Elektronik als Schöpfungswerkzeug: Die Kunsttechniken des Stephan von Huene (1932-2000) 9783839436264

The German-American media artist Stephan von Huene has remained the insiders' tip of his generation. This first sys

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German Pages 376 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Breviarium
ENCOUNTER
Genese eines holistischen Künstlers
Familie und unitarische Gottesvorstellung
Mysterium Kommunikation
Die Werkstatt des Vaters
Kunststudium und „Mentoren“
Die (damalige) Bibliothek des Künstlers
Der Lehrer Stephan von Huene und die kalifornischen Kreise
Maschinen für die Wiedervereinigung von Kunst und Handkraftwerk
Lokale Motive und Buchstäblichkeit
Arts & Crafts & Science
Die „Re-Emigration“ nach Deutschland
Neue und späte Freunde
Kein Interesse an Klassifizierungen
Methoden zur Analyse von Ton-Instrument-
Music-Composition-Composer Kunstwerken
Annäherung an einen experimentellen Realist
Praktische Ideen als Kunsttechniken
Prozessorientiertes Schaffen: Kunsttechniken
Kunsttechniken: Versuch einer etymologischen „Verklärung“
Analyse-Methode im Einsatz: Der Weg durch die Disziplinen
Für einen technisch-historischen Vergleich in Stephan von Huenes Werk
DIE SCHÖNE STIMME
Sirenen High, Sirenen Low – eine hermeneutische Einleitung
Odyssee XII, 184-192: Der Gesang der Sirenen
Nachstellung des Tatorts Sirenen Low
Die skulptural-ikonologische und akustische Dimension
Eingangsfragen
Wie werden horizontale Geschichten erzählt?
Was hat eine Lyra mit einem Vogel gemeinsam?
Können Energie, Intention und Zufall die Welt anstimmen?
Warum singen die Sirenen high & low?
What’s wrong with Kafka, Brecht, Adorno?
Ausgangspunkt: Figuration, Akustik und Kybernetik
INPRESSIVITÄT DER KÖRPERTEILE
Inpressive Kunst
Der lineare Stil
Vertical Stories
Die wechselwirkende Hautgrenze
HARMONIE DER PHONEME
Von Lautschriften, Klang und Phonetik
Erfundene Laute und zergliederte Rhetorik in den frühen Zeichnungen
West Coast und Zeichen
Klang der Materie: die grundlegenden Töne von Totem Tones, Monotone und Glass Pipes
Verbindung der Totem Tones mit den frühen Zeichnungen
Verbindung von Monotone und Glass Pipes mit Totem Tones
Melodie der Klangfarben: Henry Lanz’ Theorien im Labor Zauberflöte
Henry Lanz’ Thesen über die Charakteristik der Vokalmelodie
Vergleichbare Versuche anderer Künstler und Relevanz von Die Zauberflöte
Die synthetische Stimme von Erweiterter Schwitters
ENERGIE IM KUNSTSYSTEM
Primitivismus und animierte Materie
Der Animismus-Begriff
Die Funktion des Totem
Der ethnologische Transfer
Power-Transfer: ethnographischer Ursprung der Energie
Von Brotmenschen und Wagan-Masken: Beispiele des Energie-Transfers
Batesons Einfluss jenseits der Ethnographie
Künstler als Schamane
Der Klang der Kybernetik: Systemtheorie im Dienste der Kunst
Energy as Art Form and Extension of Man
Programmierte Wahrnehmung und Kritik der Interaktion
Das Reiz-Reaktions-Modell Text Tones (1983)
Heilende Kraft des – kybernetischen – Rhythmus
Blaue Bücher, Doppelprojektion und Doppelbindung
Unvollendete Arbeiten im Spannungsfeld zwischen Stochastik und Kommunikologie. Die Rolle des Zufalls oder „Die Rückkehr der Stochastiker“
Merz-Übertragung: die ewige Performanz und das Ephemere
CONCLUSIO
Kunsttechniken zum Anstimmen der Welt
Ein letzter Gedanke
SPALTKLANG
Fachübergreifende Überlieferung: Rezeption und Einfluss von Stephan von Huene
Stephan von Huene als Kunstlehrer
Stephan von Huene und die Klangkunst
Tabellarische Biographie und Ausstellungen
Ausstellungen nach seinem Tod
Interview mit Petra Kipphoff von Huene über Sirenen Low
Interview mit Jörg Neugebauer, Ingenieur und technischer Berater von Stephan von Huene
Die Bibliothek des Künstlers
Klang, Musik und Akustik
Kunst, Kulturgeschichte und Kunstwissenschaft
Philosophie und Religion
Anthropologie und Ethnographie
Psychologie und Kommunikationswissenschaft
Neurolinguistisches Programmieren
Linguistik und Phonetik
Belletristik
Naturwissenschaften
Elektronik, Mechatronik und Computertechnik
Literaturverzeichnis
Filme
Sonstige Online-Dokumente
Im Text zitierte Webseiten
Danksagung
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Elektronik als Schöpfungswerkzeug: Die Kunsttechniken des Stephan von Huene (1932-2000)
 9783839436264

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Jesús Muñoz Morcillo Elektronik als Schöpfungswerkzeug

Image | Band 102

Jesús Muñoz Morcillo, geb. 1977, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZAK | Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Der Altphilologe und Kunstwissenschaftler promovierte 2015 bei Prof. Dr. Beat Wyss an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kunst, Literatur und Wissenschaftsforschung.

Jesús Muñoz Morcillo

Elektronik als Schöpfungswerkzeug Die Kunsttechniken des Stephan von Huene (1932-2000)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Nachlass Stephan von Huene Ort und Datum: Galerie Inge Baecker, Bochum, 1977 Titel: Stephan von Huene vor der Arbeit Monotone (1977) Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3626-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3626-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Breviarium | 9

E NCOUNTER Genese eines holistischen Künstlers | 15 Familie und unitarische Gottesvorstellung | 15 Mysterium Kommunikation | 18 Die Werkstatt des Vaters | 20 Kunststudium und „Mentoren“ | 20 Die (damalige) Bibliothek des Künstlers | 26 Der Lehrer Stephan von Huene und die kalifornischen Kreise | 30 Maschinen für die Wiedervereinigung von Kunst und Handkraftwerk | 33 Lokale Motive und Buchstäblichkeit | 37 Arts & Crafts & Science | 38 Die „Re-Emigration“ nach Deutschland | 43 Neue und späte Freunde | 45 Kein Interesse an Klassifizierungen | 48 Methoden zur Analyse von Ton-InstrumentMusic-Composition-Composer Kunstwerken | 49

Annäherung an einen experimentellen Realist | 49 Praktische Ideen als Kunsttechniken | 50 Prozessorientiertes Schaffen: Kunsttechniken | 52 Kunsttechniken: Versuch einer etymologischen „Verklärung“ | 52 Analyse-Methode im Einsatz: Der Weg durch die Disziplinen | 53 Für einen technisch-historischen Vergleich in Stephan von Huenes Werk | 58

DIE SCHÖNE STIMME Sirenen High, Sirenen Low – eine hermeneutische Einleitung | 63

Odyssee XII, 184-192: Der Gesang der Sirenen | 63 Nachstellung des Tatorts Sirenen Low | 68 Die skulptural-ikonologische und akustische Dimension | 86

Eingangsfragen | 93

Wie werden horizontale Geschichten erzählt? | 93 Was hat eine Lyra mit einem Vogel gemeinsam? | 96 Können Energie, Intention und Zufall die Welt anstimmen? | 102 Warum singen die Sirenen high & low? | 105 What’s wrong with Kafka, Brecht, Adorno? | 107 Ausgangspunkt: Figuration, Akustik und Kybernetik | 110

I NPRESSIVITÄT DER KÖRPERTEILE Inpressive Kunst | 115

Der lineare Stil | 118 Vertical Stories | 132 Die wechselwirkende Hautgrenze | 137

HARMONIE DER P HONEME Von Lautschriften, Klang und Phonetik | 155 Erfundene Laute und zergliederte Rhetorik in den frühen Zeichnungen | 159

West Coast und Zeichen | 172 Klang der Materie: die grundlegenden Töne von Totem Tones, Monotone und Glass Pipes | 177

Verbindung der Totem Tones mit den frühen Zeichnungen | 178 Verbindung von Monotone und Glass Pipes mit Totem Tones | 181 Melodie der Klangfarben: Henry Lanz’ Theorien im Labor Zauberflöte | 191

Henry Lanz’ Thesen über die Charakteristik der Vokalmelodie | 192 Vergleichbare Versuche anderer Künstler und Relevanz von Die Zauberflöte | 197 Die synthetische Stimme von Erweiterter Schwitters | 201

E NERGIE IM KUNSTSYSTEM Primitivismus und animierte Materie | 211

Der Animismus-Begriff | 216 Die Funktion des Totem | 218 Der ethnologische Transfer | 222 Power-Transfer: ethnographischer Ursprung der Energie | 227

Von Brotmenschen und Wagan-Masken: Beispiele des Energie-Transfers | 230 Batesons Einfluss jenseits der Ethnographie | 240 Künstler als Schamane | 242 Der Klang der Kybernetik: Systemtheorie im Dienste der Kunst | 245

Energy as Art Form and Extension of Man | 246 Programmierte Wahrnehmung und Kritik der Interaktion | 248 Das Reiz-Reaktions-Modell Text Tones (1983) | 250 Heilende Kraft des – kybernetischen – Rhythmus | 252 Blaue Bücher, Doppelprojektion und Doppelbindung | 255 Unvollendete Arbeiten im Spannungsfeld zwischen Stochastik und Kommunikologie. Die Rolle des Zufalls oder „Die Rückkehr der Stochastiker“ | 259 Merz-Übertragung: die ewige Performanz und das Ephemere | 263

CONCLUSIO Kunsttechniken zum Anstimmen der Welt | 273

Ein letzter Gedanke | 288

S PALTKLANG Fachübergreifende Überlieferung: Rezeption und Einfluss von Stephan von Huene | 293

Stephan von Huene als Kunstlehrer | 303 Stephan von Huene und die Klangkunst | 310 Tabellarische Biographie und Ausstellungen | 315

Ausstellungen nach seinem Tod | 320

Interview mit Petra Kipphoff von Huene über Sirenen Low | 323 Interview mit Jörg Neugebauer, Ingenieur und technischer Berater von Stephan von Huene | 331 Die Bibliothek des Künstlers | 335

Klang, Musik und Akustik | 336 Kunst, Kulturgeschichte und Kunstwissenschaft | 338 Philosophie und Religion | 343 Anthropologie und Ethnographie | 345 Psychologie und Kommunikationswissenschaft | 345 Neurolinguistisches Programmieren | 349 Linguistik und Phonetik | 351 Belletristik | 351 Naturwissenschaften | 352 Elektronik, Mechatronik und Computertechnik | 352 Literaturverzeichnis | 357

Filme | 370 Sonstige Online-Dokumente | 370 Im Text zitierte Webseiten | 370 Danksagung | 371

Breviarium

Die vorliegende Dissertationsschrift befasst sich mit dem Werk des deutschamerikanischen Künstlers Stephan von Huene. Als Ausgangspunkt dient seine letzte große Arbeit: die Klangskulptur Sirenen Low aus dem Jahr 1999. Aus der hermeneutischen Analyse dieses Werkes werden Hypothesen abgeleitet und der Verifizierung mittels anderer Kunstwerke unterzogen, die sich im Spannungsfeld zwischen Figuration, Akustik, Kinesik und Kommunikationstheorie entfalten. Das Ergebnis ist eine Monographie, die einerseits den roten Faden seines Werkes „material-ikonologisch“ verfolgt, andererseits den Künstler in die Kunstgeschichte und die Medienkunstpraxis seiner Zeit einordnet. Das einführende Kapitel „Encounter“ stellt die Person des Künstlers Stephan von Huene als Universalisten vor. Hierfür werden einerseits biographische Daten hinsichtlich der Herkunft und Erziehung von Stephan von Huene zurate gezogen; andererseits werden seine Lehr-Lern-Erfahrungen und seine Kontakte zu amerikanischen und europäischen Künstlern1, Musikern und Wissenschaftlern in Verbindung mit seinen schöpferischen Aktivitäten analysiert. Vor diesem Hintergrund schließt sich die Untersuchung einiger Kunstwerke an. Im Kapitel „Die schöne Stimme“ wird anhand der letzten großen Arbeit von Stephan von Huene Sirenen Low/Der Gesang der Sirenen (1999) in die wichtigsten Aspekte seiner Kunsttechniken eingeführt. Auf der Grundlage der hier formulierten „Eingangsfragen“ können drei große Untersuchungsbereiche definiert werden, die für das gesamte Werk von Stephan von Huene relevant sind. Diese Themenkomplexe werden unter die Stichwörter „Inpressivität [sic!] der Körperteile“,2 „Harmonie der Phoneme“ und „Energie im Kunstsystem“ subsumiert: Sie beziehen sich jeweils auf die figurativen, akustischen und systemischen Eigenschaften seiner Arbeiten. Diese Phänomene treten in seiner Kunst

1

Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

2

Für eine Erläuterung des Wortes „Inpressivität“ siehe das gleichnamige Kapitel.

10 | ELEKTRONIK ALS S CHÖPFUNGSWERKZEUG

meistens gleichzeitig auf; zur besseren Anschaulichkeit wird der Fokus jeweils auf eine Ebene gerichtet. In „Inpressivität der Körperteile“ werden die frühen Skulpturen in den Kontext des gesamten Werkes gestellt. Dabei lassen sich frühe Muster der nonverbalen Kommunikation insbesondere im Bereich des Synästhetischen, der Buchstäblichkeit und der Metonymie zurückverfolgen, die in späteren Kunstwerken variiert und perfektioniert werden. Im Kapitel „Harmonie der Phoneme“ wird in die Entwicklung phonetischer und rhythmischer Systeme im Spannungsfeld zwischen Bild, Klang und Sinn im Werk von Huenes eingeführt. Die Analyse startet mit den frühen Zeichnungen des Künstlers, in denen Sinn-entkleidete Wörter vorkommen, und umfasst seine Werke von der Schaffung der Klangfarben-Kompositionen bei der Zauberflöte (1985) bis zur Produktion von synthetisch generierten Phonemen am Beispiel der Klangskulptur Erweiterter Schwitters (1987). Im Kapitel „Energie im Kunstsystem“ werden Einblicke in die kommunikationstheoretischen Überlegungen des Künstlers unter Berücksichtigung primitiver Kunst,3 ethnographischer Studien, des Energiebegriffs nach Bateson und der angewandten Kybernetik gegeben. Hierfür werden Franz Boas’ Primitive Art (1927) und Gregory Batesons Werke Naven (1936) und Mind and Nature (1988) im Kontext seines künstlerischen Schaffens zurate gezogen. Ähnlich verhält es sich mit der Rolle des Neurolinguistischen Programmierens (NLP): Diese von Gregory Bateson und Paul Watzlawick beeinflusste psychologische Methodensammlung wurde von Stephan von Huene für „synästhetische Experimente“ eingesetzt. Eine Untersuchung der Bedeutung des Zufalls, des Ephemeren und der Idee der Unsterblichkeit in der Kunst schließen diesen Teil ab. In einem Abschlusskapitel werden die wichtigsten Thesen und Funde aus der figurativen, akustischen und systemtheoretischen Analyse mit besonderem Fokus auf Stephan von Huenes Kunsttechniken präsentiert. Die Dissertationsschrift wird im „Spaltklang“-betitelten Anhang von einem Abriss über die Rezeptionsgeschichte des Künstlers vervollständigt. Zusätzliche hilfreiche Materialien wie eine aktualisierte biographische Tabelle, die durchgeführten Interviews – mit Petra Kipphoff von Huene und dem Ingenieur Jörg Neugebauer – sowie eine Zusammenstellung der Künstlerbibliothek schließen die vorliegende Monographie über Stephan von Huenes Kunsttechniken ab.

3

Der Terminus „primitive Kunst“ – etymologisch die „ursprüngliche“ Kunst der Naturvölker – drückt im künstlerischen und ethnologischen Zusammenhang keine Abwertung aus. Siehe die Erläuterungen von Ralph C. Altman, Ernst H. Gombrich und Franz Boas zu diesem Thema in Kapitel „Energie im Kunstsystem“.

B REVIARIUM

| 11

„Hearing brings more into a man, but seeing he gives out more, even in the very act of looking. And therefore we shall all be blessed more in eternal life by our power to hear than by our power to see. For the power to hear the eternal word is within me and the power to see will leave me; for hearing I am passive, and seeing I am active.“4

Meister Eckhart *** Bezeichnungen und Kürzel Die am häufigsten zitierten Werke und Ausstellungskataloge werden wie folgt abgekürzt: Retrospektive.......................Brockhaus, Christoph/Gaßner, Hubertus (Hrsg.) (2002): Stephan von Huene – Tune the World. Die Retrospektive, (Ausst.-Kat.) Hamburg: Ostfildern. Song of the Line.................. Gaßner, Hubertus/Kipphoff von Huene, Petra (Hrsg.) (2010): Stephan von Huene – The Song of the Line, (Ausst.-Kat.) Ostfildern: Hatje Cantz. Split Tongue........................ Kipphoff von Huene, Petra/Altner, Marvin (Hrsg.) (2012): Stephan von Huene – Die gespaltene Zunge. Texte & Interviews. Split Tongue, Text & Interviews. München: Hirmer.

4

Nach der englischen Ausgabe aus Stephan von Huenes Bibliothek: Meister Eckhart (1957 [= 1941]): A Modern Translation by Raymond Bernard Blakney, New York: Harper Torchbook, S. 108.

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In Anlehnung an das Werkverzeichnis von Petra Oelschlägel (Retrospektive, S.172-207) und an die von Marvin Altner eingeführten Ergänzungen (Song of the Line, S. 93-131) werden folgende Kürzel für Stephan von Huenes Werke verwendet: D

Drawing

P

Painting

G

Graphic Arts

D/D

Drawing/Draft

A

Assemblage

S

Sculpture

SB/T

Sketch Book/Teaching

D/C

Drawing/Computer

R

Radio Play

Legende für Werkbezeichnungen: Titel, Kürzel Jahr-Nummer (Getty Talk, D 1991-1).

ENCOUNTER

Genese eines holistischen Künstlers

F AMILIE

UND UNITARISCHE

G OTTESVORSTELLUNG

Im Jahr 1932 untersuchte ein Tübinger Professor Fragmente eines Saurierskeletts, die sich im Warwickshire Museum in Mittelengland befanden. Er identifizierte die Reste als ein neues, dem Sarcosaurus-Typus zugehöriges Individuum, d.h. als einen frühen fleischfressenden Therapoden aus der Lias.1 Dreiundsechzig Jahre später gaben drei Paläontologen2 diesen Dinosaurier-Resten zum ersten Mal einen Namen: Sie nannten den Saurier nach der Zeit, in der er gelebt haben soll – der Lias – und ergänzten diese Bezeichnung um den latinisierten, im Genitiv deklinierten Nachnamen jenes Tübinger Paläontologen, der die Fossilien als Erster systematisch untersucht hatte. Die im Warwickshire Museum ausgestellten Dinosaurier-Reste, deren Herkunft immer noch nicht vollständig geklärt ist, tragen heute den Namen Lissaurus hunei.3 Der vollständige Name des Tübinger Forschers, um den es hier geht, ist Friedrich Richard Freiherr von Hoiningen, genannt von Huene, besser bekannt als Friedrich von Huene.4

1

Die Lias entspricht dem sogenannten Schwarzen Jura von vor etwa 199 bis 175 Millionen Jahren.

2

Samuel Paul Welles, H.P. Powell und Stephan Pickering.

3

Es handelt sich um ein sogenanntes nomen dubium, da das Exemplar nicht vollständig beschrieben werden konnte.

4

Stephan von Huene soll Friedrich von Huene als Kind kennengelernt haben. Laut Petra Kipphoff von Huene (Gespräch vom 1. Dezember 2014) schenkte der Paläontologe dem jungen Künstler ein Buch mit Illustrationen von Zikkurat-Tempeltürmen, das der Verfasser dieser Arbeit in der Bibliothek des Künstlers nicht finden konnte. Die Bilder aus jenem Buch sollen den Künstler bei der Gestaltung der Pfeifen-Türme von Lexichaos. Vom Verstehen des Mißverstehens zum Mißverstehen des Verständlichen (1990) inspiriert haben.

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Friedrich von Huene (1875-1969) ist nicht nur dafür bekannt, die Bezeichnung Lissaurus hunei und andere wissenschaftliche Namen – sogar noch lange nach seinem Tod – geprägt zu haben: Er war der mit Abstand führende Experte für fossile Reptilien im Europa des frühen 20. Jahrhunderts. Von allen damaligen Paläontologen beschrieb er am häufigsten neue Saurierarten in über 420 Veröffentlichungen5 und unterhielt gute Beziehungen zu Gelehrten aus der ganzen Welt. Nach seiner Auffassung sollte ein Paläontologe nicht nur Knochen im Labor analysieren, sondern auch Fundstellen gründlich untersuchen. Durch die bewusste Einbeziehung des Kontextes der Ausgrabungsstätte blieben Friedrich von Huene einige Fehler erspart, die andere sesshaftere Kollegen durchaus unterliefen.6 So oft die finanzielle Lage es erlaubte, unternahm er Forschungsreisen nicht nur innerhalb Europas, sondern auch nach Nord- und Südamerika, Afrika und Asien. Dank seines Engagements verfügt die Universität Tübingen heute über eine der größten Sammlungen von Wirbeltierfossilien. Aber Friedrich von Huene war nicht nur in diesem Zusammenhang ein außergewöhnlicher Forscher. In die Geschichte ist er durch seine naturwissenschaftliche Arbeit als Pionier der modernen Paläontologie eingegangen. Er bemühte sich aber gleichzeitig um eine plausible Synthese von Naturwissenschaft und Theologie, was spätestens durch seine Publikationen Weg und Werk Gottes in Natur und Bibel (1935) und Schöpfung und Naturwissenschaft (1948) öffentlich bekannt wurde.7 Jahrelang dachte man, die religiöse Thematik wäre ein rein persönliches Anliegen, dem er sich gegen Ende seiner Karriere zu widmen begann.8 Vor wenigen Jahren tauchte jedoch zum ersten Mal eine komplette Liste seiner religiös motivierten Publikationen und Manuskripte mit neunundvierzig Titeln auf.9 Diese Texte liefern u.a. einen guten Einblick in seine seit den frühen 1920er Jahren religiös geprägte Auffassung der Phylogenetik. Zu der Zeit, als Friedrich von Huene arbeitete, machten sich nur wenige Wissenschaftler Gedanken über das Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft oder über die Zusammenhänge zwischen Erdgeschichte und biblischem Schöpfungsmythos. Charles Darwin, David Hume

5 6

Turner 2009, S. 229. So hielt z.B. der ungarische Paläontologe Franz Baron Nopsa von Felsö-Szilvás zwei leicht unterschiedliche Saurierskelette für ein Männchen und ein Weibchen der gleichen Gattung, bis man feststellte, dass die Skelette aufgrund der unterschiedlichen Tiefe, in der sie gefunden worden waren, aus zwei verschiedenen Epochen stammen mussten (Colbert 1968, S. 114-115).

7

Vgl. Vierhaus 2006.

8

Turner 2009, S. 232.

9

Ebenda, S. 239-241.

E NCOUNTER

| 17

und Thomas Henry Huxley hatten auf die Naturwissenschaften jeweils mit der Evolutionstheorie, dem Empirismus und dem Agnostizismus einen massiven Einfluss ausgeübt. Die Bestrebung, die Welt als unitarische Gottesvorstellung aufzufassen, gehörte inzwischen zu einer früheren Zeit. Heutzutage wird Friedrich von Huene aus diesem Grund in Verbindung mit Universalwissenschaftlern wie Galilei, Newton oder Leibniz gebracht. Warum aber dachte Friedrich von Huene anders als die meisten seiner Zeitgenossen? Seine Familie stammte aus dem baltischen Adelsgeschlecht Hoiningen-Huene. Als Sohn eines Rittergutsbesitzers in Estland erhielt er eine traditionell protestantische Erziehung, denn Mitglieder dieser weit verzweigten Familie wurden in der Regel im Geist der protestantischen Reformation erzogen. So lesen wir ähnliche Berichte über die streng protestantische Erziehung von George Hoyningen-Huene (1900-1968),10 Modeund Hollywood-Fotograf aus den 1920er und 1930er Jahren, und über Stephan von Huene, dessen Eltern Rudolf von Huene und Maria Andreae aus dem Baltikum in die USA emigriert waren.11 Trotz der fernen Verwandtschaft12 war es für die von Huenes eine Selbstverständlichkeit, ihre Kinder familiären Werten entsprechend zu erziehen. Dazu gehörten sowohl der protestantische Pietismus als auch das Leben und Wirken ihrer Vorfahren (zu denen Ingenieure, Generäle und Diplomaten zählten), die seit den Zeiten der großen Ritterorden im Deutschordenstaat Kurland – im heutigen Estland – jahrhundertelang zu Besitz und Ansehen gekommen waren. Stephan von Huenes Vorfahren mütterlicherseits waren sogar noch unmittelbarer mit dem Protestantismus verbunden. Seine Mutter Maria Andreae stammte aus einer ins 16. Jahrhundert zurückreichenden württembergischen Theologenfamilie, zu der auch der berühmte Theologe Johann Valentin Andreae (1586-1654) gehörte. Er ist der Autor der frühen Gesellschaftsutopie Christianopolis (1619) und der „sagenhafte“ Verfasser der drei Rosenkreuzer-Manifeste, unter denen sich die allegorische und bilderreiche Erzählung Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreuz (1616) befindet.13 Sowohl das baltische als auch

10 Vgl. Onlinedokument: http://vonhuene.org/story.html (12.4.2015). 11 Für diese und weitere biographische Daten siehe insbesondere Kipphoff von Huene 2002, S. 278-290. 12 Der erste direkte gemeinsame Vorfahre Friedrich und Stephan von Huenes ist laut der Online-Genealogie-Plattform http://www.geni.com (12.4.2015) Heinrich von Hoyningen, genannt von Huene (gestorben 1597). 13 Kipphoff von Huene 2002, S. 278. Der Großvater von Johann Valentin, Jakob Andreae (1528-1590) trug außerdem zu der Formulierung der sogenannten Konkordienformel (1577) bei, Bekenntnisschrift der lutherischen Kirche, mit der man bezweckte,

18 | ELEKTRONIK ALS S CHÖPFUNGSWERKZEUG

das württembergische Erbe hatten einen nachhaltigen Einfluss auf Stephan von Huenes Erziehung. Ob sich dies im Detail auf sein Werk ausgewirkt hat, ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage,14 wenn auch in einigen Arbeiten des Künstlers distanzierte sowie ernst gemeinte Bezüge zur Bibel, zu der deutschen Mystik Meister Eckharts,15 zu Luther und – in einer musikalischen Dimension – zu den protestantischen Bach-Chorälen wahrzunehmen sind. Was man aber wohl mit großer Sicherheit sagen kann, ist, dass dieses Erbe Stephan von Huenes intellektuelle Veranlagung insofern geprägt hat, als dass er die Suche nach einem zeitgemäßen Kunstmedium im Geiste eines Universalisten betrieb. Während die meisten Künstler seiner Generation sich hauptsächlich an der aufblühenden pop und minimal art der Ostküste oder alternativ an der finish und funk art der Westküste orientierten, wurde Stephan von Huene zu einem Exoten und einem Grenzgänger zwischen den Fachdisziplinen, den Kategorien und Genres der Künste.

M YSTERIUM K OMMUNIKATION Eines der wichtigsten Anliegen, das Stephan von Huene zeitlebens beschäftigt hat, war die Kommunikation in all ihren Erscheinungsformen. Das fing an mit der Verständigung jenseits der Wörter und Sprachen. Dieses Interesse hängt auch mit den Erfahrungen seiner Familie zusammen: Kurz nach Beginn der Oktoberrevolution in Russland emigrierten seine Eltern Rudolf und Maria aus dem damals noch deutschsprachigen Baltikum – Lelle im heutigen Estland – in die Vereinigten Staaten von Amerika, waren zuerst an der Westküste und ließen sich dann in Los Angeles nieder. Auch der Bruder der Mutter, Valentin Andreae, und ihr Vater waren ausgewandert. Stephan von Huene kam am 15. September 1932 als drittes von vier Kindern zur Welt. Petra Kipphoff von Huene erzählt, dass er und seine Geschwister, Roland, Eva Maria und Ingeborg, die traditionelle deutsche Erziehung als Widerspruch zu ihrer Schulerfahrung erlebten:

den nach Luthers Tod entstandenen Disput zwischen schwäbischen und niedersächsischen Lutheranern beizulegen (Meyers Konversationslexikon 1885-1892, S. 8). 14 Bredekamp 2002, S. 132. 15 Der spätmittelalterliche Theologe Meister Eckhart (ca. 1260-1328) lebte vor der Reformation aber sein Einfluss reicht bis zur Philosophie der Moderne. Protestantische und evangelische Theologen wie der Pietist Gottfried Arnold erklärten ihn Jahrhunderte später zu einem Vorläufer der Reformation; siehe: Degenhardt 1967, S. 85-86.

E NCOUNTER

| 19

„Durch Onkel Valentin, einen Bruder der Mutter, hörten die Kinder vom Leben und Wirken der Vorfahren. [...] Der Großvater nahm sie gelegentlich bei Spaziergängen mit auf den Friedhof. Auf den Grabplätzen, die ihm und der Großmutter bestimmt waren, setzte man sich hin und Großvater Andreae las aus der Bibel vor. Danach faltete er ein großes weißes Taschentuch auf, in dem er Kuchen mitgebracht hatte. Ein Leben lang hatte er sich geweigert Englisch zu sprechen.“16

Abbildung 1: Porträt Luca Paciolis, von Jacopo de Barbari, 1495

Quelle: Wikipedia/Creative Commons

Zu Hause wurde Deutsch gesprochen. Englisch musste man wie eine Fremdsprache in der Schule und auf der Straße lernen. Die deutsche Sprache war ohnehin aufgrund des Zweiten Weltkrieges in den Vereinigten Staaten nicht gut angesehen. Die Muttersprache Deutsch wurde daher ebenso als etwas Fremdes empfunden. Diese Erfahrungen erweckten sehr früh von Huenes Bewusstsein für die relative Willkür von Sprachzeichen und -lauten sowie deren Bedeutungen. Darüber hinaus ist Stephan von Huene in Los Angeles aufgewachsen, und damit in einer Region der Neuen Welt, die eine große Diversität an Sprachen und Kulturen aufweist: Spanisch, Mexikanisch und Indianisch,17 dazu noch die asiatischen

16 Kipphoff von Huene 2002, S. 278. 17 Vgl. Mennekes 1996.

20 | ELEKTRONIK ALS S CHÖPFUNGSWERKZEUG

Idiome. Diese frühen Erfahrungen über misslungene Kommunikation, leere Sprachzeichen und exotische Kulturen sollten auch einen nachhaltigen Einfluss auf die Arbeit Stephan von Huenes haben.

D IE W ERKSTATT

DES

V ATERS

Stephan von Huenes Vater Rudolph arbeitete bis zur Großen Depression Ende der 1930er Jahre als Ingenieur am California Institute of Technology (CalTech). Seine Mutter war als Sekretärin bei einem Wissenschaftler tätig, ebenfalls am CalTech. Stephan von Huene und sein Bruder Roland verbrachten viel Zeit in der Werkstatt des Vaters, in der sich u.a. ausgediente Kameras und alte Maschinenteile befanden. Von Huenes Vater baute selbst die für seine Arbeit notwendigen Maschinen, mit denen er außergewöhnliche Aufträge für das CalTech erledigte, wie z.B. die Herstellung von Dünnschliffen von Steinen für die mineralogischen Labors der Universität.18 Später wurde Stephan von Huenes Bruder Roland ein bekannter Meeresgeologe. In der Werkstatt des Vaters hing eine Reproduktion des Porträts des Franziskaners und Mathematikers Luca Pacioli (Abb. 1), der als Erster die doppelte Buchführung beschrieben hatte und unter dessen Herausgeberschaft das erste gedruckte Mathematik-Buch auf der Grundlage von Fibonaccis Liber Abacci erschienen war sowie eine Abhandlung über den Goldenen Schnitt, die sein Mathematik-Schüler Leonardo Da Vinci illustriert hatte. In dieser Arbeitsatmosphäre eignete sich der junge Stephan von Huene wertvolle Kenntnisse im Umgang mit Materialien und Mechanik an. Es ist also nicht erstaunlich, dass er nicht nur seine ersten Klangskulpturen selbst baute, sondern manchmal sogar die notwendigen Werkzeuge für deren Bau eigenständig konstruierte. So baute er z.B. die Stanzmaschine für die Programmierung der Lochstreifen seiner ersten Klangskulpturen.19

K UNSTSTUDIUM

UND

„M ENTOREN “

Als Kind bekamen Stephan von Huene und seine Geschwister Zeichen- und Malunterricht.20 Später studierte er Kunst und Kunstgeschichte an verschiedenen In-

18 Vgl. Kienholz 1986; Kipphoff von Huene 2002. 19 Randow 1983, S. 56. 20 Kipphoff von Huene 2002, S. 278.

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stituten und Universitäten Kaliforniens.21 Auf ein Jahr Studium der freien Künste an der University of California, Los Angeles (UCLA) folgten der Militärdienst und ein Studium der Malerei, der Zeichnung und des Design am Chouinard Art Institute in Los Angeles, das er mit dem Bachelor of Fine Arts abschloss (19551959). Im Anschluss (1963-1965) erwarb er noch den Master of Arts in Kunst und Kunstgeschichte an der UCLA. In diesem Zeitraum entwickelte sich Stephan von Huene von einem abstrakt-expressionistischen jungen Maler zu einem Künstler auf der Suche nach seiner eigenen Sprache, die vor allem in seinen ersten erotischen Figurationen, den sogenannten Passadena Bleistift- und Federzeichnungen, sowie in seinen frühen Tuschzeichnungen, Assemblagen, Malereien und Rauchzeichnungen ausgiebig erprobt und reflektiert wird. Während seines Studiums am Chouinard Art Institute in Los Angeles (19551959) studierte Stephan von Huene Malerei, Zeichnung und Design. In einem späteren Katalog des San Francisco Museum of Modern Art aus dem Jahr 1977, in dem die Offenheit des Zentrums zu neuen „modes of representation“ hervorgehoben wird, wird von Huene als Student des Chouinard Art Institute in Verbindung mit „Kommilitonen“ wie Larry Bell, Edward Ruscha oder Joe Goode gebracht: „Nelbert Chouinard opened the art institute which bore her name in 1921 at a location close to Otis Art Institute, for the school was founded to take care of the overflow from that popular school. In the post-World War II period the two strong schools became rivals and as Otis became more structured, Chouinard became more open and responsive to more aggressive modes of representation. Instructors such as Richards Ruben, John Altoon and Robert Irwin turned out students such as Larry Bell, Edward Ruscha, Joe Goode and Stephan von Huene, among others.“22

Die Lehrer am Chouinard Institute wie Richards Ruben oder John Altoon waren Vertreter des Abstrakten Expressionismus, was in den allerersten Arbeiten von Stephan von Huene ebenso registriert wird. Robert Irwin – am Chouinard Institute von 1957 bis 1958 – experimentierte als Vertreter der „light and space“-Bewegung mit den Grenzverschiebungen zwischen Kunst und Wahrnehmung. Sowohl Robert Irwin als auch Edward Ruscha und Joe Goode wurden in der ersten Gruppenausstellung auf deutschem Boden über die Kunst aus der Westküste der Vereinigten Staaten neben Figuren wie Billy Al Bengston oder Bruce Nauman ausgestellt. Im Ausstellungskatalog des Hamburger Kunstvereins USA West Coast (1972) findet man eine Momentaufnahme, deren Grundzüge auch auf zahlreiche Werke von

21 Für eine vollständige tabellarische Biographie siehe Anhang in Kapitel „Spaltklang“. 22 San Francisco Museum of Modern Art 1977, S. 73.

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Stephan von Huene passen: keine Fetisch-Objekte im psychoanalytischen Sinne, sondern vielmehr „sophistication“ und Ironie „durch das Ernstnehmen von Banalem“, oft in Verbindung mit Techniken wie dem „finish“ oder dem „dead pan“.23 Zum Unterschied zwischen Pop Art und der neuen Kunst von der Westküste merkt Heißenbüttel an: „Die Pop-Art […] ist im Grunde bei dem Versuch stehengeblieben, die Semantik des Abbildes (des alltäglichen banalen Abbildes) umzufunktionieren. Die West-Coast-Künstler haben mit einer neuen Vorstellung von Kunst einen Schritt weiter getan. Einer Vorstellung, in der die alten und überlieferten ästhetischen Kriterien aufgehoben erscheinen, in der sich die alte Frage: Kitsch oder Kunst […] gar nicht erst stellt. Einer Vorstellung von Kunst, die nicht der Idee folgt, sondern dem sinnlichen Phänomen, die endlich das, was an Spur der Idee noch weiterwirkt, ganz ins sinnliche Phänomen aufgehoben hat. Der unmittelbare gesellschaftliche und politische Bezug […] bleibt offen.“24

In die soeben skizzierte Szene sind vor allem die Assemblagen und Skulpturen aus Brot, Holz und Leder von Stephan von Huene einzuordnen. Titel von Totemähnlichen Kunstwerken, die man oft als Fetisch-Objekte oder Objekt-surrealistisch interpretiert hat, wie Persistent yet unsuccessful Swordsman (1965), Comin’ through the Rye (1965), Hermaphroditic Horseback Rider (1966), Dentist Lunchpail (1965), Marriage of the Cigar Store Indian’s Daughter (1966) oder One Legged Traveller (1966) deuten auf eine DADA-ähnliche Kunstauffassung ironischer Buchstäblichkeit zur Auslösung von Bedeutungsprozessen hin: Die indexikalische Ebene des Kunstwerks bietet ein neues Umfeld für die Schärfung der Wahrnehmung, etwa in der Tradition von Magrittes Paradoxon „trahison des images“, jedoch ohne dabei ganz auf den Bezug auf die reale Herkunft der Motive und deren mögliche gesellschaftliche Lektüre zu verzichten. Im Laufe seines Lebens erwähnte Stephan von Huene immer wieder zwei Professoren, die ihn nachhaltig geprägt haben: Der deutsche, in die USA emigrierte Professor Karl E. With und der ebenso ursprünglich aus Deutschland stammende Professor Ralph C. Altman waren an der UCLA sowohl für ihr Engagement in ihren entsprechenden Fachgebieten – bzw. asiatischer und primiti-

23 „Finish“ ist ein Schlagwort für die Bezeichnung der perfektesten Bearbeitung einer Oberfläche oder die perfekteste Herstellung eines Endzustandes, manchmal in Verbindung mit optischen Tricks (siehe Heißenbüttel 1972, S. 8). Wörtlich übersetzt bedeutet „dead-pan“ „ausdruckslos“: gemeint ist die Entfernung expressiver Spuren aus der Gestaltung von Oberflächen (ebenda, S. 9). 24 Ebenda 1972, S. 11.

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ver Kunst – als auch für ihr „great teaching“ sehr beliebt, was durch die hohe Wertschätzung und Anerkennung bezeugt wird, die viele ihrer ehemaligen Studenten ihnen entgegenbringen. Diese Unterrichtserfahrungen haben neben den praktischen Kursen von Huenes Auffassung von einem guten Lehrer entscheidend beeinflusst. Stephan von Huene wird selbst von seinen Studenten als ein engagierter und inspirierender Dozent in Erinnerung gehalten. Aber auch hinsichtlich Kunstbegrifflichkeiten und Weltideen ist der Einfluss von Ralph C. Altman und Karl. E. With bei Stephan von Huene nachzuspüren. Von großem Einfluss auf Stephan von Huenes Entwicklung war zunächst Ralph C. Altman, bei dem er primitive Kunst studierte. In einem Vortrag aus dem Jahr 1988 sagt Stephan von Huene rückblickend, dass er am Anfang seiner Karriere kein Interesse an Illustration oder Expressionismus hatte, dass der „Verweigerungsgestus der Konzeptualisten und Minimalisten“ ihn ebenso wenig interessierte. Er wollte eine Kunst machen, die einen Anreiz, einen Stimulus darstellte. Sein Lehrer für primitive Kunst, Ralph C. Altman, charakterisierte die Kunst auf eine ähnliche Weise.25 Wir wissen wenig über Altmans Unterrichtsstil oder den Inhalt seiner Vorlesungen. Doch kann man sich anhand seiner Publikationen wie North American Cultures: The Northwest Coast (1965) und vor allem anhand der von ihm kuratierten Ausstellungen zur primitiven Kunst – wie Totems not Taboo (1959) oder Primitive Arts: an Exhibition (1962) – eine Vorstellung von der Spannbreite seiner Themen und Begrifflichkeiten in Verbindung mit primitiver Kunst machen. Seine Expertise und sein Einfluss waren so anerkannt, dass ein Jahr nach seinem Tod eine der größten Ausstellungen zur primitiven Kunst überhaupt in memoriam organisiert wurde: die Ralph C. Altman Memorial Exhibition, die vom 8. April bis zum 30. Juni 1968 an der UCLA stattfand. Über Ralph C. Altman kam Stephan von Huene wahrscheinlich zum ersten Mal in Berührung mit den Riten und der ethnischen Kunst der NordwestpazifikIndianer wie den Kwakiutl, den im Südwesten befindlichen Hopi, den Iatmul Neuseelands und den verschwundenen Tlatilco aus dem Tal von Mexiko. Dem Experten für asiatische Kunst und Schüler von Wölfflin und Strzygowski, Karl E. With (1891-1980), wird nachgesagt, sowohl durch seine Publikationen als auch vor allem durch seine Lehrtätigkeit an der UCLA – und somit über seine Studenten, die später Künstler oder Kunsthistoriker wurden – die fernöstliche Kunst und Kultur in Nordamerika für die westliche Welt erst richtig bekannt gemacht zu haben.26 So lässt sich Stephan von Huenes Interesse für Holzschnitte und Federzeichnungen von Hokusai und anderen japanischen und

25 Müller 1989, S. 15. 26 Vgl. Fußnoten 25 und 26.

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koreanischen Meistern, für den Bau traditioneller chinesischer Möbel, für japanische Baukunst,27 die Zen-Philosophie sowie die asiatischen Mythen zur Entstehung der Musik besser einordnen. Bekannt war vor allem der charismatische Lehrer Karl E. With für die Gründung der Kurse „Integrated Arts“ und „Man and Arts“, die einen nachhaltigen Einfluss auf die damaligen Kunststudenten und -interessenten ausgeübt haben sollen. Etwa in Anlehnung an die Theorien von John Dewey (Art as Experience, 1934) wurde die Kunst als eine besondere Erfahrung des Menschen erläutert, die sich dadurch von der spontanen Erfahrung der Sinneswahrnehmung unterscheidet, dass ihr eine individualisierbare Qualität zugrunde liegt. „Integrated Arts“ wird auch als interdisziplinäre Kunstforschung und -produktion bezeichnet. Dieser Begriff wird heute auch oft in Verbindung mit neueren „synästhetischen“ Gattungen wie zeitbasierter Kunst, Medienkunst im Allgemeinen und Netzkunst verwendet. Laut UCLA-Vorlesungsverzeichnis (UCLA General Catalog) war der Kurs von Karl E. With an ein breites Publikum gerichtet, so dass man davon ausgehen kann, dass er sich sowohl mit der Produktion als auch mit der Wahrnehmung von Kunst auf einer populärwissenschaftlichen Grundlage auseinandersetzte.28 Ein paar Jahrzehnte später sollte Stephan von Huene in der Internationalen Sommerakademie Salzburg ähnliche, wenn auch Praxisorientierte Kurse für ein heterogenes Publikum anbieten, aus dem einige Künstler und Kunstdozenten29 hervorgegangen sind, wie Babette Ueberschär, Brigitte Kohlbecher, Brigitte Marzi oder Monika Brenner. Die Klasse, in der die unterschiedlichsten „Studenten“ sich für einen Sommerkurs zusammenfanden, hat Stephan von Huene mit einem „breathing exercise“ begonnen. Durch das gemeinsame Atmen wurde eine Einstimmung der besonderen Art erreicht, die zur Konzentrierung der kreativen Energie beitrug.30

27 Karl E. With ist Autor u.a. von Abhandlungen über Japanische Baukunst (1921), Chinesische Steinschnitte (1922) und Buddhistische Plastik in Japan (1919). 28 Über Karl E. With wird in einem Jahresbericht der UCLA aus dem Jahr 1961 folgendes geschrieben: „A versatile and entertaining lecturer. Professor of Art KARL WITH is the one-man staff for the Curricula in Integrated Arts. His course covering art expression through history, satisfying an L&S requirement, is the only contact many students have with the University’s College of Fine Arts.“ (UCLA 1961, S. 85) Soweit nicht anders vermerkt, wurden sämtliche Auszeichnungen oder Hervorhebungen in Zitaten bereits innerhalb des jeweiligen Originals verwendet. 29 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. 30 Siehe das Interview mit Petra Kipphoff von Huene im Anhang „Spaltklang“.

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Aus seiner ersten Zeit an der UCLA erzählt auch von Huene, dass Karl E. With eine interessante Theorie zur Entstehung der Kunst hatte:31 „In den frühesten Zeiten gingen die Menschen hinaus und würgten ein Tier mit ihren Händen, um es zu töten und Nahrung zu haben. Dann ergriffen sie einen Stein und warfen damit nach dem Tier. Dann befestigten sie den Stein an einem Stock, um das Tier besser treffen zu können. Dann versahen sie den Stock mit Federn, um auch aus der Ferne treffen und sicherer zielen zu können. Dann schossen sie den aus Stein, Stock und Federn montierten Pfeil mit einem Bogen, wodurch er mehr Flugkraft bekam. Dann schliffen sie den Stein immer dünner und spitzer, damit er besser in die Haut des Tieres eindringen konnte. So verfeinerten sie ihre Waffe immer mehr. Und eines Tages war sie so vollendet, dass sie gar nicht mehr benutzt werden musste.“32

Diese Vorstellung von Kunst als einem immer besser verfeinerten Werkzeug, dessen ursprüngliche Funktion aufgrund der erreichten Perfektion entfremdet wird, spiegelt sich in der Entwicklung und Perfektionierung von Stephan von Huenes Werken wider: Er fand es z.B. seltsam, dass Musikautomaten nur gebaut wurden, um Musik zu reproduzieren, als wären diese kostbaren Maschinen nur Wiedergabegeräte. Stattdessen knüpfte er an den bisherigen Automatenbau an mit der Absicht, Maschinen zu bauen, die nicht für reine Musik-Aufführungen bestimmt waren, sondern die imstande waren, sich selbst zu spielen. Derartige Maschinen würden den mechanischen Klang als ein ihnen zugehöriges variables Element bewahren und den Live-Interpreten durch eine „anonyme Performance“ ersetzen.33 Somit wäre die ursprüngliche Funktion des Klangautomaten insofern

31 Katharina Schmidt (1983) schreibt den Namen des emigrierten Professors irrtümlicherweise als „Dr. Wied“ mit der Anmerkung, diese Schreibweise könne nicht als verbindlich gelten. Die falsche Schreibweise beruht möglicherweise auf dem mündlichen Ursprung der Information. Laut Petra Kipphoff von Huene könnte die hektische Vorbereitung der Ausstellung in der Badischen Kunsthalle im Jahr 1983 dazu beigetragen haben, dass der Name von Karl E. With nicht auf die richtige Schreibweise überprüft wurde. Der Autor des vorliegenden Textes hat nach einer ausführlichen Recherche den geheimnisvollen „Dr. Wied“ mit dem emigrierten deutschen Professor Karl Eberhard With, der von 1948 bis 1966 Kunstgeschichte an der UCLA unterrichtete, identifiziert. Für weitere Informationen über Karl E. With siehe das Onlinedokument: http://www.dictionaryofarthistorians.org/withk.htm (12.4.2015). 32 Nachlass Stephan von Huene: deutscher Text von Petra Kipphoff von Huene (Schmidt 1983, S. 11). 33 MIZUE 1973; hier zitiert nach Split Tongue S. 49.

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transzendiert, dass man nicht mehr von einem Instrumenten oder einer Jukebox, sondern von einem performativen Kunstwerk reden würde. Karl E. Withs Anekdote über die Entstehung der Kunst erinnert auch an den Perfektionierungsdrang in Stephan von Huenes Kunstschaffen. Sei es aus Notwendigkeit oder weil er tatsächlich diese Gedanken im Hinterkopf hatte, bemühte sich Stephan von Huene stets um die technische Verbesserung seiner Kunstwerke, mit der manchmal eine Metamorphose des Kunstwerks einherging. Ein gutes Beispiel ist die stete Anpassung und Veränderung seiner wahrscheinlich bekanntesten Klangskulptur Tisch Tänzer (1988/1995) über einen Zeitraum von ca. zehn Jahren, wenn man auch die Entwicklungsphase vor der ersten Ausstellung im Jahr 1989 berücksichtigt.34

D IE ( DAMALIGE ) B IBLIOTHEK DES K ÜNSTLERS Wenn man einen Blick in die Bibliothek35 des Künstlers wirft, kann man die Grundlagen rekonstruieren, die den intellektuellen Ausgangspunkt seiner künstlerischen Karriere definieren. Von den Büchern, die vor der Entstehung seiner ersten professionellen Arbeiten bereits zur Bibliothek des Künstlers gehörten, sind zahlreiche Themenbereiche und Titel hervorzuheben: Als Reminiszenz seiner Kindheit findet man dort Hoffmanns Struwwelpeter in einer Edition aus dem Jahr 1928 mit teils lustigen, teils grausamen Bildergeschichten. Laut Bredekamp36 könnten „die gruseligen Schneideszenen [z.B. ‚Die Geschichte vom Daumenlutscher‘, Anmerkung J.M.M.] als dunkle Traumgeschichte in den Schneidefiguren [aus von Huenes Zeichnungen, Ergänzung J.M.M.] weitergewirkt haben“. Die frühe Begegnung mit der Karikatur wird auch durch die Präsenz von Eduard Fuchs’ Buch Der Weltkrieg in der Karikatur (1916) bestätigt. Es ist davon auszugehen, dass es eine der ersten plastischen Erfahrungen des Künstlers war, zu sehen, wie die Zeichnung und insbesondere die Karikatur imstande sind, gegensätzliche Welten zu vereinen. Das Interesse für dieses Aus-

34 Vgl. Oelschlägel 1995. 35 Siehe eine ausführliche Bücherauswahl im Anhang. Sofern nicht anders vermerkt, beziehen sich die Jahresangaben auf die Edition in von Huenes Bibliothek und nicht auf die früher datierte Erstausgabe des betreffenden Buches. Für sämtliche in der „Bibliothek des Künstlers“ aufgeführten Werke folgt hier grundsätzlich die Komplettzitation im Text. Alle weiteren Quellennachweise erfolgen als Kurztitel in den Fußnoten. Die Aufschlüsselung erfolgt im Literaturverzeichnis. 36 Bredekamp 2002, S. 132.

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drucksmittel hielt sein ganzes Leben an: Die Zeichnung wurde u.a. ein Hilfsund Demonstrationsmittel für seine skulpturale Arbeit.37 Schon früh lassen sich auch einige Lektüren in Kernbereichen verfolgen, die für von Huenes späteres Schaffen wichtig wurden. Das Buch Modern Organ Building (1939) von Walter und Thomas Lewis und die praktische Abhandlung von Oliver C. Faust A Treatise on the Construction, Repairing and Tuning of the Organ (1949) – Letztere aufgrund des steten Gebrauchs sichtbar abgenutzt und sogar beschädigt – deuten auf ein frühes Interesse für die praktische Seite des Orgelbaus hin. Dieses spezielle Interesse war eine Folge der Lektüre von Hermann von Helmholtz’ – Die Lehre von den Tonempfindungen (1862) – in einer englischen Ausgabe aus dem Jahr 1954 – als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. Auch Dayton Millers The Science of Musical Sounds (1926) gehört zu diesem Grundbestand an Sekundärliteratur. Hochinteressant ist auch die Erscheinung von klassischen Fachbüchern als Fotokopie, die an frühe Interessen anknüpfen, insbesondere von Werken über Karikatur wie Rodolphe Toepffers Essai de Physiognomonie (1845) und über angewandte Physiognomie in den bildenden Künsten wie Egon Brunswicks und Lotte Reiters Eindruckscharaktere schematisierter Gesichter (1938) und Charles Le Bruns Heads representing the Passions of the Soul (1698)38 oder Methode pour apprendre a dessiner les passions (1702). Diese Werke fotokopierte der Künstler im Jahre 1991, als er Scholar am Getty Center for the Arts and the Humanities in Santa Monica war. Aus der kalifornischen Zeit sind auch die Illustrationen des flämischen Anatoms Andreas Vesalius aus Saunders’ und O’Mallys Buch Vesalius. The Illustrations from his Works (1950) sowie eine großformatige, sichtlich häufig verwendete Monographie über Leonardo da Vinci (Novara 1961)39 als Künstler, Musiker und Erfinder hervorzuheben. An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass die chronologische Zuordnung vieler Bücher hinsichtlich deren Erwerb und Eingang in die Bibliothek des Künstlers nur mit Vorsicht formuliert werden kann. Nichtsdestotrotz gibt es hier klare Indizien,40 dass Stephan von Huene bereits sehr früh ein Interesse für

37 Warnke 2003, S. 104. 38 Die Jahresangabe in den Fotokopien von Stephan von Huene ist nicht lesbar. 39 In englischer Übersetzung aus dem Italienischen (Verlag der englischen Ausgabe: Reynal & Company in New York; Verlag der italienischen Ausgabe: Instituto Geografico de Agostini, Novara 1956). 40 Die chronologische Entstehung seiner Bibliothek lässt sich in großen Teilen anhand biographischer Daten wie dem Lebenslauf, Interviews und Kommentaren von Kunst-

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Akustik, Orgelbau, Karikatur, Physiognomie und, in einem kleineren Ausmaß, Kommunikationspsychologie entwickelt hatte. Zu Stephan von Huenes Lektüre ab den 1950er Jahren zählen die Predigten des deutschen Mystikers Meister Eckharts in der Übersetzung von Raymond Bernhard Blakney, russische Belletristik – vor allem Dostojewskis Der Idiot – sowie die Bücher des deutschstämmigen, US-amerikanischen Ethnologen, Physikers und Geographen Franz Boas über Primitive Kunst, insbesondere Primitive Art (1955), das der Künstler in Verbindung mit seinem Studium bei Ralph C. Altman gelesen haben mag.41 Aus der Zeit der 1950er Jahre finden wir in der Bibliothek außerdem Bücher über Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft, allen voran Klassiker wie Heinrich Wölfflins Principles of Art History (1956) und Ernst H. Gombrichs Art and Illusion (1959), letzteres Werk eine psychologische Untersuchung der Geschichte der Bildrepräsentation. In diese Ordnung wäre etwa auch Sigmund Freuds Buch Leonardo da Vinci. A study in psychosexuality (1947) einzuordnen. Relevant sind zudem einige Bücher über die Zeichnungen von Picasso – wie David Duncans The private world of Pablo Picasso (1958) oder Michel Leiris A suite of 180 drawings by Picasso (1954) –, den großen Meister des Kubismus, der vor allem mit Stephan von Huenes ersten Zeichnungen in Verbindung gebracht wird (Bredekamp 2002; Warnke 2002). Vertreten sind aber auch Zeichner wie Paul Klee (Peter Bergmanns Paul Klee Pedagogical Sketchbook, 1953), William Blake (George Wingfield Digbys Symbol and Image in William Blake, 1957 und Charles Henry Collins Bakers Catalogue of William Blake’s Drawings and Paintings in the Huntington Library, 1957) sowie zahlreiche japanische Meister der Farbholzschnittkunst wie Kitagawa Utamaro (1753-1806), Torii Kiyonaga (1752-1815), Utagawa Toyokuni (1769-1825), Sesshu Toyo (1420-1506), Toshusai Sharaku (floruit, um 1794-1795) und insbesondere Katsushika Hokusai (1760-1849). Die elegante Linienführung und die realitätsnahen Gesichtsausdrücke der Frauen sowie die lebendige Darstellung der Figuren durch diese japanischen Meister hat Stephan von Huene ebenso fasziniert wie die expressiven, „ungezügelten“ und themenreichen Entwürfe von Katsushi-

kritikern und Bekannten rekonstruieren. Gebrauchsspuren und Notizen des Künstlers geben Orientierung bei der Kategorisierung der Werke hinsichtlich ihrer Wichtigkeit für von Huenes Schaffen. 41 In Verbindung mit seinem Interesse für den Transfer magischer Kräfte in die ethnologische Kunst zitiert Bredekamp die Arbeit Naven von Bateson über die Rituale der Iatmul aus dem Jahr 1958 (Bredekamp 2002, S. 138); das Buch befindet sich jedoch nicht in der Bibliothek.

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ka Hokusai (insbesondere jene aus Micheners The Hokusai Sketch-Books. Selections from the Manga, 1958), deren Einfluss auf Stephan von Huenes frühe Zeichnungen mindestens ebenso stark ist als jener von Picassos Zeichnungen.42 Zu William Blake soll außerdem hervorgehoben werden, dass Stephan von Huene dessen Zeichnungen aus zahlreichen Besuchen in der Huntington Bibliothek kannte. Dort befindet sich immer noch die größte Sammlung von Blakes graphischem Werk. Eines dieser Motive begleitete Stephan von Huene bereits in jungen Jahren: „The Tyger“ – das möglicherweise bekannteste Gedicht aus dem illustrierten Buch Songs of Experience (1794). Das gegensätzliche Mysterium von Blakes „fearful symmetry“ von Gut und Böse und die demiurgische Herkunft des Tygers durch Einwirken von „Urizen“43 mögen einen nachhaltigen Eindruck auf den jungen Stephan von Huene ausgeübt haben. Ein Buch, das mit Sicherheit in Verbindung mit dem Studium der Malerei in das Regal des Künstlers kam, ist Erle Lorans erfolgreiches formalistisches Werk über Bildgestaltung bei Cézanne: Cézanne’s composition. Analysis of his form with diagrams and photographs of his motifs (1950). Das Buch von Loran war sehr einflussreich unter Kunstlehrern und Studenten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ursprünglich wurde dieses Werk vor allem von praktizierenden Künstlern genutzt, um „Composition“ bzw. Bildgestaltung zu lernen. Diese Art des Unterrichts unterstützte auch die Vorstellung, dass moderne Kunst unabhängig von Konnotationen und Subjektivität des Motivs unterrichtet und dadurch erlernbar werden konnte.44 Andere Künstler, von denen Stephan von Huene in seinen jungen Jahren kostengünstige Monographien kaufte,45 die dennoch selten in Verbindung mit seinem Schaffen gebracht werden, sind der amerikanische Impressionist Albert Pinkham Ryder (1847-1917), bekannt für seine poetische und allegorische Darstellungen (Lloyd Goodrich: Albert P. Ryder, 1959) und die Wegbereiter der

42 Bisher wird vor allem angenommen, dass die ersten Zeichnungen Stephan von Huenes unter dem Einfluss von Pablo Picassos graphischem Werk stehen (Warnke 2002, S. 98; Altner 2010, S. 19). 43 In der Mythologie von William Blake verkörpert die fiktive Figur „Urizen“ das Gesetz und die herkömmliche Vernunft in der Form eines alten Schöpfergottes. 44 Der Pop-Art-Künstler Roy Lichtenstein wurde von Lorans Diagrammen über Cézannes Malereien auch inspiriert, er sah in diesem Buch einen „aberwitzigen mechanistischen Versuch Cézannes Kunstanreiz zu erläutern“ (vgl. http://www.dictionaryofart historians.org/lorane.htm [12.4.2015]). 45 Die Finanzielle Lage des Studenten von Huene war etwas prekär, so dass der Künstler während der Studienzeit sich selten den Kauf neuer Bücher leisten konnte.

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„Action Paintings“ Willem de Kooning und Jackson Pollock (Thomas B. Hess: Willem de Kooning, 1959; Frank O’Hara: Jackson Pollock, 1959). In den 1950er Jahren machte Stephan von Huene auch wichtige LektüreEntdeckungen in den Bereichen Psychologie, Psychotherapie und Physiologie sowie über die Geschichte der Musik und der Musikinstrumente. Hervorzuheben wären Nikolaas Tinbergens The Study of Instinct (1951) und vor allem Ray Birdwhistells revolutionäre Analyse der Körperbewegung als Teil der Kommunikation in Introduction to Kinesics (1952), welche eine entscheidende Lektüre für sein späteres Werk darstellen wird. Dieses Buch wird z.B. in Verbindung mit Klangskulpturen wie Erweiterter Schwitters (1987) und Tisch Tänzer (19881995) genannt. Erich von Hornbostels und Curt Sachs’ Classification of Musical Instruments sowie Curt Sachs’ Bücher The Rise of Music in the Ancient World – East and West (1943), The History of musical Instruments (1940) und Rythm and Tempo – a Study in Music History (1955) vervollständigen die facettenreiche Bücher- und Ideenwelt des jungen Stephan von Huene vor dem Anfang seiner professionellen Karriere. Eine besondere Nennung verdient hier noch der kalifornische Komponist und Instrumentenbauer Harry Partch. Sein Buch Genesis of a Music (1975 [=1949]) wurde vom Künstler intensiv gelesen und annotiert. Die Form der außergewöhnlichen Instrumente von Harry Partch, die sich ja zum Teil aus dem von ihm entwickelten mikrotonalen System und seinen pentatonischen Versuchsanordnungen ergaben, dürften die Aufmerksamkeit von Stephan von Huene gewonnen haben, der Jahre später maßgeschneiderte „Maschinen“ für collagierte Kompositionen, Klangereignisse und pentatonische Grundtöne bauen würde. Ab den 1960er Jahren wird Stephan von Huene sich intensiv mit den Arbeiten von relevanten Anthropologen wie Gregory Bateson und Paul Watzlawick beschäftigen und sich u.a. mit dem einflussreichen Werk von Henry Lanz über die Physikalität der Sprache (The physical basis of rime), mit der anthropologischen Linguistik von Dell Hyme und, später, mit den Methoden des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) auseinandersetzen.

D ER L EHRER S TEPHAN VON H UENE KALIFORNISCHEN K REISE

UND DIE

Von 1964 bis 1970 unterrichtete Stephan von Huene Zeichen und Wahrnehmung am Chouinard Art Institute in Los Angeles, das auf Grund finanzieller Schwierigkeiten 1970 aufgelöst wurde. Dessen beste Dozenten wurden in das von den Disney-Brüdern 1961 eröffnete California Institute of the Arts (CalArts) über-

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nommen. Dort unterrichtete Stephan von Huene weiter von 1971 bis 1980. Neben ihm unterrichteten hier bekannte Künstler wie der abstrakte Maler Paul Brach, die Pionierin im Bereich feministischer Kunst und Gründerin des „Feminist Art Program“ am CalArts Miriam Schapiro, der Aktionskünstler Allan Kaprow, der Pionier in elektronischer Musik Morton Subotnick und die Komponistin und Stimm-Virtuosin Joan La Barbara, die zu Kollegen und Freunden wurden.46 Auch Edward Kienholz und Sam Fancis wurden damals zu seinen Künstlerfreunden, die nicht nur seine Arbeit bewunderten, sondern auch sammelten.47 CalArts ist eine private Kunsthochschule in der zu Valencia gehörigen Stadt von Santa Clarita im Los Angeles County. Sie wurde als Zusammenschluss des Los Angeles Conservatory of Music und dem Chouinard Art Institute gegründet. Zu der Grundidee von CalArts gehört auch die Vision von Walt Disney: 1960 entwarf Walt Disney Pläne für eine Kunsthochschule für gestalterische und darstellende Künste, in der unterschiedliche Kunstdisziplinen unter einem Dach zusammenkommen sollten, um sich gegenseitig zu inspirieren.48 Die offene Architektur des Gebäudes sollte den Austausch der einzelnen Fachbereiche fördern. Roland Barthes’ Behauptung, dass jeder imstande ist, eine semiotische oder strukturalistische Auslegung der Stadtarchitektur49 zu machen, ohne es bewusst zu wissen, könnte für die Gebäude des CalArts genauso gut gelten: Die bewusste oder unbewusste strukturelle Wahrnehmung des CalArtsKomplexes durch die Studierenden als einen weltoffenen „place of performance“ in Worten von Marvin Carlson50 hat sicherlich eine vernetzende Dimension aller Disziplinen oder zumindest das aristotelische Potenzial einer fachübergreifenden Befruchtung favorisiert. Die Nähe zu Hollywood und der Einfluss der Mitgründer Roy und Walt Disney lässt sich insbesondere in den Zeichentrickfilm- und Filmarbeiten dieser Akademie erkennen. Im Falle von Stephan von Huene lässt sich dieser Einfluss an dem ständigen Gebrauch der Zeichnung als begleitendem Schaffensmittel mit einer großen Produktion von Skizzen und Karikaturen des menschlichen Körpers

46 Kipphoff von Huene 2002, S. 288. 47 Wieland 1983, S. 41; Nancy Kienholz gehört immer noch Tap Dancer (1967), Sam Francis besaß bis vor kurzem Totem Tone V (1969-70). 48 Siehe http://calarts.edu/about/history (12.4.2015). 49 „[...] every visitor to the tower makes a semiotic or structuralist analysis of the city without nowing it“ (Barthes 1979, S. 9-10). 50 Carlson 1993, S. 1-60.

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an dem Einsatz der Zeichnung als Serie in Werken wie Tisch Tänzer (19881995) und Die neue Lore Ley II (1997) erkennen. Über die Gründungszeit von CalArts – zeitgleich zur Übernahme von Stephan von Huene als Dozent – erzählt der kalifornische Konzeptkünstler John Baldessari, wie der damalige Dekan Paul Brach nicht nur renommierte Künstler aus benachbarten Akademien, sondern auch internationale Vertreter der FluxusBewegung in die neue Hochschule holte, was auch den Austausch künstlerischer Positionen favorisierte und einen positiven Einfluss auf das Werk von Stephan von Huene haben würde, der sich schon damals für das performative Potenzial seiner Arbeit interessierte: „Paul [Brach] was offered the job [als Dekan der Kunstabteilung, Anmerkung J.M.M.] at CalArts and asked me [Baldessari] if I wanted to go up there with him. I was the only one he chose from San Diego. He fired almost the entire art faculty from Chouinard with the exceptions of Mike Kanemitsu, Stephan von Huene, and Emerson Woelffer. They were token appointments and didn’t last too long, except for Stephan, who became an assistant Dean. I got along really well with Paul; he gave me free reign. He also brought in Fluxus People like Dick Higgins, Allan Kaprow, Alison Knowles, Nam June Paik, and Simone Wittman.“51

Es sei auch hier ergänzt, dass der Dekan der Musikabteilung am CalArts der berühmte Jazz-Pianist und Komponist Mel Power (1923-1998) war. Mel Power widmete sich seit dem Jahr 1949 der Untersuchung und Entwicklung von musique sérielle und „nontonal composition methods“ – eine Bezeichnung, welche er Schönbergs Begriff „atonaler Musik“ präferierte.52 Damit vermied Powell die Kritik, die der radikale und nahezu dogmatische Verneinungscharakter des alpha privativum in Schönbergs Terminus „a-tonal“ auslöste, denn jede Musik setzt die Nutzung von Tönen voraus, selbst wenn diese kein tonales Zentrum aufweisen. Seine Untersuchungen führten zu Kompositionen wie Filigree Settings for String Quartet (1959) und Electronic Setting (1960). Schönbergs Assistent Leonard Stein lehrte ebenso am CalArts.53 Stephan von Huene dürfte somit – im weltoffenen, interdisziplinären und fachübergreifenden CalArts – in Berührung mit den Konzepten der dodekaphonischen Musik und der Klangfarbenmelodie gewesen sein. Dass er z.B. Arnold Schönbergs Ausführungen über die Klangfarben kann-

51 Kapitel „Reflections by John Baldessary“ in: Hertz 2011, S. 73-74. 52 Siehe http://www.jazzhouse.org/gone/lastpost2.php3?edit=920546056 (12.4.2015). 53 Kipphoff 2002, S. 286.

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te, wird spätestens deutlich in der Realisierung von Skulpturen wie Text Tones (1979/1982-83), Zauberflöte (1985) und Erweiterter Schwitters (1987).

M ASCHINEN FÜR DIE W IEDERVEREINIGUNG VON K UNST UND H ANDKRAFTWERK Der Kritiker William Wilson schrieb 1969 eine der ersten Kunstkritiken über Stephan von Huenes Arbeit, als er seine ersten vier Klangskulpturen – Kaleidophonic Dog, Rosebud Annunciator, Washboard Band und Tap Dancer, alle aus dem Jahr 1967 – im Los Angeles County Museum of Art im Ahmanson Building54 zeigte. Rückblickend sagt Wilson: „Seine Arbeit war eine reizvolle OffBeat-Variante der kinetischen Kunst, die zu der Zeit Aufmerksamkeit erregte.“55 Zu den Aspekten, die Wilson in Verbindung mit Stephan von Huene erwähnt, ist sein Interesse für die Architektur im amerikanischen Craftsman-Stil des frühen zwanzigsten Jahrhunderts besonders hervorzuheben. Stephan von Huene beeindruckten die Häuser der Brüder Charles Sumner Greene (18681957) und Henry Mather Greene (1870-1954) – besser bekannt nach dem Namen ihrer Architekturfirma Greene & Greene. Der Künstler selber lebte jahrelang in einem dieser Familienhäuser im Stadtviertel Echo Park. Derartige Häuser sind sowohl von der asiatischen Architektur als auch von den traditionellen Arts & Crafts-Prinzipien geprägt. Die Sichtbarmachung der handwerklichen Qualität oder die Veräußerlichung der Trägerstrukturen sind relevante Aspekte des handwerklichen Ethos. Der Craftsman-Stil knüpft aber auch an mathematische Prinzipien der Natur wie dem goldenen Schnitt – auch bekannt als Fibonacci-Prinzip – und an eine Künstlervorstellung, welche die Wiedervereinigung von hoher Kunst und Handwerk – „high and low culture“ – verfolgte. Die ersten Skulpturen von Stephan von Huene stehen in der Tat im Einklang mit den wichtigsten Prinzipien dieser Tradition. Ein besonderer Fall ist die Klangskulptur Rosebud Annunciator (1967-69, Abb. 2). Während Kaleidophonic Dog (1964-67), Tap Dancer (1967) und sogar Washboard Band (1967) beim ersten Blick in die Tradition des Automaten- und Spielzeugbaus eingeordnet werden können, lässt sich Rosebud Annunciator (1967-69) als kostbarer Möbel mit architektonischer Projektion deuten.

54 Zur Eröffnung bestand das County Museum of Los Angeles aus dem Ahmanson Building, dem Hammer Building und dem Big Center. Letzteres wurde hauptsächlich für Vorlesungen genutzt. 55 Wilson 2002, S. 34.

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Abbildung 2: Rosebud Annunciator (S 1967-4) in Stephan von Huenes Haus im Echo Park. Dreiteilige Holzkonstruktion 214 x 244 x 122 cm, Leder, Trommel, Zimbel, Harmonium-Zungen, Xylofon, Gebläse, Licht, Computer (vormals Lochstreifen), Museum Ludwig, Köln (vormals Sammlung Edward Kienholz und Nancy Reddin Kienholz, Hope, Idaho)

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Die dreiteilige Holzkonstruktion besteht aus einer Leder-Rose mit achtzehn abgeschlossenen Segmenten, zwei flankierenden auf Sockel gestellten Lederkugeln, einem Holzxylophon, einer Trommel, zwei Zimbeln und ein paar Pfeifenzungen. Die Orchestrierung von Klangmustern wurde auf einer Walze mit Lochstreifen nach Zufallsprinzipien programmiert, was an die Entstehung des Erratum Musical von Duchamp erinnert – von Huene spricht von Fotokopien, Schere und Klebeband als Kompositionshilfe.56 Den musikalischen Rohstoff lieferten Bach (Klang)57 und Strawinsky (Rhythmus).58 Die Teile der Leder-Rose und die seitlichen Lederkugeln werden

56 Akademie der Künste Berlin 1980, S. 142-143. 57 Die genauen Partituren sind die „Zweistimmigen Inventionen“ aus der Werksammlung Aufrichtige Anleitung. Siehe: Newmark 1972, S. 69-72.

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vom gleichen Lochstreifen, der die Komposition vorgibt, mit Luft aufgeblasen und leergepumpt. Nach einer bestimmten Abspielzeit unterbricht die Skulptur die Klangdarbietung. Wird diese erneut eingeschaltet, macht sie ab dieser Stelle weiter. Erreicht der Lochstreifen das Ende der Walze, wird die „Partitur“ rückwärts abgespielt. Auf diese Weise ergeben sich unterschiedliche Kompositionen. Die Erkennung von sich wiederholenden Klangabfolgen ist unter normalen Rezeptionsbedingungen – z.B. während eines kurzen Museumsbesuchs – gar nicht möglich. Abbildungen 3 und 4: Skizze der Leder-Rose für Rosebud Annunciator und das Rose Bowl Stadium in Pasadena

Quellen: Nachlass Stephan von Huene; Bobak Ha’Eri

Rosebud Annunciator (1967-69) wurde von Stephan von Huene in Übereinstimmung mit dem Mobiliar und der Architektur seines Hauses im Echopark gebaut: Treppengeländer mit großen weißen spanischen Kugeln als Finials und Möbeldekoration wie Charles Summer Greenes Reliefintarsien auf Teakholz-Paravants59 könnten jeweils als Inspiration für die weißen Leder-Kugeln und die Rose gedient haben. Der Künstler vollzog eine haptische und symbolische Umfunktionierung dieser Elemente: Indem er die Dekorationselemente verlebendigte, wurde der handwerkliche Herstellungsprozess auf mechanischer Weise sichtbar und somit zum ausgeklügelten Oximoron stilisiert. Dieses Vorgehen ist nichts anderes als die Aufhebung der Frage „Kitsch oder Kunst?“, von der Heißenbüttel

58 Als Vorlage dürfte Igor Strawinskys „Die Geschichte vom Soldat“ gedient haben: Das Werk wurde in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Dichter Charles-Ferdinand Ramuz für eine Wanderbühne geschrieben; siehe CHIP 1983, S. 40. 59 Schmidt 1983, S. 24.

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in Bezug auf andere West-Coast-Künstler sprach,60 und die Komplexität mit „einem femininen Hang zum Luxus“, die der Kritiker Fidel A. Danieli im Bezug auf andere frühen Arbeiten von Stephan von Huene thematisierte.61 Laut Wilson kann der Begriff „Rosebud“ (Rosenknospen) mit „Rose Bowl“ assoziiert werden, dem alljährlich zu Silvester stattfindenden großen Rosenfest mit Blumen, prunkvoller Wagen-Parade und Football-Fest im Vorort Pasadena, wo Stephan als kleiner Junge gelebt hatte. Die Rose von Rosebud Annunciator (1967-69) ist laut Wilson an die Rose des Rose Bowl Stadiums angelehnt. Eine große Ähnlichkeit ist tatsächlich nicht zu leugnen (Abb. 3 und 4). Darüber hinaus erläutert Wilson das pneumatische Rosebud-Motiv aus der Klangskulptur Rosebud Annunciator (1967-69) in Anspielung auf das geheimnisvolle Rosebud-Wort, das der Medientycoon aus Orson Welles Citizen Kane (1941) unmittelbar vor seinem Tod ausspricht: „Filtered through von Huene’s art, the films essential ramifications decode the fact that the Craftsman movement was chimerical a modernist forerunner grafted to a rearguard Medievalist rejection of the Industrial Revolution. Thus von Huene’s ‚Rosebud‘ allusion speaks to the occupational and creative dilemma faced by traditional artists who were made chronologically obsolet in world dominated by the cinema – a technological art.“62

Diese rückblickende Äußerungen über die schwierigen Verhältnisse von Kunst, Gesellschaft und neuen Technologien knüpfen konsequent an Wilsons erste Kommentare zu den Klangskulpturen von Stephan von Huene an: Der Kritiker schrieb damals von Huenes Werken „a marvelous reverse logic“ zu, welche Henri Bergsons Humortheorie (Le rire, 1899) umkehren würde. Bergson zufolge ist es die Starrheit als ungewolltem Automatismus, was den Prinzipien der Lebenskraft oder élan vital widerspricht und uns zum Lachen bringt. Man ist demnach umso witziger, je mehr man wie eine Maschine handelt. Das Gegenteil ist aber hier der Fall: Indem von Huene seinen architektonisch-mechanischen „conglomerates“ mit Bewegung und Sound Leben einhaucht, ergibt sich ein seltsamer humoristischer Moment, der zugleich Unbehagen auslöst. In diesem Sinne bringt Wilson diese Werke in Verbindung mit der „gothic tradition“ von Hawthornes berühmtem Roman The House of the Seven Gables, „where architecture came virtually alive, acting as a character in the

60 Heißenbüttel 1972, S. 11. 61 Danieli 1968, S. 52. 62 Wilson 2002, S. 37.

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novel“.63 Diese performative Fähigkeit der Architektur ist vergleichbar mit der Grenzziehung, die Erik Satie zwischen Musik und Mobiliar mit seiner musique d’ameublement vollzog.

L OKALE M OTIVE

UND

B UCHSTÄBLICHKEIT

Die Arbeit Wash Board Band (1967), über die Stephan von Huene sagte, er hätte den letzten Man aus dem One-Man-Band vertrieben, knüpft an ähnliche Vorstellungen der chimärischen Ablehnung industrieller Repräsentationsmedien an. Dabei machte er aber auch auf die lokale und zum Teil marginalisierte Geschichte Nordamerikas aufmerksam: Schwarze haben in der Not ein „washboard“, d.h. ein Waschbrett als Instrument verwendet und waren mit Füßen und Händen an selbst erfundenen Instrumenten als „one man band“ tätig. Die Maschine von Stephan von Huene befreit den Sklaven, bedeutet aber auch das Aussterben dieser originalen musikalischen Kultur, der damit zugleich ein Andenken gesetzt wird. Alle weiteren Skulpturen aus jener Zeit, inklusive der zwölf „statischen“ Skulpturen, die den meisten Klangskulpturen vorangehen, haben etwas gemeinsam: Sie sind Kunstwerke mit handwerklichem Anspruch und setzen sich mit Themen aus den primitiven oder lokalen Kulturen auseinander,64 indem das jeweilige Thema – in DADA-Manier – beim Wort genommen wird: von der Darstellung des Grotesken in der Visitors-Reihe (1964) über die kritisch-ironische Totemisierung des „noble savage“ in Cigar Indian’s Foot (1966) oder Marriage of the Cigar Store Indian’s Daughter (1966) bis hin zu einer neuen Lektüre des Totemischen als Zeichen frustrierender, nahezu „kastrierender“ Erfahrungen im Militär in Skulpturen wie One Legged Traveller (1966) oder Unfortunate Aviator (1966).65

63 Wilson 1969, S. 18. 64 Handwerkliche Expertise und primitive Kulturen gehören zusammen, wie Gombrich hervorhebt: „The technical mastery of some tribal craftsmen is indeed astonishing. […] many remote tribes have developed a truly amazing skill in carving, in basket work, in the preparation of leather, or even in the working of metals“ (Gombrich 1950, S. 42). 65 Siehe die entsprechenden Analysen im Kapitel „Energie im Kunstsystem“, Abschnitt „Power-Transfer“, sowie im Kapitel „Inpressivität der Körperteile“, Abschnitt „Vertical Stories“.

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ART & C RAFTS & S CIENCE Die Tradition des American Art & Crafts Movement war im Südwesten Kaliforniens sehr präsent und wirkte sogar in die Ursprünge einer wissenschaftlichen Einrichtung ein, mit der die Familie von Huene auch zu tun hatte. Der ehemalige wohlhabende Abolitionist und Chicago Politiker Amos G. Throop gründete nach seiner politischen Karriere im Jahr 1891 eine kleine Hochschule, die ursprünglich Throop University, zwei Jahre später Throop Polytechnic Institute hieß. In den ersten fünfzehn Jahren seiner Existenz wurde am Throop Polytechnic Institute eine große Vielfalt an Fächern mit einem besonderen Fokus auf die Arts & Crafts und die damit einhergehende Berufung und den Ethos unterrichtet. Um 1906 ließ Throop sich vom ersten Direktor des Mount Wilson Observatory, dem berühmten Astronom George Ellery Hale, für eine Erneuerung der ersten Vision überreden, und überließ den Campus einer neuen Einrichtung für Grundlagenforschung, welche heute als California Institute of Technology (CalTech) bekannt ist.66 Dieses Kapitel in der Stadtentwicklung Pasadenas prägte die Jugend von Stephan von Huene sehr nachhaltig. Seine Eltern arbeiteten beide am CalTech. Von den berühmten Persönlichkeiten des CalTech wurde Stephan von Huene über seinen Vater mit dem späteren Nobelpreisträger (1965) Richard Phillips Feynman bekannt. Im Jahr 1949 hatte Feynman seine anschauliche Darstellung quantenfeldtheoretischer elementarer Wechselwirkungen – die berühmten Feynman-Diagramme – am Beispiel der Quantenelektrodynamik bereits entwickelt.67 Mit seinen Skizzen, die in der Physik Standard geworden sind, konnte Feynman komplexe, unsichtbare Vorgänge der Natur beschreiben. Es gab aber andere Vorgänge in Verbindung mit dem gescheiterten Versuch der Naturalisierung der conditio humana. Feynman wollte zeichnen lernen, weil er das Schönheitsgefühl, welches das Universum in ihm hervorrief, nicht in Worte, Zahlen oder schematische Diagramme fassen konnte: „I wanted very much to learn to draw, for a reason that I kept to myself: I wanted to convey an emotion I have about the beauty of the world. It’s difficult to describe because it’s an emotion.“68

66 Siehe http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/themes/physics/goodstein (12.4.2015); Wilson 2002, S. 36. 67 Feynman 1949, S. 769. 68 Hutchings 1997, S. 170.

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Abbildung 5: Pasadena Art Museum im Grace Nicholson Building, Los Alamos Avenue, um 1960

Quelle: Unbekannter Fotograf, Pasadena Museum of History

Richard Feynman war zudem nicht nur einer der bedeutendsten theoretischen Physiker, er war auch ein witziger Erzähler und engagierter Lehrer, der hohe Intelligenz mit unstillbarer Neugierde und wissenschaftlicher Skepsis verband. Einer seiner besten Freunde war der exzentrische amerikanische Aktmaler armenischer Herkunft Jorayr Zorthian. Als Folge seines ersten Treffens auf einer Party, nach der sie enge Freunde wurden, beschlossen sie, sich gegenseitig Physik und Malerei beizubringen. Ab 1962 fing also Richard Phillips Feynman zu zeichnen. Nach seinen ersten Versuchen mit Zorthians Hilfe und der Teilnahme an einem Fernkurs, den er kurz vor Beendigung abbrach, besuchte er auf Anregung einer am CalArt beschäftigen Person,69 einen Aktzeichenkurs am Pasadena Art Museum in der Los Robles Avenue, wo Stephan von Huene damals Zeichenunterricht gab. Das Pasadena Art Museum war zu diesem Zeitpunkt im Grace Nicholson Building untergebracht. Dieses Gebäude ließ die amerikanische Sammlerin für

69 Die Identität dieser Person wird von Feynman nicht enthüllt. Laut Petra Kipphoff von Huene (2002, S. 280) könnte diese Person der Vater von Stephan von Huene sein, der damals am CalTech arbeitete.

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native amerikanische Kunst und chinesische Handwerksarbeit im asiatischen Imperialen Palasthof-Stil von den Architekten Marston, van Pelt & Maybury bauen. Grace Nicholson achtete persönlich darauf, dass jedes Detail berücksichtigt wurde: Sie importierte Dachziegel, Holz- und Steinschnitte sowie bronzene und Kupferwerke direkt aus China. Was sie nicht importieren konnte, wurde vor Ort von Handwerkern nach Plänen und Photos chinesischer Originale nachgebaut. Zwei Details dieses Gebäudes, das Stephan von Huene faszinierte, sollen hier noch kurz hervorgehoben werden. Die nach oben gewandte Dachverkleidung und die flankierenden Keramikhunde im obersten Teil des Dachs erfüllen – nach chinesischer Tradition – eine apotropäische und wachende Funktion gegen übel gesinnte Geister und Feinde. Die Figur des Hundes als primitives Schönheitsmotiv mit einer vielfältigen, oft gegensätzlichen Funktion – Freund und Beschützer des Menschen, aber auch einschüchternder Bestie – wird eine besondere Rolle im Werk von Stephan von Huene spielen, wie man am Beispiel einer seiner ersten Klangskulpturen Kaleidophonic Dog (1964-67) und der kontinuierlichen Produktion von Hundezeichnungen in Skizzen, Zeichnungen, Collagen und privater Korrespondenz verfolgen kann. Auch einfache dekorative Elemente sind mit Bedeutung geladen, wie die Wolkenmuster und Lotus-Knospen als Finials in den Balustraden der Hoftreppen zum Garten – in Anlehnung an die Marmorbrücken von Nai-chin-shin-chiao, welche den Aufstieg zur Aufklärung symbolisieren.70 Die Rolle dekorativer Elemente in den Werken von Stephan von Huene knüpft auch an asiatische Vorstellungen des Animierten an, die ihm als Stimuli dienen. So könnten die der Hand sehr angenehmen Lotus-Knospen-Kreuzblumen aus weißem Marmor und die Luft durchströmten Wolkenrahmungen dieser Balustraden samt ihrer primitiven symbolischen Funktion für den „Aufstieg des Geistes“ ein interessanter Impuls für die Entwicklung der Hauptmotive der Klangskulptur Rosebud Annunciator (1967-69) gewesen sein, in deren Zentrum sich eine weiße Leder-Rose befindet, deren Blätter durch einen Luftstrom sanft bewegt werden.

70 „Grace Nicholson referred to her creation as ‚Chia‘, a word with distinct meaning in two cultures particularly associated with her. In American Indian legends, the word refers to an incredibly nutritious seed that could sustain someone for long periods of time. The Chinese meaning for chia is ‚sacred vessel‘. An article about the building in a 1927 issue of House Beautiful stated that ‚Chia is like a dream, and dreams are usually indescribable, but even grossly exaggerated praise would do the place scant justice‘.“ (http://www.pacificasiamuseum.org/_about/building.aspx [12.4.2015])

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Wie dem auch sei, dieses Gebäude machte jedenfalls einen tiefen Eindruck auf Stephan von Huene, der durch den Besuch des Unterrichts von Karl E. With an der UCLA ein sehr großes Interesse für die asiatische Kunst bereits als Student entwickelt hatte, und der den Abriss des Hauses, das dem Norton Simon Museum weichen musste, sehr bedauerte. Die Vermutung liegt nahe, dass der Kunstlehrer, den Feynman dort antraf, kein anderer als Stephan von Huene war, zumal in der Fachliteratur auf die Bekanntschaft durch die Lehrtätigkeit aufmerksam gemacht wird.71 Es dürfte auch kein Zufall sein, dass sich ein Buch von Richard Feynman in Stephan von Huenes Bibliothek befindet. Über seine Erfahrungen im Zeichenunterricht am Pasadena Art Museum erzählt Feynman folgende interessante Gedanken, die den jungen teacher von Huene als experimentellen Mäeutiker präsentieren: „I noticed that the teacher didn’t tell people much (the only thing he told me was my picture was too small on the page). Instead, he tried to inspire us to experiment with new approaches. I thought of how we teach physics: We have so many techniques – so many mathematical methods – that we never stop telling the students how to do things. On the other hand, the drawing teacher is afraid to tell you anything. If your lines are very heavy, the teacher can’t say, ‚Your lines are too heavy‘, because some artist has figured out a way of making great pictures using heavy lines. The teacher doesn’t want to push you in some particular direction. So the drawing teacher has this problem of communicating how to draw by osmosis and not by instruction, while the physics teacher has the problem of always teaching techniques, rather than the spirit, of how to go about solving physical problems.“72

Diese Gegenüberstellung von Kunst und Naturwissenschaft als konträre, jedoch sich ergänzende Methoden zur Weltbeschreibung ist im Einklang mit der damaligen Entwicklung neuer Ausdrucksformen, in denen Kunst und Technologie interagieren. Die Aktivitäten der Organisation „Experiments in Art and Technology“ (E.A.T.) aus dem Jahr 1967 und die vorhergehenden Arbeiten unter dem Titel 9 Evenings: Theater and Engineering (Oktober 13-26 1966) in New Jersey gelten als die erste großangelegte Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Ingenieuren. In dieser Hinsicht bot die Westküste auch die optimalen Bedingungen für interdisziplinäre Kunstprojekte. Zu diesem Thema organisierte das Los Angeles County Museum das Programm „Art & Technology“, in dem derartige

71 Kipphoff von Huene 2002, S. 280. 72 Hutchings 1997, S. 172.

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Kooperationen und Aktivitäten unterstützt und dokumentiert wurden. In der Publikation A Report on the Art and Technology Program of the Los Angeles County Museum 1967-71 kommt auch der Name von Stephan von Huene vor, der sich für die Herstellung einer mysteriösen völlig durchsichtigen Skulptur nach Möglichkeiten für den Bau einer Fluidmechanik mit Glaskomponenten erkundigen wollte. „After hearing about A&T [Art & Technology Program], Los Angeles sculptor Stephan von Huene approached us with a particular request for technical assistance. For some time he had wanted to execute a completely transparent musical sculpture, using a fluidic generating system to have music mysteriously emanating without visible mechanical movement. To design and construct such a piece he needed a corporation dealing in fluidic mechanics and having glass blown facilities. We contacted Dr. Robert Meghreblian at JPL [Jet Propulsion Laboratory] who informed us that although they were conducting experiments using fluidics, they had no facility for extensive production of glass components.“73

Die Wissenschaftler am Jet Propulsion Laboratory (JPL) der NASA konnten ihm nicht bei allen Herstellungsprozessen Hilfe garantieren, somit blieb die Kooperation aus. Dennoch gab der Künstler nicht auf: Aus der Auseinandersetzung mit Mechatronik, Tonlehre und Kunst resultierte die unsichtbare Klangskulptur Glass Pipes (1974-76), mit der Stephan von Huene an der Venedig Biennale im Jahre 1976 teilnahm: Er selber nannte die Skulptur Der Schrei als Musik und beschrieb sie als „das Grundinstrument. Jede Unterscheidung zwischen TonInstrument-Musik-Kompositon-Komponist bricht zusammen.“ (Getty Talk, D 1991-9) Mit dieser langen Definition positionierte er sich einerseits in der Tradition der „Free-Music-Machines“ von Percy Grainger und Burnett Cross, andererseits radikalisierte er zugleich Charles Ives’ Idee der „indeterminancy of music“ und die von Cage und Partch vorangetriebene Erweiterung der Tonsprache durch „extended techniques“, indem er das allzu menschlich schreiende Instrument visuell verschwinden ließ. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte er sonst auch bei dem Bau einer transparenten, fotoelektronisch gesteuerten Trommel (Drum, 1974/1992), wofür der Musiker James Tenney drei Partituren komponierte. „Die Trommel weist spezifisch in eine Richtung vom kinästhetischen Objekt zum Nichts (aufgrund ihrer Durchsichtigkeit). Dieses Nichts ist der Punkt/die Grenze, wo die Synästhesie wirkt. Es ist die Grenze, die zwischen Objekt und Klang zusammenläuft. Ich arbei-

73 Tuchman 1971, S. 290.

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tete mit dem Komponisten James Tenney, der extra für diese Skulptur drei Stücke komponierte.“74

Eine der Kompositionen, welche die Drum (1974/1992) vorspielt, ist nicht von ungefähr Wake for Charles Ives, einer der wichtigsten Komponisten Amerikas (1874-1954), der aufgrund seines kompromisslosen Einsatzes von Dissonanzen und komplexer Rhythmik jahrzehntelang ignoriert wurde. Wo man sonst mindestens vier Interpreten braucht, kommt die transparente Trommel völlig ohne Interpreten aus. Nicht nur die Skulptur, sondern auch der Interpret wird unsichtbar. Das naturwissenschaftliche Interesse im Dienste künstlerischer Ideen ist bei Stephan von Huene bereits in den 1960er Jahren vorhanden. Ab dem Jahr 1967 beschäftigt sich von Huene sehr intensiv mit dem Bau und der Mechanik von Orgelpfeifen sowie mit optoelektronischen Programmen. Aus diesen Erforschungen resultieren die fünf Totem Tones (1969-70, Abb. 91-95), die sein Interesse für die Kultur der Northwest Coast Indians bezeugt und nach den „first four“ einen weiteren Meilenstein in seiner Künstlerkarriere darstellen.

D IE „ R E - E MIGRATION “

NACH

D EUTSCHLAND

Stephan von Huene war vom 1976 bis 1978 als DAAD-Stipendiat in Deutschland. In diesem Zeitraum wurde seine Stelle in CalArts auf eigenem Vorschlag von Elyn Zimmerman übernommen.75 In der DAAD-Zeit sind zwei Werke (Monotone [1977] und APT [1979-80]) entstanden, die nicht mehr gezeigt werden können. Dennoch wurde in jener Zeit die Kommunikations- und Systemtheorie im Kontext der Sozialwissenschaften und in ihre Anwendung auf die künstlerische Arbeit weiter vertieft. Außerdem untersuchte er die Klangeigenschaften von Objekten – vor allem aus Metall – im Verhältnis zur Größe und Tonhöhe weiter, was zur Realisierung eines seiner wichtigsten Werke führte: Text Tones (1979/1982-83).

74 Nagoya Art Museum 1993, S. 11. 75 Siehe: Hertz 2009, S. 79, 82. Wie Richard Hertz in einem auf der Grundlage eines Interviews mit Elyn Zimmerman in erster Person formulierten Text berichtet, die Arbeit am CalArts war interessant, weil man nicht so viel Verwaltungsaufgaben hatte. Man arbeitete mit interessanten Künstlern wie Michael Asher, John Baldessari und Jonathan Borofsky, und manchmal waren auch interessante Künstler zu Besuch wie George Trakas und Susan Rothenberg.

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1982 wurden die Text Tones (1979/1982-83) zum ersten Mal auf dem „Contemporary Music Festival“ des CalArts in Valencia gezeigt. John Cage nahm das sonderbare Kunstwerk mit Neugierde wahr (Kipphoff von Huene 2002, S. 284). Die Klanginstallation besteht aus sechs weiß gestrichenen Holzsockeln, auf denen Aluminiumrohre angebracht sind. Deren Luftsäulen schwingen in derselben Frequenz wie die Röhren, wenn diese von kleinen Hämmern angeschlagen werden. Die Hämmerchen waren ursprünglich seitlich angebracht, später wurden diese – der minimalistischen Werkimmanenz folgend – in die Sockel unter den Rohren versteckt. Auf Grund der Übereinstimmung zwischen Klangkörper- und Luftsäulen-Frequenz bezeichnete von Huene diese Klänge als „absolute pitch“ (Getty Talk, D 1991-10). Alle sechs Röhren sind in der Länge so geschnitten, dass insgesamt zwei Oktaven in fünf Tonschritten segmentiert werden. Die Geräusche des Ausstellungsraums – Stimmen, Schritte, Husten, Türschlagen etc. – werden über ein Mikrophon aufgenommen, eine Steuerungseinheit trennt das Eingangsmaterial in ein analoges und ein digitales Signal. Die Skulptur spielt das gefilterte analoge Signal über einen Lautsprecher zurück, der die Luft im Rohr in Schwingung versetzt. Das digitale Signal wird als Rhythmus interpretiert und an die zwei kleinen Hämmer weitergeleitet, die abwechselnd auf das Rohr schlagen. Aus der Kombination von Klängen im gleichen Frequenzbereich und aus der Weiterverarbeitung des Signals durch jedes Klangobjekt ergibt sich – laut eigenen Angaben des Künstlers – eine andauernde „Monoton-Reflexion“.76 Das „Instrument“ Text Tones (1979/1982-83) und die von ihm produzierten Klänge sind inhärent zu sich selbst. Wenn John Cages 4' 33'' bewies, dass so etwas wie absolute Stille nicht existiert, da selbst unsere Nervensystem und Blutzirkulation Töne produzieren,77 so vereinbarte Stephan von Huene diese Erkenntnis mit der Entwicklung des dazugehörigen Musiksystems: eine vollautomatisierte „Ton-Assemblage“, die mit Geräuschen auskommt und diese sogar zu grundlegenden Klangfarben sublimiert. Inspiriert wurde Stephan von Huene teilweise von der chinesischen Mythologie und antiken Vorstellungen über die Entstehung von Musiksystemen: Der Hofmathematiker Ling Lun wurde vom „Gelben Kaiser“ Huáng Di damit beauftragt, Bambus-Röhren in einem fernen Land zu schneiden, von denen man das chinesische Musiksystem ableiten sollte. Eine dieser Bambus-Röhren wurde als Grundton gewählt und bekam die Bezeichnung „Gelbe Glocke“, denn gelb war

76 Vgl. Getty Talk, D 1991-10. 77 Cage 1961, S. 8.

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die Farbe des Kaiserhofs.78 In ähnlicher Weise wurde die ägyptische Flöte verstanden: Auf der Grundlage von Instrument-Länge und Löcher-Abstand wurde das altägyptische Musiksystem abgeleitet. Text Tones (1979/1982-83) wäre somit auch eine Arbeit über die Entstehung von „Musik“ und die Überwindung etablierter Konventionen. Mit dieser Arbeit bezweckte der Künstler eine neue Definition von Klangskulptur zu testen, die asiatische und ägyptische Klangvorstellungen mit neueren, aber schließlich auch daran anknüpfenden Entwicklungen verbanden – wie Theobald Boehms akustisch motivierte Einführung von großen Tonlöchern ohne Rücksicht auf Greifbarkeit durch den Interpreten (1832) oder Schönbergs (1911) Klangfarbmelodien. Die Musik hatte sich von klassischen Harmonie-Systemen losgesagt und kehrte als Klang zurück zur Natur, ähnlich wie die Befreiung der Malerei von den naturalistischen Darstellungen vor der Jahrhundertwende. In der wissenschaftlichen Methode zur tonalen Erkundung und der Programmierung nach NLP-Methoden folgt Text Tones (1979/1982-83) letztendlich einem sogenannten TOTE-Schema (Test Operate-Test-Exit), d.h. einer Reizreaktionskette mit Rückkopplungsfunktion – hier fand Stephan von Huene einen Weg zur Kunstkreation, welche die Elektrizität nicht als Mittel zum Zweck, sondern als integralen Bestandteil der Kunst verstand. 1980 vollzog sich seine „re-emigration“ nach Hamburg, wie er die Rückkehr nach Deutschland als Nachkomme baltischer Vorfahren bezeichnete.79 Neben Untersuchungen zur Synthese von Klangfarben und Vokalfrequenzen, die seinen Höhepunkt in der Realisierung der vierteiligen Skulptur Zauberflöte (1985) finden werden, wird er in den Bereich der angewandten Kinesics und der Mechatronik mit neuen Werken wie Erweiterter Schwitters (1987), Tisch Tänzer (1988-1995) und später Der Halbleiter vom Chemnitz (1999) stark vordringen.

N EUE

UND SPÄTE

F REUNDE

1983 wurde die erste große Retrospektive von Stephan von Huene in der Kunsthalle Baden-Baden gefeiert: Die Text Tones (1979/1982-83) waren zum ersten Mal in Europa zu sehen. Es folgen Jahre der Erfolge und Anerkennung mit Kunst-Preisen wie dem Medienkunstpreis des ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie und des Siemens Kulturprogramms (1992), dozierender Tä-

78 Vgl. Sachs 2008, S. 114-115. Das Motiv „Yellow Bell“ kommt auch in der Folie D 1991-10 aus dem Getty-Vortrag vor. 79 Kipphoff 2002, S. 284.

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tigkeit an mitteleuropäischen Hochschulen, von der Hochschule der Künste Berlin über die Universität Hamburg und die Hochschule für Gestaltung Karlsruhe bis hin zur Salzburger Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst und der Universität Basel. Außerdem war er auch präsent in internationalen Kunstausstellungen in der Größenordnung von der documenta 8 (mit Text Tones [1979/1982-83] und Erweiterter Schwitters [1987]) oder der Venedig Biennale 1995 mit seinem wahrscheinlich komplexesten Werk überhaupt: Tisch Tänzer (1988-1995). Ein paar Male kehrte er auch für kurze Zeit nach Kalifornien zurück: 1991 als Getty Scholar und 1997 als Gast in der Villa Aurora in Pacific Palisades. Die Zeit wurde für Recherchen und den Austausch mit Wissenschaftlern aus der ganzen Welt genutzt. Auch gute alte Freunde wie Allan Kaprow wurden wiedergetroffen. Während seiner Zeit in Deutschland wurde Stephan von Huene mit den Kunsthistorikern Horst Bredekamp, Martin Warnke und dem Historiker Achatz von Müller bekannt und befreundet. Mit ihnen unternahm er einige kreative Projekte wie z.B. Blaue Bücher (1997) und Eingangsfragen, Ausgangsfragen (1997) in Kooperation mit Martin Warnke oder Lehrveranstaltungen wie das interdisziplinäre Seminar an der Universität Basel zum Thema „Schablonierte Porträts der Macht“ in Kooperation mit Achatz von Müller. Aus dem Bereich der zeitgenössischen Musik und Akustik wären der Komponist György Ligeti, der Hörspielautor und Regisseur Klaus Schöning, damals Leiter des Studio Akustische Kunst des WDR und der Akustikprofessor Manfred Krause hervorzuheben. Aus der Literatur der Dichter Reinhard Lettau, aus der Philosophie Heinz von Foerster und später Vilèm Flusser.80 Jeder Name kann in Verbindung mit mindestens ein Projekt gebracht werden. Dabei begrenzten sich die Kooperationen nicht nur auf die Produktion von Klangskulpturen: Aus der Korrespondenz mit der Zeit-Redakteurin Petra Kipphoff, die er später heiratete, entstanden die sogenannten ZEIT-Collagen (1980) – 76 Collagen aus Zeitungsausschnitten, Tesafilm und Zeichnungen mit Graphit und Filzstift, die am 6. April 2014 von der Hamburger Kunsthalle als Schenkung des Zeit-Verlags Gerd Bucerius erworben wurden. Nachdem Stephan von Huene und Petra Kipphoff sich in Berlin kennenlernten und der Künstler nach Kaliforniern zurückkehrte, schickte sie ihm wöchentlich ein Exemplar der Wochenzeitung Die Zeit. Stephan von Huene antwortete mit einer Collage, in der Bild- und Textfragmente um Zeichnungen ergänzt und in neue Verbindungen konfiguriert

80 Der Vollständigkeit wegen sollen hier auch seine Assistenten Frank Michel und Jörg Neugebauer erwähnt werden.

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wurden. Die Zeit-Collagen stellen nicht nur eine konsequente Fortsetzung seiner Assemblagen aus den 1960er Jahren (etwa in ähnlicher Manier wie die „Klangcollagen“ von Text Tones [1979/1982-83]) dar, sondern sie liefern auch einen interessanten Hinweis über von Huenes Kunstauffassung als eine alltägliche Erkundung des „Zeitgeschehens“ – durch Re-Konfiguration und Ergänzung der konventionellen Nachrichtenform vollzieht er eine ästhetische Brechung der Aktualität als Pose und Gebärde. In der Rede anlässlich der Übergabe des Konvoluts an die Hamburger Kunsthalle gab Petra Kipphoff-von Huene81 aufschlussreiche Informationen über die Entstehung, Arbeitsweise und Motive der ZEITCollagen: Hände – etwa als Selbstporträt des Zeichners – und vor allem Porträts bekannter Persönlichkeiten wie Politiker (Ronald Reagan, George H.W. Bush, Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß) Künstler (Johannes Itten), Literaten (Elias Canetti) oder Filmdirektoren (Alfred Hitchcock) sind die Hauptmotive, dazu ausgeschnittene Wortbrocken und Rede-Accessoires wie ein Mikrophon, eine Pfeife oder ein Weinglas, die manchmal „in Fortsetzung“ gezeichnet werden. In diesem Sinne bewegte sich Stephan von Huene in der Tradition der Collage als interpretativer Aufnahme von „Spuren des Wirklichen“82 mit künstlerischen Mitteln. Das Novum hier ist vor allem die Rückkehr zur reflexiven Zeichnung als Krücke der medialen Realität. Wie ernst auch immer von Huenes Satz „I’d probably tune the world if I could“83 gemeint war, Tatsache ist, dass die Klänge der letzten großen Arbeit von Stephan von Huene, Sirenen Low / Der Gesang der Sirenen (1999), im Online-Forum www.allmystery.de von Kunstlaien in den allgemeinen Kontext des Universums als Schwingungsmatrix gestellt wurde. Im gleichen Posting werden auch die von der NASA registrierten Töne der Weltkugel zur Verfügung gestellt.84 Das Summen und Brummen der Erde in Klängen, die dutzende Oktaven tiefer als der tiefste hörbare Klang sind, hat mit der antiken Sphärenharmonie eines gemeinsam: Es ist für das menschliche Gehör nicht hörbar aber deswegen nicht weniger real. Stephan von Huene, der oft seine Kunstmotive beim Wort nahm, hätte hier wahrscheinlich wiederholen können: „Ich habe das Prinzip aus der Quantenmechanik akzeptiert, dass alles von der Wellenform hergeleitet wer-

81 Rede mit dem Titel „Stephan von Huenes ZEIT-Collagen“ von Petra Kipphoff von Huene anlässlich der Übergabe des Konvoluts an die Hamburger Kunsthalle, gestiftet vom Zeit-Verlag am 6. April 2014 (Typoskript Nachlass Stephan von Huene). 82 Vgl. Wyss 2006, S. 79. 83 La Barbara 1979, S. 113. 84 Siehe: http://www.allmystery.de/themen/uh77537-166 (2.10.2012).

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den kann.“85 Dass Schwingungen das wahrnehmbare Physische transzendieren, wissen wir inzwischen auch aus der Teilchenphysik.

K EIN I NTERESSE

AN

K LASSIFIZIERUNGEN

Um 1977 wurde Stephan von Huene rückblickend als ein Künstler angesehen, der bereits in den 1960er Jahren internationale Projektion hatte und kurz vor der künstlerischen „maturity“ situiert werden konnte.86 Seine ersten Gruppen- und Solo-Ausstellungen sorgten schon für ein paar Aufsätze mit interregionaler und internationaler Reichweite (u.a. in Los Angeles Times, Leonardo, MIZUE und Art Forum). Seine Werke, darunter auch seine „stummen“ Skulpturen aus Holz, Leder und Brot, waren bereits im Ausland zu sehen gewesen (Lateinamerika, Japan, Kanada) und viele davon sind seitdem im Privatbesitz oder in Museen im Osten und Westen der Vereinigten Staaten. Ungefähr zur gleichen Zeit machte die Kritik darauf aufmerksam, dass die Komplexität seines Werkes bereits ahnen ließ, dass der Künstler kein Interesse an einer einfachen Klassifizierung seines Schaffens hatte.87 Jahre später schrieb der Künstler in einer seiner Mindmaps: „People ask me if my work has a name. I used to answer no. To name it is to destroy it. It becomes a type.“88 Das ist eine Singularität, die den Universalisten Stephan von Huene ausmacht, seine Rezeption jedoch möglicherweise immer noch beeinträchtigt.

85 MIZUE 1973; hier zitiert nach Split Tongue, S. 54. 86 Vgl. San Francisco Museum of Modern Art 1977, S. 173. 87 Danieli 1968, S. 52. 88 Mindmap zum INTERFACE-Vortrag in Hamburg (1992, Folie D/D 1992-6, Nachlass Stephan von Huene). In diesem Vortrag wird auch die Geschichte von ISHI – dem letzten überlebenden der Yahi – reflektiert: Die westliche Zivilisation nannte ihn Yahi (Mensch), denn seine Kultur verbot, andere Menschen mit ihrem richtigen Namen anzusprechen – „to name it is to destroy it“.

Methoden zur Analyse von Ton-InstrumentMusic-Composition-Composer-Kunstwerken

ANNÄHERUNG

AN EINEN EXPERIMENTELLEN

R EALIST

Die meisten Kunstinteressierten kennen Stephan von Huene als einen deutschamerikanischen Künstler, der als ein Grenzgänger zwischen den Disziplinen in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Er selbst nannte sich in einem Interview mit Doris von Drathen einen „experimenteller Realist“,1 um jedem Versuch der Kategorisierung zu entgehen. Wenn man Stephan von Huene einen Grenzgänger nennt, denkt man vor allem an die Komplexität seiner Maschinen, die theoretisches und technisches Wissen aus verschiedenen Disziplinen unter einen Dach bringen. Bekannt ist er vor allem auf Grund seiner Klangskulpturen, einem Begriff, den die Kritiker für die Bezeichnung seiner Werke verwendeten, mit dem er aber nicht ganz einverstanden war. Er nannte sie lieber „Maschinen“ – z.B. im WDR-Fernsehfilm Im Zwischenreich der Sinne. Bild, Objekt, Klang und Bewegung im Werk von Stephan von Huene von Peter Fuhrmann (D 1995). Die Konkretisierung im Wort Klangskulptur ist in der Tat der Kompromisslosigkeit seiner Maschinen nicht ganz gerecht. Den Anspruch, ein Musiker oder Klangkünstler zu sein, hat er nie erhoben. Dennoch wird er gelegentlich in Doktor- und Magisterarbeiten über Musik und Klangkunst der Gegenwart neben Komponisten und Klangkünstlern2 erwähnt. Am häufigsten kommt sein Name in Werken über Klangkunst vor. Seine Kunstwerke haben jedoch nicht alle die Fä-

1

Drathen 2002, S. 282; wahrscheinlich ist er auch einer der wenigen Universalisten des XX Jahrhunderts gewesen, was er nicht nur seinem breiten Interesse für die Anthropologie, die Kunst und die Wissenschaft, sondern sicherlich auch seiner Erziehung im Geiste der Reformation zu verdanken hat.

2

Z.B. Martin Riches und Alec Bernstein (Raes 1993, S. 27) oder David Jacobs (Sévigny 1994, S. 12).

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higkeit Töne zu produzieren: Stephan von Huene produzierte u.a. abstraktexpressionistische Malereien, figurativ-narrative Tuschzeichnungen, Feder- und Bleistiftzeichnungen, Rauchzeichnungen,3 Assemblagen – ähnlich wie Jasper Johns und Robert Rauschenberg zur gleichen Zeit –, Collagen, Lithographien, Computerbilder und figurative Skulpturen aus Brot, Holz und Leder. Dieser großen Kunstproduktion stehen 26 Klangskulpturen entgegen, denen Stephan von Huene hauptsächlich seinen Ruf zu verdanken hat. Im vorliegenden Text werden dieser Teil seiner Kunstproduktion, theoretische Texte und Vorträge des Künstlers über Medienkunst sowie seine Arbeit als Kunstlehrer berücksichtigt. Neben den neulich publizierten Büchern (z.B. Split Tongue 2013) und Katalogen (z.B. The Song of the Line 2010) liefert der von Petra Kipphof von Huene verwaltete Künstlernachlass eine hervorragende Informationsquelle für die Detailanalyse vieler Werke. Der Nachlass von Stephan von Huene befand sich zur Zeit des Verfassens dieses Textes nördlich des Alsters in Hamburg, anderthalb Kilometer weit entfernt von dem Ort, an dem der Künstler früher seine Wohnung und sein Atelier hatte. In diesen Räumlichkeiten wurde Platz für die Werkstatt des Künstlers, seine Arbeitsbibliothek sowie nicht wenige Kunstwerke wie Assemblagen, Zeichnungen und Klangskulpturen wie Totem Tones IV (1969-70) und Die Zauberflöte (1985) gemacht. Der Nachlas wurde inzwischen vom ZKM übernommen.

P RAKTISCHE I DEEN

ALS

K UNSTTECHNIKEN

Stephan von Huene untersuchte kommunikative Prozesse, von der visuellen über die akustische bis hin zur haptisch-kinetischen und non-verbalen Kommunikation. Um die Verhältnisse zwischen Identität und Umfeld, Mensch und Kultur sowie Kunst und Geschichte zu untersuchen, griff er zeit seines Lebens auf unterschiedliche Ideen zurück, die er sich durch Lektüre und handwerkliche Arbeit aneignete.4 Diese „praktischen Ideen“ werden hier als „Kunsttechniken“ angesprochen – mit der Absicht, den Kunstbegriff um eine technologischhandwerkliche Komponente als integralen Bestandteil des Kunstprozesses und des Kunstwerks an sich zu erweitern und somit von Huenes qualitativer Vorstellung von Medienkunst Rechnung zu tragen: In einem Brief an Heinrich Klotz vom 10.9.1993 formuliert der Künstler folgende provisorische Definition:

3

Die Rauchzeichnungen wurden nach einer eigens entwickelten Technik ausgeführt; siehe dazu das Kapitel „Inpressivität der Körperteile“.

4

Huene 2000: „Ich lerne, indem ich baue.“

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„Medienkunst als ‚Kunst‘ zeichnet sich dadurch aus, dass der Prozess der Übertragung des Kunstwerks mithilfe technischer Geräte einen integralen Anteil an der künstlerischen Arbeit und am Kunstwerk hat.“

Der Akzent liegt hier in dem „Prozess der Übertragung“ und der radikalen Distanzierung von quantitativen Bewertungskriterien, die Medienkunst als eine Kunst ansehen, in der neue Technologien bloß zum Einsatz kommen – wie eine Multiplikation der Medien.5 Dem vorliegenden Text liegt der Anspruch zugrunde, eine allgemeine monographische Studie über Stephan von Huene zu sein, ohne auf die Detailschärfe zu verzichten. Angesichts der hohen Komplexität vieler seiner Arbeiten, insbesondere seiner Klang- und kinetischen Skulpturen, ist eine minutiöse Analyse mit Fokus auf jeden kreativen Prozess und materielle Signifikanz ein nahezu unmögliches Unterfangen für ein Buch, das sich in die ikonologische Tradition und nicht in die Konservierungspraxis einordnet. Eine interessante Bemerkung von Petra Oelschlägel in einem Aufsatz über die Veränderung des Skulptur-Ensembles Tisch Tänzer zwischen 1988 und 1995 macht auf einen mittleren Weg aufmerksam: Jede technische Implementierung von Stephan von Huene stellt – laut Petra Oelschlägel – „eine Station der Konkretisierung einer künstlerischen Vision“ dar.6 Wenn man diese Beobachtung auf das gesamte Werk als Arbeitshypothese extrapoliert, sollte die letzte große vollendete Arbeit des Künstlers, nämlich Sirenen Low (1999) ein umfangreiches Repertoire an Grundbegriffen, Gestaltungsprinzipien und Schöpfungsprozessen des von Huene’schen Werkes anbieten. Demnach wäre eine hermeneutische Analyse ebendieser Klangskulptur als Ausgangspunkt einer ikonologischen Analyse durchaus denkbar – hermeneutisch ist hier nicht als freie Interpretationsübung, sondern vielmehr als „de-konstruktive“ Erkenntnismethode nach Derrida zu verstehen.

5

Siehe in diesem Sinne auch das Interview mit dem japanischen Magazin MIZUE aus dem Jahr 1973. Zum neuen Trend, moderne Technologien in der Kunst einzusetzen, sagt Stephan von Huene: „Manche Arbeiten, die elektronisch genannt werden, stellen eigentlich elektronische Spielereien zur Schau, mit dem Ziel, ein Bild des modernen Elektronikzeitalters zu vermitteln.“ (MIZUE 7, Nr. 820, 1973, 72-87; hier zitiert nach Split Tongue, S. 52)

6

Oelschlägel 1995, S. 16.

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P ROZESSORIENTIERTES S CHAFFEN : K UNSTTECHNIKEN Die Anwesenheit von stark bearbeiteten Büchern in Stephan von Huenes Bibliothek über primitive Kunst und Kunstgeschichte, wie z.B. Boas Primitive Art und Wölfflins Kunstgeschichtliche Kunstbegriffe, oder über Musik und Akustik, wie z.B. Henry Lanz’ The physical basis of Rime, Hermann von Helmholtz’ Die Lehre der Tonempfindungen oder Curt Sachs’ The Rise of Ancient Music neben Büchern über Orgelbau, Physiognomie und Verhaltenspsychologie lässt vermuten, dass von Huenes Arbeit prozessorientiert war: Seine Kunstwerke scheinen auf Recherche und wissenschaftlicher Erkenntnis zu basieren. Der Künstler untersuchte kommunikative Prozesse, von der visuellen über die akustische bis hin zur haptisch-kinetischen und non-verbalen Kommunikation. Neben Büchern über Akustik und Kunstgeschichte befinden sich in seiner Bibliothek Abhandlungen über Kinesic, Systemtheorie oder Neurolinguistisches Programmieren. Beispiele oft verwendeter Bücher wären Birdwhistells Kinesics and Context, Batesons Mind and Nature, Watzlawicks Menschliche Kommunikation oder Ornsteins Multimind. Sein Interesse galt an erster Stelle dem ephemeren, nicht immer gelungenen Prozess, in dem Kommunikation angeblich stattfindet. Um die Verhältnisse zwischen Mensch und Raum, Mensch und Kultur, Kunst und Geschichte zu eruieren, griff er auf unterschiedliche „Kunsttechniken“ zurück, deren Untersuchung Anliegen dieser Studie ist.

K UNSTTECHNIKEN : V ERSUCH „V ERKLÄRUNG “

EINER ETYMOLOGISCHEN

Das Wort „Kunst“ kommt ursprünglich im Althochdeutschen als die Substantivierung von „Kunnan“ (Können). Wie der populäre Aphorismus sagt, Kunst kommt tatsächlich von „Können“. Der deutsche Terminus „Kunst“ enthält die Idee der Fertigkeit eines Handwerkers, was Stephan von Huene auch war. Die Übersetzung des lateinischen Wortes „ars“ durch das Wort „Kunst“ verlieh dem Begriff „Kunst“ weitere Bedeutungen: Danach wird Kunst nicht nur als Kunstfertigkeit und praktisches Wissen verstanden, sondern auch für die Bezeichnung verschiedener Kunstgattungen und wissenschaftlichen Disziplinen sowie für die Bezeichnung des Kunstwerks selbst eingesetzt. Diese Vieldeutigkeit des Wortes ars haben die Römer seinen geistigen Vorgängern den Griechen zu verdanken, die in ähnlicher Weise das Wort „τέχνη“ verwendeten, aus dem das heutige Wort Technik entstand. So übersetzte z.B. Seneca den bekannten Aphorismus von Hippokrates „Ὁ βίος βραχύς, ἡ δὲ τέχνη µακρή“ mit dem in indirekter Rede

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formulierten Satz „vitam brevem esse, longam artem“. In der Literatur des Abendlandes ist der griechisch-latinisierte Aphorismus bekannter in umgekehrter Reihenfolge „ars brevis, vita longa“. Der Arzt und Wissenschaftler Hippokrates bezog sich hier auf die begrenzte Zeit, die dem Mediziner zur Verfügung stand, um die medizinische Kunst an sich und die Kunst der Experten-LaienKommunikation zu beherrschen. Wenn vor seiner Zeit das Wort „τέχνη“ nur handwerkliche Fertigkeit und Technik an sich bedeutete, kommt der Begriff Kunst zum ersten Mal in diesem Satz – als Zusammenführung unterschiedlicher Geschicklichkeiten und Disziplinen – der späteren Idee von Kunst als „bildender τέχνη“ etwas näher. In dem Wort „Kunsttechnik“ amalgamieren sich bisherige Kunstbegriffe von der Antike über die Neuzeit bis hin zur Postmoderne mit einem besonderen Fokus auf die Idee von Kunst als handwerklicher Geschicklichkeit und interdisziplinärer Fähigkeit, die sich im Entstehungsprozess des Werkes zeigt. So sind die kognitiven Kunsttechniken von Stephan von Huene sowohl als Kulturtechniken zu verstehen, die an die Metaebene der Kunstgeschichte und Kunstdiskurse anknüpfen können, als auch als technische Prozesse, in denen Kunst als Kognitionsversuch im Spannungsfeld zwischen Identität und Umfeld zum Ausdruck kommt.

ANALYSE -M ETHODE DIE D ISZIPLINEN

IM

E INSATZ :

DER

W EG

DURCH

Eine Methodologie zur Materialuntersuchung und kontextueller Deutung der Kunstwerke von Stephan von Huene setzt Kenntnisse in sehr unterschiedlichen Bereichen wie Kunstgeschichte, Akustik, Orgel- und Maschinenbau, Kinesik, Neuroliguistischem Programmieren, Verhaltenspsychologie und Phonetik voraus. Stephan von Huene definierte seine Kunstwerke im Einklang mit dem kybernetischen selbstreferenziellen Gedanken als „Ton-Instrument-Music-Composition-Composer“.7 Der witzige, sperrige Ausdruck verrät einiges über die einzusetzenden Analysemethoden: Seine Kunstwerke vereinen Grundlegendes aus mehreren Disziplinen auf vertikale Art und Weise, so dass ein harmonischer Akkord der Disziplinen entsteht: Schöpfer, Skulptur und synästhetische Kompositi-

7

Dieser Begriff wurde zunächst nur für das „Grundinstrument“ Glass Pipes (1974-76) verwendet.

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on bilden ein einheitliches „Gesamtkunstwerk“: Die Klangmaschine wird zum „Virtuoso“, zum „Composer“ und Gestalter des Wahrnehmungsfeldes. Am Beispiel der Tisch Tänzer (1988-1995) können die Vorteile einer Studie auf interdisziplinärer Basis besonders gut erläutert werden. 1989 stellte Stephan von Huene ein Ensemble bestehend aus fünf auf offenen Sockeln tanzenden männlichen Unterleibern in der Hamburger Galerie Weisses Haus aus. Die kinetischen Skulpturen waren mit wattegepolsterten Hosen und klassischen Männerschuhen bekleidet. Sie waren so im Raum aufgestellt, dass der Besucher zwischen den Skulpturen hergehen konnte. In vorprogrammierten Zeitabständen wurden Radiosignale empfangen, durch einen Rechner verarbeitet und in Tanzbewegungen umgewandelt. Rechner und Radioempfänger befanden sich im offenen Sockel und waren somit für den Besucher sichtbar. Eine der Skulpturen wurde mittig im Raum ausgestellt: Im Unterschied zu den anderen war diese Skulptur höher aufgestellt und verfügte über mehr Bewegungsmöglichkeiten als die anderen, da das linke Bein nicht mit dem Sockel verbunden war. Ergänzt wurde das Skulpturen‐Ensemble durch vierzehn lebensgroße Zeichnungen, deren Unterkante auf Augenhöhe des Besuchers hing. Die Zeichnungen gaben modebestimmte Körperhaltungen von bekleideten Männerunterkörpern wieder und vervollständigten das „mechanische Theater der Unterleiber“8 zu einer ganzen Rauminstallation. Laut eigenen Angaben hatte sich der Künstler vom William Saroyans Theaterstück The time of your life (1939) inspirieren lassen, in dem u.a. ein Stepptänzer zu den Zeiten der großen Depression seinen Unterhalt im Restaurant und Unterhaltungslokal Nick’s Pacific Street Saloon damit verdiente, die Schlagzeilen der Zeitung vorzutanzen. Demnach – und Stephan von Huene folgend – lag der Arbeit Tisch Tänzer (1988-1995) der Wunsch zugrunde, den Betrachter mit dem Rhythmus und der Kultur seiner Zeit zu konfrontieren.9 Zu der Deutung des Werkes gehören ebenso wichtige Impulse durch die Werke von Edward T. Hall Beyond Culture und The Dance of Life: the other Dimension of Time sowie einführende Werke über Kinesics von Ray Birdwhistell. Die prominente Präsentation von dem, was sonst unter der Tischkante zu erwarten wäre, wird durch den Einsatz von Zeichnungen mit unterschiedlichen Mode-Posen unterstützt. Diese Technik zielt darauf ab, das Museum als Entertainment-Space und Ort des pho-

8

Siehe Bredekamp, Horst (1995): „Theater der Unterleiber. Über Stephan von Huenes Tisch Tänzer.“ In: Oelschlägel, Petra (Hrsg.) (1995): Stephan von Huene. Tisch Tänzer – Dancing on Tables, Ostfildern-Ruit: Cantz, S. 53.

9

Vgl. Kunstforum International 1990, S. 283; Huene 1995; Getty-Talk-Folie zum Tap Dancer D 1991-6.

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tographischen Souvenirs zu thematisieren. Für die Umsetzung folgt der Künstler einer klassischen NLP-Methode: Durch die Nachahmung eines „Fehlverhaltens“, nämlich dem des Museumsbesuchers, der nur an dem auratischen Moment des Porträts mit der Kunst interessiert ist, wird dieses „Fehlverhalten“ eingedämmt. Im NLP heißt diese Methode „Pacing“. Ob Stephan von Huenes Absicht hier aufgeht und inwiefern er Kunst als Korrektiv verstand, ist schwer zu sagen. Er schien jedenfalls an dem irritierenden Augenblick interessiert zu sein, in dem sich das Kunstwerk für bestimmte, allgemein praktizierte Verhaltensweisen völlig unpassend zeigt. Da die posierenden Männerbeine jeden Versuch erschweren, vor der Kunst zu posieren und sich auf diese Weise in Verhältnis zur Kunst zu stellen – eine Kulturtechnik, die Wolfgang Ullrich in Mit dem Rücken zur Kunst gründlich analysiert hat – ergibt sich eine Coincidentia Oppositorum. Die Zusammenführung von Widersprüchen ist eine weitere Kunsttechnik von Stephan von Huene, die zwar auf Nikolaus von Kues zurückgeht, der Künstler jedoch vor allem über die Lektüre von Meister Eckhart als Kognitions- und Erkundungsmethode für sich entdeckte. Andererseits stellt die Transformation des Kunstwerkes im Laufe der Zeit eine weitere Herausforderung für die ohnehin vielschichtige Auslegung dar, denn das Kunstwerk wurde im Laufe der Zeit nicht nur technologisch auf den neuesten Stand gebracht: Jede Änderung brachte neue Bedeutungsprozesse und ikonologische Nuancen mit sich. Knapp vier Jahre nach der ersten Ausstellung findet man in dem Katalog zur „Multimediale 3“ (1993) ein Foto eines der in Hamburg gezeigten Tisch Tänzer (1989) mit einer Beschreibung von Horst Bredekamp.10 Das Bild entspricht der mittig, etwas höher aufgestellten Skulptur, die dazugehörige Beschreibung von Bredekamp hat jedoch mit den Hamburger Tisch Tänzern aus dem Jahr 1989 wenig zu tun. Nun ist die Rede von vier Skulpturen auf dunklen klassischen Sockeln, welche der Wand entlang aufgestellt sind. Geht man an ihnen vorbei, wird ein Programm über eine im Sockel versteckte Lichtschranke gestartet. Das Programm lässt nach einer Wartezeit die Tisch Tänzer Stepp tanzen: Ein Sony‐CD‐Spieler schaltet gleichzeitig Auszüge aus Reden amerikanischer Politiker des 20. Jahrhunderts (Dwight D. Eisenhower, Lyndon B. Johnson und Jesse Jackson) ein. Nach dem gleichen Mechanismus tanzt nun auch die herausgehobene Figur Passagen aus Händels Rinaldo („Lascia ch’io pianga“) und Bizets Perlenfischer („Au fond du temple saint“). Die Tisch Tänzer sind nicht mehr mit wattegepolsterten Hosen bekleidet: Alle Gliedmaßen sind aus Fiberglas und Kunstharz angefertigt. Drei der Tisch Tänzer tragen klassische Män-

10 Vgl. Bredekamp 1993.

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nerhosen, die vierte Skulptur ist unbekleidet. Die Diskrepanz zwischen Bild und Werkbeschreibung hängt möglicherweise damit zusammen, dass die Drucklegung des Katalogs bereits vor der Ausstellung beauftragt wurde, so dass Bredekamp auf die Informationen von Stephan von Huene zu seiner neuen Version der Tisch Tänzer zurückgreifen konnte, der Künstler selbst jedoch keine Fotos des neuen Skulpturen‐Ensembles liefern konnte. 1994 führte von Huene für die Ausstellung „Automata. The World Animation Festival“ in Mie, Japan, eine weitere wichtige Überarbeitung durch.11 Das gesamte Audiomaterial wurde digitalisiert und über eine Soundkarte wiedergegeben. Rechner und Lichtschranken wurden durch leistungsstärkere Bauteile ersetzt. Auf der „46. Biennale di Venezia“ erfolgte eine weitere entscheidende Veränderung: Dem Künstler gelang es nun, Sound und Bewegungsabläufe über ein digitales Audio‐Bearbeitungssystem in Echtzeit aufeinander abzustimmen. Die Beleuchtung stand nun auch in Verbindung mit der Bewegung der Figuren. Die Änderungen, die man an diesem Werk vorgenommen hat, reichen fast bis in die Gegenwart hinein. Hätte der Künstler keine ausführliche Dokumentation mit den Mindestanforderungen der Tisch Tänzer mitgeliefert, als diese vom ZKM Karlsruhe angekauft wurden, würde man heute die endgültige Form dieser Medienkunstinstallation anders ableiten müssen. Wie man sieht, ist eins der Probleme bei derart sich verändernder Kunst ist die unzureichende Dokumentation aller Veränderungsphasen. Stellen wir uns vor, wir hätten eine technologisch avancierte Dokumentation der Tisch Tänzer von 1995. Das Dokumentationsmaterial bestünde aus einem möglichst treuen 3-D-Modell des Ensembles mit akustischer und kinetischer Programmierung und der entsprechenden kontextuellen Umgebung. Die Dokumentation wäre eine virtuelle Nachstellung jener Tisch Tänzer, die auf der Biennale von 1995 zu sehen waren. Wir müssen die Skulptur nicht mehr aufbauen, wir können sie immer wieder vorspielen und je nach Qualität unserer VirtualReality-Schnittstelle mit mehr oder weniger Detailtreue untersuchen. Diese Technik wird heute erprobt und verbessert,12 um vom Verfall bedrohte Medien-

11 Vgl. Oelschlägel 1995. 12 Seit Wintersemester 2013 führt das ZAK | Zentrum für Angewandte und Studium Generale in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Intelligente Sensor-Aktor-Systeme (ISAS) am KIT – Karlsruher Institut für Technologie, verschiedene Aktivitäten zur Nutzung von Telepräsenz-Technologien zur Digitalisierung von bedrohten Medienkunst-Installationen durch. Im Rahmen des ersten Praktikums wurde die Arbeit Versailles Fountain (1993) von Nam June Paik digitalisiert und in eine virtuelle Umge-

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kunst-Installationen virtuell zugänglich zu machen. Das Hinzuziehen derartiger Dokumentationen in die Analyse zeitbasierter Kunst würde die oft reduktionistische ikonologische Auslegung nachhaltig beeinflussen, denn auf einmal hätte man es mit (detailliert verfügbarer) Kunst im Wandeln zu tun. Im Fall der Tisch Tänzer (1988-1995), die seit Jahren nicht mehr zu sehen sind, wäre dies eine begrüßenswerte Art der Dokumentation, welche die Wahrnehmungskomplexität und die Veränderungen des Ensembles im Laufe der Zeit unabhängig vom Abbau des Kunstwerkes erlebbar macht. Weder eine Fotoreihe noch ein Video im gängigen Format kann die für eine fundierte Analyse notwendige Ausstellungssituation ersetzen. Selbst eine 3-D-Dokumentation kann die Eindrücke des Originals nicht vollständig wiedergeben, aber diese wäre zuverlässiger als eine Kunstbeschreibung, so vollständig und inspirierend diese auch immer sein mag. Leider sind schriftliche Beschreibungen einer zeitlichen Abfolge naturgemäß verpflichtet, so dass nur die Erinnerung daran die Simultaneität des vielschichtigen Wahrnehmungsprozesses vergegenwärtigen kann. An dem Fallbeispiel Tisch Tänzer (1988-1995) sieht man, dass die Dokumentation der Veränderung eines Medienkunstwerkes sowohl eine technische als auch eine wahrnehmungsorientierte Dokumentation voraussetzt: Das Kunstwerk vereint mehrere Ebenen von Materialität, Interaktion und Bedeutung in sich. Eine korrekte Datierung und Kontextualisierung ist für sich verändernde Kunstwerke, selbst bei minimalen Eingriffen, äußerst wichtig. In der vorliegenden Arbeit werden die Änderungen mancher Kunstwerke im Laufe der Zeit berücksichtigt und deren Einfluss auf die ikonologische Deutung hinterfragt. Was die Analyse betrifft, so empfiehlt sich hier eine de-konstruktive Hermeneutik, die ohne eine Interpretationssättigung erreichen zu müssen, den materiellen und technologischen Eigenschaften des Untersuchungsobjekts große Wichtigkeit einräumt. Darum soll hier nicht nur ein heterogener Korpus zur transversalen Untersuchung von Entstehungsprozessen und Kreativitätstechniken festgelegt werden, sondern auch selbstreferentielle und Material-bezogene Dokumentationen unter die Lupe genommen werden: Der kunstgeschichtliche Kontext, Kunstkritiken zu Lebzeiten, Sekundärliteratur aus der Künstlerbibliothek, das „diagrammatische Werk“,13 seine theoretischen Texte und Reden sowie die zerstörten und geplanten, aber nicht durchgeführten Arbeiten des Künstlers zählen ebenso viel wie die bisherige Fachliteratur zu dem Material, auf dem diese Monographie aufbaut.

bung überführt. 2014 wurde die e-Installation-Methode in einem Paper zum ersten Mal präsentiert; Onlinedokument: http://arxiv.org/abs/1408.1362 (29.4.2015). 13 Gemeint sind hier die Mindmaps, in Anlehnung an Ornstein und Buzan.

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F ÜR EINEN TECHNISCH - HISTORISCHEN V ERGLEICH IN S TEPHAN VON H UENES W ERK Stephan von Huene bediente sich des technologischen Fortschritts seiner Zeit, um seine eigenen Maschinen zu bauen. Er selbst betonte das Lernpotenzial des technischen und handwerklichen Schaffens während der Einweihung des neuen Herrmann von Helmholtz Zentrums für Kulturtechnik in Berlin: „Ich lerne, indem ich baue“ lautete die Devise.14 In dem WDR-Film von Peter Fuhrmann Im Zwischenreich der Sinne. Bild, Objekt, Klang und Bewegung im Werk von Stephan von Huene aus dem Jahr 1995 sagte von Huene, dass er nicht viel von jenen halte, die alles in Auftrag geben und selber nichts bauen. In dieser Aussage werden die Schöpfungsprozesse, die mit der Arbeit in der Werkstatt zusammenhängen, in den Vordergrund gestellt. Die Technik war für Stephan von Huene viel mehr als nur ein Mittel zum Zweck. Den Umgang mit Werkzeugen und Materialien wie Holz und Leder hat er sich sehr früh in der Werkstatt seines Vaters angeeignet. Stephan von Huene baute seine eigenen Maschinen zum Stanzen von Lochstreifen. Der Kaleidophonic Dog (1964-67, Abb. 6) hatte ein komplexes Ventilsystem nach dem Vorbild der Automatenkunst und Player Pianos. Das Zusammenspiel von Xylophon, Pfeifen, hölzerner Trommel und Zymbal war zu komplex für die Steuerung des Ventilsystems durch einen herkömmlichen Lochstreifen für Player Pianos, so dass der Künstler stattdessen fünf Filmstreifen unterschiedlicher Länge einsetzte, die er mit einer selbstgebauten Maschine stanzte (Abb. 7 und 8).15 Als der Künstler die Totem Tones (1969-70) baute und fotoelektrische Zellen vermarktet wurden, stieg er auf zuverlässigere fotoelektrische Systeme um. Mit dieser technischen Erneuerung gingen ästhetische Nuancen einher: So sagte von Huene rückblickend über das Ventilsystem des Kaleidophonic Dog (1964-67): „I felt the air system was more sensous than the later electronic system used in Totem Tones.“16

14 Huene 2000. 15 Siehe hierzu Newmark 1972, S. 72; Randow 1983, S. 53-71 und 92-94. 16 Siehe Interview mit dem Magazin MIZUE 1973, hier zitiert nach Split Tongue, S. 58.

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Abbildung 6: Kaleidophonic Dog (S 1967-1), Holz, Leder, Metall, Computer (zunächst Lochstreifen), pneumatische Anlage, Pfeifen, Schlagwerk, 190 x 61 x 56 cm, Los Angeles County Museum, Schenkung der Kleiner Foundation; Abbildung 7: Fünf Lochstreifen mit der Programmierung des Kaleidophonic Dog; Abbildung 8: Selbstgebaute Maschine zum Stanzen von Lochstreifen

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Bei einigen Kunstwerken kümmerte er sich sogar um eine weitere technische Aktualisierung wie im Falle von Totem Tones III und IV (1969-70):17 Hier wurde die fotoelektrisch gesteuerte Lochstreifen-Programmierung in den 1980er Jahren durch EPROM-Chips ersetzt. Durch diese technische Anpassung war er heutigen Konservierungsanstrengungen und Überlegungen zur Erhaltung von Medienkunst voraus. In der Konservierungstheorie würde man von einem Fall von Migration reden. Obwohl das technisch-konservatorische Thema relevant für das Verständnis seiner Arbeitsweise ist und zur Beantwortung heutiger Konservierungsfragen exemplarisch beitragen kann, gibt es sehr wenige Aufsätze oder Fallstudien, die

17 Dank der Restaurierung des Kaleidophonic Dog (1964-67) im Jahr 2015 durch den Fotografen und Physiker Werner W. Lorke kam ans Licht, dass Stephan von Huene das veraltete Ventilsystem durch eine fotoelektrische Steuerung und die anfälligen Lochstreifen durch programmierte EPROMs im Jahr 1983 ersetzte.

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sich damit befassen. Die einzige Arbeit, die etwas Information darüber gibt, ist der Aufsatz von Thomas von Randow für den Ausstellungskatalog der ersten Einzelausstellung des Künstlers in Deutschland (Baden-Baden 1983). In einem Text mit dem Titel „Technische Anmerkungen zu den Klangskulpturen von Stephan von Huene I und II“ gibt von Randow einen summarischen technischen Überblick der bis dahin vom Künstler verwendeten Technologien. Abgesehen davon, dass man sich den technologischen Aspekten seiner Arbeit selten gewidmet hat,18 fehlt noch ein kritischer Vergleich der technologischen Facetten seiner Arbeit mit dem technisch-historischen Kontext. Eine zuverlässige Aussage über seinen technologischen Beitrag zur Pionierzeit der Medienkunst wäre erst hierdurch möglich.

18 Eine neuerliche Ausnahme ist der Aufsatz von Yashuhiro Sakamoto: „Die technische Anatomie eines mechanischen Entwurfs. Stephan von Huene Erweiterter Schwitters.“ (Sakamoto 2014, S. 53-63).

DIE SCHÖNE STIMME

Sirenen High, Sirenen Low – eine hermeneutische Einleitung

O DYSSEE XII, 184-192: D ER G ESANG DER S IRENEN „Indessen aber gelangte das gut gebaute Schiff schnell zur Insel der beiden Sirenen, denn ein leidloser Fahrwind trieb es. Da hörte mit einem Mal der Wind auf, und es ward Meeresglätte, still vom Winde, und ein Daimon ließ sich die Wogen legen. Da standen die Gefährten auf und rollten die Segel des Schiffs zusammen und warfen sie in das gewölbte Schiff. Sie aber setzten sich in die Riemen und schlugen das Wasser weiß mit den geglätteten Fichtenrudern. Ich aber schnitt eine große runde Scheibe Wachs mit dem scharfen Erz in kleine Stücke und preßte sie mit den starken Händen, und alsbald erwärmte sich das Wachs, da der starke Druck es dazu trieb wie auch der Strahl des Helios, des Sohns der Höhe, des Gebieters. Und der Reihe nach strich ich es den Gefährten allen auf die Ohren, sie aber banden mich in dem Schiff zugleich mit Händen und mit Füßen aufrecht an den Mastschuh und banden die Taue an ihm fest, und setzten sich selber und schlugen die graue Salzflut mit den Riemen. Doch als wir so weit entfernt waren, wie ein Rufender reicht mit der Stimme, und geschwind dahintrieben, da entging jenen nicht, wie sich das schnellfahrende Schiff heranbewegte, und sie bereiteten einen hellen Gesang: Auf! Hergekommen! Vielgepriesener Odysseus! Du große Pracht unter den Achaiern! Lege mit deinem Schiffe an, damit du unsere Stimme hörst! Denn noch ist keiner hier mit dem schwarzen Schiff vorbeigerudert, ehe er nicht die Stimme gehört, die honigtönende, von unseren Mündern, sondern heim kehrt er ergötzt und an Wissen reicher. Denn wir wissen dir alles, soviel in der weiten Troja Argeier und Troer sich gemüht nach der Götter Willen wissen, wieviel nur geschehen mag auf der an Nahrung reichen Erde. So sagten sie und entsandten die schöne Stimme“.1

1

Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt: Homer. Die Odyssee. Rowohlts Klassiker, Bd. 2, Hamburg 1958 (Unterstreichungen von Stephan von Huene).

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Abbildungen 9 und 10: Sirenen Low im Haus der Kunst München, 1999; Aufbau im Altonauer Museum, 2008

Abbildung 11: Sirenen Low im Albertinum, Dresden, März 2013

Abbildungen 12 und 13: Die Englandfähre „Admiral of Scandinavia“ in einer Postkarte von DFDS Seaways; Detail aus dem Videomaterial von Sirenen Low

Quellen: Nachlass Stephan von Huene; DFDS (Postkarte)

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Abbildung 14: Standbilder von der Englandfähre „Admiral of Scandinavia“ aus Sirenen Low (1999)

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

In den letzten Sekunden der Videoprojektion zu der Klangskulptur Sirenen Low (1999) gerät „der zu Beginn glatte harmonische Fluss (es ist die Elbe) […] ins Stocken, das Schiff ins Stolpern“.2 Dieses Schiff ist die Englandfähre „Admiral of Scandinavia“ der dänischen Reederei DFDS-Seeways, mit der man bis März 2002 die Strecke Hamburg-Harwich und zurück in jeweils neunzehn müßigen Tagen zurücklegen konnte.3 Ironischerweise reiste die „stockende Fähre“ aus Sirenen Low (1999) – drei Jahre nach Fertigstellung dieser letzten großen Arbeit von Stephan von Huene – in die Nähe der im Mittelmeer liegenden Heimat von Odysseus weiter: Sie wurde von der griechischen Reederei Access Ferries SA in dem aus der Antike berühmten Piräus-Hafen zu einem karibischen Liner umgebaut. Im Jahre 2011 machte sie – einer langen Irrfahrt ähnelnd – ihre letzte und längste Reise um das früher gefürchtete Kap der guten Hoffnung über das arabische Meer bis hin zu dem nordwestlichen indischen Hafen von Alang, wo sie zerstört wurde. So enden in der Regel Schiffe, die über 30 Jahre im Dienst waren. Ähnlich ergeht es den meisten Maschinen. Wie sieht es mit den Maschinen von Stephan von Huene aus? Von den sechsundzwanzig Klangskulpturen, die Stephan von Huene baute, sind heute wenige im Betrieb zu sehen. Die Tisch Tänzer (1988-1995) sind seit ihrer letzten Aufführung 2007 im Depot des ZKM, 2012 brach eine Metallplatte des frisch renovierten Tap Dancer (1967) während der Ausstellung „Pacific Standard Time“ an der Ostküste der Vereinigten Staaten (15. März 2012 bis 10. Juni 2012),4 auch empfindliche Hardware-Teile von Erweiterter Schwitters (1987) mussten im Sprengel Museum in Hannover ausgetauscht werden,5 wodurch die Software ei-

2

Huene 1999.

3

Vgl. Frömmer 2002; Gall 2002; Horn 2002.

4

Davor wurde die Skulptur Tap Dancer (1967) von John Gaugan, dem Zaubertechniker des berühmten Zauberers David Coperfield, restauriert (Wolfe 2012).

5

Sakamoto 2014.

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ner neuen Transformation unterworfen wurde, nicht zu reden von Werken, die der Künstler zu Lebzeiten selber auflöste wie die Klangskulptur Salzburger Locker.6 Trotz dieser in der Medienkunst sehr verbreiteten Lage7 hat Stephan von Huenes letzte große Arbeit – Sirenen Low (1999) – das Schicksal der Fähre „Admiral of Scandinavia“ bisher ohne große Konservierungseingriffe überdauern oder – im übertragenen Sinne – „übertönen“ können. Die Skulptur wurde für die Ausstellung „Odysseus. Mythos und Erinnerung“ im Haus der Kunst München (1. Oktober 1999 bis 9. Januar 2000) konzipiert und ist seit Dezember 2012, nach kurzen Aufenthalten in der Hamburger Kunsthalle,8 in der Galerie Renate Kammer9 und im Altonauer Museum,10 in der Skulpturensammlung des Dresdner Albertinums zu Hause.11 Die Kurzlebigkeit der avancierten Technologie, die seine Kunstwerke erst ermöglichte, war Stephan von Huene bewusst. Darum sind seine komplexen Klangskulpturen im Nachlass meistens sehr gut von ihm dokumentiert. Viel dramatischer als die Kurzlebigkeit und das Ephemere technologischer Artefakte stellte er sich die sicherlich damit zusammenhängende Wanderung von nicht aufführbaren Medienkunstwerken in das „finstere“ Depot des White Cubes vor. In seiner Schrift „Kommen Computer in den Himmel? Können Maschinen eine Seele haben?“ aus dem Jahr 1992 macht der Künstler auf die Unschärfe zwischen Beseeltem und Unbeseeltem in der Kunst aufmerksam, angelehnt an die Church-Turing-These, Computer können geistige Prozesse jeder Art simulieren.12 In einer gewagten, aber auch ironischen Analogie vergleicht Stephan von Huene die Funktion eines „Himmels der Kunst“ mit der Aufnahme in die Sammlung eines Museums. Entsprechend wäre das „Fegefeuer“ mit dem Depot des

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Salzurger Lockerl wurde im Rahmen der Ausstellung „Stephan von Huene. Skulptur Klang Media“ in der ACP Galerie Peter Schuengel in Salzburg (1997) gezeigt.

7

Vgl. Hummelen et alia 1999; Blase 2005; Muñoz-Viñas 2005; Laurenson 2006; Weyer 2006.

8

Im Rahmen einer Veranstaltung mit Joan La Barbara in Erinnerung an Stephan von Huene, Hamburger Kunsthalle 2001.

9

Vom 2. Juni bis zum 12. Juli 2003, parallel zu „Stephan von Huene – die Retrospektive“ in der Hamburger Kunsthalle.

10 „Alles im Fluss. Ein Panorama der Elbe“, Altonauer Museum 2008. 11 Laut der Informationsseite von „Paragone“, Freundeskreises der Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden e.V. fand die offizielle Übergabe am Freitag, den 10. Dezember 2010 statt. Siehe Onlinedokument: http://paragone-dresden. blogspot.de/2010/12/ubergabe-der-klangskulptur-sirenen-low.html (14.4.2015). 12 Retrospektive, S. 253.

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Hauses gleichzusetzen: Ein beinah tragisches Fatum, dem technologiebasierte Kunst sehr schwierig entgehen kann. Abbildungen 15 und 16: Sirenen Low: Vorstudie zunächst noch mit flankierenden Glaspfeifen und doppelter Projektion; Bauplan der definitiven Version

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Um diesem Schicksal symbolisch zu entgehen, gab Stephan von Huene in jener Schrift – schwer zu sagen mit wie viel Ironie – an, eine unsichtbare „Präsenz der Kunst“ zu konstruieren: In dem ephemeren Augenblick nach einem Trommelschlag (im Text ist die Rede von der Klangskulptur Drum [1974/1992]) entstehe die Wahrnehmung von etwas möglicherweise „ganz Undramatischem und Unscheinbarem, vielleicht der besonderen Art, in der jemand seinen offenen Schnürsenkel wieder zusammenbindet“.13 Hier ist es schwer, der Verführung zu widerstehen, eine Hypothese daraus abzuleiten: Der Augenblick der Rezeption soll über die Anwesenheit des Kunstwerkes hinausgehen: Die Kunst transzendiert deren Substanz, wenn sie sich jenseits ihrer Form auf die einfachsten Kommunikationseinheiten reduzieren lässt. Dies scheint mit mehr oder weniger Intensität in anderen „Kommunikationsexperimenten“ von Stephan von Huene präsent zu sein. Sirenen Low (1999) unterstützt die Annahme einer unsichtbaren, aber dadurch unaufhörlichen Präsenz der Kunst, die durch den Verzicht auf ein abgeschlossenes Drama ausgelöst wird: Die Reduktion auf grundlegende altertümlich klingende Warnsignale lässt das Geheimnis des Baums des Wissens, worum es in der homerischen Passage geht, noch ferner und unerreichbarer erscheinen als im Original. Dieses Kunstwerk spricht in der Tat von der Antikensehnsucht nach Allwissen in warnenden und verlockenden Tönen zugleich. Die

13 Ebenda.

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Arbeit folgt dabei einer inneren Logik, die keine reine symbolische Ordnung zulässt. Im Echo des Warnsignals der Sirenen entsteht „die Wahrnehmung von etwas möglicherweise ganz Undramatischem und Unscheinbarem“.14 Der Besucher bleibt zunächst verwirrt, die Botschaft lässt sich nicht vollständig entziffern: Soll man hier amüsiert sein oder erschrocken – oder beides zugleich? Die Unbestimmtheit einer Coincidentia Oppositorum definiert auch Sirenen Low (1999): Sie lässt die Skulptur jenseits ihrer Materialität wie ein unvollendetes Experiment weiterhallen, das durch eine maschinell ausgelöste Zerlegung des Mythos in seine grundlegenden Töne dem Ende im Bedeutungsgeflecht entgeht. Die Botschaft bleibt zugleich dem Medium verhaftet, sie vergeht nicht auf dem Weg vom Sender zum Empfänger. Sie verweilt im Gesang der Sirenen wie ein exotisches Kommunikationsrätsel, wie ein faszinierendes Tor, das zum Wissen über das Nicht-Wissen führt.

N ACHSTELLUNG

DES

T ATORTS S IRENEN L OW

Abbildung 17: Sirenen Low: Ines Domeyer liest das homerische Mythos vor, Albertinum in Dresden

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Die Klangskulptur Sirenen Low (1999) ist die letzte große, vollendete Arbeit von Stephan von Huene. Sie besteht aus zwei Paaren von 4 m langen Orgelpfeifen,

14 Ebenda.

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einem Lautsprecher, einer Steuerungseinheit, mechanischen Teilen und einem auf die Wand senkrecht gerichteten Videoprojektor, der auf einer dorisch anmutenden quadratischen Säule aus dunkelrot angestrichenem Holz in ca. 2,95 m Höhe über dem Boden montiert ist. Ein Näherungsschalter sollte ursprünglich die Skulptur laut der Dokumentation aus dem Nachlass aktivieren: Heute wird Sirenen Low (1999) dreimal am Tag zu festen Zeiten per Fernbedienung in der Skulpturensammlung des Albertinums angestellt. Eine weibliche Stimme – die Stimme von Ines Domeyer, damals Lehrerin am Hamburger Johanneum – rezitiert in nach heutigen Konventionen makellosen daktylischen Hexametern die homerischen Hexameter aus dem zwölften Buch der Odyssee (XII, 166-192), in denen die Begegnung des Odysseus mit den Sirenen vorgetragen wird. In einführenden Versen werden alle Sicherheitsvorkehrungen beschrieben, welche die Gefährten des Odysseus treffen, sobald sie die Insel der zwei Sirenen (griechisch Σειρήνοιιν: in Genitiv des Duals, also zwei Sirenen) in der Ferne sichten. Danach kommen die mythologischen Zwitterwesen in acht Versen zu Wort – zu gesungenem Wort, das Stephan von Huene in rhythmische Klänge übersetzt. Nicht nur „kunstfreudige“ Altgriechisch-Studentinnen15 merken hier die metrische Perfektion der Altgriechisch-Lehrerin und die von den Orgelpfeifen verlangsamte Wiederholung von rhythmischen Mustern. Auch ahnungslose

15 Siehe z.B. Nairon 2011: „[...] seit einer Woche bin ich nun im Praktikum bei den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden – konkret der Antikenabteilung der Skulpturensammlung – und dadurch in der glücklichen Lage, mir einige Werke anzusehen. Heute hatte ich ein Erlebnis der besonderen Art. Seit geraumer Zeit gibt es im Skulpturensaal ein Ausstellungsstück mit dem Namen ‚Sirenen Low / Der Gesang der Sirenen‘ von Stephan von Huene (1999). Dabei handelt es sich um eine Kombination aus einer Skulptur, einer Klanginstallation und einem Video. Der Künstler behandelt hier die berühmte Passage aus Homers Odyssee, in der die Reisenden auf die Sirenen treffen (12. Gesang, 166-192). Diese Verse werden von einer Dame in metrischer Perfektion gelesen und in der Wiederholung von Orgel- bzw. Schiffshornlauten unterbrochen, die den Rhythmus der Verse verlangsamt nachahmen. Begleitet wird das alles u.a. von Videoaufnahmen des Hamburger Hafens. Dazu gibt es ein sehr schönes Faltblatt mit den Originalversen, einer Übersetzung und einer Erklärung zum Werk. Die Klanginstallation wird täglich 11 Uhr, 14 Uhr und 16 Uhr abgespielt und dauert 10:30 Min. Wer also in den Genuss kommen möchte, diese so bekannten Verse einmal zu hören, anstatt zu lesen, dem sei ein Besuch in der Skulpturensammlung (Tzschirnerplatz 2, 01067 Dresden) wärmstens ans Herz gelegt.“ Blogeintrag vom Freitag, den 5. August 2011: http://ancientgreek.blog.de/2011/08/05/homer-moderne-kunst-11614230 (21.2.2013).

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Besucher werden von der geheimnisvollen rhythmischen Ordnung des alten Sprachsystems und der kunstvollen Warnsignale angelockt. Die Skulpturen des Albertinum, von den Originalen und Abgüssen der Antike bis zu den Werken Rodins, müssen sich gedulden, bis Sirenen Low vorbei („gefahren“) sind. Das Zitat aus Homers Odyssee kommt aus einem auf dem Boden der Installation befindlichen Lautsprecher. Für die meisten Besucher ist das Altgriechische ein unverständliches aber schönes, weit entferntes und exotisches phonetisches Material:16 Lange und kurze Silben folgen im daktylischen Rhythmus aufeinander in unterschiedlichen Tonhöhen. Nach jedem Vers der Sirenen gibt es eine Antwort als Warnsignal: Der Vers wird in sein rhythmisches Klangmuster von den modifizierten Orgelpfeifen17 zerlegt. Während der griechische Vers vorgetragen wird, werden auf die Wand passend zum jeweiligen Vers verschiedene Sirenen-Motive projiziert: eine Keramikabbildung, ein antikes Skulpturen-Ensemble aus der Sammlung des Getty-Museums, ein Askos in der Form einer Sirene aus derselben Sammlung, eine emblematische Darstellung aus dem 16. Jahrhundert ... Sie wechseln sich ab mit einem Video, das von dem Künstler an der Elbe aufgenommen wurde und den Schiffsverkehr auf dem Fluss zeigt. Jedem Vers werden ein Motiv aus der Elbe und eine Sirenen-Darstellung zugeordnet. Für die Zuordnung der Verse zu den ikonographischen Motiven nehmen wir hier sowohl die Übersetzung aus dem Flyer, der im Albertinum ausliegt, als auch die Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt, die Stephan von Huene verwendete. Wenn auch Stephan von Huene sich primär für die genaue Bedeutung des Griechischen Textes nicht interessierte, hilft der Vergleich beider Texte zur Identifizierung von semantischen Abweichungen, die auf die Motivation für eine bestimmte Bildmaterial-Zuordnung schließen lassen könnten. Odyssee XII, 184-192:18 δεῦρ’ ἄγ’ ἰών, πολύαιν’ Ὀδυσεῦ, μέγα κῦδος Ἀχαιῶν, νῆα κατάστησον, ἵνα νωϊτέρην ὄπ’ ἀκούσῃς. οὐ γάρ πώ τις τῇδε παρήλασε νηῒ μελαίνῃ, πρίν γ’ ἡμέων μελίγηρυν ἀπὸ στομάτων ὄπ’ ἀκοῦσαι, ἀλλ’ ὅ γε τερψάμενος νεῖται καὶ πλείονα εἰδώς.

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16 Selbsterfundene und exotisch klingende Wörter hatte Stephan von Huene bereits in den 1960er Jahren für seine Pasadena-Zeichnungen und Rauchzeichnungen überlegt. Siehe hierzu das Kapitel „Harmonie der Phoneme“. 17 Modifiziert wurden vor allem die Stiefel der Orgelpfeifen. 18 Nach der Teubner-Ausgabe von Peter von der Mühll (1984).

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ἴδμεν γάρ τοι πάνθ’ ὅσ’ ἐνὶ Τροίῃ εὐρείῃ Ἀργεῖοι Τρῶές τε θεῶν ἰότητι μόγησαν, ἴδμεν δ’ ὅσσα γένηται ἐπὶ χθονὶ πουλυβοτείρῃ. ὣς φάσαν ἱεῖσαι ὄπα κάλλιμον·

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Es gibt leichte Abweichungen von der Version des griechischen Textes, die im Flyer des Albertinums gedruckt wurde, z.B. die Lektüre des Aoristos θέσαν statt βάλον im Vers XII, 172. Für die vorliegende Analyse hat man sich aus diesem Grund nach dem im Nachlass vorliegenden Text orientiert. Dieser Text, der in Fotokopien vorliegt, stimmt weitgehend mit der Teubner-Ausgabe der Odyssee von Peter von der Mühll überein und entspricht dem von Ines Domeyer vorgetragenen Text. Übersetzung: Anton Weiher, 2007 (Abdruck des Albertinum-Flyers): „Hierher, Odysseus, Ruhm aller Welt, du Stolz aller Achaier! Treibe dein Schiff ans Land, denn du musst unsre Stimmen erst hören! Keiner noch fuhr hier vorbei auf dunklen Schiffen, bevor er Stimmen aus unserem Münde vernommen, die süß sind wie Honig. So einer kehrt dann mit tieferem Wissen beglückt in die Heimat. Alles wissen wir dir, was im breiten Troja die Troer, Was die Argeier dort litten nach göttlicher Fügung. Und allzeit Wissen wir, was auf der Erde geschieht, die so vieles hervorbringt. Herrlich ließen im Sang diese Worte sie hören.“

Übersetzung: Wolfgang Schadewaldt, 1958 (Stephan von Huenes bearbeitete Vorlage: Die Odyssee, Rowohlt Klassiker, Bd. 2, Hamburg 1958): „Auf! Hergekommen! Vielgepriesener Odysseus! Du große Pracht unter den Achaiern! Lege mit deinem Schiffe an, damit du unsere Stimme hörst! Denn noch ist keiner hier mit dem schwarzen Schiff vorbeigerudert, ehe er nicht die Stimme gehört, die honigtönende, von unseren Mündern, sondern heim kehrt er ergötzt und an Wissen reicher. Denn wir wissen dir alles, soviel in der weiten Troja Argeier und Troer sich gemüht nach der Götter Willen wissen, wieviel nur geschehen mag auf der an Nahrung reichen Erde. So sagten sie und entsandten die schöne Stimme.“

Die unterstrichenen Satzteile wurden vom Künstler im Original markiert. Diese Textteile machen auf die Stimme der Sirenen und auf deren Wissen über die

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Vergangenheit aufmerksam: die Form und der Inhalt, was jedes Kunstwerk ausmacht. Auf den folgenden Seiten werden Form und Inhalt unter die Lupe genommen. Alle ikonographischen Motive und Videosequenzen, welche die Töne von Sirenen Low (1999) begleiten, werden dokumentiert und auf die mögliche Intention des Künstlers hin untersucht. Diese archäologische Herangehensweise wird um den Vergleich der rhythmischen Muster der Pfeifen mit den daktylischen Versen des Originaltextes ergänzt,19 so dass eventuelle Abweichungen identifiziert werden können. Mit dieser Datenerhebung wird verfolgt, die Mechanik der Kunstproduktion von Stephan von Huene aufzudecken, um daraus extrapolierbare Kunsttechniken ableiten zu können. Erster Vers der Sirenen Griechischer Vers (XII, 184): δεῦρ’ ἄγ’ ἰών, πολύαιν’ Ὀδυσεῦ, μέγα κῦδος Ἀχαιῶν, Übersetzungen: „Auf! Hergekommen! Vielgepriesener Odysseus! Du große Pracht unter den Achaiern!“ (Schadewaldt; Stephan von Huenes Vorlage) „Hierher, Odysseus, Ruhm aller Welt, du Stolz aller Achaier!“ (Weiher; Albertinum-Flyer) Griechische Metrik bestehend aus Daktylen (— ⏖) und Spondeen (— —): — ⏖, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — — ‖ Rhythmisches Muster der Pfeifen laut Nachlass-Dokumentation nach dem Zusammenfügen der rhythmischen Muster aller vier Pfeifen. Abweichungen mit der griechischen Vorlage werden grau dargestellt: — ⏖, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — — ‖

19 Hierfür wurde die technische Dokumentation von Stephan von Huenes Mitarbeiter Franz Michel zu Rate gezogen (Typoscript, Nachlass Stephan von Huene).

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Abbildungen 18 und 19: Sirene-Skulptur aus Poet as Orpheus with Two Sirens, unbekannter Autor, Griechisches Skulptur-Ensemble aus Tares, Süditalien ca. 350- 300 v. Chr. (Getty Museum, USA); Standbild: Koerier von links nach rechts fahrend. Einstellungsgröße: Halbtotale des Schiffes

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Die süditalienische Terracotta-Sirenen-Skulptur aus dem Getty Museum ist ein gutes Beispiel für die dominierende Vermenschlichung der Sirenen-Darstellungen ab dem 4. Jh. v. Chr. (Tsiafakis 2001). Sie gehört zu einem größeren, aus drei Skulpturen bestehenden Ensemble, das kurz davor wie eine „ungewollte“ Frame-Auslassung eingeblendet wird – ein Videobearbeitungsfehler, der vom Künstler als Teil der Arbeit übernommen wurde. Die Skulpturen aus dem Getty-Sirenen-Ensemble haben fast Personengröße (140 cm), die Orpheus-Skulptur ist entsprechend ihrer sitzenden Haltung nur 104 cm hoch. Die flankierenden Sirenen sind vor allem als Frauen zu erkennen: Nur ihre stilisierten Füße und Vogelschwänze verraten ihr Dasein als Zwitterwesen. In dieser Darstellung hält Orpheus ein Plektrum in der Hand. Seine Lyra ist nicht mehr vorhanden. In den überlieferten Sirenen-Darstellungen erscheint mindestens eine der Sirenen auch mit einer Lyra und einem Plektrum in der Hand. Die Lyra ist aber nicht das einzige Instrument der Sirenen, sie nutzen auch ihre eigene Stimme und den doppelten Aulós: ein beliebtes Pfeifen-Instrument der Antike. Der damaligen Korrespondenz mit dem Getty Museum kann man entnehmen, dass Stephan von Huene darauf bestand die Fotos so zu machen, dass der gestufte Übergang zwischen der Drapierung der Sirenen-Kleider und den fast dekorativen Vogelschwänzen gut zu sehen war. Der stilisierte metamorphe Zustand der Sirenen-Darstellung im IV Jh. v. Chr. steht hier also im Vordergrund.

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Aus dem Zusammenfügen der rhythmischen Muster aller vier Pfeifen resultiert hier eine Metrik, die mit dem griechischem Vers vollkommen übereinstimmt. Zweiter Vers der Sirenen Griechischer Vers (XII, 185): νῆα κατάστησον, ἵνα νωϊτέρην ὄπ’ ἀκούσῃς. Übersetzungen: „Treibe dein Schiff ans Land, denn du musst unsre Stimmen erst hören!“ (Schadewaldt; Stephan von Huenes Vorlage) „Lege mit deinem Schiffe an, damit du unsere Stimme hörst!“ (Weiher; Albertinum-Flyer) Griechische Metrik bestehend aus Daktylen (— ⏖) und Spondeen (— —): — ⏖, — —, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — — ‖ Rhythmisches Muster der Pfeifen laut Nachlass-Dokumentation nach dem Zusammenfügen der rhythmischen Muster aller vier Pfeifen. Abweichungen mit der griechischen Vorlage werden grau dargestellt: — ⏖, — ⏖, — —, — ⏖, — ⏖, — — ‖ Abbildungen 20 und 21: „Le tre Sirene: Ligea, Leucosia e Partenope“. In: Natalis Comitis: Mythologiae sive explicationis fabularum libri decem, Patavii 1616, auch vorhanden in: Imagini delli Dei degl’Antichi von Vicenzo Cartari: Venedig 1647; Einzelbild aus Videosequenz:Von links nach rechts fahrendes Segelboot auf der Elbe. Einstellungsgröße: Totale des Hauptmotivs

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

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Diese Darstellung hat einen gewissen esoterischen Charakter durch ihre Erscheinung in Comitis Abhandlung aus dem Anfang des 17. Jahrhundert Mythologiae sive explicationis fabularum libri decem. Es fällt auf, dass eine Karavelle im Hintergrund versinkt, während die Sirenen ihre jeweiligen Instrumente (Stimme, Lyra und Aulós) spielen. Diese Darstellung thematisiert eine „modernisierte“ Variante des Mythos, wonach die Gefahr der Sirenen lange nach der Antike als verlockender Klang fortbesteht. Die suggestive Kraft des Mythos führt zu einer erneuten Deutung: Es sind nicht zwei, sondern drei die Sirenen – Homer, der die Sirenen im Genitiv des Duals als Σειρήνοιιν vorstellte, ist also nicht die einzige Autorität in Sachen Sirenen. Im 16. und 17. Jahrhundert waren die Sirenen ein wiederkehrendes Motiv der Malerei geworden, das auch in literarischen und philosophischen Texten vorkam. Stephan von Huene nimmt das Echo auf die abenteuerliche und ihrerseits wieder kreative Überlieferungsgeschichte des Sirenen-Mythos, das Autoren wie Brecht, Kafka, Adorno oder Kittler zu unterschiedlichen Auslegungen führte. Auf metrischer Ebene fällt auf, dass der zweite und der dritte Versfuß „vertauscht“ wurden. Dies geschieht allerdings an einer Stelle, wo eine KommaPause Einfluss auf den Rhythmus nimmt. Dritter Vers der Sirenen Griechischer Vers (XII, 186): οὐ γάρ πώ τις τῇδε παρήλασε νηῒ µελαίνῃ, Übersetzungen: „Denn noch ist keiner hier mit dem schwarzen Schiff vorbeigerudert,“ (Schadewaldt; Stephan von Huenes Vorlage) „Keiner noch fuhr hier vorbei auf dunklen Schiffen,“ (Weiher; Albertinum-Flyer) Griechische Metrik bestehend aus Daktylen (— ⏖) und Spondeen (— —): — —, — —, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — — ‖ Rhythmisches Muster der Pfeifen laut Nachlass-Dokumentation nach dem Zusammenfügen der rhythmischen Muster aller vier Pfeifen. Abweichungen mit der griechischen Vorlage werden grau dargestellt: — —, — —, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — — ‖

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Abbildungen 22 und 23: Askos mit der Form einer Sirene, Griechenland, frühes 5. Jh. v. Chr., Bronzeskulptur (J. Paul Getty Museum, Los Angeles); Einzelbild aus der Videosequenz mit zwei von links nach rechts fahrenden Schotten. Einstellungsgröße: Halbtotale des Hauptmotivs

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Dieses Askos des Getty Museums datiert aus dem frühen 5. Jh. v. Chr. und ist repräsentativ für die Zeit, als die Abbildungen von Sirenen und Mischwesen im Allgemeinen – die von den ägyptischen Vorbildern der „Ba Birds“ im Falle der Sirenen sehr stark geprägt waren – langsam anfangen, anthropomorpher gestaltet zu werden. Man muss bedenken, dass das homerische Gedicht keinerlei Hinweise auf das Aussehen der Sirenen enthält. In den Vasen aus dem 6. Jh. v. Chr. sehen wir jedoch Mischwesen mit Flügeln statt Armen (Abb. 32). In diesem Askos sowie in den fast lebensgroßen Skulpturen der GettySammlung haben die Sirenen weibliche Arme und Hände. Hier fällt vor allem auf, dass die Sirene eine Syrinx in der rechten Hand und einen Granatapfel in der linken Hand hält. Die Syrinx oder griechische Panflöte wird mit der Musik in Verbindung gebracht, die sowohl für den Hades als auch für ihre Heimat auf der Erde, sei es Süditalien oder Griechenland (je nach Sirenen-Gruppe und Überlieferung) typisch war. Der Granatapfel ist ein zweideutiges Symbol. Es bedeutet sowohl Leben als auch Tod.20 Die Darstellung der Sirene mit einem Granatapfel in der Hand ist zudem eher eine Seltenheit unter den Sirenen-Darstellungen.21 Syrinx ist ein mehrdeutiges Wort: Es steht für die antike Panflöte und die Nymphe, die der Hirtenflöte ihren Namen gab. Es ist aber auch das äquivalente

20 Muthmann 1982. 21 Tsiafakis 2001.

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Wort für Larynx in der Ornithologie, d.h. das Lautbildungsorgan der Vögel oder unterer Kehlkopf. In der Bibliothek des Künstlers befinden sich Aufsätze in Fotokopie über die Physiognomie des Vogelgesangs, insbesondere der Aufsatz von Crawford H. Greenewalt „Birdsong – Acoustics and Physiology“ aus dem Jahr 1968. In einigen Mindmaps zu Vorträgen von Stephan von Huene kommt ein Vogel-Motiv vor.22 In einer der einführenden Folien zum Getty Talk wird zudem die Metapher der doppelten Artikulation des Vogelgesangs – einmal in den Stimmbändern und einmal in der Larynx – wie eine gespaltene Zunge bildlich dargestellt (D 1991-2, Abb. 41). Die Auswahl des Vogel-förmigen SirenenAskos mit Syrinx betont auf rätselhafte antikisierende Art die inhärente Mehrdeutigkeit der Kommunikation, die in der Artikulation des Vogelgesangs ein naturwissenschaftliches Vorbild findet. Aus dem Zusammenfügen der rhythmischen Muster aller vier Pfeifen resultiert hier eine Metrik, die mit dem griechischem Vers vollkommen übereinstimmt. Vierter Vers der Sirenen23 Griechischer Vers (XII, 187): πρίν γ’ ἡμέων μελίγηρυν ἀπὸ στομάτων ὄπ’ ἀκοῦσαι, Übersetzungen: „[E]he er nicht die Stimme gehört, die honigtönende, von unseren Mündern.“ (Schadewaldt; Stephan von Huenes Vorlage) „bevor er, | Stimmen aus unserem Münde vernommen.“ (Weiher; Albertinum-Flyer) Griechische Metrik bestehend aus Daktylen (— ⏖) und Spondeen (— —): — —, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — — ‖ Rhythmisches Muster der Pfeifen laut Nachlass-Dokumentation nach dem Zusammenfügen der rhythmischen Muster aller vier Pfeifen. Abweichungen mit der griechischen Vorlage werden grau dargestellt: — —, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — — ‖

22 Siehe z.B. Getty Talk, D 1991-2, oder INTERFACE-Vortrag, D/D 1992-6. 23 Für eine ikonographische Analyse siehe den Kommentar zum ersten Vers. Metrisch betrachtet gibt es keine nennenswerten Abweichungen.

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Abbildungen 24 und 25: Seitliche Perspektive des Ensembles Poet as Orpheus with Two Sirens, ca. 350- 300 v. Chr. (J. Paul Getty Museum, Los Angeles); Einzelbild aus der Videosequenz mit Elbe-Panorama. Einstellungsgröße: Panorama

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Fünfter Vers der Sirenen Griechischer Vers (XII, 188): ἀλλ’ ὅ γε τερψάμενος νεῖται καὶ πλείονα εἰδώς. Übersetzungen: „sondern heim kehrt er ergötzt und an Wissen reicher“ (Schadewaldt; Stephan von Huenes Vorlage) „So einer kehrt dann mit tieferem Wissen beglückt in die Heimat.“ (Weiher; Albertinum-Flyer) Griechische Metrik bestehend aus Daktylen (— ⏖) und Spondeen (— —): — ⏖, — ⏖, — —, — —, — ⏖, — — ‖ Rhythmisches Muster der Pfeifen laut Nachlass-Dokumentation nach dem Zusammenfügen der rhythmischen Muster aller vier Pfeifen. Abweichungen mit der griechischen Vorlage werden grau dargestellt: — ⏖, — ⏖, — —, — —, — ⏖, — — ⏑ ‖

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Abbildungen 26 und 27: Emblem des Stefano Colonna: Variante von Paolo Giovio: „Contemnit Tuta Procellas“. In: Dialogo dell’Imprese Militari et Amorose (Venedig 1557) (Bibliothèque Nationale, Paris); Einzelbild aus Videosequenz: Fährschiff fern, frontal. Einstellungsgröße: Panorama

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Der Typus der Sirene mit zwei Schweifen ist zwar bereits im Mittelalter bekannt, erscheint aber zum ersten Mal flankiert von zwei Säulen als Emblem von Stefano Colonna.24 Die heraldischen Motive des Palazzo Colonna in Paliano und des Castello Colonna in Genazzano, Residenz vom Papst Martin V. (geborener Odone Colonna), bezeugen die Tradition der sirena bicaudata in der Familie der Colonna. Die Beschreibung mit der Inschrift Contemnit tuta Procellas wird von Paolo Giovio 1557 in Dialogo dell´Imprese Militari et Amorose zum ersten Mal dokumentiert. Diesem Motiv widmet auch der Theologe und Historiker aus Kampanien, Giulio Cesare Capaccio, eine Erklärung im dreiteiligen Traktat Delle Imprese (1592). Im Kapitel „Come nell’Elemento dell’Aria, dell’Acqua, e della Terra, possano l’Imprese accomodarsi“ aus dem ersten Buch beschreibt Giulio Cesare Capaccio das Motiv folgendermaßen: „Alle volte i mostri, come gli Hippopotami, le Sirene, cual fù die Stefano Colonna, che in mezzo a due Colonne portaua la Sirena nel mare, e nel Cartoccio era scritto, CONTEMNIT TVTA PROCELLAS, mostrando il gran valore dell’animo suo.“25

„Contemnit Tuta Procellas“ bedeutet „Selbstbewusst trotzt sie [die Sirene] dem Sturm“. Die Sirene hat hier eine andere Bedeutung als im Mythos des Odysseus.

24 Vgl. López-Peláez Casellas 2007, S. 139-150. 25 Delle Impresse. Libro Primo, S. 33.

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Sie repräsentiert nicht mehr die Verlockung und das Unheil, sondern erfüllt eine apotropäische Funktion. Was die Metrik betrifft, so stimmen die rhythmischen Muster der Orgelpfeifen mit dem Originalvers bis auf eine kleine Abweichung überein: Die Sirenen von Stephan von Huene haben eine kurze „Silbe“ zu viel, die aber ähnlich wie im zweiten Vers der Sirenen als Signalisierung einer Punktpause verstanden werden könnte. Sechster Vers der Sirenen 26 Griechischer Vers (XII, 189): ἴδμεν γάρ τοι πάνθ’, ὅσ’ ἐνὶ Τροίῃ εὐρείῃ Übersetzungen: „Denn wir wissen dir alles, soviel in der weiten Troja“ (Schadewaldt; Stephan von Huenes Vorlage) „Alles wissen wir dir, was im breiten Troja“ (Weiher; Albertinum-Flyer) Griechische Metrik bestehend aus Daktylen (— ⏖) und Spondeen (— —): — —, — —, — ⏖, — —, — —, — — ‖ Rhythmisches Muster der Pfeifen laut Nachlass-Dokumentation nach dem Zusammenfügen der rhythmischen Muster aller vier Pfeifen. Abweichungen mit der griechischen Vorlage werden grau dargestellt: — —, — —, — ⏖, — —, — —, — — ‖

26 Für eine ikonographische Analyse siehe den Kommentar zum ersten Vers. Metrisch betrachtet gibt es keine Abweichungen.

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Abbildungen 28 und 29: Frontale Perspektive des Ensembles Poet as Orpheus with Two Sirens, ca. 350-300 v. Chr., J. Paul Getty Museum, Los Angeles; Einzelbild aus Videosequenz: Fährschiff von rechts nach links, Segelboot von links nach rechts. Einstellungsgröße: Halbtotale in Bezug auf das Segelboot.

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Siebter Vers der Sirenen Griechischer Vers (XII, 190): Ἀργεῖοι Τρῶές τε θεῶν ἰότητι μόγησαν, Übersetzungen: „[wir wissen], soviel [...] Argeier und Troer sich gemüht nach der Götter Willen“ (Schadewaldt; Stephan von Huenes Vorlage) „[Wir wissen, was] die Troer, | was die Argeier dort litten nach göttlicher Fügung.“ (Weiher; Albertinum-Flyer) Griechische Metrik bestehend aus Daktylen (— ⏖) und Spondeen (— —): — —, — —, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — — ‖ Rhythmisches Muster der Pfeifen laut Nachlass-Dokumentation nach dem Zusammenfügen der rhythmischen Muster aller vier Pfeifen. Abweichungen mit der griechischen Vorlage werden grau dargestellt: — —, — —, — — — ⏑, — ⏖, — ⏖, — — — — ‖

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Abbildungen 30 und 31: Seitliche Perspektive eines Askos in der Form einer Sirene, Griechenland, frühes 5. Jh. v. Chr., Bronzeskulptur (J. Paul Getty Museum, Los Angeles); Einzelbild aus Videosequenz: großes Fährschiff in Dreiviertel- Ansicht, von rechts nach links fahrend

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

In der seitlichen Darstellung des Askos fällt zum ersten Mal der Griff auf. Dieser repräsentiert eine nackte, männliche, starre, aber auch stille Figur, einem Kouros ähnlich. Normalerweise werden solche Figuren mit hochgestreckten Armen dargestellt, als würden sie die Öffnung des Gefäßes festhalten. In diesem Fall setzt der Kopf an der Askos-Öffnung an. Die Hände der Figur befinden sich hinter dem Rücken. Um den linken Arm trägt der Kouros einen großen, bronzenen Ring, Teil einer Kette mit einem Stopper am Ende, der nun vermisst wird. Auf Grund der Details gäbe es hier Indizien für die Behauptung, dass diese Figur ein angeketteter Odysseus sein könnte, wenn auch er in diesem Fall an eine Sirene und nicht an ein Boot angekettet ist. Seine Kette hat einen Stopper, womit er die Öffnung des Sirene-Askos schließen kann, aus der verführerische aromatische Öle herauskommen könnten. Im metrischen Teil zeigen sich Unstimmigkeiten mit den daktylischen Versen, wenn auch vor allem am Ende des Verses, was im Einklang mit Ausnahmeregelungen der griechischen Metrik im Umgang mit Wortende stünde.27

27 Siehe z.B. Snell 1982, S. 12-17.

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Achter Vers der Sirenen28 Griechischer Vers (XII, 191): ἴδμεν δ’, ὅσσα γένηται ἐπὶ χθονὶ πουλυβοτείρῃ. Übersetzungen: „[Wir] wissen, wieviel nur geschehen mag auf der an Nahrung reichen Erde.“ (Schadewaldt; Stephan von Huenes Vorlage) „Und allzeit | wissen wir, was auf der Erde geschieht, die so vieles hervorbringt.“ (Weiher; Albertinum-Flyer) Griechische Metrik bestehend aus Daktylen (— ⏖) und Spondeen (— —): — —, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — — ‖ Rhythmisches Muster der Pfeifen laut Nachlass-Dokumentation nach dem Zusammenfügen der rhythmischen Muster aller vier Pfeifen. Abweichungen mit der griechischen Vorlage werden grau dargestellt: — —, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — ⏖, — — ‖ Abbildungen 32 und 33: Odysseus und die Sirenen, rotfigurige Vase aus Vulci, Italien, 5. Jh. v. Chr. (Britisches Museum, London); Einzelbild aus Videosequenz: Englandfähre „Admiral of Scandinavia“ in Parallelfahrt, von rechts nach links. Einstellungsgröße: Halbnahaufnahme

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

28 Zusammen mit der nicht verwendeten Illustration von John Flaxman (Abb. 36) und der Sirenen-Darstellung bei Comitis (Abb. 20) stellt diese Vase eine der Darstellungen der drei Sirenen dar, die Stephan von Huene in Betracht zog. Hier ist hervorzuheben, dass die Sirenen abgesehen vom Kopf kaum anthropomorphisch gestaltet sind. Dabei korrelieren sie bildtechnisch mit der Periode, in der der Askos aus dem Getty-Museum entstanden ist. Es gibt keine nennenswerten Abweichungen.

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Letzter halber Vers des erzählenden Odysseus29 Griechischer Vers (XII, 192): ὣς φάσαν ἱεῖσαι ὄπα κάλλιμον· Übersetzungen: „So sagten sie und entsandten die schöne Stimme.“ (Schadewaldt; Stephan von Huenes Vorlage) „Herrlich ließen im Sang diese Worte sie hören.“ (Weiher; Albertinum-Flyer) Griechische Metrik bestehend aus Daktylen (— ⏖) und Spondeen (— —): — ⏖, — —, — ⏖, — ⏖ ‖ Rhythmisches Muster der Pfeifen laut Nachlass-Dokumentation nach dem Zusammenfügen der rhythmischen Muster aller vier Pfeifen. Abweichungen mit der griechischen Vorlage werden grau dargestellt: — ⏖, — —, — ⏖, — ⏖ ‖ Abbildungen 34 und 35: Sirene aus Poet as Orpheus with Two Sirens, ca. 350300 v. Chr. (J. Paul Getty Museum, Los Angeles); Standbild von der GriechischVorleserin, Ines Domeyer. Einstellungsgröße: Nahaufnahme

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

29 Für einen ikonographischen Kommentar siehe den Text zum ersten Vers. Das rhythmische Muster weist keine metrischen Abweichungen auf.

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Abbildung 36: Sirens, Illustrations of Odyssey, um 1810, des Britischen Bildhauers John Flaxman R.A. (1755-1826). Dieses Bild wurde für die Videoinstallation nicht eingesetzt, kommt aber im Nachlass mit der Nummer 5 (My Doc/Sirene/N-Sirene 5) vor

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Insgesamt kann man anhand des vorliegenden Materials eine Funktionsverschiebung der Sirenen-Figur beobachten: Die Getty-Sirene im Profil aus dem ersten Vers versucht die Seefahrer mit ihrem Gruß anzulocken. Das Versprechen, an Wissen reicher zurück nach Hause zu kehren, kann sich jedoch nur erfüllen, nicht indem man sich hingibt und dem Sirenen-Gesang zuhört, sondern indem man u.a. auch dem Sturm trotzt, passend zum Emblem von Stefano Colonna. Stephan von Huenes ikonographische Auswahl, zu der auch eine nicht eingesetzte Illustration von John Flaxman (Abb. 36) gezählt werden sollte, lässt vermuten, dass der Mythos als Kommunikationssystem verstanden wird, in dem wir die Transformationen unserer Kulturgeschichte reflektieren können.30 Diese Fähigkeit zur Aneignung und Transformation des Mythos bildet Sirenen Low (1999) in rhythmischen Termini mimetisch nach.

30 Einer ähnlichen Auffassung war die Gräzistin Jacqueline der Romilly in ihrem berühmten Essay Pour Quoi la Grèce? (1992). Dort beschreibt sie die Mythologie als ein universales Paradigma zur Überlieferung von Werten, Idealen, Ideen und Ängsten. Diese Universalität wäre kaum vorstellbar ohne die Möglichkeit, Mythen in der Kunst und der Literatur zu reflektieren und für neue Generationen anzupassen.

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Abbildungen 37, 38 und 39: Brief an Janet Grossmann (Getty Museum) mit Erwähnung des Arbeitstitels „Sirene High Sirene Low“; Schaltpläne zu Sirenen Low

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

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SKULPTURAL - IKONOLOGISCHE UND AKUSTISCHE D IMENSION Skulptural gesehen evoziert Sirenen Low (1999) fast unwillkürlich Dalis Krücken-Bilder wie Atmosphärozephaler mittlerer Beamter beim Melken einer Schädelharfe (1933) oder Das Rätsel Wilhelm Tells (1934). Die funktionale Qualität der Materialien und die Intentionalität der Erzählung lassen jedoch einen gewollten Bezug zum Surrealismus kaum ausmachen. In einem Interview mit Doris von Drathen distanzierte sich Stephan von Huene vom Surrealismus als

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Inspirationsquelle für seine Arbeit.31 Die Stahlstrukturen, über denen die natürlichen Elongationen der Orgelpfeifen aus Holz ruhen, sind zuallererst funktionale Stützen, wortwörtliche Füße von mechanischen Harpyien – halb Holz, halb Metall, teilweise Sirenen, teilweise Boot–, über deren Mast ein handelsüblicher Videoprojektor einen Segel aus Lichtwellen setzt. Ein seltsamer „Schiffsbug“, der mehrere Welten in sich vereint. Etwas fern liegen hier die Einflüsse der Craftsman-Häuser aus seiner kalifornischen Heimat, welche den Stil seiner ersten Klangskulpturen wie Kaleidophonic Dog (1964-67) oder Rosebud Annunciator (1967-69) so sehr prägten, abgesehen etwa von der rostroten Farbe, mit der das Holz und die stilisierten Stahlfüße gestrichen wurden. Nur das Instrument – die vier modifizierten Orgelpfeifen – behält seine „Naturfarbe“. So betrachtet weist der hybride Körper der Skulptur eine kleine formale Ähnlichkeit mit den GettySirenen auf, die auf sehr dünnen Vogelfüßen stehen. Trotz der zeitlichen Ferne zu seinen ersten Skulpturen verrät diese letzte große Arbeit von Stephan von Huene den intellektuellen Einfluss des Anthropologen Franz Boas, der in seiner auch von Stephan von Huene bekannten Abhandlung über Primitive Art (Boas 1955 [= 1927]) zwei grundlegende, unvereinbare Methoden der kreativen Schöpfung unterscheidet: eine symbolisch-expressionistische und eine perspektivischimpressionistische.32 Diese Textstelle, die von Stephan von Huene unterstrichen wurde, macht insbesondere auf die Funktionsweise und Bedingungen, die zur primitiven perspektivischen Darstellung führen, aufmerksam: Einerseits kann der Künstler alle charakteristischen Teile eines Objekts gleichzeitig zeigen („no matter wether they are visible in a single view or not“), andererseits funktioniert diese Methode nur, wenn das sogenannte „princip of indistinctness“ (Prinzip der

31 Hier könnte vielmehr der Primitivismus, Arcimboldo und – auf einer anderen Ebene – die Kommunikationstheorie von Bateson u.a. als Inspirationsquelle in Frage kommen. Die Surrealisten hatten außerdem keinen großen Einfluss im Ganzen auf die WestCoast-Künstler, wie bereits Helmut Heißenbüttel in den 1970er Jahren erläuterte (Heißenbüttel 1972, S. 10). Unbewusstes und psychoanalytisches Vorgehen spielten bei den meisten dieser Künstler kaum eine Rolle. Stattdessen war die „Ironie als Element der Verfremdung und des double-entendre bei fast allen West-Coast-Künstlern sehr präsent“. Laut Helene Winter sind die interkulturelle Flexibilität und das multimediale Interesse dieser Künstler mit „gewissen Parallelen im Jazz und in der Rockund Beat-Musik“, und einem großen „Interesse an unerforschten Wegen, an neuen Materialien und Medien bis hin zu deren völliger Beherrschung“ gemeinsame Merkmale, auf deren Grundlage irrtümlicherweise surrealistische Einflüsse hineininterpretiert werden (siehe Winter 1989, S. 114; hier zitiert nach Müller 1989, S. 6-7) 32 Boas 1955, S. 351-352.

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Unbestimmtheit) eingeführt wird, d.h. wenn auf perspektivische oder farbliche und kontextuelle Unterscheidungsmerkmale verzichtet wird. In Sirenen Low (1999) werden bspw. die Körper der tönenden Sirenen mit dem Schiff des Odysseus in einer „totemischen“ Art vereinigt. Derartige Totems und Mischwesen lassen sich in seinen frühen Plastiken und seinen ersten Klangskulpturen wie Kaleidophonic Dog (1964-67), Rose Bud Annunciator (1967) oder Washboard Band (1967) verfolgen. In einer symbolischen Ordnung könnte man hier von einer modernen „Trireme“ sprechen, deren Ruder, Mast und Spanten mal mechanische, mal brachiale Warnsignale von sich geben, während die Bilder der Elbe – als umgekehrte Metapher des homerischen „Pontos“ – die „induzierte“ Bewegung des Schiffs durch eine optische Täuschung provozieren. Die Skulptur erinnert in der Aufstellung der Holzpfeifen an eine andere Arbeit von Stephan von Huene, die er nach der Ausstellung „Stephan von Huene. Skulptur Klang Media“ in der ACP Galerie Peter Schuengel (Salzburg 1997) abbaute, nämlich die zerstörte Klangskulptur Salzburger Lockerl (1997). Der Laut, den diese Orgelpfeifen im gleichen daktylischen, wenn auch verlangsamten Versmaß von sich geben, erinnert sehr stark an „die intensiven Signale von Schiffshörnern“33 wie einst die Holzpfeifen von Salzburger Lockerl (1997) an die alpinen Alphörner erinnert haben.34 Die Orgelpfeifen selbst sind in Paaren geordnet. Ihre antike Entsprechung wäre hier der „Aulós“, ein konisches Rohrblattinstrument von ungefähr 50 cm Länge, das als doppelte Oboe u.a. von Satyrn und Sirenen gespielt wurde. Die „musikalischen Intervalle“ sind hier jedoch anders gesetzt, als man dem doppelten „Aulós“ zuschreiben würde, nämlich eine Oktave „mit Schwellung“ und eine Terz.35 Die primitiven Pfeifen der Antike werden in einem Buch von Curt Sachs (The history of musical instruments, 1943), das im Nachlass Stephan von Huene vorhanden ist, folgendermaßen beschrieben:

33 Vgl. Warnke 2002; Kipphoff von Huene 2006, S. 80. 34 „Vergleichbar mit der Arbeit What’s Wrong with Art? setzt sich dieses Werk kritisch und ironisch mit dem Vokabular des Fremdenverkehrs auseinander. Die großen, liegenden Orgelpfeifen evozieren die Erinnerung an Alphörner aus den Bergen um Salzburg.“ Nach Kipphoff von Huene, Petra/Oelschlägel, Petra/Altner, Marvin (2013): „Stephan von Huene. Aktualisierter Werkkatalog“, S. 81, Onlinedokument: http://www.von huene.de/stvh/wp-content/uploads/2014/10/Werkverzeichnis_SvH_gesamt.pdf (23.4.2015). 35 Diese Angabe richtet sich nach der Dokumentation seines langjährigen Assistenten Frank Michel, Nachlass Stephan von Huene.

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„Pipes follow a different law [im Vergleich zur Lyra]. Their scale depended on the relative position of fingerholes; and this arrangement was determined by measures of length, that is, by feet and inches, not by any musical conception. […] Most pipes, both primitive and highly developed, have equidistant fingerholes. But this equidistance abolutely precludes the production of any musical scale unless the notes are corrected by the size of the holes, the breath, the fingering, or some special device.“36

Trotz der Anlehnung an alte Vorstellungen von Musikinstrumenten der Antike dürften die Sirenen aus den pompejanischen Mosaiken und attischen Keramikvasen vor allem melodischer geklungen haben. Im verlangsamten Tempo werden nun die daktylischen Muster des vorangehenden Verses wie ein unehrerbietiges heidnisches „Graduale“ oder wie eine Variation der griechischen Parabase vorgeführt: Auf die Rede der Chorführerin folgt das Epirrhema – das „Dazugesprochene“ – des mechanischen Chors. Die Orgelpfeifen sind viel mehr mit dem Rhythmus gebenden Stock eines archaischen Rhapsoden als mit der Lyra eines klassischen Aedos zu vergleichen. Auf materieller Ebene hat diese „heidnische“ Skulptur, dieses mechanisierte griechische Chor der Postmoderne, etwas Kirchliches, nämlich die Orgelpfeifen der im Zweiten Weltkrieg (1943) schwer beschädigten Hamburger Kirche St. Jacobi.37 Wie dem auch sei, die kirchliche Herkunft der Orgelpfeifen hat keine symbolische Bedeutung im Ensemble jenseits der funktionalen Dimension der Orgelpfeifen. Aber was macht hier eigentlich das Symbolische aus? Ist die Herkunft der Orgelpfeifen bedeutungslos? Die rot gestrichenen Teile der Skulptur erinnern immerhin an den Craftsman-Stil der ersten Klangskulpturen. Der chromatische Unterschied zwischen „Rumpf“ (Säule und Kisten) und Füßen und den Klang bringenden „Gliedmaßen“ (Orgelpfeifen) ist auffällig genug, um ein Zeichensystem zu vermuten, das nicht nur durch Zufall mitbestimmt wird. Die verlockenden und zugleich warnenden Tonsignale schallen diagonal im Raum des Albertinums, in gewisser Weise ihre eigene akustische Reflexion generierend, ihre eigene Ordnung annehmend, etwa ähnlich wie bei den Glass Pipes (1974-76),38 so dass die Sirenen nicht leiser werden, sondern uns mit ihrer

36 Sachs 1943, S. 72. 37 Siehe Interview mit Petra Kipphof von Huene im Anhang; im Internet kursiert die falsche Annahme, die Orgelpfeifen wären aus der Kirche St. Katharinen, siehe hierzu: jp (2008): Elbschiffer in neu zu entdeckende Untiefen gelockt. In: Die Welt vom 6. Februar, Onlinedokument: http://www.welt.de/welt_print/article1641039/Elb schiffer-inneu-zu-entdeckende-Untiefen-gelockt.html (24.2.2014). 38 Siehe hierzu La Barbara 1983, S. 78-80.

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verhallenden Stimmen umgeben.39 Ausgerechnet über diese Eigenschaft der Glaspfeifen erzählt Stephan von Huene eine Anekdote über eine Erfahrung in der Galerie Inge Baecker in Bochum im Jahr 1977: „[...] ich hatte die Glaspfeifen in einem Raum aufgebaut und stimmte sie und dann bin ich zum Lunch nach oben gegangen – sie [die Galeristin] wohnte im ersten Stock – als die Nachbarin hereingestürmt kam und sagte, da wäre etwas Schreckliches im Gange, bei ihr würden die Sachen von Kaminsims fallen, und ich… also ich habe nur aufgeschaut und gesagt: Aber natürlich, weil ich aus Kalifornien komme und dort haben wir häufig Erdbeben! Und... sie hat das irgendwie ernst genommen!“40

Stephan von Huene musste sich also beschränken, die Glaspfeifen ungestimmt vorzuführen. Am Tag der Eröffnung flüchteten sich alle Gäste bis auf Wolf Vostell in die anderen Räume. Eine Vorstudie aus dem Nachlass zeigt die uns heute geläufige Form der Skulptur Sirenen Low (1999) von zwei Glaspfeifen flankiert (Abb. 15). Zwei war die Zahl der Sirenen, die auf der Insel gewohnt haben, da sie Homer mit dem Genitiv des Duals präsentiert. Zwei sind auch die Skulpturen der stilisierten Getty-Sirenen, an denen Stephan von Huene von Anfang an interessiert war, da bei ihnen nicht sofort klar ist, wo das Kleid zum Federgewand wird. Die ursprünglich geplanten Glaspfeifen sollten auf Sockel flankierend wie die Getty-Sirenen aufgestellt werden. Zum Schluss vereinte jedoch der Künstler alle Klangkörper in dem „Schiffsbug“ mit den vier horizontalen Holzpfeifen, die wir heute kennen. „Sirenen, leiser!“ – könnten also die Besucher mit Audioguide in der Skulpturensammlung des Albertinums in der Tat sagen, wären da nicht die Bilder der Elbe am Hamburger Hafen, welche mit der mysteriösen Ruhe der Wellen und gleitenden Schiffe und andererseits der statischen Bilder der Sirenen ein akustisches Gleichgewicht, eine Sichtbarkeit des Tons zeugen und damit eine Fokussierung von Gegensätzen schaffen. Der Zuschauer wird im selben Augenblick von der Langsamkeit der auf der Elbe vorbeifahrenden Schiffe hypnotisiert. Das Kunstwerk bewirkt den Zusammenschluss gegensätzlicher Auffassungen von „Nostalgie“ im griechischen und buchstäblichen Sinne des Wortes: als νόστος (die Rückkehr) und ἄλγος (der Schmerz) – der sehnsuchtsvollen Hin-

39 Diese akustische Disposition war laut Petra Kipphoff von Huene nicht so explizit geplant wie z.B. bei den Glaspfeifen, dennoch sind Schallreflexionen ein Thema, das Stephan von Huene immer beschäftigt hat (z.B. La Barbara 1979; hier zitiert nach Split Tongue, S. 83). 40 La Barbara 1979; Nachdruck in Split Tongue, S. 88.

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wendung zum Wissen vergangener Zeiten – aber auch als störendem Signal, das zur ästhetischen Distanz rät. „Wenn Du bei uns bleibst, wirst Du ein weißer Mann werden, […] denn wir wissen, was immer geschieht auf der vielernährenden Erde.“41 Dieser die ultimative Weisheit versprechende Vers bringt im verlockend-warnenden „Graduale“ die Fähre „Admiral of Scandinavia“ ins finale Stolpern: Sie wäre beinah dem verführerischen Klang der Sirenen zum Opfer gefallen.

41 Homer, Odysee XII, 189-191 (Übersetzung J.M.M.).

Eingangsfragen

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WERDEN HORIZONTALE

G ESCHICHTEN ERZÄHLT ?

Sirenen Low (1999) ist neben Text Tones (1979/1982-83) und den zerstörten Arbeiten Salzburger Lockerl (1997) und Monotone (1977) eins der wenigen Kunstwerke von Stephan von Huene, in denen Orgelpfeifen horizontal aufgestellt sind. Zu Totem Tones (1969-70) sagt der Künstler in einem Interview mit Doris von Drathen (1990), dass ihn an dieser Arbeit die „Vertikalität von Geschichten“ interessiert hat: „[U]nsere Geschichten sind horizontal angelegt, mich hat die andere Vorstellung fasziniert.“1 Der Gebrauch räumlicher Kompositionskategorien zur Beschreibung unterschiedlicher Gestaltungsformen erinnert an Heinrich Wölfflins Formalismus und ist möglicherweise der Kunststudie bei Wölfflins Schüler Karl E. With an der UCLA geschuldet. Folgen wir dieser Logik, könnten wir im vorliegenden Fall annehmen, dass Sirenen Low (1999) eine „horizontale Geschichte“ erzählt. Stephan von Huene schrieb keine ausführliche Notizen zu diesem Kunstwerk, aber man kann hier auf die Texte über Text Tones (1979/1982-83), Salzburger Lockerl (1997) und Monotone (1977) zurückgreifen, um die skulpturalen Aspekte von Sirenen Low (1999) aus der Perspektive des Künstlers zu untersuchen. Werfen wir z.B. einen Blick auf eine der zerstörten Skulpturen. Monotone (1977, Abb. 75) besteht aus zwei Messingröhren und Staubsaugermotoren in hölzernen Resonanzkörpern in Form einer abgestuften Pyramide. Staubsauger und Röhren sind auf die gleiche Tonhöhe abgestimmt. Die Resonanzkörper isolieren die Frequenz der Motoren. Luftdruck und Tonhöhe des Motors werden mit einer Steuerungseinheit verändert, so dass die parallel zur Wand und wenige

1

Drathen/ Huene 1990, S. 278-287; hier zitiert nach Brockhaus/Gaßner/Heinrich 2002, S. 268. Auch in einem Gespräch mit György Ligeti für Peter Fuhrmanns Film Stephan von Huene. Im Zwischenreich der Sinne (D 1995), dass Totem Tones (1969-70) „vertikale Geschichten“ erzählen würden.

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Zentimeter über dem Boden horizontal gestellten Messingröhre den Ton ändern, ohne die Tonhöhe zu variieren. Über die Wahrnehmung dieses Kunstwerkes schreibt von Huene: „Die Möglichkeiten des Hörens vergrößern sich, wenn man langsam im Raum herumgeht, vor- und zurückgeht, den Kopf langsam hin- und herbewegt. Mir erscheint diese Arbeit als ein urbanes Musik-Genre.“2

Die horizontale Position der Messingröhre dient dazu, ein Sound-Environment zu generieren, in dem der Besucher je nach Bewegung im Raum die verschiedenen Facetten der Klangstruktur erforschen kann. Zu Salzburger Lockerl (1997) lesen wir in einem Text von Elisabeth Rath: „Vergleichbar mit der Arbeit What’s Wrong with Art? setzt sich dieses Werk kritisch und ironisch mit dem Vokabular des Fremdenverkehrs auseinander. Die großen, liegenden Orgelpfeifen evozieren die Erinnerung an Alphörner aus den Bergen um Salzburg.“3

In diesem Fall wird die horizontale Position der Pfeifen mit dem Instrument in Verbindung gebracht, das sie ironisch zitieren. Sirenen Low (1999) evoziert einerseits die warnenden Sirenen der Schiffe, andererseits wird der Besucher – wie im Fall von Monotone (1977) und Text Tones (1979/1982-83) – als Hörer und Rezipient stark involviert, d.h. man kann in eine akustische, aber auch in eine „intellektuelle“ Interaktion mit dem Kunstwerk treten. Die Reihe Totem Tones (1969-70, Abb. 91-95) inkorporiert in die Totem Tones I, IV und V kinetische Elemente, die einen Einfluss auf die Tonalität der Skulpturen haben. Sirenen Low (1999) integriert auch kinetisch-funktionale Mechanismen. Im Stiefel der Orgelpfeifen gibt es Plexiglasfenster, die das innere Geschehen sichtbar machen. Jeder Stiefel ist zudem mit einer starken LEDLampe beleuchtet, so dass man ganz genau betrachten kann, wie eine Walze zu bestimmten Zeiten über die Stimmzunge gleitet und damit die Tonhöhe der entsprechenden Pfeife ändert. Zu Totem Tones (1969-70) sagte Stephan von Huene: „Ich sehe diese Skulpturen als eine Verbindung von architektonischer Form, Klang und Sprache.“4 Optisch wurden diese dadurch vom Boden gelöst, dass ein Licht in den

2

Huene 1977; hier zitiert nach Retrospektive, S. 193.

3

Siehe Rath 1997.

4

Typoscript, ca. 1983, Nachlass Stephan von Huene.

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Sockel, auf dem die Pfeifen stehen, eingebaut wurde. Bei Salzburger Lockerl (1997) finden wir auch ein Licht unterhalb der horizontalen Pfeifen (Abb. 40), allerdings hat die Pfeifen-Halterung keine farbliche Abstufung und ist etwas massiver als die zwei sehr dünnen und rot angestrichenen Füße von Sirenen Low (1999). Im Fall von Sirenen Low (1999) heben sich die Orgelpfeifen durch einen Farbkontrast vom Rest des Ensembles so sehr ab, dass die tönenden Teile der Skulptur trotz der markanten Materialität der hölzernen Pfeifen ebenso vom Boden gelöst sind. Der Vergleich von Sirenen Low (1999) mit anderen Skulpturen mag zu einem besseren Verständnis der skulpturalen und figurativen Aspekte dieses Werkes beitragen. Ein weiterer Ansatz ist die Analyse der Relation zwischen innerer Logik und äußerer Gestalt: Im Unterschied zur Kunst als Ausdruck eines Künstlerwillens – d.h. als „Expressivität“ – begreift Stephan von Huene seine Arbeit als „inpressive [sic!] Kunst“, d.h. als ein Kunstwerk, das in gewissem Sinne wie ein offenes kybernetisches System funktioniert.5 Dieser selbstreferenzielle, aber zugleich antideterministische Ansatz erinnert an Alois Riegls „Kunstwollen“ als fortschreitende Kunstentwicklung, doch den systemischen Ursprung der Figuration ist vor allem durch eine „empathische Material-Ikonologie“6 zu analysieren. Abbildung 40: Salzburger Lockerl (1997), zerstört

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

5

Siehe hierzu das Kapitel „Inpressivität der Körperteile“.

6

Für diese Bezeichnung sei hier Beat Wyss gedankt.

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In diesem Sinne stützt sich die Analyse der „inneren Logik“ der Klangskulptur nicht nur auf technische Parameter, sondern auch auf bibliographische Quellen, die in Verbindung mit der Intention des Künstlers gebracht werden können. Die Frage, warum Sirenen Low (1999) rein visuell wie ein undefinierbares Zwitterwesen wirkt, führt z.B. zu der Annahme, der Künstler kannte die perspektivischimpressionistische Kreativitätsmethoden nativer Kunst, die Franz Boas in Primitive Art (1927) beschreibt; ähnlich haben andere Autoren die Frage nach den hermetischen Motiven der frühen Zeichnungen in Verbindung mit Publikationen über christliche Symbolik gebracht.7

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GEMEINSAM ?

Bei einer ersten Begegnung mit Sirenen Low (1999) fallen bestimmte Dinge nicht besonders auf, die man bei genauerem Hinsehen durchaus untersuchungswürdig findet: z.B. der Grund für die gewählten Sirenen-Motive, die irritierende Vorführung unterschiedlicher Interpretationen des Mythos, die horizontale Disposition der Orgelpfeifen, die entfremdende und für manch einen esoterische Wirkung des Griechischen oder den hohen Grad an Synästhesie, die der Einsatz von Ton, Video, Skulptur und Bewegung8 generiert. Es sind auch jene Faktoren, die dem Zufall geschuldet zu sein scheinen, die einem aufmerksamen Zuschauer nach dem ersten „Encounter“ im Sinne von Birdwhistell auffallen und ihn dazu bringen, Fragen zu stellen: Warum hört man einige Telefonwahltöne am Ende der Videoprojektion? Wieso ist ein loses Bild am Anfang des Videos für einen kurzen Augenblick wie eine Bild-Auslassung zu sehen? Warum tragen die Sirenen-Motive verschiedene Instrumente und Objekte? Haben diese eine symbolische Bedeutung im skulpturalen Kontext? Oder werden sie vielmehr als Stimuli und Teil des kybernetischen Geschehens ohne konkrete symbolische Ordnung eingeführt?

7

Vgl. Warnke, 2002, S. 90-96.

8

Sirenen Low (1999) ist auch eine kinetische Skulptur: Die Stiefel der Orgelpfeifen wurden so modifiziert, dass eine Walze über der Stimmzunge in bestimmten Momenten der Komposition von der High-Position zu der Low-Position fährt (Abb. 44, 45). Die Stiefel haben Plexiglas-Fenster und werden durch LED-Lampen beleuchtet, so dass der Museumsbesucher einen Blick in das innere Leben der Skulptur werfen kann. Siehe hierzu die Eingangsfrage „Warum singen die Sirenen high & low?“ im vorliegenden Kapitel.

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Ein Motiv, das bei der ersten Auseinandersetzung mit den tieferen „Oberflächen“ des Kunstwerks besonders auffällt, ist das Fehlen einer Lyra: Das Instrument, mit dem man epische Verse – wie die homerischen Gedichte – in der Antike begleitete, erscheint hier nur in dem Emblem „Le tre Sirene: Ligea, Leucosia e Partenope“ aus dem Buch von Natalis Comitis. Einer der HarpyienSirenen hält eine Lyra in den Händen, eine zweite Sirene spielt in der gleichen Abbildung den Aulós, die dritte singt. Die Lyra ist jedoch nicht in den Händen des Orpheus aus dem Getty-Ensemble (Abb. 28), der damit den Gesang der Sirenen bezwang.9 Dieses Instrument hätte eine zu starke symbolische Tragweite für die Klangskulptur gehabt, zumal es hier grundsätzlich nicht um die Argonauten, sondern um Odysseus geht. Orpheus oder der verstorbene römische Aristokrat, der als Orpheus hier auftritt, sollte nicht einmal vorkommen. Es war von Stephan von Huene nicht vorgesehen, diese zwei Sirenen-Mythen miteinander zu verbinden. Der Korrespondenz mit dem Getty Museum kann man entnehmen, dass er mit der sitzenden Figur nicht gerechnet hatte (Abb. 41). Statt der Lyra sehen wir in der „perspektivisch-impressiven“ ausgelegte Skulptur bestehend aus vier liegenden Holzpfeifen vor allem die präferierten Instrumente der Sirenen: den Aulós oder den doppelten Oboe und die Panflöte oder Syrinx. Es ist anzunehmen, dass Stephan von Huene den doppelten Aulós in Verbindung mit der ägyptischen und der antiken Tradition im Allgemeinen kannte, denn dieses Instrument wird in Curt Sachs The Rise of Ancient Music (1943, S. 64) abgebildet und beschrieben – ein Buch, das sich in der Bibliothek des Künstlers befindet. In einem weiteren Buch von Curt Sachs, Rythm and Tempo. A Study in Music History (1955), wird außerdem das Verhältnis zwischen Sprache und Musik in der griechischen Epik erläutert.10 Curt Sachs zitiert hier eine alte Musikdefinition:

9

Die zu erwartende Lyra wird in den Videoaufnahmen sogar wortwörtlich unsichtbar. Orpheus rettete tatsächlich die Argonauten unter Kapitän Jason vor dem verführerischen Gesang der Sirenen, indem er „mit einem munteren Lied den gefährlichen Gesang übertönte“ (Kerényi 2004, S. 213). Das Skulptur-Ensemble aus dem Getty wirkt wie ein spätes hellenistisches Porträt von einem reichen Mann, der in jungen Jahren starb, so würde man die realistische kaum stilisierte Physiognomie seines Antlitzes erklären. Bloß die Lyra ist weg. Es handelte sich sicherlich um eine Lyra aus Bronze oder aus einem anderen wertvollen Material, das man aus der Grabstätte entwendete, in dem das Skulpturen-Ensemble als Andenken an den hier dargestellten römischen Aristokraten aufgestellt war.

10 Sachs 1955, S. 116-117.

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Im dritten Buch der Republik sagt Platon: „[D]er Rhythmus und die Harmonie werden von den Worten kontrolliert und nicht umgekehrt.“11 Stephan von Huene bearbeitete diese Seiten aus Curt Sachs’ Buch und machte handschriftliche Notizen über die Eigenschaften des daktylischen Versmaßes (— ⏖ bzw. lang/kurz-kurz) und dessen rhythmische Auflösung am Ende einer Zeile (— — bzw. lang/lang, wobei die letzte Silbe drei bis vier kurzen Silben entsprechen kann). So ist „1 SHORT, LONG 2, 2:1 → 3 a 4 UNITS“ als Randnotiz auf Seite 117 zu lesen. Offensichtlich orientierte sich Stephan von Huene an den Beschreibungen von Curt Sachs für die Programmierung der Orgelpfeifen von Sirenen Low (1999). Dank dieser Notiz stellt man fest, dass die Unregelmäßigkeiten der griechischen Metrik von Stephan von Huene weitgehend berücksichtigt wurden: Die letzte Silbe kann in der Tat drei bis vier kurzen Silben entsprechen. Derartige Abweichungen vom „sauberen Hexameter“ haben wir in den Kommentaren zu den Versen der Sirenen schon beobachtet. Diese penible „Übersetzungsarbeit“ ist eine relevante Kunsttechnik von Stephan von Huene. Die Sirenen an sich tragen in den skulpturalen Darstellungen keinen doppelten Aulós. Stattdessen übernehmen sie eine doppelte Funktion: Im Falle des gestorbenen Aristokraten sind sie als schützende Gottheiten, als Wächterinnen zu sehen, im Falle des bronzenen Askós ist die Sirene, die eine kleine Panflöte und einen Granatapfel hält, Symbol und Werkzeug zugleich. Hier würde die apotropäische Funktion der Getty-Sirenen fehlen. Stephan von Huene war aber wohl nicht so sehr an den unterschiedlichen Funktionen der Abbildungen als an der epochalen Expressivität der Figuren (insbesondere ihrer Drapierungen) interessiert. Als der Künstler an Sirenen Low (1999) arbeitete, bestellte er einige Abbildungen aus der Antikensammlung des Getty Museums, die er von früheren Besuchen kannte. Als er Scholar am Getty Center war, ließ er drei Abbildungen der Sirenen machen. Dabei ging es ihm vor allem um die Integration des Vogelschwanzes in die gesamte Drapierung der Skulptur.12 Dies war Stephan von Huene für seine Arbeit an Sirenen Low (1999) wichtig. Da Stephan von Huene diese Dias verlor, bestellte er neue Bilder, doch er bekam nicht, was er sich vorgestellt hatte: Dr. Janet Grossman ließ ihm zwei Dias des gesamten Ensembles mit der Signatur 76.AD.11 und zwei Bilder eines bronzenen Kruges mit SirenenForm mit der Signatur 92.AC.5 zukommen. Die bronzene Sirene – d.h. der Askós

11 Platon, Republik, Buch III, 400. 12 Stephan von Huene hatte sich auch im Rahmen eines Seminars mit diesem Thema befasst. Siehe: „Volume in Drapery – Shapes“, Seminarkurs Experimentelle Zeichnung, Sommerakademie Salzburg 1988, Nachlass Stephan von Huene.

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–, von der Stephan von Huene zu seiner Zufriedenheit eine frontale und eine seitliche Perspektive in zwei Dias bekommen hatte, war für den Künstler neu, wurde aber mit Begeisterung in das Werk integriert: „The bronze siren is new to me and I’m absolutely delighted.“13 Die anderen Bilder wurden auch verwendet, allerdings legte Stephan von Huene Wert darauf, die Sirenen einzeln mit besonderer Berücksichtigung der Integration des Vogelschwanzes in die Drapierung zu fotografieren, so dass er in einer Dankes-E-Mail vom 25. Juli 1999 an die damalige kuratorische Assistentin des Department of Antiquity des Getty Museums Elana Towne-Markus um weitere Perspektiven der einzelnen Sirenen mit einem Bildbereich der Skulptur von etwas mehr als Dreiviertel-Sicht bat (Abb. 41). Was den bronzenen Askós betrifft, so löst sich in der frontalen Perspektive des Kruges seine Funktionalität auf, d.h. man erkennt die Funktion der Sirene als Kanne für ätherische Öle nicht mehr. Die formale Perspektive bricht die sinnbildliche Harmonie der Repräsentation. Abbildung 41: Brief an Elana Towne-Markus (Getty Museum), 25. Juli 1999

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

13 Typoscript, Nachlass Stephan von Huene.

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Die Drapierung der stilisierten Sirenen-Skulpturen, deren singende Stellung die irritierende Figur des Aristokraten-Orpheus stark in den Hintergrund rücken lässt, und die gewählten Perspektiven der skulpturalen Sirenen-Motive unterstützen in hohem Maße die Idee einer doppelten Funktion der Klangskulptur: Sirenen Low (1999) vereint dekorative und akustische Eigenschaften auf perspektivisch-symbolische Art, so dass der Unterschied zwischen Figurativem und Instrumentalem, Physiologie und Stimme, artikuliertem Klang und vorgeführter Form aufgehoben wird. Diese Vorgehensweise, die an Boas „princip of indistinctness“ erinnert, würde die Abwesenheit der Lyra in den Händen von Orpheus etwas besser erklären, denn wer braucht ein Saiteninstrument wie die Lyra, die in der Antike laut Curt Sachs nur für die Begleitung der wahren Melodie, d.h. der Stimme eingesetzt wurde, wenn man die eigentliche Grundlage der Sprache als bestimmendes Sinnbild betrachtet? Abbildung 42: Getty Talk, D 1991-2. Einführende Folie aus Stephan von Huenes Vortrag im Getty Center, um 1991

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

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Wenn auch der antike Aulós viel melodischer war und vor allem für dionysische Riten, bukolische Gedichte und Feste statt für epische Passagen präferiert wurde, könnte man hier die Orgelpfeifen mit zwei Paaren „überdimensionierter Auloí“ vergleichen: Sirenen, Auloí, Warnhörner, Orgelpfeifen und GriechischSprecherin arbeiten mit „Pneuma“. „Atem“ war auch ein wichtiges Thema in von Huenes ersten Klangskulpturen: Dazu gehören z.B. die fünf Skulpturen Totem Tones (1969-70), die nach dem Vorbild von Orgelpfeifen gebaut waren. Saiteninstrumente hingegen sind in von Huenes Werk nicht einmal in seinen frühen Zeichnungen richtig präsent. Die einzigen „Saiten“, von denen man in von Huenes Gedankengut Nachricht hat, sind die Stimmbänder der Vögel. In einem Buch über die Physiologie des Vogelgesangs, das sich als Kopie in der Bibliothek des Künstlers befindet (Crawford H. Greenewalts Birdsong – Acustics and Physiology, 1968) wird in der Tat auf die doppelte Artikulation des Vogelgesangs (Larynx und Stimmbänder) aufmerksam gemacht. Eine vergleichende Lektüre mit Einbeziehung der Mindmaps des Künstlers lässt einen Link zwischen der Vorstellung von Kommunikation im Kunstsystem als gespaltener Sprache (engl. Language = Zunge, Sprache) und den physiologischen Merkmalen der doppelten Artikulation des Vogelgesangs zu. In der einführenden Folie des sogenannten Getty Talk (D 1991-2, Abb. 42) wird eine gespaltene Zunge dargestellt und mit den Etiketten „Split Tongue“ und „Lies!“ auskommentiert. Auf einem weiter unten befindlichen Etikett steht das Wort „Birds“, rechts davon wird ein Vogel dargestellt: Die zwei Artikulationspunkte der Sprachorgane des Vogels (Larynx und Stimmbändern) dienen als Ausgangspunkte für zwei braune Linien, die sich in einem Punkt kreuzen, ab dem sie von einem weiteren Strich in der gleichen Farbe fortgesetzt werden. Dieser Strich, der mit der Zahl „2“ auskommentiert wird, wird um einen weiteren, rosafarbenen Ast mit dem Wort „VOICES“ ergänzt: Zu lesen ist also „2 VOICES.“ Diese zwei Stimmen des Vogels – eine aus der Larynx kommend, die andere in den Stimmbändern artikuliert – bilden eine gewagte und bis heute kaum geachtete Analogie mit von Huenes Verständnis für Kommunikationsakte im Kunstsystem. Übertragen auf das Beispiel Sirenen Low (1999) heißt es, dass sowohl in indexikalischer wie in symbolischer Ordnung eine doppelte Artikulation des Mythos zu registrieren wäre. Was die vermisste Lyra betrifft, so müsste man diese in den weniger sichtbaren Mechanismen der Skulptur suchen, welche die alte epische Funktion der Lyra übernehmen: Der verlangsamte Rhythmus der Warntöne, welcher neben der Klangfarben für die HarmonieKomposition zuständig ist, scheint hier der beste Kandidat zu sein. In Sirenen Low (1999) wurde ein Sprach-Laut-System gewählt, das nicht wie etwa in der Ursonate von Erweiterter Schwitters (1987) auf die perfekte

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Wiedergabe von Klangfarben abzielt14 oder, wie im Fall der Zauberflöte (1985), die Frequenzen der Formanten der Vokale als Grundlage für den Pfeifen-Bau bietet.15 In Sirenen Low (1999) geht es um die freie Transposition16 der tonalen Grundeigenschaften des antiken Aulós und die Transzendierung der Rhythmusgebenden Lyra durch die Erweiterung des daktylischen Versmaßes um zeitliche und visuelle Stimuli. Die Skulptur ist somit sowohl als Implementierung als auch als Umkehrung der bisherigen Ansätze von Stephan von Huene zu verstehen: Darauf deutet z.B. das „Schweigen“ der vokalischen Klangfarben hin, denn erst durch den Ausschluss von ebendiesen Harmonie-Trägern der Sprache, entfaltet der Gesang der Sirenen – als Zusammenführung von Gegensätzen – die verführerisch-warnende und an die antike Pentatonik erinnernde „Monotonie“, die für Sirenen Low (1999) charakteristisch ist.

K ÖNNEN E NERGIE , I NTENTION UND DIE W ELT ANSTIMMEN ?

Z UFALL

Sirenen Low (1999) ist nicht nur ein Paradebeispiel guter Konservierungspraxis aus eigener Kraft,17 wie zu Beginn dieses Kapitels bereits kommentiert: Diese Klangskulptur bietet ein umfangreiches Repertoire an Grundbegriffen, Gestaltungsprinzipien und Schöpfungsprozessen des von Huene’schen Werkes an. Das Interesse für eine Analyse seines Œuvre ausgehend von Sirenen Low (1999) steht hier in Einklang mit der Annahme von Petra Oelschlägel, dass jede technische Implementierung „eine Station der Konkretisierung einer künstlerischen Vision“ darstellt.18 In Analogie zu dieser Beobachtung, die sich auf die Trans-

14 Siehe hierzu das Kapitel „Harmonie der Phoneme“, Abschnitt „Die synthetische Stimme von Erweiterter Schwitters“. 15 Siehe hierzu das Kapitel „Harmonie der Phoneme“, Abschnitt „Melodie der Klangfarben: Henry Lanz’ Theorien im Labor Zauberflöte“. 16 Transposition ist hier im musikalischen Sinne als proportionale Tonhöhenveränderung gemeint. 17 Die Konservierungsgeschichte von Sirenen Low (1999) ist, im Vergleich zu anderen Skulpturen, bisher unproblematisch verlaufen. Abgesehen von Abweichungen in einer nur auf dem Papier existierenden Version der Skulptur (Abb. 12, Nachlass Stephan von Huene) wurde Sirenen Low (1999) von Stephan von Huene in der Form konstruiert, wie wir sie heute kennen. Es gibt keine unterschiedliche Fassungen wie z.B. im Falle der Tisch Tänzer (1988-1995). 18 Oelschlägel 1995, S. 16.

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formation der Tisch Tänzer zwischen den Jahren 1988 bis 1995 bezieht, wird hier davon ausgegangen, dass diese letzte große Arbeit von Stephan von Huene Bezüge zu allen früheren Schaffensperioden enthalten kann. Die letzten Sekunden von Sirenen Low (1999) enthalten einen wichtigen Hinweis: Wort, Bild und Klang eines klassischen Passagierdampfers geraten wortwörtlich ins Stolpern, passend zu der Verführung des daktylischen „stockenden“ Klanges der Sirenen. Daktylische Verse waren tatsächlich für die epische Poesie auf Grund ihres erhabenen Rhythmus vorgesehen, im Gegensatz zu dem umgangsprachlicheren, nicht so „stockenden“ Jamben und Trochäen der griechischen Komödie und satyrischen Lyrik (Diatriben), in der man versuchte, gesprochene Rhythmusmuster zu emulieren. Beim Rezitieren epischer Verse machten die Rapsoden Gebrauch von einem Stock, mit dem sie den Rhythmus vorgaben. Dass die Schiffe in der Installation von Stephan von Huene ins Stocken kommen, scheint hier eine metonymische Aneignung des archaischen Modus Operandi, wenn auch hier die stockenden Bilder keinem genauen Versmaß zu folgen scheinen. Die epische Metrik hatte auch etwas Entfremdendes, so dass man von homerischem Griechisch spricht: Die alten Scholiasten wie z.B. Eustathios von Thessalonike waren der Meinung, dass die homerischen Aedoi auf Grund von metrischen Zwängen (ἀνάγκη τοῦ μέτρου) dialektale Wortfassungen ohne inhaltliche Begründungen vorzogen. Jedenfalls verwenden die homerischen Texte als Grundlage den ionischen Dialekt mit Lehnwörter aus dem Äolischen sowie archaischen und klassischen Formen.19 Die Mischung dieser unterschiedlichen Formen ergab eine künstliche Sprache, die in epischen Gedichten zum Einsatz kam. Diese Entfremdung der Sprache, die im Werk von Huenes immer wieder thematisiert wird (z.B. in Lexichaos [1990] und in What’s wrong with Art? [1997]) könnte auch in Sirenen Low (1999) ein Motiv gewesen sein, denn die resultierende Neukonfiguration des Sirenen-Mythos ist jedenfalls nicht willkürlich, wenn auch die stockenden Bilder tatsächlich zum Teil dem Zufall zu verdanken sind. Während der Aufnahmen vorbeifahrender Schiffe an der Elbe kam es zu Bildauslassungen, welche für die stockenden Sequenzen verantwortlich sind. Dies animierte Stephan von Huene dazu, das Material in eben dieser Form zu benutzen. Von Huenes Entscheidung, die Bilder so wie sie waren einzusetzen, wurde nicht einem unkontrollierten Zufall überlassen. Die Vorgehensweise ist ähnlich wie die willkürlich getroffene Auswahl des Strawinsky-Takts und seine Anwendung auf eine segmentierte und collagierte Bach-Partitur für die Komposition des Rosebud An-

19 Vgl. Chantraine 1958.

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nunciators (1969-69).20 An dieser Stelle ist Stephan von Huene stark von Batesons Auffassung mentaler und stochastischer Prozesse im Buch Mind and Nature (1988) beeinflusst worden. Gregory Bateson geht davon aus, dass geistige Prozesse wie jeder Prozess an sich Energie voraussetzen.21 Die Fragestellung schien Stephan von Huene sehr wichtig zu sein: In seinem stark bearbeiteten Exemplar von Batesons Mind and Nature hob er folgenden Satz hervor: „In all these cases [physische Beispiele über Energieübertragung], the energy for the response or effect was available in the respondent before the event occurred which triggered it.“ Batesons Gedankengänge führen zu der Annahme, dass bestimmte Eindrücke und Erfahrungen ein bereits in uns vorhandenes Antwortpotenzial freisetzen. Die Kombination von Energie und Entscheidungsmechanismen bestimmt dann die für die Antwort notwendigen mentalen Prozesse. In einer anderen Ordnung spielen Energie und Differenz eine entscheidende Rolle bei stochastischen Prozessen,22 die z.B. zur Evolution verschiedener Lebewesen beigetragen haben. Der Zufall ist notwendig für das Leben. Stephan von Huene verwendet in den Videosequenzen stochastische Prinzipien, um eine neue Klassifizierung innerhalb des eigenen Kunstsystems zuzulassen, welche wiederum noch nicht freigesetzte Energie von Museumsbesuchern zutage fördern kann. Vor diesem skizzierten Hintergrund stellt man sich die Frage, wie geistige Prozesse und Zufall in Stephan von Huenes Werk zu verstehen sind. Gibt es bspw. verschiedene Qualitäten des Zufalls oder eine variable Auffassung, die sich in verschiedenen Phasen seines Werkes definieren lässt? Und wer ausgehend von der Beobachtung von Sirenen Low (1999) nach einem entscheidenden Aspekt seines Werkes rückblickend fragt, der kann genauso gut weitere hier aufgespürten Begriffe und Methoden, die uns zunächst als „etwas möglicherweise ganz Undramatisches und Unscheinbares“23 vorkommen können, auf frühere Kunstwerke analytisch extrapolieren.

20 La Barbara 1979; hier zitiert nach Split Tongue, S.71. 21 Bateson 1979, S.107. 22 Siehe die geplante Skulptur Die Rückkehr der Stochastiker (Text im Ausst.-Kat. Theatrum Naturae et Artis. Wunderkammern des Wissens [Bredekamp/Brüning/Weber 2000]). 23 Huene 1994, S. 58.

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SINGEN DIE

S IRENEN HIGH &

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LOW ?

Bei Sirenen Low (1999) verwendete Stephan von Huene hölzerne Zungenpfeifen (Lingualpfeifen). Der Name ist ihrer Bauweise zu verdanken: Der Klang der Zungenpfeife wird durch eine per Luftstrom in Schwingung versetzte Metallzunge – die sogenannte Stimmzunge – generiert. Im Unterschied zu den Lippenpfeifen (Labialpfeifen), die Stephan von Huene für die Klangskulpturen-Reihe Totem Tones I bis V (1969-70) baute, sind Lippenpfeifen wesentlich obertonreicher. Ihr Klang kommt den meisten Rohrblatt- und Blechblasinstrumenten wie dem Alphorn sehr nah. Jede Pfeife der Sirenen Low (1999) besteht aus einem modifizierten Stiefel (Abb. 39 und 40) und einem 4 m langen Resonanzkörper, dem eigentlichen Pfeifenrohr (Becher), der im Gegensatz zu den sonst immer vertikalen Orgelpfeifen hier in horizontaler Position liegt (Abb. 11). Das schmale Ende des Bechers wird vom Sockel getragen, wo auch die Windlade und der Stiefel angeschlossen sind, das andere Ende stützt sich auf die Metallfüße der Skulptur. Interessant ist aber vor allem die Veränderung der Stiefel. Abbildung 43: Stiefel einer Orgelpfeife

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

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Im Stiefel befindet sich eine aufschlagende Stimmzunge,24 deren Stimmkrücke (von Hand verstellbare Bügel zum Stimmen der Pfeife) durch eine bewegliche Walze ersetzt wurde. Die Motor-gesteuerte Walze übt einen variablen Druckpunkt entlang der Stimmzunge aus, so dass die Tonhöhe in bestimmten Momenten der Komposition mit langsamen, gleichmäßigen Bewegungen verändert wird. Fährt die Walze über der Stimmzunge in den Stiefel hinein, verkürzt sich die Länge des schwingenden Teils der Metallzunge und der Ton wird höher („Sirenen High“). Kehrt die Walze zur Anfangsposition zurück, vergrößert sich der schwingende Teil der Stimmzunge und der Ton wird tiefer („Sirenen Low“). Die Änderung der Tonintervalle wird vor allem in Verbindung mit Diphthongen und Sequenzen von Spondeen aus dem homerischen Text eingesetzt. Durch seitliche Öffnungen im Stiefel, die vom durchsichtigen Plexiglas wieder schalldicht gemacht wurden, kann man die Bewegungen der Walze und die Schwingungen der Metallzunge beobachten (Abb. 44-45). Erreicht die Walze die High-Position, leuchtet ein Sensor-Licht im Stiefel. Abbildungen 44 und 45: Modifizierter Stiefel mit Plexiglas-Fenster, Detail

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Ein derartiger technischer Eingriff in die Funktionsweise der Orgelpfeifen hat nicht so sehr einen ästhetischen Mehrwert durch die Sichtbarmachung der variierenden Messingzungen wie eine kinästhetische Auswirkung auf die Wahrnehmung des Rezipienten: Dieser wird durch visuelles Input bei der Identifizierung der sich ändernden Tonstruktur geholfen. Nach jedem Durchlauf endet die Walze an einer anderen Position, so dass die Tonhöhe der darauf folgenden Vorführung immer wieder variiert wird. Durch die Sichtbarmachung der inneren Logik kommt die Klangskulptur einem kinästhetischen Kunstwerk noch näher: Der Zu-

24 Durchschlagende Stimmzungen vom Harmonium verwendete Stephan von Huene in seinen frühen Skulpturen.

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schauer und Zuhörer steht vor der Herausforderung, das, was er hört, mit dem, was er sieht, zu vereinbaren. Das technische Bild entgeht seiner Vorhersehbarkeit durch die Einwirkung eines programmierten Zufalls und durch die Bereitstellung einer Spur, die den Besucher einlädt, Teil des rätselhaften kybernetischen Systems zu werden. Auch die letzten Töne, welche die eigentliche Programmierung nach Wahltonsignalen offenlegen, können auf Grund ihrer rätselhaften Erscheinung als Hinweis auf die Überbindung der technischen Vorhersehbarkeit verstanden werden.

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K AFKA, B RECHT , ADORNO ?

Stephan von Huene schrieb über Sirenen Low (1999): „Unter den Abenteuern des Odysseus ist die Begegnung mit den Sirenen das vielleicht Irritierendste. Kafka, Adorno und Brecht haben diesen kapitalen Verführungsversuch kommentiert.“25 Er schrieb nicht „faszinierend“, er sagt nicht „unerschöpflich“, wie z.B. Barbara Könches im Katalog zu der Ausstellung „Grenzgänger – Grenzverschieber“ paraphrasiert, sondern „irritierend“, und dies im Superlativ. Brecht, Kafka und Adorno sind nicht die einzigen, die sich mit diesem Mythos befasst haben,26 sie haben aber etwas gemeinsam: Alle drei nehmen eine kulturelle Deutung des Mythos vor und diese ist nicht frei von „irritierenden“ Widersprüchen und Kulturkritik. Die auffälligste aller Unstimmigkeiten ist zweifelsohne Kafkas Behauptung, Odysseus „stopfte sich […] Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden“ (Kafka 1917 [1931]), um der Verführung der Sirenen zu widerstehen. Das zweite ist richtig, aber Odysseus stopfte sich laut Homer kein Wachs in die Ohren, er muss außerdem die Sirenen gehört haben, denn ihre Wörter – wenn man sehr naiv darüber nachdenkt – wurden im homerischen Gedicht in acht Versen verewigt. Interessant ist aber, dass Kafka in seiner Kurzerzählung „Das Schweigen der Sirenen“ (1917 [1931]) ihre Wortlosigkeit als mächtige Waffe der Verführung darstellt.27

25 Stephan von Huene 1999, Typoscript, Nachlass Stephan von Huene. 26 Besonders relevant ist die mediengeschichtliche und experimentelle Lektüre, die Friedrich Kittler von der homerischen Sage in Isolde als Sirene (2012) und dem „Sprechbuch“ Musen, Nymphen und Sirenen (2005) macht. Stephan von Huene kannte jedoch die Arbeit von Kittler nicht, der erst nach dem Tod des Künstlers seine medientheoretische Tätigkeit auf die Antike fokussierte. Siehe auch Wunderlich 2003. 27 Für eine ausführliche Interpretation in der Perspektive der literaturwissenschaftlichen Komparatistik siehe Schmitz-Emans 2003, S. 356-368.

108 | ELEKTRONIK ALS S CHÖPFUNGSWERKZEUG „Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand von ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.“28

Sie hätten nicht gesungen, um ihre Verführung noch intensiver zu gestalten. Laut Kafkas erster Version wäre es Odysseus als erstem Menschen gelungen, an den Sirenen entschlossen vorbeizufahren, so dass diese in einer interessanten Rollenumkehrung sich um „den Abglanz seines Blickes bemühten“, als er vorbeifuhr. Wie es aber in der Überlieferung von Mythen üblich ist, soll es laut Kafka eine andere Version geben, wonach der listige Odysseus nur so getan hätte, als ob er ihr Schweigen nicht merkte: „Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, dass die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.“

Die Kernaussage wird von Kafka verändert: Die ursprüngliche Version, die sich auf die tödliche Versuchung des Wissens über alles konzentrierte, verwandelt sich in eine Deutung des Mythos als ästhetischer Verneinung: das Schweigen als Strafe für den undankbaren Zuhörer. Eine ähnliche intensivierte Variation findet man in Bertolt Brechts Erzählung „Odysseus und die Sirenen“. „[...] wer – außer Odysseus – sagt, dass die Sirenen wirklich sangen, angesichts des angebundenen Mannes? Sollten diese machtvollen und gewandten Weiber ihre Kunst wirklich an Leute verschwendet haben, die keine Bewegungsfreiheit besaßen? Ist das das Wesen der Kunst? Da möchte ich doch eher annehmen, die von den Ruderern wahrgenommenen geblähten Hälse schimpften aus voller Kraft auf den verdammten vorsichtigen Provinzler, und unser Held vollführte seine (ebenfalls bezeugten) Windungen, weil er sich doch noch zu guter Letzt genierte!“29

Auch bei Brecht singen sie nicht, wie Odysseus erwartete. Sie verweigern dem „vorsichtigen Provinzler“ ihren echten Gesang. Stattdessen schimpfen sie aus

28 Kafka 1917 [1931]; hier zitiert nach Franz Kafka (1979): „Sämtliche Erzählungen“. In: Paul Raabe (Hrsg.): Sämtliche Werke. Frankfurt am Main, S. 304 ff. 29 Bertolt Brecht 1976, S. 207.

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vollem Hals, weil sie ihre Kunst nicht an passive Kulturkonsumenten verschwenden wollen. In einer philosophischen Dimension lesen wir in Adornos SirenenAbschnitt über den Mythos der Aufklärung die „Geschichte einer Entsagung“,30 die bis heute anhält. „Seit der glücklich-mißglückten Begegnung des Odysseus mit den Sirenen sind alle Lieder erkrankt, und die gesamte abendländische Musik laboriert an dem Widersinn von Gesang in der Zivilisation, der doch zugleich wieder die bewegende Kraft aller Kunstmusik abgibt.“

Was diese drei Autoren in Sachen Sirenen gemeinsam haben, ist, dass sie die Authentizität der Begegnung und deren Tragweite für die Menschheit, insbesondere für die kulturellen Belange des Menschen, relativieren. Die Kulturkritik, die von einer revidierten Lektüre des Sirenen-Mythos ausgeht, kann vor allem in Verbindung mit einigen Arbeiten von Stephan von Huene gebracht werden, welche die Kunstgeschichte (Blaue Bücher [1997]), die Kunstrezeption (Eingangsfragen, Ausgangsfragen [1997]) und den kritischen Blick auf den Kunstbetrieb (What’s wrong with Art? [1997]) als Thema haben.31 Sirenen Low (1999) ist in diesem Zusammenhang ein irritierendes Resümee, welches das Selbstverständnis der Kultur und deren Tradierung aus der „gemütlichen“ aber zwiespaltigen Ferne einer tönenden ars poetica hinterfragt. Irritierend witzig ist es jedenfalls, dass ein provisorisches Kircheninstrument zum Schiffsverkehr-Fanfare degradiert wird, um als warnende Stimme der Odyssee-Sirenen wie ein ave phoenix der ästhetischen Verneinung wieder aufzuerstehen. Ein Erklärungsversuch dessen, was in Sirenen Low (1999) auf kultureller Ebene abläuft, führt zu einem Begriff, der manchmal zur Verdeutlichung seiner Arbeit eingesetzt wird: die „Transposition“.32 Dieses Wort wird von Stephan von

30 Horkheimer/Adorno 1969. 31 Diese und andere Arbeiten zeigte der Künstler als Themenkomplex im Rahmen der Ausstellung What’s wrong with Culture? – Klang- und Mediaskulpturen aus den neunziger Jahren (1998) im Neuen Museum Weserburg Bremen (19. März bis 17. Mai 1998). 32 Siehe hierzu Könches/Weibel 2006, S. 17-20. Im musikalischen Sinne verwendet Stephan von Huene das Wort Transposition u.a. in „Notizen zur Zauberflöte“ (Retrospektive, S. 232). Weitere Begriffe aus Schönbergs Kompositionstechniken, der Künstler in Bezug auf die kreative Programmierung von Tonsequenzen erwähnt, sind: Krebsgang, Umkehrung, Krebsumkehrung, Prolation etc.; siehe Split Tongue, S. 153.

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Huene grundsätzlich im musikalischen Sinne als Tonhöhenveränderung verwendet. Die Transposition kann auch als „Umstellung“ verschiedener kulturellen Schichten und Techniken verstanden werden.33 In diesem Sinne trägt die Transposition zur kreativen Gestaltung der kulturellen Überlieferung bei. Stephan von Huenes Vorliebe für Jean Cocteaus Film Orphée (F 1950, R.: Jean Cocteau) ist ein Zeugnis davon: Im Auto des „Todes“ bekommt der Dichter verschlüsselte Radionachrichten von einem verstorbenen Freund in Form von „Konkreter Poesie“. Dieser Schöpfungsakt ist ein gutes Beispiel von Transposition: Orpheus hat nie Nachrichten von einem Freund aus der Unterwelt bekommen, dafür aber Odysseus, z.B. vom blinden Propheten Teiresias34 oder vom Freund Elpenor;35 in der römischen Version bekommt der Held Aeneas Nachrichten – in Form einer Erscheinung – von seinem Freund und Steuermann Palinurus,36 der wie Elpenor immer noch auf seine Beisetzung watet. Die Transposition von Peripetie-Elementen aus der Odyssee in die Aeneis ist ein weiteres Beispiel für grenzüberschreitende Methoden der Kreativität. In der unterschiedlichen Kulturlektüre des Sirenen-Mythos wäre somit auch ein Fall der Transposition von Homer über Kafka, Brecht und Adorno bis hin zu Stephan von Huene zu registrieren. Die neue Interpretation geht mit der Überlagerung früherer Mythos-Fassungen einher.

AUSGANGSPUNKT : F IGURATION , AKUSTIK UND K YBERNETIK Durch die Analyse von Sirenen Low (1999) sind wir nun imstande, vorläufige Hypothesen über Stephan von Huenes Kunsttechniken zu formulieren, die im Spiegel seines Œuvre genauer untersucht werden sollen. Diese Hypothesen können folgendermaßen zusammengefasst werden: 1. Die Entfremdung der Sprache als Weg zu Erkenntnissen über den Kommunikationsakt. 2. Der Gebrauch der Metonymie als künstlerisches Mittel, insbesondere in der Form von Buchstäblichkeit als Modus Operandi einer surrealistisch wirkenden Narrativität.

33 Siehe hierzu das Interview mit Petra Kipphoff von Huene im Kapitel „Spaltklang“. 34 Homer: Odyssee XI, 90-151. 35 Ebenda, 51-83. 36 Vergil: Aeneis VI, 337-383.

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3. Der Rückgriff auf Batesons Theorien wie z.B. auf die Idee von Energie und geistiger Prozesse wie ein bereits im Menschen vorhandenes Antwortpotenzial, so dass die künstlerische Kreativität oder die Rezeption von Kunst wie eine aus der Situation heraus emergierende Kraft37 verstanden werden kann. 4. Eine ausgewogene Mischung von Zufall und Intentionalität als Kreativitätsstimulus: Dabei wird stochastischen Prozessen eine Art von Lebensprinzip eingeräumt. 5. Eine gewisse antikisierende Tendenz durch Unterordnung der instrumentalen Melodie den rhythmischen Strukturen und tonalen Eigenschaften des Altgriechischen, etwa nach der platonischen Musikdefinition als einer Musik, die vom Rhythmus und von der Harmonie der Wörter kontrolliert wird. 6. Der Einsatz einer „störenden“ visuellen Narrativität – im Sinne einer sich widersprechenden oder schwer zusammenzufügenden Ikonographie: Die frontale und seitliche Perspektive der Sirenen-Skulpturen unterstreicht z.B. die Entfremdung der angenommenen Funktion dieser Objekte. 7. Die Auffassung der Kommunikationsakte im Kunstsystem als eine doppelte Sprache, im wörtlichen – aus dem Englischen „language/tongue“ – wie im übertragenen Sinne – etwa als Gegenüberstellung von Illusion versus Halluzination. 8. Die Durchführung wissenschaftlicher Recherchen für die Übersetzung und Reduzierung von Kommunikationssystemen in und auf künstlerische Strukturen – in diesem Fall betreffend der Transformation des antiken homerischen Hexameters in rhythmische Muster und TonhöheVariationen für Orgelpfeifen bei gleichzeitiger Freiheit hinsichtlich der Interpretation der tonalen Eigenschaften des Aulós und der zu erwartenden rhythmischen Vorgaben der Lyra. 9. Die Gleichbehandlung von Rhythmus – als Bestandteil des Klangs – und Klangfarbe: Im vorliegenden Fall schwingt die Evozierung des antiken pentatonischen Systems gleichzeitig mit – etwa als Indiz, dass der Künstler durch die Auseinandersetzung mit den Qualitäten vergangener Musiksysteme neue Kunst- und Kreativitätstechniken erforschte. 10. Der Gebrauch einer an Wölfflin erinnernden Beschreibungsterminologie zur Erläuterung der dominierenden Kompositionstendenz seiner

37 Siehe hierzu auch Paul Watzlawicks These in Ultra-Solustions: How to fail more successfully (1988).

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Arbeiten: So spricht der Künstler von „vertikalen Geschichten“ in ähnlicher Weise wie Wölfflin Malereien nach formalistischen Kompositionskriterien analysierte. 11. Eine klare Vorliebe für „inpressive [sic!]“ gegenüber „expressiver“ Kunst: Mit dem Ausdruck „inpressive Kunst“ ist ein zu entzifferndes Beziehungsgeflecht zu verstehen, zu dessen Verständnis selbstreferenzielle Ansätze und eine empathische material-ikonologische Methode beitragen können. 12. Die Verschränkung von technischem Eingriff und Bedeutungsprozess als Bedingung seiner Kunst: Dies wird deutlich an der Sichtbarmachung der inneren Logik der Skulptur am Beispiel der Veränderung der Stiefel oder durch die „Hörbarmachung“ der Telefonsignale, die zur Programmierung gedient haben, am Ende der Abspielzeit. Der Künstler macht hierdurch einen demonstrativen qualitativen Gebrauch der Technik. 13. Das Verständnis und die Inszenierung von Kunst als Kulturkritik und ave phoenix gegen jedwede Art der „ästhetischen Verweigerung“, unter der Odysseus oder der normale Museumsbesucher „leiden“ könnte: Die ernährende und bildende Funktion der Kunst rückt somit in den Vordergrund. 14. Und der Gebrauch der „Transposition“ als Kreativitätstechnik – etwa frei angelehnt an die musikalische Transposition von Schönberg. Fünf große Themenbereiche lassen sich hieraus ableiten: 1. der Weg von der Ethnographie in die Kybernetik, 2. die stilistische Komposition und Bildtechnik mit dem entsprechenden ikonologischen Hintergrund und 3. die Techniken akustischer Kommunikation. Außerdem gibt es transversale Aspekte wie 4. der qualitative Umgang mit Technik als Werkzeug und inhärentem Teil des Kunstwerks oder 5. die Vorstellung von Kunst als ernährender und bildender Kraft. Für eine bessere Anschaulichkeit widmen wir uns den ersten drei Themen in separaten Kapiteln, während transversale Aspekte punktuell behandelt werden.

INPRESSIVITÄT DER KÖRPERTEILE

Inpressive Kunst

Stephan von Huene sagte in einem Gespräch mit Klaus Schöning über die Arbeit Text Tones (1979/1982-83), er mache „inpressive [sic!] Kunst“. „Sie [die Klangskulptur] lädt die Zuschauer in die Kunst, in die Erfahrung. Sie ist eine Einladung: Komm herein. Man fragt, was Kunst ist – fragt die Kunst selbst und dann kriegt man die Antwort.“1 Damit begründete er eine der wichtigsten Konstanten seines Werkes: Es ist nicht das künstlerische Ich, was zum Ausdruck gebracht werden soll, es geht auch nicht darum, sich von anderen abzuheben oder einen neuen Stil zu prägen: Weder ein nützliches Amüsier-Objekt nach dem Leitbild prodesse et delectare noch ein hohes Kunstwerk wird produziert, vor das man sich mit Demut und Respekt hinzustellen hat.2 Es geht vielmehr um die Entwicklung von Erfahrungs- und Identitätsfeldern, die eine partizipative Rezeption ermöglichen. Stephan von Huene machte erfahrbare und erlebbare Kunst, die den traditionellen, passiven Kunstbetrachter zum aktiven Partner eines kybernetischen Systems zu machen versucht. Die Oberfläche der ersten Begegnung ist, was Ray Birdwhistell in Kinesics and Context einen „Encounter“3 nannte: der Anfang aller Kommunikation. Von hier aus gibt es verschiedene Qualitäten der Interaktion im Sinne von Aktion und Reaktion, oder wie Stephan von Huene auch sagte: als „intraaction“. Das Kunstwerk ist erst vollendet, wenn der Betrachter ein Teil davon wird, so dass die Trennung zwischen Kunstobjekt und Betrachter aufgehoben wird: Es gibt keine Interaktion, sondern eine „Intraaktion“, wenn man ein Teil des Kunstprogramms wird. Dabei geht es um eine skalierbare Teilhabe an den Bedeutungsprozessen von Materie, Kommunikation und Kultur, zu deren Vertiefung das Kunstwerk selbst als Schritt- und abhängiger Bedeutungsmacher einlädt. Diese Vorstellung ist auch im Einklang mit einer der

1 2

Schöning/Huene 1985, S. 11. Das Zitat lautet: „vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde“ (Schopenhauer, hier zitiert nach Ullrich 2003, S. 13).

3

Birdwhistell 1970, S. 202.

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Definition des Kunstwerks, die Stephan von Huene verwendete: „Wenn es stimuliert, ist es Unterhaltung. Wenn es ernährt, dann ist es Kunst.“4 Demnach sollen die stilisierten Körperteile und selbstgebauten Objekte, die Stephan von Huene einsetzte, einen Zweck erfüllen, der über die symbolische Repräsentation und über die reine synästhetische Qualität eines multisensoriellen „Encounter“ hinausgeht: Beine, Hüften, Torsos, mechanisierte Orgelpfeifen-Lippen, ein halber Hund auf dem Rücken, eine Lederrose mit aufblasbaren Blättern, die Beine der Tochter des Zigarettenladen-Indianers, tönende Wolkenkratzer-Strukturen, nachempfundene Zikkurate-Tempel, Mahagoni-rote Totem-Säulen oder transparente Trommelfelle, auf die nicht nur „expanded“ Rhythmen, sondern auch Malereien alter Meister, Porträts bekannter Wissenschaftler und zufälliger Museumsbesucher projiziert5 werden – Stephan von Huene hat seinen figurativen Objekten, selbst wenn diese als Orgelpfeifen dienen sollten, eine besondere Qualität der „Buchstäblichkeit“ und Metaphorik verliehen. Entgegen des Pop-Artund Minimalismus-Trends der amerikanischen Ostküste baute er seine Skulpturen als reale, von tiefer gehenden konzeptuellen Vorstellungen befreite Objekte, die imstande sind, sich selbst zu repräsentieren, unauflösbare Metaphern darzustellen und, mit der ihrem Material inhärenten Stimme, die umgebende Welt zu hinterfragen. Wenn von Huene also sagt, dass man seine Kunst fragen kann, dann muss man annehmen, dass er das auch buchstäblich, d.h. selbstreferentiell meint: Das eigene Kunstsystem produziert Bedeutungen jenseits (aber auch ohne Ausschluss) ikonographischer Referenten und ausschließlich in Anwesenheit des Betrachters. Das Hinzuziehen der dritten und vierten Dimension – Raum und Zeit – in sein künstlerisches Schaffen, als das er seinen Werdegang von der Zeichnung und der Malerei über die Assemblage zur Skulptur und zur (kinetischen) Klangskulptur beschrieb, bezeichnete er wie eine Annäherung an die Natur der Dinge: „I was moving from the world of illusion to some kind of real world and another lay of literalism.“6 Die Gegenüberstellung Illusion-Realität ist hier im physikalischen Sinne zu verstehen: Eine Zeichnung oder eine Malerei oder selbst eine Assemblage haben eine Repräsentationsfunktion, die sich im Rahmen der menschlichen Vorstellungskraft als aristotelische Welt des Möglichen abspielt. Wenn die moderne Physik richtig liegt, dann ist alles, was existiert, eine Reihenfolge von Prozessen. So kommt der Künstler der Realität näher, indem er alle

4

„Art is not, what it is. Art is, what it does. If it stimulates, it is entertainment. If it nourishes, it is art.“ (Stephan von Huene, 1991, Typoscript aus dem Nachlass)

5

Einige Porträts sollten auch serigraphiert werden.

6

MIZUE 1973; hier zitiert nach Split Tongue, S. 56.

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Dimensionen des Physikalischen einbezieht. Diese Kunstvorstellung ist nicht exklusiv, sie schließt sowohl die akustische als auch die visuelle und haptische Repräsentation und die damit verbundenen Gedankenprozesse ein. Es ist anzunehmen, dass die große, pointierte Sichtbarkeit der Raum- und Zeit-basierten Klangskulpturen dazu geführt hat, dass diese skulpturalen Elemente, die wir im vorliegenden Kapitel „Körperteile“ nennen, vorwiegend aus der Perspektive ihrer Funktionsweise und nicht so sehr aus einer ikonologischen und systemtheoretischen Perspektive oder wohl im Kontext des gesamten Werkes analysiert worden sind. Abbildung 46: Rauchzeichnung, ohne Titel, 1964 (D 1964-15), 30,3 x 34,3 cm

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Die ersten „stummen“ und noch „statischen“ Skulpturen, die der Künstler unter dem Einfluss der amerikanischen Craftsman-Bewegung, der primitiven Kunst und insbesondere unter dem Einfluss der Lektüre des Anthropologen Franz Boas baute, wurden bisher in der Tat nur en passant analysiert. Mit der Aussage, seine Kunst wäre „inpressiv“ hatte sich Stephan von Huene jedoch rückblickend nicht nur auf die Text Tones (1979/1982-83) oder auf seine Klangskulpturen, sondern auf seine ganze Kunst bezogen, also auch auf seine frühen Zeichnungen und ersten Skulpturen. Bisher wurden zwar die frühen Zeichnungen auf Grund der vorkommenden Lautschriften im Kontext der späteren Klangskulpturen als Hinweis einer konsequenten künstlerischen Laufbahn kommentiert (Oelschlägel 2010). Eine transversale semiotisch-ikonologische Analyse,7 die etwas mehr Licht auf die „inpressive Qualität“ seines gesamten Werkes werfen kann, steht immer noch an.

7

Nach der interdisziplinären Ikonologie von Erwin Panofsky (Meaning in the Visual Arts, 1955), der Formen, Motive und symbolische Werte einbezieht; und nach der „semeiotic“ von Charles Peirce (Objekt, Zeichen, Interpretant), der eine Erkenntnisfunktion des Zeichen impliziert (vgl. Charles S. Peirce: Kurze Logik, 1895)

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D ER LINEARE S TIL „In the song of the line the truth of the form is revealed.“8 Dieser Satz von Heinrich Wölfflin, den Stephan von Huene in seiner englischen Ausgabe von Kunstgeschichtliche Grundbegriffe9 zur Zeit seines Kunststudiums an der UCLA kräftig unterstrich, mag als Stimulus für seine ersten professionellen Arbeiten gedient haben. Eine „befreite singende Linie“ scheint jedenfalls bei Stephan von Huenes ersten Zeichnungen meistens für eine esoterische Welt der unaufgelösten Triebe zuständig zu sein, in der seine Interessen für die Karikatur, die primitive Kunst und die Kommunikationstheorie konkurrieren. Kaprow definierte diese Zeichnungen als „Bilder, die sich anstrengten zu sprechen“.10 Die Kritik ist über die schwierige Deutung der Motive, die mit dem versuchten Kommunikationsprozess dieser Figuren einhergeht, ziemlich einig. Zwar lassen sich manchmal autobiographische Motive erkennen, wie die Rosenkreuzer-Rose,11 das Andreaskreuz des Familienwappens Andreae oder die „Konturen eines feudalen Wohnsitzes“, die Caroline Schmidt als Darstellung der Sehnsucht eines Emigrantensohnes interpretiert,12 diese tragen jedoch nur noch weiter zur Deutungskomplexität bei. Der unvollendete Prozess des „meaning“ gilt ebenso für die non-verbale Kommunikation – d.h. die geheimnisvolle Handlung der Figuren – wie für die Aufschlüsselung der Repräsentationsebene: Jeder Versuch einer ikonographischen Lektüre, die kunstgeschichtliche Bildmotive aufdeckt, ist laut der Fachliteratur13 zum Scheitern verurteilt, wenngleich einzelne Elemente wie ein immer wiederkehrendes Andreaskreuz, fantastische Tiere und entblößte, oft zergliederte Körper und schwingende, phallische Motive als kryptische Bedeutungsträger zu identifizieren sind. Sollte man hier unbedingt nach Referenzen suchen, die Stephan von Huene bereits in den 1950er Jahren gut kannte, würde man etwa eine Kreuzung aus Hokusais Manga-Zeichnungen und den düsteren Gestalten aus Goyas Caprichos und Desastres de la Guerra oder eine Mischung aus dem expressionistischen Duktus eines Ernst Ludwig Kirchner, den lyrischen-

8

„Im Gesang der Linie offenbart sich die Wahrheit der Form“ (Wölfflin 1915); hier zitiert nach der englischen Ausgabe aus Stephan von Huenes Bibliothek: Wölfflin 1956, S. 30.

9

Heinrich Wölfflin, Principles of Art History. The Problem of the Development of Style in later Art, New York 1956.

10 Kaprow 1975, S. 39. 11 Warnke 2002, S. 94. 12 Schmidt 1983, S. 16. 13 Vgl. Bredekamp 2002; Warnke 2002; Oelschlägel 2010.

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esoterischen Zeichnungen von William Blake und Picassos Zeichnungen der Suite Vollard vermuten. All diese Künstler sind in irgendeiner Form in seiner frühen Bibliothek und Studienzeit vorhanden gewesen. Folgt man Wölfflins Lektüre sind einige Begriffe und Ideen aus Grundprinzipien der Stilentwicklung hervorzuheben, wie z.B. die Unterschiede zwischen „tactile and visual picture“,14 die suggerierende Definition von Martin Schongauers Figurenkompositionen als membra disjecta15 oder Wölfflins Theorien über die Unterwerfung der Sichtbarkeit zur Linie unter den Cinquecentisten16 sowie über die zunehmende Unterwerfung der Figur zur Komposition – insbesondere seine Ausführungen über die „Artikulation der Renaissance“ als Gleichgewicht zwischen dominierender Figur und Gesamtkomposition.17 Die frühen Zeichnungen von Stephan von Huene behaupten sich durch das Pathos, das die Linie stimuliert. Manche dieser Figuren erinnern uns an eine Szene der Sixtinischen Kapelle (Abb. 46) oder an William Blakes Verkörperung des Wissens und Gesetzes in der Figur von „Urizen“ (Abb. 47 und 48). Ähnlich wie William Blake, dessen Radierungen und Texte Stephan von Huene aus vielen Besuchen in der Huntington Library kannte,18 entwickelt er hier eine eigene Mythologie und die dazugehörigen „esoterischen“ Bildtechniken, die vor allem in seinen teils lavierten Tuschzeichnungen und insbesondere in den sogenannten Rußzeichnungen („smoke drawings“) zum Vorschein kommen. Die große Hermetik der Darstellungen bietet bei Stephan von Huene eine breite Projektionsfläche für irreführende Interpretationen. So dachte z.B. Gwenda Davis, die Direktorin des Chouinard Art Institutes, als sie ein Konvolut von Federzeichnungen Mitte der 1960er Jahre erwarb, dass diese alte germanischen Mythen darstellten.19 Die Ikonographie der Bilder ist schwer, wenn nicht unmöglich 14 Wölfflin 1956, S. 18-23. 15 Siehe Wölfflins Bezug auf Schongauers Bilder (1956, S. 218): „[...] [I]t is sometimes painful to seek the essential point in his intrincate werft of forms and to find a whole in the dispersed and dismembered form.“ 16 Wölfflin 1956, S. 30; Hinweis nach Johannes von Müller 2010, S. 59. 17 Wölfflin 1956, S. 156. 18 In der Bibliothek des Künstlers befinden sich folgende Bücher: Baker, C.H. Collins (1957): Catalogue of William Blake’s Drawings and Paintings in the Huntington Library, San Marino; Digby, George Wingfield (1957): Symbol and image in William Blake, Oxford. 19 Kipphoff 2002, S. 280; gemeint sind die Pasadena-Federzeichnungen, ein Konvolut von sechzig Tusch-Zeichnungen mit Feder auf Papier ausgeführt, teilweise laviert und auf Karton montiert (jeweils ca. 21 x 28 cm, Karton 40 x 50 cm). Diese befinden sich

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auszumachen, da sie von einem hermetischen Synkretismus von Bild- und Literaturtraditionen geprägt sind. Christlich anmutende, antike und dadaistische Motive wie Köpfe mit Glorienschein-Ringen (Abb. 47), Körperteile, fantastische Tiere, Mannequin-Teile, die an de Chiricos Bilder erinnern, und DADA-ähnliche Gliederpuppen teilen sich die Fläche in einem kreativen Prozess mit Fokus auf die nicht endende Suche nach der symbolischen Ebene des Zeichens. Wir wissen aber auch, dass diese Zeichnungen im Spiegel des gesamten Œuvre von Stephan von Huene schlüssige Interpretationsansätze ermöglichen: Sie stellen z.B. den Auftakt für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Potenzial der Oberfläche als mystischem Ort der Wechselwirkung zwischen Realität und Fantasie, Kunst und Rezeption dar, deren Möglichkeiten in seinem gesamten Werk reflektiert werden können.20 Abbildungen 47 und 48: Pasadena-Federzeichnung, ohne Titel (RAMAR), 1961 (D 1961-37); Druckgraphik aus William Blakes Urizen

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Der Kunstkritiker Fidel A. Danieli beschrieb die frühe Arbeit von Stephan von Huene bereits 1968 als „startling, difficult, hermetic, private, and frequently misinterpreted“.21 Fast fünfzig Jahre später ist diese Aussage immer noch gültig. Es

inzwischen in der Hamburger Kunsthalle. Gwenda Davies war Leiterin der Abteilung „Education“ am Pasadena Art Museum – dem späteren Norton Simon Museum – und erwarb die Blätter Mitte der 1960er Jahre, als von Huene dort unterrichtete. 20 Vgl. Bredekamp 2002. 21 „[Ü]berraschend, schwer, hermetisch, persönlich und oft missinterpretiert.“ (Übersetzung J.M.M.)

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gibt aber sicher Methoden zur Annäherung, die nicht nur von der symbolischen Interpretation inspiriert sind. Abbildungen 49, 50 und 51: ohne Titel (Der Samen), 1951, Acryl auf Leinwand, 67 x 49,5 cm; ohne Titel (Auge), 1955, Acryl auf Leinwand, 112,5 x 71,8 cm; ohne Titel (Tropfstein), 1955, Acryl auf Graphit auf Karton, fest gerahmt unter Glas, 67 x 49,5 cm

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Der Kunstkritiker Hans-Joachim Müller lieferte 1983 ein Bild des frühen Malers Stephan von Huene, das einerseits ebenfalls in diese Definition passt, andererseits den Vorteil eines stilgeschichtlichen Rückblicks hat. Anfang 1960 war der Ansatz von Stephan von Huene dem abstrakten Expressionismus verpflichtet.22 Dieser Umstand geht sogar auf die 1950er Jahre zurück, in denen der Künstler vorwiegend mit Acrylfarben gearbeitet hat. Seine ersten Arbeiten – meistens ohne Titel – bewegten sich zwischen einem lyrischen und einem figurativen Expressionismus: Der Samen (1951, Abb. 49), Ohne Titel (Auge) (1955, Abb. 50) und Ohne Titel (Tropfstein) (1955, Abb. 51) sind einige Beispiele. Seine Malerei der ersten Jahre, aus der Zeit am Chouinard Art Institute (1955-1959), an dem auch Disney-Zeichner ausgebildet wurden, lassen sich wie Momentaufnahmen der damals herrschenden oder einsetzenden Tendenzen sehen. Viele Künstler in Amerika suchten Ende der 1950er Jahre einen Bruch mit der subjektiven, vornehmlich ästhetisierenden und für das Publikum weitgehend hermetischen Welt des abstrakten Expressionismus. Obwohl Stephan von Huene mit großen Vertretern dieser Richtung wie Sam Francis recht früh in Verbindung kam, suchte er

22 Müller 1989, S. 2.

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weiter nach einem passenden Vokabular, in dem Elemente der Hochkultur und der populären, oft sehr direkten und subversiven Welt des Underground durchlässig und fruchtbar für Wechselwirkungen werden: die Linie als grundlegendes Ausdrucksmittel, die Narrativität und kompositorischen Methoden frei nach Wölfflin und die Stimuli aus der primitiven Kunst verhalfen ihm bei der Befreiung von den herrschenden malerischen Tendenzen. Abbildungen 52, 53 und 54: ohne Titel (Puppe), 1960 (A 1960-2), Acryl auf Leinwand, Assemblage ca. 200 x 160 cm (Verbleib unbekannt oder zerstört); ohne Titel (PO), 1960 (1960-3), Acryl auf Leinwand, Assemblage, 200 x 130 cm (geschätzt) (Verbleib unbekannt oder zerstört); ohne Titel (Stuhlbeine und Tischtuch), 1960 (1960-4), Acryl auf Leinwand, Assemblage, 3 Stuhlbeine am oberen Rand, Tischtuch, 120 x 95 cm (geschätzt, zerstört)

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Beispiele hierfür sind z.B. die Charakteristika seiner Assemblagen, die auch Danieli23 hervorhebt: Die Auswahl und Behandlung von Materialien („resin-treated fabrics, dresses and underwear“), die figurative Tendenz zur Entgliederung und zur grotesken Darstellung des menschlichen Körpers („[t]he bodies are broken into separate units, sometimes created out of pigment, other areas reproduced with the actuality of volumes“) und die Verneinung des Hintergrunds als Fluchtwelt der Illusion („flattened, background scenes“) werden zu einem paradoxen ruhigen Dynamismus zusammengeführt – etwa in eine neue eingefrorene Dreidimensionalität gebracht, die große Ähnlichkeiten mit dem „dead pan“ der Westküste aufweist.

23 Danieli 1968, S. 52.

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Der Abstrakte Expressionismus wurde somit schnell zu einer Fußnote in seiner Karriere, zu einer ersten Lernphase: „Ich wusste nicht so genau, wo ich war, aber bald wusste ich, dass der abstrakte Expressionismus, den ich da beliehen hatte, nicht zu mir gehört.“24 Abbildung 55: ohne Titel (Bild mit kinetischen Elementen), 1963 (A 1963-5), Gemälde mit zweiteiligen Holzobjekt, bemalt, Holzobjekt ca. 80 x 40 cm, Gemälde zerstört (Holzobjekt, Sammlung Sybille Sello, Hamburg). Verschiedene Perspektiven

Quelle: Nachlass Stephan von Huene; Fotos: Stephan von Huene

Die ersten Schritte zu einer eigenen Sprache findet man vor allem in den Bildern und Assemblagen aus den 1960er Jahren, die an die zur gleichen Zeit entstandenen Neo-Dada-Arbeiten von Jasper Johns und Robert Rauschenberg erinnern (vgl. Kipphoff 2002). Werke wie Ohne Titel (Puppe) (1960, Abb. 52), Ohne Titel (PO) (1960, Abb. 53), Ohne Titel (Stuhlbeine und Tischtuch) (1960, Abb. 54), Karooooo (1963, Abb. 74), X (Regenmantel) (1963), EFACK (1963), KESP (1963) oder Cracker Man (1964, Abb. 99), in denen Kleiderstücke, eine Damenhandtasche, Stuhlbeine, Salzcracker und sogar eine Puppe und eine venezianisch anmutende Gesichtsmaske zu großformatigen Gemälden (meistens 244 x 122 cm) assembliert werden, sind auch die ersten professionellen Arbeiten des Künstlers, in denen die Oberfläche des Kunstwerks als ein mystischer Ort ver-

24 Stephan von Huene im Gespräch mit Hans-Joachim Müller im Juli 1983, zitiert nach Müller 1989 = Müller (1983): Zwischen Mathematik und Magie. In: Zeitmagazin Nr. 34 vom 19. August 1983, S. 42.

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standen wird, „an dem Figur und Grund sich austauschen, einander räumlich durchdringen und zur Oberfläche werden“.25 Die Feder-, Bleistift- und Rauchzeichnungen aus der gleichen Zeit experimentieren auch mit der Vielschichtigkeit der Oberfläche und lassen durch die erotische Thematik einen klaren Link zur Kultur der Westküste herstellen. Das erotische Topos evoziert die Arbeiten von Vertretern der „funk art“, allen voran die phallischen Darstellungen von Robert Arneson. Von Huenes „heavily pigmented, directly symbolic paintings“26 aus den frühen 1960er Jahren wurden bereits von dem Kunstkritiker Fidel Danieli mit den kalifornischen Vertretern von „fetish finish“ und „dead pan“ in Verbindung gebracht: „His work of 1961-62 consisted of dense and heavily pigmented, directly symbolic paintings. These white and black crosses the general efforts of several Los Angeles painters of his generation (as Bengston and Irwin) to move away from New York expressionist influences.“27

Über diese Wanderung von frühen abstrakt-expressionistischen Versuchen zu einer objektiven Malerei bis hin zur Skulptur gibt Stephan von Huene selbst ein rückblickendes Statement zu Protokoll: „I was moving from the world of illusion to some kind of real world.“28 Das formale Interesse für diese Grenzüberschreitung lässt sich zwanzig Jahre später exemplarisch beleuchten, als der Künstler an der Stockpuppe für Erweiterter Schwitters (1987) arbeitete. Im Jahr 1963 entsteht ein atypisches Kunstwerk: ein bemaltes zweiteiliges Holzobjekt (ca. 80 x 40 cm, Abb. 55). Anhand der Fotos, die der Künstler selbst schoss, kann man in der Ausführung der kissenartigen an Arcimboldo und Richard Lindner erinnernden Gesichtspartien große Ähnlichkeiten mit den ersten Skulpturen des Künstlers identifizieren – z.B. mit One Legged Traveller (1966), Unfortunate Aviator (1966) oder Visitor from Eyeland (1964, Abb. 62, 106 und 57). Gezeigt wird das Profil einer männlichen Figur mit Sakko und Krawatte, sein linker Arm scheint mechanisch an die Schulter gebunden zu sein, die Hand fehlt. Wenn beide Teile der Skulptur getrennt werden, verliert das Objekt sein durch Farbe vorgetäuschtes Volumen, während das Gemälde technisch zur Skulptur wird.

25 Stephan von Huene, MIZUE 1973. Siehe hierüber die Sektion „Die Wechselwirkende Hautgrenze“ im vorliegenden Kapitel. 26 Danieli 1968, S. 52. 27 Ebenda. 28 MIZUE 1973; hier zitiert nach Split Tongue, S. 56.

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Abbildungen 56 und 57: ohne Titel (Uncle Sam and the Statue of Liberty), 1955 (D 1955-1), Tusche mit Feder und Gouache auf Papier, 38,5 x 50,7 cm (Petra Kipphof von Huene, Hamburg); Visitor from Eyeland (Besucher vom Augenland), 1964 (S 1964-1), Leder, Nieten auf Holzkonstruktion, ca. 51 x 25 x 25 cm (unbekannte Privatsammlung, USA)

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Der Übergang vom Abstrakt-Expressionismus zu den ersten pop-surrealistischen Experimenten auf der Suche nach einer eigenen Sprache muss etwas früher datiert werden, als bislang angenommen. Bereits in den 1950er Jahren finden wir eine Zeichnung von einem laufenden „Uncle Sam“ (Abb. 56) mit einem überdimensionalen Geschlechtsorgan und der Freiheitsstatue im Hintergrund. Die Umsetzung erinnert stark an spätere Zeichenkonvolute. Die Figuration entwickelte sich jedoch in immer schwerer zu deutende Motive und Materialien, deren Zusammenführung aber einen klaren, wiedererkennbaren Effekt hat. In dieser Hinsicht war Stephan von Huene nicht ganz allein an der Westküste: Al Bengston, einer der großen Vorgänger des Los Angeles-Look verwendete schnelltrocknende Acryllacke und Metallfarben aus dem Bereich der Rennwagenkultur und trug diese auf Aluminium auf, womit er perfekte Oberflächen erreichte.29 Seine Werke haben nicht nur den Weg zur Einbeziehung neuer Werkstoffe in der Kunst der 1960er Jahre geebnet, er hat durch Technik und Motiv eine reproduzierbare Identität geschaffen, so tauchen bei ihm sehr früh wiederkehrende Motive wie mittige einem Rangabzeichen ähnelnde winkelförmige Streifen und etwas weni-

29 Vgl. Winer 1972.

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ger häufig ein Iris-Zeichen.30 Stephan von Huenes frühe Adaptation der Collageund Assemblage-Techniken zielte – zumindest auf formaler Ebene – auf die Auseinandersetzung mit der Karikatur und der Dimensionalität der Oberfläche, es gibt aber auch bestimmte wiedererkennbare Bildmotive auf seinen Zeichnungen wie ein rätselhaftes Andreaskreuz (Abb. 46, 53, 74) – etwa als Verweis auf seine Verwandtschaft mit Johann Valentin Andreae – und artikulierbare aber sinnbefreite Buchstabenabfolgen (Abb. 47), die zu den Stilmitteln zu zählen wären, womit er neue Wege der Kunst zwischen Repräsentation und Semiotik erkundete. Abbildungen 58, 59 und 60: ohne Titel (KEFX), 1961 (D 1961-2), schwarze Tusche mit Feder und Glitzerstift auf Papier, ca. 46 x 51 cm (Nachlass Walter Hopps, Santa Monica, Kalifornien); ohne Titel (RXI), 1961 (D 1961-1), schwarze Tusche mit Feder und Abdruck auf Papier, ca. 49 x 45,7 cm (Nachlass Walter Hopps, Santa Monica, Kalifornien); ohne Titel (ESCOT), 1961 (D 19613), schwarze Tusche mit Feder und Glitzerstift31 auf Papier, ca. 46 x 51 cm (Nachlass Walter Hopps, Santa Monica, Kalifornien)

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Danieli nennt in diesem Zusammenhang Jasper Johns und Robert Rauschenberg als klare Erneuerer des Momenten, die mit der Maltechnik des „Impasto“, mit der Befestigung von Materialien und Objekten auf der Maloberfläche und mit der „Agitation“ der physischen Haut des Anstrichs („physical skin of paint“) durch alchemistisch anmutende Methoden wie die Enkaustik für eine neue Ob-

30 Ebenda, S. 115; siehe einen Vergleich von Stephan von Huenes Andreaskreuz mit Al Bengstons Iris-Zeichen in Kapitel „Harmonie der Phoneme“. 31 Der Einsatz von Glitzerstift könnte eine Anspielung an die Technik des venezianischen „golden glow“ sein. Siehe hierzu den Abschnitt zu Blaue Bücher (1997) in Kapitel „Energie im Kunstsystem“.

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jektivierung der Kunst gesorgt hatten und zu Bindegliedern zwischen dem Abstrakten Expressionismus und der Pop Art wurden. Stephan von Huenes frühe Produktion wäre irgendwo zwischen diesen Tendenzen einzuordnen. Die ersten nicht abstrakt-expressionistischen Bilder von Stephan von Huene enthalten Kreuzbilder, marginale Karikaturen, sinnbefreite Buchstabenabfolgen und physiologisch wirkende Farbflecken (Abb. 58, 59, 60), die wie eine Art orientalisch-lyrische Version eines freudianischen Tachismus anmuten: Diese Werke können als kreative Suche und erkenntnisreiche Forschungsperiode des Künstlers angesehen werden. Ihnen folgten (1961/62), wie Danieli pointiert, überraschenderweise figurative Tafel-Serien (1961/64, z.B. Abb. 47, 46). Gemeint sind hier vor allem die Pasadena-Federzeichnungen, die Rauchzeichnungen und die Bleistiftzeichnungen: „Utilizing a raw color range and bold drawing, they are decidedly graceless and forcefully naive in style. Here the worked surfaces and grossness of execution bring to mind the ‚art brut‘ sources of Dix and Grosz.“32

Der Verismus eines Otto Dix oder die Karikaturen eines George Grosz mögen hier zumindest im Rückblick nicht fehl am Platz sein, doch die westlichen Künstler, von denen man mit Sicherheit sagen kann, dass Stephan von Huene bereits in den 1950er Jahren einige ihrer Werke gesehen und studiert hatte, sind vielmehr Ernst Ludwig Kirchner, Max Beckmann und Francisco de Goya. Von diesen Künstlern befinden sich bereits seit den 1950er und 1960er Jahren einige Bilderbände in seiner Bibliothek. So ist die Verbindung zum deutschen Expressionismus zwar plausibel, die Zusammensetzung der Einflüsse wäre aber nicht in der modernen und der expressionistischen Karikatur, sondern auch in den großen Meistern der Graphik in Europa (Picasso und Blake) und in Asien (insbesondere in Hokusais Mangas) sowie in den anatomischen Zeichnungen von Leonardo da Vinci und Vesalius zu finden. Die Karikatur und die Technik der Intarsie, die seine weitere Entwicklung 1963-1964 auf dem Weg zum Skulpturalen prägten, stehen auch in der StilTradition der Linie als Träger der „Wahrheit der Form“. Hierzu vertritt Danieli die Meinung, dass die figurative Arbeit von der Karikatur abgeleitet wird.33 Dies führte zu „crearly, if tidily, grotesque“ Sujets auf der Suche nach einer Beziehung zwischen den anatomischen Sektionen, zwischen Körperteilen, Organen und anderen Objekten. Das Groteske sowie seine karikaturbasierten „methods of

32 Danieli 1968. 33 „His subject matter from this point onward is figurative, generated from caricature.“

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distorsion“ durchziehen jedenfalls in von Huenes damaligem Werk alle praktizierten Gattungen.34 Diese Art der Repräsentation beschränkt sich nicht auf die Physiognomie der Figuren, sondern auch auf die Handlungen, welche physiologische wie akustische Ereignisse demonstrativ vorführen. Wären Sprechblasen vorhanden, würde man behaupten können, es ginge hier eigentlich um avantgardistische Comic-Streifen. Laut Danieli identifizierte der Künstler diese Motive als Ergebnis einer „überempfindlichen Interpretation“ körperlicher Funktionen. Die Übertreibung und Bloßstellung von normalen oder intimen Handlungen sind auch rückläufige Mittel der Karikatur. „Central to his work, he states, is a concentration upon (a hypersensitive interpretation of) themes involving basic body functions: breathing, eating, smoking, eliminating, ejecting other fluids, and giving birth. Literary allusions and common phrases also play an important part in generating an image.“35

Das Interesse von Stephan von Huene für die Karikatur und Physiognomie des menschlichen Körpers lässt sich recht früh datieren, aber wo hat der Künstler seinen „Karikatur-Mentor“ gesehen? Müller vergleicht seine karikierenden Darstellungen mit Richard Lindners Bilderbogen.36 Von Huene selbst ging Jahrzehnte später ad fontes und orientierte sich hauptsächlich an den Arbeiten von Rodolphe Toepffers, dem Vater der Karikatur, den er für seinen Unterricht in der Internationalen Sommerakademie in Salzburg und für die Entwicklung von späteren Werken wie Die Neue Lore Ley I (1990) und II (1997) oder Tisch Tänzer (1988-1995) zurate zog.37 Ob er bereits in den 1960er Jahren die Arbeiten von Toepffer kannte, ist ungewiss. Eine Spur führt uns zu den Zeichnungen von William Blake, die der Dichter und Graphiker mit einem besonderen Verfahren – einer Mischung aus Hoch- und Tiefdruck – produzierte. Gemeint sind die Serien zu Blakes Schöpfergott „Urizen“, die er bereits aus seinen Studienzeiten dank der Sammlung der Huntington Library kannte.

34 Vgl. Danieli 1968, S. 52: „His subject matter from this point onward is figurative, generated from caricature […] in von Huene’s Hands his subjects are crearly, if tidily, grotesque. […] searching out a relationship between anatomical sections, parts of the body, organs, and other objects.“ 35 Ebenda. 36 Müller 1983, S. 6 37 Rodolphe Toepffer ist allem Anschein nach ein späterer Einfluss. Figuren aus frühen Zeichnungen stellen eher Pathos-Zustände dar.

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Die Nähe zu William Blake geht über die Narrativität der Kompositionen und die Zyklus-Idee seiner Zeichnungen hinaus. In den 1960er Jahren produzierte Stephan von Huene zwei Graphik-Serien, in denen die exzentrischen Materialien und Methoden zur Geltung gebracht werden: „One series of multi-marked drawings was scratched and smudged into the kerosene latern fumage of treated papers; another was collaged into graphic formations from marbleized papers made by the artist after researching old formulas.“38

Gemeint sind hier die Smoke Drawings und eine offensichtlich nicht mehr so bekannte Bilderserie – etwa die Assamblagen mit marmorierten Farbflächen. Die Schnelligkeit der expressionistischen Handhabung weicht den neuen Techniken aus: „His involvement in elaborate and obscure crafts, and a Surrealist’s obsession with provoked materials and surfaces ist set.“39 Es überwiegen braune und schwarze Töne, die den Weg zur Skulptur schon ankündigen, sei es als Basreliefs oder „free standing“-Skulpturen. Es war in diesen Jahren, dass der Übergang von der Assemblage zur Skulptur vollzogen wird: Skulpturen aus Brot, angebranntem Holz und Leder: „He decided at this point to favor, making the thing rather than an imagining“.40 Danieli datiert den Einsatz kinetischer Elemente etwas früher als in der Regel angenommen. Er bezieht sich hier einerseits auf Assemblage-Arbeiten, die nicht erhalten sind, andererseits werden Werke erwähnt, deren Kinetik nicht mechanisch generiert, sondern eher ästhetisch wahrnehmbar ist. Das ist der Fall bei einigen Assamblagen, in denen unterschiedliche Stoffe und Kleiderstücke über den Bilderrahmen hinausgehen (z.B. Abb. 52, 53, 54) und somit eine gewisse Kinetik vortäuschen: „In 1963 he introduces movement: the dress of a woman hangs past the bottom of the canvas [...] a certain amount of animation.“41 Es gibt jedoch ein Beispiel, in dem eine mechanische Vorrichtung zum Einsatz kommt: in einer nicht mehr dokumentierten – möglicherweise zerstörten –

38 Danieli 1968, S. 52. 39 Ebenda. 40 Ebenda. Hinsichtlich der Entscheidung Kunst aus Brot zu machen, ist interessant, dass einer der ersten konservierten Automata eine ägyptische Figur beim Kneten eines Brot-Teiges ist (vgl. Chapuis/Droz 1958, S. 15). Während eines Aufenthaltes als Scholar im Getty Center (1991) machte Stephan von Huene Fotokopien des Buches von Alfred Chapuis und Edmon Droz Automata. A Historical and Technological Study (1958), in dem der ägyptische Teig-knetende Automat auf Seite 15 vorkommt. 41 Ebenda.

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Assemblage aus dem Jahr 1960 wird die Geburt einer Kinderpuppe durch das Ziehen einer Kordel mechanisch-reduktionistisch illustriert: „[T]he traditional jumping jack represents the birth of a child. Pulling a cord caused the swinging of mother’s arms and legs and the appearence of the baby.“42 Die geschwärzte Oberfläche, aus der die Puppe in siegender Manier hervorspringt, kann als einer Allegorie der Geburt einer neuen Schaffensperiode verstanden werden: Aus der Malerei, die ihre Zweidimensionalität im Relief der Assemblage verneint, wird zwangsläufig die Skulptur geboren. Abbildung 61: Cigar Indian’s Foot (Fuß des Zigarrenindianers), 1966 (S 1966-2), Leder, Babyflaschensauger, Schnürsenkel auf Holzunterkonstruktion, 30,5 x 30,5 x 8 cm (Sammlung Jacky und Julian Taub, New York)

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Fetisch-Spuren im Werk von Stephan von Huene waren bereits in der Selbstrepräsentation der frühen Zeichnungen und der kulturellen Materialität der Assemblagen vorhanden, die keinen Unterschied zwischen high und low culture zu machen versuchten. Die alchemistische Auseinandersetzung mit dem Materialien Holz, Leder, Brot, Harz und Lack und die Fixierung auf Körperteile verleihen seinen ersten statischen Skulpturen eine Fetisch-Dimension im freudianischen Sinne einer krankhaften – wenn auch kontrollierten – psychischen

42 Danieli 1968, S. 52.

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Abweichung.43 Die „störenden“, aber stilisierten Motive bestehen aus einem „inventory of heads, allegorical portraits, eyes, lips, arms, hands, genitals, legs, boots, shoes, feet, and carrying cases“.44 Die Welt des surrealistisch-sexuellen Übermuts, von der Hans-Joachim Müller spricht, trifft hier sowohl auf die Zeichnungen als auch auf die Skulpturen und Assemblagen zu,45 deren unterdrückte Energie unter Mänteln, Kleidern, Korsagen, pressendem Mieder, Bandagen, korsettierten Körperteilen und gebackenen Broten auf Befreiung durch einen verfehlenden semantischen Akt warten. In Bezug auf seine Klangskulpturen machte Kaprow eine Aussage, die hier auch zutreffen würde: „In den von ihm gestalteten Wesen ist keine Nostalgie, sie artikulieren ihre eigene Existenz fast didaktisch und mit eigenem Zungenschlag.“46 Die frühen statischen Skulpturen verhalten sich auch wie didaktische Methoden der Katharsis, die den Zuschauer zum Aufwachen animieren, jedoch keine definitive, sinnvolle Lösung der Körperfrage ermöglichen, um ihn vom Schlaf des Geistes fernzuhalten. Die von den nativen Völkern und Indianerkulturen inspirierten Skulpturen sind z.B. nicht von einem Gefühl des Romantizismus geprägt: Ironische Kritik lauert im Fuß des Zigaretten-Indianers (1966, Abb. 61), der um eine mehrfache Friedenspfeife mit irritierender Saugvorrichtung für intensives Zigarren-Rauchen umfunktioniert wurde. Man könnte aber auch einwenden, die Skulptur verkörpert eher eine absurde, kaum als Kritik zu verstehende Komik vergleichbar mit Man Rays verhüllter Nähmaschine bzw. mit der berühmten Metapher, die Lautréamont in Die Gesänge des Maldoror einsetzte, um die Schönheit des jungen Mervyns zu beschreiben: „schön... wie die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirmes auf einem Seziertisch“.47 Diese Ambiguität der Deutung steht auch im Einklang mit von Huenes Interesse an den Paradoxa des Mystikers Meister Eckhart, die als ErkenntnisMethode zu verstehen sind.48 Die englische Ausgabe, die von Huene besaß, enthält sowohl die Predigten wie auch die Verteidigungsschrift zu der Anklage wegen Ketzerei.

43 Vgl. Sigmund Freud (1927): „Fetischismus“. In: Almanach der Psychoanalyse 1928, Wien 1927, S. 17-24. Hier: Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 311-317. 44 Danieli 1968, S. 52. 45 Müller 1989. 46 Kaprow 1983, S. 9. 47 Zitiert nach Müller 1989. 48 Schmidt 1983, S. 98.

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Am Anfang einer biographischen Skizze im Katalog zur documenta 8 vergleicht Stephan von Huene seine Begegnung mit der Kunst mit dem Erlebnis christlicher Feiertage, unterschiedlichen Wahrnehmungszuständen (Dreaming) und der Zusammenführung von gegensätzlichen Welten: „Easter Sunday/Any Celebration/Day Dreaming/Awake Dreams/Deep Night Dreams/And light Morning Dreams/Where Separate Worlds meet.“49 Im Einklang mit seinem Interesse an Meister Eckhart tendieren seine Kunstexperimente zu der „unendlichen Metapher“, die in ebendiesem documenta-Text an einer abschließenden Stelle vorkommt: „THE WORLD AS ENDLESS METAPHOR.“

V ERTICAL S TORIES In der Analyse von Sirenen Low (1999) wurde zwischen Werken unterschieden, die „vertikale Geschichten“ erzählen und denen, die durch die Akzentuierung der horizontalen Kompositionslinie zu Rauminstallation werden. Das Verhältnis zwischen Skulptur und Raum ist für diese Differenzierung maßgebend. So transportieren die Totem Tones (1969-70), die Hochhäuser nachempfinden und Totempfähle zitieren, „vertical stories“.50 Die Holzpfeifen der Totem Tones (196970) haben jedoch keine vertikalen Schnitzereien, die eine Geschichte mit visuellen Episoden konstruieren würden. Die Skulpturen produzieren Klänge, die sich über den Mund der rechteckigen Pfeifen – physikalisch betrachtet – horizontal im Raum verbreiten. Die Dominanz des visuellen Eindrucks der im MahagoniFarbton gestrichenen Pfeifen ist so eindeutig, dass der Künstler von Vertikalität sprach. Aber erzählen spätere Klangarbeiten mit aufgestellten Pfeifen auch vertikale Geschichten? Ist z.B. Glass Pipes (1974-76), jene Arbeit mit nahezu unsichtbaren Pfeifen, die einen Raum mit variierenden Toneigenschaften – darunter auch mit sehr harten Tonhöhen – füllten, auch ein vertikales Kunstwerk? Wohl kaum. Denn die Vertikalität von Totem Tones (1969-70) hängt mit der Akzentuierung ebendieser Achse zusammen, welche durch eindringliche visuelle Eindrücke deutlich gemacht wird. Werke wie Glass Pipes (1974-76) – oder Monotone (1977) – tendieren zur beabsichtigt visuellen Belanglosigkeit, sie akzentuieren akustisch die Diagonale des Raums und erzeugen ein Klang-Umfeld, haben aber keine ikonische Präsenz. APT (1979-1980) oder Text Tones (1979/

49 Zitiert nach Müller 1989, S. 2; siehe auch Retrospektive, S. 258. 50 Vgl. Getty Talk, D 1991-9; siehe auch Peter Fuhrmanns Film Stephan von Huene. Im Zwischenreich der Sinne (D 1995) über Stephan von Huene, insbesondere das Gespräch über Totem Tones (1969-70) zwischen dem Künstler und György Ligeti.

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1982-83) sind ihrerseits vom Klangumfeld abhängig und somit der Qualität einer „horizontal story“ verpflichtet, welche den heiligen Hochaltar der vertikalen Repräsentation verlässt, die den Betrachter vom Objekt trennt. Wenn die Rede von Vertikalität ist, dann denken wir an das klassische Imago, an jene Bilder, die für die distanzierte Betrachtung und ikonographische Wahrnehmung bestimmt waren, aber auch an die herrschende Kompositionstendenz der einzelnen Elemente: Der Verweis auf Benjamins dialektisches Bild und Warburgs oder Panofskys ikonologische Methoden wäre hier genauso berechtigt wie die Kodierung der Begriffe „vertikal“ und „horizontal“ nach Wölfflins Kompositionstheorien. So können wir z.B. Franz Boas’ „Prinzip der Unbestimmtheit“51 als primitive Schöpfungsmethode in der Vertikalität der Totem Tones (1969-70) ablesen: Ihre Klänge evozieren im kulturellen Imaginarium exotische Tierstimmen, welche an die vertikale Aufrichtung der geschnitzten Kwiakiutl-Totems erinnern, unabhängig von der horizontalen räumlichen Verbreitung der Audiowellen. Das Design ist ästhetisch eindeutig genug, um die Trennung der Wahrnehmung von Klang und Bild trotz deren Interdependenz zuzulassen. Ähnlich verhält es sich mit den Assemblagen und statischen Skulpturen aus den 1960er Jahren. Abbildungen 62 und 63: One Legged Traveller (Einbeiniger Reisender), 1966 (S 1966-5), Leder, Nieten, Metallbeschläge, Band auf Holzkonstruktion, auf Holzsockel montiert, 150 x 60 x 60 cm (Erben Dr. Milton Wexler, Santa Monica, Kalifornien); Boot Monument, Saragota National Historical Park, New York

Quellen: Nachlass Stephan von Huene; Boot Monument: Photo: Poster (cc)

51 Siehe hierzu die entsprechende Passage im Abschnitt „Die skulptural-ikonologische Dimension“ in Kapitel „Die schöne Stimme“.

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Über die ersten Skulpturen, die der Künstler vor den „vertikalen“ Totem Totems konstruierte, wurde bislang sehr wenig geschrieben. Die Kunstwissenschaft war zu diesem Zeitpunkt nicht interdisziplinär genug und es gab auch kein systemtheoretisches Instrumentarium wie die hilfreiche Trias-Methodik „Index, Ikon, Symbol“,52 um die vielschichtige Herkunft der Motive zu analysieren. Im Kapitel „Energie im Kunstsystem“ werden einige dieser Werke aus der Perspektive des ethnologischen Transfers analysiert. Hier lohnt sich der Blick auf eine repräsentative „vertical Story“, von der die letzte Skulptur des ersten SkulpturenZyklus – nämlich One Legged Traveller (1966, Abb. 62) – beispielhaft berichtet. Die ersten figurativen und expressionistischen Arbeiten von Stephan von Huene datieren in die einjährige Studienzeit an der UCLA (1952-1953), wo er die freien Künste studierte. Davor hatte er sich bei der Kunstakademie in San Francisco, der prestigeträchtigsten des Landes, erfolgreich beworben, stieß aber aus finanziellen Gründen auf die Ablehnung der Eltern. Deswegen entschied sich Stephan von Huene zunächst für einen zweijährigen Militärdienst (1952 bis 1954), denn danach war es möglich, ein GI-Stipendium für ein Studium zu bekommen.53 Aus diesen Jahren, in denen Stephan von Huene beim Militär war, gibt es keine nennenswerte Produktion. Die Spuren dieser Erfahrung lassen sich jedoch in späteren Werken wie Uncle Sam (1955), Unfortunate Aviator (1966) und One Legged Traveller (1966) nachlesen. Zu One Legged Traveller ist eine interessante Anekdote überliefert– eine ikonologische „vertical story“, deren biographischer Hintergrund zur Deutung anderer, früheren – bis heute recht hermetischer – Arbeiten beitragen kann. Eines Tages im Jahr 1968 wurde der Besitzer der Skulptur, Dr. Milton Wexler,54 von Stephan von Huene angerufen. Das Magazin Art Forum wollte ein Bild von der Skulptur, die eigentlich noch keinen Titel hatte. Wexler erzählt in einem Brief an Petra Kipphoff aus dem Jahr 2003, dass Stephan von Huene diese Skulptur ursprünglich „The Anxious Soldier“ nennen wollte: „While Stefan [sic] was doing his photographic work, I asked him whether he had a name for the piece. – Yes, said Stefan [sic], I call it The Anxious Soldier. – Why that name? I asked.

52 Vgl. Wyss 2006. 53 Vgl. Kipphoff von Huene 2002. 54 Milton Wexler war Besitzer dieser Skulptur bis zu seinem Tode. Nun befindet sich die Skulptur im Besitz seiner Töchter.

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– Because, said Stefan [sic], when I was drafted into the army I was filled with anxiety, felt helpless and castrated and that is how the idea came to me – a single leg along with the male genitals separated from the body.“55

Stephan von Huenes Erklärung rief in Herrn Wexler die Erinnerung an das Boot Monument (Abb. 63), das der loyalen Truppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gedenkt. Das Motiv des Monuments ist der verletzte Fuß des Generals Benedict Arnold, der maßgeblich zu dem Sieg bei der entscheidenden Schlacht von Saragota beitrug. In Wirklichkeit ist das Boot Monument eine Art damnatio memoriae, eine Tilgung des Andenkens an Benedict Arnold, der Jahre Später nach der berüchtigten Schlacht die Seite wechselte und zum Verräter des Continental Congress wurde. Der verletzte Fuß steht somit für die Treue früherer Schlachten und dient als Andenken aller loyalen Kämpfer – Benedicts Bein inklusive. Wilton Wexler machte Stephan von Huene auf diese Geschichte aufmerksam. Dies hatte möglicherweise zur Folge, dass der angedachte Titel „The anxious soldier“ etwas weniger offensichtlich wurde, um eventuelle Verwechslungen mit dem Boot Monument zu vermeiden. Die Skulptur resümierte die Frustration beim Militär in der totemischfragmentarischen Darstellung56 eines kastrierten, aber lächerlich unerschütterlichen Bein-Soldaten, der seine Identität als abbaubare Physiognomie und herausnehmbare Geschlechtspartien in einem kleinen, seitlich aufgestellten Koffer demonstrativ aufbewahrt: Die übertriebene Vertikalität des „korsettierten“ Beins akzentuiert die irritierende würdevolle Zurschaustellung der disziplinierten Männlichkeitsdekonstruktion. Aus dem „soldier“ wurde ein „traveller“, im Einklang mit einem weiteren anonymen Menschentypus, nämlich dem „visitor“ aus der BakersfieldSkulpturenreihe (1964, Abb. 87, 88, 89). Wer könnte nun mit Sicherheit behaupten, ob diese „Brotfamilie“ aus der benachbarten landwirtschaftlichen Stadt Bakersfield im Landkreis Kern etwas mehr als ein dadaistisches Wortspiel darstellt? Im Falle der auch landwirtschaftlich geprägten Brot-Skulptur Comin’ through the Rye (1965, Abb. 90) soll das gleichnamige Kinderlied schottischen Ursprungs, das erotische Anspielungen enthält, als Inspirationsquelle gedient

55 Brief von Milton Wexler 2003 (Typoscript, Nachlass Stephan von Huene). 56 Über die fragmentarische Symbolik in der primitiven Kunst und deren Einfluss auf die Arbeiten von Stephan von Huene siehe die Abschnitte „Primitivismus und animierte Materie“ und „Power-Transfer: ethnographischer Ursprung der Energie“ in Kapitel „Energie im Kunstsystem“.

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haben: „the anxious soldier, the anxious visitor, the anxious rye“ – all diese Motive deuten auf das systematische Bemühen, versteckte und unterdrückte Energien des Menschen zu thematisieren. Jene frühen Skulpturen wie One Legged Traveller (1966), die von Museen erworben wurden, kommen selten in Museumsschriften und der Fachliteratur vor. Skulpturen im Privatbesitz fristen ein noch dunkleres Schattendasein. Liegt das in den altertümlich wirkenden Geschöpfen, der ungerechten Nachlässigkeit von Forschern und Museen oder selbst an der stärkeren Präsenz der Klangskulpturen des Künstlers? Während der Ausstellung „American Sculpture of the Sixties“ beschrieb Danieli den Kaleidophonic Dog (1964-67) als „engagingly delightful“ (bezaubernd reizvoll). Die Skulptur sorgte so sehr für Begeisterung, dass eine andere Skulptur von Stephan von Huene – der Hermaphroditic Horseback Rider (1966) – übersehen und kaum erinnert wurde. Dabei war „the Dog“ im Katalog nicht einmal in vollständigem Zustand zu sehen. Figurativ betrachtet ist der wunderbare Automat nicht einmal sehr verschieden von Skulpturen wie Hermaphroditic Horseback Rider (1966) oder One Legged Traveller (1966): Alle diese Werke entsprechen dem gleichen surrealistisch anmutenden „vertikalen“ Kompositionsstil. Erst aus der ausgewogenen Verbindung von Klang, Form und – später auch – Sprache, resultiert der Unterschied zwischen horizontaler und vertikaler Ästhetik, wie von Huene zu einem späteren Zeitpunkt zu verstehen gibt: „Ich sehe diese [frühen] Skulpturen als eine Verbindung von architektonischer Form, Klang und Sprache.“57 In diesem Sinne bemühte sich der Künstler, Werke wie Totem Tones (1969-70) – aber auch spätere Arbeiten wie Salzburger Lockerl (1997) oder Sirenen Low (1999) – unabhängig von der Vertikalität oder Horizontalität der Komposition optisch dadurch vom Boden zu lösen, dass ein Licht in den Sockel eingebaut wurde – wahrscheinlich auch damit die gesamte Komposition durch eine abgestufte Raumintegration etwas geheimnisvoller wirkt. Der Künstler produzierte aber auch Klang-Environments, die sich als Teil des Raums auffassen lassen, d.h. die Klangskulpturen werden minimalistisch reduziert, das Objekt verliert vollständig die Vertikalität des klassischen Bildes. Die horizontale Position der Klangkörper von Monotone (1977) im Raum diente z.B. dazu, ein urbanes Sound-Environment zu generieren, in dem der Besucher je nach Bewegung im Raum, die verschiedenen Facetten und Qualitäten der Klangumgebung untersuchen konnte. Die horizontal liegenden Text Tones (1979/1982-83) senden collagierte Klangfarben-Kompositionen an die Umgebung zurück, wo das ursprüngliche akustische Material herkam. Horizontale

57 Typoscript, ca. 1983, Nachlass Stephan von Huene.

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Werke haben somit etwas Kybernetisches, während Werke, die grundsätzlich einer vertikalen Kompositionslinie verpflichtet sind, die Funktion der visuellen Repräsentation und der traditionellen Bildlektüre akzentuieren – dies trifft auch auf Arbeiten zu, bei denen vertikale und horizontale Qualitäten in einem Gleichgewicht stehen. Folgende Definitionen können nun anhand der identifizierten Bild- und Klangbild-Typen abgeleitet werden: 1. Unter horizontaler Kunst kann man im Stephan von Huenes Œuvre jene Arbeiten verstehen, die ein Umfeld generieren, sei es mit Schallwellen (Sirenen Low [1999]), Lichtprojektionen (Blaue Bücher [1997]) oder Aktion-Reaktions-Modellen (Text Tones [1979/1982-83]): Horizontale Kunstwerke tendieren zur Gestaltung intraaktiver Kommunikationsprozesse – d.h., sie kommen insbesondere bei kybernetischen Kunstsystemen vor. 2. „Vertikale Kunstwerke“ hingegen sind jene Arbeiten, die sich visuell wie repräsentativ in die primitive Tradition des Kunstwerkes als kulturellem Totem einschreiben und als dialektisches Bild – dem eigenen Hermetismus zum Trotz – funktionieren: Die „stummen“ statischen Skulpturen und die ersten kalifornischen Klangskulpturen würden diesem Typus angehören. Es gibt aber noch eine dritte Möglichkeit der Kombination von ästhetischen Raumordnungen: Spätestens seit der Zauberflöte (1985) koexistiert die überwiegende horizontale Ereignisschicht aus Werken wie Monotone (1977) und Text Tones (1979/1982-83) mit den vertikalen Eigenleistungen des Bildakts.58 Die Klangtürme der Zauberflöte (1985) stehen mit ihrem pneumatischen Momentum für die personae des Dramas – ästhetisch sprechen sie vom wissenschaftlichen Geist des Spätbarocks, unter dessen Einfluss Schikaneder sein Libretto schrieb. Die Wirkmächtigkeit des Bildes fügt sich wie ein tableaux vivant in das kybernetische Ereignis.

D IE

WECHSELWIRKENDE

H AUTGRENZE

In einem Interview aus dem Jahr 1973 mit dem japanischen Kunstmagazin MIZUE antwortete Stephan von Huene auf die Frage nach der Relevanz der Texturen in seinem Werk mit einer Definition der Oberfläche. Die Oberfläche sei „der Ort einer Gestalt, an dem Figur und Grund sich austauschen, einander räumlich durchdringen und zur Oberfläche werden“. Dieser „mystische Ort“ war für ihn „die Hautgrenze, wo Außenwelt und Innenwelt miteinander in Kontakt

58 Siehe dazu Bredekamp 2010.

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treten“.59 Diese biologisch-mystische Beschreibung ist eine der ersten produktiven Grenzverschiebungen, die man bei Stephan von Huene beobachten kann. Die ontologische Kunsterfahrung der Grenze als ästhetisches Ereignis kommt in seinen frühen Arbeiten zunächst auf einer formalen Ebene vor, wird aber im Laufe der Arbeit zu einem existentiellen Topos, den Martin Warnke folgendermaßen identifiziert: „Das Problemfeld von Ein- und Ausgrenzung, von Autonomie und Heteronomie, von innen und außen, von selbst gesetzter Form und ihrer Auflösung in andere mediale Formen, [sind] Probleme, für die von Huene später große Apparaturen entwickeln und einsetzen wird […].“60

Horst Bredekamp setzt den Anfang für Stephan von Huenes Idee der Oberfläche als Ort, an dem die Figuration simultan zum Relief und räumlichem Durchblick wird, in den sogenannten Rauchzeichnungen an (z.B. Abb. 46). Hier muss noch einmal auf William Blake verwiesen werden, diesmal in einem technischen Kontext. Durch wiederholte Aufenthalte in der Huntington Library hatte von Huene die Gelegenheit, Zeichnungen und Radierungen von William Blake sehr genau zu studieren. Beat Wyss erläutert dessen Ätztechnik im illustrierten Buch von Urizen (1794) folgendermaßen: „Blake schildert nicht nur den Weg vom Licht zur Finsternis. Er vollzieht diesen Weg in seinem graphischen Werk mit einer speziellen Ätztechnik nach, einer Synthese von Hochund Tiefdruckverfahren. Während die Umrisse der Zeichnung als gratige Stege bestehen bleiben, wird der Binnenraum der Figuren, jene verführbare Oberfläche des Fleisches, vom Grafiker-Demiurgen ausgebrannt. Das Stoffliche wird stigmatisiert. Solch alchemistisches Experimentieren gehört zu den Konstanten esoterischer Bildtechnik der Moderne.“61

Auch von Huene entwickelte eine vergleichbare Technik, bei der die Oberfläche buchstäblich „ausgebrannt“ wurde. Gemeint sind die Rauchzeichnungen, die zeitgleich zu den ersten Skulpturen entstanden sind (1963-1965). Die Technik

59 MIZUE 1973; hier zitiert nach Split Tongue, S. 50. 60 Warnke 2002, S. 88. 61 Wyss 2013, S. 52-53.

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der Rauchzeichnungen kann mit Bredekamp als „Schlüssel zur Erfahrung einer dissonanten Welt“62 verstanden werden. „Durch den Ruß ist der Bildgrund eine verbrannte, wie entmaterialisierte Fläche, in die von Huene die Linien und Schatten der Figuren einritzte, während deren Körper durch Abdrücke der Ballen und Finger seiner eigenen Hände füllte. Die Hautfurchen werden so nach dem Muster des Gesichtsabdrucks Christi im Tuch der Veronika zur Physiognomie der Körper seiner Bildfiguren.“63

Derartige Experimente erinnern – mit Wyss gesprochen – an die „esoterische Bildtechnik der Moderne“. Die Ätztechnik fügt dem Bild eine körperliche Dimension hinzu, wie man diesen Effekt von Jacques Callots (1592-1635) Karikaturen kennt. Christoph Martin Wieland (1733-1813) und E.T.A. Hoffmann (1776-1822) machten auf die Ätztechnik von Jacques Callots Festaufzügen und Typen aus der Commedia dell’arte aufmerksam: Callots Drucktechnik unterstreicht chimärische, ironische und Persiflage-geladene Qualitäten von Masken und Kostümen:64 Tierische Eigenschaften werden hierdurch der Entstellung der menschlichen Form mit einer gewissen haptischen Qualität gegenübergestellt.65 Jacques Callot beeinflusste an dieser Stelle Goyas experimentelle GraphikZyklen Desastres de la Guerra (1810-1814) und Caprichos (1793-1799), die der aragonesische Meister in einer innovativen Mischung aus Aquatinta und traditioneller Radierung ausführte. Die Caprichos waren in der Bibliothek von Stephan von Huene als Taschenbuch seit den 1950er Jahren vorhanden, so hat der Verweis auf Jacques Callot nicht nur eine formal-vergleichende, sondern auch eine dokumentarische Berechtigung. Neben den Rußzeichnungen, die in gewissem Sinne an Goyas und Blakes Druckverfahren erinnern, werden auch Kleiderstü-

62 Bredekamp, 2002, S. 132. 63 Ebenda, S. 136. Hier ist eine gewisse Ähnlichkeit mit Yves Kleins monochromer Malerei und insbesondere mit den blauen „Anthropometrien“ zu verzeichnen. 64 Hinweis von Kayser , S. 38-39; hier zitiert nach Danieli 1968, S. 52. Wieland bezieht sich auf Jacques Callot in Unterredungen zwischen W** und dem Pfarrer zu *** (1775); besonders relevant ist der Text „Ein Gemählde im Geschmacke des Calot“, zweites Kapitel des zweiten Buches aus dem cervantesken Roman Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva (1764); E.T.A Hoffmann, der von Wielands Erzählung „Ein Gemählde im Geschmacke des Calot“ beeinflusst war, widmet Callot mehrere Texte, darunter die „Fantasiestücke in Callot’s Manier“. Siehe Hoffmann 1993, S. 17. 65 Vgl. Danieli 1968, S. 50.

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cke, Puppen und Masken bei Stephan von Huenes Assemblagen zu einer neuen, von der Buchstäblichkeit der materiellen Persiflage geprägten Oberfläche, die als mystischer Ort der Durchdringung von Innen- und Außenwelt fungiert. Abbildungen 64 und 65: Pasadena-Federzeichnung, ohne Titel (RAMAR), 1961 (D-1961-37), schwarze Tusche mit Feder auf Papier, teilweise laviert, auf Karton montiert, 21,7 x 27,9 cm (Hamburger Kunsthalle, Hamburg); PasadenaFederzeichnung, ohne Titel (FETESK), 1961 (D 1961-52), schwarze Tusche mit Feder auf Papier, teilweise laviert, auf Karton montiert, 21,9 x 28 cm (Hamburger Kunsthalle, Hamburg)

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Die allgemeine Vorstellung einer „esoterischen Oberfläche“ ließe sich aber auch auf die ersten Federzeichnungen zurückführen, die teilweise laviert wurden und oft geschwärzte Bereiche enthielten (Abb. 64-67), welche den Widerspruch von abgedunkeltem Malgrund und Permeabilität auch zum Ausdruck bringen. Diese alchemistische Vorstellung der Kunstschöpfung hat den Künstler offensichtlich lange beschäftigt: Laut Bredekamp erweiterte Stephan von Huene die Oberfläche der Zeichnungen auf seine ersten Skulpturen. Die Hautmetaphorik der Rußzeichnungen wird in der Hautmetaphorik der Skulpturen aus Brot, Leder und Holz fortgesetzt: „Das Holz habe ich als Knochen und das Leder als Haut angesehen“ sagt auch Stephan von Huene in einem Interview mit dem Japanischen Magazin MIZUE.66 Stephan von Huene setzt seine eigenen Ausführungen zum Thema in Verbindung mit ähnlichen formalen Experimenten des Abstrakten Expressionismus, die Barnett Newmans Farbexperimente am besten zum Ausdruck bringen.

66 MIZUE 1973; hier zitiert nach Split Tongue, S. 50.

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Bredekamp67 macht auf die Kongruenz des Vergleichs aufmerksam, aber Bredekamp geht auf die Funktionsweise des formalen Problems der Oberfläche in den ersten Skulpturen nicht weiter ein. Es könnte sich daher lohnen, Stephan von Huenes Ausführungen in diese Richtung fortzusetzen. Abbildungen 66 und 67: Pasadena-Federzeichnung, ohne Titel (TESPERNEKLS), 1961 (D 1961-20), schwarze Tusche mit Feder auf Papier, teilweise laviert, auf Karton montiert, 21,9 x 28 cm (Hamburger Kunsthalle, Hamburg); Pasadena-Federzeichnung, ohne Titel (TESSK), 1961 (D 1961-21), schwarze Tusche mit Feder auf Papier, teilweise laviert, auf Karton montiert, 21,8 x 28 cm (Hamburger Kunsthalle, Hamburg)

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Barnett Newman definierte die Oberfläche als „der Ort, für den es kein Wort gibt“,68 also auch ein mystischer Ort des Austausches zwischen Figur und Grund, den man nicht definieren kann. Die totemische Kraft der primitiven Skulptur und die damit einhergehende perspektivisch-impressionistische Kreativität der primitiven Kunst, von der Franz Boas sprach, standen Stephan von Huene für die gleiche formale Herausforderung zur Verfügung. Während Barnett Newman die Oberfläche mittels gleichmäßiger Farbflächen in mystische HardEdge-Malereien verwandelt, greift Stephan von Huene allem Anschein nach auf Boas’ primitives „Prinzip der Unbestimmtheit“ zurück, um eine neue Buchstäblichkeit der Hautgrenze durch Intarsie-ähnliche Gebilden à la Arcimboldo zu erforschen, die Gesichter oder Körperteile darstellen. Die Oberfläche offenbart sich in dem Prozess, wonach Holz, also Knochen, mit Leder bzw. Haut überzo-

67 Bredekamp 2002, S. 142. 68 Hier zitiert nach ebenda.

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gen wird, oder – im Fall der Serie Visitors from Bakersfield (1964) – in dem Moment, in dem das gebackene Brot mit Wachs konserviert wird. An diesen zwei Beispielen sieht man, wie der Begriff der „mystischen Oberfläche“ als „wechselwirkende Hautgrenze“ der Kunstschöpfung materiell variiert und kulturell transzendiert werden kann. Der Übergang von Wort zu Klang in den Zeichnungen zählt z.B. auch zu einer analogen Durchlässigkeit der „Hautgrenze“: Diesmal geschieht die Wechselwirkung nicht zwischen Gestalt und Malgrund oder zwischen sichtbaren und unsichtbaren, aber Form-gebenden Materialien, sondern zwischen Bedeutung und Klang als Ereignis. Eine neue „Hautgrenze“ wird transzendiert, wenn Klang und Automat unabhängig voneinander werden: Mit der Reduktion des Klangkörpers auf das Unsichtbare in den transparenten Klangskulpturen Glass Pipes (1974-76) und Drum I (1974) transzendiert der Ton die Physikalität seiner Herkunft und wird selbst zur Oberfläche – zur Welle, die sich ausbreitet.69 Nicht von ungefähr sagte der Künstler: „Ich habe das Prinzip aus der Quantenmechanik akzeptiert, dass alles von der Wellenform hergeleitet werden kann.“70 In diesem Sinne war er womöglich radikaler als John Cage, insofern die Stille, die keine ist, sichtbar wird, wenn die Klangmaschine auf ihre Figuration verzichtet: Man sieht, was man hört: „I ask myself / What is the sound / Of what I see? / What is the vision / of what I hear? / That small Pause/Interval / Between these two questions / Is a Klang sculpture / If I can draw a line precisely and only in / that very small space / Where atmosphere touches / Object my pencil remains sharp (clear) / + doesn’t scratch.“71 Der Klang wird umso konkreter und materieller, je unsichtbarer die Quelle wird. Die Trennung von Oberfläche als Ereignis und Gegenstand als Sender wird somit vollzogen: Klang ist demnach die neue Hautgrenze. Das Eingangsproblem der Oberfläche wird durch die Projektionen auf transparente Trommelfelle der Skulpturen der 1990er Jahre wiederbelebt. Dazu sagt Bredekamp: „Als Flächen, die sich zur Tonerzeugung, aber auch zur Illuminierung leuchtender Projektionen eignen, wurden die Trommelhäute [...] zu transparenten Kreisen, von denen aus sich das Werk von Huenes bis zurück zu den Hautabdrücken der Rauchbilder überhören, übersehen, ertasten und überdenken lässt.“72

69 Vgl. Bredekamp 2002. 70 MIZUE 1973; hier zitiert nach Split Tongue, S. 54. 71 Skizzenbuch S-B 6, Typoscript; hier zitiert nach Kipphoff von Huene 2013, S. 45-46. 72 Bredekamp 2002, S. 164.

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In diesem Zusammenhang wird sogar Sirenen Low (1999) von Bredekamp kurz erwähnt, wenn auch ohne großen Kommentar über die Ähnlichkeit des Vergleichs mit dem immateriellen „Licht-Segel“ der Klanginstallation. Die Lichtprojektion von alternierenden Szenen der Elbe und Sirenen-Darstellungen knüpft an die Praxis der doppelten Trommelprojektion der Blaue Bücher (1997) an,73 die Detailausschnitte und Malereien alter Meister zeigen, während ideologisch geprägte Passagen aus populärwissenschaftlichen Kunstmonographien der 1960er Jahre vorgelesen und mit Trommelschlägen in militärischer Manier begleitet werden. Die Klang-Bild-Bespielung der Trommelfelle bringen Martin Warnkes Thesen zum Thema „Kunstgeschichte als Knechtungsakt“ auf den Punkt: Die „wechselwirkende Hautgrenze“ hat ihren intimen, hermetischen Mystizismus zurückgelassen, um dem Wunder neuer Erkenntnisse beizutragen, sozusagen ohne Platons Höhle zu verlassen. Sirenen Low (1999) ist in diesem Sinne auch die letzte große Variation der „wechselwirkenden Hautgrenze“. In der Form einer Wandprojektion wird der Blick auf die Vergangenheit als neues kritisches Hören trainiert, das Warnungs- und Verlockungsklangsignale relativiert. Aus der Wechselwirkung zwischen Klang- und Licht-Oberflächen mit den Sinnesorganen des Museumsbesuchers entsteht ein mehrwertiges ontologisches System. Das Wunder der Kunst verlässt die Leinwand. Qualitäten der Hautgrenze: Störend referentiell Kehren wir aber nun zu den Smoke Drawings (1964) und den Assemblagen zurück. Aus jener Zeit sind laut Danieli zwei Graphik-Serien hervorzuheben, in denen „exzentrische Materialien und Methoden“ zur Geltung gebracht werden. „One series of multi-marked drawings was scratched and smudged into the kerosene latern fumage of treated papers; another was collaged into graphic formations from marbleized papers made by the artist after researching old formulas.“74

Das sind einerseits die Smoke Drawings und andererseits eine offensichtlich nicht mehr bekannte Bilderserie, wenn auch die Beschreibung an die marmorierten Farbflächen einiger Assemblagen erinnert – „marbleized papers“ sind z.B. in der Arbeit Karooooo (1963, Abb. 74) zu erkennen. Die Schnelligkeit der expressionistischen Handhabung weicht den neuen esoterischen Techniken aus: „His

73 Zu Blaue Bücher (1997) vgl. Hadjinicolaou 2014, S. 63-73. 74 Danieli 1968, S. 52.

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involvement in elaborate and obscure crafts, and a Surrealist’s obsession with provoked materials and surfaces is set.“75 Es überwiegen braune und schwarze Töne, die den Weg zur Skulptur schon ankündigen, sei es als Basreliefs oder als Free-standing-Skulpturen. Es ist in diesen Jahren, dass der Übergang vom Assemblage zur Skulptur vollzogen wird: Skulpturen aus Brot, angebranntem Holz und Leder brechen mit der letzten Illusionsbarriere der auf Leinwand und Holzrahmen montierten Assemblagen: „He decided at this point to favor, making the thing rather than an imagining.“76 Eine neue Eigenschaft, die sich aus der Behandlung der SkulpturOberfläche ergibt, ist die buchstäbliche Zweideutigkeit des Objekts, das einerseits eindeutig organisch wirkt, andererseits als abstrakte Entität störend ungenießbar wirkt: „The bread sculptures were made of home-baked goods; shellacked, lacquered, or resined. No longer edibles, they are solid formations of processed organic substances – cooked, browned, aged, and patinaed. Displayed on platters, with added elements such as leather straps, laces, and buckles curiously juxtaposed, the breads are complete abstract entities, but disturbingly referential.“77

Die Materialbearbeitung zeugt von einer „alchemistischen“ Gestaltungspraxis, wonach Knochen-, Fleisch- und Haut-Surrogate paradoxe Signale aussenden: Das lackierte Brot kann keine Metapher des Lebens in gewöhntem idealen Sinne sein, dafür ähneln die grotesken amorphen Figuren zu sehr dem chaotischen Wachstum einer bösartigen Geschwulst. Die gewöhnte Verbindung zwischen Brot und Leben wird gestört, ungeachtet dessen, dass die mit Schnallen, Lederriemen und selbstgebastelten Korsetten beengten Brot- und Holz-Figuren eine durchaus spürbare Energie in sich gefangen halten. Die Skulpturen werden nicht zuletzt auch „beunruhigend referentiell“, weil sie eine lähmende, aber produktive Bildfunktion in Gang setzen, insofern der Betrachter keinerlei Bildkontrolle mehr hat und sich die wildesten Gedanken und Projektionen ergeben können.

75 Ebenda. 76 Ebenda. 77 Ebenda.

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Abbildungen 68 und 69: Persistent yet Unsuccessful Swordsman (Hartnäckiger, aber erfolgloser Fechter), 1965 (S 1965-1), Leder, Holz, Nieten, Nägel, Band, auf Holzunterkonstruktion, 70,5 x 19,7 x 16,5 cm (Whitney Museum of American Art, New York, Schenkung der Howard and Jean Lipman Foundation); Nancy Grossman: Head, 1968. Epoxidharz, Leder und Holz, 72,4 x 16,5 x 21,6 cm (Whitney Museum of American Art, New York, Schenkung der Howard and Jean Lipman Foundation)

Quellen: Nachlass Stephan von Huene; Whitney Museum of American Art

Dieses pathologische Interpretationsverhalten des Betrachters angesichts der Verdichtung der Oberfläche zu einer mystischen Einheit aus Index, Ikon und Symbol (nach Pierce) ist mindestens einmal dokumentarisch belegt. In einem Artikel des New York Magazine vom 17. Juni 1968 (S. 14) über die Ausstellung „Acquisitions 1967-68“ des Whitney Museums wird von Huenes Persistent Yet Unsuccessful Swordsman (1965, Abb. 68) wie eine „sado-masochistically oriented construction of leather and wood that just reeks with sinister overtones“ beschrieben. Hier wird nicht nur auf die allgemein angenommene Idee hingewiesen, die ersten Skulpturen von Stephan von Huene hätten etwas mit „Fetisch“ zu tun: Es wird auch auf eine weitere Sinneswahrnehmung aufmerksam gemacht. Die Materialien der Skulptur „stinken“ mit unheimlichen Obertönen. Der Geruch der Materie wird zum bösen Klang. Eine ähnliche Lektüre hinsichtlich des Sexuell-Fetischen liefern Patricia Hills und Roberta K. Tarbell in ihrem Buch The Fi-

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gurative Tradition and the Whitney Museum of American Art. Paintings and Sculptures from the Permanent Collection (1980, S. 166-67). In dem Kapitel „Sculpture, 1941-1980“ wird die frühe Arbeit von Stephan von Huene Persistent Yet Unsuccessful Swordsman (1965) von Roberta K. Tarbell folgendermaßen kommentiert: „[It] is an anatomical fragment (ostensibly a hand) and a doubleentendre.“ Die Kunstbeschreibung wird ikonographisch und feministisch viel konkreter: „The two-fingered hand can be analogized to two upraised female legs and the thumb to an out-of-scale penis. The lack of success of the man, suggested by the title, can be attributed to either the fixed yet distant position of the functioning parts or to the tightly laced corset encasing the arm (torso). […] Hermaphroditic Horseback Rider also has sexual connotations.“78

Die Skulptur wird außerdem in Verbindung mit Nancy Grossmans Head (1968, Abb. 69) gebracht, einem mit Nägeln beschlagenen und mit Leder überzogenen Holzkopf, der einen klaren Bondage-Charakter aufweist. Die gewagte sexuelle Interpretation, die Roberta K. Tarbell im Katalog der permanenten Sammlung des Whitney Museum über Persistent Yet Unsuccessful Swordman (1965) macht, kann als konsequentes Ergebnis einer „referentiellen Störung“ verstanden werden. Tarbell schreibt hier unter dem kontextuellen Einfluss anderer Arbeiten amerikanischer Bildhauer der 1960er Jahren wie Wesselmann, Arneson und Conner, bei denen die rhetorische Figur des pars pro toto als Abstraktionsmethode im Allgemeinen zum Einsatz kommt. „The use of the partial figure is a form of abstraction – by decreasing the identity of the subject and removing gesture, fragments of the anatomy (the pars pro toto) are less representational and more abstract. Baizerman’s torso, Von Huene’s hands, Wesselmann’s foot, and Arneson’s and Conner’s heads are examples of such fragments.“79

78 Hills/Tarbell, 1980, S. 167. Im Text von Roberta K. Tarbell wird – neben dem Verweis auf die sexuelle Thematik – der figurative Teil der Klangskulpturen stark hervorgehoben: „Von Huene had a strong interest in sculpture as musical mashine (e.g. Pneumatic Music-Machine, also called Kaleidoscopic [sic!] Dog) as well as to figurative allusions.“ Siehe auch Tuchman 1967, S. 211-212, 255. 79 Ebenda, S. 154.

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Abbildung 70: Pasadena-Federzeichnung, ohne Titel, 1961 (D 1961-7), 21,6 x 28 cm. Im rechten Bereich des Bildes ist eine Samurai-ähnliche Figur mit einem Schwert in der Hand zu sehen

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Hätte Tarbell Persistent Yet Unsuccessful Swordman (1965) aus der Perspektive der Oberfläche und der Materialbearbeitung kommentiert, wäre die sonst durchaus berechtigte Figur des pars pro toto für die „Transformation“ des Daumen dieser Skulptur in ein „out-of-scale penis“ nicht ausreichend gewesen. Im Fall von Persistent Yet Unsuccesfull Swordsman (1965) werden zwei Details übersehen: Der „tightly laced corset encasing the arm“ entspricht dem üblichen Armschutz, den asiatische Schwertkämpfer und Wuxia-Meister auch tragen – in einigen der Pasadena-Zeichnungen sind interessanterweise Samurai-ähnliche Figuren zu erkennen (z.B. Abb. 70). Die Ähnlichkeit der Hand mit der Tai-ChiFigur für Schwert ist nicht zu leugnen.80 Dennoch: Dass hier zwei Finger fehlen, jedoch keinerlei Wunde zu sehen ist, ist nicht weniger irritierend als der Vitolaähnliche Ring am mittleren Finger, der an eine andere unglückliche entstellte Fi-

80 Stephan von Huene praktizierte Tai-Chi seit seiner Jugend in Kalifornien.

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gur aus den ersten Skulpturen von Stephan von Huene erinnert, nämlich an den Unfortunate Aviator (1966, Abb. 106): Neben der Maske des gestürzten Fliegers steht eine kleine kopflose Figur, die eine Zigarre mit Vitola in ihren fingerlosen Händen hält. Zigarrenartige Wesen kriechen auf dem Sockel von Hermaphroditic Horseback Rider oder ragen aus einem Indio-Fuß heraus, als wären sie das Resultat einer natürlichen Hypertrophie ... Die Vorstellung eines „double-entendre“ wäre auch präsent in der Verbindung dieser Skulptur zur primitiven Kunst, so wie Stephan von Huene dieses Verhältnis in seinem Werk verstand, und zwar nicht auf einer formalen Ebene, wie die ersten Avantgardisten dies praktizierten, sondern in einer inhaltlichen Dimension, die eine innere Logik im Objekt sucht. Wenn wir uns nur nach formalen Aspekten richten würden, käme ein Antilopen-Kopfschmuck dem Persistent Yet Unsuccessful Swordsman (1965) am nächsten. Warum gelingt die eindeutige Interpretation nicht? Die Antwort liegt wahrscheinlich in der fragmentarischen Symbolik der primitiven Kunst, aus der sich Stephan von Huene bedient, um störend referentielle Signale zu entsenden, die den Geist wachhalten sollen. Qualitäten der Hautgrenze: Sympathetische Materialien In Anlehnung an die „finish“-Kultur von der Westküste beschreibt Danieli die Arbeitsweise an den ersten Skulpturen in den Jahren 1965-68, wonach jede Holzsektion mit „heavy tooled sheep leather“ überzogen wird, wie eine Art „leather finish“.81 Allerdings erteilte der Künstler rückblickend eine Absage an den damaligen entstehenden Künstlerhabitus sowohl an der West- wie an der Ostküste, da er die Materialien des Pop- und Funk-Arts wie Plastik oder Metall, nicht sympathetisch genug empfand. Dennoch wirkt seine Materialbearbeitung, mit Danieli gesprochen, „highly artificial“. Hinzu kommt, dass der Künstler, wie Danieli erläutert, keine konkrete Pläne für eine maschinelle Produktion seiner

81 Siehe die vollständige Beschreibung von Danieli: „a sculpture is worked out directly, assembled from segments of shaped wood. Each section (and many are in progress at any one time) is covered with heavy tooled sheep leather which is wet, shaped, then glued (and sometimes nailed) to the surface, dyed, and finally positioned in the puzzle-piece construction. Certain parts may be sewn, braced with an armature, and stuffed. The use of straps and metal accessoires as buckles and eylets both for decoration and implied functionalism has led some observers to incorrectly suppose that he begins with actual leather goods. Instead he laboriously creates his own objects from raw materials.“ (Danieli 1968, S. 52)

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Kunstwerke entwarf: Als Handwerker, der von der primitiven Kunst inspiriert war, improvisierte er und suchte die beste Form in den Materialien und Arbeitsprozessen. Entsprechend arbeitete er mit „idea sketches but no detailed plans“.82 Warum waren aber bestimmte Materialien und Techniken für den Künstler „sympathetisch“ und andere nicht? Inwiefern sollte das Material überhaupt Teil des ästhetischen Wahrnehmungsprozesses werden? Möglicherweise waren der Wunsch, „organic subjects“ zu realisieren, sowie die Idee der taxidermischen Behandlung von Kunst und Kultur – „a leather hide providing a preserved surface skin, as in taxidermy“83 – und insbesondere das programmierte Altern der Materialien Gründe und Kriterien für die Materialwahl. Die Entropie am Beispiel des alternden Leders wäre z.B. das natürliche Äquivalent zu der alchemistischen Stigmatisierung der Rauchzeichnungen. Leder ist buchstäblich Haut, die ohne Pflege und Hydratation austrocknen kann, wie ein Fotovergleich von Marriage of the Cigar Store Indian’s Daughter (1966) in den 1960er Jahren und der Gegenwart beweist (Abb. 71 und Abb. 98). Die Herkunft und Assoziationen der verwendeten Materialien knüpfen auch an romantische Vorstellungen an: Hinsichtlich der ersten Motive macht Danieli auf die nostalgisch-romantische Signifikanz auf Grund der direkten Verbindung mit den regionalen Merkmalen, die den Künstler auszeichnen, aufmerksam: „Accentuating his regionalism he points out the western utilitarianism of saddles and other frontier leather items (buffer zones between man and animal), and the strength of character of combinations of these materials in certain pre-World War I forniture“.84

Aber hier ist Regionalismus nicht als provinzielle Motiv-Sammlung, sondern als Bestätigung des strukturellen primitiven Transfers zu verstehen: Der Kontakt zum magischen Umfeld des Realen, zur „rohe[n] Maskulinität, aber auch [zu[ eine[m] preziösen, femininen Hang zum Luxus“85 bedingt eine paradoxe Enthemmung, welche in priapistischer, sexueller Übermut als feminine, kultivierte „sophistication“ zum Vorschein kommt.

82 Ebenda. 83 Ebenda. 84 Ebenda. 85 Ebenda; hier zitiert nach Müller 1987, S. 6.

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Abbildung 71: Marriage of the Cigar Indian’s Daughter (Heirat der Tochter des Zigarrenladen-Indianers), 1966 (S 1966-4), Leder auf Holzkonstruktion, Hochzeitsschuhe auf Holzsockel montiert, mit Leder, Nieten und Band, 76 x 43 x 43 cm (Sammlung Milton Sidley, Santa Monica, Kalifornien, vormals Sammlung Robert Benedetti). Fotografiert im Jahr 2002 während der RetrospektiveAusstellung in Hamburg

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Der ihm unterstellte Fetischismus wird somit zu ironischer Brechung: Der religiösen Hypostase und dem Befriedigungsdrang wird die „fragmentarische Dimension des Fetischs“86 entgegengesetzt. Das Kunstwerk wird erst wirkmächtig im Detailbereich: „Der Fetisch wird von anderen nicht in seiner Bedeutung erkannt, darum auch nicht verweigert“ – sagt auch Freud.87 Stephan von Huene sah die Lederskulpturen, die er zwischen 1964 bis 1966 anfertigte, als Erweiterung der Bilder und Zeichnungen, die er davor gemacht hatte. Die technische Entstehung der Rauchzeichnungen als ironischmehrdeutigen Versuch „auf Wasser zu malen“ oder der Einsatz von stark haftender Vinylfarben für die Verbindung von Kleidungsstücken und Grundierung haben viel mit der Idee der wechselwirkenden Hautgrenze zu tun. Bredekamp

86 Ebenda. 87 Sigmund Freud (1982): Studienausgabe. Bd. III, Frankfurt am Main, S. 385. Hier zitiert nach Müller 1987, S. 6.

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macht zu Recht aus dem Begriff der Oberfläche eine wichtige Konstante in von Huenes Werk. Dennoch ist die Oberfläche auch ein Ort der Täuschung und der Illusion, ein Ort der Ubiquität, um konträre kognitive Prozesse abzubilden, um die instabile Konstruktion der Wahrheit zu erleben oder erlebbar zu machen. Die Oberfläche wurde um den Begriff der Buchstäblichkeit immer demonstrativer ergänzt: „Ich bewegte mich von einer Welt der Illusion zu einer Art Realität und zu einer weiteren Schicht der Buchstäblichkeit“ bzw. „another overlay of literalism“.88 Die Objektwerdung der Malerei führt für Stephan von Huene in die Skulptur. Sein Interesse an Oberfläche („surface“), das in den frühen Assemblagen und in den Rauchzeichnungen zum Tragen kam, wird jetzt in einem wörtlicheren Sinne („in a more literal sense“) umgesetzt: „Das Holz habe ich als Knochen und das Leder als Haut angesehen“ („I considered the wood as bone and the leather as skin“).89 Und dennoch: Je wortwörtlicher seine Kunst wird, umso schwieriger gestaltet sich ein konkreter Kommunikationsakt, der, wie Bredekamp pointiert, den Widerspruch zwischen Namen und Benanntem aufdeckt: „Das okkult mythologische Motivreservoir zielt [...] nicht auf die Remythisierung einer gnadenlos aufgeklärten Welt. Vielmehr bietet das Wechselspiel von Zerstörung und Schöpfung immer neue Facetten der erkenntnistheoretischen Erfahrung, dass Bilder, Wörter und Töne niemals nur sie selbst sind. Sie repräsentieren Widersprüche, die sich nicht unmittelbar zu zeigen vermögen.“90

In diesem Zusammenhang bekommt Stephan von Huenes Erwähnung des „golden glow of Venetian renaissance“ als Inspiration für seine Marmorierungen und Arbeiten mit Glitzerstiften eine neue Bedeutung jenseits der funktionalen Effekthascherei der Oberfläche: Jene Gold-glühende Öl-Lasur, die Antonello da Messina von den niederländischen Meistern lernte und später über Giovanni Bellinis Werk einen großen Einfluss auf venezianische Meister wie Tizian und Tintoretto ausüben sollte,91 ist viel mehr als eine Technik: Sie bedeutet eine Zeit, eine Kunstepoche und in gewissem Sinne auch einen Glauben.

88 Vgl. MIZUE 1973, S. 72-87; hier zitiert nach Split Tongue, S. 56. 89 Ebenda. 90 Bredekamp 2002, S. 132. 91 Vgl. Vasari 2010.

HARMONIE DER PHONEME

Von Lautschriften, Klang und Phonetik

Für die ersten Klangskulpturen von Stephan von Huene – „the first four“ – notierte der Künstler Partituren auf Lochstreifen in einer Mischung von Zufallsprinzip und Intentionalität, die nicht von rein mathematischen Zufallsmethoden, sondern von spontanen und urplötzlichen praktischen Handlungsentscheidungen bestimmt waren – im Einklang mit der Zen-Philosophie, die Stephan von Huene von der Lektüre des Buches Zen flesh, Zen bones (1957) möglicherweise kannte. So erzählt der Künstler in einem Interview mit Doris von Drathen, dass er für die Komposition von Rosebud Annunciator (1967-69) Bach-Klavieretüden mit Strawinsky-Rhythmen vermischt hätte, um etwas Neues zu erschaffen. Die Reflexionen des Künstlers über die Grenzen der Sprache als Kommunikationsmittel können bis in die frühen Zeichnungen und Malereien aus den 1950er und 1960er Jahren zurückverfolgt werden. Stephan von Huene wird jedoch erst 1983 mit Phonemen arbeiten. Während des Baus der Klangskulptur Zauberflöte (1985) wird er mit Hilfe des Akustik-Professors Manfred Krause und in Anlehnung an seine Lektüre von Herrmann von Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen und Henry Lanz’ Buch The Physical Basis of Rime die harmonische Substanz der Vokale – ihre Klangfarben – herausdestillieren. Davor hatte er sich mit der vielschichtigen Struktur des Klangs in Glass Pipes (Tonhöhen), Monotone (Resonatoren) und Text Tones (Klangfarben) intensiv auseinandergesetzt. Aus den natürlichen Obertönen der Vokale werden nun mathematisch berechnete Klangfarben produziert und Pfeifen entworfen, die diese Klangfarben generieren sollen. Bis dahin hatte Stephan von Huene sich vor allem mit den Grundeigenschaften des Klangs und mit dem Verhältnis von Klangkörper, Klangfarbe und Raum auseinandergesetzt. Zu den Totem Tones (1969-70) sagte der Künstler, dass deren Klänge – entsprechend der ursprünglichen Darstellungsfunktion der Totems – an Tierstim-

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men1 erinnern: Sie haben mehr mit Sprachmustern als mit Musik zu tun.2 Die Zauberflöte (1985) soll die natürliche Melodie der menschlichen Sprache reproduzieren. Später wird der Künstler sich eines der ersten Sprachsynthesizern bedienen, um die Ursonate von Kurt Schwitters auf Obertöne-basierte „Klangharmonien“ zu reduzieren. Mit gewissem Humor sagte er, er hätte mit seiner Klangskulptur Erweiterter Schwitters (1987) das klassische dadaistische Gedicht verbessert, denn er hatte die Ursonate von der bedeutungstragenden Sprachintonation vollständig befreit. Jahre später wird er aus werkimmanenten Gründen auf eine Opernsängerin für die Artikulation des dreisilbigen Klangfarben-Gesangs von Die Neue Lore Ley II (1997) zurückgreifen. Zu dem idealen Frauenprofil der Lore Ley hätte eine synthetische Stimme kaum gepasst. Die Dissoziation zwischen mechanischer Skulptur und menschlicher Stimme wirkt jedoch verwirrend, so dass man glauben möchte, der Gesang der Lore Ley wäre auch mechanisch artikuliert. Diese harmonische Unbestimmtheit der Wahrnehmung, die durch Reduktion und Zusammenführung konträrer Welten hervorgerufen wird, tritt bereits in den ersten Zeichnungen von Stephan von Huene auf, in der kryptische Buchstabenfolgen neben grotesken Darstellungen des menschlichen Körpers erscheinen. Die aktuelle Forschung über die Auseinandersetzung mit der Phonetik bei Stephan von Huene erfolgt wenig ausdifferenziert und wird meistens nur auf konkrete Beispiele angewendet, ohne die Entstehungsprozesse und den Kontext seiner Laufbahn in die Betrachtung einzubeziehen bzw. ohne die Arbeitshefte des Künstlers, seine „Partituren“ und die Änderung seiner Programmierungsmethoden im Laufe der Jahre hinreichend zu erläutern und mit den Praxen anderer Künstler und Komponisten zu vergleichen. Neuere Versuche, wie die Verbindung der von Huene’schen phonetischen Systeme mit der Lautdichtung des Da-

1

Siehe das Interview mit Doris von Drahten in Kunstforum International, Nr. 107, 1990; hier zitiert nach Retrospektive, S. 268.

2

Siehe hierzu die kurze Beschreibung in der Ankündigung des San Francisco Museum of Art (4.11.1971) über die Ausstellung der Totem Tones (1969-70) in der Michael Walls Gallery, San Francisco: „The music of each piece varies in content. Totem Tone 1 is ponderous, TT 2 is continuous jazz sounds, TT 3 emphasizes primitive sound, TT 4 uses synchopated rhythms and is concerned with ‚beating‘, and TT 5 is ringing, shrieking and loud! The artist thinks of the sounds as being closer to speech patterns than music or melody per se.“ (Typoscript, Nachlass Stephan von Huene)

H ARMONIE DER P HONEME

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daisten Raoul Hausmann3 oder die Auseinandersetzung mit den rätselhaften erfundenen „Wörtern“ aus den frühen Zeichnungen (Oelschlägel 2010), liefern interessante Perspektiven und Ansatzpunkte, auf denen man aufbauen kann. Petra Oelschlägel interpretiert z.B. die von Stephan von Huene selbst erfundenen, meist lautmalerischen Wörter aus den ersten Zeichnungskonvoluten wie subjektive Pathos-Träger und deutet, wie andere Autoren auch, auf eine Verbindung zwischen diesen graphischen Lauten und den späteren Klangskulpturen hin. Es gibt jedoch noch keine Studie, die sich des Themas im allgemeinen Kontext seines Œuvre und insbesondere im Rahmen seiner verschiedenen Entwicklungsphasen annimmt. Ziel des vorliegenden Kapitels ist eine Kontextualisierung der bei Stephan von Huene präsenten phonetischen Systeme und insbesondere in die Arbeitsprozesse einzuführen, die zu unterschiedlichen Entwicklungsphasen im von Huene’schen Verständnis der klanglichen Sprachabstraktion geführt haben. Daraus sollen Rückschlüsse über die vom Künstler verwendeten aber nicht hinreichend erläuterten Phonetik-Systeme und insbesondere über die Entstehung der ersten hermetischen Lautschriften aus den frühen Zeichnungen gezogen werden.

3

Reinhart Meyer-Kalkus: Vortrag „Optophonetik im Werk von Stephan von Huene“ auf dem Symposium zum achzigjährigen Jubiläum des Künstlers, Berlin, 29. November 2012.

Erfundene Laute und zergliederte Rhetorik in den frühen Zeichnungen

Abbildung 72: ohne Titel (XAP/REMEMBER/FETERESP/EXOPIST/TEX), 1961 (D 1961-28), 21,9 x 28 cm, Federzeichnung, teilweise laviert

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Als Stephan von Huene am Chouinard Art Institute studierte und später auch unterrichtete, entstanden verschiedene Zeichenkonvolute: die Tuschzeichnungen und die Pasadena-Federzeichnungen aus dem Jahr 1961 sowie spätere Federzeichnungen, Rauchzeichnungen und die sogenannten Pasadena-Bleistiftzeich-

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nungen aus dem Jahr 1964. Ein Großteil davon ist entstanden, als er an den ersten Skulpturen aus Holz, Leder und Brot arbeitete und die ersten Untersuchungen für den Bau von Klangskulpturen durchführte. Sein Interesse für den Orgelbau kann bereits früher datiert werden,1 so dass eine Verbindung zwischen diesen Zeichnungen und seinem Wissen über Klang und Klangkörper durchaus gegeben ist. Bereits in den Tusch- und Federzeichnungen aus dem Jahr 1961 erscheinen Buchstabenfolgen, die keinen Sinn ergeben. Weder der Betrachter aus dem damaligen Kalifornien noch der heutige Rezipient kann diese mit Tusche gemalten und mit Feder gezeichneten Laute mit irgendeiner Erfahrung oder irgendeinen ikonographischem Einfluss in Verbindung bringen, wenn auch Autoren wie Bredekamp – die figurative Ebene betreffend – den Einfluss von Vesalius’ Anatomie-Büchern, in denen antike Statuen als Modell fungieren, und eine atmosphärische Entsprechung mit der Ikonographie der Rosenkreuzer – insbesondere mit der Chymischen Hochzeit von Valentin Andreae – identifizieren.2 Die Anknüpfung an bereits vorhandene Klang-Sinn-Assoziationen bleibt verwehrt, wenn man versucht, diese Buchstabenfolgen als Wörter aufzufassen. Um Wörter zu sein, müssten diese Buchstabenreihen einer Sprache angehören und dementsprechend bestimmten phonetischen, semantischen und syntaktischen Regeln gehorchen. Betrachtet man sie als erfundene Wörter, könnten diese im eigenen Sprachkorpus immer noch generative Regeln auslösen, selbst wenn diese unbeabsichtigt waren. Vielleicht ist es eine effiziente Methode, unvoreingenommen auf diese geheimnisvollen Zeichen zu schauen und wie ein Linguist vorzugehen, der eine antike Sprache zu entziffern versucht. Eine weitere Möglichkeit bietet der kunstgeschichtliche Kontext: Seit der DADA-Bewegung sollte uns nicht verwundern, dass manche Künstler Wort von Sinn trennen. Das erzählende Momentum der genannten Zeichnungen gibt jedoch den Buchstabenreihen eine kontextuelle Dimension, die bei der DADA-Bewegung in dieser Form nicht vorkam. Wie Allan Kaprow als erster rückblickend sagte: „[E]s war als wollten sie [von Huenes Figuren] etwas sagen, aber irgendjemand hatte etwas um ihren Mund herum getan. Diese Bilder strengten sich an zu sprechen.“3 Diese irritierende, sprachlose Narrativität und die Verbindung mit den späteren Klangskulpturen hat Kunstwissenschaftler zu interessanten Positionen geführt.

1

Die ersten Bücher über Orgelbau in seiner Bibliothek datieren aus den 1950er Jahren.

2

Bredekamp 2002, S. 132.

3

Siehe John Grayson (Hrsg.) (1975): Sound Sculpture, Vancouver: A.R.C. Publications, S. 39; hier zitiert nach Petra Kipphoff von Huene 2014, S. 44.

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Martin Warnke spricht von Buchstaben, die kurze Lautsequenzen formieren, ohne Wörter in irgendeiner Sprache zu bilden. Die Erscheinung des Wortes REMEMBER (Abb. 95) in einer der Zeichnungen als einzig erkennbares Wort wird als Zufall eingestuft. Warnke klassifiziert diese Lautfolgen in „konsonantische Schrumpfwörter“ wie EPXOT, IMR, XOPTS, FESTRNIP oder RESPKRS und in „urtümliche Buchstabenfamilien“ wie FETUSK und FETESK, FETS, FERT, FETERESP, FETRS, FETER oder FETRY. Die Verteilung der Lautsequenzen in der Zeichnung – z.B. vor dem Mund einer Figur, über dem Kopf oder auf der Brust – lässt eine inhärente Bedeutungssuche vermuten. In diesem Sinne sagt Warnke: „Es ist, als suchten die Buchstaben nach einem Sinn, als hätten sie ihre Konnotation verloren, als müsste sich ein Zusammenhang zwischen Wörtern und Dingen erst noch herstellen“.4 Warnke bringt diese Lektüre in Verbindung mit der späteren dreiteiligen Klangskulptur Lexichaos (1990), in der auch Buchstabenfolgen ohne mögliche Sinn-Assoziationen eingesetzt werden. In Verbindung mit diesem biblischen Klang-Ensemble sagt der Autor: „Er hat gelegentlich geäußert, dass es ihm um die Befreiung des Buchstabens vom Verbund des Wortes und des Worte vom Verbund des Satzes ging, um eine babylonische Dekonstruktion der Sprache.“5

Da die „Buchstabenfolgen ohne Konnotation“ einen Bezug zum Objekt bewahren, unterscheidet Warnke zwischen von Huenes’ Ansatz und den zersprengten und zerschnittenen Einzelwesen der Futuristen und Dadaisten und vermutet eine Geheimsprache, „deren Semantik eingeweihte Menschen von Grund auf neu erstellen wollen oder sollen“. Selbst wenn diese Geheimsprache sich nicht ganz entziffern lässt, bestünde der Unterschied zu früheren Sprachexperimenten der bildenden Kunst in einem „ereignishaften“ Dasein, das durch einen eindeutigen Bezug auf Körperteile und Handlungen motiviert wird. Wenn Warnke richtig liegt, bezieht Stephan von Huene hier eine beinah poststrukturalistische Position in dem Sinne, dass der Künstler durch die Verbindung von kryptischen Lautfolgen und rätselhaften Körperdarstellung eine eigene Realität, ein Kode bewusst herstellte. Späteren Klangskulpturen wie Lexichaos (1990) liegt dann eher ein dekonstruktives Verfahren zugrunde, wonach Widersprüche und Paradoxa Sinnzusammenhänge bilden.

4

Warnke 2002, S. 90.

5

Ebenda.

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Eine ähnliche Position wie Martin Warnke vertritt auch Petra Oelschlägel, wenn sie die literatische Form der visuellen Poesie ausschließt. Für Oelschlägel geht es nicht um die gleichwertige Darstellung von Text und Graphik, sondern um „figürliche Zeichnungen, in die Buchstabenfolgen und Lautfragmente eingefügt sind“.6 Sie bringt aber etwas Neues ins Spiel, als würde Oelschlägel, die Herausforderung annehmen, diese Geheimsprache zu entziffern. Sie entdeckt „lautmalerische Qualitäten“: „Die vokalgeladenen Lautfolgen von eins bis drei Silben, in denen er [Stephan von Huene] die Abfolge zu vieler Konsonanten ohne trennenden Vokal vermeidet, besitzen ihre eigenen lautmalerischen Qualitäten“.7

An manchen Stellen identifiziert sie einen „aggressiven Unterklang“, einen „Fluch“ oder eine „Beschwörung“. Statt Sprechblasen8 findet man Pfeile, die Text und Bild in Beziehung zueinander bringen. Allein die Nähe zu einem Objekt erweckt eine spontane Evozierung, wenn auch vom Hermetismus geprägt. Dennoch identifiziert Oelschlägel vor allem eine eindeutig esoterischalchemistische Atmosphäre: Spiegelverkehrt erinnern die Buchstabenfolgen an die Schrift in Hexereibüchern, in der Nähe von Knochen wirken sie wie „Inschriften auf Grabtafeln“, antikisch wirken sie auch noch... Petra Oelschlägel schlägt auch den Bogen zu den Klangskulpturen. Insbesondere im Werk Erweiterter Schwitters (1987) sieht sie eine gewisse Verbindung mit diesen Zeichnungen: Hinsichtlich dieser Arbeit zitiert Stephan von Huene den Linguisten Ray Birdwhistell im Zusammenhang mit einem Blatt des Getty Talk (D 1991-12) zum Thema Erweiterter Schwitters: Intonation und Körpersprache bilden 93 % der Kommunikation, 7 % ist, was die Sprache an sich ausmacht. Klang und Geste dienten von Huene in vielen seiner Arbeiten als Informationsquelle und Artikulationsmittel gegenüber 7 % des tatsächlichen Inhalts der Wörter. Etwas Ähnliches sieht Oelschlägel in den „lautmalerischen Qualitäten“ und Evozierungen der Buchstabenfolgen im Beziehungsgeflecht der Zeichnung. Zu der Zeit als Stephan von Huene an den Pasadena-Zeichnungen arbeitete, hatte er möglicherweise bereits Literatur von Birdwhistell in seinem Besitz. Das Buch Introduction to Kinesics. An Annotation System for Analysis of Body Moti-

6

Oelschlägel 2010, S. 79.

7

Ebenda, S. 81.

8

Eine Ausnahme wäre jedoch der Gebrauch von mindestens einer Sprechblase in den Rauchzeichnungen (Abb. 46).

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on and Gesture datiert jedenfalls in das Jahr 1952 und dürfte noch während des Studiums angeschafft worden sein. Die allgemeine These scheint plausibel, dass die an Birdwhistells Theorien angelehnte Arbeit Erweiterter Schwitters (1987) einen Vorläufer in den lautmalerischen Buchstabenfolgen und expressiven Körperteilen der ersten Zeichnungen durchaus haben kann. Petra Oelschlägel kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass in beiden Fällen sein Werk „eine Konfrontation mit dem zunächst Unverständlichen [darstellt], das sich öffnet für eine vielschichtige, die Erwartungen unterlaufende Erfahrung“.9 Diese Konfrontation zwischen Wahrnehmungserwartung und Bedeutungsverweigerung scheint in einem Großteil der Kunstwerke durch Reduktion und Umstrukturierung von Klang- und Sprachmaterial zu funktionieren: Indem er den Rezipienten mit unabhängig wirkenden oder sich selbst suchenden SinnStrukturen auseinandersetzt, wird die wahre Komplexität und Willkürlichkeit der Sprache entlarvt. Aber steckt nur Birdwhistell hinter diesem künstlerischen Verfahren? Man könnte auch über den asiatischen Einfluss und insbesondere durch die Zen-Philosophie, die als ein Stimulus für seine künstlerische Arbeit fungierte, zu ähnlichen Beobachtungen gelangen. In der Zen-Philosophie wird z.B. die Erleuchtung als ein Aufwachen aufgefasst, das man durch die Aufhebung der Dualität der Welt und der Illusion ihrer Wahrnehmung erreicht. Bredekamp10 reiht die Buchstabenfolgen in die gleiche Kategorie vom graphischen Material mit Symbolcharakter wie Sterne, Kreuze und Zahlen ein und vergibt denen die Funktion von Kontakt- und Bindemittel der zergliederten Leiber der Zeichnungen. Hier ist aber auch die Idee einer Geheimsprache sehr präsent: „Da sie an den Körper gebunden sind, vermitteln sie im Verein mit okkulten Wörtern eine jenseits der Sprache liegende Semantik.“ In Analogie zur bereits kommentierten „Mystik der Oberfläche“11 als Hautgrenze von Figur und Raum bilden die Buchstabenfolgen „Kreuzungen von Bedeutung und Klang“. Um diese Vorstellung etwas zu untermauern, werden die gleichen Wörter des Künstlers zitiert, die Warnke bereits anführte: In einer Zettelnotiz vom 15. November 199912 hat der Künstler rückblickend „von einer Emanzipation der Wörter von ihrer Bedeutung und von ihrer Befreiung in den Klang gesprochen“. Bredekamp hebt in diesem Zuge die „Leiblichkeit der Wörter und Töne“ hervor, denn die Disposition der Buchstabenfolgen lassen diese als Lautpneuma auffas-

9

Oelschlägel 2010, S. 91.

10 Bredekamp 2002, S. 142. 11 Siehe hierzu das Kapitel „Inpressivität der Körperteile“. 12 Vgl. auch Achatz von Müller (2006): „Der Künstler als Lehrer“. In: Könches/Weibel 2006, S. 31-38.

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sen: Kopf, Mund, Kehle, Gesäß, Bauchnabel und Text werden als „gesamtkörperliches Ereignis“ verstanden, in dem „nicht hörbare Gesten“ und „nicht sprachliche Töne“ gleichermaßen einbezogen werden. Auf der Grundlage dieser Argumente werden die Zeichnungen von Stephan von Huene in der Bildtradition als „leib-seelische Einheit“ verortet, die so gesehen mit Wyss’ Beschreibung der „esoterischen Kulturtechnik der Moderne“ von Blake bis Beuys im Einklang wäre.13 Bredekamp lässt aber auch die Tür für andere Interpretationen offen: „die Überwindung der Wortsprache“, die von den Futuristen propagiert wurde, wäre womöglich auch eine Tradition, an die Stephan von Huene mit seiner Geräuschkunst der besonderen Art anknüpfen würde. Gemeinsam haben Warnke, Oelschlägel und Bredekamp folgende Thesen: Die Buchstabenfolgen scheinen einer Geheimschrift anzugehören, die sich in der eigenen Verteilung auf der Zeichnung und im Kontext der Bild-SchriftBeziehungen erst mit Sinn füllen. Trotzt aller Ähnlichkeiten gibt es jedoch Unterschiede zwischen Warnke, Oelschlägel und Bredekamp. Während Warnke eine Klassifizierung in Schrumpfwörter und Buchstabenfamilien vorschlägt und Bredekamp die Buchstabenfolgen als Teil des gesamtkörperlichen Ereignisses auffasst, ergänzt Oelschlägel einerseits die vorgestellten „Laut-Kategorien“ um die Identifizierung Vokal-geladener Abfolgen mit „lautmalerischen Qualitäten“. Andererseits findet sie sogar Interpretationsraum für assoziative Beschreibungen, die sich aus Bredekamps „leibseelischen Einheiten“ von Text und Bild ebenso ergeben könnten, und zeigt somit einen Weg zur werkimmanenten Deutung dieser „Lautwörter“. Vertieft man die Begründung der wichtigsten Thesen, die Buchstabenfolgen wären werkimmanent als gesamtkörperliche Ereignisse und hermetische Schrift zu deuten, so wird die Abgrenzung zu DADA-Techniken der WortDekonstruktion umso sichtbarer. Die Techniken des DADA-Schreibens können in folgende Kategorien resümiert werden: A) Aufhebung der Ich-Barriere und Steigerung der Innovation durch das gemeinsame Schreiben;14 B) Zufall als wichtiges schöpferisches Mittel und C) Ansätze zur Mobilisierung des Unterbewussten ähnlich wie bei der späteren „ecriture automatique“ der Surrealisten. Hinzu käme noch der Gebrauch un-

13 Wyss 2013, S. 53. 14 So sagt Hugo Ball in seinem Tagebuch Die Flucht aus der Zeit: „Wenn man genau sein wollte: zwei Drittel der wunderbar klagenden Worte, denen kein Menschengemüt widerstehen mag, stammen aus uralten Zaubertexten. Die Verwendung von Sigeln von magisch erfüllten fliegenden Worten und Klangfiguren kennzeichnet unsere gemeinsame Art zu dichten.“ (Riha 2009, S. 12)

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terschiedlicher Typographien sowie Bild- und Text-Collagen. Kurt Schwitters verwies in diesem Zusammenhang auf einen vergessenen Autor aus dem 19. Jahrhundert, der in Verbindung mit den satirisch-humoristischen Zeitschriften Fliegende Blätter und Kladderadatsch steht.15 Raoul Hausmann selbst verwies auf die durcheinander geschüttelte Typographien von Kladderadatsch in Verbindung mit seinen eigenen Plakatgedichten. Diese Techniken waren Stephan von Huene nicht unbekannt: Die Text- und Bild-Collagen und der Einsatz unterschiedlicher Typographien kommen z.B. in den ZEIT-Collagen (1980) vor. Abgesehen davon sind die frühen Zeichnungen formal gesehen keine Collagen. Eine „ecriture automatique“ kann auf Grund der Wiederholung von Lautfolgen ausgeschlossen werden.16 Der Zufall mag bei der Verteilung der Motive eine Rolle gespielt haben, aber wenn ja, sicherlich unter einer großen Dosis von Intentionalität, denn die Zeichnungen erwecken nicht den Eindruck, einer verschleierten Zielbestimmung nachzueifern. Ein gemeinsames Schreiben ist hier ebenso ausgeschlossen. Sowohl Bredekamp als auch Warnke bringen dasselbe Zitat zur Sprache: „Er hat gelegentlich geäußert, dass es ihm um die Befreiung des Buchstabens vom Verbund des Wortes und des Wortes vom Verbund des Satzes ging, um eine babylonische Dekonstruktion der Sprache.“17 Diesen Satz hat Stephan von Huene im Zusammenhang von Lexichaos (1990) gesagt, was das Statement nicht automatisch für die ersten Zeichnungen gültig macht. Rückblickend klingt der Rückschluss zunächst plausibel. Aber Lexichaos folgt einem bewussten dekonstruktiven Ansatz: Stephan von Huene verteilte Buchstaben auf weißen Tafeln so, dass diese keinen Sinn ergeben. Dabei wiederholt sich keine Lautfolge, die Buchstaben werden nicht einmal zu Morphemen gruppiert. In den frühen Zeichnungen finden wir jedoch nachempfundene Morpheme und in einigen Fällen so-

15 Vgl. ebenda, S. 13. 16 Stephan von Huene erwähnt die Wörter „automatic writing“ einmal in Verbindung mit seinen Folien für das Seminar „Schablonierte Porträts der Macht“ (1999, Folie 1, Nachlass Stephan von Huene): Dort kommt der Begriff „Doodle“ (spontane Kritzelei) in Verbindung mit E.H. Gombrich und Milton Erickson vor – vermutlich hinsichtlich Gombrichs Textes „Pleasure of Boredom: Four Centuries of Doodles“ aus seinem Buch The Uses of Images (1999) und Milton Ericksons Hypnose-Theorien. In beiden Fällen kann von einem dissoziativen Zustand als Ursache des „automatischen“ Zeichnens ausgegangen werden, so dass der Schreib- oder Zeichenakt nicht ganz unbewusst abläuft. Diese Art des „daydreamings“ könnte eventuell als Stimulus gedient haben (vgl. Müller 1989, S. 2 und Retrospektive, S. 258). 17 Warnke 2002, S. 90.

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gar vorgetäuschte grammatikalische Konstruktionen, so dass es noch nicht um die Befreiung des Buchstabens vom Verbund des Wortes gehen kann, sondern es geht hier vielmehr um die Befreiung des Wort- und Satzkörpers vom allgemein akzeptierten Bedeutungsgeflecht und um die Konstruktion neuer Sinn-Strukturen mit Einbezug ebenbürtiger Körper- und Handlungsdarstellungen. Auf der Grundlage von Beobachtungen seiner Kunsttechniken in späteren Klangskulpturen könnte man über konkrete Absichten spekulieren. Neben dem kontrollierten Zufall bediente sich Stephan von Huene oft Übersetzungsstrategien – oft unter Beachtung wissenschaftlicher Fakten – zur Schöpfung neuer Werke: Es ist sogar so, dass der Zufall im Durchschnitt eine untergeordnete Rolle vom Mittel zum Zweck spielt: Die Entscheidung, Bachs Musik mit Strawinsky-Takten mit Schere und Klebeband für die Kompositionen von Rosebud Annunciator (1967-69) zu mischen, um etwas Neues zu kreieren, ist mit der Intentionalität verbunden, möglichst vielschichtige Rhythmen, Ton- und Klangvariationen zu reproduzieren.18 Bach und Strawinsky sind hierfür die richtige Wahl. Auch die Bach-Collagen, die den Totem Tones (1969-70) zugrunde liegen, zielten darauf ab, die Klangeigenschaften der selbstgebauten Pfeifen ausgiebig zu testen,19 so dass ein animistisches, tierähnliches Heulen, Brummen oder Seufzen zustande kommt; selbst die „glückliche Fügung“ aus Sirenen Low (1999), die zur zufälligen Produktion von stockendem Bildmaterial führte, lässt sich durch die bewusste Inklusion des Unerwarteten als visuelle Metapher des homerischen Hexameters deuten. In all diesen Werken leistete er vor allem eine Art

18 Hinter der Wahl von Strawinsky Rhythmen könnte eine ironische Gegenposition zu Adornos „Tadel“ in Philosophie der neuen Musik (1927) über die „undynamische“, „mechanische“ und „verräumlichte Komposition“ von Strawinsky stecken: Was Adorno als „musikalische Regression“ und Rückschritt gegenüber der bei Schönberg beobachteten und zelebrierten „totalen Materialbeherrschung“ betrachtete, wird hier zum integralen Bestandteil einer „Musikmaschine“, deren materielle Bestimmung das Korsett der Zwölftontechnik völlig ignoriert. 19 Die Wahl von Bach könnte auch mit der u.a. von Adorno thematisierten Lücke zwischen Bachs Musik und der damaligen nicht ganz ausreichenden Technologie für ihre befriedigende Ausführung in Verbindung stehen. Das „Instrument“ Rosebud Annunciator (1967-69) würde die konditionierende technische Lücke symbolisch schließen, indem die technische Klangapparatur um weitere Artefakte ergänzt wird. Siehe Adornos Zitat hinsichtlich der Technik als Konstituens der Kunst: „Wohl kann man an Bach etwa die Lücke zwischen der Struktur seiner Musik und den damals zu ihrer voll adäquaten Aufführung verfügbaren technischen Mitteln aufzeigen; für die Kritik des ästhetischen Historismus ist das relevant.“ (Adorno 1973, S. 95)

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translatio studii für neue Generationen von Kunstkennern und Betrachtern: Die Vermittlung kultureller Vorstellungen und wissenschaftlicher Theorien wirkt als Motor seiner Kunst, insofern Stephan von Huene im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft derartige „Übersetzungsarbeiten“ leistet, wie die Suche nach dem absoluten Ton (Glass Pipes [1974-76]), die Ermittlung der Melodie der Sprache (Die Zauberflöte [1985]) oder die synästhetische Abbildung von Gedankenprozessen (Die Zauberflöte [1985]). Ein automatisiertes Schreiben oder ein Erratum Musical der Buchstaben à la Duchamp ist angesichts dieser Beobachtungen sehr unwahrscheinlich. Man könnte den intellektuellen Ursprung dieser Technik anhand von Daten aus der Bibliothek, eventuellen Einflüssen am Chouinard Art Institute oder von Ausstellungen über DADA-Kunst20 und Surrealismus begründen. Die Vermutung liegt nahe, dass nicht wenige Indizien in seiner Bibliothek zu finden sind. Externe Einflüsse über Ausstellungen oder akademische Kreise wären als allgemeine Stimuli einzustufen. Aus jener Zeit sind folgende Werke in seiner Bibliothek bekannt: das bereits erwähnte Buch von Birdwhistell: Introduction to Kinesics. An Annotation System for Analysis of Body Motion and Gesture (1952); Hermann von Helmholz: On the Sensations of Tone (1954); Dayton D. Miller: The Science of Musical Sounds (1926); mehrere Werke des Musikarchäologen Curt Sachs wie The History of musical Instruments (1940) oder Rythm and Tempo – a Study in Music History (1955); Noel A. Bonavia-Hunt: The Organ Reed (1950); Oliver C. Faust: A Treatise on the Construction. Repairing and Tuning of the Organ (1949) oder Mark Wicks: Organ Building for Amateurs (Erstausgabe 1887). Gegen alle Erwartungen sind keine Bücher über Phonetik aus jener Zeit zu dokumentieren mit der Ausnahme von einem Werk Dell Hymes, wenn auch schon aus dem Jahr 1964. Von diesem Linguisten und Anthropologen besaß der Künstler das Buch Language in culture and society. A reader in linguistics and anthropology (New York/London 1964), in dem u.a. in das S-P-E-A-K-I-N-G-Modell zur Identifizierung linguistischer Komponenten und in die „ethnopoetics“ zur Aufnahme und Überlieferung oraler Traditionen und performativer Narrationen eingeführt wird. In Verbindung mit den frühen Zeichnungen sind vor allem das Buch von Birdwhistell über Kinesics sowie Texte über Psychologie und Sexualität wie Freuds Leonardo da Vinci. A Study in Psychosexuality (1947) besonders relevant. Einen besonderen Platz verdient auch Schoenbergs Schriften-Sammlung Style and Idea (1951). Die Idee der „Melodie“ bestehend ausschließlich aus

20 Siehe z.B. die Solo-Ausstellung von Kurt Schwitters in Pasadena aus dem Jahr 1962 (Pasadena Art Museum, 19. Juni bis 17. Juli 1962).

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Klangfarben dürfte hier in von Huenes Klangkunst-Verständnis schon präsent sein. Aber ebenso interessant wie die „Popularisierung“ der Klangfarbenmusik durch Schoenberg sind folgende Ausführungen des Österreichers in einem Aufsatz vom 1912, der in diesem Buch enthalten ist: „When one cuts into any part of the human body, the same thing always comes out – blood. When one hears a verse of a poem, a measure of a composition, one is in a position to comprehend the whole. Even so, a word, a glance, a gesture, the gait, even the colour of the hair, are sufficient to reveal the personality of a human being. So I had completely understood Schubert songs, together with their poems, from the music alone, and the poems of Stefan George from their sound alone, with a perfection that by analysis and synthesis could hardly have been attained, but certainly not surpassed“.21

Im Zuge eines Kommentars über Schuberts Musik zu Gedichten, deren Inhalt Schönberg unbekannt war, kommt er zu dem Schluss, dass ein Kunstwerk wie ein Organismus funktioniert, in dem jedes Teil davon seine innerste Essenz verbirgt: „It is so homogenous in its composition that in every little detail it reveals its truest, inmost essence.“22 Diese Äußerung bringt die rhetorische Figur des pars pro toto in Verbindung mit der kunsttheoretischen Formel ut pictura poesis. Schoenberg versucht Lessings Abgrenzung zwischen Dichtung und bildender Kunst mit dem Nachweis einer Synästhesie von Auge und Ohr – Schuberts Vertonung von Gedichten – zu widerlegen. Dabei macht Schoenberg auf die Ebenbürtigkeit von mühsamer Analyse und intuitiver Wahrnehmung aufmerksam. Diese Vorstellung des Kunstwerkes als Organismus, der – sogar in Teilen zerlegt – über „Gott und die Welt“ zu berichten vermag, lässt sich sowohl auf die bedeutungsbefreiten Buchstabenlaute als auch auf die zergliederte Darstellung des menschlichen Körpers bei Stephan von Huenes Zeichnungen gut extrapolieren. In jedem Körperteil steckt die Essenz der Zeichnung als Pathos und narrative Momentaufnahme der Linie. Aber es ist eigentlich Birdwhistells Kinesics das Buch, das in der Fachliteratur in Verbindung mit den ersten Zeichnungen – sogar öfters als Schönbergs Style and Idea – gebracht wird (z.B. von Oelschlägel). Was haben aber Bird-

21 Dieser Text gehört zum Aufsatz „The relationship to the Text“ aus dem Jahr 1912; zitiert nach: Schoenberg, Arnold (1975): Style and Idea: selected writings of Arnold Schönberg, London, S. 144. 22 Ebenda.

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whistells Theorien der non-verbalen Kommunikation mit den Buchstabenfolgen der frühen Zeichnungen zu tun? Tabelle 1: Buchstabenhäufigkeit bei Stephan von Huenes frühen Zeichnungen. Angaben in Prozent

Quelle: Eigene Erhebung

Laut Klaus Oschema in seinen Kommentaren zu Birdwhistell23 verlangen Köperhaltung und Bewegung einen „Einbezug der emotionalen Komponente in die Analyse“ der Kommunikation. Die Emotionalität ist eine Grundbedingung menschlichen Daseins, die kein Störfaktor im kommunikativen Fluss darstellt. Im Gegenteil: Die kulturelle Prägung der Gestik ist in alltäglichen Kommunikationsprozessen so präsent, dass Birdwhistell auf die Idee kam, eine strukturelle Analyse des körperlichen Ausdrucks als kommunikatives System durchzuführen. Als Analogie dienten Birdwhistell die Modelle der strukturalistischen Sprachwissenschaft, die auf minimale, bedeutungstragende Einheiten aufbauen, nämlich auf Phoneme. Diesem Modell folgend führte Birdwhistell die Bezeichnung „Kineme“ ein, um sich auf die kleinste Einheit der non-verbalen Kommunikation zu beziehen. Überträgt man diese Vorstellung der Kommunikation auf die Zeichensprache des frühen Stephan von Huene so wären die irritierenden Körperteile nichts anderes als „Kineme“ des Ganzen, die von ihrer ursprünglichen Funktion zugunsten einer Vorführung der Kommunikationswillkürlichkeit entwurzelt wurden. Aus der Neukonfiguration dieser Körper-Kineme entstünde eine völlig neue Narrativität. Die Buchstabenfolgen hätten somit eine untergeordnete Aufklärungsfunktion etwa wie in der antiken Keramikkunst, um die einzelnen my-

23 Vgl. Oschema 2006, S. 69.

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thologischen Figuren und deren Beziehung zueinander zu identifizieren. Diese Inschriften – z.B. altgriechische Namen – haben jedoch nur vollen Sinn für Menschen, die des Griechischen mächtig sind und sehr gute Mythologie-Kenntnisse haben. Und selbst in diesem Fall kann man nicht davon ausgehen, dass diese Repräsentationen die gleiche Bedeutung für Menschen aus verschiedenen Regionen und Epochen vermitteln. Was sich dabei nicht groß ändert, ist die innere Narrativität der Figuren, die den Großteil des Kommunikationsgehalts transportieren. Vielleicht ist diese Feststellung, dass Wörter im Vergleich zu Gesten recht wenig Bedeutung tragen, was Stephan von Huene als Sohn von deutschen Emigranten dazu führte, ein reduktionistisches, konsonantenreiches Sprachsystem zu konstruieren, das erst in Verbindung mit den „Kinemen“ der Körpersprache einen Sinn ergibt. Nehmen wir nun die Hypothese einer Geheimsprache für Eingeweihte an. Demnach sollte man eine Untersuchung auf der Grundlage der Quantifizierung des Materials und der möglichen kontextuellen Semantik im Bildkomplex durchführen (Tabelle 1). Die Mehrheit der Buchstabenfolgen steht bildlich in Verbindung mit dem Mund oder dem Kopf von Menschen und Tieren. Ein Großteil der „Wörter“ fängt mit F, K oder X an. Das am meisten wiederholte Wort ist FARAN sowie die Wortwurzel FAR- und die Anfangssilbe KA-. Das Wort KAFAK kommt sowohl in Verbindung mit dem Kopf als auch mit der Brust, dem Gesäß oder dem Fuß vor. Der häufigste Buchstabe in Verbindung mit dem Auge ist „X“ und ausnahmsweise „R“. Längere Texte werden in Annotationen artikuliert. In diesem Fall sind einige Wörter als Pronomen (EO), Verben (REMEMBER, SAYS), Superlative (RESPENTISIMUS) oder Präpositionen (EN, OK, KA) vom Linguisten zu erkennen, wenn auch der Textkorpus24 zu klein ist, um diese morphologischen Identitäten zu untermauern: Die vermutete Präposition „EN“ erscheint z.B. nur in drei unterschiedlichen „Sätzen“, die anderen „Morpheme“ kommen nur einmal vor. Der am häufigsten vorkommende Vokal ist „E“, so könnte man – wie der Detektiv Poe-Legrand in der Erzählung The Gold-Bug (1843) – die englische oder die deutsche Sprache als Grundlage vermuten. Die Buchstaben „D“, „G“ und „W“ erscheinen praktisch nur einmal. Es ist offensichtlich, dass von Huene die „harten“ dental- und gutturalokklusiven Laute /t/ und /k/, wofür die graphische Darstellung „T“ und „K“ allem Anschein nach stehen,25 den etwas „weicheren“ stimmhaften Lauten /d/ und /g/, bzw. den Buchstaben „D“ und „G“ vorzieht. Dies ist im Einklang mit der Interpretation, dass die Lautfolgen von der deutschen Phonetik auch geprägt sind.

24 Vgl. Oelschlägel 2010, S. 78. 25 Buchstaben entsprechend nicht zwingend der graphischen Darstellung der Laute.

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Schließlich, „Q“, „G“ und „Z“ sind überhaupt nicht vorhanden, ähnlich wie in der Ursonate von Kurt Schwitters mit der Ausnahme von Z. Der Laut /z/ wird in von Huenes frühen Zeichnungen in seinen Formanten „TS“ bzw. /tz/ aufgelöst,26 „Q“ ist bereits als „K“ vorhanden und der stimmhafte „G“ weicht dem stimmlosen okklusiv-gutturalen Laut des „K“. Diese Konzentration auf stimmlose Konsonanten und der Verzicht auf „Allophonen“ wie „Z“ sind Indizien für den Gebrauch von „Urlauten“ im Sinne von Kurt Schwitters. Angesichts dieser Beobachtungen scheint die These, man stehe vor einer Geheimschrift mit englisch-deutschem Einfluss, durchaus berechtigt zu sein, aber die Entzifferung von Morphologie und Syntax wäre auf Grund der knappen Texte27 nahezu unmöglich. Aus diesem Grund scheint es sinnvoll, einen Blick auf linguistisches Material mit vergleichbaren phonetischen Eigenschaften zu richten, das jedoch keine eigenständige Sprache bildet, sondern dialektale oder Jargon-ähnliche Merkmale aufweist, und daher nicht von jedem Menschen gleich verstanden wird. Ein relevanter Teil der Buchstabenfolgen sind z.B. im Englischen als urbane Akronyme und Slang-Ausdrücke möglich, wie die Wörter KEFT (to pass gas), FARAN (smart and creative guy), FEART (finger heart oder to be scared), KEPS (infamous lazer), FAK (fuck), KAROO (extremely drunk: karooned), FANKLE, FARN (Frust-Ausdruck), WRA (sexualy Willing, Ready and Able), KAFA (Kick-Ass Fucking Awesome), IMR (I Mean Really), RESPEK (respect), FERT (small fart), X-ON (große Ejakulierung), NOX (awesome), FAS (Flat Ass Syndrome), SMY (The singular form of a smize, in which only one eye is smiling), E.P. (Emergency Poop), TEES (sweetest person ever), EMOOO (emotional cow), FARNE (the art of showing off skills), FARKAN (aus dem Türkischen Namen Tarkan für attraktiven Mann und F minus: F minus + Tarkan = Farkan), ARKELL (cute boy) etc.28 Bei einigen Wörtern muss man nur noch ein „K“ am Ende weglassen, und schon hat man wieder Korrespondenzen mit SlangBegriffen, so z.B. bei KAFA(K) oder FETUS(K). Diese Korrespondenzen der Buchstabenfolgen mit Slang-Ausdrücken erinnern an die sexuelle Konnotation des Wortes „Bud“ in Rosebud Annunciator (1967-69), auf die sich Wilson bezieht,29 und an den kreativen Prozess, wodurch

26 Der Laut „X“ wird auch oft in den Formanten „KS“ aufgelöst, wenn auch nicht immer. Seine überdurchschnittliche Erscheinung ist jedoch mit einer klaren kompositorischen Funktion in der Zeichnung zu identifizieren. 27 Vgl. Oelschlägel 2010, S. 78. 28 Siehe http://www.urbandictionary.com (27.4.2015). 29 Wilson 2002.

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aus Low-Kultur High-Kultur wird, was im Werk von Huenes immer wieder präsent ist. Wir hätten somit ein frühes Beispiel für eine der häufigsten künstlerischen „Übersetzungsmethoden“ des Künstlers basierend auf der Spannung zwischen wissenschaftlicher Recherche (in diesem Fall etwa in Verbindung mit den „ethnopoetics“ von Hymes) und Erkenntnis-basierten Kreativität. Einige der hier vorgestellten Slang-Wörter sind jedoch möglicherweise nach den 1960er Jahren zustande gekommen. Es gibt auch keinen dokumentarischen Hinweis darüber, ob der Künstler im „street slang“ Kaliforniens ein Experimentierfeld für die eigenen Buchstabenkompositionen sah, so verlockend die Idee auch scheinen mag. Die Interpretationen der Funktion und Bedeutung der „Pasadena-Laute“ setzt weitere Analysen voraus: Spätere Arbeiten können dazu beitragen, die Plausibilität der Hypothese der Sprachaneignung mittels „Übersetzungsmethoden“ zu prüfen.

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UND

Z EICHEN

Eine weitere Spur, nämlich der undefinierbare Symbolcharakter des X-Zeichens in der Form eines Andreaskreuzes, führt uns in die West-Coast-Szene. Zu der Zeit, als Stephan von Huene seine ersten professionellen Arbeiten produzierte, waren die Künstler Südkaliforniens bemüht, aus dem abstrakten Expressionismus einen Ausweg zu finden. Noch vor dem Aufstieg von Pop Art und Minimal Art prägten West-Künstler wie Al Bengston und Ed Ruscha neue Schöpfungstendenzen, die als „finish“ und „dead pan“ bekannt wurden. Finish bezog sich auf die Bearbeitung der Materialien: glatt polierte und glänzende Oberflächen. Der Ausdruck wurde von dem Direktor des Walker Art Center in Minneapolis, Martin Friedman, geprägt: Finish und flüchtige optische Effekte durch den raffinierten Gebrauch von industriellen Methoden und neuen Materialien wie Plastik und Glas waren an der Tagesordnung. Die perfekte Herstellung eines Endzustands von den peinlich „ausgewogenen Flächen der Siebdrucke und Zeichnungen Ruschas“ bis zur „Farbbehandlung der Tonplastiken von Price oder den lackierten Fiberglas-Brettern von Jon McCracken oder der Spritztechnik Bengstons“.30 Diese Finish-Technik war ein Mittel, wie Heißenbüttel auch sagt, mit dem etwas erreicht werden soll, was über den Fokus auf die Materialbearbeitung und das Objekt hinausgeht: Diese Künstler reagierten auf den dominierenden abstrakten Expressionismus, indem sie dem Objekt durch ein perfektes Zusammenspiel von Farbe, Spiegelung und plastischer Behandlung der Flächen

30 Heißenbüttel 1972, S. 6-11.

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eine neue nicht-expressive Dimension verliehen. In die gleiche Kategorie ist der Begriff „dead pan“ einzuordnen. Mit diesem Schlagwort war die Objektivierung des Bildes gemeint, eine lakonische Verbildlichung der Repräsentation und ihrer Techniken: „von der Machart her wie auch von dem, was das Bild abbildhaft oder dekorativ zeigt“.31 So reicht es damit, ein Bild einer Tankstelle von Edward Hopper mit einer Malerei einer der Standard-Tankstellen von Ed Ruscha zu vergleichen, um zu verstehen, was mit „dead-pan“ gemeint war. Diesem KunstMilieu der „Entemotionalisierung“ und der frischgemachten, neugeborenen „Jetzt-Kunst“ mit herausragenden Figuren wie Billy Al Bengston, Ed Ruscha oder Ken Price standen die obszönen und subversiven Figurationen der funk art in der Bay Area wie die von Robert Arneson entgegen, die echte Assoziationen durchaus zuließen. Abbildungen 73 und 74: Al Bengston: ohne Titel, 1969, 122 x 122 cm; ohne Titel (KAROOOOO/X), 1963 (A 1963-1), Acryl auf Leinwand, Assemblage (mit Kleid), 183 x 122 cm (Norton Simon Museum of Art, Pasadena Kalifornien)

Quellen: Kunstverein in Hamburg; Nachlass Stephan von Huene

Wenn man Stephan von Huene in der West-Coast-Szene einordnen müsste, dann würde man ihn irgendwo zwischen diese Positionen situieren. Dennoch: In Verbindung mit von Huenes Lautfolgen und Schrift-Symbolen sind z.B. die Arbei-

31 Ebenda, S. 9.

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ten von Al Bengston nicht uninteressant. Al Bengston verwendete ein wiedererkennbares Symbol in der Tradition von Magrittes „trahison des images“: ein Chevron-Motiv mit mehreren variierenden Bandstreifen (Abb. 73). Bengstons re-kontextualisierte Insignia mögen eine gewisse konzeptuelle Ähnlichkeit mit von Huenes Andreaskreuzen haben (z. B. Abb. 74), ohne das hier von direktem Einfluss die Rede sein kann. Aber abgesehen davon wird in der Westküste kaum Gebrauch von Sprachzeichen gemacht. Die Vorbilder und Einflüsse für von Huenes Schriftzüge scheinen vielmehr in den antikisierenden Zeichnungen von George Braque zur Theogonie oder direkt in der griechischen Vasen-Sammlung des Getty Museums als in der West-Coast-Szene zu finden zu sein. Wie dem auch sei, die eventuellen Einflüsse der Ostküste stehen nicht im Widerspruch zu der vorgeschlagenen Erkenntnis-geleiteten, wissenschaftlichkünstlerischen Übersetzungsmethode zur Erschaffung eines kryptischen Kommunikationssystems. Bei späteren Arbeiten, in denen phonetische Systeme wieder vorkommen, wie Die Zauberflöte (1985), lässt sich der Entstehungsprozess anhand der Arbeitshefte des Künstlers im Detail rekonstruieren: Stephan von Huene machte buchstäblich eine Übersetzung des Textes von Schikaneder für Die Zauberflöte (1985) von Mozart, indem er, auf der Grundlage von Henry Lanz’ Theorien zur melodischen Substanz der Sprache, nur die Obertöne der Vokale und den sprachlichen Rhythmus berücksichtigte. Für diese Kreation war ein wissenschaftliches Verfahren notwendig, wodurch die sprachliche Melodie des Librettos herausdestilliert wurde. Diese wissenschaftlich gestützte Schöpfungsmethode würde die Idee unterstützen, die Pasadena-Laute könnten sehr wohl das Ergebnis einer Kunsttechnik sein, welche das verbale „Pathos“ des Slangs Südkaliforniens zum Objekt und Eingangsmaterial macht. Zur Plausibilität dieser Hypothese kann die Biographie des Künstlers etwas beitragen: Für ein Kind von emigrierten Eltern, die zu Hause kein englisch sprachen, war es schwierig, alltägliche Wörter, darunter auch Schimpfwörter als Begriffe mit klaren Bedeutungen, zu erfassen. Die „Sprache“ der kalifornischen Zeichnungen wäre demnach eine künstliche, an deutsches phonetisches Material und an Sprachfragmente amerikanischer Umgangssprache angelehnte phonetische Konstruktion, aus der – bedingt durch die doppelte kulturelle Herkunft des Künstlers – nicht immer eine eindeutige Definition hervorgeht. Ein Einfluss des Dadaismus ist hier zwar nicht zu leugnen, aber nichtsdestoweniger sind akademische Einflüsse und Stimuli – wie Kurt Schwitters Collagen, Schoenbergs Klangfarbentheorie und Dell Hymes „ethnopoetics“ – durchaus mit dem künstlerischen Experiment zur Erfindung neuer Ausdrucksmöglichkeiten kompatibel. Angesichts dessen, dass Stephan von Huene sehr ge-

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nau und wissenschaftlich zu arbeiten pflegte und seine Kunstwerke meistens eine Intentionalität aufweisen, liegt die Vermutung nahe, dass diese scheinbar unverständlichen Laute das Ergebnis einer „Übersetzungsleistung“ waren – vergleichbar mit späteren Schöpfungsprozessen und künstlerischen Experimenten.

Klang der Materie: die grundlegenden Töne von Totem Tones, Monotone und Glass Pipes

Nicht alle Arbeiten von Stephan von Huene haben einen direkten Bezug zur Phonetik und den Klangeigenschaften der Sprache. Die Reihe Totem Tones I-V (1969-70) stellt eine Arbeitsweise dar, in der die Verhältnisse zwischen Akustik und Materie untersucht werden. Totem Tones (Abb. 91-95) sind vertikale Skulpturen bestehend aus selbstgebauten Mahagoni-gestrichenen Labial-Holzpfeifen in unterschiedlichen Größen, auf einem tiefen Podest montiert, in dem ein Staubsaugermotor, eine Steuerungseinheit1 und eine untere Beleuchtung untergebracht sind. Einige dieser Holzpfeifen haben kinetische Elemente: bewegliche Lippen, Klappen und seitliche Ventile, die einen Einfluss auf die Klangeigenschaften der Komposition und die haptische bzw. kinästhetische Wahrnehmung dieser Laute haben. Die Skulpturen brummen, seufzen und schreien, sie geraten in Atemnot, und verbreiten sehr unterschiedliche Klangstrukturen im Raum. Dabei spielen sie nicht immer die gleichen Klänge und wirken somit wie animierte Wesen, wie die „magische Präsenz“, die Allan Kaprow bei Stephan von Huene sah.2 Dies erklärt seinen Erfolg in einem vom animistischen Weltbild geprägten Land wie Japan.

1

Die ersten Totem Tones (1969-70) funktionierten mit fotoelektrischen Zellen und Lochstreifen. Bei einigen Totem Tones (1969-70) wurden später die Lochstreifen durch programmierte EPROMs ausgetauscht.

2

Kaprow hob „die handwerklich gut gearbeiteten Objekte“ und die „magische Präsenz“ in von Huenes Arbeiten gegenüber Kunst als „blanke Selbstaussage“ und beinah „Verkehrszählung“ hervor. Dabei tadelte er sowohl Pop Art als auch Minimal Art wegen der „Abwesenheit von Konzept, Material, Verfeinerung, Professionalismus, erhebenden Werten, persönlicher Aussage, Pathos“ (Kaprow 1983, S. 8).

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V ERBINDUNG DER T OTEM T ONES Z EICHNUNGEN

MIT DEN FRÜHEN

Mit den frühen Zeichnungen haben diese Klangskulpturen auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Doch achtet man auf die „Kompositionen“, findet man in deren Ursprung eine besondere Kunsttechnik, die bei den Zeichnungen bereits zu vermuten ist: der kontrollierte Zufall. Die Laute, die Totem Tones (1969-70) reproduzieren, sind das Ergebnis einer Klangcollage auf der Grundlage von BachChorälen. Mit Schere und Klebeband rekomponierte der Künstler die Bach’schen Partituren zu einem mechanischen Tier-ähnlichen und letztendlich auch gegensätzlichen Klanggesang. Die Rekombination geschah jedoch nicht völlig willkürlich, denn die höchsten und tiefsten Tonhöhen waren auf die Größe der Pfeifen abgestimmt. Im Rückblick findet man auch eine weitere Gemeinsamkeit mit den ersten Arbeiten: Während die Schriftzüge der Zeichnungen durch Reduktion des phonetischen Systems vorwiegend nur stimmlose Konsonanten aufweisen, verschwindet das konsonantische Material in jenen Arbeiten, die sich vornehmlich mit artikulierter Sprache auseinandersetzen (wie z.B. Die Zauberflöte [1985], Erweiterter Schwitters [1987] oder Lore Ley II [1997]). Durch diese reduktionistische Methode wird nicht nur die Essenz der Sprachmelodie als kreativer Stimulus und Weg zu neuen Erkenntnissen verfolgt, sondern auch die semiotische Willkürlichkeit der sprachlichen Kommunikation in Frage gestellt – etwa wie ein Aufruf zum Aufwachen und Nachdenken über die Grenzen der sprachlichen Kommunikation. Dass „die Landkarte nicht das Territorium“ ist, lernte der Künstler auch vom Ingenieur und Linguisten Alfred Korzybski. Nach einer vergleichbaren Überlegung wird der Künstler einige Jahre nach Fertigstellung der Totem Tones (1969-70) die körperliche Schwere, welche die Mahagoni-Farbe und das massive Holz dieser Klangskulpturen unterstreichen, auf transparente Materie (Glass Pipes) reduzieren. Indem man die Konzentration auf die Unsichtbarkeit des Klanges richtet, wird seine Struktur erst sichtbar gemacht. Diese reduktionistische Methode startete bei den ersten Zeichnungen und hatte insbesondere bei den Totem Tones (1969-70) einen Höhepunkt durch die Verbannung der dekorativen Klangeffekte und den Aufstieg der Grundtöne als Kompositionsprinzip. Einige der Töne, die sich bei den Totem Tones (1969-70) wiederholen, sind in der Tat Grundtöne. Ein Grundton ist der fundamentale Ton einer Tonleiter, eines Intervalls und eines akustischen Klangs, aber auch eines Instrumentes, so dass der Grundton auf seinen materiellen Erzeuger bezogen werden kann. Die Grundtöne von Totem Tones (1969-70) mögen sich teilweise zufällig aus der

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Rekombination der Bach-Choräle ergeben haben. Der Künstler wurde jedoch u.A. durch die Lektüre von Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen auf die Besonderheit und das künstlerische Potenzial der Grundtöne als buchstäblichen Instrumentenstimmen aufmerksam und setzte sie zunächst experimentell (Totem Tones) und dann programmatisch (Monotone und Glass Pipes) ein. Abbildungen 75 und 76: Monotone, 1977 (S 1977-1), zwei Messingröhren, Staubsaugermotoren in Holzkästen (zerstört). Stephan von Huene steht in der Mitte des Raums; Eine der Glass Pipes, 1974 (S-1974-1), zweiteilig, Glas, Metall, Holzkasten, Gebläse, Mechanik, Glasgehäuse, jeweils 150 x 30 x 30 cm (Petra von Huene, Hamburg)

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Monotone (Abb. 75) ist 1977 im Rahmen eines DAAD-Stipendiums in Berlin entstanden. Die Skulptur besteht aus zwei Staubsauger-Motoren, die in Kästen eingebaut wurden. Ein hölzerner Resonanzkörper mit der Form einer abgestuften Pyramide ist an jedem Staubsaugermotor befestigt, so dass er als Resonanzkörper fungiert, der die natürliche Frequenz der Motoren isoliert. Resonatoren haben die Eigenschaft Frequenzen zu filtern, die der Frequenz der eigenen, in Vibration versetzten Luftsäule nicht entsprechen. Zu diesem ersten Teil gehört pro Staubsaugermotor eine Messingröhre, die als Luftquelle verwendet wird. Die Frequenz der Staubsauger-Motoren ist auf die Tonhöhe der Röhre abgestimmt. Durch einen Programmregler wird die Geschwindigkeit der Motoren unabhängig voneinander reguliert. Durch die Veränderung der Umdrehungen, d.h. wenn sie ab oder zunehmen, verändert sich nicht nur die Tonhöhe des Motors, sondern auch der Luftdruck in den jeweiligen Röhren und damit auch ihr Ton. Das Be-

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sondere dabei ist, dass die Veränderung der Tonhöhe eine Tonveränderung bewirkt und nicht nur bloß eine Tonhöhenveränderung.3 Dieses Interesse für die feinen Unterschiede der Tonproduktion hängen mit der intensiven Lektüre von Hermann von Helmholtz’ Die Lehre der Tonempfindungen, Dayton Millers The Science of Musical Sounds und Henry Lanz’ The Physical Basis of Rime zusammen. Zu diesen Autoren kamen später noch ein paar Namen hinzu: Harry Partch (Genesis of a Music), Robert Erickson (Sound Structure in Music) und Roman Jakobson (The Soundshape of Language) vervollständigen die Liste der Klangexperten, Naturwissenschaftler und Linguisten, auf deren Theorien Stephan von Huene seine künstlerische Versuche aufbaute. Zwischen den Totem Tones (1969-70) und dieser Arbeit gibt es markante Unterschiede: Das Instrument und die Komposition verschwinden nahezu vollständig. Der Staubsaugermotor verwandelt sich in die Hauptfigur, seine Toneigenschaften werden einstudiert, der resultierende sich verändernde Klangraum deutet den Weg in eine Interaktion der besonderen Art mit dem Museumsbesucher. Wie kam der Künstler dazu sein „Klangmobiliar“ durch reine Luft und Motorfrequenzen – durch eine Art minimalistische „Haushaltsmusik“4 – zu ersetzen? Die Arbeit Glass Pipes (1974-76, Abb. 76) ist vor Monotone (1977) entstanden. Das Skulptur-Ensemble besteht aus zwei gleich hohen Glaspfeifen, die wie in der Arbeit Monotone (1977) in diagonal gegenüberliegende Ecken gestellt werden. Die Glasrohre funktionieren wie Labial-Orgelpfeifen. An der Stelle der Lippen erscheint hier die „archetypische Form einer Stufenpyramide“, ähnlich wie die Resonanzkörper von Monotone (1977), wenn auch mit dem Unterschied, dass diese durch eine mechanische Vorrichtung ihre Position nach oben und nach unten verändert: „Die Glasrohre sind so installiert, dass sie wie eine Art Orgelpfeifen funktionieren. Jede Pfeife steigt in ihrer Tonhöhe gleichmäßig im Wechsel mit den anderen nach oben. Am

3

Vgl. Typoscript Nachlass Stephan von Huene, siehe auch Kühn/Joachimides/Halfmann 1977, S. 33, und Retrospektive, S. 193.

4

Stephan von Huene sagt über die Arbeit Monotone (1977): „[...] this time I decided I should extend into the rest of my technology here and see what I can pull out of these motors and … well also because my hearing was more acute to pick up what these possibilities might be, and so I utilized them. But I had described it as a kind of ‚household-music‘ […] because I was doing […] a lot of housekeeping at that thime [laughing].“ (Interview mit Joan La Barbara 1979; hier zitiert nach Split Tongue, S 113)

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Höhepunkt angelangt, steigen sie wieder herunter. Die Pfeifen erzeugen eine Vielzahl von ‚combinational tones‘ und andere akustische Effekte. Gleichmäßigkeit und Struktur bleiben immer gewahrt auf Grund der Gleichgestimmtheit der Pfeifen. Die archetypische Form einer Stufenpyramide ist bewusst in diese Erfahrung mit eingeschlossen.“5

Mit den Glass Pipes (1974-76) wollte der Künstler die „Masse der Glaspfeifen gegen die Masse des leeren Raums und die Masse des Raums gegen sich selbst“6 spielen lassen. Der leere Ausstellungsraum wird durch die Abwesenheit einer klaren, visuellen Differenz als Resonanzraum erlebt: Der Ausstellungsraum wird buchstäblich bespielt und die Grenze zwischen innen und außen aufgehoben: „Ich dachte an Resonanz und Resonanzräume, leere Räume und die Kunst der leeren Räume weniger als spezifische Quantitäten (so beschreibt Helmholtz sie) und mehr als einen Wechsel, eine Aktion zwischen innen und außen.“7

V ERBINDUNG VON M ONOTONE MIT T OTEM T ONES

UND

G LASS P IPES

Sowohl Monotone (1977) als auch Glass Pipes (1974-76) haben ihren Ursprung in der Skulpturen-Reihe Totem Tones (1969-70). Stephan von Huene selbst reflektiert den Ursprung von Glass Pipes als Ergebnis der Verbesserung einiger „Schwachstellen“, die er bei Totem Tones (1969-70) bemerkte. Dabei handelte es sich nicht um Fehler sondern um den heftigen „Eindruck von Masse und Größe und deren Relation zum Volumen der Töne, die sie hervorbrachten“.8 Das Mahagoni-rote Holz der Pfeifen von Totem Tones (1969-70) und die Dimensionen der Skulpturen verbanden die Klangereignisse mit dem „Instrumenten“ und färbten diese mit der Expressivität der Materialien. Der massiven Wirkung der Werke sollte die Transparenz des Klangkörpers entgegenwirken. Die Erneuerung gegenüber den Totem Tones (1969-70) beschränkte sich jedoch nicht nur auf die optische Befreiung des Klangs: Durch Regulierung der Lautstärke der Pfeifen

5

Auszug aus dem Ausstellungs-Katalog Deutschsein? Eine Ausstellung gegen Fremdenhaß und Gewalt (Kunsthalle Düsseldorf 1993, S. 44-45); hier zitiert nach Retrospektive, S. 190.

6

Ebenda.

7

Auszug aus: Akademie der Künste Berlin 1980, S. 143.

8

Siehe von Huene 2012 [= 1979], S. 107: „sense of mass and size to the amount of sound and what it was doing“.

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näherte Stephan von Huene sich dem Punkt, „an dem die physikalische Kraft der Töne mit der Masse dessen, was [man sieht], in einer gewissen Übereinstimmung zu sein schien“.9 Durch diese Übereinstimmung zwischen Klang und Materie wird das Kunstwerk zu einem ästhetischen Paradoxon. Angesichts der effizienten Komplexität des Werkes verwundert es nicht, dass Glass Pipes (1974-76) als Wendepunkt in der künstlerischen Arbeit von Stephan von Huene angesehen werden kann. Entscheidend für diese Annahme ist nicht nur die Identifizierung einer Suche nach neuen Kunstformen an der Schnittstelle zwischen Klangkunst, Wissenschaft und den Paradoxa der Wahrnehmung, die nachvollziehbare Kontinuität mit Totem Tones (1969-70) oder ihre Funktion als Wegbereiter von Monotone (1977) und Text Tones (1979/1982-83). Das Entscheidende für eine derartige Annahme ist, dass die kontinuierliche Erforschung der Verhältnisse zwischen Physikalität und Ton ihn zu einer Art „Bruch“ mit früheren Arbeiten geführt hat: Stephan von Huene hat während des Aufbaus von Glass Pipes (1974-76) seine Vorstellungen von Klang und Materie laut eigenen Aussagen verändert.10 Einerseits interessierte er sich für den Punkt,

9

Siehe vollständiges Zitat: „So beschloss ich, dass das nächste Werk aus Glasorgelpfeifen bestehen sollte und begann, mich mit der Verarbeitung von Glas zu beschäftigen, einem sehr, sehr resistenten Material. […] Ich hatte keine Erfahrung damit; so musste ich die technische Verarbeitung lernen, was ein großer Fehler war, denn es kostete viel Zeit. Ich habe ungefähr vier Jahre gebraucht, um die Glaspfeifen zu bauen. Doch dann, noch während dieser Periode, änderte sich alles; meine gesamten Vorstellungen veränderten sich mit der einzigen Ausnahme, dass ich die massive Wirkung der Werke auch weiterhin durch Transparenz verringern wollte. Ich steigerte die Lautstärke des Apparates, sodass ich mich dem Punkt näherte, an dem die physikalische Kraft der Töne mit der Masse dessen, was wir sahen, in einer gewissen Übereinstimmung zu sein schien. […] So wirkt es optisch nicht so schwer, nicht massiv. Tatsächlich verschwinden die Pfeifen auf Fotos beinah ganz. Zur selben Zeit, als ich die Trommel baute, habe ich Glaspfeifen aus zwei Rohren entwickelt; sie waren gedacht für die zwei diagonal einander gegenüberliegenden Ecken eines Raumes. Ich wählte die Ecken, weil, wenn der Klang sich im Raum ausbreitet, dieser in seiner Diagonale akzentuiert wird; eine Diagonale ist also stärker als die andere betont. Ich legte nicht in einer genauen Planung fest, wie sich die Dinge entwickeln hätten … Ich liebe es, wenn der Raum seine eigenen Ordnung entfaltet.“ Joan La Barbara: „Die Glaspfeifen 1976. Auszug aus einem Interview mit Stephan von Huene“ [aus dem Jahr 1979]. In: Staatliche Kunsthalle Baden-Baden 1983, S. 78-80 [= Split Tongue 2012, S. 107-108].

10 Siehe auch Split Tongue, S. 107-108. Dieser Wendepunkt in der Arbeit mit Glass Pipes (1974-1976) stimmt chronologisch mit einer sehr komplizierten Lebenssituation

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ab dem aus Luft Klang wird. Man kann durchaus eine Luftströmung spüren und hören, selbst wenn diese noch keinen Klang bildet. Andererseits war es das erste Mal, dass er ein variables Klangenvironment entwickelte, in dem die gleichmäßige Veränderung der Lautstärke eine ebenso gleichmäßige Zunahme der „unpleasantness“ der Wahrnehmung veranlasst hat: Dies hängt u.a. damit zusammen, dass die selbst variierende Klang-Raum-Struktur Tonamplituden von bis zu „schmerzhaften“ 105 Dezibel produzierte, die den Eindruck erwecken, intern – „inside your head“ – zu sein.11 Woher kommt aber die Idee einer Übereinstimmung der physikalischen Tonal-Kraft mit der Masse dessen, was wir sehen? Wenn man sich auf die Suche nach einer werkimmanenten Antwort begibt, so fällt es zunächst auf, dass diese Vorstellung den Spruch „weniger ist mehr“ umkehrt: Je intensiver der „Klang“ desto weniger wird dieser als Klang wahrgenommen. Andererseits scheint die Tonal-Kraft-Masse-Übereinstimmung im Einklang mit Bredekamps Vorstellung der Buchstabenfolgen aus den frühen Zeichnungen als „leibseelische Einheiten“ zu stehen: Die Glass Pipes (1974-76) wären eine „leibseelische Einheit“ von Klangintensität und Raum, in der die Idee der Figuration mit der physikalischen Wellenstruktur des Klangs einhergeht. Was von Huenes Zeitgenossen betrifft, so könnte man auch hier an John Cages musikalische Auffassungen und La Monte Youngs Composition 60# 7, HFis als eventuelle Stimuli denken. La Monte Youngs Stück enthielt z.B. einen Akkord und die Anweisung: „to be held for a long time“, was nur durch Anschlagen und Aushalten einer Quinte möglich ist. Seine Composition 60# hatte einen großen konzeptuellen Einfluss auf zahlreiche Fluxus-Künstler. Derartige Klangexperimente lassen sich auch bei Yves Klein (Symphonie monoton-silence [1949]) und Erik Satie (Musique d’ameublement [1917]) finden. Hinter der Konzeption von Glass Pipes (1974-76) erkennt man auch eine Verbindung zur Kunstgeschichte – nämlich die Empathie mit dem Bild Der Schrei (1893) des norwegischen Malers Edvard Munch. In einem Text aus dem Jahr 1987 zitiert Stephan von Huene die Anekdote, die Munch dazu inspirierte, Der Schrei zu malen:

des Künstlers überein – der schweren Krankheit und dem späteren Tod seiner Ehefrau Eleanor im Jahr 1976. 11 Ebenda, S. 111.

184 | ELEKTRONIK ALS S CHÖPFUNGSWERKZEUG „Interessant an dieser Beschreibung [von Der Schrei12] ist, wie beredt Munch diese gewaltige synästhetische Erfahrung wiedergibt. Zu Beginn beschreibt er die Umstände dessen, was er fühlt. Dann kommt die visuelle Erfahrung, dann die überwältigende Wahrnehmung eines Schreis, der durch die Natur geht, dann konzentriert er sich auf das Geschehen, während ihm klar wird, dass er in der gewaltigen visuellen Erfahrung auch einen Schrei (etwas Akustisches) gehört hat.“13

Stephan von Huene fand in dieser Malerei eine der ersten Darstellungen eines menschlichen Gemüts mittels einer „serious caricature“,14 welche die rein visuelle Erfahrung sprengte. Diese neue Methode der „serious caricature“, die auch Vincent van Gogh pflegte und dem Expressionismus den Weg ebnete,15 faszinierte ihn so sehr wie die Idee, dass sowohl die Figur als auch die gesamte Umgebung inklusive der Landschaft in der Ferne eine Art synästhetischen Schrei bildeten. Die innere Erfahrung gestaltet die äußere Welt oder, um es in Gombrichs Wörtern zu sagen, „a sudden excitement tranforms all our sense impressions“.16 Diese Vorstellung des Klangs als Gestalter des Raums war bereits in früheren Arbeiten, wie in den „vertical stories“ der Totem Tones (1969-70),17 vorhanden, welche die gesamte Architektur einbezog. Munch ist aber nicht die einzige „Inspirationsquelle“. Stephan von Huene zitiert auch im Zusammenhang mit diesem Kunstwerk Leo Tolstois Roman Der Tod des Iwan Iljitsch (1886): „In seiner Geschichte der Tod des Iwan Ilijitsch beschreibt Leo Tolstoi auch einen Schrei. Kurz vor seinem Tod stößt Iwan Iljitsch drei Tage lang einen Schrei aus, der wie OOOOOH klingt. Nach diesem Schrei, dem akustischen Geschehen, kam ihm eine Erleuchtung. Iwan Iljitsch stellte fest, dass er ein oberflächliches Leben geführt hat und dass er nun mit Sicherheit sterben wird. Er war ein Todes-Analphabet, der in den letzten Tagen seines Lebens Einsicht in seine Situation gewann. Diese Erleuchtung oder dieser Durchblick stand in Verbindung mit seinem akustischen Tun, dem drei Tage lang währenden

12 „Ich ging eines Abends eine Straße entlang – auf der einen Seite war die Stadt, und der Fjord war unter mir. Ich war müde und krank – ich stand da und blickte über den Fjord – die Sonne durch die Natur. – Ich dachte, ich hörte einen Schrei. – Ich malte dieses Bild – malte die Wolken wie wirkliches Blut. Die Farben schrien.“ (zitiert nach Stephan von Huene in Split Tongue, S. 127) 13 Ebenda. 14 Gombrich 1950, S. 436. 15 Vgl. auch ebenda, S. 436-437. 16 Ebenda, S. 437. 17 Siehe Kapitel „Inpressivität der Körperteile“, S. 98 ff.

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Schrei OOOOOH. [...] Im Querschnitt bilden die Rohre ein O. Der Länge nach betrachtet bilden sie ein ausgedehntes O oder OOOOOO.“18

Der Tod des Iwan Iljitsch (1886) war ein für Stephan von Huene besonders wichtiges Buch. Auch wenn kein Exemplar in der Bibliothek des Künstlers gefunden wurde, wird sein frühes Interesse für die russische Belletristik durch Dostojewskis Roman Der Idiot19 bezeugt. Es ist also konsequent anzunehmen, dass der Künstler Tolstois Text kannte, bevor er an den Glass Pipes (1974-76) arbeitete. In diesem Fall liegt der Akzent auf der Dauer des Schreis des „TodesAnalphabeten“ Iwan Iljitsch und auf der akustischen Metaphorik der „Erleuchtung“ bzw. des „Durchblicks“. Reue, Einsicht und Erleuchtung werden, laut von Huenes Interpretation, als ausgedehnter Schrei artikuliert. Das Kunstwerk bildet diese einheitliche Vorstellung des Schreis mimetisch nach, indem alle Barrieren zwischen Kunstwerk, Klang und Autor aufgehoben werden. Interessanterweise wählte Joseph Beuys den Urlaut „Ö Ö“ für verschiedene Auftritte in den 1960er Jahren aus – insbesondere bei Der Chef, Fluxus Gesang (Berlin-New York, 1.12.1964). Trotz der Ähnlichkeit der Definition des Urlauts „Ö Ö“, die Joseph Beuys angibt – „ö ö ist einfach die Sprache ohne Inhalt. Nur die Trägerwelle. Die Sprache ohne begriffliche Implantation eines Begriffes“20 – besteht kein nachweisbarer gegenseitiger Einfluss. Vielmehr findet man bei näherer Betrachtung einige Unterschiede. Die „Trägerwelle“ „O“ wird bei Stephan von Huene nicht vom Menschen, sondern von einem unsichtbaren Mechanismus ausgestoßen. Außerdem gehört zur Klang-Raum-Kategorie des erweiterten „O“ eine besondere Zeitkategorie, die durch eine bis an den Schmerz getriebene Wahrnehmung subjektiv ausgedehnt – „extended“ – wird. Stephan von Huenes Werk ist nicht nur provozierend, es löst auch physiologische Reaktionen aus, die der Ordnung des ästhetischen Schmerzes nahe kommen. Die Glass Pipes (1974-76) sind in der Tat nicht für jedermann leicht zu ertragen. Sie gehören in ihrer Art zu einer adornistischen Definitionen von Kunst, wonach die Rezeption Teil des Werkes wird, insofern der Schauer des Zuschauers einer mimetischen Wahrnehmungsreaktion entspringt: „Er [der Schauer des

18 Ebenda, S. 127. 19 In seiner Bibliothek befindet sich dieses Buch in folgender Ausgabe: Dostojewski, Fjodor (1955): Der Idiot, London (ins Englische übersetzt von David Magarshack). 20 Joseph Beuys in: Kramer, Mario (1991): Joseph Beuys – Das Kapital Raum 19701977, Heidelberg, S. 20; hier zitiert nach Schneede, Uwe M. (1994): Joseph Beuys – Die Aktionen, Ostfildern-Ruit S. 203.

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Zuschauers] ist aber die mimetische Verhaltensweise, die auf Abstraktheit als Mimesis reagiert […] ratio selbst wird im Schauer des Neuen mimetisch.“21 Es gibt immer eine mimetische Reaktion des Rezipienten, selbst wenn diese die Form des Schauers annimmt. In Verbindung mit Glass Pipes (1974-76) wäre daher auch eine mimetische Kategorie als „ästhetischer Schmerz“ hinzuzufügen, die im Einklang mit Adornos Analyse von Schein und Ausdruck ebenso steht: „Ausdruck von Kunst verhält sich mimetisch, so wie der Ausdruck von Lebendigen der des Schmerzes ist.“22 Abbildungen 77 und 78: Karooooo, 1964 (D 1964-3), Rauchzeichnung (Einritzungen und Abdrücke auf mit Ruß geschwärzten Hintergrund), 34,5 bis 34,7 (unregelmäßig) x 30,3 cm (Nachlass Stephan von Huene); Mindmap zu Glaspfeifen, Getty Talk 1991 (D/D 1991-27) (Petra von Huene, Hamburg)

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Es war sogar so, dass während der Vorbereitungen einer Ausstellung in der Galerie Baecker in Bochum, Stephan von Huene gebeten wurde, das Stimmen der Skulpturen zu unterlassen, da eine Nachbarin sich beschwerte: „es ist wie ein Erdbeben“ beklagte sie. „Klar doch, weil ich aus Kalifornien komme“, antwortete Stephan von Huene mit einem ironischen Kommentar. Am Eröffnungsabend

21 Adorno 1973, S. 38. 22 Ebenda, S. 169.

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der Ausstellung flüchteten alle Gäste vor dem lauten Pfeifen-Ton in die benachbarten Räume. Nur Wolf Vostell blieb bei Stephan von Huene in der Nähe der Pfeifen.23 Der Künstler selbst betrachtete jedoch diese Reaktion des Publikums als Teil seiner Arbeit, was die Hypothese einer mimetischen Kategorie des ästhetischen Schmerzes als höchste Wahrnehmungsstufe auf dem Weg zur „platonischen“ Erleuchtung untermauert. In einer Folie zum Getty Talk24 beschreibt Stephan von Huene konsequenterweise den Klang der Glass Pipes (1974-76) als ein Instrument, das imstande ist, den Verstand zu kristallisieren und in Staub zu zerspringen: „Glass Pipes: makes a sound that crystalizes the mind + then it shatters cristals to dust.“25 Durch langsames Heben und Senken des unteren Teils der Pfeife wurde den Schlitz des Pfeifenmundstücks geschlossen und geöffnet. Dadurch ließ die Skulptur die ihr inhärenten Obertonreihe erklingen, was für den Künstler den absoluten Klang der Pfeife – „the absolute pitch“ – darstellt. Er verglich dieses Verfahren mit dem „Schrei eines Kindes, um die Mutter herbeizurufen“: Das wäre etwa „ein fundamentales und absolutes Element der Sprache“.26 Die These der Reduktion zur Sichtbarmachung und Bewusstwerdung über allgemein akzeptierte Kommunikationsmechanismen gewinnt dadurch auch an Bedeutung. Was haben die Pfeifen mit den frühen Zeichnungen zu tun? Neben den oft vorkommenden Wort KAFAK finden wir in diesen Zeichnungen und in den Assemblagen das Wort „Karooooo“ (Abb. 74 und 77). Es geht in allen Fällen um ein verlängertes O. Ein verlängertes O ist genau, was Stephan von Huene zur Klärung der Verbindung mit der Literatur von Tolstoi und mit der Malerei von Munch angab: Seine Glaspfeifen sollten von der Materialität her in Fotos verschwinden, aber einen langen, durch die langsame Verdichtung der Klangvariationen beinah unaufhörlichen Geschrei von sich geben, als wäre dieser nicht endende Zustand auf Grund der langsamen Tonhöhe-Variation die zugespitzte Essenz einer „leibseelischen Verbindung“ von Wort, Klang und Bild, wie diese in den frühen Zeichnungen auch vorkam. Glass Pipes (1974-76) führt aber auch zu einem Paradoxon, ähnlich wie in den frühen Zeichnungen des Künstlers: Je mehr schriftliche und graphische Information vorhanden war, umso hermetischer und geheimnisvoller wirkten diese Zeichnungen. Im Falle der diagonal aufgestellten Pfeifen, die mal schreien, mal knurren, mal summen, mal Atemgeräusche machen, wird durch das akustische

23 Siehe La Barbara 1979; hier zitiert nach Split Tongue, S. 113-114. 24 D 1991, nicht im Werkverzeichnis. 25 Split Tongue, S. 126. 26 Huene 1993, S. 284-286; hier zitiert nach Split Tongue, S. 127.

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Geschehen von Kombinationsklängen eine Vielfalt von Strukturen, Verdichtungen und räumlichen Dimensionen geschaffen, die dem Raum eine starke kinästhetisch-skulpturale Dimension verleihen, während die Transparenz der Pfeifen „die skulpturale Richtung ins Nichts“ zeigt: Sie stehen nicht einmal im Wege. Der Künstler kommentiert dieses Phänomen folgendermaßen: „Je perfekter wir durchblicken können (um erleuchtet zu werden), desto weniger ist unsere Einsicht blockiert. Folgt man dieser Überlegung, dann heißt alles sehen nichts sehen.“27 Dies steht im Einklang mit seinen Vorlieben für Paradoxa, insbesondere in Verbindung mit den Predigten von Meister Eckart und der Zen-Philosophie. Doch was hier vor allem auffällt ist, ist wie die paradoxe Erkenntnis der Pfeifen an John Cages Stille anknüpft: „Durch ihre Transparenz weist die GlaspfeifenSkulptur die Richtung ins Nichts. Das bringt uns auch in die Nähe von Musik/Klang/Stille.“28 Hier sollte man darauf aufmerksam machen, dass die Stille, die Stephan von Huene meint, mit den Vorstellungen von Cage als relatives Tonereignis nicht ganz übereinstimmt. Stephan von Huene versteht unter Stille „überhaupt keinen Klang“ oder „no sound at all“. Diese Relation ist vergleichbar mit dem Unterschied zu unfigurativer Malerei, die durch „Unermesslichkeit, Leere und Richtung“ immer noch über Gott spricht. Figurativ ging es aber von Huene hier um ein „wirkliches Überhaupt-Nichts“, „no-thing at all“ oder „no-thingness“, denn durch die Überschreitung dieser Grenze kann das Kunstwerk über alles und über nichts reden. Somit behielt er sowohl die visuelle wie die akustische Dimension des Kunstwerkes im Auge, was einen Durchbruch in seiner Kunstauffassung darstellen sollte, denn von hier an wird von Huene zum ersten Mal mit Hilfe des physischen und kulturellen Umfelds eine Art „Musik“ komponieren. Er formuliert es folgendermaßen: „The Glass Pipe Enterprise is a trans-descendence through music/sound/silence across to something more formless like a form for Music-ness.“29

Den Ausdruck „formless [...] form for Music-ness“ kann man nun so interpretieren, dass alle überflüssigen Elemente der Skulptur und der Klangereignisse be-

27 Ebenda, S. 128. 28 Ebenda. 29 Split Tongue, S. 130.

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seitigt wurden, um eine Art „Schwarzes Quadrat“ der skulpturalen Klangkunst – verstanden als Kommunikationskunst – zu erschaffen, wie ein Ausgangspunkt für eine selbst-bewusstere Arbeitsweise, die aus dem Alten hergeleitet wurde und zum Neuen grenzübergreifend wirken sollte („Trans-Deszendenz“). Je weniger Elemente im Spiel des Kunstprozesses vorkommen, umso wirksamer wird die unendliche Metapher der Glass Pipes (1974-76).

Melodie der Klangfarben: Henry Lanz’ Theorien im Labor Zauberflöte

Abbildung 79: Die Zauberflöte 1985 (S-1985-1), vierteilige Klangskulptur. Obere Bildreihe von links nach rechts: Flöte I, Flöte II, Xylophon, Metallophon, Detail des Metallophons mit vox humana (Röhre) und Steuerungsplatine mit leuchtenden LEDs. Untere Bildreihe: Zauberflöte im Betrieb im Archiv des Künstlers, Hamburg 2014

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

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Das Ensemble Die Zauberflöte ist im Jahr 1985 nach Text Tones (1979/1982-83) entstanden.1 Auf den ersten Blick erinnern die dunkle Farbe und die Komplexität der Instrumente mehr an die heiteren kalifornischen Skulpturen als an die minimalistischen Text Tones (1979/1982-83). Die Zauberflöte (1985) besteht aus vier Klangskulpturen, die mit unterschiedlichen, automatisch spielenden Instrumenten und Beleuchtungseinheiten ausgestattet sind. Ein Xylophon und ein Metallophon mit angebrachten Röhren unterschiedlicher Länge als Resonanzkörper und zwei weitere Türme mit Holzund Metallpfeifen, deren Form auf die Frequenz der Obertöne der Vokale /a/, /e/, /i/, /o/, /u/ und des mittleren Vokallauts /ə/ (Schwa) abgestimmt wurde. Die Skulpturen haben sehr ähnliche Dimensionen. Die „Türme“ mit Perkussionsinstrumenten sind 10 cm höher als die mit Orgelpfeifen (190 x 40 x 45 cm). Im mittleren Bereich der Pfeifen-Türme sind selbstgebaute Gebläse sichtbar, auch die Elektronik für die Steuerung, die der Künstler selbst baute, ist für das Auge des Betrachters unübersehbar: Bunte LEDs leuchten und blinken auf der Steuerungsplatine passend zu den ausgeführten Funktionen. Die Sichtbarkeit des eindrucksvollen Uhrwerks und die Mahagoni-Farbe der Skulpturen erinnern stark an die vergangenen Zeiten der Wunderkammer, als die Faszination für die Automaten sich in die Ideengeschichte des Abendlandes erneut einschrieb.2 Aber jenseits der reinen Erscheinungsform ist Folgendes hervorzuheben: Indem der Graben zwischen Kunst und Wissenschaft zu überwinden versucht wird, führt diese Arbeit mit Bredekamp gesprochen „zu jener Einheit von Natur und Kunsttechnologie zurück, die für die Kunstkammer bestimmend war“.3 Als kunsttechnologische Bearbeitung von einem Naturstoff, nämlich dem Klang, würde Die Zauberflöte (1985) zu Bacons Kategorie der verarbeiteten Natur gehören.

H ENRY L ANZ ’ T HESEN DER V OKALMELODIE

ÜBER DIE

C HARAKTERISTIK

Der Zauberflöte (1985) liegt die Idee zugrunde, einen Musikautomaten zu bauen, der trotz der maschinellen conditio imstande ist, Gefühl und Subjektivität dermaßen einzuschließen, dass eine umfassendere und reichere Darbietung als die eines Virtuosen entsteht.

1

Für eine Analyse von Text Tones (1979/1982-83) siehe das nachfolgende Kapitel „Energie im Kunstsystem“.

2

Siehe Bredekamp 2007 (= 1993), S.100-101.

3

Bredekamp nach Todd/Lathan 1992, S. 209-210.

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Um dies zu erreichen, setzt Stephan von Huene nicht auf die Musik von Mozart, sondern auf die konzeptuelle Grundlage dieser Musik, das Libretto von Schikaneder. Dazu gehören noch zwei Quellen für die Verwirklichung seiner Ideen: Das Buch von Henry Lanz The Physical Basis of Rhyme und die Forschungen von Bandler und Grinder zum Thema Neurolinguistisches Programmieren. Abbildungen 80 und 81: Arbeitsheft zu Die Zauberflöte. Erste Seite der „Partitur“ mit dem Anfang der Zauberflöte. Unter den Zeichen lassen sich die Vokale /a/, /e/, /i/, /o/, /u/ und /ə/ sowie Dauerangaben und Pausen erkennen; Libretto von Schikaneder zu Die Zauberflöte, bearbeitet von Stephan von Huene. Die ersten Zeilen auf Deutsch („Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst bin ich / verloren“) entsprechen der Lautfolge der Vokale /u/-/i/-/ə/ | /u/-/i/-/ə/ | /o/-/i/-/i/ // /ə/-/o/-/ə/

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Dabei geht der Künstler akribisch wissenschaftlich vor, als würde er die Thesen dieser Autoren nicht nur als Stimuli betrachten, sondern als Positionen, die es zu überprüfen gilt: „Henry Lanz beschreibt die akustische Essenz der Vokale als eine Serie von Formanten, die einen Akkord ergeben. Meistens enthalten zwei Formanten in diesem Akkord den Großteil (bis zu 90 Prozent) der akustischen Energie. Diese Formanten sind unabhängig von der Grundstimme des Sprechers und folgen nicht, wie in der musikalischen Akustik

194 | ELEKTRONIK ALS S CHÖPFUNGSWERKZEUG den Obertonmustern. Das heißt, dass jeder Vokal zwei intensiv charakteristische Frequenzzonen hat, die beim Sprechen subjektiv bleiben. Henry Lanz glaubt [vgl. Lanz 1968, S. 26], dass diese charakteristischen Frequenzen der Vokale eine subjektive Melodie im Reim bewirken, so dass zum Beispiel im einfachen Endreim zwei Zeilen im gleichen Vokalklang enden: der erste bestimmt die Tonart, der zweite vervollständigt die Melodie. Ich benutze den Text der Oper Die Zauberflöte von Mozart und Schikaneder genau und wörtlich in diesem Sinne.“4

Weiterhin erzählt von Huene, dass seine vier Skulpturen entsprechend diesen Theorien nur die Frequenzen und Transpositionen5 der charakteristischen Frequenzen der Vokale verwenden. Dabei hat Stephan von Huene die deutschen Vokale auf sechs gleichmäßig proportionierte phonetische Klänge reduziert mit Unterstützung des Professors für Akustik an der Technischen Universität Berlin, Manfred Krause. Die Arbeitshefte des Künstlers bezeugen die exakte vokalische Entsprechung der Partitur mit dem Text von Schikaneder (Abb. 80 und 81) und untermauern die Idee der phonetischen Reduktion als Methode zur Enthüllung der Sprachmelodie: Diese wird auf der Grundlage der charakteristischen Frequenzen der Formanten von ad hoc gebauten Pfeifen gespielt, deren Dimensionen wiederum mathematisch berechnet wurden (siehe ein Teil der mathematischen Formeln hierzu in Abb. 69). Dies war notwendig, denn die Materialien der Pfeifen tragen auch vornehmlich zur Festlegung der Klangfarbe bei. Henry Lanz hatte die Theorie aufgestellt, dass die grundlegende Melodie jedweder Sprache in den charakteristischen Obertönen der Vokale liegt.6 Wenn das stimmt, dann bräuchte man keine weitere Melodie, um Schikaneders Vorlage zur Musik zu verarbeiten, so die abgeleitete These von Stephan von Huene. Wie ist das zu verstehen? Die Musik Mozarts rückt in den Hintergrund, interessant ist die Melodie des Librettos, in dem die Ideen, die Emotionen und Gedankengänge, aus denen Musik entstehen soll, enthalten sind. Stephan von Huene geht sozusagen ad fontes und prüft zugleich eine Theorie, auch wenn das Experiment nicht so sehr als wissenschaftliche Auseinandersetzung wie als Kunsttechnik zur Erschaffung von etwas Neuem – nämlich der eigentlichen Musik von Die Zauberflöte (1985) – verstanden wird. Aber selbst dann, diese Zauberflöte scheint den Anspruch zu erheben, nicht als reine Methode zum Zweck, sondern als Prozess

4 5

Retrospektive, S. 232. Mit „Transposition“ ist hier die proportionale Tonhöhenveränderung um ein bestimmtes Intervall gemeint.

6

Lanz 1968, S. 18-26.

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an sich, die Idee einer neuen Kunst zur Geltung zu bringen: „a form of Musicness“.7 Abbildung 82: Auszug aus einem der Arbeitshefte zu Die Zauberflöte mit mathematischen Formeln zur Berechnung der Länge (L) und Dichte (P) der Pfeifen anhand der Frequenzen der Formanten und bekannter Parameter wie der Schallgeschwindigkeit (C). Q steht für die Ratio an Steifigkeit nach dem Young’schen Modul

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Bei der Aufteilung der Instrumente folgt er auch den Vorgaben der Oper mit Entsprechungen zwischen Perkussions-, Blasinstrumenten und Chor: „Die Instrumente innerhalb der vier Objekte sind den Instrumenten der Oper insofern zugeordnet, als die Orgelpfeifen den Hinweis geben auf die Flöte und das Metallophon/Xylofon auf das Glockenspiel – die beiden mit magischen Kräften beseelten Instrumente. Die Metallophonpfeifen beziehen sich außerdem auf die Sänger, sie sind vom Typ, den man im Orgelbau ‚vox humana‘ nennt.“8

7

Huene 1993, S. 130.

8

Huene 1985; hier zitiert nach Retrospektive, S. 232.

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Die vox humana ist eigentlich ein kurzer Resonanzkörper aus dem 17. Jahrhundert für Labialpfeifen, dessen Klangeigenschaften der menschlichen Stimme ähneln. Mit der vox humana kann man den Klang eines Menschenchors in der Ferne einigermaßen gut nacheifern. Der Künstler geht auf die instrumentale Ebene nicht weiter ein. Allerdings haben wir schon besonders wichtige Informationen erhalten: Die Perkussionsinstrumente sollen – ebenso wie die Pfeifen – menschliche Stimmen nachmachen. Aus diesem Grund verwendete der Künstler Rohrkonstruktionen, die als Resonanzkörper die Spielautomaten-Stimme des Xylo- und Metallophons etwas menschlicher gestalten. Der Klang wird sozusagen mit dem Grundton eines Körpers vermenschlicht. In diesen Rohr-Aufsätzen wirken die Ideen des Grundtons als Urlaut bei Glass Pipes (1974-76) weiter. Abbildung 83: Henry Lanz: The Physical Basis of Rhyme, S. 26. Unterstrichenes von Stephan von Huene. Randnotiz: „for vox humana with any wave“

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Ein Blick auf das Lanz-Exemplar des Künstlers verrät noch mehr. Auf Seite 26 finden wir folgende unterstrichene These (Abb. 83):

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„[...] in the pronouncing vowels the mouth just touches upon the characteristic overtone, holds it for a comparatively few vibrations and then glides over into adjacent vowel qualities. This, however, does not kill the melody; it only renders it impossible of correct representation.“9

Links von diesem Text macht Stephan von Huene folgende Notiz: „for vox humana with any wave“. Die Perkussionsobjekte sollen diesen Teil der menschlichen Sprachartikulation darstellen, welche die perfekte Repräsentation der Vokalmelodie verhindern, ohne die Melodie zu beeinträchtigen, und ausgerechnet dadurch soll Die Zauberflöte (1985) emotionaler und menschlicher wirken. Im Einklang mit Munchs Schrei, den man bei den Glass Pipes (1974-76) „vorführte“, finden wir hier eine ähnliche Analogie vor: Die Zauberflöte (1985) soll jene Art von „music-ness“ werden, welche der Sprachessenz und der Sprachemotionalität am nächsten kommt. In einer Folie des Getty-Vortrags zu Die Zauberflöte (1985) steht links vom Hauptmotiv „name of all names“ und „word for all words“. Demnach soll Die Zauberflöte (1985) einen Anfang der Sprache, der Ur-Klänge und Ur-Wörter – im Stephan von Huenes Werk – darstellen. Wenn es so ist, dass die charakteristische Frequenz der Vokale die sprachliche Essenz darstellen kann, welche Rolle spielt dann das konsonantische Material, das z.B. für die frühen Zeichnungen so charakteristisch war? Oder tendiert die Auseinandersetzung mit Klang zu einer Reduktion distinktiver, konsonantischen Formanten zugunsten der musikalischen Essenz der sprachlichen Kommunikation? Letzteres scheint hier der Fall zu sein.

V ERGLEICHBARE V ERSUCHE ANDERER K ÜNSTLER UND R ELEVANZ VON D IE Z AUBERFLÖTE Ähnliche Versuche, wie die Klangexperimente von Die Zauberflöte (1985) sind schwer zu finden, zumindest im künstlerischen Kontext. Die Klangskulpturen von David Jacobs um 1968 – insbesondere die Brancusi-ähnlichen Luftsäulen – zielten auf eine grotesk-witzige Vermenschlichung der Klangskulpturen und auf eine spielerische Gestaltung des Raums als Klang nach DADA-Vorstellungen. Nachempfundene menschliche Stimmen oder eine Synthetisierung der Sprachmelodie waren ihm fremd. Auch der Fluxus-Komponist Joe Jones beschäftigte sich eher mit Saiteninstrumenten: Wenn auch die Bewegungen seiner rotierenden Vorrichtungen alleatorische – und somit auch in gewissem Sinne menschlich

9

Lanz 1968, S. 26.

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anmutende – Klänge produzierten, die sogar von Yoko Ono in ihrem Experimental-Album Fly (1971) eingesetzt wurden, sind diese Klänge keine Metapher der menschlichen Ur-Klänge, sondern Ausdruck einer subversiven Klangerzeugung zur Musikkomposition. Um ein Vorbild zu finden, muss man noch weiter in der Vergangenheit auf die DADA-Bewegung und insbesondere auf die DADAGedichte von Raoul Hausman und die Ursonate von Kurt Schwitters zurückblicken. Die Arbeit Die Zauberflöte (1985) stellt einen wichtigen Meilenstein in der Karriere von Stephan von Huene. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass dieses Klangskulptur-Ensemble sehr oft zu Lebzeiten gezeigt wurde: Dabei lässt sich Die Zauberflöte (1985) als Teil einer Entwicklung von künstlerischen Ideen der Repräsentation von Kunst und Kulturkommunikation verstehen. Nachdem die Totem Tones (1969-70) mit einer gewissen Wucht „schwer“ wirkende, tierähnliche Laute von sich gaben, verfeinerte der Künstler die Idee des Grundtons als „unendliche Metapher“ durch die Erschaffung des alles umschließenden Schreis der Glass Pipes (1974-76). Der inhärente Klang der Materie als Grundtonfilter der Umgebung lebt in Text Tones (1979/1982-83) als eine postinteraktive Geräusch-Komposition weiter, die aus Kommunikationsabfall Klangfarbekompositionen generiert und die Rhythmen zur Ordnung der umgebenden Klänge in diese Komposition aus ebendiesem Kommunikationsabfall herausfiltert. Die Zauberflöte (1985) löst die „Klang-Umgebung“ mit einer Synästhesie des Wortes ab, welche eine Vorstellung der Wahrnehmung als kreativer Fokussierung des Geistes – etwa im Sinne der epikureischen Epibole (ἐπιβολὴ) – suggeriert: Sowohl die Musikalität der Grundtöne der Vokale als auch die Augenbewegungen, welche die Orchestrierung der Lichtquellen beim Besucher veranlassen, adressieren die Idee einer aktiven Wahrnehmung als geistigen Schöpfungsakt.10 Die reale Umgebung als Input und Output wird in ein Spiel der inneren und äußeren Welten verwandelt: Die Grundmelodie der Wörter Schikaneders soll ein Anreiz für die Imagination des Zuhörers werden. Während Text Tones (1979/1982-83) eine filtrierte De-Collage der Umgebung und die Bewusstwerdung der allgemeinen Zerstreuung von Kommunikationsversuchen zum Zweck hatte, versorgt uns Die Zauberflöte (1985) mit einer dichten Konzentration an melodischer und Klang-qualitativer Sprachessenz, welche trotz aller wissenschaftlichen Penibilität dem Zuhörer wie eine faszinierende, aber auch überfordernde Synästhesie-Darbietung vorkommt. Somit wäre auch diese Arbeit einerseits in die Kategorie einer unendlichen Metapher einzuordnen, andererseits

10 Für eine Analyse der NLP-Methoden, die in der Zauberflöte zum Tragen kommen, siehe das Kapitel „Energie im Kunstsystem“.

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ist sie auch die „musikalischste“ aller Arbeiten von Stephan von Huene, wie György Ligeti in einem Brief vom 15. Januar 1991 festhielt, nachdem er Die Zauberflöte (1985) im Louisiana Museum in Kopenhagen ansah: „[I]h [war] etwa 3 Stunden lang in der Ausstellung, war fasziniert und begeistert (musikalisch am meisten von Die Zauberflöte [1985]).“11

11 Brief vom 15. Januar 1991 an Stephan von Huene und Petra Kipphoff von Huene (Nachlass Stephan von Huene).

Die synthetische Stimme von Erweiterter Schwitters

Es gibt eine weitere Arbeit, in der die bisher kommentierten Ideen noch einmal variiert und weiterentwickelt werden: Erweiterter Schwitters (1987, Abb. 71). Diese kinetische Klangskulptur besteht aus einer mechanisierten Gliederpuppe mit einem Lautsprecher im Mundbereich, aus dem eine synthetisierte Version der Ursonate erklingt. Die Ursonate wird von programmierten Bewegungen der Gliederpuppe begleitet. Die Darbietung geschieht in unregelmäßigen Zeitabständen und wird teilweise vom Besucher ausgelöst. Nach jeder Vorführung wird das phonetische Material innerhalb der Struktur der Ursonate neu konfiguriert, so dass diese endlos variiert wird. Abbildung 84: Erweiterter Schwitters, 1987 (S-1987-1), ca. 200 x 120 x 120 cm (Sprengel Museum, Hannover)

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

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Erweiterter Schwitters (1987) ist die erste Arbeit, an der der Künstler mit einem Sprachsynthesizer arbeitete. Die Vorrecherche für die Ermittlung der VokalFrequenzen lag seit der Arbeit an Die Zauberflöte (1985) schon vor. Die Dokumentation zur Produktion von Erweiterter Schwitters (1987) bezeugt, dass der Künstler den Fokus insbesondere auf die Vokale setzt, ähnlich wie bei Die Zauberflöte (1985). Für die akustische Darstellung dieser Vokale hat er seine Recherchen über die Melodie der Sprache als Harmonie der Formanten aufgebaut. Diesmal übernimmt der Phonem-Synthesizer1 die saubere Darstellung der Akkorde, d.h. der Obertöne der Vokale, die nun als Silben-Kombinationen in Verbindung mit den üblichen Konsonanten der Ursonate gruppiert wurden (Abb. 85, 86). Abbildungen 85 und 86: Bearbeitete Seite von der Ursonate. Beispiel von der Übertragung von Vokalen für die Programmierung von Erweiterter Schwitters (Nachlass Stephan von Huene); Liste der Silben für die Schlusssequenz der Ursonate aus einem Arbeitsheft des Künstlers (Nachlass Stephan von Huene). Stephan von Huene verwendete die von Kurt Schwitters definierten Selbstlaute a e i o u ei eu au ä ö ü sowie die Konsonanten b d f g h k l m n p r s sch ch w z

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

1

Genaugenommen mit Hilfe der Sprachsynthese-Platine CSS 800-SSY, einem Rechner aus der damaligen Z80-Prozessoren-Familie und dem Phonem-Editor TEDIT.

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Diese Art „syllabisches System“ ist, neben der elektrisch-synthetischen Erzeugung der Phoneme, einer der wichtigsten Unterschiede zu früheren Kompositionsmethoden. Die syllabische Ordnung des phonetischen Materials trägt einerseits zu einer variablen Darstellung der Ursonate-Struktur bei, andererseits hilft es bei der Einhaltung der Vorgaben von Kurt Schwitters für das richtige Vortragen des Gedichtes. So lesen wir z.B. in den Zeichenerklärungen zur Ursonate von Kurt Schwitters aus dem Jahr 1927, die sich in den Unterlagen des Künstlers befanden, dass die Buchstaben „c“ „q“ „v“ „x“ und „y“ ausfallen,2 dass aufeinanderfolgende Konsonanten wie getrennte Laute vorzulesen sind oder dass ein Vokal einem kurzen Laut, zwei gleiche Vokale einem langen Laut entsprechen und zwei oder mehr Vokale, die nacheinander kommen aber von einem Leerzeichen getrennt sind, wie kurze Laute vorzulesen sind.3 Durch die Speicherung festgelegter Silben werden unerwünschte Phonem-Kombinationen vermieden und selbst bei Filterung der Silben immer wieder „Ursonate-treue“ Sätze gebildet. In Erweiterter Schwitters (1987) arbeitet der Künstler erneut mit Klangfarben, doch diesmal verzichtet er bewusst auf jegliche Zusatzklänge, die an eine vox humana erinnern könnten – sei es eine menschliche Stimme oder die instrumental erzeugte vox humana aus dem Orgelbau. Das technische Handicap des Sprachsynthesizers für die Abbildung einer natürlichen Prosodie wird positiv umgewertet. Warum wird dieser Schritt in die elektronisch generierten Klänge gemacht? Wenn man den Ausführungen von Stephan von Huene folgt, so müsste man annehmen, es ginge ihm darum, der ursprünglichen Idee der Ursonate von Kurt Schwitters näher zu kommen, indem man die Klangfarben synthetisch erzeugt und von jeglicher Assoziation mit der sprachlichen Intonation befreit. Der Künstler nannte diese Arbeit „eine Studie in experimenteller Realität“.4 Die Arbeit sollte nicht ein elektronisches Faksimile des Originals werden, stattdessen sollte die experimentelle Übung des Medium-Wechsels – eine Art Migration der Essenz der Ursonate – einen Erfahrungskontext liefern, in dem eine neue Auffassung der damals noch beginnenden Medienkunst getestet wurde –

2

Interessanterweise kommen die Buchstaben „q“ und „v“ in den frühen Zeichnungen von Stephan von Huene auch nicht vor.

3

Vgl. Schwitters 1998, S. 288 [= „Meine Sonate in Urlauten (Zeichenerklärung. Allgemeine Erklärungen. Erster Teil der Sonate in Urlauten).“ In: Internationale Revue i 10, Jg. I, Heft 5, 1927, S. 392-402].

4

Retrospektive, S. 236.

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nämlich die Vorstellung von Medienkunst als eine Kunst, zu deren Selbstverständnis die eingesetzte Technologie in einer semantisch-qualitativen Ordnung beiträgt. Der technische Eingriff der Phonem-Synthetisierung wird in diesem Prozess inhärenter Bestandteil des Kunstwerkes, das die Differenz zur Vorlage in sich selbst einbettet, wodurch die „tieferen Strukturen“ der Gedichte von Raoul Hausmann und der Ursonate von Kurt Schwitters freigelegt und weiter verwendet werden können. Der Titel Erweiterter Schwitters deutet außerdem auf andere Begriffe im „Textkorpus“ des Künstlers, die unter Verwendung des Zusatz „extended“ vorkommen, wie etwa in seinen Folien zum Getty Talk: So lesen wir z.B. auf der Folie zu den Glass Pipes (D/D 1991-27, Abb. 78), „TUBE = EXTENDED OH“. Das Wort „EXTENDED“ wird auch im wörtlichen Sinne gemeint – im vorliegenden Fall als Verlängerung der DADA-Versuche. Und welche bessere „Verlängerung“ von Kurt Schwitters als eine Gliederfigur gäbe es, um die Ursonate vorzutragen? In diesem Zusammenhang zitierte Stephan von Huene Schönbergs Klangfarbenmusik und Robert Ericksons Sound Structure in Music, mit deren Hilfe der Künstler die Theorien über die Naturmelodie der Sprache von Henry Lanz weiter vertiefte: „Arnold Schönberg hat sich über die musikalischen Möglichkeiten von Melodien, die aus Timbre bestehen, Gedanken gemacht. Über diese Klangfarbenmelodien schrieb er in seiner 1911 veröffentlichte Harmonielehre. Robert Erickson beschäftigt sich in seinem Buch Sound Structure in Music mit der Bedeutung von Timbre und Klangfarbenmelodien in der westlichen Musik. Darin verweist er auch auf Schwitters’ Ursonate als eines der frühen Werke, in denen die Stimme als Produzent einer reichhaltigen Timbre-Palette eingesetzt wird. Erickson, der dies als eng verwandt mit einer Klangfarbenmelodie betrachtet, fand heraus, dass das Timbre in der traditionellen westlichen Musik als Vermittler melodischer Funktionen dient.“5

Normalerweise wird die Tonlage eines temperierten Instrumentes eingehalten, während die Tonhöhe für eine bestimmte Melodie variiert wird. Dieser Tradition stellt Stephan von Huene die Klangfarbenmusik entgegen, bei der die Tonhöhe der Melodie nicht so viel beiträgt wie die Kontraste der Klangfarben. Aus seiner Analyse der Gedichte von Raoul Hausmann und Kurt Schwitters resultiert, dass diese sogenannten Laut-Gedichte nicht nur aus Klangfarben-Musik bestehen, sondern auch aus Analog-Sprache. Zu diesem Schluss kam der Künstler nach der

5

Ebenda.

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Lektüre von Robert Erickson, der sich mit den Unterschieden zwischenmusikalischer und sprachlicher Klänge auseinandersetzt. Insbesondere „die übertriebene Tonalität der Ursonate“ deutete auf Phoneme, die mit Bedeutung versehen wurden. Diese Annahme untermauerte der Künstler mit den Theorien des Komponisten Robert Erickson und den Experimenten von A.W. Slawson:6 Die Wahrnehmung von „gesprochenen Vokalen und Timbre von Instrumenten“ ist laut Erickson so ähnlich, dass unsere Interpretation der Klangherkunft auch von unseren Erwartungen abhängt.7 Da das Wort „Ursonate“ eine musikalische Darbietung vorab ankündigt, wirkt die Sprachlichkeit und übertriebene Tonalität des Stücks nicht sehr musikalisch. Die „übertriebene Tonalität“, die in der Kommunikationswissenschaft nach Birdwhistell als „Analogsprache“ bezeichnet wird, lagerte Stephan von Huene in die Bewegungen der Gliederpuppe aus, so dass er sich auf die eigentlichen „Protagonisten“ der Ursonate, nämlich auf die Töne konzentrieren konnte, mit der doppelten Absicht, der Klangfarbenmusik der Ursonate näher als im Original zu kommen und die Trennung zwischen Tonalität und Klang durch die Zeichensprache der Gliederpuppe und die synthetische Karikierung8 der Sprache noch deutlicher vorzuführen: „Mein Bestreben war es, die Elemente, die Spracherfahrungen assoziieren, aus der Ursonate herauszulösen, damit die Klänge der Phoneme an die Grenze gebracht werden, an der das Timbre und der vom Sinn entkleidete vermeintliche Sprachklang miteinander verschmelzen. Das würde nicht nur die Ursonate näher an eine Klangfarbenmusik heranbringen, sondern vielleicht auch die Trennungslinie zwischen dem Sein der Timbre-Erfahrung und dem Tun der innerlichen Suche nach einer Wortbedeutung verdeutlichen.“9

6

Siehe hierzu Robertsons Kommentar: „A few years ago A. W. Slawson [...] performed some pertinent experiments. He synthesized vowel-like sounds from averages derived from the acoustical analysis of many spoken vowels. Sometimes he told his listeners to judge differences in terms of vowel quality. Other listeners were asked to judge the same sounds in terms of instrumental color or timbre. His results suggested ‚that vowels quality and musical timbre are similar functions of their acoustic correlates in a large class of sounds to which both concepts can be applied‘.“ (Robertson 1975, S. 3)

7

Erickson 1975, S. 1.

8

Siehe hierzu die Folie D 1991-12 des Getty Talk (1991).

9

Retrospektive, S. 238.

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Durch die Trennung in Klangfarbe als synthetisches Klangmaterial10 und Analog-Sprache als äquivalente kinästhetische „Phonemen“ (in Anlehnung an Rudolf Schneiders Eurhythmien) betont Stephan von Huene umso mehr die Klangfarbenmusik der Ursonate – genau genommen wird diese erst dadurch zur reinen Klangfarbenmusik in eigentlichem Sinne. Andererseits wird die von Schwitters vorgegebene Ursonate-Struktur11 (Tempi, Rhythmen und Sätze) respektiert: Ein Zufallsgenerator verteilt in Echtzeit die Phoneme nach jeder Aufführung erneut, so dass die Komposition immer wieder ihre Ursonate-Struktur gelten lässt. Der Sohn von Kurt Schwitters erzählt, als sein Vater im Sterbebett lag, habe er „dessen Hand gehalten und kurz vor dem Eintritt des Todes gespürt, wie der „Merz“ aus des Vaters Körper in seinen eigenen überging“.12 Stephan von Huene thematisiert diese Übertragung geistiger Kraft als Teil primitiver Kulturen und Streben nach Unsterblichkeit. Dieses Phänomen des Strebens nach Unsterblichkeit könne man in zahlreichen Kunstwerken aller Zeiten wahrnehmen. Erweiterter Schwitters (1987) banalisiert diesen Größenwahn der Romantik und interpretiert es buchstäblich, indem von Huene die Anekdote um Ernst Schwitters zuspitzt und umdeutet: „Wenn die Automatik der Skulptur kontinuierlich neue Versionen seiner Sonate erzeugen kann, dann ist die Frage nach der Unsterblichkeit gelöst“.13 Ob Erweiterter Schwitters (1987) die unaufhörliche und treue Verlängerung der Intentionalitäten von Kurt Schwitters, als er die Ursonate produzierte, tatsächlich verwirklicht oder nicht, ist hier nicht so relevant wie die Methode selbst, wodurch Stephan von Huene die Originalidee der Ursonate übertrifft, etwas völlig Neues daraus erschafft und die Allmachtsphantasien der Kunst – und indirekt die des Celebrity-Künstlers – mit heiterem Humor banalisiert, indem er

10 Für die Synthetisierung des Lautgedichts verwendete der Künstler einen PhonemGenerator der Firma Arctic Technologies, der von einem Computer gesteuert wurde. Einzelheiten über dieses Teil sind in einem Artikel von Hans-Jürgen Stelling in c’t – magazin für computertechnik (Januar 1988, S. 82-87) zu finden. 11 Die Ursonate von Schwitters besteht aus folgenden Teilen: Einleitung, Exposition, Überleitung, Durchführung und Schluss. Stephan von Huene unterteilte außerdem das Ende der Ursonate in Reprise (Wiederholung) und Coda (ausklingender Teil) und definierte Variablen für die Neuordnung der Sonate nach dem Zufallsprinzip. Für die Darstellung der Variablen verwendete der Künstler mathematische Symbole, so stehen „aI“, „aII“, „aIII“ etc. für die Verse innerhalb eines bestimmten Teils, während „α1“, „α2“, „α3“ etc. die kombinierbaren Silben innerhalb der Verse repräsentieren. 12 Retrospektive, S. 240. 13 Ebenda, S. 242.

H ARMONIE DER P HONEME

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diesen Traum beim Wort nimmt. Sein Hörspiel Erweiterter Schwitters II – Transplantation der menschlichen Seele (1989) wird diese Thematik weiter vertiefen.

ENERGIE IM KUNSTSYSTEM

Primitivismus und animierte Materie

Abbildungen 87, 88, 89 und 90: Visitor from Bakersfield I (Besucher aus Bakersfield I), 1964 (S 1964-2), Brot, Leder, Nieten, Metall auf Holzunterkonstruktion, 61 x 31 x 31 cm (Privatsammlung USA, vormals Sammlung Robert Benedetti); Visitor from Bakersfield II (Besucher aus Bakersfield II), 1964 (S 1964-3), Brot, Leder, Nieten, Metall, auf Holzunterkonstruktion, 61 x 31 x 31 cm (unbekannte Privatsammlung USA); Visitor from Bakersfield III (Besucher aus Bakersfield III), 1964 (S 1964-4), Brot, Leder, Nieten, Metall, auf Holzkonstruktion, 61 x 31 x 31 cm (unbekannte Privatsammlung, USA) ; Comin’ Thru The Rye1 (Durch den Roggen kommen), 1965 (S 1965-4), Roggenbrot, mit Leder bezogen, Nieten, Band, mit Leder bezogenes Tablett, 6 x 48 x 18 cm (zerstört, zuvor Sammlung Stanley and Eileen Grinstein, Los Angeles)

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

1

„Der Titel bezieht sich auf das amerikanische Volkslied ‚if a body meet (sic) a body coming through the rye‘, dem sich auch der Titel des Romans von Jerome D. Salinger verdankt, ‚The Catcher in the Rye‘.“ (Quelle: Petra Kipphoff, www.stephanvonhue ne.de)

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Die ersten Arbeiten von Stephan von Huene gelten als vom Primitivismus geprägt.2 Wie aber ist der Einfluss primitiver Kulturen in seinem Werk genau zu verstehen? Und inwiefern unterscheidet sich von Huenes Primitivismus von dem Primitivismus früherer Künstler? Bereits in der Avantgarde gab es zahlreiche Maler und Bildhauer, die in der primitiven Kunst ein Vorbild und einen Weg zum eigenen Stil fanden. Die Art primitiver Kunst, die Künstler wie Gaugin, Kirchner, Picasso oder Giacometti beeinflusste, war diesen Meistern nicht wirklich im Detail bekannt. Sie betrachteten afrikanische Masken und Fetische, nordamerikanische Totems und pazifische Masken als Götzenbilder. Die soziokulturelle und symbolische Reichweite dieser Repräsentationen war ihnen weitgehend unbekannt. Diese Künstlergeneration kehrte, mit Wyss gesprochen, „zu den anthropologischen Wurzeln der Kultur“ im Zuge „des intellektuellen Leitmotivs der Zeit“ zurück. Karl Krauss’ Motto „Ursprung ist das Ziel“ ist auch der Titel eines Kapitels von Walter Benjamins Essay „Über den Begriff der Geschichte“:3 Der Primitivismus steht immer wieder für die utopische Rückkehr zum Ursprungs.4 Es gibt allerdings qualitative Unterschiede bei dieser Kulturtechnik. Die formalistischen, anthropologischen Studien zur primitiven Kunst, die jene Zeit der Avantgarde begleiteten, wie Carl Einsteins Negerplastik (1916), die vergessene Arbeit von Voldemārs Matvejs Iskusstvo Negrov (1919) oder Wilhelm Hausensteins Klassiker und Barbaren (1923) haben recht wenig mit den späteren kulturrelativistischen Arbeiten von Boas oder den anthropologischen Studien Batesons zu tun. Was die Künstler der klassischen Moderne in der primitiven Kunst suchten, entsprach weitgehend seinen damaligen Erwartungen. In Wölfflins Wörtern: „Man sieht nur, was man sucht, aber man sucht auch nur, was man sehen kann.“5 Die Fauvisten suchten die Freiheit der Farbe, die deutschen Expressionisten und die späteren Kubisten suchten nach einer Vereinfachung der Form, die Surrealisten suchten nach der Darstellung des Unbewussten ... Stephan von Huenes Auffassung der primitiven Kunst distanzierte sich vom New Yorker Formalismus, der auch in der Auslegung primitiver Kunst – insbesondere in der berühmten Ausstellung „Primitivism in 20th Century Art: Affinity of the Tribal and the Modern“ von 1984 (MoMa) – zum Ausdruck kam. Stephan von Huene hatte sich einen ursprünglicheren Zugang zur primitiven Kunst und Kultur durch sein Studium ethnologischer und kunstgeschichtli-

2

Siehe z.B. Schmidt 1983; Bredekamp 2002; Warnke 2002.

3

Hier zitiert nach Wyss 2006, S. 268.

4

Ebenda.

5

Nach Wyss 2013, S. 158; vgl. Wölfflin 1915, S. 245.

E NERGIE IM K UNSTSYSTEM

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cher Schriften verschafft – insbesondere Franz Boas Primitive Art, Gombrichs Art & Illusion sowie der Unterricht bei Karl E. With und Ralph C. Altman prägten seine Auffassung primitiver Kunst sehr nachhaltig. Die „intellektuelle“ Auseinandersetzung mit den rituellen und gesellschaftlichen Ursprüngen der Repräsentation und den damit zusammenhängenden Begrifflichkeiten brachte direkte Stimuli für sein Schaffen mit sich. Dies legen zahlreiche Beispiele nah: von der fragmentarischen, schwer zu deutenden Symbolik und mythologisierenden Tendenz der frühen Zeichnungen über das direkte „figurativ-abstrakte“ Zitat in Totem Tones I-V (1969-70), bei denen nicht nur die vertikalen Pfeifen, sondern auch die „Tierstimmen“ der Pfeifen als Totems identifiziert werden können,6 bis hin zu dem Einsatz von Trommeln als „heilenden Schrittmachern“ der Wahrnehmung und der Erkenntnis (z.B. bei Blaue Bücher [1997]). Der Primitivismus, von dem hier die Rede ist, hat mehr mit der strukturellfunktionalistischen Analyse der Kunst und Kultur der Ureinwohner von Amerika und Neuseeland7 als mit dem ästhetisierenden Primitivismus von Gaugin oder dem formal-experimentellen Primitivismus eines Picasso zu tun. In den Arbeiten von Franz Boas lassen sich z.B. relevante Informationen über die „ästhetische“, gesellschaftliche und philosophische Spur des Primitivismus im Werk von Stephan von Huene zurückverfolgen – wie z.B. die fragmentierte Symbolik der Motive und die „spirituelle“ Relevanz der Materialwahl und der Herstellungsprozesse. Von Huene selbst sprach nicht von konkreten formalen oder inhaltlichen Einflüssen der primitiven Kunst. Doch er skizzierte seinen Werdegang vom Primitivismus zur Systemtheorie in einem Vortrag aus dem Jahr 1988.8 Ausgehend von seinem Kunststudium mit dem Fokus auf primitiver Kunst, die einen offenen Anreiz für seine Kunst darstellte, kam er in Verbindung mit Arbeiten von Ethnographen und Soziologen, die parallel zur Entwicklung der Kybernetik die frühe Systemtheorie auf die eigene Disziplin anwendeten. Daraus entwickelte der Künstler ein Stimulus-Reaktion-Modell für die eigene Arbeit.9 Mit Hilfe die-

6

Retrospektive, S. 268.

7

Mittlerweile spricht man nicht mehr von „Primitive Art“, sondern von „Native Art“.

8

Müller 1989, S. 15

9

Siehe vollständiges Zitat: „Ich wollte eine Kunst machen, die so etwas wie ein Anreiz war, ein Stimulus. Und ich glaube, mein Lehrer Altman, bei dem ich an der U.C.L.A. Primitive Kunst studiert hatte, charakterisierte diese auf eine ähnliche Weise. Ich wollte meine Arbeit auch offen halten, ihre Auftrittsmöglichkeiten flexibel lassen. Und als ich mehr darüber las, wie Sozialwissenschaftler die Systemtheorie auf ihre

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ser Hinweise können die Qualität des frühen Rückgriffs auf die Stimuli der primitiven Kunst untersucht und die sich daraus ergebende Anknüpfung an kybernetische Ansätze geprüft werden. Seine Lehrer für primitive und prähistorische Kunst am UCLA, Ralph C. Altman und Wölfflins Schüler Karl E. With, hatten ihm die vorgeschichtliche und primitive Kunst wie eine lebendige Ausdrucksform des menschlichen Geistes nahe gebracht. Im Katalog der Ausstellung „Totems not Taboo“ aus dem Jahr 1959 präsentierte Ralph C. Altman die primitive Kunst verschiedener Kulturen als Objekte, die sehr unterschiedliche Charaktere aufweisen, „wenn man sie lang genug untersucht“. Der Begriff „primitiv“ für die Bezeichnung nativer Kunst, die jenseits des Einflusses der westlichen und der asiatischen Kultur produziert wurde, ist laut Altman der Ignoranz vergangener Zeiten geschuldet. Nun wurde das Etikett „Primitiv“ ohne negative evolutionäre Konnotationen normalisiert und von Kunsthistorikern übernommen: Die Fehlinterpretation, primitive Kunst als das Resultat spontaner, wilder und kindischer Manifestationen wenig entwickelter Völker zu begreifen, gilt für Ralph C. Altman als überwunden: „They [primitive Kunstwerke] are recognized now as organized expressions of complex art traditions, as creations of men in tune with the style tradition of their people. And no longer are their forms strange to us. We can relate them to the arts of our age – and all ages.“10

Diese Aussage stand im Einklang mit der psychologisch gedeuteten Kunstgeschichte Gombrichs, dessen Lektüre zum Programm des Kunststudiums an der UCLA gehörte. Gombrich macht z.B. eine ähnliche Diagnose hinsichtlich der Auffassung primitiver Kunst als komplexem Ausdruck des Menschen:

Disziplin anwenden, übernahm ich eine Art von Stimulus-Reaktion-Modell für meine Arbeit. Ich glaube, dass die Text Tones das ziemlich gut demonstrieren. Später habe ich noch etwas gelernt, was mich besonders interessiert: was im Zwischenraum von Stimulus und Reaktion passiert. Ich habe etwas von diesem faszinierenden Code gelernt, der auch einer der Gedanken hinter meiner Zauberflöte ist.“ (Auszug aus einem Vortrag von 1988 [Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, S. 15]). 10 Altman 1959.

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„We call these people ‚primitive‘ not because they are simpler than we are – their processes of thought are often more complicated than ours – but because they are closer to the state from which all mankind once emerged.“11

Gombrichs Formulierungen über primitive Kunst in The Story of Art legen sogar nahe, dass wir nie aufgehört haben, primitiv zu denken. Als Gombrich versucht, sich in den Verstand des primitiven Menschen zu versetzen, schlägt er eine interessante Selbstübung vor: „Suppose we take a picture of our favourite champion from today’s paper – would we enjoy taking a needle and poking out the eyes? […] I do not think so.“12 Auch Franz Boas, den Stephan von Huene in späteren Jahren immer wieder erwähnt, spricht in einem allgemeinen Menschheitskontext vom Schönheitsempfinden und setzt eine formale Grundlage voraus für die Existenz von Schönheit: „The pleasure or elevation of the mind must be brought about by a particular form of sense impression, but this sense impression must be made by some kind of human activity or by some product of human activity.“13

„Purely formal elements that are not primarily expressive“ können auch laut Boas als Kunst betrachtet werden.14 Dabei stützt er sich auf die Positionen von Frederik Adama van Scheltema15 und Alfred Vierkandt.16 Passend zu diesen Thesen über die universelle formale Kunstgültigkeit sind auch die Beobachtungen von Boas über die Vorherrschaft der Technik über den Stil: „Representations become works of art only when the technique of their manufacture is perfectly controlled, at least by a number of individuals; in other words, when they are executed by one of the processes that are industrially in common use. [...] Since representations that are intended to have artistic value are made in the most highly developed tech-

11 Gombrich 1950, S. 37-8. 12 Ebenda, S. 38. 13 Boas 1927, S. 13. 14 Ebenda, S. 14. 15 Frederik Adama van Scheltema, Die altnordische Kunst, Berlin: Mauritius Verlag 1923. 16 Alfred Vierkandt, „Prinzipienfragen der ethnographischen Kunstforschung.“ In: Zeitschrift für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft 14, 1925, S. 338 ff.

216 | ELEKTRONIK ALS S CHÖPFUNGSWERKZEUG nique it is not surprising that the formal style of the technique gains an influence over the form of the representation.“17

Auf diese Weise entsteht eine besonders intime Beziehung zwischen formalen und repräsentativen Elementen, so dass die formalen Werte des Kunstwerkes eine emotionale Dimension fern von der repräsentativen Bedeutung erreichen können. Dies kann zur Konventionalisierung von repräsentativem Design oder zur Anrechnung von Bedeutung bei formalen Elementen führen.18 Vor diesem Hintergrund fasste Stephan von Huene die native Kunst Amerikas und die primitive Kunst im Allgemeinen wie einen natürlichen Stimulus der Kreativität und ein Experimentierfeld der Repräsentation auf, mit dessen Hilfe er einen eigenen Weg abseits der damaligen Alternativen zum Abstrakten Expressionismus fand. Seine Überzeugung vom kreativen Potenzial des Primitiven war so groß, dass er rückblickend sagte: „Ich fragte mich, ob ich primitiv sein konnte.“ Neben der Analyse formaler Stimuli und ikonologischer Aspekte19 gibt es zwei allgemeine Themen, die etwas Licht auf die primitiven Eigenschaften der frühen Arbeiten von Stephan von Huene werfen: der Animismus-Begriff und die Funktion des Totem.

D ER ANIMISMUS -B EGRIFF Dass alles in der Natur von Leben durchströmt ist, ist einer der geläufigen Aspekte des Primitivismus, den man als Animismus kennt.20 Geprägt wurde der Begriff des Animismus von Sir Edward Burnett Tylor Ende des 19. Jahrhunderts. Er beschrieb ihn als „the general doctrine of souls and other spiritual beings in general“ (Tylor 1871). Sir Tylor betrachtete den Animismus primitiver Kulturen wie eine Idee, die das Leben und den Willen der Natur durchdringt in dem Glauben, dass alle Objekte der Natur eine Seele haben.21 Diese Vorstellung ist vom Begriff des „Fetischismus“ nach Auguste Comte zu unterscheiden, der den äußeren Objekten einen göttlichen Charakter zuschreibt. Für animistische Kulturen sind die Kunstobjekte nicht notwendigerweise Idole oder „Götzenbil-

17 Boas 1927, S. 81. 18 Boas 1955, S. 82. 19 Zu den Stimuli der primitiven Kunst für die Gestaltung der ersten Skulpturen und Zeichnungen siehe das Kapitel „Inpressivität der Körperteile“. 20 Vgl. z.B. Cohan 2010, S. 49 ff. 21 Tylor, Edward Burnett 1920 (=1871), S. 85.

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der“ für die hingebungsvolle Verehrung, wie z.B. das goldene Kalb im Alten Testament. Der Animismus kann nicht viel mit Idolatrie zu tun haben, zumal sakrale Bauten bei animistischen Kulturen selten vorkommen. Beim Animismus geht es vielmehr um die spirituelle Vorstellung einer beseelten Natur. Diese Weltvorstellung ist dem Menschen – ungeachtet seiner kulturellen Herkunft – gar nicht so fremd. In dieser Hinsicht machte auch Gombrich auf die magische Funktion der Kunst in den primitiven Gesellschaften aufmerksam: „Pictures and statues, in other words, are used to work magic“.22 Die „Beseelung“ der Natur ist laut der Entwicklungspsychologie nach Jean Piaget bereits bei Kindern vorhanden. Kinder sind auch die ersten Mythologen. Tylors Beschreibung des Animismus kommt der Idee einer Ur-Religion nah, die nahezu jede Gesellschaft erlebt haben mag. Diese Vorstellung ist im Einklang mit James George Frazers These über die Kontrollfunktion der Magie bei Urgesellschaften aus seinem monumentalen Werk The golden Bough (1890). Er unterscheidet drei Evolutionsphasen des Geistes in der Menschheitsgeschichte: In der ersten Phase bedienten sich die Menschen der Magie, um die Welt zu erklären und eine gesellschaftliche Ordnung zu etablieren; in der zweiten Phase machte man Gebrauch von der Religion mit einem vergleichbaren KontrollZweck; und in der dritten und letzten Phase trat die Wissenschaft an die Stelle von Religion ein.23 Bei den ersten Arbeiten von Stephan von Huene spielen der Begriff des „Animismus“ nach Tylor und die Vorstellung des Künstler-Wissenschaftlers als neuer „Magier“ der Gesellschaft eine wichtige Rolle. Die Vorstellung einer beseelten Natur ist zunächst als kreativer Stimulus bei Arbeiten wie Visitors from Backersfield I, II und III (1964), Comin’ Thru The Rye (1965, Abb. 87-90) oder Totem Tones I bis V (1969-70) vorhanden. Die These der Funktionsweise der primitiven Kultur als kreativem Stimulus entspringt nicht nur den Aussagen des Künstlers, sondern auch der Untersuchung seiner mythologisierenden Zeichnungskonvolute, der magisch-alchemistischen Produktionsmethoden der Skulpturen aus Brot, Leder und Holz – Materialien, die für Fleisch, Haut und Knochen standen24 –, und seiner Auffassung von Klang, Materie und Umfeld als künstlerischer Einheit von Körper und Seele.

22 Gombrich 1950, S. 38. 23 Frazer 1894, S. 32. 24 Siehe hierzu auch Gombrichs (1960) Ausführungen über „Pymalion’s Power“ und die magischen Eigenschaften der Repräsentation, insbesondere am Beispiel der Geschichte der Nunivak-Eskimos, wonach die Haut einer Eskimo-Zauberin in ein schematisches Motiv überführt wird, das die magischen Eigenschaften der Haut behält.

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Letzteres wird besonders klar am Fallbeispiel Glass Pipes (1974-76), bei dem alle Grenzen zwischen Klang, Kunstobjekt und Komponist aufgehoben wurden.

D IE F UNKTION DES T OTEM Was die Vorstellung des Totems bei Stephan von Huene betrifft, so kannte er diese aus den nativen Kulturen Nordamerikas, insbesondere aus der Kunst der Kwiakiutl-Indianerstämme von der Nordwestküste. Abbildungen 91, 92, 93, 94 und 95: Totem Tone I (S-1969-1.1); Totem Tone II (S-1969-1.2); Totem Tone III (S-1969-1.3); Totem Tone IV (S-1969-1.4); Totem Tone V (S-1969-1.5). Werkgruppe: Holz, Orgelpfeifen, Metallteile, Gebläse, Licht, Computer (zunächst Lochstreifen) (verschiedene Sammlungen)

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Die monumentalen Pfähle der Kwiakiutl-Indianer stellten die Vorfahren als mythologische Tiere dar. Dabei wurden fragmentarische Symbole eingesetzt, welche die Grundfigur eines menschlichen Gesichts um die typischen Merkmale eines bestimmten mythologischen Tieres – wie Seemonster, Haifisch, Seehund oder Falke – ergänzten. Diese Totems waren „beseelte“ Symbole der eigenen Stammesgeschichte und Zeichen der gesellschaftlichen Stellung. Sie stellten zunächst eine Verbindung mit den Vorfahren dar, etwa vergleichbar mit deren archaischen Ahnen- und Geisterkult der römischen Laren und Penaten, beinhalteten aber auch ein mythologisierendes und gesellschaftliches Element, das die Funktion des Totems über die Familiengeschichte hinaus transportierte, selbst wenn – oder gerade weil – der starke familiäre Bezug und die damit einherge-

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hende fragmentarische Symbolik25 eine eindeutige Interpretation für Außenstehende erschwerte. Abbildung 96: Potlach-Fest der Kwakwaka’wakw-Indianer von der pazifischen Nordwestküste. Totempfähle im Hintergrund

Quelle: Foto, Edward Curtis

Die Überreichung von Geschenken – darunter auch von Totempfählen – während des Festes des Potlatch bewirkte eine Zunahme der sozialen Anerkennung für denjenigen, der diese Geschenke überreichte. Je schöner und wertvoller die Gaben – insbesondere Kunstwerke –, umso mehr Ansehen und Anerkennung waren zu erwarten. Kunstwerke hatten einen völlig anderen Wert als in den modernen westlichen Gesellschaften. Das Objekt, das man im Rahmen dieser Zeremonien dem Stamm übergab, war eine Währung abstrakter Werte – wie Akzeptanz, Anerkennung und Macht – mit einer umgekehrten Funktion als die des Geldes: Nicht wer es hat, sondern der, der bereit ist, sein Reichtum zur Verfügung zu stellen, wird als reicher Mensch angesehen. Kunstwerke funktionierten als Träger dieser bidirektionalen Energie, als Symbole und Objekte der Machtübertragung im selbstlosen Augenblick der Schenkung. In diesem Sinne entspre-

25 Zum Thema „fragmentarische Symbolik“ siehe Franz Boas (1955 [= 1927]), S. 216 ff.

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chen auch die Potlatch-Geschenke der sozio-religiösen Funktion der griechischen Votivgaben, wenn auch dieser antike Brauch des Gelübde-Ablegens in Verbindung mit spezifischen Ereignissen stand, wie der Heilung eines kranken Menschen oder einem militärischem Sieg.26 Sowohl in der Totem- wie in der Ex-voto-Kultur verkörpert das Kunstobjekt eine sozio-spirituelle Funktion, welche die religiöse und politisch-relevante Kunst erst mit der Neuzeit schrittweise aufgab, um sich – etwa als Kompensation dieses spirituellen Verlusts – in jene selbstgenügsame „hohe Kunst“ zu verwandeln, vor der man sich mit Demut und Respekt hinzustellen hat:27 Die romantische Vorstellung des Künstlers als gottgesegneter Schönheitsschöpfer war geboren. An die Stelle der hohen Kunst des Romantizismus trat während der Avantgarde – und mit noch mehr Impetus ab den 1960er Jahren – ein neuer Künstler-Habitus ein: der Künstler ohne jegliches metaphysische Streben.28 Im Unterschied zur Oberflächlichkeit des postmodernen Ästhetizismus kann Stephan von Huene als platonischer Künstler der Moderne verstanden werden, der sich „sterblichen Meinungen“ entledigte,29 um die Erweiterung von Erkenntnissen mittels der Kunst zu fördern. Wenn auch die Auseinandersetzung mit „low culture“ seinem Werk geläufig ist, kommt diese im Spannungsverhältnis eines höheren Kunstwillens vor, dessen Ursprung u.a. ausgerechnet in dem Einfluss des Primitivismus zu finden ist. Der Künstler griff möglicherweise die Vorstellung des Totems als Träger der Familiengeschichte und soziales ex voto auf. Seine Totem Tones (1969-70) waren z.B. nicht nur in ihrer vertikalen Disposition den Totem-Pfählen der Kwiakiutl, sondern auch in der „symbolischen“ Darstellungstechnik nachempfunden.

26 Bspw. die Errichtung der Dreischlangensäule anlässlich der Siege über die Perser in Salamis und Plataiai. 27 Vgl. Ullrich 2003, S. 13. 28 Ebenda, S. 49-65. 29 Gemeint ist Timaios 90 b-c, hier zitiert nach Ullrich 2003, S. 62. Siehe vollständiges Zitat: „τῷ δὲ περὶ φιλομαθίαν καὶ περὶ τὰς ἀληθεῖς φρονήσεις ἐσπουδακότι καὶ ταῦτα μάλιστα τῶν αὑτοῦ γεγυμνασμένῳ φρονεῖν μὲν ἀθάνατα καὶ θεῖα, ἄνπερ ἀληθείας ἐφάπτηται, πᾶσα ἀνάγκη που, καθ᾽ ὅσον δ᾽ αὖ μετασχεῖν ἀνθρωπίνῃ φύσει ἀθανασίας ἐνδέχεται“ (griechischer Text nach John Burnet, Oxford University Press, 1903). Übersetzung (J.M.M.): „Für denjenigen, der sich um die Lernbegierde und um die wahren Gedanken ernsthaft bemüht und hierfür seinerseits auf das höchste trainiert, ist es absolut notwendig – falls er die Wahrheit festhalten möchte – an das Unsterbliche und das Göttliche zu denken, sofern es der menschlichen Natur erlaubt ist, daran teilzunehmen.“

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Die hervorgebrachten Klänge sind einerseits collagierte Klangsequenzen, fragmentarische Bach’schen Sätze, die in Anlehnung an die fragmentarische Symbol-Konstruktion nordamerikanischer Masken und Totems30 verstanden werden können. Aus dem Verhältnis zwischen Holzpfeife, Luftvolumen und Luftintensität entstehen andererseits „Klangfiguren“, die Tierstimmen suggerieren, und diese tierähnlichen Klänge können ihrerseits als schwer zu deutende oder sogar als „nicht erfassbare Totems“ interpretiert werden: „[T]he pipes themselves are tall, like totems and […] the tones themselves are like totems […] and then you can’t tot’em around.“31 Wie die Totem-Bilder der Kwiakiutl haben von Huenes Totem-Klänge etwas mit der Familiengeschichte zu tun: Für die Komposition dieser Klangskulpturen collagierte der Künstler Partituren von Bach-Klavierstücken und Chorälen – von ausgerechnet jenen Liedern, die in der protestantisch geprägten Familie jeden Sonntag zu Hause gesungen wurden.32 Diese Vorgehensweise mag einen anekdotischen Charakter haben und womöglich nebensächlich für die Gesamtinterpretation der Totem Tones (1969-70) sein, doch sie gibt einen weiteren Hinweis auf die Qualität der primitiven Stimuli, die seinem Werk unterstellt werden, und ist als Kunsttechnik im Sinne eines kulturellen Transfers einzustufen. Die hier skizzierte Kunsttechnik am Beispiel der Totem Tones (1969-70) bietet zudem eine neue Perspektive auf die Rolle der Kunst nach von Huene’schen Vorstellungen: Die „soziale Funktion“ der Totem Tones (1969-70) als salonfähige Kunstwerke der Postmoderne überblendet die fragmentarischen, nur für Verwandte und Eingeweihte nachvollziehbaren Familienbezüge – „ein Geheim hier und drüben darf es auch manchmal geben“:33 Die Manipulation der Bach-Partituren durch den Künstler lässt die Identifizierung von musikalischen Sätzen kaum zu. Jede familiäre Assoziation wird im fragmentarischen „Klangakt“ ausgeblendet, um eine neue mythologisierende Dimension im Spannungsfeld zwischen heiterem Humor und ernsthaftem Ritual zu erreichen, die einen postmodernen Diskurs um „high and low culture“ anzustoßen vermag. Es ist ausgerechnet diese Fragmentierung der symbolischen Dimension, die man in den „stummen“ Skulpturen der 1960er Jahren auch vorfindet, was zu einer animistischen „leibseelischen“ Einheit von Klang und Körper beiträgt. Die akustische Gestik der Totem Tones (1969-70) lässt sich nicht zu einer bestimmten Einheit summieren – „you can’t tot’em around“ –, weil sie von dem Timbre-

30 Boas 1955, S. 217. 31 Interview mit Joan La Barbara 1979; hier zitiert nach Split Tongue, S. 106. 32 La Barbara 1979; hier zitiert nach Split Tongue, S. 69. 33 La Barbara 1979; hier zitiert nach Split Tongue, S. 82.

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gebenden, massiven Mahagoni-Holz, aus dem sie konstruiert sind, und der Aleatorik der Bach-Sätze, aus denen sie „komponiert“ wurden, untrennbar sind. Die Grenzen der Repräsentation entschwinden im heiteren Klangmuster zugunsten eines vor-symbolischen Augenblicks der Kunstentstehung. Dies knüpft wiederum an eine alte Vorstellung der Renaissance über den Ursprung der Bildhauerei an, die auf die Kunst der Kwiakiutl ebenso anwendbar ist: Die Wurzeln der Kunst als Naturähnlichkeit liegen nach Leon Battista Alberti in der Interaktion zwischen zufälligen Formen der Natur – z.B. ein Baumstamm – und dem menschlichen Mechanismus der geistigen Projektion, wonach durch „Ergänzung“ oder „Wegnahme“ von Material eine Naturähnlichkeit verfolgt wird, welche das Objekt selbst vorgibt.34 Der Baum-Stamm, aus dem die Indianer-Totems geschnitzt wurden, gibt die vertikale Komposition vor, auf der die Grundformen mythologischer Tiere verteilt werden. Dies ist analog dem kulturell-familiären Hintergrund des Künstlers – jenem reformatorischen und protestantischtraditionellen „Stammbaum“, aus dem Stephan von Huene das Rohmaterial für seine Totem Tones (1969-70) übernahm.

D ER ETHNOLOGISCHE T RANSFER Diese Art des Kunstschaffens als Überführung und Anpassung primitiver Strukturen hat nichts mit der avantgardistischen Ausdruckskraft des Unbewussten zu tun, wie es die ersten Surrealisten praktizierten. Allein das Interesse für die Funktion des Totems weist schon auf eine kalkulierte, animistisch-positive Weltvorstellung hin, die mit Bredekamps Deutung „eines realen Surrealismus“ im Einklang steht. Der „reale Surrealismus“ von Stephan von Huene kommt nicht aus der formalen Auseinandersetzung mit primitiver Kunst, sondern vor allem „aus dem Transfer ethnologischer Riten“.35 In diesem Zusammenhang erwähnt Bredekamp den möglichen Einfluss einer Studie von Gregory Bateson über die Naven-Riten der Iatmul-Indianer.36 Wenn auch Batesons ethnographische Studie Naven (1958) in der Bibliothek des Künstlers nicht vorkommt, könn-

34 De Statua (1435) von Leon Battista Alberti; hier zitiert nach Gombrich 1960, S. 90. 35 Siehe: „[Seine] Überzeugung, dass die nicht erklärbare magische Kraft von Kunstwerken als Wirkung eines realen Surrealismus zu erklären sei, hat von Huene sich aus dem Transfer ethnologischer Riten in die Kunst klarzumachen versucht.“ (Bredekamp 2002, S. 138) 36 Siehe Gregory Bateson 1958, vgl. Platte XXVII mit der Marriage-Skulptur (Abb. 97 und 98).

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te diese durchaus vom UCLA-Lehrer Ralph C. Altman vermittelt worden sein. Wie dem auch sei, Bredekamps These „des ethnologischen Transfers“ verdient eine genauere Betrachtung, zumal die Analyse des Totem-Begriffes im Werk von Huenes auf einen Transfer von primitiven soziokulturellen Strukturen zurückschließen lässt. Abbildungen 97 und 98: Platte XXVII aus dem Buch Naven (1958) von Gregory Bateson. Mbwatnggowi-Figur, Kankanamun. Puppe für Fruchtbarkeitszeremonien; Marriage of the Cigar Store Indian’s Daughter (Heirat der Tochter des Zigarrenladen-Indianers), 1966 (S 1966-4), Leder auf Holzkonstruktion, Hochzeitsschuhe auf Holzsockel montiert, mit Leder, Nieten und Band, 76 x 43 x 43 cm (Sammlung Milton Sidley, Santa Monica, Kalifornien, vormals Sammlung Robert Benedetti)

Quelle: Gregory Bateson (Naven 1936); Nachlass Stephan von Huene

Für die Darstellung einer sogenannten Mbwatnggowi-Figur (Abb. 97) verwendeten die Iatmul aus Neuseeland einen weißen Teller. Bateson vermutete, die Wahl des fremden Schmuckobjekts hinge mit einem ästhetischen Mehrwert, nämlich mit der sehr weißen Farbe und Helligkeit des europäischen Tellers zusammen. Der weiße Teller wurde auf Kosten der traditionellen Melonenschnecke gewählt, die man sonst früher für die Dekoration des Bereichs oberhalb des Kopfes verwendet hatte. Einen ähnlichen Mechanismus der Aneignung westlicher Konsumgüter für die Dekoration von einem Kunstwerk finden wir bei Stephan von

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Huenes Marriage of the Cigar Store Indian’s Daughter (1966, Abb. 98): In diesem Fall erinnern die sehr europäischen weißen Schuhe der „Brautbeine“37 an die besonderen appropriate art der Iatmul – in eine ähnliche Kategorie wäre das Herrenhaus im Spielzeug-Format einzustufen, zu dem eine Ackerfurche ähnelnde Lederschnürung führt. Alle weiteren Elemente – die dunkelhäutigen Beine, die „Zigarrenhüte“ und die markanten Gesichtspartien – lassen scheinbar auf die Darstellung von Ur-Elementen einer nativen Kultur zurückschließen. Neben den Beinen der Braut verdient hier eine besondere Nennung das an Arcimboldos Bilder erinnernde Gesicht des Zigarren-Laden-Indianers: In fast allen primitiven Kulturen – afrikanischen wie amerikanischen – ist das Material, aus dem eine Maske mit ritueller Macht-Funktion geschnitzt wird, sehr sorgfältig ausgewählt. Stephan von Huene zeigt demonstrativ das Stück Holz, aus dem das Profil des Zigarren-Indianers herausgearbeitet wurde, und thematisiert somit die unvollendete Arbeit eines Handwerkers, der nach Albertis Kunstauffassung handelt. Dadurch wird auf den abgebrochenen Prozess des Energietransfers vom Material auf Darstellung hingewiesen. Das kann sowohl als allgemeiner, kreativer Stimulus für die Erschaffung einer surrealistisch anmutenden Szene oder als Kritik der Störung kultureller Entwicklungsprozesse durch die europäische Einverleibung und Vermarktung der Urkultur Amerikas verstanden werden. Eine dritte Lektüre dieses Motivs besteht in der Auffassung der Szene als Bemühen um neue Erkenntnisse der kritischen Kreativität, für deren Umsetzung strukturell-funktionelle Merkmale primitiver Kulturen zu einem Kunstwerk zusammengeführt werden. Diese Hypothese wird durch eine weitere Beobachtung unterstützt. Bei der Naven-Puppe stechen die umgebenden Bananenblätter und eine Art krönende „Warbonnet“ oder einen Federhut hervor. Ein Warbonnet war eine der höchsten Auszeichnungen bei zahlreichen Indianer-Stämmen Amerikas. Warbonnets werden bei besonderen Anlässen wie Hochzeiten oder Ehrungen immer noch getragen. Die auszeichnende Funktion des Warbonnets ist nicht eine exklusiv menschliche „Erfindung“. Ähnliche Federkränze kommen als Federschopf auf dem Kopf mancher Vogelarten – wie z.B. bei der Haubenmeise – mit ähnlicher Funktion vor: Die Haube wird als Hilfe zur Paarung oder zur Verteidigung auf-

37 Dieses weibliche Körperteil wird Jahre später erneut thematisiert, als der Künstler von der Deutschen Bank beauftragt wird, für das Foyer der alten Zentrale in Berlin eine Klangskulptur zu konzipieren, die deutsche Tradition mit Zukunftsvision vereint: Daraus entstand 1998 ein Konzept für das – nicht mehr umgesetzte – Projekt „Das Bein der Uta“ – im gleichen Jahr als, Wolfgang Ullrichs Uta von Naumburg (1998) erschien. Weitere Infos zum unvollendeten Projekt: Retrospektive, S. 216.

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gerichtet und erfüllt somit eine vergleichbare Kommunikationsfunktion in der Tierwelt. Möglicherweise könnte die soziale Funktion des Warbonnets in Analogie zur Natur an unterschiedlichen Orten und Kulturen zustande gekommen sein. Wie dem auch sei, Stephan von Huene übernimmt die Kommunikationsstruktur, in der dieser primitive Ehrenhut eingebettet ist, und verwandelt ein Motiv der höchsten Anerkennung in einen imitierten Zigarrenhut aus Leder und Holz. Die Heiterkeit der „wilden Komposition“ erschwert die Sichtbarkeit des Dramas, was die Herabstufung des alten Indianers zur Metonymie eines traditionellen Kulturguts impliziert. Kulturkritik und kreative Übernahme funktionaler Elemente der Indianer vermischen sich in einem neuen Zeichensystem, das nur ikonographisch nicht zu entziffern ist. Arbeiten wie Marriage of the Cigar Store Indian’s Daughter (1966, Abb. 98) können als selbstreferentielle Werke gedeutet werden, welche die Widersprüche vergangener idealisierter Zeiten des amerikanischen Westens im buchstäblichen Sinne verkörpern: Die sorgfältige Wahl der Materialien (Holz und Leder), die Übernahme strukturell-funktioneller Aspekte der primitiven Kulturen und die damit zusammenhängenden handwerklichen Herstellungsmethoden sind der Weg zum vielschichtigen Ausdruck. Das primitive Setting transponiert nicht nur eine ethnologische Beobachtung als kreativen Stimulus, es transferiert auch – mit schwer zu beschreibender Ironie – die Kontroversen jener und dieser Welt und re-formuliert diese in einem unabgeschlossenen Zeichensystem, das „einer Kultur“ bedarf, um vervollständigt zu werden. Ikonographisch gesehen hat diese Skulptur eine große Ähnlichkeit mit den skulpturalen Reklamen für Tabakläden der 1950er Jahre in Los Angeles, bei denen der Federhut des Tabakladenbesitzers eine standardisierte Dekoration war. Ursprünglich war der aus Großbritannien importierte Tabakladen-Indianer – mangels genauer Darstellungen der Ureinwohner Nordamerikas – eine dunkelhäutige Mauren-Figur.38 Dadurch ist der europäische Ursprung der KlischeeFunktion dieser Indianer-Repräsentation des „bon savage“ dokumentarisch bewiesen: Die Identität des Volkes wird geraubt und durch eine dem Imaginarium der europäischen Eroberer zufriedenstellende fremde, ethnische Identität ersetzt. Der Bildakt wird zum Gewaltakt durch die Degradierung, Gleichstellung und Zerstückelung der nativen Identitäten. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich die surrealistisch anmutende Tochter des Zigaretten-Indianers als eine „real-surrealistische“ Vorführung der Aneignung der nativen Kultur Nordamerikas durch die kolonialistische Totemisierung des „netten Wilden“ in der kitschigen Holzreklame des Zigaretten-Indianers, die

38 Siehe vor allem: Hicks 1948 und Todd 1968.

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bis in die 1950er Jahre vor fast jedem Tabakshop in Los Angeles – meistens in der männlichen Variante – zu sehen war. Die Skulptur ist somit kein religiöses oder modernes Fetisch, das durch den unbewussten Ausdruck eines Künstlergenies zum Ausdruck gebracht wird. Vielmehr geht es hier um ein paradoxes Andenken, das einer Katharsis im Betrachter nachgeht. In der verspielten Banalisierung der Zigarren-Reklame kommt die traurige Wahrheit hinter dem amerikanischen Mythos des bon savage ans Licht, nämlich die Kannibalisierung und Vermarktung der nativen Kulturen Amerikas.39 Die Skulptur wird zum kritischen Andenken, insofern der kreative Stimulus aus dieser marginalisierten Indianerkultur herkommt, die in der offiziellen Geschichtsschreibung und in der Massenkultur verniedlicht wurde, und insofern das künstlerische Ergebnis kein satyrisches Lachen herbeiruft: Ein undefinierbares Gefühl zwischen Schauer und krankhaftem Interesse erstickt das humoristische Momentum, welches die „dadaistische Komposition“ und das Spiel der Buchstäblichkeit im Titel versprechen. Das Resultat ist eine besondere Form der Ironie als latente Energie, die erst durch eine Erkenntnis-orientierte Teilhabe des Rezipienten freigesetzt und „genossen“ werden kann. Der ethnologische Transfer führt in ein im Keim ersticktes Lachen, das als spannungsreiches System fortbesteht. In der Tiefe dieser frühen systemischen Relationen rückt Batesons Ästhetik-Definition als „Aufmerksamkeit für das Muster, das verbindet“40 in den Vordergrund.

39 Die buchstäbliche funktionale Kannibalisierung der Objekte wurde bereits von Danieli im Jahr 1968 kommentiert: vgl. Danieli 1968: „[C]ast off, segmented qualities of cannibalized objects are present, and their reassembly indicates merged functions and interchangeability of parts.“ 40 Bateson 1988, S. 16.

Power-Transfer: ethnographischer Ursprung der Energie

Als Stephan von Huene an der UCLA studierte, kam er in Verbindung mit Kernbegriffen der prähistorischen und primitiven Kunst. Wie alle Kunst-Studierende jener Zeit las er sicherlich Gombrichs The Story of Art. Dort gibt es eine besondere Beschreibung der magischen Funktion der Höhlenmalereien von Altamira (Spanien) und Lascaux (Frankreich). Laut Gombrich ist es schwer zu glauben, dass man nur des dekorativen Willens wegen in die furchterregenden Tiefen der Erde hinabstieg. Die plausibelste Erklärung ist für ihn der universale Glauben an „the power of picture making“.1 Den universalen Glauben an die Macht des Bildes verglich Gombrich auch mit ähnlichen Erscheinungen in zeitgenössischen nativen Kulturen: Wenn Stammesangehörige sich für bestimmte Festivals und Rituale als Tiere verkleiden und tanzen, dann ist zu vermuten, dass sie in ebendiesem Glauben handeln, wonach die Repräsentationskunst Macht über die dargestellte Beute gewährleistete.2 Diese „magische“ Kraft der Repräsentation ist wiederum nicht nur bei primitiven oder vorgeschichtlichen Gesellschaften präsent. Insofern diese als „Muster, das verbindet“,3 verstanden wird, existiert sie auch mit veränderter Funktion

1

Siehe vollständiges Zitat: „[N]o one would have crawled so far into the eerie depth of the earth simply to decorate such an inaccessible place. […] The most likely explanation of these finds is still that they are the oldest relics of that universal belief in the power of picture-making.“ (Gombrich 1960, S. 39); siehe auch Boas 1955, S. 77.

2

Siehe vollständiges Zitat (Gombrich 1960, S. 40): „[M]ost art for them is also closely bound up with similar ideas about the power of images […] There are other tribes who have regular festivals when they dress up as animals and move like animals in solemn dances. They, too, believe that somehow this will give them power over their prey.“

3

Siehe Bateson 1988, S. 16.

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in modernen Gesellschaften. So können emblematische Symbole im Laufe der Geschichte als gleichbleibende Struktur fortbestehen –, d.h. als „Homöostase mit sich ändernden Wahrheitskriterien“, um es mit den Worten von Beat Wyss zu sagen.4 In der Antike finden wir bspw. die römische Darstellung der mythischen Wölfin, die Romulus und Remus, die Gründer Roms, säugte. Die Bronzeskulptur der Wölfin hat je nach Standort und herrschender Weltanschauung ihre symbolische Bedeutung immer wieder geändert: von Vergils Darstellung der Lupa als fürsorgliche Tieramme, die zur allegorischen Figur des Buon Governo im Bodenmosaik des Doms von Siena führte, über die Ikone der Romanitá zu Zeiten des Absolutismus und der Renaissance bis hin zum späteren nationalen Wahrzeichen des italienischen Faschismus.5 Dabei durchlief die Skulptur eine Bedeutungswanderung, deren Konsistenz im etruskischen Ursprung der Bronze legitimiert wurde. Die berühmte Bronze der Lupa Capitolina wurde jedoch von der Restauratorin Anna Maria Carruba auf Grund von empirisch bewiesenen Inkonsistenzen in den Herstellungsprozessen nachdatiert.6 Der von ihr festgestellte ganzheitliche Bronzeguss war nämlich typisch für das Mittelalter: In der römischen Antike wurden eher Einzelteile hergestellt, zusammengeschweißt und sorgfältig bearbeitet, bis keine Nähte mehr zu sehen waren, so dass der Bronzeguss bei großer Qualität im Detail wie eine Skulptur aus einem einzigen Guss aussieht. Dieser Befund ändert zwar nichts an der Tatsache, dass das Mythos der Lupa Capitolina und ihr Abbild in der etruskischen Welt höchstwahrscheinlich entstanden ist, aber die naturwissenschaftlich widerlegte Authentizität der Bronze sorgte für eine heiße Diskussion unter italienischen Gelehrten, bis man einen Kompromiss fand: Die Lupa war zwar nicht das etruskische Original, aber sie war jedenfalls ein Faksimile davon, wie einige besonders fein bearbeiteten Flächen des Abgusses beweisen sollen.7 Die Sache war ernst: Eins der mächtigsten Symbole der Republik – die nationale Totemfigur Italiens – war nämlich im Spiel. Was treibt den modernen, zivilisierten Menschen dazu, selbst die kleinsten Spuren der Authentizität eines symbolträchtigen Kunstwerkes aufzuspüren, wenn nicht der Glaube an die geistige Kraft und an eine beinahe „metaphysische“ Energie des Mythos, das in einem Kult-Objekt konkretisiert wurde? Die Materialanalyse der Lupa hätte beinah ihre ikonisch-symbolische Eigenschaft

4

Wyss 2013, S. 178.

5

Vgl. ebenda, S. 153-181.

6

Ebenda, S. 154.

7

Ebenda, S. 159.

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und somit auch ihre soziale Funktion als Identitätsgeberin zum Umsturz gebracht. In modernen Gesellschaften wirkt offensichtlich der Pygmalion-Künstlermythos als eine mystische Verlebendigung gesellschaftsrelevanter Kunstobjekte weiter: Die Magie des Bildes existiert als Bildkult jenseits des Rituals und des ursprünglichen sozialen Brauchs, wofür dieses hergestellt wurde. Die systemischen Mechanismen, welche seine magische Struktur aufrechterhalten, bleiben in einem offenen Kunstsystem von der diskursiven Achterbahn der Politik und Kunstkritik unberührt. Batesons strukturell-funktionale Beschreibungen der Ureinwohner Neuseelands gehören zu der Kategorie der ethnologischen Homöostase – der eingeschlagene Weg von der Anthropologie zur Kybernetik unterstreicht noch mehr diese Annahme: In seinem Buch Step to an Ecology of Mind wandte Bateson kybernetische Prinzipien zu dem Forschungsbereich der ökologischen Anthropologie – der Studie der kulturellen Anpassung an neue Umgebungen – sowie zu dem Begriff der Homöostase an. Daraus ist eine der einflussreichsten Theorien des 20. Jahrhunderts entstanden, auf der sogar Luhmanns Systemtheorie aufbaut. Die „homöostatische“ Struktur des Systems, in dem ein Kunstobjekt Bedeutung erlangt, lässt eine nicht-evolutionäre bzw. eine kulturrelativistische Betrachtung der Kunstkreation zu: Man kann homöostatische Kunst-Strukturen bis in vorgeschichtliche und primitive Kulturen zurückverfolgen. In gewissem Sinne ist es, was Stephan von Huene auch macht. Er war von den Transfereigenschaften primitiver Kunst insofern fasziniert, dass er die strukturell-funktionellen Facetten des rituellen Energie-Transfers für seine eigene Art „primitiv zu sein“, distinktiv, authentisch und anschlussfähig fand. Die „primitive“ Schaffensperiode des Künstlers wird in dieser Hinsicht nie vollkommen zu Ende gehen: Die performativen und interaktiven Strukturen der Kunst, die sich durch die Reaktionen des Publikums erst richtig als „Power- und Energie-Transfer“ definieren lassen, werden erst mit Hilfe von kommunikationstheoretischem Input zur Funktionsweise von Gehirn und Kommunikation im Rahmen seiner audio-kinetischen Skulptur-Produktion zur Entfaltung kommen. Die Idee der „primitiven Magie“ nimmt aber bereits in den frühen Zeiten seines Schaffens die „irdische“ Dimension einer Systemtheorie an, welche die Geheimnisse der menschlichen Kommunikation vornehmlich adressiert.

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V ON B ROTMENSCHEN UND W AGAN -M ASKEN : B EISPIELE DES E NERGIE -T RANSFERS Abbildung 99: Cracker Man, 1964 (A 1964-1), Rauchbild, Weste, Salzcracker, Gesicht auf Holz, 124 x 99 x 10 cm (Privatsammlung USA)

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Eine der frühen Assemblagen von Stephan von Huene ist Cracker Man (1964). Diese heitere Arbeit zeigt an der Stelle, wo man den Kopf einer mit Smoking gekleideten Cracker-Figur erwarten würde, eine Maske bestehend einerseits aus

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einigen Gesichtspartien8 aus Holz und Leder mit Augenöffnungen, Nase und Mund vor einem geschwärzten Hintergrund, andererseits aus einem Körper aus Salzcracker angezogen mit einer Party-Weste vor einem marmorierten Hintergrund (Abb. 99). Weder Kinn noch Stirn sind im geschwärzten Hintergrund abgebildet. Allein dieses Detail verleiht dem sonst ungezwungen wirkenden Assemblage-Bild eine irritierende Pointe. Beim „energetischen“ Cracker Man (1964) ist alles essbar bis auf seine Kleider und seine Gesichtsmaske.9 Indem die Identität des „knackigen“ Körpers mit Smoking-Weste verweigert wird, wird etwas mehr als eine groteske Metapher der Identitätsassimilation durch soziale und kosmetische Etikette dargestellt: Der gesamte Cracker Man (1964) ist eine Maske – eine Maske als ikonische Bildspur. Zahlreiche Indianerstämme Amerikas haben großen Respekt vor der symbolischen Tragweite ritueller Masken, die mit der Bedeutung des Herstellungsprozesses und des verwendeten Materials einhergeht. Die Gesichtsmaske des Cracker Man (1964) ist eine vom Künstler selbst gebastelte Maske venezianischer Art. Die eigene Bastelei ist in diesem Kontext ein positives Zeichen, denn die Übernahme einer gebrauchten Maske könnte bei bestimmten Kulturen ein schlechtes Omen auf sich ziehen.10 CrackerKörper, Party-Weste und sonstige Accessoires sind das Kostüm, welches die gesamte Maske vervollständigt. Jede Maske hat aber auch einen unsichtbaren Teil, den nur der „Zauberer“ oder der „Medizinmann“ richtig deuten können. Bei den Indianer-Völkern Nordbrasiliens wird z.B. mit dem Verbrennen einer Maske die unsichtbare Kraft, die ihr sonst innewohnt, freigelassen, um die unerwünschte Rückkehr des Dämons zu vermeiden. Da die Maske des Cracker Man (1964) als symbolischer, „venezianischer“ Rest eines symbolischen Verbrennungsakts dargestellt wird –Stirn und Kinn fehlen –, könnte sie ein Zeichen des Verfalls implizieren, wie etwa bei den Indianern Nordwest-Brasiliens. Analog könnte auch der Körper des Cracker Man (1964) das Ergebnis eines vergleichbaren Feuerrituals darstellen, wenn auch mit umgekehrten Folgen: Erst durch das entsprechende Brot-Backen waren kreative Leistungen wie der Cracker Man (1964) und seine bildhauerische „Cousinen“ Visitors from Bakersfield I, II und III (1964) möglich. Das Werk birgt eine rituelle Struktur in sich – die Homöostase

8

Für primitive Kulturen verliert eine Gesichtsmaske ihre Macht nicht, wenn sie nicht vollständig ist, denn diese kann selbst in Einzelstücken als Träger der Seele fungieren. Siehe diesbezüglich z.B. die Berichte von Theo Koch über die Indianerstämme Brasiliens: Koch-Grünberg 2011, S. 326.

9

Sofern der Cracker-Körper mit der Oberfläche verbunden ist, wird dieser „mystische Ort“ auch zur Nahrung.

10 Siehe ebenda, S. 325ff.

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eines primitiven Bildakts, etwa als wiederkehrende Pathosformel im Sinne Wartburgs, aber ohne funktionelle Anbindung an eine bestimmte Gesellschaft zu haben, die in irgendeiner Form dadurch von bösen Dämonen befreit werden soll. Aus diesem Grund wären hier ein umgekehrter demiurgischer Weg und eine neue Funktionalität zu vermuten, wonach der Künstler mittels einer Umkehrung des Totenrituals unbelebte Materie zum „Leben“ erweckt – in diesem Fall als irritierendes Kunstobjekt. Abbildungen 100 und 101: Kopf einer Mwai-Maske aus Kankanamun. Die Nase wurde als verlängerte Gliedmaße stilisiert. Die Spitze der Nase endet in die Darstellung eines Schlangenkopfes. Holz, Leim und Ornamente (hauptsächlich Muscheln). Naven, Platte XXVIII B; Schädel einer nativen Kankanamun. Auf Grund der Schönheit wurde der Schädel in mbwatnggowi-Zeremonien eingesetzt. Menschlicher Schädel, Tonerde und Ornamente (Muscheln und Federn). Naven, Platte XXV

Quelle: Gregory Bateson (Naven 1936)

Auf diese Funktion der Maske als Träger der Seele und spirituellem Pars pro Toto mit der Eigenschaft, eine Kettenreaktion des Power-Transfers auszulösen, macht der Künstler in einem Interview explizit aufmerksam:

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„I once heard about a ritual where a piece of an old mask is inserted into another, so that its magical powers could be passed on. Chains that went of miles were formed to activate a ‚power transfer‘.“11

Es ist schwer zu sagen, auf welches Ritual von Huene genau Bezug nimmt, dennoch lassen sich Ähnlichkeiten mit amerikanischen und afrikanischen Stämmen aufspüren. Passagen aus Boas und Batesons Werken kommentieren jedenfalls auch den unsichtbaren systemischen Transfer von Eigenschaften durch Masken, rituelle Puppen und alltägliche Gegenstände. Die Auswahl des Materials für die Erschaffung einer Maske oder einer Skulptur ist für animistische Kulturen äußerst wichtig. Das afrikanische DogonVolk im Osten von Mali unterscheidet zwischen heiligen Objekten, bei denen die Auswahl des Holzes ein Teil des Rituals war, von jenen Werken, die für den Verkauf an Touristen bestimmt sind. Diese Objekte haben keine seelische Kraft, denn die Suche und Auswahl des Materials für diese Kopien geschah außerhalb eines rituellen Kontextes und die geschnitzten Objekte wurden nie im Rahmen einer Zeremonie eingeweiht. Es ist sogar so, dass die Touristen DogonSouvenirs in dem Glauben kaufen, dass sie ganze Masken darstellen. Dabei ist eine Dogon-Maske ein komplettes Kostüm: Die Kopfbedeckung stellt nur ein Stück des Ganzen dar.12 Demnach wäre der Cracker Man (1964) die Assemblage einer Ganzkörpermaske. Masken als magische Transfer-Objekte existieren auch bei den IatmulVölkern Neuseelands, deren Riten Bateson studierte. Die Iatmul-Menschen hatten mindestens ein Ritual, bei dem junge Neulinge die kurze Nase (nemwari) einer Gesichtsmaske mit der eigenen größeren Nase (tshivld) rieben, um deren Schönheit auf sich zu transferieren. Laut Bateson sagten die jungen Menschen währenddessen „your nose is a small nose, mine is big“ und deuteten damit an, dass sie Gefallen an der Berührung der schönen Nase hatten.13 Masken mit langen Nasen hatten phallische Konnotationen und wurden übertrieben lang dargestellt (Abb. 100 und 102).

11 Retrospektive, S. 265. 12 Vgl. van Beek 1998. 13 Bateson 1936, S. 163; siehe vollständiges Zitat (ebenda): „I collected one instance only in which a small nose was regarded as desirable. This was in the bullying of the novices by a masked figure. Each novice was made to rub noses with the mask and to say: ‚Your nose is a small nose, mine is big (nemwari)‘ and to express a liking for the contact. Otherwise, I invariably heard praise for long (tshivld) noses.“

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Lange Nasen wurden bei den Iatmul nicht nur sexuell gedeutet, sondern auch als schön und wünschenswert empfunden. Der Schönheitsfaktor hing mit einer besonderen Charakteristik zusammen, welche bei der natürlichen Physiognomie der Iatmul selten vorkam: die kaukasische „leptorrhine“ Nase, d.h. eine lange, aber dünne Nase. Der Nasenkult war dermaßen wichtig, dass selbst Schädel verstorbener Stammmitglieder, welche dieses Schönheitsmerkmal aufwiesen, mit Tonerde zu Puppenköpfen für mbwatnggowi-Figuren verarbeitet und anlässlich bestimmter Zeremonien vorgeführt wurden (Abb. 101, Platte XXV aus Naven). Ein besonders interessantes Beispiel mit sexueller Konnotation sind die Wagan-Figuren (Abb. 102), die mit überdimensionierten Nasen versehen wurden. Diese Puppen wurden bei rituellen Wagan-Tänzen eingesetzt. Hierzu sagt Bateson: „[...] the exaggeration of the nose in Iatmul art is in part at least a conventional reference to the standard of beauty. But there is probably another factor at work. The enormous noses are certainly to some extent phallic symbols.“14

Wenn man Bateson folgt, so müsste man diese phallischen Darstellungen nicht nur als Symbole der Fruchtbarkeit, sondern vor allem als Symbole des männlichen „Ethos“ dieser Kultur verstehen.15 In Verbindung mit dem Iatmul-Ethos ist die phallische Darstellung „an outstanding symbol of the differentiation of the male sex by drastic initiation“. Die Verlängerung der Nasen unterstreicht die Stärke des männlichen Geschlechts: „The schizothyme ethos of the men is linked with emphasis upon a leptorrhine standard of beauty, and the use of phallic symbols for the schizothyme ethos has involved the use of the leptorrhine nose as a phallic symbol.“16

Interessanterweise wird der gleiche Typ von langer Nase bei Frauen ebenso bewundert. Frauen können in der Iatmul-Gesellschaft Eigenschaften des MännerEthos haben und öffentlich kundtun. Der geschlechtsübergreifende Ethos der

14 Bateson 1936, S. 163. 15 Siehe Zitat (ebenda): „I have indicated elsewhere that in this culture phallic symbols are to be regarded, not simply as symbols of the genital organ, nor as symbols of fertility, but rather as symbols of the whole proud ethos of the males.“ 16 Ebenda, S. 164.

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Iatmul-Männer kann etwas Licht auf die Deutung von Stephan von Huenes Kunstwerk Hermaphroditic Horseback Rider (1966) werfen (Abb. 103). Unter den Iatmul war das Phänomen des Transvestismus kulturell akzeptiert. Der Transvestismus hatte in diesem Sinne gar nichts mit der genetischen Veranlagung der Individuen zu tun. Laut Bateson sind weibliche Reiterinnen das beste Beispiel hierfür. Die Idee des Transvestismus hat keinerlei negative Konnotationen: Die öffentliche Vorführung der Reitkunst einer Frau wäre für die ganze Familie dieser Frau sogar ein Grund, stolz zu sein.17 Diese Bewunderung hängt damit zusammen, dass es eigentlich um eine normale Frau geht, die sich plötzlich in einem völlig neuen Outfit und in einer für sie unüblichen Männerrolle öffentlich zeigt: „a culturally and physically normal woman wears, in order to ride a horse, a costume unusual for her sex and patterned on that of the opposite sex.“18

Abbildungen 102 und 103: Wagan-Figuren mit überdimensionierten Nasen, in Jentschan. Naven, Platte XXVIII A; Hermaphroditic Horseback Rider (Hermaphroditischer Reiter), 1966 (S 1966-3), Leder, Nieten, Beschläge auf Holzunterkonstruktion, auf Holzsockel montiert, 198 x 66 x 74 cm (Verbleib unbekannt)

Quelle: Gregory Bateson (Naven 1936); Nachlass Stephan von Huene

17 „In the behaviour of the transvestite women, the father’s sister and the elder brother’s wife, we may see an expression of the occasional pride such as women exhibit on the rare occasions when they perform publicly with men as an audience.“ 18 Bateson 1936, S. 200.

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Da diese Frauen sonst völlig normal sind und das einzige Ungewöhnliche der Reiterakt und der Reiterkostüm sind, sah Bateson die ethnologische Besonderheit darin, dass Reiten „a violent activity“ voraussetzt, sowie „a great sense of physical mastery“ – beides Eigenschaften, die man einem Mann zuschreiben würde. Dies kontrastiert radikal mit der Mehrheit der Situationen im Leben einer Iatmul-Frau. Es geht also darum, dass das Ethos der Frauen auf der Grundlage von Situationen konstruiert wurde, die sich von den Situationen unterscheiden, die zur Konstruktion des Männer-Ethos führen. Das Ergebnis ist, dass Frauen, die sich in eine für sie unübliche Situation begeben, mit einem Männer-Kostüm – sozusagen gekünstelt – angezogen werden. Hinzu kommt aber auch, dass der Reiterakt zumindest in der freudianischen Ausdrucksweise als sexuell symbolisch angesehen werden kann, wie Bateson selbst pointiert und Stephan von Huene – auch ein Freud-Leser – sicherlich berücksichtigte, als er an Hermaphroditic Horseback Rider (1966) arbeitete: „In Freudian phrasing the act of riding a horse might be regarded as sexually symbolic.“19 Die Zusammenführung der übertrieben langen Nasen der Wagan-Figuren (Abb. 102) und des Motivs der „horsewomen“ können die Grundlage für die Skulptur Hermaphroditic Horseback Rider (1966, Abb. 103) geliefert haben. Die Vermutung liegt nah, dass die Technik des ethnologischen Transfers zur Erschaffung eines selbstreferenziellen Kunstwerkes hier exemplarisch zum Ausdruck gebracht wird. Demnach wäre die Iatmul-Transvestit-Figur der „horsewoman“ buchstäblich interpretiert und in ein „hermaphroditisches Wesen“ verwandelt worden, dessen phallische Ikonographie an die ohnehin sexuell konnotierenden Nasen der Wagan-Figuren angelehnt zu sein scheint. Der Einsatz von Leder und die grundlegende Form eines „lebendigen“, sich selbst erotisierenden Sattels verleiht der Komposition zugleich eine unleugbare Nähe zur amerikanischen Ikonographie des Wilden Westens. Der hier angenommene ethnologische Transfer ermöglicht eine besondere Lektüre der Skulptur vor dem Hintergrund der Lokalgeschichte Kaliforniens: Im puritanischen, machohaften Nordamerika wird die phantastische Suggestion des genetisch unterschiedlichen Wesens unterdrückt, aus dem Alles zustande kommen kann: Reiter und Gerittener werden eine gleichberechtigte Einheit. Die strukturelle Homöostase liefert neue Erkenntnisse: Die Skulptur verdichtet die Idee des Transvestit-Ethos der Iatmul und speichert zugleich die latente Energie des kulturellen Umfelds, um diese in eine provokative, erotische Bewegung umzuleiten, die – wie in vielen der frühen Zeichnungen (siehe z.B. Abb. 46, 66, 72, 77) – nicht aufgelöst wird.

19 Ebenda.

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Der Künstler transplantiert den beobachteten „dualen Ethos“ der Iatmulhorsewoman – als Kreuzung von Sattel und phallischer Nase – in eine erotisierende, dreidimensionale Szene, deren potenzielle Obszönität um die knappe Trennung zwischen beiden Geschlechtsorganen verhindert wird. Diese wird in eine störende wie intrigierende Form der Sinnlichkeit umgeleitet. Der Hermaphroditic Horseback Rider (1966) hat sich sozusagen die Energie eines hybriden Ethos einverleibt. Dieses Phänomen ist auch deshalb von Bedeutung, weil in Stephan von Huenes Zeichnungskonvoluten, und hier besonders in den Smoke Drawings die sexuellen Motive deutlich bis drastisch sind, wobei die Frau eine dominierende Rolle spielt. Einer sozialen statt einer magischen Ordnung folgend zählt die Macht des Subjektiven zu den Gestaltungsprinzipien zahlreicher primitiver Gesellschaften – wie bei den nordamerikanischen Benin, Yoruba oder Pima. Hierzu identifiziert Boas einen Einfluss der genormten Gestaltungstechnik und des formalen Stils über der Art der Repräsentation.20 Genormte intuitive „ideoplastische“ Gestaltungsprinzipien überbieten naturgetreue „physioplastische“ Methoden.21 Dies hat mit der Macht des etablierten Musters über dem sozialen Verhalten zu tun. Die Stabilität der Muster garantiert eine soziale Ordnung über längere Zeiten – „[the] controlling influence of pattern, that is of some typical form of behaviour“ – und wird somit zum Konstituens einer anthropologischen Ökologie, um es in Batesons Worten zu sagen. Diese besondere soziale Rolle des Subjektiven bei den Gestaltungsprinzipien hat nicht zuletzt damit zu tun, dass primitive Kulturen in Mustern subjektiver Kausalität denken: „As we think in a pattern of objective, material causality, primitive man thinks in a pattern in which subjective causality is an important element.“22 Die subjektive Gestaltungskraft ist nicht nur bei rituellen Objekten relevant, sie lässt sich auf alltägliche Gegenstände transferieren.23 Die soziale Struktur, welche die fragmentarischen Symbole der Totems transportiert, findet sich wieder in alltäglichen Gegenständen wie Kästen, Schalen oder Besteckteilen. Die Integration der Kunst in den Alltag und ihre konzeptuelle Verbreitung im Leben jenseits einer trennenden, dekorativen Funktion der „hohen Künste“ ist somit keine exklusive Erfindung der Moderne.

20 Boas 1927, S. 81-83. 21 Siehe für diese Begriffe Verworn 1914. 22 Boas 1955, S. 83. 23 Ebenda, S. 200.

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Abbildungen 104 und 105: Dentist’s Lunchpail (Lunchbox eines Zahnarztes), 1965 (S 1965-2), Leder, Nieten, Metall auf Holzunterkonstruktion, 46 x 30,5 x 13 cm (Southwestern College Art Gallery, San Diego, Kalifornien); Optometrist’s Lunchpail (Lunchbox eines Optikers), 1965 (S 1965-3), Leder, Metall auf Holzkonstruktion, 38 x 43 x 13 cm (Privatsammlung, USA)

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Stephan von Huene handelt – allem Anschein nach – bewusst in dem Spannungsfeld zwischen subjektiver Gestaltung und Alltagsgegenstand, wenn er die Titel von Arbeiten wie Optometrist’s Lunchpail (1965) oder Dentist’s Lunchpail (1965) beim Wort nimmt, oder wenn er eine fragmentarische Gestaltung für die Darstellung von Geschlechtsorganen in Unfortunate Aviator (1966, Abb. 106) und One Legged Traveller (1966, Abb. 62) anwendet. Der Lunchpail ist ein alltäglicher Gegenstand moderner Arbeiterkulturen. Von Huene nimmt den entsprechenden Beruf beim Wort, indem er eine „ideoplastische“ – d.h. eine Ideen-geleitete Darstellung – vorzieht. Die „zugebissene“ Zunge des Dentist’s Lunchpail (1965) wird in beiden Richtungen demonstrativ ausgestreckt (Abb. 104). Somit hat sie keinen Anfang und kein Ende, sie wird zum unverschämten „Janusmund“ und zur primitiv-ideellen Darstellung eines modernen Berufes, denn die wichtigsten Untersuchungsorgane eines Zahnarztes – Lippen, Zähne und Zunge – sind unübersehbar. Wie das Indianer-Profil bei der Arbeit Marriage of the Cigar Store Indian’s Daughter (1966) ist der Lunchpail mit einem Stück Holz verbunden. In diesem Fall geht es um den Sockel der Skulptur, welcher die Form des Lunchpail zum Teil annimmt. Dies kann als praktischer Grund verstanden werden, d.h. es ist so, damit das Hauptmotiv stabiler sitzt, andererseits kann es als Anspielung auf die Materialverbundenheit des Objekts verstanden werden, wodurch ein ritueller Mehrwert und eine neue Form

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von Symmetrie24 – der Sockel ist zugleich ein Teil des Lunchpails – gewonnen wird. Dies wird deutlicher in Optometrist’s Lunchpail (1965), bei dem der vollständige „Koffer-Umriss“ noch vorhanden ist (Abb. 105). Abb. 106: Unfortunate Aviator (Glückloser Flieger), 1966 (S-1966-1), Leder, Babyflaschensauger, mehrfache Holzkonstruktion, auf Holzsockel montiert, 41 x 41 x 41 cm (unbekannte Privatsammlung, USA)

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

So lustig auch immer der Dentist’s Lunchpail (1965) auf uns wirken mag, behält die Komposition einen unnatürlichen Hieratismus, welcher der vorgegebenen Form des Lunchpail und der aufwendigen Technik der Intarsien-Herstellung aus einzelnen Holzstücken und überzogenem Leder geschuldet ist. Diese Mischung aus Ungezwungenheit und Hieratismus geht auf die DADA-Kunst zurück.

24 Bezüglich der unterschiedlichen Formen der Symmetrie bei nativen Kulturen siehe ebenda, S. 32ff.

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„Hochernst“ und „spinnert“ zu sein, ist auch eine Eigenart, die Stephan von Huene mit Kurt Schwitters gemeinsam hat.25 Bei Unfortunate Aviator (1966, Abb. 106) und One Legged Traveller (1966, Abb. 62) haben wir zwei sich wiederholenden Darstellungsmuster, die von der gleichen Herstellungstechnik bestimmt wurden: Die Geschlechtspartien wurden aus Holz und Leder hergestellt – ähnlich wie die Intarsie-ähnlichen Gesichtspartien, die man aus anderen Skulpturen kennt. Diese „ideoplastische“ Methode der Darstellung gehorcht einem primitiven Stimulus der subjektiven Repräsentation von einer kastrierten Sexualität, die nicht zum demonstrativen, feierlichen Vorzeigen, wie etwa bei den Wagan-Figuren, die den Hermaphroditic Horseback Rider (1966) inspiriert haben mögen, bestimmt war. Der Frust der eigenen Militär-Erfahrung wird hier mittels der fragmentarischen Symbolik als Abschied von der natürlichen Männlichkeit vorgeführt.26

B ATESONS E INFLUSS

JENSEITS DER

E THNOGRAPHIE

Die hier kommentierten Arbeiten entsprechen in gewissem Sinne dem Muster einer kulturellen Schismogenese nach Bateson: Problematische Verhaltensmuster und Konflikte marginaler Gesellschaftsgruppen sowie die Konfrontation des Militärs werden sichtbar in symmetrischen und komplementären Relationen. Sexuelles Prahlen, Dominanz, Verdinglichung und metonymische Aneignung von Kultursymbolen sowie die Totemisierung des bon sauvages und die wörtliche Interpretation der Realität sind Beispiele der Schismogenese als Metakommunikation und kultureller Verschiedenheit, die Stephan von Huene zu Bildspuren und skulpturalen Akten in der dadaistischen Tradition des mechanischen Bildes27 verarbeitet. Vor diesem Experimentierfeld der kreativen Schismogenese entstehen dann die ersten audiokinetischen Arbeiten, welche die bis dahin in den stummen, statischen Werken eingefangene „primitive“ Energie bewusst einsetzen werden. Eine neue Qualität von Buchstäblichkeit zur Artikulation von performativen Ritualen des „Diesseits“ wird mit Werken wie Kaleidophonic Dog (1964-67), Rosebud Annunciator (1967-69) oder Washboard Band (1967) möglich. Bei diesen und späteren Werken wie Totem Tones (1969-70) ist das ikonographische Gewicht des Primitiven im handwerklichen Ausdruck noch sehr prä-

25 Bezüglich Kurt Schwitters vgl. Wyss 2006, S. 85. 26 Siehe dazu die Erläuterungen zu One Legged Traveller (1966) in Kapitel „Inpressivität der Körperteile“. 27 Siehe hierzu Wyss 2006, S. 77-86.

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sent, so dass die unsichtbare Energie, welche die reine Kunstwerk-Struktur ausmacht, vom Gesamteindruck des Werkes im Übermaß abhängig bleibt. Die transparenten Arbeiten Drum (I [1974] und II [1992]) und Glass Pipes (1974-76) werden diese ästhetische Abhängigkeit überwinden und die innere Struktur des Werkes performativ verräumlicht. Dem Kontext, der für die Metakommunikation unabdingbar ist, wird im Laufe Stephan von Huenes Klangskulpturen-Produktion immer mehr Gewicht eingeräumt. Spätestens mit Arbeiten wie APT (1979-1980) und Text Tones (1979/1982-83) wird er zu einem kybernetischen Künstler, der mit einem Aktion-Reaktion-Modell im buchstäblichen Sinne arbeitet. In der Praxis wird er ab Ende der 1970er Jahre – nach eingehender Studie der Publikationen von Bandler und Grinder – kybernetische Begriffe und NLP-Methoden als neue Stimuli für die Konzeption und Ausführung von Kunstwerken wie Totem Tones (1969-70) oder Die Zauberflöte (1985) einführen. Die stimulierende Kraft des Primitivismus wird dann nach und nach um die Stimuli der Zen-Philosophie und der deutschen Mystik Meister Eckharts ergänzt.28 Spätere Arbeiten wie Lexichaos. Vom Verstehen des Mißverstehens zum Mißverstehen des Verständlichen (1990) zeigen, dass der Künstler in den 1990er Jahren auf Batesons Kommunikationstheorien immer noch zurückgriff. Für das Re-enactment der biblischen Babel-Passage lehnte der Künstler sich an die Paradoxien der Doppelbindungstheorie an.29 Die kinästhetische Übung der Sprache bei Babys, welche Bateson in einem Aufsatz über die Doppelbindung bei Condon und Sander zitiert,30 wird den Künstler Mitte der 1990er Jahre als Argument für die Sprach-Synchronisierung der Tisch Tänzer-Bewegungen interessieren. So betrachtet, war der Weg vom Primitivismus zur Kybernetik die Folge einer konsequenten, künstlerischen Entwicklung.

28 Dies lässt sich u.a. aus der Textauswahl für die Komposition des Hörspiels Rohrspiel (WDR 1985) ableiten. 29 In späteren Schriften zur Medienkunst wird Stephan von Huene Arthur Koestlers Begriff der „Bisoziation“ (The Art of Creation, 1964) verwenden, um sich auf kreative Vorgänge zu beziehen, die auf paradoxen Doppelbindungen aufbauen; siehe hierzu „Forschung und Entwicklung in der Medienkunst“, Text vom 5. Juli 1992 und „Form, Methoden und Techniken des Medienkünstlers“, Brief an Heinrich Klotz vom 3. Januar 1994; hier zitiert nach Split Tongue, S. 152 und 173. Über den Zusammenhang zwischen Doppelbindung und Bisoziation siehe z.B. Titze 1998, S. 114-127. 30 Der Titel des Aufsatzes von W. Condon und L. Sander lautet „Synchrony Demostrated between Movements of the Neonate and Adult Speech“ (als Fotokopie im Nachlass des Künstlers vorhanden).

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K ÜNSTLER

ALS

S CHAMANE

Das hier beobachtete Gleichgewicht zwischen primitivem Esoterismus und heiterem Positivismus annulliert die primitive Funktion des Kunstwerkes als heilende Medizin oder mystisches Placebo, vor allem auch des Künstlers als Heilers. In dieser Hinsicht relativiert auch Stephan von Huene die Rolle des modernen Künstlers als „Schamane“: „Mich hat die Magie rein gedanklich als Vorstellungswelt, als Ausdruck und wichtige Funktion einer Kultur interessiert. Aber ich habe nie magische Armbänder getragen oder Kerzen angezündet. Meine frühen Skulpturen haben für mich nichts mit Fetischen zu tun, ich sehe darin reine Kunstobjekte.“31

Wenn der Künstler kein heroischer Schamane im Stil von Joseph Beuys sein wollte, welche Funktion kann er mit seinem durchaus „primitiven“ Ausgangspunkt in der Ideenwelt der Moderne übernehmen? Hierzu lässt sich eine interessante Analogie zwischen Frazers erster Phase der kulturellen Ordnung (Magie) und der aktuellen Phase erkennen, die durch die „Wissenschaft“ dominiert wird: Der Cross-over-Künstler ist der neue „Heiler“ der Gesellschaft, oder zumindest derjenige, der am besten imstande wäre, unsere Augen zu öffnen und unser Bewusstsein zu schärfen in einer grundsätzlich anders konditionierten Gesellschaft: „Technologie ist die Magie von Heute. In den primitiven Gesellschaften waren der Künstler, der Arzt, der Wissenschaftler und der religiöse Führer alle in einer Person vereint: dem Medizinmann. Heute sind die Funktionen, die der Medizinmann hatte, in eigenständige Berufe aufgeteilt, aber es gibt immer noch einen Nachklang der Vergangenheit. Einige Künstler haben sich mit ihrer Kunst in eine Crossover-Situation begeben.“32

Die Position des Künstlers in der Gesellschaft als Grenzgänger ist jedoch alles andere als leicht zu definieren, denn „Kunst [ist] gerade diejenige Aktivität, bei der es fast so absurd zugeht wie im Leben selbst“.33 In dieser Hinsicht stimmte Stephan von Huene mit der Vorstellung der Fluxus-Künstler überein, welche die letzte Grenzziehung zwischen Kunst und Leben aufgehoben sehen wollten. Doch ihm ging es dabei nicht so sehr um die Provokation des bürgerlichen Kunstfeti-

31 Interview mit Doris von Drathen (1990) in: Kunstforum International Nr. 107; hier zitiert nach Retrospektive, S. 268. 32 MIZUE 1973; hier zitiert nach Split Tongue, S. 52. 33 Ebenda.

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sches, sondern um die absolute wissenschaftliche Freiheit einer Kunst, die sich aus jedem erdenklichen Bereich des Wissens bedient, um das menschliche Bewusstsein zu „tunen“ – in gewissem Sinne war er nicht nur ein „experimenteller“, sondern auch ein „romantischer Realist“. Wenn auch Stephan von Huene die Idee des Künstlers als Wunderheiler für naiv hält, so hat er zumindest die „Erkundung der Realität“ und das „Durchschauen von Verhalten“ zu den Aufgaben einer Kunst gezählt, die dazu beitragen kann, die „Wahrnehmung zu schärfen“ und kulturelle Wahrnehmungsfilter zu verschieben. Seine Kunst kann die Funktion des primitiven Wunderheilers nicht übernehmen, schlüpft jedoch in eine neue Rolle, nämlich in ebendiese Tradition des Künstler-Schamanen, der allerdings auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und insbesondere auf den Kommunikationstheorien von Bateson aufbaut. So existiert für ihn auch keine absolute Realität. Diese Flexibilität der Realität, mit der er gearbeitet hat, hat er auch provokativ – und womöglich in Anlehnung an Flussers technisches Bild – als „Halluzination“ bezeichnet, denn „in einer Halluzination“ nehmen wir „den Standpunkt nicht bewusst“ wahr.34 So bleibt die Konstruktion von Realität ein weitgehend unbewusstes Vorgehen. Die Erlangung von Erkenntnis ist kein absolut definierbarer Prozess, den man abseits des vielfältigen gesellschaftlichen Kontextes gestalten kann. In einem Interview mit Doris von Drathen zitiert er konsequenterweise den Begriff des Anthropologen Willard Van Orman Quine „cosmic exile“. Laut Quine hat der Philosoph im Vergleich zu anderen Menschen keinen besseren Aussichtspunkt jenseits des konzeptuellen Schemas, wofür er die Führung übernimmt. Wir sind alle Teil eines Systems: „There is no such cosmic exile.“35

34 Drathen 1990; hier zitiert nach Retrospektive, S. 272. 35 Siehe vollständiges Zitat: „There is no such cosmic exile. He cannot study and revise the fundamental conceptual scheme of science and common sense without having some conceptual scheme, whether the same or another no less in need of philosophical scrutiny, in wich to work. He can scrutinize and improve the system from within, appealing to coherence and simplicity; but this is the theoretician’s method generally.“ (Quine 1960, S. 275-76)

Der Klang der Kybernetik: Systemtheorie im Dienste der Kunst

Die strukturelle Funktion des Totems, die kulturellen Eigenschaften ritueller Masken sowie die animistische Vorstellung und andere Aspekte der primitiven Kunst wie die heilende Kraft der Trommel-Rhythmen sind Stimuli, die in den Kunstexperimenten von Stephan von Huene reflektiert wurden. Daraus entstanden selbstreferentielle Kunstobjekte wie die Assemblagen und statischen Skulpturen aus den 1960er Jahren. Diesen folgten in den 1970er und 1980er Jahren die ersten Klangskulpturen mit Aktion-Reaktions-Modellen. Parallel zu dem Bau der statischen Skulpturen (1961-1966) wurden die Fundamente der frühen systemischen „Votivgaben“ aus Holz und Leder nach und nach in kinetische Klangskulpturen interpretiert: Carl Gustav Jungs Trennung in creatura (das Lebendige) und pleroma (das Unbelebte)1 bringt das schlafende Sein der Kunstobjekte auf den Punkt: Stephan von Huene erweckt die metaphorisch beseelten, aber per se unbelebten Skulpturen zum Leben – durch Pneuma, Strom und eine Mischung aus Planung und konvergierenden, stochastischen Prozessen. Das primitive System der Votivgabe wird durch Technologie fortgesetzt, perfektioniert und für die Darbietung eines Entdeckungs- und Erkenntnisrituals ikonisch-systemisch entkleidet. Die frühen, dunklen und grotesken Gestalten Kaliforniens befreien die in ihnen gefangene Energie: Die Mystik der transparent werdenden Oberfläche veranlasst nun eine Kettenreaktion der sichtbar werdenden Kommunikations- und Lernprozesse dank automatischer Regulierung und Stochastik. Strom und Steuerung werden zum performativen Bildakt eines elektronischen Assemblagisten, der als einer der ersten Künstler des 20. Jahrhunderts der Energie per se die Kategorie von Kunstform einräumte:

1

Hier zitiert nach Bateson 1988, S. 14.

246 | ELEKTRONIK ALS S CHÖPFUNGSWERKZEUG „Elektrische Energie an sich (Elektronen, die geräuschlos durch einen Leiter fließen) wird selten in Kunstwerken thematisiert, die wir als ‚elektronisch‘ bezeichnen. Was in dieser Kunst meistens zum Einsatz kommt, ist die damit verbundene Technologie. Wie etwa Beleuchtung, Video, Computer, Synthesizer. Manche Arbeiten, die elektronisch genannt werden, stellen eigentlich elektronische Spielereien zur Schau, mit dem Ziel, ein Bild des modernen Elektronikzeitalters zu vermitteln.“2

Der Weg zum Künstler-Vordenker des Elektronikzeitalters geht auf die Studie primitiver Kulturen zurück. Das ethnographische Interesse für strukturellfunktionelle Beschreibungen des kulturellen Umfelds führte Stephan von Huene zu der Lektüre früher systemtheoretischer Schriften – insbesondere jener von seinem „Hauskybernetiker“ Gregory Bateson. Bateson geht davon aus, dass jeder Prozess Energie voraussetzt: In jedem Kommunikationsakt „the energy for the response or effect was available in the respondent before the event occurred which triggered it“.3 Ein in uns vorhandenes Reaktionspotenzial ist immer vorhanden. Mentale und Kommunikationsprozesse werden durch die Kombination von Energie und Entscheidungsmechanismen bestimmt – dies gilt auch für konvergierende und divergierende, stochastische Prozessen, von denen das Lernen, das Leben und die Kunstinnovation letztendlich abhängig sind.4

E NERGY

AS

ART F ORM

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E XTENSION

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M AN

In einem Abschnitt, in dem zugleich Charles Frazier, Haacke, Massin, Jean Tinguely, Frank Malina, Livinus, Healy und andere Kinetiker als „EnergyDrawn Artists“ mit einem Satz vorgestellt werden, präsentiert die Autorin Julia Busch 1974 Stephan von Huene als einen Künstler, der durch den Einsatz des Computers als Medium und der Energie als Kunstform heraussticht: „Stephen [sic!] Von Huene creates an extension of man in his humanized machine – he has combined a pneumatic sound-producing system with a Kinetic work. […] The con-

2

Split Tongue, S. 52.

3

Bateson 1979, S. 107.

4

Siehe zur Stochastik im von Huenes Werk den Text zur geplanten Skulptur „Die Rückkehr der Stochastiker“ in: Bredekamp/Brüning/Weber 2000, S. 232.

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cepts are new – working with light and computers as mediums, with energy as an art form. They are still at the beginning of exploration.“5

Dieser Text ist vor wichtigen Arbeiten, in denen der Weg vom Primitivismus zur Kybernetik deutlich vollzogen wurde – wie Glass Pipes (1974-76), Die Zauberflöte (1985), Erweiterter Schwitters (1987) und Tisch Tänzer (1988-1995) – zustande gekommen. Busch macht eine plausible Analogie zwischen beseelter Kunst und Vermenschlichung durch Klang und Kinetik. Doch die Anknüpfung der Idee einer „extension of man“ an den Einsatz von Energie „as an art form“ wäre hier noch interessanter. „The extension of man“ ist in der Tat ein passender Begriff für die Bezeichnung von Werken, die um elektronische, performative Eigenschaften ergänzt werden. Das ist auch die Essenz der Medienkunst.6 Medienkunst ist jedoch nicht immer zu einer Kunstform geworden, welche die Energie als das eigentliche Medium betrachtet. Vielmehr ist die mediale und crossmediale Technologie, auf der Medienkunst basiert, öfters als Mittel zum Zweck statt als integraler Bestandteil des Kunstwerkes betrachtet worden.7 Spätestens in der Konservierungspraxis des letzten Jahrzehnts ist klar geworden, dass das Verhältnis zwischen Materie, Technologie und Kunstwerk oft eine komplexe Einheit bildet. Stephan von Huene räumte seinen Werken unabhängig von der technologischen Zusammensetzung einen Begriff der Energie ein, der sich qualitativ von der elektronischen Kunst distanziert, denn diese Kunstwerke „stellen eigentlich elektronische Spielereien zur Schau, mit dem Ziel, ein Bild des modernen Elektronikzeitalters zu vermitteln“.8 Zu den Künstlern, die einer Art Crossover-Kategorie der Kunst durch den Einsatz mehrerer Disziplinen angehören, zählen laut Stephan von Huene auch Allan Kaprow und Hans Haacke, die sich der Kunst jeweils aus der Perspektive des Theaters und der Soziologie angenähert haben. Er zitiert hier die Kunstkritikerin Barbara Rose, die konstatiert, „dass die Gegenwartskünstler durch andere

5 6

Busch 1974, S. 41. In ähnlichen Termini bezog sich Stephan von Huene in einem Brief an Heinrich Klotz, in dem versucht wird, eine qualitative Definition des Begriffes Medienkunst zu formulieren (Brief an Heinrich Klotz 1993, Nachlass Stephan von Huene; Split Tongue, S. 168-173).

7

In dieser Hinsicht kritisierte der Künstler die Begriffe „Multimedia“ und „Mixed Media“ als reine Multiplikation der Medien und unzureichende Grundlage für die Definition der „Pseudo-Gattung“ Medienkunst (vgl. Split Tongue, S. 168-176).

8

MIZUE 1973; hier zitiert nach Split Tongue, S. 52.

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Berufe zur Kunst kommen“, so, als wäre die Kunstwelt ein Zufluchtsort u.a. auch für Technologen, die nichts Brauchbares hervorbringen, denn Kunst ist mit von Huene gesprochen gerade jene Aktivität, „bei der es fast so absurd zugeht wie im Leben selbst“.9 Reklamiert wird in diesem Kontext auch die Figur des primitiven Künstlers als Arzt, Wissenschaftler und religiöser Führer zugleich: der Künstler als metaphorischer Medizinmann, selbst wenn er niemanden „heilen“ kann. Wenn auch heute diese Funktionen in Berufe aufgeteilt sind, gäbe es in dieser Assoziation einen „Nachklang der Vergangenheit“. Der Künstler appelliert auf die transzendente Funktion der Kunst als Bewusstseins- und Menschlichkeitsgarant im Kampf gegen die von Heinz von Foersters kritisierte Trivialität der Maschinen: Am Beispiel der Koexistenz von Low und High, Zauber und Banalität wird im Paradigma des Absurden nach Fragen und Antworten gesucht. Technik wird – im adornistischen Sinne – zum „Konstitutens von Kunst“:10 Nichts ist gegenwärtiger als die Interaktion mit dem eigenen Umfeld. Kunst ist ein System.

P ROGRAMMIERTE W AHRNEHMUNG UND K RITIK DER I NTERAKTION Stephan von Huene war der Ansicht, dass man zu wenig über die Elektrizität in der modernen Kunst sprach, als wäre diese nur ein Mittel zum Zweck und nicht wirklich integraler Teil der Kunst.11 Mit dieser holistischen Vorstellung vor Augen bediente er sich einiger Methoden des Neurolinguistischen Programmierens (NLP), insbesondere des sogenannten TOTE-Schemas von Test-Operate-TestExit – einer Reizreaktionskette mit eingebautem Feedback, die in Verbindung mit der Entstehung der Text Tones (1979/1982-83) in einer der Mindmaps12 erwähnt wird. Er griff außerdem auch auf klassische NLP-Lehren zur Repräsentation innerer Gedankenvorgänge in Die Zauberflöte (1985) zurück. Stephan von Huene übersetzte nicht nur die Obertöne der Vokale von Schikaneders Libretto

9

Ebenda.

10 Vgl. Adorno 1973, S. 95: „Retrospektiv ist Technik als Konstituens von Kunst auch für die Vergangenheit unvergleichlich viel schärfer zu erkennen, als Kulturideologie konzediert, die das nach ihrer Sprache technische Zeitalter der Kunst als Nachfolge und Verfall eines ehemals menschlich Spontanen ausmalte.“ 11 MIZUE 1973; hier zitiert nach Split Tongue, S. 52. 12 Mindmap in Bleistift, nicht im Werkverzeichnis, Retrospektive, S. 122; siehe auch INTERFACE-Vortrag, D/D 1992, IV; Split Tongue, S. 36.

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in deren entsprechende Frequenzen, er überführte die Blickrichtungen und Körperhaltungen, die den Verben des Schikaneder-Librettos sinngemäß zu entnehmen sind, in ein Lichtsystem, dass nach dem NLP-Prinzip des „Pacing“ (Schritthalten) und „Leading“ (Führen) funktioniert. Wenn ein Verb im Libretto implizierte, dass eine der Figuren sich an etwas erinnert hat, so beleuchtete eine der Zauberflöte-Türme die Decke im rechten Bereich des Raums und führte somit den Blick des Zuschauers unwillkürlich in diese Richtung. So wurden visuelle, auditive oder kinästhetische Stimuli programmiert. Die Verben des Librettos wurden in diesen Kategorien sortiert. Dabei wurden die möglichen gedanklichen Konstruktionen auf drei subsumiert: Die visuelle Erinnerung und die visuelle Konstruktion, die jeweils eine Blickrichtung aus der Perspektive des Betrachters nach rechts oben und nach links oben implizieren, wurden auf die Beleuchtung der Decke reduziert und bei jedem Turm implementiert, die eine persona im Libretto darstellt. Bei inneren Dialogen sowie bei Verben, die auf haptische und kinästhetische Inhalte deuten, wurde der Boden unterhalb des jeweiligen Turms beleuchtet. Bei auditiven Erinnerungen und kognitiven Konstruktionen, die gemäß der NLP-Methoden durch einen Geradeaus-Blick charakterisiert werden, leuchten die Türme im mittleren Bereich. Passend zu der Lichtchoreographie ändert der Zuschauer seinen Blick zu allen vorgegebenen Richtungen und vollzieht somit die Augen-Gehirn-Bewegungen, die Schikaneder erlebt haben soll, als er das Werk konzipierte: Sein Gehirn soll demnach jeden Denkinhalt mit bestimmten Gefühlen und Sinneseindrücken verknüpft haben. Dabei geht es nicht so sehr um die Rekonstruktion der vermuteten Augensteuerung durch das Gehirn von Schikaneder während des Schöpfungsakts, sondern um das Erlebnis dieser lange ignorierten, inneren Welt der Kunstkommunikation als synästhetische Darbietung. Mit der Lichtchoreographie der Zauberflöte-Türme verfolgt der Künstler keine perfekte Inkarnierung der kognitiven Tiefe des Librettos: Vielmehr funktionieren diese als empathisches Medium, das den Zuschauer zur Bewunderung der Wunder der konzeptuellen Kommunikation anregt. An dieser Stelle muss man sagen, dass Stephan von Huene kein bedingungsloser Anhänger des NLP war. Er hat sich einiger Methoden für die Gestaltung von Kunstsystemen mit Rückkopplungsfunktion zwischen Mensch und Kunstwerk, Mensch und Umfeld bedient. Seine Versuchsanordnung zielte aber nicht darauf ab, einen Aha-Moment mittels einer trivialen Maschine zu provozieren, sondern eine Reaktion zu veranlassen, die zum Selbstdenken anregt. So sagt er z.B. über die Anwendung von NLP-Theorien für den Bau der Zauberflöte: „Ich habe den Text der Zauberflöte auf die Abfolge von Verben, die eine Sinneswahrnehmung bezeichnen, hin untersucht; Sequenzen werden von den Lichtern auf den Objekten

250 | ELEKTRONIK ALS S CHÖPFUNGSWERKZEUG wiedergegeben, welche die Augen des Betrachters in Positionen lenken, wo der dieser Position und damit also dem Verb entsprechende Sinn aktiviert wird. Wenn Bandler und Grinder Recht haben mit ihren Thesen, dann ist der Betrachter der neuen Zauberflöte eingeladen, den gleichen subjektiven Schöpfungsprozess zu erleben wie Schikaneder und dann seine eigene Zauberflöte zu erleben.“13

Der Künstler machte sich die Mühe, Bandlers und Grinders Methode so penibel, wie es ging, aber auch mit künstlerischer Freiheit zu reproduzieren. Ob die These beider Autoren tatsächlich stimmt und der Betrachter der neuen Zauberflöte „den gleichen subjektiven Schöpfungsprozess“ von Schikaneder zu erleben vermag, wird dem eigenen Urteil und der synästhetischen Ausdauer des Museumsbesuchers überlassen.

D AS R EIZ -R EAKTIONS -M ODELL T EXT T ONES (1983) Wenn man die Galerie der Gegenwart in der Hamburger Kunsthalle besucht,14 findet man im Eingangsbereich ein Ensemble aus sechs weißen, kastenförmigen Sockeln mit horizontal montierten Aluminiumrohren. Sie enthalten einen Computer gesteuerten Mechanismus, welcher beiläufige Konversationen und Schritte der vorbeilaufenden Besucher registriert und als Audiocollage wiedergibt. Wenn man sich vor einer der Skulpturen aufhält und diese erwartungsvoll inspiziert, passiert nichts, es sei denn, man fängt an zu klatschen oder man schreit sie an und wartet geduldig auf eine Reaktion. Der Totem-Charakter der minimalistisch gestalteten Skulpturen lädt zu einem religiösen Schweigen ein. Und doch findet hier eine programmierte Interaktion zweiter Ordnung statt, welche Stephan von Huene selbst rückblickend „Intraaction“ nannte, um seine Arbeitsweise von jenen Werken abzugrenzen, welche dem Besucher einen direkten Eingriff in die innere Logik einer interaktiven Installation scheinbar ermöglichen. Somit machte er gleichzeitig darauf aufmerksam, dass der Begriff der Interaktion bis in eine banale Bedeutungslosigkeit für die Etikettierung moderner Kunst missbraucht wurde, noch bevor Jeffrey Shaw den ersten Meilenstein der interaktivimmersiven Kunst mit seiner Arbeit The legible City aus den Jahren 1988 bis 1991, setzte. Beeinflusst etwa von der Kritik von Heinz von Foerster an der Kybernetik, blickte Stephan von Huene skeptisch sowohl auf komplett autonome

13 Retrospektive, S. 232-233. 14 Text Tones (1979/1982-83) wurde inzwischen auf Grund von Renovierungsarbeiten in der Hamburger Kunsthalle 2013 abgebaut.

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Systeme als auch auf jene, welche den Schein erwecken, man könnte sich als Mensch dank Technologie freier entfalten. Die Arbeit Text Tones (1979/1982-83) erteilt aus der kommunikationstheoretischen Perspektive eine harte Absage an Verkündungen wie „Freiheit durch Technik“ oder modernere Parolen, wonach die Interaktion den Besucher zum Kunstproduzenten im heutigen Kunstbetrieb machen soll. Text Tones (1979/1982-83) hat nicht so viel mit physischer Teilhabe wie mit geistiger Bemühung zu tun: Der Fokus liegt auf den wechselnden „locus of meanings“.15 Das „selfcomposing“ von Text Tones (1979/1982-83) generiert Wort- und Sinnentkleidete Signale, der Besucher wird auf die Schichten der Bedeutung durch einen „reversal context“ und eine Art „Vexierspiegel“16 aufmerksam gemacht. Ob von Huene hierbei an Baudrillards Ausführungen über den Antikommunikationscharakter der Medien oder an McLuhans modellierende Funktion der „mass media“ dachte, ist schwer zu sagen. Seine Auseinandersetzung mit der Kommunikationstheorie von Gregory Bateson und Paul Watzlawick, sein Interesse für die phonetische Kommunikationsebene und für die „Schatten“ der Sprache (siehe z.B. Jackobsons Schriften in seiner Bibliothek) dürften ihn aber zu ähnlichen Schlüssen geführt haben: nämlich, dass alle Kommunikationsakte systemisch ablaufen und jene Systeme, mit denen wir vertraut sind, kommunikationstechnisch und Erkenntnis-bringend nicht so effektiv sind, wie jene Systeme, in denen der man-in-the-loop eine aktive Rolle im geistigen Sinne einnimmt: „the audience hast to give in order to receive“.17 In der Arbeit Text Tones (1979/1982-83) werden Subprodukte des Handelns, welche sensu stricto keine Kommunikationsintentionen beinhalten, zu einer Soundcollage verarbeitet. Text Tones (1979/1982-83) stimmt die Kommuni-

15 Siehe: „Text Tones concern an interplay of literal and aliteral elements and bring attention to the shifting locus of meanings.“ Im Programmheft: Huene, Stephan von (1982): Contemporary Music Festival, Los Angeles: California Institute of the Art, S. 2. 16 Randow 1983, S. 94; siehe auch Kipphoff von Huene 2014, S. 48: „Im Feedback mischen sich die Laute des Einzelnen mit denen der anderen Besucher dann zu dem, was Thomas von Randow eine ‚Art Vexierspiegel‘ genannt hat.“ 17 Siehe vollständiges Zitat: „Speech can have so many kinds of messages just outside of the word. Words are rather ambiguous units in terms of their signal […] I have a reversal of context. The meaning of shifts. The machines don’t have a mind. They only have mechanics. The audience hast to give in order to receive.“ Im Programmheft: Huene, Stephan von (1982): Contemporary Music Festival, Los Angeles: California Institute of the Art, S. 2; hier zitiert nach Kipphoff von Huene 2014, S. 48.

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kationsabfälle der Umgebung zu einer sinnlichen Botschaft synthetischer Natur, die sich nicht wiederholt, sondern mit jeder neu aufgenommenen Speicherung variiert wird. Die immersive Erfahrung in der programmierten Umgebung wird hier – als vorführende Kritik der Medienmanipulation – insofern dekonstruiert, als man eine „kognitive Immersion“ a posteriori gebraucht, um sich dieser Tatsache bewusst zu werden. Man muss sich geistig mit dem Vorführungspotenzial des Werkes vernetzen, um die inhärente Fragestellung sichtbar zu machen. Dieser Zusammenfall von Widersprüchen – die Absage an eine direkte, interaktive Immersion durch eine gedankliche Immersion zweiter Ordnung – hält die Spannung zwischen real und virtuell generierten Klangräumen wach und wertet zugleich den Begriff des Immersiven in eine geistige Leistung um. Man neigt dazu, den Begriff der Immersion anhand seiner Wort-inhärenten Bedeutung und einer technologisch – von heutigem Standpunkt aus – rückblickenden Sichtweise zu erklären. So wird z.B. die Voraussetzung eines 360-GradBlickfeldes für die genealogische Deutung immersiver Malerei zur normativen indexikalischen Vorgabe gemacht – man denke hier an die Ausführungen von Oliver Grau zu den immersiven, lebensgroßen Darstellungen auf den Sacri Monti.18 Auch der Weg zur Immersion wird oft durch Beispiele illusionistischer Natur belegt. Diese Wertungen des immersiven Begriffes lassen andere Erscheinungen des Immersiven außer Acht, welche über die illusionistische Sicht hinweg narrativ-irritierende Züge aufweisen, wodurch eindringende Erkenntnisse veranlasst werden. In dieser Hinsicht knüpft die beobachtete „kognitive Immersion“ an die Idee einer wechselwirkenden Oberfläche, wodurch eine „unendliche Metapher“ beschwört wird.

H EILENDE K RAFT

DES



KYBERNETISCHEN

– R HYTHMUS

In den Klangskulpturen knüpft der Künstler auch an ethnographische Beschreibungen an, wie im Fall der heilenden Eigenschaft der Trommelrhythmen.19 Der Künstler überführt diese alte Kulturtechnik in eine Art selbst-korrektives Mensch-Maschine-System zwischen hoher Ernsthaftigkeit und elektronisch heruntergespielter Spinnerei. Maschinen- und Wahrnehmungsakt werden hier Teil des gleichen Kreislaufes: Der Einsatz von Relais erfolgt bei Stephan von Huene sowohl in buchstäblichen wie in übertragenem Sinne. Die Trommel an sich war schon in frühen Arbeiten wie Rosebud Annunciator (1967-69) und Drum I

18 Vgl. Grau 2004, S. 41. 19 Retrospektive, S. 267.

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(1974) vorhanden. Dieses Instrument wird in seinen kybernetisch geprägten Werken zu einem relevanten Bestandteil. Bei Arbeiten wie Blaue Bücher (1997), Greetings (1996) oder Der Mann von Jüterbog (1995) wird die Trommel insbesondere als Mittel zum empathischen Transfer geistiger Zustände etwa in Anlehnung an die NLP-Technik des „Pacing“ („Schritthalten“) eingesetzt: Die Konditionierung der ästhetischen Erfahrung durch die Vorgabe eines Rhythmus, sei dieser akustisch oder visuell – wie beim Lichtspiel der Zauberflöte – gehört zu jenen Traditionen des „geistigen Zusammenführens“, die bis heute in abgewandelter Form überlebt haben – vergleichbar der gemeinsamen Gymnastik in der japanischen Management-Welt oder den gemeinschaftlichen Gesängen in der Kirche. Durch die Technik des Trommelschlags kann auch „a feeling of belonging and peaceful togetherness“ entstehen.20 Abbildungen 107 und 108: Der Mann von Jüterbog (S 1995–1), bekleidete männliche Halbfigur auf Podest, Computer, Kompressor, Lautsprecher, Trommel, vorgetragener Text „Seitliche Blicke“ von Reinhard Lettau (Hamburger Bahnhof, Nationalgalerie, Berlin); Blaue Bücher (S 1997–4), 2 Trommeln, 2 Diaprojektoren mit jeweils 45 Diapositiven, Lautsprecher, Computer, Sprecher: Achatz von Müller (Petra von Huene, Hamburg)

Quellen: Nachlass Stephan von Huene

Ausgerechnet um die Suche nach einer Zusammenführung der Sinneswahrnehmungen – nach einer Fokussierung auf die systemische Schaltung von äußerer

20 Ebenda; siehe auch Hoskins 1988, S. 820: „The drum acquires the power to heal, and... In modern and primitive cultures alike, many people believe that there is a link…“

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und innerer Welt – geht es z.B. bei der Skulptur Der Man von Jüterbog (1995): Die Intention von Reinhard Lettaus nachdenklichem kleinen Text „Seitliche Blicke“ wird durch den begleitenden Rhythmus einer Trommel und die rätselhaften Bewegungen eines Unterleibes, der jede Silbe in Gebärden (Analogsprache) nachbildet, an eine neue performative und Wahrnehmungs-Grenze gebracht: Der unvollendete, bewusst unschlüssige Text wird durch die rhythmische Ausdehnung der Trommelschläge indexikalisch verdichtet, wodurch ein interessantes Mensch-Maschinen-System resultiert. Im Unterschied zu Kunstwerken, die im Zuge des eigenen Aktion-Reaktion-Modells immer wieder etwas Neues „vorspielen“, werden bei Der Mann von Jüterbog (1995) Variationspotenzial und stochastische Prozesse zum Teil auf den Besucher ausgelagert, wodurch er aktiver Teil dieses Systems im Augenblick einer interdependenten Performanz wird. Die „kybernetische Freiheit des selbst-korrektiven Feedback“21 rückt in den Vordergrund: Der Besucher wird zum indirekten Regler des Systems. Es gibt keine unumstößliche Tatsache im Trommelschlag, sondern eine große Unschärfe in der getakteten Wiedergabe des schwer zu kontextualisierenden Gedichts von Lettau: Der Besucher selbst löst den stockenden, aber zugleich eleganten Tanz aus und versucht dabei die paradoxe Zeichen in der Endlosschleife der möglichen Bedeutungen zu harmonisieren. Womöglich setzt ein Lernprozess bei ihm ein: Er kann z.B. lernen, die Pausen zwischen den Versen auszudehnen oder die Verschränkung zwischen seiner Anwesenheit und den Bewegungen der Skulptur durch Erkundung des gemeinsamen Raums zu analysieren. Beim ersten „Encounter“ mit dem Museumsbesucher wird eine Bewegungsreihe mit begleitenden Trommelschlägen ausgelöst. Die Fortsetzung des Gedichts, das Vers für Vers mit begleitenden Beinbewegungen und Trommelschlägen aufgeführt wird, hängt von der Neugierde des Zuschauers ab. Verschwindet er, so wird das Gedicht pausiert. Wird die Skulptur bis zum Ende angeschaut, so hat man den Eindruck, Teil eines unvollendeten Systems zu werden, das den menschlichen Gegenpart als notwendig bloßstellt: Bei der Letzten Bewegung bleibt ein seitlich angehobenes Bein – analog zum letzten unabgeschlossenen Satz – in der Luft schwebend, das in einer sehr langsamen Bewegung zu der Anfangsposition zurückkehrt – viel zu lang, um unberührt zu bleiben. So kommt es vor, dass der Museumsbesucher versucht, längere Pausen zwischen den Versen zu verursachen, sei es des Spiels wegen oder um hinter die Geheimnisse der skulpturalen Botschaft zu kommen. Die Pause, die man auf diese Weise der Performanz zufügt, ist die Zeitkonstante, die der Besucher, als Teil des Systems – etwa als man-in-the-loop – braucht, um den nächsten Vers zu ak-

21 Bredekamp 2002, S. 154.

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tivieren.22 Stephan von Huene würde demnach die Zeitkonstante wie eine aus dem Maschinen-Besucher-System emporragende Eigenschaft thematisieren. Das ist ausgerechnet jene Zeitkonstante, welche Clerk Maxwell für seine mathematische Berechnungen mit Bezug auf den gesamten Kreislauf einer Dampfmaschine mit Regler formulierte – ein zentraler Bestandteil zirkulärer Determinationsketten, die laut Bateson vom geistigen Prozess vorausgesetzt werden.23

B LAUE B Ü C H ER , D OPPELPROJEKTION UND D OPPELBINDUNG Im Fall von Blaue Bücher (1997) unterstreichen die Trommelschläge die ideologisch gefärbten, autoritär-formalistischen Beschreibungen alter Kunstwerke, die Martin Warnke Anfang der 1970er Jahre kritisierte. 1970 hatte der Kunsthistoriker einen Vortrag zum Thema „Weltanschauliche Motive in der kunstgeschichtlichen Populärliteratur“ auf dem 12. Deutschen Kunsthistoriker Tag in Köln gehalten: Er kritisierte den autoritären und ikonoklastisch-militärischen Unterton der populärwissenschaftlichen Kunstgeschichte. Damit wurden bekannte Kunsthistoriker der Nachkriegsgeneration wie Wolfgang Schöne oder Werner Hager angegriffen, trotz der Anonymität der Zitate aus den populärwissenschaftlichen Reclam-Heften und der Reihe „Blaue Bücher“. Warnke argumentierte, dass derartige Kunstbeschreibungen „die Gegenwart in der Kunst der Vergangenheit“ verteidigten, „dass Kunstwerke hierdurch nicht mehr als wertfreie und interesselose Objekte betrachtet werden, sondern dass ihnen jede Generation immer auch das antut, was sie sich selbst antut“.24 Im allgemeinen historischen Kontext schwingt die Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands infolge der 1968er Bewegung mit: Kunstgeschichte wurde laut Warnke gegen das Kunstwerk geschrieben – Zeichnung, Skulptur und Malerei, Zeitepochen und Stile werden nahezu gleichgestellt. Was zählt ist z.B., dass Vermeer „alles unter seinen Willen zwingt“, wenn er „mit fugenloser Dichte und Treffsicherheit“ jedes Teil des populären Gemäldes Malkunst „im Zusammenhange des Ganzen“ zur „höchste[n] Aussagekraft“ bringt. Warnkes These einer totalitär-

22 Wenn der Museumsbesucher vor der Skulptur stehen bleibt, werden alle Bewegungsabläufe nach und nach vorgespielt. Danach kommt eine Phase der Interaktion, die Bewegungen vorbeilaufender Besucher voraussetzt, um einzelne Bewegungen auszuführen, bis die Skulptur für den nächsten Ablauf bereit ist. 23 Vgl. Bateson 1988, S. 114. 24 Siehe: Warnke 1970, S. 97.

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ikonoklastischen Kunstgeschichte, in der das Detail zugunsten der großen Erzählung untergeht, und der ebenso kritische Vortrag von Berthold Hinz über die instrumentalisierte Rezeption des Bamberger Ritters lösten eine heftige Diskussion unter den Anwesenden aus, zu denen vor allem eine ganze Nachkriegsgeneration von Kunstprofessoren gehörte. Zum sechzigsten Geburtstag von Martin Warnke machte Stephan von Huene eine Revision dieser Thesen mit der Fertigstellung der Klangskulptur Blaue Bücher (1997). Hierfür verwendete er die überarbeitete Fassung des Vortrags, die 1979 mit dem veränderten Titel „Wissenschaft als Knechtungsakt“ erschienen war.25 Die Arbeit ging weit über die Ehrung des Freundes hinaus. Falls noch Restzweifel an Warnkes Thesen in den 1990er Jahren blieben, bot Stephan von Huene ein besonderes Experiment, bei dem er nicht nur Kunstwissenschaftler sondern, auch die interessierte Öffentlichkeit herausforderte, Bild und Beschreibung miteinander zu vergleichen und Verknüpfungen herzustellen. Stephan von Huene transferierte hierfür die Methode des „vergleichenden Sehens“ in die gespiegelte Variante einer Doppel-Projektion auf Trommelfelle mittels Diaprojektoren, die man an Instituten für Kunstgeschichte üblicherweise bis vor wenigen Jahren einsetzte. Diese Entscheidung ist einfach zu begründen: Die Methode der Doppelprojektion wurde von Wölfflin entwickelt,26 dem geistigen Mentor jener Nachkriegsprofessoren, die in der formalistischen Kunstgeschichte ausgebildet waren – insbesondere durch Wölfflins Buch Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. Stephan von Huene las auch Wölfflin als junger Kunststudent an der UCLA. Seine englische Ausgabe aus dem Jahr 1956 hat Unterstreichungen auf fast jeder Seite: Im Kapitel über „Multiplicity and Unity“ (Vielheitliches und Einheitliches) wird die kontinuierliche Tendenz zur totalen Form eines Ganzen als relevante Stilentwicklung der Kunst angenommen und mit Beispielen dokumentiert. Die zunehmende Zusammenfügung der Details, der Teile und Figuren zu einem kohärenten Ganzen lässt sich von Epoche zu Epoche mit Nuancen ablesen: Die alten Porträts des Quatrocentto haben „lesser degree of coherence“ gegenüber der Porträts aus dem 16. Jahrhundert – z.B. ein Kopf von Raphael oder Quentin Massys –, bei denen „the form has a power to awaken the vision and to compel us to a united perception of the manifold which must affect even a dense spectator“.27 In der Renaissance geschieht etwas absolut Neues: Selbst wenn individuelle Figuren dominant werden, ist deren Relation zur gesamten Komposition dermaßen abhängig, dass sie der Gesamtkomposition ver-

25 Warnke 1979a, S. 99-107. 26 Vgl. Wölfflin 1940, S. 82-89. 27 Wölfflin 1956, S. 156.

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pflichtet bleiben. So funktioniert z.B. die „renaissance articulation“28 bei Daniele da Volterras Kreuzabnahme (1541) oder, noch deutlicher, die „(endless) flow of the Barock“ bei Rubens Kreuzabnahme (1611-1614). Dieses Phänomen existiert nicht nur in den von Wölfflin aufgeführten Beispielen: „There is a unity of colour as well as of lighting, and a unity of composition of figures as of the conception of form in a single head or body.“29 Wölfflin öffnete die Pandora-Box der übergeordneten Komposition als Bestimmung jedweder Kunstform und ebnete somit in gewissem Sinne den Weg für die autoritären Kunstbeschreibungen der Nachkriegszeit. Der Kunsthistoriker Yannis Hadjinicolaou stellt eine noch direktere Verbindung her, wenn er sagt, dass Wölfflins Prinzip zum Verhältnis vom „Vielheitlichen“ zum „Einheitlichen“ als „Knechtungsakt des Teils über das Ganze“ verstanden werden kann:30 Demnach wäre Wölfflins Kapitel in Blaue Bücher (1997) womöglich rezipiert worden, insofern Warnke nicht nur jenen „wuchernde[n] Vorrat an sprachlichen Stillblüten“ und die „anheimelnde Garnierung“ der Populärliteratur tadelt, sondern auch das Zwangsverhältnis kritisiert, das sich aus der Unterwerfung der einzelnen Teile des Kunstwerkes gegenüber einem übergeordneten Ganzen ergab.31 Man kann hier mit Hadjinicolaous argumentieren, dass dieses Zwangsverhältnis des Teils zum Ganzen seinen Ursprung bei Wölfflin hat: Angesichts der Gegenüberstellung von Detail- und ganzer Bildprojektion sowie auf Grund von Stephan von Huenes Lektüre Wölfflins ist diese Annahme durchaus plausibel. Die Arbeit von Stephan von Huene unterstreicht und verstärkt diese These mit dem synästhetischen Spiel von Blaue Bücher (1997). Doch worin besteht der wahre, innovative Beitrag seiner Klangskulptur? Stephan von Huene respektierte die Bildreihenfolge aus Warnkes Aufsatz,32 die entsprechenden Kunstbeschreibungen wurden jedoch so zugeordnet, dass links und rechts entweder ganze Bilder oder Details davon gezeigt wurden. Manchmal sind zwei verschiedene Bilder zu sehen, so dass eine Zuordnung mit der laufenden Bildbeschreibung erschwert wird. Diese Entscheidung kann als logische Fortsetzung der These über die Knechtung des Teils durch das Ganze verstanden werden: Es ist schlichtweg nur konsequent, dass sich das Detail, die

28 Die „renaissance articulation“ könnte auch als Stimulus für die Frühzeichnungen gedient haben, bei denen die Individualität der Figuren der Gesamtkomposition stets untergeordnet wird. 29 Wölffin 1956, S. 158. 30 Hadjinicolaou 2014, S. 69. 31 Warnke 1970, S. 90. 32 Vgl. Hadjinicolaou 2014.

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Teile der Komposition oder die Figuren eines Gemäldes mit der Kunstbeschreibung mit totalitären Anspruch harmonisch verschmelzen. Doch der Ton dieser Beschreibungen ist nicht frei von Störung: Der Kunsthistoriker und Freund Achatz von Müller las in autoritärem Ton die Texte aus den Reclam-Heften vor. Der von der Diktion hervorgebrachte Rhythmus wurde von der Trommel begleitend unterstrichen. Drei kleine Schlägel an der oberen Kante der Trommel sind für die Unterstützung der Sätze zuständig. Nach jeder Dia-Vorführung wird eine Art Gong mit dem unteren größeren Schlägel ausgeführt: Das nächste Diapositiv wird ankündigt. Besonders interessant an dieser Stelle ist die Dissoziation von Bild, Ton und Bedeutung. Die Kunstbeschreibung wird auf das reduziert, was die populärwissenschaftliche Literatur zur Kunstgeschichte eigentlich vermittelte, denn ungeachtet des Kunstwerkes ginge es vor allem um die imposante Sprachkunst und die Betonung der perfekten Komposition. Die Besucher bräuchten eine große Konzentration, um die Entstellung durch die Beschreibung zu identifizieren. Die unpassende Beschreibung wird von der Störung der unablässig und rücksichtslos marschierenden Kunstautorität – welche Text, Sprache und Trommelschläge inkarnieren – praktisch neutralisiert. Der alte „Trick“ der Kunsthistoriker der Nachkriegszeit wird bloßgestellt. Überwindet man diesen „Encounter“ mit der Skulptur und stellt man die Bild-Text-Unvereinbarkeit fest, so wird schließlich eine Art kognitiver Konflikt ausgelöst, der an Batesons Theorie der Doppelbindung und an Arthur Koestlers „Bisoziation“ erinnert. Die Doppelbindung in kommunikationsbezogenen Termini kann einen kognitiven Misserfolg darstellen, der durch „a persistent exposure to contradictory instructions or experiences“33 zustande kommt. Die simultane Teilnahme an zwei sich widersprechenden Erfahrungen führt zur Immobilisierung eines schizophrenen Zustands.34 Durch Blaue Bücher (1997) wird jene Schizophrenie erlebbar gemacht, welche eine autoritär gewordene Kunstgeschichte einmal heimsuchte – etwa als Folge der paradoxen Anweisung der Autoritätsfigur Wölfflin, die dominierenden Figuren eines Bildes in die Gesamtkomposition zu zwängen, sowie aus der Unfähigkeit, den gelernten Formalismus zu relativieren. Es mag auch kein Zufall sein, dass ausgerechnet Martin Warnke die Kunsthistoriker der Nachkriegszeit als „Säuglinge“ Wölfflins kritisierte, die seinen Formalismus wie „Milch aus der

33 Siehe folgende Publikation aus Stephan von Huenes Bibliothek mit Beiträgen von Bateson u.a.: Berger, Milton M. (1978): Beyond the Double Bind. Communication and Family Systems, Theories and Techniques with Schizophrenics, New York, S. 133. 34 Ebenda.

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Brust von Mutter Kunstgeschichte“35 eingesogen hatten. Fehlerhafte Erziehungsstile stehen bekanntlich unter dem Verdacht, das Krankheitsbild der Schizophrenie herbeizurufen.

U NVOLLENDETE ARBEITEN IM S PANNUNGSFELD ZWISCHEN S TOCHASTIK UND K OMMUNIKOLOGIE . D IE R OLLE DES Z UFALLS ODER „ D IE R ÜCKKEHR DER S TOCHASTIKER “ Am 20. Juni 2000 wurde Stephan von Huene eingeladen, an der Gründung des Helmholtz-Zentrums für Kunst und Wissenschaft als Künstler und Lehrer neben seinen Freunden und Mitstreitern Horst Bredekamp und Jochen Brüning teilzunehmen. Er bekam sogleich den Auftrag, zwei programmatische Kunstwerke zu erschaffen. Das erste erinnert im Konzept an Blaue Bücher (1997): Es handelte sich auch um eine Doppeltrommel-Projektion, die aber im Unterschied zu Blaue Bücher (1997) nicht der Bloßstellung eines sich widersprechenden Verhaltens diente, sondern der ursprünglichen Bestimmung des „vergleichenden Sehens“ folgte, um ein lebendiges, multisensorielles Porträt des Namensgebers der Einrichtung erlebbar zu machen. Dabei gehörten sowohl die Physiognomie von Porträtbildern als auch der Rhythmus der vorgelesenen Texte zum elektrischen Helmholtz-Re-Enactment. Helmholtz – ein Porträt gehört zu den unvollendeten Arbeiten des Künstlers, in denen alte Ideen aufgegriffen, neue skulpturale Aspekte erprobt und frühere Prinzipien perfektioniert werden sollten.36 Helmholtz – ein Porträt hätte zu jenen Kunstwerken gehört, die innerhalb einer formalen Kategorie – in diesem Fall der Kategorie der Trommel-Doppelprojektionen – die neue Variation einer bereits erprobten Arbeitsidee darstellten – nämlich der Idee, die Blaue Bücher (1997) zugrunde liegt. Auf zwei Trommel, die der Künstler mit einem besonderen Trommelfell versehen wollte, das sich für Rückprojektionen besonders gut eignete, sollten Bilder von Helmholtz, seiner Apparaturen und seiner Texte gezeigt und mit besonderen Rhythmen vorgestellt werden. Dem Werk lag die Idee zugrunde, eine neue Vorstellung des lebendigen Porträts auszuprobieren, welche die traditionelle hieratische Porträtbüste, das Ölbild oder

35 Warnke, Martin (1989): „On Heinrich Wölfflin“. In: Representations Nr. 27, S. 172187; hier zitiert nach Hadjinicolaou 2014, S. 69. 36 Die im Jahr 2000 fertiggestellte Klangskulptur Porträt von Klaus Hegewisch (2000) war der Auftakt für eine neue Auffassung vom synästhetischen Porträt gewesen.

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Foto zugunsten einer ephemeren, aber theoretisch unendlichen Performanz von Lichtprojektion, Sprache und Klang überwindet. Die andere Arbeit wollte der Künstler in Anlehnung an einen Text von Jochen Brüning entwickeln: Der Mathematiker hatte einen Aufsatz über die Vertreibung der Berliner Mathematiker während der nationalsozialistischen Zeit mit dem Titel „Das Verschwinden der Stochastiker“ publiziert. Die Lektüre dieses Textes hatte einen großen Eindruck auf Stephan von Huene gemacht, der als Künstler-Kybernetiker in der Stochastik das systemische Prinzip des Lebens und der Kreativität sah. Stephan von Huene konzipierte eine Skulptur mit dem Titel Die Rückkehr der Stochastiker, die auch an neuerliche und frühere Arbeiten wie Der Halbleiter von Chemnitz (1999) oder Erweiterter Schwitters (1987) anknüpfte. Ein Oberkörper einer klassisch anmutenden Skulptur, die in der inneren Struktur etwa dem Oberkörper des Halbleiter von Chemnitz vergleichbar war, sollte nach dem Ergebnissen einer stochastischen Operation, teils geplant, teils zufällig, zu bestimmten Uhrzeiten einen lautlosen Tanz ausführen. Die klassisch anmutende Skulptur, bei der allerdings nur Kopf, Torso und Hände modelliert sein sollten, während die nackten Metallschienen der Arme den Blick in die innere Logik erlauben, sollte einerseits an die Pythagoreer als erste große Mathematiker Europas erinnern. Andererseits sollte die gewählte Figuration vor allem hervorheben, dass jene Mathematiker, die aus Berlin vertrieben wurden, Menschen waren und dass alle stochastischen Prozesse mit dem Menschen zu tun haben. Die stochastische Operation, welche die Skulptur ansteuerte, knüpft an die frühe Version der Tisch Tänzer an, die nach dem Rhythmus der Radionachrichten im Hamburger Weissenhaus im Jahr 1982 tanzten. Einer automatischen Suche nach Radiosendern folgend sollte ein Audioanalysator die Weltnachrichten in Bewegungen übersetzen, so dass eine Mischung aus Zufall und Planung, die aus dem täglichen Rhythmus der Weltnachrichten emporgeht, für den geheimnisvollen Tanz des „zurückgekehrten Stochastikers“ zuständig sein sollte. Die Skulptur sollte nicht nur an die Geschichte jener Mathematiker erinnern und für eine breite Öffentlichkeit den Begriff „Stochastik“ verdeutlichen, sondern es sollte auch die Idee des Beseelten in der Kunst durch die Emulation von Naturgesetzen direkt ansprechen. Damit knüpfte diese geplante und nie realisierte Arbeit auch an die Idee der Unsterblichkeit in der Kunst, die bei Erweiterter Schwitters (1987) und den dazugehörigen Hörspielen zum Thema wurde. Die Fähigkeit seiner Kunst, die Zeit bei jeder Performanz auszudehnen, war auch Thema jener an die ephemeren, optischen Telegraphen des 18. Jahrhunderts angelehnten Skulptur, die Stephan von Huene dem spät gefundenen und zu früh verlorenen Freund Vilèm Flusser widmete. In diesem Zusammenhang sagte der Künstler über das nach seinem Freund benannten, jedoch nicht vollendete Werk

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Flusser Turm: „Ich erwarte, dass sich das Treiben im Straßenbereich rund um den Flusser Turm während der Zeit, in der die Skulptur erklingt, verlangsamen wird.“37

37 Retrospektive, S. 214.

Merz-Übertragung: die ewige Performanz und das Ephemere

Parallel zur Arbeit an Erweiterter Schwitters (1987) produzierte Stephan von Huene zwei beachtenswerte Hörspiele in Kooperation mit Klaus Schöning, Redaktionsleiter des Studio Akustische Kunst des WDR Köln. Das erste Hörspiel – Erweiterter Schwitters I. Auf dem Weg zu einem automatischen Hörspiel – datiert ebenso aus dem Jahr 1987. Kurt Schwitters Ursonate wird in diesem Hörspiel mit Hilfe eines Phonemgenerators vorgeführt und „an eine Grenze gebracht, an der das Timbre und der vom Sinn entkleidete Sprachklang miteinander verschmelzen“.1 Wenn eine Sequenz zu Ende geht, generiert das Programm eine neue Sonatenstruktur, auf der Schwitters-Phoneme aufgeteilt werden. Diese synthetische Version von Schwitters Ursonate war die Aufnahme einer Real-Zeit-Aufführung. Die computergesteuerte Echtzeitvariation machte die Sehnsucht nach Unsterblichkeit in der Kunst synthetisch nach, indem nach jedem Zyklus die Ursonate neu angeordnet wurde. Dennoch bemängelte von Huene, dass dieses Hörspiel „flach und mechanisch, das heißt seelenlos“ zu sein schien. Die Seelenlosigkeit der reinen Unsterblichkeit ex machina bewegte ihn zu einem weiteren, außergewöhnlichen Experiment: Das Schwitters-Material wurde in eine typische Mozart-Sonate überführt, die sogenannte „Jeune Homme“-Sonate, die von Glennn Gould gespielt wurde. Dies wurde zwei Jahre später im zweiten Hörspiel Erweiterter Schwitters II – Transplantation der menschlichen Seele (1989) realisiert. Diese Arbeit entstand zwei Jahre nach dem ersten Hörspiel und im gleichen Jahr wie die gleichnamige audiokinetische Skulptur. Das neue Hörspiel stellte eine dritte Variante der Ideenwelt von Erweiterter Schwitters (1987) dar: Die computergesteuerte „Transplantation“ der Ursonate im synthetisch erzeugten Phonemen wird nun in eine neue Sonatenstruktur über-

1

Ebenda, S. 238.

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führt, die auf Glenn Goulds Aufführung der Klaviersonate C-Dur KV 545 von W. A. Mozart basiert. Abbildung 109: Mindmap zum Hörspiel Erweiterter Schwitters II – eine Transplantation, 1989 (R 1989-1)

Quelle: Nachlass Stephan von Huene

Klavierspieler und Musikstück wurden bewusst gewählt: Glenn Gould repräsentierte für Stephan von Huene den Klavierspieler, der am besten so etwas wie die „Seele“ einer Partitur hervorrufen konnte. Mozarts bekannte Klaviersonate in CDur ist wahrscheinlich das Vorzeigestück für die Idee einer Sonate überhaupt. Erweiterter Schwitters (1987) verließ somit die reine linguistische Dimension des dadaistischen Gedichts, um dessen akustische Strukturen in die Musik zu transponieren: Völlig neue Möglichkeiten wurden ausgelotet, ohne die KlangEssenz der Ursonate zu verletzen. Die Länge einer Sechzehntel-Note entspricht nun ungefähr der Länge eines Schwitters-Phonems. Mittels Kerbfilter werden die Frequenzen der Noten einer Phonemsequenz vom Schwitters Band zugeordnet. Das Ergebnis ist, dass die Schwitters-Phoneme in das Mozart-Stück transplantiert wurden: Mozarts Klaviersonate läuft als Musikschatten im Hintergrund. Beim nächsten Schritt bekamen alle Phoneme und Phonemteile die Tonhöhen des Mozartstücks. Nun singen die Schwitters-Phoneme in der Mozartsonate. Um das Verhältnis zwischen Tonhöhen über das ganze Stück aufrechtzuerhalten, entschied sich der Künstler für

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einen Zwölftel eines Tonhöhenschritts, womit man an die Grenze des Wahrnehmungsfilters stößt. Eine monotone Rhythmusabfolge wird erreicht, die sich „im Wesentlichen von Timbre zu Timbre auf Schwitters-ähnliche Foneme bewegt“.2 Durch Beschleunigung der Aufnahmen soll nun die Wort-ähnliche Qualität der Phoneme anfangen zu verschwinden. Diese Grenzziehung macht aus der Sprache reine Musik. Das resultierende Tempo ist aber nicht das ursprüngliche Spieltempo des Mozartstücks, dafür bleibt aber die Sonatenstruktur erhalten. Spieldynamiken, Schwingungsunterschiede und alle wichtigen Parameter der Komposition wurden laut von Huene beibehalten: Am 15. Dezember 1989 gibt der Künstler zu Protokoll: „Die Seele wurde transplantiert.“ Rückblickend aber betonte Stephan von Huene, dass er nicht das Gefühl hatte, die menschliche Seele transplantiert zu haben, sondern einige reale, akustische Transplantationen vorgenommen zu haben. Daher änderte er im Nachhinein den Titel des Hörspiels in Erweiterter Schwitters II. Eine Transplantation (1989).3 Wohin ist die „menschliche Seele“ gegangen? Die Idee der „Transplantation der menschlichen Seele“, welche durch die endlose Kombinatorik der synthetischen Ursonate bereits thematisiert wurde, wird relativiert und die metaphysische Dimension des Projekts rückblickend heruntergespielt, aber nicht ganz verneint. Es sollen ja nicht alle Geheimnisse gelüftet werden! Knapp zwei Jahre davor hatte Stephan von Huene – an eine hagiographische Anekdote der Kunstgeschichte anknüpfend, die Kurt Schwitters’ Tod betraf – die „Übertragung geistiger Kraft“ aus primitiven Kulturen thematisiert und mit der Idee der Unsterblichkeit in Verbindung gebracht: „Kurt Schwitters Sohn schrieb in einem Katalog, er habe dessen Hand gehalten und kurz vor Eintritt des Todes gespürt, wie der ‚Merz‘ vom Vaters Körper in seinen eigenen überging. Merz ist ein Wort, das Kurt Schwitters aus Commerzbank abgeleitet hat. Er benutzte es, um damit so etwas wie Geist zu bezeichnen; es ist in vielen seiner Kunstwerke präsent. Was Ernst Schwitters hier erfahren hatte, eine Übertragung geistiger Kraft, ist aus primitiven Kulturen bekannt. Die Macht oder der Geist einer Person oder eines Objekts wird bei physischer Berührung auf eine andere Person oder ein anderes Objekt übermittelt. In der Geschichte von Ernst Schwitters hängt diese Übertragung mit Unsterblichkeit zusammen. Hinter vielen Kunstwerken können wir ein starkes Streben nach Unsterblichkeit wahrnehmen. Erweiterter Schwitters tut dies auf einem anderen Weg. Wenn die Automatik der

2

Ebenda, S. 246.

3

Vgl. ebenda, S. 244-248.

266 | ELEKTRONIK ALS S CHÖPFUNGSWERKZEUG Skulptur kontinuierlich neue Versionen seiner Sonaten erzeugen kann, dann ist die Frage nach der Unsterblichkeit gelöst.“4

Erweiterter Schwitters (1987) nähert sich der Vorstellung von Unsterblichkeit in einem sehr irdischen und buchstäblichen Sinne: Die ewige Performanz der Maschine und die unendliche Kombinatorik der Sonate macht den Energie-Transfer als κτῆμά ἐς αἰεὶ – als „Besitztum für immer“ – möglich, um es mit Thukydides zu sagen. Als die frühen Transhumanisten in den 1980er Jahren an der Universität von Kalifornien in Los Angeles über die neuen technischen Möglichkeiten des menschlichen Lebens tagten, antizipierte Stephan von Huene in seiner neuen deutschen Heimat den transhumanen Zustand der Seele mit einem dadaistischen Hauch Ironie. Die Idee der Transplantation der menschlichen Seele ist die konsequente Weiterentwicklung der ersten Fassung von Erweiterter Schwitters (1987). Die Idee war aber eher parallel entstanden und müsste noch geschärft werden. Was ist z.B. genau unter „Seele“ zu verstehen? Stephan von Huene ging hier nicht vom kartesischen Dualismus aus: Der Begriff „Seele“ wurde nicht spirituell aufgefasst, sondern als systemisch ableitbares Ethos verstanden – d.h. als unterscheidende Konstruktion im gesellschaftlichen Beziehungsgeflecht. So ist folgende Erklärung zumindest zu verstehen: „[...] [D]ie Afroamerikaner in den sechziger Jahren benutzen die Idee der Seele, um sich kulturell abzugrenzen und sich gleichzeitig in Richtung auf positive gesellschaftliche Einstellungen zu orientieren.“5

Der Slogan „black is beautiful“ und die Bezeichnung „soul food“ sind neben der „soul“-Musik zusätzliche Indizien für die Vermutung eines bestimmten, sehr wohl definierbaren und messbaren Seelen-Ethos. Überträgt man diese Beobachtungen auf die Vorführung von Musik im Allgemeinen, so lässt die kühne Vorstellung einer Musik mit fassbarer Seele bestimmte Qualitäten und Gefühle zum Entdecken und Entschlüsseln zu: „Hat man sie erst einmal entdeckt, könnte man diese Attribute auch auf mechanisch gespielte Klänge übertragen? Würden wir dann Maschinenmusik als gefühl- und seelenvoll empfinden? Können wir die Seele transplantieren?“6

4

Ebenda, S. 240-242.

5

Ebenda, S. 244.

6

Ebenda.

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Sind aber derartige Attribute einer „Musik mit Seele“ tatsächlich übertragbar? Die metaphysische Pointe bringt den Künstler auf ein schwieriges, esoterisches Terrain, das er mit wissenschaftlicher Methode und Humor zu verlassen versucht. So ist auch seine Schrift „Kommen Computer in den Himmel?“ zu verstehen, in der das Paradies der Kunstmaschinen mit der ewigen Performanz im White Cube gleichgesetzt wird. Die Wunder der Kunst wären als eine irdische Angelegenheiten zu betrachten, wie der Künstler in einem Filmgespräch mit Peter Fuhrmann über Die Zauberflöte (1985) betont: „Oft werde ich gefragt, wie komme ich zu so einer Arbeit [...] Ich habe die Zauberflöte gehört. Ich dachte, es war kitschig. Ich konnte keinen Zauber sehen. Ich dachte, wo ist der Zauber, wo würde man das finden? Eine Richtung in meiner Arbeit ist, einen täglichen Zauber zu finden. Das wurde bereits um 1800 von Wordsworth, dem Dichter, geschrieben: nature is supernatural. Das bedeutet, dass es in meinen Kunstwerken darum geht, zurück zu den alltäglichen Ereignissen zu gehen. Für Mozart ging es darum, sich von den alltäglichen Erfahrungen zu distanzieren und hochzugehen. Im Himmel, da waren die miracles. Und ich sage, wir müssen das auf der Erde finden. Und ich finde, das sollte überhaupt der Zweck von Kunst sein“.7

In diesem Gespräch vergleicht Stephan von Huene seine Vorstellung von „miracle“ mit dem Universum der Lyrical Ballads von Wordsworth. Diese wurden im Jahr 1800 mit einem inzwischen berühmten „Preface“ publiziert, in dem Wordsworth die Dichtung wie einen spontanen Fluss von Emotionen beschreibt. Im Unterschied zu seinem Freund Samuel Taylor Coleridge, der sich bemühte, das Außerordentliche als glaubwürdig zu formulieren, versuchte William Wordsworth aus dem Gewöhnlichen etwas Ungewöhnliches zu machen. Hierfür verwendete er einfache, aber gut ausgearbeitete Beschreibungen alltäglicher Erfahrungen. Für Wordsworth muss der Dichter seine Ideen und Emotionen durch eine mächtige „Re-Kreation“ der Originalerfahrung kommunizieren. Das einzige, was der romantische Dichter hierfür bräuchte, ist ein überdurchschnittliches Empfinden. Die rhetorischen Mittel der alten poiesis weichen „incidents and situations from common life“.8 Die Emotion und nicht das Gedicht als formale

7

Im Zwischenreich der Sinne. Bild, Objekt, Klang und Bewegung im Werk von Stephan von Huene (D 1995) von Peter Fuhrmann (1995): Minute 35, ca. Sekunde 45 (leicht überarbeitete Version).

8

Wordsword, William (1805): „Preface.“ In: Ders.: Lyrical Ballads, London: R. Taylor and Co., S. vii.

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Einheit ist, was zählt: Die Poesie – „the spontaneous overflow of powerful feelings“ – ist imstande, Passionen zu inkarnieren und an den Leser weiterzugeben.9 Die „miracles“ sind also in den alltäglichen Erfahrungen zu finden. Der Vergleich steht im Einklang mit Stephan von Huenes Vorliebe für die einfache, aber reizvolle und stimulierende Welt von William Blakes Gedichten, allen voran „The Tyger“ (1794). Die letzten Verse dieses Gedichtes faszinierten den Künstler: „Tyger! Tyger! burning bright In the forests of the night, What immortal hand or eye Dare frame thy fearful symmetry?”

Eine gerahmte Kopie des Originaldruckes des Tyger-Gedichtes befindet sich heute noch im Hamburger Nachlass. In gewissem Sinne ist etwas von der „fearful symmetry“ des Tygers in der zwischen Zufall und Programmierung angesiedelten Welt des Kaleidophonic Dog (1964-67) zu erkennen. Wenn der Künstler auf irdische „miracles“ deutet, dann ist das auch als Analogie zwischen Musik als Konstruktion für sich selbst (Mozart, Bach) und Musik als alltägliches Kommunikationswunder (Schikaneder) zu verstehen. Wir vergessen die einfachen Dinge, dabei auch, dass wir stets Musik mit jedem Gespräch produzieren. Das natürliche Textbild wird zum Maß des Zaubers im klanglichen Re-enactment erhoben. Der romantische Künstler ist mit einer überdurchschnittlichen Empfindlichkeit gegenüber dem normalen Menschen ausgestattet. Er kann die Essenz des Wunders, welche im alltäglichen Index des Klangakts und der Kinesik steckt, aufspüren, herausdestillieren und der Allgemeinheit verfügbar machen in der Hoffnung, das Empfinden des Gegenübers zu reizen. Ob Erkenntnis-blinde und -taube Menschen an Bild und Klang messianisch herangeführt werden sollen, ist schwieriger zu sagen. Die menschliche Seele mittels Computertechnik zu transplantieren, ist eine ganz andere Herausforderung, so irdisch ihre Essenz auch sein mag. Das Thema klingt esoterisch genug: „Die Frage, ob ein Computer in den Himmel komme oder eine Maschine eine Seele haben kann, erscheint einem ganz lächerlich“ sagt Stephan von Huene in seiner Schrift „Kommen Computer in den Himmel? Können Maschinen eine Seele haben?“ aus dem Jahr 1992. Die Church/Turing-These des vom Künstler hoch geschätzten Kognitionswissenschaftlers und Informatikers Douglas R. Hofstadter besagt, dass „geistige Prozesse jeder Art […] durch

9

Ebenda, S. l-li.

E NERGIE IM K UNSTSYSTEM

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ein Computerprogramm simuliert werden“ können. Demnach ist die Vorstellung einer maschinellen Seele gar nicht so abwegig. Die Voraussetzung hierfür ist, dass die Programmiersprache der von „FlooP“ gleichkommen sollte, jener Programmiersprache von Hofstadter, die über primitive, rekursive Funktionen hinausgeht und „unbounded loops“ unterstützt.10 Derartig programmierte Maschinen leiden unter dem sogenannten „Halteproblem“: Man kann nicht voraussagen, ob die Ausführung eines Algorithmus zu Ende gelangt oder für immer ausgeführt wird. Erweiterter Schwitters (1987) funktioniert in gewissem Sinne auf diese Weise. Demnach sollte die Maschine sowohl Faszination als auch Beunruhigung hervorrufen, da die klaren Unterschiede zwischen Beseeltem und Seelenlosem theoretisch aufgehoben werden. Dies ist aber nicht unbedingt der Fall, da Erweiterter Schwitters (1987) mit einem Ausschaltknopf ausgestattet ist, was die Trennung zwischen Mensch und Maschine wesentlich erleichtert. Dennoch schreibt sich sein Werk in das geschichtliche Faszinosum des künstlichen Lebens – jene Konstante der Menschheitsgeschichte, die in dieser Variante11 mindestens bis ins 12. Jahrhundert zurückgeht, als der indische Astronom Bhaskara II das erste Perpetuum mobile beschrieb. Geist und Eigenleben werden – selbst ohne Hinzuziehen von klugen Algorithmen – Kunstwerken zugestanden: „Wenn ein Kunstwerk ins Museum gebracht wird, entspricht das nicht der Vorstellung, es käme in den ‚Himmel‘?“12 Der Künstler fragt nach der Transzendenz der Kunst zu einem Zeitpunkt der Kunstgeschichte, an dem man längst das Auratische der Kunst vergangener Zeiten überwunden hat und die Vielfalt der Gattungen und die Anzahl der Werke es immer schwieriger machen, einen permanenten Platz im sichtbaren Bereich des „heiligen“ White Cube zu erlangen. Das ist auch der Grund, warum er den Vergleich des Fegefeuers für das Depot des Museums aufbringt: Das Kunstwerk „transzendiert seinen materiellen Wert bis zur Unvergleichlichkeit – jedenfalls so lange, bis es ins Depot (das „Fegefeuer“) verbannt wird“. Aber selbst dann ist das irdische „miracle“ der Restaurierung und Wiedergeburt möglich, denn an sich geht das Kunstwerk mit der Aufnahme ins Museum „in den gemeinsamen Geist über“, den Stephan von Huene als „Kultur“ bezeichnet. Der ethnographi-

10 Siehe Stephan von Huene 1992, S. 253; vgl. Hofstadter 1985, S. 617. 11 Die Faszination für die hydraulisch gesteuerte Maschine und für den Automaten im Allgemeinen geht auf frühere Zeiten zurück: Homers automatische Dienerinnen oder die Inventionen von Heron von Alexandrien sind nur ein paar Beispiele. Über die Ideengeschichte des Automaten in der Neuzeit siehe Horst Bredkamps Antikensehnsucht und Maschinenglauben (1993). 12 Retrospektive, S. 250.

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sche Kreis schließt sich wieder, wenn durch den neuen Künstler-Habitus eine alte Bestimmung erreicht wird, die Stephan von Huene als einen durchaus für jedermann zugänglichen Wachzustand definierte: „[I]n Drum [werden] Ruhephasen ankündigen, als Ereignisse – wie die Betrachtung des nächsten Exponats in einer Ausstellung, wie die Wahrnehmung von etwas möglicherweise ganz Undramatischem und Unscheinbarem, vielleicht der besonderen Art, in der jemand seinen offenen Schnürsenkel wieder zusammenbindet.“13

Die Unsterblichkeit der Kunst wird nicht dem Jenseits anvertraut. Im scheinbar Trivialen wartet das Wunder der unermesslichen Anmut auf seine Entdeckung.

13 Ebenda, S. 252.

CONCLUSIO

Kunsttechniken zum Anstimmen der Welt

Wenn das Essen vom Baum der Erkenntnis das menschliche Bewusstsein als konfliktreiche Doppelbindung in die menschliche Seele einführt, so sind die zwei widersprüchlichen Momente des Sündenfalls und der Emanzipation der Ursprung aller Kultur.1 Überträgt man die Idee der Doppelbindung als unvermeidbarem Sündenfall auf die künstlerischen Kommunikationsakte von Stephan von Huene, so befinden wir uns vor einem Sündenfall zweiter Ordnung, der auf den paradoxen Ursprung der Kultur durch die synästhetische Brechung und Neukonfiguration konventioneller Kommunikationssysteme aufmerksam macht. Das Aufwachen der Erkenntnis als Kultur wird mit der Vertreibung aus der bequemen Sprachontologie eines Babel-Paradieses bestraft. Doch Kultur, und konsequenterweise auch Kunst, lässt sich ohne Differenzen schwer denken. Erst durch den Vergleich kann man von Innen- und Außenwelten reden. Dieser Konflikt, der erst die Umrisse von Identitäten erkennen lässt, entspricht dem, was Bateson Schismogenese nennt und ein jüngerer Soziologe wie Dirk Baecker so paraphrasiert: „[E]ine Kultur entsteht überhaupt erst durch Kulturkontakt.“ Dieser Vorstellung ist auch Luhmanns Theorie von Kultur als Vergleichsmechanismus geschuldet, der sowohl Orientierung als auch und vor allem Irritation hervorruft. Es ist ausgerechnet jene Irritation, die der kulturellen Beobachtung innewohnt, jenes Essen vom Baum der Erkenntnis als Bewusstwerdung der eigenen Doppelbindung, das Stephan von Huene für einen Großteil seiner Kunst einsetzt. So gesehen kann man bei ihm von Kunst als Vergleich im Sinne einer Rückkehr zur Unschuld sprechen: Diese Grundidee wird in der Anwendung von Kommunikationsund Erfahrungskonflikten im Geiste eines Universalisten artikuliert. Es mag übertrieben erscheinen, Stephan von Huenes Universalismus auf der Grundlage biographischer Daten zu erschließen. Doch die Erziehung im Geiste der protestantischen Reformation und die Erzählungen über das Leben und Wirken seiner Vorfahren haben einen nachhaltigen Einfluss auf den Sohn

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Vgl. Neumann 1998, S. 586.

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baltisch-deutscher Emigranten ausgeübt, wie zahlreiche Indizien belegen.2 Vom Einsatz Bach’scher Choräle als musikalische Grundlage der ersten Klangskulpturen über die Anspielung auf Luther in einem seiner wichtigsten Kunstwerke (Text Tones [1979/1982-83]) bis hin zu der Verwendung zentraler Bibelpassagen für die Klanginstallation Lexichaos (1990): In vielen Werken Stephan von Huenes lassen sich Spuren der familiären Herkunft erkennen. Die künstlerische Arbeit im Geiste eines Universalisten erklärt zum Teil seine natürliche Distanzierung zu der Pop Art und Minimal Art. Hinzu kommt die traditionelle deutsche familiäre Erziehung im Widerspruch zur Schulerfahrung: Das zweisprachige Aufwachsen schärfte sein Bewusstsein für ein Verständnis der eigentlichen Komplexität von Kommunikation. Dem familiären Umfeld ist ebenso der Handwerker Stephan von Huene verpflichtet, der als Kind viel Zeit in der Werkstatt des Vaters verbrachte – damals Ingenieur am CalTech. In dieser Werkstatt hing eine Reproduktion von Jacopo de’ Barbaris Porträt von Luca Pacioli (1495) – Universalgelehrter und Mathematik-Lehrer von Leonardo da Vinci, beide ein Vorbild für den jungen Stephan von Huene. Seine Entwicklung von einem abstrakt-expressionistischen Maler zu einem Künstler auf der Suche nach seiner eigenen Sprache setzt sehr früh ein, schon während der Studienzeit am Chouinard Art Institute. Dort unterrichteten nicht nur Vertreter des herrschenden Abstrakten Expressionismus: Robert Irwin experimentierte z.B. mit den Grenzverschiebungen zwischen Kunst und Wahrnehmung. In jene Zeit gehört auch Stephan von Huenes erste Begegnung mit dem Dadaismus. Der Besuch der ersten großen DADA- und Kurt SchwittersAusstellungen an der Westküste machte einen nachhaltigen Eindruck auf ihn: Seine Kunstwerke sind insofern DADA, als sie eine gewisse ironische Buchstäblichkeit in der Titelformulierung und eine genuine Indexikalität gegenüber neuen – kunstfähigen – Materialien aufweisen. Es sind aber vor allem zwei Lehrer von der University of California Los Angeles (UCLA), die für die wichtigsten kreativen Stimuli im Werk von Stephan von Huene gesorgt haben: zwei Professoren für Kunstgeschichte. Der – bislang in von Huenes Biographie nicht richtig eingeordnete – Experte für asiatische Kunst Karl E. With und der Experte für prähistorische und primitive Kunst3 Ralph C. Altman. Beide Dozenten prägten den Künstler: einerseits durch die Charakterisierung der Kunst – unabhängig von ge-

2 3

Siehe Kapitel „Genese eines holistischen Künstlers“. Der Terminus „primitive Kunst“ – etymologisch die „ursprüngliche“ Kunst der Naturvölker – drückt im künstlerischen und ethnologischen Zusammenhang keine Abwertung aus. Siehe die Erläuterungen von Ralph C. Altman, Ernst H. Gombrich und Franz Boas zu diesem Thema in Kapitel „Energie im Kunstsystem“.

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ographischer Herkunft oder Epoche – als kreativem Stimulus des Menschen, und andererseits durch „great teaching“. Auf Karl E. With ist Stephan von Huenes Vorstellung des Kunstwerks als ein Werkzeug zurückzuführen, das im Zuge seiner Perfektionierung die ursprüngliche Funktion verliert – eine Annahme, die an Alois Riegls Auffassung des „Kunstwollens“ als zeitlose Höherentwicklung der Kunst erinnert. Die Bandbreite von Themen und Fächern, die man in der (frühen) Bibliothek des Künstlers findet, unterstreichen die interdisziplinäre Ausrichtung seiner Ausbildung als Künstler und untermauern die Idee einer intellektuellen Laufbahn von der Ethnographie zur Kybernetik und Systemtheorie, was vor allem der intensiven Lektüre von Franz Boas und Gregory Bateson zu verdanken ist. Das frühe Interesse für Karikatur, expressionistische und avantgardistische Zeichnung aber auch für asiatische Zeichnung und Holzschnittkunst ist ebenso evident: Neben europäischen Meistern wie Picasso, Goya und Blake oder dem Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner und dem Einzelgänger Max Beckmann waren asiatische Meister wie Hokusai in der frühen Bibliothek des Künstlers vorhanden. Alle diese Autoren scheinen in irgendeiner Form die hermetische Ikonographie und Narrativität seiner frühen Zeichnungen geprägt zu haben. Zu den ersten Lektüren gehören auch Kernwerke zu den naturwissenschaftlichen Aspekten des Klangs wie Herrmann von Helmholtz’ Die Lehre von den Tonempfindungen oder Dayton C. Millers physikalische Soundanalysen. Und das erste und sehr abgenutzte Buch über Orgelbau von Oliver C. Faust (A Treatise on the Construction, Repairing and Tuning of the Organ) datiert in das Jahr 1949. Insgesamt findet man bereits zu frühen Studienzeiten fast alle relevanten Themen, die später eine Rolle spielen werden – mit Ausnahme der Werke von Richard Bandler und John Grinder zum Neurolinguistischen Programmieren, die erst in den 1980er Jahren dazu kommen werden. Mit der Klangfarbenmusik von Arnold Schönberg kam der Künstler spätestens am CalArts in Berührung. Hier begegnete er zahlreichen, inzwischen renommierten Künstlern und Komponisten, darunter auch Schönbergs Assistenten Leonard Stein. Unabhängig davon ist Schönbergs Buch Style and Idea (1951) seit den Studienzeiten im Besitz des Künstlers gewesen, so dass es nicht abwegig wäre, zu vermuten, dass der Künstler bereits zu Studienzeiten Kenntnis von Schönbergs Kompositionsmethoden – und insbesondere von seinen Klangfarben-Theorien – hatte. Die Heiterkeit der ersten Klangskulpturen sind einem weiteren Einfluss geschuldet: Durch sein handwerkliches Interesse wurde Stephan von Huene ein großer Bewunderer des Craftsman-Stils, so wie dieser in den Arbeiten der Architekten Greene & Greene zum Ausdruck gebracht wurde, deren Häuser in Pasadena zu sehen waren. Das Craftsman-Ethos war relevant für eine Wiedervereini-

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gung von Kunst und Handwerk. Stephan von Huene machte diesen Harmonisierungsversuch in seinen ersten Maschinen: Kaleidophonic Dog (1964-67), Tap Dancer (1967), Washboard Band (1967) und Rosebud Annunciator (1967-69). Der Künstler vollzog aber auch eine haptische und symbolische Umfunktionierung des Figurativen: Indem er die Dekorationselemente verlebendigte, wurde der handwerkliche Herstellungsprozess auf mechanische Weise sichtbar und somit auch zu einem ausgeklügelten Oximoron stilisiert, denn die Dekoration erfüllt in der Regel keine weitere Metafunktion jenseits ihrer plastischabstrahierten Symbolik als Verzierung oder Ornament. Indem von Huene seinen ersten architektonisch-mechanischen „Konglomeraten“ mittels Bewegung und Sound Leben einhaucht, ergibt sich ein seltsames, humoristisches Moment, das zugleich Irritation und auch Unbehagen auslöst. Alle weiteren Skulpturen aus jener Zeit, inklusive der zwölf unbeweglichen „stummen“ Skulpturen, die den Klangskulpturen vorangehen, haben etwas gemeinsam: Sie sind Kunstwerke mit handwerklichem Anspruch und setzen sich mit Themen aus den primitiven oder lokalen Kulturen auseinander, indem das jeweilige Thema – in DADA-Manier – beim Wort genommen wird. Die Gegenüberstellung von Kunst und Naturwissenschaft als konträre, sich jedoch ergänzende Methoden zur Weltbeschreibung steht im Einklang mit den damaligen Entwicklungen an der Westküste, wo das Los Angeles County Museum das Programm „Art & Technology“ (1967-1971) zur Interaktion zwischen Kunst und Technologie organisierte. Die Verbindung von Kunst und Wissenschaft wird nach Stephan von Huenes „Re-emigration“ nach Deutschland immer deutlicher: Nach der ausführlichen Auseinandersetzung mit der Struktur des Klangs und seiner Relation mit Raum und Klangkörper in Werken wie Drum (1974/1992), Glass Pipes (1974-76) und Monotone (1977) fing Stephan von Huene zunächst an, im Rahmen seines Aufenthalts in Deutschland als DAADStipendiat mit kybernetischen Begriffen und Methoden aus dem NLP zu arbeiten, die insbesondere in der Arbeit Text Tones (1979/1982-1983) zum Ausdruck kommen. Sein breites Interesse wird auch durch die Vielfalt der Freunde und Mitstreiter bestätigt: Komponisten wie György Ligeti, Kunsthistoriker wie Martin Warnke, Achatz von Müller und Horst Bredekamp, Akustik-Experten wie Manfred Krause, Radioproduzenten wie Klaus Schöning, Dichter wie Reinhard Lettau, Kybernetiker und Medientheoretiker wie Heinz von Foerster oder Vilèm Flusser. Im Kapitel „Inpressivität [sic!] der Körperteile“ wurde grundsätzlich die ikonographisch und ikonologische Ebene des Werkes untersucht. Die Opazität der ikonographischen Deutung der frühen Zeichnungskonvolute gilt als allge-

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mein akzeptierte These. In der vorliegenden Schrift wird von einem Synkretismus der Einflüsse und Kompositionsstilen ausgegangen. Die Idee der Freiheit der Form „im Gesang der Linie“, die der Künstler von Wölfflins Lektüre als kreativen Stimulus mitnahm, steht im Einklang mit der These einer durch Komposition und Pathos beschworenen hermetischen Narrativität. Wölfflins akademischer Einfluss lässt sich auch hinsichtlich der Kompositionstechnik dieser Zeichnungen und des Gebrauchs von formalistischen Termini für die Beschreibung späterer Arbeiten wie „vertical stories“ aufspüren. Wenn Ginzburgs Thesen zur Spurensicherung hier angewendet werden, könnte man behaupten, dass Wölfflins Ausführungen über Bildkomposition selbst als unbewusster Stimulus in diesen Zeichnungen eine Spur hinterlassen haben. Was das kalifornische Umfeld betrifft, so muss man erwähnen, dass die meisten Künstler der Westküste keinen großen Unterschied zwischen „low and high culture“ machten: Dies kann als Vorteil für Stephan von Huenes Entwicklung und Erforschung neuer Wege jenseits der Ereignisse an der Ostküste verstanden werden, in der diese Trennung sehr wohl vorhanden war. In seiner Kunst finden wir in der Tat erotische und besonders phallische Darstellungen, die an die funk art der Bay Area erinnern, als auch wiedererkennbare symbolische Motive und den Einsatz neuer Materialien, was im Prinzip dem Künstlerhabitus von einem Al Bengston entspricht. Die ersten Schritte zur eigenen Kunstsprache werden üblicherweise mit der Assemblagekunst der 1960er Jahre identifiziert. Dennoch findet man popsurrealistische Experimente bereits in den 1950er Jahren: Das früheste Beispiel hierfür ist die Zeichnung Uncle Sam (1955), in der der Künstler seine Erfahrung beim Militär in einem sehr ähnlichen Stil wie in den späteren Zeichnungskonvoluten der 1960er Jahre verarbeitete. Auch die Auseinandersetzung mit kinetischer Kunst sollte früher als bisher datiert werden: Stephan von Huene produzierte einige Objekte Anfang der 1960er Jahre, die zwar noch keine selbstgesteuerten Maschinen waren, dennoch setzten sie sich mit den Grenzen zwischen Malerei und kinetischer Skulptur im Kern auseinander. Dazu gehören einige Assemblagen mit kinetischen Elementen, die zum Teil zerstört sind. Der Einfluss von Rodolphe Toepffer, dem Vater der Karikatur, ist auf den Motiven der frühen Zeichnungen nicht hundertprozentig auszumachen, obwohl die Karikatur an sich als frühe ästhetische Erfahrung und möglicherweise auch als praktische Übung zu vermuten ist: Stattdessen werden Zeichner und Maler wie Leonardo, Blake, Goya oder Picasso sowie expressionistische Maler wie Ernst Ludwig Kirchner und Max Beckmann, japanische Holzschnittmeister und der Vater des „ungezügelten“ Manga-Bildes Katsushika Hokusai als ikonographischer Anreiz identifiziert. Die Spur der genannten Künstler lässt sich in den

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Gebärden, der Komposition sowie den übertriebenen Elongationen mancher Körperteile und den grotesken, oft überdimensionierten dicken Leibern der meisten Figuren erkennen. Toepffer wird hingegen in Verbindung mit späteren Arbeiten wichtig – z.B. bei Die neue Lore Ley I und II (1990/1997) zur Ermittlung der idealen Schönheitsphysiognomie eines idealen Frauenprofils. Besonders auffällig und bislang wenig untersucht sind die esoterischen Bildtechniken des Künstlers. Den kunstwissenschaftlichen Kontext hierfür liefert Beat Wyss in Renaissance als Kultur Technik (2013, S. 43-68). Diese Art von Bildtechnik, wonach der Umgang mit Materialien einen alchemistischen Charakter hat, lässt sich insbesondere bei Stephan von Huenes Smoke Drawings und Assemblagen aufspüren. Die Buchstäblichkeit und Verflechtung von Form und Materialien in Stephan von Huenes Kunstwerken führen zu nicht endenden Bedeutungsprozessen. Für die korrekte Interpretation wird daher eine ikonologisch-semiotische Analyse der ersten Skulpturen als geeignete Methode gegenüber den bisherigen ikonographischen Versuchen bevorzugt. Ikonologische Untersuchungen haben z.B. ergeben, dass der biographische Einfluss für die Thematisierung menschlicher Artikulation in den ersten Arbeiten – wie z.B. in One Legged Traveller (1966) – stärker ist, als generell angenommen. Semiotische Analysen würden ein besseres Verständnis der Materialsemantik ermöglichen. Was die Kompositionstypen von Stephan von Huenes Kunstwerken betrifft, so wird eine allgemeine Klassifizierung vorgeschlagen: 1. Der „horizontalen Kunst“ gehören jene Arbeiten an, die ein Umfeld generieren, sei es mit Schallwellen, Lichtprojektionen oder Aktion-Reaktions-Modellen: Diese Arbeiten tendieren zur Gestaltung „intraaktiver“ Kommunikationsprozesse und zur Minimierung der Figuration; 2. „Vertikale Kunstwerke“ sind Arbeiten, die sich in die Tradition des Kunstwerkes als dialektisches Bild einschreiben; 3. Die Kombination von ästhetischen Raumordnungen, d.h. die Koexistenz einer überwiegend horizontalen Ereignisschicht mit den „vertikalen“ Bildeigenschaften, betrifft Kunstwerke, die narrative, „intraaktive“ und bilddialektische Eigenschaften vereinen. In diesem Kapitel werden außerdem Bredekamps Ausführungen über die Idee der mystischen Oberfläche bei Stephan von Huene erweitert: Diese Technik wird als esoterische Bildtechnik und als Antwort auf die Entwicklungsprobleme der Malerei nach Pollock – d.h. als Ausweg aus dem abstrakten Expressionismus – verstanden. Eine Fortsetzung von Bredekamps Untersuchungen zu diesem Thema legt offen, dass die Idee der Oberfläche als „mystischem Ort“ nicht nur eine wechselwirkende Funktion zwischen Gestalt und Malgrund, sondern auch zwischen sichtbaren und unsichtbaren Materialien und zwischen Ereignis und

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Wahrnehmung impliziert. Vor diesem Hintergrund wird die Videoprojektion von Sirenen Low (1999) als letzte große Variation der mystischen Oberfläche in der Form eines „Lichtsegels“ identifiziert, welche der Irrfahrt der ästhetischen Verweigerung entgegenzuwirken versucht. Zu den neu kommentierten Qualitäten der mystisch-wechselwirkenden Oberfläche gehören zudem die „störend referenzielle“ Präsenz der Materialien und deren Bearbeitung am fertigen Kunstwerk, was u.a. am Beispiel von Persistent Yet Unsuccessful Swordsman (1965) analysiert wird, und die „sympathetische Funktion“ der gewählten Materialien, die den Unterschied zur finish art der Westküste der 1960er und 1970er Jahre besonders deutlich macht. Derartige Feststellungen knüpfen auch an den Einfluss durch primitive Kunst und kybernetisches Gedankengut, z.B. durch den Einsatz einer fragmentarischen Symbolik, die den Indianerkulturen eigen war, um störend referenzielle Objekte zu produzieren. Im Kapitel „Harmonie der Phoneme“ wurde in die Verwendung und Entwicklung phonetischer und rhythmischer Systeme im Spannungsfeld zwischen Bild und Klang im von Huene’schen Werk eingeführt. In der bisherigen Forschung über die Bedeutung der „Sinn“-entkleideten Buchstabenfolgen aus den frühen Zeichnungen von Stephan von Huene können drei große Ansätze identifiziert werden: Martin Warnkes Identifizierung von „Sprachklangfamilien“, Petra Oelschlägels Idee der „lautmalerischen Qualitäten“ der Lautfolgen in Verbindung mit Birdwhistells Theorien der non-verbalen Kommunikation, und Horst Bredekamps Interpretation der Buchstabenfolgen als Kreuzungen von Bedeutung und Klang, d.h. als „leibseelische Einheiten“. Ein Zusammenhang zwischen Stephan von Huenes Lautschriften und DADA-Schreibmethoden lässt sich hier nicht herstellen. Stattdessen führt die Analyse der mysteriösen Lautfolgen zur Identifizierung einer Konstante im Werk Stephan von Huenes: Die sprachliche Reduktion auf konsonantische Klänge und die kompositorisch-narrative Verteilung von erfundenen Lauten verdeutlichen die Konfrontation zwischen Wahrnehmungserwartung und Bedeutungsverweigerung. Neben Birdwhistells Kinesics als Impulsgeber dieser Dissoziation von tatsächlicher Sprache, Analogsprache und Sinn ist der asiatische Einfluss der Zen-Philosophie als Stimulus nicht zu unterschätzen, insofern der Bildakt als Kommunikationsprozess verstanden wird, der zur kognitiven Erleuchtung führen kann. Die „Erleuchtung“ wird in der Zen-Philosophie, die der Künstler durch die Lektüre des Sammelbandes Zen flesh. Zen bones (1957) kannte, durch Aufhebung der Weltdualität zwischen Illusion und Wahrnehmung erreicht. Eine Analyse der Buchstabenhäufigkeit und der bildkompositorischen Aufteilung der Buchstabenfolgen legt folgende Hypothesen offen: 1. Es gibt eine

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gewisse Ähnlichkeit mit phonetischem Material aus der Ursonate von Kurt Schwitters; 2. Ein Großteil der Lautfolgen lässt sich als Slang oder Jargon identifizieren; 3. Bredekamps Annahme, die Lautfolgen würden eine „leibseelische Einheit“ mit den Figuren bilden, lässt sich anhand der Ergebnisse stützen. Die Jargon- oder Slang-These macht aufmerksam auf die Ähnlichkeit eines Großteils der Buchstabenfolgen mit US-amerikanischen Slang-Ausdrücken, die sexuelle Konnotationen einbeziehen. Demnach hätte der Künstler hier eine erste „kreative Übersetzungsleistung“ durch Reduktion und Verfremdung von SlangAusdrücken durchgeführt. Diese These ist kongruent mit dem fast zeitgleichen Vorkommen des sexuell konnotierten Wortes „Bud“ im Titel der Klangskulptur Rosebud Annunciator (1967-69): Sie steht im Einklang mit dem an der Westküste allgemein praktizierten Künstlerhabitus, zwischen low und high culture nicht zu unterscheiden und mit der Qualität einer wissenschaftlich fundierten Übersetzungs- oder Transpositionsstechnik, die in vielen seiner späteren Werken präsent ist. In diesem Rahmen wurde auch die Erscheinung des kontrollierten Zufalls in den 1960er Jahren festgestellt. Der Zufall als Kompositionsmittel wird hier bereits bei den frühen Zeichnungen in Verbindung mit der Reduktion des phonetischen Systems zugunsten konsonantischen Materials vermutet. In späteren „künstlerischen Forschungen“ von Stephan von Huene steht hingegen – etwa als konsequente Entwicklung – die Essenz der vokalischen Sprachmelodie im Mittelpunkt. Den Klangskulpturen Totem Tones I-V (1969-70) wird in der vorliegenden Schrift einer Übergangssituation zugeordnet: Bei diesen Kunstwerken erhebt der Künstler die Grundtöne zum Kompositionsprinzip und verzichtet zugleich auf den dekorativen Anspruch der ersten heiteren Klangskulpturen, die vom Craftsman-Ethos stärker inspiriert waren. Daran schließen weitere reduktionistische Methoden zur Sichtbarkeit des Klangs durch die Unsichtbarkeit des Klangkörpers (Glass Pipes [1974-76]) an. Die optische Befreiung des Klangs fördert bei der Klangskulptur Glass Pipes (1974-76) die Übereinstimmung zwischen Klang und Materie zur Bildung eines erkenntnisreichen ästhetischen Paradoxons. Hier kann man einen Bruch mit früheren Arbeiten feststellen: Der Prozess, durch den Luft zu Klang wird, und der Unterschied zwischen Fühlen und Hören rücken in den Vordergrund. Hier liegt die Vermutung nahe, dass die vom Künstler verfolgte Übereinstimmung von Tonalkraft und Luftmasse im Einklang mit Bredekamps Lektüre der ersten Buchstabenfolgen als „leibseelische Einheiten“ steht: Klang und Klangkörper werden als undifferenziertes Beziehungsgeflecht im Augenblick der Wahrnehmung vorgestellt. In diesem Sinne ist Glass Pipes (1974-

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76) auch eine der ersten rein kybernetischen Arbeiten des Künstlers. Wichtig ist nun das System Kunstwerk-Mensch. Ein kurzer Vergleich mit damaligen Ansätzen in der Klangkunst lässt entscheidende Unterschiede erkennen. Besonders interessant ist die Gegenüberstellung von Glass Pipes’ erweitertem „Schrei“ mit Beuys’ Urlaut Ö Ö. Während Joseph Beuys die Sprache ohne begriffliche Implantation in Der Chef, Fluxus Gesang (1964) als menschliche „Trägerwelle“ präsentiert, rekurriert Stephan von Huene auf die subjektive Ausdehnung der Wahrnehmung und den Wechsel zwischen Innen- und Außenwelt durch eine schmerzhafte – maschinell herbeigeführte – ästhetische Klangerfahrung: die allzu menschliche „Maschine“ Glass Pipes (1974-76) erreichte bis zu 105 Dezibel Lautstärke und verursachte buchstäblich kleine „Erdbeben“. Die Einführung des ästhetischen Schmerzes als Kunstkategorie steht im Einklang mit Adornos Analyse von Kunst als mimetischem Ausdruck in einem vergleichbaren Verhältnis wie das Lebendige zum Schmerz.4 Diese Beobachtungen stärken die These der Reduktion auf einen existenziellen Urlaut zur Sichtbarmachung und Bewusstwerdung hinsichtlich Kommunikations- und Erkenntnispraktiken, die man für selbstverständlich hält. Die Transparenz der Glass Pipes (1974-76) überwindet auch John Cages Vorstellung der relativen Stille durch die visuelle Transzendierung des Klangs als eine Art „no-thingness“, aus der eine neue Form von Musikalität entstehen kann. Die Arbeit stellt einen Neuanfang für Stephan von Huenes Klang- und Kommunikationskunst dar und kann vielleicht als ein „Schwarzes Quadrat“ der Klangplastik angesehen werden. An diese Ausgangslage einer neuen Musik knüpft insbesondere eine spätere Arbeit an: Die Zauberflöte (1985) von Stephan von Huene ist zwar nicht die nächste Arbeit nach Glass Pipes (1974-76) – diese Position nimmt Text Tones (1979/1982-83) ein – aber doch zumindest das Musikalischste von allen Werken, die gleich danach entstanden. Ikonologisch und ideengeschichtlich kann Die Zauberflöte (1985) in Francis Bacons Kategorie der verarbeiteten Natur in die Tradition der Kunstkammer eingeordnet werden, wo Kunst und Naturwissenschaft noch eine Einheit bildeten. Ähnlich wie bei Sirenen Lows veränderten Orgelpfeifen wird hier nach einem Technikbegriff gearbeitet, wonach der technologische Eingriff durch den Künstler zum inhärenten Bestandteil des Kunstakts wird: Länge, Breite und Materialdichte der Pfeifen für Die Zauberflöte (1985) wurden nach mathematischen Berechnungen zur exakten Darstellung der gewählten Klangfarben genutzt. Diese Klangfarben entsprechen den Frequenzen der grundlegenden Vokale der deut-

4

Vgl. Adorno 1973, 169.

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schen Sprache: Durch die phonetische Reduktion auf diese Grundfrequenzen wird die Sprachmelodie aus Schikaneders Libretto herausdestilliert. Hierzu stützte sich Stephan von Huene insbesondere auf die akustischen Theorien von Henry Lanz’ The Physical Basis of Rime in der Ausgabe aus dem Jahr 1968. An sich ist Die Zauberflöte (1985) ein Experiment, das nicht so sehr zur Prüfung von Henry Lanz’ Theorien über die eigentliche Melodie der Sprache, sondern vielmehr als Kunsttechnik zur Erschaffung einer neuen „form of musicness“ durchgeführt wurde. Dass es ihm gelang, bezeugt György Ligetis Bewunderung für die große Musikalität der Zauberflöte. Eine wenig kommentierte Pointe in Verbindung mit dieser Arbeit ist, dass der Künstler die von der Orgel her bekannte vox humana in der Form von Perkussionsinstrumenten einführte, um die menschliche Emotionalität des Stücks mimetisch zu steigern. Dieses Detail belegt, dass der Künstler bei aller künstlerischen Freiheit eine äußerst penible Übersetzungsleistung zu erbringen suchte. Vermutlich war bei ihm die wissenschaftlich fundierte Arbeit im Dienste einer Idee der höchste Ausdruck künstlerischer Freiheit. Die Zauberflöte (1985) wurde in der vorliegenden Schrift als ein wichtiger Meilenstein in der Laufbahn des Künstlers verstanden: Sie ersetzt die collagierte Klangkulisse von Text Tones (1979/1982-83) durch den vokalischen Stoff der Wörter und perkussionsbasierte Klangstrukturen der menschlichen Stimme, und knüpft zugleich an die platonische Definition von Musik sowie an ideengeschichtliche Vorstellungen von Kreativität als Bewegung des Geistes an. Ein weiterer, wichtiger Schritt in der Entwicklung von Stephan von Huene geschah ein paar Jahre später: die Einführung der synthetischen Stimme in Erweiterter Schwitters (1987) in Verbindung mit der endlosen Variation der Ursonate bei Einhaltung ihrer Struktur. Durch die automatische Bildung von Ursonate-treuen Sätzen und den entsprechenden Bewegungen einer lebensgroßen Gliederfigur vertieft der Künstler die Idee der unendlichen Performanz. Dabei verzichtet er bewusst auf Zusatzklänge, die mit Emotionalität oder Sinnkonnotationen gefärbt sein könnten, wie z.B. die ursprüngliche Sprachintonation von Kurt Schwitters. Er konzentriert sich hauptsächlich auf die Migration der Essenz der Ursonate und auf deren „Erweiterung“ durch eine kinetische Analogsprache, die an die Eurhythmie von Rudolf Steiner angelehnt ist. Dem künstlerischen Experiment liegt Robert Ericksons Hinweis zugrunde, dass die subjektive Interpretation der Klangherkunft von den Erwartungen des Zuhörers abhängt.5 Das Wort Ursonate wird mit Musikinstrumenten und nicht mit der Stimme assoziiert. So nimmt Stephan von Huene der menschlichen

5

Erickson 1975, S. 1.

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Stimme ihre markanteste Eigenschaft weg: Durch Auslagerung der Intonation auf eine kinetische Analogsprache kommt die Ursonate – mit synthetischkarikierten Sprachlauten – der Original-Vorstellung von Schwitters näher. Bei Erweiterter Schwitters (1987) ist aber vor allem die künstlerische Methode von Interesse, nach der Stephan von Huene etwas völlig Neues mit Bezug auf die Allmachtsphantasien der Kunst und des Celebrity-Künstlers erschafft: Kurt Schwitters beim Wort zu nehmen. Im Kapitel „Energie im Kunstsystem“ wurde die Kunstproduktion von Stephan von Huene aus der Perspektive seiner Entwicklung vom Primitivismus und Real-Surrealismus zu einem kybernetischen Künstler dargestellt. Stephan von Huenes Primitivismus basiert auf der künstlerischen Auseinandersetzung mit den strukturell-funktionalen Eigenschaften der Kunst und Kultur der Ureinwohner von Amerika und Neuseeland. Die fragmentierte Symbolik der Motive und die spirituelle Relevanz der Materialien sind zwei Hauptmerkmale der primitiven Kunst, die Stephan von Huene sich anzueignen scheint. Dabei übernimmt er u.a. die Idee primitiver Kulturen, dass formale Elemente eines Kunstwerkes eine emotionale Dimension effektiver erreichen können als Naturrepräsentationen. Entsprechend Franz Boas’ kulturrelativistischer Auffassung und E.H. Gombrichs psychologischen Analysen verstand der Künstler die native Kunst als einen vielschichtigen und ertragreichen Kreativitätsstimulus. Seine „primitiven“ Experimente entfalten sich im Spannungsfeld zwischen dem Animismus-Begriff, der Totemisierung, dem ethnographischen Transfer systemischer Strukturen und der künstlerischen Freiheit. Der magisch-alchemistische Umgang mit Materialien in Assemblagen und Skulpturen und die narrative Dimension der Darstellung von Körperteilen und organisch wirkenden Gestalten bezeugen die These der künstlerischen Empathie mit dem Animismus. Formale Qualitäten des Totems – insbesondere hinsichtlich des Totempfahls als soziales Exvoto und Träger der Familiengeschichte – lassen sich in der Totem Tones-Reihe (1969-70) gut identifizieren, nicht zuletzt auf Grund der Deutung der Klangfiguren Bach’scher Herkunft, die auf die familiäre Herkunft des Klangmaterials in der deutsch-protestantischen Familie von Huene/Andreae deuten. Zur Kunsttechnik der Totemisierung können die Fragmentierung der symbolischen Dimension, die besonders bei den ersten „stummen“ Skulpturen präsent ist, sowie die „leibseelische Einheit“ von Klang und Körper gezählt werden: Beide Ansätze sind Ergebnis einer primitiven Kunstauffassung, nach der die Interaktion zwischen zufälligen Formen und menschlicher Projektion zum subjektiven Gestaltungsprinzip erhoben wird.

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Der ethnologische Transfer ist seinerseits eine Idee, die 2002 von Bredekamp formuliert wurde: Diese These wurde hier anhand der Werke Marriage of the Cigar Store Indian’s Daughter (1966) und Hermaphroditic Horseback Rider (1966) u.a. im Detail untersucht. Der ethnographische Transfer wird dabei als kulturelle Homöostase verstanden, sei es durch die Übernahme strukturellfunktioneller Aspekte primitiver Kulturen oder auf Grund der Herstellungsmethoden. Die primitive Kommunikationsstruktur wird vom Künstler kreativ übernommen und mit neuen, emergierenden – und manchmal auch kritischen – Zeichensystemen vermischt. Die Annahme, Stephan von Huene würde einen RealSurrealismus pflegen, wird von Arbeiten untermauert, die eine kritische Lektüre über die kolonialistische Totemisierung des „edlen Wilden“ – wie z.B. in Marriage of the Cigar Store Indian’s Daughter (1966) – suggerieren. Ähnlich wie Batesons Wanderung von der Ethnologie zur Kybernetik, lässt sich bei Stephan von Huene ein Übergang von der Faszination für die Eigenschaften primitiver Kunst über die Übernahme von funktionellen Strukturen wie denen des primitiven Glauben an eine übernatürliche Energieübertragung bis hin zu den performativen und interaktiven Möglichkeiten von Reiz-Reaktionssystemen, die als moderner Powertransfer verstanden werden, erkennen. Ein frühes Beispiel für die primitive Herkunft der in der Kunst-angewandten Kybernetik bei Stephan von Huene ist die Assemblage Cracker Man (1964), eine Homöostase des primitiven Bildakts als Ganzkörpermaske mit aktualisiertem Herstellungsverfahren. Ein besonderes Fallbeispiel ist auch die Skulptur Hermaphroditic Horseback Rider (1966). Hier ist die Technik des ethnographischen Transfers zur Erschaffung eines selbstreferenziellen Kunstwerkes exemplarisch zu sehen. In der vorliegenden Dissertationsschrift wurden Indizien dafür gefunden, dass der Künstler die Iatmul-Transvestit-Figur der „horsewoman“ aus Batesons Naven buchstäblich interpretierte und in ein hermaphroditisches Wesen aus Holz und Leder verwandelte, dessen phallische Form an die ohnehin sexuell konnotierenden Nasen der Wagan-Figuren der Iatmul angelehnt zu sein scheint. Dies könnte als eine künstlerische „Transplantation“ – in Stephan von Huenes Termini – des dualen Ethos als Kreuzung von Sattel und phallischer Nase verstanden werden. Der Vorzug von ideoplastischen gegenüber physioplastischen Methoden der Kunstproduktion ist auf die Kunstpraktiken primitiver Kulturen zurückzuführen. Der Triumph des genormten Musters über die Natur fördert eine subjektive Gestaltungskraft, die selbst das Design alltäglicher Gegenstände betrifft. Bei Stephan von Huene sind ideoplastische Gestaltungstechniken insbesondere am Beispiel der zwei Lunchpail-Arbeiten zu beobachten. Existenzielle Erfahrungen wie die frustrierende Konfrontation mit dem Militär wurden offensichtlich auch

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mittels ideoplastischer Techniken verarbeitet: Der Einsatz von isolierten Körperteilen und in Etuis aufbewahrten Geschlechtsorganen aus Leder und Holz in den Arbeiten One Legged Traveller (1966) und Unfortunate Aviator (1966) lässt jedenfalls eine klare symbolische Dimension vermuten. Vor diesem Hintergrund wird in dieser Arbeit angenommen, dass Stephan von Huene Batesons Theorien der Schismogenese als Metakommunikation und kulturelle Verschiedenheit für seine künstlerischen Zwecke einsetzte. Das ikonographische Gewicht des Primitiven ist vor allem in den ersten Klangskulpturen vorhanden: Ab den 1970er Jahren ist eine Entwicklung zur performativen Verräumlichung der inneren Struktur des Werkes wahrzunehmen, wenn auch mit einer steten Berücksichtigung primitiver Kernbegriffe wie jenen der Magie oder des heilenden Rhythmus. Selbst die Funktion des Künstlers wäre die eines modernen „Heilers“, denn auch wenn Stephan von Huene selber diesen nie erhoben hatte, so verspricht er sich doch mittels seiner Kunst die Sinneswahrnehmung des Menschen zu schärfen und vorgegebene Wahrnehmungsfilter zu verschieben. Der Weg zur Kybernetik lässt sich als konsequente Entwicklung interpretieren: Das primitive System der Skulptur als Totem und Votivgabe wird durch Technologie fortgesetzt und perfektioniert. Die Energie, welche in den frühen Skulpturen und Zeichnungen gefangen zu sein schien, wird spätestens ab Kaleidophonic Dog (1964-67) buchstäblich befreit und als Gestaltungsmittel eingesetzt. Die Energie wird einerseits als eine Erweiterung des menschlichen Potenzials und andererseits als eine Kunstform verstanden. Diese Auffassung sollte später zu einer qualitativen Definition von Medienkunst führen, die der Künstler in verschiedenen Texten zur Vorbereitung von Vorträgen sowie in der Korrespondenz mit Heinrich Klotz formulierte. Technik wird als Konstituens von Kunst verstanden, anknüpfend an primitive holistische Begriffe des Handwerkers und Zauberers. Etwa ausgehend von dieser postmodernen, unitarischen Vorstellung von Kunst und Kunstschaffen verstand Stephan von Huene die Elektrizität als integralen Bestandteil des Kunstwerkes. Dies steht im Einklang mit der Einbindung von kybernetischen Methoden des Neurolinguistischen Programmierens – insbesondere von Reiz-Reaktions-Ketten mit eingebautem Feedback. NLP-Lehren zur Repräsentation und Identifizierung von Gedankenvorgängen anhand von Augenbewegungen oder die NLP-Prinzipien des „Pacing“ (Schritthalten) und „Leading“ (Führen) gehören ebenso zu jenen Techniken, die unmittelbar mit dem kybernetischen Begriff der Energie und dem Einsatz von Computertechnologien zusammenhängen. Die für die Steigerung mentaler Fähigkeiten vorgesehenen NLP-Methoden werden somit zu künstlerischen Stimuli.

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Das Kunstwerk mit dem stärksten kybernetischen Bezug ist die Klanginstallation Text Tones (1979/1982-1983), in der eine Programmierung zweiter Ordnung stattfindet: Dies geschieht mittels eines Reiz-Reaktions-Modells nach dem TOTE-Schema des NLP – von „Test Operate Test Exit“. Die kontrollierte Rückkopplung von gefilterten Klangsignalen reflektiert sich selbst und regt zu einer mimetischen Beobachtung – d.h. zu einer Art von kognitiver Immersion – an. Diese Arbeit verhilft zu einem besseren Verständnis der von Huene’schen Auffassung von Interaktion als „Intraaktion“. Die materielle Selbstreferenzialität des Kunstwerk-Programms, wonach Umgebungsgeräusche zu Klangfarben- und Grundton-Improvisationen verarbeitet werden, löst eine Störung der Kommunikation als physikalische Realität aus. Die gefilterte und getaktete akustische Rückkopplung des nun sich selbst „ernährenden“ Skulptur-Ensembles fördert die kognitive Suche und Immersion des Besuchers als man-in-the-loop: Der Benutzer wird Teil des Werkes, kann aber beim ersten „Encounter“ – in Birdwhistells Wörtern – gar nicht nachvollziehen, welche Rolle er zu spielen hat: Eine kognitive Anstrengung im Sinne einer „intraaktiven“ Auseinandersetzung mit dem Kunstsystem Text Tones (1979/1982-83) wird vorausgesetzt. Die passive Wahrnehmung führt sonst entweder zur Gleichgültigkeit oder zur Ablehnung des Zuschauers. Die These des ethnographischen Transfers und dessen Verbindung mit kybernetischen Vorstellungen wird in den 1990er Jahren anhand von Werken wie Der Mann von Jüterbog (1995) noch einmal bestätigt. Greetings (1996), Blaue Bücher (1997) und Der Mann von Jüterbog (1995) knüpfen sowohl an den primitiven Glauben und die heilende Kraft des Rhythmus wie an die NLP-Technik des „Pacing“ an. Mit Der Man von Jüterbog (1995), der den nachdenklichen kleinen Text von Reinhard Lettau „Seitliche Blicke“ nach ausgedehnten Trommelrhythmen vortanzt, wird das kognitive Potenzial der Zeitkonstante als eine aus dem Maschinen-Besucher-System emporragende Eigenschaft vertieft: Die Regelungstechnik setzt – ähnlich wie Lettaus Zeilen – variable Zeiten voraus, um unerwartete Ereignisse in Auslöser von Handlungen zu übersetzen, die zur Gesamtkomposition beitragen. Blaue Bücher (1997) revidiert seinerseits die Kritik Martin Warnkes an den ideologisch geprägten, populären Kunstmonographien der Nachkriegszeit. Hierfür bedient sich der Künstler der Doppelprojektion passend zur Idee der Doppelbindung als psychische Störung des Beschreibungsakts: Mit Hilfe von Achatz von Müllers sonor klingender Stimme und marschierenden Trommelrhythmen wird jeder beliebige Bildauszug in die Strenge der Beschreibung gezwungen. Ein weiteres relevantes Thema im von Huene’schen Schaffen ist die Stochastik als systemisches Prinzip des Lebens und der Kreativität. Konvergie-

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rende und divergierende stochastische Prozesse waren bereits in früheren Arbeiten empathisch vorhanden und wurden bewusster Bestandteil der späteren Produktion. In einer der letzten geplanten Arbeiten – Die Rückkehr der Stochastiker – wurde entsprechend die Information als Differenz thematisiert, die Leben einhaucht. Mit dieser geplanten Arbeit vertrat er auch die Idee des Beseelten in der Kunst durch Emulation von Naturgesetzen – in diesem Fall als Zeit- und Informationseinheit im Weltkommunikationssystem: Eine ähnliche Figur wie die des Halbleiter von Chemnitz (1999) sollte nach der Analyse von Radiosignalen aus der ganzen Welt erklärende Bewegungen mit den Armen ausführen. Diese stochastische Abhängigkeit des Lebens kommt mit mehr oder weniger Nachdruck in jeder Arbeit vor, in der eine menschliche Halbfigur, sei es als Unterleib oder von der Hüfte aufwärts, vorkommt. In den Hörspielen, die Erweiterter Schwitters zum Thema haben, und insbesondere im Hörspiel Erweiterter Schwitters II – eine Transplantation (1989) wird der irdische Charakter der Unsterblichkeit der Kunst deutlich: Was auch immer mit der Unsterblichkeit gemeint ist – mit dem kartesianischen Dualismus hat diese recht wenig zu tun. Die ewige Performanz ist eine irdische Angelegenheit. Es kommt nun auf die Seele als Ethos und auf die Qualität der „Transplantation“ der Kerneigenschaften von Schwitters’ Ursonate, Mozarts Klaviersonate C-Dur KV 545 und Glenn Goulds Ausführung dieses Stücks an. Vor diesem Hintergrund rücken die esoterische Welt der frühen Zeichnungen und die surrealistisch anmutenden Skulpturen aus der kalifornischen Zeit im Rückblick etwas näher zu der Kategorie des künstlerischen Experimentes ohne alchemistischübernatürliche Absichten. Die „Miracles“, von den von Huene in Verbindung mit Die Zauberflöte (1985) spricht, sind physikalisch präsent, sie lassen sich in der unendlichen Kombinatorik, in Missverständnis-Möglichkeiten und im Schönheitspotenzial aller Kommunikationsebenen (visuell, akustisch, sprachlich oder haptisch) identifizieren, wenn die Sinne adäquat geschärft werden, um die Struktur des Realen zu hinterfragen. Schließlich ging es Stephan von Huene um die Unermesslichkeit der Zeichen der Natur und die Aufstellung eines Vexierspiegels zur meäutischen Führung in qualitative Bewusstseinszustände; ohne Effekthaschereien zu betreiben, ohne selbst darstellende Provokationen und ohne den unwahrscheinlichen Anspruch zu erheben, die Blindheit und Taubheit der Menschheit tatsächlich heilen zu können.

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E IN LETZTER G EDANKE Der Leiter des Museo Fundación Joan March, Manuel Fontán del Junco, beklagte sich im Jahr 1998 über den inflationären Gebrauch des Wortes „Kultur“ sowie über die Inflation der Kultur an sich:6 In einem Text aus dem Jahr 1998 fordert er die Hildesheimer fiktive Figur von Gottlieb Theodor Pilz – „geboren“ im Jahr 1789 – als notwendigen Kämpfer „gegen den künstlerischen Übereifer“7 des 20. Jahrhunderts zurück. Fontán del Junco fragt sich, was im Kulturbereich geschieht und formuliert seine Frage mit einem expliziten Verweis auf Stephan von Huenes Ausstellung: Er fragt nämlich: What’s wrong with Culture? Der Kybernetiker Heinz von Foerster besuchte 1997 die Ausstellung What’s Wrong with Culture? in der ACP Galerie Peter Schüngel in Salzburg. Die Skulpturen von Stephan von Huene machten Eindruck auf ihn. Diese stellten die Kunstwelt und ihre Sprachen in Frage. Arbeiten wie Blaue Bücher (1997) oder What’s Wrong with Art? (1997) thematisieren einerseits das ideologisierende und andererseits das unverständliche Fachjargon bedeutender Kunsthistoriker, die sonst von niemandem verstanden werden. Eine weitere Arbeit Eingangsfragen, Ausgangsfragen (1997) machte auf die Kluft zwischen Museumspublikum und Kunst aufmerksam. Statt diese Umstände zu kritisieren, transferiert der Künstler die Fragen der Museumsbesucher, unverständliche theoretische Aussagen über Kunst und das wichtigtuerische Gerede von bekannten Persönlichkeiten aus dem Kunstbetrieb, in eine paradoxe Welt harmonischer Entfremdungen. Die musikalische Verzauberung führt gleichzeitig zu einem komischen und fast aberwitzigen Wahrnehmungserlebnis. Angesichts dieser Erfahrungen stellt Heinz von Foerster fest: „Es sieht so aus, als hätten wir es aufgegeben, selber zu sehen, zu hören und über noch Unentschiedenes zu entscheiden.“8 Für Heinz von Foerster entlarvten Stephan von Huenes Arbeiten die Welt der „trivialen“ Maschinen und auch solcher blinder Kulturproduktion. Entsprechend diagnostizierte er: „Und What’s Wrong with Stephan von Huene? Dass er uns bei jedem seiner Werke einlädt, selbst zu sehen, selbst zu hören und für uns selbst zu entscheiden.“ Diese Aussage ist für angeboren geglaubte Kommunikationsfähigkeiten wie das Lachen gültig. Die Klangskulpturen von Stephan von Huene haben einen gebärdenlosen Moment des Humors: Man kann nicht aus vollem Hals lachen. Die Spannung, die dem Kommunikationsprozess zugrunde liegt, wird

6

Fontán del Junco 1998.

7

Bezold 1991.

8

Foerster 1998, S 101-102.

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nicht in Lachen oder welches auch immer spontane Ausdrucksverhalten eingelöst. Meistens vermeiden seine Werke jede unnötige Affektation, die der Irritation des dekonstruierten Kommunikationsprozesses ein Ende setzen könnte. Somit schwebt der nicht ausführbare spontane Akt wie ein nicht ausklingendes „Initiallachen“ im Raum – wie humorvolle Ideen auf einer Gratwanderung. Das mal angehaltene, mal erschwerte Lachen ist jedoch kein Verbotsschild für Unwissende oder eingebildete Unbefugte, sondern eine Einladung: ein Encounter. Dieser Widerspruch mag als weiterer Beweis angesehen werden, dass Stephan von Huenes Kunst in der Tradition der Coincidentia Oppositorum steht, wenn auch nicht nach der theologischen Auffassung von Nikolaus von Kues, sondern im Sinne der paradoxen Gleichnisse von Meister Eckhart. Seine Predigten waren neben Leo Tolstois Tod des Iwan Iljitsch und Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater eine der drei existenziellen Lektüren von Stephan von Huene.9 Gottlieb Theodor Pilz’ Versuch „retardierend auf das Kunstschaffen seiner Zeitgenossen einzuwirken“10 ist auch ein paradoxes Kulturkorrektiv. Somit steht Fontán del Juncos Assoziation mit jener natürlichen Grazie im Einklang, die sich in völliger Abwesenheit vom Bewusstsein ergibt, von der Heinrich von Kleist berichtet: „Im Reich mechanischer Kräfte stehen weder Eitelkeit noch Selbstwahrnehmung im Weg, welche der natürlichen Anmut abträglich sein können.“ Demnach kann man von Maschinen einiges lernen: „In dem Maße als in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, [tritt] die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervor.“11 Doch es gibt auch einen anderen Weg zur reinen Anmut: „Wenn die Erkenntnis durch ein Unendliches gegangen ist, [findet sich] die Grazie wieder ein“. Als Gleichnis verwendet von Kleist „das Bild des Hohlspiegels“: „[N]achdem es sich in das Unendliche entfernt hat, [tritt es] plötzlich wieder dicht vor uns.“12 Ging es Stephan von Huene nicht darum, einen Vexierspiegel vor uns zu halten,13 der ausgerechnet das Bewusstsein schärfen sollte? Vielleicht ist dies tatsächlich ein Weg, um wieder vom Baum der Erkenntnis zu essen und hierdurch in den Stand der Unschuld zurückzufallen.

9

Kipphoff von Huene 2012, S. 8.

10 Bezold 1991, ebenda. 11 Kleist 1935, S. 14. 12 Ebenda. 13 Vgl. Randow 1983, S. 94.

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Fachübergreifende Überlieferung: Rezeption und Einfluss von Stephan von Huene

In frühen Kritiken über Stephan von Huene wird auf die Schwierigkeit der Einordnung seines Œuvre in eine bestimmte Stilrichtung der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufmerksam gemacht.1 Dieses erklärt sich dadurch, dass er ein Grenzgänger zwischen sehr unterschiedlichen Bereichen wie Klang und Skulptur, Kommunikationstheorie und Mechatronik war. Hinzu kommt, dass Stephan von Huene den Unterricht an Kunsthochschulen als integralen Bestandteil seiner Arbeit verstand, aber nie eine bestimmte „Schule“ gründete. Diese unterschiedlichen Facetten machen aus ihm einen Künstler mit einem außergewöhnlichen Werk, der gerade wegen dieser Singularität keine Stilrichtung geprägt hat. Vielmehr ist man heute noch mit der Rezeption seines Œuvre beschäftigt. Die Vielfältigkeit und Komplexität seiner Klangskulpturen, die er selber „Maschinen“ nannte, erschweren nicht nur die Einordnung in die Kunstgeschichte, sondern auch die Fokussierung auf ein bestimmtes Rezeptionsthema. Soll der Beitrag seiner Kunst den jeweiligen Fachdisziplinen, deren er sich bediente – Klang, Kommunikationstheorie oder sogar Mechatronik – zugeordnet werden? Was sagt der Blick auf den engagierten Lehrer Stephan von Huene und seinen möglichen Einfluss auf neue Künstlergenerationen? Die pauschale Aussage hierüber lautet meistens, man könne nicht genau sagen, ob Stephan von Huene Maler, Musiker, Bildhauer oder Computerkünstler war: Ab einem bestimmten Punkt in seinem Leben war er jedenfalls das alles zugleich und dies erschwert seine Einordnung und somit auch eine umfassende und populäre Verbreitung seines Werkes jenseits der Kategorien und Fachkrei-

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Danieli 1968, S. 51-52; Schmied 1983, S. 41; Brockhaus 2002.

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se.2 Ein Blick auf die thematische Vielfalt der Bibliographie, in der der Name Stephan von Huene vorkommt – in Doktorarbeiten über Musik der Gegenwart wird Stephan von Huene genauso wie in Kunstlexika erwähnt – suggeriert hingegen, dass der Künstler einen gewissen Einfluss auf diese o.g. Bereiche ausgeübt haben könnte. Im vorliegenden Kapitel wird vor diesem Hintergrund der Versuch unternommen, Stephan von Huene in die Kunst- und Ideengeschichte einzuordnen und auf die Frage nach seiner Rezeption einzugehen. In Anlehnung an die Rezeptionstheorie – nach der Konstanzer Schule und den interdisziplinären Methoden der Bildwissenschaft – wird eine Daten-basierte Analyse durchgeführt. Hierfür wird einerseits ein Text-Korpus bestehend aus Katalogen, Presseberichten, Kritiken in renommierten Zeitschriften und Fachliteratur über Klangkunst der Gegenwart analysiert, andererseits wird auch die aktuelle Ranking-Position des Künstlers auf der Online-Plattform Artfacts (www.artfacts.net) und die stets wachsende Präsenz des Künstlers im Internet in die Betrachtungen eingezogen. Zur Analyse seines Einflusses auf neue Künstlergenerationen wird vor allem die Laufbahn ehemaliger Studenten aus den Vereinigten Staaten und Deutschland wie z.B. Mira Schor, Tom Knechtel, Raul Guerrero, Olav Westphalen und Thomas Zitzwitz kurz skizziert. Seit dem Tod von Stephan von Huene am 5. September 2000 sind fast fünfzehn Jahre vergangen. Dieser zeitliche Abstand hätte vor der Erfindung des Internets kaum gereicht, um ein Rezeptionsbild zu entwerfen, das über die Nachrufe und die Resonanz von retrospektiven Ausstellungen hinausgeht. Heute stehen uns sehr vielfältige Informationen über die Auswirkung seines Œuvre und seiner Person zur Verfügung, die qualitative wie quantitative Untersuchungen innerhalb und außerhalb des Kunstsystems zulassen. So findet man nicht nur kritische Berichte in der Fachpresse, Rankings und Statistiken auf spezialisierten Webseiten und nahezu alle bisher publizierten Kataloge, DVDs, Kassetten und Artikel über und von Stephan von Huene, sondern auch Meinungen von Laien in der Blogosphäre, Benutzer-Kommentare zu seinen Werken, Informationen aus erster Hand über die Rezeption seines Œuvre und seiner Lehrertätigkeit bis hin zu erklärenden Web-Videos über die Restaurierung seiner Werke. Hier soll u.A. einen Einblick in diese neue Meinungslandschaft ermöglicht werden. Den Anspruch, ein Musiker zu sein, hat Stephan von Huene nie erhoben, sogar dezidiert von sich gewiesen, obwohl er auch in Doktorarbeiten über Musik

2

„S.v.H. Artist? Scientist? Technician?“ schrieb der Künstler in der abschließenden Folie eines Vortrags für das INTERFACE-Symposium zum Thema „Elektronische Medien und künstlerische Kreativität“ (Hamburg 1992, Nachlass Stephan von Huene).

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und Klangkunst der Gegenwart gelegentlich neben anderen Namen von Klangkünstlern und Komponisten wie Martin Riches und Alec Bernstein3 oder David Jacobs4 vorkommt. Am häufigsten erscheint sein Name in Verbindung mit Klangkunst, was seiner Präsenz in repräsentativen Werken über Klangkunst wie Karin von Maurs (Hrsg.) Vom Klang der Bilder (1989), Günter Metkens LautMalereien. Grenzgänge zwischen Kunst und Musik (1995) und der Fokussierung auf Klangskulptur in den meisten seiner Einzelausstellung zuzuschreiben ist. Im Rückblick lässt sich jedoch – in Übereinstimmung mit Fidel A. Danielis erster Diagnose – feststellen, dass Stephan von Huene selber wenig Interesse an Kategorien hatte. Für die Vieldeutigkeit seiner Werke spricht auch die Tatsache, dass sie in sehr unterschiedlichen Ausstellungen über so disparate Themen wie die kulturelle Bedeutung des Goldes, die gotische Architektur, die Überlieferung der Antike oder die Ordnungen der Wissenschaft gezeigt wurden.5 Die seit den 1960er Jahren erkennbare Neigung zur Grenzüberschreitung wurde von den frühen Kritikern durchaus als ein eigenes Potenzial erkannt. Schon circa 1960 wurde Stephan von Huene in Los Angeles als ein Künstler mit internationaler Projektion wahrgenommen. So sind folgende Zeilen in Painting and Sculpture in California. The modern Era (1977) zu verstehen: „The full impact of Southern California-produced art began to be felt at the international level. By 1960 the original Ferus Gallery artists had been joined by Larry Bell, Edward Ruscha, Joe Goode, Llyn Foulkes, Stephan von Huene and several others and all moved quickly toward first levels of real art maturity.“6

Neben den frühen Kritiken von William Wilson in der Los Angeles News Time, Fidel A. Danielis Aufsatz im Kunstmagazin Art Forum aus dem Jahr 1968 und späteren Publikationen in Kunstzeitschriften wie Leonardo (z.B. Interview mit Dorothee Newmark) ist die Rezeption des Künstlers Stephan von Huene in einigen Museumspublikationen aus den 1960er Jahren als Bildhauer mit surrealistisch-fetischistischen Vorlieben und zum Teil auch als elektronischem „Assemblegist“ dokumentiert. In einem Artikel des New York Magazine vom 17.

3

Raes 1993, S. 27.

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Sévigny 1994, S. 12.

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Gemeint sind hier insbesondere folgende Ausstellungen: Das Goldene Zeitalter. Die Geschichte des Goldes vom Mittelalter zur Gegenwart (Stuttgart 1991), Mein Kölner Dom (Köln 1980), Odysseus. Mythos und Erinnerung (München 1999) und Theatrum Naturae et Artium (Berlin 2000).

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San Francisco Museum of Modern Art 1977, S. 38.

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Juni 1968 (S. 14) über die Ausstellung „Acquisitions 1967-68“ des Whitney Museums wird von Huenes Skulptur Persistent Yet Unsuccessful Swordsman (1965) wie eine „sado-masochistically oriented construction of leather and wood that just reeks with sinister overtones“ beschrieben. Hier wird nicht nur auf die Idee hingewiesen, die ersten Skulpturen von Stephan von Huene würden einen primitiven Fetischismus aufweisen, sondern auch auf eine weitere Sinneswahrnehmung aufmerksam gemacht: Die Materialien der Skulptur „stinken“ mit unheimlichen Obertönen. Der Geruch der Materie wird zum düsteren Klang. Eine ähnliche Lektüre hinsichtlich des Sexuell-Fetischen liefern Patricia Hills und Roberta K. Tarbell in ihrem Buch The Figurative Tradition and the Whitney Museum of American Art. Paintings and Sculptures from the Permanent Collection (1980, S. 166-67). Im Kapitel „Sculpture, 1941-1980“ wird die frühe Arbeit von Stephan von Huene Persistent Yet Unsuccessful Swordsman (1965) von Roberta K. Tarbell folgendermaßen kommentiert: „[It] is an anatomical fragment (ostensibly a hand) and a double-entendre.“ Die Kunstbeschreibung wird weiter ikonographisch, sexuell-fetisch gedeutet: Der Daumen steht z.B. für ein „out-ofscale“-Penis. Die Arbeit wird außerdem in Verbindung mit Nancy Grossmans Head (1968), einem mit Nägeln beschlagenen und mit Leder überzogenen Holzkopf verglichen, der einen eindeutigen Fetisch-Charakter aufweist. Diese Interpretationen wurden nicht ikonologisch, d.h. ohne Hinzuziehung des künstlerischen und kulturellen Kontextes der Westküste und offensichtlich ohne Rücksichtnahme auf vorige Literatur formuliert, so dass die Verbindung dieser Skulptur mit ihrem eigenen dadaistisch anmutenden Titel, der eventuelle konzeptuelle Einfluss durch die Tai-Chi-Figur für Schwert – Stephan von Huene war ein langjähriger Tai-Chi-Sportler – oder die Verbindung zwischen den „sinister overtones“ der Gestalt, ihren Materialien und den Klangäquivalenzen (damals hatte er bereits die ersten Klangskulpturen gezeigt) außer Acht gelassen wurde. In der musealen, institutionalisierten Szene der Ost- und Westküste blieb Stephan von Huene ein Konzeptsurrealist. Dazu hat sicherlich auch beigetragen, dass seine späteren Klangskulpturen in amerikanischen Museen kaum zu finden sind. Abgesehen von Kaleidophonic Dog (1964-67, LACMA) und Totem Tone V (1969-70, Hirshhorn Museum, Washington, ein Geschenk von Sam Francis) befinden sich in den Vereinigten Staaten nur Totem Tone I (1969-70) und Tap Dancer (1967),

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beide zur Zeit in Privatsammlungen, was die Zugänglichkeit der Werke zusätzlich erschwert.7 Jahre später finden wir ganz andere Interpretationen und Einordnungsversuche. In Crossings. Kunst zum Hören und Sehen (1998, S. 52) wird Stephan von Huene von René Block in der Tradition von Tinguely verstanden: „Die Heiterkeit der Tinguely-Maschinen findet sich auch in einigen der Musikskulpturen des Kaliforniers Stephan von Huene wieder. Zum Beispiel in Tapdancer von 1967, Rosebud Annunciator und Totem Tones, beide von 1969.“

Diese Aussage mag zwar zum Teil zutreffen, trägt aber nicht viel zur Einordnung des Künstlers in einen kunstgeschichtlichen Kontext bei, die offensichtlich auf die Zeiten vor Tinguely zurückgeht: Von Huenes Werk ist aber nicht nur in der Tradition des Dadaismus eines Tinguelys, sondern auch in der Tradition von Komponisten wie Erik Satie, Conlon Nancarrow oder Harry Partch sowie in der Tradition der Free-Music-Machines von Percy Grainger und der Automatengeschichte im Allgemeinen zu verstehen. Die Nähe zu dem oft erwähnten Künstler und Dichter William Blake, der Universalismus der Rosenkreuzer, zu deren Gründern der Vorfahr mütterlicherseits Johann Valentin Andreae (1586-1654) gehört, der Autor der Chymischen Hochzeit sowie der Utopie Christianopolis, der Einfluss nativer Kunst, der kritische Umgang mit neokolonialistischen Weltvorstellungen oder die Einordnung in eine relevante Kulturtechnik des zwanzigsten Jahrhunderts, die von Beat Wyss als „esoterische Bildtechnik der Moderne“ bezeichnet wird, bleiben in diesen und anderen, oft nur flüchtigen Einordnungsversuchen der Fachliteratur weitgehend unkommentiert. Abgesehen davon ist die angebliche „Heiterkeit“ seiner frühen Werke auch in späteren Arbeiten wie Text Tones (1979/1982-83) oder Erweiterter Schwitters (1987) nur noch unterschwellig vorhanden, was den Vergleich mit Tinguelys Werk etwas schwer macht. Zu den sehr unterschiedlichen Einordnungen seines Œuvre zählen auch die Ausführungen in einer neueren Publikation über Klangkunst. Stephan von Huenes zerstörte Arbeit APT (1979-80) wird in dem Buch von Javier Ariza Las imágenes del sonido8 zumindest auf konzeptueller Ebene mit den Arbeiten von Christina Kubisch (1948) verglichen. APT (1979-80) ist ein akustisches En-

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Tap Dancer (1967) befindet sich seit den 1970er Jahren in der Privatsammlung von Ed und Nancy Kienholz im fern abgelegenen Hope, Idaho; Totem Tone I (1969-70) gehört der Sammlung George Wanlass, Los Angeles.

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Ariza 2003, S. 176

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vironment, dessen bewegliche Holzteile auf Geräusche reagieren.9 Dabei geht es um die Repräsentation von Außenwelten in Innenräumen. Dieser Vergleich lässt sich als möglicher Einfluss von Stephan von Huenes Arbeit auf Kubisch verstehen, die vor allem in der Tradition der Installationskunst von Max Neuman einzuordnen wäre. Wie dem auch immer sei: Die nun nicht mehr existierende Arbeit APT (1979-80) ist eine der ersten dieser Art, die in Deutschland entstanden sind, nämlich als Stephan von Huene ein einjähriges DAAD-Stipendium (197677) in Berlin bekam. Ausgestellt wurde diese Arbeit zum ersten Mal im Rahmen der Berliner Ausstellung Für Augen und Ohren (1980). Kristina Kubischs erste Klanginstallationen datieren aus den 1980er Jahren. An der Berliner Ausstellung nahm sie auch Teil, allerdings mit keiner ihrer elektromagnetischen oder Solarenergie-basierten Arbeiten, die jeweils erst ab Mitte der 1980er und Anfang der 1990er Jahre präsentiert wurden.10 Ariza vergleicht in der Tat Kubischs Übergänge zwischen inneren und äußeren Räumen anhand von Beispielen wie Iter Magneticum aus dem Jahr 1986 oder späteren Solar-basierten Werken. Ohne auszuschließen, dass die Arbeit APT (1979-80) womöglich einen gewissen Einfluss auf Kubisch haben könnte, muss auch erwähnt werden, dass hier die Ursprungsidee der späteren Text Tones (1979/1982-83) vorhanden ist. Eine der ersten Skulpturen von Text Tones war zum Teil von den Klangeigenschaften des Kölner Doms mitinspiriert worden. So vergab der Künstler einem Modul, das anlässlich der Ausstellung „Mein Kölner Dom“ (1980) gezeigt wurde, die vorübergehenden Bezeichnungen Dome-Tone. Ein paar Jahre Später bezeichnete er ein weiteres Modul der Text Tones (1979/1982-83) Luthers Irrtum (1983).11 Der Titel verrät, dass Luthers Idee des Textes – genau genommen des Liedtextes – als Musik der Seele kritisch beobachtet wird: Die Wörter im Kölner Dom verhallen dermaßen, dass deren „Inhalt“ nicht ankommt: „[T]he tonal lapse is too lar-

9

Vgl. Akademie der Künste Berlin 1980, S. 143, 198, 302. Siehe auch die Kurzbeschreibung des Kunstkritikers Hellmut Kotschenreuther: „[...] in einem der Kabinette, die sich in der großen Ausstellungshalle zu einem Environment aus Environments ordnen, antwortet Huenes APT auf Außengeräusche mit Eigenlärm wie von Gewährschüssen“ (Kotschenreuther 1980).

10 An der Berliner Ausstellung nahm sie grundsätzlich als Komponistin und PerformanzKünstlerin teil. 11 Diese Bezeichnung ist im Katalog zur Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle „Luther und die Folgen für die Kunst“ dokumentiert; siehe Hofmann 1983, S. 601.

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ge. You are only supposed to heard the sound.“12 Stattdessen widmet sich der Künstler der Klangstruktur der Wörter und Geräusche. Die elektronisch generierte monotone Reflexion von Umgebungsgeräuschen, die mittels eines Rückkopplungssystems mit integriertem Frequenzfilter zustande kommt, hat wenig mit den technisch reduktionistischen Klanginstallationen von Kubisch zu tun, bei denen das innere Leben des Objekts und der semantisch-technologische Prozess nicht so sehr wie die poetische Vermittlung von unsichtbaren Naturphänomenen im Mittelpunkt stehen. Der Vergleich mit Kubisch macht jedoch deutlich, wie schmal die Grenze zwischen Klangskulptur und Klanginstallation sein kann und lässt die Frage des Einflusses von Stephan von Huene auf Klangkünstler der ersten Generation offen. Auch die Serie Totem Tones (1969-70) wird in Arizas Buch erwähnt, wenn auch hier die (vertikale) Form nur als Resultat der Disposition technischer Bauteile verstanden wird, was ohne ganz falsch zu sein, die ikonographische Konnotation der selbstgebauten Holzpfeifen, ihrer Anordnung oder der Aufstellung auf beleuchteten Sockeln völlig außer Acht lässt. Irtümlicherweise wird hier ein hydraulischer statt ein pneumatischer Mechanismus vermutet.13 Diese Fehler hängen einerseits mit Arizas ambitioniertem Projekt zusammen, ein Handbuch über die Klangbilder der Kunst im 20. Jahrhundert schreiben zu wollen, andererseits ist die Unwissenheit derartiger wichtiger Details symptomatisch für eine Form der Kunstkritik, welche den technologischen Anteil der Kunst vor allem quantitativ und als Mittel zum Zweck deutet, während die Relevanz des technologischen Schaffensprozesses als Teil der Kunstessenz vernachlässigt wird. Einige Werke von Huenes haben jenseits des ursprünglichen Kontextes neue Diskurse bereichert. Das ist der Fall bei Greetings (1996). Auf der BIACS (Bienal de Arte Contemporáneo de Sevilla 2002) wurde Greetings (1996) als interaktive Klanginstallation im allgemeinen Kontext der sogenannten „Kunstdemokratisierung“ aufgefasst,14 wenn auch das Werk in diesem Fall in unmittelbarer Nähe des berühmten Satzes von Ortega y Gasset „yo soy yo y mi circunstancia“15 in Erscheinung trat. Diese Lektüre im musealen Kontext erweitert die Bedeutung, welche die Ausstellung „YOU_ser: das Jahrhundert des Kon-

12 Typoscript, Nachlass Stephan von Huene; hier zitiert nach Retrospektive, S. 195. Zur Bezeichung „Dome Tone“ siehe den Katalog zur Ausstellung „Mein Kölner Dom“ vom 16. Oktober bis 23. November: Kölnischer Kunstverein 1980, S. 77. 13 Ariza 2003, S. 137. 14 Belausteguigoitia 2008. 15 „Ich bin ich und mein Umstand“ (Übersetzung J.M.M.).

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sumenten“ (ZKM Karlsruhe 2007-2009) diesem Kunstwerk verliehen hatte, nämlich als eine Art von Aufwachmechanismus für die interaktive Teilnahme an der Kunstproduktion. Hierfür wurde Greetings (1996) in der Karlsruher Ausstellung strategisch im Eingangsbereich platziert. Die Besucher wurden von einer Videokamera erfasst, deren Bild auf ein Trommelfell projiziert und mit einem lauten Schlag akustisch wie visuell in Schwingung versetzt. Durch die Verbindung mit der philosophischen Zeile von Ortega y Gasset in der SevillaAusstellung überwindet Greetings (1996) den etwas abgenutzten Begriff der Kunstdemokratisierung durch vermeintliche Publikumspartizipation und macht Platz für einen weiter reichenden Erfahrungs- und Erkenntniskontext: „Ich bin ich und mein Umstand“ beschreibt die Entstehung des Ichs als Ergebnis der Begegnung mit der Welt, als systemabhängiges Individuum. Diese Aussage ist in Verbindung mit der Arbeit eines systemtheoretisch orientierten Künstlers wie Stephan von Huene nicht fehl am Platz. Tabelle 2: Quantitative Präsenz von Stephan von Huene (SvH) im Internet (1990-2012) anhand von Google-Treffern

Quelle: Eigene Erhebung

Die vorangehende Auswahl an Kritiken und Ausstellungstexten illustriert die uneinheitliche Dimension der Rezeption von Stephan von Huene, wenn es darum geht, ihn in einen kunsthistorischen Kontext einzuordnen. Ein Blick auf die „nicht-akademische“ Wahrnehmung des Künstlers im Netz bietet ein etwas anderes Bild.

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Tabelle 3: Position von Stephan von Huene auf Welt-Ranking laut der OnlinePlattform Artfacts

Quelle: artfacts.net

Quantitativ ist das Interesse an seinem Werk in den letzten zehn Jahren stark gestiegen. Dies lässt einerseits die steigende Anzahl der Google-Treffer16 vermuten, die sich meistens auf Zitate in Fachpublikationen, Ausstellungsankündigungen, privaten Blogs und populärwissenschaftlichen Texten beziehen. Dazu hat sicherlich auch die neue Webpräsenz (www.stephanvonhuene.de) beigetragen. Diese positive Tendenz wird auf verschiedene Weise unterstützt: durch eine kontinuierliche Teilnahme an kollektiven Ausstellungen zu Klang- und kinetischer Kunst in und außerhalb Deutschlands (z.B. BIACS, Sevilla 2002; „Bewegte Skulpturen“, Duisburg 2014; „Sound or Art“, Venedig 2014), durch Einzelausstellungen und Retrospektiven mit Beiträgen von Kunsthistorikern und Kritikern wie Martin Warnke, Horst Bredekamp, Achatz von Müller, Petra Oelschlägel, Marvin Altner und Wolfgang Kemp u.a. („Tune the World“, Hamburg/Duisburg/München

16 Kleine Notiz zur Methode: Gesucht wurde nach dem Namen des Künstlers in Anführungszeichen. Fehlerhafte Schreibweisen wurden nicht berücksichtigt. Die Graphik zeigt nur die Treffer, die sich tatsächlich anzeigen lassen. Nicht zutreffende Seiten wurden ausgelassen.

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2002, „The Song of the Line“, Hamburg/Karlsruhe 2010),17 und durch die kritische Arbeit einer neuen Generation junger Kunstwissenschaftler,18 die hauptsächlich in Deutschland aktiv ist. Diese positive Entwicklung sollte jedoch mit anderen Daten abgeglichen werden. Im Jahr 2012 wurde Stephan von Huene vom Ranking-Algorithmus der Online-Plattform Artfacts auf Platz 2.676 im Weltranking platziert. Der Algorithmus von Artfacts berücksichtigt Daten, insofern diese vorhanden sind, so dass diese Informationen nur zur Orientierung dienen. In der Entwicklung des Ranking beobachtet man, wie Stephan von Huene eine wesentlich stärkere Position Mitte der 1990er Jahre hatte, als er vor allem durch seine Arbeit Tisch Tänzer (1988-1995) und durch seine Teilnahme zum zweiten Mal an der Venedig Biennale (1995) eine gewisse internationale Anerkennung genoss. Bis zu seinem Tod im Jahr 2000 produzierte er auch neue Arbeiten und nahm am Kunst-Leben teil. Laut eigenen Angaben auf der OnlinePlattform Artfacts wird der Rang anhand der Anzahl und „Qualität“ der Ausstellungen pro Jahr errechnet. Der Vergleich mit den Ergebnissen aller weiteren auf Artfacts gelisteten Künstler ergibt die Rangposition. Diese bezieht sich grundsätzlich auf die institutionelle Sichtbarkeit des Künstlers. Im Jahr 2012, als die vorliegende Stichprobe gemacht wurde, gab es 38.481 Künstler in der Datenbank von Artfacts, so dass die Position von Stephan von Huene (Platz 2.676) immer noch zu der eines erfolgreich aktiven Künstlers zu rechnen wäre, obwohl seine Position, im Vergleich zu seinem besten Rang im Jahre 1996 (Platz 1.103), um mehr als 1.500 Plätze gesunken ist.19

17 Siehe auch: Kipphoff/Altner 2012. 18 Einige dieser Kunstwissenschaftler sind: Muñoz Morcillo 2011; Ruccius 2013; Hadjinicolaou 2014; Sakamoto 2014. 19 Wenn man nach Auktionsergebnissen die Position errechnen würde, käme Stephan von Huene sicherlich nicht gut davon, da sich seine Werke nur selten und nicht sehr teuer verkaufen: 2007 wurden zwei Objekte vom Auktionshaus Bonhams & Butterfields in San Francisco versteigert: die Klangskulptur Totem Tone I (1969-70) für 3.000 USD und eine Bach Collage für 600 USD. Im Jahr 2012 konnten hingegen zwei Lithographien gar nicht verkauft werden. Diese Daten haben keinen direkten Einfluss auf das Ranking von www.artfacts.net. Der Kunstmarkt entscheidet jedoch indirekt über die Wahrnehmbarkeit des Künstlers. Je mehr Werke verkauft werden, umso mehr Interesse wird geweckt und dementsprechend mehr Ausstellungen werden organisiert. Spätestens seit Georg Franck müssen wir akzeptieren, dass die knappe Ressource der Aufmerksamkeit in wahres Kapital umgeschlagen wird. Abgesehen davon lässt sich die Statistik nach oben oder nach unten beeinflussen, je nachdem wie aktuell die eingegebenen Daten sind. Im Falle von Stephan von Huene war nur ein Bruchteil der

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Der Wahrnehmbarkeitsindex ist nicht das, was die Relevanz eines künstlerischen Lebenswerks für die Nachwelt ausmacht. „La percepzione richiede impegno“ (Muntadas, „Biennale di Venezia“ 2005) und wesentlich mehr als einen komparativen Algorithmus. Interessanter wäre die Erkundung der qualitativen Rezeption des Künstlers. Wir folgen hier zunächst einem biographischen roten Faden, der über von Huenes Tätigkeit als Lehrer und die Karriere seiner Studierenden führt. In seinem Unterricht involvierte Stephan von Huene die Studierenden in die ästhetischen, akustischen und kommunikationstheoretischen Fragen, die ihn selber auch beschäftigten. Bekannt ist vor allem seine Arbeit am CalArts, an der Internationalen Sommerakademie Salzburg und an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, zu deren Konzeption von Huene in der Gründungsphase mit seiner Vorstellung von Medienkunst auch beitrug. Stephan von Huene unterrichtete von 1964 bis 1970 am Chouinard Art Institute in Los Angeles und dann am CalArts, wo er gemeinsam mit Künstlern und Freunden wie Paul Brach, Miriam Schapiro, Allan Kaprow, James Tenney (der später die Kompositionen für die Drum [1974/1992] schrieb), Morton Subotnik und Joan La Barbara arbeitete. Jahre später wird Joan La Barbara Stephan von Huene in einem ausführlichen Gespräch über seine Arbeit für das Radioprogramm „Other Voices, other Sounds“ des KPFK Pacific Radio Los Angeles interviewen. Dieser inzwischen transkribierte und publizierte Text20 ist zusammen mit den Interviews mit Dorothee Newmark (Leonardo Nr. 5, 1972), Doris von Drathen (Kunstforum International Nr. 107, 1990), Gottfried Sello (Lexichaos [1990], Ausst.-Kat.) und dem japanischen Magazin MIZUE (1973) eine sehr wertvolle Informationsquelle, um von Huenes Laufbahn verfolgen und verstehen zu können. Wie verhält es sich aber mit seiner Arbeit als Lehrer? Sein berühmtester Schüler am Pasadena Art Museum, der Physiker Robert Feynman wurde

Gruppenausstellungen registriert. Die Plattform hängt in diesem Fall vom Wissen vieler Internetuser ab, welche die Daten mit Vorschlägen über vermisste Ausstellungen ergänzen dürfen. Wenn wir aber Surowieckis These um die „Weissheit der Vielen“ vertrauen, so könnte man annehmen, dass diese Daten womöglich ein relativ vertrauenswürdiges Bild der Wahrnehmbarkeit von Stephan von Huene auf institutioneller Ebene wiedergeben. Die Google-Treffer sprechen ihrerseits von einer kontinuierlichen, positiven Tendenz, was die allgemeine Wahrnehmung von Stephan von Huene in Fachkreisen wie innerhalb der interessierten Öffentlichkeit betrifft. 20 Vgl. Split Tongue, S. 62-120.

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nicht Nobelpreisträger für seine zeichnerischen Fähigkeiten, aber immerhin war es ihm dadurch möglich, Emotionen zum Ausdruck zu bringen, wo die Teilchenphysik nicht mehr ausreichte. Er schaffte es jedenfalls, eine eigene ZeichenSprache zu entwickeln, und betrieb die Zeichnung und die Malerei sein Leben lang als existenziellen Ausdruck und Stimulus.21 Abbildung 110: Raul Guerrero, Rotary Glass Plates (Precision Optics), 1969, Replik einer kinetischen Skulptur von Marcel Duchamp um 1920

Quelle: Raul Guerrero

Über von Huenes Zeit als Lehrer und Dekan der Abteilung Skulptur am CalArts gibt es nicht viel Information. Von 1971 bis 1980 war Stephan von Huene dort tätig: Für das Wintersemester 1972 bot er eine Skulptur-Klasse an, bei der es auch „um technische Unterstützung für kinetische Arbeiten und bei der Verwendung einiger ungewöhnlicher Materialien ging“, wie sein damaliger Student Raul Guerrero in seinem Vimeo-Kanal erzählt. Die von Guerrero durchgeführte studentische Arbeit ist dort zu sehen: eine Drehscheibe mit optischen Effekten, Replik und Reminiszenz der kinetischen Experimente des DADA-Künstlers Duchamp, die Guerrero folgendermaßen beschreibt:

21 Vgl. Feynman 1995.

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„Five painted plastic plates turning on a metal axis and forming continuous circles when seen in motion from a distance of one meter. I made this version for a sculpture class, taught by artist Stephan von Huene, in response to a design problem dealing with spatial concepts. Chouinard Art Institue, Los Angeles, CA. 1969.“22

Trotz der sehr an von Huene erinnernden Bastelarbeit, welche diese studentische Skulptur darstellt, ist Raul Guerrero kein kinetischer oder Klang-Künstler geworden: „[P]aintings, sculptures, prints, drawings, photographs, and videotapes [...] Guerrero is an explorer. But the territory he explores is largely intangible. It is the tumult of history and culture clashes that have shaped the Americas and the globe during the 500 years since Columbus.“ In diesen Termini spricht Toby Kamps, Curator am Museum of Contemporary Art in San Diego über die Arbeiten von Raul Guerrero.23 Wenn auch der südkalifornische Künstler mexikanischer Herkunft vornehmlich für seine Malerei-Arbeiten bekannt sein dürfte, lässt er kein Medium aus. Die Geschichte der Ureinwohner Amerikas hat einen besonderen Platz auch in seinem Œuvre. In seiner ersten Ausstellung zeigte er eine rotierende Yaqui-Maske, die von einer Vision der primitiven Kunst als Stimulus zur Erschaffung von etwas Neuem inspiriert zu sein scheint: ein „perturbierendes Objekt“ als kreativer Schritt der Kunst. Die Spur des Dadaismus und des frühen Stephan von Huene ist hier wahrzunehmen. In Verbindung mit dieser Skulptur zitiert Raul Guerrero selbst eine Passage aus der englischen Ausgabe Carl Gustav Jungs Der Mensch und seine Symbole, in der auf ebendiese Form der Kreativität hingewiesen wird, die durch Perturbation zustande kommt. Damit ist ein analytischer Psychologe und Psychiater erwähnt, der Freuds Ansichten zur Neurosenlehre unterstützte, die Alchemie als eine Art von Proto-Psychologie verstand und indirekten Einfluss auf einen der wichtigsten Vertreter der systemischen Psychologie und Kommunikationstheorie ausübte und der einen besonderen Platz in der Bibliothek von Stephan von Huene hatte: Paul Watzlawick. Eine andere Studentin von Stephan von Huene aus der Zeit am CalArts, die den Lehrer von Huene im Detail beschreibt, ist Mira Schor. In einem Blogbeitrag mit dem Titel „Stephan von Huene: a feminist teacher“ fokussiert sie ihre Erzählung nicht so sehr auf formale oder methodologische Einflüsse durch von Huene wie auf seine Eignung als „Mentor“ für feministische Studierende am CalArts. Damals wurde das „Feminist Programm“ von Judy Chicago und

22 Quelle: http://vimeo.com/29887718 (25.4.2015). 23 Ebenda.

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Miriam Schapiro geleitet, und Mira Schor nahm an diesem teil. Dies stellte ein Gegengewicht zu dem Einfluss des eher von Männern betriebenen „Greenbergian formalism“ dar. Laut Mira Schor war Stephan von Huenes Unterricht nicht „greenbergisch“, er machte den Eindruck, sich freier zu bewegen, sein Umgang mit dem Surrealismus bot Schor und anderen Studenten neue Ausdruckswege zur Erkundung von menschlichem Potenzial, der von der herrschenden „finish“Bewegung der Westküste und der Pop Art der Ostküste nahezu vollständig ausgeschlossen wurde. In das „Feminist Program“ war Stephan von Huene allerdings nicht wirklich involviert. Der Fokus liegt woanders: Mira Schor beschreibt ihn als „the most nurturing teacher“, d.h. der „nährendste“, will sagen inspirierendste und verantwortungsbewusste Dozent, den sie am CalArts hatte. Stephan von Huene war nicht durch feministisches Gedankengut geprägt, er hatte aber als Lehrer („teacher“) eine besondere pädagogische Methode: Er ging vor, wie ein Kunsttherapeut („art therapist“), der seine Studierenden anspornte, Veränderung, Chance und Zufall als formale und methodologische Prinzipien zu akzeptieren.24 Er teilte offensichtlich auch seine künstlerische Forschung und Entdeckungen mit, was von Mira Schor als eine ungewöhnliche Lehrmethode für jene Zeit beschrieben wird: „[...] [T]his was an unusual teaching method, revealing what might be interpreted as weakness while retaining the authority of knowledge and wisdom.“25 Das Teilen seines Wissens mit den Studenten, selbst wenn dieses eine Freigabe eigener künstlerischen Ideen darstellte, wurde zumindest von Mira Schor als Ausdruck einer besonders starken Autorität wahrgenommen. Wie Raul Guerrero fand auch Mira Schor ihren eigenen Weg in der Kunst: Ihre Malereien bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Körper-Narrativität, Genderfragen und Sprachdarstellungen. Insbesondere der Umgang mit Sprache in ihrem Werk als einem mehrdeutigen, fast esoterischen Bildzeichen erinnert an den frühen Stephan von Huene. Diese Beschreibung ist symptomatisch für seine Aktivität als Lehrer und steht im Einklang mit den Informationen über seine Zeit an der Internationalen Sommerakademie. Stephan von Huene unterrichtete dort von 1982 bis 1986. Sein Hauptziel war, die sehr heterogenen Teilnehmer, die sowohl aus dem Be-

24 Siehe das vollständige Zitat: „So here was Stephan embracing the delicate role of art therapist at the same time as he prodded me into accepting change, chance and accident as formal and methodological principles, always with gentleness and humor.“ Online-Dokumente:

http://ayearofpositivethinking.com/2010/09/04/stephan-von-hue

ne-feminist-teacher/ (25.4.2015). 25 Ebenda.

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rufsleben wie auch von Kunstakademien kamen, am Ende des Kurses in die Lage versetzt zu haben, allein weiterarbeiten zu können, etwa nach dem Vorbild der „applied arts“-Kurse seines eigenen Professors Karl E. With. Einige der Teilnehmer wurden dann tatsächlich Künstler. Rea Siegel-Ketros,26 Brigitte Marzi27 oder Sylvia Hebisch – letztere Studentin bei von Huene an der Fachhochschule für Gestaltung Hamburg –28 sind einige der damaligen Studierenden, die inzwischen auch eine eigene Kunstkarriere eingeschlagen haben und in ihren öffentlichen Profilen auf die Kurse von Stephan von Huene an der Sommerakademie oder anderen Hochschulen aufmerksam machen. Bei einigen dieser Künstlerinnen wie z.B. bei Rea Siegel-Ketros lassen sich die Spuren der Kunstauffassung von Stephan von Huene rekonstruieren: Unter den Arbeitsbereichen, in denen Siegel-Ketros tätig ist und ihre Malerei verortet, ist die Produktion von „Wortklangbildern“ als Indiz hervorzuheben, dass Stephan von Huenes „dadaistische Lehren“ hier eingeflossen sein könnten. Im Einklang mit dem Bericht von Mira Schor beschreibt der PerformanceKünstler Olaf Westphalen – Student von Stephan von Huene in Hamburg – seinen alten Kunstlehrer als „Teacher and Friend“.29 Dass Olav Westphalen später bei von Huenes Freund Allan Kaprow studierte, ist sicherlich kein Zufall gewesen. Westphalens Plädoyer „gegen konventionelle Ironie“ und die grenzüberschreitende Nutzung von Ausdrucksmitteln inklusive der Karikatur lassen ihn in

26 Rea Siegel-Ketros: „1944 in Neuenbürg/Calw geboren. Kunst und Werken für Lehramt bei Prof. E. B. Wohlgemuth (Stuttgart). Malerei und freie Graphik bei Prof. Stephan von Huene (Hamburg und Salzburg). Malerei bei Siegfried Müller de Freitas, Druckgraphik bei Mariel Gottwick, Bildhauerei bei Joachim Lambrecht (FKS Stuttgart). Arbeitsbereiche: Wortklangbilder, Hinter-Licht-Bilder, Künstlerbücher, Zahlreiche Werke in öffentlichem Besitz, öffentliche Aufträge.“ Online-Dokument: http://www.lauffen.de/website/de/freizeit/lauffener_kuenstlerportal/bildende_kunst/re a_siegel_ketros (25.4.2015). Siehe auch: Klimt 2007, S. 1007. 27 Brigitte Marzi, Malerin, Internationale Sommerakademie Salzburg, bei Stephan von Huene (siehe ebd. S. 696). 28 Sylvia Hebisch, Dipl. Designerin, Freie Malerin, Illustratorin. Kunstschule HamburgKAW. Sie studierte an der Fachhochschule für Gestaltung Hamburg Illustration und Malerei sowie experimentelle Malerei bei Stephan von Huene. „Seit 1989 ist sie im Rahmen eines Lehrauftrages an der Hamburger Technischen Kunstschule als Dozentin für Aktzeichnen und freie Malerei tätig. Darüber hinaus hat sie im Oktober 2002 ihre eigene KUNSTSCHULE AM WOHLERSPARK gegründet.“ Online-Dokument: http://www.kunstschuleamwoh lerspark.de/kunst/dozenten/hebisch.php (29.4.2015). 29 Westphalen 2003, S. 64.

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der Tradition seines Lehrers erscheinen. Olav Westphalen ist heute an der Kunstakademie in Stockholm als Lehrer tätig. Stephan von Huene unterrichtete zwischen 1992 und 1997auch an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG). Die HfG Karlsruhe war die erste Hochschule für Medienkunst weltweit – im Verbund mit einem Museum, dem ZKM Karlsruhe. Hier trug er maßgeblich zur Gestaltung der Gründungsphase bei, indem er mit seiner Erfahrung am CalArts, das auch eine Neugründung war, eigenen Ideen und praktischen Kursen den hochschulinternen Diskurs mitprägte. Er gehört somit zu der ersten Generation von Kunstprofessoren dieser Hochschule wie Klaus vom Bruch oder Marie-Jo Lafontaine, die unter der Ägide von Heinrich Klotz, dem Gründer des ZKM, unterrichteten. Damals wurde Stephan von Huene von Heinrich Klotz gebeten, eine Definition für Medienkunst zu formulieren, mit der man an der Hochschule arbeiten könnte. Hierzu gab von Huene eine qualitative, prozessorientierte Definition, die sich von einfachen Formeln distanzierte: „‚Media Art‘ is an art form where the process of transmission of the art work through technological devices is an integral part of the work of the artist and the art work.“30 Wie am CalArts oder an der Salzburger Internationalen Sommerakademie fließen seine Ideen und Entdeckungen in seine Seminare ein. Stephan von Huene unterrichtete nicht nach einem Lehrbuch, sondern nach den Grundsätzen der Zeichnung, die für ihn auch die „perception“ – Wahrnehmung – einschloss und andererseits entlang der eigenen Erfahrung an der vordersten Linie der Kunstproduktion stand, die er mit seinen Studierenden ohne Bedenken teilte. In ironischer Untertreibung nannte er seine Klasse „Low Fidelity Studio“, deren Ziele er im Vorlesungsverzeichnis folgendermaßen beschrieb: „Bei der Klasse ‚Low Fidelity Studio‘ geht es um die digitale Bearbeitung von akustischem Material. Mit Hilfe des Programms ‚Digi Design Pro Tools‘ werden wir Geräusche sammeln, bearbeiten und in verschiedenen Zeit/Form Möglichkeiten zusammenstellen. Gemeinsame Arbeit an der Entwicklung von künstlerischen Ideen im Bereich Audio, seiner Visualisierung und Vision, ihrem Klang. Wir werden uns von Zeit zu Zeit Klangbeispielen anderer Künstler zuwenden und darüber diskutieren“.31

30 Split Tongue, S. 169. 31 Hochschule für Gestaltung. Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis Wintersemester 1994/95, S. 23.

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Zu den damaligen Studenten gehören u.a. Achim Däschner32 und Thomas Zitzwitz.33 Zitzwitz’ Klang-Installation Nach Pangaea. Installation with smell and sound, mit der er an der Multimediale 4 (ZKM Karlsruhe, 1995) teilnahm, lässt den Einfluss von Huenes erkennen. Die Sensorama-ähnliche Installation bietet Klang- und Duftcollagen verschiedener Städte der Vereinigten Staaten und Südfrankreichs inklusive „scent of children’s sweet, the sound of a merry-go-round, the shouts of marines exercising, the sound of a steel drum player, the odour of medieval pitch, the mechanical vibrations of a hotel elevator, the perfume of Linden blossoms, the rough and tumble of men fighting in an action film, a klezmer player, the erotic perfume of Castoreum, sounds of a bar in southern Europe“.34

Eine ähnliche Arbeit, Teresa aus Madrid mit gelbem Kleid, folgte 1997: „Eine Installation mit den Gerüchen Zedernholz, Orangenblüten, Lippenstift, Straße nach dem Regen, Narzissen, Brioche, Café und arabischer Markt“.35 Die Gerüche stehen für visuelle Eindrücke und die spontanen Assoziationen des Künstlers. Hier scheinen synästhetische Wahrnehmungstheorien eingewirkt zu haben. Neben den Seminaren zur digitalen Bearbeitung von akustischem Material gab Stephan von Huene auch ein „Klangfarbenseminar“, in dem er die Studierenden mit den Feinheiten der Klangstruktur vertraut machte. Spätere, abstrakte AcrylMalereien von Zitzwitz sind lyrisch-harmonisch mit Variationen von Grundtönen und haben einen klaren Hang zum Synästhetischen. Die Person des Lehrers ist hier spürbar als ein Stimulus, der Zitzwitz zu seiner eigenen Sprache verhalf. Mira Schor brachte schon die wichtigsten Eigenschaften des Lehrers Stephan von Huene zur Sprache, die dann auch seine Lehrtätigkeiten in Europa ebenso charakterisiert haben. Von Huene agierte wie ein Kunsttherapeut, seine eigene Biographie der kulturellen Andersheit verlieh ihm eine große Empathie für den Umgang mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen hatten, wie etwa Raul Guerrero als US-Amerikaner mexikanischer Herkunft oder die Feministin Mira Schor. Seine Position als Außenseiter in der Welt von Los Angeles der 1960er Jahre36 war für einige Studierende das notwendige Gegengewicht zur verbreite-

32 Achim Däschner: Medienkünstler, Student an der HfG Karlsruhe bei Stephan von Huene (siehe dazu: Klimt 2007). 33 Thomas Zitzwitz studierte von 1992-1997 Medienkunst an der HfG Karlsruhe. 34 http://www.zitzwitz.com/nach-pangaea/ (25.4.2015). 35 http://www.zitzwitz.com/teresa-aus-madrid-mit-gelbem-kleid/ (25.4.2015). 36 Siehe dazu William Wilsons Beitrag in Retrospektive, S. 34-51.

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ten „finish“-Kunst und ganz allgemein auch zur männlich geprägten „surfer culture“ Südkaliforniens. In dem Konzeptsurrealismus von Stephan von Huene fand z.B. Mira Schor den kreativen Raum für die Erforschung ihrer künstlerischen Interessen, nämlich „narrativity and representation of sexuality“. Im diesem Fall macht Mira Schor sogar einen direkten Vergleich mit den damaligen Zeichnungen von Stephan von Huene und den Interessen der feministischen Kunstforschung: „Fragmentation, figuration, gender, craft, lack, these were all areas of interest that had strong connections to the interests of much feminist art investigation at the time and feminist psychoanalytic theory of later years.“

Die Unterlagen der Kurse von Stephan von Huene in der Internationalen Sommerakademie Salzburg bestätigen auch die These, dass er nicht nur formale Aspekte der Kunst thematisierte, sondern auch von ihm selbst recherchierte Theorien der Wahrnehmung und Kognitionswissenschaft wie z.B. die NLPKorrespondenzen eines Gesichtsausdrucks und bestimmter Augenbewegungen mit Affekten und Gedankengängen. Man kann davon ausgehen, dass die „Fragmentation“ und die Figuration beider Geschlechter, auf die Mira Schor in ihrer Kunst aufmerksam macht, mit der Kenntnis aktueller Arbeiten und Ideen von Stephan von Huene zu tun haben. Seine Absicht war es offensichtlich nicht, die eigene Kunst zum Maßstab zu machen. Er hatte auch keine autoritäre Art, zu unterrichten, vielmehr werden seine subtile Ironie, sein Humor, Freundlichkeit und Höflichkeit im Umgang mit den Studenten erwähnt. Dass er nicht viel von einem autoritären Umgang mit der Kunst hielt, zeigt sich spätestens auch bei dem Kunstwerk Blaue Bücher (1997), in dem er ebendiese Form der ideologisch geprägten Kunstvermittlung auf der Basis von Martin Warnkes Publikation Wissenschaft als Knechtungsakt (1970) mit zurückhaltender Ironie und mittels einer erhabenen Diktion mit Trommelschlägen akzentuierend vor Augen führte.

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Stephan von Huene war weder befreundet noch verbunden mit John Cage, konnte jedoch seine Aufmerksamkeit mit den Text Tones (1979/1982-83) auf sich ziehen, einer Arbeit, die in ihrer programmatischen Dimension der Fluxusrelevanten Composition 60# von La Monte Young vergleichbar war. Was John Cage genau darüber dachte oder sagte, ist nicht bekannt. Doch es gab eine Be-

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gegnung und ein Gespräch während des „Contemporary Music Festival“ (1982) des CalArts, an dem beide beteiligt waren. Die minimalistische Ästhetik der Text Tones (1979/1982-83) und die programmatische Funktion der Umgebungsgeräusche im Raum müssen Cage jedenfalls an seine eigene Arbeit erinnert haben: 1952 ließ er sich von den ebenso minimalistischen White Paintings von Robert Rauschenberg für das erste Ur-Happening im Blackmountain College inspirieren: Die White Paintings (1951) wurden als Projektionsflächen für die Entstehung von Kunstereignissen eingesetzt, der Künstler selbst bestimmte nur die Trennung der weißen Flächen ähnlich wie die Angaben, die John Cage für die Ausführung seiner Werke vorgab; die Einbeziehung von Geräuschen in sein Werk war auch ein wichtiger Bestandteil seiner Kompositionspraxis, wie die berühmte Arbeit 4'33'' (1952) und selbst spätere Werke wie Fontana Mix (1958) oder Water Walk (1959) deutlich machen. Wir registrieren auch die Rolle des Zufalls im Werk beider Autoren. Wenn man diese vergleicht, findet man eine unterschiedliche Herkunft und Methodik. Während John Cage die Lehren des chinesischen Buches der Prophezeiung I Chin mittels der esoterischen Technik der Hexagramm-Kombinationen verwendete, um die Musik von allen bisherigen Traditionen abzulösen und jedem Klangereignis den Status einer nichtintentionalen, aber potenziellen Komposition zu verleihen, verwendete Stephan von Huene den Zufall nicht als grundlegendes Gestaltungsprinzip, sondern als Gestaltungsmittel in Verbindung mit systemtheoretischen Überlegungen wie Batesons Energie-Begriff, der Stochastik und den Eigenschaften des Paradoxons als immanentem Teil der conditio humana. Zu den Komponisten des 20. Jahrhunderts, die Stephan von Huenes Arbeit schätzten, ist vor allem Györgi Ligeti zu erwähnen, zu dem der Künstler eine langjährige Freundschaft pflegte. Im Peter Fuhrmanns Film Im Zwischenreich der Sinne. Bild, Objekt, Klang und Bewegung im Werk von Stephan von Huene (D 1995) führen beide ein animiertes Gespräch über die Ambivalenzen der Klangskulpturen und die Absurdität, über die Zukunft der Kunst zu spekulieren. Derartige Begegnungen waren nichts Neues: 1988 hatte Ligeti den Künstler zu einem Podiumsgespräch eingeladen, das anlässlich seines 65. Geburtstags in der Opera Stabile (Studio der Staatsoper Hamburg) mit Conlon Nancarrow stattfand (17.10.1988). Ein bemerkenswerter Beweis der Anerkennung des Komponisten ist auch im Nachlass des Künstlers erhalten: Nach dem Besuch der Ausstellung im

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Louisana Museum schreibt Ligeti in einem Brief vom 15. Januar 199137 an Stephan von Huene und Petra Kipphoff von Huene: „[...] ich [war] etwa 3 Stunden lang in der Ausstellung, war fasziniert und begeistert (musikalisch am meisten von der „Zauberflöte“) von allem. Dear Stephan, I feel your world very close to mine, I love what you’re doing (everything), music – technology – sculpture, I appreciate especially your deep sense of humor. Dada + West Coast + total independence and originality, the beauty of the sound patterns, the sexuality of the paintings and drawings, and the many hidden hints of understanding life. The total lack of pathos and ‚deeper meaning‘.“

Ein besonderes „Vermächtnis“ des Künstlers Stephan von Huene ist etwa sein Beitrag zum Verständnis von Medienkunst als Bisoziation38 von Kunst mit neueren, technischen Entwicklungen und als semantisch-technologischem Prozess – etwa im Unterschied zu Dick Higgins Intermedia-Begriff, bei dem es grundsätzlich um die Überwindung der historischen „separation between media“39 als Motor der Kunstinnovation geht. Zahlreiche Künstler bewegen sich heute – bewusst oder unbewusst – in der Tradition von Stephan von Huene sowohl in der Klangplastik als auch in der Installationskunst, insofern sie die Mischung von Medien und Technologien nicht nur als reines Mittel zum Zweck, sondern als integralen Bestandteil des Kunstwerkes verstehen. Im Einklang mit dem Topos des Mustang-Paradoxons setzt sich die Konservierungspraxis oft rückblickend mit der Bedeutung der Materialien und verwendeten Technologien auseinander. Fragen zur Technologie- und Materialsemantik helfen heute bei der Dokumentation und Konservierung von fast allen Erscheinungsformen der Medienkunst, insbesondere hinsichtlich kinetischer, Klang- und Videokünstler der ersten Generation wie Jean Tingely, Alexander Calder, Nam June Paik, Fabrizio Plessi, Rebecca Horn oder Jeffrey Shaw. Stephan von Huene, der in William Blakes illustriertem Gedicht „The Tyger“ ein „old media event“40 sah, war sich der bidirektionalen

37 Dieser Text ist teilweise in deutscher Übersetzung in Split Tongue (2012, S. 28, Fußnote 11) erschienen: „Ich schätze vor allem Deinen tiefen Humor. Westküsten-Dada und völlige Unabhängigkeit und Originalität die Schönheit der Klangmuster, die Sexualität der Bilder und Zeichnungen und die vielen verborgenen Hinweise auf das Verständnis für das Leben. Den totalen Verzicht auf Pathos und ‚tiefere Bedeutung‘.“ 38 Zum Begriff der Bisoziation siehe Arthur Kostlers Buch The Act of Creation (1964). 39 Higgings 1966. 40 Siehe Mindmaps zum INTERFACE-Vortrag, Folie 1, D/D 1992-1; hier zitiert nach Split Tongue, S. 35.

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Semantik der Dinge bewusst, darum zögerte er auch, eine eindeutige Definition von Medienkunst zu geben. Sein Ratschlag war „that we explore and then define what media art can be“.41

41 Mindmap zum Vortrag über Medienkunst, 1997, 2. Folie; hier zitiert nach Split Tongue, S. 156.

Tabellarische Biographie und Ausstellungen

1932 1950-52 1952-53 1955-59 1961 1962 1963-65 ab 1963 1963-66 1963 1964-70

1965

1966-67 1966 1967

geboren am 15. September in Los Angeles als Sohn deutscher Einwanderer Studium am Pasadena City College, Pasadena Studium der freien Künste an der University of California, Los Angeles Studium der Malerei, der Zeichnung und des Design am Chouinard Art Institute (Bachelor of Fine Arts) Gruppenausstellung: Pasadena Art Museum, Kalifornien Wanderausstellung, Long Beach Museum Studium der Kunst und Kunstgeschichte an der University of California, Los Angeles (Master of Arts) vielfältige Lehrertätigkeit in den USA Skulpturen aus Holz, Leder und verschiedenen Materialien Lehrtätigkeit am Pasadena Art Museum Huysman Gallery, Los Angeles, Kalifornien erste Klangskulpturen, Untersuchungen zur Akustik von Musikinstrumenten, mechanischen Klavieren und Orgeln Lehrtätigkeit am Chouinard Art Institute, Los Angeles Macy’s New York City Gruppenausstellung: „The new Breed“. David Stuart Galleries, Los Angeles Lehrtätigkeit an der California State University, Los Angeles Gruppenausstellung: Southwestern College, Chula Vista, Kalifornien Beginn der Arbeit mit Orgelpfeifen und optoelektronischen Programmen Gruppenausstellungen: Whitney Museum of American Art, New York

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1968

1969-70

1970 1971

1972-74 1972

1973

1974

1975

1975

„American Sculpture in the Sixties“, Los Angeles County Museum; Philadelphia Museum of Art „New View“, Smithsonian Institute, Washington Gruppenausstellung: „La nueva veta: la Figura, 1963/1968“, Centro de Artes Visuales del Instituto Torcuato Die Tella, Buenos Aires; Smithsonian Institute, Washington „West Coast Now“, Portland Art Museum Einzelausstellung: Los Angeles County Museum of Art Whitney Museum of American Art, New York San Francisco Museum of Modern Art Gruppenausstellung: „Electromagica ’69“ (International Psytech Art Exhibition), Tokio Gruppenausstellung: La Jolla Museum of Contemporary Art, La Jolla Lehrtätigkeit am California Institute of the Arts, Los Angeles Einzelausstellung: Norther Illinois University Michael Walls Gallery, San Francisco Vize-Dekan am California Institute of the Arts, Los Angeles. offiziell Professor bis 1979 Gruppenausstellungen: California Institute Technology, Pasadena „The New School“, University of California, Santa Barbara Margo Levin Gallery, Los Angeles Gruppenausstellungen: „The Kleiner Foundation Gift of Contemporary Art“, Los Angeles County Museum of Art, Vancouver Art Gallery, Einzelausstellung: Chicago Museum of Contemporary Art Gastdozent an der Nova Scotia School of Contemporary Arts, Nova Scotia; National Endowment Grant für die Entwicklung der Klangskulpturen Auftragsarbeit (Drum I) mit James Tenney für Frank Oppenheimer am Exploratorium, Museum of Science and Art, San Francisco anschließend fünf Jahre Vorstand der Abteilung Skulptur Gruppenausstellungen: „Sound Sculpture“, Vancouver Art Gallery „Sehen, um zu Hören. Objekte und Konzerte zur visuellen Musik der sechziger Jahre“, Kunsthalle Düsseldorf

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1975-76 1976-77 1976-80

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1977 1979

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„Visuelle Musik der 60er Jahre“, Städtische Kunsthalle, Düsseldorf amtierender Dekan des California Institute of the Arts, Los Angeles DAAD Stipendium, Berlin Untersuchungen der spezifischen Klangeigenschaften eines Objektes im Verhältnis zur Größe und Tonhöhe. Weiterentwicklung einer elektronischen Programmierung, Beschäftigung mit Systemtheorie und Kommunikationstheorie Gruppenausstellungen: „37. Biennale di Venezia“ „Painting and Sculpture in California. The Modern Era“, San Francisco Museum of Modern Art „Bild, Raum, Klang“. Elf internationale Künstler, Gäste des Berliner Künstlerprogramms, DAAD, Wissenschaftszentrum Bonn, Bad Godesberg Einzelausstellung: Galerie Inge Baecker, Bochum Gastprofessur an der Hochschule der Künste, Berlin Heirat mit Petra Kipphoff. Gruppenausstellungen: „Sound. An Exhibition of Sound Sculpture, Instrument Building and Acoustically Tuned Spaces“, Los Angeles Institute of Contemporary Art; P.S. I, New York Verlegung des Ateliers nach Hamburg Gastprofessur an der Fachhochschule für Kunst und Design, Hannover Gruppenausstellungen: „Für Augen und Ohren. Von der Spieluhr zum akustischen Environment. Objekte, Installationen, Performances“, Akademie der Künste Berlin „Ecouter par les yeux. Objets et environnements sonores“, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris „Mein Kölner Dom. Zeitgenössische Künstler sehen den Kölner Dom“, Kölnischer Kunstverein und Museum Ludwig Köln Gruppenausstellung: „Soundings“, Neuberger Museum, State University of New York

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Einzelausstellung: Center for Music Experiments, University of California, San Diego Gruppenausstellung: „Contemporary Music Festival“, California Institute of the Arts, Los Angeles Erste Einzelausstellung in Deutschland: „Stephan von Huene. Klangskulpturen“ Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Kestner Gesellschaft, Hannover Gruppenausstellung: „Luther und die Folgen der Kunst“, Hamburger Kunsthalle Professur an der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst, Salzburg Einzelausstellung: Museum Ludwig, Köln Berliner Kunstverein im Schloss Charlottenburg, Berlin Gruppenausstellung: „Kunst und Technologie. Aufbruch in neue Wirklichkeiten“, Bundesministerium für Forschung und Technologie, Bonn Die Zauberflöte, Romanischer Keller, Salzburg Rohrspiel (Hörspiel), Produktion Studio Akustische Kunst, WDR, Redaktion Klaus Schöning Gruppenausstellungen: „Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts“, Staatsgalerie Stuttgart „Klangskulpturen ’85“, Städtische Galerie, Würzburg; Kunstverien Heidelberg; Stadtgalerie Stuttgart Gastdozent am Kunsthistorischen Institut, Universität Hamburg Gruppenausstellung: „Musik und Sprache“, Inventionen 86, Berlin „artware“, CeBIT, Hannover Einzelausstellung: „The Faith and Charity in Hope Gallery“, Hope, Idaho Erweiterter Schwitters (Hörspiel), Studio Akustische Kunst, WDR, Redaktion Klaus Schöning Gruppenausstellungen: „documenta 8“, Kassel „Zauber der Medusa. Europäische Manierismen“, Künstlerhaus Wien

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1988

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1992-97 1993

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„Weltmusiktage ’87“, Internationale Gesellschaft für Neue Musik, Köln, Bonn, Frankfurt Glaspfeifen, Alfred Kren Galerie, Köln „Posts and Colums in African Tribal Art and Contemporary Art“ Alfred Kren Galerie, New York - Köln auf der Leonard Kahan Gallery, New York Professur an der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst, Salzburg „Klangräume – Installationen und Skulpturen“, Stadtgalerie Saarbrücken Tisch Tänzer, Weisses Haus, Hamburg Erweiterter Schwitters – eine Transplantation (Hörspiel), Studio Akustische Kunst, WDR, Redaktion Klaus Schöning Gruppenausstellung: „MaschinenMenschen“, Neuer Berliner Kunstverein in der Staatlichen Kunsthalle, Berlin Einzelausstellungen: Louisiana Museum of Modern Art, Humlebaek Text Tones, Galerie Hans Mayer, Düsseldorf Lexichaos, Hamburger Kunsthalle „American Audio Art on WDR“, Whitney Museum of American Art, New York Scholar am Getty Center of the Arts and the Humanities, Santa Monica Gruppenausstellung: „Das Goldene Zeitalter“, Württembergischer Kunstverein Stuttgart Medienkunstpreis des ZKM, Karlsruhe, und des Siemens Kulturprogramms, München Gruppenausstellung: „Moving Image/Imatges en moviment. Electronic Art“, Fundació Joan Miró, Parc de Montjuïc, Barcelona; ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe Professur für Medienkunst an der Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe Gruppenausstellungen: „DEUTSCHSEIN? Eine Ausstellung gegen Fremdenhaß und Gewalt“, Kunsthalle Düsseldorf „Feuer, Erde, Wasser, Luft. Die vier Elemente. Video, Computer und Laser in der Kunst“, Mediale Hamburg. Das erste Festival für Medienkunst und Medienzukunft, Deichtorhallen, Hamburg

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2000 2000

„ARTEC 3. The 3rd International Biennale in Nagoya“, Nagoya, Japan „Multimediale 3. Medienkunstfestival des ZKM Karlsruhe, IWKA-Halle, Karlsruhe Gruppenausstellungen: „Inventionen ’94“, Akademie der Künste, Berliner Künstlerprogramm des DAAD, Technische Universität Berlin „Automata. The World Automation“, Mie, Japan „Donaueschinger Musiktage“, Pavillon im Fürstenpark, Donaueschingen Gruppenausstellung: „46. Biennale di Venezia: Identità e alterità“, Venedig Gruppenausstellung: „Sonambiente. Festival für Hören und Sehen“ Internationale Klangkunst im Rahmen der 300-Jahrfeier der Akademie der Künste Berlin, Akademie der Künste Berlin Gast der Villa Aurora, Pacific Palisades Einzelausstellung: „What’s Wrong with Art?“, Galerie Renate Kammer Einzelausstellung: „What’s Wrong with Culture?“, Neues Museum Weserburg, Bremen Gruppenausstellung: „Crossings. Kunst zum Hören und Sehen“, Kunsthalle, Wien Gastdozent am Historischen Institut der Universität Basel Gemeinsames Seminar mit Achatz von Müller zum Thema „Schablonierte Portraits der Macht“ Beteiligung am neu konzipierten Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Berliner Humboldt-Universität am 5. September in Hamburg gestorben

AUSSTELLUNGEN 2000

2004-05

NACH SEINEM

T OD

Gruppenausstellungen: Sonic Boom. The Art of Sound, Hayward, Gallery, London „Theatrum naturae et artis – Theater der Natur und Kunst. Wunderkammern des Wissens“, Martin-Gropius-Bau, Berlin Gruppenausstellung: „Bewegliche Teile. Formen des Kinetischen“, Kunsthaus Graz; Museum Tinguely, Basel

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2002-03

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Retrospektive: „Tune the World. Stephan von Huene. Die Retrospektive“, Haus der Kunst, München; Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg; Hamburger Kunsthalle Einzelausstellungen: „Stephan von Huene – Grenzgänger, Grenzverschieber“, ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe „Erweiterter Schwitters – Skulptur, Zeichnungen, Collagen“, Sprengel Museum Hannover Gruppenausstellung: „Ein Zauberflöten-Automat, Ausstellung zum 350. Geburtstag von W. A. Mozart“, Kunsthistorisches Museum Wien Einzelausstellung: Sirenen Low, Altonauer Museum, Hamburg Gruppenausstellung: „Babylon, Mythos und Wahrheit“, Pergamonmuseum, Berlin Einzelausstellung: „The Song of the Line – Stephan von Huene. Zeichnungen aus fünf Jahrzehnten“, Hamburger Kunsthalle; Stiftung Brandenburger Tor im Max Liebermann Haus, Berlin; ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe Gruppenausstellungen: „Bewegte Skulpturen“, Lehmbruck Museum Duisburg „Art or Sound“, Fondazione Prada, Venedig Einzelausstellung: „Kaleidophonic Dog“, iO interdisziplinäre Objekte, Frankfurt am Main

Interview mit Petra Kipphoff von Huene über Sirenen Low

Karlsruhe, 14.2.2013 PKvH: Petra Kipphoff von Huene JMM: Jesús Muñoz Morcillo JMM: Sirenen Low ist eine Arbeit mit einem sehr direkten Bezug auf den XII. Gesang der Odysee und auf die Überlieferungsgeschichte des Sirenen-Mythos. Altphilologen bewundern dieses Kunstwerk auf Grund des fundierten Einblicks in die altgriechische Mythologie, Sprache und Metrik. Welchen Zugang hatte Stephan von Huene zur klassischen Antike? PKvH: In Los Angeles besuchte Stephan von Huene als Schüler und Student natürlich die vorhandenen Museen, darunter das Pasadena Art Museum, aber nirgendwo dort gab es eine Antiken- oder auch nur eine Abguss-Sammlung. Als Bewunderer von William Blake – besonders wichtig für ihn war das Gedicht „Tiger, Tiger, burning bright“ – und regelmäßiger Besucher der Huntington Library müsste er aber auf diesem Weg in Verbindung mit der Kultur der Antike gekommen sein. Auch sein damaliger Professor für Kunstgeschichte an der UCLA Dr. Altman, wohl ein Emigrant aus Europa, hat ihm möglicherweise diesbezügliche Kenntnisse vermitteln können. Die für ihn vorzugsweise wichtigen und interessanten Künstler, in diesem Fall Zeichner, waren Dürer, Daumier und Doré, die in ihren Werken gelegentlich Episoden aus der Antike aufarbeiten. Im Falle von Doré ist allerdings wohl eher das Element der Karikatur auffallend, das für von Huene später bei seiner Beschäftigung mit Rodolphe Toepffer animierend nachklingt. JMM: Inwiefern haben das Chouinard Institute und die Vorgängerinstitution des Norton Simon Museum Stephan von Huene beeinflussen können? PKvH: Stephan hat immer wieder erwähnt, dass es eine Schülerin von Degas war, die das Chouinard Institute gegründet hatte. Damals gab es noch nicht das

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Norton Simon Museum (mit z.B. der „Blue Four“-Sammlug von Galka Scheyer, also Klee, Kandinsky, Jawlensky und Feininger), sondern als dessen Vorgänger das Pasadena Art Museum. Dort hatte man auch lokale Kunst und asiatische Arbeiten gesammelt, die für Stephan wichtig waren und deren Eliminierung er sehr bedauerte. JMM: Welche Kenntnis hatte Stephan von Huene vom Surrealismus? PKvH: Er hatte die erste große Surrealismus-Ausstellung gesehen, die an der Westküste und wohl in den USA überhaupt stattgefunden hatte „Dada Surrealism and their Heritage“, 1968 in Los Angeles. Das war ein prägendes Erlebnis und Ereignis. Dabei haben ihn natürlich besonders Marcel Duchamp und Max Ernst interessiert. JMM: Die Orgelpfeifen von Sirenen Low stammen aus der Hamburger JacobiKirche. Wie kam es zu diesem Transfer von der Kirche in die KünstlerWerkstatt? PKvH: Die hölzernen Orgelpfeifen wurden nach der Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg, also nach der britischen „Operation Gomorrah“ im Sommer 1943, im Zuge einer ersten Restaurierung der Kirche eingesetzt. Als die Kirche Jahrzehnte später wirklich umfassend restauriert und renoviert werden sollte, wozu auch die Erneuerung der Orgel gehörte, übernahm Stephan von Huene nach einem Gespräch mit dem Organisten die vorhandenen, hölzernen Orgelpfeifen. Auf einem Foto im Katalog der Retrospektiv-Ausstellung (2003) sieht man die noch nicht weiter verwendeten Orgelpfeifen in unserem Treppenhaus stehen – dort konnten sie sich über drei Stockwerke hinweg in die Höhe ausdehnen. Insgesamt waren es 10 bis 12 Stück von unterschiedlicher Länge. Die Orgel der Jacobikirche, eine der fünf Hamburger Hauptkirchen, war übrigens eine Arbeit des berühmten Orgelbauers Arp Schnittger, der berühmt und in Norddeutschland sehr begehrt war. Für Stephan, der ja sonst sehr neugierig und interessiert war, war das aber nicht so wichtig, weil es ihm generell auf die Möglichkeiten und Funktion der Orgel ankam, nicht auf Spezialisten oder Virtuosen. Da die ganze Kirche im Krieg ausgebrannt war, war in der Nachkriegszeit zuerst die Orgel zunächst nur so gut wie möglich ersetzt worden, aber in den frühen 1980 Jahren wollte man das Provisorium durch eine komplette Neuinstallation ersetzen. JMM: Gibt es Notizen im Nachlass über die Programmierung der Klangskulptur Sirenen Low? Wie wurden die Orgelpfeifen gestimmt?

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PKvH: Ja. Sein Assistent, Frank Michel, hatte eine Dokumentation angefertigt. Die Dokumentation ist sehr präzise, wurde aber nie zu einem Ende gebracht. Ich weiß nicht, ob das so überhaupt verwertbar ist. JMM: Gibt es akustische Vorgaben für die Aufstellung von Sirenen Low im Raum? PKvH: Eher nicht. Die Richtung der Aufstellung der Orgelpfeifen im Raum verfolgt keinen zusätzlichen akustischen Effekt. Die Lautstärke ist ja ohnehin recht intensiv und in ihrer für den unschuldigen Besucher wohl leicht erschreckenden Wirkung vielleicht auch zunächst eine Erinnerung an die uns eher bekannten Sirenen, die warnende Alarmsignale von Dächern von Schulen, Fabrikgebäuden oder ähnlichen Institutionen aussenden. Wobei es auch interessant ist, dass die Gesänge der homerischen Sirenen als gefährliche Verlockung, die des 20. Jahrhunderts hingegen als Warnung vor einer möglichen Gefahr funktionieren sollen. JMM: Kann es sein, dass die Figur von Orpheus in der Videoprojektion (absichtlich) vorkommt? Ließ er sich hier in irgendeiner Weise von Jean Cocteaus Film Orphée, den Stephan von Huene in Verbindung mit den Tisch Tänzer erwähnt, inspirieren? PkvH: Orpheus kommt in der Videoprojektion nicht vor. Die Frage ist im Zusammenhang von Stephans Erwähnung des Films Orphée, bei dem ihn das Thema der geheimnisvollen Nachrichtenvermittlung interessierte, aber sehr berechtigt. Was die Sirenen Low betrifft, so denke ich allerdings, dass die Verwandschaft zur Neuen Lore Ley sehr deutlich ist. Der Klang als Element der Verführung ist mindestens so wichtig wie die physische Attraktivität oder der Reiz der schönen Wörter. Erst alles zusammen addiert sich zur Verführung. JMM: In den ersten Sekunden von Peter Fuhrmanns Film Im Zwischenreich der Sinne. Bild, Objekt, Klang und Bewegung im Werk von Stephan von Huene sagt Stephan von Huene: „I began when I was a child or even before that.“ Außerdem ist unter den Unterlagen zur Vorbereitung der Tisch Tänzer ein Text von William S. Condon und Louis W. Sander vorhanden, in dem es um die Bewegungen von Embryos geht: „Synchron Demonstrated between Movements of the Neonate and Adult Speech.“ Meint er also mit dem Satz „I began when I was a child or even befor that“, dass seine Kommunikationserfahrungen mit Klang und Bewegung bis in die pränatale Zeit reichen? Wie ist das genau zu verstehen?

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PKvH: Ich glaube nicht, dass er damit meint, dass er als Embryo irgendwie für seine zukünftige Profession präpariert war. Ich glaube, das ist ernsthaft gemeint, weil es die Intensität beschreibt, aber auch ein bisschen selbstironisch, denn er lächelt dabei und er sagt auch zum Schluss „I have ideas for thousand years“ – d.h. innerhalb dieser Zeitspanne vor der Geburt und noch weitere tausend Jahre. So viele Ideen hat er, so viel möchte er in diesem Thema noch arbeiten. Was den Aufsatz von Condon und Sander betrifft: Stephan hat immer ungeheuer viel Material gesammelt und studiert. Er hat z.B. nicht einfach eine individuelle Illustration von der Lore Lay oder von den den Sirenen verwendet. Er hat immer sehr gründlich recherchiert und dabei auch viel Material gesammelt, das er im Endeffekt manchmal nicht benutzt hat. Ihn hat ja überhaupt die Ausstattung des Menschen auch interessiert. Insofern ist es auch möglich, dass er das als pränatale Prägung empfunden hat. Das kann man durchaus bedenken. Ich glaube aber doch eher, dass er das ironisch, humorvoll und heiter gemeint hat. Also in aller Heiterkeit wollte er sagen: Das ist für mich ungeheuer wichtig, und deshalb, bevor ich da war, war es wichtig für mich. Das kann man dann auch ein bisschen absurd formulieren. JMM: Einige Autoren wie zum Beispiel Adorno werden von Stephan von Huene in seinen Mindmaps oder Kunstbeschreibungen erwähnt, sind aber nicht in der Bibliothek des Künstlers zu finden, so dass es schwer ist, sich ein Bild von der Wichtigkeit dieser Autoren für sein Schaffen zu machen. Wie wichtig war bspw. Adorno als Inspiration für seine Arbeit? PKvH: Ich glaube, dass Adorno etwas ist, dass natürlich in Gesprächen auch mit Freunden vorkam und auch in Zusammenhang von Adornos’ Hintergrund als Informant für Thomas Mann, für seinen Doktor Faustus und wegen der 68erBewegung. Der Name Adorno ist zunächst in Europa in Berühmtheit gekommen und dann in Gesprächen wichtig gewesen, aber es ist kein Zufall, dass Adorno nicht in der Bibliothek vorkommt. Insofern, glaube ich, kann man den Namen eher als Fußnote oder als wirklich nicht sehr entscheidend für Stephan ansehen. Du hast gesehen, was für Autoren für ihn wichtig sind: Gregory Bateson, Franz Boas oder Hornbostel und eine große Ausnahme aus der deutschen Literatur wie das Marionettentheater von Heinrich von Kleist und Meister Eckart. Aber mit Adorno kann man in die zweite oder dritte Reihe gehen. JMM: Stephan von Huene erwähnt oft in Interviews einige seiner Lehrer, darunter den Professor für Vorgeschichtliche und Primitive Kunst Ralph C. Altman und einen Professor, den Katharina Schmidt im Katalog zur Ausstellung „Ste-

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phan von Huene. Klangskulpturen“ (Baden-Baden 1983) Professor „Weid“ nennt, ohne sich in der Schreibweise festlegen zu können. Wer könnte damit gemeint sein? PKvH: Ralph C. Altman ist in Zusammenhang mit Stephans Universitätsjahren bekannt, er könnte auch in Verbindung mit Stephans Kenntnissen über die Antike von Bedeutung sein. Wer Professor „Weid“ eigentlich ist, diese Information ist noch nicht vorhanden. Das ist aber eine authentische Quelle: Katharina Schmidt hat tatsächlich während der Vorbereitungen vor der Ausstellung mit Stephan darüber geredet. Dass sie das nicht verifizieren konnte, hängt sicher auch damit zusammen, dass die ganzen Kisten aus Amerika ankamen und viel zu tun war. Das war nicht möglich von der Praxis des Wiederaufbaus her, denn sie musste vieles gleichzeitig machen. JMM: Wie kam das stockende Bildmaterial von Sirenen Low zustande? PKvH: Das Video zu Sirenen Low entstand an einem schönen Sommertag in Hamburg an der Elbe. Ich hatte sogar vorher noch telefoniert, um zu fragen, wann kommen große Schiffe an. Da hatte ein Mann mir gesagt: Gehen sie mal hin und gucken Sie. Das haben wir dann auch gemacht, und Stephan hatte die unterschiedlichen maritimen Fahrzeuge aufgenommen: ein Segelboot, sehr lange Frachter ... Es kommt auch ein größeres Schiff von einer dänischen Linie vor. Das ist auch alles zu lesen und zu sehen. Dieses Material hat sich Stephan angeschaut und er fand es auch mit dieser vom Filmischen her nicht perfekten Art in Ordnung, weil es sonst so in *eine leere Klammer* für Ausflugsdampfer geführt hätte. Es sollte etwas nicht perfekt sein, weil es dann eine andere Kategorie gewesen wäre, nämlich eine Kategorie der fabelhaften, ohne jede Irritation vor sich hinfahrenden Luxusdampfer. Das stockende Bildmaterial war keine Absicht, aber es war dann durchaus akzeptiert, um diesen Unterschied hervorzuheben. JMM: Es gibt starke Hinweise, dass Stephan von Huene Abbildungen der GettySirenen für das Zeichnungsseminar „Volume in Drapery – Shapes“ verwendete, das er 1988 in der Salzburger Sommerakademie hielt. Der Übergang von der Drapperie zum gefederten Unterkörper der Sirenen kommt auch laut Korrespondenz mit dem Getty Museum in Verbindung mit Sirenen Low vor. Warum war das für ihn relevant? PKvH: Es gibt dazu Aufzeichnungen aus den Seminaren, auch in Karlsruhe. Bei den Zeichnungsseminaren hat ein Student fotografiert, was Stephan an der Tafel mit Kreide gemalt hat. Dazu gibt es eine Menge an Information. Meine Wahrnehmung oder Erinnerung an dieses Material ist nicht so sehr mit der Unter-

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scheidung von weiblichen, vielleicht von männlichen Figuren oder so. Ich glaube, dass es Stephan immer darum ging, wie man Volumen darstellt. Das hat er auch schon in ganz frühem Zeichenunterricht in Los Angeles früher gemacht. Und ich weiß noch, als er hier in Hamburg an *der Fachhochschule für Gestaltung* unterrichtete, ging er eines Morgens aus dem Haus mit zwei Schachteln gefüllt mit Zucker oder Salz. Ich fragte ihn: Warum nimmst Du zwei *davon* mit? Und dann sagte er: „Der eine wird gefüllt hingestellt, den anderen leere ich aus, und die Studenten sollen den Unterschied in Volumen zeigen.“ Ich glaube, es ging ihm darum: Wie kann man Formen zeichnen und wie kann man flache Formen von Volumen unterscheiden. Er wollte den Studenten beibringen, wie man das mit der Zeichnung machen kann. JMM: Welche Bedeutung hatte der Vogelgesang für Stephan von Huene? PKvH: Vögel haben ihn interessiert in Zusammenhang mit Klang. Er ist im Sommer um 6:00 Uhr mit einem Aufnahmegerät aus dem Haus gegangen, um Vögel aufzunehmen. Er hatte eine besondere innige Freundschaft zu der Amsel, er hat mit ihr geredet und die Amsel hat zurückgepiepst. Alle Amseln hat er begrüßt mit „meine Amseln“. Alle Amseln waren sozusagen seine Amseln. Irgendwann hat er auch erfahren, dass Vogelzunge in China eine Delikatesse ist. JMM: Manchmal ist in Verbindung mit Stephan von Huene von „Transposition“ die Rede – bei Erweiterter Schwitters wird sogar über die „Transplantation der menschlichen Seele“ gesprochen. Sind das eigens entwickelte Begriffe oder folgt er damit einem bestimmten Autor? PKvH: Mit „Transposition“ ist eine Bewegung von einem stillen Zustand zu einem bewegten Zustand gemeint. Dabei hatte er gar nicht so sehr an philosophische Hintergründe gedacht, sondern gemeint war eher der Übergang vom Bild zur Skulptur, zur bewegten Skulptur: eine Übertragung von unbewegten Umständen. Transposition funktioniert hier als Überbegriff. Die „Transplantation“ ist wieder ironisch gemeint, z.B. im Text „Können Computer in den Himmel kommen?“ kommt der Begriff in diesem Sinne vor. Eine Niere wird „transplantiert“: Aus diesem medizinischen Zusammenhang hat er mit einem Hauch von Ironie den Begriff übernommen. JMM: Inwiefern waren die Eurhythmien von Rudolph Steiner für Stephan von Huenes Arbeit Erweiterter Schwitters relevant? PKvH: Das ist durchaus so, dass Rudolf Steiner ihm bekannt war, und für die Kunstrichtung von Bewegung mit einer gewissen Absicht einen Hintergrund geliefert hat, aber im Endeffekt glaube ich nicht, dass Steiner das Programm für

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Erweiterter Schwitters bestimmt hat, denn das hat Kurt Schwitters gegeben, wodurch eine ganz andere Ebene erreicht wurde. Rudolph Steiner war ein sehr ernsthafter Mensch, der die Eurhythmien in Verbindung mit seinem pädagogischen Programm gebracht hat. Schwitters war genau das Gegenteil. Bei ihm spielen der Zufall und die Verrückheit der Welt eine Rolle. Ich glaube, man kann sagen, dass diese Arbeit zwei Ebenen hat: 1. grundsätzlich Steiners Eurhythmien, 2. die eher empirische Grundlage der frühen Semaphoren, die Nachrichten und Informationen ausgeteilt haben, sowie, vor diesem Hintergrund, die Ursonate von Schwitters mit diesen für den normalen Verstand sinnlosen Geräuschen und die hochkomplexe, technische Umsetzung mit kinetischer Programmierung und einem der ersten Synthesizer.

Interview mit Jörg Neugebauer, Ingenieur und technischer Berater von Stephan von Huene Thema: Technische Veränderung der Stiefel aus den Orgelpfeifen von Sirenen Low (1999)

Fragen geschickt am 5.2.2014 Antworten erhalten am 8.2.2014 JN: Jörg Neugebauer JMM: Jesús Muñoz Morcillo JN: Die Entstehung des Werkes Sirenen Low ist nun mindestens schon 15 Jahre her, und meine Erinnerung nicht mehr so detailliert, zumal ich hier nur schwerpunktmäßig beratend dabei war und den Aufbau nur punktuell direkt unterstützten konnte. Nun zu den Fragen: JMM: Ist diese Beschreibung korrekt?546 JN: Vom Prinzip her ist alles korrekt dargestellt. JMM: Aus welchem Material sind die Walzen, die die Änderung der Tonintervalle bewirken? JN: Hier ist meine Erinnerung etwas dünn, meine ich mich jedoch zu erinnern, dass ein Kugellager zum Einsatz gekommen ist, damit es keinerlei reibenden Kontakt zwischen schwingender Zunge und stimmendem Element geben würde. Reibung kann zusätzliche, ungewollte Geräusche erzeugen.

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Die Veränderung der Orgelpfeifen von Sirenen Low (1999) wird im Kapitel „Die Schöne Stimme“ beschrieben.

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JMM: Haben die Lichter in den Stiefeln eine Bedeutung über die reine elektronische Funktionalität hinaus? Bei meinem letzten Besuch im Albertinum hatte ich den Eindruck, dass sie die ganze Zeit an waren. Ist das korrekt? JN: Das ist ein künstlerischer Aspekt, zu dem sich Stephan mir gegenüber nicht geäußert hat. Ich möchte aber vermuten: Die Lichter sind permanent an, damit ein ständiger Blick auf die Stimmeinheit ermöglicht wird. Ob die Lichter dauerhaft oder intermittierend betrieben werden, könnte allenfalls aus den Schaltunterlagen bzw. Programmierplänen der LOGO-Blocks ersichtlich sein. JMM: Die Sensoren in den Stiefeln senden angeblich Information an die Steuerungseinheiten (LOGO #1-4) zurück: Welche Auswirkung hat diese Sensorinformation auf die Steuerung? Wird hierdurch die Komposition variiert oder spielt Sirenen Low immer exakt das Gleiche? In der Dokumentation aus dem Nachlass steht, dass die Tonintervalle nicht immer die High- oder Low-Position erreichen. Ist es absichtlich so? JN: Die Sensoren in den Stiefeln sollen als Sicherheitsschaltung dienen, damit beim eigentlichen Vorgang des Stimmens nicht über bestimmte Bereiche hinaus verstimmt wird. Letztlich wird damit also der Bereich der Tonänderung begrenzt. Des Weiteren muss sichergestellt sein, dass die Stellmotoren für die Verstimmung nicht gegen mechanische Anschläge laufen (das gäbe mechanische Belastungen und zusätzliche Geräusche). Die Sensoren begrenzen also einerseits die Verstimmung, sorgen aber auch bei Erreichen einer solchen Endlage für eine (sofortige?) Richtungsumkehr der Verstimmungsmotoren. Die genauere Funktionsweise müsste ebenfalls den Programmierinformationen der LOGO-Blocks entnommen werden. Mit ziemlicher Sicherheit werden die Sirenen nicht immer das Gleiche spielen. Es war Stephan stets ein Anliegen, dass seine Klangskulpturen NICHT einem starren Schema folgend spielen, sondern sich dem Betrachter/Zuhörer in einer vermeintlich stetigen Variation präsentieren. Eine Möglichkeit der Variation könnte im vorliegenden Fall darin bestehen, dass im Moment des Einschaltens die Motoren der Verstimmung nicht auf einen definierten Startpunkt gefahren werden, sondern dort weitermachen, wo sie das letzte Mal benutzt wurden. Der Bereich der Stimmvariation ist ja durch die Sensoren in den Endlagen begrenzt. JMM: Gibt es einen besonderen Grund, warum Stephan von Huene TelefonWahlsignale als Eingangscode verwendete? JN: Ja, die gesamte Steuerung während des Spielvorgangs erfolgt über AudioMaterial. Auf dem einen Stereokanal sind hauptsächlich die Signale, welche über Lautsprecher ausgegeben werden. Auf dem anderen Kanal sind die Steue-

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rungsinformationen. Die Steuerung erfolgt komplett über LOGO-Blocks. Diese Blöcke haben lediglich digitale Eingänge. Es musste also ein Weg gefunden werden, damit Stephan die Skulptur frei/beliebig programmieren konnte und auch sofort ausprobieren konnte. Die einfachste Möglichkeit akustische Steuersignale (von der einen Tonspur) in Schaltsignale zu wandeln, liegt in der Verwendung von DTMF-Signalen (die typischen Telefonwähltöne). Diese Signale können einfach generiert werden (z.B. mit jeder Fernbedienung eines Anrufbeantworters) und ebenso gibt es jede Menge fertiger Baugruppen, die solche DTMF-Töne in Schaltsignale zurückwandeln. So konnte Stephan die komplette „Programmierung“ mittels des ihm sehr vertrauten Audio-Editor/SequenzerProgramms CUBASE vornehmen und beliebig anpassen. Zum Schluss wurde alles auf eine Audio-CD gebrannt. JMM: Hat er sich je dazu geäußert, warum noch einige Wahlsignale als reiner Ton am Ende der Projektion zu Sirenen Low zu hören sind? JN: Ob Absicht oder Versehen, das entzieht sich meiner Kenntnis. JMM: Werden diese Wahlsignale am Ende der Vorführung über den Lautsprecher ausgegeben? Wenn ja, dann wurden diese auf der linken Audiospur (wo sonst nur griechisch zu hören ist) gespeichert, denn die rechte Audiospur war für die Steuerung der Ventile, Windladen und Motoren bestimmt, oder? JN: Der Lautsprecher wird meines Wissens nicht gezielt ein- und ausgeschaltet. Somit werden alle Informationen der linken Audiospur auch ausgegeben. Wie schon ausgeführt, die gesamte Steuerung der Skulptur erfolgt über die LOGOBlocks, Spielaktionen, die synchron zum abgespielten Audio-Material ablaufen sollen, sind auf der rechten Audiospur per DMTF-Codes hinterlegt. JMM: Verwendete Stephan von Huene das sogenannte Mehrfrequenzwahlverfahren (MFV) für die Erzeugung des Eingangscodes? Die Frequenzen von MFVSignalen erzeugen angeblich Disharmonien: War das für Stephan von Huene während der Arbeit an Sirenen Low ein explizites Thema? JN: Ja, es kommt das MFV (= DTMF) zum Einsatz, allerdings verstehe ich den Einwand der Dishamomie nicht. Die DTMF-Töne sind vornehmlich nur auf dem rechten (Steuerungs-)Kanal anzutreffen, somit ist eine Interferenz (und mögliche Bildung von Disharmonie mit dem übrigen Audiomaterial) ausgeschlossen. Sollte die Fragestellung dahingehend zielen, dass es durch den Einsatz des DTMFVerfahrens zu fehlerhaften Steuersequenzen kommen könne, so sei angemerkt, dass die dem DTMF-Verfahren zugrunde liegenden Frequenzpaare so gewählt sind, das keinerlei Ober- oder Nebenwellen/Mischprodukte etc. auftreten, die in

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den Detektionsbereich eines anderen Codewertes fallen. So war es für Stephan mit Sicherheit kein Aspekt, ob die DTMF-Töne Disharmonien erzeugen (könnten). JMM: Wenn Stephan von Huene zur Telefontastatur greift, um Sirenen Low zu komponieren, heißt es, dass die Sirenen Odysseus buchstäblich anrufen? JN: Könnte man so hineininterpretieren, ist aber aus dem oben geschilderten Verfahren der Programmierung/Steuerung heraus entstanden, findige Werbestrategen der heutigen Zeit würden es aber mit Sicherheit so verkaufen wollen...

Die Bibliothek des Künstlers

Die Bibliothek von Stephan von Huene wurde von Petra Kipphoff von Huene und Marvin Altner in The Song of the Line (2010, S. 136-143) zum ersten Mal dokumentiert. Durch die Arbeit des Verfassers (J.M.M.) im Hamburger Nachlass von Stephan von Huene1 wurden weitere Titel sowie die Kategorie „Neurolinguistisches Programmieren“ ergänzt. In der aktuellen Zusammenstellung sind folgende Themen repräsentiert: „Klang, Musik und Akustik“, „Kunst, Kulturgeschichte und Kunstwissenschaft“, „Philosophie und Religion“, „Anthropologie und Ethnographie“, „Psychologie und Kommunikationswissenschaft“, „Neurolinguistisches Programmieren“, „Linguistik und Phonetik“, „Belletristik“, „Naturwissenschaften“ und „Elektronik, Mechatronik und Computertechnik“. ZEICHEN [*] [+ 1991] [o.J.] [o.V.] [= 1883]

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LEGENDE2 vom Künstler annotiert. als Fotokopie vorhanden und Entstehungsdatum der Kopie, falls bekannt. ohne Jahresangabe (nicht lesbar oder beschädigt). ohne Verlagsangabe (nicht lesbar oder beschädigt). Datum der Erstausgabe.

Seit März 2016 befinden sich der Nachlass und die Bibliothek des Künstlers im ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe.

2

Die hier aufgelisteten Zeichen werden z.T. auch für die Zitation der Literatur aus dem Literaturverzeichnis verwendet.

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3

Die deutsche Originalausgabe der Tonempfindungen war ein späteres Geschenk von Petra Kipphoff gewesen, nachdem der Künstler nach Deutschland übersiedelte. Stephan von Huene arbeitete seit seiner Studienzeit mit der englischen Übersetzung aus dem Jahr 1954.

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K UNST , K ULTURGESCHICHTE

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I M T EXT

ZITIERTE

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Danksagung

Die vorliegende Monographie wurde im April 2015 mit dem Titel „Die unendliche Metapher. Stephan von Huenes Kunsttechniken“ an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG) zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie vorgelegt. Das dazugehörige Rigorosum fand am 18. Juli 2015 im Rahmen eines Doktorandenkolloquiums der HfG in der Berliner Denkerei von Bazon Brock statt. Diese Arbeit wäre in der vorliegenden Form ohne Unterstützung nicht möglich gewesen. Zuerst möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Beat Wyss danken, der auch meine sehr interdisziplinär angelegte Magisterarbeit zu einem Bildsonett von Aníbal Núñez 2008 betreut hat. Ich bin sehr dankbar für seine anregenden Gespräche und Kommentare, die mich zu weiteren Erkenntnissen geführt haben. Er konnte immer sehr präzise beschreiben, was ich gemacht habe, wofür ich wesentlich mehr Wörter benötigt habe. Dies war nicht nur als Orientierung, sondern auch als Inspiration sehr hilfreich. Des Weiteren danke ich meinem Zweitprüfer Prof. Dr. Wolfgang Ullrich für seine große Hilfsbereitschaft und wertvolle Kritik, die mir insbesondere dabei geholfen hat, etwas mehr Abstand zum Künstler und dadurch mehr Wissenschaftlichkeit zu gewinnen. Danken möchte ich ganz besonders Dr. Petra Kipphoff von Huene, die zur Zeit der Erstellung meiner Dissertation den Nachlass des Künstlers in Hamburg verwaltet hat. Dank ihr hatte ich Zugang zu einer großartigen Informationsquelle, darunter auch zu der Bibliothek des Künstlers, die sie mit Hilfe von Herrn Dr. Marvin Altner erfasst hat. Ihm gilt hier auch mein herzlicher Dank. Petra Kipphoffs Unterstützung war insbesondere entscheidend, um biographische Daten und Fakten zu überprüfen. Für die unkomplizierte und stets unbefangene Zusammenarbeit danke ich ihr sehr. Ebenso bedanke ich mich bei Herrn Jörg Neugebauer, der mich als Ingeniuer mit sehr wertvollen Informationen über die technischen Aspekte der Klangskulptur Sirenen Low versorgt hat. Für wertvolle Informationen in Verbindung mit der

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Restaurierung der Klangskulptur Kaleidophonic Dog möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Werner Lorke bedanken. Für anregende Gespräche in Dresden, Berlin und Frankfurt bedanke ich mich insbesondere bei Alexis Ruccius. Mein Dank gilt auch jene Freundinnen und Kolleginnen, die mich bei der Korrektur des Manuskripts unterstützt haben: Silke Flörchinger, Petra Kipphoff und Rubina Zern. Für die transcript-Publikation danke ich herzlich der Lektorin Tanja Jentsch. Für die reibungslose Abwicklung des Promotionsverfahrens und für den freundlichen und professionellen Umgang mit meinem Anliegen möchte ich dem Leiter des Prüfungsamtes an der HfG, Herrn Waldemar Präg, danken. Auch meinem Arbeitgeber, dem ZAK | Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale, insbesondere der Direktorin, Frau Prof. Dr. Caroline Y. Robertson-von Trotha, und dem Geschäftsführer, Jens Görisch, bin ich für interessante Gespräche und für ihre Unterstützung für die Videodokumentation von Sirenen Low zu Dank verpflichtet. Meine Eltern Pascualina Morcillo León und Manuel Muñoz Cavas (in memoriam) verdienen auch hier eine dankenswerte Nennung, nicht nur weil sie an mich geglaubt haben, sondern weil ihr Elan, Fleiß und Demut mich stets motiviert haben. Auch meinen Geschwistern Adela, José Manuel und María Muñoz Morcillo sei hier in ähnlicher Weise herzlich gedankt. Diese Danksagung wäre unvollständig ohne eine besondere Nennung: Mein letzter aber größter Dank gilt meiner Frau, der kultiviertesten Ingenieurin, die ich kenne, Dr. Antonia Pérez Arias, die mich durch alle Entstehungs- und Prüfungsprozesse mit großem Interesse, Motivation und konstruktiver Kritik begleitet hat. Viele Formeln und Schaltkreise aus den Arbeitsheften von Stephan von Huene habe ich dank ihr verstehen können. Ihr schulde ich mehr als eine Widmung.

Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Mai 2018, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

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Astrit Schmidt-Burkhardt Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas November 2016, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3631-4

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September 2016, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3280-4

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Susi K. Frank, Sabine Hänsgen (Hg.) Bildformeln Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa Dezember 2016, ca. 350 Seiten, kart., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2717-6

Johanna Gundula Eder Homo Creans Kreativität und Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst Oktober 2016, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3634-5

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Sabine Flach Die WissensKünste der Avantgarden Kunst, Wahrnehmungswissenschaft und Medien 1915-1930 Juni 2016, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3564-5

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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