekennende Kirche, auch wenn sie akzeptiert, daß Gott in Natur und Geschichte wirkt, daß seine Anwesenheit darin zweideutig und nicht erkennbar sei. Deshalb muß für sie das Predigen der Kirche weitergehen, als ob 1933 und die nationalsozialistische Revolution ohne göttliche Bedeutung wären und es sie niemals gegeben hätte. Wir haben geraume Zeit darauf verwendet, Hirschs Rolle im deutschen Kirchenkampf von 1933 einschließlich seiner Teilnahme an der Debatte Uber den Reichsbischof und seinen theologischen Unterschieden zur Bekennenden Kirche zu untersuchen, um Klarheit Uber seine Beziehung zu den Deutschen Christen zu erlangen. Die einfache Kategorisierung der Deutschen Christen (implizit auch von Hirschs Theologie) durch die Synode von Barmen (die die
85
Bekenntnisse der Kirche, S. 300.
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Handschrift Barthscher Theologie trägt) als häretisch wird der Heterogenität der Deutschen Christen und der sorgfältig formulierten theologischen Position eines Mannes wie Hirsch nicht gerecht. Hirsch sah das Geschehen realistisch und war sich der Gefahren der deutsch-christlichen Position durchaus bewußt. Er hatte ernsthafte Differenzen mit einigen Deutschen Christen besonders wegen ihres Fanatismus, der die Linien zwischen Christentum und Politik verwischte. Offensichtlich schwankte er zwischen großem Optimismus, was die Möglichkeiten der über Deutschland hinwegfegenden Revolution und das Potential zu religiöser Erneuerung innerhalb der evangelischen Kirche und des deutschen Volkes angeht, und der Vorahnung eines möglichen Fehlschlags der Revolution verbunden mit dem Untergang des Volkes. Seine Beziehung zu den Deutschen Christen war folglich recht zwiespältig. Während er sich öffentlich in seinen Schriften voll mit den Deutschen Christen gegen die Bekennende Kirche identifizierte, war er nach eigenen Angaben nur kurze Zeit offizielles Mitglied der Bewegung. In seinen Memoiren von 1951 schreibt er: „Da wurde es natürlich schwer, wenn nicht unmöglich, radikalen jungen Stürmern und Drängern zur richtigen Einsicht in das Verhältnis des Christlichen und des Humanen zu helfen." 86 In einem Gespräch vom 11. März 1963 mit Walter Buff denkt Hirsch Uber die Jahre 1933 und 1934 nach. Er betont, daß er 1933 mit dem Berliner Kreis der Deutschen Christen uneins war und ihm daher nicht beitreten konnte. 1934 wurde er Mitglied des Hannoveraner Kreises, trat jedoch im August des gleichen Jahres mit der Begründung aus, die Mitglieder nicht von der Verschmelzung des Christentums mit dem Volksleben abbringen zu können. Er sagte bei jenem Gespräch, daß die Deutschen Christen nicht willens waren, seiner Ablehnung des Kreuzzugsgedankens und der Vereinigung von Evangelium und Volk, Christenheit und politischer Gemeinschaft zu folgen. 87 Hirsch baut diese Argumentation in einem Brief an Hans Grimm aus dem Jahr 1958 weiter aus. Darin sieht er sich außerstande, die Position der Deutschen Christen zu beurteilen, da er zwar 1933 und nach dem Herbst 1934 den 86 87
Hirsch, Meine Wendejahre, S. 5. Walter Buff an Reimer, 11.1.1980. Das Gespräch wurde von Walter Buff selbst aufgezeichnet.
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Deutschen Christen zuzuordnen war, ihnen aber offiziell nicht angehörte. Er fügt hinzu, daß Hossenfelder ihn nicht als Mitglied wollte, weil er (Hirsch) ein Freidenker war. Nach dem Herbst 1934 konnte er mit der einzigen noch verbliebenen Gruppe, den Thüringer Deutschen Christen, keine Übereinkunft erlangen, weil sie Parteidisziplin verlangten, während er erklärte, er würde unter keinen Umständen die Freiheit aufgeben, seinen persönlichen, unabhängigen Standpunkt zu vertreten. Das Wort Emanuel Hirschs müsse immer einzig das Wort Emanuel Hirschs bleiben. 88 Der interne Zwist mit den Deutschen Christen ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß Hirsch sich selbst ideologisch fest dem Lager der Deutschen Christen zurechnete. Er identifizierte sich insbesondere mit der Gruppe um Ludwig Müller und mit der Kirchenverwaltung, stellten sie doch seiner Meinung nach im Frühling, Sommer und Herbst 1933 das Potential für eine Kirchenvereinigung zur Unterstützung des neuen Staates und seiner Vision eines neuen Deutschland. Gerade diese Gruppe erregte aber den Widerstand einer zunehmenden Zahl von Protestanten, die der Bekennenden Kirche und deren später in der Barmer Theologischen Erklärung niedergelegten Gedanken nahestanden.
Die Arierfrage Hirschs Haltung zum infamen Arierparagraphen der evangelischen Kirche zeigt, wie er einerseits die Diskriminierung der Juden in der Kirchenverfassung mittrug und andererseits im gleichen Atemzug, frei jeder Diskriminierung, die Einheit aller Gläubigen, gleich welcher „Rasse", in Christus verteidigte. Er konnte beide Seiten vertreten, indem er wiederum dialektisch zwischen den beiden Reichen unterschied: die äußeren Strukturen, in diesem Fall die Kirchenverfassung, die frei den Notwendigkeiten der Situation angepaßt werden kann, und die innere Wirklichkeit der unterschiedslosen
88
Hirsch an Hans Grimm, 3.6.1958; Hans Grimm Archiv, Lippoldsberg/Weser; von Walter Buff zur Verfügung gestellt.
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Gnade Gottes. Bei dem wichtigen synodalen Treffen der evangelischen Kirche der Altpreußischen Union in Berlin vom 5.-6. September 1933 wurde folgende Verordnung verabschiedet: Wer nicht arischer Abstammung oder mit einer Person nichtarischer Abstammung verheiratet ist, darf nicht als Geistlicher oder Beamter der allgemeinen kirchlichen Verwaltung berufen werden. Geistliche und Beamte arischer Abstammung, die mit einer Person nichtarischer Abstammung die Ehe eingehen, sind zu entlassen. Wer als Person nichtarischer Abstammung zu gelten hat, bestimmt sich nach den Vorschriften der Reichsgesetze. 89 Mehr als alles andere entfachte dieser Satz den Widerstand in der Kirche und gab damit dem Kirchenkampf erst Gewicht und Ernst. Nach Helmreich „war es dieser Versuch, den Arierparagraphen in der Kirche einzuführen, um jüdisch-christliche Pfarrer von ihren Posten zu entfernen, der mehr als alles andere den sogenannten Kirchenkampf der Hitlerzeit initiierte und der die totale Reglementierung der protestantischen Kirche
verhinderte." 9 0
Verschiedene theologische Fakultäten wurden um Stellungnahme gebeten, ob diese neue Gesetzgebung mit dem Wort Gottes, den geschichtlichen Bekenntnissen der Kirche und deren neuer Kirchenverfassung im Einklang stehe. 91 Am 7. Oktober 1933 äußerte Hirsch seine persönliche Meinung in einem Schriftstück an die Reichskirchenleitung, das später ausgearbeitet und in der Zeitschrift „Deutsche Theologie" im Mai 1934 veröffentlicht wurde. Der Aufsatz mit dem Titel: „Theologisches Gutachten in der Nichtarierfrage" ist in vier Hauptteile gegliedert: Allgemeine Voraussetzungen; Die Gemeinde Jesu Christi und das Volkskirchentum; Gemeinde und Amt in der deutschen evangelischen Volkskirche; Abschließende Bemerkungen. Da dieser Aufsatz wichtig zum Verständnis von Hirschs Grundhaltung in der Judenfrage ist, werden wir uns auf den folgenden Seiten seiner Argumentation ausführlich widmen.
89 90 91
Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 598-599. Helmreich, The German Churches Under Hitler, S. 84 (Ü.a.d.O ). Ibid., S. 145-146.
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Hirschs Prämisse ist: „Deutsche und Juden sind zwei verschiedene Völker", die in ihren rassischen Ursprüngen, ihrer Geschichte und ihrer natürlichen und soziologischen Art wenig miteinander gemein haben. „Wir sind von den Juden stärker unterschieden als von jedem andern Volke, das wir in Europa zu Nachbarn haben", behauptet er. 92 Abgesehen von einzelnen Ausnahmen sei eine Assimilation nach seiner Meinung nicht möglich gewesen. Assimilation brächte im übrigen, würde sie ermöglicht, dem deutschen, auf Rasse gegründeten Volk den Ruin und bedeutete die Entchristianisierung der deutschen Volksordnung. Der neue nationalsozialistische Staat habe diese Gefahr richtig erkannt und versuche, der Vorherrschaft eines fremden Volkes im Deutschland der Weimarer Zeit entgegenzuwirken, indem er die Juden als Gäste und Freunde in Deutschland anerkennt. Diese Politik habe unglücklicherweise bittere und schmerzhafte Konsequenzen für einzelne und für Familien jüdischen Hintergrunds, was aber nicht von der Notwendigkeit des Prozesses als ganzem ablenken sollte. Christen hätten nicht das Recht, die Kategorisierung zu verdammen, die einer Minderheitengruppe, die nicht in der Lage sei, sich zu assimilieren, „Gastrecht" zuweist. Die Aufgabe der Christen sei vielmehr, dafür zu sorgen, daß die Unterscheidung zwischen Juden und Deutschen nicht ins Metaphysische gehoben werde, eine Gefahr, die zur Zeit in Deutschland besonders groß sei. „Die Kategorie, unter die der Jude zu stellen ist, ist nicht die des Minderwertigen, Unwerthaften, in der Substanz Verdorbenen, sondern einfach die Kategorie des Fremden, das für uns nicht paßt, und mit dem wir uns nicht vermischen können, ohne Schaden zu leiden."» Christen trügen allerdings eine Verantwortung für die Vielen, die auf der Grenze zwischen zwei Volksgemeinschaften gefangen seien. Sie müßten mithelfen, deren schwere Bürde in dieser Übergangszeit von der Assimilation zur scharfen Scheidung zwischen Deutschen und Juden erträglich zu gestalten.
92
93
Hirsch, Theologisches Gutachten in der Nichtarierfrage, in: Deutsche Theologie. Monatsschrift für die deutsche evangelische Kirche 1 (Mai) 1934, S. 182. Dieser Artikel wurde zunächst Kirchenrepräsentanten am 7. Oktober 1933 vorgelegt und erschien dann in erweiterter Form im Mai 1934. Ibid., S. 184.
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Auch Christen würden sich freuen, wenn später, nachdem der gesamte Prozeß nicht mehr gefährdet sei, für jene Ausnahmen gemacht werden könnten, die innerlich sowohl Christen als auch Deutsche geworden seien. Darüber hinaus sollten Christen ihre früher geschlossenen persönlichen Freundschaften mit Personen jüdischer Abstammung auf persönlicher und menschlicher Ebene aufrechterhalten. Nach einer schwierigen Übergangsphase von etwa 30 Jahren werde sich das Verhältnis zwischen Deutschen und Menschen jüdischen Blutes wieder einfacher gestalten. Hier sind drei wichtige Bemerkungen zu Hirschs Ausgangspunkt notwendig: Erstens folgt Hirschs Haltung zur Nichtarierfrage konsequent aus seinen früheren Schriften Uber den Blutbund des Volkes und dessen zentrale Bedeutung für den Nationalstaat. Zweitens distanziert sich Hirsch eindeutig von der radikaleren antisemitischen Polemik, die die Juden als minderwertig, korrupt und „gegenrassisch" bezeichnete. Er erkennt das unglückliche, tragische Schicksal einzelner Judenchristen und fordert die Christen dazu auf, ihre persönlichen Freundschaften mit Menschen jüdischen Hintergrunds aufrechtzuerhalten. Diese Haltung steht im Widerspruch zur offiziellen Propaganda und Politik. Es ist richtig, daß Hirsch die Rassentrennung unterstützt, es fehlt jedoch die innere Logik, die zur Rassenvernichtung führt. Am belastendsten für Hirsch ist jedoch drittens seine Analyse, in der er grundsätzlich die Rassentrennung in Gesellschaft und Kirche befürwortet. Damit bereitete er in der Tat den Boden für antisemitische Politik in Staat und Kirche. Seine Sympathie für Einzelfälle kann ihn nicht von der angelegten strukturellen Diskriminierung jüdischer Konvertiten freisprechen, ganz zu schweigen von der deutschen jüdischen Gemeinde insgesamt, Uber die er, wie die meisten evangelischen Christen, sogar in der Bekennenden Kirche, kein Wort verliert. Hirsch macht geltend, daß die Beziehung der Gemeinde Jesu Christi zum Volkskirchentum auf ihrer klaren Unterscheidung beruht. Der reformatorischen Lehre folgend sagt er, daß die Kirche frei ist, ihre äußere Verfaßtheit (Kirchengesetz, Verfassung, geistliches Amt als Zivilberuf) der geschichtlich gegebenen Art des Volkes anzupassen. In der Tat glaubt er, daß die Kirche gar dazu verpflichtet ist, das Volksleben zu gestalten und im Volk die Empfänglichkeit für das Evangelium zu stärken. In ihrer äußeren Struktur ist
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die Kirche daher nicht an die neutestamentliche Kirchenverfaßtheit gebunden. Diese Unterscheidung ist wichtig für die Arierfrage. In der Gemeinde Christi sind alle Gläubigen eins, unabhängig von irdischen und rassischen Unterschieden. Diese Einheit ist dreifaltig: A l l e sind Sünder unter dem göttlichen Gericht, alle sind gleichermaßen von Gottes Gnade und Barmherzigkeit umfangen, und schließlich sind alle zu ein und demselben berufen, nämlich Gott zu dienen und die göttliche Gnade zu bezeugen. Diese Einheit bindet alle Christen als Brüder und Schwestern, was am klarsten durch das Abendmahl symbolisiert ist. Obwohl diese Einheit irdische und geschichtliche Unterscheidungen nicht auflöst, bedeutet sie dennoch, daß alle Gläubigen gleich sind und vereint vor Gott stehen. Wer immer so sehr in geschichtlichen Wirklichkeiten gefangen ist, daß er irdische Unterscheidungen auf den geistigen Bereich des Abendmahls ausdehnt, der ist ungehorsam gegenüber dem Evangelium und verwirkt das Recht, zur Gemeinde Jesu Christi zu gehören. In diesem geistigen Zusammenhang vertritt Hirsch klar die Einheit von jüdischen Konvertiten, von Mitgliedern der evangelischen Kirche, die gemischter Abstammung sind, und von Mitgliedern rein deutscher Herkunft. Er spricht jedoch die Frage der geistigen Einheit der Menschheit vor Gott, ungeachtet der Rasse oder religiösen Zugehörigkeit, nicht an. Nach dem Abschnitt über die geistige Einheit aller Gläubigen in Christus tritt Hirsch dafür ein, die beruflichen Unterschiede zwischen Christen ernstzunehmen. Der Beruf ist bestimmt von äußeren und geschichtlichen Faktoren wie die Stellung im Leben, Volkszugehörigkeit, Begabung, Bildung und Charakter. Diese Berufsunterschiede aufzulösen hieße, die Gemeinde Jesu Christi zu historisieren, d. h. zu einer griechischen Verzerrung der biblischen Religion zu machen. Die Gemeinde Christi findet ihre Vollendung nicht im Fernhalten von historischen Strukturen, sondern gerade in der Anerkennung von Gottes geheimnisvoller und gnädiger Gegenwart in den Kämpfen, Sünden und Leiden des geschichtlichen Lebens. Der Fehler in Hirschs Argumentation liegt nicht darin, daß er die geschichtlich bedingte Natur der christlichen Berufung ernstnimmt, sondern in der Tatsache, daß er geschichtliche Unterscheidungen mit rassischen Qualitäten verquickt. Hier vertritt er nicht nur
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die Rassenideologie des Nationalsozialismus, sondern ebenso die anderer nationalistischer Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese Verfaßtheit der Kirche als Aspekt der Volkskirche ist nach Hirsch als casus
Instrumentalis
zu betrachten, als Zeugnis der christlichen
Verkündigung in einem bestimmten geschichtlichen und völkischen Kontext, und sie steht wie jede menschliche Gemeinschaft unter Sünde und Gericht. Dennoch hängt sie von der gratia praeveniens ab, d. h. davon, daß Gott die geschichtlich bedingte Kirche als menschliches Mittel zur Verkündigung des Evangeliums und der Einheit aller in Christus benutzt, ohne dabei die Subjektivität des einzelnen als Mitglied eines Volkes zu verneinen. Sein Verständnis der reformatorischen Unterscheidung zwischen der Gemeinde Jesu Christi und der Volkskirche, die ihre Vollmacht in einer bestimmten geschichtlichen Situation hat (beide sind dialektisch miteinander verbunden), wendet Hirsch auf die Frage an, ob Judenchristen das öffentliche Amt eines Pfarrers bekleiden dürfen. Hirsch bejaht eindeutig das geistliche Priestertum aller Gläubigen, also das geistliche Recht aller getauften Christen, das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten. Die Frage ist jedoch, ob die Volkskirche in ihrer geschichtlichen Besonderheit die Freiheit hat, bestimmte völkische Bedingungen an ein Amt zu knüpfen. Abgesehen von einzelnen Ausnahmen hat es die evangelische Kirche immer für selbstverständlich erachtet, daß die Volkszugehörigkeit der Kirche auch die ihrer Amtsinhaber sein sollte. Dies gilt sogar innerhalb der verschiedenen deutschen Landeskirchen (Bayern, Schwaben, Schleswig-Holstein usw.). Nach Hirsch ist der gegenwärtige Widerstand dagegen, daß nur Personen arischen (oder deutschen) Blutes ein deutsches Amt bekleiden können, nicht theologisch, sondern politisch begründet. Es erhebt sich die Frage nach der Volkszugehörigkeit der deutschen Judenchristen. Hier wiederholt Hirsch seine frühere Behauptung, daß Juden (ob konvertiert oder nicht) einem dem deutschen Ethos fremden Volk angehören. Die deutsche evangelische Kirche habe daher die völlige Freiheit, ihnen das Recht der öffentlichen Amtsausübung abzusprechen. Das Problem wird ein theologisches, wenn Judenchristen nicht länger Brüder und Schwestern im Sinne des Priestertums aller Gläubigen genannt werden. Sollten einzelne Deutsche Christen dies getan haben, würde
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er zusammen mit der gegenwärtigen Führung der deutschen evangelischen Kirche ein solches Vorgehen als unchristlich verurteilen; ihm sei jedoch kein solcher Fall bekannt. Gegenüber seinen christlichen Brüdern mit jüdischem Hintergrund gesteht Hirsch als Deutscher und als Christ ein, daß es schwer ist, von jemandem ein Opfer zu verlangen, das man selbst zu bringen nicht gefordert ist. Dennoch erwartet er von Judenchristen, daß sie freiwillig und in Liebe die Aussichten ihrer Söhne auf ein Pfarramt in der neuen deutschen evangelischen Kirche opfern. Alle bisherigen Aussagen Hirschs gehen davon aus, daß Christen deutschen und jüdischen Hintergrunds bei der Teilnahme am christlichen Gottesdienst und am Abendmahl nicht unterschieden werden können, ohne dem Evangelium gegenüber ungehorsam zu sein. Sollten sich schließlich einige Judenchristen zurückziehen und eigene Gemeinschaften bilden, könnte deren Mitgliedern dennoch die Teilnahme an rein deutschen öffentlichen Gottesdiensten oder an katechetischer Unterweisung nicht verweigert werden. Kurz, bildeten sich solche eigenständigen jüdisch-christlichen Gemeinden, gehörten sie der deutschen evangelischen Kirche an. Denn „Christus ist unser aller Herr, und Christus kennt keinen Unterschied zwischen Deutschen und J u d e n . " 9 4 Als einzige Einschränkung dürften sie keine ö f f e n t l i c h e n Kirchenämter bekleiden und das Wahlrecht nicht ausüben. Es bleibt jedoch offen, ob sich solche jüdisch-christlichen Gemeinden bilden. Und es steht für Hirsch außer Frage, daß Judenchristen nicht gewaltsam aus der Kirche gedrängt werden dürfen. Das wäre gegen das christliche Prinzip der Liebe. Hirschs Position in dieser Angelegenheit wird in den Schlußbemerkungen des Aufsatzes deutlich. Er ruft sowohl die Opposition als auch die gegenwärtige Kirchenleitung dazu auf, die Nichtarierfrage nicht zu dogmatisieren, sondern sie im Bereich der Kirchenverfassung zu belassen. Sie betrifft die relativen Forderungen der geschichtlichen Situation und nicht die theologische Einheit aller in Christus. Pfarrer, die sich in Unstimmigkeiten mit diesen verfassungsmäßigen Entscheidungen der Kirchenverwaltung sehen, sollten weiterhin das Evangelium predigen und geduldig ertragen, was sie als verzerrte
94
Ibid., S. 195.
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Kirchenordnung betrachten. Er gibt zu, daß er an manchen Punkten mit der Vorgehensweise nicht einverstanden ist. Besonders in Anbetracht der kleinen direkt betroffenen Minderheit von PfaiTern (es gibt nur 30 Pfarrer mit nichtarischen Vorfahren, von denen 18 nicht unter die Regelung fallen) hätte die Leitung taktvoller wirken können. Zukünftig dürfen nur noch Pfarramtskandidaten angenommen werden, die bereit sind, Mitglieder der Studentenschaft und der SA zu werden. Trotz seiner Besorgnis Uber die undifferenzierte und mechanische Vorgehensweise steht Hirsch fest hinter dem Inhalt der neuen Verordnung. In folgenden Punkten stimmt er nicht mit der Opposition Uberein: 1) mit ihrer grundsätzlichen
Ablehnung
jeder
Unterscheidung zwischen Deutschen und deutschsprachigen Juden nichtdeutschen Blutes, 2) mit ihrer Ansicht, daß die deutsche evangelische Kirche die Judenchristen als richtige Deutsche behandeln solle, und 3) mit ihrer negativen Haltung zu den Ereignissen von 1933. Die Grundthemen dieses Artikels vom Mai 1934 waren bereits in dem früheren und sehr viel kürzeren Aufsatz von Hirsch: .Arier und Nichtarier in der deutschen evangelischen Kirche", 1933 erschienen. Dieser frühere Aufsatz beginnt mit der Bekräftigung der geistigen Einheit der Christen aller Rassen und Völker - Juden, Schwarze, Mongolen usw. Da heißt es: „Diese Gemeinschaft in der verborgenen Kirche Jesu Christi, die durch alle Völker, Zeiten und Lande geht, ist auch das letzte tragende Geheimnis in den sichtbaren Kirchen." 95 Während in der unsichtbaren Kirche Christi, dem geheimnisvollen Grund der sichtbaren Kirche, nicht differenziert werden darf, müssen in der geschichtlichen Kirche dennoch nicht geistlich begründete Unterschiede gemacht werden. Diese Unterschiede - wie jene zwischen den schwarzen und weißen Kirchen in Amerika, deutschsprechenden und nicht deutschsprechenden Lutheranern in Stockholm und Kopenhagen, Gemeinden w e i ß e r Einwanderer und den Eingeborenengemeinden in den Kolonialgebieten - sind nicht geistlich begründet, sondern dienen lediglich funktionalen und praktischen Zwecken. Jedoch sollten auch dort Ausnahmen erlaubt sein, denn damit
Hirsch, Arier und Nichtarier in der deutschen evangelischen Kirche, in: Kirche und Volkstum in Niedersachsen 1,2 (1933), S. 1.
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„bekennen wir, daß die Regel für unser gewöhnlich andersartiges Handeln eine aus den irdischen Notwendigkeiten stammende menschlich-irdische Regel ist, bekennen wir, daß unsere verfaßte Kirche nicht eines und dasselbe ist mit der Gemeinde Jesu Christi." 96 Hirsch wendet nun diese feine Unterscheidung direkt auf die deutsche Situation, nämlich die Nichtarierfrage in Kirche und Staat, an. Er beginnt damit, daß die Kirchenverfassung dem sich in Deutschland entwickelnden Ethos gegenüber nicht indifferent bleiben darf. Die konsequente Trennung zwischen Ariern und Nichtariern ist die Grundlage der derzeit entstehenden deutschen Ordnung. Letztlich vermittelt Hirsch in diesem Artikel den Eindruck, daß die politische Schaffung einer neuen deutschen Ordnung zwar eine schwierige aber doch notwendige sei und daß die Kirche als Teil des deutschen Ethos sich dieser Neuordnung der deutschen Gesellschaft nicht widersetzen, sondern sie energisch unterstützen sollte. „Der Staat hat weiter mit seiner Regelung der Nichtarier-Frage die ethische Aufgabe übernommen, den Deutschen die Verantwortung für eine Nachkommenschaft deutscher Art einzubrennen. Es ist sein Wille, daß deutsches Leben und deutscher Geist den tragenden Naturgrund in dem natürlichen Blutbunde des Volkstums behalten. Zu alledem muß man aus christlicher Verantwortung heraus ja sagen, auch wenn man um das schmerzliche innere Schicksal Einzelner weiß. Ein Volk und ein Staat kann in seinem Handeln nicht durch Rücksicht a u f Einzelschicksale bestimmt sein." 97 Die Kirche hat auch die christliche Verantwortung, diese Regelungen auf ihre eigene Gemeinschaft zu Ubertragen. Sie sollte dies jedoch in Liebe tun. Die Kirche ist immerhin eine Gemeinschaft, die auf gutem Willen gründet, wohingegen der Staat als Gemeinschaft bereit ist, gewaltsam Gehorsam zu erzwingen. Hirsch schlägt nun für die Kirche in der gegenwärtigen Situation folgendes vor: Erstens braucht die Kirche, da sie so wenige Pfarrer judischen oder halbjüdischen Bluts hat, von ihren Pastoren keinen Ariernachweis zu fordern. Im allgemeinen muß die Kirche die, die ihr treu gedient haben, nicht aus ihren
96 97
Ibid., S. 2. Ibid., S. 3.
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Ämtern entfernen. Wird ein Pfarrer jüdischer oder halbjüdischer Abstammung dennoch für seine Gemeinde untragbar, ist eine ehrenvolle Pensionierung angemessen. Gute Beziehungen zwischen Pfarrer und Gemeinde sollten aber nicht von außen zerstört werden. 98 Zweitens müssen zukünftige Kirchenführer anhand neuer Kriterien ausgesucht werden, die den neuen Anschauungen über Kameradschaftlichkeit und Volksverbundenheit voll entsprechen. So wird es zur Bedingung, daß alle Kandidaten während ihrer Studienzeit Mitglied der deutschen Studentenschaft sind. „Damit", sagt Hirsch, „ist bei den strengen Bedingungen der deutschen Studentenschaft für die rechte blutmäßige Art der Pastoren vollkommen gesorgt." 99 Somit kann die Kirche die Forderungen des Staates Eigenmaßnahmen
unterstützen
ohne
und umsetzen.
außergewöhnliche Nach
christlichen
Anschauungen sollte dem Reichsbischof jedoch vom Staat weiterhin das Recht zugestanden werden, in einzelnen, persönlichen Fällen Ausnahmen zu machen. Drittens lehnt Hirsch bei der Gemeindemitgliedschaft das Prinzip des Entweder-Oder ab, nämlich entweder alle Judenchristen in getrennten judenchristlichen Gemeinden zu sammeln oder sie in bestehende deutsche Gemeinden einzugliedern. Vielmehr sollten nur die neu zum Christentum übergetretenen Juden und Nachkommen aus neuen Mischehen solchen eigenständigen judenchristlichen Gemeinden beitreten, solche, die bereits lange Zeit Mitglieder der deutschen christlichen Gemeinden sind, hingegen nicht gegen ihren Willen in besondere Gemeinden gezwungen werden. Dies gilt insbesondere für Menschen gemischten Blutes und solche, die vor der nationalsozialistischen Revolution eine Mischehe eingegangen sind. Schließlich ist die Abendmahlsgemeinschaft zwischen judenchristlichen und deutschen christlichen Gemeinden selbstverständlich: „Wer grundsätzlich nicht mit einem Menschen jüdischen Bluts zusammen am Altar knien kann, um Leib und Blut des Herrn zu empfangen, der ist noch so wenig in das Christentum hineinge-
9
»
99
Ibid. Ibid.
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wachsen, daß er am besten darauf verzichtet, Uber grundsätzliche kirchliche Ordnung mitzureden." 100 A n keiner anderen Stelle dieser Studie können wir so deutlich die praktischen Konsequenzen für das kirchliche Leben sehen, die aus Hirschs politischen, philosophischen und theologischen Annahmen für Volk, Staat, Christenheit und Kirche folgen. Zu Hirschs Verteidigung mag angeführt werden, daß er sich nicht der abfälligen antijüdischen Sprache bedient, die unter den radikaleren Deutschen Christen und nationalsozialistischen Rassenpropagandisten vorherrschte. Er bejaht die geistige Einheit der deutschen und jüdischen Christen in Christus, eine Einheit, die ihren Ausdruck in der Abendmahlsgemeinschaft findet. Er ermutigt auch-einzelne deutsche Christen zu mitleidendem Verhalten gegenüber einzelnen Judenchristen und spricht sich für Ausnahmeregelungen bei der Nichtarierfrage aus. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß sich Hirschs theologische oder politische Ansichten nach 1933 wandelten. In manchen seiner späteren Schriften zeigt er Enttäuschung über Müller, über einige der harten Maßnahmen in Verbindung mit der unsensiblen Vorgehensweise der Kirchenverwaltung wie auch über den Kirchenkampf und die Aufspaltung der Kirche und gibt zu, daß seine frühere Hoffnung auf theologische und kirchliche Einigung zu optimistisch gewesen sei. Trotzdem scheint er nach wie vor die Revolution von 1933 und die Ziele des Nationalsozialismus zu unterstützen. Tatsächlich scheint sich seine Position zu festigen.
Hirsch als Dekan der Universität
Nachweislich gehörte Hirsch zahlreichen offiziellen Parteiorganisationen an, wie etwa dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, dem Reichsluftschutzbund, dem Roten Kreuz, der SS und dem Nationalsozialistischen Lehrerbund. 101 W i e bereits
100
Ibid., S. 4.
101
Ericksen, Theologen unter Hitler, S. 227.
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erwähnt, trat er im Februar 1937 der Partei bei. In seiner Zugehörigkeit zu diesen verschiedenen nationalsozialistischen Vereinigungen unterschied er sich nicht von vielen anderen. Seinen einzigartigen Beitrag leistete er während der entscheidenden Jahre 1933 bis 1938 als Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen, in einer Position, die er aufgrund seines guten akademischen Rufes innehatte. 102 Robert Ericksen gibt eine besondere Lesart der Ereignisse an der Göttinger Theologischen Fakultät während der Amtsjahre Hirschs. 103 Hirschs Rolle ist recht schwer zu beurteilen. Einerseits könnte man behaupten, daß Hirsch wegen seiner guten Verbindung zu den Offiziellen in Berlin, wie Bernhard Rust, dem Minister für Kirchenangelegenheiten, in der Lage war, seine Fakultät vor ernstlichen Interventionen der Partei zu bewahren und dies auch tat. Offensichtlich wurde niemand aus seiner Fakultät wegen politischer Opposition zum Staat aus dem Amt entfernt oder in ein Konzentrationslager verbracht, obwohl es eine starke studentische Anhängerschaft d e r Bekennenden Kirche und der Theologie Karl Barths gab. Andererseits bringt Ericksen überzeugende Beweise für seine Behauptung, daß „Hirschs aggressive, einschüchternde und beunruhigende Rolle innerhalb der theologischen Fakultät" einen großen Konflikt zwischen Hirsch, der Fakultät und den Studenten heraufbeschwor. 104 Dies überzeugt trotz der Tatsache, daß 1933 die große Mehrheit der Fakultätsmitglieder die Deutschen Christen unterstützte und der Hannoveraner Bischof August Marahrens, zu dessen Landeskirche die wichtige Göttinger Theologische Fakultät gehörte, selbst ein Anhänger Hitlers und des Nationalsozialismus war. Auch Hermann Dörries, einer der wenigen Anhänger der Bekennenden Kirche, war konservativer Nationalist. Daher scheint nach Ericksens Einschätzung Hirschs Rolle in der Theologischen Fakultät mehrere Interpretationen zuzulassen. Ericksen zeigt, wie sich bereits im Sommer 1933 das Verhältnis von Bischof Marahrens und Hirsch zu verschlechtern begann, weil ersterer sich
102
103 104
Ibid. P Ü J · ¿¡g folgenden Seiten bin ich Ericksens historischer Studie (bes. S. 228 ff) für wichtige biographische Details zu großem Dank verpflichtet. Ibid., S. 229.
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einerseits von den Deutschen Christen und andererseits vom radikalen Hügel der Bekennenden Kirche wegen seines Bekenntnisses distanzierte. Marahrens war in der Lage, während des deutschen Kirchenkampfes einen unabhängigen Kurs zu verfolgen, und machte so die Hannoveraner Landeskirche zu einer der drei „intakten" Kirchen während jener Zeit. Spannungen entwickelten sich auch zwischen Hirsch und der Fakultät, als einige ihrer Mitglieder Hirsch verdächtigten, sie im Berliner Ministerium zu denunzieren, was Hirsch jedoch abstritt. 105 Nach Ericksen: „Hirsch führte mit Berlin lebhafte Korrespondenz, kam persönlich zu Besuchen, und er und das Ministerium bauten eine gemeinsame und einigermaßen effektive Front gegen sämtliche Aktivitäten auf, die im Zusammenhang mit der Bekennenden Kirche stehen und die theologischen Fakultäten berühren konnten." 106 Die größte Kontroverse, in die Hirsch während seiner Jahre als Dekan verwickelt war, betraf die Berufungen an die Fakultät, besonders den Ruf Walter Birnbaums auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie im Jahre 1935. Wie Ericksen herausfand, war Birnbaums Theologie entschieden nationalistisch, seine akademischen Referenzen waren schwach und er stand in den Wirren des Kirchenkampfes zu Ludwig Müller und August Jäger. Seine Berufung schien wenig mehr als ein politischer Akt. Die Kontroverse um Birnbaum erreichte ihren Höhepunkt, als der Bekennenden Kirche nahestehende Studenten seine Veranstaltungen boykottierten und auch dagegen protestierten, daß Birnbaum Mitglied der Prüfungsausschüsse war. Hirsch hielt hierüber den Minister für Kirchenangelegenheiten in Berlin, Bernhard Rust, ständig auf dem laufenden und gab in einem Brief seine Einschätzung bekannt, daß drei Viertel der Theologiestudenten unter dem Einfluß der Bekennenden Kirche stünden, empfahl jedoch Nichteinmischung, da die Fakultät intern damit umgehen könne. 1 0 7 Darüber hinaus wies Hirsch den Leiter des Seminars an, ,,'daß in den Gemeinschaftsräumen des Theologischen Stifts Gespräche kirchenpolitischer Tendenz' untersagt sind." 1 0 8 Trotz Hirschs
105 106 107 108
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
S. S. S. S.
228. 229. 230 f. 232.
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Selbsteinschätzung als Vermittler und Versöhner zwischen den verschiedenen Seiten war im Jahr 1935 eine Trennungslinie zwischen „den Studenten der Bekennenden Kirche, dem Kirchenamt in Hannover und einer sehr kleinen Gruppe aus der Fakultät" einerseits und „Hirsch, einer großen Mehrheit der Professoren und [dem] Ministerium in Berlin" andererseits klar erkennbar. 109 Mit Ericksens Worten: „Zwar konnte er die Studenten nicht so intensiv kontrollieren, wie er es gerne getan hätte, aber obwohl er Gewalt ablehnte, wandte er einschüchternde Methoden an und arbeitete Hand in Hand mit dem Ministerium, um der Bekennenden Kirche, wo es ging, entgegenzuwirken." 1 1 0 So versuchte Hirsch laut Ericksen, in den Jahren 1935 bis 1937 die Aktivitäten der Bekennenden Studenten, wie etwa Freizeiten, Ersatzkurse und gesonderte theologische Examina (d.h. ohne Vertreter der Theologischen Fakultät) unter der Schirmherrschaft des Hannoveraner Kirchenamts, zu beschneiden. Auch schickte Hirsch Kopien von Rundbriefen der der Bekennenden Kirche zuzurechnenden Studenten an das Ministerium und beschuldigte sie und den Hannoveraner Bischof der Sympathie für die ,.radikale Dahlemer Gruppe um Martin Niemöller". 111 Als Konsequenz veröffentlichte das Ministerium am 17. November 1936 ein Dekret, das alle Ersatzkurse verbot. Eine Gruppe von 40 Studenten protestierte im Februar 1937 beim Reichsminister für die akademische Freiheit. Hirsch wiederum riet dem Ministerium, die Proteste zu ignorieren und unterstützte das Dekret. Als Ergebnis nahm vom Frühling 1937 an das Kirchenamt in Hannover theologische Examina auf der Grundlage der Bekenntnis-Kirche unabhängig von der Göttinger Fakultät ab. Am 16. Mai 1938 strich der Staat offiziell die Gelder für Studenten, die ihre Prüfungen ohne Beteiligung der Fakultät ablegten, was eine weitere Protestwelle der Hannoveraner Studenten, die an mehreren Universitäten einschließlich Göttingen studierten, hervorrief. Es schien keine Lösung des sich zuspitzenden Konflikts zwischen dem Hannoveraner Kirchenamt und den „Bekennenden Studenten" auf der einen 109 110 111
Ibid., S. 234. Ibid. Ibid., S. 235.
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und Hirsch, der Fakultät und dem Berliner Ministerium auf der anderen Seite in Aussicht, bis Hirsch selbst einen Kompromiß vorschlug. Er sagte zu, den Prüfungen nicht länger beizuwohnen. Birnbaum sollte zur Erfüllung der ministeriellen Erlasse zugegen sein mit der Maßgabe, daß er die unverändert gegen ihn opponierenden Studenten nicht selbst prüfe. Diese Verlegenheitslösung schien den Studenten akzeptabel und wurde von der Hannoveraner Kirche genehmigt. Die Spannungen innerhalb der Göttinger Theologischen Fakultät nahmen mit dem Rücktritt Hirschs als Dekan im Jahre 1938 und nach Ausbruch des Krieges 1939 merklich ab; ebenso lockerte sich das angespannte Verhältnis zum Amt in Hannover zusehends. Birnbaum wurde während der Kriegsjahre immer unbedeutender, besonders als er nach 1941 ausgedehnte Vortragsreisen zur Luftwaffe an die russische Front unternahm. Auch Hirschs Einfluß verringerte sich nach seinem Rücktritt, obwohl er weiterhin lehrte und „während dieser Jahre in dem Ruf stand, der vielleicht größte deutsche Theologe zu sein". 112 Auch nach seiner „erzwungenen Emeritierung" im Jahre 1945 113 forschte und schrieb er noch viel, obwohl er 1946 völlig erblindete. Zwischen 1933 und 1945 gab es außer einem recht rätselhaften Brief von Hirsch an Tillich im Jahr 1933 (vgl. unten, S. 147) und der öffentlichen Debatte in Zeitschriften in den Jahren 1934-35 keinen direkten Kontakt zwischen Hirsch und Tillich. Ihr Leben und Denken ging - gemessen am Äußerlichen - in völlig verschiedene Richtungen. Hirschs radikalere Antwort auf die Krise der Moderne, sein Verständnis des Volks als „verborgener Souverän", dem alle Deutschen im irdischen Bereich vorbehaltlos Ergebenheit zu zollen haben, seine enthusiastische Unterstützung Hitlers und der NSDAP als Instrumente der Vorsehung, sein Boykott der ökumenischen Bewegung, seine einflußreiche Rolle im deutschen Kirchenkampf auf der Seite Ludwig Müllers und der Deutschen Christen, sein doppelter Ansatz in der Nichtarierfrage und sein widersprüchliches Vorgehen als Dekan der Universität Göttingen, all dies lief dem völlig zuwider, was Tillich glaubte und
112 113
Ibid., S. 240. Ibid.
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wofür er einstand. Und doch gab es etwas, das diese beiden Männer seit ihrer Jugend gegenseitig anzog, eine Faszination füreinander, die sogar die Hitze ihres Streits überstand. Tief in ihrem Denken, so werde ich zeigen, waren sie sich ähnlich. Wir wenden uns nun Tillichs Karriere während jener Zeit zu.
Tillich: „Auf der Grenze von Heimat und Fremde" Im Gegensatz zu Hirsch ist Tillichs Leben und Denken der Jahre zwischen 1933 und 1945 im englischsprachigen Raum bekannter geworden, da er selbst Autobiographisches schrieb, Marion Pauck in ihrer Biographie sein Leben und Denken detailliert nachzeichnete und es wiederholt, zuletzt bei Ronald Stone 114 , Gegenstand politologischer Analysen war. Deshalb sind wir bei der Schilderung der Vorgänge im Dritten Reich und der dabei von Hirsch eingenommenen Positionen sehr viel mehr ins Detail gegangen, als dies für Tillichs amerikanischen Lebensabschnitt notwendig ist. Hier sollen daher nur einige wichtige Stationen von Tillichs Werdegang im Jahre 1933 und nach seiner Emigration aufgezeigt werden, die in krassem Gegensatz zu Hirschs Entwicklung stehen. Tillich betitelte das vorletzte Kapitel seiner 1936, also drei Jahre nach seiner Emigration, geschriebenen autobiographischen Skizze „Auf der Grenze" mit: ,Auf der Grenze von Heimat und Fremde". Diese Überschrift steht für ein Großteil von Tillichs Leben und Werk, charakterisiert jedoch besonders seine Reaktion auf den deutschen Nationalismus von 1933 und seine ersten Jahre in Nordamerika. Im Gegensatz zu Hirsch, für den Hingabe an das Volk zum Kriterium jedes verantwortlichen geschichtlichen Denkens und Handelns wurde, war Tillichs Bindung an seine deutsche Heimat - ihre Landschaft, Tradition, Sprache und ihr Schicksal - so instinktmäßig, daß er „nie begriffen ... [hatte], warum man ... [sie] zum Gegenstand ausdrücklichen Denkens und Handelns machen soll."115 Nach Tillich zeugt eine derartige Inanspruchnahme 114
115
Ronald Stone, Paul Tillich's Radical Social Thought. New York: University of America Press, 1986. Tillich, Auf der Grenze, S. 65.
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des Volkes von Unsicherheit und äußert sich bei jenen, die nicht aus dem Volk erwachsen sind und daher meinen, ihre patriotischen Gefühle rechtfertigen zu müssen. Trotz seiner tiefen lebenslangen Verwurzelung in der deutschen Kultur spricht Tillich in seinem Buch vom Leben auf der Grenze zwischen fremdem und heimatlichem Land als einem vom Gott der jüdischen Propheten und vom Gott Jesu verlangten Leben. Dieser jüdisch-christliche Gott, sagt er, „zerbricht jeden religiösen Nationalismus, den jüdischen, mit dem er ständig kämpft, und den heidnischen, der schon mit dem Befehl an Abraham verneint ist ['Gehe aus Deiner Heimat... in ein Land, das ich Dir zeigen will']." 116 Tillich benennt zwei Arten der Emigration, die für jeden zur Forderung werden können und die sein eigenes Leben kennzeichnen: die physische Emigration von einem Land in ein anderes und die geistige Emigration, der Bruch mit „den herrschenden Mächten, sozialen und politischen Strömungen", oder, was er auch die innere Emigration nennt: die „Trennung von Glaubensund Denkgewohnheiten, Überschreiten jeder Grenze dessen, was selbstverständlich
ist, radikales Fragen und
Unbekannten."
117
Vorstoßen
zu
dem
Neuen,
Tillich war auf alle drei Arten Emigrant: „In all diesen
Beziehungen stand ich von jeher, und je länger desto mehr, zwischen Heimat und Fremde. Es war nicht so, als hätte ich mich einseitig für die Fremde entschieden. Das trifft weder auf die äußere Emigration noch auf die innere, die schon längst vorder äußeren begonnen hatte, zu." 118 Der Begriff der Emigration wurde allgemein eine wichtige Kategorie in Tillichs Theologie, was sich in verschiedenen Schriften und Reden während seiner ersten Jahre in Amerika zeigt, und er grenzt sein Leben und Denken scharf gegen Hirschs „Verwurzelung" ab. Er betrachtete Emigration, sei es aus Gründen christlicher Liebe, moralischen Protestes oder politischer Überzeugung, als für jeden Christen wichtige geistige Kategorie, in der sich die Majestät Gottes und der unbedingte moralische Imperativ, zu bestimmten
116 117 118
Ibid., S. 64. Ibid. Ibid., S. 65.
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Zeiten alles hinter sich zu lassen, ausdrückt. 119 Er betonte die Notwendigkeit „gegenseitiger Befruchtung" durch die Überschreitung nationaler Grenzen, fügte aber hinzu, daß solche interkulturelle Befruchtung „nur möglich [ist], weil eine gemeinsame menschliche Natur Individuen, Gruppen und Völker verbindet. Niemand könnte die Fremde verstehen oder sich selbst darin wiederfinden ... Die Gewißheit der Existenz einer solchen essentiellen Identität zwischen Mensch und Mensch läßt Völker ihre Heimatländer verlassen und in fremde Länder auswandern." 120 Betrachten wir zunächst die Ereignisse, die zu seiner „physischen Emigration" nach New York City führten und jene, die unmittelbar folgten. Daran schließt sich ein Überblick über die „intellektuelle" oder „geistige" Emigration zwischen 1933 und 1945 unter besonderer Berücksichtigung jener Aspekte an, die sein Denken mit Ansichten seines Freundes und jetzigen politischen Kontrahenten Emanuel Hirsch verbinden oder von ihnen trennen.
Physische Emigration Wie wir sahen, scheute sich Tillich wie viele andere d e u t s c h e Intellektuelle, darunter auch Emanuel Hirsch, in den 20er Jahren vor direktem parteipolitischen Engagement, obwohl ein Großteil seiner theoretischen Arbeit in direktem Sinne politischer Natur war. In einem seiner autobiographischen Aufsätze sagt Tillich, daß seine Vorlesungen in Frankfurt und seine Vortrage in ganz Deutschland ihn „schon lange vor 1933 in Konflikt mit der immer stärker werdenden nationalsozialistischen Bewegung" brachten. 121 Angesichts der wachsenden Popularität und Stärke der nationalsozialistischen Partei traten 119
120
121
Tillich, Christentum und Emigration, in: GW XIII, S. 187-191, hier S. 190. Zunächst als Rede gehalten vor dem „American Committee for German Christian Refugees" in New York am 6. Juni 1936; ursprünglich publiziert in: The Presbyterian Tribune 5 2 , 3 (1936), S. 13,16; dann ins Deutsche übersetzt. Tillich, Geist und Wanderung, in: GW XIII, S. 191-200, hier S. 200. E n e Ansprache vor der „Graduate Faculty of the New School for Social Research" in New York am 13. April 1937; ursprünglich veröffentlicht als: Mind and Migration, in: Social Research 4, 3 (1937), S, 195-305. Tillich, Autobiographische Betrachtungen, S. 70.
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Tillich und viele seiner Freunde in die Sozialdemokratische Partei ein. Tillich wurde 1929 Mitglied und nahm damit einen völlig anderen Weg als Hirsch, der bis 1932, als er sich ganz hinter Hitler stellte, die konservative Deutschnationale Volkspartei unterstützt hatte. Ein weiterer Schritt, der ihm später, wie sein Eintritt in die SPD von den Nationalsozialisten vorgeworfen wurde, war seine Beteiligung an der Gründung und seine Mitherausgeberschaft der linksgerichteten Zeitschrift „Neue Blätter für den Sozialismus". Interessanterweise hielten ihn in jener Zeit einige seiner Freunde trotz seiner Vorliebe für theoretische politische Analyse und trotz dieses politischen Engagements für politisch naiv. 122 Aber sein politisch naiver Optimismus, den er gehabt haben mochte, wich schnell in den kommenden Jahren, besonders 1932 und 1933, angesichts der dräuenden politischen Wolken, die sich Uber seiner eigenen Zukunft zusammenzogen und Tillichs wahres persönliches und politisches Naturell hervorbrechen ließen. Im April 1932 schrieben er und ein Freund einen Brief an den Berliner Wingolf, dessen Mitglied er war, in dem sie dessen Diskriminierung politisch linker Studenten und christlicher Studenten mit jüdischem Hintergrund anprangerten. Sie bekundeten ihre Solidarität mit Juden und Sozialisten und drohten mit Austritt, was sie kurze Zeit später auch in die Tat umsetzten. Mehrmals solidarisierte Tillich sich öffentlich mit Juden und machte seinem Ärger über die Nationalsozialisten Luft. 1 2 3 Im Juli 1932 kam es unter den Studenten der Universität Frankfurt zu Kämpfen, als nationalsozialistische Studenten und SA-Leute Juden und linke Studenten zusammenschlugen. Als Dekan der Philosophischen Fakultät verteidigte Tillich tapfer die sozialistischen und jüdischen Studenten, indem er die Ausweisung der nationalsoziali-
122 123
Pauck, Tillich. Leben, S. 133. Hannah Tillich erzählt in ihrer Autobiographie, wie Tillich von einer Hitlerrede, die er aus nächster Nähe verfolgt hatte, heimkam: beeindruckt von dem Dämon in Hitlers Augen." Sie sagt: „Seine Sensitivität ließ ihn den bösen Zauber dieses kleinen Mannes mit der unkultivierten Stimme erspüren und machte ihn hellhörig für die Brutalität, die hinter diesem bombastischen Theaterdonner steckte. Er ahnte die ungeheure Gefahr"; in: Ich allein bin, S. 141. Sie erzählt auch, daß Tillich Hitler direkt bei einer Rede in Kassel angriff (ibid.).
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stischen Studenten forderte. 124 Tillichs mutige Kritik an der antisemitischen Ideologie und am Vorgehen der Nationalsozialisten, die zweifellos durch seine langen und engen Freundschaften mit Juden und seine eigene prophetischtheologische Orientierung bedingt war, 125 steht in scharfem Gegensatz zu Hirschs sehr viel ambivalenterer Haltung in der jüdischen Frage. Für Hirsch klaffte, obwohl er nicht offen antisemitisch war, dennoch ein Abgrund zwischen dem, was er den »jüdischen Geist" nennt, und dem deutschen Nomos, und er verteidigte, obwohl er die Einheit aller Christen in Christus einschließlich der jüdischen Konvertiten betonte und sich gegen Ubermäßig harte Maßnahmen gegen Juden verwahrte, dennoch insgesamt den nationalsozialistischen Versuch, die Juden von den Deutschen zu trennen und ihnen nur einen „Gaststatus" zu gewähren. Diese Doppelmoral - eine theologische und eine soziopolitische -, die sich in Hirschs Haltung zur Judenfrage zeigte, war Tillich verhaßt. Das Wichtigste, was Tillich auf theoretischem Gebiet zur Politik schrieb, war „Die sozialistische Entscheidung", die gegen Ende 1932 erschien und parallel zu Hirschs „Die gegenwärtige geistige Lage" gelesen werden sollte, um ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede genau zu erkennen. Mit Hitlers Machtergreifung wurde das Buch verboten, und nur einige Exemplare wurden unter Freunden weitergereicht. 126 Am 18. und 25. März 1933 erschienen
124
Pauck, Tillich. Leben, S. 135. Hannah Tillich berichtet ebenfalls über diese Episode: „Paulus, der während der Krawalle Vorlesung gehabt hatte, hatte mitgeholfen, verletzte Studenten in ein Zimmer hinter seinem Büro zu bringen" (in: Ich allein bin, S. 142). 1 E i n e gute Diskussion von Tillichs Ansichten über die Beziehung zwischen Christentum und Judentum und seine ausdrückliche Kritik an allen Formen des Antisemitismus findet sich in: Ronald Stone, Tillich's Radical Social Thought, S. 77-78, 101-105, 146149. Tillich war nicht nur unmißverständlich in seiner Kriük am nationalsozialistischen Antisemitismus zwischen 1933 und 1945, sondern drängte auch nach dem 2. Weltkrieg die Deutschen, sich ihrer Schuld zu stellen. Uber Tillichs mutige Vorlesung an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin im Jahre 1953 über ,JDie Judenfrage, ein christliches und ein deutsches Problem", sagt Stone: „Sie gehört zu den tiefgründigsten seiner Schriften", und er fügt hinzu: ,J^ange Freundschaft mit den Juden und Wertschätzung der jüdischen Philosophen legten das Fundament dafür, da£ er unter christlichen Theologen zu einem der besten Freunde des Judentums wurde" (S. 148; Ü.a.d.O.). 126 pü r interessante Hintergrundinformation zu Tillichs Schrift „Die sozialistische Entscheidung" vgl. John R. Stumme, Socialism in Theological Perspective, S. 47-50 und Stumme, Introduction, in: Tillich, The Socialist Decision.
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Artikel in der „Frankfurter Zeitung", in denen die Johann Wolfgang Goethe Universität, besonders aber ihre .jüdische Fakultät", angegriffen wurde, wobei Tillich mit geeigneten Aussagen aus seinen Schriften über Juden und Sozialisten, insbesondere mit einem Satz aus „Die sozialistische Entscheidung" zum Beweis seiner „Unzuverlässigkeit" zitiert wurde. Am 13. April erschienen in zahlreichen Zeitungen lange Listen mit den Namen der personae non grata, unter denen sich linke Intellektuelle, Mitglieder sozialistischer und kommunistischer Parteien und Juden befanden. Zusammen mit den Namen vieler seiner jüdischen Freunde erschien Tillichs Name unter denen, die von ihren Universitätsämtern suspendiert worden waren. In der folgenden Zeit ängstlicher Ungewißheit über die Zukunft fragte Tillich viele seiner Freunde in Deutschland um Rat, da sich die politische Situation zusehends verschlechterte. Am 10. Mai 1933 beobachtete Tillich die Bücherverbrennung in Frankfurt, der auch sein eigenes Werk „Die sozialistische Entscheidung" zum Opfer fiel. 127 Diese Zeitspanne, die Ereignisse und Umstände, die zu seiner Entlassung aus der Universität führten, seine „mörderische Verzweiflung" über das, was nicht nur ihm und seiner Familie, sondern ganz Deutschland widerfuhr, hat Hannah Tillich sehr lebendig und persönlich in ihrer provokativen Autobiographie „Ich allein bin" beschrieben. 1 2 8 Voller Zweifel und Schuldgefühle, weil er die Heimat verließ, während andere zurückblieben, 129 nahm er schließlich ein Angebot der Columbia University und des Union Theological Seminary in New York City an. Auf Anfrage Tillichs gestattete ihm am 9. September das preußische Kultusministerium, ein Jahr im Ausland zu lehren. In einem Gespräch mit 127 128 129
Pauck, Tillich. Üben, S. 134-140. Hannah Tillich, Ich allein bin, S. 132-150. Nach Hannah Tillich wollten einige von Tillichs jüdischen Freunden, daß er in Deutschland bliebe, was Tillich ernsthaft in Betracht zog, um für die Untergrundbewegung zu schreiben. Manche seiner politischen Freunde im Untergrund rieten ihm jedoch davon ab, weil sie ihn als Gefahr betrachteten, und forderten ihn dazu auf, im Ausland für sie zu arbeiten (ibid., S. 149). Pauck führt Harald Pölchau an, der Tillich gebeten habe zu bleiben und der im Untergrund tätigen Widerstandsbewegung beizutreten, weil er in Deutschland gebraucht würde (Pauck, Tillich. Leben, S. 140-142). Ironischerweise forderte von der anderen Seite Emanuel Hirsch Tillich ebenfalls zum Bleiben und zur Arbeit für die nationalsozialistische Sache auf.
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Ministerialbeamten versuchte er, Klarheit Uber seine Situation zu erzielen und gelangte zu der Ansicht, sein Fall sei nicht so ernst und er könne möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt wieder in seine Ämter eingesetzt werden. 130 Tatsächlich war seine Entlassung offensichtlich zunächst nur als zeitlich befristete Maßnahme gedacht. Reichsminister Rust hätte Tillich angeblich gern wieder eingesetzt, aber Tillich weigerte sich, die Bedingung dafür zu akzeptieren: von seiner Kritik an der nationalsozialistischen Weltanschauung Abstand zu nehmen. 131 Nach einer Reihe von Abschiedstreffen und Parties, einschließlich einem letzten Treffen mit seinem Vater, den er nicht Wiedersehen sollte, brachen Tillich, seine Frau Hannah und ihre Tochter Erdmuthe mit dem Schiff nach New York auf, wo sie am 3. November ankamen. 132 Seine wirkliche Einstufung durch das deutsche Kultusministerium wurde ihm erst am 20. Dezember klar, als er in New York von diesem ein Schreiben erhielt, in dem seine Entlassung offiziell bestätigt und ihm mitgeteilt wurde, daß er wegen seiner Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei und seiner sozialistischen Schriften als vertrauensunwürdig betrachtet werde und es ihm zukünftig untersagt sei, in Deutschland eine Stellung als Beamter zu bekleiden. 133 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Tillich noch in der Illusion gelebt, nach einem oder zwei Jahren im Ausland wieder nach Deutschland zurückkehren zu können, um zu lehren. Seine enttäuschten Erwartungen und seine paradoxe Haltung seiner Heimat und sogar dem Nationalsozialismus gegenüber werden in einem rätselhaften Brief von 20. Januar 1934 an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volkserziehung in Berlin deutlich. In diesem Brief drückt er sein Erstaunen über das Entlassungsschreiben aus und erinnert daran, daß Ministerialdirektor Jäger „von meiner Loyalität überzeugt sei und
13° Pauck, Tillich. Leben, S. 143. Hannah Tillich erinnert sich an Tillichs Bericht über das Gespräch mit dem Staatssekretär des Kultusministeriums, bei dem das Ministerium offensichtlich zum Ausdruck brachte, daß er in Deutschland bleiben solle. Nachdem der Beamte Tillichs Fragen, besonders seine Frage nach dem Schicksal der Juden und der modernen Kultur, angehört hatte, riet er zu einem zweijährigen Auslandsaufenthalt (Ich allein bin, S. 149). 131 Einführende biographische Bemerkungen zu: Die amerikanische Zeit nach der Emigration 1933-1939, in: GW XIII, S. 185. 132 Pauck, Tillich. Leben, S. 142-145. 133 Ibid., S. 156.
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einen einjährigen Auslandsaufenthalt sachlich und persönlich für günstig hielte." Er verteidigt seine Vaterlandsliebe mit dem Hinweis auf seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg, für die er mit dem „Eisernen Kreuz I. Klasse" ausgezeichnet worden war, und auf seine Arbeit als „Theoretiker des religiösen Sozialismus", bei der er „gegen den dogmatischen Marxismus der deutschen Arbeiterbewegung" focht. Er verweist darauf, daß er „den nationalsozialistischen Theoretikern [vielleicht im Gedanken an seinen alten Freund Hirsch] einen Teil ihrer Begriffe geliefert" habe, und fügt hinzu, daß sein „letztes Buch [Die sozialistische Entscheidung] ... von den Vertretern des dogmatischen Marxismus als ein Kampfbuch gegen sie empfunden worden [ist], sofern es mit allem Nachdruck auf die naturgebundenen Kräfte im menschlichen Sein hinweist." Er fährt fort: „Daß ich mir gleichzeitig als Theologe die biblische Kritik an dem ungebrochenen Walten der natürlichen Kräfte zu eigen mache, könnte nur dann als Zeichen
nationaler
Unzuverlässigkeit betrachtet werden, wenn der Nationalsozialismus sich nicht programmatisch auf den Boden des positiven Christentums gestellt hätte. Das ist aber der Fall; darum kann ich auch von hier aus den Tatbestand nationaler Unzuverlässigkeit nicht als gegeben betrachten." 134 Schließlich bittet er die nationalsozialistische Regierung, seine Entlassung nochmals zu überdenken. In einem knapp gehaltenen Antwortschreiben vom 15. Juni 1934 wurde Tillich darüber in Kenntnis gesetzt, daß seinem Protest nicht „stattzugeben" sei. 135 Dieser Brief Tillichs ist aus verschiedenen Gründen höchst bedeutsam. Vor allem zeigt er, daß die Situation im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft verschwommen war, da selbst die Beamten in den Ministerien nicht wußten, welche Richtung die neue Regierung einschlagen würde, was sich an den widersprüchlichen Mitteilungen an Tillich zeigt. Weiterhin verdeutlicht er, wie wenig Tillich sich Uber die Bedeutung seines Auslandsaufenthaltes im klaren war. War es wirklich das Exil oder lediglich eine zeitlich befristete Abwesenheit? Es scheint klar, daß er zumindest anfänglich der Meinung war, es handle sich um einen zeitlich befristeten, offiziell 134
135
genehmigten
Dieser bemerkenswerte Brief ist in voller Länge abgedruckt in: Pauck, Tillich. Leben, S. 156-157. Ibid., S. 158.
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Auslandsaufenthalt, und er würde bald heimkehren. Wichtiger jedoch ist die paradoxe Art und Weise, in der Tillich auf seine Redlichkeit und seine politischen Beiträge verweist. Einerseits vertritt er seine politisch linke Ansicht, die sich in seinem theoretischen Werk für den Religiösen Sozialismus niedergeschlagen hat, betont jedoch im gleichen Atemzug, daß er gegen den dogmatischen Marxismus angegangen sei und indirekt den nationalsozialistischen Theoretikern Denkkategorien geliefert habe. Zweifellos begegnete Tillich den meisten Nationalsozialisten mit Geringschätzung, was sowohl Marion Pauck als auch Tillichs Frau Hannah deutlich herausarbeiten. Und doch gab es etwas in seinem Denken, das manche, darunter auch Hirsch, zu der Ansicht verleitete, Tillich könne einen Beitrag zum neuen nationalsozialistischen Deutschland leisten. Marion Pauck erfaßt den Tenor des Tillichbriefes an das Kultusministerium so: Das gelegentlich Wirre und Unpräzise des Protestschreibens scheint das Bild eines Mannes zu entstellen, von dem oft gesagt wurde, er sei der erste Ni cht-Jude unter deutschen Professoren gewesen, der von dem Nazis Berufsverbot erhalten habe - eine Legende, der er niemals widersprochen hat - und der bis an sein Lebensende stolz auf seine Entlassung war. Der Brief dagegen zeigt ihn nicht als einen Bürger, der stolz darauf ist, wegen staatlicher Unzuverlässigkeit ausgesondert und zum Auswandern gezwungen zu sein. Im Gegenteil spricht hier der geschickte, praktisch veranlagte Tillich, verstrickt in die Zweideutigkeiten der Geschichte, bemüht, seinen Namen zu reinigen und bestrebt, sich wenigstens seinen Pensionsanspruch zu sichern. Er zeigt sich als Held und geschickten (sie!) Unterhändler in einer Person. Er, der später ausführlich über die Zweideutigkeit des Lebens schrieb, enthüllte sich in diesem Brief selbst als erstaunlich zweideutig, vor allem in seiner Feststellung, die Nazis hätten seine Terminologie von ihm ausgeliehen. Diese Zweideutigkeit stand jedoch durchaus mit seiner Persönlichkeitsstruktur in Einklang und entsprach seiner Neigung, sich allen Möglichkeiten gegenüber offenzuhalten und sich nicht festzulegen, solange die Zukunft nicht durchschaubar war. Die geschichtlichen Ereignisse der nächsten sechs Monate zeigten ihm die Vergeblichkeit eines solchen Versuches. 136 Im Winter 1934 trat Tillich offiziell als Protest gegen den Ausschluß der Juden aus dem Wingolf a u s . 1 3 7 Langsam wich seine Hoffnung, das 136 137
Ibid., S. 158-159. Ibid., S. 159.
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Phänomen des Nationalsozialismus sei von kurzer Dauer, und es würde ihm bald gestattet sein, in seine Heimat zurückzukehren und dort weiterzuarbeiten, der Desillusionierung, einem „zweiten Tod", dem endgültigen Verlust seines Lehramts, der Heimat und vieler Freunde, nachdem die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs für ihn den ersten Tod" bedeutet hatten. 138 Der öffentliche Bruch seiner Freundschaft mit Emanuel Hirsch war symptomatisch für die tragischen Konsequenzen, die die Ereignisse in Deutschland hatten, da sie nicht nur Tillich, sondern viele andere in vergleichbaren Situationen trafen. Im Sommer oder Frühherbst 1934 erhielt Tillich ein Exemplar von Hirschs „Die gegenwärtige geistige Lage", in dem der Verfasser für den Nationalsozialismus eintritt und Kategorien benutzt, die Tillichs religiös-sozialistischer Terminologie ähneln. In der Novemberausgabe der „Theologischen Blätter" von 1934 greift Tillich Hirsch vehement an und bezichtigt ihn des Plagiats. Hirsch entgegnet Tillichs Angriffen in einem Brief an seinen Freund Dr. Stapel, der in seinem Buch „Christliche Freiheit und politische Bindung" veröffentlicht wird, worauf Tillich in einem zweiten offenen Brief in der Maiausgabe der „Theologischen Blätter" von 1935 die Grundzüge seiner Position wiederholt. Die Dokumente dieser Debatte und die theologischen und politischen Fragen, die sie aufwirft, sind das Kernstück unserer Studie und werden darum in späteren Kapiteln ausführlicher behandelt werden. Etwas abgemildert wurde Tillichs Trauma des „zweiten Todes" durch seine Arbeit für die „Self-Help for Emigrees from Central Europe", eine am 25. November 1936 gegründete Organisation, deren Ziel es war, Flüchtlingen bei der gegenseitigen Kontaktaufnahme und bei Stellensuchen zu helfen. Tillich wurde zum ersten Vorsitzenden gewählt und hatte diesen Posten 15 Jahre lang inne. 139 Kaum in Amerika, war Tillich Anlaufpunkt für viele alte Freunde und andere Flüchtlinge. Tillichs Büro im Union Theological Seminary wurde für viele der Emigranten zum Tor in die neue Welt, und nach Pauck bildeten diese Menschen Tillichs erste Hörerschaft in Nordamerika. 140 Er identifizierte sich insbesondere mit dem Schicksal der Juden; mit Paucks 138 139 140
Ibid., S. 161. Ibid., S. 164 ff. Ibid., S. 167.
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Worten: „Als die Judenverfolgungen im europäischen Ausland immer entsetzlicher wurden, betonte Tillich immer wieder, daß hier nicht nur die Juden allein, sondern auch Christentum und Humanismus im Begriff waren, hingemordet zu werden." 141 Es ist nicht notwendig, daß wir hier auf Tillichs schwierige Anfangszeit in Amerika, seine allmähliche Anerkennung durch etablierte philosophische und theologische Kreise und schließlich seinen Ruhm eingehen, da Marion Pauck und andere diese bemerkenswerte Geschichte erzählen. Für uns ist einzig die Tatsache von Bedeutung, daß für die Jahre zwischen 1933 und 1948 keine direkten Kontakte oder Briefwechsel zwischen Tillich und Hirsch belegt sind. Jeder von ihnen ging einen völlig anderen Weg. Während Hirsch das, was er für Deutschlands Schicksal hielt, zu seiner Sache machte, für die Deutschen Christen schrieb, sich hinter Ludwig Müller und die nationalsozialistische Reichskirchenverwaltung im deutschen Kirchenkampf gegen die Bekennende Kirche stellte, die Forderung nach einer ökumenischen Weltkirche verdammte und eine führende Rolle bei den Vorgängen in der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen spielte, engagierte sich Tillich am Union Theological Seminary in New York auf seine eigene Art für Deutschland, aber gegen Hitler. Seine aus der Zeit von 1933 bis 1939 überlieferten Vorträge und die Schrift zur Bedeutung der Emigration, über die Arbeit der „Self-Help for Emigrees from Central Europe", zur politischen und religiösen Situation in Europa, bieten reichhaltiges Material, nicht nur, um Tillichs Denken zu verstehen, sondern auch jene Zeit im allgemeinen zu analysieren. 142 Von besonderem Interesse sind seine Begegnung mit J.H. Oldham und seine Mitarbeit in der Ökumenebewegung. Bei Tillichs formeller Einführung in den Theologischen Diskussionskreis, in den er 1934 aufgenommen wurde, war Oldham, der Hauptorganisator der Oxford Ecumenical Conference von 1937 und Ziel der Kritik in jenem Artikel Hirschs des gleichen Jahres, zugegen. Nach Pauck hegten Tillich und Oldham vom ersten Moment an Sympathie
141 142
Ibid., S. 166. E n e gute Auswahl der Schriften jener Zeit findet sich in: GW XIII, S. 185-252.
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füreinander: „Er (Oldham) und Tillich fanden sofort zueinander Oldham war von Tillichs Analyse ebenso wie von seiner Sorge um die Zukunft des Protestantismus beeindruckt. Infolge Oldhams Begeisterung für Tillichs Standpunkt taute dieser rasch auf und ging animiert aus sich heraus." 143 Im Gegensatz zu Hirsch war Tillich ein überzeugter Befürworter der ökumenischen
Bewegung,
und als Oldham ihn bat, Mitglied der
Vorbereitungskommission für die Oxford-Konferenz 1937 zu werden, sagte Tillich bereitwillig zu. Als Mitglied dieser Kommission konnte er im Frühling und Sommer 1936 England, Holland, Frankreich, Belgien, die Schweiz und Italien bereisen, wo er viele seiner alten Freunde traf, obwohl er niemals deutschen Boden betrat. Er hielt Vorlesungen über den Nationalsozialismus, diskutierte seine Idee, den religiös-sozialistischen Ansatz sozialer Gerechtigkeit in den Protestantismus einzubringen, traf sich mit Karl Barth in Basel, führte ein letztes bewegendes Telefonat mit seinem Vater und besuchte in Genf gar ein Seminar, an dem auch einige nationalsozialistische Kirchenführer teilnahmen. 144 Obwohl Tillich 1937 nach England zurückkehrte, um an der Oxforder Konferenz über Leben und Arbeit als Mitglied der „Commission on Socialism and Communism and Their Relation to the Ecumenical Movement" teilzunehmen, wurde er zu späteren ökumenischen Konferenzen nicht mehr eingeladen, was er, so Pauck, als persönlichen Affront empfand. Er schrieb diesen Ausschluß der Tatsache zu, daß zu viele nicht-liberale Theologen wie Barth die Richtung der ökumenischen Bewegung bestimmten. Dazu schreibt Pauck: „Der wahre Grund, weshalb Tillich in ökumenischen Kreisen keinen maßgeblichen Einfluß gewann, lag nicht in einer persönlichen Mißbilligung seiner Anschauungen (obwohl dies unter konservativ Gesinnten manchmal vorkam), sondern in der Tatsache, daß er selbst eine Position zwischen Kirche und Welt bezogen hatte, von welcher aus er die Menschen, die der Kirche 143 144
Pauck, Tillich. Leben, S. 196. Eine persönliche Schilderung seiner Reisen, einschließlich einiger Gedanken zum deutschen Kirchenkampf findet sich in: „Die religiöse Lage im heutigen Deutschland" und: „Eine geschichtliche Diagnose: Eindrücke von einer Europareise", in: GW XII, S. 226248. Der erste Aufsatz wurde zunächst veröffentlicht als „The Religious Situation in Germany Today", in: Religion in Life 3, 2 (1934), S. 163-173, der zweite erschien als , Λ Historical Diagnosis: Impressions from a European Trip", in: Radical Religion 2 , 1 (1936/1937), S. 11-17.
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fernstanden, besser erreichen konnte als die drinnen." 145 Während Hirsch sich der ökumenischen Bewegung bewußt fernhielt und ihr aus kirchenpolitischen Gründen höchst kritisch begegnete - er sah in ihr ein internationales Forum für antideutsche
Propaganda -, sah sich Tillich unfreiwillig aus einem
ökumenischen Forum ausgeschlossen, dem er gerne angehören wollte, das ihn jedoch, aus welchen Gründen auch immer, nicht beachtete. Als Ausgewanderter traf Tillich die Entscheidung, sich nicht in einer politischen Partei zu engagieren, und riet anderen Emigranten, es ebenso zu halten. Dennoch begab er sich zwischen 1938 und 1945 einige Male auf politischen B o d e n . 1 4 6 Am 21. November 1938 brach er sein fünfjähriges Schweigen zur deutschen Politik, als er zum ersten Mal in einer öffentlichen Versammlung die Nationalsozialisten angriff. In seiner Ansprache: „Über die Bedeutung des Antisemitismus", wandte er sich an eine Gruppe Protestanten, die sich gegen die nationalsozialistische Judenverfolgung stellte. 147 Er betonte in seiner Rede unumwunden, „daß der Angriff auf das Christentum notwendig aus dem Angriff auf die Juden folgt, wie auch die Zerstörung des deutschen Geistes und der deutschen Seele notwendig aus der Zerstörung der jüdischen Menschen und ihrer Häuser folgte." 148 Beides war also unausweichlich miteinander verknüpft: die Vernichtung der Juden bedeutete die Vernichtung des
145
Pauck, Tillich. Leben, S. 200. 146 Tillich beschreibt seine politischen Aktivitäten und Interessen in Amerika in seinen „Autobiographischen Betrachtungen" von 1952 folgendermaßen: „Die politischen Interessen meiner deutschen Nachkriegsjahre blieben auch in Amerika bestehen. Sie fanden ihren Ausdruck in meiner Beteiligung an der amerikanischen religiös-sozialistischen Bewegung, in der jahrelangen aktiven Beziehung zu der Graduate Faculty of Political Sciences und der New School for Social Research, New York, durch meinen Vorsitz im Council for a Democratic Germany während des Kriegs und in vielen religiös-politischen Ansprachen, die ich hielt. Trotz einiger unvermeidlicher Enttäuschungen, besonders mit dem Council blieb die Politik ein wesenüicher Faktor meines theologischen und philosophischen Denkens und wird es immer bleiben" (Autobiographische Betrachtungen, S. 75). 147 Pauck, Tillich. Leben. S. 203. Tillich selbst sagt: „ Nach fünf Jahren des Schweigens greife ich zum ersten Mal wieder in einer öffentlichen Versammlung diejenigen an, die ich für die wahren Feinde der deutschen Seele halte, die an einem Reich bauen, aber das Reich der Gerechtigkeit und Wahrheit zugrunderichten.Ich möchte mich durch das, was ich sage, für das wahre Deutschland verbürgen." (in: GW XIII, S. 219. Zuerst erschienen als „German Americans Take Stand for Democracy Against Nazis", in: German People's Echo 2,48 (1938), S. 1-2. 148 Tillich, Die Bedeutung des Antisemitismus, in: GW XIII, S. 216.
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Christentums. Er unterschied klar das wahre Deutschland des Mittelalters, der Renaissance, der Reformation, Martin Luthers, der vielen großen deutschen Denker, einschließlich Nietzsche, den die Nationalsozialisten nun mißbrauchten, bis hin zu dem eines unbeugsamen Geistes wie Martin Niemöller, von den dämonischen Kräften, die Deutschland im Dienste
der
„unwiderstehlichen Waffen einer technischen Zivilisation" gefangen hielten. 149 Er konnte jedoch auch Luther und die lutherische Kirche scharf kritisieren. So greift er in seinem 1936 erschienenen Artikel: „Die religiöse Lage im heutigen Deutschland", Luthers Trennung der religiösen und der politischen Sphäre an, da sie zum allgemeinen politischen Unvermögen der Kirche im gegenwärtigen Kampf beitrage. Dringende soziale Probleme wie die Judenfrage, der Kommunismus, ja sogar die Sterilisation werden von den meisten als rein politisch betrachtet, als Angelegenheiten des Staates, für die die Kirche als solche keine Verantwortung trägt. 1 5 0 Er schließt mit der Hoffnung, daß trotz allem diese Erfahrung letzten Endes zu einer ,/nachtvolle[n] Gemeinschaft der Menschen, Rassen und Konfessionen, [der] Überwindung ihrer Unterschiede, [dem] Widerstand gegen Antisemitismus, gegen antichristlichen und antihumanistischen Geist" fuhren wird. 151 Während der Kriegsjahre griff Tillich diese Themen in seinen Schriften verstärkt auf: in seinen Uber hundert religiös-politischen Ansprachen im deutschen Rundfunk über die
„Stimme
Amerikas" zwischen 1942 und 1945 und in
seinen zahlreichen politischen Artikeln in der nicht lange bestehenden New Yorker Zeitschrift „The Protestant" in den Jahren 1941 und 1942; hier erörterte er „Kriegsziele, betonte auch die Mitschuld der westlichen Länder am Aufkommen des Nationalsozialismus wegen der zu großen Belastungen, die der Versailler Vertrag und die Reparationszahlungen nach 1919 dem deutschen Volk auferlegt hatten. Er unterstrich darum nicht nur die Notwendigkeit des Sieges Uber den Nazismus, sondern auch die Verpflichtung, sich für die Errichtung einer neuen Weltordnung vorzubereiten, wobei er an eine Art
149 150 151
Ibid., S. 218-219. Tillich, Die religiöse Lage im heutigen Deutschland, in: GW XII, S. 228-229. Tillich, Die Bedeutung des Antisemitismus, S. 220.
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Bundesstaat für die gesamte Welt dachte." 152 Er war Mitbegründer und Vorsitzender der vom Unglück verfolgten Vereinigung „Council for a Democratic Germany", einer Gruppe deutscher politischer Flüchtlinge unterschiedlichster Provenienz, deren Ziel es war, Pläne für den Wiederaufbau Deutschlands nach dem Kriege zu entwerfen, darin jedoch keinen Konsens erreichen konnte. Wegen dieser Tätigkeit wurde Tillich 1945 ironischerweise für kurze Zeit von der U.S. Armee auf die schwarze Liste gesetzt. 153 Nach dem Krieg machte Tillich enttäuschende Erfahrungen mit der aktiven Politik. Präsident Roosevelt lehnte die Vorschläge ab, die Tillich und das „Council for a Democratic Germany" zu einer gemäßigten Politik gegenüber Deutschland und dessen demokratischem Wiederaufbau nach dem Kriege unterbreitet hatten. 154 Er fühlte, daß eine „heilige Leere" die Zeit des Kairos ersetzt hatte, und folgerte nach Pauck, „daß sein Entwurf eines religiösen Sozialismus zu romantisch für unsere Zeit sei und daß man sich mit einer realistischeren Existenzform zufriedengeben müsse, aber trotz des Lebens im Vakuum Erwartung und Hoffnung nicht aufgeben dürfe." 155 Nach Stone vertrat Tillich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in den Grundzügen die gleiche Sicht, die er bereits während der Zeit der Weimarer Republik gehabt hatte - gegen „totalitäre Heteronomie", für eine die „autonome Menschheit" bejahende „theonome Kultur". 156 Angesichts der dämonischen Trennung zwischen Ost und West war er pessimistischer bezüglich eines Kairos geworden, seine Schriften wurden weniger politisch und konzentrierten sich mehr auf soziale und ethische Fragen. „Insbesondere zeigte er nur mäßiges Interesse an amerikanischer Politik. Seine religiös-sozialistische Vision lag in der deutschen
152
Pauck, Tillich. Leben, S . 207f. E n e gute Ubersicht über diesen Lebensabschnitt gibt Pauck, Tillich. Leben, S. 203213; Schriften Tillichs dazu in: GW XIII, S. 153-328; seine politischen Reden an seine deutschen Freunde in: EGWΙΠ. 154 Stone, Tillich's Radical Social Thought, S. 112. 155 pauck, Tillich. Leben, S. 213; vgl. auch: Tillich, Autobiographische Betrachtungen, S. 75f. 156 Stone, Tillich's Radical Social Thought, S. 111. 153
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Politik zwischen den Kriegen begründet und war der amerikanischen Nachkriegspolitik fremd." 157
Geistige Emigration Wie bereits erwähnt, wurde die Emigration nicht nur für Tillichs physische Existenz zwischen erster und zweiter Heimat zum Sinnbild, sondern auch zum religiösen Inbild seines geistigen und intellektuellen Lebens. In seiner Ansprache vor dem .American Committee for German Christian Refugees" 1936 mahnte er: Ich möchte mit einem Appell schließen, die Emigration zu unterstützen, sei es um der christlichen Liebe willen, sei es aus moralischer Entrüstung, sei es aus politischer Überzeugung. Aber über all diesen Gründen sollte das Bewußtsein stehen, daß Emigration eine religiöse Kategorie ist, die jeden Christen angeht, denn sie weist auf die Majestät Gottes hin und die Ausschließlichkeit seines Gebotes, daß sich die Menschen zu gewissen Zeiten von Heim und Familie, Heimat und Volk und allen anderen Dingen auf dieser Erde trennen sollen. 158 Ähnlich äußerte sich Tillich 1937 in einer Rede vor der Graduate Faculty of the New School for Social Research als er sagte, daß „zwischen Geist und Wanderung nicht nur eine gelegentliche, sondern eine wesenhafte Beziehung besteht. Es ist die Natur des Geistes zu wandern." Und „es ist ein Urgesetz des Lebens, zugleich in sich zu beharren und sich selbst zu transzendieren, zugleich das Eigene zu pflegen und sich von sich selbst zu entfremden." 159 Tillich berührte dieses Thema auch in einigen seiner Radioübertragungen an das deutsche Volk während des Krieges, in denen er es „ermuntert ... zur geistigen Emigration, ... zum stillen und offenen Widerstand gegen den Nationalsozialismus auf [ruft] und ... andererseits um Deutschlands geistige,
157
158 159
Ibid., S. 113 (Ü.a.d.O.). Die gleiche Sicht vertritt John Stumme in seinem „Socialism in Theological Perspective", S. 150-153. Tillich, Christentum und Emigration, in: GW XIII, S. 190. Tillich, Geist und Wanderung, in: GW XIII, S. 191.
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religiöse und sittliche 'Wiedergeburt' für und in einer Völkergemeinschaft [ringt]." 160 Die Metapher der Emigration für die Beschreibung des gesamten Lebens, der Existenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden, das Tillich oft als das Stehen „auf der Grenze" zwischen zwei gleichermaßen verlockenden Alternativen bezeichnet, ist, was ihn vielleicht am klarsten von Emanuel Hirsch und dessen vorbehaltloser Bindung an das Eigene - Familie, Volkszugehörigkeit und Land -, die unausweichliche, gottgegebene Grenze der menschlichen Existenz, unterscheidet, wobei Hirsch „Grenze" völlig anders versteht. Tillichs Begriff der „geistigen Emigration", der sein Leben und Denken lange vor seiner „physischen Emigration" aus dem nationalsozialistischen Deutschland kennzeichnete, bildet den Kern seiner völlig anderen Ansichten zu Politik, der Judenfrage, der Ökumenebewegung und dem Volk. Wie kommt es dann, daß Hirsch in einem Brief an Tillich vom 14. April 1933 (etwa zwei Monate nach Hitlers Machtergreifung) sein Bedauern ausdrückt über Tillichs Entlassung aus der Universität Frankfurt, sowie Uber die Beschneidung von Tillichs geistiger Entwicklung zum Nationalsozialismus hin, die Hirsch in Tillichs letztem Buch, „Die sozialistische Entscheidung", angelegt zu sehen glaubt? Hirsch vertritt in diesem Brief die Ansicht, Tillich gehöre wahrhaft zum Nationalsozialismus, auch wenn er es noch nicht wahrhaben wolle, hätte ein bedeutender geistiger Führer der Bewegung werden können, und er fordert Tillich dazu auf, sich nicht irreführen zu lassen, sondern dort seinen Platz einzunehmen, wo er in Wahrheit hingehöre: in das neue Deutschland. 161 Bis 1948, als Tillich Hirsch in Göttingen besuchte, scheint dies der letzte direkte Kontakt zwischen beiden gewesen zu sein, abgesehen von einer kurzen Glückwunschkarte von Frau Rose Hirsch vom 10. Juli 1935 anläßlich der Geburt von Tillichs Sohn. 162 Hirschs rätselhaften Brief von 1933 könnte man leicht mit der Behauptung abtun, er habe Tillichs Buch völlig mißverstanden. Eine solche Erklärung berücksichtigte jedoch nicht die Tatsache, daß Emanuel Hirsch mit Tillichs 160 Vorwort d. Verlags, in: An meine deutschen Freunde. Politische Reden, EGW III, S. 9. 161 162
Hirsch an Tillich, 14.4.1933; vgl. auch die Hinweise auf diesen Brief S. 130,303,401. Rose Hirsch an Tillich, 10.7.1935.
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Theologie vielleicht besser vertraut war als die meisten anderen, da er offensichtlich fast alle Schriften Tillichs sorgfältig gelesen und seine Karriere von Anfang an als persönlicher Freund und geistiger Vertrauter verfolgt hatte. Überzeugender ist die These, daß Tillichs Denken tatsächlich in einigen Aspekten den Themen von Hirschs Theologie ähnlich und daher für die Nationalsozialisten brauchbar war. Wie wir sahen, deutete Tillich dies selbst in seinem Brief vom 20. Januar 1934 aus New York an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Erziehung in Berlin an. Damit ließe sich auch Tillichs Vorwurf des Plagiats, den er in der Debatte von 1934-35 gegen Hirsch erhebt, erklären. Wir werden in späteren Kapiteln die Gelegenheit haben, diese Vorwürfe und Gegenvorwürfe sowie die Unterschiede und Ähnlichkeiten in Tillichs und Hirschs Theologien näher zu betrachten. An dieser Stelle wollen wir nur auf einen Bereich näher eingehen, der Hirsch dazu veranlaßt haben könnte, anzunehmen, Tillich bewege sich in seinem Denken auf die nationalsozialistische Ideologie zu: Tillichs Verständnis von Volk und Ursprungsmythos. Bei oberflächlichem Lesen der Schriften Tillichs könnte leicht die Meinung entstehen, als seien Tillichs Einstellung gegen den Nationalsozialismus und sein Exil ab 1933, sein Disput mit seinem Freund Hirsch sowie sein starkes Eintreten für den Sozialismus eine unzweideutige Ablehnung jeglicher Form von Nationalismus. Dies hieße aber, zwei Aspekte in Tillichs Denken außer acht zu lassen: die romantischen Elemente, die ihn jene Verwurzelung in der Natur, die er als „Mächte" oder .Mythen" des Ursprungs umschreibt, bejahen ließen, und seine ambivalente Haltung, sein „Ja" und „Nein" zur Moderne. 163 Diese 163 ich habe diese Thesen ausführlicher in zwei Aufsätzen besprochen: „Nation and the Myth of Origin in Paul Tillich's Radical Social Thought", in: Consensus: A Canadian Lutheran Journal of Theology 14, 2 (1988), S. 35-48, und „Paul Tillich's Theology of Culture - An Ambivalence Toward Nineteenth Century 'Culture Protestantism', in: Religion et Culture, ed. Michel Despland, Jean-Claude Petit, Jean Richard. Québec: Les presses de l'Université Laval. Les Edition du Cerf, 1987. Ronald Stone berücksichtigt in seiner exzellenten Analyse von Tillichs sozialem und politischem Denken in meinen Augen nur unzureichend das romantische Element, das seine Beziehung zum Nationalsozialismus ambivalenter macht, als es auf den ersten Blick scheint. Stone erkennt zwar, daß Tillich in „Die sozialistische Entscheidung" und anderen Schriften anerkannte, daß „die Treue zu Boden, Blut, Tradition und sozialer Gruppe wichtig sei und emst genommen werden müsse" und daß „der Sozialismus die Nation tiefer bejahen muß als jede nationalistische Ideologie" (Tillich's Radical Social Thought, S. 80;
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provokative These und ihre Implikation einer gewissen .Aufgeschlossenheit dem Nationalsozialismus gegenüber,... nicht [dem] der terrorisierenden braunen Haufen" sondern gegenüber dem Nationalsozialismus „als Ausdruck des Protestes mythischer Mächte gegen eine unerträglich gewordene Welt", läßt sich durch die überzeugende Untersuchung des ostdeutschen Gelehrten Detlef Döring untermauern. 164 Wir haben bereits gesehen, daß Hirsch und seine Weggefährten Kittel und Althaus unterschwellig eine zweideutige Einstellung zur Aufklärung hatten, indem sie sie für die Krise und den Zerfall des Wertesystems in der modernen Welt verantwortlich machten. Besonders am Denken Hirschs wird jedoch deutlich, daß sie die Aufklärung nicht einfach rundherum ablehnten. Hirsch begrüßte begeistert die wissenschaftliche und rationale Aufklärung, opponierte jedoch gegen die politische und kulturelle Moderne; diese Spannung charakterisierte sein Lebenswerk. Seine Theologie war eine Verschmelzung von theologischem Liberalismus und politischem Konservatismus, und er verstand sich selbst nicht als jemand, der in die goldene Vergangenheit zurückschritt, sondern als Wegbereiter eines neuen Zeitalters, einer neuen Synthese, in der die alten politischen Kategorien wie links, rechts, Mitte - sozialistisch, konservativ
164
Ü.a.d.O.). Er zeigt jedoch nicht die tiefere Zweideutigkeit in Tillichs Denken, die ihn sowohl zu einer romantischen Ablehnung der Moderne einerseits als auch zu einer vollen Bejahung der modernen autonomen rationalen Kultur andererseits führt, eine Zweideutigkeit, die im Nationalsozialismus selbst angelegt ist. Konsequenterweise zieht Stone in seiner kurzen Diskussion der Tillich-Hirsch-Debatte von 1934-35 nicht in Betracht, warum Hirschs Begriffe denen Tillichs so ähnlich klangen. Er übernimmt einfach Tillich: die nun schon bekannte Beschuldigung Tillichs, Hirsch habe seine religiös-sozialistischen Kategorien plagiiert und verzerrt (vgl. Stone, S. 87-89). Detlef Döring, Christentum und Faschismus. Die Faschismusdeutung der religiösen Sozialisten. Berlin: W. Kohlhammer, 1982, S. 36-37. Das Zitat im Zusammenhang: ,Jn dieser Gebrochenheit liegt Tillichs zwischen Bejahung und Verneinung schwankende Haltung gegenüber der Moderne begründet. ... Das führt Tillich nicht nur, wie schon erwähnt, in die Nähe der durch solche Begriffe wie Irrationalismus, Lebensphilosophie, konservative Revolution zu kennzeichnenden, alle Lebensgebiete umfassenden Gegenbewegung zur modernen Welt, sondern schuf auch eine gewisse zeitweise Aufgeschlossenheit dem Nationalsozialismus gegenüber. Nur ist dabei nicht der Nationalsozialismus der terrorisierenden braunen Haufen gemeint, sondern der Nationalsozialismus als Ausdruck des Protestes mythischer Mächte gegen eine unerträglich gewordene Welt. Im weiteren wird es unsere Aufgabe sein, das Gegeneinander und Ineinander der beiden Prägungen, der mythischen und der rationalen, in groben Zügen innerhalb der Arbeiten Tillichs aus der Zeit vor 1933 zu verfolgen, immer schon mit dem Blick auf seine spätere Faschismustheorie."
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und liberal - überwunden sein würden. Wie Döring zeigt, teilte auch Tillich diese Zwiespältigkeit gegenüber der Aufklärung und der modernen Welt. In seiner Betrachtung von Religion und Kultur, besonders in seiner Theonomievorstellung bejaht Tillich die aufklärerische rationale Autonomie von den Fesseln des traditionellen Autoritarismus und den Ursprungsmythen, obwohl er gleichzeitig die Leere der rein formalen Autonomie erkennt und die Wiederentdeckung des Ursprungsmythos, der Religion als priesterlich-sakramentale Substanz der Kultur, fordert. In seinen Schriften der 20er und frühen 30er Jahre fällt eben diese Kombination romantischer und rationaler Elemente in seinem Denken auf. Diese Aufsätze zeugen von einer starken Bindung an den Sozialismus, verbunden mit dem Wunsch, an romantischen Elementen festzuhalten. So ist zum Beispiel sein Aufsatz „Christentum, Sozialismus und Nationalismus" von 1924 eine kritische Warnung an die konservative Studentenverbindung Wingolf, nicht in eine unvermittelte Gleichsetzung der Moral und des Nationalbewußtseins des deutschen Bürgertums mit dem protestantischen Christentum zurückzufallen. 1 6 5 Das Bemerkenswerte an diesem frühen Aufsatz ist, daß er als Sozialist Familie, Volk und Stand einen Freiraum zugesteht. Er sagt, daß der bürgerliche Geist auch im praktizierten Marxismus gegenwärtig ist, indem er das Gemeinschaftsleben jeglicher geistigen Substanz beraubt, menschliche Beziehungen vergegenständlicht und rationalisiert und alle unmittelbaren zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Familie, des Volkes und des Standes zerstört. Tillich behauptet provokativ, der Religiöse Sozialismus bekämpfe die zerstörerischen, gegen das Volk gerichteten Kräfte des Kapitalismus und sei somit nicht nur an den politischen Sozialismus gebunden, sondern auch an das, was er „religiös begründete nationale Bewegungen" nennt, obwohl der religiöse Sozialismus letzten Endes diesen nationalen Erneuerungsbewegungen nicht beitreten kann, da sie das Übel nicht bei der Wurzel packen. Sie erliegen ungewollt der kapitalistischen Haltung. 166 In diesem Aufsatz wird klar, daß Tillich trotz seiner Entscheidung 165 xiilioh, Christentum, Sozialismus und Nationalismus. Eine Auseinandersetzung mit der „Marburger Erklärung" des Wingolf, in: GW XIII, S. 161-166. 166 Ibid., S. 164.
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für den Sozialismus eine ambivalente Haltung gegenüber nationalen Erneuerungsbewegungen aufrechterhält, da sie im Gegensatz zum doktrinären Marxismus in Deutschland erkennen, daß in der kapitalistischen Gesellschaft Wertvolles verlorengeht: die irrationale und mythische Substanz individueller und kollektiver Existenz. In den zwei Artikeln .Protestantismus und politische Romantik" ( 1932) und „Das Wohnen, der Raum und die Zeit" (1933) greift er diese Thematik vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Sieges und den Anfängen des Dritten Reiches wieder auf. Im ersten Aufsatz beschreibt er zwei Grundwerte der Kreattirlichkeit und des Menschseins: das „Woher" oder der Ursprung der menschlichen Existenz, der tragende Grund der Menschheit, und das „Wozu" der menschlichen Existenz, in dem Menschen sich als Gegenstand einer Forderung, eines Sollens, eines Gerichtetseins auf ein zukünftiges Ziel hin erfahren. Ersteres betont den Raum, letzteres die Zeit. Tillich beharrt darauf, daß beides absolut notwendige Momente der menschlichen Existenz sind: „Wir stehen immer im Ursprung, und wir müssen uns immer losreißen von ihm." 167 Für Tillich liegt das Problem der politischen Romantik
in ihrem „Versuch, auf dem Boden eines gebrochenen
Ursprungsmythos zum Ursprungsmythos zurückzukehren"; 168 d.h. sie benutzt die Mittel der Aufklärung, um das wiederzuerlangen, was durch die Aufklärung zerstört wurde. Dies trifft besonders auf den zweiten Typus der politischen Romantik zu. Der erste, die konservative politische Romantik, ist gegen alles Neue und will schlicht das Alte heiligen. Sie hat ihre Anhängerschaft in den Ständen der Bauern und Handwerker, dem Militär, der Priesterschaft und gewissen Teilen der Beamtenschaft. Der zweite, die revolutionäre politische Romantik, (mit der Tillich den Nationalsozialismus und wahrscheinlich auch Hirsch gleichsetzt) wird von jenen Gruppen vertreten, die im rationalen System völlig aufgegangen sind, aber doch sehnsüchtig nach den Mächten des Ursprungs, einer Remythologisierung des Bewußtseins verlangen. Die politische Romantik gewinnt für das durch die wirtschaftliche Krise
167 Xillich, Protestantismus und politische Romantik, in: GW II, S. 209. 168
Ibid., S. 210.
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entrechtete Kleinbürgertum und den Großteil der Verfechter des Ursprungsmythos diesen revolutionären Charakter. Für diesen zweiten Typus hat das rationale System obsiegt und die Tradition zerbrochen. Technische Vernunft wird jedoch nur bejaht, solange sie nützlich ist. Sobald sich in der Entstehung des Proletariats die dunkle Seite des Kapitalismus zeigt, lehnt diese politische Romantik das rationale System zugunsten des Ursprungsmythos ab. Die Stärke der politischen Romantik liegt in ihrem wirklichen Erkennen, daß das Menschsein von einem tragenden Grund abhängt, eine Erkenntnis, die besonders wirksam wird in Zeiten, da das rationale System und die uneingeschränkte Autonomie sich in einer Krise befinden. Der Widerspruch in der politischen Romantik ist, daß sie letztendlich auf der Zerstörung des rationalen Systems aufbaut und damit im Chaos endet. Tillich sieht hierin die Gefahr des Nationalsozialismus. Die romantischen Elemente in Tillichs sozialem Denken kommen besonders deutlich im zweiten oben genannten Aufsatz, „Das Wohnen, der Raum und die Zeit", zum Ausdruck. Alle drei Begriffe - Wohnen, Raum und Zeit sind positiv verstanden, auch wenn am Ende die Zeit dominiert. Raum erhält nur in seiner konkreten Mannigfaltigkeit Bedeutung, in seiner Beziehung zu Unbelebtem, zu Pflanzen, Tieren und Menschen. Alles Lebendige existiert nur dadurch, daß es Raum hat und sich neuen schafft, wodurch Raum eine ursprüngliche und heilige Qualität erhält, besonders der Raum, der den Charakter des Tragenden hat, der Boden. Das eigene Haus, das Haus des Nachbarn, das Dorf, die Stadt, die Landschaft und das Volk, alle haben teil an der Heiligkeit des Raumes, der uns unsere Existenz gibt. 169 Hier klingen ähnliche Themen wie in Hirschs ebenfalls 1933 erschienenem Aufsatz: „Vom verborgenen Suverän", an. Tillich und Hirsch unterscheiden sich jedoch in der Gewichtung von Raum und Zeit. Obwohl die Zeit den Raum nie zunichte machen kann - Zeit wird für uns nur im Raum begreifbar -, müssen wir immer wieder den Raum der Zukunft opfern. Abraham mußte seinen Lebensraum verlassen, um in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen, und wird so zum Symbol für die gesamte Menschheit. 1933 verweist
169
Tillich, Das Wohnen, der Raum und die Zeit, in: GW IX, S. 331.
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Tillich seine Leser auf die Bedeutung dieses Symbols für den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Kampf in einer Zeit, in der die Götter und Mächte eines begrenzten Raumes sich dem Aufbruch in einen allumfassenden Raum, den Raum der gesamten Menschheit, widersetzen. So haben, wie bereits festgestellt, physische und geistige Emigration für Tillich eine größere theologische und politische Bedeutung als die Bindung an das Eigene. Berücksichtigt man die damalige Zeit und seinen Zwist mit Hirsch, fallt auf, welches Gewicht er den in seinem zweiten Aufsatz mit den Begriffen Wohnen und Lebensraum umschriebenen Ursprungsmächten beimißt. Diese Themen und die Bedeutung des Ursprungsmythos als dem wahren Ursprung, den Tillich mehr als ein Ziel in der Zukunft (Telos), denn als goldenes Zeitalter der Vergangenheit versteht, werden wir bei der Besprechung seines umfassendsten politischen Werkes jener Zeit, „Die sozialistische Entscheidung", in einem späteren Kapitel ausführlicher behandeln. Unser Exkurs zu Tillichs kleineren Schriften vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse, die ihn aus seiner geliebten Heimat in ein fremdes Land trieben, hilft, die Bitterkeit des Konflikts zwischen ihm und seinem Freund Hirsch zu erklären. Die Fronten waren klar. Wir haben, um nur einige zu nennen, ihre unterschiedlichen Haltungen zum Nationalsozialismus, den Juden und der Ökumenebewegung dargestellt. Ohne Zweifel war Tillichs prophetisch-eschatologische Theologie, die Zeit und Emigration Uber Raum und Verwurzelung stellte, grundverschieden von Hirschs Zwei-Reiche-Theologie, die der uneingeschränkten Bindung an das Volksethos Raum gewährte. Hinter diesen ausgesprochenen Unterschieden verbarg sich jedoch eine persönliche, theologische und politische Verbundenheit.
4 Epilog: Jahre der Trennung und Anbahnung der Versöhnung
Reputationen in der Nachkriegszeit Nach dem Krieg reiste und schrieb Tillich viel, las und lehrte an den wichtigsten theologischen Schulen und Universitäten in Amerika.1 Im Laufe der Zeit erfuhr seine eigene Theologie eine bedeutende Änderung. Seine frühere Ausrichtung auf Theologie und Politik, besonders sein Versuch, die Einsichten des Marxismus und des Christentums in Einklang zu bringen, wich immer mehr der Hinwendung zu Theologie und therapeutischer Psychologie. Obwohl sein Interesse an sozialen und politischen Themen nie erlosch, schien er von der Politik enttäuscht. Dies zeigt sich in seinen amerikanischen Schriften, die immer mehr auf Psychologie und systematische Theologie ausgerichtet sind.2 Hirsch hatte einen völlig anderen Werdegang. Nach 24 Jahren des Lehrens an der Universität Göttingen beendete das Ausscheiden im Jahre 1945 seine Karriere als Universitätsprofessor. Trotzdem verfaßte er, auch noch nach
Er lehrte am Union Theological Seminary von 1933-55, an der Harvard University and Divinity School von 1955-62 und an der University of Chicago von 1962-65. Pauck beschreibt Tillichs Enttäuschung über aktive Politik in der Nachkriegszeit folgendermaßen: „Er empfand die tragischen Elemente der geschichtlichen Existenz stärker als das Erhebende an ihr und verlor alle Begeisterung und alles Interesse für ein aktives Wirken auf dem Felde der Politik. Er hatte inzwischen auch eingesehen, daß er von einem wirklichen Verständnis der politischen Probleme Amerikas immer noch weit entfernt war. ... Er äußerte die Ansicht, daß die schöpferische Zeit, der 'Kairos', vorüber sei, daß eine 'heilige Leere' an seine Stelle getreten sei und daß sich die Menschheit mit einer Periode erwartungsvollen Geduldens abfinden müsse. Von da an wandte sich Tillichs Denken wieder einem alten Interesse zu, nämlich der Tiefenpsychologie, einem Feld, das ihm im Gegensatz zu seiner unergiebigen Betätigung auf politischem Gebiet reiche Frucht brachte. So widmete er sich fast ausschließlich der Abfassung seiner 'Systematischen Theologie'" (Pauck, Tillich. Leben, S. 213).
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seiner völligen Erblindung 1946, bis kurz vor seinem Tode 1972 zahlreiche Schriften, darunter Kurzgeschichten und Romane. 3 Während man Tillich in Amerika und Europa feierte, wurde Hirsch zunehmend aus theologischen und universitären Kreisen ausgeschlossen. Seine Identifikation mit dem Nationalsozialismus, den „Deutschen Christen" und der Reichskirche während der 30er Jahre brachten ihm Ehrabschneidung und Diffamierung ein. Das Ergebnis war, daß Hirsch mit 58 Jahren, einem Alter, in dem andere Theologen, wie auch Tillich, damit begannen, die Früchte ihrer langen, schweren akademischen Arbeit zu ernten, dazu verdammt war, seinen Lebensabend ziemlich allein und isoliert in seinem Haus im Hainholzweg 66 in Göttingen im Kreise weniger Privatstudenten und Freunde zu fristen. Erst nach wiederholten und beharrlichen Nachfragen von Hayo Gerdes und anderen Studenten, die gerne privat bei ihm studieren wollten, begann Hirsch in den 50er Jahren damit, wöchentlich Donnerstagabend-Seminare in seiner Wohnung anzubieten. 4
Die E r n e u e r u n g einer B e z i e h u n g
Wie wir aus einer von Päuck schriftlich fixierten Erinnerung Tillichs und wenigstens zwei authentischen Äußerungen Hirschs wissen, nahm Tillich erst
Hirschs opus magnum, „Die Geschichte der neueren evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens" (Gütersloh: Bertelsmann, Bd. 1: 1949, Bd. 2: 1951, Bd. 3: 1951, Bd. 4: 1952, Bd. 5: 1954) wurde größtenteils während des Krieges geschrieben - begonnen im Herbst 1941 und beendet im Spätsommer 1946 - jedoch erst zwischen 1949 und 1954 veröffentlicht. Vgl. Buff an Reimer, 20.9.1979. Die umfangreiche Liste von Hirschs theologischen Hauptwerken, Werkausgaben, Übersetzungen und Romanen während der Kriegszeit und nach seiner Erblindung 1946 findet sich in: Bibliographie Emanuel Hirsch 1888 - 1972, S. 10-13. Nachdem er erblindet war, wählte er bestimmte Studenten dazu aus, ihm bei der Vorbereitung der Abendseminare zu helfen, indem sie aus Schleiermacher, Hegel und anderen theologischen Klassikern lasen. Er selbst trug bei den Abendseminaren bis zu drei Stunden lang aus dem Gedächtnis vor. Für Informationen über die Art dieser Abendkurse bin ich u.a. folgenden Nachkriegsstudenten Hirschs für ihre Gespräche mit mir zu Dank verpflichtet: dem verstorbenen Hayo Gerdes (Gespräch am 6.6.1978), Joachim Ringleben (Gespräch am 6.6.1978), Horst Renz (Gespräch am 23.5.1978) und Hans-Walter Schütte (Gespräch am 18.5.1978).
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am 12. Juni 1948, bei seinem ersten Besuch in Deutschland nach dem Krieg, wieder Kontakt zu Hirsch auf.5 Obgleich der Besuch 1948 die einzige längere und erwähnenswerte direkte Begegnung der beiden gewesen zu sein scheint, wissen wir von wenigstens einem recht langen Telefongespräch, das Tillich mit Hirsch führte, als er 1958 in Hamburg den Goethe-Preis entgegennahm, und von einem weiteren kurzen Höflichkeitsbesuch. Hirschs Äußerungen zu diesen drei direkten Kontakten sind von besonderem Interesse, geben sie doch Aufschluß über seine Sicht der Beziehung zu Tillich. In einem Brief an Hans Grimm vom 19.6.1948 beschreibt Hirsch den ersten Besuch Tillichs.6 Er nennt Tillich einen Jugendfreund, der immer Internationalist gewesen und nach seiner Auswanderung in die Vereinigten Staaten 1935 (tatsächlich war es 1933), in denen er nun an einer der vornehmsten theologischen Schulen lehre, ganz Amerikaner geworden sei. Er sei 1934 von Tillich in dessen Haß auf die politischen Ereignisse in Deutschland schwer angegriffen worden, habe aber nun, bei diesem Besuch, alles geradegerückt. Beide spürten das starke Band gemeinsamer Erinnerungen und jugendlichen Strebens. Aber, sagt Hirsch, der Besuch sei eine Unterhaltung zwischen einem Angehörigen einer besiegten Nation und dem einer siegreichen geblieben. Hirsch behauptet ferner, Tillich habe während dieses Treffens von 5
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Marion Pauck, die sich stark auf Erinnerungen von Gertraut Stöber und Paul Tillich stützt, beschreibt den Besuch folgendermaßen: ,Jiirsch erwartete ihn in seinem Garten. Er war fast vollständig erblindet und sehr gealtert, seine Haare wirkten ungepflegt. Die beiden unterhielten sich über ihre Arbeit, Hirschs Familie, seine Blindheit, den Verlust eines Sohnes in Jugoslawien. Hirsch war immer noch davon überzeugt, daß Hitler dazu berufen gewesen sei, das deutsche Volk zu einen. Seine zwangsweise Pensionierung mit stark gekürzten Versorgungsbezügen, eine Folge seiner pronationalsozialistischen Einstellung, erbitterte ihn. Aber trotz allem war er weiterhin ungemein produktiv, eine Leistung, die Tillich bewunderte. Der Abschied Tillichs bewegte ihn tief, und er schrieb ihm später, wie er immer wieder an ihr Zusammentreffen zurückdenke, auch in Dankbarkeit für die Geschenke, die er später sandte: eine Flasche Wein, zwei Tafeln Schokolade und ein Stück Seife" (Pauck, Tillich. Leben, S. 222). Es wird aus Paucks Bericht nicht klar, wieviel davon aus erster Hand, also von Tillich selbst, und wieviel aus zweiter Hand, von Gertraut Stöber, stammt. Ebensowenig klar ist, aus welcher Zeit diese Berichte Tillichs und Stöbers stammen. Obiges Zitat enthält jedoch mindestens einen Fehler: Hirsch hatte zwei Söhne. Der ältere, Peter, fiel in Rußland und der jüngere, Hans, jetzt Professor in Aachen, war Kriegsgefangener in Jugoslawien (vgl. Buff an Reimer, 7.11.1981). Hirsch an Hans Grimm, 19.6.1948; Hans Grimm Archiv, Lippoldsberg/Weser, von Walter Buff zugänglich gemacht. Die Tatsache, daß Hirsch diesen Brief so kurz nach dem Besuch schrieb, läßt ihn ehrlich erscheinen, obgleich er offensichüich eine einseitige Sicht wiedergibt.
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Ein biographisch-intellektuelles Portrait
Ostdeutschland gesprochen, als sei es an Rußland verloren und ihm geraten, jenen Teil Deutschlands ebenfalls abzuschreiben. Auch habe Tillich die Ansicht vertreten, Deutschland solle eine gewissermaßen koloniale, besonders industrielle Abhängigkeit von Amerika akzeptieren. Nur dann hätten die Westdeutschen die Möglichkeit, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Hirsch erinnert sich schließlich, daß das Gespräch in ruhigem Ton verlaufen sei; Tillich habe die Weltwirklichkeit in aller Nüchternheit gesehen und weniger leidenschaftlich moralisiert. Er scheine der Meinung gewesen, daß die Menschheit trotz allem etwas Positives aus der Situation lernen könne, wenn sie in der Lage sei, die Schrecken der Ereignisse zu vergessen. In einem Brief von 1970 an seinen Freund und langjährigen Bekannten Walter Buff resümiert Hirsch die drei Kontakte mit Tillich nach 1945 und reflektiert gleichzeitig sein Verhältnis zu Tillich samt ihren persönlichen und theologischen Differenzen Uber die Jahre hinweg. 7 Das einzige wirkliche Zusammentreffen nach 1945, erzählt Hirsch, habe Mitte Juni 1948 stattgefunden und sei von einem gemeinsamen Freund angebahnt worden. Tillich habe seinem Artikel gegen Hirsch aus dem Jahre 1934 noch einiges hinzufügen wollen; aber er, Hirsch, habe immer einen besonderen Zauber auf Tillich ausgeübt, wenn sie für mehrere Stunden allein zusammen waren. So sei es auch diesmal gewesen. Tillichs stetes Bedürfnis nach Anerkennung als außergewöhnlicher Mensch und Theologe sei geschwunden. Er habe über die weltpolitische Situation gesprochen und dabei zugegeben, daß die ganze Propagandakampagne gegen Hitlerdeutschland nur als Deckmantel zur Überzeugung der Öffentlichkeit diente; auch habe er eingeräumt, daß die Alliierten in einigen Fragen Rechenschaft schuldeten. Die Alliierten hätten den Krieg gewollt und sich darauf vorbereitet. Die Behauptung, Deutschland habe in der Absicht, die Welt zu erobern, den Krieg begonnen, sei Unsinn. Tillich habe gleichwohl behauptet, daß Deutschland die Hauptverantwortung und Hauptschuld am Krieg trage, und sogar gemeint, Hirsch habe 7
Hirsch an Buff, 3.8.1970. Dieser Brief Hirschs, zwei Jahre vor seinem Tod geschrieben, ist eine Antwort auf einen Brief von Buff an Hirsch vom 2.8.1970. Wir haben den Inhalt dieses Briefes hier ausführlich paraphrasiert, nicht nur, weil er über die Kontakte zwischen Hirsch und Tillich nach 1945 berichtet, sondern auch Einsicht in Hirschs Denken gegen Ende seines Lebais und das Wesen seiner Beziehung zu Tillich gewährt.
Jahre der Trennung und Anbahnimg der Versöhnung
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an dieser Schuld teil. Er hielt es ferner für den Willen Gottes, daß Amerika und seine Alliierten in der gegenwärtigen Situation dazu bestimmt seien, die Welt nach dem Vorbild der amerikanischen Demokratie zu führen. Deutschland habe dagegen gekämpft, daß diese amerikanische Form der Demokratie der Welt aufgedrängt werden solle und sich damit dem Willen Gottes widersetzt und die Alliierten in einen Krieg gezwungen. Die Folge sei die gerechte Bestrafung Deutschlands, die Zerstörung seiner politischen Unabhängigkeit. Danach befragt, wie er seine gegenwärtige Verteidigung der amerikanischen Form der Demokratie mit seinem früher vertretenen religiösen Marxismus in Einklang bringe, habe Tillich geantwortet, daß er in Amerika Mittelwege schätzen gelernt habe. Diese erlaubten dem Kapitalismus und dem Sozialismus zu koexistieren und sich aufeinander zuzubewegen, bis daraus die demokratische Form einer sozialistischen Gesellschaft erwachsen könne. Tillich habe gemeint, er sei im Grunde seinem Ideal von 1919 treu geblieben, hätte aber inzwischen erkannt, daß die kapitalistische Demokratie ein Mittel zum Erreichen dieses Ideals sei. Im gleichen Brief an Buff bezieht sich Hirsch auf ein weiteres, nur zehnminütiges Treffen, einen Höflichkeitsbesuch, den Tillich ihm auf der Durchreise abstattete. Damals habe Tillich sehr viel mehr Zeit mit anderen (politischen) Freunden in Göttingen als mit ihm verbracht. Die dritte, ausführlichere Unterhaltung fand 1958 am Telefon statt, als Tillich in Hamburg den Goethe-Preis erhielt und Hirsch von seinem Hotel aus anrief. Das eineinhalbstündige Gespräch war nach Hirsch von gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt. Hirsch verstand es als Abschiedsgespräch, in der Annahme, Tillich würde ihn nie wieder besuchen. Offensichtlich wurden höchst private Dinge besprochen, auf die einzugehen Hirsch sich in seinem Brief an Buff weigert. Dennoch berichtet Hirsch von einem interessanten theologischen Dialog während dieses Telefongespräches. Nach seiner Meinung zu Tillichs Theologie und Philosophie befragt, antwortete er offen, er betrachte Tillichs Denken als Kulturphilosophie, die ausgesuchte Elemente evangelischer Theologie enthalte und beabsichtige, die moderne Kultur durch heimliche Infiltration religiöser und christlicher Ideen vor ihrem bevorstehenden und unausweichlichen Untergang zu bewahren. Für Tillich, so habe Hirsch ihm gesagt, tauge das
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Ein biographisch-intellektuelles Portrait
Christentum für wenig mehr, als für die Befruchtung der in die Krise geratenen Moderne. Tillich soll daraufhin herzlich gelacht und scherzhaft hinzugefügt haben, Hirsch sei noch immer so schrecklich gemein zu ihm wie in alten Jugendtagen. Dennoch halte er seine Einschätzung im wesentlichen für richtig. Hirsch schließt seinen Brief an Buff mit einigen allgemeinen Überlegungen zu Tillichs theologischen und philosophischen Schriften. Vor allem habe er, Hirsch, das Gefühl, daß in Tillichs späteren Schriften einige seiner eigenen früheren Ideen auftauchten, ja daß es, bedingt durch ihre gemeinsame frühe Geschichte, viele Ähnlichkeiten in ihrer beider Denken gebe. Aber Hirsch ist zugleich der Ansicht, es habe immer ein tiefer religiöser Unterschied zwischen ihnen bestanden, den er in seiner Debatte mit Tillich nicht genügend betont habe. Er erinnert sich der Worte Tillichs in einem ihrer Gespräche nach 1945, seine (Hirschs) ganze geistige Freiheit sei nichts als Illusion. Tillich habe ihm heteronomes Denken vorgeworfen, weil er den historischen Jesus als Herrn und Erlöser betrachte. Im Gegensatz dazu hätte Tillich, statt die entscheidende Wichtigkeit Jesu für das Privatleben zu betonen, das geistige, intellektuelle und inspirierende Wesen der Bibel als ganzer, einschließlich des Alten Testaments, hervorgehoben. Tillich sehe die Bibel also als ein Kompendium der gesamten Religionsgeschichte der Menschheit an, als Träger aller wichtigen religiösen Momente auf dem Weg zur rationalen menschlichen Kultur der Zukunft. Im Gegensatz zu ihm betone jener die prophetische Botschaft, daß Gottes Wille immer auch ein politischer Wille sei, der die Welt auf sein zukünftiges Reich hinbewegt. Nach Tillich sei jeder, der dieses universale, vielseitige Wesen der Bibel als Prinzip des geistig-spirituellen Lebens betone, wahrhaft autonom. Tillich habe das Gefühl, er sei ein verkappter Pietist hinter der Maske der Autonomie. Hirsch schließt seinen Brief mit dem Vorschlag, Buff möge die Anmerkungen in seiner Ausgabe von Schleiermachers dogmatischen Predigten lesen, in denen Schleiermacher gegen Fichte und Hegel daran festhält, ein freier Diener Christi zu sein. Diesbezüglich, fügt Hirsch an, sehe er sich eher auf Schleiermachers als auf Tillichs Seite.8 8
Die Anmerkung, auf die sich Hirsch hier bezieht, ist zu finden in: Friedrich Schleiermacher, Kleine Schriften und Predigten, hg.v. Hayo Gerdes und Emanuel Hirsch, Bd. 3:
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Letzte Kontakte, 1948-1963 Aus den letzten Jahren ihres Lebens sind uns nur wenige Briefe von Hirsch an Tillich und ein einziger von Tillich an Hirsch erhalten. Pauck zitiert einen Brief Hirschs vom Oktober 1948, in dem dieser Tillich für den Wein, die Schokolade und Seife, sowie seinen Besuch Mitte Juni dankt. 9 Ein zehn Jahre später im Juli 1958 geschriebener Brief Hirschs befaßt sich hauptsächlich mit dem Austausch einiger ihrer Bücher. 1 0 Im Verlauf des gleichen Monats schreibt Hirsch an Tillich noch einmal über die untereinander ausgetauschten Bücher und fügt einige Bemerkungen Uber ihre theologischen und philosophisch-historischen Differenzen hinzu. 11 Der einzige Brief von Tillich
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Friedrich Schleiermacher, Dogmatische Predigten der Reifezeit, ausgewählt und erläutert. Berlin, 1969. Auf S. 349 schreibt Hirsch in Anm. 4: „Die schöne und tiefe Analyse des Verhältnisses zu Jesus, in dem wir uns als seine 'freien Knechte' finden, bedeutet eine Abgrenzung der Christonomie Schleiermachers, welche für ihn die frei bejahte innere Abhängigkeit von Leben und Person des geschichtlichen Erlösers zur wahrhaften Gestalt religiöser Autonomie macht, wider die radikale Autonomie, z.B. des Christentumsverständnisses Fichtes.... Fichte hätte die innere persönliche Bindung Schleiermachers an den Erlöser als eine des Menschen nicht würdige Knechtschaft verachtet. Der 'freie Knecht' Christi, der Schleiermacher sein wollte, wäre für ihn eine durch Aberglauben verunstaltete heteronome Geistesgestalt gewesen. Die Scheidung von Fichte, die hier von Schleiermacher vollzogen wird, bedeutet selbstverständlich auch eine Scheidung von Hegel und von dem vulgären Protestantismus. Schleiermacher hätte sowohl zu Bultmann wie zu Tillich selbstverständlich nein gesagt und den Vorwurf versteckter Heteronomie, den diese ihm hätten machen müssen, mit Gelassenheit getragen." Hirsch an Tillich, 16.10.1948; vgl. Pauck, Tillich. Leben, S. 324, Anm. 44. Pauck fügt hinzu: „Es mag in diesem Zusammenhang die Bemerkung interessieren, daß von den fast 50 deutschen Freunden Tillichs Hirsch der einzige war, der es ablehnte, Angaben über seinen ehemaligen Freund für diesen Band zu machen. Er konnte eben keinen Kompromiß eingehen und wußte, daß er die ganze Wahrheit oder nichts zu sagen hatte; darum zögerte er wohl, irgend jemand alles mitzuteilen, was er über Tillichs Privatleben wußte." Hirsch an Tillich, 3.7.1958. Hirsch an Tillich, 9.7.1958. Er sagt in diesem Brief, er habe sich nach langem Überlegen dazu entschlossen, Tillich ein kleines Werk von sich über das Alte Testament, „Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums", zu schicken. Er betrachte dieses Buch als beste Möglichkeit, ihre fundamentalen theologischen, christologisehen und philosophisch-historischen Unterschiede offenzulegen. Er sei mehr Lutheraner als Tillich, beeinflußt von Schleiermacher, Kierkegaard und Wilhelm Hertmann, und sehe das Alte Testament durch einen großen Graben vom Neuen Testament getrennt. Tillich habe Anleihen beim angelsächsischen Calvinismus gemacht, sei von Martin Kähler beeinflußt und sehe die biblische Religion mehr als Einheit.
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Ein biographisch-intellektuelles Portrait
an Hirsch wurde am 12.7.1958 in einem Hamburger Hotel geschrieben und befaßt sich ebenfalls mit Belanglosigkeiten wie erhaltenen Büchern oder der Schwierigkeit, einen Besuch zu arrangieren. 12 Der letzte uns erhaltene Brief von Hirsch an Tillich trägt als Datum den 17.2.1963. Er ist in höchst versöhnlichem Ton geschrieben und geht auf ihre Unterschiede im Stil ein, erzählt in rührender Weise von Hirschs lebenslanger Zuneigung zu ihm, obgleich sie oft mit offener Kritik verbunden war, und erinnert an einen der ersten Besuche Hirschs an Tillichs Krankenbett in Berlin im November 1907.13 Dies vervollständigt unser biographisches Portrait von Tillich und Hirsch von ihrem ersten Zusammentreffen irgendwann zu Beginn des Jahres 1907 bis 1970 - dem Jahr der letzten schriftlich fixierten Gedanken über Tillich, die Hirsch etwa fünf Jahre nach Tillichs Tod und zwei Jahre vor seinem eigenen an Walter Buff schickte. 14 Wir haben bereits die in ihrem öffentlichen Streit von 1934-35 zum Ausdruck kommenden zentralen Probleme und Voraussetzungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede aufgezeigt, deren politische und theologische Natur in den folgenden Kapiteln noch eingehender beleuchtet werden müssen. Nach alledem ist überwältigend, wie trotz der tiefen persönlichen, politischen und theologischen Unterschiede zwischen ihnen ihre Freundschaft und gegenseitige Bewunderung Bestand hatte und alle Schicksalsschläge überdauerte, was sich auf ergreifende Weise in den Besuchen, Gesprächen und Gedanken nach 1945, besonders gegen Ende ihres Lebens, zeigt. Im Schicksal dieser außergewöhnlichen, von den politischen Ereignissen in der Heimat zerrissenen Freundschaft spiegelt sich der Riß im deutschen Volk während der Jahre der gesellschaftlichen Krise wider.
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Tillich an Hirsch, 12.7.1958. Dieser Brief muß etwa zur Zeit ihres langen, eineinhalbstiindigen Telefonats geschrieben worden sein. Hirsch an Tillich, 17.2.1963. Vgl. dazu oben, S. 158.
TEIL ZWEI
Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
5 Der Erste Weltkrieg und die frühe politische Prägung Hirschs und Tillichs
Im ersten Teil haben wir uns ausführlich mit den Biographien und der geistigen Entwicklung Tillichs und Hirschs sowie ihrer Freundschaft befaßt. Teil zwei widmet sich einer genaueren Untersuchung ihres politischen Denkens, das in seiner Genese und Entwicklung am besten im sozialen und politischen Kontext dreier Hauptperioden deutscher Geschichte verstanden werden kann: den Kriegsjahren, der „Revolution" und der Weimarer Republik und schließlich dem Erfolg des Nationalsozialismus. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir ganz allgemein auf die Bedeutung hingewiesen, die Tillichs und Hirschs unterschiedliche Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs und ihre Deutungen desselben für die Prägung ihres politischtheologischen Denkens hatten und damit das Auseinanderstreben ihrer Wege in den 30er Jahren angedeutet. In diesem Kapitel werden wir unser besonderes Augenmerk darauf richten, wie der Erste Weltkrieg ihre späteren Einstellungen beeinflußt hat. Tillich fand wenig Zeit für akademische Arbeiten während seiner vier Jahre als Militärgeistlicher an der Westfront. Seine wichtigen sozialpolitischen Schriften entstanden erst nach dem Krieg. Dennoch ist es möglich, die Veränderung seiner politischen Haltung während dieser Jahre anhand seiner Predigten, seiner Berichte an Vorgesetzte und späterer autobiographischer Gedanken über diesen Abschnitt seines Lebens zu rekonstruieren. Ganz anders fand Hirsch, der aus gesundheitlichen Gründen vom Militärdienst befreit war, trotz seiner großen Verpflichtungen als Pfarrer und Dozent Zeit, systematisch über den Krieg sowie soziale und politische Fragen nachzudenken, vor die sich das Volk durch den Krieg gestellt sah. Die Artikel aus jenen
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Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
Jahren gewähren uns einen tiefen Einblick in Hirschs frühe politische Prägung.
Hirschs frühe Gedanken über Krieg, Volk und Staat
Krieg als heilige Begegnung mit Gott Hirschs Ringen um „Deutschlands Schicksal" begann mit dem kurzen Artikel „Unsere Frage an Gott", der kurz nach Beginn des Krieges geschrieben wurde und in dem er den Krieg im wesentlichen als Deutschlands Begegnung mit Gott versteht, weshalb er als heiliges Unterfangen gesehen werden müsse. Mehrere wichtige Themen in diesem frühen Artikel sind höchst bedeutsam für Hirschs politisches Denken und beherrschen es bis zu seinem Lebensende. Zunächst ist klar, daß sich Hirsch keine naiv-romantischen Illusionen Uber die Großartigkeit des Krieges als solchen macht. Er weiß nur zu gut um die Schrecken und Leiden des Krieges und dessen grundsätzliche Unerwünschtheit nicht nur für die eigene Familie und das eigene Land, sondern auch für dieVölker und Familien anderer Länder. „Der Krieg ist da, ohne unsern Willen", sagt er. „Nun da er aber da ist, nun wollen wir ihn. Wir tun alle, was wir können, um unserm Vaterlande zum Sieg zu helfen, und fordern es von jedem, daß er seine ganze Kraft einsetze fürs bedrohte Ganze."1 Hirsch weiß also um die Zweideutigkeit des Krieges für den Christen, der glaubt, daß Gott ein Gott des Friedens für die gesamte Menschheit ist. Christen wissen, daß Gott ein Gott des Friedens ist und ein Reich des Friedens und der Liebe auf dieser Erde will. Sie wissen, daß Gott ein Gott der gesamten Welt ist, ein Gott der Franzosen, der Slawen und der Deutschen. Sie erkennen den scheinbaren Widerspruch in der Bitte um Gottes Hilfe für das eigene Volk und nicht für die anderen.
1
Hirsch, Unsere Frage an Gott, S. 370.
Der Erste Weltkrieg und die frühe politische Prägung
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Krieg gibt es jedoch dann, wenn Völker einen Vorrang in der Welt für sich beanspruchen. In solchen Fällen, schreibt Hirsch, gibt es keine höhere Instanz als den Krieg. Es bleibt nur die Gewalt und der Griff zu den Waffen, was einzig mit dem Ziel einer dringenden Bitte an Gott um sein endgültiges Urteil, mit gewisser Berechtigung als „heiliges" Unterfangen bezeichnet werden kann. „Ein Volk, das zum Schwerte greift, fragt Gott, ob Gottes ewige Pläne mit der Menschheit dem Machtanspruch recht geben, den es erhebt." 2 Ein sündiger Krieg ist ein Krieg, der aus gewissenloser, zerstörerischer Absicht, aus Neid auf andere Völker erwächst. Während ein Volk wegen Belanglosigkeiten willens sein kann, sich anderen unterzuordnen, wäre es bei wichtigeren Belangen, wenn die Existenz des Staates auf dem Spiel, wenn seine Rolle in der zukünftigen Weltgeschichte in Frage steht, höchst unsittlich und unehrlich, es schwiege und unterwürfe sich. Durch Krieg entscheidet Gott über die Rolle der Völker in der Geschichte. In diesem Sinne gibt es nichts, was heiliger wäre als ein Krieg, der im rechten Geist als Anrufung Gottes geführt wird, denn gerade in einem solchen Konflikt entscheidet Gott Uber das Schicksal eines Volkes. 3 In seiner Verteidigung eines in rechtem Geist ausgefochtenen Krieges versucht Hirsch, das Schicksal anderer Nationen objektiv zu sehen. Er ist der 2 3
Ibid., S. 371. Ibid., S. 372. Ein Vergleich mit Tillichs Ansichten zum gleichen Thema ist aufschlußreich. Obwohl er die Wichtigkeit einer pazifistischen Bezeugung innerhalb der universalen Kirche anerkennt, lehnt Tillich den Pazifismus ab. Vgl. „Liebe, Macht, Gerechtigkeit", Berlin, New York: Walter de Gruyter, unv. phototechnischer Nachdruck, 1991, S. 218 ff. Tillich beschreibt die historische Begegnung und den Kampf sozialer Gruppen und Völker untereinander folgendermaßen: „... denn jede Gruppe erfährt Wachstum und Verfall; sie will sich fortentwickeln und zugleich den erreichten Zustand bewahren. Nichts ist in diesem Prozeß im voraus entschieden. Alles ist Versuch, Wagnis und Entscheidung. Und dabei verschmelzen sich Elemente innerer Macht mit Zwang, ob das nun die Gruppe und ihre Repräsentanten wollen oder nicht. Die Begegnungen zwischen sozialen Gruppen liefern den eigentlichen Stoff der Geschichte. In ihnen entscheidet sich das politische Schicksal der Menschheit. Was ist nun über das Wesen dieser Begegnungen zu sagen? Die Grundlage aller Macht einer Gruppe ist der Raum, den sie braucht. Leben heißt Raum haben oder genauer, sich Raum schaffen. Hierin liegt die ungeheure Bedeutung des geographischen Raums und des Kampfes um seinen Besitz, wie er von allen Gruppen ausgetragen wird." Ibid., S. 208. Obwohl Tillich im Gegensatz zu Hirsch hier den Krieg nicht als Mittel sieht, mit dessen Hilfe Gott über den Wert von Nationen entscheidet, ist dennoch seine, natürlich viele Jahre später geschriebene Analyse des Machtkampfes zwischen Völkern um Sein und Raum der Ansicht Hirschs nicht so unähnlich.
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Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
Meinung, daß wir letztlich nicht beurteilen können, ob andere Völker, deren Absicht die Zerstörung Deutschlands ist, den Krieg in diesem rechten Geist führen oder nicht. Wenn er über diese anderen Völker spricht, gibt Hirsch zu: „Aber vielleicht liegt da die Binde vor unsern Augen. Vielleicht ist es so, daß die Rolle, die nach ihrem Urteil ihnen Gott in der Geschichte zugewiesen hat, nur dann durchzuführen ist, wenn es kein Deutschland mehr gibt. ... Wir wollen aber dafür sorgen, daß wir Deutsche den Krieg in diesem Geiste führen können als einen heiligen Krieg." 4 Deutschland, so glaubt er, muß mit Gott bis zum Ende kämpfen. Es ist ihm dabei völlig klar, daß der Christ letztlich auf Gottes Reich des Friedens am Ende der Geschichte hoffen muß. Dieser Friede wird jedoch nur dann erfüllt sein, wenn das menschliche Verstehen vollkommen ist, wenn alle Völker untereinander zu einem Einverständnis bezüglich ihres wahren Ortes im Ganzen der Geschichte gekommen sind. Bis dahin hat jede Nation, einschließlich Deutschland, das Recht, sich und ihr Selbstverständnis zu rechtfertigen und zu verteidigen, indem sie sich für den Waffengebrauch auf Gott beruft und dadurch ihren gottgegebenen Ort in der Weltgeschichte bestimmt. Ein umfassenderes Verständnis aus lutherisch-christlicher Sicht von Volk, Staat und Krieg entwickelte Hirsch in jenen Jahren in drei wichtigen Artikeln: „Luthers Gedanken Uber Staat und Krieg" (1916-17), „Ein christliches Volk" (1918) und „Der Pazifismus" (1918). Die grundlegenden, in diesen drei Artikeln vorgetragenen sozialen und politischen Theorien bleiben bis zum Ende seines Lebens mehr oder weniger unverändert bestehen. Im ersten, „Luthers Gedanken über Staat und Krieg", entwirft Hirsch das, was er für Luthers Sicht von Staat und Kirche hält, ein Verständnis, von dem er meint, es sei mit einigen Erweiterungen auf die gegenwärtige Situation anwendbar. 5 Der Artikel ist in vier Hauptteile gegliedert: Luthers Sicht des Wortes des Evangeliums, Luthers Staatsverständnis, Luthers Kriegsverständnis, Allgemeine Schlußbemerkungen.
4 5
Unsere Frage an Gott, S. 372. Luthers Gedanken über Staat und Krieg, Sonderabdruck aus den Wingolfs-Blättern 4 6 7 (Januar 1917), S. 175-180.
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In Luthers Sicht bezieht sich das Evangelium auf das Einzelgewissen. Diejenigen, deren Gewissen vom Wort des Evangeliums ergriffen ist, glauben und stehen damit innerhalb des unsichtbaren ewigen Gottesreiches. Daraus erwächst eine neue Haltung, das zu tun, was gut ist. Innerlich sind Christen also von dieser Erde und ihren Ordnungen befreit und nehmen teil an der neuen Gemeinschaft der freiwilligen Liebe, die kein Gesetz mehr braucht. Der Christ als Kind Gottes steht über dem Staat, nicht gegen ihn, indem er aus eigenem Antrieb tut, was der wahre Staat verlangt: Frieden halten, niemandem Unrecht zufügen. In Wirklichkeit tut er mehr: er liebt und er erträgt Ungerechtigkeit. Aber gerade darum ist der Staat und die legitime Anwendung von Gewalt vonnöten. Staat und Waffendienst sind eine Verfügung Gottes, denn ohne Dienst am Schwert würde die bösartige Natur der sündigen Menschheit die Welt in eine Hölle verwandeln. Gott hat dem Menschen einen Teil seiner eigenen Macht übertragen. Christliche Moral umfaßt zweierlei: erstens schätzt der Christ die Freiheit und lehnt Gewalt ab, indem er Ungerechtigkeit geduldig erträgt; zweitens schätzt er die Liebe, ohne die die Freiheit unmöglich wäre, eine Liebe, die nicht nur erträgt, sondern auch hilft und dient. Diese helfende und dienende Funktion vereint die Liebe und den Dienst am Schwert in der Hand des Staates. Gott hat wenige zum Dienst am Schwert berufen, zur Aufgabe, Leben, Ehre und Gut vieler Menschen zu sichern. Diese wenigen Berufenen sind die herrschende Autorität Der Staat hat die gottgegebene Pflicht, Gewalt anzuwenden, zu verletzen, nötigenfalls sogar zu töten, wenn ,4er Friede" es verlangt. Der Staat hat die Aufgabe, den Frieden unter seinen Untertanen aufrecht zu erhalten. Der Herrscher lebt nicht für sich sondern für andere. Als einzelner Christ unterscheidet sich der Herrscher nicht von allen anderen Christen. Er übt sein besonderes Amt aus Liebe zu den ihm Anvertrauten aus. Ebenso wie Gott vom Prediger klare Verkündigung verlangt, erwartet er vom Herrscher und den untergebenen Staatsdienern gerechtes und hartes Urteil. So sind für Luther die Ämter des Gerichtsvollziehers, des Scharfrichters und des Predigers gleichermaßen ehrenvolle christliche Berufe. Luthers Kriegsbegriff kann nicht ohne seine Vorstellung vom Staat und seiner legitimen Funktion verstanden werden, sagt Hirsch. Die Rechtmäßigkeit
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Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
des Krieges liegt in der Legitimität des Staatsamtes begründet. Es gibt zwei Bedingungen für einen gerechten Krieg. Als erstes darf er sich nicht gegen die herrschende Autorität richten. Revolution ist Sünde. Ungerechte Obrigkeit muß von Christen geduldig und in Liebe ertragen werden. Ein gerechter Krieg kann nur zwischen zwei feindlichen, unabhängigen Staaten geführt werden. Als zweites muß der Krieg aus der ersten Pflicht des Staates, dem Schutz seiner Untertanen, erwachsen; d.h. er muß defensiv sein. Luther lehnt jeden Krieg ab, der aus persönlichen Motiven des Herrschers, wie Ehrgeiz oder Besitzgier, geführt wird. Der Feind muß bereits das Schwert gezogen haben, bevor das Töten beginnen kann. Der gerechte Krieg ist wie jeder wahre Staatsdienst ein Liebesdienst am Nächsten und damit die Erfüllung einer heiligen Pflicht. Im letzten Teil dieses wichtigen frühen Aufsatzes stellt Hirsch einige Betrachtungen an, die Luthers Verständnis von Volk, Staat und Krieg erweitern. Entgegen dem Kulturideal des Humanismus oder des 19. Jahrhunderts, das Gewalt als wesentliches Mittel zur Durchsetzung ethisch-sozialer Ideen betrachtete, wird die christliche Moral, sagt Hirsch, staatliche Gewalt zwar immer als Problem ansehen müssen und keine befriedigendere Antwort als die Luthers finden. Letztlich also werden Christen, deren Einstellung zur Gewalt durch Luthers Theologie geprägt ist, sowohl die Argumente jener Christen zurückweisen, die den Krieg aus christlicher Überzeugung ablehnen, als auch jener, die enthusiastisch einen internationalen Friedensgerichtshof unterstützen, der auch zur Anwendung von Gewalt befugt ist. Doch obwohl Hirsch so insgesamt in der klassischen Tradition des gerechten Krieges steht, geht er an einem Punkt über sie hinaus: dem Recht eines modernen Staates, unter gewissen Umständen einen Angriffskrieg zu führen. Er gibt damit zu, Luthers Staatstheorie und dessen Theorie der Gewaltanwendung zu erweitern, um sie der modernen Situation anzupassen. Luther ließ nur einen Verteidigungskrieg zu. Was nicht vergessen werden darf, sagt Hirsch, ist, daß für Luther Staats- und Kriegsbegriff zusammen gehören, da die wesentliche Funktion des Staats die Erhaltung des Friedens ist. In der gegenwärtigen Welt sind jedoch die Aufgaben des Staats weiter gesteckt und verlangen somit, den Gedanken des gerechten Krieges neu zu
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fassen. Nach Hirsch ist die neue Dimension, die seit Luthers Zeit unserem Staatsverständnis hinzugefügt wurde, der Volksgedanke. Der moderne Staat hat die Aufgabe, die Lebendigkeit des Volkes zu erhalten, was ihm auch das Recht gibt, sich auf mehr als einen Verteidigungskrieg im engen Sinn gegen andere Völker einzulassen.6 Wichtig auch für die gegenwärtige Situation bleibt, daß wie in Luthers Denken das legitime Staatsziel und das legitime Kriegsziel eins sein müssen. Hirsch ist sich bewußt, daß seine Erweiterung, von der er glaubt, sie bleibe Luthers Absicht treu, von einem gewissenlosen Herrscher zur Rechtfertigung ungerechter Kriege mißbraucht werden kann. Letzten Endes kann ein solcher Mißbrauch nur verhindert werden, wenn der Regent ein Gewissen für seine Aufgaben als Herrscher mitbringt. Er muß, so Luthers Theologie, seine Sicht von Staat und Krieg dem Gedanken von Pflicht und Gehorsam unterordnen. Die Frage ist nicht, wann ein Krieg erlaubt, sondern, wann er Pflicht ist. Luther verstand das Kriegshandwerk, wie die gesamte Staatskunst, als Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz, weshalb er Krieg als Gotteswerk betrachten konnte. Die Preisung des Krieges als segensreiche und konstruktive Macht per se wäre Luther fremd gewesen. Sogar Krieg um der Pflicht willen war für ihn, menschlich gesprochen, eine große Heimsuchung. Schließlich sei, so Hirsch, daran zu erinnern, daß für Luther der Staat nicht der höchste aller Werte war. Innerlich steht der Christ über Staat und Volk. Die einzig wahre Heimat eines Christen ist das Gottesreich, in dem alles freiwillig und aus Liebe getan wird. Dieses Reich ist in gewissem Sinne als etwas Verborgenes schon gegenwärtig. Wo immer rechte Christen sind, lebt und wächst das Gottesreich. Die Ewigkeit, an die der Christ in seinem Gewissen fest gebunden ist, gibt ihm eine innere Gewißheit, wodurch er sich und seine Seele nicht an den Staat und die Welt verliert. Das macht den Christen nicht zu einem schlechten Staatsbürger, oder schlimmer noch, zu einem heimlichen Staatsfeind. Luther war frei von der Schwärmerei einer Welt ohne Staatsordnung: „Das Gottesreich ist kein Kulturziel, das durch menschliche Arbeit zu verwirklichen wäre und etwa schließlich den Staat ersetzen
6
Ibid., S. 179.
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könnte.
Es
bleibt
in dieser
Welt
stets
das
Verborgne,
das
nie
Sichtbarwerdende. Der Staat ist unentbehrliche Schöpfungsordnung und zwingt die Hände derer, deren Herzen das Wort nicht lenken kann." 7 Wichtiger gar ist, daß der Christ sich als Kind Gottes dem Staat hingibt: „Christ sein heißt lieben, liebend sich geben an die widerstrebende Welt. W o solche weltleidende und dadurch weltüberwindende Liebe nicht ist, da ist das verborgne Gottesreich noch nicht lebendig."
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Ein christlicher Nationalstaat Bemerkenswert an Hirschs Artikel: „Luthers Gedanken Uber Staat und Krieg" ist das Ausmaß, in dem Hirsch seine Sicht von Staat, Volk und Krieg auf seinem Verständnis von Luthers Theologie aufbaut, und seine Bereitschaft, Luthers Theologie zu erweitern, um den Erfordernissen der modernen Situation in Deutschland zu begegnen. Dies zeigt, wie sehr sich Hirschs Theologie kontextgebunden entwickelte. Seine Sicht einer christlichen Nation hat in einem zweiten Artikel, „Ein christliches Volk", eine Weiterentwicklung erfahren. Er wendet sich zunächst an jene, die deshalb gegen den Begriff „christliches Volk" protestieren, weil nur eine Minderheit eines Volkes vom Wort des Evangeliums in ihrem Gewissen ergriffen sei und die wichtige Unterscheidung auch zwischen dem besten Staat und dem Reich Gottes niemals ausgelöscht werden dürfe. In allen seinen Schriften bemüht sich Hirsch, diese Unterscheidung klar durchzuhalten. Er gibt gerne zu, daß ein Volk als solches nicht christlich ist, sondern eine vorchristliche Wirklichkeit darstellt: „Volksgemeinschaft und Staatsordnung werden eben nie verleugnen, daß sie in ihren Wurzeln vorchristlich sind. Sie gehören zu den Werken Gottes des Schöpfers und Regierers, sie werden uns schon geschenkt durch Natur und Geschichte. W o bluts- und sprachverwandte Menschen durch den Druck gemeinsamen Erlebens großer Geschicke und die Begeisterung gemeinsamer
7 8
Ibid., S. 180. Ibid.
Der Erste Weltkrieg und die frühe politische Prägung
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großer Taten zusammengeschlossen werden, da wird aus einem beieinander wohnenden Haufen ein Volk und ein Staat. So sind auch wir Deutsche Volk und Staat geworden. Wir haben damit eine von Gott uns gesetzte irdische Aufgabe erfüllt. Zu Christen haben wir uns bloß dadurch noch nicht gemacht." 9 Hieraach verteidigt Hirsch jedoch weiter den Begriff eines christlichen Volkes, das in seinen Augen ein „christlich gebildetes Gewissen" hat. Der Charakter eines Volkes wird von dem bestimmt, so argumentiert er, was es für richtig hält. Dieses allgemeine moralische Gewissen ist die treibende Kraft im Leben des Ganzen. Jedes Volk hat sein eigenes, besonderes moralisches Gewissen, das entweder richtig oder verzerrt sein kann. Das Leben des deutschen Volkes ist, wie das der anderen europäischen Völker, zum größten Teil von christlichen Werten geprägt. Ein Beispiel für eine solche christliche Norm, die tief im deutschen Gewissen eingegraben ist, ist der Wert des Individuums: „Um wenigstens eins zu nennen: wir haben ein Empfinden von dem unendlichen Wert des einzelnen Menschen. Die Persönlichkeit jedes einzelnen steht vor unserm Gewissen als etwas Heiliges und Unantastbares, an dem sich auch der Staat und sein Gesetz nicht vergreifen dürfen. Das haben wir aber aus dem Christentum gelernt, das jeden Menschen, ohne Unterschied in freier Selbstverantwortlichkeit Gott gegenüberstellt und ihm damit eine persönliche Würde verleiht, die der Gewalt des andern schlechthin entzogen ist." 10 Hirsch sagt, dies sei ein Beispiel dafür, wie der deutsche Geist - seine Philosophie und Weltanschauung, sein Gewissen - vom Christentum beeinflußt sei. In diesem Sinn seien die Deutschen ein christliches Volk, und er ruft die Deutschen dazu auf, alles zu tun, daß Deutschland christlich bleibe, ja, daß es in seinem Ethos womöglich noch christlicher werde, könne sich doch das Gewissen ändern und die ethischen Forderungen des Evangeliums leicht aus den Herzen schwinden. Nur durch Disziplin und Gebet können die Deutschen
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Ein christliches Volk, in: Der Geisteskampf der Gegenwart 54,7 (1918), S. 164. Ibid., S. 165. Wir dürfen diese Verteidigung des absoluten Wertes der Einzelpersönlichkeit nicht aus den Augen verlieren, besonders angesichts Hirschs späterer Verteidigung der totalitären Ansprüche des Nationalsozialismus, der den Wert des Volkes als ganzes über den des Individuums stellte.
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bleiben, was sie sind. Dennoch dürfe nicht vergessen werden, daß die Forderungen des Evangeliums niemals vollständig in das Gewissen eines Volkes Eingang finden können. Das Evangelium müsse der Richter eines Volkes bleiben: „Wir müssen uns und andern klar machen, daß wir Recht und Pflicht haben, Gesetzgebung und öffentliches Leben im Namen des christlichen Gewissens zu beurteilen."11 Das Evangelium könne daher niemals vom sozialen und politischen Leben eines Volkes getrennt werden. Der Christ dürfe sich niemals darauf beschränken, einzelne für das christliche Gewissen zu gewinnen, in der Meinung, die Moral der Masse könne nie ganz gewonnen werden. „Wenn wir aufhörten, ein christliches Volk zu sein, so würde auch das Christentum derer, die es ernst meinen, nicht gesund bleiben. Und umgekehrt, je mehr wir ein christliches Volk werden, desto reicher und tiefer wird sich rechtes persönliches Christentum entfalten können."12
Der Pazifismus: Eine Verwechslung des Reiches der Liebe mit dem Reich der Gerechtigkeit Im dritten Artikel, „Der Pazifismus", behandelt Hirsch sehr viel systematischer und gründlicher die Themen, die er in den beiden ersten Artikeln nur anschneidet.13 Er ist in drei Hauptabschnitte untergliedert: eine systematische Darstellung der Grundgedanken des pazifistischen Ideals, eine kritische Betrachtung dieser Gedanken und eine Verteidigung des gerechten Krieges. Hirsch meint, daß Pazifisten, wie auch ihre Gegner, erkennen, daß jede Verabsolutierung bestehender Machtstrukturen zur Ungerechtigkeit führt. Weltfriede setzt voraus, daß die Staatsgrenzen von allen als rechtens und gerecht anerkannt werden. Obwohl der Pazifismus somit für die Selbstbestimmung aller Nationen einsteht, soll Streit zwischen Völkern vor einem 11
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Ibid., S. 166. Es ist falsch, Hirsch zu beschuldigen, er habe keine Kriterien, anhand deren er den Staat und politische Bewegungen innerhalb des Staats beurteilt. Die Frage ist: Welches sind diese kritischen Normen, und sind sie angemessen? Ibid. Der Pazifismus, in: Wingolfs-Blätter, 1918, 1, Sp. 1-8 und 1918, 2, Sp. 33-37. Dieser Aufsatz wurde zur Zeit des beinahe erfolgreichen Ludendorff-Putsches geschrieben.
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Weltgericht verhandelt werden. Dies setzt eine Weltfriedensallianz voraus, deren Mitglieder ähnliche demokratische Regierungsformen haben müssen. Denn nach pazifistischer Sicht, so Hirsch, ist friedliche Koexistenz nur zwischen Nationen mit ähnlicher politischer Struktur möglich. Das heißt jedoch, daß eine solche internationale Friedensallianz gemeinsame politische, wirtschaftliche, rechtliche, wissenschaftliche und kulturelle Ordnungen voraussetzt, die die Unterschiede zwischen den Völkern und Nationen mehr und mehr auslöschen. Nach Hirsch hat die Menschheit nur zwei Möglichkeiten: entweder betont sie die Vielfalt von Völkern und Staaten, die zu einer Vielfältigkeit des Lebens führt - wofür er eintritt -, oder sie betont die Lebensgemeinschaft, die zur Staatengemeinschaft führt. Das pazifistische Ideal führt eindeutig zu letzterem, zu einer durch einen Weltfriedensbund geschaffenen internationalen Kultur. Was Pazifisten weniger bereitwillig zuzugeben scheinen, ist die offensichtliche Schlußfolgerung, zu der ihre Position sie führen muß: Gruppen und Völker, die diese Vision nicht teilen, können nur als untergebene Kolonialvölker zu Mitgliedern dieses Bundes gemacht werden, dazu verdammt, erst dann ihre Unabhängigkeit zu erhalten, wenn sie recht erzogen worden sind. Während primitive Völker mit einer relativ wenig entwickelten eigenen Geschichte und Kultur es vielleicht zulassen, in dieser Art beherrscht zu werden, werden sich entwickeltere Nationen mit einer starken unabhängigen und einzigartigen geistigen und politischen Identität sicherlich gegen eine solche Unterordnung und Eingliederung in einen Bund verwahren. Hier zeigen sich die wahren Grenzen des Pazifismus. Die Pazifisten wollen also im Leben der Menschheit eine höhere Ebene jenseits von Machtkampf und Gewalt erreichen. Gewalt darf nur gegen untermenschliche Natur und Friedensbrecher angewandt werden. Menschliches Leben soll ethisiert werden. Aus einem neuen Vertrauen zwischen den Völkern wird ihrer Meinung nach eine neue und reichere Gemeinschaft erwachsen. Dieser abstrakte Traum vom Weltfrieden in den Köpfen einiger Pazifisten wird mit Sicherheit nie Wirklichkeit werden, sagt Hirsch, obwohl das konkrete Ideal in gewisser Weise verwirklichbar ist. Aber sogar dieses irdische Reich des Weltfriedens wird kein ewiges sein, denn alle Geschichte ist vergäng-
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l i e h . 1 4 Hirsch gibt gern zu, daß nicht jedes Volk dazu bestimmt ist, seine Eigenart in einem eigenen, besonderen Staat auszuleben. Sogar große Völker können dazu verurteilt sein, in ein größeres Ganzes einverleibt zu werden. D a Weltreiche von Gott gewollt sein können, haben Völker, die glauben, den Ruf zu vernehmen, ein solches Weltreich zu sein, das Recht, danach zu streben. Niemals weiß jemand mit Sicherheit zu sagen, wohin der Wille Gottes führen mag. Die Deutschen kämpfen derzeit um ihre Unabhängigkeit gegen das erstarkende Weltreich der Briten. Die Deutschen verlangen nach eigenständigem Leben und einem mächtigen Staat; ihr Gewissen ruft sie zum Kampf um Freiheit und Ehre bis zum bitteren Ende. Dennoch ist Gottes letztes Wort noch nicht gesprochen; Gottes entscheidende Antwort auf das deutsche Wagnis steht noch aus. Aber es kann sein, daß Gott die englische Weltherrschaft will.15 In seiner Vision eines Weltfriedensreiches muß sich der Pazifist der Tatsache bewußt sein, daß die von ihm ersehnte Weltordnung nicht besser, nicht gerechter oder moralischer ist als die gegenwärtige: „Im Grunde bliebe die Welt doch die alte. Keine politische Umgestaltung ist imstande, das
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Zum Vergleich hierzu einige Gedanken, die Tillich viele Jahre später in ähnlichem Ton über die Beziehung der irdischen Friedensbemühungen, der Menschheit und des ewigen Gottesreiches äußert: „Nehmen wir einmal an, das wäre möglich. Es ergäbe sich dann folgende Lage: Unter einer unveränderlichen zentralen Autorität sind alle Machtverhältnisse festgelegt. Nichts wird gewagt, alles ist im voraus entschieden. Das Leben hat aufgehört, sich zu entfalten. Jedes schöpferische Tun ist erloschen. Die Geschichte der Menschheit ist damit abgeschlossen; die nachgeschichtliche Zeit hat begonnen. Die Menschheit wäre eine Herde glückseliger Tiere ohne jegliche Unzufriedenheit, aber auch ohne jegliches Streben in eine bessere Zukunft. Man würde aufgrund ihrer Schrecken und Leiden die geschichtliche Zeit als das finstere Zeitalter der Menschheit bezeichnen. Aber dann könnte es geschehen, daß den einen oder den anderen dieser glückseligen Menschen ein Gefühl der Sehnsucht nach diesem vergangenen Zeitalter beschleicht, ein Verlangen nach ihrem Elend und ihrer Größe. Und solche Menschen könnten den übrigen einen neuen Anfang geschichtlichen Daseins aufzwingen. Dieses Bild will zeigen, daß eine Welt ohne die Dynamik der Macht und ohne die Tragik des Lebens und der Geschichte nicht das Reich Gottes und auch nicht die Erfüllung des Menschen und seiner Welt ist. Erfüllung ist an das Ewige gebunden, und keine Phantasie kann das Ewige ermessen; aber einiges können wir doch erahnen. Die Kirche ist in dieser Hinsicht eine fragmentarische Vorwegnahme der Ewigkeit. Und es gibt Gruppen und Bewegungen, die zwar nicht zur 'manifesten* Kirche gehören, jedoch etwas verkörpern, was man eine 'latente' Kirche nennen darf. Aber weder die manifeste noch die latente Kirche sind das Reich Gottes" (Tillich, liebe, Macht, Gerechtigkeit, S. 224). Hirsch, Der Pazifismus, S. 5.
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menschliche Gemeinschaftsleben in ein Reich der Gerechtigkeit oder gar der Liebe zu verwandeln." 16 Somit ist bereits der Ausgangspunkt des Pazifismus trügerisch und führt in die Irre. Die Mächtigen werden niemals d i e Verkleinerung ihres Landes durch andere Völker zulassen. Die großen kapitalistischen Mächte könnten in einem Reich des Weltfriedens alle Völker der Erde willkürlich ausbeuten. Dies träfe besonders auf demokratische Regierungen zu. Wie die Erfahrung zeigt, sind demokratische Staaten am wenigsten in der Lage, sich gegen die großen kapitalistischen Wirtschaftsmächte innerhalb der eigenen Volksgemeinschaften zu verteidigen.17 Wichtiger, sagt Hirsch, ist der Irrtum jener Pazifisten, die ihre Vision ihre Gerechtigkeitsethik - mit dem Christentum begründen. Sie verwechseln das Reich der Gerechtigkeit mit dem Reich Gottes. Das Reich der Gerechtigkeit gehört zu den Naturgesetzen. Während das Herz der Moral selbstlose Liebe ist, ist das Herz der Gerechtigkeit Egoismus. Gerechtigkeit behauptet sich durch den Gebrauch rücksichtsloser Gewalt und unterscheidet sich von Moral. Letztere beginnt dort, wo eine Person aufgrund des Gewissens freiwillig handelt Im folgenden Zitat bringt Hirsch klar zum Ausdruck, wie er das Wesen des Reiches der Gerechtigkeit und des Reiches der Liebe sowie deren Unterscheidung versteht: Darum ist das Reich des Rechts von dem Reich der Liebe scharf unterschieden. Auch wenn es gelänge, alle Menschen in einer einzigen Rechtsgemeinschaft zu vereinigen und in dieser dann das vollkommenste Recht einzuführen und durchzuführen - wir blieben immer noch im Reich der Welt. Von dem, was das Christentum eigentlich will, wäre allein damit noch nichts verwirklicht. Das Reich Gottes wäre noch nicht da. Im Reich Gottes sollen doch die Menschen, weil sie Gott anbeten und einander lieben, „ein Herz und eine Seele" sein. Auch in der vollkommensten Rechtsgemeinschaft sind sie alles andere eher als das. Sie haben nur gewisse gemeinsame Abreden getroffen Uber die Art, in der die Verfolgung der besonderen Absichten jedes einzelnen künftig erlaubt sein soll. Umgekehrt kann auch, wenn die Rechtsgemeinschaft noch unvollkommen ist, schon etwas vom Reiche Gottes da sein. Wo überhaupt Menschen von Gott im Gewissen berührt werden und nun sich freiwillig hingeben an die ihnen gebotene Liebespflicht, da fängt es an, sein heimlich Wesen zu trei16 17
Ibid., S. 5. Ibid., S. 5-6.
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ben. Es ist etwas Unsichtbares, das in den Herzen wohnt, das die Seelen miteinander verbindet Ein leerer Traum ist es darum nicht. Wir verdanken alle unser Bestes Menschen, die in ihm zu hause waren, die festgewurzelt waren in der Ewigkeit. 18 All jene Pazifisten, sagt Hirsch, die denken, daß eine Vereinigung der Menschheit eine vollkommene Gemeinschaft der Gerechtigkeit darstelle, die zum Reich Gottes führt, haben die Worte des Evangeliums und Jesu vergessen, der sagt, daß das Reich Gottes nicht an äußeren Zeichen erkannt wird, sondern in uns ist. Die ungehinderte Entwicklung der Gerechtigkeit zu einem pazifistischen Weltreich entwertet somit das Leben selbst. Insbesondere wird das Leben des Volkes zerstört. Die alte Geschichte zeigt, so Hirsch, daß Weltreiche natürliche Volksgemeinschaften auflösen. Jeder, der Augen hat zu sehen, erkennt, daß die internationale Kultur unserer Zeit nicht weniger zerstörerisch gegenüber einzelnen Völkern ist. Im folgenden begründet Hirsch das Gewicht, das er der Wahrung einzelner Volksgemeinschaften beimißt: Durch unsere Anteilnahme am Leben unseres Volkes kommen wir nämlich etwas los von dem Fluch der Selbstsucht, daß sie nichts kennt und achtet als den eigenen kleinen Willen. Was das klügste Recht nicht schaffen kann, ist durch die Natur in der Volksgemeinschaft verwirklicht: die ungezwungene Übereinstimmung vieler Menschen in dem, was sie denken und wollen, eine natürliche innerliche Verbundenheit, die eine Macht über die Gemüter darstellt, und von der sich nur die Verdorbenheit befreit weiß. Darum ist die Volksgemeinschaft von allen Erscheinungen des natürlichen Lebens die, an der man als Christ die meiste Freude haben wird. Gewiß zeigt auch sie die rohen und häßlichen Züge, die nichts Irdisches verleugnen kann. Es fehlt ihr die Freiheit und Weitherzigkeit. Sie verführt dazu, gegen den, der nicht Volksgenosse ist, sich innerlich zu verschließen. Sie verhärtet den Menschen mitunter auch gegen die geistigen Werte. Gleichwohl bleibt es wahr, daß ein Mann, der sein Vaterland hat lieben lernen, eine innerliche Vorbereitung für die Gedanken des Christentums besitzt, wie sie dem völkisch Entwurzelten abgeht. 19 Hier zeigt Hirsch, daß er sich der Zweideutigkeit von Volk und Vaterland bewußt ist. Er sieht klar die Gefahren (Ausschluß der Fremden), die sich spä18 19
Ibid., S. 7. Ibid., S. 8.
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ter im Nationalsozialismus bewahrheiten sollten, obwohl er hier noch meint, sie würden aufgewogen vom Positiven der Volksbindung. Das Erkennen der Gefahr einer Verabsolutierung des Volkes führt Hirsch dazu, die Vergänglichkeit aller Völker herauszustellen: „Weil die Volksart die Verhärtung in einer natürlichen Besonderheit bedeutet, die doch nur bedingtes Recht hat, darum kann Gott die Völker nicht ewig leben lassen. Er muß den Boden seiner Menschenwelt von Zeit zu Zeit gründlich umpflügen, um ihn empfänglich zu erhalten für die in ewiger Bewegung begriffenen allgemeinen Ideen." 20 Wäre dem nicht so, degenerierte die Menschheit in ihrer Geschichte völlig. „Daraus, daß die Völker zu Gottes Zeit das Gericht durch die Weltreiche nötig haben, folgt aber noch lange nicht, daß die Weltreiche etwas sind, worüber wir uns freuen dürfen, daß wir gar in ihnen ein erstrebenswertes Ideal sehen müssen, so wie es der Pazifismus tut." 21 Weltreiche als solche sind rein destruktiv und führen zum Verlust der natürlichen Qualität des Lebens. Wahrer Gemeinschaftssinn kann durch solche internationale Reiche nicht entstehen. Und wenn man vom Grund der Natur entfremdet ist, ist auch das geistige und moralische Leben zerstört. Aus diesem Grund offenbaren sich die kreativen Mächte des menschlichen Geistes stets am besten in jungen aufstrebenden Nationalstaaten und nicht in Weltreichen. Im letzten Teil von „Der Pazifismus" verteidigt Hirsch noch einmal das Recht des Nationalstaats, einen gerechten Krieg zu führen. Er führt die bereits in einem seiner früheren Aufsätze dargelegten Argumente für den Krieg weiter aus. Obwohl Krieg nicht als Segen an sich gesehen werden kann, so kann er doch, im rechten Geist geführt, der Gerechtigkeit dienen. Der Krieg entscheidet, welche Nationen das Recht auf unabhängige Existenz behalten. Zudem 20
21
Ibid. In diesem Zusammenhang, in dem sich Hirsch auf universale Ideen bezieht, spricht er über Gerechtigkeit, wissenschaftliche Wahrheit usw., Ideen, die von so vielen, besonders den Pazifisten, hochgehalten wurden. Obwohl er sie für wichtig halt, um das Leben reicher und in gewissem Sinn auch weiter zu gestalten, hält er dagegen, daß die Wurzeln von Größe und Macht nicht in diesen Ideen liegen, sondern in der „unauslotbaren Dynamik" des Lebens selbst, nämlich der „Einzigartigkeit und dem Geheimnis, die die Schönheit konstituieren, der Macht und der Gesundheit des Lebens." Darum, meint er, müsse die unbegrenzte Entwicklung dieser universalen Ideen, einschließlich der reinsten aller - der Suche nach Wahrheit in der Wissenschaft - begrenzt sein. Eine Dimension des Mysteriums in der Dynamik des Lebens muß bestehen bleiben (vgl. ibid., S. 7). Ibid., S. 8.
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kann der Krieg ein Volk Gott näher bringen. In langen Zeiten des Friedens dagegen kann das Gewissen eines Volkes, sein Verhältnis zu Gott, geschwächt werden, können die Menschen leicht der Versuchung erliegen, sich auf ihre eigenen rationalen Errungenschaften zu verlassen. Gleichwohl wirkt Gott im Krieg auf die Menschheit ein und zeigt ihr, daß er der Herr der Geschichte ist, indem er das Vertrauen der Menschen in ihre eigenen Ordnungen und Gesetze erschüttert Wir brauchen an dieser Stelle nicht länger bei Hirschs Argumenten zur Verteidigung des Krieges zu verweilen, müssen jedoch noch seine Diskussion der schwierigsten aller Fragen zum Krieg betrachten: „Widerspricht nicht der Vernichtungswille, der sich im Kriege ausspricht, dem Gebot der Liebe, so wie es die Bergpredigt uns vorstellt? Ja, widerspricht er nicht dem allereinfachsten sittlichen Gedanken, nach dem wir sonst unser Gemeinschaftsleben ordnen?" 22 Wie zuvor beantwortet Hirsch diesen entscheidenden Einwand gegen den Krieg mit der Unterscheidung zwischen dem Wesen und der Funktion der Staates, die Gewaltausübung verlangen, und dem Liebesgebot der Bergpredigt: ,£ur Liebe gehört der Verzicht aufs Recht. Wer nicht in eigener Sache Unrecht zu leiden bereit ist, der liebt noch nicht. Zur Liebe gehört femer der Verzicht auf den Zwang. Was ihr nicht freiwillig gegeben wird, das begehrt die Liebe nicht. Der Staat gäbe sich selbst auf, wenn er es in seinen Angelegenheiten ebenso machen wollte. Er muß zwingen. Er kann auf seine Rechte nicht verzichten. In allem, was er tut, auch in allen seinen Friedenswerken, tritt diese seine der Liebe fremde Art heraus."23 Wer immer meint, dies sei himmelschreiender Ungehorsam gegen die Forderungen Jesu, der versteht nicht, daß die Bergpredigt an das Gewissen des einzelnen und nicht an die Funktion des Staates appelliert. In der Bergpredigt will Jesus uns zeigen, wie wir unserem Vater im Himmel ähnlich und Mitglieder des unsichtbaren Gottesreiches werden können. Diese Vorstellungen sind nicht auf den Staat und die Volksgemeinschaft übertragbar, da diese irdische Wirklichkeit sind und in der Ewigkeit keinen Bestand mehr
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Ibid., S. 35. Ibid., S. 36.
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haben. So schließt zum Beispiel das Liebesgebot den Gedanken des Selbstopfers ein. Die christliche Liebe lehrt uns, daß die höchste Erfüllung der Persönlichkeit die offensichtliche Aufgabe der Persönlichkeit ist. Aber ein solches Selbstopfer bezieht sich eindeutig nicht auf die irdische Existenz und den Staat, denn das hieße bloße Selbstzerstörung. Dennoch läßt diese radikale Unterscheidung zwischen den beiden Reichen ein Volk nicht ohne sittliche und moralische Normen, an denen es seine Handlungen beurteilen muß: Die Anwendbarkeit der Bergpredigt auf den Staat als Staat müssen wir also unbedingt verneinen. Eine von jedem sittlichen Gesetz freie Erscheinung ist uns aber Volksgemeinschaft und Staat nicht. Sie stehen unter der sittlichen Idee der Gerechtigkeit. Nicht nur nach innen soll sich ein Volk bemühen, die Gerechtigkeit immer mehr in seinen Einrichtungen zu verwirklichen. Auch nach außen darf es nicht mit schrankenloser Willkür handeln. Es gibt eherne geschichtliche Gesetze, die kein Volk übertreten darf. Heute, wo es so viel kleine Völker gibt, die an Größenwahnsinn leiden, darf man wohl daran erinnern, daß ein Volk nicht nur Sünde tut, wenn es sich in den Winkel drängen läßt und die ihm von Gott gegebenen Gaben nicht zur Gestaltung der Welt verwendet - das ist der deutsche Fehler -, sondern auch, wenn es sich an Aufgaben macht, zu deren Lösung ihm Beruf und Kräfte fehlen. So darf ein Volk wohl einen Krieg beginnen, wenn ein Ziel, das ihm zur Entfaltung seines Wesens und Lebens unentbehrlich erscheint, anders nicht zu erreichen ist. Aber wehe dem Volk, das einen solchen Schritt leicht nimmt, das in maßlosem Dünkel oder schnöder Raubgier am strengen Geist der geschichtlichen Gerechtigkeit sich vergeht. Auch die Völker müssen ihre Taten verantworten, und die Enkel büßen für die Frevel der Väter. 24
Hier sehen wir nochmals, wie Hirsch über die traditionellen Bedingungen für einen gerechten Krieg hinausgeht und sogar einen Offensivkrieg verteidigt. Dennoch will er dem Nationalstaat nicht uneingeschränkt das Recht zu willkürlichen Handlungen einräumen. Er bleibt dabei, daß eine Nation an bestimmten, geschichtlichen Rechtsnormen festhalten muß. Sie muß sogar in der Außenpolitik und den internationalen Beziehungen zur Rechenschaft gezogen werden. Fallen dann nicht Staats- oder Volksmoral und Individualethik auseinander? Hirsch antwortet, daß er noch nie einen unüberwindbaren Gegensatz zwi-
24
Ibid.
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sehen beiden gesehen hat. Der einzelne Christ ist letztendlich dem Liebesgebot am meisten verpflichtet. Der christliche Staatsmann, der das Wohlergehen des Volkes zu seinem Anliegen macht und in Erfüllung dieser Pflicht einen Krieg führt, lädt freiwillig eine schwere Verantwortung vor Gott auf seine Seele und riskiert, daß er die historische Situation falsch interpretiert hat. Er tut es, weil er im Glauben sein gottgegebenes Amt zu erfüllen bestrebt ist. Er tut es aus Liebe zum Nächsten, gerade so, wie der christliche Soldat im Dienst für sein Volk kämpft und das Leben anderer Menschen vernichtet. Erfüllt er die harten Pflichten seines Amtes recht, so ist dies eine liebende Hingabe, eine Art Selbstopfer an sein höheres Wesen. Hirsch verharrte in jenen Jahren nicht nur bei allgemeinen Problemen, sondern ging innere soziale Fragen konkret an - die Landreform, den Wohnungsbau, den Monopolkapitalismus, den er dafür kritisierte, daß er die Armen durch hohe Mieten und unbotmäßige Profite aus Grundbesitz ausbeutete. 25 Während der Kriegsjahre 1914-18 beschäftigte er sich jedoch hauptsächlich mit der Kriegsfrage und ihrer Bedeutung für das deutsche Volk und den deutschen Staat. Seine Gedanken zu diesen Fragen, wie auch zur Unterscheidung zwischen Liebe und Gerechtigkeit, zwischen dem unsichtbaren, ewigen Gottesreich und der Funktion des sichtbaren,
geschichtlichen
Nationalstaats gründen in seiner Auslegung der Theologie Luthers. Das Reich Gottes wird im Sinne der Beziehung des einzelnen zu Gott interpretiert, der Glaube des Einzelgewissens wird erkennbar in selbstaufopfernder Liebe gegenüber anderen Individuen als Individuen und dem Volk in seinem Überlebenskampf. Genau das, so meint er, wird in der Bergpredigt verlangt. 25
Sein Artikel „Deutsche Zukunft" von 1917-18 beispielsweise ist der Diskussion innenpolitischer Probleme gewidmet. Er verlangt von der deutschen Regierung die Lösung der drängenden sozialen Probleme wie der Landreform und der schlechten Wohnungssituation besonders bei Familien, deren Männer im Krieg sind. Er ist höchst kritisch gegenüber Profit aus Landverkäufen und hohen Mieten und unterstützt das Landreformprogramm des „Bund Deutscher Bodenreformer", ein Programm, das versucht, soziale Probleme zu lösen, ohne einerseits den Fehler des Kommunismus zu begehen, Privatbesitz völlig aufzugeben, und ohne andererseits in die Extreme des willkürlichen Kapitalismus zu fallen. In Vorwegnahme dessen, was später zu einem Schlüsselbegriff der NSDAP werden sollte, fordert er: „Gemeinwohl geht über Einzelwille". Die Regierung muß die Kontrolle über deutschen Grund und Boden haben und in der Lage sein, die Freiheit des einzelnen, willkürlich Land zu veräußern, zu beschneiden. Vgl. „Deutsche Zukunft", in: WingolfsBlätter 47 (1917-18), S. 1-8.
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Der Nationalstaat als solcher ist jedoch eine vorchristliche Gegebenheit, der Menschen in irdisch-geschichtlicher Solidarität vereint, eine Realität, die von Gott selbst zum Teil der Schöpfung gemacht wurde. Seine Hauptfunktion ist der Gebrauch des Schwertes zur Erhaltung des Friedens und zur Abwehr des chaotischen Bösen. Indem Hirsch Luthers Theologie auf die für Deutschland gegebene geschichtliche Situation anwendet, dehnt er sie zugleich aus, um sie den Erfordernissen der Moderne anzupassen. So bezieht er z.B. in den Staatsgedanken die Volkszugehörigkeit ein, ein Begriff, der Luther wenig vertraut war. Hirsch behauptet jedoch, diese Ausweitung des lutherischen Staatsverständnisses, nämlich aus nationalistischen Gründen einen Angriffskrieg zu fuhren, bleibe Luthers Denken treu.
Tillichs Kriegsjahre: Eine Zeit der Ernüchterung Im Gegensatz zu Hirsch, der während des Krieges ausführlich zu sozialpolitischen Themen schrieb, wandte sich Tillich erst nach dem Krieg ernsthaft der Analyse kulturpolitischer Fragen zu, obwohl er auch während seiner Zeit als Militärpfarrer wissenschaftlich gearbeitet hatte. Vor 1914 stand er, wie Hirsch und viele andere deutsche Intellektuelle, der Politik indifferent gegenüber und äußerte sich nicht zu sozialen Problemen. Es war der Krieg und besonders die Revolution von 1918, die ihm den Zugang zur Politik eröffneten. Obwohl seine Position zwischen 1914 und 1918 keine ausführlichen theoretischen Abhandlungen erlaubte, wissen wir aus seinen privaten Briefen, Berichten an Vorgesetzte, Predigten und späteren autobiographischen Gedanken, daß Tillich während der Kriegsjahre eine tiefgreifende Wandlung durchlief, einen Wandel, der sein künftiges politisches und theologisches Leben und Denken bestimmte. Für Tillich endete das 19. Jahrhundert und damit seine eigene idyllische und intellektuelle Vorkriegszeit am 1. August 1914, dem Beginn des Ersten Weltkriegs. In seinen „Autobiographischen Betrachtungen" beschreibt er seine Kriegsjahre und die Veränderungen, die er während dieser Zeit erfuhr
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Als der Erste Weltkrieg begann, war meine Ausbildung vollendet. Wie meine ganze Generation wurde nun auch ich nach einer lediglich individualistischen und vorherrschend theoretischen Existenz durch das überwältigende Erlebnis einer die Nation umfassenden Gemeinschaft gepackt. Ich meldete mich freiwillig und wurde als Feldprediger eingestellt, eine Aufgabe, die ich von September 1914 bis September 1918 erfüllte. Schon nach den ersten Wochen war meine ursprüngliche Begeisterung vorüber. Nach wenigen Monaten war ich davon überzeugt, daß der Krieg unabsehbar lange dauern und ganz Europa vernichten würde. Überdies merkte ich, daß die Einigkeit der ersten Wochen eine Illusion und die Nation in Klassen zersplittert war. Ich erkannte, daß die Arbeiter die Kirche als bedingungslose Verbündete der herrschenden Gruppen ansahen. Gegen Kriegsende wurde diese Situation immer offenbarer. Sie rief die Revolution hervor, in der das imperialistische Deutschland zusammenbrach. 26 Ähnlich beschreibt Tillich diesen Wandel auch in seiner Autobiographie „Auf der Grenze" von 1936: „Erst im letzten Kriegsjahr und in den Monaten des Zusammenbruchs und der Revolution wurden mir die politischen Hintergründe des Weltkriegs, der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Imperialismus, die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft, die Tatsache der Klassenspaltung usf. sichtbar." 27 In einer seiner zahlreichen Predigten vor Soldaten an der Front beschreibt Tillich treffend den Patriotismus, mit dem er und viele andere in den Krieg gezogen waren. 2 8 Die Ereignisse des zu Ende gegangenen Jahres und die enthusiastische Vaterlandsliebe aller zu Beginn des Krieges sind Gegenstand seiner Neujahrspredigt 1914/15: „Von unseren Lieben mußten wir uns trennen, nur eine Liebe hatte Recht auf uns, die zum Vaterland. Leben und Tod, sie waren so viel wert, wie sie dem Vaterlande nützen konnten." 29 Die Predigt ist durchdrungen von dunklen Vorahnungen für das neue Jahr und den weiteren Schrecken, die es bringen würde. Tillich ruft dennoch seine Zuhörer dazu auf, sich nicht blind dem Schicksal zu ergeben, sondern ihr Vertrauen in Gott zu setzen, um stark für die unbekannte Zukunft zu sein. Obwohl die Predigt
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Tillich, Autobiographische Betrachtungen, in: GW XII, S. 67. Tillich, Auf der Grenze, S. 26. Aus der Zeit des Ersten Weltkriegs sind rund 100 voll ausgearbeitete Predigten und ca. 30 Predigtentwürfe Tillichs erhalten, von denen die meisten noch unveröffenüicht sind. Vgl. GW XIII, S. 70-71. GW XIII, S. 81.
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bemerkenswert frei von nationalistischer und patriotischer Sprache ist, lassen einige Berichte, die Tillich während dieses ersten Jahres schrieb, den Schluß zu, daß er die politischen Dimensionen des Krieges noch nicht so erfaßt hatte, wie es bald darauf der Fall sein sollte. 30 In einem Bericht im zweiten Kriegsjahr an seinen Vorgesetzten deutet sich dieses neue Bewußtsein bereits an. Er spricht von Enttäuschungen, der wachsenden Unsicherheit bezüglich eines nahen Friedens und sozialer Bitterkeit.31 Eine Reihe privater Briefe an Maria Rhine aus den Jahren 1916 und 1917 haben diese zunehmende Ernüchterung über die Kriegswirklichkeit und die Kriegsziele sowie ihre Auswirkung auf sein Predigen und seine Theologie zum Inhalt. In ihnen spricht Tillich vom zunehmend eschatologischen Predigens.
Charakter
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Beide, Tillich und Hirsch, unterstützten anfangs also voller Enthusiasmus den Krieg und meldeten sich als Patrioten freiwillig zum Kampf für die Sache ihres Volkes. Aber die Kriegsjahre zeitigten radikal unterschiedliche Auswirkungen auf ihre politischen und theologischen Ansichten. Hirsch gelangte, wie wir sahen, immer stärker zu der Überzeugung, daß ein Krieg in seiner tiefsten Schicht der legitime Kampf eines Nationalstaates um seine unabhängige Existenz sei, und der Sieg in hohem Maß von der Stärke und Solidarität des geistigen Willens eines Volkes zur Wahrung und Verwirklichung seines eigenen, einzigartigen gottgegebenen Schicksals abhänge. Andererseits brachte der Nationalismus für Tillich Ernüchterung, sah er doch den Krieg nur als Kampf zwischen Völkern. Gegen Kriegsende kam Tillich zu der Überzeugung, daß der Krieg ein Ausdruck des internationalen Klassenkampfes ist. Sowohl Tillich als auch Hirsch sollten im folgenden Jahrzehnt - den Jahren der Weimarer Republik - konsequent, jeweils auf ihre
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Tillich soll gesagt haben, daß seine Vorgesetzten ihn während des Krieges dazu aufgefordert hätten, seine Soldaten mehr in die patriotische Richtung zu beeinflussen. Vgl. GW XIII, S. 71. Tillich, Bericht über die Monate November und Dezember 1915, handschriftliches Manuskript von 1915, zum ersten Mal veröffentlicht in: GW XIII, S. 77-79. Briefe von Tillich an Maria Rhine (auch Maria Klein) vom 15. Oktober 1916, 27. November 1916, 5. Dezember 1917; in: GW XIII, S. 70. Weitere Briefe Tillichs an Maria Rhine sind veröffentlicht in: EGW V, S. 111-123. Andere Korrespondenz und Dokumente aus dieser Zeit erscheinen auch in diesem Band, S. 77-110.
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eigene Weise, diese frühen politischen Überzeugungen zu umfassenden politischen Theorien entwickeln.
6 Religiöser Nationalismus und Religiöser Sozialismus: Zwei Optionen in der Weimarer Republik
Die politische Instabilität der Weimarer Republik Am 11. November 1918, nach dem erfolglosen Versuch, die harten Bedingungen der siegreichen Alliierten doch noch abzumildern, unterzeichnete Deutschland gezwungermaßen den Waffenstillstand. Während die Kriegshandlungen ein Ende fanden, ging das Hungern weiter. Tatsächlich blockierten die Alliierten weiterhin die Einfuhr von Nahrungsmitteln, obwohl täglich Tausende von Deutschen an Unterernährung starben. „Die Erinnerung an diese schreckliche Erfahrung", sagt S. William Halperin in seinem Klassiker von 1946, „lebte fort in den Köpfen der Deutschen aller Klassen. Sie erzeugte eine Bitterkeit, die sich zwar im Laufe der Jahre legte, aber bereits bei den leisesten Anzeichen von Mißständen wieder aufleben konnte." 1 Am 28. Juli 1919 unterschrieb eine deutsche Delegation aus Weimar den Vertrag von Versailles im gleichen Saal, in dem 48 Jahre zuvor Deutschland den historischen Moment der Ausrufung des deutschen Kaiserreiches und die Krönung Wilhelms I. zum deutschen Kaiser erlebt hatte. Das „diktierte Abkommen" verlangte von den Deutschen die Annahme härtester Bedingungen, was den Widerstand aller Parteien, einschließlich der rechtsgerichteten Nationalisten und der linken Sozialdemokraten und Kommunisten, für Jahrzehnte nährte: große Gebiets veri uste, beispiellose Entmilitarisierung
S. William Halperin: Germany Tried Democracy: A Political History of the Reich from 1918 to 1933, New York: W.W. Norton & Company, 1965, S. 103. Dieses Buch wurde 1946 zum ersten Mal bei Thomas Y. Crowell Company verlegt.
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und Entwaffnung, unrealistische Reparationsforderungen, sowie die umstrittenen „Kriegsverbrecher"-Artikel und die „Kriegsschuld"-Klausel.2 Mehr und mehr Deutsche gelangten zu der Überzeugung, daß Deutschland nicht in erster Linie auf dem Schlachtfeld besiegt worden war, sondern viel mehr von „subversiven" Elementen im eigenen Land, die bereits während des Krieges an Stärke gewonnen hatten: Pazifisten, Liberale, Sozialisten, Kommunisten und Juden.3 Rechte Politiker beschimpften die Unterzeichner des Waffenstillstandes als Verräter und die erfolgreichen Gegenrevolutionäre als „Novemberverbrecher". Die Mitglieder der Weimarer Regierung wurden von vielen als Feiglinge betrachtet. Die Monate nach der Unterzeichnung des Vertrages brachten folgerichtig große Veränderungen im Deutschen Reichstag mit sich. In den Wahlen zeigte die Mehrheit der deutschen Durchschnittsbtirger, daß sie ihren ursprünglichen Enthusiasmus und ihre Unterstützung für die gemäßigten demokratischen Koalitionsparteien aufgegeben hatte, daß sie zunehmend enttäuscht war von der Demokratie und den Glauben an die Möglichkeit, das Land demokratisch zu regieren, verloren hatte. Die Gewinner dieser Stimmung waren die Kommunisten auf der Linken und die nationalen Bewegungen auf der Rechten.4
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Vgl. E.H. Carr: International Relations Between the Two World Wars 1919-1939, London: Macmillan & Co. Ltd., 1965, S. 52. Das Buch wurde erstmals 1937 unter dem Titel: „International Relations since the Peace Treaties" veröffentlicht. Die „Kriegsverbrecher"-Artikel forderten die Auslieferung und Verurteilung Wilhelms Π. und anderer Personen, die von den Alliierten der Verletzung des Kriegsrechts beschuldigt wurden. Im Kriegsschuldartikel heißt es: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und alle Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörige infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben." Zit. in: Gerhart Binder, Epoche der Entscheidungen. Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Verlag Dr. Heinrich Seewald, 4. Aufl. 1966, S.135. Vgl. Halperin, Germany Tried Democracy, S. 105. Ibid., S. 153, 193 ff. Halperin zeigt, wie die Nationalsozialisten und die Kommunisten häufig um die gleichen Wählerkreise warben und gelegentlich die gleiche Sache unterstützten, wie z.B. den Streik der Berliner Transportarbeiter im November 1932. Es scheint auch, daß große Teile der Bevölkerung zwischen links und rechts schwankten. Ibid., S. 509, 521. Klaus Scholder z.B. äußert die Meinung, es habe formale Ähnlichkeiten zwischen der Linken und der Rechten gegeben. Beide hätten totalitäre Weltanschauungen vertreten. Darüberhinaus hätten der nationalsozialistische Rassenkampf und der marxistische Klassenkampf, wenn auch materialiter unterschiedlich, so aber doch im formalen Sinn, die gleiche Funktion innerhalb der jeweiligen politischen
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Die frühen Weimarer Jahre brachten eine Vielzahl von politischen Parteien hervor, deren Vorstellungen über die politische Zukunft Deutschlands sich nur geringfügig voneinander unterschieden. Am 9. November 1918, nach Tagen des revolutionären Chaos und Streiks in ganz Deutschland, die in einem Generalstreik und einer Demonstration in Berlin gipfelten, rief Philipp Scheidemann, Führer der Sozialdemokratischen Partei, vom Balkon des Reichstags die Deutsche Republik aus. Kaiser Wilhelm II. floh nach Holland, wo er am 28. November 1918 formell abdankte; die Regierung war linken politischen Kräften überlassen. Am 31. Juli 1919 wurde die Weimarer Verfassung mit 262 zu 75 Stimmen angenommen, wobei sich die Opposition fast ausschließlich aus den Nationalisten, Unabhängigen und Angehörigen der Volkspartei zusammensetzte. Es scheint als hätten die Revolution und die Schaffung der Republik die allgemeine Unterstützung einer großen Mehrheit des deutschen Volkes genossen, obwohl Halperin der Ansicht ist, daß die meisten Deutschen, hätten sie eine Wahl gehabt, eine traditionellere parlamentarische Monarchie bevorzugt hätten. 5 Die überwältigende Zustimmung zur Republik in den Anfangsmonaten zeigt sich in der Tatsache, daß bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung am 19. Januar 1919 die drei stärksten demokratischen Parteien die Sozialdemokratische Partei, die Zentrumspartei und die Demokratische Partei - zusammen mehr als 75 % der gesamten Stimmen erhielten. Diese drei bildeten zusammen mit der Deutschen Volkspartei die „Weimarer Koalition", die erste Koalitionsregierung der Weimarer Republik.6
Ideologie erfüllt. Vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 101-102; vgl. auch diese Studie weiter unten, S. 368. Halperin, Germany Tried Democracy, S. 93. Ibid., S. 126-136. Halperin gibt eine hilfreiche Beschreibung jeder der Hauptparteien in der neu gebildeten Republik und ihres Standortes im politischen Spektrum. Darunter waren die liberale Demokratische Partei der Mittelklasse, die gemäßigt liberale Volkspartei, von Gustav Stresemann organisiert, die konservative, rechte Nationale Volkspartei, die katholische Zentrumspartei, die eine .Mittelposition" stützte und sich aus Rechten wie Linken zusammensetzte, die Sozialdemokratische Partei, die sich einer demokratischen Entwicklung und schrittweisen Annäherung an den Sozialismus verschrieben hatte, die radikalere linke Unabhängige Sozialdemokratische Partei (später bekannt als die Unabhängige Partei) und die Kommunistische Partei. Die Weimarer Zeit brachte eine Vielzahl von Parteien hervor, insbesondere gegen Ende der Republik, als die gemäßigten Mittelklasse-Parteien an Einfluß und Unterstützung im Volk verloren.
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Die Republik schien jedoch von Anfang an krisengeschüttelt. Politische Parteien schössen wie Pilze aus dem Boden, wollte sich doch jeder in seinen Interessen vertreten wissen, was jedoch dazu führte, daß keine Partei eine handlungsfähige Mehrheit erreichen konnte. So wurden die U n e n t schlossenheit und Lähmung der Weimarer Republik mit ihren endlosen Diskussionen, Debatten, politischem Schachern, Mißtrauensvoten, häufigen Kabinettsumbildungen und Rufen nach Neuwahlen Legende. Sogar Tillich, der ein starker Verteidiger der demokratischen und sogar revolutionären Kräfte war, spielt auf diese besonders in der Weimarer Zeit deutlich werdende Schwäche des demokratischen Systems an. 7 Sowohl linke wie auch rechte Gruppierungen nutzten in den späten Jahren der Republik diese Schwäche zu ihrem Vorteil. In den 20er Jahren reifte Tillichs und Hirschs bereits in den Kriegsjahren entwickeltes politisches Denken und nahm klare Formen an. Hirschs Trauer um den einigen vaterländischen Geist von 1914, seine Ablehnung derjenigen Kräfte in Deutschland, besonders der liberalen und linken pazifistischen, die seiner Meinung nach an der Zerstörung jenes Geistes teilhatten, seine wiederholte und leidenschaftliche Verurteilung des Versailler Vertrages, sein Argwohn gegen die Demokratie und die Weimarer Republik, sein Verlangen nach und Kampf für nationale Erneuerung und die Wiederherstellung der verlorenen Volksehre wurden von vielen Deutschen, Intellektuellen, Politikern
7
Zu Tillichs Eintritt in die Sozialdemokratische Partei (SPD) im Jahre 1929 und früheren Kontakten mit der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) vgl. oben, S. 43 und 54. Auch Hirschs Parteizugehörigkeit während der Weimarer Zeit ist ungeklärt. Aus dem unveröffentlichten Brief Hirschs an Karl Barth vom 9.8.1921 (auf den bereits weiter oben, S. 36, eingegangen wurde) ist ersichdich, daß er zu jener Zeit offiziell keiner politischen Partei angehörte, obwohl seine Sympathien der konservativen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) gehörten. Hirsch betont in diesem Brief an Barth, daß er gegen jeden internationalen Partei typus sei, der National und Staatsbewußtsein unterminiere. Gleichzeitig kritisiert er die DNVP wegen ihrer wirtschaftspolitischen Ansichten und Vorgehensweisen und drückt als Christ Vorbehalte und einige Enttäuschung über die Heuchelei und die Scheinheiligkeit aus, die jeder politischen Partei eigen zu sein scheinen. Hirsch an Barth, 9.8.1921, Karl Barth Archiv, Basel, von Walter Buff, Hannover, zur Verfügung gestellt. Nach Buff trat Hirsch in der zweiten Hälfte des 20er Jahre der DNVP bei (Buff an Reimer, 19.6.1980). Tillich, Auf der Grenze, S. 33-34.
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und einfachen Bürgern, geteilt und können außerhalb des Kontextes der größeren nationalen und internationalen Ereignisse nicht verstanden werden. Die „politische Theologie" der 20er und frühen 30er Jahre, deren führender Repräsentant Hirsch war, wuchs aus der Überzeugung, daß Deutschland ungerecht behandelt, von außen und innen unterdrückt und von der internationalen Gemeinschaft ausgebeutet wurde, und daß es der Weimarer Regierung am Willen fehle, dieser Ungerechtigkeit gegen die Nation ein Ende zu bereiten. Ein Hauptziel dieser neuen politisch-theologischen Bewegung war die Wiederentdeckung des Volkes als Mittelpunkt, die Befreiung des deutschen Volkes vom internationalen Joch und damit dessen Wiedergeburt.8 Tillichs Begeisterung für die Revolution, die Hoffnungen, die er in das demokratische Experiment der Weimarer Republik setzte und das Entstehen seiner politischen Theorie, in der er versuchte, die Einsichten des marxistischen Sozialismus und des Christentums zu vereinen, können ebensowenig ohne diese größeren gesellschaftspolitischen Ereignisse verstanden werden. Hirschs politisches Denken, das in Luthers Zwei-Reiche-Lehre und der Wiederentdeckung des Völkischen wurzelte, das die Menschen aller Schichten zu einer organischen Einheit zusammenbindet, und Tillichs politisches Denken, das sich mit Hilfe des Religiösen Sozialismus den sozialistischen Kräften in Deutschland anzunähern und anzupassen suchte, waren nicht die
Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 124-150. Scholder erklärt ausführlich, daß die Kategorie des Volkes, die in der Romantik des 19. Jahrhunderts bei Herder, Arndt und Fichte wurzelt, in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt und zu einem neuen ethischen Ausgangspunkt für die Theologien von Paul Althaus, Friedrich Gogarten, Emanuel Hirsch und Wilhelm Stapel wurde. Ene neue Form moderner Theologie - die politische Theologie - mit einem völlig anderen Ausgangspunkt als die vorangegangene liberale Theologie entstand. „Für Althaus und Hirsch und ihre Freunde wurde die Verantwortung für die Gemeinschaft des Volkes zur entscheidenden theologischen Aufgabe, der sich Theologie und Kirche unter keinen Umständen entziehen durften. Hier entstand ein neuer modemer Typus von Theologie: die politische Theologie. Gewiß ist jede Theologie politisch. In da' modernen politischen Theologie aber wird die politische Ethik zur Schlüsselfrage theologischen Verstehens und kirchlichen Handelns. Das ist ihr allgemeines Merkmal und Kennzeichen" (ibid., S. 130). Beim Lesen der Quellen habe ich keinen Hinweis von Hirsch selbst gefunden, in dem er seine Theologie als „politische Theologie" bezeichnet. Obwohl auch ich diesen Begriff für Hirschs Theologie gebrauche, trägt die Bezeichnung a) dem Unterschied zwischen „rechter" und „linker" politischer Theologie und b) Hirschs Beharren darauf, daß Theologie und Politik nur auf der Basis der Zwei-Reiche-Lehre miteinander in Beziehung treten können, nicht genügend Rechnung.
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einzigen Möglichkeiten, die sich den Deutschen boten. Aber sie waren zwei der wichtigeren und klareren politischen Orientierungen in diesem Jahrzehnt politischer Krisen. In diesem Teil unserer Studie untersuchen wir einige politische Schriften Hirschs und Tillichs aus der Zeit unmittelbar nach dem Krieg und während der 20er Jahre und wollen versuchen, ihre politischen Positionen bis zur nationalsozialistischen Revolution in den 30er Jahren zu verstehen.
Das Schicksal des Volkes aus Hirschs Sicht, die Aufgabe der Kirche und das Einzelgewissen In den Jahren 1918-19 schrieb Hirsch eine Reihe kleinerer Artikel, die klar in Verbindung mit der revolutionären Situation in Deutschland standen. Er kritisiert darin den revolutionären Geist, den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands, den vorherrschenden „Rauschgeist", der in seiner Naivität die Auflösung des deutschen Militarismus und Imperialismus preist und die Monarchie für den Zusammenbruch Deutschlands verantwortlich macht. Er ruft die deutschen evangelischen Christen zu nüchternem politischem Urteil auf, und fordert, die Demokratie zugunsten von König und Beamtentum abzulehnen und zu bedenken, was wahre Liebe - nach Luthers Verständnis des Neuen Testaments - in der gegenwärtigen Situation verlangt.9 In den folgenden Jahren schrieb Hirsch zahlreiche politische Artikel und Bücher, in denen er detailliert sein Verständnis von Gesellschaft, Volk, Staat, den zwei Reichen, dem Einzelgewissen als Ort von Moral und Ethik, „Deutschlands Schicksal" und der Aufgabe der evangelischen Christenheit darlegte. Die durchdachteste und bedeutendste dieser Arbeiten ist zweifellos sein 1920 veröffentlichtes Buch: „Deutschlands Schicksal. Staat, Volk und Menschheit im Lichte einer ethischen Geschichtsansicht". Auf den folgenden Seiten untersuchen wir Hirschs politische Hauptbegriffe anhand dieser Schriften aus den 20er Jahren.
Zu diesen Artikeln gehören: ,.Demokratie und Christentum", „Rauschgeist und Glaubensgeist" und „Was die Liebe tut".
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Gesellschaft In der Debatte von 1934-35 behauptet Tillich, Hirschs Unterstützung der nationalsozialistischen Bewegung zeuge von einer mangelhaften und sogar naiven Analyse der Gesellschaft. Dennoch zeigen Hirschs Schriften während der 20er Jahre, besonders „Deutschlands Schicksal", eine recht fundierte Kenntnis der marxistischen Gesellschaftsanalyse und beweisen, daß er sich ernsthaft mit der Klassengesellschaft auseinandersetzte. Selbstverständlich zog Hirsch ganz andere Schlüsse daraus als Tillich. Für Hirsch ist es gerade die marxistische Geschichtsauffassung, die den Geist von 1914 zersetzt hat, indem sie die Nation in zwei unversöhnliche Klassen gespalten sieht, wobei der Staat ein tyrannisches Werkzeug in den Händen der Kapitalisten ist und die Arbeiterklasse kein Vaterland hat. 10 Deutschlands Schicksal ist, daß diese marxistischen Ideen durch den Erfolg der sozialistischen Kräfte 1918 den Sieg über jegliche Volksidentität und Einheit davontrugen. Hirsch ist durchaus bereit, die aus dem Kapitalismus resultierenden Klassenunterschiede anzuerkennen. Obwohl er den Kapitalismus mit seiner Klassenbildung kritisiert, lehnt er den Marxismus als Lösung ab. Hirsch behauptet, dem Sozialismus mangele es an richtiger wissenschaftlicher Analyse und Gesellschaftslehre, einer klaren Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit und gerechtem Arbeitslohn. Das Produkt der Arbeit sei Eigentum des gesamten Konglomerats der Arbeiter, die völlig eigenständig Uber dessen Verteilung entscheiden sollten; es gebe jedoch keinerlei Verteilungskriterien.11 Es gebe auch keine klare Vorstellung darüber, wie eine gemeinsame Wirtschaft und Verwaltung in ihren unterschiedlichen Funktionen und Zielen aufgebaut und organisiert werden sollen. Die Sozialisten würden keine Antwort geben auf die Fragen, wie sich das Recht des einzelnen und das
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Deutschlands Schicksal, S. 109-125. Dieses einflußreiche Buch erschien erstmals 1920, wurde mit neuem Vorwort und einem zehnseitigen Nachwort 1922 neu aufgelegt und ein zweites Mal ohne große Veränderungen 1925 noch einmal publiziert. In dieser Studie wird die Ausgabe von 1925 verwendet. Ibid., S. 116.
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Recht des Ganzen ausgleiche und unter welchen Bedingungen sich eine Gemeinschaft schöpferischen Lebens entfalte. Der Sozialismus sage dem Arbeiter auch nicht, warum er befreit werden und herrschen solle. Stattdessen sollen die Massen, das Proletariat, selbst bestimmen, was mit ihrer Arbeit und deren Ertrag geschehe. So werde durch dieses Versäumnis die Verteilung den Herrschern - den Repräsentanten des Proletariats - Uberlassen. „Die Diktatur des Proletariats fordert also den Diktator, den Tyrannen. Der Bolschewismus ist keine Abirrung vom sozialistischen Ideal, sondern seine einzig folgerichtige Verwirklichung." 12 Nach Hirsch ist es die größte Illusion des Sozialismus, daß die Herrschaft des Proletariats die Menschheit befreien und veredeln werde. In Wirklichkeit führe der Sozialismus, der die ganze Gesellschaft in ein Büro und eine Fabrik verwandle, zu einer Tyrannei ohnegleichen. Der Sozialismus mache einen grundlegenden Fehler: Er erkenne nicht die treibende Kraft der Menschheitsgeschichte, deren erfinderischen, schöpferischen, ordnenden und gestaltenden Geist. All das heißt für Hirsch, daß der sozialistische Weg rundweg abgelehnt werden muß und ihm ein klares und bestimmtes soziales Ideal entgegengesetzt werden muß, dessen Grundeinsicht ist: „der Nationalstaat, der mit allen seinen Bürgern in einer Gemeinschaft der Zwecke steht, jedem von ihnen Raum schafft zu einem freien und gesunden Leben und von jedem wieder Leben und Liebe empfängt zur reicheren Entfaltung seiner Kräfte, - er ist diejenige Gestaltung menschlichen Gemeinschaftslebens, in der allein die Freiheit und Würde des einzelnen zum inneren Ausgleich kommt mit dem Recht des Ganzen." 13 Hirsch weiß natürlich auch um die Probleme, die diese Vorstellung des Nationalstaats mit sich bringt. Eines davon sind die sozialen Ungerechtigkeiten innerhalb einer Nation. Dennoch erfährt jedes Individuum seine soziale Situation als sein Schicksal, ein Schicksal, das Teil des Lebens selbst ist und sich jeder Rationalisierung widersetzt. Jedes Individuum muß mit der
12
Ibid., S. 118.
13
Ibid., S. 120.
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Ehrfurcht seinem eigenen Schicksal gegenüberstehen, die jedem Werk Gottes gebührt. Jede Nation entwickelt eine Mannigfaltigkeit inneren Lebens durch die Verhältnisse, die wiederum reiche geistige und moralische Möglichkeiten eröffnen. 1 4 Obwohl Hirsch das Privateigentum gegen den Sozialismus verteidigt, lehnt er einen unkontrollierten Monopolkapitalismus, in dem einzelne Grundeigentümer Schwächere ausbeuten und das nationale Ganze durch unbegrenzte Willkür ruinieren, entschieden ab. Aus diesem Grund ist es das Recht und die Pflicht von Nationalstaaten, die Macht des Eigentums zu begrenzen und strikten Regeln zu unterwerfen. Der Nationalstaat hat die Verantwortung, die Schwachen zu schützen und muß darauf seine Gesetzgebung ausrichten. 15 Hirsch wird recht deutlich in seiner Kritik am kapitalistischen Geist, indem er sagt, daß Grundbesitz strenger gesetzlicher Kontrolle unterliegen müsse und daß ungerechte Bodenbesitzverteilung die Ursache sozialer Ungerechtigkeit und Ausbeutung sei, was letzten Endes den Staat ruiniere. Die Überwindung des Kapitalismus - der unbegrenzten ausbeuterischen Willkür des Privateigentums - besteht nicht in der Abschaffung des Privateigentums, sondern in einer schöpferischen und flexiblen Synthese zwischen „Freiheit des Eigentums" und „Recht des Staates". Die Schaffung einer solchen Synthese wiederum ist immer ein individueller, schöpferischer Akt. Nicht jedes Volk wird gleiche Lösungen finden. In jedem Fall jedoch wird Weisheit mit strenger Gerechtigkeit verbunden werden müssen. Letztlich kann das soziale Ideal nur annähernd verwirklicht werden; es hängt vom mitleidenden und liebenden Geist des einzelnen ab, der sich getragen weiß von der Gewissensgemeinschaft in Gott (Reich Gottes). Letztlich bleiben jedoch Staat und Gesellschaft immer Ausdruck äußerlichen Lebens und gehören in das Reich dieser Welt. 16
14 15 16
Ibid., S. 121-122. Ibid., S. 123. Ibid., S. 124-125.
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Nation Die Nation ist für Hirsch die wichtigste politische Kategorie, in deren Definition er sich radikal von sozialistischen Theorien und damit auch vom politischen Denken seines Freundes Tillich unterscheidet. Theoretisch unterscheidet Hirsch zwischen „Nation" und „Volk", obwohl beide Begriffe eng miteinander verknüpft sind. „Volk", als der „Nation" Ubergeordnet, bezieht sich auf Menschen gemeinsamen biologisch-rassischen, kulturellen, ethnischen, sprachlichen und religiösen Ursprungs. Es ist mehr als eine biologischrassische Ganzheit, aber Blutsverwandtschaft ist ein wichtiger Bestandteil der Gruppenidentität. Familie und Stamm werden groß geschrieben. Das Wort „Nation" bezieht sich auf dieses „Volk", insofern es sich sozial, politisch wie historisch seiner Gruppenidentität bewußt geworden ist. Obwohl Hirsch sich bemüht, diese Unterscheidung durchzuhalten, neigt er dazu, beide Begriffe zu vermischen. In „Die Liebe zum Vaterlande" von 1924, definiert Hirsch Vaterland und Vaterlandsliebe. Menschliche Individuen, sagt er, wachsen nicht isoliert auf wie Blumen, wild und bunt gemischt -, sondern werden in eine Volksgemeinschaft hineingeboren und wachsen in ihr auf. Dies ist eine geschichtliche Tatsache, die den einzelnen prägt und ihm als ein ihn bestimmendes, in eine lebendige Lebensgemeinschaft einbindendes Gesetz bewußt wird. Ein Nationalitätenwechsel ist daher ein langsamer und schmerzvoller Prozeß, der sich erst in nachfolgenden Generationen vollenden kann. Viele würden eher sterben, als ihre Nationalität wechseln. Der Volkscharakter formt die Seele oder Persönlichkeit des einzelnen, wodurch die Entfremdung von der eigenen Nation der Selbstentfremdung nahe kommt. 1 7 Sein Vaterland gegen ein anderes auszutauschen, hieße, seine Seele preisgeben und dafür eine andere aufbauen. Das heißt jedoch nicht, daß eine Seele, z.B. die deutsche Seele, besser ist als eine andere, sondern eben anders.
Die Liebe zum Vaterlande, in: Pädagogisches Magazin, Heft 975, Langensalza 1924, S. 5-31, hier: S. 12.
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Vaterlandsliebe ist nichts anderes als Nationalgefühl. Das Volksleben wird zum eigenen Leben. Das Leben der Väter und ihre Geschichte sind in und über uns mächtig. „So ist Nationalgefühl die Wurzel alles geschichtlichen Bewußtseins der Menschheit." 18 Dieser Respekt vor der Vergangenheit motiviert Menschen zu großen Taten in der Gegenwart. Das Nationalbewußtsein bindet uns innerlich auch an den Staat und schafft in uns ein Staatsbewußtsein, denn: „Soll nämlich ein Volk sein Leben ganz dem ihm eigentümlichen Gesetz gemäß entfalten, so muß es in einem unabhängigen Staat zusammengesetzt sein ... Man kann nach allem nicht seines Volkes Leben als eigenes Leben spüren, ohne daß die Sache des Staates einem zur eigenen Sache wird." 19 Die große Gefahr der neueren Wirtschaftsentwicklung liegt, so meint Hirsch, in der Aufspaltung der Menschheit in zwei Klassen oder Kasten - Herren und Diener, internationale Kapitalisten und internationales Proletariat. Die Nation muß diese Spaltung überwinden. So schaffen analog in begrenztem Sinne Nationalstaaten im irdischen Bereich, was das Christentum im ewigen Reich vollendet - eine klassenlose Gemeinschaft. „So kommt die Scheidung der Menschheit in Nationalstaaten gewissermaßen dem Christentum entgegen, das auch nicht Knechte noch Freie kennt." 20 Letztendlich gleicht der Nationalstaat einem lebendigen und dynamischen Organismus, dessen Teil wir sind und den wir als Gesetz erfahren, dem wir wie das Teil dem Ganzen unterworfen sind. 21 Erst in seinen Beziehungen zu
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Ibid., S. 9. Ibid., S. 10. Ibid., S. 11-12. Deutschlands Schicksal, S. 79-93. Hier ist festzuhalten, daß auch Tillich den Vergleich mit dem Organismus für das Individuum und die soziale Gruppe heranzieht. Tillich betont jedoch mehr als Hirsch die Gefahren einer Gleichsetzung gesellschaftlicher Gruppen mit biologischen Organismen: „Aber die Individuen, die diese Organismen bilden, stellen jeweils eigene unabhängige Einheiten dar, und darum können sie den sozialen Organismen, zu denen sie gehören, Widerstand leisten. Damit kommen wir an den Punkt, an dem die Verwandtschaft zwischen biologischen und sozialen Organismen aufhört. In einem biologischen Organismus sind die Teile nichts ohne das Ganze, zu dem sie gehören. Das trifft aber auf soziale Organismen nicht zu. Zwar kann das Schicksal eines Einzelnen, der außerhalb seiner Gruppe lebt, recht jämmerlich sein, aber diese Trennung bedeutet nicht unbedingt die Vernichtung seiner Existenz. Ein Glied, das von seinem lebendigen Organismus abgetrennt wird, muß dagegen verwesen. Insofern ist also keine menschliche Gruppe ein Organismus im biologischen Sinne. Das gilt sowohl für die Familie wie für ein Volk. Diese Feststellung ist in politischer Hinsicht
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anderen Nationalstaaten können wir ihn als organische Einheit verstehen. Dann nimmt er plötzlich die Form eines lebendigen Wesens, einer Persönlichkeit neben anderen Persönlichkeiten an. „Zu jedem Staate gehört ein Land, ein Stück dieser Erde, das gerade er und kein andrer im Besitz hat, und das sich von jedem andern Stück Erde unterscheidet. Und zu jedem Staat gehört eine Bevölkerung, eine Gruppe von Menschen, die gerade in ihm und in keinem andern leben und ihre Besonderheit haben gegenüber jeder andern Gruppe."22 Dieses Land, dieses Volk sind in einer Lebens- und Willenseinheit zu einem unabhängigen Ganzen zusammengeschlossen, das sich durch seine Eigenart von fremden „Einheiten gleichen Ranges" unterscheidet Dieser Geist und Wille als Ausdruck eines bestimmten Wesens und Lebens sind immer „Geist und Wille eines bestimmten Volkes. Staatseinheit ist ohne Nationaleinheit nicht denkbar." 23 Selbst wenn viele Völker und Stämme in ein gemeinsames Leben zusammengebunden sind, bedarf es eines dominanten, den Staatsgedanken tragenden Volkes, das den Staat zurecht als sein Werk betrachtet. Nur in dem Maß als diese herrschende Gruppe in der Lage ist, die anderen Gruppen in sich als einem umfassenden nationalen Ganzen einzugliedern, wird der Staat dauernden Bestand haben. Diese Interpretation von Staat und nationaler Einheit ist notwendig, soll der Staat als freiwillig bejahte Lebensgemeinschaft verstanden werden und so aufhören, eine Zwangsgewalt zu sein.
22 23
von besonderer Bedeutung. Wo mit Vorliebe von gesellschaftlichen Organismen gesprochen wird, geschieht das gewöhnlich mit einer reaktionären Tendenz. Man will Gruppen mit unabhängiger Denkweise am Zügel halten, und zu diesem Zwecke verwendet man eine biologische Metapher im wörtlichen Sinn. ... So ist der Staat oft betrachtet worden, als ob er wie ein Individuum Gefühle, Gedanken und Pläne hegen sowie Entscheidungen treffen könnte. Aber dabei wird ein Punkt übersehen, der solche Gleichsetzung nicht zuläßt: der soziale Organismus hat keine organische Mitte, in der das Sein des Ganzen in einer solchen Weise zusammengefaßt ist, daß zentrale Erwägungen und Entscheidungen möglich werden" (Tillich, Liebe, Macht, Gerechtigkeit, S. 202-203). Deutschlands Schicksal, S. 79-80. Ibid., S. 80.
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Recht, Staat und Moral Dies führt uns zu Hirschs Rechts- und Staatsbegriff. 24 Der Staat ist für Hirsch die Vereinigung der verschiedenen Volksgruppen zu einem bestimmten Lebenswillen in den Formen des inneren und äußeren Rechts: „Soweit ein Staat dieser Wesensbestimmung entspricht, ist er mit jedem seiner Bürger in einer innerlichen von dem eigentümlichen nationalen Geist getragenen Gemeinschaft der Zwecke verbunden. In der allgemeinen Sache ist meiner, des einzelnen, Zweck mit enthalten." 2 5 Der Staat weiß sich selbst als Schuldner gegenüber jedem seiner Bürger, „sofern er ihm die Möglichkeit eines freien und gesunden, von individuell-sittlichem Gehalt erfüllten Lebens zu gewähren hat." 26 Umgekehrt weiß der Bürger, daß das Leben des Staats das seine ist, dem er sich hingibt und freudig staatliche Pflichten auf sich nimmt. Der Staat ist das Werkzeug und der Wille, mittels dessen das Recht konkrete Gestalt annimmt. Recht hat drei Grundzüge: (1) es hat eine innere Majestät, eine Macht, die über jedem individuellen menschlichen Einzelwillen steht, eine die Menschen bindende und verbindende Macht; (2) es hat eine Selbstherrlichkeit, die ihm jedes Individuum Untertan macht; wer immer sich dem Recht nicht unterordnen will, muß bereit sein, sich aus der menschlichen Gesellschaft zurückzuziehen, denn alle Freiheit der Gesellschaft ruht im Rechtsprinzip (in diesem Sinn befreit und begrenzt das Recht den einzelnen); (3) die Quelle der Hoheit und Autorität des Rechts ist das über-individuelle Ziel, auf das es gerichtet ist - nämlich, daß es alle Beziehungen zwischen Menschen durch den Gedanken der Gerechtigkeit bindet; es schafft eine Einheit und einen Lebenszusammenhang, in dem gesellschaftliche Existenz erst ihren Charakter wahrer Gemeinschaft erhält. 27 Der Staat ist das Mittel, die Machtstruktur, durch die dieser abstrakte Rechtsbegriff konkret wird. Einfach gesagt ist der Staat durch zwei
24 25 26 27
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
S. S. S. S.
64-79. 109. 110. 65-66.
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Wesenszüge charakterisiert: (1) Er ist wirkliche Macht und hat die Mittel, den Willen des Volkes durch Zwangsanwendung durchzusetzen; und (2) er ist eine Persönlichkeit im konkreten Sinn, die nur als Schöpfung gewaltiger Persönlichkeiten hat entstehen können. Er ist ein gut geordneter, fester und dauerhafter Verband, die Zusammenfassung einer zerstreuten Mannigfaltigkeit zu einer permanenten Lebens- und Willenseinheit.28 Daher gibt es eine Durchdringung von Staat und Recht, die einzelne Mitglieder in einer höheren Verbindung von Rechten und Pflichten vereint. Recht und Staat können nur in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit Bestand haben. Der Staat ist die Bedingung jeden wahrhaft menschlichen Lebens, allen Friedens und aller Freiheit, die in der Macht des Staates, das Recht zu schützen, wurzelt. Gerechtigkeit ist nicht etwa ein Kodex politischer Definitionen, sondern eine Norm oder moralische Kategorie, anhand der gegebene Situationen oder Verhältnisse kritisch beurteilt werden; sie gibt uns jedoch kein positives und konkretes Bild einer vollkommenen Rechtsordnung.29 Auch Freiheit, eine ähnliche kritische Norm, ist ein Moralbegriff. Freiheit scheint dem staatlichen Zwang zur Durchsetzung des Rechtes zu widersprechen. Daher muß zwischen sittlicher und äußerer Freiheit unterschieden werden. Die vom Recht geschützte Freiheit ist die äußere Freiheit (libertas in externis).30 Ist es legitim, sittliche Freiheit zu gefährden, um die äußere Freiheit anderer zu schützen? Hirsch beantwortet die Frage positiv, indem er zeigt, wie Staat und Recht einerseits, Sittlichkeit und Freiheit andererseits in ihrem scheinbaren Gegensatz widerspruchsfrei nebeneinander stehen können. Er löst das Dilemma, indem er sie zwei verschiedenen Bereichen menschlicher Erfahrung zuordnet: Staat und Recht haben mit äußerer Gerechtigkeit, Freiheit und Pflicht zu tun; Sittlichkeit entspringt dem höheren Bereich sittlicher Gerechtigkeit und Freiheit, der jenseits äußerer Ordnungen und Strukturen liegt. Diese beiden Bereiche sind nicht völlig voneinander geschieden, denn Staat und Gesetz sind
28 29
Ibid., S. 67. Ibid., S. 68-69. Ibid., S. 68. Da jedes Individuum seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit nur innerhalb des Willens der gesamten Gemeinschaft findet, ist die Unterordnung des einzelnen unter die Gesellschaft und den Staat notwendig zur Erhaltung der Freiheit aller.
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getragen von etwas Höherem, aber unfähig, dieses Höhere in äußere Strukturen umzusetzen. Wir müssen daher zwischen der auf Zwang gegründeten Rechtsordnung des Staates und der auf innerer Überzeugung gegründeten Liebesordnung des Gottesreiches unterscheiden. In einem kurzen, aber bedeutenden Aufsatz mit dem Titel: „Demokratie und Christentum" betont Hirsch, daß das Evangelium uns keine direkten Leitlinien für die beste Staatsform oder ihre Verfassung gibt. 31 Obwohl das Neue Testament verlangt, daß wir der regierenden Obrigkeit Untertan sein sollen, sagt es uns nicht, wie diese Autorität aufgebaut sein soll. So kann die Behauptung, die Monarchie sei die beste Regierungsform für Deutschland (was Hirsch selbst vertritt), sich nicht auf das Evangelium direkt berufen. Diese Überzeugung beruht auf der Einsicht in die besondere Situation Deutschlands. Dennoch weist uns das Evangelium wenigstens indirekt einen Weg. Zweierlei kann im Sinne des Neuen Testaments über das Wesen des Staates gesagt werden. Zum einen steht der Staat über uns in dem Sinne, daß er eine Ordnung Gottes ist, ohne die eine geordnete menschliche Gemeinschaft unmöglich wäre und durch die Gott seine Absichten mit der Menschheitsgeschichte verwirklicht. Der Staat ist mehr als die Summe seiner lebenden Bürger. Er gehört nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit und der Zukunft an. Gegenwärtig lebende Bürger müssen in ihrer politischen Ordnung die Vorstellungen ihrer Vorfahren und die Freiheit ihrer Kinder und Enkel respektieren. Der Fehler der Demokratie liegt in der Annahme, Politik sei immer Ausdruck des Mehrheitswillens. Aufgrund des Liebesgebots ist zweitens der Staat Schuldner jedes einzelnen seiner Bürger, besonders der geringsten und ärmsten unter ihnen. Vor allem hat der Staat dafür Sorge zu tragen, daß alle Menschen ein gesundes Familienleben fuhren und ihre Kinder in bescheidenen, aber gesunden Heimen großziehen können. Abertausenden fehlt die Möglichkeit zu einer solchen Existenz, und keine noch so große selbstaufopfernde Liebe einzelner kann
Demokratie und Christentum, in: Der Geisteskampf der Gegenwart 54,3 (1918), S. 5760.
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daran etwas ändern. Nur der Staat mit dem Gesetz kann wirtschaftlich ausbeuterische Kräfte daran hindern, die Schwachen ihrer Menschenwürde und ihres Daseinszweckes zu berauben. Christliche Liebe verlangt daher starken Widerstand gegen Demokratie. Je demokratischer ein Staat ist, um so abhängiger ist er von großen Wirtschaftsmächten und um so weniger soziale Gerechtigkeit ist von ihm zu erwarten. Wahre Freiheit überschreitet die Freiheit zu politischen Wahlen. Christliche Freiheit ist ein unsichtbares geistiges Gut - die Macht eines freien Herzens, mit dem lebendigen Gott in Beziehung zu treten und weltlichen Ordnungen aus einem liebenden Gewissen heraus zu dienen. Evangelische Christen sollten sich dem Staat bereitwillig hingeben und ihn damit als göttliche Ordnung und nicht nur als menschliche Schöpfung ehren. Daher glaubt Hirsch, daß „ein ernster Christ im gegenwärtigen Streit eintreten soll für König und Beamtentum und gegen ein demokratisches Regiment." 32 Ein Christ wird dies mit gutem Gewissen nur dann tun können, wenn er auf einen Staat hinarbeitet, der getragen ist vom Geist sozialer Gerechtigkeit im Wirtschaftsleben und der seine Bürger vor äußerlicher Knechtung in eine unterdrückte und elende Existenz schützt.
Zwei Reiche Hirschs Unterscheidung zwischen den zwei Bereichen menschlicher Erfahrung - dem geistigen und dem irdischen - gründet in Luthers Unterscheidung zwischen dem ewigen und dem zeitlichen Reich. Es kann nicht einfach zwischen Individuum und Gesellschaft unterschieden werden, denn das Ewige, Sittliche gilt auch für die Gemeinschaft und Gesellschaft. Es ist eine „Gemeinschaft der Gewissen", eine wirkliche, keine abstrakte Gemeinschaft. Es ist eine Gemeinschaft in Gott und zu Gott, in der jedes Einzelgewissen seine Freiheit behält. Sie ist international und überzeitlich, eine
3 2
Ibid., S. 59.
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einzige Kirche Gottes für die gesamte Menschheit. 33 Irdische Gemeinschaften können in diesem Sinne nicht universal sein, sondern unterscheiden sich äußerlich als Nationen, Staaten und Gesetze, als die n o t w e n d i g e n Erfordernisse menschlich-geschichtlicher Existenz. Hirsch beschreibt die Unterscheidung zwischen diesen beiden Bereichen wie sie zuerst von Luther und dann später von Fichte vorgenommen wurde: Staat und Recht gehören ins irdisch-natürliche Leben, das Reich Gottes dagegen ist eine geistliche Größe, ist die als lebendig-wirkende Macht empfundene Gemeinschaft der Gewissen in Gott. Diese Scheidung ist die große Erkenntnis Luthers. Er hat die mittelalterliche Auffassung, daß der Staat seinem Wesen nach ein Glied am Leibe der Christenheit sei, zerbrochen und den Staat rein als Größe der Schöpfungsordnung verstanden. Und diese Erkenntnis Luthers ist dann von Fichte in seiner Weise noch einmal neu gefunden worden. Vor ihm hat man Rechtslehre und Sittenlehre wohl technisch unterschieden, aber einen prinzipiellen Unterschied von Recht und Sittlichkeit nicht wahrgenommen. Fichte aber hat seine Rechtslehre gerade auf den Gedanken aufgebaut, daß Recht und Sittlichkeit zwei ganz getrennte geistige Welten seien, jede ihren eignen inneren Gesetzen folgend und keine am Maßstab der andern zu messen. Beide Männer sind gerade auf diese ihre Entdeckung besonders stolz gewesen, und das nicht ohne Grund. Wer Uberhaupt menschliches Leben verstehen will, muß ihnen hier folgen. Es ist völlig verfehlt, den Staat und sein Recht dadurch rechtfertigen zu wollen, daß man zeigt, wie man ihn doch noch zum Reiche Gottes umbilden könne. Entweder, man kann ihn gerade auch in seinen der Sittlichkeit widersprechenden Zügen als notwendige Ordnung unsers irdischen Daseins begreifen, oder, man hat ihn als eine zu Uberwindende niedere Stufe menschlichen Gemeinschaftslebens zu beseitigen. 3 4 Hirschs Kritik an Anarchie, demokratischem Pazifismus und kommunistischem Sozialismus in all ihren Erscheinungsformen beruht letztlich auf seiner Überzeugung, daß sie diese beiden Bereiche vermengen. Jede dieser Weltanschauungen behauptet auf ihre eigene Art und Weise geschichtlich zu verwirklichen, was immer unsichtbare Wirklichkeit bleiben muß. Für Hirsch kann die Gewissensgemeinschaft in Gott, die die tiefste aller menschlichen Gemeinschaftsbeziehungen ist - der wahre Ort echter Freiheit und Liebe -,
33 34
Deutschlands Schicksal, S. 49-63; vgl. bes. S. 59 ff. Ibid., S. 72.
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niemals in einer äußeren Ordnung sichtbar werden. 35 Aus diesem Grund lehnt er auch Tolstois Interpretation der Bergpredigt ab. In einem Abschnitt über „Tolstoi und das Evangelium" in: „Deutschlands Schicksal" (S. 125-141) kommt Hirsch zu dem Schluß, daß Tolstoi Jesus und das Evangelium mißversteht. Indem er Jesu Lehren als Kritik an Staat, Recht und Nation betrachtet, versteht Tolstoi Jesu Unterscheidung zwischen den beiden Reichen nicht. Entgegen Jesus glaubt Tolstoi, daß das Gottesreich in der Geschichte errichtet werden kann. 36 Wer immer Jesu Lehren ernst nehmen will, muß verstehen, daß die Bergpredigt das Herz und das Gewissen anspricht, um von daher sein Leben und seine Pflicht in Staat und Gesellschaft zu erfüllen. Das vielleicht Wichtigste an Hirschs Sicht der Zwei Reiche - der unsichtbaren Gewissensgemeinschaft in Gott und der sichtbaren Gemeinschaft von Recht, Volk und Staat - ist, daß, obwohl die beiden niemals vermengt werden dürfen, sie sich doch an einer Stelle berühren. Dies ist einer der schwierigsten Aspekte in Hirschs politischem Denken. Um zu verstehen, wie sich diese beiden unterschiedlichen Bereiche in jedem Akt des Entscheidens treffen, muß man Hirschs Geschichtsbegriff, den er seine „theistische Geschichtsansicht" nennt, erläutern. 37 Für Hirsch hat die menschliche Geschichte Doppelcharakter: einen metaphysischen Kern (der sich im Gottesbegriff ausdrückt) und einen konkreten geschichtlichen Ausdruck dieses metaphysischen Kerns. Jede geschichtliche Realität besteht nur durch die Tatsache, daß in sie eine Ubergeschichtliche Realität geheimnisvoll eingewoben ist. Keine irdische Realität kann jedoch jemals reiner Ausdruck dieses übergeschichtlichen und metaphysischen Kerns sein. 38 Der Ursprung alles menschlichen Handelns, die sittliche Entscheidung, wird durch geschichtliche Umstände eingegrenzt. Die Normen, nach denen wir Entscheidungen treffen, erwachsen aus und sind bedingt durch Kultur, Volkszugehörigkeit, Erziehung und persönliches Schicksal, weshalb niemals zwei Personen völlig übereinstimmen werden. Diesem geschichtlich bedingten
3 5 3 6 3 7 3 8
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
S. S. S. S.
126. 138. 9-25. 16.
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und zufälligen Aspekt wohnt jedoch ein Ubergeschichtlicher Grund, ein ewiger Wille, das Unbedingte, der Herr der Geschichte inne. Hinter unseren sittlichen Normen steht ein heiliger Wille, dem wir gehorsam sein müssen: „Aus der Gewißheit ihrer Bezogenheit auf ein Ewiges heraus eint sich eine individuelle Seele mit diesem Ewigen durch Bejahung einer bestimmten
Pflicht."39
Deshalb ist unser Wissen immer menschlichem und geschichtlichem Wandel unterworfen und unsere Auffassungen können niemals reiner Ausdruck der Ubermenschlichen Notwendigkeit sein, sondern nur Allegorien dieser verborgenen Tiefe, die sich unserem Geist aufdrückt. Der menschliche Geist kann jedoch eine grundlegende Gewißheit seiner essentiellen Beziehung zur ewigen Wahrheit in sich haben. 4 0 Nur durch die Tatsache, daß der menschliche Geist eine innere Beziehung zum endgültigen, unbedingten, heiligen Willen jenseits seiner selbst hat, hat er Festigkeit, Leben und schöpferische Macht. Der Einfluß der „Gewissensgemeinschaft" auf die „irdisch organisierte Gemeinschaft" ereignet sich so durch die sittliche Entscheidung von einzelnen, die zu einer höheren Moral erweckt wurden. Solche Individuen werden ihre Kraft der Verbesserung von Einrichtungen und Gesetzen des Staates, der Annäherung an die großen Ideen von Gerechtigkeit, persönlicher Freiheit, Gesundheit und Natürlichkeit aller Beziehungen im irdischen Bereich widmen, ohne dabei einen Bereich zugunsten des anderen einzuschränken. Die Gewissensgemeinschaft wird also durch einzelne, die an ihr teilhaben, indirekt die äußere Gesellschaft beeinflussen. Jede ethische Kritik an besonderen Rechtsformen muß „die einmal gesetzten allgemeinen Daseinsbedingungen von Recht und Sitte auf dieser Welt [ehren] und nicht etwa Gottes Schöpfung selbst zu verbessern" unternehmen.41 Die unsichtbare Gewissensgemeinschaft und die sichtbare Gemeinschaft von Staat und Gesellschaft stehen daher in dynamisch-paradoxer Beziehung zueinander. „Man versteht die Geschichte nicht, wenn man sie nicht sieht als ein konkretes Ineinander irdisch-natürlichen Lebens mit ethisch-religiösem. 3 9 4 0 4 1
Ibid., S. 17. Ibid., S. 20. Ibid., S. 62.
Beide Seiten gehören zur Geschichte
im
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eigentlichen, im wahren Sinnet2
Die ethisch-religiöse Sphäre, in der es ein
unmittelbares Verhältnis zum ewigen Jenseits der Geschichte gibt, erscheint in der Geschichte durch das Einzelgewissen. Diese innerliche, geistige Motivation des einzelnen hat zwar eine indirekte Auswirkung auf das Politische. Dennoch bietet sie nicht direkt die politischen Normen, mit deren Hilfe die Gesellschaft geformt werden kann. Wegen dieser „theistischen Geschichtsansicht" führt Hirschs Trennung der zwei Reiche nicht zu einer unversöhnlichen Aufspaltung der menschlichen Persönlichkeit. Menschen partizipieren am allumfassenden Handeln Gottes durch die Ausübung des Staatsrechts, in dem jede Person nicht als Individuum für sich selbst, sondern für das Wohl des Ganzen handelt. Der einzelne bezeugt durch die Art, in der er seine gottgegebene Aufgabe entweder zu seinen Gunsten oder zum Wohle der Gesamtheit ausübt, ob er der Gewissensgemeinschaft angehört oder nicht. Das Gottesreich ist ein anderer Name für die Gewissensgemeinschaft, jene geistige Macht, die die Gesinnung formt und von der eine schöpferische, wirkende Macht in die Welt und das geordnete weltliche Leben strömt. „Staat und Gesellschaft leben in jeder ihrer Gestalten davon, daß in ihnen Menschen selbstlos, hingebend und wahrhaft gerechten Sinns den auch die natürlichen Daseinsbedingungen zerstörenden Kräften des partikularen Egoismus sich entgegenstellen und so, nach dem Worte der Bergpredigt, zum Salz der Erde werden. Das Reich Gottes ist das lebenspendende Geheimnis über allem sichtbaren Wandel der Geschichte."43 In seinem Werk: „Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens" legt Hirsch dar, daß zwei Auffassungen hinter dem modernen Staatsbegriff stehen, die beide im reformatorischen, besonders in Luthers und Calvins Denken wurzeln. Die erste Annahme modernen gesellschaftlichen Denkens ist der Wert der „autonomen sittlichen Persönlichkeit", durch die alle Menschen ein gleiches Recht auf unbedingtes, unabhängiges Sein haben. Das ist die grundlegende kritische Norm jeder Rechtslehre. Obwohl der negative Aspekt dieses Werts sich in der modernen Geschichte gezeigt hat, ist die
42 43
Ibid., S. 62. Ibid., S. 126.
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Persönlichkeitsidee noch immer die höchste gültige Norm unserer Rechtsvorstellung. Wir werden und sollten weiterhin jedes gegebene Gesetz an ihr messen. 4 4 Obwohl er in der Renaissance wurzelt, fand dieser Persönlichkeitsbegriff erst in der Reformation, besonders bei Luther, seinen wichtigsten Ausdruck. Nur Luther erfaßte die Freiheit von irdischer Gemeinschaft einerseits und die ethische Bindung an diese Gemeinschaft andererseits. Seine bislang unübertroffene Lösung beruht auf seinem sittlichen Pessimismus gegenüber der geschichtlichen Wirklichkeit. Da die meisten Menschen brutal und selbstsüchtig sind, bedarf es einer äußeren Ordnung mit vollstreckender Gewalt, dieser Selbstsucht Einhalt zu gebieten. Nur dadurch ist die Bedingung für die Entwicklung eines höheren persönlich freien Lebens gegeben. Das zweite grundlegende Element jeder modernen Staatslehre ist die vollendete sittlich-religiöse Gemeinschaft: das Reich Gottes oder Christi. Der Reichgottesgedanke ist das „unruhige Element" in der Geschichte der modernen Staatslehre. Wieder war es Luther, der am besten das Wesen dieser idealen sittlichen Gemeinschaft verstand. Einerseits war das Reich Gottes für ihn eine himmlische Realität, eine Vereinigung von Seelen in ewiger Liebe und ewigem Leben. Andererseits ist dieses Reich, das nur im Jenseits vollendet sein kann, bereits auf verborgene Weise im irdischen Leben gegenwärtig. Es ist, wie in der Bergpredigt beschrieben, eine geistige Macht im menschlichen Gewissen, die die Menschen zu einer lebendigen Gemeinschaft zusammenbindet. Diese internationale Liebesgemeinschaft steht allen irdischen Ordnungen, vor allem den Staaten, die das Reich der Welt bilden, gegenüber. 45 Hirsch untersucht die drei modernen Ansätze in der Staats- und Reichgotteslehre: den britischen liberal-utilitaristischen, den französischen utopisch-sozialistischen und den deutschen idealistisch-humanistischen. Was den deutschen von Luther und Fichte formulierten Ansatz von den anderen unterscheidet, ist, daß in ihm die beiden Reiche unterschieden, aber nicht völ-
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45
Hirsch, Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens. Ein Versuch zur Geschichte der Staats- und Gesellschaftsphilosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1921, S. 6. Ibid., S. 7-8.
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Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
lig getrennt voneinander sind, wie im britischen Liberalismus, oder zusammenfallen, wie im französischen Sozialismus. Dieser Zugang erkennt an, daß das Reich Gottes und das Reich der Welt zwar unterschieden sind, sich jedoch gegenseitig beeinflussen. S o haben sowohl die Freiheit des einzelnen vor Gott als auch die Legitimation des Staates und der Gesellschaft als autoritative, bindende, irdische Gemeinschaften einen Wert. Der Dualismus zwischen den beiden besteht nur in der äußeren Erscheinung, nicht aber im Wesen. Die Teilnahme an den natürlichen Ordnungen ist die Verwirklichung des moralischen Willens selbst als Voraussetzung der sittlichen Gemeinschaft. 46
Deutschlands Schicksal und die Aufgaben des Christentums
Hirsch wendet seine Theorie von Recht, Staat, den zwei Reichen und der sittlichen Entscheidung direkt auf die deutsche Situation während der Weimarer Zeit an. Ausgehend von seiner Theologie und politischen Theorie fordert er die Deutschen dazu auf, sich vorbehaltlos der nationalen Erneuerung zu widmen, ohne dabei die Nation zu vergöttlichen. Wie dies einem Christen möglich ist, erklärt er in seinem Aufsatz „Die Liebe zum Vaterland" von 1924.
46
Ibid., S. 28. In seiner Besprechung dieses Buches erkennt Tillich Hirschs Kritik an der britischen utilitaristischen Auflösung der kritischen Bedeutung des Reich-GottesBegriffs und der Säkularisierung des Begriffs im Sozialismus an, aber versteht nicht, wie diese Kritik auf den Religiösen Sozialismus zutreffen soll, besonders in seiner durch Karl Barth beeinflußten Form. Tillich verwahrt sich dagegen, daß Hirsch den Religiösen Sozialismus in einen Topf mit anderen sozialistischen Theorien wirft. Er kritisiert auch, daß Hirsch einen vierten Typ nicht analysiert: die konservative Gesellschaftstheorie, in der sich die typisch lutherische Haltung am klarsten historisch ausgedrückt hat. Er schreibt: „Es wäre außerordentlich interessant gewesen, zu sehen, wie Hirsch sich von seinem lutherischen Standpunkt aus den teils mittelalterlich-feudalistischen, teils militaristisch-machtpolitischen Konsequenzen dieses Standpunktes entzogen hätte" (vgl. Tillich, Hirsch: Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens, Theologische Blätter 1, 1922, S. 42-43; hier: S. 43). Nach Tillich ist die Reich-Gottes-Idee, die er als die Verwirklichung des Unbedingten im gesellschaftlichen Leben beschreibt, das erregende Element nicht nur in den westlichen, sondern in allen Staatstheorien. Hirsch, sagt er, habe sich zu sehr auf das reformatorische Denken beschränkt. Die Rolle des Katholizimus, der Sekten, der Renaissance in ihrem Einfluß auf das Wirtschaftsleben und die sozialistische Reaktion darauf, wären Themen, deren Behandlung der Vertiefung dienen könnten. Tillich ermutigt Hirsch, in weiteren Auflagen seine Betrachtungen dahingehend zu ergänzen (S. 42-43).
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Die Liebe zum Vaterland ist nur dann wahrhaft sittlich, wenn sie von der ganzen Person als Gehorsam und Unterwerfung unter Gott einerseits und als unbedingtes und vorbehaltloses Eintreten für eine irdische Realität andererseits verwirklicht wird: „Eben dies ist die Unbedingtheit, die der Vaterlandsliebe eignet, daß sie nichts Irdisches als gleichberechtigt neben sich duldet. Sie will den Menschen und seine Kraft ganz, ohne Vorbehalt."47 Wäre es dem Ewigen möglich, wie eine weitere irdische Realität neben dem Irdischen zu stehen, wäre eine heilige Vaterlandsliebe unmöglich, ohne damit das Ewige zu zerstören. Das aber kann nicht sein. Dies bedeutete eine Vergegenständlichung des Ewigen und hätte eine gebrochene Haltung zum Vaterland zur Folge. Tatsächlich muß jedoch das Ewige ganz anders verstanden werden. Wir können unsere Zeit und unsere Kräfte nicht auf diese Weise zwischen Gott und der Welt aufteilen. In unseren sittlichen Entscheidungen müssen wir ganz Gott und seinem Reich angehören. Dadurch erkennen wir Gottes Willen für uns in der Welt. Der Gott, dem uns zu geben wir uns entschieden haben, ist auch der Gott, der uns in der Welt umfängt und der die Welt erhält. Wir können ihm nicht treu sein, ohne unsere irdische Pflicht zu erfüllen. , Jedes irdische Verhältnis ist nun aus und zu Gott - wenn wir die rechte Entscheidung treffen." 48 In unserer rückhaltlosen irdischen Liebe zum Vaterland sind wir letztlich vorbehaltlos Gott treu, der seine geschichtlichen Absichten durch Völker und Staaten erfüllt. Es ist dennoch wichtig, sagt Hirsch, sich daran zu erinnern, daß Gott nicht nur dem eigenen Volk und dem eigenen Staat das Recht über die Herzen seiner Mitglieder gegeben hat. Das eigene Volk ist nur ein mächtiger Lebensaspekt in der Weltgeschichte. Daher hat kein Volk das Recht, Uber die Menschheit und die Geschichte unbeschränkt und willkürlich zu verfügen. Jede Nation muß zu ihrer gottgegebenen Aufgabe in der Weltgeschichte beitragen und darf dabei nicht vergessen, daß in der Weltgeschichte eine Gerechtigkeit herrscht, die über jeder einzelnen Nation steht. Sie darf auch
4 7 4 8
Hirsch, D i e Liebe zum Vaterlande, S. 20. Ibid., S. 23.
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nicht vergessen, daß jede Nation vergänglich ist und untergehen wird. Schließlich beherrscht der Tod die Nationen.49 Hirsch hat den Staat als höchstes irdisches Gut eines Volkes, als die Form, in der allein das Leben, die Freiheit und die Entwicklung eines Volkes erhalten bleibt, beschrieben. Er hat die vorbehaltlose irdische Liebe, die ein Vaterland legitimerweise seinen Bürgern abverlangen kann, erklärt. Doch Hirsch hat das Gefühl, daß nun, während der Weimarer Zeit, Deutschland nicht länger ein Staat in diesem Sinne ist. Er hat aufgehört, eine geschichtlich wirksame, lebendige und unabhängige Macht zu sein. Was bleibt, ist der Schatten eines Staates und eines Volkes. Versailles hat Deutschlands Freiheit genommen und bedroht es in seiner Existenz. Darüber hinaus haben deutsche Bürger nicht die Liebe zum Vaterland, die Gott von ihnen erwartet. Dennoch ist der deutsche Geist nicht völlig erloschen und lebt in einigen Menschen noch fort. Es ist der Geist der Jahre vor 1914, der 1918 größtenteils vom revolutionären deutschen Geist verdrängt wurde. Das Ziel im Deutschland nach dem Kriege, der Revolution und der Versailler Versklavung muß die Wiedergewinnung jenes Geistes sein, der durch den Krieg verloren ging - der Wiederaufbau eines „selbständigen Staat[es], der uns schützt vor fremder Willkür und Ausbeutung und unserm Volk zu einem Eigenleben und einem gesicherten Wirken im Ganzen der Menschheitsgeschichte verhilft."50 „Der Staat muß wieder ein geschlossener Wille, eine geschlossene Persönlichkeit werden."51 Unglücklicherweise wird dies jedoch wahrscheinlich nicht durch eine Rückkehr zu der für Deutschland geeignetsten Staatsform geschehen - der Monarchie, die im Herbst 1918 den Todesstoß erhielt. Höchst aufschlußreich umreißt Hirsch seine Sicht der Zukunft Deutschlands unter den gegebenen Bedingungen: „Die Mehrung der Rechte des Reichspräsidenten und des Reichswirtschaftsrats auf Kosten des Reichstags, die Wiedereinsetzung des Fachbeamtentums in seine alte Stellung würden wohl die zuerst zu fordernden Maßnahmen sein. Wichtiger fast ist 49 50 51
Ibid., S. 29. Hirsch, Deutschlands Schicksal, S. 146. Ibid., S. 149.
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etwas Seelisches: wir müssen unsern Staat und sein Gesetz wieder heilig halten lernen." 52 Die Führer, sagt er, könnten eine solche Haltung fördern, wenn sie das Klassenbewußtsein Uberwänden und Diener des ganzen Volkes, jedes einzelnen Bürgers gleichermaßen, würden. Der Weg nach vorne zur Freiheit und zum Leben wird einen hohen Preis fordern und vom Stolz des deutschen Volkes auf seine gottgegebene Art bestimmt werden. Dazu ist zweierlei vonnöten: (1) Eine klare Vorstellung von Menschheit und Geschichte, Volk und Staat, die die Sinne jedes einzelnen für Recht und Pflicht dem eigenen Volk und eigenen Staat gegenüber ohne Rücksicht auf die eigene Person schärft. Zusammen mit dem richtigen Gottesbegriff und der rechten Sicht des Evangeliums könnten diese Wahrheiten noch immer Uber viele moderne Illusionen triumphieren. (2) Etwas Persönliches: ein Gottesglaube, der die Eigenschaften des Charakters und der Seele weckt, die die Deutschen nun so dringend brauchen, und der Menschen mit starkem Willen und warmem, liebendem Herzen hervorbringt. Gegen Ende der Weimarer Zeit veröffentlichte Hirsch sein Buch „Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert", von dem er sagte, es gehöre zu „Deutschlands Schicksal" und „Die Reich-Gottes-Begriffe", unterscheide sich jedoch von ihnen durch seine genauere Erfassung der gegenwärtigen Situation und seine Ziele. 53 Er beginnt mit dem Gedanken, daß die lebendige Bewegung der Geschichte in Wechselwirkung mit dem natürlichen und religiösen Leben steht. Unsere Bewußtheit der Ewigkeit begrenzt ständig alles, was seine Quelle in der natürlichen Art und Kraft des Volks- und Menschheitsgeistes hat. Das natürliche Leben ist fortwährend unter das Gericht und die Gnade der Ubergeschichtlichen Wirklichkeit gestellt. Dadurch können wir sowohl zu Gott als auch zu gesunden natürlichen Gemeinschaften in Beziehung treten. Das allein hält Menschen, die jene natürlichen Gemeinschaften führen und formen, gewissenhaft in ihrer Verantwortung für die Zukunft des Ganzen. 54
52 53
54
Ibid., S. 150. Hirsch, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1929. Ibid., S. 5.
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Die Beziehung von Kirche und Staat ist die brennende Frage der Geschichte, wobei der Staat der Ort ist, an dem natürliches Leben seinen Gehalt und seinen formgebenden Zusammenhang findet, während die Kirche den Bereich des religiösen Lebens bestimmt. Zwischen 1789 und 1914, sagt Hirsch, gingen große Veränderungen im Verhältnis von Kirche und Staat vonstatten. Waren zuvor Staat und Kirche eng miteinander verbunden, so wurde nach 1789 der Staat eine große, von Kirche, Christentum und Religion getrennte Macht. Der Staat wurde säkular und religionslos. Die Zeit nach dem Krieg, die Jahre der Weimarer Republik, ließen diese Trennung, die bereits im 19. Jahrhundert vollzogen worden war, lediglich schärfer zutage treten. 55 Der Hauptgrund dafür ist ein neuer Staatsbegriff, der seinen Ursprung in der Französischen Revolution und in der Declaration of Rights von 1791 hat. Der Staat erscheint hier als ein souveräner Gesamtwille, der sich auf den souveränen Einzelwillen seiner Bürger gründet. Sowohl der Staat als auch seine Bürger werden nun als frei, geschichtslos betrachtet, wobei das einzige feste Element des Staates die Verfassung ist. Alle Bindungen sind aufgelöst, alle vermittelnden Kräfte zwischen Staat und Individuum sind zerstört. Letzten Endes wird dem Staat aber nun, da er von der Mehrheit seiner Bürger bestimmt wird, eine vorher nicht gekannte, absolute Macht gegeben. 56 Das Individuum steht jetzt direkt dem Staat gegenüber. Was früher als Freiheit betrachtet wurde, ist jetzt eine Form der Tyrannei ohne jede bindende Institution, die die Zentralgewalt des Staates einschränken
könnte.
Kapitalismus und Sozialismus widersprechen einander nicht wirklich, sondern streben das gleiche Ziel an: die Verbindung von Staat und Wirtschaft gegen die Freiheit des einzelnen. Hirsch glaubt, Europa erfahre erst jetzt die letzte Konsequenz dieses neuen Staatsverständnisses. Für Hirsch besteht dennoch eine Wahrheit in diesem
neuen
Freiheitsbegriff, die das Christentum auf keinen Fall unterschlagen darf. Das Einzelgewissen hat ein ewiges Recht, nicht nur nach seiner Überzeugung zu leben, sondern auch nichts anzuerkennen, was es sich nicht zutiefst angeeignet
5 5 5 6
Ibid., S. 8-18. Ibid., S. 23.
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hat. Aus diesem Grund gab es von der evangelischen Kirche kein einfaches Ja oder Nein zu diesem Freiheitsgedanken. Sie hat vielmehr versucht, einen vertieften, über das einfache Entweder-Oder hinausgehenden Freiheitsbegriff und ein diesem gemäßes Verständnis des Staates und dessen Verhältnis zur Kirche zu entwickeln. Die großen deutschen Idealisten, vor allem Hegel und Fichte, betrachteten die Freiheit deshalb in erster Linie als Verwirklichung des universalen Geistes im Staat. Der einzelne ist nur innerhalb des Staates und mit dem Staat frei. Die Idealisten sahen den Staat als Verwirklichung des lebendigen Geistes, der seinen Bürgern die sittliche und religiöse Tiefe gibt. Sowohl für Hegel als auch für Fichte war „die unsichtbare Kirche die Innerlichkeit und Tiefe des Lebens des Staats selber." 57 Und so bedauert Hirsch, daß der Staat dieses seines Geistes mittlerweile entleert wurde, daß er keinen konkreten sittlich-religiösen Gehalt mehr aufweist, daß wir uns selbst mit unseren eigenen Vorstellungen von Wahrheit, Güte und Gott nicht mehr in ihm erkennen können. Das Dämonische jenes neuen Freiheitsbegriffs ist also, daß er sich gegen jegliche Pflicht und Verpflichtung dem Staat gegenüber behauptet. Deshalb kann die idealistische Lösung, auch wenn einiges für sie spricht, nicht den Weg in die Zukunft weisen, da sie die Kluft zwischen den beiden Reichen nicht erkennt. Sie vereint das Geistige und das Natürliche im Leben des Geistes. Das Christentum muß die Entwicklung des Staates anerkennen, muß sein Schicksal als Verflechtung mit dem modernen Geist der Menschheit und dessen Sicht der Freiheit annehmen. Aber der Staat muß sich auf seine irdischen Aufgaben beschränken und darf die heilige Grenze zu Gewissen und Geist nicht überschreiten. 58 Der irdischen Aufgaben des Staates sind drei: er 57
58
Ibid., S. 37. Hirsch beschreibt die idealistische Freiheitsvorstellung folgendermaßen: „Der einzelne hat seine Freiheit darinnen, nicht den Willen des Staats zu bestimmen, sondern in ihm sich wiederzuerkennen und so in der Einigung mit ihm durch die Einsicht das Allgemeine als den Gehalt seines persönlichen Lebens zu besitzen. Danach ist der Staat der Leib für das ganze Leben der Vernunft, auch nach seiner sittlichen und religiösen Tiefe, die allumfassende und allbedingende, schlechthin mächtige Wirklichkeit des lebendigen Geistes" (ibid., S. 35). Obwohl Hirsch dem deutschen Idealismus vorwirft, er lasse den moralisch-geistig-sittlichen und den irdisch-natürlichgeschichtlichen Bereich im Leben des Geistes zusammenfallen, ist sein Verständnis individueller Freiheit und politischer Bindung der idealistischen Tradition zutieftst verpflichtet. Seine Interpretation von Luthers zwei Reichen und der Beziehung beider zueinander ist stark vom deutschen Idealismus geprägt. Ibid., S. 44-61.
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muß unser gesamtes gemeinschaftliches Leben durch Gesetzgebung und Rechtsprechung unter die Herrschaft des Gesetzes stellen; er muß durch gerechte Überwachung für das wirtschaftliche Wohl seiner Bürger sorgen, ohne die Wirtschaft völlig zu kontrollieren und Eigeninitiative zu unterbinden; er muß seine unabhängige Macht bejahen, die versucht, die Freiheit und Unabhängigkeit seiner Bürger gegen andere Mächte zu behaupten.59 Hirsch schlägt vor, der Staat möge sich auf seine dreifache Verantwortung für Gerechtigkeit in Recht, Wirtschaft und Macht beschränken und dem einzelnen zur Entwicklung seiner sittlich-religiösen Werte Raum gewähren, so daß er, der Staat, umgekehrt durch diesen geistigen Bereich erneuert werden kann. Auf diese Weise akzeptiert er die höhere Ordnung, erkennt er an, daß er nicht alles formen und kontrollieren kann und daß er vom höheren, religiös-sittlichen Geist seiner Bürger getragen ist und nicht umgekehrt. Die Entwicklung dieses Religiös-Sittlichen obliegt dem Christentum und der Kirche. Hirsch ist davon überzeugt, daß der Zeitgeist dem Geist des Christentums widerspricht. Der Staat ist gegenwärtig von diesem Zeitgeist beherrscht, und es ist die Aufgabe des Christentums, ohne die Hilfe des Staates gegen diesen und für einen neuen Geist zu kämpfen. Vom Staat kann nicht erwartet werden, daß er sich an die sittlich-religiösen Verpflichtungen hält, die längst dem allgemeinen Bewußtsein entschwunden sind. Die religiössittlichen Werte, an die Hirsch denkt, sind Monogamie, der Mann als Oberhaupt der Familie, Gehorsam der Kinder gegenüber den Eltern, Unterordnung unter die Herrschenden, die Verknüpfung von Eheschließung und Jungfräulichkeit, die Heiligkeit der Ehe, die Heiligkeit des ungeborenen Lebens, die Heiligkeit der Gewissensfreiheit und vor allem die Pflicht zum Gehorsam gegen Gottes Gebote. „Längst ist uns klar geworden, daß hier, und nicht auf dem Felde des Dogmas, der Brennpunkt des Kampfes zwischen der christlichen Religion und dem Zeitgeist liegt", sagt Hirsch. 60 Gelänge dem Christentum die innere Umwandlung, erfüllte sich auch der Staat wieder mit tieferem geistig-sittlichem Gehalt.
59 60
Ibid., S. 46-47. Ibid., S. 52.
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Der Staat hat die innere, ureigene christliche Lebendigkeit, die er im 19. Jahrhundert noch besaß, verloren. Obendrein mangelt es ihm an Nationalgeist. Die Verantwortung für den Nationalgeist ist vom Staat auf einzelne Familien, Gruppen, Dichter und Denker übergegangen. Mehr und mehr Menschen erkennen den illusorischen Charakter der Freiheit, auf die der moderne Staat gebaut ist, einer Freiheit, die nur der Willkür der Massen und der öffentlichen Meinung dient. Mehr und mehr Menschen werden erkennen, daß allein die christliche Kirche in ihrem Versuch einer Bildung und Erziehung der Kinder nach ihrem Gewissen das Bollwerk gegen die zunehmende Allmacht des Gesamtwillens sein kann und daß nur sie die wirkliche Freiheit des einzelnen retten kann. 61 Der Kampf um Gewissen und Geist und gegen die Macht der Sünde nimmt im Herzen des einzelnen Christen seinen Anfang. Das Christentum muß sich der Neubildung und Durchheiligung des irdischen Lebens, der Bewahrung und der Vertiefung des Volkstums im Geist des Christentums widmen. Dies ist die Verantwortung der Christenheit. 6 2 Ein solches Christentum wird sowohl ein leidendes wie auch ein kämpfendes sein. Ein solches Christentum bedarf jedoch der sichtbaren Kirche, ihrer Institutionen, Gottesdienste und ihrer Arbeit. Nur durch diese sichtbare Kirche wird das Christentum zu einer lebendigen und tätigen Gemeinschaft. 63 Sie muß unabhängiger, stolzer und verantwortungsbewußter werden als sie es bisher gewesen ist. Allerdings können die Zwecke der Kirche wie die des Staates nur dann erfüllt werden, wenn der einzelne in seinem Denken, Reden und Leben sich ihnen unmittelbar und selbständig verantwortlich weiß. Das allgemeine Priestertum muß als Verpflichtung aller Christen verstanden werden. Mit diesen politischen und theologischen Ansichten trat Hirsch in die 30er Jahre ein, das Jahrzehnt in dem die Weimarer Republik unterging und Hitler an die Macht kam. Wie wir sehen werden, stimmte Hirschs Position, die er 1933 und in der Debatte mit Tillich 1934-35 vertrat, mit seinen in den Kriegsjahren entwickelten und in den 20er Jahren aufgezeichneten Ansichten 61 6 2 6 3
Ibid., S. 59. Ibid., S. 68. Ibid., S. 70.
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überein. Bevor wir jedoch Hirschs Haltung zum Nationalsozialismus näher untersuchen, wenden wir uns seinem Kontrahenten Tillich zu, um zu sehen, wie sich dessen Analyse der Gesellschaft und sein politisch-theologisches Denken während der Weimarer Zeit entwickelten.
Tillichs Religiöser Sozialismus und das internationale Proletariat
Christentum und Sozialismus Wie wir sahen, begann Tillich im Gegensatz zu Hirsch erst nach dem Krieg mit der systematischen Entwicklung seines politischen Denkens. Ab 1919 schrieb er jedoch häufig Uber politische und soziale Probleme. Da wir Tillichs politisches, soziales und theologisches Denken hier nicht ausführlich behandeln können, 64 werden wir uns auf seine Hauptschriften aus der Weimarer Zeit konzentrieren. Das wird zum besseren Verständnis der politischen und religiösen Kategorien Tillichs in ihrer Gegensätzlichkeit zu Hirschs Denken verhelfen. Diese Schriften sprechen zugleich einige der wichtigsten, von Hirsch gegen Tillich erhobenen politischen und theologischen Vorwürfe an. 1919-20 schrieb Tillich erstmals mehrere Artikel zur Frage, wie das Christentum und die christliche Kirche sich selbst in ihrem Verhältnis zur deutschen sozialistischen Bewegung sehen sollten; dies sind: „Der Sozialismus als Kirchenfrage", „Christentum und Sozialismus: Bericht an das Konsistorium der Mark Brandenburg", „Christentum und Sozialismus (I)" und „Christentum und Sozialismus (II)". 65
Für eine solch umfassende Analyse von Tillichs politischem und theologischem Denken während der Weimarer Zeit, vgl.: Stumme, Socialism in Theological Perspective: A Study of Paul Tillich 1918-1933. Stummes exzellentes Buch war eine höchst wertvolle Quelle zum Verständnis von Tillichs sozialem und theologischem Denken, weshalb im folgenden häufig darauf Bezug genommen wird. Der Sozialismus als Kirchenfrage. Leitsätze von Paul Tillich und Carl Richard Wegener, Berlin: Gracht, 1919; auch in: GW II, S. 13-20. Eine andere Version dieser
Religiöser Nationalismus und Religiöser Sozialismus
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Im ersten dieser Artikel vertritt Tillich die Ansicht, Christentum und Sozialismus gehörten zusammen. Obwohl es richtig ist, daß die Unbedingtheit des religiösen Prinzips unabhängig von kulturellen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Ausdrucksformen ist, findet das religiöse Prinzip nur in den bestimmten Formen des kulturellen Lebens seinen Ausdruck. Da das Christentum die Liebesethik Jesu als die grundlegende Norm des gesellschaftlichen Lebens betrachtet, entsprechen ihm einige gesellschaftliche und wirtschaftliche Formen mehr als andere. So muß das Christentum z.B. kapitalistische und militaristische Gesellschaftsordnungen ablehnen; es muß gegen jede Gesellschaftsordnung einstehen, die sich auf Egoismus, privater und profitorientierter Wirtschaft gründet. Aber gleichzeitig tritt das Christentum nicht unkritisch für den Sozialismus ein. Es hat die Aufgabe, dem Sozialismus sittliche und religiöse Tiefe zu geben, um so eine neue Synthese von religiöser und gesellschaftlicher Kultur vorzubereiten.66 Tillich betont, daß unterschieden werden müsse zwischen Sozialismus und Marxismus, zwischen der Haltung der sozialistischen Parteien zur Kirche und ihrer Haltung zum Christentum, zwischen dem sozialistischen Ideal, das auf einer Liebesethik gründe und seinen empirischen Verwirklichungen. Es bestehe aber kein innerer Widerspruch zwischen dem sozialistischen Ideal und dem Christentum. Der Widerspruch der Sozialdemokratie richte sich hauptsächlich gegen die bürgerlich-kapitalistische und nationalistische Substruktur der Kirche, die mit dem wahren Christentum und der Liebesethik wenig gemein hat. Umgekehrt seien Metaphysik und materialistischer Atheismus keine Wesensmerkmale des sozialistischen Ideals, sondern ein Überbleibsel
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Arbeit, ebenfalls aus dem Jahr 1919, ist: Christentum und Sozialismus. Bericht an das Konsistorium der Mark Brandenburg, in: GW XIII, S. 154-160. Christentum und Sozialismus (I), in: Das neue Deutschland 8 (Dezember 1919), S. 106-110; auch in: GW II, S. 21-28; Christentum und Sozialismus (II), in: Freideutsche Jugend 6 (1920), S. 167-170; auch in: GW II, S. 29-33. Der Sozialismus als Kirchenfrage, S. 16. Was Tillich über die theologische und kirchliche Aufgabe in Bezug auf den Sozialismus sagt, ähnelt den Äußerungen Hirschs über die christlich-theologische Pflicht gegenüber nationalistischen Bewegungen, nämlich, ihnen sittliche und religiöse Substanz und Tiefe zu geben. Der Unterschied ist, wie wir sehen werden, daß Tillichs Religiöser Sozialismus für sich in Anspruch nimmt, eine sehr viel kritischere und selbstkritischere Haltung zum Sozialismus zu haben, als die politische Theologie des von Hirsch repräsentierten jungnationalen Luthertums zu Bewegungen der nationalen Befreiung.
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Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
bürgerlicher Kultur im Sozialismus. Die revolutionäre Haltung des Sozialismus könne also nur von jenen als unchristlich betrachtet werden, die das Christentum mit dem Luthertum gleichsetzen. Tillich fordert daher die Kirche zu einer positiven Haltung gegenüber Sozialismus und Sozialdemokratie auf. Sie sollte sich selbst einer christlichen Sozialreform verpflichten und in ihren eigenen Reihen diejenigen dulden, die der sozialistischen Bewegung angehören, jedoch nicht darauf hoffen, die Arbeiterbewegung als solche für die Kirche gewinnen zu können. Die Arbeiterbewegung sieht die Kirche zu recht als zu eng mit dem kapitalistischen Staat verknüpft. Tillich erwartet von der Kirche keine Identifikation mit der sozialistischen Bewegung, aber daß sie diejenigen, die sich der Bewegung anschließen und für eine zukünftige Verbindung von Christentum und sozialistischer Gesellschaftsordnung eintreten, nicht ausgrenzt. Er setzt sich dafür ein, daß die Sozialisten innerhalb der Kirche nicht diskriminiert werden. Eine Kirche, die eine solche Toleranz verweigert, sagt Tillich, hat das Recht aufgegeben, sich Volkskirche zu nennen in einer Gesellschaft, in der fast die Hälfte der Menschen sich für den Sozialismus entschieden hat. Im dritten dieser Artikel tritt Tillich noch stärker für die innere Einheit von Christentum und Sozialismus und ihre gegenseitige Ergänzung ein. 67 Dazu müssen sich beide jedoch erstens im Kampf gegen die ungebrochene Heteronomie und für eine wahre Autonomie, die zur Theonomie vertieft wird, vereinigen. Mit Theonomie meint Tillich eine freie, uneingeschränkte Offenheit gegenüber dem Erfaßtwerden vom Unbedingten in und durch alle Dinge. Darin ist das Christentum dem Protestantismus treu, der auf der Seite der Autonomie gegen jede Form von heteronomer Kirche und sektiererischer Gesetzestreue steht. Hier zeigen sich einige Ähnlichkeiten zwischen Tillichs Sicht des unbedingten Grundes der geschichtlich-sozialen Ordnung und Hirschs „theistischer Geschichtsansicht", in der jede geschichtliche Realität nur durch ihr Verbundensein mit ihrem übergeschichtlichen und metaphysischen Kern lebt und erhalten bleibt. Der Unterschied besteht darin, daß das Verhältnis von Unbedingtem und Irdisch-Geschichtlichem für Tillich eher
67
Christentum und Sozialismus (I), in: GW II, S. 21-28.
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Religiöser Nationalismus und Religiöser Sozialismus
dialektisch und für Hirsch mehr paradox ist. Zweitens sollen sich Christentum und Sozialismus im Willen zur Weltgestaltung einander annähern. Dieser Wille muß vor der Leere und der zerstörerischen Wirkung einer reinen Technisierung der Welt durch Betonung des Glaubens als der Erfahrung des Unbedingten bewahrt werden. Das Christentum mag also den Willen zur immanenten Weltgestaltung innerhalb der Geschichte des Geistes und des kommenden Gottesreiches bejahen, muß diesem Willen aber gleichzeitig Grenzen setzen. Nach Tillich liegt das, „was gestaltet werden kann,... in der Sphäre des Technischen, nicht des Ethischen, der Kategorien: Mittel und Zweck, nicht: Sinn und Wert. Alles Gestalten ist Technisieren, aber das Technische ist nicht Selbstzweck, nicht letzter Zweck."68 Drittens müssen Christentum und Sozialismus in der Heiligung des gesamten Kulturlebens im allgemeinen und der sozialistischen Bewegung im besonderen eins werden. Um dies zu ermöglichen, dürfen Jenseits und Diesseits nicht voneinander getrennt werden, d.h. die Gegenüberstellung des Christentums als Jenseitsreligion und des Sozialismus als Diesseitsstimmung muß vermieden werden. Wenn Religion als die Erfahrung des Unbedingten mit seinem Ja und Nein Uber alle irdische Dinge und Werte verstanden wird, dann ist der Gegensatz zwischen einem absoluten, erfüllten Jenseits und einer relativen, unvollkommenen Welt überwunden. Hier zeigen sich wieder Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Tillich und Hirsch. Wie im nächsten Kapitel bei der Untersuchung von Hirschs Haltung zum Nationalsozialismus deutlich werden wird, fordert auch er die „Heiligung" einer irdisch-geschichtlichen Bewegung.69 Es gibt jedoch einen grundlegenden
Unterschied: Hirsch will eine sehr viel
schärfere
Unterscheidung zwischen der religiös-sittlichen Sphäre (dem Jenseits) und der irdisch-geschichtlichen Sphäre (dem Diesseits) als Tillich. Zeit seines Lebens war Tillich sehr viel mehr als Hirsch damit befaßt, die 68 69
Unterscheidung
Christentum und Sozialismus (I), S. 26. 1934 beschuldigt Tiilich Hirsch einer ungebrochenen Heiligung oder Vergöttlichung des Nationalsozialismus. Es ist interessant, daß in den frühen 20er Jahren Tillich selbst von einer Heiligung der sozialistischen Bewegung spricht und die Massenbewegung des Proletariats in gewissem Sinn, wie wir weiter sehen werden, als heilige Bewegung, wenn auch nie als ungebrochen heilige Bewegung, betrachtet.
220
Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen zu überwinden. Dennoch versucht auch Hirsch, beide Bereiche miteinander zu verbinden; er sieht die Verbindung im Einzelgewissen. Tillich lehnt diese Verinnerlichung von Moral und Ethik ab und versteht den sittlich-religiösen Bereich, das Reich Gottes, eher geschichtlich-immanent und normgebend, nicht nur für die Beurteilung der äußeren sozialpolitischen Ordnung, sondern auch ßr deren schöpferische Gestaltung. Darum sind ßr Tillich das christliche Ideal des Gottesreiches und das sozialistische Ideal einer universalen, gerechten und
klassenlosen
Gesellschaft direkt miteinander verwandt. Das Gottesreich ist ßr Tillich mehr als individualistische, persönliche Moral, mehr als innerliche Disposition einer sittlichen Persönlichkeit. Es setzt die idealen
gesellschaftlich-politischen
Normen, nach denen eine politische Ordnung geformt werden soll. Anders bei Hirsch:
Er lehnt rundheraus jede innere Beziehung
zwischen
dem
unsichtbaren, inneren, sittlichen Reich Gottes und der äußeren, sichtbaren, irdischen Ordnung ab. Für Hirsch ist das Innerliche der unsichtbare Bereich, der beeinflußt, wie Menschen ihre Entscheidungen treffen, und betrifft somit indirekt das Politische. Es bietet aber keine Strukturprinzipien, mit deren Hilfe die gesellschaft geformt werden könnte. Schließlich müssen sich das Christentum und der Sozialismus im universalen Menschheitserlebnis vereinigen, wobei besonders das Christentum den Boden dafür bereiten kann. Das Kreuz Christi muß nicht nur als die Aufhebung des Judentums, sondern auch als die Aufhebung des Christentums in seiner konfessionellen Absolutsetzung gesehen werden. Hier kann das Christentum dem Sozialismus seinen eigentlichen Gehalt geben: tiefe menschliche Solidarität. Dem Sozialismus fehlt gegenwärtig das Gemeinschaftsgefühl, das Einheit schafft aus den Tiefen des Menschlichen, da, wo das Unbedingte die Seele bewegt. Im vierten Artikel, „Christentum und Sozialismus (II)", treten die Unterschiede zwischen Hirsch und Tillich besonders deutlich zutage. Tillichs Hauptforderung lautet: ,¿>0 müssen Christentum und Sozialismus sich fortentwickeln und eins werden in einer neuen Welt- und Gesellschaftsordnung, deren Grundlage eine durch Gerechtigkeit gestaltete
Wirtschaftsordnung,
deren Ethos eine Bejahung jedes Menschen um deswillen, daß er Mensch ist,
221
Religiöser Nationalismus und Religiöser Sozialismus
und deren religiöser des
Ewigen
Gehalt ein Erleben des Göttlichen
in allem
Zeitlichen
ist."
10
in allem
Menschlichen,
T i l l i c h gibt zu, d a ß d a s
frühe
Christentum insofern nicht wirklich sozialistisch war. E s war, sagt er, haupts ä c h l i c h mit der Erlösung aus dieser W e l t befaßt, nicht j e d o c h mit deren Verwandlung, mit d e m Hereinbrechen des transzendenten Gottesreiches, nicht mit der Verbesserung des Reiches dieser Welt. 7 1 D i e Vereinigung v o n Christentum und Sozialismus m u ß daher auf einer n e u e n I d e e f u ß e n - der I d e e der I m m a n e n z , der Idee, daß e s nur
eine
Wirklichkeit gibt. „Es ist", sagt Tillich, , 4 e r Verzicht auf das Hereinbrechen e i n e s transzendenten Himmelreiches und dafür der Wille zur Gestaltung des Weltreiches zu einem Reiche Gottes. Man kann darüber streiten, o b diese Idee christlich ist oder nicht. Meiner Überzeugung nach liegt sie in der Konsequenz d e s reformatorischen Grundprinzips, der Rechtfertigung allein durch d e n G l a u b e n . " 7 2 In der Rechtfertigungslehre ist der Gegensatz z w i s c h e n den beiden Welten überwunden. Tillich behauptet, daß seine Sicht legitim christlich genannt w e r d e n kann, auch w e n n Jesus und d i e frühen Christen das R e i c h
70 71
72
Christentum und Sozialismus (II), S. 33. Tillich vertritt hier eine eigene Interpretation des Neuen Testaments. Auch einige jüngere Theologen, wie der Mennonit John Howard Yoder, der sich selbst einen biblischen Realisten nennt, stellt die Interpretation, daß Jesu Verkündigung des Gottesreiches in erster Linie die eines inneren, geistigen Reiches war, in Frage. Nach Yoder war .Jesus nicht einfach ein Moralist, dessen Lehren auch politischer Natur waren; er war nicht in erster Linie ein geistiger Lehrer, dessen öffentliche Auftritte unglücklicherweise politisch gesehen wurden; er war nicht nur ein Opferlamm, daß sich auf seine Opferung vorbereitete, noch ein Gott-Mensch, dessen Göttlichkeit dazu auffordert, seine Menschheit zu mißachten. Jesus war in seinem göttlich beauftragten (d.h. verkündeten, gesalbten, messianischen) Prophetenamt, Priesteramt und Königsamt der Träger einer neuen Möglichkeit menschlicher, sozialer und daher politischer Beziehungen. Seine Taufe ist die Einsetzung und sein Kreuz der Höhepunkt dieser neuen Herrschaft, an der teilzuhaben die Jünger berufen sind" (Yoder, The Politics of Jesus, Grand Rapids: William B. Eerdmans Publishing Company, 1972, S. 62-63; Ü.a.d.O.). Vgl. auch Yoder, The Original Revolution. Scottdale: Herald Press, 1972, S. 27-31. Christentum und Sozialismus (II), S. 30. Tillich behauptet, daß die Rechtfertigung, befreit vom mittelalterlichen Strafgedanken, bedeutet, daß das göttliche Urteil in Paradoxie zum Relativen, Unvollständigen und Unheiligen steht. Als solches verliert das Göttliche seinen Charakter des Jenseitigen, Fernen und Ubernatürlichen, das nur durch Weltvemeinung erreicht werden kann. Der Gegensatz zwischen den beiden Welten ist in der Rechtfertigungslehre überwunden: „das Absolute ist eine Qualität des Relativen und das Relative eine Qualität des Absoluten. Beides ist eins in der einen Wirklichkeit, und die innere Spannung, die Paradoxie dieser Einheit des Widerspruchs, schafft die Tiefe und den Sinn des Lebens" (ibid., S. 31).
222
Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
Gottes nicht in dieser Art verstanden. Denn diese Sicht steht in Einklang mit dem Geist Christi. 73 Sowohl das Christentum als auch der Sozialismus befassen sich nach Tillich mit der Schaffung einer gerechten Gesellschaftsordnung. Der Sozialismus will eine gerechte soziale und wirtschaftliche Ordnung sowie eine universale Menschheit ohne Gegensätze zwischen Klassen, Rassen, Nationalitäten und Konfessionen schaffen. 74 Wer behauptet, daß es immer Unterschiede zwischen arm und reich geben wird, daß Leid, Krieg und Rassenhaß unabänderliche Tatsachen der menschlichen Existenz sind, wer die Wirtschaft zum Schlachtfeld aller gegen alle und den Staat zu einer unabhängigen Machtorganisation machen will, wer zwar gegen den Egoismus des einzelnen ankämpft, aber andererseits den Gruppenegoismus (das Volk) hochhält, der weiß nichts vom Sozialismus. Obwohl Tillich Hirsch hier nicht namentlich nennt, scheinen diese Aussagen auf ihn abzuzielen, waren doch wirtschaftliche, ethnische und nationale Unterscheidungen, Selbstaufgabe des einzelnen zugunsten des höchsten irdischen Gutes von Volk und Staat als eines unabhängigen Machtzentrums immer wiederkehrende Themen in Hirschs Denken. Tillich glaubt, daß der Geist Christi und der Sozialismus gleichermaßen die Welt nach der Idee der Gerechtigkeit um der Liebe willen gestalten wollen. Wie der Sozialismus ist auch das Christentum der Schaffung einer universalen 73
74
Tillich meint, wenn man dies unchristlich nennt, wenn man die innere Beziehung zwischen Renaissance und Reformation leugnet, kann man nur das Katholische, d.h. das in der Unterscheidung von Natur und Ubernatur Gründende, christlich nennen. Dann, so Tillich, sind wir seit langer Zeit keine Christen mehr, können und dürfen es nicht sein. Dann müßten wir einen anderen Namen finden für die Frömmigkeit, die uns erfüllt. „Wer aber des Glaubens ist, daß der Geist, der von Christus ausgeht, sich weder im orientalischen und abendländischen Katholizismus noch im Altprotestantismus erschöpft hat, sondern daß er imstande und im Begriffe ist, eine neue Periode des Christentums herbeizuführen, für den besteht kein Grund, nach neuen Namen zu suchen" (Christentum und Sozialismus [II], S. 31). Hirsch, so könnte hinzugefügt werden, stimmte gewiß Tillichs Beschreibung des frühen Christentums zu - zumindest der Aussage, daß Jesus und das Frühchristentum das Reich Gottes nicht als eine irdische Gesellschaftsordnung oder als politisches Programm verstanden -, hielte aber dagegen, daß Tillichs neuer Begriff des Gottesreiches als immantente Wirklichkeit, die als positive Norm fungieren kann, mit der die äußere gesellschaftliche Wirklichkeit geformt wird, weder christlich sei noch der reformatorischen Gutherischen) Interpretation des Christentums folge. Christentum und Sozialismus (II), S. 31.
Religiöser Nationalismus und Religiöser Sozialismus
223
menschlichen Solidarität und Gemeinschaft verpflichtet. Hier sehen wir wiederum einen entscheidenden Unterschied zwischen Hirsch und Tillich. Obwohl Hirsch bereitwillig die Universalität der Gewissensgemeinschaft in Christus zugesteht, muß und wird dies seiner Ansicht nach immer eine innere, unsichtbare Realität des Reiches Gottes bleiben. Geschichtlich, sichtbar und äußerlich wird die Menschheit stets nach nationalen, ethnischen und kulturellen Gesichtspunkten getrennt sein, solange die Geschichte währt und die Sonne scheint. Hirsch weist eine universale menschliche Kultur und Gemeinschaft im gesellschaftlichen und politischen Sinn kategorisch zurück. Nur als die „Gemeinschaft der Gewissen" ist die christliche Kirche universal, aber sie kann nicht im Sichtbaren, Äußerlichen, Institutionellen und Politischen verwirklicht werden. Gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch bleibt die Welt in rivalisierende Menschengruppen - Völker und Staaten geteilt
Masse, Persönlichkeit und das Heilige Wie wir in unserem nächsten Kapitel sehen werden, verstand Hirsch die nationalsozialistische Bewegung zu Anfang der 30er Jahre gewissermaßen als „heilige" Bewegung, als einen „heiligen Sturm", der Uber Deutschland hinwegfegte. Tillich kritisierte in der Debatte von 1934-35 gerade diese priesterliche Qualität, die Hirsch einer irdischen Bewegung verleiht. Zehn Jahre zuvor hatte Tillich jedoch selbst die proletarische Bewegung und das Wesen der Masse als in gewissem Sinne „heilig" und als „Kairos" in Deutschland bezeichnet. Auf den folgenden Seiten werden wir einige Artikel Tillichs aus der Zeit zwischen 1920 und 1922 untersuchen, in denen er seinen Begriff der „Masse"
entwickelt. Diese Aufsätze wurden 1922 unter dem Titel „Masse und
Geist" veröffentlicht und beschreiben die Masse als eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Kategorien Tillichs im Unterschied zu Hirschs
224
Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
paralleler Kategorie des Volkes. 7 5 Tillichs Schriften zu Wesen, Religion und Geist der Masse erwachsen aus und sind seine Antwort auf die Ereignisse vor, während und nach der Revolution von 1918. So schreibt er, daß seine Grundideen nicht aus parteipolitischen Vorurteilen oder soziologischer und politischer Überlegung heraus entstanden, sondern aus der unentrinnbaren Macht der jüngsten Weltereignisse, die eine Interpretation verlangten, und aus einem „Hinzugezogensein zu den dunklen Tiefen des Massenlebens mit seiner Not, seiner Formlosigkeit und schöpferischen Kraft." 7 6 W i e Tillich seine A u f g a b e darin sieht, dem Phänomen der M a s s e n b e w e g u n g
in
der
Masse und Geist. Studien zur Philosophie der Masse. Berlin/Frankfurt a.M.: Verlag der Arbeitsgemeinschaft, 1922 (zit. als: Masse und Geist); auch in: GW II, S. 35-90. Die in diesem Buch zusammengefaßten Aufsätze sind: Masse und Persönlichkeit. Die Verhandlungen des 27. und 28. Evangelisch-Sozialen Kongresses, hg. v. W. Schneemelcher. Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht, 1920 (GW II, S. 35-56), Masse und Bildung (GW II, S. 56-69) und: Masse und Religion, in: Blätter für Religiösen Sozialismus 2 (1921), S. 1-3, 5-7, 9-12 (GW II, S. 70-90). Verweise auf „Masse und Geist" beziehen sich auf GW II, S. 35-90. Masse und Geist, S. 35. Tillichs Behauptung, seine Reflexionen seien nicht aus einer parteipolitischen Haltung erwachsen, ist irreführend. Obwohl Tillich nicht zur sozialistischen Partei gehört haben mag, identifizierte er sich während dieser Zeit eindeutig mit der proletarischen, sozialistischen und revolutionären Sache in Deutschland. John Stumme bringt im zweiten Kapitel seines „Socialism in Theological Perspective" eindeutige Belege für Tillichs politischen Radikalismus während der Weimarer Zeit: Seine frühen Verbindungen zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) im Jahre 1919, seine intensive Zusammenarbeit mit dem linken, theoretischen Kairos-Kreis in Berlin zwischen 1920 und 1924 und sein Entreten für den Sozialismus zwischen 1925 und 1931, einschließlich seines Eintritts in die Sozialdemokratische Partei (SPD) 1929, seine führende Rolle bei den linken „Blättern für religiösen Sozialismus" und später den „Neuen Blättern für den Sozialismus", eine Zeitung, die sich der geistigen und politischen Neuformung des Sozialismus verschrieben hatte. In gewissem Sinn ist es richtig, daß Tillich während der Weimarer Zeit über die Parteipolitik hinausging. Obwohl er sah, daß sein Eintreten für den Sozialismus auch ein Eintreten für sozialistische Parteien bedeutete, und obwohl er die SPD unterstützte, blieb er „am Rande" und „hatte keinen nennenswerten Einfluß auf Parteipolitik" (Stumme, S. 44). Nach Stumme lag dies an seiner grundlegenden kritischen Neuinterpretation der marxistischen Theorie. Stumme betont, daß Tillich im theoretischen Sozialismus verharrte und daher außerhalb des Proletariats stand und sich politischer Aktivitäten enthielt: „Tillich war weder Parteiideologe, noch Politiker, noch 'politischer Prophet', sondern ein schöpferischer und kritischer politischer Theologe" (S. 46). Er stand der kommunistischen Partei kritisch gegenüber und betrachtete den Bolschewismus als „die 'romantische' Form des religiösen Sozialismus", die die kritische Dimension der Religion außer acht läßt (S. 46-47). All das ändert jedoch nichts an der parteipolitischen und ideologischen Qualität von Tillichs Denken, das nach Stumme gegen Ende der Weimarer Zeit zusehends radikaler und marxistischer wurde. Er focht für die Veränderung des Sozialismus und des Protestantismus in der Hoffnung, Einfluß auf die Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung in Deutschland nehmen zu können. Vgl. Stumme, S. 15-51.
Religiöser Nationalismus und Religiöser Sozialismus
225
revolutionären Epoche nach 1918 einen theologischen Sinn zu geben, so erachtet es Hirsch, wie sich zeigen wird, 1933 als seine Hauptaufgabe, das Phänomen der nationalsozialistischen Bewegung theologisch zu interpretieren. In Tillichs „Masse und Geist", das als Gegenstück zu Hirschs „Deutschlands Schicksal" gesehen werden kann, da es in der gleichen Zeit geschrieben wurde, diskutiert Tillich drei Hauptaspekte der Masse: Masse und Persönlichkeit, Masse und Bildung, Masse und Religion. Tillich bespricht diese Aspekte der Reihe nach und unterteilt sie dabei, zum Teil wenig eindeutig, in Typen und Untertypen. Es wird dabei nicht immer klar, wie die verschiedenen Typen innerhalb der drei Aspekte der Masse zueinander in Beziehung stehen. Im ersten Teil untersucht Tillich fünf verschiedene Massetypen in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer Darstellung in verschiedenen Kunstepochen, sowie verschiedene Persönlichkeitstypen, die sich parallel zu diesen Massetypen entwickelten: die mittelalterliche mystische Masse, die realistische Masse der Gotik und der Renaissance, die dynamische Masse des Barock, die technische
Masse des Impressionismus und die
moderne expressionistische, immanente Masse.77 Diese fünf Massetypen, sagt er, lassen sich in drei Gruppen einteilen: die mystische, die technische und die dynamische, diejenigen
Massen, die durchwaltet sind von einem unmittelbar
geistigen, mystischen Prinzip; diejenigen, in denen dieses Prinzip fehlt und dafür äußere Mächte, wie Naturinstinkte oder Technik, den Massencharakter
Im mittelalterlich mystischen Massetypus sind die Geführten und die Führer nicht unabhängig und autonom, sondern repräsentieren ideale geistige und übernatürliche Kräfte. Im realistischen Massetypus löst sich die mystische Masse in real faßbare Individuen auf. Im dynamischen Massetypus werden diese isolierten Individuen in einen dynamischen, organischen Lebensstrom gezogen, in dem sie eine neue, nicht übernatürlich-metaphysische Grundlage finden. Das Übernatürlich-Religiöse ist zur Privatangelegenheit geworden, und die Menschen kämpfen für ihre persönlichen Uberzeugungen und die Erneuerung der Gesellschaft. Da' technische Massetypus des 19. Jahrhunderts repräsentiert die individualistische Mittelklasse, die die Masse als Objekt der Technik, Sozialfürsorge und Verachtung sieht. In den 20er Jahren unseres Jahrhunderts wird der immanente, organische Massetypus geboren; hier wird die Masse ganz Subjekt und ihre Führer müssen den Tiefen der Massensehnsucht entspringen (Masse und Geist, S. 36-40). Interessanterweise betrachtete auch Hirsch, in formal verwandter Weise, Hitler nicht als einen Führer, der seinen Willen den Massen aufdiktierte, sondern als einen, der aus den Wurzeln des deutschen Volkes erwuchs und in sich Ethos und Willen des Volkes verkörperte, das sich ihm darum freiwillig unterwarf.
226
Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
schaffen; und diejenigen, in denen ein inneres Prinzip mit bewegender Kraft nach Gestaltung ringt.er Gott, der Gehorsam von ihm verlangt, ist ein Gott der Fremde, nicht bodengebunden wie die heidnischen Götter, sondern ein Gott der Geschichte, der alle Geschlechter der Erde segnen will. Dieser Gott, der Gott der Propheten und Jesu, zerbricht jeden religiösen Nationalismus, den jüdischen, mit dem er ständig kämpft, und den heidnischen, der schon in dem Befehl an Abraham verneint ist" (Auf der Grenze, S. 64).
Entgegengesetzte Antworten auf den Erfolg des Nationalsozialismus
323
Hirsch ist die menschliche Beziehung an ein bestimmtes Volk am besten mit dem lutherischen Begriff der „Gebundenheit" zu umschreiben. Menschen finden ihre Universalität, ihre Einheit mit der gesamten Menschheit, gleich welcher nationalen Kultur, nicht in irdischer Gerechtigkeit und Macht, sondern in der „geistigen Freiheit". Im ausgesprochenen Gegensatz zu Hirsch glaubt und hofft Tillich, daß die Menschheit in der Lage ist, die irdischen Gesellschaftsstrukturen in relativer Entsprechung zu den sittlichen Forderungen des Gottesreiches zu gestalten. Zum Verdruß Hirschs bietet die Universalität der prophetischen Erwartung für Tillich irdische, geschichtliche und politische Verwirklichungsmöglichkeiten; die in Aussicht genommene gerechte, internationale Ordnung steht in relativer Kontinuität zum Reich Gottes. 126
Zweideutige Haltung zur revolutionären Romantik Nach alledem muß Tillichs eigenartig schwankende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus, weniger gegenüber dessen eigentlich politischer Form, als dessen philosophischem Charakter, betrachtet werden. Diese Zweideutigkeit des Nationalsozialismus gründet in seiner doppelten Wurzel: einerseits der modernen aufklärerischen Vernunft, andererseits dem romantischen, irrationalen und nationalistischen Denken, das die Kritiker der modernen wissenschaftlichen und technischen Vernunft im 19. und 20. Jahrhundert auszeichnete. Oben sprachen wir bereits von Hirschs rätselhaftem Brief an Tillich vom 13. April 1933, in dem er meint, Tillich stehe in Wahrheit auf Seiten des Nationalsozialismus und des neuen Deutschland. Hirsch glaubte
126
Mit Tillichs Worten: „In dieser wachsenden Verwirklichung einer einheitlichen Menschheit ist repräsentiert und gleichsam vorweggenommen, was in dem Glauben an das Reich Gottes, zu dem alle Völker und alle Rassen gehören, als transzendente Wahrheit enthalten ist. Darum ist die grundsätzliche Ablehnung der einen Menschheit eine grundsätzliche Ablehnung der christlichen Lehre vom Kommen des Reiches Gottes" (Auf der Grenze, S. 67).
324
Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
tatsächlich, Tillichs letztes Buch, „Die sozialistische Entscheidung", zeige, daß er sich auf den Nationalsozialismus zubewege. 127 Tillich verrät in der Tat eine gewisse Doppeldeutigkeit in Bezug auf den Nationalsozialismus und das neue Deutschland in seinem Brief vom 20. Januar 1934 an das nationalsozialistische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Erziehung. Darin erhebt er Einspruch gegen die Mitteilung vom 20. Dezember 1933, er sei offiziell aus dem Staatsdienst entlassen und es sei ihm nicht erlaubt, weiterhin an deutschen Universitäten zu lehren. Um die Regierung von seiner Zuverlässigkeit zu Uberzeugen, schreibt e r „[Ich] wurde Mitbegründer des deutschen religiösen Sozialismus, allein aufgrund meiner Erfahrungen in Schützengräben und Verbandplätzen mit Mannschaften und Offizieren; habe als Theoretiker des religiösen Sozialismus von Anfang an den Kampf gegen den dogmatischen Marxismus der deutschen Arbeiterbewegung geführt und habe auf diese Weise den nationalsozialistischen Theoretikern einen Teil ihrer Begriffe geliefert. Auch mein letztes Buch ist von den Vertretern des dogmatischen Marxismus als ein Kampfbuch gegen sie empfunden worden, sofern es mit allem Nachdruck auf die naturgebundenen Kräfte im menschlichen Sein hinweist." 128 In ihrer Biographie schreibt Marion Pauck, Tillich zeige hier eine moderate Form von pragmatischem Opportunismus, die es ihm erlaube, auch in unsicheren Situationen keine Möglichkeit auszuschließen: „Der Brief hingegen zeigt ihn nicht als einen Bürger, der stolz darauf ist, wegen staatlicher Unzuverlässigkeit ausgesondert und zum Auswandern gezwungen zu sein. Im Gegenteil spricht hier der geschickte, praktisch veranlagte Tillich, verstrickt in die Zweideutigkeiten der Geschichte, bemüht, seinen Namen zu reinigen und bestrebt, sich wenigstens seinen Pensionsanspruch zu sichern. Er zeigt sich als Held und geschickten (sie!) Unterhändler in einer Person.
127
128
Unveröffentlichter Brief von Hirsch an Tillich, 13. April 1933; Tillich-Archiv, Andover Library der Andover Harvard Divinity School. Das Argument, Hirsch habe einfach Tillichs Position miBverstanden, pafit nicht zu Hirschs sorgfaltigem Stil und zu seiner Kenntnis von Tillichs geistiger Entwicklung von Jugend an. Pauck, Tillich. Leben, S. 157.
Entgegengesetzte Antworten auf dai Erfolg des Nationalsozialismus
325
Er, der später ausführlich Uber die Zweideutigkeit des Lebens schrieb, enthüllte sich in diesem Brief selbst als erstaunlich zweideutig, vor allem in seiner Feststellung, die Nazis hätten seine Terminologie von ihm ausgeliehen. Diese Zweideutigkeit stand jedoch durchaus mit seiner Persönlichkeitsstruktur in Einklang und entsprach seiner Neigung, sich allen Möglichkeiten gegenüber offenzuhalten und sich nicht festzulegen, solange die Zukunft nicht durchschaubar war." 129 Für Tillich war diese moderate Haltung zum neuen Regime in Deutschland jedoch weitaus mehr als eine Sache des persönlichen Pragmatismus und Opportunismus, wie Pauck meint. Nach unserer recht ausführlichen Untersuchung von Tillichs Schriften aus der Zeit der Weimarer Republik und bis zum Sieg des Nationalsozialismus 1933 müssen wir schließen, daß er grundsätzlich eine zweideutige Haltung gegenüber Romantik, Irrationalität und Nationalismus einnahm und diese Ambivalenz zu seiner philosophischen Sympathie für Äußerungen nationalsozialistischer Theoretiker führte. Sehr viel stärker als Pauck muß man Tillichs positive Sicht des mythischen Geschichtsgrundes betonen, was seinen frühen Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus sehr viel weniger unmißverständlich macht als gemeinhin angenommen wird. Detlef Döring untersucht in seiner brillianten neueren Studie „Christentum und Faschismus. Die Faschismusdeutung der religiösen Sozialisten" die Eigenart von Tillichs ambivalenter Einstellung zur nationalsozialistischen Philosophie. 130 Weil Dörings Argumentation unsere eigene Position bestätigt, soll hier ausführlicher auf sie eingegangen werden. 129
Ibid., S. 158-159. Pauck schreibt weiter: „Das gelegentlich Wirre und Unpräzise des Protestschreibens scheint das Bild eines Mannes zu entstellen, von dem oft gesagt wurde, er sei der erste Nicht-Jude gewesen, der von den Nazis Berufsverbot hatte - eine Legende, der er niemals widerspochen hat - und der bis an sein Lebensende stolz auf seine Entlassung war" (ibid., S. 158). Detlef Döring, Christentum und Faschismus, S. 12 ff. Döring wurde an der Universität Leipzig promoviert und dabei vom bekannten Kirchenhistoriker Kurt Meier, einem exzellenten Kenner der Weimarer Zeit und des Kirchenkampfes, betreut. Es muß betont werden, daß ich unabhängig von Dörings Studie meine eigenen Schlußfolgerungen über Tillichs ambivalente Haltung zum Nationalsozialismus in seiner frühen Phase gezogen habe. Dörings Studie war mir erst in den späteren Phasen meiner Untersuchungen zugänglich, und sie half mir lediglich, meine eigene Interpretation zu stützen und zu vertiefen. Weiterhin sollte nicht verschwiegen werden, daß Dörings Studie den
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Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
Nach Döring kann (1) der Religiöse Sozialismus in Deutschland in zwei Gruppen unterteilt werden: (a) eine eher praktische Form, die sich nicht mit theoretischen Spekulationen abgab, sondern Kirche und proletarische Bewegung einander näherbringen wollte. Für diese Gruppe war der Kampf gegen die verborgenen antichristlichen und antiproletarischen Elemente innerhalb des Faschismus von Anfang an entscheidend; (b) eine eher theoretisch orientierte Gruppe um die Zeitschriften „Zeitschrift für Religion und Sozialismus" (ZRS) und die „Neuen Blätter für den Sozialismus" (NSB), von denen die letztere den Religiösen Sozialismus als eine neue Weltanschauung, als ein theoretisches System betrachtete. Diese Gruppe hatte in gewissem Sinn die Ablehnung der Moderne mit den Nationalsozialisten gemein und stand dem Faschismus deshalb ambivalent gegenüber, eine der ersten, praktisch orientierten Gruppe fremde Haltung.131 (2) Der Tillich-Kreis der Religiösen Sozialisten (der Kairos-Kreis), so Döring, gehörte zur zweiten Gruppe, die nicht in erster Linie beim traditionellen Christentum oder dem Proletariat, sondern bei der Krise der modernen Kultur und bürgerlichen Gesellschaft ansetzte. Sie suchte nach einem „dritten Weg", einer neuen Form des Sozialismus, die jenseits des Marxismus und der formalen Leere des bürgerlichen Zeitalters eine neue Seinsmöglichkeit bieten könnte. Bei dieser Suche übernahm die Gruppe einige allgemein anerkannte Einstellungen der Zeit, wie z.B. den Argwohn gegenüber dem optimistischen Liberalismus, der Progressivität und dem Rationalismus der vorangegangenen Epoche, sowie die Sehnsucht nach einer mittelalterlichen Synthese zur Wiederherstellung der Autorität und Wiederaufnahme der irrational-mythischen Dimensionen des Lebens und der Geschichte. 132 Derart konnten Religiöser Sozialismus und Nationalsozialismus nebeneinander gedeihen.
131 132
Faschismus aus dem marxistischen Blickwinkel betrachtet, wie das Vorwort von Arnold Pfeffer deutlich sagt: „Die Arbeit steht im Bezugsfeld der marxistisch-leninistischen Geschichtsbetrachtung. Von daher erscheint der Einfluß von Konzeptionen, die den Nationalsozialismus als anti-modern und als totalitär begreifen und abwehren, wie eine Aberration von der 'wahren', der soziologischen Erklärung" (ibid., S. 5-6). Ibid., S. 12 ff. Ibid., S. 12-13.
Entgegengesetzte Antworten auf den Erfolg des Nationalsozialismus
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(3) Für Tillich und einige seiner religiös sozialistischen Genossen war damit der Faschismus nicht ipse facto ein dämonischer Gegner, sondern eher ein potentieller Verbündeter im Kampf gegen den Liberalismus der vorhergehenden Epoche und für die Schaffung eines neuen Seinsmodus. Sie glaubten, der Faschismus sei ein Übergangsphämonen in Europa, der nach einer Kurskorrektur und nach der Befreiung aus seiner Allianz mit der reaktionären Mittelklasse und den bürgerlich-kapitalistischen Kräften noch immer zur Unterstützung einer wahrhaft sozialistischen Gesellschaft gelangen könnte. 133 (4) Döring rechnet Tillich zum rechten Hügel der SPD, der Uber Marx hinausgehen wollte, um den Sozialismus neu zu begründen und so die Unterstützung des Kleinbürgertums (das zunehmend von der nationalsozialistischen Bewegung in Versuchung geführt wurde) und der starken Jugendbewegungen für den Kampf gegen eine modern-kapitalistische Entwicklung und für eine sozialistische Zukunft zu gewinnen. 1 3 4 Eines der Hauptelemente dieses „neuen Sozialismus", wie Tillich und andere ihn sahen, war die Betonung der Lebensganzheit einschließlich der Ursprungsdimensionen, die Tillich zeitweise die sakramentalen Aspekte der Wirklichkeit nannte. In seinen Augen sollte die Welt entsäkularisiert werden, religiös durchdrungen, geheiligt und von ewigen Wahrheiten getragen sein. Alle menschlichen Handlungen sollten der Erfüllung der göttlichen Forderungen dienen. Hierin, sagt Döring, liegt die verborgene Sehnsucht nach dem Mittelalter, die romantische Komponente dieser Form des Religiösen Sozialismus. 135 Die Religiösen Sozialisten hofften so, die Menschen von ihrer Versklavung an die Maschine und den wirtschaftlichen Materialismus befreien zu können und sie dazu zu befähigen, die Entfremdung zwischen Subjekt und Objekt, Sein und Denken mit Hilfe einer neuen dialektischen Sicht von Leben und Geschichte zu überwinden. (5) In Tillichs Augen, so Döring, erhob sich der Faschismus aus dem großen Kairos der Nachkriegszeit als ein teilweise berechtigter Protest gegen die Hybris der leeren autonomen Formen der Zeit. 136 Der Nationalismus in
133 134 135 136
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
S. S. S. S.
13. 16. 17-18. 21-22.
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der Weimarer Republik war Protest gegen die übermäßig rationalistische Wirklichkeitssicht. Die Wiederentdeckung des irrationalen Lebensziels war eng verbunden mit einer positiven Wertung von Religion, Staat und Volk. Die Gefahr dabei war die Anfälligkeit für reaktionäre und antisozialistische Kräfte. Gerade diese reaktionär-antisozialistischen Kräfte siegten schließlich in der NSDAP, was Tillich uneingeschränkt ablehnte, weil er sie als Rückfall in die Barbarei betrachtete. 137 (6) In den letzten Jahren der Weimarer Republik fühlte sich eine große Zahl bürgerlicher Jugendlicher intellektuell heimatlos. Ihre Einstellung war antikapitalistisch, antiindividualistisch und antirationalistisch. Sie standen zwischen zwei Fronten: einerseits waren sie dem kapitalistischen status quo, andererseits der sozialistischen Zukunft entfremdet. Daß das nationalsozialistische Programm unklar und wenig konkret war, sprach sie an und nahm ihre Phantasie in Anspruch. 138 Besonders attraktiv an der NSDAP fanden sie nicht nur den antikapitalistischen Geist und den Kampf gegen das revolutionäre Proletariat, sondern vor allem das antiintellektuelle Element. Dieses mythische Moment fand seinen höchsten Ausdruck bei Rosenberg, dessen Ideen für viele zum Ersatz der rationalistisch-wissenschaftlichen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts wurden. Zudem drückte es sich in der nationalsozialistischen Wertschätzung des Volkes und der Forderung nach unbedingter Ergebenheit einem autoritativen Führer gegenüber aus. 139 (7) So oszillierte der Nationalsozialismus in den frühen Jahren zwischen zwei Polen: er war reaktionär und antimodern, sowie revolutionär-antikapitalistisch mit sozialistischen Anleihen. Das führte in den frühen 30er Jahren zum Konflikt zwischen den reaktionären Kräften der Parteiführung und den revolutionären Kräften des linken Flügels der Partei. 140 Schließlich siegten die 137 138 139 140
Ibid., S. 24 ff. Ibid., S. 26-27. Ibid., S. 28-29. Ibid., S. 32. Nach Dörings Ansicht hatte das nationalsozialistische Programm in seinen frühesten Entwicklungsstufen durchaus Anleihen beim Geist des Sozialismus genommen, doch Hitlers Geldbedarf erforderte eine Koalition mit den großen kapitalistischen Kräften, und die sozialistischen Elemente wurden zunehmend aus der Bewegung gedrängt (ibid., S. 127, Anm. 239). Halperin vertritt in „Germany Tried Democracy" eine ähnliche Meinung; er untersucht die frühen ideologischen Anleihen von Paul Josef Goebbels, Robert Ley und den beiden Strasser-Brüdern Gregor und Otto. Halperin schreibt über Robert Ley und Paul Josef Goebbels: „Die beiden Männer versuchten
Entgegengesetzte Antworten auf dai Erfolg des Nationalsozialismus
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reaktionären Kräfte unter der Führung Hitlers, der linke Hügel der Partei wurde eliminiert und die Allianz mit der Industrie oder Großindustrie geschlossen, um die totale politisch-wirtschaftliche Macht zu erlangen. Diese frühe Zweideutigkeit innerhalb der Bewegung hilft, um die ambivalente Haltung Tillichs und seiner religiös-sozialistischen Genossen bei den „Neuen Blättern für den Sozialismus" gegenüber dem nationalsozialistischen Phänomen zu Beginn der 30er Jahre zu erklären. Sie betrachteten den Nationalsozialismus als Bewegung der politisch erwachten Mittelklasse und als Übergangsphänomen. Ihrer Meinung nach würde er sich entweder von seinen revolutionären Kräften trennen und sich dem bestehenden kapitalistischen System anpassen (wie es in der Tat sehr schnell geschah), oder er würde einen sozialistischen Weg einschlagen und im Sozialismus die Antwort auf die Forderungen und Wünsche des Kleinbürgertums sehen. 141 (8) Tillichs Buch „Die sozialistische Entscheidung" (das einzige Werk Tillichs, in dem er sich direkt und ausdrücklich mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat) ist zu verstehen vor dem Hintergrund jener Zweideutigkeit innerhalb der Bewegung selbst und im Kontext seiner eigenen erklärten Neigung, immer auf der Grenze zu stehen, sich in zwei Lagern gleichzeitig heimisch zu fühlen und sich immer mit Vermittlung und Synthese zu befassen, besonders der Synthese zwischen der jeder Substanz und jeden Sinns entleerten Welt und der dem modernen Leben entfremdeten Theologie. Tillichs religiös-sozialistisches Denken hat ein irrational-mythisches Element,
141
zusammen mit Hilfe von Otto Strasser, Georgs Bruder, die Bewegung immer weiter nach links zu treiben. Sie verlangten die Zerstörung des Kapitalismus und die Aufrichtung einer 'gemeinschaftlichen' sozialistischen Gesellschaft. Zur Durchsetzung ihrer Ziele wollten sie mit den revolutionären Elementen in anderen Ländern - Rußland, Indien und China - zusammenarbeiten. Goebbels meinte einmal, es gebe keine wesentlichen Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus. 'Sie und ich bekämpfen einander', schrieb er in einem Brief an einen seiner bolschewistischen Widersacher, 'aber wir sind nicht wirklich Feinde. Unsere Kräfte sind zersplittert und wir erreichen niemals unser Ziel.' Gegen dieses radikale Geschwätz setzte Hitler sich durch. Er bestimmte, daß die Partei Privateigentum und freies Unternehmertum zu schützen habe. Bei einem Bezirksleitertreffen im Februar 1926 wurde die Angelegenheit bereinigt. Goebbels wandte sich von Strasser ab und stellte sich hinter Hitler" (S. 371; Ü.a.d.O.). Während Goebbels zu einem der vertrautesten und loyalsten Ergebenen Hitlers wurde, fiel Georg Strasser im Dezember 1932 in Ungnade beim Führer. Christentum und Faschismus, S. 33-34.
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Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
übt Kritik an der Moderne und versucht, die Moderne mit Hilfe seines Theonomie-Gedankens zu überwinden, wobei Theonomie weniger rational verstanden ist, sondern auf den irrationalen Grund aller Phänomene, auf die verborgene göttliche Macht hinter allen Ereignissen hinweist. 142 Tillich steht zwischen Bejahung und Verneinung der Moderne: er bejaht die rationale moderne Kultur in ihrer Autonomie und will ihr gleichzeitig einen mythischirrationalen Gehalt geben, um die Kultur zu heiligen. Er steht gleichzeitig im und außerhalb des irrationalen Denkens des 20. Jahrhunderts. Das schafft seine ambivalente Haltung zum Nationalsozialismus, nicht zum terrorisierenden Nationalsozialismus der „Braunhemden", aber zum Nationalsozialismus als dem Ausdruck eines mythischen Protestes gegen eine unannehmbare moderne, substanz- und sinnentleerte Welt. 143 (9) Tillichs Kairos-Lehre beabsichtigte die Verbindung der irrationalmythischen und der rationalen Elemente in der Geschichte. Eine wahrhaft sozialistische Entscheidung auf seiten des Proletariats ist in seinen Augen nur möglich, wenn dieses sich für die Ursprungsmächte und gegen deren bürgerliche Verzerrung entscheidet. Eine solche Entscheidung rückte den Sozialismus in die Nähe zur politischen Romantik, ohne sie wirklich zu bejahen. 1 4 4 Tillichs grundsätzliche Ambivalenz zu Romantik, Nationalismus, sowie Irrationalismus und konsequenterweise zum Nationalsozialismus in den frühen 30er Jahren (vor der Wendung zum Schlechteren) wurzelt in seiner Sehnsucht nach dem romantischen Ursprungsmythos, nach einer vergangenen Zeit, in der Blut, Boden und Gemeinschaft alles Leben umfaßten. Nach Döring ist Tillich von Anfang an nicht in der Lage, den Nationalsozialismus wirklich und konsequent zu kritisieren wegen seiner dialektischen Haltung zum Dämonischen. In jeder dämonischen Manifestation wirkt für Tillich auch eine schöpferische Macht; das gilt auch für den Nationalsozialismus.145 Die politi-
142 143 144 145
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
S. S. S. S.
36. 36-37. 40-41. 50-51.
Entgegengesetzte Antworten auf dai Erfolg des Nationalsozialismus
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sehe Romantik scheitert jedoch da, wo sie die Ursprungsmacht gegen das prophetische sozialistische Denken ungebrochen und undialektisch bejaht. 146 (10) In seinem Buch: „Die sozialistische Entscheidung" unterscheidet Tillich zwischen konservativer Romantik und revolutionärer Romantik. Die revolutionäre Romantik ist für ihn die Aktualisierung der dynamischen Masse, von der er in den frühen 20er Jahren so viel gesprochen hatte und die er in Beziehung zum revolutionären Sozialismus setzt. Beide suchen nach einer neuen Wirklichkeit jenseits der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft. 147 Sie unterscheiden sich darin, daß die politisch-revolutionäre Romantik das bürgerliche Prinzip aufheben, der Sozialismus es aber anpassen und Uber es hinausgehen will. Eine Übereinstimmung beider wird nicht in erster Linie wegen ihrer wesensmäßigen Unterschiede mißlingen, sondern wegen der Tragik der gegenwärtigen Situation. Beide brauchen einander, beide müssen die rationale mit der mythischen Dimension vereinen, wie Tillich es versucht. In den frühen 30er Jahren hält Tillich eine Übereinkunft beider durchaus für möglich. Dabei wäre der Beitrag des Nationalsozialismus, daß er die Gruppen, die den Ursprungsmächten anhingen, gegen das kapitalistische System revolutioniert. Der „sozialistische" Teil seines Namens sollte nicht vergessen, sondern als Ausdruck einer wirklichen Vorwegnahme einer vollkommenen gesellschaftlichen Umwandlung betrachtet werden (deren Symbol das „Dritte Reich" ist). Tillich hofft, daß die Mittelklasse nicht länger Vorteile aus ihrer Allianz mit der revolutionären Romantik schlagen kann und sich der Nationalsozialismus doch noch für den zweiten Teil seines Namens entscheiden und wirklich antikapitalistisch handeln könnte. Das ermöglichte die Verbindung zwischen ursprungsnahen Gruppen und dem Proletariat im zukünftigen Sozialismus. 148 (11) Nach Döring zeigt sich Tillichs Ambivalenz zum Nationalsozialismus (oder zur politisch revolutionären Romantik) in seinen beiden offenen Briefen an Hirsch (1934 und 1935), in denen er zugibt, daß seine religiös-sozialistischen Kategorien mit dem Denken Emanuel Hirschs verwandt sind. Beide 146 147 148
Ibid., S. 52. Ibid., S. 54. Ibid., S. 56-57.
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Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
suchten nach einer neuen Theonomie auf der Basis eines neuen Mythos. Tillich und die Religiösen Sozialisten setzten ihr Vertrauen in die Arbeiterbewegung, Hirsch dagegen setzte seine Hoffnung in andere gesellschaftliche Schichten: die konservativen revolutionären Kräfte der Mittelklasse. 149 Doch Tillich und die Religiösen Sozialisten konnten die Massen nicht für einen neuen, am Ursprungsmythos orientierten Sozialismus zur Unterstützung der SPD gewinnen. Tillich sollte das bald feststellen.
Zwei Formen von Wagnis Wie bereits erwähnt, wird Dörings These von unserer Studie Uber Tillichs religiöses und politisches Denken in den 30er Jahren bestätigt. Wir betrachteten besonders seine Kritik an der individualistisch-bürgerlichen Kultur, in der es keine unmittelbaren Gemeinschaftsbeziehungen durch Familie, Sippe, Stamm, Volk und Staat gibt, seine Forderung nach einer wahrhaft sozialistischen Entscheidung, in der der Ursprungsmythos ernst genommen würde, und seine Sehnsucht nach einer neuen Synthese von Religion und Kultur, in der die irrational-mythische Dimension (der religiöse Grund aller Kultur) wieder anerkannt sein würde. Dies stützt Dörings These, daß Tillich den Faschismus nicht ipse facto als dämonisch ablehnte, sondern daß er, obgleich er die Möglichkeit der Barbarei im Nationalsozialismus erkannte, in ihm - falls er seinen Kurs korrigiere - einen potentiellen Verbündeten im Kampf gegen den leeren Liberalismus der vorangegangenen Epoche und für die Schaffung einer neuen theonomen Existenz in der europäischen Gesellschaft sah. Auch wenn ich mit Dörings Analyse in Teilen übereinstimme, weist sie meiner Meinung nach eine Reihe Mängeln auf. Döring wird den kritischtheologischen Elementen in Tillichs Denken nicht gerecht. Hier ist insbesondere an Tillichs „protestantisches Prinzip" und den prophetischeschatologischen Begriff des „Gottesreiches" zu denken, die Kriterien zur
149
Ibid., S. 57.
Entgegengesetzte Antworten auf dai Erfolg des Nationalsozialismus
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unzweideutigen Beurteilung aller menschlich-geschichtlichen und politischen Bewegungen an die Hand geben. Obwohl richtig ist, daß Tillich Aussagen Uber die Bedeutung des „Ursprungsmythos" - besonders in ihrem zeitgeschichtlichen Zusammenhang macht, die bemerkenswert positiv sind, und obgleich die romantischen Elemente in Tillichs Denken nicht geleugnet werden können (sie werden besonders deutlich in seinen Aussagen zur politischen Romantik und in seiner Kritik am dogmatischen Marxismus), wendet er diese theologischen Kriterien ganz klar und eindeutig zur Beurteilung aller „Ismen" an. „Die sozialistische Entscheidung" fordert denn auch, daß der Ursprungsmythos (das „Woher" aller menschlichen Existenz) angesichts des „Sollens" der Geschichte (das „Wozu" der menschlichen Existenz) gebrochen werden muß. Hier distanziert sich Tillich also vom Nationalsozialismus und damit von seinem Freund und politischen Gegner Emanuel Hirsch. Für ihn liegt der unschätzbare Beitrag des Liberalismus gerade darin, daß er den Ursprungsmythos brach. Bevor der Ursprungsmythos wieder in das protestantische Denken aufgenommen werden kann, muß also die fundamentale Wahrheit der zweiten Wurzel alles politischen Denkens akzeptiert werden: die liberale, demokratische und sozialistische Ablehnung des Ursprungsmythos. Wenn eine wahrhaft sozialistische Entscheidung getroffen ist, wird die Aufnahme des Ursprungsmythos keine Rückkehr zur Vergangenheit, sondern zum wahren Ursprung bedeuten, der in der zukünftigen gerechten Gemeinschaft liegt, die auf dem Verständnis des Reiches Gottes aufbaut. Die Klarheit, mit der Tillich sein protestantisches Prinzip, bzw. seine Prinzipien bereits 1932 auf die politische Situation anwandte, ist, wie wir sahen, in seinen „10 Thesen" offenkundig. Er schreibt, daß der Protestantismus seinen wirklichen christlich-prophetischen Charakter nur dann bewahren kann, wenn er das Christentum des Kreuzes dem Heidentum des Hakenkreuzes und der Heiligung von Volk, Rasse, Blut und Autorität entgegenstellt. Die unterschiedlichen Antworten Tillichs und Hirschs zum Nationalsozialismus sind schließlich auch auf der theologischen Ebene zu untersuchen. Dabei bestätigt Dörings Analyse zunächst die Unsicherheit der religiöspolitischen Situation von 1933. Weder Hirsch noch Tillich wußten wirklich,
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Politische Ethik und theologische Voraussetzungen
wohin die nationalsozialistische Bewegung zielte. Die Situation forderte jedoch von beiden, ein Wagnis einzugehen. Ihre Wagnisse waren jedoch von verschiedener Gestalt, was an ihren unterschiedlichen theologischen Ansichten lag. Für Hirsch bedeutete Wagnis die unbedingte Unterstützung der Bewegung, die auch in die Irre gehen konnte, es hieß also, mit anzupacken, nicht zurückzuschauen und so die gottgebenene Verantwortung bei der Gestaltung der Bewegung anzunehmen und mitzuhelfen, sie in die richtige Richtung zu steuern. Hinter diesem Wagnis stand ein besonderes Verständnis dessen, was Gott in einer bestimmten geschichtlichen Situation fordert. Für Tillich konnte es aufgrund seines „protestantischen Prinzips" des Protestes keine unbedingte Loyalität zu irgendeiner irdischen Bewegung geben; für ihn hieß das Wagnis im Jahr 1933, aus seiner Heimat ins Exil zu gehen, „auf der Grenze zwischen Heimat und Fremde" zu leben. Hinter Tillichs Wagnis stand ein anderes Verständnis dessen, was Gott in einer zweideutigen Situation fordert. Die dramatische öffentliche Debatte zwischen den beiden in den Jahren 1934-35, der wir uns nun zuwenden, fördert die theologischen Unterschiede hinter ihren Antworten auf den Nationalsozialismus zutage.
TEIL DREI
Grundlegende Fragen der Debatte von 1934 - 35
8 Religiöser Sozialismus und Kairos Die öffentliche Konfrontation zwischen Paul Tillich und Emanuel Hirsch von 1934-35 war der Höhepunkt ihres langen Ringens um die jeweiligen theologischen und politischen Ansichten seit ihrer ersten Begegnung im Jahr 1907. Ihre frühen Differenzen während des Ersten Weltkrieges, ihre zunehmende Divergenz während der Weimarer Zeit und ihre konträren Antworten auf Hitler und den Nationalsozialismus 1932-33 führten zum dramatischen Bruch ihrer Freundschaft in den Jahren 1934-35. Im dritten Teil (Kapitel 8, 9 und 10) untersuchen wir die drei Dokumente dieser öffentlichen Debatte genauer. Dies bildet den Höhepunkt unserer gesamten Studie. Abschließend richten wir unser Augenmerk auf die Reaktionen, die die Debatte in deutschen Theologenkreisen hervorrief, versuchen eine Beurteilung der Vorwürfe, die Tillich und Hirsch gegeneinander erhoben, und untersuchen, was die Debatte für die politische Aufgabe der Theologie bedeutet. Das erste der drei Dokumente ist Tillichs erster offener Brief an Hirsch vom 1. Oktober 1934, der in der Novemberausgabe der „Theologischen Blätter", einer von Tillichs Freund und Kollege Karl Ludwig Schmidt herausgegebenen Zeitschrift, erschien. Schmidt gehörte wie Tillich zu der kleinen religiös-sozialistischen Gruppe in Deutschland und war ein Mitglied des sogenannten Berliner „Kairos-Kreises". 1 Tillichs Brief, der Anlaß für die
Vgl. Stumme, Socialism in Theological Perspective, S. 23 ff. Schmidt, ein Neutestamentler, war auch ein Freund und Fakultätskollege Karl Barths an der Universität Bonn in den frühen 30er Jahren. Als Sozialdemokrat war auch er in Gefahr, 1933 von der nationalsozialistischen Regierung suspendiert zu werden. Vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 551; und: Eberhard Busch, Karl Barth. Lebenslauf nach seinen Briefen und autobiographischen Texten. München: Kaiser, 1975, S. 201, 214,255.
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Grundlegende Fragen der Debatte von 1934-35
Auseinandersetzung, trug den Titel „Die Theologie des Kairos und die gegenwärtige geistige Lage. Offener Brief an Emanuel Hirsch."2 Das zweite Dokument ist Hirschs Antwort in einem Brief vom 16. November 1934 an seinen Freund Wilhelm Stapel, einen Mitstreiter in der jungnationalen lutherischen Bewegung, die sich der nationalen Erneuerung auf der Grundlage der lutherischen Theologie verschrieben hatte. Stapel, Begründer und Herausgeber des „Deutschen Volkstums", hatte Hirschs Denken, insbesondere seine Idee des Volksnomos
, stark beeinflußt. 3 Der
Brief trug den einfachen Titel „Brief an Herrn Dr. Stapel" und erschien zusammen mit Hirschs Erwiderung auf Äußerungen des dänischen Theologen Eduard Geismar in einem Buch mit dem Titel: „Christliche Freiheit und politische Bindung. Ein Brief an Herrn Dr. Stapel und anderes."4 Das dritte und letzte Dokument ist Tillichs kurze Wiederholung seiner Position in einem zweiten offenen Brief an Hirsch vom Mai 1935. Dieser letzte Brief ist weniger leidenschaftlich und persönlich gehalten (Tillich läßt vor allem den Vorwurf des „Plagiats" unwiederholt) und trägt den Titel: „Um was 2
3
4
Paul Tillich, Die Theologie des Kairos und die gegenwärtige geistige Lage. Offener Brief an Emanuel Hirsch, in: Theologische Blätter 11, 13 (November 1934), S. 305328; auch in: EGW VI, S. 142-176. Stapel gründete die Zeitschrift „Deutsches Volkstum" 1919, wollte die Verbindung des lutherischen Christentums mit dem völkisch-nationalen Patriotismus und war besonders von Luther und Fichte beeinflußt. Stapel, Paul Althaus und Hirsch hatten diesbezüglich Gemeinsamkeiten und könnten als „politische Theologen" betrachtet werden. Stapels theologisch-politische Ansichten fanden 1922 in seinem Buch: „Der christliche Staatsmann. E n e Theologie des Nationalismus" ihren Ausdruck. Von besonderer Bedeutung für Hirsch war Stapels Begriff des Volksnomos oder Volksgesetzes, das besondere Gesetz oder Ethos einer nationalen Volksgemeinschaft. Obwohl sich Hirsch in mancherlei Hinsicht von Stapel unterschied, äußert er des öfteren, wie verpflichtet er Stapel sei und ihm besonders den Nomosbegriff verdanke (vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 125, 131, 150, 533 ff). Emanuel Hirsch, Brief an Herrn Dr. Stapel, in: Christliche Freiheit und politische Bindung. Ein Brief an Herrn Dr. Stapel und anderes. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1935, S. 7-47; auch in Tillich, EGW VI, S. 177-213. Der zweite Teil des Buches ist ein Brief an Eduard Geismar und trägt den Titel: Kreuzesglaube und politische Bindung (Eine ökumenische Zwiesprache), in: Hirsch, Christliche Freiheit und politische Bindung, S. 48-75. Im Abschlußteil dieses Buches listet Hirsch eine Reihe von Thesen auf, die seine grundsätzlichen theologischen und politischen, auf der lutherischen Theologie fußenden Ziele im Unterschied zu den Positionen Tillichs und Geismars erläutern. Die Hirsch-Geismar-Debatte wurde von Jens Holger Schjorring, Theologische Gewissensethik und politische Wirklichkeit. Das Beispiel Eduard Geismars und Emanuel Hirschs. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979, analysiert.
Religiöser Sozialismus und der Kairos
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es geht. Antwort an Emanuel Hirsch." Auch er wurde in den „Theologischen Blättern" veröffentlicht. 5 Da uns keine vollständige Analyse der Debatte bekannt ist und zudem Hirschs Position nie die Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die sie verdient (Hirschs Antwort wurde beispielsweise nie ins Englische Ubersetzt), widmen wir die Kapitel 8 und 9 der Argumentation auf beiden Seiten.
Der Vorwurf des Plagiats in Tillichs erstem offenen Brief an Hirsch Tillich wurde am 13. April 1933 von seiner Professur an der Universität Frankfurt suspendiert, obgleich er erst am 20. Dezember 1933 offiziell aus dem Staatsdienst entlassen wurde, als er bereits in New York City lebte. Er kam am 3. November 1933 in New York an, um seine Pflichten als Professor für Religion und Systematische Theologie am Union Theological Seminary wahrzunehmen. Hier erhielt er 1934 ein Exemplar von Hirschs Buch: „Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung", ein Buch, das seinen Zorn erregte. Am 1. Oktober 1934 verfaßte er seinen offenen Brief an Hirsch. Der Brief besteht aus vier Teilen: einem kurzen Vorwort, in dem Tillich auf Persönliches eingeht und die Vorwürfe gegen Hirsch kurz auflistet; im ersten Hauptteil versucht Tillich zu zeigen, wie Hirsch die Hauptkategorien des Religiösen Sozialismus, besonders die Kairos-Lehre, sich angeeignet und sie ihres urspünglichen Sinnes beraubt habe; der zweite Teil ist Tillichs Kritik an Hirschs theologischer Methode; im kurzen Schlußabschnitt zieht er Schlußfolgerungen aus dem Vorangegangenen. Zum besseren Verständnis der Hintergründe dieser Debatte ist es hilfreich, drei grundsätzliche Ebenen festzuhalten: die persönliche, die politische und die theologische. Alle drei Dimensionen spielen in der Kontroverse eine Rolle.
Paul Tillich, Um was es geht. Antwort an Emanuel Hirsch, in: Theologische Blätter 5, 14 (Mai 1935), S. 117-120; auch in: EGW VI, S. 214-218.
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Meiner Meinung nach ist die theologische die wichtigste, gefolgt von der politischen Ebene, die auf gewissen theologischen Annahmen ruht; schließlich folgt die persönliche und biographische Seite.6 Der persönliche Unterton ist im gesamten Brief zu spüren, wie sehr sich Tillich auch bemüht, die objektiven, theologischen Aspekte der Meinungsverschiedenheit hervorzuheben. Er erklärt zum Beispiel im Vorwort, daß er ursprünglich den Brief nicht zu veröffentlichen gedachte, habe sich aber anders entschieden, als der Brief sich zu einem Angriff auf Hirschs Buch entwickelt und er die Möglichkeit einer ernsthaften Fehlinterpretation der Kairos-Lehre erkannt habe. Tillich sagt, es gebe Zeiten, in denen das „Persönliche" und das „Sachliche" untrennbar seien, und dies sei eine solche Gelegenheit. Besonders wichtig und notwendig sei in der gegenwärtigen Situation, mehr als einer Interpretation der Ereignisse von 1933 öffentlich Ausdruck zu verleihen.7 Im ersten Abschnitt der Einleitung stellt Tillich das Persönliche heraus; so anerkennt er ihre seit Jahren geführte wissenschaftliche Diskussion und weiß um den zunehmenden Gegensatz in grundlegenden Dingen und die Belastung, die dieses Auseinanderdriften für ihre Freundschaft bedeutet. Hirschs Buch habe ihm die Unterschiede in wichtigen Punkten noch bewußter vor Augen geführt. Tillich stimmt mit Barth darin überein, daß „Die gegenwärtige geistige Lage" ein äußerst wichtiges Buch zum Verständnis der Position Hirschs ist. 8 Er habe die Form des „offenen Briefes" gewählt, um den Gesprächscharakter ihrer Auseinandersetzung anzuzeigen, und das „öffentliche" Forum, um zu Reimer, Theological Method and Political Ethics, S. 173. Tillich, Die Theologie des Kairos, in: EGW VI, S. 142. Im April 1934 gibt Barth folgenden Kommentar zu Hirschs „Die gegenwärtige geistige Lage": „Ich komme von der Lektüre des neuen Buches von Emanuel Hirsch . . . . Man versäume ja nicht, es zu studieren! Es ist, im Unterschied zu nahezu allem, was ich von den Hervorbringungen des deutsch-christlichen Lagers bis jetzt gelesen habe, ein nach allen Seiten wohl überlegtes und endlich auch einmal ein lesbar und interessant geschriebenes Buch, in welchem sicher bis auf weiteres das Beste am besten gesagt ist, was sich für die Sache der D.C. allenfalls sagen läßt. Man kann und muß ihm auch das nachrühmen, daß sein Verfasser mit dem, was er heute vorträgt, im Unterschied zu manchen seiner Glaubensgenossen durchaus in der Linie dessen bleibt, was er immer gemeint, gewollt und vertreten hat. Wenn irgendeiner in dieser Sache echt und zum Reden legitimiert ist, dann Emanuel Hirsch. Umso deutlicher und gewisser kann es einem gerade angesichts dieses Buches werden, daB und warum man zu dieser Sache Nein, Nein und nochmals Nein sagen mufi: genauso diskussionslos, wie sie selber sich in ihrer Grundthese einführt und darstellt" (Karl Barth zum Kirchenkampf, S. 20).
Religiöser Sozialismus und der Kairos
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betonen, daß dies kein privates Gespräch sei, sondern daß es hier um äußerst wichtige öffentliche Prinzipien gehe.9 Die politischen und theologischen Dimensionen der Debatte sind eng miteinander verwoben und können nur durch sorgfältige Analyse des Textes isoliert werden. Tillich meint zunächst, Hirschs Buch habe ihn und andere aus mehreren Gründen erstaunt. Dann listet er seine ersten drei Vorwürfe auf: Zunächst beschuldigt er Hirsch des Plagiats; er habe sich alle entscheidenden Kategorien seiner politischen und religiösen Widersacher (der Religiösen Sozialisten) der vergangenen 14 Jahre angeeignet, um den Ereignissen der Wende in der deutschen Geschichte einen Sinn geben zu können. Zweitens wirft er Hirsch vor, absichtlich seine formale Übereinstimmung mit den Begriffen der Religiösen Sozialisten verdeckt zu haben. Tillich zeigt sich am meisten davon betroffen, daß Hirsch drittens bei der Anwendung dieser Kategorien sie ihres tiefsten Sinnes beraubt habe. 10 Daher habe er sich gezwungen gesehen, den Brief zu schreiben. Obwohl er vorgezogen hätte zu schweigen, zwinge ihn der Gebrauch und Mißbrauch besonders der KairosLehre, die lange Zeit mit ihm selbst in Verbindung gebracht worden sei, öffentlich gegen seinen langjährigen Freund die Stimme zu erheben. Hinter Tillichs Vorwürfen, Hirsch habe sich aus politischem Opportunismus fremde Kategorien angeeignet, steht ein Motiv, das im gesamten Brief immer wiederkehrt. Tillich scheint der Meinung, Hirsch wisse nicht 9 10
Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 142-143. Ibid., S. 143. Die erste allgemeinere Anschuldigung formuliert Tillich folgendermaßen: ,Das Erstaunen gründet sich auf die Tatsache, daß Du, um die neue Wendung der deutschen Geschichte theologisch zu deuten, alle entscheidenden Begriffe des vierzehn Jahre lang von Dir bekämpften und nun äußerlich überwundenen Gegners gebrauchst." Die beiden weiteren Vorwürfe lauten folgendermaßen: .Aber diese Freude ist durch ein Doppeltes getrübt: einmal durch die Tatsache, daß Du Deine Ubereinstimmung mit den religiös-sozialistischen Kategorien geflissentlich verhüllst, und zweitens durch die Tatsache, daß Deine Verwendung dieser Kategorien sie um ihren tiefsten Sinn bringt." Jack Forstman, Christian Faith in Dark Times: Theological Conflicts in the Shadow of Hider (Louisville: Westminster I John Knox Press, 1992), S. 214 Anm. 4 und Edmund Arens in seiner Rezension zu meinem Buch in: Theologische Revue 4, Jg. 87 (1991), S. 303-305 haben darauf hingewiesen, daß ich in der ersten amerikanischen Auflage meines Buches Tillich hier falsch übersetzt und mißinterpretiert habe. Obwohl Tillich selbst das Wort .Plagiat" in diesem ersten Brief nicht verwendet und in seinem zweiten offenen Brief vom Mai 1935 seinen Vorwurf dahingehend abschwächt, als er behauptet, dies alles so nicht gemeint zu haben (vgl. unten, S. 376), faßten Hirsch und andere den Brief doch als Vorwurf der verschleierten Verpflichtung auf; vgl. auch oboi, S. 296 f.
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Brief immer wiederkehrt. Tillich scheint der Meinung, Hirsch wisse nicht recht, in welcher Beziehung geistige Integrität und die Forderungen des gegenwärtigen politischen Kampfes stehen. 11 Kurz gesagt: Hirsch nehme aus Bequemlichkeit Kategorien an, die er ansonsten grundsätzlich ablehne, weil sie gegenwärtig zur Ideologie und zum deutschen Klima paßten. Damit ordne er seine theologischen Überzeugungen und die ehrliche historische Analyse der Pärteipolitik unter. Hirschs Analyse erschiene, so Tillich, in einem anderen Licht, wenn er seine Abhängigkeit von der religiös-sozialistischen Begrifflichkeit zugegeben hätte. Aber nirgendwo erkenne Hirsch an, daß Tillichs Arbeit ihm die methodische Grundlage für seine eigene Interpretation des Jahres 1933 geboten habe. Tillich findet Hirschs Karikatur des Religiösen Sozialismus als „Religiösen Marxismus" besonders beleidigend, weil Marxismus in der Öffentlichkeit ein negativ besetzter Begriff sei. Tillich fragt sich, ob Hirsch seine Verpflichtung gegenüber dem Religiösen Sozialismus unbewußt unterdrücke, ob er eine halbbewußte Angst vor den Konsequenzen der Anerkennung hege oder ob er lediglich politisch opportunistisch handle, d.h. der Politik vor der Wahrheit den Vorzug gebe.12 Tillich findet es am verwirrendsten, daß Hirsch eine seiner eigenen so ähnliche Sprache und ähnliche Begriffe für völlig andere politische Ziele verwenden kann. Die Kategorien, sagt Tillich, hätten Hirsch zu vollkommen anderen Schlußfolgerungen führen müssen. Er meint, das Gefühl für eine geschichtliche Wende und die Krise des bürgerlichen Zeitalters, die Hoffnung auf eine geistige, gesellschaftliche und politische Erneuerung Deutschlands und Europas seien für die Religiösen Sozialisten genau so stark gewesen wie nun für die Nationalsozialisten. Vor dem Nationalsozialismus habe der Religiöse Sozialismus bereits die Kritik an der Autonomie entwickelt und eine
11
12
Hier steht Tillich in Gegensatz zu Barths Beurteilung Hirschs: „Man kann und muß ihm [dem Buch: „Die gegenwärtige geistige Lage"] auch das nachrühmen, daß sein Verfasser mit dem, was er heute vorträgt, im Unterschied zu manchen seiner Glaubensgenossen durchaus in der Linie dessen bleibt, was er immer gemeint, gewollt und vertreten hat. Wenn irgendeiner in dieser Sache echt und zum Reden legitimiert ist, dann Emanuel Hirsch" (Karl Barth zum Kirchenkampf, S. 20). Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 143.
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Periode der Theonomie vorweggenommen, in der das dämonische Wesen der Klassengegensätze Uberwunden sein würde, eine Zeit, in der der Chiasmus zwischen Ewigkeit und Zeit Uberbrückt sein würde durch den religiös erfüllten Moment (den Kairos). 13 Tillich führt weitere Ähnlichkeiten an. Hirschs Themen seien die gleichen wie die der Religiösen Sozialisten: der Versuch, durch autonome Vernunft nach dem Zusammenbruch der religiös begründeten Kultur des Mittelalters die Gesellschaft wiederaufzubauen, die Katastrophe dieses auf Vernunft gegründeten „weltgestaltenden Willens" während des Ersten Weltkriegs und danach, die Bedeutung von Reformation und Gegenreformation für diesen Aufstieg der autonomen Vernunft, die Wichtigkeit der drei Symbole der Moderne - Wissenschaft, Technik und Wirtschaft - für die rationale Beherrschung der Natur, der Kampf für die Menschenrechte, die Verwerfung des Idealismus, der Einfluß von Karl Marx und Friedrich Nietzsche auf das 19. Jahrhundert. 14 Den grundlegenden Unterschied meint Tillich darin zu sehen, daß Hirsch eher den revolutionären Kräften des Mittelstandes als denen des Proletariats vertraut.15
Entlehnte Kategorien und Begriffe Tillich unterteilt den ersten Hauptteil seines Briefes wiederum in vier Abschnitte: (a) er nennt die Kategorien, die Hirsch sich angeblich von den Religiösen Sozialisten angeeignet hat, (b) er zeigt, wie Hirsch diese Kategorien ihres Sinnes entleert und sie verzerrt hat, (c) er erläutert deren wahren, berechtigten Sinn und beschreibt (d), wie Hirsch in seinen Augen die neue existentialistische Philosophie durch eine sakramentale Haltung verzerrt. Tillich nennt zunächst die Begriffe, die Hirsch dem
Religiösen
Sozialismus entnommen haben soll. Da ist erstens der zentrale religiös-sozia-
13 14 15
Ibid., S. 144. Ibid., S. 146. Ibid., S. 144. Tillich schreibt: „Du glaubst, daß die konservativen und mittelstandischrevolutionären Kräfte ein besserer Ansatz sind, ja im Prinzip die Erfüllung gebracht haben."
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listische Gedanke des Dämonischen. Die Religiösen Sozialisten benutzten ihn, um die in allen Geschichtsepochen wirksamen schöpferisch-zerstörerischen Mächte zu bezeichnen. Hirsch habe diesen Begriff jedoch gebraucht, um eine bestimmte Krisenzeit, die der Weimarer Republik, zu bezeichnen, und glaube, die letzten Ereignisse in Deutschland hätten diese dämonische Phase überwunden.16 Eine zweite von Hirsch verwendete religiös-sozialistische Kategorie ist die der Grenze. Hier meine Hirsch, seinen Gebrauch des Begriffes mit Verweisen auf ältere Verwendungen zu rechtfertigen. Aber wenn Hirsch seinen Begriff als „heilige Mitte" definiert, habe er, im Gegensatz zu früheren Vorstellungen, die Bedeutung der Grenzsituation, wie Tillich und Jaspers sie verstanden, de facto umgedreht. Hirschs „heilige Grenze", sei in Wirklichkeit eine Neuformulierung des Begriffes .Abgrund", den Tillich in seinem eigenen Werk verwendet. Wie die Religiösen Sozialisten verstehe Hirsch die bürgerliche Gesellschaft als Trägerin einer Religiosität ohne Erfahrung des Abgrundes und der Grenzsituation.17 Die dritte und wichtigste Vorstellung, die Hirsch kopiere, sei die des Kairos, ohne daß er den Begriff selbst je verwendet habe. Tillich ist erstaunt darüber, daß Hirsch das griechische „kairos" vermeidet, stattdessen das von Stapel benutzte griechische Wort „nomos" verwendet und anstelle der „Grenze" das griechische Wort „horos" einsetzt. Zudem verwendet er Ausdrücke wie: „gegenwärtige Stunde", „geschichtlicher Augenblick", „Geschichtsstunde", „Aufbruch", „besondere Verantwortung" usw. 18 Diese heimliche Anwendung der Kairos-Lehre scheint plötzlich eine grundsätzliche methodische Übereinstimmung zwischen ihnen zu schaffen. Viertens meint Tillich, Hirsch vertrete eine existentialistische Geschichtsauffassung, wie er selbst sie in seiner letzten deutschen Vorlesung als eine „existentialistisch-geschichtliche Methode" zu entwickeln versucht hätte. Einige Aussagen Hirschs über die existentialistische Geschichtsauffassung
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Ibid., S. 146; in Tillichs Worten: „Du übernimmst diesen Zentralbegriff und deutest das deutsche Geschehen als Überwindung der im Krisenzeitalter zusammengeballten Dämonien." Ibid., S. 147. Ibid.
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seinen fast wörtliche Wiederholungen aus Tillichs eigenen Schriften. 19 Die Religiösen Sozialisten hätten, wie es nun auch Hirsch versuche, die deutsche Wirklichkeit aus ihrer existentiellen Tiefe heraus zu verstehen und die Aufgabe der Stunde ernstzunehmen gesucht. Tillich meint, die logischen Konsequenzen aus Hirschs Forderung eines existentialistisch-geschichtlichen Denkens bedeuteten, negativ betrachtet, notwendigerweise den Bruch mit Friedrich Gogartens Form des dialektischen Denkens, der die Kairos-Philosophie als „Pest der Geschichte" betrachte. Nur durch Selbsttäuschung könne Hirsch sich eng mit Gogarten verbunden sehen. Positiv betrachtet miißte Hirsch sich konsequenterweise mit den Religiösen Sozialisten und ironischerweise mit Marx verbünden, mit dem er sich aber doch von allen Menschen am wenigsten identifizieren möchte. Im Unterschied zu Kierkegaard, auf den Hirsch sich berufe, wie auch zu Heidegger, den er ablehne, und Jaspers, den er nicht (einmal) zitiere, für die alle die individuelle Existenz im Vordergrund stehe, sei es in Wirklichkeit der junge Marx, der wirklich existentialistisch-geschichtliches Denken verlange. Darüber hinaus sei jeder existentialistisch-geschichtlich Denkende von der altjüdischen, prophetischen Tradition abhängig. Damit stelle Hirsch sich mit seinen jüngsten Aussagen nicht nur ganz klar in die Tradition des Marxismus, sondern auch des prophetischen Judentums und des Religiösen Sozialismus, was ihm aber sicherlich unangenehm sei.20 Fünftens vertrete Hirsch den Gedanken der dynamischen Wahrheit, eine Vorstellung, die zentral für die von den Religiösen Sozialisten entwickelte Kairos-Lehre ist. 21 Alle Konsequenzen dieser dynamischen Wahrheitssicht
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Ein solcher von Tillich zitierter Satz lautet: ,J>ie Existenz des Philosophierenden wird Maß der geschichüichen Existentialist der Philosophie" (ibid., S. 147). Tillich fügt hinzu, dies sei fast Wort für Wort die Wiederholung eines der grundlegenden Gedanken seines eigenen Werkes: „Gläubiger Realismus", in: Theologenrundbrief für den Bund deutscher Jugendvereine 2 (November 1927), S. 3-13; auch in: GW IV, S. 77-87. Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 148. Ibid., S. 148-149. Hirschs entscheidender Satz ist nach Tillich: „'Vernunft ist der sich als Logos geistig verstehende und entfaltende Nomos bestimmten menschlichgeschichtlichen Lebens selbst, und Wissenschaft ist nichts als Zucht und Rechenschaft dieses wirklichkeitsbestimmten Logos vor sich selbst über die ihn bestimmende Wirklichkeit.'" Tillich fügt an: „Ohne hier schon auf Deine Formulierungen einzugehen, möchte ich Dich erinnern, daß das Problem, das Du mit ihnen stellst, das Thema
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seien von den Religiösen Sozialisten genommen. Ähnlich stehe es sechstens mit Hirschs zentraler Kategorie des Wagnisses, die mit Tillichs eigener Vorstellung des Risikocharakters der Erkenntnis wie auch mit seinem Bild der Erkenntnis als Schicksal und Risiko in seinem Artikel: „Kairos und Logos" verwandt sei. 22 Tillich zeigt wieder seine eigenartige Verwandtschaft zu Hirsch, wenn er behauptet, er und die Religiösen Sozialisten seien sich bewußt darüber gewesen, daß es Erkenntnis nur in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft geben kann, wenn sie nicht frei schwebender Wille sein soll. Die Religiösen Sozialisten hätten versucht, die „Macht der Geschichte" im Volk zu verorten. 23 Tillich gibt jedoch später zu, daß die Religiösen Sozialisten die Macht des Volkes nicht ernst genug genommen hätten. Siebtens meint Tillich, Hirsch stutze sich auf die religiös-sozialistische Polarität von autonomen und theonomen Zeitaltern, um den Sinn der verschiedenen Geschichtsepochen zu erklären.24 Hirsch charakterisiere die Spätantike als eine Epoche der Entfremdung von Gott, in der Gott als ungeschichtliches, jenseitiges Sein verstanden wurde, das bürgerliche Zeitalter als die Zeit der selbstgenügsamen Macht von Vernunft und Freiheit und das vorchristliche Heidentum als eine ungebrochene Theonomie, in der eine einfache Einheit von geschichtlichem Sein und heiligem Horos angenommen wurde. Hirsch nenne
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aller Arbeiten war, die sich um die philosophische Begründung der Kairos-Lehre bemühten, daß die Lösungen weit über unseren Kreis hinausgewirkt haben, daß wir seit jener Zeit von einer 'dynamischen Wahrheit' gesprochen und eine 'dynamische Methode' zu entwickelt versucht haben? Muß ich Dich daran erinnern?' Ibid., S. 149. Tillich, Kairos und Logos, in: Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswendung, Darmstadt: Reichl, 1926; auch in: GW IV, S. 43-76. Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 149. In einem erstaunlich nach Hirsch klingenden Satz schreibt Tillich: „Für die Forderung, daß Erkennen, um frei schwebender Willkür zu entgehen, aus der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft geschehen müsse, zeugte der Religiöse Sozialismus durch seine Existenz. Er suchte innerhalb des Volkes den Ort der größten 'Geschichtsmächtigkeit' zu finden und aus der Gemeinschaft mit dieser Gruppe heraus die geschichtliche Existenz des Volkes und des Kulturkreises zu erhellen." Ironischerweise beschuldigt Hirsch Tillich eben dieser „frei schwebenden Willkür", die Tillich hier ablehnt (Hirsch, Chrisdiche Freiheit und politische Bindung, S. 28-29). Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 149-150: ,Peine Geschichtskonstruktion ist bestimmt durch den Gegensatz autonomer und theonomer Zeitalter, also die Grundvoraussetzung des Religiösen Sozialismus. ... Selbst die Heteronomie kennst Du, wenn Du von der 'Zerknickung der Gewissen durch widernatürlichen Zwang' sprichst, und Dich zu zeigen bemüht bist, daß so etwas in der neuen Theonomie nicht beabsichtigt sei."
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sowohl die heidnische Theonomie als auch die moderne Autonomie dämonisch und definiere eine wahrhaft theonome Zeit folgendermaßen: „Der geschichtliche Horos ist zugleich der heilige Horos, und doch ist der heilige Horos wiederum auch mit der Macht des Ewigen der den geschichtlichen als vergänglich verzehrende." 2 5 Der Religiöse Sozialist, so Tillich, sprach von der Theonomie als dem „Durchbruch von tragendem und verzehrendem Grund und Abgrund" in den geschichtlichen Lebensformen. 26 Sogar die Heteronomie, ein für Tillichs Denken zentraler Begriff, wird von Hirsch anerkannt, wenn er vom Aufbrechen des Gewissens durch die der Natur entgegenstehende Form spricht. Schließlich meint Tillich, Hirsch verwende bei seiner Besprechung von Entwicklung und Aufgaben der protestantischen Theologie die meisten der entscheidenden Begriffe, für die die Religiösen Sozialisten zuvor von orthodoxen Kirchentheologen verleumdet wurden. Dies seien Vorstellungen wie: „die evangelische Wendung wider sich selbst", die „Identität der Theologie mit einer theonomen Philosophie", „die bewegenden Grundmächte des gemeinsamen Lebens zu erkennen", die Überwindung des Historismus durch eine Betonung auf „Christus ... als der 'Mitte der Geschichte'", die Kritik an der Barthschen Geschichtstranszendenz als implizite Unterstützung der Dämonien der Zeit und endlich die Anerkennung dessen, daß der Begriff der Rechtfertigung für das Denken wie für die Sünde gilt, etwas, von dem Tillich behauptet, Hirsch habe es bisher abgelehnt. 27 Wenn Hirsch den Gedanken einer unabhängigen Existenz der Kirche in einem übergeschichtlichen Sinn ablehne und sich gegen die traditionelle Theologie zur Wehr setze, übernehme er einen auch von den Religiösen Sozialisten erhobenen doppelten Protest. Dann ist es für Tillich aber schwer zu verstehen, weshalb Hirsch für Gogarten Partei ergreift und nicht für ihn. 25 26 27
Zit. nach Tillich, ibid., S. 150. Ibid. Ibid. Tillich bezieht sich an dieser Stelle auf seine eigenen Schriften: zur Identität von Theologie und theonomer Philosophie, vgl: Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1923; auch in: GW I, S. 109-123; zur Überwindung des Historismus durch ein Geschichtsverständnis mit Christus als „Mitte der Geschichte", vgl.: Christologie und Geschichtsdeutung, in: Religiöse Verwirklichung, Berlin: Furche, 1930; auch in: GW VI, S. 83-96.
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Die einzige Erklärung für Tillich ist, daß im gegenwärtigen geistigen und intellektuellen Kampf eine enorme Verwirrung herrscht. Hirsch trägt aber keineswegs zur Klärung bei, obwohl er das hätte sehr leicht tun können. Was Tillich zutiefst verwirrt, ist die plötzliche scheinbare oder wirkliche methodische Übereinstimmung mit ihm in so vielen Einzelheiten. Hirschs Aussage: „Es ist die Macht der gegenwärtigen Stunde in Volk und Staat, daß wir nun alle miteinander ins echte, ursprüngliche Fragen hineingerissen worden sind", ist besonders aufrüttelnd, weil die gleichen Fragen zuvor von jenen gestellt wurden, die Hirsch als seine Gegner betrachtet.28 Hirsch benutzt nun diese Fragen als Grundlage für seine eigene Methode.
Verzerrung der religiös-sozialistischen Kategorien Im zweiten Abschnitt des ersten Teils seines Briefes versucht Tillich zu zeigen, wie Hirsch die religiös-sozialistischen Kategorien ihres ursprünglichen Sinnes entleert und verzerrt hat. Hirsch habe aus politischen Gründen so gehandelt und damit Tillich und die Religiösen Sozialisten in ein schlechtes Licht gerückt. Die Verzerrung sei besonders auffällig bei Hirschs Verwendung der Kairos-Lehre. Die wichtigste Unterscheidung der Religiösen Sozialisten war die zwischen einer sakramentalen Heiligung des in Raum und Zeit Gegebenen und einem prophetischen Verständnis der Verkündigung des Reiches Gottes. Für die Religiösen Sozialisten war das Reich Gottes Verheißung und Forderung zugleich. Das eschatologische Wesen der KairosLehre verband menschliche Verantwortlichkeit mit menschlicher Antizipation, widersetzte sich jedoch der götzendienerischen Sakramentalisierung einer geschichtlichen Stunde. ,J)u verkehrst die prophetisch-eschatologisch gedach-
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Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 151. Tillich weiter: „Die Älteren wissen noch von diesen Dingen und schütteln den Kopf. Wie kannst Du es aber vor den Jüngeren, die von allem dem nicht mehr wissen, verantworten, daß Du ihnen ein Bild von der Entwicklung gibst, das ihnen jeden Zugang zum Verständnis der wirklichen Entwicklung von vornherein verbaut?"
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te Kairos-Lehre in priesterlich-sakramentale
Weihe eines
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Geschehens."
Die drei wichtigsten theologisch-politischen Alternativen, die Tillich 1934 in Deutschland sieht, sind (1) die Dialektische Theologie Barths, (2) die jungnationale Theologie Hirschs und (3) die Kairos-Theologie, die er selbst und die Religiösen Sozialisten verteten. Barths Flucht in den abstrakten Supranaturalismus mit seinem „undialektischen" Geschichtsverständnis (Tillich erkennt, kurz gesagt, Barths Theologie nicht als wirklich dialektisch an) ist in Tillichs Augen eine Extremposition. Das andere Extrem ist Hirschs undialektisches Ineinssetzen von Übernatürlichem und Hier und Jetzt. In der Mitte steht Tillichs eigene Position, die eine wirklich „dialektische" Sicht der Beziehung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, dem Transzendenten und dem Geschichtlichen vertritt. 30 Tillichs theologische Konzeption im Unterschied zu Barths und Hirschs wird im folgenden recht deutlich: Dieses eschatologische Moment gehört unabtrennbar zur Kairos-Lehre, im Urchristentum wie im Religiösen Sozialismus. Es verbindet uns mit Barth, insofern wir mit ihm die greifbare Gegenwart des Göttlichen in einem endlichen Sein oder Geschehen bestreiten; es trennt uns von Barth, weil das Eschatologische bei ihm supranaturalen, bei uns paradoxen Charakter hat. Wir stellen das Transzendente nicht in einen undialektischen Gegensatz zur Geschichte, sondern glauben, daß es als echte Transzendenz nur verstanden werden kann, wenn es als das verstanden wird, was je und je in die Geschichte hereinbricht, sie erschüttert und wendet. In dieser Auffassung stehen Du und wir zusammen. Die Theologie des Kairos steht genau in der Mitte zwischen der Theologie des 29 30
Ibid., S. 152. Ibid., S. 152. Obwohl seine Behandlung von Hirsch extrem einseitig ist und einige schwere Fehler enthält, vergleicht und kontrastiert David Hopper in seinem Buch „Tillich: A Theological Portrait" das Denken Barths und Tillichs recht gut. Zu den divergierenden Denkmöglichkeiten der beiden Theologen nach 1919 schreibt er: „Barth verwies auf Gott, den Einen, der anders ist als der Mensch, der Eine, der dem Menschen die Vergebung durch Christus angeboten hat. Tillich dagegen verwies auf die Möglichkeiten einer neuen Schöpfung, Möglichkeiten, die in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation zu finden waren, die neben der Zerstörung und dem Zerfall der alten Seinsstrukturen existierten" (S. 37; Ü.a.d.O.). Obwohl es überzogen ist zu behaupten, Barth ermangele ein echter Schöpfungsgedanke und beurteile Kultur und Geschichte nur negativ, scheint es dennoch richtig, daß Tillich bereiter war, von einer „positiven" Allianz zwischen Christentum und Kultur zu sprechen. An dieser Stelle zeigt Tillich Ähnlichkeiten mit Hirschs Position.
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jungen nationalen Luthertums und der dialektischen Theologie. Sie betrachtet die zweite als eine Abweichung ins Abstrakt-Transzendente, die erste als eine Abweichung ins Dämonisch-Sakramentale. Gegen beide vertritt sie die prophetisch-urchristliche Paradoxie, daß das Reich Gottes in der Geschichte kommt und doch über der Geschichte bleibt. Es ist klar, daß eine solche dialektische Haltung weder geeignet war, noch geeignet ist für die undialektischen Notwendigkeiten des kirchenpolitischen Kampfes. Aber ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, daß sich in beiden Lagern Theologen und Nichttheologen finden, die in der unverzerrten Kairos-Idee einen Ausweg aus den Sackgassen finden werden, in die auf die Dauer Du wie Barth Theologie und Kirche hineinfuhren müssen. Solange freilich der Kampf tobt, stehen wir auf derjenigen Seite, die das Eschatologische gegenüber dem Angriff eines dämonisierten Sakramentalismus verteidigt. Wenn auch ein hoher Preis an supranaturaler Verengung und orthodoxer Verhärtung dafür gezahlt werden muß, es ist besser so als die Preisgabe des Eschaton an ein absolut gesetztes Endliches.31
Tillich und Hirsch gemeinsam ist ein radikales Verständnis des menschlichen Gefangenseins in der Geschichte. Das Transzendente kann nur von innerhalb der Geschichte erfaßt werden. Tillich und Barth sind der gleichen Überzeugung, daß das Transzendente niemals mit dem Geschichtlichen gleichgesetzt werden darf. Obwohl Tillich die Barthsche Theologie aus verschiedenen Gründen ablehnt, sieht er sich gegenwärtig auf Barths Seite gegen Hirsch. Tillich gesteht jedoch zu, daß der dialektische Zugang der KairosLehre, wie er und die Religiösen Sozialisten ihn wollten, „weder geeignet war noch geeignet ist für die undialektischen Notwendigkeiten des kirchenpolitischen Kampfes." 32 Tillich arbeitet aus, was eine wahrhaft dialektische Geschichtsbetrachtung für die Religiösen Sozialisten bedeutete. Sie betrachteten ihren Kampf als ein Ringen für das, was kommen würde. Ihr „gläubiger Realismus" hielt sie davon ab, jemals ein bestimmtes geschichtliches Ereignis romantisch zu verab-
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Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 152. Nach Hopper Jegt dieses Zitat nahe, daß ein EinfluB von Barth auf Tillich am ehesten in der Eschatologie erfolgt sein kann. ... Es sollte dennoch festgehalten werden, daß die unabhängigen Wurzeln von Tillichs Eschatologie in seinem Verständnis Gottes als des Unbedingten, als des Grundes der Subjekt-Objekt-Spaltung, sowie in Schellings starker Ablehnung des Pharisäertums zu fìnden sind" (Hopper, Tillich: A Theological Portrait, S. 79, Anm.; Ü.a.d.O.). Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 152.
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solutieren. 33 Im Gegensatz dazu, sagt Tillich, gibt Hirsch den Ereignissen von 1918 eine „ungebrochene Negativität" und den Ereignissen von 1933 eine „ungebrochene Positivität". Er mißt diesen Ereignissen absoluten theologischen Wert bei und verkehrt damit die Theologie zur politischen Propaganda. Er beschreibt die Weimarer Zeit (1918-1932) nur negativ als eine Zeit der „Verwirrung und Verführung", als „Abgrund des Volks und Geschichtsendes", als „zu Tode erkranktes Volk" usw. 34 Aber, sagt Tillich, es gab kein solches rein negatives Zeitalter. Zu keiner Zeit besteht das Recht, die vorangegangene Epoche theologisch auf so eindeutige Art zu verurteilen. Nichts Endliches steht unter einem unbedingten Ja oder Nein. Urteile, wie Hirsch sie hier fällt, sind nur möglich unter der Voraussetzung, daß man in einer Zeit erfüllter Gnade lebt. Daß Hirsch die Gegenwart so versteht, läßt sich in Tillichs Augen erkennen an Aussagen wie: „Der neue Wille ... ist als ein heiliger Sturm Uber uns gekommen und hat uns ergriffen." 35 Hirsch hat, so Tillich, durch den Vergleich mit dem Jahr 33 n. Chr. dem Jahr 1933 implizit „heilsgeschichtliche" Bedeutung gegeben. Die Religiösen Sozialisten gebrauchten im Gegensatz dazu die KairosLehre nie, um geschichtliche Perioden absolut zu bewerten. Sie betrachteten auch die vorausgegangene wilhelminische Epoche nicht als Zeit völliger Sündhaftigkeit, obwohl sie Grund dazu gehabt hätten, weil sie sie für die Niederlage Deutschlands verantwortlich machten: „Wir haben niemals Zeitalter sündhaft, sondern wir haben Mächte dämonisch genannt." 36 Das Dämonische 33
34
35 36
In seinem „Preface" zu Tillichs „The Religious Situation" diskutiert H. Richard Niebuhr 1932 ausführlich Tillichs Vorstellung des „gläubigen Realismus". Niebuhr bezieht sich auf Tillichs Aussagen, wonach „durch die Verbindung von gläubig und Realismus der grundlegendste aller Dualismen in Frage gestellt ist, und wenn er gerechterweise in Frage gestellt wird, ist er auch überwunden. Glaube ist eine Haltung, die jede wahrnehmbare und erfahrbare Wirklichkeit transzendiert; Realismus ist eine Haltung, die jede Transzendierung der Wirklichkeit ablehnt, jede Transzendenz und jede Transzendentalisierung" (S. 14; U.a.d.0.). Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 153. Hirschs negative Einschätzung der Weimarer Republik ist differenzierter als Tillich hier meint. Hirsch lehnt an der Weimarer Republik den Verlust des religiösen Elements im Staatsbegriff und die Förderung der selbstgenügsamen Vernunft und Autonomie ab. Ibid. Ibid., S. 154. Trotz seiner Dementi war Tillich, wie bereits gesehen, in den frühen 20er Jahren nahe daran, der poletarischen Bewegung eine solche Heilsbedeutung zuzusprechen.
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ist nie nur zerstörerisch, sagt Tillich, sondern es ist immer auch schöpferisch und tragend. Die Religiösen Sozialisten verstanden das Dämonische dialektisch. 37 Dieses Verständnis des Dämonischen als Teil des Schaffensdranges (der im Gegensatz zum Satanischen steht, das seinerseits das Negative im Dämonischen ist), dessen andere Seite der göttliche Impuls ist, zeigt einen weiteren bedeutsamen Unterschied zwischen Tillich und Hirsch. Wenn Gruppen, Personen und Tendenzen in undialektischer Weise dämonisch genannt werden, kann nach Besiegung der Gegner auch der Triumph Uber das Dämonische behauptet werden. Aber dies verkennt die Tiefe und Macht des Dämonischen. Die Religiösen Sozialisten erkannten beispielsweise auch ein dämonisches Element im Kapitalismus, betrachteten aber das Dämonische als verdeckt und glaubten, daß der Widerstand gegen dieses dämonische Element sich als Kairos aus der Weltkatastrophe erheben würde. Als „gläubiger Realismus" enthielt dieser Kairos alle Elemente der Verheißung und der Forderung. Tillich behauptet, Hirsch setze anstelle eines solchen gläubigen Realismus - praktisch die einzige Kategorie der Religiösen Sozialisten, die Hirsch sich nicht aneignet - einen ,,bruchlose[n] Enthusiasmus, der ... [ihm] den kritischen Blick und das kritische Wort raubt, die wir von ... [ihm] als protestantischem Theologen und Künder der gegenwärtigen geistigen Lage erwarten mußten".38
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In seinem Aufsatz „Das Dämonische" von 1926 erläutert Tillich die dialektische Sicht des Dämonischen. „Die Spannung zwischen Formschöpfung und Formzerstörung, auf der das Dämonische beruht, grenzt es ab gegen das Satanische, in dem die Zerstörung ohne Schöpfung gedacht ist - denn das Satanische hat keine Existenz wie das Dämonische. Um Existenz zu haben, miißte es zur Gestalt kommen können, also einen Rest von Schöpfung in sich tragen. Das Satanische ist das im Dämonischen wirksame, negative, zerstörerische, sinnfeindliche Prinzip, in Isolierung und Vergegenständlichung gedacht. ... Denn eine Versuchung, die nicht in den schöpferischen Kräften des Kreatiirlichen wurzelt - etwa in dem mit dem Erkenntnistrieb verbundenen Machtwillen -, hat keinen Anknüpfungspunkt, ist keine Versuchung, weil sie keine Dialektik, kein Ja und Nein in sich hat. Mythologisch gesprochen ist der Satan der oberste der Dämonen, ontologisch gesprochen ist er das im Dämonischen enthaltene negative Prinzip (Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, Tübingen: Mohr, 1926; auch in GW VI, S. 42-71, hier: S. 45). Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 155.
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Der eigentliche Sinn der religiös-sozialistischen Kategorien Im dritten Abschnitt führt Tillich je ein Beispiel aus Theologie und Philosophie an, um zu zeigen, wie die Kategorien der Religiösen Sozialisten wirklich zu verstehen sind. Zunächst will der Religiöse Sozialismus, theologisch gesprochen, immer vor der Utopie bewahren. Tillich definiert Utopie als die Verabsolutierung einer endlichen Möglichkeit, eine Gefahr jeder prophetisch-eschatologischen Bewegung. Tillich und seine Freunde in der sozialistischen Bewegung waren sich dieser Gefahr bewußt, und die Kairos-Lehre entstand gerade, um eine solche Verabsolutierung zu verhindern, ohne die Notwendigkeit menschlicher Verantwortung und Leidenschaft preiszugeben. Sie war der Versuch, der geschichtlichen Bewegung einen Wert und die Macht zur Zukunftsgestaltung zu geben, ohne dabei utopisch zu werden. Obgleich Hirsch die Möglichkeit des Mißerfolges in einem geschichtlichen Ereignis anerkennt, findet er nach Tillich kein theologisches Wort, um einen solchen Mißerfolg zu verhindern. Als Theologe hätte Hirsch die Aufgabe gehabt, sich der nun siegreichen politischen Bewegung ebenso kritisch gegenüberzustellen wie die Religiösen Sozialisten dem ideologischen Enthusiasmus der sozialistischen Bewegung. Stattdessen habe Hirsch die Kairos-Lehre in einem rein formalen Sinn, jedoch ohne ihre kritische Substanz übernommen. Die Konsequenz sei ein ungebrochener Sakramentalismus. Darüber hinaus bekämpften die Religiösen Sozialisten, philosophisch gesehen, immer den metaphysischen Materialismus, von dem die Arbeiterbewegung als anti-religiöse Front am Ende des 19. Jahrhunderts überflutet wurde. Daraus wurden die Begriffe einer „gläubigen Profanität" und einer „latenten Kirche" geboren. Hirsch vertritt jedoch einen einseitigen Materialismus, wenn er vom „Schmutz des ökonomischen Materialismus" spricht. 39 Er reduziert die Idee des Materialismus auf den „ökonomischen" Materialismus, ohne gegen den „metaphysischen" Materialismus anzugehen. Mit Ausdrücken wie: „Schmutz des wirtschaftlichen Materialismus" legt Hirsch nahe, daß er (a) etwas unterdrückt, mit dem er persönlich nicht zurecht-
39
Ibid., S. 156
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kommt, und ihm (b) der wirtschaftliche Materialismus als Untersuchungskriterium, das im Kampf gegen den metaphysischen Materialismus Feuerbachs entstand und letztlich von einem hehren sittlichen, zum Märtyrertum bereiten Idealismus begleitet wurde, unbekannt ist. 4 0 Tillich fügt hinzu:
„Das
Bekenntnis zum positiven Christentum gehört zu Deinem politischen Programm. Aber hättest Du nun nicht als Theologe die Aufgabe gehabt, das mit jedem politischen Bekenntnis zur Religion verbundene Verhängnis zu enthüllen und unter eine gleich scharfe Kritik zu stellen, wie wir den Materialismus?" 41 Hirschs theologische Pflicht, so argumentiert Tillich, wäre es gewesen, seine begrifflichen Mittel zu gebrauchen, um den „ideologischen Mißbrauch aufzudecken, der von Reaktion und Kleinbürgertum in ihrem antiproletarischen Klassenkampf mit dem religiösen Bekenntnis betrieben worden i s t . " 4 2 Hinter dem ideologischen Theismus steht ein sehr viel schmutzigerer „praktischer" Materialismus. Nach Tillichs Meinung gibt es in der gegenwärtigen Stunde keine wichtigere Aufgabe als die, eine solche Ideologie zu entlarven. Stattdessen nimmt Hirsch jede positive oder negative Ideologie für bare Münze und beurteilt sie anhand ihrer Äußerungen und nicht anhand ihres wirklichen Wesens.
Sakramentale Verzerrung existentialistischer und sokratischer Philosophie Im letzten Abschnitt des ersten Teils wirft Tillich Hirsch vor, die neue existentialistische Philosophie zu verzerren, obwohl Hirsch diese philosophische Bewegung verteidigt. Zunächst ist Hirschs falsche Kritik an Heidegger zu nennen. Tillich stimmt zwar zu, daß Heidegger aus der existentialistischen Philosophie heraus kritisiert werden muß. Durch seine Verwendung der abstrakten Historizität verschleiert Heidegger die konkrete
4 0 41 42
Ibid. Ibid. Ibid., S. 156-157. Tillich weiter: „Es ist doch so, daß hinter dem ideologischen Theismus sich oft ein - nun wirklich schmutziger - praktischer Materialismus verhüllt, während hinter dem materialistischen Atheismus ein heroischer Idealismus stehen kann."
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geschichtliche Gegebenheit seiner eigenen Ideen. Die
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Voraussetzung des Existentialismus ist der Glaube an die Vorrangigkeit der Existenz; sein Gegensatz ist der Idealismus, für den die Existenz nur insoweit von Bedeutung ist, als sie mit der Idee als Essenz korrespondiert.43 In seinem eigenen Werk, erklärt Tillich, versucht er, die existentialistisch-geschichtlichen Kategorien neu zu formulieren, indem er die Unterdrückung innerhalb der geschichtlichen Existenz analysiert. Diese existentielle Unterdrückung ist nicht durch den Sieg einer einzelnen geschichtlichen Gruppierung zu überwinden. Die Aufgabe jedes existentialistischen Philosophen ist es, die in jeder geschichtlichen Wirklichkeit vorhandene existentielle Unterdrückung zu entlarven. Tillich meint: „In Deiner Kritik an Heidegger, sowie in Deiner eigenen philosophischen Haltung zeigst Du Dich als enthusiastischer Idealist, nicht als Existentialphilosoph. Du weihst, statt zu enthüllen." 44 Weiterhin kritisiert Tillich, daß Hirsch eine Erneuerung der sokratischen Methode fordert. Historisch spricht alles gegen eine solche Erneuerung. Im Gegensatz zur sokratischen Situation leben wir am Ende eines rational-autonomen Zeitalters und bewegen uns in eine neue Zeit der Bindung. Wir leben mit den Notwendigkeiten der spatkapitalistischen Massenorganisation, die eine freie Diskussion Uber grundlegende Prinzipien ausschließt. Tillich behauptet, daß Hirsch durch seinen Gebrauch des Kierkegaardschen Sokratessymbols in Wahrheit seine Affinität zu Nietzsche und seinen Kampf gegen Sokrates verbirgt. Nietzsche stellt sich gegen die sokratische Methode, und nach Tillich ist leicht zu zeigen, daß viele von Hirschs Ideen sich bereits in Nietzsches Denken finden. Anders als Sokrates leugnet Hirsch das kritische Studium der Philosophie; andernfalls hätte er ebenso gegen den geläufigen Vitalismus, Irrationalismus und Voluntarismus argumentieren müssen, wie Tillich und die Religiösen Sozialisten gegen den entleerten Rationalismus, Intellektualismus
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Ibid., S. 157. „Das, was die Existenz zur Existenz macht, ist das, wodurch sie nicht in der Idee, im Wesen steht. So sah es der zweite Schelling, als er im AnschluB an seine Lehre vom Bösen den Gegensatz beider Philosophien entdeckte." Ibid., S. 158.
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und Mechanismus (wofür sie sich nebenbei den Vorwurf des Faschismus einhandelten).45 Schließlich kritisiert Tillich Hirschs Lehre des Nomos und des Logos. Hirsch, so Tillich, beraubt den Logos seiner kritischen Macht auf drei Ebenen. Erstens bindet er den Logos an den Nomos einer geschichtlichen Aktualität. Zweitens erkennt er nur den Nomos einer bestimmten Nation, Deutschlands, an. Drittens ist Hirschs Nomos dem Wandel unterworfen und abhängig von der politischen Herrschaftsform einer bestimmten Nation. So wird der Logos abhängig von der Gruppe, die zu einer bestimmten Zeit gerade an der Macht ist. Praktisch bedeutet das: „Du gibst denen recht, die im großen Chor mit Nietzsche sagen, daß Wahrheit Ausdruck der tragenden Machtgruppe und ihres Seins ist. Zu allem Sokratischen steht das in unauflöslichem Widerspruch. Aber auch zur Kairos-Lehre, die sich bemühte, über das Sokratische hinauszustoßen."46 Was Hirsch den Nomos nennt, verstanden die Religiösen Sozialisten als „Einheit von Einheit und Unerschöpflichkeit" (sie!). Einheit ermöglicht die logische Wahrnehmung; Unerschöpflichkeit verhindert, daß die Erkenntnis jemals statisch wird. So kann eine kritische Kontrolle niemals fehlen. Darüber hinaus banden die Religiösen Sozialisten den Logos nicht an eine Nation, sondern knüpften ihn an die Struktur einer geschichtlichen Konstellation, die für mehrere Nationen gilt. „Grundsätzlich ist vor allem zu sagen, daß auf diese Weise die Bindung der Wahrheit an die Macht insoweit beseitigt ist, als jede Macht in der Gesamtkonstellation ihre Grenzen findet. Keine einzelne Gestalt 45
46
Ibid., S. 158-159. Tillicb wirft Hirsch letztlich einen Mangel an Selbstkritik innerhalb seines eigenen ideologischen Rahmens vor. Tillich fordert Hirsch nicht so sehr auf, seine grundsätzliche theologisch-politische Position aufzugeben, als vielmehr seine eigene Haltung ebenso selbstkritisch zu sehen wie Tillich und seine Kollegen im Religiösen Sozialismus. Aus diesem Grund schreibt Tillich: „Wir hatten die Bedeutung des Vitalen, des Eros und des Willens mit solchem Nachdruck herausgearbeitet, daß wir uns immer wieder den Vorwurf des Faschismus zugezogen haben. Ich sehe nicht, daß Du die entsprechende umgekehrte Aufgabe von der Philosophie gefordert oder selbst in Angriff genommen hättest" (ibid., S. 159). Ibid., S. 159. In seinem Buch: „Die gegenwärtige geistige Lage" definiert Hirsch den Nomos als „Ordnung, Lebens- und Denkverfaßtheit" und den Logos als „sich aussprechender lebendiger Geist". Horos hatte er als .junüberschreitbare Grenze" bestimmt (S. 5). Hinweise auf den Einfluß, den Stapel in Bezug auf diese Begriffe auf Hirsch ausübte, vgl. oben, S. 282 Anm. 43.
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kann den Logos an sich binden, wie kein Volk Gott an sich binden kann. Die erste Einsicht verdanken wir Plato, die zweite Amos." 47 Schließlich wollten die Religiösen Sozialisten mit der Bindung der Wahrheit an eine geschichtliche Aktualität niemals den Gedanken ausschließen, daß „Wahrheit" das relative Selbstverständnis und der Selbstausdruck einer geschichtlichen Wirklichkeit ist. Tillich glaubt, daß Hirsch im Gegensatz zu den Religiösen Sozialisten den Unterschied zwischen „Ausdruck" und „Wertung" oder „Geltung" und ihre Beziehung zueinander nicht richtig analysiert hat. Weil Hirsch immer mehr mit dem Ausdruck befaßt war, konnte er nicht wirklich verstehen, was ein Ereignis in seinen tiefsten Schichten zu sagen hat. 4 8 In diesem ersten Teil von Tillichs Brief an Hirsch geht es in erster Linie um die Rettung seiner eigenen theologischen Methode. Hirschs Buch hat Tillich in überwältigender Weise die Tatsache vor Augen geführt, daß seine eigenen Kategorien, zumindest formal, dazu benutzt werden können, ein politisches Programm zu stutzen, das in krassem Gegensatz zu seinem eigenen steht. Aus diesem Grund bemüht sich Tillich wiederholt zu zeigen, wie Hirsch besonders die Kairos-Lehre ihres ursprünglichen Sinnes beraubt hat. Das wird besonders deutlich in den diesen ersten Teil abschließenden Bemerkungen: „Ich bestreite, daß die Begriffe selbst die Möglichkeit solcher Anwendung darbieten. Du mußtest aus jedem ein entscheidendes Element herausbrechen, um sie in den Dienst Deines theologischen und philosophischen Wollens zu
47 48
Die Theologie des Kairos, S. 159-160. „Drittens haben wir unter Bindung der Wahrheit an eine geschichtliche Wirklichkeit niemals verstanden, daß die Wahrheit nichts als Ausdruck oder Selbstinterpretation dieser geschichtlichen Wirklichkeit sein soll. Wir haben das Verhältnis von 'Ausdruck' und 'Geltung' oft behandelt und sind zu der Auffassung gekommen, daß es für den Erkennenden nur eine Intention, nämlich die Geltung geben darf; daß aber gerade dann, wenn er am meisten und strengsten auf die Geltung, das An-sich, das Objektive gerichtet ist, sich die Ausdruckskraft seines Denkens einstellt. Und zwar umso mehr, je weniger er sie beabsichtigt und je mehr er doch zugleich gefüllt ist mit der inneren Mächtigkeit seiner Gegenwart. Aber nicht diese innere Mächtigkeit ist das in jedem Erkennen Gemeinte, sondern die Wahrheit. Du hast diese Unterscheidung nicht herausgearbeitet. Du konntest es nicht, da Du selbst mehr um 'Ausdruck' als um 'Geltung' bemüht warst und darum - das ist die richtende Dialektik des Wahrheitsgedankens - auch den tiefsten Ausdruck dessen, was geschieht, verfehlt hast" (ibid., S. 160).
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zwingen. Dagegen mußte ich mich wehren und will mich weiter wehren, indem ich auf einzelne Probleme eingehe."49 An dieser Stelle ist eine weitere Bemerkung einzufügen. Tillichs Vorwürfe gegen Hirsch in diesem ersten Teil des Briefes beruhen auf der Voraussetzung, daß Hirsch tatsächlich mit den gleichen theologischen und philosophischen Kategorien arbeitet wie Tillich und die Religiösen Sozialisten und daß Hirschs Begriff der „Stunde" formale Ähnlichkeiten zu Tillichs Begriff des „Kairos"aufweist, obwohl er ihm andere politische Inhalte gibt. Tillichs einzelne Argumente beruhen auf diesem grundsätzlichen Vorwurf, Hirsch habe seine Begriffe übernommen, ohne sie zu verstehen, und sie so verzerrt. Die grundsätzlich zu beantwortende Frage ist damit: Stimmt es tatsächlich, daß Hirsch die Kategorien seiner politischen Gegner plagiiert hat und innerhalb des gleichen theologisch-philosophischen Rahmens arbeitet? Wir haben gezeigt, daß Hirschs Haltung von 1933 konsequent aus seinem früheren Denken folgt. Die These unserer Studie ist, daß der Vorwurf des Plagiats nicht aufrechterhalten werden kann, auch wenn Hirsch Tillich viel verdankt. Hirsch ist ein sehr unabhängiger Denker, und seine Kategorien unterscheiden sich, obwohl sie dank des gemeinsamen Erbes einige formale Ähnlichkeiten mit Tillichs Begriffen haben, in entscheidenden Aspekten von denen Tillichs. Dies liegt zu einem nicht geringen Teil an den andersartigen theologischen Voraussetzungen, die Hirsch für seine politischen Überzeugungen mitbringt.
Offenbarung, Wagnis und der Kairos Der zweite Teil von Tillichs offenem Brief ist in fünf Abschnitte untergliedert: Das Wesen der Offenbarung; die Notwendigkeit einer soziologischen Analyse; die Begriffe Volk und Staat; die Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche; die notwendige Dialektik von Vorbehalt und Pflicht. Im ersten Abschnitt fragt Tillich, ob Hirsch nicht die gegenwärtigen deutschen Ereignisse zu einer Offenbarungsquelle neben der biblischen Offenbarung
49
Ibid., S. 160.
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macht. Wenn dies der Fall ist, sagt Tillich, dann sind diejenigen, die diese Ereignisse anders verstehen, von einem Offenbarungsereignis ausgeschlossen worden. Somit hätten sie, wie die Judenchristen, weniger Rechte in der deutschen evangelischen Kirche. Tillich zeigt eine gewisse Unsicherheit und meint, seine Kairos-Lehre verteidigen zu müssen. „Ich frage mich, ob solche Auffassung irgendwie durch den Kairos-Gedanken gerechtfertigt werden kann. Ich sehe nicht wie, aber ich gebe zu, daß wir die Probleme, die sich hier ergeben, in den letzten Jahren nicht genügend verfolgt haben und daß darum solche Abwege der Interpretation nicht klar genug ausgeschlossen wurden." 50 Insofern Hirschs Buch eine Klärung dieses Problems erzwungen hat, räumt Tillich ein, ist er dankbar dafür. Hirschs Buch zwang Tillich dazu, die Beziehung zwischen „Offenbarung" und Kairos, zwischen dem Aspekt des „Ergriffenseins" von einer Offenbarungswahrheit und dem Element des „menschlichen Wagnisses" genauer zu formulieren. Offenbarung hat zwei Seiten, so Tillich. Es gibt Offenbarung per se; in diesem Sinn ist sie ein objektives, exklusives und endgültiges Kriterium für das eigene Denken und Handeln. Es kann neben ihr keine andere Offenbarung geben. Aber Offenbarung kann für einen Menschen nur konkret werden, indem sie sich verwirklicht. In diesem eher subjektiven Sinn ist sie Teil der „Kairos-Offenbarung"-Korrelation. Der Kairos ist die Situation, von der aus Menschen in die Offenbarungserfahrung eintreten. Jede neue Situation Ibid., S. 161. Hopper schreibt: „Tillich sah bei der Hirsch-Affaire, daß eine stärkere Differenzierung zwischen Offenbarung und Kairos nötig gewesen wäre, und entdeckte so den Hauptfehler seiner früheren systematischen Anstrengungen." Hopper fährt fort: „Darüber hinaus ist festzuhalten, daß Tillichs Denken offenbar zu subtil war, um den Kampf der Kirche gegen den Nationalsozialismus entscheidend zu beeinflussen. Die Ironie daran ist, daß trotz seiner eigenen festen Haltung gegen den Nationalsozialismus Aspekte aus Tillichs philosophischem und theologischem Werk in der deutsch-christlichen Sache wiederkehrten, indem man eine Offenbarungsquelle in der allgemeinen Geschichte fesüegte und damit an den 'natürlichen Ordnungen von Rasse, Volk und Nation' festmachte." Entgegen dem Katholizismus, der auch eine natürliche Offenbarung zuließ, aber durch eine „strenge kirchliche Struktur" vor „dem 'Enthusiasmus des Augenblicks'" verschont blieb, war Tillichs theoretische Arbeit nicht in einer solchen kirchlichen Struktur verwurzelt. „Sein eigener theologischer Anspruch war nur auf einer höchsten intellektuellen und individuellen Ebene erfahrbar und reichte nie in das Leben der normalen Menschen hinab" (Hopper, Tillich: A Theological Portrait, S. 90-91; Ü.a.d.O.).
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verändert die Kairos-Offenbarung-Korrelation, aber nicht die Offenbarung selbst. „Offenbarung ist das, dem ich als letztem Kriterium meines Denkens und Handelns mich unbedingt unterworfen weiß. Der Kairos, die geschichtliche Stunde, kann darum nie von sich aus Offenbarung sein. Sie kann nur den Eintritt einer neuen Offenbarungskorrelation anzeigen. Sie bezeichnet den Augenblick, in dem der Sinn der Offenbarung sich neu erschließt für Erkennen und Handeln, in dem z.B. das letzte Kriterium der Wahrheit einer Zeitkonstellation gegenüber von neuem sichtbar wird, also etwa das Kreuz Christi gegenüber der kapitalistischen oder nationalistischen Dämonie." 51 Man nehme beispielsweise die Kategorie des Wagnisses, die zentral für Hirschs politische Theologie ist. Tillich ist bereit, diesen Begriff als Ausdruck einer neuen Selbstentäußerung der Offenbarung zuzulassen, unter der Bedingung, daß Hirsch (a) nicht das „In-der-Offenbarung-selbst-Stehen" Wagnis nennt und er (b) die Relativität dessen, was gewagt wird, unter allen Umständen anerkennt. „Offenbarung ist Prius, nicht Gegenstand des Wagnisses", erklärt Tillich. 52 Offenbarung ist das, was mich vor dem Wagnis erfaßt. Obgleich das Wagnis seinen Ort im Kairos hat, bestimmt es nicht die Offenbarung selbst. Mit anderen Worten: die Offenbarungsgemeinschaft ist nicht abhängig von der wagenden Gemeinschaft. Es mag verschiedene Gruppen innerhalb der theologischen Gemeinschaft geben, aber keine darf eine andere von der Offenbarung ausschließen. Tillich, Hirsch und Barth sind Vertreter solcher unterschiedlicher theologischer Gruppen, von denen jede eine andere Form des Wagnisses darstellt. Noch einmal stellt Tillich die drei Zugänge nebeneinander: Wagnis trägt das Bewußtsein möglichen Scheiterns in sich. Es ist weder unbedingt noch exklusiv. So z.B. in unserem Fall: Für Dich und andere ist Kairos das, was Du als „deutsche Stunde" bezeichnest, für uns war es das, was man als „Stunde des Sozialismus" bezeichnen könnte und wovon nach unserer Auffassung das deutsche Geschehen ein Teil ist, der in Isolierung von dem Ganzen überhaupt nicht verstanden werden kann. Für Barth, der darin, ohne zu wollen, dem Kairos seinen Tribut zahlt, ist es 51 52
Die Theologie des Kairos, S. 161. Ibid.
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die Befreiungsstunde der Kirche von den in den bürgerlichen Jahrhunderten in sie eingedrungenen säkularen Elementen, was ja nur möglich ist, weil der Säkularismus als geschichtliche Erscheinung in sich selbst brüchig geworden ist. Alle drei Deutungen des Kairos sind Wagnis. 5 3 Daraus wird deutlich, daß Tillich alle drei Positionen, seine eigene wie die Hirschs und Barths, als Formen des Wagnisses betrachtet; dennoch hat es hier den Anschein, als sei Barths Haltung sowohl von der Tillichs als auch von der Hirschs qualitativ unterschieden. Im Gegensatz zu Barth sind Tillichs „Stunde des Sozialismus" und Hirschs Nationalismus oder „Stunde Deutschlands" beide explizit politisch. Sie konzentrieren sich auf die Staatsstruktur.54 Tillich stellt sich die Frage, ob Hirsch beabsichtigt, den beiden anderen Gruppen, den Barthianern und den Religiösen Sozialisten, einen gültigen Platz innerhalb der deutschen evangelischen Kirche zu bestreiten. Nach Tillich lie-
Ibid., S. 162. Es ist interessant, Barths Interpretation von Hirschs Begriff des Wagnisses daneben zu stellen: „In der Tat: Hirsch fehlt alle und jede 'Sicherung und Bürgschaft' etwa durch biblische Exegese, etwa durch Anknüpfung an die kirchliche Tradition. In der Tat: Da ist nicht nur im Grunde, sondern offenkundig alles 'Wagnis', das heißt freie Spekulation oder Grübelei, eine Spekulation, in die 'das Evangelium', in die Luther an bestimmter Stelle einbezogen werden, in der sie ihren durchaus richtigen und würdigen Ort haben, aber Spekulation, willkürliche Erfindung, Themapredigt ohne Text (es wäre denn, daß man jene von Hirsch erlebte 'Stunde' als ihren Text verstehen wollte), theologisch gehaltlose und alle theologischen Elemente entleerende Kairosphilosophie genau so wie die seines religiös-sozialen Antipoden Paul Tillich. Und dies ists, was als die Grundthese nicht nur des Buches von Hirsch, sondern der Lehre und des Handelns der Kirchenregierung Müller und der D.C. insgeheim ihr Grundirrtum ist" (Karl Barth zum Kirchenkampf, S. 21). Das „Nicht-Politische" an Barths Theologie oder der Ausschlag ins .AbstraktTranszendente", wie Hirsch und Tillich Barths Sicht zu überzeichnen verleitet sind, sind höchst anfechtbare Interpretationen. Diese Ansicht wurde durch Friedrich-Wilhelm Marquardts Neuinterpretation der Barthschen Theologie in Frage gestellt mit dem Argument, Barths Theologie sei in Wirklichkeit nicht von seiner radikalen Gesellschaftskritik zu trennen. In Bezug auf das Verhältnis Tillichs und Barths zur deutschen Sozialdemokratie schreibt Marquardt: „Er [Barth] verstand seinen Sozialismus im Gegensatz zu Tillich als Praxis, nicht als gesellschaftlich-religiöse Theorie." Marquardt meint: „Sie [Barths Anschauung] wurzelt faktisch - und Barth selbst auch theoretisch bewußt - in seiner Praxis" (Friedrich-Wilhelm Marquardt, Sozialismus bei Karl Barth, in: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, 33. Jg. 1972, S. 2-15; hier S. 2 und 3). Klaus Scholder widerspricht Marquardts Interpretation mit der Behauptung, Barths Anliegen sei gewesen, die Theologie vor die Politik zu stellen. Scholder zeigt jedoch, daß der Theologie gerade wegen ihres Vorranges große politische Möglichkeiten gegeben sind, daß sie linke wie rechte Ideologien in einer Art kritisieren kann, wie es weder Hirschs politische Theologie noch Tillichs Religiöser Sozialismus während der 20er und frühen 30er Jahre je zugelassen hätten (Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 546 ff, 833, Anm. 80).
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gen (1) „die Exklusivität des Kriteriums [die Offenbarung]" und (2) die „Relativität der konkreten Entscheidung [das Wagnis]" auf unterschiedlichen Ebenen und sind somit zu unterscheiden. Hirschs Buch, Tillichs Ringen damit und sein Widerspruch dagegen haben zu einer Klärung geführt: „Die Richtung auf das erste macht den Theologen zum Theologen, sie gibt ihm das letzte Kriterium; das Stehen im zweiten gibt ihm die Gegenwartsnähe und Geschichtsmächtigkeit." 55 Nach Tillichs Meinung hat Hirsch die Unterscheidung beider verwischt, indem er das Zweite an die erste Stelle gesetzt und das Erste damit unsichtbar gemacht hat.
Die Notwendigkeit einer Gesellschaftsanalyse Den zweiten Abschnitt des zweiten Teils widmet Tillich der soziologischgeschichtlichen Kritik an Hirschs Buch. Tillich zeigt sich erstaunt darüber, daß Hirsch ein Buch über die gegenwärtige geistige Situation schreiben konnte, ohne eine Gesellschaftsanalyse der verschiedenen religiösen und intellektuellen Gruppen und Klassen in Deutschland und Europa vorzunehmen. Viele von Hirschs Wertungen sind nur verständlich unter der Voraussetzung, daß er bewußt oder unbewußt - bekannte soziologische Einsichten verdrängt. Tillich fügt hinzu, daß Soziologie die beste Waffe gegen ungezügelten Enthusiasmus ist. 56 Eine Gesellschaftanalyse hätte Hirsch dazu gezwungen, den Konflikt zwischen dem Bürgertum und dem Proletariat, die weltwirtschaftliche Krise und die daraus resultierende Krise der Mittelklasse sowie die Herausbildung eines neuen Gesellschaftstypus - den Arbeitslosen - zu erkennen. Statt die Ereignisse von 1933 mit dem Bild des „Frühlings" zu umschreiben, hätte er besser das Bild vom „Spätherbst" benutzen sollen. Er hätte die weltweite Ausdehnung dieser Phänomene zugeben müssen, statt sich auf Deutschland zu beschränken. Seine positive Wertung der gegenwärtigen Ereignisse wäre möglicherweise nicht wesentlich anders ausgefallen, aber er hätte zumindest
55 56
Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 162. Ibid., S. 163.
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eine wissenschaftliche Grundlage für seine Position gehabt. „Wenn Du als theologischer Historiker die geistige Lage der Gegenwart aufzeigen wolltest, so hättest Du allein einen großen Dienst leisten können, wenn Du auf andere soziologische Zusammenhänge aufmerksam gemacht hättest als auf diejenigen, die wir sehen, und wenn Du die gegenwärtige soziologische Struktur in Mitteleuropa als Hintergrund der gegenwärtigen geistigen Lage aufgezeigt hättest." 5 7 Hirsch hätte dann die alles beherrschende Spannung unter der Oberfläche der gegenwärtigen scheinbaren Einheit erkennen müssen. Das wäre eine „echte, konkret-existential-geschichtliche Analyse" gewesen. Dies, sagt Tillich, hätte Hirsch auch vor Feindseligkeiten und Verurteilungen anderer Länder bewahrt, wie z.B. sein Kommentar über den Kulturimperialismus als „spezifisch welsche" Idee, ganz zu schweigen von seinen negativen Bemerkungen Uber Rußland. „Und wenn Du Uber die 'Lüge des Weltgewissens' und das 'schuldhafte Schweigen der Kirchen zu Versailles' mit Recht empört bist, so hättest Du zum mindesten die Empörung erwähnen müssen, die das Schweigen der deutschen Kirchen beispielsweise zum Tage des Judenboykotts in Kirchen und Nichtkirchen der ganzen Welt hervorgerufen hat." 58 Tillich meint, Hirschs ungebrochener Sakramentalismus hat ihn an einer Unterscheidung zwischen vergänglichen Rassengesetzen, die er aus philosophischen und theologischen Gründen unterstützt, und Rassenhaß gehindert; er hat verhindert, daß Hirsch handelte wie die Religiösen Sozialisten, die zwischen der Notwendigkeit des Klassenkampfes im Kapitalismus und dem Klassenhaß unterschieden. Legt Tillich hier nahe, daß trotz der tiefgreifenden Unterschiede der Klassenkampf für den Sozialismus in gewissem Sinn das Gleiche bedeutete wie der Rassenkampf für den Nationalsozialismus?59
57 58 59
Ibid. Ibid., S. 164. Ibid., S. 164. Scholder betont eine solche formale Ähnlichkeit der Funktionen des Klassenkampfes im Sozialismus und des Rassenkampfes im Nationalsozialismus; so schreibt er: „In der Ausführung dieser These argumentierte Hitler ähnlich wie auf der anderen Seite der Marxismus. Während dort der Faschismus zu einem Instrument der kapitalistischen Weltverschwörung wird, erschien bei Hitler der Marxismus als Instrument der jüdischen Weltverschwörung. Nationalsozialistischer Rassenkampf und marxistischer Rassenkampf bekamen bis in die Formulierung hinein den gleichen
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Grundlegende Fragen der Debatte von 1934-35 Volk und Staat
Im dritten Abschnitt des zweiten Teils untersucht Tillich H i r s c h s Vorstellungen von Volk und Staat. Tillich bemerkt: , A n keiner Stelle Deines Buches scheint mir nun so viel Konstruktion vorzuliegen wie hier." 60 Tillich behauptet, daß Hirschs Buch dreierlei Voraussetzungen aufweise, die allerdings nirgendwo klar aufgezeigt würden, ohne die jedoch das gesamte begriffliche Gebäude einstürzen würde; dies sind: die Gleichsetzung des „heiligen Horos" mit dem Ursprung, die Gleichsetzung des Ursprungs mit dem Volk und die Gleichsetzung des Volkes mit dem Blutbund. 1. Zur Gleichsetzung von „heiligem Horos" und Ursprung meint Hirsch: „Am Ganzen unseres menschlich geschichtlichen Lebens ist die Grenze mächtig". Auch die Religiösen Sozialisten sprachen wiederholt vom „Abgrund" oder der Sphäre des „Unerschöpflichen" als der Struktur unserer Existenz, die unserem Leben Sinn gibt und Uber eine rationalistische Formphilosophie hinausgeht. Aber im Gegensatz zu den Religiösen Sozialisten beschränkt Hirsch den heiligen Horos auf den Ursprung. 61 Damit begrenzt er den Horos auf das „Woher" der Existenz und läßt die Dimension des „Wozu" aus.
60
ideologischen und politischen Stellenwert... Statt der proletarischen Masse gegen ihre kapitalistischen Unterdrücker stand hier die deutsche Masse gegen ihre jüdischen Unterdrücker" (Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 101-102). Obwohl Scholder in gewisser Weise recht haben mag, sollte man nicht die Tatsache verschweigen, daß besonders im Falle Tillichs und Hirschs beide ihre Zugänge zur politischen Ethik formaliter wie materialiter, methodisch wie substantiell unterschiedlich betrachteten. Dies stimmt trotz der Tatsache, daß Tillich eher bereit war, Ähnlichkeiten zwischen ihnen zuzugeben. Eine Diskussion der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den politischen Theologien Tillichs und Hirschs findet sich in: Gunda Schneider-Flume, Kritische Theologie kontra theologisch-politischen Offenbarungsglauben, in: Evangelische Theologie 2, 33 (März-April 1973), S. 114137. Tillich, Die Theologie des Kairos, S. 164-165. Im Wortlaut: „'Am Ganzen unseres menschlich geschichdichen Lebens ist die Grenze mächtig. Überall in ihm offenbart sie sich ... ihr Schein des Denkens Licht, ihre Glut des Lebens Blut', sagst Du in Übereinstimmung mit dem, was wir über den Abgrund, die Unerschöpflichkeit, den sinngebenden Gehalt unserer Existenz gegenüber einer rationalistischen Fonnphilosophie gesagt haben. Aber warum beschränkst Du dann den Horos, der am Ganzen unseres geschichtlichen Lebens tätig sein soll, auf den Ursprung?" (ibid., S. 165).
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Tillich stimmt damit Uberein, daß - um Hirschs Terminologie zu verwenden - der „heilige Horos" aus dem Ursprung und durch die Grenze des Ursprungs hervorbrechen muß. „Zwar weißt Du darum, daß der heilige Horos den natürlich-geschichtlichen verzehren kann, aber nirgends wird bei Dir angedeutet, daß er ihn transzendieren kann, daß er zu einer neuen geschichtlichen, aber nicht mehr ursprungsgebundenen Verwirklichung führen kann." 62 Hirschs Meinung scheint zu sein, daß kein Individuum im Laufe seiner geschichtlichen Existenz jemals der Macht des eigenen Ursprungs entkommen kann. Tillich sieht eine solche Möglichkeit: Die frühe Christenheit ist ein Beispiel dafür, daß das „Wozu" durch das „Woher" bricht. Die frühe Kirche und die neutestamentliche Gemeinde zeigen die Entfremdung vom Ursprung und das Hereinbrechen einer neuen Theonomie. 2. An Hirschs Gleichsetzung des Ursprungs mit dem Volk kritisiert Tillich, daß Hirsch den Begriff Volk nur im Sinne der europäischen Nationalstaaten zu verstehen scheint. Diese existieren aber erst seit der Französischen Revolution. Dennoch gesteht Tillich wieder eine Schwäche in seinem eigenen früheren Denken ein: Nun kann kein Zweifel sein, daß Nationalstaat in diesem Sinne heute die unmittelbar geschichtsmächtige Wirklichkeit ist. Und ich würde Dir zugeben, daß der Religiöse Sozialismus in seinem Interesse an der sozialen Ordnung der Gesellschaft dem nationalen Staat und den in ihm konzentrierten Ursprungsmächten zu wenig Aufmerksamkeit zugewandt hat (ich selbst erst in meinem letzten Buch [Die sozialistische Entscheidung]). Ich gebe Dir auch weiter zu, daß es Augenblicke in der Geschichte geben kann, in denen das Schicksal eines Volkes nicht nur für es selbst, sondern auch für die Welt einen Kairos, eine religiös zu deutende, überragende geschichtliche Stunde, eine Verheißung und Forderung bedeuten kann. Hätte Dein Buch nur dieses gesagt, so hätte ich mir die folgende Kritik sparen können. Aber es sagt viel mehr und sehr viel anderes. Es sagt z.B., daß Ursprung und Volk identisch sind. 63
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Ibid. Für Tillich ist das Göttliche weder an die Volkszugehörigkeit noch an die Nationalität gebunden: „Die heilige Grenze als 'des Lebens Blut' glüht in Franziskus und Buddha nicht mit der Macht ihres Ursprungs, sondern in der Macht eines ausdrücklichen Bruches mit ihrem Ursprung." Ibid., S. 166.
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Um Volk und Ursprung gleichsetzen zu können, miißten alle verschiedenen geschichtlichen Gruppen wie Verwandtschaften, Stämme, blutsverwandte Gruppen, Rassen, Stände, Klassen, Sprachgruppen usw. unter dem Volksbegriff zusammengefaßt sein, damit alle Ursprungsmächte erfaßt wären. Hirsch aber sieht das nicht so, sondern begrenzt seinen Volksbegriff auf ein 150 Jahre altes Phänomen. Daher, so Tillich, wird Hirschs „metaphysische Verabsolutierung" des Volkes als die einzig mögliche Verwirklichung des heiligen Horos zum Problem. 3. Bei der Gleichsetzung von Volk und Blutbund ist der Begriff des Blutbundes schlecht definiert. So kommt ihm eine gewisse Heilsbedeutung für bestimmte Teile der Menschheit zu. In Hirschs Augen kann der Blutbund den Ansturm der kosmopolitischen „euramerikanischen Kultur" aufhalten. 6 4 Besonders Hirschs offensichtliche Identifikation des „Blutbundes" mit dem deutschen Volk und die Absicht, so jegliche Blutsmischung außerhalb der eigenen Grenzen zu verhindern und Menschen gemischten Blutes gewisse Rechte durch Rassengesetze abzusprechen, lehnt Tillich ab. Dann bräche eine über 1000 Jahre alte Tradition zusammen, die die westliche christliche Welt als eine einzige Völkerfamilie betrachtet und ihren Ursprung im Christentum hat. Tillich fragt, ob Hirsch als Theologe etwa die Aufgabe habe, „der sakramentalen Blutsgemeinschaft der Christenheit, die durch das Abendmahl gegeben ist, die natürlich-geschichtliche Blutsgemeinschaft überzuordnen." Und: „Wäre es nicht Deine Aufgabe als Theologe gewesen, gerade wenn Du die Ursprungs-
Mit Tillichs Worten: „Du gibst dieser Identifikation das größte Gewicht, indem Du behauptest, daß durch die Idee des Blutbundes dem Sturz der 'euramerikanischen Kultur von Klippe zu Klippe' das 'Bis hierher und nicht weiter' entgegengerufen wird. Die Idee des Blutbundes hat also geradezu Heilsbedeutung für einen Teil der Menschheit. Umso wichtiger wäre es, klar herauszuarbeiten, um was es sich dabei handelt. Offenbar meinst Du nicht die Rassengesetzgebung, die ja praktisch nur gegen die Juden gerichtet ist und nicht gegen die übrigen Völker des euramerikanischen Kulturkreises. Blutbund muß also etwas Engeres meinen, entweder die spezifische Blutsbeschaffenheit des sogenannten nordischen Menschen, die aber einerseits nichtdeutsche Völker umfaßt, andererseits für große Gruppen des deutschen Volkes nicht zutrifft. So bliebe also nur das deutsche Volk selbst und die Forderung, jede Blutsvermischung über seine Grenzen hinaus zu verhindern und Träger schon vorhandener Blutmischungen dieser Art im Sinne der Rassengesetzgebung zu entrechten" (ibid., S. 167).
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macht des Blutes so stark hervorheben wolltest, die Grenze seiner Macht mit Hilfe der Abendmahlssymbolik herauszuarbeiten?"65 In unserer Studie Uber Hirschs Denken haben wir gesehen, daß es keineswegs Hirschs Absicht ist, die sakramentale Gemeinschaft des Christentums durch die natürlich-geschichtliche Blutsgemeinschaft zu ersetzen, wie Tillich hier meint. Hirsch trennt vielmehr die beiden Gemeinschaften klar voneinander: Die eine ist geistig, die andere irdisch-geschichtlich. Zudem ist Hirsch sehr viel stärker als Tillich davon überzeugt, daß alle Menschen durch natürlich-geschichtliche Unterschiede und Blutsbindungen bestimmt sind. Tillich diskutiert dann den Begriff, der in Hirschs Staatstheorie tragend ist und den Tillich als den einzig wirklich ursprünglichen Aspekt in Hirschs sozialpolitischem Denken betrachtet: den Gedanken des verborgenen Souveräns. Tillich hält es für möglich, daß Hirsch diesen Begriff nur benutzt, um seinem Staatsbegriff die nötige Substanz und der „Revolution" eine gewisse Berechtigung zu geben, was die altlutherische Lehre allerdings verneinte. Aus Tillichs Verweisen auf die lutherische Theologie wird seine Ablehnung der traditionellen lutherischen Gesellschaftslehre deutlich; zudem zeigt er, wie unterschiedlich seine und Hirschs Lutherinterpretation, auf die sich ihre jeweiligen Methoden stützten, sind. Im Hinblick auf die Entwicklung der lutherischen Theologie während der Weimarer Zeit fragt Tillich: Hast Du Dir nie die Frage vorgelegt ...: Wie ist es möglich, daß eine Kirche, die sich Jahrhunderte hindurch unter jede, auch die volksverderbendste feudal-dynastische Obrigkeit gebeugt hat und bedingungslosen Gehorsam gerade gegenüber diesen „schlechten Obrigkeiten" gelehrt hat, in dem Augenblick diese Lehre vergaß, wo ein Staat geschaffen wurde, in dem andere als die alten Schichten die Obrigkeit repräsentierten? In dem Augenblick, als bestimmte Gruppen ihre ererbten Privilegien verloren hatten, entwickelte das Luthertum, vertreten durch die jungnationale lutherische Theologie, eine Lehre vom „bedingten Gehorsam". Wäre hier nicht die Frage nach dem ideologischen Charakter beider Lehren am Platze gewesen?66
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Ibid. Ibid., S. 168. In einem früheren Kapitel wurden bereits Tillichs Beziehung zum Luthertum, seine eigene Lutherinterpretation, seine Ablehnung der gesellschaftlich konservativen Elemente des Luthertums, seine Bevorzugung einer prophetischen Interpretation des „protestantischen Prinzips" und sein Versuch, bei wichtigen
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Tillich nennt Hirschs „verborgenen Suverän" eine mystische Realität, die der Revolution ein von allen objektiven Normen befreites Recht gibt, das den Calvinismus oder gar die sozialistische Staatstheorie weit überschreitet. Hirschs Kategorie soll zwar auf Seiten der Herrschenden den Sinn für Pflicht und Verantwortung herstellen, zeigt sich aber für diese Aufgabe ungeeignet. Die alten Kategorien vom göttlichen Recht der Obrigkeit und der Souveränität des Volkes waren sehr viel besser dazu geeignet, solche Normen menschlichen Handelns zu schaffen. Hirschs verborgenem Souverän fehlt es an Präzision; die Herrschenden, die ihm angeblich untergeordnet sind, definieren ihn in Wirklichkeit nach ihrem Belieben. „Wäre hier nicht gerade ein Realismus, der wirklich antiautokratische Korrektive sucht, richtiger und ehrlicher gewesen als ein Enthusiasmus, der erklärt, die Rückkehr zur Autokratie wäre 'unwahrscheinlich'?", fragt Tillich. 67 Eine Autokratie, so Tillich, kann nur durch eine Verbindung von aristokratischen und demokratischen Korrektiven verhindert werden. Die Religiösen Sozialisten hatten dies bereits vor langer Zeit bemerkt, als sie sagten, daß die Demokratie kein Konstitutivum, sondern nur ein Korrektiv bei der Schaffung eines Staates sein könne. Tillich erinnert Hirsch an deutsche Denker wie Hegel, der den christlich-deutschen Begriff der Freiheit mit dem vorchristlich-asiatischen Prinzip des Despotismus und dem demokratischen Ideal des Wertes des Individuums kontrastierte. Hirschs Aufgabe als deutscher, christlicher Geschichtsphilosoph sei es gewesen, die Aufmerksamkeit der Menschen auf diese Tradition zu lenken, statt „ohne jede kritische Einschränkung eine Hafterklärung gegen alles Demokratische" abzugeben. 68 Insofern Hirsch den Totalitarismus verteidigt, stimmt Tillich theoretisch zu, daß jeder totalitäre Staat eine Weltanschauung oder einen Mythos als Grundlage braucht. Dabei entstehen jedoch einige ernsthafte logische
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Fragestellungen über Luther hinauszugehen, untersucht. Zu Tillichs Einschätzung des Luthertums vgl. James Luther Adams, Paul Tillich on Luther, S. 304-334. Die Theologie des Kairos, S. 169. Tillich verweist Hirsch hier auf seinen Artikel „Der Staat als Erwartung und Forderung", in: Religiöse Verwirklichung, Berlin: Furche 1930; auch in: GW IX, S. 123-138. Die Theologie des Kairos, S. 170.
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Probleme. Zunächst muß ein totalitärer Staat von charismatischen Persönlichkeiten geführt werden, die ihre Entscheidungen aufgrund einer „schöpferischen Verantwortung" treffen. Wie aber kann es solche Persönlichkeiten überhaupt geben? Hirsch selbst gibt zu, daß sie nur aus dem Prozeß des Widerstands gegen die zuvor verwurzelten politischen und sozialen Strukturen erwachsen können. Auch Hirsch sieht sich in Wirklichkeit durch seinen eigenen Widerstand gegen die politischen und geistigen Mächte der vorherigen Periode gestärkt. „Die Demokratie gab Raum, sicher zu viel Raum, zu solchem Widerstand", meint Tillich. 69 Zwar ist sich Tillich der Mängel der westlichen Demokratie in höchstem Maße bewußt; dennoch verteidigt er bereitwilliger als Hirsch die westliche Idee der individuellen Persönlichkeit und Subjektivität. Gerade die Demokratie schuf Raum zur Entwicklung jener charismatischen Persönlichkeiten, die nun die totalitäre Revolution anführen. Paradoxerweise erlaubt der Totalitarismus selbst jedoch keinen Raum für die Entwicklung einer nonkonformen charismatischen Führerschaft. Darüber hinaus bietet der Totalitarismus keine Möglichkeit zu geistiger Erneuerung. Tillich stimmt mit Hirsch zwar darin Uberein, daß die bürgerlichen Professoren und „verhätschelten Literaten" keine religiöse Führung leisten, aber er fügt hinzu: „Die wirklichen Träger des Geistes sind darum seit einem Jahrhundert beiden Existenzformen freiwillig oder unfreiwillig fern geblieben. Ich behaupte im Gegensatz zu manchen Liberalen, daß Unsicherheit, Verfolgung, Heimatlosigkeit, Gefängnis und Todesdrohung dem wirklichen Geist nie haben schaden können und ihm auch jetzt dienen werden. Aber es gibt hier eine Grenze." 70 Tillich ist der Meinung, daß der Geist die
Ibid. In seinem Werk: „Die religiöse Lage" von 1926 verbindet Tillich in seiner harschen Kritik am Geist des Kapitalismus Demokratie und Kapitalismus miteinander: „Trägerin der Demokratie ist das Bürgertum, und zwar das wirtschaftlich führende, in dessen Händen das Kapital liegt. Bürgerliche Demokratie ist die politische Form der Kapitalherrschaft. Das Kapital schafft die Mehrheit und mit der Mehrheit die Macht" (GW X, S. 52). Ibid., S. 171. Tillich schreibt weiter: „Um bedroht und verfolgt zu werden, muß der Geist erst einmal da sein; und um da zu sein, muß er einen Raum haben, in dem er durch Nein-sagen zum Ja-sagen kommen kann. Es ist der erste Schritt alles Geistes, nein zu sagen zum unmittelbar Gegebenen."
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Möglichkeit zum Nein haben muß, um gesund zu bleiben. Diese Möglichkeit aber gewährt der totalitäre Staat nicht.
Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche Den vierten Abschnitt des zweiten Teils widmet Tillich der Diskussion Uber die Notwendigkeit eines Freiraumes für die Kirche als Voraussetzung für Christentum und Protestantismus. Er wirft Hirsch vor, der katholischen Kirche zwar eine derartige unabhängige Existenz im deutschen Volk zuzugestehen, diese aber der protestantischen Kirche zu verweigern. Wenn man mit Hirsch voraussetzt, daß eine Weltanschauung (oder ein Mythos) für die Entstehung eines totalitären Staates nötig ist, dann muß man Hirsch auch fragen, „ob dieser Mythos 'der tragende, natürlich geschichtliche Lebensgrund und Schaffensraum ist für deutsche Menschen evangelischen Glaubens und evangelischen Geistes', ob das neue Bild des deutschen Menschen und das alte Bild des Christenmenschen zusammenstimmen." 71 Tillich geht hinter die Frage zurück zu deren Prinzip: „Ich habe nicht zu untersuchen, ob sie es tun. Ich habe mich, wie in diesem ganzen Brief, nur um das Methodische, um das theologische Prinzip zu bemühen. Und da frage ich nun: Wer hat das zu entscheiden? Eine ernsthafte Entscheidung ist nur eine solche, in der das Nein möglich ist." 72 Wenn der Staat die Frage verneint, ob altes und neues Menschenbild übereinstimmen, dann wird die Kirche in der Situation des Totali tari smus ihren eigenen Mythos zugunsten des staatlichen Mythos aufgeben müssen. Der Staat kann sein Nein verschleiern, die Herrschenden können solche Teile des christlichen Bildes auslöschen oder verdecken, die nicht mit dem neuen Bild des christlichen Menschen übereinstimmen. Es gibt jedoch auch die andere 71 72
Ibid., S. 172. Ibid. Wie wir gesehen haben, erlaubt auch Hirsch ein „Nein", aber er lehnt das Nein des Liberalismus ab, dem er jede wirkliche Verpflichtung abspricht. Hirschs „Ja" und „Nein" ist das Kierkegaardsche existentielle „Entweder-Oder". Hier stimmt interessanterweise Barth mit Hirsch überein: „Hirsch hat ganz recht: 'Es gibt nur ein EntwederOder'" (Karl Barth zum Kirchenkampf, S. 23).
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Alternative, daß die Kirche die Übereinstimmung der beiden Bilder ernsthaft in Frage stellt. Dann stellt sich die Frage, ob Hirsch bereit wäre, der protestantischen Kirche den gleichen Freiraum wie der katholischen Kirche zuzugestehen. Ist die Antwort positiv, bleibt die Frage nach dem totalitären Anspruch des Staates, da die Kirche ebenfalls die ganze Person beansprucht. Diese entscheidenden Fragen müssen angesichts der gegenwärtigen totalitären Forderungen des Staates von Protestantismus und Christentum beantwortet werden; Hirsch jedoch ist es, der daran „enthusiastisch vorbeiredet". Tillich meint, Übereinstimmung zwischen Barth, Hirsch und sich festzustellen, wenn Hirsch behauptet, der Staat habe die sozialen und kulturellen Aktivitäten der Kirche übernommen, um der Kirche die Möglichkeit zu geben, sich ihrer wahren Aufgabe zu widmen. Allerdings fassen Barth und er die positive Aufgabe der Kirche weiter als Hirsch: „Wir gaben der Kirche außer Wortverkündigung und Meditation die Aufgabe, in sich symbolisch-repräsentativ den christlichen Liebesgedanken in sozialen Gestaltungen zu verwirklichen und so für den Staat ein eindrucksvoller Hinweis auf die Grenzen alles erzwingbaren Handelns und auf eine Wirklichkeit höherer Ordnung zu sein." 73 Es könnte sogar jetzt Übereinstimmung zwischen ihnen geben, wenn Hirsch eine solche christliche Haltung innerhalb eines totalitären Staats zulassen würde. Aber keine Einheit ist vorstellbar, solange Hirsch behauptet, der einzige Weg, die Kirche vor ihrem Untergang zu bewahren, sei die völlige Hingabe aller Prediger, Arbeiter und wirklich frommer Menschen mit allem, was sie besitzen, ihrer Arbeit und ihren Talenten, an die neu sich entwickelnden Strukturen und Formen des nationalen Lebens.74 Dieses starre Kirchenverständnis lehnt Tillich entschieden ab. Er betont dagegen die Notwendigkeit, verschiedene Wagnisformen in der Kirche zuzulassen: Ob die Kirche eine lebendige oder tote ist, hängt davon ab, mit welcher Kraft sie das Reich Gottes erwartet und der Stunde gemäß hinweisend zu 73 74
Die Theologie des Kairos, S. 173. Ibid. Im Wortlaut: „Keinerlei Einigung ist aber möglich mit folgenden Sätzen von Dir: 'Allein Führung als heißer Wille ..., die Verkündiger und die kirchlichen Helfer und Arbeiter und alle lebendigen Frommen mit allem, was sie an Gut und Arbeit und Gaben haben, in die werdenden Formen und Gestaltungen volkhaft-staatlichen Lebens hinüberzureifien, kann unsere Kirche davor bewahren, jetzt eine tote Kirche zu werden... "'.
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verwirklichen sucht, von nichts anderem. Das Urteil darüber, welches die Stunde ist und wie sie aussieht, ist Wagnis. Und es kann ein Zeichen höchster Lebendigkeit sein, wenn verschiedene Wagnisse in der gleichen Kirche unternommen werden und miteinander ringen. Wenn Du eine Kirche für tot erklärst, die Dein Wagnis nicht einmütig mitmacht, so beanspruchst Du, daß es mehr ist als ein Wagnis, so stellst Du Dich mit Deinem Wagnis nicht unter das Kreuz, sondern erhebst es zu dem Range einer Offenbarung neben dem Kreuz. 75 Aus dieser Passage wird erneut klar, daß die Differenzen zwischen Hirsch und Tillich nicht allein auf verschiedenen Kirchenverständnissen, sondern auf unterschiedlichen Reich-Gottes-Vorstellungen und deren Verwirklichung basieren. Für Tillich ist das Gottesreich eine eschatologisch-geschichtliche Wirklichkeit, die für den politischen Gesellschaftsaufbau wichtig ist und für die die Menschen verantwortlich sind. Für Hirsch ist das Reich Gottes eine geistige Wirklichkeit, die von menschlich-politischem Streben vollkommen unabhängig ist. 7 6 Bedeutung hat das Gottesreich nur für das einzelne Gewissen.
Reservatum und Obligatum Schließlich erinnert Tillich im fünften Abschnitt des zweiten Teils an seine eigene Unterscheidung von reservatum religiosum und obligatum religio sum
77
Die neutestamentliche Gemeinde vertrat dem Staat gegenüber vor-
nehmlich das Reservatum; wie Hirsch richtig sagt, war diese Haltung einseitig und zeitbedingt. Aufgrund ihrer Situation war es der Kirche damals nicht
75 76
77
Ibid., S. 173-174. Hirsch vertrat diese Position bis an sein Lebensende. In dem Artikel: „Gottesreich und Menschenreich", der in der „Festgabe aus Pädagogik und Theologie für Helmuth Kittel zum 70. Geburtstag", Dortmund: Criiwell 1972, erschien, schreibt Hirsch: „Die These aber, welche dieser unsern evangelischen Glauben verderbenden Entartung am sichersten entgegenwirkt, ist die, daß das Reich Gottes niemals, in keinem Stadium der Geschichte, ein Menschenreich werden wird, sondern immerdar das durch die Todesgrenze verhüllte Geheimnis bleibt, welches in den dem Evangelium glaubenden Herzen und Gewissen sein heimliches Leben hat" (S. 154). Ibid., S. 174-175. Tillich bezieht sich hier auf seinen Artikel: „Grundlinien des Religiösen Sozialismus", in: GW II, S. 96 ff.
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Religiöser Sozialismus und der Kairos
möglich, für das Obligatum gegenüber Staat, Nation, Kultur und Gesellschaft einzutreten. Hirsch dreht nun allerdings das Verhältnis um und betont das Obligatum ohne Reservatum und verweist das Reservatum in den geistigen Bereich: „Du gibst zwar dem Einzelnen ein Reservatum,
das persönliche
Verhältnis zu Gott; nicht aber der Kirche, der Du einen selbständigen geschichtlichen Ort bestreitest. Damit aber hebst Du sie auf, machst sie ohnmächtig gegenüber den Weltanschauungen oder Mythen, die den totalen Staat tragen." 78 Der Protestantismus könnte nach Tillich ohne Reservatum nicht existieren: „Der Religiöse Sozialismus wußte, als er die Lehre vom
Reservatum
religiosum annahm, daß er das Religiöse niemals in das Sozialistische auflösen darf, daß die Kirche etwas ist auch abgesehen von dem Kairos, d.h. von der Verheißung und Forderung, die er in dem weithin sichtbaren Anbrach sozialer und geistiger Neuordnung der Gesellschaft sah. Du hast das übernommen, aber das Reservatum
Obligatum
preisgegeben - der Vorwurf, der im
Grunde das Thema meines ganzen Briefes ist." 79 Tillich bezieht sich auf Hirschs letzten Brief, in dem dieser es vermieden hatte, diese Problematik anzusprechen. Hirsch hatte behauptet, daß eine Reservation gegenüber den gegenwärtigen Ereignissen in Deutschland unangebracht sei, „weil Dein persönliches Gottesverhältnis Dir den Mut geben könnte, mit einem ungebrochenen Ja in eine geschichtliche Bewegung hineinzugehen." 80 Damit hatte Hirsch Tillich und andere über seine geistige Haltung erschreckt und abgestoßen. In besonderem Maße hatten dazu Sätze Hirschs beigetragen wie: „Wo wir aus dem dieser Wahrheit (des Evangeliums) gehorchenden Glauben heraus den Mut haben, mit unserem Ja in ein Menschlich-Geschichtliches hineinzugehen, da geht die unergründliche Hoheit
78 79
80
Die Theologie des Kairos, S. 174. Ibid. Bei Tillichs Verteidigung des Reservatum religiosum geht es um seinen Kerngedanken des „protestantischen Prinzips". Ibid. Außer dieser kurzen Anspielung habe ich keine weiteren Hinweise auf diesen Brief Hirschs an Tillich gefunden.
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der Wahrheit mit uns und waltet nun nach ihrer Weise an diesem MenschlichGeschichtlichen." 81 Tillich stimmt mit Hirsch darin überein, daß der Christ in einer endlichen Situation den Einsatz wagen muß. Aber das gibt niemandem das Recht „zu dieser Endlichkeit ein ungebrochenes religiöses und theologisches Ja zu sagen." 8 2 Als Christ und besonders als Theologe darf man nicht in einen Enthusiasmus fallen, der ein uneingeschränktes Ja zu etwas sagt, das gleichermaßen ein Ja wie ein Nein fordert. Tillich zieht einen letzten kurzen Vergleich zwischen sich und den Religiösen Sozialisten einerseits, sowie Hirsch andererseits: Falsch wäre es, wollten wir uns um deswillen überhaupt nicht entscheiden, auch religiös und theologisch im Sinne des Wagnisses entscheiden, um in unserer Theologie dem Gericht zu entgehen, das über alles Menschlich-Geschichtliche ergeht. Weder Du noch wir haben versucht, ihm zu entgehen. Das verbindet uns. Du aber hast ja gesagt, während wir nur im Zusammenhang mit vielfachem nein ja sagen konnten; nicht weil wir unsere Sache für schlechter hielten, sie war ja unser Wagnis, sondern weil wir glaubten, daß vom Ewigen her nie anders über ein Endliches und zu einem Endlichen gesprochen werden darf. 83 Tillich schließt seinen langen Brief mit dem Bezug auf einen persönlichen Brief von Hirsch, in dem dieser ihn dazu aufgefordert hatte, ein Buch zu schreiben, das Deutschland in seiner gegenwärtigen Krise zugute käme. Tillich hofft, dieser offene Brief werde einem solchen Bedarf eher gerecht als Hirschs Buch und viele vergleichbare Schriften von geringerem Wert. Er hofft, so Einfluß auf viele Deutsche nehmen und dabei helfen zu können, daß aus den gegenwärtigen „Enthusiasten" „gläubige Realisten" werden. Dies wäre der größte Dienst, den er Deutschland leisten könnte, besonders wenn er dabei helfen könnte, die große Gefahr der Enttäuschung abzuwenden, die immer
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82 83
Ibid. Tillich zitiert diesen Satz Hirschs und setzt hinzu: „Zu dem ganzen Gedankengang kann ich nur sagen, daß nicht nur ich, sondern auch andere von ihm erschreckt und zurückgestoßen waren." Ibid., S. 185. Ibid.
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solchem Enthusiasmus folgt. Hirsch aber habe die Gefahr der Enttäuschung eher verstärkt als verringert.
Tillichs zweiter Brief: Neufassung und Klärung Bevor wir uns dem zweiten Dokument der Debatte von 1934-35 - Hirschs Antwort auf Tillichs vernichtenden Brief - zuwenden, betrachten wir kurz das dritte und letzte Dokument der Kontroverse: Tillichs zweiten Brief mit dem Titel: „Um was es geht: Antwort an Emanuel Hirsch". Der Ton dieses Briefes ist weniger persönlich und zornig als der des ersten. Er erschien in der Maiausgabe der „Theologischen Blätter" des Jahres 1935. Darin wiederholt Tillich seine grundsätzliche Position in einem einführenden Abschnitt und drei Hauptteilen. In der Einleitung meint Tillich, Hirschs Brief an Stapel verbinde „Abwehr mit Angriff, Persönliches mit Sachlichem, Einzelheiten mit großen Gesichtspunkten". Er fügt hinzu: „Die Haltung des Ganzen, vor allem des menschlich erfreulichen und versöhnlichen Schlußabschnittes ermöglicht es mir, den von Hirsch nicht völlig erfaßten Sinn meines Angriffes auf sein Buch noch einmal in knappster Form zusammenzufassen." 84 In einer Fußnote bemerkt er allerdings, daß der Adressat von Hirschs Brief (Stapel) diesen versöhnlichen Geist in keiner Weise widerspiegele, und so lasse sich bezweifeln, ob die Auswahl des Adressaten klug gewesen sei. 85
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Um was es geht: Antwort an Emanuel Hirsch, in: EGW VI, S. 214. Tillich schreibt: „Leider findet sich nichts von dieser Haltung bei dem Adressaten des Briefes. Es würde der Sache und dem Niveau der Auseinandersetzung mit Hirsch widersprechen, wenn ich darauf einginge. Ich begnüge mich damit, mein Bedauern über die Wahl des Adressaten auszudrücken" (ibid., S. 218). Diese kleine Fußnote Tillichs gegen Stapel wurde auf die Initiative des Herausgebers der „Theologischen Blätter" hin und gegen den Wunsch des Verlags gedruckt und ist Gegenstand einer langen Verteidigung Schmidts gegenüber dem Verlag J.C. Hinrichsche Buchhandlung am 2. Mai 1935. Schmidt erwähnt diese Begebenheit auch in einem Brief an Tillich vom 3. Mai 1935.
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Geschichtliche Verpflichtung Die drei Teile dieses zweiten Briefes behandeln geschichtliche, theologische und politische Themen. 86 Im ersten Teil spricht Tillich die geschichtliche Frage der geistigen Verpflichtung an. In seinen Augen ist die Pflicht aller akademisch und nicht propagandistisch Denkenden, der vorangegangenen Epoche der deutschen Geistesgeschichte ob ihrer geistigen Haltung und ihrer Errungenschaften Respekt zu zollen. Dies sei die Absicht des ersten Briefteils. Den Vorwurf des „Plagiats" schwächt Tillich in dieser Erwiderung ab und behauptet nun, er verstehe den Streit mit Hirsch keineswegs als Disput über Fragen der akademischen Originalität. „Ich habe nie das geringste Verständnis für solche Streitigkeiten gehabt," meint er. 87 Auch wenn sich die jungnationale lutherische Theologie unabhängig vom Religiösen Sozialismus entwickelt hätte, bliebe Hirschs Interpretation der deutschen Ereignisse unverständlich. Hirsch habe nicht richtig verstanden, daß seine Position als „typische", nicht als „persönliche" oder „individuelle" angegriffen worden sei. Tatsächlich sei Hirschs Haltung „fast die einzige, die wert ist, angegriffen zu werden." 88 Das wirft die wichtige Frage auf, inwieweit dies eine persönliche und eine parteipolitische Auseinandersetzung zwischen zwei Freunden und Gegnern ist und inwieweit eine Konfrontation zweier Denkrichtungen. Die Eindringlichkeit von Tillichs Brief darf nicht nur vor dem Hintergrund politischer Differenzen betrachtet werden, sondern auch im Licht ihrer langen Freundschaft, ihrer dauernden geistigen und persönlichen Unterschiede und Konflikte und auch der Polemik, die die Auseinandersetzungen zwischen gegensätzlichen theologischen und kirchlichen Gruppen im Deutschland jener Zeit beherrschte.
86
87 88
Walter Bense nennt Tillichs Anliegen das „apologetische oder historische Anliegen", das „systematische oder polemische" lud das „politische oder ethische" (Bense, Tillich's Kairos and Hitler's Seizure of Power: The Tillich-Hirsch Exchange of 1934/35, S. 39). Um was es geht. Antwort an Emanuel Hirsch, S. 214. Ibid.
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In diesem ersten Teil macht es Tillich zu seinem Hauptanliegen, daß keine Geschichtsepoche jemals unter ein unbedingtes Ja oder Nein gestellt werden kann. Dies gilt besonders dann, wenn man wie Hirsch anerkennt, daß die uneingeschränkt bejahten Ideen aus der vorangehenden Epoche erwachsen sind. Und es ist sogar noch zutreffender, wenn Gegner wie Tillich und Hirsch mit ähnlichen Kategorien arbeiten. „Soll künftigen Generationen denkender Deutscher ein Zerrbild deutscher Geistesgeschichte oder das wahre, dialektische Bild der Entwicklung Uberliefert werden?", fragt Tillich. „Darum und nur darum ging es mir und geht es mir und nicht um Hirsch und nicht um mich, nicht um Originalität und nicht um Plagiat."89 Geschichtliches Bewußtsein muß sowohl von Leidenschaft als auch von Unvoreingenommenheit getragen sein. Jeder, der mit der Geistesgeschichte umgeht, muß Mythenbildung verantwortungsbewußt vermeiden. „Haß gegenüber der einen, Enthusiasmus gegenüber der anderen Periode sind ebenso schlechte Berater für geschichtliches Denken wie zuschauende Indifferenz." 90 Im Lichte von Hirschs wiederholtem Vorwurf, Tillich zeige kein konkretes Engagement für die geschichtliche Wirklichkeit, zeigt Tillich hier einmal mehr die „Grenze" oder „Dialektik" seines Geschichtsbewußtseins.
Theologische Heterodoxie Teil zwei behandelt Tillichs theologisches Anliegen. Hirsch hatte sich erstaunt darüber gezeigt, daß Tillich sich plötzlich auf der Seite Barths gegen seinen alten Freund fand, was offensichtlich eher aus politischen denn aus theologischen Gründen geschehen sei. Tatsächlich, sagt Tillich, habe er weder auf Barths noch auf Hirschs Seite gestanden, sondern versucht, einen dritten Weg zwischen den beiden Extremen aufzuzeigen. Der zunehmend dämoni-
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Ibid., S. 214-215. Ibid., S. 215. Tillich fügt hinzu: „Es wäre schön, wenn Hirsch nicht nur von seinen systematischen Lösungsversuchen, semdern auch von seiner Würdigung der vergangenen Periode deutscher Geschichte zugestehen würde, daß die Frage nach ihr offen geblieben ist."
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sierte Sakramentalismus habe die dringliche Notwendigkeit eines solchen dritten Weges gezeigt: Im Kampf dagegen [gegen den Sakramentalismus] stehe ich auf Barths Seite. Denn in diesem Kampf vertritt Barth das prophetische Element, das - freilich in säkularisierter Form - auch im Sozialismus enthalten ist Nicht ist es meine Absicht, das priesterlich-sakramentale Element Uberhaupt auszuscheiden ..., wohl aber ist es nötig und war es nötig in der ganzen Geschichte und Vorgeschichte des Christentums, und ist es heute nötiger denn j e , zu verhindern, daß das sakramentale Element zur Schaffung von Ideologien und Weihung von Machtgebilden mißbraucht wird. Darum ging es in der Kritik der zentralen Begriffe, die Hirsch verwendet. 91 Tillich versteht die Debatte mit Hirsch analog der Kontroverse um die beiden Naturen Christi in der Alten Kirche, dem Kampf um die Frage von Gnade und Natur im Mittelalter oder der Frage von Glauben und guten Werken während der Reformation. Die Kairos-Lehre der Religiösen Sozialisten war der Versuch, einen Mittelweg zwischen zwei extremen Polen zu finden. Hirsch befindet sich auf dem Irrweg eines der beiden Extreme: Meine Frage war: Ist dieser Irrweg, das „chalzedonensische" Vermischen des Göttlichen und Menschlichen notwendig, wenn wir den Barth'schen Irrweg, das „chalzedonensische" Trennen beider vermeiden wollen? Gibt es keine „chalzedonensische" Lösung der Frage „Reich Gottes" und „menschliches R e i c h " ? Auch wenn die Kategorien Hirschs ohne Anlehnung an die Kairoslehre entstanden wären - was weiter zur Diskussion stehen mag -, so würden sie gerade das sagen, was in der Lösung des Problems als der eine, immer drohende Irrweg zu bekämpfen ist: die unmittelbare und ungebrochene Heiligung und Weihung eines menschlichen Reiches. Hirsch's Lehre von den zwei Reichen, von denen das eine ausschließlich bezogen ist auf die Innerlichkeit des einzelnen Menschen, das andere ebenso ausschließlich auf die Ordnungen des politischen und sozialen Lebens, hat die Folge, daß diese Ordnungen der von der Reich-Gottes-Erwartung kommenden Kritik entzogen sind. Auch Barth entzieht sie der Kritik, aber er profanisiert sie zugleich und stellt sie unter sachliche Normen, die bewußt oder unbewußt ein E l e m e n t prophetischer Kritik enthalten. Hirsch gibt ihnen ausdrücklich religiöse Weihe und verzichtet damit auf jede Kritik an den in ihnen wirkenden Dämonien. Um diese Probleme geht es in aller gegenwärtigen theologischen Arbeit. Darum ging es mir in meinem Bemühen, die
91
Ibid.
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Kairoslehre scharf gegen die oft zum Verwechseln ähnlichen Kategorien der Lehre von den 'zwei Reichen' abzugrenzen.92 Interessant ist, daß Tillich einerseits den Vorwurf erhebt, Hirsch vermische Göttliches und Menschliches, und ihn andererseits einer zu scharfen Trennung der beiden durch die Zwei-Reiche-Lehre bezichtigt. Tillich meint offenbar, daß Hirsch durch die Trennung des innerlich-geistigen Reichs vom äußerlich-sozialpolitischen Reich letztlich beide Reiche ineinander fallen läßt, so daß er keine Grundlage zur Beurteilung oder Kritik an der gesellschaftspolitischen Ordnung bieten könne. Hirsch hat allerdings, wie bereits gesehen, durchaus eine Norm zur Kritik an zeitlichen Ordnungen: das Kriterium des demütigen Sich-Verneigens vor dem Herrn der Geschichte und der Offenheit gegenüber Korrekturen und das Verzehrtwerden durch das Ewige. Unbeantwortet bleibt allerdings, ob dies eine echte Norm ist und wie sie zur Anwendung kommen kann.
Politische Theologie Der dritte Teil konzentriert sich auf die politische Frage, insbesondere auf die Beziehung zwischen Theologie und Politik. Nach Tillich ist die Beziehung nur mit Hilfe des „Und" zu beschreiben, besonders wenn eine politische Bewegung sich als Weltanschauung versteht. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einer Betrachtung politischen Handelns aus der Perspektive des Machtkampfes, der Zweckdienlichkeit oder der ernsthaften Einschätzung als Weltanschauung und der Beurteilung aufgrund theologischer Kategorien. Letzteres ist nicht Politik, sondern „Theologie der Politik" als Teil der „Theologie der Kultur". Theologie kann eine solche „Theologie der Kultur" nicht vermeiden, wenn sie das unbedingte Wesen der christlichen Verkündigung vertreten will. Eine Theologie, die ihr Recht aufgibt, die politische wie jede andere Weltanschauung zu kritisieren, beschneidet sich selbst. Wenn
Ibid., S. 216. Dies ist Tillichs deutlichste Beurteilung der theologischen Unterschiede zwischen Barth, Hirsch und sich in Bezug auf die Ethik.
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Politik als Weltanschauung betrieben wird, muß sie einer theologischen Kritik unterworfen werden, 93 auch wenn sie so Märtyrerstatus erlangt, wie Geismar völlig richtig in seiner Diskussion mit Hirsch meint. Nach Tillich ist es Unsinn, die theologische Kritik an einer politischen Weltanschauung einfach als Ausdruck politischer Opposition anzuprangern, wie Hirsch es tut, und gleichzeitig diese politische Weltanschauung theologisch zu rechtfertigen und zu verherrlichen. Schließlich drückt Tillich seine Hoffnung und Zuversicht darüber aus, daß dieser Brief zur Klärung der Beziehung von christlicher Verkündigung und politischer Weltanschauung beitragen könne, und erklärt, der Inhalt des Briefes sei nicht als persönlicher Angriff gedacht. „Was ich treffen wollte, ist eine geistige Macht, die sich in Theologie, Weltanschauung, Ethos und Wissenschaft zugleich ausdrückt und die nach meiner durch Hirschs Thesen unerschütterten Überzeugung dem prophetischen Element des Christentums schlechthin widerspricht." 94 Er stimmt Hirsch darin zu, daß der gegenwärtige Kampf existentielles Engagement fordert, eine „persönlich bindende Verbundenheit", der man sich auch bei existentieller Verweigerung nicht verschließen kann, und hofft, daß dieses Engagement durch die evangelische Lehre von der Rechtfertigung ermöglicht wird. 95
Zusammenfassung Wir sind am Ende unserer Untersuchung von Tillichs erstem offenen Brief an Hirsch und seiner Neuformulierung im zweiten Brief angelangt. In 93
94 95
„In dem Augenblick, wo Politik sich selbst weltanschaulich begründet, mufi diese Begründung verantwortlicher theologischer Kritik unterworfen werden. Auch um den Preis des Märtyrertums, wie Geismar mit Recht Hirsch gegenüber fordert" (ibid., S. 217). Ibid. Tillichs abschließende These lautet: „Ich glaube aber, daß der evangelische Rechtfertigungsgedanke die Möglichkeit gibt, daß auch heute, wo niemand, der ernst genommen werden soll, an dem Einsatz seiner Existenz vorbei kann, persönliche Verbundenheit auch durch existentielle Ablehnung nicht aufgehoben werden muß. Der 'Feind' ist keine wesensnotwendige, sondern eine wesenswidrige, wenn auch 'existentielle' Kategorie" (ibid., S. 218).
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meinen Augen sind seine Argumente und Beschuldigungen zu drei Hauptvorwürfen zusammenzufassen. Erstens beschuldigt er Hirsch, die wichtigen Errungenschaften der vorangehenden Epoche der deutschen Geistesgeschichte (der Weimarer Zeit) für die Entwicklung seiner eigenen Begriffe nicht zureichend anzuerkennen. Trotz des moderaten Tons im zweiten Brief bleibt er dabei, daß Hirsch den Sinn der zentralen Begriffe des Religiösen Sozialismus (Kategorien wie das Dämonische, die Grenze, die dynamische Wahrheit, das Wagnis, die Theonomie und besonders die Kairos-Lehre) verzerrt und sie auf den Nationalsozialismus, eine ihnen widersprechende politische Bewegung, angewandt habe. Trotz der Behauptung des Gegenteils im zweiten Brief beinhaltet dies die Vorwürfe des „Plagiats", des politischen Opportunismus und die Unterstellung, Hirsch habe bewußt seine Abhängigkeit von Tillich und den Religiösen Sozialisten verschleiert. Zweitens greift Tillich Hirschs grundsätzliche theologische Methode an, indem er behauptet, die genannten Begriffe seien ihrer prophetisch-eschatologischen Dimension beraubt worden und würden zur Sakramentalisierung einer endlichen Wirklichkeit, dem deutschen Nationalstaat, verwendet. Die Heiligung einer politischen Bewegung erwachse aus Hirschs undialektischer Sicht der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, die den innerlich-individuellen, geistigen Bereich radikal vom äußerlich-sozialen und politischen Bereich trennt. Implizit beschuldigt Tillich Hirsch des Irrglaubens, einer vorletzten Wirklichkeit absolute Gültigkeit (ein ungebrochenes Ja) zuzuerkennen und so die gegenwärtigen Ereignisse in Deutschland zu einer zweiten Offenbarungsquelle neben der biblischen Verkündigung zu erheben. Schließlich beschuldigt Tillich Hirsch einer unangemessenen politischen Theorie, in der Begriffe wie „Horos", „Nomos", „Logos", Ursprung, Blutbund, Volk, verborgener Souverän und Verpflichtung uneingeschränkt dazu verwendet werden, die gegenwärtige Stunde ohne wirkliche, selbstkritische und politisch verantwortliche Normen zu heiligen. Hirsch fehle das tiefe soziologische Verständnis für den ideologischen Charakter und den Klassenkampf hinter den derzeitigen Ereignissen in Deutschland. Seine Verteidigung des Totalitarismus gegen westliche Vorstellungen von Frieden und Demokratie ebne den Weg für einen autokratischen, macciavellistischen Staat. Diese
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Beschuldigung beinhaltet den Vorwurf des unkritischen politischen Enthusiasmus und der Naivität.
9 Nationalsozialismus und christliche Freiheit: Hirschs Antwort auf Tillichs Brief
Als Tillich vom Union Theological Seminary in New York aus an Hirsch schrieb, war dieser Professor an der Universität Göttingen. Er vertrat dort seit 1921 den Lehrstuhl für Kirchengeschichte und sollte bis 1936 diese Stelle innehaben. Hirschs Kierkegaard-Studien erschienen 1933, also im gleichen Jahr, in dem er die Vorlesungen zu dem Buch hielt, das Tillichs Zorn erregte, und ein Jahr vor dessen offenem Brief. 1 Hirschs Antwort auf Tillichs Vorwürfe erschien unter dem Titel: „Ein Brief an Herrn Dr. Stapel", wurde am 16.11.1934 verfaßt und in einem Buch mit dem Titel: „Christliche Freiheit und politische Bindung. Ein Brief an Herrn Dr. Stapel und anderes" veröffentlicht. Auf den ersten 47 Seiten dieses Buches antwortet Hirsch auf Tillichs Anschuldigungen, die folgenden 28 Seiten sind Hirschs Antwort an Eduard Geismar, einen dänischen Philosophen und Theologen und bedeutenden Kierkegaard-Schüler, mit dem Hirsch ebenfalls Uber die deutsche Situation und die Aufgabe der Theologie diskutierte. Auf den letzten 20 Seiten des Bändchens faßt Hirsch in drei Thesenreihen seine Ansichten zu (1) der Offenbarung Gottes in Gesetz und Evangelium, (2) Bekenntnis und Konfession und (3) Kirche und Staat zusammen. In diesem Kapitel untersuchen wir in erster Linie den ersten Teil des Buches: Hirschs Antwort an Tillich.
Hirsch war davon überzeugt, daß Kierkegaards Denken ein Hauptwendepunkt im christlichen Denken und für die christliche Frömmigkeit war. Der Einfluß Kierkegaards auf Hirschs Denken und seine Interpretation der poh tischen und theologischen Ereignisse von 1933 in Deutschland sollten nicht unterschätzt werden. Vgl. dazu Walter Buff, Emanuel Hirsch, S. 79.
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Grundfragen der Debatte von 1934-35 Hirschs Erwiderung verdient sorgfältige Prüfung. 2 In einem kurzen
Vorwort macht Hirsch einige persönliche Bemerkungen Uber die Gestaltung seiner Antwort. Ein einleitender Abschnitt versucht den parteipolitischen Charakter von Tillichs Kritik aufzudecken. In den vier Hauptteilen behandelt Hirsch zunächst Tillichs „ungenaue" Beurteilungen von Aspekten seines Denkens, insbesondere die Aussagen Uber fremde Länder; der zweite Teil konzentriert sich auf den Vorwurf des .Plagiats" im Hinblick auf den Begriff der Grenze; der dritte Teil diskutiert den Vorwurf des Plagiats hinsichtlich der Kategorie des Kairos; im vierten Teil schließlich geht Hirsch auf verschiedene Aspekte von Tillichs Vorwurf ein, er habe eine irdische Wirklichkeit vergöttlicht oder „sakramentalisiert", ohne dabei der Kirche Raum für Protest zuzugestehen. In einer Schlußbemerkung zollt Hirsch Tillichs persönlicher Integrität Respekt und skizziert kurz ihr persönliches und intellektuelles Verhältnis über die Jahre hinweg.
Falsche Darstellungen - Gegenvorwürfe Hirsch beginnt sein Vorwort mit der Bemerkung, Tillich habe ein „Schützenfeuer" auf ihn eröffnet und Herausgeber Karl Schmidt habe ihm die
Nordamerikanische Theologen tendieren dazu, Hirschs Antwort als unwesentlich abzutun. Ein Beispiel für eine solche allzu einfache Ablehnung der Antwort Hirschs und damit seines Denkens im allgemeinen ist David Hoppers Meinung: „Die Hoffnung, mit der Tillich seinen Brief beendete, wurde natürlich enttäuscht. Hirsch lehnte alle Gedanken Tillichs ab und blieb bei der Unterstützung der nationalsozialistischen Sache. Er beantwortete Tillichs 'offenen Brief indirekt mit einem kleinen Pamphlet mit dem Titel: 'Christliche Freiheit und politische Bindung'. Teil des Pamphlets war ein Brief von Hirsch an Dr. Wilhelm Stapel, eine Leitfigur der Deutschen Christen. Im Brief an Stapel antwortete Hirsch auf Tillichs Kritik, besonders auf den Vorwurf des Plagiats. Tillich seinerseits fand sich durch Hirschs Interpretation reichlich mißverstanden und rekapitulierte seine Hauptkritik in einer kurzen Antwort in den 'Theologischen Blättern' (Mai 1935). Doch wie der erste Brief hatte auch die spätere Zusammenfassung wenig oder keine Auswirkungen auf Hirsch und die Deutschen Christen" (Hopper, Tillich: A Theological Portrait, S. 89; Ü.a d.O ). Ein Beispiel dafür, daß Tillichs Sicht der Debatte in Nordamerika vorgestellt wird, ohne dabei Hirschs Position die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken, ist die neue Ubersetzung von Tillichs „Open Letter to Emanuel Hirsch" (ohne Übersetzung von Hirschs Antwort) in: The Thought of Paul Tillich, hgg. v. J.L. Adams, W. Pauck und R.L. Shinn, San Fransisco: Harper & Row Publishers, 1985.
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richtige Waffe dafür gereicht. Er könne sich des Gefühls nicht erwehren, daß seine Ehre auf dem Spiel stehe, könne Tillich aber nicht direkt ansprechen. Er schreibt: „Mit Tillich selbst kann ich nicht mehr reden. Wer die Form eines Freundesbriefs gebraucht, um dem Gegner Unwahrhaftigkeit, Unlauterkeit in der Benutzung von fremden Gedanken, theologischen Machiavellismus ... und Verrat des Ewigen an ein Irdisches mit und ohne Klauseln nachzusagen, hat die Möglichkeit einer unmittelbaren Auseinandersetzung zerstört. Freundschaft unter deutschen Männern ruht auf Anerkennung der gegenseitigen Ehrenhaftigkeit und der Ebenbürtigkeit auf entscheidenden Lebensgebieten." 3 Somit bleibe ihm nur die Möglichkeit, sich so gut als irgend möglich gegen den Angriff auf seine Ehre, die er als deutscher Lehrer und Schriftsteller verdiene, zu verteidigen und Stapel und die Öffentlichkeit so wenig wie möglich mit der privaten Seite der Affaire zu belästigen. Er charakterisiert Stapel, an den der Brief gerichtet ist, als einen deutschen Journalisten, mit dem ich seit Jahren in Gleichheit des Wollens für Deutschland und wider die Mächte von 1918 verbunden bin und der in seinem Kampfe schwerere und härtere Bedrängungen seiner Ehre hat erleiden müssen als ich." 4 Bereits im Vorwort nennt Hirsch als einen seiner zentralen Gegenvorwürfe gegen Tillich, daß dieser sich nicht wirklich verantwortlich für sein Volk einsetze und stattdessen einen freischwebenden kritischen Individualismus vertrete: Meine Auseinandersetzung mit Tillich steigt durch einige vorläufige Kampfesschichten empor zu einer Abrechnung des volksgebundenen Geschichtsdenkens neuer deutscher Geistigkeit mit der frei schwebenden kritischen Prophetie, die als eine Art Geleitengel mit auf dem Zug des Marxismus durch Deutschland war und ihn vergebens auf leidlich verantwortliche Bahnen zu lenken suchte. 5
3
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Hirsch, Brief an Herrn Dr. Stapel, in: Christliche Freiheit und politische Bindung, S. 7; auch in: Tillich, EGW VI, S. 178 (im folgenden wird zunächst die Seitenangabe in Christliche Freiheit und politische Bindung, Hann in EGW VI angegeben). Brief an Heim Dr. Stapel, S. 7/178. Ibid., S. 5/177.
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Nach Hirsch erwächst Tillichs Kritik aus einem kosmopolitischen Internationalismus, der keine festen gemeinschaftlichen Wurzeln hat. Hirsch findet diese Haltung abstoßend. In seiner Einleitung erhebt Hirsch dann zunächst zwei Vorwürfe gegen Tillich: (1) Tillich benutze die Pärteipolitik, um gegen einen alten Freund vorzugehen, der zufällig sein politischer Gegner ist, und (2) Tillich habe mehr ein polemisches Pamphlet verfaßt, als sich in einer sorgfältigen Analyse mit dem Denken seines Gegners auseinanderzusetzen. Er beschuldigt Tillich des politischen Opportunismus, dessen Tillich ihn bezichtigt hatte. Hirsch beschreibt die parteipolitische Dimension der Debatte folgendermaßen: Es lebt in Tillich ein Zorn, der Zorn gegen die dem Nationalsozialismus hingegebene deutsche Geistigkeit, deren Repräsentant ich - durch meine nationale Haltung von je ihm sachlich ein Gegner - nun ihm durch mein Buch „Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung", Göttingen 1934, geworden bin. Er sieht im Nationalsozialismus vielfach den, der den Marxismus geistig beraubt und ausgeplündert hat, um das so Angeeignete nun im Dienst seines eigenen Wollens zu mißbrauchen. Dies Exempel rechnet er an mir durch, indem er mein Verhältnis zu dem christlich-religiös vertieften und zum Teil auch umgebildeten Marxismus mit demokratischer Korrektur, den er vertreten hat, einer Analyse unterwirft. So wird ein Vorurteil gegen politische Gegner, an das er ehrlich glaubt, an mir exekutiert. Ich habe alle entscheidenden Ideen bei ihm geraubt und dann nationalsozialistisch korrumpiert und umgebogen. 6 Ein solcher Angriff, so Hirsch, sollte aber nur aufgrund einer sorgfältigen Analyse des gesamten Werkes und der Erziehung des Gegners geführt werden. Wäre dies ehrenhaft und unvoreingenommen geschehen, könnte die methodische Kritik als berechtigt angesehen werden. Tillich sei allerdings oberflächlich und polemisch in seiner Kritik: Das heißt, es wird ein Pamphlet geschrieben statt einer Analyse, ein Pamphlet, in dem weder der genetische noch der systematische Zusammenhang der Ideen des Bekämpften sichtbar wird. Da ich als Nationalist von Tillichs politischem Dogma aus gesehen als „bürgerlicher Reaktionär" einzuordnen bin (der Nationalsozialismus wird nach ihm angeblich von „reaktionären" kleinbürgerlichen und bäuerlichen Schichten
6
Ibid., S. 8/178-179.
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getragen), so habe ich von mir aus eben nur das bisher gewußt und gedacht zu haben, was ein Individuum solcher Art nach dem dogmatischen Schema des christlich-religiösen Marxismus allein wissen und denken kann, und alles, was dazu nicht paßt und irgendwie als Ernst und Reife eines philosophisch durchdrungenen religiösen Geschichtsverständnisses erscheint, das muß unrechtmäßig angeeignet sein. So pflegen Parteipolitiker zu arbeiten, wenn sie zugleich Dogmatiker sind.7 An dieser Stelle zeigt sich noch ein weiterer Vorwurf, der sich durch Hirschs gesamten Brief zieht: Tillich habe die Konsequenzen von Hirschs Ansichten nicht aus Hirschs eigenem theologisch-politischen Schema heraus untersucht, sondern Hirschs Position durch die Brille einer doktrinären sozialistisch-marxistischen Geschichtsbetrachtung untersucht und beurteilt.
Falsche Zitate und Interpretationen Im ersten Hauptabschnitt des Briefes bemängelt Hirsch, wie ungenau Tillich zitiert habe, insbesondere bei den Aussagen über Menschen nichtdeutschen Blutes. Wir untersuchen hier jedoch nicht, ob Tillich originalgetreu zitiert hat oder nicht, sondern gehen nur kurz auf Hirschs Ärger ein, um dann zu den grundlegenden Problemen zu kommen. Hirsch behauptet beispielsweise, Tillich habe seine Bemerkungen Uber die ausländische Philosophie als „untermenschlich-natürlich" ihres Kontextes beraubt. Tillich gebe damit dem Wort untermenschlich eine nie beabsichtigte Bedeutung. Für ihn, Hirsch, drückt sich darin eine naturalistische, wissenschaftlich-mathematische Denkweise und nicht purer Materialismus aus. Zudem habe Hirsch lediglich die ausländische Philosophie der Vorkriegszeit beschrieben und nicht die ausländische Philosophie im allgemeinen. Tillich Ubersehe sowohl seine Betonung des Übergeschichtlichen als auch seine scharfe Kritik an der deutschen Philosophie selbst. In ähnlicher Weise habe Tillich seine Aussagen über den französischen Kulturimperialismus verzerrt und aus dem Kontext genommen. Er habe den Ausdruck „spezifisch
7
Ibid., S. 7-8/179.
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französisch" (welsch) anders gebraucht als Tillich behauptet. „In meinem Zusammenhang ist klar", setzt Hirsch hinzu, „daß ich die bewußt deutsche und nationalsozialistische Idee, daß nur aus der freien Entfaltung eines artgemäßen Nomos in jedem Volke wahrhafte Völkergemeinschaft wachsen könne, gegen den von westlichen Völkern propagierten Gedanken, Völkergemeinschaft beruhe auf internationaler Kultur, abzugrenzen suche. Daß der französische Imperialismus Kulturimperialismus sein will, ist eine unbestrittene Tatsache."8 Indem Tillich kritisiert, daß er, Hirsch, die Franzosen angeblich mit einer „autoritären Regierung" verknüpfe, habe dieser wiederum den Sinn verzerrt, die subjektive Form durch die objektive ersetzt und den wichtigen Zusatz: ,4m hergebrachten Sinn" ausgelassen. Hirsch antwortet darauf: „Daß ich als Bejaher eines in einem neuen Sinne autoritären Führungsstaats mich nicht schlechtweg gegen jedes autoritäre Regiment wenden kann, sondern nur gegen das eines Ludwig XIV. oder Napoleon, ist klar. Durch die Verkürzung und Herauslösung ist der Sinn meiner Aussage, das germanische Volkskönigtum, das von dem Bund freier Männer getragen ist, gegen das absolute Fürstentum, das von Frankreich her nach Deutschland gekommen ist, abzugrenzen, nicht mehr erkennbar." 9 Diese Aussage läßt erkennen, welche Art der Regierung und des politischen Systems Hirsch als Ideal für Deutschland vorschwebt: eine vom „freien Bund deutscher Männer" getragene national-deutsche Monarchie.
8 9
Ibid., S. 11/181-182. Ibid., S. 11-12/182. In seiner Arbeit: „The German Idea of Freedom" zeichnet Leonard Krieger die Entwicklung der deutschen politischen Tradition als eine einmalige Kombination von östlichem Autoritarismus und westlichem Liberalismus. Bedingt durch die einzigartigen politischen Geschicke sei in Deutschland ein charakteristischer Freiheitsbegriff entwickelt worden, der zu bezeichnen sei als eine Synthese von Autoritarismus und Autonomie, säkularer Unterordnung und geistiger Unabhängigkeit. „Das Nebeneinander - ja sogar die Verbindung - eines Freiheitsbegriffes, der nur in einem autoritären Staat verwirklicht werden konnte, und eines anderen, der nur in einem absoluten überstaatlichen Bereich zu verwirklichen ist, ist allgemein anerkannt ein deutsches Phänomen," beobachtet Krieger. Wie diese Verbindung sich entwickelte, zeigt Krieger in: „The German Idea of Freedom: A History of a Political Tradition" (Chicago: The University of Chicago Press, 1957), S. IX (U.a.d.0.). Hirschs Vision eines einzigartigen deutschen Staats muß vor dem Hintergrund dieser charakteristisch deutschen politischen Tradition gesehen werden.
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Letztlich setzt sich Hirsch hier für eine einzigartig deutsche Form einer konstitutionellen Monarchie ein. Hirsch zeigt weitere Zitate auf, deren Sinn Tillich verändert hat, wohl wissend, wie sehr leichte Änderungen im Ton zur Verzerrung des Denkens einer anderen Person beitragen können. So habe Tillich ein ungenaues Bild von Hirschs geistiger Haltung gezeichnet. Beispielsweise sei der Glauben an die Identität von Theologie und theonomer Philosophie nicht von Tillich übernommen. Hirsch hatte dagegen gemeint: ,4aß eine bewußt
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Philosophie und die Theologie das gleiche Telos haben und nur nach der Abzweckung ihres Dienstes unterschieden werden. Das ist für mich etwas anderes." 1 0 Außerdem habe er sich auch nicht Tillichs Ansicht zu eigen gemacht, daß die Rechtfertigung auf das Denken wie auf die Sünde anzuwenden ist: „Ebenso ist es einfach unrichtig, daß ich ... die Anwendung der Rechtfertigung auf das Denken bisher immer abgelehnt und jetzt von ihm übernommen habe. Die Rechtfertigung des Denkens, d.h. daß mein Denken und Lehren nur unter der Vergebung der Sünden gilt, ist von meiner Studentenzeit her mir selbstverständlich. ... Abgelehnt habe ich immer und lehne noch heute ab die Tillichsche Benutzung dieses Gedankens zur Auflösung der Rechtfertigungstat Gottes in Dialektik." 11 Im gesamten Brief zeigt sich, wie an dieser Stelle, daß Hirsch Tillichs dialektische Methode kritisiert. Tillich hatte ihn kritisiert, weil er stolz auf die .Aushöhlung" des Staates zwischen 1918 und 1932 gewesen sei. Hirsch antwortet darauf, daß der Begriff .Aushöhlung" in Barths Schriften vorkomme, nicht jedoch in seinen eigenen. Er habe den damaligen Staat bekämpft, weil er nicht wollte, daß die-
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Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 12/182. Ibid., S. 12/182-183. Für Tillich stammte diese Einsicht von Martin Kahler: .Aber es gab noch ein anderes Element in seinem Denken, das sogar noch wichtiger war für einige meiner Freunde und mich, nämlich seine Anwendung des reformatorischen Prinzips auf die Situation des modernen Menschen zwischen Glaube und Zweifel. Diese Idee ermöglichte es vielen von uns, christliche Theologen zu werden oder zu bleiben." (Tillich, Foreword, in: Martin Kahler, The So-Called Historical Jesus and the Historie, Biblical Christ, S. XI-XII; Ü.a.d.O.). Die Frage von Gewißheit und Zweifel bei religiöser Erkenntnis war für einige Zeit Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Tillich und Hirsch gewesen. Worum es für Hirsch hier wirklich ging, ist nicht so sehr, daß Gott dem Zweifler vergibt, sondern daß sogar gläubige Erkenntnis Gottes Vergebung braucht, weil sie immer menschliche Erkenntnis bleibt.
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sem das Monopol über die Gestaltung des deutschen Lebens und Geistes, die beide während der Weimarer Zeit wegen Mangels an Prinzipien in den Abgrund gestürzt worden seien, gegeben werden sollte. Er glaube und lehre, daß der Staat als Exekutivorgan des verborgenen Souveräns des Volkes verantwortlich dafür sei, Ordnung und Erziehung sicherzustellen, um so die Aufopferung des Individuums zum Wohle des Ganzen verlangen zu können. Er weist Tillichs Andeutung zurück, er sei ein Faustpfand des Kapitalismus gewesen: Die Insinuation, als ob ich derart damals irgendwie Werkzeug kapitalistischer Mächte gewesen sei, kann ich ablehnen. Die Forderung in „Deutschlands Schicksal" (1920) hinsichtlich der Geltendmachung eines staatlichen Obereigentums als Schutz gegen den Eigennutz des sich nicht durchs Volk gebunden wissenden Eigentümers, überhaupt meine ganze Haltung in der damals sogenannten sozialen Frage, ist ausgeprägt antikapitalistisch gewesen. Aber man muß mich freilich gelesen haben, um das zu wissen, und nicht nach einem Dogma von einem nationalistischen Reaktionär dergleichen a priori feststellen.12 Das Thema des Antikapitalismus, dem Hirsch sich bereits während des Ersten Weltkriegs gewidmet hatte, zeigt erneut Ähnlichkeiten zwischen Tillich und Hirsch, aber auch zwischen dem Sozialismus und der nationalen Bewegung im Deutschland der 20er Jahre.
Die „Grenze" betreffend Im zweiten Teil des Briefes geht Hirsch auf Tillichs Vorwurf des Plagiats, besonders in Hinsicht auf den Begriff der „Grenze", ein. Er zeigt sich erstaunt darüber, wie sehr das religiös-marxistische Dogma vom reaktionären Nationalsozialismus Tillichs Denken offenbar bestimmt. Tillich kann offensichtlich nicht zugeben, daß Hirsch seine eigene, wirklich unabhängige 12
Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 13/183. Hirschs dauernde Kritik an grobem Individualismus und am selbstsüchtig wetteifernden Kapitalismus ist nicht zu leugnen. Bereits 1920 sagte er: ,Jn dieser unstarren Einordnung der Eigenmacht des Eigentums in die Ohnmacht des Staates liegt die wahre Überwindung des Kapitalismus" (Deutschlands Schicksal, S. 124).
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Geschichtsauffassung hat, ohne dabei reaktionär zu sein. Hirsch zeigt weiter, daß der Gedanke der Grenze in seinem eigenen geistigen Erbe wurzelt. Tillich weiß, daß Hirsch sich mit Kant, Fichte und Hegel auseinandergesetzt hat. Von Beginn an beschäftigte Hirsch sich mit zwei entscheidenden Fragen: (1) der Vorstellung der Grenze bezüglich der Erkenntnistheorie und der Religionsphilosophie und (2) den bedeutenden Errungenschaften von Kant, Fichte und Hegel für die Geschichtsphilosophie. Tillich weiß, daß Hirsch zahlreiche historische Artikel und Bücher veröffentlicht hat, in denen er versuchte, Uber den idealistischen Gottes- und Erkenntnisbegriff, sowie die idealistische Geschichtsphilosophie hinauszugehen. Er weiß auch, daß Hirsch die erschütternde Erfahrung der Begegnung mit Nietzsches Skeptizismus und Diltheys Historismus gemacht hat. Hirsch schrieb sogar Uber Nietzsche, den er mit „antipathetischer Ergriffenheit", mit Ehrfurcht und mit Abscheu betrachtete. Tillich weiß, daß Hirsch sich ein ganzes Jahrzehnt lang mit Kierkegaard befaßt hat, den Hirsch für einen der größten Kritiker und Analytiker der modernen Kultur hält und über den er nahezu 1000 Seiten geschrieben hat. Tillich weiß auch aus persönlichen Begegnungen, daß Hirsch trotz seiner großen Abneigung gegen den unreligiösen Geist Spenglers ihm dankbar dafür ist, daß er ihm „die Erschließung des Blicks für die moderne Kulturkrise und die Ausweitung meiner geistigen Schau von der Diltheyschen Analyse des abendländischen Geistes zum Wissen um das Wachsen und Vergehen der Kulturen verdanke." 13 Vor dem Hintergrund des Ringens mit diesen Denkern muß Tillich entscheiden, was in Hirschs Denken ursprünglich und was geborgt ist, was Teil des gemeinsamen deutschen geistigen Erbes ist, von dem sie beide genommen haben, und was bei jedem von ihnen einzigartig ist. Stattdessen jedoch „hat er hier einfach das ... widerwärtige Schema des ökonomischen Materialismus angewandt. Alles, was seinem Bilde von der bürgerlichen Ideologie des politisch versklavten Luthertums widerspricht, habe ich zur Rechtfertigung nationalsozialistischer Geistigkeit sekundär und unecht übernommen...". 14 13 14
Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 14/184. Im Zusammenhang: „Dann konnte er die Frage stellen, was diesen gemeinsamen Meistern gegenüber an seinem eignen christlich-religiös vertieften und ausgeweiteten
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In dieser Studie haben wir bereits gezeigt, daß Hirsch tatsächlich kein Opportunist war, der Tillichs Begriffe übernahm und ihren Sinn verzerrte, sondern seine eigenen politischen und theologischen Kategorien über einen großen Zeitraum entwickelt hat und sie auf die politischen Ereignisse anwendete, wenn auch verändert und weiterentwickelt. Er bildete, interpretierte und entwickelte seine Kategorien, ebenso wie Tillich, im Licht der politischen Ereignisse. Hirsch klärt sodann seine Vorstellung der „Grenze". Er verwahrt sich gegen Tillichs Vorwurf, er habe den religiös-sozialistischen Begriff der Grenze benutzt, auf die bürgerliche Gesellschaft angewandt und ihn dann als die „heilige Mitte" entschieden verzerrt. Als erstes ist festzuhalten, daß der Ausdruck „bürgerliche Gesellschaft" in seinen eigenen Schriften nirgendwo erscheint. ,Als entscheidendes Beispiel für die die Grenze verfehlende Religiosität stelle ich dagegen in immer neuen Wendungen nicht die bürgerliche Religion, sondern den Rückfall in vorchristliche Volksreligion dar ,..". 15 Hier, wie an anderer Stelle betont Hirsch den Unterschied zwischen einer vorchristlichen Stammesreligion und einem Christentum, das seine nationalen und ethnischen Wurzeln ernstnimmt. Obwohl der Begriff „heilige Mitte" in seinem Werk nicht zu finden sei, habe Tillich damit den zentralen Nerv der Geschichtsanschauung Hirschs getroffen. Die Beschäftigung mit Geschichte habe ihm die für sein Denken entscheidende Kategorie gebracht: den Begriff des „Herrn der Geschichte". Auch wenn Barth ihn gerne karikiere, habe er die Bedeutung dieser Idee für sein, Hirschs, Werk besser erkannt als Tillich:
15
Marxismus wirklich Neues und Eigentümliches war, und was er daher, wenn es bei mir wiederkehrte, als sein Eigentum in Anspruch nehmen konnte. Statt dessen hat er hier einfach das - von ihm noch heute verteidigte - widerwärtige Schema des ökonomischen Materialismus angewandt. Alles, was seinem Bilde von der bürgerlichen Ideologie des politisch versklavten Luthertums widerspricht, habe idi zur Rechtfertigung nationalsozialistischer Geistigkeit sekundär und unecht übernommen, und sollten es selbst solche uns beiden schon in der Studienzeit selbstverständlichen Dinge sein wie daß das evangelische Christentum das gegen sich selber kritische Christentum ist" (ibid., S. 14-15/184). Ibid., S. 15-16/185. Hirsch kritisierte jeden solchen Rückschritt in eine vorchrisüiche Identifikation von Religion und Naüon, wie sie bei manchen Nationalsozialisten zu finden war. Er kritisierte diese religiösen Enthusiasten, die die Ereignisse von 1933 mißbrauchten und fehlinterpretierten, und distanzierte sich von ihnen (vgl. ibid., S. 40/207208; auch: Meine Wendejahre [1916-1921], S. 5).
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(Ich will bei dieser Gelegenheit, weil ich sie so gut gewiß nicht wieder kriege, Karl Barth mein Kompliment machen: er hat, was er auch an mir zu karikieren liebt, den richtigen Sachverhalt gerochen, daß mit dem Worte „Herr der Geschichte" das gesagt ist, was er angreifen muß, wenn er zentral angreifen will; ich kann aber Tillich als Denker kein Kompliment machen, wenn er - obwohl ihm Barths Leugnung des religiösen Grundes der Geschichte immerhin widerwärtiger sein muß als mein „Herr der Geschichte" - eben diesen Barth dann aus politischen Gründen als Bundesgenossen wider mich nimmt.) 16 Interessant daran ist, daß Hirsch sein eigenes Denken zwischen das Barths und das Tillichs stellt. Sowohl Tillich als auch Hirsch betrachteten Barths Theologie als eine der drei theologischen Alternativen der Zeit und benutzten ihn, um ihre eigenen Ähnlichkeiten und Unterschiede zu klären. Ebenso festzuhalten ist, daß auch Hirsch Tillich des politischen Opportunismus bezichtigt. Mit dem Begriff der Grenze, so Hirsch, hatte er mit Hilfe eines Paradoxes zu erklären versucht, worin die Verbindung zwischen verantwortungsbewußter religiöser Aufgeschlossenheit und pflichtbewußter irdischer Bindung an den nationalen Staatsnomos mit seinen strengen irdischen und biologischen Voraussetzungen für Deutschlands Aufbruch besteht. Hirsch nimmt dies zur Gelegenheit, um Stapel für die Nomos-Lehre zu danken, die seine eigene Geschichtsauffassung entscheidend beeinflußt und die er von Stapel übernommen und weiterentwickelt hat. Der Begriff der Grenze hat eine zweifache Bedeutung: Er bezeichnet (1) die geschichtliche Wirklichkeit, die mit ihrer Besonderheit und uns zum Dienst rufenden Macht, Vernunft und Freiheit begrenzt und bindet, und (2) die unendliche göttliche Majestät, das verborgene Mysterium, das von jenseits unseres geschichtlichen Lebens kommt und alle geschichtlichen Momente erschüttert und verzehrt. 17 Um dieses Mysterium zu erklären, sagt Hirsch, daß 16 17
Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 17/186. Hirsch schreibt dazu: „Der Begriff der Grenze, der mir dies alles leistet, schwebt in dem ineinander verketteten Doppelsinn von einerseits der geschichtlichen Wirklichkeit, die nach ihrer schlechthin gegebenen Besonderheit und ihrer zu Dienst rufenden Macht die Vernunft und Freiheit grenzt und bindet, und andernseits der unendlichen götüichen Hoheit und Gewalt, die als das verborgne Geheimnis jenseits des geschichtlichen Lebens das vergängliche geschichtliche Leben erschüttert und verzehrt mit der Macht des Ewigen, indem sie es grenzend bewahrt" (ibid., S. 17-18/187).
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der geschichtliche Horos und der heilige Horos in paradoxer Weise sowohl voneinander getrennt als miteinander verbunden sind. Somit erhebt sich für ihn die Frage, ob dieser Begriff Hirschs eigene Prägung besitzt oder von Tillich übernommen wurde. Der Begriff „Grenze", so Hirsch, erscheine ihm - wie jedem andern auch geeignet zur Bezeichnung der unauflöslichen Dialektik zwischen dem Zeitlichen und dem Ewigen; er sei im Laufe seiner Kant- und Fichtestudien, besonders bei den beiden Untersuchungen zu Fichtes Gottesbegriff, entstanden. In seiner Doktorarbeit von 1913-14 habe er sich mit Fichtes Religionsphilosophie auseinandergesetzt und dabei Fichtes Vorstellung der Grenze der Erkenntnis als Grenze zwischen Sein und Nichtsein behandelt: „Das Nichtsein des Wissens aber ist - das Sein (=das Absolute)." 18 Das Nichtsein der Erkenntnis sei in Wirklichkeit der Ursprung der Erkenntnis. Sein Begriff der Grenze sei aber nur zu verstehen in der Beziehung zu diesem Fichteschen Sinn der Erkenntnis als der Wurzel der Gesamtheit des menschlich-geschichtlichen Lebens und im Licht von Fichtes Gottesvorstellung in ihrem Verhältnis zur konkreten Erkenntnisgrenze als der Unergründbarkeit des gegebenen geschichtlichen Moments, der uns zu pfiichterfüllendem Dienst ruft. Auch wenn Fichte seine Auffassungen von Gott, Erkenntnis, Geschichte und Grenze beeinflußt hätte, habe doch immerein grundlegender Unterschied zwischen ihm und Fichte bestanden: Was mich von Fichte scheidet und von je geschieden hat, ist dies, daß er unter dem Wahn des Systemgedankens mit der durch seinen eignen Ansatz geforderten Majestät Gottes, die allein als eine die Grenze setzende Verborgenheit die Geschichte mit ihrer Gegenwart und ihrem Leben füllt, in seiner Geschichtsphilosophie nicht ernst gemacht hat. Er läßt also den verstehenden Begriff dann doch des Ganzen der Geschichte mächtig werden. Demgegenüber haben in mir zwei sehr entgegengesetzte Potenzen, die Macht des lutherischen Schöpferglaubens und die skeptische Erschütterung durch Nietzsche und Dilthey, zusammengewirkt, und ich habe um eine Geschichtsansicht gerungen, in der das verborgene Geheimnis des lebendigen Gottes zugleich als sinngebende und sinnverschließende Macht Uber und am menschlich-geschichtlichen Leben ver18
Ibid., S. 18/187. Hirsch bezieht sich hier auf seine Dissertationsschrift: „Die Religionsphilosophie Fichtes zur Zeit des Atheismusstreites in ihrem Zusammenhange mit der Wissenschaftslehre und Ethik" (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1914).
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standen wurde. So ist mir 1920 die Geschichtsansicht von „Deutschlands Schicksal" als Mitte zwischen idealistischer und positivistischer sowie zwischen skeptischer und absoluter Geschichtsansicht entstanden. 19 Hirsch meint, er habe zu der Zeit, als er „Deutschlands Schicksal" schrieb, Luthers Gesetzeslehre noch nicht richtig verstanden. Erst durch die Schmach, die Deutschland 1918 zu erdulden hatte, das Erstarken des Marxismus und seinen eigenen Kampf gegen Not und Elend sowie durch seine Kierkegaard-Studien habe er Luthers Theologie wirklich zu verstehen begonnen. Das Verständnis für die Gebrochenheit und Tiefe der lutherischen Geschichtsauffassung, so Hirsch, sei bereits in seinem kurzen Aufsatz „Grundlegung einer christlichen Geschichtsphilosophie" aus dem Jahre 1925 zu spüren. 20 Die nationalsozialistische Befreiung habe ihm neuen Mut gegeben, seine Lähmung zu überwinden und ein neues Verständnis des irdischen Nomos zu wagen. Solche Aussagen lassen spüren, wie sehr Hirschs Theologie zugestandenermaßen durch geschichtliche Ereignisse und Erfahrungen beeinflußt und geformt wurde. 21 Hirsch gesteht durchaus Gemeinsamkeiten mit Tillich in Bezug auf die religiöse Tiefe der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit ein. Aber woher kommen diese Ähnlichkeiten? Weshalb lassen sich beim Begriff der Grenze Ähnlichkeiten feststellen? Hirsch vertritt die Ansicht, daß die Ursache keineswegs ein Plagiat ist, sondern in ihrer gemeinsamen geistigen Tradition, dem deutschen Idealismus, zu finden sei: Daraus, daß er wie ich in dem idealistischen Denken über die Geschichte seinen Ausgangspunkt hat und daß er dies idealistische Denken genau an dem gleichen Punkte wie ich, an seiner falschen Unbedingtsetzung, hat zerbrechen müssen unter dem Eindruck sowohl der skeptischen und 19 20
21
Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 18-19/188; vgl. auch: Deutschlands Schicksal, S. 9-63. Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 19/188; dieser Aufsatz erschien in: Zeitschrift für systematische Theologie 3, 24 (1925), S. 213-247. Hirsch betrachtet die gesellschaftspolitische Wirklichkeit als lebendigen Hintergrund für die Frage nach Gott. Gunda Schneider-Flume betont, daß die politischen Ereignisse der Kriegsjahre und der Weimarer Zeit Hirschs Theologie formten, und spielt auf Hirschs Aussage an: „'... im Verhältnis des Menschen zur politisch-sozialen Wirklichkeit ist der lebendige Sitz der Frage nach Gott'" (Schneider-Flume, Die politische Theologie Emanuel Hirschs 1918-1933, S. 164).
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historischen Krise des Wahrheitsbewußtseins wie dessen, was diese Krise Uber die wahre Tiefe menschlichen Daseins eindringlich machte. Es ist dennoch kein Zufall, daß er es so anders gewendet hat als ich. Denn er ist von dem mich immer abstoßenden spätschellingschen Denken her auf seinen Weg gekommen. Er hat so nicht das kindlich-einfältige Verhältnis zum lutherischen Schöpfungsglauben gehabt, das mich in jeder Krise des Geistes gehalten hat, und war es noch so dunkel um mich. Er hat so ferner auch nicht die Herbigkeit gehabt, die mich immer in einem Gesetz der Wirklichkeit die verpflichtende Bindung meines geschichtlichen Daseins finden ließ vor aller prophetischen oder sonstigen Schau. Darum ist auch jetzt die Beziehung zwischen seiner und meiner Geschichtsansicht auf das in beiden schwingende abstrakt-dialektische Verhältnis von Zeitlichem und Ewigem, von Erschüttert- und Begnadetwerden begrenzt, und er muß das, was wesentlich für mich zum Bewußtsein der Grenze hinzugehört, die Bindung an den Nomos in seiner bestimmten erdhaften Gestalt, so wie er ist, ablehnen. Er hat meinen Begriff der Grenze gar nicht scharf und bis ins Letzte gesehen, als er ihn für sich (und Jaspers) reklamierte. Darum wird auf ihn auch keinen Eindruck machen, wenn ich sage: es soll ja gar nicht ,/nein" Begriff der Grenze sein, es soll ja der Begriff des jetzt an uns Deutschen in der Tiefe geschichtlich Geschehenden sein.22
Nach Hirschs Meinung haben also beide ihre geistigen Wurzeln im deutschen Idealismus; die Unterschiede aber liegen in der Tatsache begründet, daß (a) Tillich durch den späten Schelling beeinflußt ist (während Hirsch von Fichte ausging), (b) Tillich die lutherische Schöpfungslehre nicht wirklich anerkennt und (c) Hirsch, im Gegensatz zu Tillichs kritisch-prophetischer Haltung, existentiell immer mehr dem irdisch-nationalen Nomos verpflichtet war. Hirsch wundert sich, weshalb Tillich, der von Natur aus ein ehrenvoller Mann ist, ihn mit so unklaren Argumenten angreift. Er glaubt, Tillich beurteile ihn aus der Perspektive des religiös-sozialistischen Dogmas und nehme an, daß Hirsch, der sich seiner Volksgebundenheit bewußt ist, den heiligen, verzehrenden Horos nicht verstehe und nichts über die religiöse Todesgrenze wisse. Hätte Tillich sein Werk wirklich gelesen, so Hirsch, dann hätte er sehen müssen, daß dieses dogmatische Schema sein Denken nicht trifft und auch er von Dingen weiß, die Tillich einzig für den religiösen Marxismus beansprucht. Stattdessen erhebt Tillich sofort seine Anklage: Plagiat. 22
Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 20/189.
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Für die Begriffe Autonomie und Heteronomie verweist Hirsch wieder auf die gemeinsamen Wurzeln im deutschen Idealismus. Die idealistische Geschichtsphilosophie basiert auf der Vorstellung einer Dialektik von Freiheit und Sein, Politischem und Religiösem. Fichte, dessen Geschichtsverständnis Hirsch in seiner Dissertation 1914 untersucht hat, war auch der Ansicht, daß der Kampf zwischen Vernunft und Glaube, Autonomie und Theonomie den Rhythmus der geschichtlichen Ereignisse und die Eigenarten von Zeitaltern bestimme. Hirsch fügt hinzu: „Ich habe Tillich hier nie anders gesehen denn als einen Schüler und Nachfolger meines philosophischen Lehrers Fichte." 23 Er meint von sich selbst, entschiedener Uber den Idealismus hinausgegangen zu sein als Tillich.
Den Kairos betreffend Das Plagiat des Kairos-Begriffes bildet das Zentrum von Tillichs Angriff auf Hirsch. Tillich war der Meinung, daß Hirsch allerdings den Begriff Kairos absichtlich vermieden hat, um das Plagiat dieser zentralsten aller theologischpolitischen Kategorien Tillichs zu verdecken. Im dritten Teil seines Briefes verteidigt Hirsch sich nun gegen diese Beschuldigung und behauptet stattdessen, die von ihm angewendeten, angeblich kairos-bezogenen Ausdrücke wie: die Stunde, die Minute, nationaler Umbruch, nationaler Aufbruch seien nicht von ihm auf die Bewegung übertragen worden, sondern aus den Ereignissen des Jahres 1933 selbst aufgestiegen und hätten von ihnen ihren Sinn erhalten. Diese Begriffe seien weder von ihm erfunden, noch von Tillich übernommen; sie seien bereits vorhanden gewesen. Er habe sie in den Zeitgeschehnissen selbst entdeckt und versucht, sie zu verstehen und verantwortungsbewußt zu interpretieren. Jedes Plagiat der Kairos-Philosophie,
23
Ibid., S. 21/190. Ironischerweise hatte Tillich Hirsch zum Fichtestudium angeleitet, das in hohem Maß verantwortlich ist für den Bruch der Freundschaft. Vgl. das Nachwort von Hans-Walter Schütte unter dem Titel: „ S u b j e k t i v i t ä t und System", in: Hirsch Tillich Briefwechsel 1917-1918.
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wenn es denn eines gäbe, wäre damit der „Göttin der Geschichte" zuzuschreiben. Weiterhin ist die Tatsache, daß der historische Wendepunkt sich gleichzeitig in einer politischen und in einer religiösen Weltanschauung Ausdruck verschafft, keineswegs Hirschs eigene Entdeckung. „Meine Verantwortung liegt allein darin, daß ich mit dem Anspruch strenger und wahrhaftiger geistiger Rechenschaft ein ausdeutendes, nachverstehendes Ja zu dieser Selbstauffassung der Bewegung entwickle." 24 Er ist durchaus bereit, die persönliche und geistige Verantwortung für sein Buch und den Gebrauch seiner Begriffe, die oberflächlich gewisse Ähnlichkeiten mit denen Tillichs haben mögen, zu übernehmen. Er erinnert Tillich daran, daß die begrifflichen Kategorien, die er in seinem Buch verwendet, von Beginn an Teil seines eigenen Denkens gewesen sind. Die meisten Begriffe erschienen bereits in der Einleitung und im ersten Kapitel seines Buches „Deutschlands Schicksal". „Ich bin insofern mit meinem Geschichtsdenken, wie Karl Barth spöttisch festgestellt hat, ganz unverbesserlich derselbe geblieben, und meine Rede ist persönlich legitim." 25 Eine der ureigensten Kategorien Hirschs ist der Begriff des nationalen ,Aufbruchs". Dieser hatte seinen Ursprung in der Jugendbewegung und fand in sein Vokabular zu der Zeit Eingang, als eine Gruppe deutscher Patrioten ihren Kampf gegen den Youngplan und gegen den Geist von 1918 aufnahm. „Seitdem war für mich das deutsche Volk im Aufbruche heraus aus der Selbstentfremdung des damaligen politischen Systems, das die Kairoslehre religiös und geistig zu vertiefen und damit zu retten unternahm." 2 6 Letztendlich, so Hirsch, bilden gerade ihre gegensätzlichen Einstellungen und Reaktionen auf 1918 und die Weimarer Republik die Grundlage für ihre tiefgreifenden Differenzen von 1933. Er und seine theologischen und politischen
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Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 22-23/191. Ibid., S. 23/192. Wahrscheinlich bezieht er sich hier auf die Aussagen Barths in: ,£ur Lage", in: Karl Barth zum Kirchenkampf, S. 8-29, hier S. 20. Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 23-24/192. Der Youngplan war ein von den alliierten Regierungen am 7.6.1929 angenommener und unterbreiteter Han eines Kommittees aus Finanzexperten unter dem Vorsitz von Owen Young, der die Reparationsforderungen der Alliierten an Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs regelte.
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Mitstreiter interpretierten die Ereignisse seit 1918 ganz anders als die Männer, die sich wie Tillich in der Kairosschule fanden. In diesem Licht sind auch ihre unterschiedlichen Verstehensweisen des Dämonischen zu erklären. Diese Kategorie spielt bei all den Begriffen, die Tillich für sich beansprucht, eine besondere Rolle. Hier gibt Hirsch den Einfluß Tillichs auf die Entwicklung seines eigenen Denkens zu. Ursprünglich war ihm Tillichs Anwendung des Dämonischen auf das historische Leben, auf die Mächte, die das Schicksal des Ganzen bestimmen, fremd gewesen. Er war von Kierkegaards Sicht des Dämonischen ausgegangen, die es eher als persönliche Bestimmung, als persönlich sittlich-religiöse Haltung versteht. Die schrecklichen Erfahrungen der deutschen Krise jedoch gaben dem Dämonischen eine neue und weitere, geschichtlich wichtigere Bedeutung. „Die Lüge des Weltgewissens, die Auspressung der Reparationen und das in Rußland Geschehene haben mich zur Annahme der Ausweitung gebracht", sagt Hirsch. 27 Hier sehen wir, daß Hirschs ursprünglich personales, existentielles und ontologisches Christentumsverständnis im Laufe der Zeit durch ein geschichtliches Verstehen ergänzt wurde. 28 Auch wenn Hirsch zugibt, daß Tillichs Denken ihn beeinflußt haben könnte, besteht er auf seiner eigenen, von Tillich unabhängigen Definition des Dämonischen. Hirsch zeigt die methodische Differenz zwischen Tillichs dialektischer und seiner eigenen paradoxen Interpretationsweise theologischer Begriffe:
27 28
Ibid. S. 24/192. Interessant ist, daß Tillichs Denken nach dem Zweiten Weltkrieg die umgekehrte Bewegung, weg von der geschichtlichen" und hin zu einer .jontologischeren" Sicht, vollzog (vgl. Hopper, A Theological Portrait, S. 97ff). Es wäre durchaus interessant zu untersuchen, ob sich in der Nachkriegszeit die Methoden Tillichs und Hirschs angenähert haben; vgl. auch Gordon D. Kaufman, Relativism, Knowledge and Faith (Chicago: The University of Chicago Press, 1960), S. 108, Anm. 3. Kaufman schreibt: „Es ist bedauernswert, daß die in Tillichs frühem Denken klaren Tendenzen, die Bedeutsamkeit der geschichtlichen Grundlagen der menschlichen Existenz und des menschlichen Denkens zu durchdenken, später absoluten Prinzipien und Begriffen Platz gemacht haben. Viele von Tillichs Ideen sind ursprünglich historische Konzeptionen (z.B. der Kairos, das protestantische Prinzip), scheinen jedoch allzu leicht in ewig gültige Ideen überzugehen." (Ü.a.d.O.)
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Nur, darüber wird selbst Tillich kein Zweifel sein, daß der Inhalt des in die geschichtliche Sphäre ausgeweiteten Wortes „dämonisch" und „Dämonie" bei ihm und mir völlig anders bestimmt ist. Für ihn ist - und man kann dies Gedankenmotiv bis Jakob Böhme zurtickverfolgen - dies Dämonische die Erhebung des Göttlichen selbst als form-, gestalt- und sinnwidrige Macht, die in ihrer Negativität eine merkwürdige positive Bedeutung hat. Für mich ist das geschichtliche Dämonische einfach die Verkehrung der im Menschen liegenden Gottesmacht zur Empörung wider die Bindung und den Nomos und damit zur lebenzerstörenden Gewalt. Das ist viel schlichter, meinethalben auch primitiver gedacht. Aber es ist mir der einzig legitime Sprachgebrauch, weil er allein eine echte Entsprechung zum Dämonischen im persönlichen Sinne hat - oder auch, um es anders zu wenden, weil er allein bei der sich notwendig einstellenden Entsprechung zum Dämonischen im persönlichen Sinne dies davor bewahrt, sich darüber hinwegzulügen, daß es Knechtschaft unter das Gesetz vermöge von Feindschaft wider das Gesetz ist. Ich verstehe den nationalsozialistischen Protest gegen Tillichs Begriff des Dämonischen sehr gut. Ich teile ihn. Nichts hat in mir lebhafteren Widerspruch geweckt als die geistvollste aller mir bekannten Schriften Tillichs, die Uber das Dämonische von 1926. Eine alles auf Gesetz, Bindung und Zucht stellende Lebensanschauung muß den Tillichschen Begriff des Dämonischen als irgendwie krank empfinden. Und das umso mehr, j e mehr sie seine religionsphilosophische Tiefe spürt. Es ist mit ihm eine die menschliche Existenz verletzende göttlich Uberschwebende Zuschauerhaltung eingenommen, die uns nicht gebührt. Was Tillich im Grunde selber gewußt und gefühlt hat, wie er seine Schrift verfaßte. (Hier stoßen wir wieder auf letzte Unterschiede zwischen seiner und meiner geistigen Haltung. Ich meine und glaube gerade von Ihnen darin verstanden zu werden, daß durchaus nicht alles dialektisch mögliche Denken erlaubt ist für uns.) 29
Auch Hirsch verwendet eine dialektische Sprache, aber er versteht die Dialektik anders als Tillich. Er weiß darum, daß keine Dialektik die Gegebenheit und historische Gebundenheit gemeinschaftlicher Existenz fliehen kann. Bei Tillich lehnt er ab, daß dieser in scheinbar dialektisches Denken flieht, um ein konkretes und verantwortliches Engagement für eine bestimmte geschichtliche Situation und ein nationales Volkstum zu vermeiden. Tillichs Interpretation des „Dämonischen" ist in Hirschs Augen lediglich ein weiteres Beispiel hierfür. Hirsch findet es unverständlich, daß Tillich auch nur auf die Idee kommen konnte, er, Hirsch, habe aus propagandistischen Überlegungen heraus Tillichs 29
Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 24-25/192-193. Hirsch bezieht sich auf Tillichs Schrift: „Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte" von 1926.
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Gedanken plagiiert, da sie doch beide trotz ihrer vielen Unterschiede über viele Jahre hinweg um ähnliche Fragen gerungen hatten. Sie befaßten sich beide mit der Dialektik von Wahrheit und Geschichte. Beide sahen sie darin das Hauptproblem der Epoche. So waren sie beide zutiefst betroffen von der Erkenntnis, daß die Vorstellung, ein Gedanke, der ursprünglich in Fichtes Denken angelegt war und später sehr viel klarer und systematischer bei Hegel durchbrach, formal und inhaltlich vollkommen geschichtlich bedingt ist. Aus dieser Erkenntnis erwuchsen Hirschs Rechtfertigungsbegriff und sein Logosbegriff. Hirsch hatte „...heimlich gehofft, er [Tillich] würde in meinem Begriff des Logos einen legitimen Einsatz zur Lösung des Fragmals finden, und ich könnte ihn so, vermöge der untrennlichen Verknüpfung des Logosbegriffs mit der Geistigkeit des deutschen Umbruchs, hinüberreißen in die neue deutsche Zeit und damit für Deutschland einen lebendigen Denker zurückgewinnen." 3 0 Hirsch glaubte zumindest bis 1933, daß Tillich eine gewisse Affinität zum Nationalsozialismus habe und daß er davon zu überzeugen sei, in Deutschland zu bleiben und mit der Bewegung zusammenzuarbeiten. Dies läßt sich auch mit einem Brief von Hirsch an Tillich von 1933 belegen, in dem Hirsch sich überzeugt davon zeigt, daß Tillichs Buch: „Die sozialistische Entscheidung" ein Schritt auf dem Weg zur nationalsozialistischen Bewegung sei. 31 Mit seinem offenen Brief jedoch habe Tillich, besonders mit dem Angriff auf Hirschs Logosbegriff, diese Hoffnung zerstört. Hirsch wiederholt seine Meinung, daß Tillichs historisches und theologisches Denken niemals auf das Volk bezogen war. Demgegenüber betrachtete er sein eigenes Denken immer als deutsch; das unterscheidet seine „Rede von Stunde, Augenblick, Geschichtswende, Entscheidung, Ruf, Wagnis usw." von Tillichs Kairos-Begriff: Unmittelbar anschaulich wird es an der volkhaften Bindung meines Geschichtsdenkens. All mein Denken über Leben und Geschichte drückt aus, daß ich mich als deutscher Mann durch Gott in meiner irdischen Existenz unerschütterlich gebunden und gerufen weiß im Dienst dessen,
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Ibid., S. 26/194. Unveröffentlichter Brief an Tillich vom 14.4.1933; weitere Hinweise auf diesen Brief finden sich oben, S. 130,147,303.
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was ich den „verborgenen Souverän" nenne, im Dienst des bestimmten geschichtlichen Volkstums, in dem ich zu Leben und Persönlichkeit aufgewacht bin; und wer meinen Begriff des verborgenen Souveräns so wie Tillich zu zerpflücken sucht, hat sich in Widerspruch gesetzt zu allen meinen politischen und geschichtlichen Begriffen. Ich habe nie verstanden, wie das marxistische Denken Tillich doch trotz allem größeren Tiefgang, den er hatte, so bezaubern konnte, daß er blind wurde für die eigentliche bindende und schöpferische Mitte alles irdisch-politischen Geschehens, für Volk und Staat als Geschichtsmacht, der die von Tillich unter sich verknüpfte, aber auch falsch isolierte Dreiheit von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft schlechthin untergeben ist, weil diese Dreiheit nicht in dem gleichen primären Sinne Gesetz des Daseins ist wie Volk und Staat.32 Hirsch bestreitet weder die Verknüpfung von Nationen und Völkern, noch die überkulturelle menschliche Interaktion, behauptet aber, daß die Urerfahrung des „wahrhaftigen lebenbewahrenden Grundes" des eigenen Seins immer an den Kontext des eigenen Volkes gebunden ist. Durch die Wiederentdeckung seines nationalen Nomos kann ein Volk die Grenze zwischen Gott und der Menschheit in gewisser Weise überschreiten. Hirsch hofft, daß auch andere Nationen und Völker die Einzigartigkeit ihres eigenen, typischen nationalen Nomos wiederentdecken werden.33 Er lehnt eine kosmopolitische, internationale und wurzellose Theologie strikt ab. 3 4 Die Kairos-Lehre 32
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Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 26-27/194. Zu Hirschs Aufsatz „Der verborgene Suverän" vgl. oben, S. 72-75. „An der Wiederentdeckung des volkhaften Nomos in seiner verpflichtenden Tiefe, so daß die Grenze zu Gott darinnen aufbricht, hab ich die deutsche Geschichtswende als das Ende dieses Zeitalters bei uns geschildert und habe nur so, daß überall mit gleicher Urspriinglichkeit die gleiche Wiederentdeckung je besondere nach Lage und Art geschieht, eine Ausweitung unsrer Geschichtswende zur Wende für andere Volkstiimer zu erhoffen gewagt. Nicht um die lebendige Verflochtenheit der Volkstiimer zu leugnen oder zu zerstören, wie Tillich mir andichtet, wahre ich diese Begrenzung, und erst recht nicht, um die Tiefe des Humanen, in dem das Verstehen von Mensch zu Mensch und Volk zu Volk geschieht, aufzuheben, sondern um dem allen, das mir zum Menschsein gehört, den wahrhaftigen lebenbewahrenden Grund zu geben" (Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 27/195). Hirsch leugnet weder die gegenseitige Abhängigkeit von Nationen, noch die universalen Dimensionen menschlicher Natur und Existenz. Was er jedoch ablehnt, ist eine oberflächliche internationale Kultur, die nationaler und ethnischer Identität keinen Sinn gibt. Er beschreibt das folgendermaßen: „Aber das sieht eben nur der richtig, der den rechten Blickpunkt für Gesetz und Mitte des geschichtlichen Lebens sich nicht verwirren läßt durch ufer- und haltlos werdende weltgeschichtliche Umblicke, die nur, wie bei Tillich geschehen, zu der von Ihnen und mir gehaßten alle echte gegliederte Humanität gefährdenden falschen Internationalität des Denkens und Lebens führen. Selbst wenn aber dieser Irrgang vermieden werden könnte, würde für mich eine Totaldeutung der ganzen
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beabsichtigt in seinen Augen aber gerade eine solche universale Interpretation der Weltgeschichte unabhängig von Raum und Zeit. 35 Wahrhaft menschlich sein heißt für Hirsch, seinen Platz innerhalb eines bestimmten Volkes in verantwortlichem Gehorsam gegenüber den Erfordernissen seines Dienstes zu Ubernehmen, gleichzeitig die Fehlbarkeit der eigenen Entscheidung anzuerkennen und auf Gottes Vorsehung zu vertrauen. Diese Verpflichtung an ein geschichtliches Volk vermißt Hirsch bei Tillich. Die vernichtendste Kritik an Tillich ist Hirschs Aussage, Tillich sei ein „frei schwebender Einzelner" in der Tradition des Intellektualismus und Individualismus des 19. Jahrhunderts: Tillich ist irgendwie gelöst, wo ich gebunden bin. Er findet seinen Dienst am bewegten geschichtlichen Ganzen in „prophetischer" Haltung, wie er es ausdrückt, das heißt als ein frei schwebender Einzelner, der in Überschau Uber den ganzen strömenden Lebenszusammenhang der Welt sich seine Stellung und Aufgabe bestimmt in einer innerlich gerechtfertigten, aber nicht streng beweisbaren Intuition. Das ist die edelste Gestalt des Individualismus und Intellektualismus der abgelaufenen Geschichtsepoche: die Bindung wird nur als ein Sichselberbinden des Geistes gekannt, der bindende Gott spricht durch den das Telos der Lebensmächte findenden Geist selbst. Ich leugne nicht, daß in dieser Haltung heilige Entschlossenheit liegen kann. Und doch ist eben diejenige Geistigkeit darin, die Sie, Herr Doktor Stapel, und ich irgendwie als Maß und Grenze des erdgebundnen, gemeinschaftsverpflichtenden Menschen überschreitend empfunden haben, und der wir primitive, schlichte Gebundenheit im Ring der natürlich-geschichtlichen Mächte, im Dienste des „verborgenen Souveräns", nämlich des Volkstums, als das wahrhaft Menschliche und wahrhaft Verantwortliche gegenübergestellt haben. Wir verneinen als deutsche Lutheraner den in Lösung gegründeten Individualismus des geistigen Menschen auch in dieser seiner feinsten und frömmsten Gestalt, und wir lassen nicht ab, ihn als Individualismus zu kennzeichnen, auch wenn er wie bei Tillich zu einer Selbsthingabe an die vom Marxismus geformte proletarische Massenbewegung geführt hat. 36
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Weltgeschichte durch alle Räume und Zeiten, worauf die Kairoslehre zustrebt, nicht notwendig mit der geisthaften Tiefe des Lebensverständnisses gegeben sein" (ibid., S. 2728/195). Ibid., S. 28/195. Ibid., S. 28-29/196. An dieser Stelle ist interessant, daß Hirsch Tillichs Individualismus als einen der feinsten und frommsten Typen respektiert, den jedoch ein Lutheraner ablehnen muß.
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Die Generation dieser „frei schwebenden Einzelnen", denen Autonomie und Freiheit wichtiger waren als Pflicht, Verpflichtung und Gebundensein an ein Volk, brachte Chaos und Verwirrung. Aus Enttäuschung Uber diese Einstellung wurde die jungnationale lutherische Bewegung geboren. Daraus erwuchs auch Hirschs Überzeugung, daß der göttliche Horos zu einem allumfassenden, pflichtbewußten Engagement für eine Nation und ein Volk aufruft. Nach Hirsch ist dem Menschen das Selbstverständnis als Mitglied eines bestimmten Volkes durch Gottes Schöpfungsordnung gegeben. Wahre Freiheit und Menschlichkeit können nur dann verstanden und erfüllt werden, wenn die Menschen ihren Platz in dieser Schöpfungsordnung entdecken und annehmen: Alle verantwortliche freie Entscheidung in einer geschichtlichen Lage und gegenüber einem Gegenwartsmächtigen ist uns nur echt auf dem Boden des Sichfindens in selbstverständlicher, heiliger Gemeinschaftsgebundenheit. Das Gesetz der Wirklichkeit, das uns als geschaffnen Menschen das Leben gibt und bewahrt, ist als eine verpflichtende göttliche Schöpfungsordnung da, gemäß der wir nur im Ring irdischer Bluts- und Schicksalsverbundenheit, nur als die den verpflichtenden Nomos Anerkennenden wahrhaft frei und lebendig zu sein vermögen. Gott als Schöpfer und Walter, als Herr der Geschichte, ist strenges Gesetz, und darinnen in geheimnisvoller Verhüllung und Verdunkelung dennoch offenbar. Nicht als Propheten im Sinne Tillichs, sondern als solche, die in der vor allem Denken und Entscheiden uns habenden paradoxen Vitalität des Gewissens ein Gesetz an ihnen mächtig wissen, hören wir uns zu verantwortlicher Entscheidung gerufen.37 Als Mensch, der den lebendigen Gott der Geschichte kennt, hatte Hirsch schon immer von ganzem Herzen verabscheut, was er die judaistische Umwandlung des Lebens in ein Schema oder einen Kodex nennt. Für ihn war das Leben schon immer ein Wagnis mit Gott, war offen für den göttlichen Geist, der die Erfordernisse der Stunde und der Situation offenbart. Damit ist jeder Mensch, der dieses „selbstverständliche verpflichtende Sichgebundenwissen unter das im Horos stehende Gesetz der natürlich-geschichtlichen Wirklichkeit" nicht kennt, wie jemand, der sich unabhängig wähnt von dem „den Organismus bedingenden Lebensgesetz", und wird in Bezug auf das 37
Ibid., S. 29-30/197.
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Ewige zu „einem Träumer, der Mythen produziert, wo es gilt den Horos zu ehren". 38 Nach alledem müsse Tillich (1) doch wohl zugeben, daß Hirschs Gedanken über die
„ S t u n d e " unc
j ihre Forderung authentisch sind, (2) dankbar
dafür sein, daß Hirsch sich Tillichs Kairos-Lehre wirklich nicht angeeignet hat. Hirsch ist der Meinung, daß Tillich die biblische Bedeutung des Kairos nicht nur erweitere, sondern verzerre, ebenso den Kierkegaardschen Sinn des .Moments"; Tillich gebe beiden eine individualistische Interpretation, die Hirsch fremd sei. Zudem müsse Tillich (3) sehen, daß das Verhältnis zwischen Hirsch und Gogarten mehr ist als nur Taktik. Hirsch will im neuen deutschen Geist zwei Seiten in Spannung vereint wissen: Ethos und Erdhaftigkeit, Gesetz und Geschichtlichkeit, Gebundenheit und kühnes politisches Wagnis. 39 Tillich kenne die Spannung nicht, sondern trenne die Pole und beurteile Hirsch von der einen oder anderen Seite her. So erscheine Hirsch einmal als Sakramtentalist und einmal als Moralist.
Der Vorwurf des Irrglaubens Der theologisch schwerstwiegende Vorwurf Tillichs gegen Hirsch ist der des Irrglaubens, der auch wiederholt von der Bekennenden Kirche, der Tillich technisch gesehen nie angehörte, gegenüber den Deutschen Christen erhoben wurde. Für die Bekennende Kirche war die sogenannte „falsche Lehre" der Deutschen Christen, daß sie - gemäß der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 - ,.neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung" betrachteten. 40 Hirsch verteidigt sich im vierten Teil seines Briefes gegen diesen Vorwurf. 38 39 40
Ibid., S. 30/197. Vgl. Ibid. S. 30-31/198. Artikel 1 der Barmer Theologischen Erklärung lautet: .Jesus Christus, wie er in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen" (Bekenntnisse der Kirche, S. 300). Die Barmer Theologische
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Um Tillichs Vorwurf des Irrglaubens und Hirschs Antwort darauf besser verstehen zu können, werden wir den Vorwurf auf folgenden drei Ebenen untersuchen: (1) Nach Tillich hat Hirsch dem deutschen revolutionären Umbruch absoluten Wert zugesprochen, was für den Christen aber unzulässig ist. So macht sich Hirsch zum Priester, der ein geschichtliches Ereignis absegnet, statt es kritisch-prophetisch zu beurteilen; (2) Hirsch unterstützt die totalitären Ansprüche des Staates, ohne der Kirche das Recht auf Protest und einen Freiraum zuzugestehen. Damit nimmt er der Kirche und dem Geist die Möglichkeit des Widerstands gegen eine antichristliche Entwicklung im politischen Bereich; (3) Hirsch hat die gegenwärtigen politischen Ereignisse in Deutschland zu einer zweiten Offenbarungsquelle gemacht und sie neben die biblische Botschaft gestellt. 41 In Hirschs Verteidigung gegen diese Vorwürfe tritt nun ganz klar zutage, daß im Zentrum seiner Differenzen mit Tillich völlig unterschiedliche Lutherinterpretationen und unterschiedliche Haltungen zum Luthertum stehen. Hirsch beginnt seine Verteidigung, indem er sich Luthers Lehre vom Gehorsam gegenüber Eltern, Obrigkeit und Autorität und dem lutherischen Verständnis von Loyalität, Treueiden und Gehorsam zuwendet. Er erinnert Tillich daran, wie wichtig der Treueid für traditionsbewußte Lutheraner schon immer gewesen ist, und fügt hinzu, daß er selbst nie einen Treueid auf die Weimarer Republik abgelegt hatte - es war nie von ihm verlangt worden. Einen Treueid vor Gott abzulegen bedeutet unbedingte Hingabe und schließt jede reservatio mentalis aus. Von Rom 13 ausgehend, argumentiert Hirsch,
41
Erklärung ist zwar das Ergebnis einer intensiven Arbeit und wurde von den 139 Delegierten der Barmer Synode vom 24.-31. Mai 1934 beschlossen, trägt in ihren sechs Hauptartikeln aber die Handschrift Karl Barths, der, so wird allgemein angenommen, das Dokument in Grundzügen verfaßte und bis zu seiner Vollendung begleitete. Barths christozentrische Krisentheologie, die während der 20er Jahre entstanden war und auf die deutschen theologischen und kirchlichen Kreise während der Weimarer Zeit großen Einfluß hatte, tritt in der gesamten Erklärung deutlich hervor. Die Erklärung wurde schließlich zu dem Dokument der Bekennenden Kirche für die Zeit zwischen 1934 und 1945. Die Theologie von Barmen ist der Höhepunkt und Sieg von Barths Krisen- oder Wort-Gottes-Theologie über mindestens zwei weitere theologische Richtungen: Tillichs Kairos-Theologie und Hirschs Nomos-Theologie. Vgl. dazu A. James Reimer: The Theology of Barmen: Its Partisan-Political Dimension, in: Toronto School of Theology 1, 2 (Herbst 1985), S. 155-174. Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 31-32/198-199.
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daß die Kritik am Bundeseid aus dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts erwächst und nur von Theologen vorgebracht wird, die eine gebrochene Beziehung zu den lutherischen Lehren haben. Der liberale Eid auf die Verfassung allerdings ist wirklich problematisch. Die Bedingungen für eine Verfassung sind künstlich hervorgebracht; außerdem kann man sein Vertrauen nicht in gleicher Weise in ein Dokument setzen, wie man es in eine lebendige Person setzt, was Voraussetzung jedes Treueids ist. 42 Logisch gesehen besteht natürlich die Möglichkeit, um des Evangeliums willen oder wegen irgendeiner unvorhersehbaren irdischen Not diese Treue und diesen Gehorsam in gläubigen und leidenden Ungehorsam umzuwandeln, sogar für einen wahrhaft lutherischen Christen. 43 Gläubigkeit und Gehorsam fordern die Haltung des Alles-oder-Nichts. Jede kritische Reserve untergräbt sie. Obgleich eine Dialektik in unserem irdischen und politischen Engagement besteht, gehört sie zur göttlichen Sphäre und nicht zur menschlichen. Gott kann sich dafür entscheiden, unsere Positionen und Ansichten zu zerstören, aber das befreit uns auf keinen Fall davon, unbedingte Verpflichtungen einzugehen. Ein Gelöbnis gegenüber irdischen Autoritäten versteht Hirsch folgendermaßen: Ich gebe und gelobe sie [die Treue] der irdischen Stelle im Vertrauen auf den Gott, in Gehorsam unter den Gott, der sie mich geben und geloben heißt, und dies letzte Vertrauen und Gehorchen trägt und heiligt mich in meiner ganzen Hingabe hinein in die irdische Bindung. Gefällt es Gott, mir meine bestimmte Haltung als falsch zu zerbrechen, so muß ich aus zernichtender Beschämung über solches Gericht heraus mich wiederum zu Vertrauen und Gehorsam unter ihm hinfinden und darin neu gebundne Haltung erringen, und die neue Haltung wird wiederum ganz echte Verwirklichung des Lebens in irdischer Bindung sein. Ich kann nicht ein göttlich freischwebender Geist sein wollen, der ein dialektisch gesichertes Verhältnis zu dem ihn nehmenden Gesetz der irdischen Gemeinschaft hat. 42
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Ibid.; S. 32, Anm. 34/199-201, Amn. Hirsch fügt an dieser Stelle eine lange, fünf Punkte umfassende Fußnote mit dem Titel: „Evangelisch-lutherische Lehre vom Treueid" ein. Hirsch beschreibt die theoretische Möglichkeit des zivilen Ungehorsams folgendermaßen: „Die abstrakte Möglichkeit, daß um Gottes und des Evangeliums willen, ja nach mir sogar um eines großen sonst nicht behebbaren irdischen Notstandes willen, die Treue und der Gehorsam sich in die Treue des leidenden Ungehorsams verwandelt, besteht logisch immer, und der echte lutherische Christ würde, wenn solche Stunde kommt, schlicht seinen Mann zu stehen haben" (ibid., S. 33/199).
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Ich bin nicht auf eine mir verfügbare dialektische Weise in irdischer Existenz, ich bin unmittelbar in verpflichtender irdischer Existenz, und die Dialektik darinnen ist nicht mein, sondern meines Schöpfers und Herrn, der mir Leben und Lage fügt. 44 So ist letztlich das, was Leben und Handeln heiligt, das eigene Vertrauen in Gott, der aber nicht nur Herr des einzelnen, sondern Herr der Geschichte und Völker ist. Der gleiche Gott, der uns als Individuen befreit, bindet uns an unsere irdischen Verpflichtungen und Verantwortungen im gesellschaftlichpolitischen Bereich. Die Bereiche sind verschieden, aber in beiden herrscht der gleiche Gott. Hier kommen „christliche Freiheit" und „politische Bindung" zusammen. 4 5 Der Christ ist in seiner unmittelbaren geistigen Beziehung zu Gott frei, in seiner gesellschaftlich-geschichtlichen Existenz aber gebunden. Die politische Bewegung, der man anhängt, steht jedoch jenseits der Grenzen von Kritik und Urteil. Auch jede politische Autorität muß auf Gott vertrauen und sich vor dem Herrn der Geschichte beugen. Dies ist das Kriterium, anhand dessen eine geschichtlich-politische Bewegung zu beurteilen und einzuschätzen ist: „Ich darf hier gleich anwendend bemerken: das in meiner Pflicht als deutscher Mann gegründete Verhältnis der Treue und Hingabe, in dem ich zu der Deutschland jetzt erneuernden Bewegung und Macht stehe, hat darin seinen festen Halt und seine unverbrüchliche Heiligung, daß Führer und Bewegung und Regiment sich und das Volk unter den Herrn der Geschichte beugen, der uns alle zu Zucht und Ehre und Treue und Opfer und Wagnis im Ringe des Ganzen verpflichtet." 46
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Ibid., S. 34-35/200-201. Tatsächlich ähneln sich Tillichs und Hirschs Aussagen über das „Heilige" und darüber, was es für ein irdisches Ereignis heißt, „geheiligt" zu sein, wie wir bereits in einem früheren Kapitel sahen; vgl. oben, S. 229-230. Hirsch schreibt über christliche Freiheit im Kontext irdischer Bindung: „Wo darum das Vertrauen auf den Gott, der der Herr der Geschichte bleibt, das Bindende ist in der Stunde des Treue Fordenis und Treue Gebens, da empfangt die Unmittelbarkeit irdischen Daseins aus der verborgenen Unmittelbarkeit jedes Einzelnen zu Gott beides zugleich, die verpflichtende Ganzheit der Eingliederung und die Freiheit des im Geiste ein einzelner verantwortlicher Mensch Seins" (ibid., S. 35/201). Ibid., S. 35/202. Für Hirsch münden Untreue und Verrat von Menschen ihren Herrschern gegenüber in der Zerstörung des Glaubens der Herrschenden an Gott und entbinden sie von ihrer Verpflichtung und dem Gefühl der Überantwortung an Gott. „Vielleicht kommt das darin zum mächtigsten Ausdruck, daß dies sich durch Gott in Treue an den irdisch
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Hirsch protestiert gegen Tillichs Versuch, zwischen seinem eigenen Engagement in der marxistisch-proletarischen Bewegung und Hirschs Verbindung zum Nationalsozialismus Parallelen zu ziehen. Ein solcher Vergleich ruht auf der falschen Voraussetzung, daß beide, weil sie irdische Bewegungen als Verbindung von Politik und Weltanschauung betrachten, auch beide unter das gleiche religiöse und christliche Urteil fallen. Man kann nicht, wie Barth Kittel gegenüber behauptet, das „Stehen" unter dem Hakenkreuz mit dem „Stehen" unter den Sowjetstern gleichsetzen. Zwischen dem Hakenkreuz und dem Sowjetstern besteht, religiös wie ethisch, ein qualitativer Unterschied. 47 Tillich hat Hirsch vorgeworfen, er zerstöre die christliche Freiheit, indem er einer geschichtlichen Bewegung die volle Macht Uber das gesamte Leben im Namen Gottes zugestehe. Hirsch weiß jedoch um die Gefahr, das Ewige lediglich zur Heiligung einer irdischen Verpflichtung zu mißbrauchen: „Wenn das Ewige nur gebraucht wird, die irdische Bindung zu heiligen, dann wird das Irdische in sich verhärtet und verschlossen vor dem Hereinbruch des Ewigen. Und ein so vergöttlichtes Irdisches wird zu einer den Glauben und die Liebe des Christen knechtenden Macht." 48 Hirsch gründet seine Interpretation der christlichen Freiheit auf sein Verständnis von Luthers Verhältnis von Freiheit und Bindung; diese Interpretation ist einer Zeit freischwebender Geistigkeit allerdings fremd. Für Luther bezog sich „Freiheit" auf das persönliche Verhältnis des Christen zu Gott (Vergebung und Rechtfertigung) und „Bindung" auf die Teilhabe einer Person an den Gesetzmäßigkeiten der
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Waltenden binden lassai, heißt: den irdisch Waltenden durch Treue binden an Gott" (ibid. S. 35/201 0 · E n wichtiges Zitat in diesem Zusammenhang ist folgendes: „Tillichs Vergleich seiner Hingabe an die proletarische Bewegung und meiner an den deutschen Nationalsozialismus beruht auf der Voraussetzung, daß beide, weil sie irdische Bewegungen mit Verknüpfung von Weltanschauung und Politik seien, unter der gleichen religiösen und christlichen Beurteilung stünden. Und diese Voraussetzung - die Karl Barth z.B. veranlaßt hat, gegen Kittel mit noch mehr extremer Anwendung, für die Tillich natürlich nicht verantwortlich ist, das Stehen unter dem Hakenkreuz und das unter dem Sowjetstern in einem Atem zu nennen - ist der Grundfehler in Tillichs analytischer Abwägimg meiner und seiner Haltung. Ich würde das nicht sagen, wenn hier nicht Tillich Exponent eines auch sonst jetzt umgehenden theologischen und kirchlichen Vorurteils wäre" (ibid., S. 35-36/202). Bemerkenswert daran ist, daß Hirsch es ablehnt, mit Tillich verglichen zu werden und nicht umgekehrt. Tillich seinerseits ist eher bereit, Parallelen einzugestehen. Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 36-37/203.
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irdischen Existenz. Hirsch erklärt anhand eines Zitates aus seinem Buch: „Die gegenwärtige geistige Lage" sein Verständnis des Doppelverhältnisses von Freiheit und Bindung: Wir lernen unsre Freiheit und Gebundenheit im Verhältnis zum irdischen Umschluß des Volkstums richtig sehen. Was ist es, das den falschen Individualismus, der sich nicht ganz und unbedingt hingeben kann, bei Luther zerbricht? Der echte, christliche Individualismus, der sich in Gott frei, in Gott ein Einzelner weiß. Der christliche Individualismus, er gründet den unzerbrechlichen Trotz des Frommen wider eine ganze ihn anfechtende Welt, wider jeden nicht von Gott bestätigten Anspruch des Irdischen und - damit gibt er dem Sichhineingeben in das Irdische, auch in das Volkstum, die Wucht des Entschlusses aus Gott. Und so gewährt er gerade die Unbedingtheit des Dienstes und der Pflicht: das freie Ja aus Gott zum Dienste zwingt dazu, sich im irdischen Verhältnis zu Gott zu verhalten. Das ist etwas, was das Irdische, was das Volkstum bei aller mich stürmisch bewegenden Gewalt in mir aus bloß irdischer Hoheit nie vermocht hätte. Gerade der in Gott Freie, der die Bedingtheit des Vergänglichen weiß, gerade er ist ganz treu im Irdischen.49
Auch wenn der Glaube und die Freiheit in Gott das irdische Engagement heiligen, ist es nach Hirsch falsch, dies eine „Dei fi ka ti on" oder „Heiligung" des Irdisch-Geschichtlichen zu nennen. Irdisch-geschichtliche Wirklichkeit muß immer als zeitlich erkannt werden und darf niemals mit dem Ewigen verwechselt werden. 50 Tillich, nicht er selbst, verwechsele die beiden Bereiche, das Ewige und das Zeitliche. Der Grund dafür sei sein fehlendes Verständnis für die lutherische Lehre von Gesetz und Evangelium. Nach dieser Lehre beziehe sich das Evangelium auf das Verhältnis zu Gott und das Gesetz auf die irdische Bindung. Für Hirsch handle es sich beim Ewigen um Fragen des Heils und der Rechtfertigung vor Gott; für Tillich beinfiusse das Ewige gewissermaßen das menschliche Handeln und die irdische Sphäre:
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Ibid., S. 37-38/203-204. Hirsch zitiert hier aus:„Die gegenwärtige geistige Lage", S. 163-164. Wir sahen im vorangehenden Kapitel, S. 229-233, daß auch Tillich in seinem Buch: .Masse und Religion" von 1921 die Masse heilig nennt: „Die Masse ist heilig; denn sie ist Offenbarung der schöpferischen Unendlichkeit des Unbedingt-Wirklichen und insofern der Unbedingtheit des Unbedingten, angeschaut durch die Kategorie da' Quantität" (Masse und Religion, GW II, S. 72).
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Daß ich Leben und Seligkeit in Gott habe, daß ich Kind des ewigen Reiches bin, welches durch Tod und Gericht sich an mir offenbaren wird, das ist nicht bedingt durch die irdisch-geschichtliche Bindung, in der mich das Gesetz hält, oder gar durch mein Stehen in ihr. Das ist Gottes freie Gabe in Christus. Die göttliche Liebe, die mir im Glauben sich schenkt, ist nicht gebunden an das mich umfangende göttliche Walten in Gesetz und Geschichte. Sie ist das frei sich mir erschließende und damit mich frei machende ewige göttliche Leben selbst Das ist bei Tillich (soviel darf ich sagen, obwohl mir alle seine Aussagen Uber das Letzte und das Ewige eine merkwürdige Unentschiedenheit und darum Unverständlichkeit zu haben scheinen) nicht richtig gedacht, weil er das kommende Gottesreich irgendwie als das zugleich (uns) verheißene und (von uns) geforderte sieht. Mir ist es das rein Verheißene und im Verheißen dem Glauben sich Schenkende. 51 Das heißt allerdings nicht, daß es für Hirsch keine Verbindung zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen der ewigen geistigen Sphäre und der zeitlichen physikalischen Sphäre gibt. „Hebt sich dann nicht aber das Verhältnis des Glaubenden zum Irdisch-Geschichtlichen auf?", fragt Hirsch. „Nein. Eben der Gott, der mich in seiner Liebe frei macht, stellt mich in das irdischgeschichtliche Leben mit seinem Gesetz und seiner Pflicht. Er gibt meinem Glauben die unter dem Gesetz stehende geschichtliche Wirklichkeit als seine Zucht und meinen Weg in die unenthüllte Ewigkeit hinein." 52 Das Gesetz ist der Weg, auf dem, nicht durch den, Menschen zum Evangelium kommen. Paradoxerweise bindet uns das Evangelium dadurch, daß es, unser persönliches Heil und unsere Rechtfertigung betreffend, uns vom Gesetz befreit, gerade an das Gesetz, insofern die zeitliche und irdische Wirklichkeit betroffen sind: „So bin ich durch den Glauben an das Evangelium, der mich frei macht vom Gesetz, gebunden zu ganzem Dienst und ganzer Hingabe an das gesetzesverhaftete irdische Leben. Die Freiheit des Gewissens vom Gesetz im Gottesverhältnis ist die unbedingte Heiligung des Dienstes in der Erfüllung des Gesetzes." 5 3 Für Hirsch - und das haben Stapel und er in ihrem NomosBegriff ausgedrückt - ist das „Gesetz" kein „blutloser Katalog von Geboten",
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Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 38/204. Ibid., S. 38-39/204-205. Ibid., S. 39/205.
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sondern ein „lebensbewahrendes geschichtsbewegtes Walten und Wirken". Einerseits sind Gesetz und Evangelium streng zu trennen. Das Gesetz qua Gesetz behandelt irdische Verbindlichkeiten und Pflichten. Das Evangelium qua Evangelium handelt von der persönlichen Beziehung zu Gott. Andererseits sind beide jedoch eng miteinander verbunden. Der gleiche Gott, der uns die Freiheit des Gewissens gibt, hat eine Reihe irdisch-geschichtlicher Beziehungen geschaffen, in die er uns stellt. Gläubigkeit und Gehorsam gegenüber dem Gesetz dieser Beziehungen zeigen unsere Freiheit in Christus. Ein Christ zu sein, bedeutet so, in jedem Moment die eigene Persönlichkeit durch göttliche Gnade zu erhalten, die selbst unverständlich und unverfügbar bleibt. Ein Christ sein heißt, aufgrund eines transhumanen Sinns und Zwecks in der Verwirklichung und Erfüllung einer volkhaften Menschheit im individuellen Leben Person sein. Hirsch bezweifelt, daß Tillich eine solche transhumane Gründung im göttlichen Geist hat. Hirsch interpretiert Luther auf seine eigene Weise, die nicht notwendigerweise dem Konsens der Lutherforschung entspricht. Er hat recht strenge Ansichten Uber die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die er mit seinem Zwei-Reiche-Dualismus verknüpft. Dieser Dualismus ist der Schlüssel zum Verständnis von Hirschs Interpretation des Verhältnisses eines Christen zum Nationalsozialismus. Gerade Hirschs eigenes dualistisches Verständnis der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre gibt ihm - sehr viel mehr als das Schema des Priesterlich-Sakramentalen gegen das Prophetisch-Kritische in Tillichs Religiösem Sozialismus - ein Instrument an die Hand, durch das er die deutschen Ereignisse des Jahres 1933 beurteilt. Daher versteht er sein starkes Engagement in der deutschen „Revolution" als politischen Realismus und nicht als religiösen Utopismus, wie Tillich ihm vorwirft. „Einem religiösen Utopismus, der tut, als ob jetzt sich das Reich Gottes auf Erden verwirklichte, würde ich mich weder mit noch ohne kritischen Vorbehalt hingeben", meint Hirsch. 54 Er drückt seinen „politischen Realismus" (im Gegensatz zu Tillichs „gläubigem Realismus") folgendermaßen aus:
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Ibid., S. 39/205.
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Ich sehe in dem deutschen politischen Geschehen eine harte, nüchterne und strenge Angelegenheit, den Aufbau einer den ganzen Menschen fassenden und formenden Lebensordnung für mein Volk aus der Verantwortung und dem Mut heraus, die sich an dem Bewußtsein um die „Grenze" entzünden. Was werden soll, ist nicht Gottes Reich, sondern das Reich der Deutschen, gebaut unter demütiger Anbetung des Herrn der Geschichte. Die Dankbarkeit und Freude zu Gott, daß er uns den Anfang und die Möglichkeit geschenkt hat, daß unserm Volk der Wille zu Gehorsam und Verantwortung wider die Mächte des Untergangs in der Stunde der größten Not erweckt worden sind, können gewiß da und dort Uberschwenglichen Ausdruck finden und können auch in Einzelnen schwärmerische Hoffnungen wecken. 55 An dieser Stelle wird deutlich, wie Luthers Zwei-Reiche-Lehre von jemandem wie Hirsch aufgenommen und neuen geschichtlichen Situationen angepaßt werden konnte (in diesem Fall zur Unterstützung einer totalitären Bewegung wie des Nationalsozialismus), ohne in seinen Augen diese Situationen zu heiligen, wie Tillich ihm vorwirft. Darüber hinaus ist sich Hirsch bewußt, daß es Extremisten geben mag, die den Nationalsozialismus fälschlicherweise verabsolutieren, und deren Leidenschaft in falschen Utopismus umschlägt. Letztlich ist er jedoch der Meinung, daß gerade Tillich in Gefahr ist, den Staat zu heiligen, indem er das Gottesreich als Norm zur Umbildung Deutschlands in einen sozialistischen Staat anwendet. Im Rückblick mag es befremden, daß Hirsch in diesem Entwicklungsstadium des Nationalsozialismus noch immer glaubte, Hitler wisse sich demütig dem Herrn der Geschichte verpflichtet: Wer aber den Führer deshalb, weil er in seinem Handeln als Staatsmann so ganz im Gegensatz zu dem, was wir an Politikern bei uns und anderwärts erlebt haben - unter der Verantwortung vor Gott sich weiß, und weil er weiß, daß keine politische Ordnung anders denn als Ordnung eines zu Gott aufblickenden, die Bindung unter Gott ehrenden Volks lebenbewahrend zu sein vermag, zu einem religiösen Utopisten macht und sein drittes Reich zu einem Gottesreich, der überträgt fälschlich die Kategorien des religiös vertieften Marxismus auf eine Bewegung andrer Art und andern Ziels. 56
55 56
Ibid., S. 39/205-206. Ibid., S. 40/206.
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Seine Sicht wird jedoch verständlicher, wenn Hirschs Kritik am politischen System der Weimarer Republik und die damit verbundene Säkularisierung des Staats im Namen der Trennung von Kirche und Staat verstanden wird. Das Zitat macht deutlich, daß (1) Hirsch glaubte, Hitler wisse sich in gewissem Sinn Gott verpflichtet und (2) Hirsch hier jeden utopistischen Versuch der Vergöttlichung des nationalsozialistischen Staats ablehnt. In Verbindung mit Tillichs Kairos-Lehre beurteilt Hirsch Tillichs Philosophie der Theonomie positiver als Stapel. Hirsch hält die Kairos-Lehre für einen Versuch Tillichs, eine Alternative zu dem absurden Entweder-Oder des 19. Jahrhunderts zu entwickeln, d.h. zu den Positionen, daß entweder die Geschichte und die Gemeinschaft vollkommen im Sinn der selbstgenügsamen Vernunft und der Freiheit zu verstehen seien, oder Geschichte und Gemeinschaft als utopischer Weg zur Ewigkeit betrachtet werden müßten. Dennoch hatte Hirsch die „kritisch reflektierende Prophetie" der Tillichschen KairosLehre niemals als Engagement für den Marxismus oder gar als Überwindung des Marxismus gesehen, sondern für eine illusorische Lösung gehalten. Tillich fehlt nach Hirsch das lutherische Verständnis der Gesetz-Evangelium-Dialektik und der Zwei-Reiche-Lehre: Es fehlte bei Tillich vor allem an jenem lutherischen Lebensverständnis, das im Wissen um die Dialektik von Gesetz und Evangelium und in der dadurch bedingten Lehre von den zwei Reichen sich ausspricht und klärt. In diesem lutherischen Lebensverständnis liegt die Möglichkeit, die volkhaft-politische Ordnung als von Gott geheiligt, das heißt von ihm gegeben und getragen und gefordert, von ihm zum Schaffensquell und zur indiskutablen Pflicht gemacht, zu verstehen und sie dennoch hart und klar als eine irdisch-vergängliche Sache zu nehmen. Im Sinn dieses Verständnisses des Politischen hab ich den deutschen Aufbruch von 1933 bejaht und mich gegen schwärmerischen Mißbrauch des Geschehens deutlich abgegrenzt, wie Tillich nicht entgangen sein kann. 57 Hirsch kennt die Gefahr des Extremismus in der Bewegung; bei zahlreichen Gelegenheiten sondert er sich ab von den überschwenglichen Enthusiasten auf seiten des Nationalsozialismus und ihres ethnischen Bewußt-
57
Ibid., S. 40/206.
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seins.58 Eine der wichtigsten theologischen Fragen hinter Hirschs Anwendung der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre ist die, ob sie eine legitime Interpretation dessen ist, was Luther und die nachfolgende Tradition damit meinten. Es liegt nicht in der Absicht dieser Studie, diese Frage weiter zu verfolgen, sondern lediglich Hirschs Interpretation als eine Möglichkeit vorzustellen. Es gab andere, die die Zwei-Reiche-Lehre und die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gleichermaßen ernst nahmen, aber nicht die gleichen Schlüsse zogen wie Hirsch. In Hirschs Augen gibt es einen Bereich, der jenseits jeder Diskussion liegt, nämlich den Bereich, der sich mit den Grundlagen des gemeinschaftlichen Lebens befaßt. Jede offene Diskussion über diesen Bereich hat immer schon die menschliche Stabilität gefährdet, ein allgemeines Sinnchaos hervorgebracht und eine Situation geschaffen, in der kein junger Mensch mehr erzogen, kein Charakter mehr wirklich gebildet werden kann. Die Aufgabe des Geistes ist die Weitergabe des Gemeingutes und nicht die Verbreitung privater Weltanschauungen. Die christliche Botschaft ist keine beliebige Weltanschauung, sondern prägt allgemein anerkannte christliche Werte ein. „Der Glaube ist etwas andres als eine Weltanschauung, die eine irdische und eine gemeinsame Angelegenheit ist. Wenn eine Volksordnung in der sie tragenden Lebens- und Geistesverfaßtheit geöffnet ist für die Möglichkeit der segnenden Verwundung des natürlichen Nomos und Logos durch das Evangelium, dann ist alles gegeben, dessen ein Christ bedarf, um gerne in ihr stehen und an ihr gestaltend mitarbeiten zu können. Dann ist die Grenze des irdischen Reichs
58
In seinem autobiographischen Aufsatz von 1951 äußert sich Hirsch Uber diesen gefahrlichen Extremismus in der nationalsozialistischen Bewegung: „Ich habe von da an unter den jungen nationalen Theologen und darüber hinaus unter den eine nationale Wiedergeburt ersehnenden geistigen Deutschen manche persönlichen Freunde gehabt und bin stolz darauf gewesen. Aber ich spürte von Anfang an die durch das eherne Schicksal schmerzhaft gezogenen Grenzen dieser Wirkung. Theologie und Kirche gingen unter dem Einfluß der dialektischen Theologie weithin andre, entgegengesetzte Wege und verschlossen sich, soweit sie das taten, auch um des Gegensatzes zu 'Deutschlands Schicksal' willen allen möglichen Einwirkungen meiner theologischen Arbeit. Da wurde es natürlich schwer, wenn nicht unmöglich, radikalen jungen Stürmern und Drängern zur richtigen Einsicht in das Verhältnis des Christlichen und des Humanen zu helfen" (Meine Wendejahre [1916-21], S. 5).
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gegen das ewige Reich dadurch gewahrt, daß sie geöffnet und anerkannt ist." 59 Hirsch fehlen aber durchaus nicht alle Kriterien zur Beurteilung einer politischen Bewegung. Diese Kriterien sind jedoch anders gelagert als die Tillichs. Die Integrität einer politischen Ordnung ist zu beurteilen aufgrund ihrer Offenheit für Gott und der Möglichkeit, durch das Evangelium „verwundet" zu werden. Problematisch erscheint jedoch, wie es möglich ist zu beurteilen, ob eine Bewegung wirklich demütige Verantwortlichkeit vor dem Herrn der Geschichte übt und Offenheit für das „Verwundet"- oder Korrigiertwerden durch das Evangelium zeigt. Letzten Endes bleibt für Hirsch, wie für Tillich auch, die politische Entscheidung eine Frage des Wagnisses. Hirsch fragt, ob die himmlische Freiheit nur ein Hilfsmittel dafür ist, sich mit der irdisch-geschichtlichen Versklavung an eine politische Bewegung abzufinden. Die Antwort lautet: Nein. Hirsch betont, daß er und seine Gefährten sich der nationalen Bewegung zur Festigung der deutschen nationalen „Revolution" aufgrund von Überzeugung und nicht aus politischem Opportunismus anschlossen. Sie schlossen sich der Bewegung an, bevor sie an der Macht war, weil sie die geschichtliche Krise, in der Deutschland sich befand, erkannten. Diese Entscheidung war ein Wagnis, da Gott den Menschen kein klares Rezept für das Leben gegeben hat. Während für Tillich konkrete persönlich-politische Freiheit für sein Wirken in den Strukturen der Gesellschaft vonnöten ist, gilt für Hirsch: „.. nicht das kritische Wort ist die rechte Gestalt verantwortlicher Mitarbeit, sondern das helfende und klärende Wort des Getreuen, und nicht der Ausweichraum ist die Stelle, an der die christliche Kirche die Verhärtungen aufbrechende Durchfurchung deutschen Lebens mit dem Pflug des Evangeliums vollzieht, sondern der Arbeitsplatz mitten auf dem Acker." 60 Der Mensch, der sein individuelles irdisches Schicksal beansprucht, trennt sich von einer wahrhaft bindenden nationalen Ordnung. Damit gehört er nicht mehr zum Volk, das sät und arbeitet, sondern
59 60
Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 42/208. Ibid., S. 43/209.
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verhält sich wie der Städter, der einen kritischen und vernünftigen Artikel über die Arbeit der Bauern schreibt Was bedeutet das für die deutsche evangelische Kirche? ,3oll die deutsche evangelische Kirche Mitwalterin am deutschen Nomos und Logos sein, dann muß sie deutsche Volksordnung sein, die deutsche Not als eigne Not, deutsche Hoffnung als eigne Hoffnung fühlt und ihre Arbeit unter der Verantwortung vor dem Herrn Christus als ein Stück Aufbau am deutschen Leben versteht. Eine solche Kirche wird deutschen Geist und deutsche Art helfend und weitend und, wo es not tut, auch segnend-verwundend mitbestimmen." 61 Somit besteht immer die Möglichkeit, daß politische Bewegungen und persönliches Engagement von Gott mittels der Kirche verwundet, gezüchtigt, erschüttert und korrigiert werden.
Eine zweite Offenbarungsquelle Hirsch beschließt seinen Brief im vierten Teil mit einer kurzen Verteidigung gegen den dritten von Tillich erhobenen Vorwurf, der dem Karl Barths und der Bekennenden Kirche gegen die Deutschen Christen erhobenen ähnelt: Man habe zwei Offenbarungsquellen, die Bibel und Hitler (oder die Ereignisse von 1933). „Da stehen nun der Kairosphilosoph und die Bekenntniseiferer und Ketzerverfolger in Einer Front", meint Hirsch. Er beantwortet diesen Vorwurf mit einem neuerlichen Verweis auf die ZweiReiche-Lehre: Wenn der Nationalsozialismus mir eine religiöse Utopie wäre, von der ich, selber ein Kairosphilosoph, nur ein plumper und naiver, gesagt hätte, daß in ihr das Reich Gottes nahe herbeigekommen oder ganz herbeigekommen sei, dann hätte Tillich selbstverständlich hier recht. Aber, wir haben ja schon gesehen, daß ich in der lutherischen Lehre von den zwei Reichen denke. Tillich ist hier also widerfahren, daß er die einem anderen geistigen und theologischen Zusammenhang angehörigen Aussagen meines Buches nach dem beurteilt hat, was sie in der Struktur des religiös vertieften Marxismus bedeutet hätten. Das ist eine Selbsttäuschung, der 61
Ibid., S. 43-44/209.
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systematische Denker in der Beurteilung fremder Gedankengänge des öfteren unterliegen.62 Hirsch scheint hier nahezulegen, daß die Differenzen mit Tillich zum Teil in der Tatsache begründet sind, daß er Historiker, Tillich aber systematischer Theologe ist. Er zeigt ein gewisses Mißtrauen gegenüber Systematikern, insbesondere Tillich, wenn er schreibt: „Es wundert mich nicht, daß nun auch ich bei ihm nach systematischer Methode mißverstanden worden bin." 6 3 Er ist weiterhin erstaunt Uber Tillichs seltsamen Offenbarungsbegriff und meint, diesen vollständiger entwickelt zu haben als Tillich. Des öfteren weist Hirsch den Vorwurf der Bekennenden Kirche (und hier Tillichs) von sich, er habe eine zweite Offenbarungsquelle neben die Christi gestellt, oder er habe andere Götter neben dem einen Gott, Jesus Christus. Er habe mit Luther schon immer verkündigt: „solus Christus". Er räumt die Möglichkeit ein, daß Gott den Deutschen durch den Uber Deutschland hinwegfegenden Aufbruch seinen Willen offenbare. Aber das habe nichts mit dem Evangelium zu tun (Rechtfertigung, Heil, Liebe, Gnade und Vergebung). Gottes Handeln in der Geschichte schenke kein persönliches Heil. Persönliches Heil und die Auferstehung zum ewigen Leben seien uns von Gott allein in Jesus Christus gegeben. Das sei das ewige Reich, und keine irdische Wirklichkeit, Nation, politische Bewegung und kein charismatischer Führer sei mit diesem Reich gleichzusetzen oder habe das Recht, in es einzugreifen.
62 63
Ibid., S. 45/210. Hirsch beginnt seine Erwiderung mit dem Satz: , Jch habe so manchen wissenschaftlichen Widerspruch in mir gehabt, wenn ich Tillich irgendwann auf das Gebiet der geisteshistorischen Analyse sich wagen sah" (ibid., S. 45/210). Hirsch weist hier auf eine tiefere methodische Differenz zwischen sich und Tillich hin. Obwohl Hirsch selbst ein starkes Interesse an systematischem Denken hatte und den Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Universität Göttingen von 1936-45 innehatte, war er mißtrauisch gegenüber jeder philosophisch-systematischer Interpretation des christlichen Gottes, der menschlichen Beziehung zu Gott und menschlich-sittlicher Verantwortung in der Geschichte, einer Interpretation, die im deutschen Idealismus vertreten wurde und der sein Freund Paul Tillich sich anschloB. Vor jedem menschlichen System stehe, so meinte er, ein transzendenter Gott, der nur in der Subjekitvität des einzelnen und im sittlichen Gehorsam zu finden sei. Hans-Walter Schütte betont diesen Unterschied in seinem Aufsatz: Subjektivität und System, in: Hirsch Tillich Briefwechsel 1917-1918, S. 38-51.
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Dennoch habe das irdische Reich unter der Souveränität Gottes, des Herrn der Geschichte, seinen Hätz. Es diene der Erhaltung des menschlichen Lebens durch Gesetz, Gewalt und Autorität, durch die Forderung sittlichen Gehorsams, der Disziplin und des unbedingten Engagements. Im irdischen Bereich sei der Mensch nicht frei, sondern gebunden. Unterwerfung und Gehorsam im irdischen Bereich seien Formen des Gehorsams gegen Gott, der die Menschen in ihre geschichtliche Situation gesetzt habe. 64 Gegen Ende seines Briefes deutet Hirsch noch ein weiteres Problem an, die Interpretation von Blut und Rasse, endet dann aber mit einer Würdigung Tillichs und ihrer persönlichen und intellektuellen Beziehung Uber die Jahre hinweg. Zu seiner Vorstellung von Blut und Rasse meint Hirsch nur, Tillich habe den Begriff des Blutbundes nicht verstanden und sein Volksbegriff sei weiter, als Tillich annehme, weil er in den Zusammenhang mit mehreren eng verwandten Rassensystemen gestellt sei. „Tillich hat über die Tatsache, daß ich zu der Rassen- und Erbpflege als einer unaufgeblichen Pflicht volksbewahrender Ordnung ja sage, übersehen, daß ich gerade hier ein Stück verantwortlicher wissenschaftlicher Reflexion geübt habe." 65 Der Schluß von Hirschs Brief ist bemerkenswert versöhnlich gehalten und dankt Tillich in zweierlei Hinsicht: erstens dafür, daß er ihn während ihrer Studienzeit zum Studium der idealistischen Philosophie angeregt habe, und zweitens dafür, daß Tillich auch nach ihrem Bruch von 1918 ein Mensch mit beispielhafter persönlicher, intellektueller und politischer Integrität gewesen sei, dem er und die jungnationalen Lutheraner zu tiefem Dank verpflichtet seien. Hirsch schließt mit der Bemerkung, daß sich trotz ihrer frühen Freundschaft bald Unterschiede in ihren philosophischen Anschauungen entwickelt hätten; Tillich sei von Schelling beeinflußt gewesen und habe eine mystische Sicht der menschlichen Begegnung mit Gott entwickelt, während er von Fichte beeinflußt worden sei und ihn die Forderung von Pflichtbewußtsein und die
64 65
Vgl. Reimer, The Theology of Bannen, S. 155-174, bes. S. 161ff. Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 46/211.
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soziale Frage beschäftigt hätten. Weil diese Anmerkungen wichtig für unsere Studie sind, sei Hirsch zitiert: So bleibt nur eines übrig, ohne das dieser Brief an Sie unvollständig wäre: Ihnen zu gestehen, daß ich Tillich Dank schuldig bin und daß es mich geschmerzt hat, einem Jugendfreunde gegenüber, den ich mir aus meinem Leben nicht wegdenken mag, diese Abrechnung vollziehen zu müssen. Ich danke ihm zweierlei. Einmal, er ist es gewesen, der mich in unsrer Studentenzeit, als mir bei dem Versagen der damaligen Berliner Philosophie die fruchtbare persönliche Anregung fehlte, in den Strom der idealistischen Philosophie hineingelockt hat. Bei dem maßgeblichen Berliner Philosophen damals lernte man, daß die Idealisten Stümper und Frechlinge seien, die es zu lesen nicht lohne, so hatte ich mich auf das ernstliche Studium Kants beschränkt. Jener Anstoß Tillichs ist der Anfang einer bis gegen Kriegsende sich hinziehenden reichen geistigen Gemeinschaft gewesen, die in einem stets gespannten Widereinander - ich hielt zu Fichte, er zu Schelling; ich dachte von dem Ruf zur Pflicht her, er von der mystischen Gottesbegegnung her; ich war von der sozialen Frage zerquält, er lehnte sie damals ab - doch mir (und bisher hatte ich gedacht: uns beiden) ein Geschenk gewesen ist. Als dann 1918 der politische Bruch zwischen uns kam, den ich irgendwie immer auch als von einem Bruch im Religiösen begleitet empfunden habe, da habe ich, und das ist das Zweite, von Tillich dennoch etwas haben können. Es war nun anders denn früher. Jeder ging im geistigen Ringen seinen Weg ohne eigentliche Auseinandersetzung mit dem anderen, er schneller und glänzender, ich schwerer und (durch den politischen Kampfeswillen) geballter. Er ist mir aber die ganzen Jahre hindurch ein einzigartiges Beispiel gewesen eines Menschen, der nach seiner Art und seinem Gesetz und gemäß seiner politischen Entscheidung mit unerhörter Ehrlichkeit alle Nöte der krisenhaften Zeit trug und im Denken bewegte. Ein solches Beispiel kann man, auch wenn man beim dritten Satze jedes Aufsatzes im Widerspruch und manchmal sogar im Zorn ist, nicht vor sich haben, ohne daß es einen weiter und tiefer macht in seinem eigenen Ringen. Diesem zweiten Danke habe ich in meinem von Tillich angegriffenen Buche an einer Stelle einen Ausdruck gegeben, so stark, als es das Ergebnis der Analyse nur zuließ (S.121). 6 6
In seinem Buch: „Die gegenwärtige geistige Lage", das Tillich so scharf angriff und aufgrund dessen er den Vorwurf des Plagiats erhob, gab Hirsch zu, daß es eine formale Ähnlichkeit zwischen dem Religiösen Sozialismus und dem jungnationalen Luthertum gab: in beiden Fällen habe der Glaube gewagt, eine politische Entscheidung zu treffen, wenn auch eine je andere. Hirsch hatte
66
Ibid., S. 47/211-212.
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in diesem Zusammenhang auch den Kairos-Begriff eine religiös-sozialistische (oder theologisch-marxistische) Vorstellung genannt, die das Wagnis einer politischen Entscheidung für eine zukünftige Gesellschaft angesichts der Krise und des Niedergangs der westlichen Kultur begrifflich zu fassen sucht. Durch das Ringen mit diesem bedeutenden Gegner war das jungnationale Luthertum von seiner ursprünglich bürgerlichen Basis befreit worden und hatte sich zu einer dynamischen und kohärenten Bewegung entwickelt, die ihre eigene politische Entscheidung für den Nationalsozialismus traf. 67 Im Lichte dieser klar anerkannten und geäußerten Verpflichtung gegenüber Tillich und den Religiösen Sozialisten bei gleichzeitiger Betonung der wichtigen Unterschiede, ist zu verstehen, weshalb Hirsch sprachlos gewesen sein muß über Tillichs Vorwurf des Plagiats. Wir müssen daher unsere recht detaillierte Untersuchung von Hirschs Antwort auf Tillichs offenen Brief mit der Feststellung beenden, daß Hirsch
67
In seinem Buch: „Die gegenwärtige geistige Lage" hatte Hirsch die wichtigsten Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Religiösen Sozialisten und den jungnationalen Lutheranern herausgearbeitet und den Religiösen Sozialisten (selbstverständlich auch Tillich) für ihren wichtigen Beitrag zum jungnationalen Luthertum bei der Entwicklung der eigenen Position gedankt: „Die so entstehende Haltung des religiösen Sozialismus hatte mit dem, das von ihr am bittersten befehdet wurde, dem jungen nationalen Luthertum, formell etwas Verwandtes: der Glaube wagte eine geschichüiche Entscheidung. So ist auch hier der christlichen Theologie ein wesentliches Stück Geschichtsphilosophie zugewachsen. Durch Verwandtschaft und Gegensatz den abstandnehmenden Theologen gegenüber ist hier das Denken auf die Frage der geschichtiichen Dialektik zwischen dem Heiligen und Profanen, dem Geistlichen und dem Weltlichen hingestoßen worden ... Die Meinung, in der großen Krise euramerikanischer Kultur wagend für eine kommende gegen eine untergehende Welt Stellung genommen zu haben, hat den Begriff des Kairos, der von Gott gegebnen fordernden geschichtlichen Entscheidungsstunde, erzeugt. Mit alledem hatte diese Geschichtsphilosophie des theologischen Marxismus eine Sendung gerade am jungen nationalen Luthertum: sie hat es aus der bürgerlichen Enge, die ihm ursprünglich anhaftete, erlösen helfen, hat ihm die andre geschichüiche Entscheidung, die es fällte, in größre Zusammenhänge stellen helfen. Ohne das innere Ringen mit diesem bedeutenden Gegner - in der Geschichtsphilosophie der theologischen Marxisten war etwas, was im Marxismus sonst fehlte, nämlich Geist wären die Theologen des jungen nationalen Luthertums kaum lebendig genug geworden, um sich ehrlich an den Nationalsozialismus als die geschichüiche Gestalt der von ihnen geforderten Entscheidung und als den Einsatz eines neuen deutschen Geschichtsalters zu geben" (ibid., S.121). Hier sehen wir, wie genau Hirsch seine eigene Abhängigkeit und Unabhängigkeit - und die des jungnationalen Luthertums - von Tillichs Kategorien verstand. Besonders bemerkenswert ist Hirschs Beobachtung, daß der Kampf mit dem Religiösen Sozialismus dem jungnationalen Luthertum half, sich von den engen Wertevorstellungen der Mittelklasse zu befreien, denen es früher verhaftet gewesen war, und ihm damit half, eine eigene kohärente politische Position zu entwickeln.
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sich wirklich überzeugend gegen die Vorwürfe, die Tillich gegen ihn erhebt, verteidigt, insbesondere gegen den Vorwurf des Plagiats - eine Anschuldigung, die Tillich selbst in seiner abschließenden kurzen Antwort modifiziert, wenn nicht gar ganz zurückzunehmen scheint. Im Verlauf seines Briefes erhebt auch Hirsch einige Gegenvorwürfe. Ein sorgfältiges Abwägen dieser Vorwürfe auf beiden Seiten wird bis zu unserem letzten Kapitel warten müssen. Wir fassen Hirschs Gegenvorwürfe folgendermaßen zusammen: Erstens behauptet Hirsch im persönlichen Bereich, daß Tillich Groll hege gegen seinen Freund und Hirschs Position durch ungenaue Zitate, durch Herauslösen von Sätzen aus dem Zusammenhang und durch Abfassung eines polemischen Pamphlets statt einer sorgfältigen systematischen Analyse verzerrt habe. Ein genaueres Lesen von Hirschs Schriften hätte die innere Konsistenz und intellektuelle Integrität seines Denken von früh an gezeigt. Stattdessen habe Tillich seinen Freund persönlich schlechtgemacht, ihm ein Plagiat vorgeworfen, ohne ihr gemeinsames intellektuelles Erbe einzugestehen. Diese erste Beschuldigung impliziert den Vorwurf der Parteipolitik, mit der Tillich ihre gemeinsame Verpflichtung dem deutschen Idealismus gegenüber verbergen wolle, ebenso wie die Tatsache, daß Hirschs Begriffe sich wesensmäßig von Tillichs unterscheiden. Tillich habe eine bereits lange andauernde Feindschaft des Religiösen Sozialismus gegen nationalistisch orientierte Bewegungen wie den Nationalsozialismus zum Ausdruck gebracht. Zweitens fehle Tillich im theologischen Bereich das rechte Verständnis der lutherischen Schöpfungslehre (in ihrer Beziehung zu den Schöpfungsordnungen wie der Volkszugehörigkeit), der Gesetz-Evangelium-Dialektik und der damit verwandten Zwei-Reiche-Lehre. Ironischerweise sei es daher Tillich, der den göttlichen und den menschlichen Bereich vermische, sowie das Ewige und das zeitliche, irdische Reich nicht klar voneinander trenne. Tillich betrachte das Reich Gottes sowohl als gefordert wie auch als verheißen; als Konsequenz nehme er an, daß Menschen bei der Entstehung des Reiches Gottes in der Geschichte eine Rolle spielten. Der Irrtum von Tillichs Kritik an Hirsch sei, daß er Hirschs Theologie aus der Perspektive seines eigenen religiös-sozialistischen Schemas beurteile - einem Schema, das PriesterlichSakramentales und Prophetisch-Eschatologisches unterscheidet. Diese Sehe-
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matisierung sei Hirschs Denken aber fremd. Hirsch dreht also Tillichs Vorwurf des Irrglaubens um, indem er die Folgerichtigkeit von Tillichs Theologie im Licht des reformatorischen Denkens in Frage stellt. Drittens fehle es Tillich auf der politischen Ebene an verantwortlichem Engagement für eine bestimmte Volksgemeinschaft. Stattdessen vertrete er einen liberalen, freischwebenden Individualismus und Intellektualismus des 19. Jahrhunderts, der eine kritische Haltung zur Gesellschaft einnehme, ohne sich darin zu binden. Er habe kein Verständnis für Pflicht, Schicksal und Verpflichtung für sein Volk, sondern wende die dogmatische und doktrinäre Rhetorik eines schalen, marxistisch orientierten religiösen Sozialismus zu seiner Verteidigung des Proletariats und einer wurzellosen internationalen Kultur an. Die Krise der Weimarer Republik sei ein Ergebnis eines solchen seichten politischen Denkens, weil dort die individuelle Autonomie eher die deutsche Politik bestimmt habe als die unbedingte Hingabe an die Nation (als Zusammenschluß organisch verwandter Volksgruppen). Aus der Enttäuschung über dieses politische Denken sei das jungnationale Luthertum entstanden. Hirschs eigene politische Hoffnungen für Deutschland ruhen auf dem Glauben, daß im Nationalsozialismus eine neue autoritäre, einzigartig deutsche politische Alternative erwächst (die individuell-subjektive Freiheit mit äußerlich-nationaler Untertanenpflicht kombiniert), die eindeutig zu unterscheiden ist von der amerikanischen Demokratie, dem britischen Parlamentarismus, dem französischen Autoritarismus und dem russischen „Bolschewismus".
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Schlußbetrachtungen : Eine kritische Bewertung der Debatte und ihrer Bedeutung für die politische Aufgabe der Theologie
Echos auf die Debatte in deutschen theologischen Kreisen Die öffentliche Debatte zwischen Tillich und Hirsch, die vielen als langjährige Freunde bekannt waren, verursachte Aufruhr in deutschen Theologenkreisen und erfuhr große Aufmerksamkeit in deutschen Zeitschriften. Karl Ludwig Schmidt, Herausgeber der „Theologischen Blätter", in denen Tillichs erster offener Brief im November 1934 erschienen war, schickte die Ausgabe an verschiedene Redaktionen und informierte seine Leser auch über das „Echo", das Tillichs Brief in anderen Zeitschriften erhielt.1 Mit wenigen Ausnahmen unterstützten alle diese Echos, wie Schmidt berichtete, Tillichs Kritik an Hirschs Position. Der Artikel von Karl Ae, in: „Das Neue Sächsische Kirchenblatt", verdient es, mit einer großen Passage zitiert zu werden: Die Antwort, die Tillich in seinem Offenen Brief' an Hirsch gibt, gehört zu den durchaus wesentlichen und beachtenswertesten Äußerungen des 1
Vgl. dazu die Artikel von: Ernst Wolf, in: Evangelische Theologie (November 1934); Karl Ae, in: Das Neue Sächsische Kirchenblatt (November 1934); Hermann Mulert, in: Die christliche Welt (1. Dezember 1934); Hans Schlemmer, in: Protestantenblatt (16. Dezember 1934); Ernst Bunke, in: Deutsche Evangelische Kirchenzeitung für die Gemeinde: Die Reformation (16. Dezember 1934); Wilhelm Kolfhaus, in: Reformierte Kirchenzeitung (16. Dezember 1934); Robert Frick, in: Pastoraltheologie (Januar 1935), Wilhelm Stapel, in: Deutsches Volkstum (2. Dezember 1934); Hans Riickert, in: Deutsche Theologie (April 1935). All diese Artikel sind genannt in: Karl L. Schmidt, Zum offenen Brief Paul Tillichs an Emanuel Hirsch, in: Theologische Blätter 14, 2 (Februar 1935), S. 62; sowie in: Zur Auseinandersetzung zwischen Tillich und Hirsch, in: Theologische Blätter 14,6 (Juni 1935), S. 158.
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gegenwärtigen Ringens. Bei der Bedeutung, die dem Theologieprofessor Hirsch in der gegenwärtigen geistigen Lage zukommt, und bei dem, wie man aus mehrerem entnehmen muß, starken Einfluß, den er auf die Kirchenregierung Ludwig Müllers hatte und hat, muß sich Hirschs gleichsam programmatische Schrift ein besonders klares kritisches Infragestellen gefallen lassen. Geht sie daraus bewährt hervor, so ist es gut um sie und ihren Verfasser bestellt. Hält sie theologischer Fragestellung nicht stand, so ist eben damit in der innersten Linie die Sache, die er vertritt, in Frage gestellt. Tillich begegnet ihr als sachlicher Kritiker, ohne zu bestreiten, daß auch von ihr im einzelnen sachlich zu lernen ist. Tillich begegnet ihrem Verfasser in einer spannungsreichen, für das Gespräch mit dem anderen fruchtbaren Mittelstellung zwischen persönlicher Freundschaft und objektiver Ablehnung zu Hirsch. Er kommt zu e i n e r rückhaltlosen Ablehnung und Kritik. Sie muß in ihrem Wortlaut selbst nachgelesen werden. Sie ist ein Meisterstück Tillichscher Geistesdialektik. Sie ist zugleich auch ein Stück Tillichscher Selbstdarstellung und Neuaufzeigung seiner Kairoslehre in Position und Grenze. Sie ist aber auch ein ausgezeichneter Aufweis des geistigen Werkes Hirschs. ... Damit werden Schlaglichter auf unsere gegenwärtige kirchliche Lage überhaupt geworfen, die deren innere Not beleuchten. Es sind nun ganz gewiß auch an Tillich mancherlei theologische Fragen zu richten, - seiner hier an Hirsch geübten theologischen Kritik wird zuzustimmen sein, denn sie kommt aus einer grundsätzlich eschatologischen, vom 'Ende' her bestimmten und auf das 'Ende' hin gerichteten Haltung; es müssen heute um der Klarheit und Wahrheit willen die Scheinwerfer an mehreren Stellen eingesetzt werden. In der Sache geht es zuletzt und entscheidend um die Wahrheit, die in der biblischen Offenbarung uns gegeben ist; sie kennt wohl die Verpflichtung und das Gebot, daß wir die Geschichte, als unter dem Willen Gottes stehend, sehr ernst nehmen sollen; sie weiß aber auch um die Einsicht, daß wir keinen 'Augenblick' der Geschichte absolut setzen (und damit säkularisieren) dürfen.... 2 Schmidt berichtet weiterhin von Hans Schlemmers Artikel im „Protestantenblatt": Schlemmer wolle zeigen, wie Hirsch die wichtigsten religiössozialistischen Ideen Tillichs übernommen habe, und sich so (ohne es zu wollen) in eine Reihe mit dem jungen Marx stelle. Schlemmer interessiere an Tillichs offenem Brief jedoch mehr die gegenseitige Abhängigkeit von Theologie und Philosophie: „... uns interessiert", schreibt er, ,4m vorliegenden Zusammenhang vor allem die Tatsache, wie sehr in der ganzen Beweisführung Tillichs theologische und philosophische Gedankengänge sich miteinander
Zit. von: Karl L. Schmidt, Zum offenen Brief Paul Tillichs an Emanuel Hirsch, in: Theologische Blätter 14, 2, S. 26.
Schlußbetrachtungen
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verschlingen, bis hin zu einer von beiden Gegnern bejahten 'Identität der Theologie mit einer theonomen Philosophie' ; das Zeitalter einer angeblichen Unabhängigkeit der Theologie von der Philosophie ist vorbei." 3 Diese Reaktion auf die Debatte greift einen Punkt auf, in dem Tillich und Hirsch sich gleichen: beide interpretieren die gegenwärtige religiöse und politische Situation sowohl von einem theologischen als auch von einem philosophischen Standpunkt aus. Dies unterscheidet beide auch, obwohl das hier nicht eigens erwähnt ist, von Karl Barth. Schmidt übernimmt neben der Aufgabe, seine Leser Uber die unterschiedlichen Antworten auf Tillichs ersten offenen Brief zu informieren, auch Tillich in New York auf dem neuesten Stand zu halten und andere Zeitschriften zu einer Stellungnahme zu drängen. Mehrere unveröffentlichte Briefe Schmidts an Tillich aus den Jahren 1934 und 1935 legen ferner bitteres Zeugnis Uber die Intrigen ab, von denen die Debatte, ihre Konsequenzen und die Einzelheiten der Veröffentlichungen gekennzeichnet sind. In einem Brief vom 17. Februar 1935 notiert Schmidt zahlreiche Befürwortungen und Beschwerden darüber, daß größere Zeitungen, wie z.B. die „Frankfurter Zeitung", bisher geschwiegen hätten. 4 In einem wichtigen, höchst polemischen Brief vom 25. Februar 1935 schreibt er, daß er sein Verlagshaus (J.C. Hinrichs) gebeten habe, Hirschs „Christliche Freiheit und politische Bindung" mit Hirschs Antwort auf Tillich, den
„Brief
an Herrn Dr. Stapel", Tillich nach New York zu schicken.
Schmidt greift hierin Hirsch und Wilhelm Stapel in ungewöhnlich harter und beißender Sprache an. Dieser Brief vermittelt den deutlichen Eindruck, daß hinter der Tillich-Hirsch-Kontroverse sehr viel tiefere und länger bestehende Differenzen zwischen zwei theologisch-politischen Lagern liegen. Stellvertretend dafür stehen die beiden Herausgeber mit ihren radikal unterschiedlichen Strategien, Karl Schmidt („Theologische Blätter") und Wilhelm Stapel („Deutsches Volkstum"), die sich gegenseitig öffentlich denunzierten. 5 3
4
5
Zit. von Karl L. Schmidt, Nachtrag 'Zum offeneil Brief Paul Tillichs an Emanuel Hirsch', in: Theologische Blätter 14,2, S. 62. Schmidt an Tillich, 17.2.1934. Diese Reihe unveröffentlichter Briefe Schmidts an Tillich wird aufbewahrt im Tillich-Archiv der Andover Library, Harvard Divinity School. Die persönliche Feindschaft zwischen Schmidt und Stapel als Herausgeber zweier Zeitschriften mit sehr verschiedenen herausgeberischen Einstellungen zeigt sich in
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Diese Briefe zeigen, daß die Tillich-Hirsch-Debatte nicht von der in ihren Ausmaßen sehr viel größeren Schmidt-Stapel-Feindschaft zu trennen ist, die selbst wiederum Ausdruck ist einer lang anhaltenden parteipolitischen Feindschaft zwischen linken und rechten theologischen und politischen Lagern, jedes mit eigenen repräsentativen Zeitschriften. Dies hat zur Folge, daß nicht nur die Positionen Schmidts und Stapels, sondern auch die Tillichs und Hirschs zu relativieren sind. Schmidt berichtet in dem oben genannten Brief vom 25. Februar, daß er sogar noch vor Hirschs Antwort (deren Form er als unangebracht empfindet, weil sie nicht als offener Brief an Tillich, sondern an Stapel gerichtet ist) über die vielen positiven Reaktionen auf Tillichs Brief berichtet habe, um seinen Lesern deutlich zu machen, wie isoliert Hirsch trotz der Tatsache sei, daß es nach wie vor einige Theologen geben mag, die seine Ansichten teilten. Für Schmidt ist es bemerkenswert, wie groß die Zahl der Theologen war, die sich gegen Hirsch stellt. Die Verbindung von Hirsch, Stapel, Gogarten und H.M. Müller gilt ihm als politische Allianz auf dem Boden einer Pseudotheologie; er schwört, deren Ansichten zu bekämpfen. Hirschs Reaktion auf Tillich sei flach; die gegenseitige Bewunderung Hirschs und Stapels sei sowohl traurig als auch komisch; Hirsch umgehe die eigentlichen Fragen (Tillichs) und sei von dem, was politisch in Deutschland wirklich geschehe, nicht unterrichtet.
Briefen von Schmidt an Tillich (25.2.1935), von Schmidt an die J.C. Hinrichsche Buchhandlung (2.5.1935) und in einer ausführlichen Verteidigungsschrift gegen einige von Stapel erhobene Vorwürfe in: Zum offenen Brief Paul Tillichs an Emanuel Hirsch, in: Theologische Blätter (Januar 1935), S. 25-27. Schmidt schreibt hier: „Als Herausgeber und Schriftleiter der ThBl muß ich Wert darauf legen, auf dieses Echo aufmerksam zu machen, weil Wilhelm Stapel im 2. Dez.-Heft seines 'Deutschen Volkstums' auf den Gedanken gekommen ist, die ThBl wie auch die 'Christliche Welt' politisch zu denunzieren. Zu Tillichs Brief weiß er nichts anderes zu sagen als dies: 'Tillich benutzt die frühere Jugendfreundschaft, um dem nationalen Theologen (seil. Emanuel Hirsch) per Du Sottisen zu sagen. Uber die Grenze her. Emigranten-Theologie, Import via Leipzig. Man wird immer ungenierter.' Daß und wie der Herausgeber des 'Deutschen Volkstums' mich als 'alten Spezialgegner aus der Zeit des Kultusministers Grimme' apostrophiert, ist mehr als eine 'Sottise'. Daß ich als evangelischer Pfarrverweser in Lichtensteig - dieses über 700 Jahre alte Toggenburger Städtchen liegt in der deutschen Schweiz - 'immer noch die Theologischen Blätter' leite, wird mir aus einem peinlich durchsichtigen Grunde vorgehalten" (Schmidt, Zum offenen Brief Paul Tillichs an Emanuel Hirsch, S. 26-27).
Schlußbetrachtungen
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Doch Schmidt hat gleichzeitig Schwierigkeiten mit Tillichs Theologie, was die Komplexität der einbezogenen Fragestellungen zeigt und verdeutlicht, wie uneins Theologen des gleichen Lagers damals sein konnten. In einem langen Brief an Tillich von 26. April 1935 dankt er diesem dennoch für seine inhaltlich wie formal gute Antwort und verspricht, sie auf der Titelseite der Maiausgabe der „Theologischen Blätter" zu drucken, obwohl er starken Widerstand von seinem Verleger Hinrichs erwartet, der den Druck der neuen Regierung auf seinen Verlag zu spüren beginnt.6 Schmidt teilt insbesondere Tillichs Beurteilung von Hirsch und Barth als „Sünder" gegen die Formulierung von Chalcedon - wenngleich aus konträren Blickwinkeln. Er sieht darin seine eigene These bestätigt, daß Barth in der Gefahr einer doketischen Christologie und Ekklesiologie steht. 7 Schmidt hat jedoch auch Probleme mit Tillichs Reich-Gottes-Begriff und damit, in welchem Verhältnis Gottesreich und Kirche zueinander stehen; er legt an dieser Stelle eine kritische Analyse von Tillichs Theologie vor. Zu dieser Kritik soll hier nur so viel bemerkt werden, daß Schmidt die Verdinglichung des Reiches Gottes durch die Schwärmer im 16. Jahrhundert gewissermaßen als Vorläufer des Religiösen Sozialismus und der Deutschen Christen betrachtet. Für ihn sind Reich Gottes und Kirche zwei getrennte Wirklichkeiten, die nicht miteinander vermischt werden dürfen, nicht einmal dann, wenn beide eschatologisch interpretiert werden. Die Kirche als Instrument und Zeugnis des Reiches Gottes und nicht als das Gottesreich selbst müsse d e n dämonischen Elementen im totalitären Staat gegenübertreten. Und schließlich, wenn es hoffnungslos sei, von Hirsch eine Veränderung seiner Position zu erwarten, könne er (Schmidt) über die persönlichen „Gefühlswerte" zwischen Tillich und Hirsch nur in Skepsis schweigen. Diese Einschätzung Tillichs durch seinen Freund und Herausgeber erhellt einige interessante Punkte, auf die wir bereits des öfteren in unserer Studie hingewiesen haben. Trotz aller Differenzen zwischen Tillich und Hirsch gibt
6
7
Schmidt an Tillich, 26.4.1935. Auf die Problematik mit der J.C. Hinrichsche Buchhandlung wurde bereits eingegangen; vgl. oben, S. 375, Anm. 85. Nach Schmidt ist Barth ihm wegen dieses Vorwurfs so böse, daß er seit einiger Zeit den Kontakt mit ihm meidet (Schmidt an Tillich, 26.4.1935).
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es offenbar manche tiefere Affinität, nicht allein theologischer sondern auch persönlicher Art, was Schmidt „Gefühlswerte" nennt. Im besonderen markiert Schmidt jedoch die Gemeinsamkeiten der Deutschen Christen und der Religiösen Sozialisten: sie hätten von den „Schwärmern" des 16. Jahrhunderts das Verständnis des Gottesreiches als einer objektiven Wirklichkeit übernommen. Obwohl dies keine genaue Interpretation von Hirschs Reich-Gottes-Begriff ist - wie wir immer wieder gesehen haben, trennt Hirsch klar das Reich Gottes als innere Realität vom Reich der Welt (in diesem Fall dem deutschen nationalsozialistischen Staat) -, ist Schmidts Beurteilung von Tillich durchaus zutreffend, und er meint zurecht, daß Tillich und Hirsch bei der .Politisierung" der Theologie ähnliche Kategorien verwenden. Eine ganz andere Interpretation des Tillich-Hirsch-Briefwechsels und der grundsätzlich darin angesprochenen Fragen bietet Hanns Rückert in seinem Aufsatz:
„Echte
Probleme und falsche Parolen", der in der Märzausgabe der
„Deutschen Theologie" erschien und den Schmidt an Tillich in das Union Theological Seminary schickte. 8 Rückert, der eindeutig mit Hirsch sympathisiert, verteidigt zunächst die Länge seines Aufsatzes mit den Argumenten, daß (1) Tillich und Hirsch grundsätzliche Fragen diskutiert hätten, die über ihre persönlichen Differenzen hinausgingen und deren richtige Beantwortung große Bedeutung für das Schicksal der deutschen evangelischen Kirche haben werde, und (2) die Tillich-Hirsch-Debatte von einem Ungleichgewicht zwischen dem wahren theologischen Zustand und der momentanen kirchenpolitischen Situation zeuge, was das gesamte innere Leben des gegenwärtigen Protestantismus verfälsche, vergifte und lähme. Jede theologische Zeitschrift, die ihre Aufgabe erkenne, müsse versuchen, dem entgegenzuwirken. Rückert hält Hirschs Weg, den Beschuldigungen Tillichs in Form eines Briefes an Dr. Stapel zu begegnen, durchaus für angebracht, weil damit
Hanns Rückert, Echte Probleme und falsche Parolen. Zur Auseinandersetzung zwischen Hirsch und Tillich, in: Deutsche Theologie. Monatsschrift für die Deutsche Evangelische Kirche 2,2-3 (Februar-März 1935), S. 36-45. Nach Klaus Scholder gehörte Rückert, ein junger Tübinger Kirchengeschichtler, zur Holl-Schule und betrachtete die deutschnationale Revolution als Herausforderung an die Kirche, verbunden mit der Frage, „ob sie die innere Kraft besitzt, um eine große Wende des deutschen Schicksals von Gott her zu deuten und gestaltend an ihr Anteil zu nehmen" (Die Kirche und das Dritte Reich, S. 545).
Schlußbetrachtungen
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schneller auf den Punkt zu kommen und die schmerzliche persönliche Seite der Debatte zu umgehen sei. Er kritisiert besonders Schmidts Rolle bei der Veröffentlichung der Debatte sowie Tillichs zentrale These, Hirsch habe einige seiner religiös-sozialistischen Kategorien kopiert und sei ein Beispiel dafür, was der Nationalsozialismus im größeren Stil getan habe: den Marxismus geistig seiner zentralen Begriffe zu berauben und auszuplündern. So schreibt Rückert: Einem durch die Ereignisse so schwer getroffenen und verbitterten Manne wie Tillich kann man diesen Gedanken zur Not noch zugute halten. Aber daß unter den vielen Stimmen, die in deutschen theologischen und kirchlichen Zeitschriften mit Befriedigung von der Abfuhr Hirschs durch Tillich Kenntnis genommen haben - K.L. Schmidt hat Uber sie ad maiorem gloriarti seines Blattes getreulich Buch geführt -, meines Wissens nicht eine und wäre es auch in der für Tillich mildesten Form - Zweifel an der Richtigkeit dieser Anklage auf geistigen Diebstahl geäußert hat, das wirft ein sehr viel schlimmeres Licht auf die innere Haltung gegenüber dem kirchenpolitischen Gegner, die wir uns inzwischen einzunehmen angewöhnt haben. Denn man mag zu Hirschs theologischer und kirchenpolitischer Entwicklung stehen wie man will, dies eine wird ihr jeder zugestehen müssen, der seine geistige Urteilsbildung von dem Einfluß kirchenpolitischer Affekte einigermaßen freihalten kann, daß sie innerlich folgerichtiger ist als vieles, was wir in dieser Beziehung während der letzten zwei Jahre auf beiden kirchenpolitischen Fronten erlebt haben. Angesichts des mühe- - um nicht zu sagen: qualvollen Ringens mit Fichte, Luther und Kierkegaard, durch das dieser geistige Werdegang bestimmt ist und dessen Siege und Niederlagen in Hirschs Schrifttum vor aller Augen liegen, erscheint der Vorwurf einer - noch dazu bewußt getarnten - Anleihe beim religiösen Sozialismus als eine blanke Lächerlichkeit. Ich bewundere die Geduld, mit der Hirsch sie im einzelnen widerlegt.9 Rückert bespricht weiterhin Hirschs Antwort auf das, was er für die drei wesentlichen Vorwürfe Tillichs hält: (1) Hirsch habe getan, was für Christen nicht erlaubt sei: einen geschichtlichen Moment - die nationalsozialistische Revolution - zu verabsolutieren ; (2) Hirsch habe die totalitären Ansprüche des Staates unterstützt, ohne der Kirche und dem Geist einen Freiraum zu gewähren; (3) Hirsch habe diese geschichtlichen Ereignisse zu einer zweiten Offenbarungsquelle neben der ersten, der biblischen Botschaft, erhoben. Wir
9
Rückert, Echte Probleme und falsche Parolen, S. 38.
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wollen hier Rückerts Verteidigung von Hirsch nicht ausführlich untersuchen und stellen nur fest, daß er mit Hirsch, außer in einigen unwichtigen Punkten, Ubereinstimmt. Dagegen soll nicht unerwähnt bleiben, daß Rückert beeindruckt ist von Hirschs Verständnis der vorbehaltlosen Pflicht des einzelnen, gegenüber Eltern und Herrschenden gehorsam zu sein, wie Luther das in den Katechismen fordert, einschließlich der Unbedingtheit des Treueids, der von christlichen Beamten und Soldaten abgelegt wird. Was er Uber Hirsch und den Eid sagt, erhellt daher nicht nur Hirschs Position, sondern zeigt, welcher Überlegungen sich damals viele bedienten, um ihren Treueid auf Hitler mit Hilfe einer Lutherinterpretation zu rechtfertigen: Ich halte die tragenden Sätze dieser Anmerkung für richtig: daß die Anrufung Gottes beim Eid keinen Vorbehalt in sich schließt, daß „Treue und Gehorsam sich auch darin ausdrücken können, daß der Beamte" sollte ihm jemals gegen sein christliches Gewissen zu handeln zugemutet werden - „die Ausführung des Befehls verweigert und Dienstentlassung oder Bestrafung willig auf sich nimmt", daß das Aussprechen eines Vorbehalts zur Vermeidung etwa entstehender Gewissenskonflikte oder etwa sich ergebender Strafen unmöglich ist und daß dem Eid auf eine Person keine christlichen Bedenken entgegenstehen. Auf diesem Boden stehen wir ja wohl alle, die wir den Eid auf Adolf Hitler geleistet haben.10 Obwohl Rückert grundsätzlich mit Hirsch Ubereinstimmt, hat er jedoch in zweierlei Hinsicht Schwierigkeiten mit Hirschs Argumentation. Erstens wünscht er sich, Hirsch hätte sich von den Voraussetzungen seiner eigenen Situation distanzieren können, so z.B., wenn Hirsch schreibt, er habe niemals den Treueid auf die Weimarer Verfassung abgelegt, weil niemand je einen solchen Eid von ihm verlangt habe. Rückert fragt, was die vielen davon halten sollen, die einen solchen Eid auf den liberalen Staat ablegt haben. Zweitens findet er Hirschs Verteidigung des vorbehaltlosen Treueids problematisch. Jeder Vorbehalt macht für Hirsch den Eid unwürdig und die Person unwert. „Wer unter Anrufung Gottes den Treueid ohne Vorbehalt leistet mit weiter nichts als dem guten Zutrauen, daß der Empfänger des Treuversprechens den 10
Ibid., S. 39. Rückert bezieht sich hier auf eine lange Fußnote Hirschs zur „Evangelischlutherischen Lehre vom Treueid", in: Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 32-34/200-201.
Schlußbetrachtungen
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Schwörenden nicht in Konflikt mit seinem christlichen Gewissen bringen wird, schwört leichtfertig und ist unwürdig, den Treueid zu leisten." 11 Nach Rückert fällt Hirsch hier „in denselben Fehler wie Tillich: er macht sich einen Popanz als Gegner zurecht oder - was dasselbe ist - er meint mit einem extremen Grenzfall ein ganzes Problem erledigt zu haben." 12 Hirschs Argumentation, so Rückert, dringe nicht zum Kern der Sache vor: Nur wer dem ernsthaft ins Auge sieht, daß der Gott, den er anruft, die Geschichte durch menschliche Irrtümer hindurch zu seinem Ziel führt, und daß das Gewissen sowohl des die Treue empfangenden wie des die Treue gelobenden Menschen fehlbare menschliche Gewissen sind, die auch bei subjektiv reinstem Wollen auf beiden Seiten miteinander in Konflikte kommen können, nur der ist würdig, den Eid ohne Vorbehalt zu leisten. 13 Rückert unterstützt also Hirschs lutherische Zwei-Reiche-Lehre gegen Tillich und vertieft Hirschs kritische Aussage Uber Theologen, die „noch immer dazu neigen, wie vormals Augustin, Volk und Staat mit dem Reich der Welt gleichzusetzen und die verfaßte Kirche mit dem Reich Gottes ,..". 1 4 Auch wenn hier sowohl Hirsch als auch Rückert Tillich im Blick haben, erkennt Rückert im Nationalsozialismus die gleiche Gefahr, d.h. daß einige Vertreter der „Bewegung" die empirische Kirche mit der eschatologischen Kirche identifizieren und so unbeabsichtigt dem liberalen Geist erliegen könnten: 11 12 13
14
Ibid., S. 40. Ibid. Ibid. Rückert findet Hirschs andere Formulierung des gleichen Problems annehmbarer: „'Ich gebe und gelobe' Treue und Gehorsam 'der irdischen Stelle im Vertrauen auf den Gott, in Gehorsam unter den Gott, der sie mich geben und geloben heißt, und dies letzte Vertrauen und Gehorchen trägt und heiligt mich in meiner ganzen Hingabe hinein in die irdische Bindung. Gefallt es Gott, mir meine bestimmte Haltung als falsch zu zerbrechen, so muB ich aus zernichtender Beschämung über solches Gericht heraus mich wiederum zu Vertrauen und Gehorsam unter ihm hinfinden und darin neu gebundene Haltung erringen, und die neue Haltung wird wiederum echte Verwirklichung des Lebens in irdischer Bindung sein"' (ibid., S. 40-41). Diese wichtige Aussage Hirschs ist eine Zusammenfassung seiner gesamten Gewissensethik, die seiner politischen Entscheidungsfindung zugrunde liegt und den Einfluß Kierkegaards widerspiegelt, wo letzte sittliche Entscheidungen nicht aufgrund rationaler Kriterien, sondern aufgrund eines esistenti alen Glaubenssprungs in die gegebene Situation getroffen werden (vgl. Ericksen, Theologen unter Hitler, S. 45, 210). Echte Probleme und falsche Parolen, S. 43.
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Wenn die Kirche sich selbst mißversteht als die irdische, durch das Gesetz bestimmte Ordnung, in der sich ein „zugleich (uns) verheißenes und (von uns) gefordertes Gottesreich" verwirklicht, dann kann sie von einem Liberalismus, der - wenn auch auf ganz andere Weise - an eine immanente Verwirklichung des Gottesreiches glaubt, als seine Bundesgenossin empfunden werden und umgekehrt ihn als ihren Bundesgenossen empfinden und es können jene Verwechslungen stattfinden, die für die Kirche gleichbedeutend wären mit innerer Auflösung. Daß ausgerechnet Tillich in so weiten Kreisen, die vor zwei Jahren noch drei Kreuze hinter seinen Namen gemacht haben, als willkommener Vorkämpfer für die evangelische Kirche aufgenommen worden ist, ist ein Zeichen, das zu denken gibt. 1 5 Rückert, der auf Hirschs Seite steht, beurteilt folgerichtig die grundsätzlichen Fragen auch ganz anders als Schmidt. Er steht der Verbindung zwischen Tillich und Schmidt höchst kritisch gegenüber und meint, Hirschs Kritik an Tillich sei noch nicht deutlich genug. In der Ausgabe der „Theologischen Blätter" vom Juni 1935 schenkt Schmidt gleichwohl Rückerts kritischem Aufsatz, besonders aber den persönlichen Bemerkungen Uber ihn (Schmidt) und der Charakterisierung Tillichs als „verbitterter Mann", große Aufmerksamkeit. Er erwähnt, daß er den Rückert-Artikel nach New York hat schicken lassen, und Uberläßt es Tillich, auf Rückerts Vorwurf zu reagieren, daß Hirsch die „echten Probleme" behandelt habe, während Tillich nur „falsche Parolen" ausgebe. 16 Tillich scheint die Herausforderung jedoch nicht angenommen zu haben. Art und Umfang der Antworten deutscher Gelehrter in bekannten theologischen und kirchlichen Zeitschriften, wie wir sie kurz beleuchtet haben, fördern wichtige Aspekte der Debatte und ihres Hintergrunds zutage. Sie zeigen, wie weit die Tillich-Hirsch-Kontroverse Uber persönliche Differenzen hinausgeht und grundsätzliche, höchst kritische Fragen der gesamten deutschen theologischen und kirchenpolitischen Gemeinschaft berührt. Die Antworten verdeutlichen gleichzeitig die Leidenschaftlichkeit und Intensität der Gegensätze in den verschiedenen theologisch-politischen Lagern, wie das
15 16
Ibid., S. 43. Schmidt, Zur Auseinandersetzung zwischen Tillich und Hirsch, S. 158.
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Beispiel der gegenseitigen Denunzierung Schmidts und Stapels zeigt. Tillich und Hirsch waren also, trotz ihres je unabhängigen Denkens, Vertreter umfassender theologischer, kirchlicher und politischer Positionen in Deutschland. Letzten Endes erhalten wir sogar einen Einblick in die Komplexität und Unterschiedlichkeit der Positionen der Verbündeten im gleichen Lager. Schmidt beispielsweise, der Tillichs Kritik an Hirsch veröffentlicht und unterstützt, findet dennoch Fehler an Tillichs Verständnis des Gottesreiches und seines Verhältnisses zur Kirche. Auf der anderen Seite verteidigt Rückert Hirsch fest gegen Tillich, meint aber, Hirsch habe sich nicht genug von seiner eigenen Situation distanziert, und meldet Bedenken an Hirschs Erklärung des Treueids an.
Eine kritische Beurteilung der Vorwürfe Wir sind am Ende unserer Studie über Leben und Denken Emanuel Hirschs und Paul Tillichs, ihres Verhältnisses zueinander, das in der Debatte von 1934-35 gipfelt, und des „Echos" auf diese Kontroverse in deutschen theologischen Kreisen angelangt. Es bleibt noch ein Blick auf die gegenseitigen Vorwürfe, wie wir sie am Ende der Kapitel 8 und 9 zusammengefaßt und hier für eine weitere Analyse neu formuliert haben. In unserer Studie über das Denken Hirschs, wie es sich von 1914 bis 1933 entwickelte, haben wir im Gegensatz zu Gunda Schneider-Flume und in Übereinstimmung mit Jens Holger Schjorring die Kontinuität von Hirschs theologischer und politischer Entwicklung als Argument gegen Tillichs ersten Vorwurf in seinem offenen Brief von 1934 betont: Hirsch habe aus Opportunismus Tillichs religiös-sozialistische Kategorien plagiiert und sie mit nationalsozialistischem Gehalt gefüllt. 17 Richtig ist, daß die geschichtlichen Ereignisse von 1933 Hirschs
17
Eine von Schneider-Flumes Thesen ist, daß Hirschs politisches und theologisches Denken in der Zeit der Weimarer Republik, die er bekämpfte, und während der Erfolge des Nationalsozialismus, den er vollen Herzens unterstützte, einen grundlegenden Wandel erfuhr. Schneider-Flume meint, diese Veränderung sei ein plötzlicher Wechsel von einer entscheidungsorientierten Gewissenssethik in den 20er Jahren hin zu einer Wirk-
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theologisches Verstehen und dessen Ausdruck tief beeinflußten und formten, wie das die Ereignisse von 1914 und 1918 bereits getan hatten. Ebenfalls ist richtig, daß die nationalsozialistische Revolution - als streng führerorientierte Bewegung nationaler Wiedergeburt, nach der sich Hirsch lange gesehnt und für die er während der gesamten 20er Jahre gekämpft hatte - und der damit im Sommer 1933 verbundene theologische Aufruhr Hirsch neue Begriffe und eine neue Terminologie an die Hand gaben, besonders die Begriffe des Horos und des Nomos. Zugegebenermaßen hatte Hirschs (heiliger und geschichtlicher) Horos, den er benutzte, um die Beziehung des Ewigen zum Menschlich-Geschichtlichen zu erklären, Ähnlichkeit mit Tillichs Vorstellung des Kairos. Dennoch hält der Vorwurf, Hirsch habe diese Vorstellung von den Religiösen Sozialisten kopiert - und dieses Plagiat verdeckt - einfach einer sorgfältigen, genauen Untersuchung seiner unabhängigen und konsistenten theologischen Entwicklung seit 1914 nicht stand. Hirsch war ein zu unabhängiger Denker - wie selbst Barth, sein leidenschaftlicher Gegner und Kollege, bereits in den frühen 20er Jahren anerkannt hatte -, um unehrenhaft von den Gedanken eines anderen zu stehlen. 18 Wenn aber Hirsch ein unabhängiger Denker war und wenn er tatsächlich andere theologische und politische Voraussetzungen für seine Kategorien des Horos und des Nomos hatte, warum erhebt dann Tillich diesen Vorwurf des Plagiats? Der offensichtlichste Grund ist persönlicher Art: Tillichs Ruf stand auf dem Spiel. Seine Freundschaft mit Hirsch war all die Jahre wohl bekannt, und er wollte offensichtlich seine Differenzen mit Hirsch in Bezug auf alle politischen Dinge klären. Sein Ausbruch zeigt, wie zielsicher er dem möglichen Vorwurf vorbeugt, seine eigene religiös-sozialistische Theologie und Hirschs Form der politischen Theologie hätten wesentliche Merkmale gemein. Tillichs theologisch-politisches Denken, wie er es während der 20er und frühen 30er Jahre entwickelt hatte, stand als Ganzes in Frage. Tillich gibt zu, daß seine Kairos-Lehre nicht stringent genug war und meint, daß dem Kairos-Begriff
18
lichkeitsethik in den 30er Jahren gewesen (Gunda Schnei der-Flume, Die politische Theologie Emanuel Hirschs 1918-1933, bes. S. 128ff). Karl Barth zum Kirchenkampf, S. 20. Zu Barths Einschätzung von Hirsch als unabhängiger Denker, vgl. oben, S. 296.
Schlußbetrachtungen
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eine stärkere Offenbarungsvorstellung (die Kairos-Offenbarung-Korrelation) beigegeben werden müsse, um ihn vor Mißbrauch zu schützen. Wir haben festgestellt, daß es trotz der theologischen und politischen Differenzen einige Ähnlichkeiten zwischen den beiden Denkern gab. Das ist der Grund dafür, weshalb Tillich und Hirsch zunächst voneinander angezogen wurden. Ähnlich war ihre Kritik an der überkommenen lutherischen Theologie, ihre ambivalente Haltung zur Aufklärung, ihre Forderung gesellschaftlicher Kohärenz, die auf gemeinsamen Werten gründet, und ihre Überzeugung, daß Göttliches und Menschliches, Theologie und Politik irgendwie verbunden werden müssen. Sowohl Tillich als auch Hirsch standen der theologischen Orthodoxie (der lutherischen Scholastik und dem Konfessionalismus) einerseits und dem liberalen Protestantismus des 19. Jahrhunderts mit seinem bürgerlichen Individualismus andererseits kritisch gegenüber. Beide nahmen das kulturelle und politische Leben in ihrer Theologie ernster, als das die vorangegangene Epoche lutherischer Theologie getan hatte. Beide wollten die Entwicklung einer Theologie, bei der eine bestimmte politische Entscheidung bestimmend war (Tillich paßte dabei seine Theologie der politischen Linken an und Hirsch seine der Rechten). Schneider-Flume und Scholder nennen dies ihre „politische Theologie", auch wenn Tillich und Hirsch meines Wissens diesen Ausdruck nie zur Umschreibung ihrer jeweiligen Theologie gebrauchten. Man könnte auch behaupten, daß Hirsch keine politische Theologie vertrat, wegen seines Versuches, so klar zwischen der Vertikale (dem Ewigen) und der Horizontale (dem Politischen) zu unterscheiden. Und doch war es für Hirsch gerade der horizontal-politische Bereich, in dem der einzelne zum Glauben an das Ewige gerufen war. So konnte die Theologie ihre Aufgabe nur im Kontext des Volkes recht erfüllen. In diesem Sinn kann man Hirschs Theologie als .^contextuelle politische Theologie" bezeichnen. Die Kategorien, die sie benutzten, um die politischen Konsequenzen aus ihrer Theologie zu ziehen, ähnelten sich, obwohl sie auf unterschiedlichen theologischen Voraussetzungen fußten und mit gegensätzlichen politischen Inhalten gefüllt waren. Hirsch baute auf die Zwei-Reiche-Theologie Luthers, um den Volksbegriff zu legitimieren, und Tillich fußte auf dem prophetisch-
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eschatologischen Motiv der jüdischen Tradition und dem „protestantischen Prinzip" der Reformation, um das „Proletariat" zu verteidigen. Obwohl das Eintreten für Volk und Proletariat offensichtlich unterschiedliche Orientierungen widerspiegelt - das eine ist partikularistisch, das
andere
internationalistisch -, boten beide politische Lesarten der Theologie. Analysen wie die der westdeutschen Historiker Klaus Scholder und Gunda SchneiderFlume und des Ostdeutschen Detlef Döring betonen diese Ähnlichkeiten zwischen einer linken und einer rechten politischen Theologie. Die Gefahr, daß eine linke politische Theologie und eine rechte politische Theologie die gleichen Kategorien verwenden und so potentiell austauschbar werden, mag Karl Barth teilweise dazu bewegt haben, in den 20er Jahren seiner frühen Neigung zum Religiösen Sozialismus abzuschwören zugunsten einer theologischen Orthodoxie, die aber niemals unpolitisch (oder apolitisch) war, sondern in gewisser Weise immer Uber der Politik stand. Barth verbrachte den Rest seines Lebens damit, eine kirchliche Dogmatik zu schreiben, u m stringente Lehrkriterien für Sozialethik und politische Ethik zu entwickeln. Ein zweiter Vorwurf Tillichs ist, Hirsch irre mit seiner unkritischen Unterstützung des Nationalsozialismus, was in der Zwei-Reiche-Lehre Luthers begründet sei, d.h. er habe einer vorletzten geschichtlichen Wirklichkeit ein ungebrochenes „Ja" zugesprochen und sie damit vergöttlicht. Festzustellen, wie exakt Hirschs Interpretation der lutherischen Zwei-ReicheLehre ist, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen; zudem wäre es auch mehr, als diese Studie zu leisten vermag, wollte man erarbeiten, inwieweit Hirschs Interpretation der Zwei-Reiche-Lehre, wenn überhaupt, eine Wandlung erfuhr, wie Gunda Schneider-Flume meint, um sie der Situation gegen Ende der Weimarer Zeit anzupassen, denn dies erforderte eine detaillierte Untersuchung ihrer früheren und späteren Entfaltung. 19 Es ist richtig, daß Hirsch zwischen 1918 und 1932 außerhalb oder gar in Opposition zum politischen Hauptstrom der Weimarer Republik stand. Seine 19
Schneider-Flume ist der Meinung, daß mit Hirschs zunehmender Enttäuschung über die deutsche Politik der Weimarer Republik auch seine Interpretation der Zwei-Reiche-Lehre eine Wandlung erfuhr, wobei er die beiden Reiche immer schärfer voneinander getrennt und sich immer expliziter vom existierenden Staat losgesagt habe (vgl. Schneider-Flume, Die politische Theologie Emanuel Hirschs 1918-1933, S. 122).
Schlußbetrachtungen
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Haltung einer,Jai ti sehen Opposition" in den 20er Jahren wandelte sich aber zu einer vorbehaltlosen Unterstützung, als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen. Diese politische Wende war jedoch keine fundamentale Wende in Hirschs theologischem Denken, sondern entsprach seinem „konservativen" Verständnis der Gottgegebenheit von Wesen und Aufgabe der Regierung und Obrigkeit. Die Tatsache, daß er sich von der Weimarer Republik distanzierte auf die er nie einen Eid ablegt hatte -, und daß er Hitler und den Nationalsozialismus 1933 uneingeschränkt unterstützte (obwohl er der Partei erst 1937 beitrat, als die meisten bekannten protestantischen Theologen der „Bewegung" bereits enttäuscht den Rücken gekehrt hatten), folgten durchaus konsequent aus seinem Denken. Sie leiten sich aus dem ab, was er als die legitime Aufgabe der irdischen politischen Autorität betrachtete. Die Voraussetzung dafür ist eine strikte Trennung der sichtbaren, äußeren politisch-rechtlichen Sphäre, die von der Norm der Gerechtigkeit, der Forderung des Gehorsams und ihrer besonderen gottgegebenen Aufgabe der Bestrafung des Bösen und des Schutzes des Guten durch einen angemessenen Gewaltgebrauch bestimmt wird einerseits, und der unsichtbaren, inneren, geistigen Gewissenssphäre andererseits, der verborgenen Beziehung des einzelnen zu Gott, die bestimmt ist von der gewaltlosen Liebe und der Wirklichkeit geistiger Freiheit. Hirsch glaubte, daß die politischen Ansichten der Weimarer Republik ebenso wie die „theologisch marxistischen" Möglichkeiten der Epoche, die vom Religiösen Sozialismus vertreten wurden, nicht Ubereinstimmten mit dem einzigartigen reformatorischen, deutsch-christlichen Verständnis der Beziehung des Menschlich-Geschichtlichen zum Christlichen, wie es Luther am besten formuliert hatte. Auch wenn er sich der Unsicherheit der Situation und der Gefahren, sowie des möglichen Mißerfolges der Revolution völlig bewußt war, unterstützte er den Nationalsozialismus nicht aus Opportunismus, sondern aus seiner festen Überzeugung heraus, daß die Führer der Revolution ihre gottgegebene irdische, menschlich-geschichtliche Aufgabe recht verstanden und sich dem Herrn der Geschichte verantwortlich wußten. Er dachte, der Erfolg der Revolution hänge zum großen Teil davon ab, wie vorbehaltlos die
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evangelische Kirche an der erzieherischen Aufgabe der neuen Epoche teilnähme und mitarbeite. Tillichs Vorwurf des Götzendienstes bzw. der Verabsolutierung einer endlichen, irdischen Wirklichkeit wiegt schwer. In welchem Maß heiligte Hirsch den Nationalsozialismus oder das deutsche Volk bedingungslos? Diese Frage muß auf zwei Ebenen gestellt werden. Erstens: Vergöttlichte Hirsch bewußt und absichtlich den Nationalsozialismus und das deutsche Volk durch seinen Volksbegriff und seine theologische Unterstützung der Ereignisse von 1933? Zweitens: Wenn die Antwort auf diese erste Frage negativ wäre, müßte immer noch gefragt werden, ob er den Nationalsozialismus als politische Bewegung und das deutsche Volk als eine irdische, menschlich-geschichtliche Wirklichkeit defacto vergöttlichte, ohne es zu beabsichtigen. Die Antwort auf die erste Frage muß mit Sicherheit ein Nein sein. Hirsch sprach dem Nationalsozialismus und dem deutschen Volk nicht absichtlich göttlichen oder absoluten Status zu. Es ist richtig, daß er in gewisser Weise die nationalsozialistische Revolution als eine „heilige Bewegung" verstand, d.h. als Ausdruck und Verkörperung des göttlichen Willens für das deutsche Volk. Ironischerweise war es gerade Hirsch, der in den 20er Jahren Tillich den Vorwurf machte, eine irdisch-geschichtliche Wirklichkeit (das Proletariat) als eine „heilige Bewegung" zu verstehen, indem er sie als Vorbereitung zur Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden betrachte. Hirsch betonte immer wieder, daß das Reich Gottes und das Reich der Welt unterschieden werden müßten, um Idolatrie zu verhindern. Seine gesamte lutherische Zwei-ReicheLehre ist ein Versuch des Schutzes gegen Idolatrie und Vergöttlichung, deren Tillich ihn beschuldigt. Hirsch machte deutlich, daß er das Reich Hitlers und der Nationalsozialisten (das Dritte Reich) nicht als das Gottesreich betrachtete, sondern lediglich als das Reich der Welt, das Reich Deutschlands. Hirsch erinnerte auch Ubereifrige deutsche Nationalisten an die Gefahren der Vergöttlichung des Volkes, sowie daran, daß das Volk zwar die höchste irdisch-leibliche Gemeinschaft ist, aber immer eine zeitliche, endliche und vergängliche Wirklichkeit bleibt. Das Volk in irgendeiner Weise als ewig zu betrachten zeugt nach Hirsch von einem Mangel an ernsthafter theologischer Reflexion. Sein Kriegsbegriff, sowie seine Verteidigung des Krieges bleiben
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gebunden an die Vorstellung, daß im Krieg das Schicksal und der Wille des Volkes auf die Probe gestellt sind. Im Krieg richtet Gott die Völker. Seine Kritik an den Deutschen Christen (und damit der Grund, weshalb er seine formale Mitgliedschaft zurückzog) ist gerade, daß einige fanatische Elemente der Bewegung die beiden Reiche verwechselten und so in eine vorchristliche, heidnische Identifizierung von Religion und Volk verfielen. Auf dieser Ebene ist darum Tillichs Vorwurf der Vergöttlichung ungerechtfertigt. Was die tatsächliche, aber unbeabsichtigte Verabsolutierung des deutschen Volkes und des nationalsozialistischen Staates angeht, hat Tillichs Vorwurf jedoch mehr Gewicht. Im strengen Sinn beschreibt das Wort „Vergöttlichung" Hirschs Haltung zum Nationalsozialismus und zum deutschen Volk nicht genau. Hirsch vergöttlicht eindeutig weder den Nationalsozialismus oder die nationalsozialistische Revolution noch das deutsche Volk selbst, er gibt ihnen keinen göttlichen, ewigen, absoluten Status. Das grundsätzliche Problem mit Hirschs gesellschaftspolitischer Ethik scheint jedoch der Mangel wirklicher theologischer Kriterien zu sein, anhand deren die Ergebenheit an das Eigene die eigene Familie, den eigenen Stamm, das eigene Volk und den eigenen Staat - beurteilt werden können. Offenbar gibt es, wenn überhaupt, nur wenige öffentlich zugängliche und diskutierbare theologische Normen, mit denen der Christ die Aktivitäten politischer Bewegungen wie des
Nationalsozialismus
und die eigene Nation einschätzen, beurteilen und kritisieren kann, und anhand deren das Maß und der Ort der Ergebenheit und des Widerstands des einzelnen bestimmt werden können. Stattdessen findet man sich einfach von Gott in eine bestimmte irdische Situation geworfen, und der Gehorsam gegenüber Gott verlangt in dieser zweideutigen Situation zweifelsfreie irdische Treue zu dem Eigenen. Bereits zwischen 1911 und 1916, sei ihm, so Hirsch, der rätselhafte Charakter des göttlichen Willens für den einzelnen bewußt geworden. Für ihn gibt es keine klaren sittlich-religiösen Leitlinien für menschliches Handeln in der Geschichte. Der Mensch kann nicht vorher wissen, ob er in zweideutigen Situationen die richtige Entscheidung trifft. Der göttliche Wille ist nur im Rückblick, im Wagnis, wenn die Würfel bereits gefallen sind, zu erkennen, und auch dann nur partiell. An dieser Stelle greift die Rechtfertigungslehre, die
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Erkenntnis, daß man trotz falscher Entscheidungen gerechtfertigt ist. 2 0 Allerdings sollte die Kritik an mangelhaften Kriterien nicht zu weit geführt werden. Hirsch stellt einige allgemeine Bedingungen auf, die eine Regierung erfüllen muß, um volle Unterstützung zu erfahren. Aufgrund dieser allgemeinen Vorstellungen von guter und schlechter Regierung trifft Hirsch seine Entscheidung gegen Weimar und für den Nationalsozialismus: Politische Bewegungen müssen danach beurteilt werden, ob ihre Führer sich in ihren Einzelgewissen dem Herrn der Geschichte verantwortlich wissen; ob der Volksnomos als eine Grenze betrachtet wird, die nicht überschritten werden darf; ob der Staat Disziplin, Ehre und Opfer der einzelnen zugunsten des Ganzen fordert und ob der Nationalstaat seine Zeitlichkeit anerkennt und sich auf die Strukturierung des irdischen, geschichtlichen und politischen Lebens begrenzt. 21 Hirsch dachte, der Nationalsozialismus und seine Führer (ohne die fanatischen Extremisten) erfüllten diese Bedingungen in einer Art, wie es die Weimarer Regierung nicht getan hatte. Trotz dieser allgemeinen Kriterien für eine gute Regierung stimmt einiges an Schneider-Flumes ansonsten eher zu hartem Vorwurf, Hirsch fliehe in die Irrationalität, in das innere Gewissen, wo keine äußeren rationalen Normen greifen. 22 Hirsch verteidigt Vernunft und Freiheit, aber nur als Diener einer absoluten Ergebenheit an Volk und Staat. Zu Beginn seiner Vorlesungen von 1933 („Die gegenwärtige geistige Lage") fordert er ein „klares und hilfreiches Denken". Er lehnt Tillichs freischwebende Freiheit und autonome Vernunft des 19. Jahrhunderts ab, da ihnen die sittliche „Gebundenheit" an das Eigene 20 21 22
Vgl. Mein Weg in die Wissenschaft, S. 3. Vgl. Brief an Herrn Dr. Stapel, S. 35ff. Einer der Hauptvorwiirfe Schneider-Flumes ist, Hirschs Gewissensethik sei im wesentlichen eine Flucht aus der Realität in das Gewissen. Außer dem Gewissen gebe es keine Normen, d.h. die einzigen Normen seien diejenigen, die das Gewissen als Ausdruck des ewigen Guten anerkennt, aber diese könnten weder diskutiert noch beurteilt werden. Konsequenterweise werde so das Gewissen verabsolutiert zur einzig normativen Instanz und verbunden mit einer heiligen Pflicht, die historische Aufgabe zu erfüllen. Vernunft werde ersetzt durch intuitive Entscheidungsfindung (vgl. Schneider-Flume, Die politische Theologie Emanuel Hirschs 1918-1933, S. 77,84,88ff). In gewisser Weise war Hirschs „politische Theologie" aber gerade ein Versuch, diese Flucht aus der Realität in reine Spiritualität und falschen Individualismus, die einige frühere Formen lutherischen Denkens und die dialektische Theologie charakterisierten, zu korrigieren und zu vermeiden, um den geschichtlich-sozialen Kontext der Suche nach Gott zu betonen.
Schlußbetrachtungen
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(in erster Linie Volk und Staat) fehle. Er spricht sich wiederholt gegen falschen Individualismus und falsche Spiritualität aus, die vor der Geschichte fliehen. Dennoch individualisiert und spiritualisiert er selbst alle theologischen Normen, indem er sie dem Einzelgewissen zuweist. Darum bleibt Hirschs Verständnis für die Pflicht gegenüber Vaterland, Volk und Staat schließlich vor und außerhalb aller rationalen Kritik, Diskussion und offenen Infragestellung. Das Volk ist für ihn einfach eine historische Gegebenheit, die nicht verändert werden kann, eine Grenze, die unüberschreitbar ist. Es fordert unbedingte Hingabe und wagende Entscheidung im Angesicht von Unsicherheit und im Vertrauen auf den Herrn der Geschichte, im Vertrauen auf richtige Entscheidung. Die Ergebenheit an eine endliche, irdische, gegen jede Kritik und Debatte immune Wirklichkeit ist letztlich - trotz aller Beteuerungen des Gegenteils - eine Form der Verabsolutierung. Hier ist Tillichs Vorwurf sicherlich gerechtfertigt. Hirschs Problem ist der Mangel an theologischen Kriterien, an denen politische Entscheidungsfindung sich orientieren kann und die Spuren von Gottes Handeln in der menschlichen Geschichte bestimmt werden können. Diese Hirschs Denken tragende Intuition ist jedoch nicht als eine persönliche Wende zum Opportunismus in den frühen 30er Jahren zu verstehen, sondern prägt seine Theologie von Anfang an. Sie findet sich in seinem Verständnis von Luthers Zwei-Reiche-Lehre sowie in seinem schicksalhaften Volksbegriff und dessen Gottgegebenheit. Hirsch behauptet, daß die Grenze der Volkszugehörigkeit nicht Uberschritten werden kann. Die Volkszugehörigkeit - die sicherlich biologische, materielle, rassische und geistige Qualitäten einschließt, aber nicht mit ihnen gleichgesetzt werden darf - ist die höchste irdische, von Gott geschaffene Gemeinschaftsbindung, der man sich unterzuordnen und sich zu verpflichten hat, wenn man Sinn in der menschlichen Existenz finden will. Hirsch ist sich des eigenen Ursprungs, der Gegebenheit und der Unausweichlichkeit der eigenen geschichtlichen Situation tragisch bewußt. Indem er jedoch der Volkszugehörigkeit einen solch hohen Status verleiht und sie so eng an die rechtliche, politische und exekutive Gewalt des Staats bindet, macht er die Volkszugehörigkeit „unantastbar". Er schreckt nicht vor Schlußfolgerungen
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zurück, die abzulehnen sind, wie ζ. B., daß Juden und Deutsche rassisch verschieden sind und voneinander getrennt gehalten werden sollten. Auch wenn sie geistig in Christus geeint seien, so seien sie, geschichtlich betrachtet, einander fremd; Juden sollten in Deutschland lediglich „Gaststatus" genießen. Im Gegensatz zu vielen anderen äußert sich Hirsch positiv zu einzelnen Juden, er ermutigt Christen dazu, ihre persönliche Freundschaft mit Juden fortzuführen, ohne dabei der Neustrukturierung der deutschen Gesellschaft ihre Unterstützung zu entziehen. Und er lehnt die Verwendung von Begriffen wie Minderwertigkeit ab, wenn von den Juden als Volk gesprochen wird. 2 3 Dennoch muß er zusammen mit vielen anderen dafür verantwortlich gemacht werden, daß er sich nicht eindeutig gegen die Greueltaten an Juden ausgesprochen hat und mit seiner Kategorie des Volkes eine theologische Atmosphäre mitgestaltete, die dem antisemitischen Geist der Zeit förderlich war. Hirsch betonte, daß auch das Volk selbst der Veränderlichkeit, Evolution und dem Aufbruch unterworfen sei. Die Volkszugehörigkeit stehe unter dem Gericht Gottes, das sich in der Geburt, im Wachsen, der Macht, dem Niedergang und der Zerschlagung von Nationen zeige, was am dramatischsten in Zeiten von Krieg und Krisen festzustellen sei. Weiterhin erklärte er, daß die Gesundheit einer Nation letztlich abhängig sei von der Offenheit der Führer und Bürger und ihrem Gefühl für die Verantwortlichkeit vor dem Herrn der Geschichte. Dennoch müßten Führer und Geführte gleichermaßen einen vollkommenen, unbeirrbaren Gehorsam dem Nationalstaat gegenüber wagen als einer Wirklichkeit, die nicht göttlich sei, sondern eine gottgewollte Grenze, die nicht überschritten werden dürfe. Diese unbeirrbare Bindung nehme die Form einer Entscheidung an; nicht die Zeit entscheide, ob sie richtig oder falsch gewesen sei, sondern sie wurzele in der Innerlichkeit des Einzelgewissens und werde nur im Rückblick klar. Das Wagnis könne sich als falsch herausstellen, 23
Hirsch schreibt: „Die Kategorie unter die der Jude zu stellen ist, ist nicht die des Minderwertigen, Unwerthaften, in der Substanz Verdorbenen, sondern einfach die Kategorie des Fremden, das für uns nicht pafit, und mit dem wir uns nicht vermischen können, ohne Schaden zu leiden.... Darüber hinaus haben Christen, ohne deshalb ihr Ja zur Neuordnung verdunkeln zu dürfen, etwa früher von ihnen geknüpfte und gepflegte menschliche und persönliche Gemeinschaft mit einzelnen Menschen jüdischen Blutes festzuhalten, nicht nur um der persönlichen Treue willen, sondern auch um der menschlichen Ehre willen" (Theologisches Gutachten in der Nichtarierfrage, S. 184).
Schlußbetrachtungen
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aber dann werde Gott zu seiner Zeit offenbaren, wann der einzelne seinen Kurs korrigieren müsse und erneut eine unbedingte Entscheidung für Staat und Volk zu treffen habe. Mit seiner scharfen Trennung von äußerer sozialpolitischer Sphäre (dem Reich der Welt) und innerlich-geistiger Sphäre (dem Reich Gottes) und mit der Anwendung unterschiedlicher Normen für beide, entzieht Hirsch die politische Sphäre der Normativität des Gottesreiches, wie Tillich mit Recht feststellt. Tillich betont deshalb völlig zurecht, daß durch die Zuordnung der Normen des Gottesreiches (Evangelium, Liebe, Frieden, Gleichheit, Einheit) an die innerliche, persönliche Sphäre des Gewissens und der Normen des Reiches der Welt (Gerechtigkeit, Recht, Ordnung, Gewalt, Gehorsam, Unterscheidung) an die äußerliche politische Sphäre Hirsch keine radikale Kritik am politischen Bereich mehr zum Tragen bringen kann, wie es die christliche Theologie fordert. Tillichs Kritik an Hirschs Haltung zum Nationalsozialismus ist vielleicht mehr als alles andere eine Kritik an Luthers Zwei-Reiche-Lehre. Kurz gesagt: Hirschs unkritische Unterstützung des Nationalsozialismus könnte in Wirklichkeit die logische Konsequenz aus der konservativen, in Luthers Zwei-Reiche-Lehre implizierten Sozialethik sein, die Tillich gerade darum rundheraus ablehnt. Wir wenden uns nun den Vorwürfen Hirschs gegen Tillich zu. Wer die Schwachstellen in Tillichs Theologie, besonders in bezug auf Politik, herausfinden will, darf nicht vergessen, daß sich Tillich früher als die meisten deutschen Protestanten eindeutig gegen die dämonischen Aspekte des deutschen Nationalsozialismus
gewandt hat. Beispielhaft ist, wie früh er den
Totalitarismus, die Unterdrückung des einzelnen und der gesellschaftlichen Freiheiten, den Rassismus und Antisemitismus erkannt und entschieden abgelehnt hat. S o war Tillich unter den ersten, die - wie viele seiner jüdischen Freunde und Kollege - zensiert, suspendiert, aus der Universität (Frankfurt) ausgeschlossen und ins ungewollte Exil in ein fremdes Land getrieben wurden. Tillichs frühem sozialistischen Denken ist oft nicht die Aufmerksamkeit zugekommen, die ihm zusteht, besonders in Nordamerika, wo sein späteres, weniger radikales und politisch orientiertes Werk die Öffentlichkeit mehr interessiert zu haben scheint. Aber gerade dieses frühe politische Denken müßte
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sorgfältiger untersucht werden, um diesen großen theologischen und politischen Denker wirklich zu verstehen. In der frühen politischen Periode während des 1. Weltkriegs und den Jahren der Weimarer Republik finden wir den Schlüssel zu seiner späteren Abscheu vor dem totalitären Autoritarismus, der ihn schließlich dazu brachte, eine bereits etablierte berufliche Karriere und sein geliebtes Heimatland hinter sich zu lassen. Dieser wohlbekannten Seite Tillichs muß jedoch eine zweite zugestellt werden: sein alter ego, das sein Freund Emanuel Hirsch repräsentiert. Diese Seite lehnte er ab, fühlte sich aber bis zum Ende dennoch immer wieder von ihr angezogen. Um das besser zu verstehen, müssen wir untersuchen, wie Hirsch Tillich betrachtete; dieses Bild von Tillich darf nicht ausgelassen werden. Hirschs Vorwürfe müssen ernst genommen werden, nicht nur, um Hirsch und viele andere Nationalsozialisten und Deutsche Christen zu verstehen, sondern auch, um ein besseres Verständnis von Tillich selbst zu erhalten. Schließlich kannte Hirsch ihn persönlich wie geistig vielleicht besser als sonst jemand. Sie hatten sich etwa 27 Jahre vor der Debatte kennengelernt, hatten die Schriften des jeweils anderen gelesen und ihre Ideen miteinander diskutiert. Am Ende des 9. Kapitels faßten wir Hirschs Gegenvorwürfe gegen Tillich unter persönlichen, theologischen und politischen Kriterien zusammen. (1) Persönliche Vorwürfe: Hirsch verteidigt sich erfolgreich gegen den Vorwurf des Plagiats und wirft Tillich mit einiger Berechtigung vor, er habe seine Arbeit nicht sorgfältig und systematisch genug durchgearbeitet, die innere Stimmigkeit seines Denkens nicht herausfinden können und ihr gemeinsames geistiges Erbe nicht betont Sehr viel wichtiger sind jedoch die politischen und theologischen Vorwürfe. Die politischen Angriffe sind, (a) Tillich vertrete einen freischwebenden Individualismus und Intellektualismus des 19. Jahrhunderts, der die sozial geschichtliche Wirklichkeit kritisiere, ohne sich dabei selbst einzubringen; und damit verbunden, (b) Tillich habe kein Verständnis für Pflicht und Verpflichtung dem eigenen Volk gegenüber, sondern vertrete einen dogmatischen, doktrinären und flachen marxistisch orientierten religiösen Sozialismus zur Verteidigung des Proletariats und einer wurzellosen
Schlußbetrachtungen
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internationalen Kultur. Die theologischen Beschuldigungen sind, (a) Tillich gründe sein Denken nicht genug auf Luthers Theologie, insbesondere Luthers Zwei-Reiche-Lehre, und (b) schließlich sei es Tillich und nicht Hirsch, der die irdisch-geschichtliche Sphäre heilige, indem er die zwei Reiche verwechsle und sie in ein irdisches Reich zusammenfallen lasse. (2) Politische Vorwürfe. Die erste politische Kritik an Tillich, er vertrete einen freischwebenden Individualismus des 19. Jahrhunderts, kann von mehreren Blickwinkeln her beurteilt werden. Tillich ist eine komplexe und vielseitige Persönlichkeit, und dieser Vorwurf muß, wie die anderen von Hirsch erhobenen, von mehreren Standpunkten aus gesehen werden. Einerseits ist es einfach falsch, Tillich als Vertreter eines freischwebenden Individualismus zu bezeichnen. Tillich ist sich, wie wir gesehen haben, der Dialektik der aufklärerischen Tradition nur zu bewußt - sowohl ihrer positiven als auch ihrer negativen Aspekte. Er bejaht das aufklärerische Verständnis der Autonomie als einen positiven emanzipatorischen Impuls, zeigt sich jedoch höchst kritisch gegenüber der dämonischen Verzerrung der aufklärerischen Erkenntisse zu einer selbstgenügsamen liberalen Form der Autonomie und der positivistischen Reduktion der Vernunft auf technische oder instrumentelle Vernunft, die von jeder religiösen Substanz und gemeinschaftlicher Bindung entleert ist. Sein Buch: „Die religiöse Lage der Gegenwart" deckt unter anderem gerade die Flachheit der selbstgenügsamen, rationalistischen und individualistischen Kultur auf (die Tillich als „Geist des Kapitalismus" bezeichnet), die Hirsch ebenso leidenschaftlich bekämpft. Tillichs Buch „Die sozialistische Entscheidung" arbeitet, wie wir gesehen haben, die negativen Konsequenzen des bürgerlichen Prinzips, die Auflösung aller menschlichen Bindungen und die Rationalisierung, Autonomisierung und Individualisierung der gesamten menschlichen Existenz heraus. Tillich plädiert für eine zukünftige Form des Sozialismus, und hier zeigt er Originalität in einer Weise, die noch heute wichtig ist: es geht um einen Sozialismus, in dem die religiöse Substanz und der Sinn für das Verwurzeltsein im und die Zugehörigkeit zum Volk (die Ursprungsbindungen) wiederentdeckt werden können. In diesem theoretischen und abstrakten Sinn erscheint Hirschs Argument gegen Tillich unberechtigt. In Wirklichkeit teilen Hirsch und Tillich die Ambivalenz
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gegenüber der Aufklärung und dem Triumph der rationalistischen Kultur, die den Zusammenhalt der Gesellschaft zerstört Tillich vertritt eine gewisse Form der Romantik, wie das der Ostdeutsche Detlef Döring überzeugend herausgearbeitet hat. Wovon handelt dann Hirschs Vorwurf überhaupt? Kommt ihm auf einer praktischen Ebene mehr Bedeutung zu? Bleibt Tillich nur in der Praxis unbeteiligt und ungebunden? Tillich-Forscher haben oft betont, daß der „KairosKreis" in Wirklichkeit ein Kreis von Intellektuellen gewesen ist, der sich mehr mit Gesellschaftskritik und der Theorie des Sozialismus beschäftigt hat als mit Parteipolitik. Tillich selbst gibt seine Aversion gegen parteipolitisches Engagement zu. 2 4 Aber ebenso hegte Hirsch Argwohn gegen Parteipolitik. Sicherlich treffen Hirschs Anschuldigungen auf dieser Ebene nicht. Was Hirsch angreift, ist Tillichs grundsätzliche Methodik und ihre praktischen Konsequenzen, einschließlich seiner besonderen Form der sozialistischen Entscheidung. In Hirschs Augen hindert Tillichs dialektische Methode ihn daran, sich uneingeschränkt und dauerhaft einer bestimmten Sache oder Person, einer Frau, einem Volk, einer Nation, einem Gott zu verpflichten. Alles bleibt gebrochen und dialektisch! Was soll man aber mit diesem Vorwurf anfangen? Zweifellos ist Tillichs philosophisch-theologische Methode dialektisch von Anfang bis Ende. Aber was genau ist das Wesen seiner dialektischen Methode? Hirschs Urteil ist, meine ich, in gewissem Sinn richtig. Da das innerste Wesen von Tillichs Methode ein „Ja" und ein „Nein" zu allen Aspekten des menschlichen Lebens und Denkens ist, wird Tillich dazu getrieben, immer auf einer Grenze zwischen zwei gleichermaßen unannehmbaren oder anziehenden Extremen zu stehen: und so nimmt er sich die Möglichkeit, sich für das eine oder das andere zu entscheiden, muß er ständig versuchen, beides in einer höheren abstrakten Einheit zu verbinden. In der Tat werden die Begriffe „Grenze", „Grenzbereich" und
„Emigrant" z u
bestimmenden Motiven
in seiner Theologie. Tillich weiß um die Gefahr dieser Haltung (und man kann
24
Zu Tillichs Engagement im „Kairos-Kreis" vgl. oben, S. 251, Anm. 119; S. 241-243.
Schlußbetrachtungen
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annehmen, die Richtigkeit von Hirschs Urteil), aber er war nicht willens, sie aufzugeben. In seiner kurzen Autobiographie „Auf der Grenze" spricht er diese Gefahr an. Gerade ein Jahr nach seiner Debatte mit Hirsch beschreibt Tillich in diesem Buch sein ganzes Leben als Existenz auf der Grenze zwischen zwei Gegensätzen: zwei Temperamenten, Stadt und Land, zwei Klassen, Wirklichkeit und Phantasie, Heteronomie und Autonomie, Theologie und Philosophie, Kirche und Gesellschaft, Religion und Kultur, Luthertum und Sozialismus, Idealismus und Marxismus, Heimat und Fremde. E r beginnt sein Buch mit folgendem Eingeständnis: Als ich die Aufforderung erhielt, die Entwicklung meiner Gedanken aus meinem Leben heraus darzustellen, entdeckte ich, daß der Begriff der Grenze geeignet ist, Symbol für meine ganze persönliche und geistige Entwicklung zu sein. Fast auf jedem Gebiet war es mein Schicksal, zwischen zwei Möglichkeiten der Existenz zu stehen, in keiner ganz zu Hause zu sein, gegen keine eine endgültige Entscheidung zu treffen. S o fruchtbar diese Haltung für das Denken war und ist, weil Denken Offenheit für neue Möglichkeiten voraussetzt, so schwierig und gefährlich ist sie vom Leben her, das ständig Entscheidungen und damit A u s s c h l i e ß e n von Möglichkeiten fordert. Aus diesen Anlagen und diesen Spannungen ergaben sich Schicksal und Aufgabe zugleich. 25 Obwohl er Hirsch nicht namentlich nennt, gibt Tillich hier implizit zu, daß Hirschs Kritik an seiner dialektischen Denkweise teilweise berechtigt ist. T i l l i c h trifft eine interessante Unterscheidung zwischen „ D e n k e n " und „Leben", die besagt, daß im Unterschied zum reinen Denken das Leben „ständig Entscheidungen und damit Ausschließen von Möglichkeiten fordert". Tillichs gesamte Biographie legt Zeugnis davon ab, daß sein Leben und nicht nur sein Denken auf der Grenze zwischen Alternativen stand. Dennoch bleibt die Tatsache, daß Tillich weder im Denken noch im Leben einfach unentschieden zwischen zwei Alternativen stehen blieb. Tillich nahm im realen Leben nicht die Haltung des Zuschauers ein. Er entschied sich für den Religiösen Sozialismus und gegen den Nationalsozialismus und war bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen. Er traf diese Entscheidungen jedoch
25
Tillich, Auf der Grenze, S. 13.
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immer im Bewußtsein der tragischen, gebrochenen und fragmentarischen Natur jeder Position und in Anerkennung dessen, daß auch die entgegengesetzte Seite Wahrheit in sich trägt Seine Forderung (theoretisch wie praktisch) von Entscheidungen erwächst aus seinem Verständnis der dialektischen Methode selbst. Was Tillich ablehnt, ist ein Engagement, das die Endlichkeit aller Entscheidungen und die negativen Elemente in jeder Sache außer acht läßt. Das ist, was „dialektisches Denken" von „paradoxalem Denken" unterscheidet. Dialektisches Denken steht immer in der Gefahr, sich selbst zu verabsolutieren und in paradoxales Denken zu verfallen, in dem das „Ja" und das „Nein" auseinandergerissen und in einer bestimmten Beziehung zueinander fixiert werden. Dieses Fehlers beschuldigt Tillich, zurecht oder nicht, die sogenannten „Dialektischen Theologen" Karl Barth und Friedrich Gogarten. Über diese Art „Dialektischer Theologie" sagt Tillich: „Sie bleibt bewußt in einem abstrakten Nein gegen die Zeit, sie wird nicht konkret zeitkritisch."26 Tillich meint, einerseits verabsolutiere Hirsch undialektisch, keineswegs aber paradoxal die sittlich-persönliche Frömmigkeit, und andererseits verabsolutierten die Dialektischen Theologen ihre sogenannte dialektische Position. 27 Obwohl er seine eigene Position näher bei Barth und Gogarten sieht als bei Hirsch, hält er Barths Theologie nicht für wirklich dialektisch, sondern für paradox und supranaturalistisch. Sie reiße das Ja und das Nein auseinander und fixiere beide; sie betrachte die Offenbarungswahrheit nicht als dynamische Erfahrung, sondern schreibe Gottes Offenbarung auf bestimmte geschichtliche Momente, besonders auf den historischen Christus, fest und verabsolutiere sie so. 28 In Tillichs Augen ist eine Theologie also nur dann wirklich dialektisch, wenn Ja und Nein, untrennbar zusammengehalten, zu einem dynamischen Verständnis der Geschichte und zur konkreten geschichtlichen Handlung wer-
26
27
28
Tillich, Kairos II: Ideen zur Geisteslage der Gegenwart, in: GW VI, S. 32. Dieser Aufsatz wurde ursprünglich als Teil einer von Tillich herausgegebenen Arbeit unter dem Titel: „Zur Geisteslage und Geisteswendung" (Darmstadt: Rei chi, 1926), S. 1-21 veröffentlicht. Tillich, Kritisches und positives Paradox: Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten, in: GW VII, 216-225; hier S. 220. Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in: Theologische Blätter 2 (1923), S. 263-269. Tillich, Was ist falsch in der „dialektischen Theologie"?, in: GW VII, S. 247-262. Dieser Artikel erschien zuerst als: „What is Wrong with the 'Dialectical Theology'?", in: Journal of Religion 15, 2 (1935), S. 127-145.
Schlußbetrachtungen
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den. Eine wirklich dialektische Theologie setze ein Ja (geschichtliches Engagement) als Voraussetzung für das kritische geschichtliche Nein. Das sei in gewisser Weise die Umkehr von Barths Methode, die ein kritisches geschichtliches Nein als Vorspiel für ein geschichtliches Ja annehme. Tillich beschreibt seine eigene Methode in der Debatte mit Barth und Gogarten im Jahre 1923 folgendermaßen: Der Dialektiker muß einsehen, daß er als Dialektiker eine Position unter anderen hat, die durch keine dialektische Selbstaufhebung aufhört, Position zu sein, und er muß, wie er bereit ist, sich trotz der Überzeugung von der Wahrheit seiner Position unter das Nein zu stellen, bereit sein, den anderen Positionen trotz des Nein, das er an ihnen vollstreckt, das gleiche Ja wie sich selbst zuzugestehen. Er muß sich mit ihnen unter der Einheit von Nein und Ja zusammenschließen. Das ist kein Relativismus; die Überzeugung von der Überlegenheit der dialektischen Position unter dem Ja und Nein braucht darum nicht aufgegeben zu werden, aber es ist die Bewußtmachung der unaufhebbaren Position, die auch in der Verkündigung der Krisis steckt, es ist die Erfassung des Ja, das die Voraussetzung des Nein ist, es ist der Rückgang vom kritischen zum positiven Paradox. 29 Dies ist wohl die präziseste Erläuterung von Tillichs dialektischer Methode. Sie steht letztlich nicht „auf der Grenzlinie", bewegt sich nicht abstrakt auf die Grenze zwischen zwei Alternativen zu, sondern bejaht eine Position, ohne sie zu verabsolutieren, d.h. sie erkennt immer das gebrochene und fragmentarische Wesen der eigenen Entscheidungen an. Die Konsequenzen dieser Methode werden in Tillichs Buch: „Die sozialistische Entscheidung" deutlich. Hier kritisiert er die zeitgenössische sozialistische Lehre und Parteipolitik, weil sie jede sakramentale Substanz ablehnt (alle Verwurzelung im Ursprungsmythos). Dennoch steht Tillich uneingeschränkt zu seiner sozialistischen Entscheidung und seinem Aufruf an Deutschland, eine sozialistische Entscheidung zu treffen. Trotz seiner eigenen Entscheidung für den Sozialismus, stellt er dieses Ja aber sofort unter ein Nein zu allen dämonischen Formen des Sozialismus. Sein Engagement für den Sozialismus ist damit nicht zweideutig, sondern dialektisch. Er lehnt von dieser Position
29
Tillich, Kritisches und positives Paradox, S. 218.
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aus bestimmte Aspekte des Sozialismus ab in der Hoffnung, so zur positiven Entwicklung des Sozialismus beizutragen. Sein Beitrag zum Sozialismus bleibt somit nicht nur theoretisch, sondern wird praktisch und politisch. Sein Konflikt mit den „Braunhemden", den nationalsozialistischen Enthusiasten und Offiziellen zu Beginn der 30er Jahre legt Zeugnis davon ab. Hirsch lehnt aber gerade diese dialektische Form geschichtlichen und politischen Engagements, d.h. das Einnehmen einer Position mit kritischen Vorbehalten, ab. Für ihn gibt es bestimmte Konstellationen im Leben, ζ. B. die unausweichliche Bindung an das eigene Volk und die daraus erwachsende Verantwortung, die nicht mit Tillichs Dialektik zu beschreiben sind. Dies bringt uns zu Hirschs zweitem politischen Vorwurf. Hirschs Meinung, Tillich sei ein doktrinärer, marxistisch orientierter Sozialist, ist, wie wir sahen, unbegründet und braucht nicht weiter behandelt zu werden. Obgleich Tillich den frühen Marx verteidigte und ihn mit dem Christentum versöhnen wollte durch die Forderung, der Sozialismus möge seine verlorene religiöse Substanz wiederentdecken, geschah das, um den Fehler des doktrinären Sozialismus, der die deutsche sozialistische Politik zum großen Teil beherrschte, aufzuzeigen. Die wichtigere Seite des Vorwurfs, Tillich wisse sich nicht dem Volk verpflichtet und vorbehaltlos an es gebunden, sondern verteidige eine wurzellose internationale Kultur (die des Proletariats), erfordert jedoch eine detailliertere Antwort. Das führt uns zu Tillichs Verständnis des Volkes und des Ursprungsmythos. Wir haben in unserer Studie gezeigt, daß Tillich in seinen Schriften während der 20er und frühen 30er Jahre die Bedeutung dieser sogenannten Ursprungsmächte bemerkenswert stark hervorhebt. 30 In unserer ausführlichen Analyse von Tillichs Buch: „Die sozialistische Entscheidung" haben wir versucht, sein kritisches Verständnis z.B. des Volkes in seiner Beziehung zum Sozialismus zu erklären. Der wahre Sozialismus ist für ihn sowohl universal als auch partikular. Tillich lehnt den Gedanken einer entwurzelten internationalen proletarischen Kultur ab, weil er sie als die dämonische Verabsolutierung der reinen Form identifiziert, die mit autonomer Vernunft ohne
30
Vgl. oben, S. 298-333, bes. S. 320.
Schlußbetrachtungen
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jegliche religiöse Substanz einhergeht. Das Proletariat müsse sein verlorengegangenes Bewußtsein für das Verwurzeltsein in einem Volk wiederentdecken. Das war es, was Hirsch verstand und ihn dazu veranlaßte, 1933 Tillich dazu aufzufordern, in Deutschland zu bleiben und zur nationalsozialistischen Bewegung beizusteuern, in der Meinung, daß Tillich in Wirklichkeit dort seinen Platz habe. Unter der Oberfläche ihrer Differenzen liegen, so könnte man sagen, jedoch unterschiedliche Verstehensweisen der Beziehung zwischen Partikularem und Universalem. Für Hirsch gibt es innerhalb der Geschichte keine Möglichkeit, aus der geschichtlichen Partikularität auszubrechen. Universalitat ist eine wichtige innerliche, geistige Wirklichkeit, die mit dem Reich Gottes gleichgesetzt wird, aber geschichtlich nicht zu verwirklichen ist. Für Tillich ist Universalität ein geschichtliches Ziel. Nationale Partikularität ist wichtig, aber letztlich nur ein Mittel zu einem endlichen Zweck: die universale und gerechte menschliche Gemeinschaft, deren bester Ausdruck die prophetische Vision des Reiches Gottes ist. Der Weg zu dieser universalen Menschengemeinschaft geht durch das Volksgut. Der Kampf für eine universale Gemeinschaft der Liebe und Gerechtigkeit muß der Treue zu einem bestimmten Volk übergeordnet bleiben; das Universale muß als Gericht über und Kritik an allen einzelnen Volksidentitäten stehen und dadurch das Partikulare relativieren, ohne es aufzulösen. Obwohl für Tillich Blut, Boden, Volk und Abstammung wichtig sind, weigert er sich, sich unkritisch und bedingungslos an sie zu binden, wie Hirsch das tut, weil er glaubt, daß es erstens möglich ist, aus der Partikularität auszubrechen, und weil dies zweitens auch notwendig ist. Das „Wohin" und das „Woher" der menschlichen Existenz stehen letzten Endes auf Seiten einer universalen, internationalen Rechtsordnung. Eben dieses dialektische Verständnis des Volkes, die Bejahung des Ursprungsmythos, der sich in der eigenen Volkszugehörigkeit ausdrückt, und die gleichzeitige Ablehnung der dämonischen Unterdrückung vom . f r e m d e n " angesichts der prophetischen Vision universaler Gerechtigkeit, unterscheiden Tillich methodisch von Hirsch. Tillich formt im Gegensatz zu Hirsch seine „politische Theologie" bewußt in Übereinstimmung mit der jüdisch-prophetischen Theologie. Die
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jüdische prophetische Tradition kritisiert nach Tillich jeden religiösen Nationalismus, einschließlich des eigenen, und strebt nach einer universalen Menschheit. Das Symbol dafür ist Abraham, der Wandernde, derjenige, den Gott aus seinem eigenen in ein unbekanntes Land rief. 31 Darum wird das Motiv des ,.Emigranten" z u einem wichtigen Symbol für Tillichs Leben und Denken: Er habe immer eine instinktive Zuneigung zur deutschen Landschaft, Sprache, Tradition und zum deutschen geschichtlichen Schicksal gehegt; dennoch lebe er immer auf der Grenze zwischen Heimat und Fremde und fühle sich in keinem wirklich zu Hause. Hirsch versteht Tillichs Theologie an diesem Punkt sehr gut, stimmt aber nicht mit ihr Uberein. Gerade weil er an die Zeitlichkeit jeder geschichtlichen Existenz glaubt, lehnt er das ab, was er für Tillichs geschichtliche Verabsolutierung des Universalen und die daraus resultierende dialektische Beziehung zu allen geschichtlichen Partikularitäten, symbolisiert durch das Motiv der Emigration, hält. Hirsch spürt sehr viel mehr die Tragik der Gegebenheit des Lebens, die Unausweichlichkeit und Schicksalhaftigkeit von Rasse, Blut, Abstammung und Volkszugehörigkeit bei der Bestimmung der menschlichen Existenz, als Tillich. Diese Begrenzung und Einschränkung alles menschlich-geschichtlichen Lebens nennt Hirsch die Grenze. Tillich lehnt dieses deterministische Gefangensein im Kreislauf von Geburt, Leben und Tod, repräsentiert durch die Ursprungsmächte, ab. Tillich ist der festen Überzeugung, daß der Mensch die ethnischen Grenzen durchbrechen und transzendieren und auf eine universale Menschheit innerhalb der Geschichte zuarbeiten kann; dies trennt ihn am deutlichsten von Hirsch. Hirsch glaubt nicht an die Überwindung der ethnischen Grenzen, der Widersprüche zwischen Völkern und die Möglichkeit der Schaffung einer internationalen Gemeinschaft in der Geschichte, es sei denn im geistigen Sinn.
31
Tillich schreibt diesbezüglich: „Der Gott, der Gehorsam von ihm verlangt, ist ein Gott der Fremde, nicht bodengebunden wie die heidnischen Götter, sondern ein Gott der Geschichte, der alle Geschlechter der Erde segnen will. Dieser Gott, der Gott der Propheten und Jesu, zerbricht jeden religiösen Nationalismus, den jüdischen, mit dem er ständig kämpft, und den heidnischen, der schon in dem Befehl an Abraham verneint ist" (Auf der Grenze, S. 64).
Sehl uß Betrachtungen
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Für Hirsch läßt sich die Beziehung des Menschen zu einem bestimmten Volk (oder Nomos) am besten mit Hilfe von Luthers „irdischer Bindung" beschreiben. Man findet seine Universalität in der Einheit mit der gesamten Menschheit, gleich welcher nationalen Kultur, nicht im Bereich irdischer Gerechtigkeit und Macht, sondern im Bereich der „geistigen Freiheit". Im Gegensatz dazu hofft und glaubt Tillich, daß die Menschen in der Lage sein werden, irdische gesellschaftliche Strukturen in relativer Übereinstimmung mit den moralischen und ethischen Forderungen des Gottesreiches zu schaffen. Die Universalität der prophetischen Erwartung hat für Tillich, zum Leidwesen Hirschs, irdische, geschichtliche und politische Bedeutung. Die irdische, geschichtliche, internationale Ordnung steht in gewisser Weise in Kontinuität zum Reich Gottes. 32 (3) Theologische
Vorwürfe. Damit sind wir bei den theologischen
Vorwürfen, die Hirsch gegen Tillich erhebt, vor allem: Tillich sei Luthers Theologie untreu (besonders der Zwei-Reiche-Lehre), lasse als Ergebnis das ewige Reich mit dem zeitlichen zusammenfallen und verabsolutiere so die irdisch-geschichtliche Existenz. In unserer gesamten Studie versuchten wir zu zeigen, daß es die Mischung aus persönlichen, politischen und theologischen Faktoren war, die zu ihrer öffentlichen Auseinandersetzung 1934-35 beitrug. Ihre unterschiedlichen politischen Entscheidungen im Jahr 1933 wurzeln in den unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen, der Psyche, der familiären Umgebung usw. Die Art, wie Menschen sich 1933 für oder gegen Hitler entschieden, ist einer gewissen Launenhaftigkeit unterworfen, die sich jeder logischen und rationalen Analyse entzieht. Dennoch konnten wir in unserer Studie zeigen, daß es theologische Unterschiede zwischen Tillich und Hirsch gibt, die uns bei der Erklärung ihrer gegensätzlichen politischen Loyalitäten helfen. Fraglich ist also, ob ihre Trennung in erster Linie theologischer Art, mit praktisch-politischen Konsequenzen, war. Es scheint eher, daß ihre persönli-
32
Tillichs schreibt: ,Jn dieser wachsenden Verwirklichung einer einheitlichen Menschheit ist repräsentiert und gleichsam vorweggenommen, was in dem Glauben an das Reich Gottes, zu dem alle Völker und alle Rassen gehören, als transzendente Wahrheit enthalten ist. Darum ist die grundsätzliche Ablehnung der einen Menschheit eine grundsätzliche Ablehnung der christlichen Lehre vom Kommen des Reiches Gottes" (Auf der Grenze, S. 67).
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chen Eigenarten, ihre philosophisch-theologischen Orientierungen und Methodiken und ihre politischen Vorstellungen und Entscheidungen sich gegenseitig formten und stärkten. Hirsch zum Beispiel, der das wahre Deutschland in einer relativ unveränderlichen und einheitlich evangel i sch-völki sehen Tradition betrachtete, übernahm nicht einfach Luthers Zwei-Reiche-Lehre und wendete sie unverändert auf die deutsche Situation an. Er interpretierte sie im Licht seiner besonderen Erfahrung mit der deutschen gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit. Andere, die die deutsche und europäische Situation anders erlebten, interpretierten und verwendeten die gleiche Lehre durchaus anders. Tillich, der die Einheitlichkeit der deutschen Nation ablehnte, widersetzte sich jedem Versuch, einen unveränderlichen deutschen Ursprungsmythos aufzudecken; er betrachtete die Säkularisierung nicht nur negativ. Er meinte, die lutherische Tradition sei historisch gesehen zu eng mit den herrschenden Klassen gegen die legitimen Ansprüche der säkularisierten Arbeiterklassen verbunden, und distanzierte sich völlig von der Zwei-Reiche-Lehre. Hirsch hat daher durchaus recht, wenn er behauptet, daß Tillich Luthers Zwei-Reiche-Lehre nicht zu schätzen wisse. Tillich lehnt sie sogar bewußt ab. Er weist die Verwechslung seiner Kairos-Lehre mit der Zwei-Reiche-Lehre zurück. Im Gegensatz zu Hirsch, der Luthers Denken unbedingt treu bleiben wollte, befreite sich Tillich an dieser Stelle davon. James Luther Adams zeigt, daß Tillich (im Unterschied zu Hirsch) kein Luther-Schüler war und er Luther, obwohl seine Theologie weithin auf Luthers Theologie gründete, frei interpretierte, um ihn seinen eigenen existentiellen und systematischen Anliegen anzupassen. Sein Verhältnis zu Luther war nicht das „kindlicher Ergebenheit"; stellenweise kritisierte er Luthers Theologie offen. 33 Tillich kritisiert also unter anderem Luthers Zwei-Reiche-Lehre. Wir haben in unserer Studie herausgefunden, daß Tillich an Hirsch hauptsächlich dessen Dualismus kritisierte, die Trennung der zwei Reiche, wobei das Gottesreich der innerlich-geistigen Sphäre (Evangelium, Liebe usw.) und das menschliche Reich der äußeren, gesellschaftspolitischen Sphäre (Gesetz, 33
Vgl. James Luther Adams, Paul Tillich on Luther, S. 305.
Schlußbetrachtungen
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Gerechtigkeit) zugewiesen und so im Endeffekt die äußere Gesellschaftsordnung von den theologischen Normen des Reiches Gottes isoliert wurde. Tillichs Kritik gilt hier Luther selbst, der, wie er dachte, eine zu starke Betonung auf „die Rolle der Gewalt und Gehorsamspflicht gegenüber der politischen Autorität" legt, wie Adams schreibt. 34 Tillich geht in seiner Verbindung von Evangelium und Gesetz, Liebe und Gerechtigkeit, Reich Gottes und Reich der Welt Uber Luther hinaus. Anstelle von Luthers ZweiReiche-Lehre setzt er die für ihn wichtigere protestantische Lehre vom „protestantischen Prinzip", dem Protest gegen alle Formen der Heteronomie, Ideologie und Idolatrie. Hirsch betrachtet dies als „Vermengung der beiden Reiche" und lehnt es im zweiten Teil seines theologischen Vorwurfs ab. Er behauptet, daß Tillich, mit einer derartigen Verbindung der beiden Reiche, also indem er das Reich Gottes gewissermaßen als durchgängig und für die geschichtliche politische Sphäre relevant betrachtet, in Wirklichkeit die beiden Reiche in eines, das geschichtliche, zusammenfallen läßt und sich somit selbst der Verabsolutierung einer geschichtlichen Sphäre schuldig macht. Hirsch bezieht sich hier besonders darauf, daß Tillich in den frühen 20er Jahren das Proletariat als heilig, als Träger des Reiches Gottes bezeichnet hat. Hirsch insinuiert damit, daß Tillich die Transzendenz Gottes schwäche, indem er die göttliche Gegenwart allzu bereitwillig mit einem bestimmten geschichtlichen Augenblick und einer gesellschaftspolitischen Bewegung identifiziert. Die Ironie daran ist, daß Hirsch selbst 1933 den Nationalsozialismus als einen „heiligen Sturm" bezeichnet, der über Deutschland hinwegfege, und Tillich daraufhin den gleichen Vorwurf gegen Hirsch erhebt, den dieser ihm in den frühen 20er Jahren gemacht hatte. Der Vorwurf hätte aus dem Munde der Barthianer und neoorthodoxen Theologen jener Zeit überzeugender geklungen. An dieser Stelle muß jedoch zu Tillichs Verteidigung vorgebracht werden, daß er selbst, auch wenn er Hirschs in seinen Augen undialektisches Verständnis Gottes und der Transzendenz ablehnt, niemals absichtlich Transzendenz und Immanenz, das Unendliche und Endliche, Unbedingte und Bedingte zusam-
3 4
Ibid., S. 330 (Ü.a.d.O.).
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menfallen läßt. Seine Verteidigung der jüdisch-prophetischen Eschatologie angesichts dessen, was er als den Supranaturalismus Barths und den dämonischen Sakramentalismus Hirschs und der jungnationalen Lutheraner beschreibt, ist der Schutz vor der Vergöttlichung der Gegenwart. Das Reich Gottes bleibt für ihn immer das Kommende, das geschichtlich niemals völlig zu Verwirklichende, aber es wirkt sich immer auf das geschichtliche, gesellschaftspolitische Leben aus. In Tillichs Theologie ist die Transzendenz niemals so transzendent, daß sie unbedeutend für die Geschichte wäre, noch ist sie so immanent, daß sie die Geschichte nicht richten könnte. Tillich vertritt eine immanente Transzendenz und eine transzendente Immanenz. 35 Tillich kann nicht der Vergöttlichung oder Verabsolutierung einer endlichen geschichtlichen Wirklichkeit beschuldigt werden. Dennoch hat John Stumme zurecht festgehalten, wie ambivalent Tillichs Idee der Transzendenz in Bezug auf das Reich Gottes ist. 36 Tillich schwebt zwischen einer ontologischvertikalen Betrachtung der Transzendenz (in relativer Übereinstimmung mit Hirschs Theologie) und einer geschichtlich-horizontalen Vorstellung. Er will den priesterlich-sakramentalen mit dem prophetisch-eschatologischen Zugang zur Wirklichkeit verbinden. Dieses Schweben eröffnet Angriffe von links und rechts. Am Ende bleibt jedoch unklar, ob eine ideale Balance Uberhaupt möglich ist. Tillich selbst scheint sich in seinen späteren Jahren mehr und mehr auf die ontologische Interpretation von Realität und Transzendenz zu konzentrieren. Für Hirsch ist jedoch Tillichs Gott, ob nun ontologisch oder eschatologisch verstanden, nicht transzendent genug und zu sehr Teil seines eigenen philosophischen Systems. Nach Hirsch ermöglichen Tillichs Begriffe keinen 35
36
Vgl. John R. Stumme, Socialism in Theological Perspective: A Study of Paul Tillich 1918-1933, S. 234ff. Stumme meint, daB „man sich in Erinnerung rufen muß, daß Eschatologie für Tillich ihren Ursprung bei den Propheten hat, die 'die Zeit über den Raum' erhoben lind einen 'neuen Himmel und eine neue Erde' sahen, d.h. eine neue Seinsstruktur, 'die nicht ontologisch gefaßt werden kann*. Tillich entschied sich für den Vorrang der Zeit über den Raum und 'brach' in gewissem Sinn sein ontologisches Denken an der Vorwärtsrichtung der Geschichte. Die Geschichte ist jedoch nicht offen genug, damit Tillich seinen geschichtlich-eschatologischen Zugang zur Wirklichkeit konsequent durchhalten kann. Eschatologie wird der Ontologie untergeordnet und Zeit zu etwas Räumlichem gemacht. Der Begriff des Neuen in Übereinstimmung mit seiner ontologischen Voraussetzung der ewigen Gegenwart ersetzt die universale Hoffnung auf einen 'neuen Himmel und eine neue Erde' durch ein zukünftiges nicht-ontologisches Sein" (ibid., S. 238; Ü.a.d.O.).
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persönlichen, bindenden Glauben an den Gott des evangelischen lutherischen Christentums, der der Herr der Geschichte ist und sittlichen Gehorsam sowohl im Privatleben als auch im öffentlich national-politischen Leben einfordert.
Implikationen für den politischen Auftrag der Theologie Aus der Tillich-Hirsch-Debatte ist zu lernen, daß jede christliche Theologie politische Resignation und Quietismus ebenso wie die bloße Heiligung der wechselnden, .jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen" 37 ablehnen muß. Aus der Kontroverse erheben sich jedoch auch einige Fragen für die gegenwärtige Theologie. Wie kann Theologie ihren politischen Auftrag ernst nehmen, ohne dabei ihren dezidiert theologischen Charakter zu verlieren, ohne sich dabei einfach zum ideologischen Verbündeten einer politischen Bewegung der Linken, Rechten oder der Mitte zu machen? Welches sind die Kriterien, anhand deren die christliche Kirche den gesellschaftspolitischen Imperativ ihres Kerygmas ernst nehmen und politische Entscheidungen treffen und integer in politische Allianzen eintreten kann, ohne Theologie auf Politik zu reduzieren? Kurz, welches ist der theologische Ausgangspunkt für eine politische Theologie, für die alles Theologische eine immanente soziale, wirtschaftliche und politische Komponente hat? Welcher Art sind die theologischen Normen, mit denen einerseits politische Entscheidungen positiv gelenkt werden können und andererseits politische Bewegungen kritisch zu beurteilen sind?38 Klaus Scholder beschäftigt sich in seinem Buch „Die Kirchen und das Dritte Reich" ausführlich mit der Bewertung der politischen Theologien im Deutschland der 20er und 30er Jahre. Er behauptet, mit der politischen Theologie jener Jahre sei ein neuer, moderner Typ Theologie geboren worden, der die politische Ethik zum Schlüssel für das theologische Verständnis
37 38
Artikel 3 der Barmer Theologischen Erklärung, in: Bekenntnisse, S. 301. Vgl. Reimer, Theological Stringency and Political Engagement: The Paul TillichEmanuel Hirsch Controversy over National Socialism, in: Studies in Religion/Sciences Réligieuses 16,3 (1987), S. 331-345.
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gemacht hat: „Gewiß ist jede Theologie politisch. In der modernen politischen Theologie aber wird die politische Ethik zur Schlüsselfrage theologischen Verstehens und kirchlichen Handelns. Das ist ihr allgemeines Merkmal und Kennzeichen." 3 9 So werde die politische Ethik zum Standard einer guten Theologie und nicht umgekehrt: .Politische Theologie ist an keine Konfession gebunden. Wo die politische Ethik zur SchlUsselfrage theologischen Verstehens und kirchlichen Handelns wird, da bestimmt das politische Thema die Theologie und nicht die Theologie das politische Thema" 4 0 Scholder steht dieser Art politisch bestimmter Theologie allerdings höchst kritisch gegenüber „Wo politische Entscheidung zum Kriterium der Theologie wird - und das geschieht in jeder politischen Theologie - werden Politik und Theologie blind, hilflos und verdorben. Das ist die Erkenntnis, die sich aus der Geschichte der politischen Theologie im 20. Jahrhundert aufdrängt." 41 Ob man nun Scholders allgemeiner Einschätzung der politischen Theologie des 20. Jahrhunderts zustimmt oder nicht, man muß seine Analyse der politischen Theologie der 20er und 30er Jahre ernst nehmen; bestätigt sie doch zumindest teilweise unsere Analyse der Ähnlichkeiten zwischen Tillich und Hirsch. Für Scholder gehören nicht nur Emanuel Hirsch, Wilhelm Stapel und Paul Althaus, sondern auch marxistisch orientierte Theologen wie der Religiöse Sozialist Paul Tillich zur politischen Theologie. In Scholders Augen haben die Theologie der Linken und die national orientierte politische Theologie der Rechten formale wie strukturelle Ähnlichkeiten. Beide sind politische Theologien, d.h. für beide wird die politische Bindung zum hermeneutischen Schlüssel theologischen Verstehens. Beide bekämpften den Individualismus und fochten für Gemeinschaft, Solidarität, Engagement und Opferbereitschaft. Die Vorstellung vom „Volk" war für die politische Theologie der Rechten (den religiösen Nationalismus) das, was das .Proletariat" für die politische Theologie der Linken (die Religiösen Sozialisten) war, obwohl
39
40 41
Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 130. Vgl. auch meine Besprechung von Scholders Buch: A. James Reimer, German Theology and National Socialism, in: The Ecumenist 19,1 (Nov.-Dec., 1980), S. 1-8. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 539. Ibid., S. 133.
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die Inhalte, d.h. die spezifischen Lösungen, die sie für die Krise in der deutschen Gesellschaft boten, sich radikal unterschieden. Nach Scholder war die formale Ähnlichkeit der Grund dafür, daß die Religiösen Sozialisten so wenig erfolgreich in ihrem Kampf gegen die Nationalsozialisten waren. Sie wandten sich vornehmlich im politisch-ideologischen Bereich gegen die Nationalbewegung und gewannen vergleichsweise wenige Anhänger, weil sie ähnliche Argumente benutzten, ohne damit die Bevölkerung wirklich fesseln zu können, unfähig, die kirchlich-theologische Bedeutung des Konflikts aufzuzeigen.42 Die Religiösen Sozialisten versuchten ohne Erfolg, eine politische Theologie gegen eine andere auszuspielen, eine national-orientierte Theologie durch eine marxistisch-orientierte zu ersetzen.43 Scholder bringt Beweise dafür, daß die NSDAP zuerst in solchen Landeskirchen Fuß faßte, in denen zunächst die Religiösen Sozialisten die Gemeinden politisch bewußt gemacht hatten. Ironischerweise bereiteten so die Religiösen Sozialisten in manchen Teilen Deutschlands (wie in Thüringen und Baden) den Weg für den Nationalsozialismus.44 Nach Scholders Ansicht gab es in den 20er und 30er Jahren drei Hauptmöglichkeiten für die Kirchen: (1) politische Theologien der Linken oder Rechten, (2) Theologien, die fälschlicherweise behaupteten, sie seien neutral (und die in Wirklichkeit des praktischen Opportunismus oder der priesterlichen Weltflucht beschuldigt werden konnten), oder (3) eine Kritik an der politischen Theologie und am Nationalsozialismus aus theologischen Gründen. 45 Scholder äußert die Meinung, die letzte Alternative habe in der Barthschen Theologie ihren Ausdruck gefunden. Obgleich er Barth an einigen Stellen kritisiert - so habe z.B. seine negative Kritik an aller Kultur die Unterstützung für die Weimarer Republik geschwächt -, glaubt er, daß Barth vollkommen zurecht die Theologie in gewisser Weise von der Politik unterscheidet und dieser vorordnet. Barth vertrat keine neutrale Theologie. Er war sich der Tatsache voll bewußt, daß jede Theologie, ob man sich dessen bewußt ist oder nicht, 42 43 44 45
Ibid., S. 181. Vgl. ibid., S. 546. Vgl. ibid., S. 24«. Vgl. ibid., S. 216.
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politisch ist. Aber er erkannte richtig, daß die politische Haltung aus theologischen Argumenten abgeleitet werden und auf ihnen gründen muß. So war für Barth die Frage der 30er Jahre nicht so sehr die, ob eine Politik links oder rechts orientiert ist (Barth selbst reihte sich politisch in die Linke ein), sondern ob man auf angemessenem theologischen Boden argumentierte, gleich bei welcher politischen Frage.46 Gunda Schneider-Flume argumentiert in ähnlicher Weise, daß der Religiöse Sozialismus Paul Tillichs und die politische Theologie Emanuel Hirschs (wie auch die neuere revolutionäre Theologie von Richard Shaull) in der Struktur ähnlich sind.47 Obwohl alle drei Denker unterschiedliche politische Schlüsse ziehen, arbeiten sie mit ähnlichen theologisch-politischen Kategorien. Jeder betont den politischen Ausgangspunkt der Theologie und entwickelt Kategorien, um die göttliche Gegenwart in der gesellschaftspolitischen Gestaltung der Wirklichkeit zu umschreiben. Tillich benutzt für diese göttlich-geschichtliche Verbindung den Begriff der „Theonomie", Hirsch den Begriff der „Grenze", und Shaull das „dynamische Handeln Gottes". Jeder versucht das Eintreten Gottes in die geschichtlich-politische Wirklichkeit zu beschreiben: für Tillich ist es der „Kairos", für Hirsch die „Wende" und für Shaull „die Situation des Umbruchs bzw. der Revolution".48 Nach Schneider-Flume sind die Normen jedoch keine absoluten Werte, die der Wirklichkeit gegenüberstehen, sondern solche, die dem Verständnis der politischen Situation erwachsen. Tillich sei der einzige der drei Theologen, der eine gewisse Distanz zur politischen Situation erreicht und eine kritische Haltung zur gesellschaftspolitischen Wirklichkeit entwickle. Tillichs Begriffe der „dynamischen Wahrheit" und des „gläubigen Realismus" geben seiner gesellschaftspolitischen Analyse unvergleichbar mehr Tiefe als dies bei Hirsch oder Shaull der Fall sei. Unglücklicherweise sei Tillichs Stärke auch seine Schwäche: Seine Ambivalenz zu Utopie und Verwirklichung des Reiches Gottes in der Geschichte gebe seiner theologisch-politischen Theorie kritische 46 47
48
Vgl. ibid., S. 547. Gunda Schneider-Flume, Kritische Theologie kontra theologisch-politischen Offenbarangsglauben, S. 114-137. Ibid., S. 123-124.
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Kraft, schwäche aber sein konkretes Engagement im Kampf um politische Veränderung. Trotzdem wiege die Stärke seiner Theorie die Schwäche auf ; letztlich mache sie jeden Glauben an eine „absolute politische Wahrheit" zunichte. Er habe sich also aufgrund seiner politischen Theorie nie für den Nationalsozialismus entscheiden können, wie manche meinten, obwohl seine Kairos-Lehre Mängel aufwies. Obgleich der Kairos der Moment ist, in dem die unbedingte Wahrheit in die Geschichte eintritt, darf diese göttliche Wahrheit nie mit dem Kairos selbst gleichgesetzt werden.49 Auch wenn Schneider-Flume Tillich an dieser Stelle verteidigt, muß daran erinnert werden, daß Tillich in seinem Buch: „Masse und Geist" aus den frühen 20er Jahren nahe daran war, das Proletariat als eine heilige Bewegung, durch die das Unbedingte in die menschliche Geschichte eintritt, zu bezeichnen. Das Problematische an der Kategorie des Kairos in diesen frühen Jahren war, daß sie größtenteils formal blieb und daß angemessene theologische Kriterien fehlten, mit deren Hilfe sowohl zu bestimmen war, wann ein Kairos wirklich gekommen war, als auch eine Verzerrung für falsche politische Ziele verhindert werden konnte. Die Tillich-Hirsch-Debatte drehte sich um die Austauschbarkeit theologischer Kategorien und politischer Inhalte und schließlich auch um das Problem der Normen, die einsichtig machen konnten, wann und wodurch Gott in der Geschichte handelt. In meinen Augen legen Schneider-Flume und zum Teil auch Klaus Scholder zu wenig Gewicht auf die theologischen Voraussetzungen der modernen politischen Theologie, auch bei Hirsch und Tillich. Allzu schnell bezeichnen sie alle politischen Theologen, ob linke oder rechte, als formal ähnlich (wobei die Politik und nicht die Theologie zum Ausgangspunkt der ethischen Überlegungen gemacht wird). Obwohl Tillich und Hirsch die kulturelle und politische Aufgabe der Theologie betonen würden - im Gegensatz zu dem, was sie als den Barthschen Supranaturalismus betrachteten -, würde keiner von beiden seine Theologie so verstanden wissen wollen, als nähme sie ihren Anfang in der Politik, als sei Theologie eine bloße Beigabe zur Politik. Besonders Hirsch würde sich aufgrund seiner scharfen Trennung der 49
Vgl. ibid., S. 125.
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beiden Reiche gegen diese Karikatur seines Denkens verwahren. In unserer Studie haben wir die theologischen Unterschiede zwischen Tillich und Hirsch ausführlich untersucht und sind zu der Überzeugung gelangt, daß in Wirklichkeit die theologisch-philosophischen Voraussetzungen entscheidend für ihre unterschiedlichen Entscheidungen im Jahr 1933 waren. Wie aber ist dann Robert Ericksens jüngst in seiner Studie Uber die „Nazitheologen" Gerhard Kittel, Paul Althaus und Emanuel Hirsch geäußerte provokante These zu verstehen: „Möglicherweise sind es dann schließlich und endlich die willkürlichen Faktoren von biographischem Hintergrund und Umwelt, die die politische Haltung dieser Persönlichkeiten weit besser erhellen, als ihre intellektuellen Positionen es könnten".50 Weil letztlich alle politischen Urteile existentiell sind, [können] die Unterschiede zwischen Barth, Tillich und Bonhoeffer auf der einen Seite sowie Althaus, Kittel und Hirsch auf der anderen nicht mit überragender bzw. mangelnder Intelligenz oder Einsicht erklärt werden [...]. Anders ausgedrückt, wir können uns nicht auf unsere Intelligenz oder Vernunft verlassen, um uns vor politischem Irrtum zu schützen." 51 Um diese These besser zu verstehen und zu sehen, ob unsere Studie sie stützt oder davon abweicht, muß Ericksens Argumentation genauer untersucht werden. Ericksen vertritt die Ansicht, daß die westliche Welt und besonders Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer wirklichen Krise heimgesucht wurde, die besonders Theologen und Akademiker traf, deren Respekt und Prestige bedroht waren. Die „Krise der Moderne" ist das Ergebnis des aus der Aufklärung folgenden Zerfalls des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Zerstörung der traditionellen sittlichen Werte und Familienbande als Konsequenz der industriellen Revolution, der Unterminierung etablierter Klassenprivilegien und anerkannter Werte zugunsten einer egalitären, autonomen Gesellschaft durch die demokratische Revolution und der Erschütterung der ehemaligen Säulen der Sicherheit (wie Rationalismus, Empirismus und
50 51
Ericksen, Theologen unter Hitler, S. 44. Ibid., S. 45-46.
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Positivismus) infolge der intellektuellen Revolution.52 Die moderne deutsche Theologie war ein Versuch, angesichts der nachaufklärerischen „Glaubenskrise" durch die Mythen Wissenschaft, Vernunft und Religion neue Sicherheit zu finden. Mit dem Anbrach des 20. Jahrhunderts, besonders aber mit dem Ersten Weltkrieg, zerbrachen selbst diese Mythen. Während der Zeit der Weimarer Republik wurde die Krise im Mikrokosmos erfahrbar, und alle Theologen - ob der Linken, Rechten oder der Mitte zugehörig - waren von dieser neuen radikalen Krise betroffen. Im allgemeinen „reagierte" die protestantische Theologie „auf die Krise der liberalen Theologie, indem sie die Wirkkraft der Vernunft bestritt", was sich im Denken der Theologen, die sich gegen Hitler stellten, deutlich zeigt: die neoorthodoxe Theologie Karl Barths, der Existentialismus Rudolf Bultmanns und die liberalere Theologie Paul Tillichs. 53 Obwohl Tillich die Bedeutung der Vernunft weniger bestritt als z.B. Barth, stimmte er doch mit diesem Uberein, wenn Vernunft und Glauben miteinander in Konflikt gerieten. Die Ablehnung rationaler Theologie zeichnete jedoch auch viele aus, die Hitler und den Nationalsozialismus unterstützten, insbesondere Kittel, Althaus und Hirsch. Das wichtige Verbindungsglied zwischen all diesen verschiedenen Theologen war die Bedeutung des Existentialismus und hier besonders der Einfluß des Kierkegaardschen Denkens. Was schließlich zählte, war der „Glaubenssprung". Hierin liegt die Schwierigkeit, politische Entscheidungen zu beurteilen. Ericksen meint: „Von einem Werturteil aus gesehen, besteht das Problem des Existentialismus in seiner moralischen Neutralität. Ein Glaubenssprung in Richtung Hitler hat den gleichen Wert wie der, der von ihm w e g f ü h r t . " 5 4 Als Beispiel steht Bonhoeffers Entscheidung, sich dem Mordkomplott gegen Hitler anzuschließen. Aufgrund welcher Kriterien traf er seine politische Entscheidung gegen Hitler? Nach Ericksen gründete Bonhoeffers christozentrische Ethik auf „der gleiche[n] irrationale[n] Auf-
52
53 54
Ibid., S. 8-9. Vgl. auch: A. James Reimer, Book Review: Theologians Under Hitler by Robert Ericksen, in: Grail: An Ecumenical Journal 3 , 3 (September 1987), S. 103-107. Ericksen, Theologen unter Hitler, S. 26ff. Ibid., S. 42.
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fassung, die Kierkegaard als die Crux des Glaubens erkannte", wie die Handlungen anderer, die Hitler unterstützten.55 Kurz gesagt gab es nach Ericksens überzeugender Darstellung keine theologischen Voraussetzungen, die ,Hitler-sicher" machten. Dialektisches Denken, eine christozentrische Theologie, eine Zwei-Reiche-Lehre oder die Betonung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium - Argumente, die hin und wieder vorgebracht werden, um die Unterschiede zwischen Befürwortern und Gegnern Hitlers zu erklären - bieten letzten Endes doch keine Erklärung für die Unterschiede. Theologen und Pfarrer auf beiden politischen Seiten setzten oft gleiche Akzente. Barths schweizerischer Hintergrund bestimmte seinen antideutschen Nationalismus mit. Tillichs Verbindung zum Religiösen Sozialismus in den 20er Jahren machte ihn immun gegen den Nationalsozialismus. Bonhoeffers internationale Beziehungen besonders nach England machten ihn zum Kosmopoliten. Hirsch, Althaus und Kittel wurden dagegen in einer patriotischen, konservativen Umgebung groß. Mit Ericksen: „Freuds Ansicht, daß unbewußte Faktoren menschliches Verhalten motivieren, muß in diesem Zusammenhang ins Gedächtnis gerufen werden. Der irrationale Glaubenssprung, der für die politische Haltung von grundlegender Bedeutung ist, mag seine Quelle im sozialen Hintergrund und der Umgebung haben." 56 Ericksens Schlußfolgerungen sind überzeugend und enthalten ein Element der Wahrheit: die politischen Entscheidungen für oder gegen Hitler wurzelten letztlich nicht in rationalen theologischen Voraussetzungen, sondern waren irrationale „Glaubenssprünge", die vor allem von zufälligen Faktoren wie persönliche Erziehung, Familienhintergrund und gesellschaftliche Umgebung, Persönlichkeitsstruktur und psychische Kompensation bestimmt wurden. Dennoch haben wir in unserer Studie über Hirsch und Tillich zu zeigen versucht, daß ihre geistigen und theologischen Entwicklungen und Differenzen eine wichtige Rolle bei ihren unterschiedlichen Entscheidungen im Jahr 1933 spielten. Selbst Ericksen vertritt seine These nicht konsequent, denn er zeigt in seiner Analyse jedes einzelnen der drei zur Diskussion stehenden Theologen, 55 56
Ibid., S. 43. Ü.a.d.O. Diese beiden Sätze fehlen in der deutschen Ubersetzung des ursprünglich in Englisch erschienenen Werks von Ericksen (vgl. Theologians Under Hitler, S. 61).
Schlußbetrachtungen
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daß Kittel, Althaus und auch Hirsch rational vorgingen bei der Begründung, weshalb sie die Aufklärung ablehnten und den Nationalsozialismus unterstützten. Am Ende zeigt sich Ericksen unbefriedigt von seiner These, daß die Entscheidungsfindung letztlich irrational sei, und behauptet stattdessen, daß rationale Kriterien - „die Werte der liberalen demokratischen Tradition, nämlich Menschlichkeit und Gerechtigkeit" - doch noch immer der beste Schutz gegen politische Fehler seien. 57 Darüber hinaus meint Ericksen, es sei der alles beherrschende Einfluß von Kierkegaards Existentialismus auf die meisten Theologen (nicht nur die Befürworter, sondern auch die Gegner Hitlers) gewesen, der die theologische und dogmatische Normativität der politischen Entscheidungsfindung relativierte. Ich denke, daß Ericksen die theologischdogmatischen Unterschiede zwischen Theologen der verschiedenen Seiten nicht ausreichend genug berücksichtigt; bei der Erklärung der unterschiedlichen politischen Entscheidungen könnten sie aber sehr hilfreich sein. Unsere Studie hat die Unzulänglichkeit der Theologien und politischen Theorien von Hirsch und Tillich aufgezeigt. Wie wir sahen, waren beide davon überzeugt, daß die Aufklärung die christlichen Lehren vollkommen ihres traditionellen Sinns beraubt hatte, und so suchten sie nach neuen Wegen, das göttliche und das menschliche Reich miteinander zu verbinden. Sie lehnten verständlicherweise die protestantische Orthodoxie ab zugunsten einer eher existentialistisch verstandenen Theologie, die eng an die politischen Möglichkeiten der deutschen Gesellschaft geknüpft war. Tillich formte daraus seine religiös-sozialistische Kairos-Theologie und Hirsch seine national orientierte Nomos-Theologie. Beide waren ernsthafte Theologen, deren politische Ethik in theologischen Verstehensweisen gründete. In keinem Falle waren jedoch, wie wir zeigten, ihre theologische Normen, dogmatisch gesprochen, schlüssig genug, um ihre politischen Bindungen dahingehend zu bestimmen, daß die vor ideologischem Mißbrauch geschützt waren. Tillichs Kairos-Lehre (und später die Kairos-Offenbarungs-Korrelation) war in erster Linie eine formale Kategorie ohne zureichenden christologischen und ekklesiologischen Gehalt. Für Hirsch gehörte die Offenbarungstheologie (besonders seine Christologie)
57
Ibid., S. 259 f.
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zum geistigen Reich und hatte wenig mit sozialen und politischen Entscheidungen zu tun. Unsere Studie stellt darum abschließend die These auf (deren Beweisführung Ziel einer anderen Arbeit sein muß), daß Barths klassisch dogmatische Theologie keine Ausflucht in den Supranaturalismus war, wie Tillich und Hirsch ihm vorwarfen, sondern gerade ein Versuch, normative theologisch-dogmatische Kriterien zu entwickeln, die für geschichtliches und politisches Handeln von Bedeutung sind.
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Ae, Karl 425
Broaten, Carl 21
Albrecht, Renate 13f
Brunner, Emil 61
Althaus, Paul 36, 66-68, 84, 90f,
Brunstädt, Friedrich 61
94, 149, 191, 271, 338, 464-467 Arens, Edmund 341
Buff, Walter 6, 19, 28, 36, 69f, 94, 100, 115,
157-159,
162, 190, 383
Arndt, Ernst Moritz 90, 191, 266
Bultmann, Rudolf 39, 161, 464
Asmussen, Hans 97
Busch, Eberhard 337
Barth, Karl 36, 39, 63 , 67, 87,
Calvin, Johannes 206
105-111, 127, 142, 190,
Christiansen, Nikolaus 100
208, 251 f, 270f, 2 7 9 f ,
Cochrane, Arthur C. 90, 288
288, 296, 337, 340, 342, 349, 350, 360f, 370f, 377-
Dehn, Günther 86-88
379, 389, 392, 406, 409,
Dilthey, Wilhelm 391,394
417, 427, 429, 436, 438,
Döring, Detlef 149, 247, 317, 325-
450f, 458, 461-466, 468 Baur, Ferdinand Christian 9
333, 438, 448 Dörries, Hermann 87f, 127
Becker, Carl 39 Bense, Walter 7, 376
Ericksen, Robert P. 66-70, 72, 84,
Birnbaum, Walter 128, 130
87f, 94, 126-128,
Bodelschwingh, Friedrich von 97f,
433, 464-467
103-105,270 Bögeholtz, Horst 4
Feuerbach, Ludwig 354
269,
486
Register
Fezer, Karl 95, 97f
Hirsch, Hans 157
Fichte, Johann Gottlieb 13-15, 22,
Hirsch, Peter 157
24, 31, 47, 61, 160f, 191,
Hirsch, Rose 30, 147
203, 207, 213, 238, 265,
Hitler, Adolf 65f, 69-71, 76f, 88f,
297, 338, 391, 394, 396,
92, 95, 98f, 103, 112,
397, 401, 419f, 431
130, 134f, 215, 225, 265-
Forstman, Jack 341
269, 273f, 279, 286, 289,
Fritz, Albert 4
319, 328f, 363, 413f, 417, 432, 439f, 455, 465-467
Geismar, Eduard 7, 58, 98, 338, 380, 383 Gerdes, Hayo 156 Goebbels, Paul Josef 328f Gogarten, Friedrich 36, 191, 271, 345, 347, 405, 428, 450f Graf, Friedrich Wilhelm 270
Holl, Karl 9f, 15, 21, 24, 31f, 54, 58, 287, 430 Hopper, David 349f, 359, 384, 399 Horkheimer, Max 42 Hossenfelder, Joachim 90f, 94, 97, 269
Grimm, Hans 94, 115f, 157
Hugenberg, Alfred 88
Halperin, S. William 187f, 268,
Jäger, August 99, 105, 128, 137
328 Harnack, Adolf von 9, 30, 270
Jaspers, Karl 344f, 396 Jay, Martin 42
Hegel, Georg W. F. 14, 46f, 49, 160f, 213, 391, 401 Heidegger, Martin 39,345,354f Helmreich, Ernst 89f, 92f, 99, 105, 117 Herder, Johann Gottlieb von 191, 265
Kahler, Martin 21f, 25, 54,389 Kant, Immanuel 10, 13, 15, 46, 238, 391, 394, 420 Kapler, Hermann 104 Kaufman, Gordon D. 399 Kierkegaard, Sören 10, 15, 21,
Herrmann, Wilhelm 161
24, 42, 71, 161, 345, 355,
Hesse, Hermann 104
370, 383, 391, 399, 431,
Hindenburg, Paul von 267
433, 465-467
Hirsch, Albert 5f
Kinder, Christian 100
487
Register
Kittel, Gerhard 66-68, 149, 409, 464-467 Kittel, Helmuth 372 Klein, Ernst 19 Krause, Reinhold 90
Niebuhr, H. Richard 40, 351 Niemöller, Martin 128, 144 Nietzsche, Friedrich 46, 144, 343, 355, 391, 394 Nuovo, Victor 22
Krieger, Leonhard 388 Kube, Wilhelm 90
Oldham, J. H. 84f, 141f Oslander, Andreas 15, 54
Leffler, Siegfried 92
Otto, Rudolf 17,48
Leutheuser, Julius 92 Ley, Robert 328f Löwe, Adolf 42 Luther, Martin 9f, 12-15, 22, 24,
Pauck, Marion 4, 20, 28, 39, 42, 44, 54,
131,
134-140,
142f, 145, 155, 157, 161,
31f, 49f, 82, 144, 168-
289, 324f
172, 182f, 191f, 2 0 2 f ,
Pauck, Wilhelm 4
206f, 213, 238, 250-252,
Pfeffer, Arnold 326
258, 262f, 272, 287, 292,
Pölchau, Harald 136
294-297, 301, 314, 338,
Polloch, Friedrich 42
368, 406, 409f, 412f, 415, 431, 439, 443, 445, 447,
Ragaz, Leonhard 32
455-457
Rendtorff, Heinrich 94 Renz, Horst 156
Mannheim, Karl 42
Rhine, Maria 37, 185
Marahrens, August 94f, 103, 127
Ritsehl, Albrecht 16
Marquardt, Friedrich-Wilhelm 361
Rosenberg, Alfred 328
Marx, Karl 304, 327, 343, 345,
Roosevelt, Theodore 145
426, 452
Rousseau, Jean Jacques 238
Meier, Kurt 325
Rückert, Hans 430-435
Müller, Ludwig 69f, 89, 91f, 95-
Rupp, George 270
98, 100-104, 112, 116,
Rust, Bernhard 127-129, 137
126, 128, 130, 141, 270, 361, 426
Scheidemann, Philipp 189
488
Register
Schelling, Friedrich W. J. 14, 16f,
Strasser, Gregor 328f
19f, 22, 25, 46-48, 350,
Strasser, Otto 328f
355, 396, 419f
Stresemann, Gustav 189
Schjorring, Jens Holger 7, 9, 13,
Stumme, John R. 28, 42f, 54,
32f, 58, 70f, 94, 97f, 296,
135, 146, 216, 224, 226,
338, 435
241 f, 246, 248, 250-252,
Schleiermacher, Friedrich D. E. 17, 20, 160f
259-261, 337, 458 Tillich, Erdmuthe 137
Schlemmer, Hans 426f
Tillich, Hannah 57, 134-138
Schmidt, Karl Ludwig 337, 375,
Tillich, Johanna 4f, 45
384, 425-431, 434f Schneider-Flume, Gunda 295,
Tillich, Johannes Oskar 16, 18f, 54, 137, 142
297, 314, 364, 395, 435-
Tillich, René 147
438, 442, 462f
Tillich, Wilhelmine Mathilda 16,
Scholder, Klaus 36, 72, 89, 95,
18
97f, 117, 188, 191, 265-
Tolstoi, Leo 32, 203f, 248
274, 285, 290, 337f, 361,
Trautmann, René 13
363f, 430, 437f, 459-461,
Troeltsch, Ernst 270
463 Schiirer, Emil 30
Wegener, Richard 54
Schütte, Hans-Walter 3f, 6, 13,
Wever, Grethi 56
15, 44-46, 156, 397, 418 Shaull, Richard 314, 462
Wilhelm I. 188 Wilhelm II. 73, 188f
Sherman, Franklin 28 Spengler, Oswald 391
Yoder, John Howard 221
Stapel, Wilhelm 13, 36, 191, 271,
Young, Owen 398
282, 338, 356, 383-385, 393, 411, 414, 427f, 430, 435 Stöber, Gertraut 4, 157 Stone, Ronald 131, 135, 145f, 148f
Zabel, James A. 89-93, 266f