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German Pages 349 [352] Year 2001
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Band 159
Erich Meuthen
Eins und doppelt oder Vom Anderssein des Selbst Struktur und Tradition des deutschen Künstlerromans
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Meuthen, Erich: Eins und doppelt oder vom Anderssein des Selbst : Struktur und Tradition des deutschen Künstlerromans / Erich Meuthen. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Studien zur deutschen Literatur; Bd. 159) ISBN 3-484-18159-1
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Einleitung Ästhetische Erziehung und die Form des Romans I.
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Die Kunst als Verfuhrung - oder: Incipit Zarathustra. Wilhelm Heinse: >Ardinghello oder die glückseligen Inseln< . . .
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Exkurs Rhetorische Klugheitslehre: Der Mensch als Schauspieler II.
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Der Wahnsinn der Schrift. Johann Wolfgang von Goethe: >Die Leiden des jungen Werther< und Karl Philipp Moritz: >Anton Reiser
Wilhelm Meisters Theatralische Sendung< und >Lehrjahre
Franz Sternbalds Wanderungen
Lebensansichten des Katers Murr
Ahnung und Gegenwart
Maler Nolten
Der grüne Heinrich< IX.
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Anmut ohne Würde. Thomas Manns Schiller-Widerruf: >Der Tod in Venedig
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Die Verwirrungen des Zöglings Törless
Der Tod des Vergil
Moderne< I. Thomas Mann: >Doktor Faustus
Moderne< II. Thomas Bernhard: >Der Untergehen
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XV. Uber die Schwierigkeit, zum Schluß zu kommen. Christoph Ransmayr: >Die letzte Welt
novel of adolescence< die konkreten gesellschaftlichen und psychologischen Widerstände dokumentiert, gegen die der jugendliche Held kämpfen muß, liegen im deutschen Bildungsroman die Hindernisse im Wesen der menschlichen Natur selbst und sind deshalb nicht realistisch zu beschreiben. Anstelle einer aufregenden Handlung oder der weitausladenden Darstellung sozialer Verhältnisse finden sich daher im deutschen Bildungsroman eher philosophischer Tiefsinn und introspektive Analyse vom Innenleben des Hauptcharakters.2
Vergleicht man die deutsche Romanliteratur mit der französischen, russischen oder englischen, fallt auf, daß viele ihrer prominentesten Werke Künstler zum Helden haben, Menschen, die sich fur Künstler halten oder es werden wollen. Sie suchen ihr Glück nicht in der Welt selbst, sondern in Büchern, im Theater, Kino oder Konzertsaal - dort, wo sie sich dargestellt findet. Die Kunst kommt ihnen bei dem Versuch, Wirklichkeit zu gewinnen, gleichsam >dazwischenrealen< Welt, zum Opfer. Nicht nur finden sich in diesen Romanen dieselben Motive und Themen wieder und wieder variiert, ins Auge stechen auch strukturelle Parallelen. In der Literatur zu keinem der hier diskutierten Werke fehlt der Hinweis auf ihren fragmentarischen Charakter, auf eine die Lektüre erschwerende innere Gebrochenheit der Erzählung. Die Werke zerfallen in scheinbar inkompatible Teile, so daß man sich fragt, was sie bewegt und den endgültigen Kollaps
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Friedrich Schlegel: Ideen, in ders.: Kritische Schriften. Hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1970, S. 8 9 - 1 1 2 , hier S. 107. Martin Swales: The German Bildungsroman from Wieland to Hesse, Princeton 1978, S. 35· ι
verhindert. Diese Entwicklung hält nun schon über 2 0 0 Jahre an, und ein Ende ist nicht in Sicht. Seit dem Erscheinen von Heinses >Ardinghello< ( 1 7 8 7 ) und Tiecks >Franz Sternbalds Wanderungen< ( 1 7 9 8 ) ist der Begriff >Künstlerroman< gängig. 3 In der literaturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte ist er jedoch kaum mehr von Belang. Anfang der 20er Jahre entstand Herbert Marcuses Dissertation >Der deutsche KünstlerromanDer Künstler als Kunstwerke nicht versucht worden, das Genre näher zu bestimmen oder einen Überblick über seine Entwicklung zu gewinnen. Zwar wird der Begriff beiläufig noch verwendet, nicht jedoch in leitender, die Untersuchung ausrichtender Funktion. 7 Im Gegenteil ist das Bemühen erkennbar, ihn zu vermeiden oder seine Bedeutung herunterzuspielen. Das gilt auch für die hier diskutierten Werke. Viele ihrer Interpreten betonen, daß es sich nicht oder nur auf einer zu vernachlässigenden Sinnebene um Künstlerromane handelt. Selbstverständlich wird die besondere Bedeutung der
Künstlerthematik
nicht geleugnet, vor allem nicht in Arbeiten zum romantischen Roman. Diskutiert wird sie meist jedoch im Lichte des (von Karl Morgenstern eingeführten und durch Dilthey verbreiteten) Bildungs- bzw. Entwicklungsromanbegriffs. 8
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Im 19. Jahrhundert spricht man auch vom >KunstromanKünstlerroman< fest, nicht zur Verteidigung der Subjektposition (das Gegenteil ist, wie sich zeigen wird, der Fall), sondern aus gattungsdefinitorischen Gründen: um das Genre abzugrenzen von Werken, in denen das ästhetische Erlebnis zwar auch Thema ist, die aber keine Künstler zum Helden haben. Herbert Marcuse: Der deutsche Künstlerroman, in ders.: Schriften Bd. 1 , Frankfurt/M 1978. Bloch deutet die hier erörterten Romane im Sinne seines Utopiekonzepts als S t i m men eines Noch-NichtSternbald< als Künstlerroman vorstellt, ist vom Künstlerroman nicht die Rede, geschweige denn von einem entsprechenden Traditionszusammenhang. Vgl. Helmut Koopmann (Hg.): Handbuch des deutschen Romans, Düsseldorf 1983. Fritz Martini: Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Worts und der Theorie, in: DVjs 35, 1 9 6 1 , S. 4 4 - 6 3 , hier S. 57; Wilhelm Dilthey: Das Leben Schleiermachers. Bd. I, Berlin, Leipzig 2 1 9 2 2 ; ders.: Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig 1906; zum Begriff >Entwicklungsroman< vgl. Gerhard Melitta: Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes »Wilhelm MeisterVersuch über den Romanmoderne< Roman von früheren Erzählformen durch einen neuen psychologischen Blickwinkel. Er resultiert aus der Verlagerung des Darstellungsschwerpunkts von den äußeren Handlungsabläufen auf die sie motivierenden inneren Beweggründe. Die >innere GeschichteWerden< bzw. die >Selbstentfaltung< des menschlichen Individuums, gilt seither als das eigentliche Thema des Genres. Das Konzept verfestigt sich unter dem Eindruck von >Wilhelm Meisters Lehrjahrenfalsche Tendenz< in den Blick bringen, deren Helden sich am Ende von der Kunst abwenden oder ihr zum Opfer fallen, als Künstlerromane zu bezeichnen. Offensichtlich furchtet man, der >falschen Tendenz< durch die Verwendung dieses Begriffs Vorschub zu leisten: die Aufmerksamkeit auf Nebensächliches, ein stoffliches (motivisches) Element zu lenken, das nur dazu dient, den Darstellungsgegenstand, die sich entwickelnde subjektive Substanz bzw. das sich herausbildende menschliche >SelbstRepräsentation« nicht auf die Vorgegebenheit empirischer Objekte beziehen. Als Organisation von Symbolen indes besitzt sie eine repräsentierende Funktion. Wenn sich diese nun nicht auf die Präsenz eines Gegebenen beziehen läßt, dann kann sich diese nur auf die Rede selbst beziehen. Fiktionale Rede wäre demnach autoreflexiv und ließe sich als Repräsentation von sprachlicher Äußerung bezeichnen, denn mit dieser hat sie die Symbolverwendung, jedoch nicht den empirischen Objektbezug gemeinsam. Wenn sie die Repräsentation von sprachlicher Äußerung ist, so vermag sie das zur Darstellung zu bringen, was sprachliche Äußerung ist bzw. leistet. [ . . . ] Wenn man fiktionale Rede im Sinne der von Cassirer gebrauchten Terminologie als Repräsentation von Sprache versteht, dann repräsentiert die Symbolorganisation des fiktionalen Textes die Leistung der Symbolverwendung: sie besteht in der Produktion dessen, was durch das Gesagte vermeint ist. Der autoreflexive Charakter fiktionaler Rede stellt daher Auffassungsbedingungen fur die Vorstellung bereit, die dann einen imaginären Gegenstand zu erzeugen vermag. Imaginär ist dieser Gegenstand insofern, als er nicht gegeben ist, sondern in der Vorstellung des Empfängers durch die Symbolorganisation des Textes hervorgebracht werden kann.« (Wolfgang Iser: Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells der Literatur, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 2 I 9 7 9 , S. 2 7 7 - 3 2 4 , hier S. 29if.) Karlheinz Stierle leitet daraus für den Leser folgende Aufgabe ab: »Die Autoreflexivität des fiktionalen Textes bedeutet für den Rezipienten die Aufgabe, im Horizont seiner inhaltlichen Strukturen seine formalen zu thematisieren. Alles Inhaltliche m u ß in der Rezeption des fiktionalen Textes als pseudoreferentiell aufgefaßt und auf die es manifestierenden Konzepte zurückgeführt werden. « (Karlheinz Stierle: Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten?, in: Poetica 7, 1975, S. 3 4 2 - 3 8 7 , hier S. 375.) Diskutiert wird der Zusammenhang von Klaus W. Hempfer: Die potentielle Auto-
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Der Künstlerroman exponiert das Problem. Er ist kunstvolle Rede über Kunst: Rede, die sich aufspaltet, sich von sich selbst distanziert, um sich ein >Bild< machen zu können von der eigenen Beschaffenheit. Die paradoxen Strukturelemente reflektieren die inneren Widersprüche (den Wahnsinn) einer Redeform, in der Darstellung und Dargestelltes sich wechselseitig spiegeln und so das ironische Spannungsverhältnis erzeugen, das Lukács als >formales Konstituens< der Gattung beschreibt. Mit der Entscheidung fur das Künstlerromankonzept verbindet sich daher ein >verkehrter< Blickwinkel, der gewohnte Betrachtungsweisen auf den Kopf stellt: - Auf der Ebene des Dargestellten verlagert sich der Schwerpunkt des Interesses vom Subjekt des ästhetische Bildungsprozesses, dem sich entwickelnden >Ichres< (der als Darstellungszweck geltenden Gedanken und Bedeutungen) vor den >verba< (den als Darstellungsmittel betrachteten Worten) verliert.
Die Konsequenzen dieser Verkehrung, die sich auch als metonymischer Tausch, als Positionswechsel von Erzeuger und Erzeugnis beschreiben läßt, sind verheerend. Das der Abbildung zugrunde liegende Abgebildete erscheint als von dieser hervorgebracht, die erzählte Wirklichkeit als Projektion der Wirklichkeit der Erzählung selbst: des poetischen Prozesses, in dem sie entsteht. Die beschriebene Realität stellt sich auf der Beschreibungsebene als Teil der Fiktion heraus. Dieser Kunstgriff verstrickt den Leser in eine Reflexionsbewegung, die ihn an der eigenen Wirklichkeit zweifeln läßt. >Reale< und >fiktive< Bilder schieben sich beim Lesen ineinander und erweisen sich als Elemente ein und desselben Funktionszusammenhangs: Der dargestellte fiktionsbildende Prozeß präsentiert sich als Reflex des Bewußtseinsprozesses, den er initiiert. Der narrative Spiegel ist merkwürdig beschichtet. Er scheint durchsichtig und eröffnet so eine Perspektive, in der sich der Unterschied zwischen einem >Innen< und >Außen< bzw. >Diesseits< und >Jenseits< der Schrift aufhebt. Halten wir fest: - Das Künstlerromankonzept reflektiert die Entstehung des >modernen< Romans im Lichte der zeitgenössischen Diskussion um die Möglichkeit einer ästhetischen Begründung der Subjektposition: der sich im rationalistischen
reflexivität des narrativen Diskurses und Ariosts >Orlando furiosos in: Eberhard Lämmert (Hg.): Erzählforschung. Ein Symposion, Stuttgart 1982, S. 1 3 0 - 1 5 6 .
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Reflexionshorizont auflösenden Vorstellung eines einheitlichen (und selbstverantwortlich handelnden) Ich. -
Die Künstlerromantradition verdeutlicht die Gründe für das Scheitern dieses Konzepts. Sie exponiert das den ästhetischen Reflexionsansatz auszeichnende Bemühen um Aufwertung der unteren Seelenkräfte, um Anerkennung von Phantasie und Sinnlichkeit als vollwertige Erkenntnismittel, unter dem Aspekt eines fatalen Verschiebungsprozesses: einer in der Entwicklung des Genres immer deutlicher hervortretenden Tendenz zur Vereinnahmung des Subjekts des >Bildungsprozesses< durch das Medium, in dem dieser Prozeß sich vollzieht.
— Damit erklärt sich die fortgesetzte Aktualität des von Vischer bereits totgesagten Genres. Der Traditionszusammenhang reicht -
anders als der
durch das Bildungsromankonzept angezeigte, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abbricht -
bis in unsere Gegenwart und setzt sich hier
fort. Die zur Überwindung der Identitätskrise des aufgeklärten Menschen entwickelten symbolästhetischen Konzepte stehen auf dem Prüfstand und erweisen sich als unbrauchbar. Das Ich erscheint im Lichte der Künstlerromantradition als Erzeugnis eines topischen Erfindungs- bzw. Bildschöpfungsprozesses, der sich bis in die Anfange der europäischen Kulturgeschichte zurückverfolgen läßt. Weder beginnt die von Hans-Jürgen Schings beschriebene Pathogenese des modernen Subjekts< 17 mit dessen Geburt noch endet sie mit seinem Tod.
2. Anders als ihren ritterlichen Vorfahren, in deren >aventiuren< sich die Unverbrüchlichkeit der Ordnung erweist, die sie verteidigen (und die ihren Stand begründet), ist den Helden des modernen Romans kein bestimmtes Ziel mehr vorgegeben. Mit der delphischen Parole »Erkenne dich selbst« auf den Lippen ziehen sie los, getrieben von »inneren StimmenBildermodeme< Mensch, dessen Portrait hier gezeichnet wird, erfahrt die W e l t nicht mehr als einen K o m p l e x verständlicher Zeichen. D i e »naturhafte Einheit der metaphysischen Sphären« ist »zerrissen«, kein bestimmter Sinn ist mehr vorgegeben. A l s sprachbegabtes Wesen k o m m t der Mensch aber nicht umhin, diesen Sinn zu suchen, sich einen R e i m zu machen auf das, was ihm widerfährt. Dieser Sinn aber findet sich nicht; sondern muß >erfunden< werden. Das ist A u f g a b e der K u n s t , die denn auch nicht als Mittel zu gelten hat, Vorgegebenes nachzuahmen, die nicht A b b i l d ist der vorhandenen, sondern Vision einer >anderenAnmut und Würde< an zentraler Stelle, dort nämlich, wo Schiller den ästhetischen Zustand mit dem »liberalen Regiment eines »monarchischen Staates< vergleicht, in dem [ . . . ] obgleich alles nach eines Einzigen Willen geht, der einzelne Bürger sich doch überreden kann, daß er nach seinem eigenen Sinne lebe und bloß seiner Neigung gehorche [.. .]. 3 1
Der ästhetische Zustand erscheint hier als ein Zustand, in dem das rhetorische Ideal verwirklicht ist, in dem Fremdbestimmung als solche nicht mehr wahrgenommen wird, weil die fremde Perspektive als die eigene begriffen wird, weil sie >verinnerlicht< ist. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt und Wirklichkeitsstatus des »schönen Scheins< bzw. danach, welche Einsichten in das >WesenUber die ästhetische Erziehung< demonstriert das Genre die inneren Widersprüche des Konzepts: - auf der Ebene des Dargestellten, indem hier der ästhetische Bildungsprozeß als Bildschöpfungsprozeß und der Mensch als Künstler vorgestellt wird, der dem Wahnsinn verfällt: der bei dem Versuch, die Natur einzuholen, sich von dieser immer weiter entfernt, - auf der Ebene der Darstellung, wo der erzählte Bildungs- bzw. Bildschöpfungsprozeß als Bild für die Genese der Erzählung selbst erscheint, - und in sprachtheoretischer Perspektive, die die autoreflexive Erzählform erschließt, insofern, als das Beschriebene sich als Projektion des metaphorischen Tauschprozesses versteht, aus dem die Erzählung hervorgeht. Das Ich erscheint in dieser Perspektive als Erzeugnis sprachlich regulierter Bewußtseinsbildungsprozesse, als Effekt eines mimetischen Triebs, der Einfalt nicht kennt. Kein Wunder also, daß sich im Künstlerroman Verwechslungsszenen, Doppelgängerfiguren und Spiegelphänomene häufen - und Lukács die >wahre Substanz in unsunermeßlichen Abgrund zwischen uns und uns selbst< bestimmt. Der Zwiespalt ist dem Subjekt immanent. Er wird durch das Bewußtsein schaffende Medium getrieben und verbreitert sich bei dem Versuch, ihn zu erfassen. Marcuses These, der Künstlerroman sei erst möglich, »wenn die Einheit von Kunst und Leben zerrissen ist, der Künstler nicht mehr in den Lebensformen der Umwelt aufgeht und zum Eigenbewußtsein erwacht«, 32 ist daher falsch. Den Einklang von Kunst und Natur, den er für das Epos in Anspruch nimmt, kann es nicht geben. Grund der Kunst, Bedingung ihrer Möglichkeit, ist der Riß, der sie von der Natur trennt. Entsprechend gestalten sich die Romane, um die es hier geht: Es sind gespaltene Werke, die zu keiner inneren Einheit gelangen und nicht selten Fragment bleiben. So steht es auch um ihre Helden. Es sind keine >zum Selbstbewußtsein der freien Persönlichkeit erwachte< Individuen, sondern Zerrissene und Wahnsinnige, denen das eigene Selbst zum Problem wird, deren >Eigenbewußtsein< sich einem inneren Zwiespalt verdankt und die — wie Adrian Leverkühn nach einem >paralytischen Choc am Klavier< — sich selbst fremd gegenüberstehen: als »ausgebrannte Hüllen [ihrer] Persönlichkeit«. 33 32 33
Herbert Marcuse: Der deutsche Künstlerroman, a.a.O., S. 12. Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, in ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 6, Oldenburg i960, S. 670.
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3· U N L E S B A R K E I T dieser Welt. Alles doppelt.
(P. Celan™) Die methodischen Probleme gattungstheoretischer und gattungsgeschichtlicher Untersuchungen werden in Jürgen Jacobs' Studie zum Bildungsroman eingehend erörtert. Das hermeneutische Dilemma liegt auf der Hand: Der Gattungsbegriff m u ß der Untersuchung, durch die er gewonnen werden soll, vorgegeben sein. Die Sichtung des historischen Materials und die Analyse der einzelnen Werke setzt ein >Vorverständnis< des zu erarbeitenden Begriffs voraus. Jacobs formuliert so: Der Begriff [...], der die Untersuchung allererst ermöglicht und leitet, kann weder willkürlich gesetzt noch apriorisch deduziert werden und auch nicht durch ein Vermögen zur »Wesensschau« literarischer Gattungen gewonnen werden. Nur analysierende Betrachtung des historischen Stoffes führt zu ihm, gibt ihm durch Vergleiche, durch beständige Korrekturen und fortschreitende Verallgemeinerungen Inhalt und macht ihn damit zu breiterer Anwendung fähig. Der Gattungsbegriff ist also das Resultat hermeneutischen Vorgehens, und er ist auch nur in einem hermeneutischen Prozeß anwendbar: Allein durch die Interpretation eines bestimmten Werkes ist auszumachen, ob es unter den Gattungsbegriff subsumiert werden kann. 35
Das gilt auch fur vorliegende Arbeit. Der Begriff >Künstlerroman< stellt kein fertiges theoretisches Konstrukt dar, das der Untersuchung vorgegeben werden könnte, sondern m u ß sich als deren Produkt rechtfertigen. Er besagt zunächst nicht viel mehr, als daß in den betreifenden Werken Künstlerschicksale erzählt werden bzw. das Verhältnis >Kunst - Leben< zentrales T h e m a ist. Die besondere Problematik, die der Stoff birgt, m u ß in Detailinterpretationen am Einzelwerk aufgezeigt werden. Doch erfolgt die Interpretation des Einzelwerks im Lichte des Ganzen, dem es zugeordnet ist. Ein Vergleichshorizont ist vorgegeben, der die historische Perspektive nicht nur eröffnet, sondern auch untergräbt: der vermeintlich Heterogenes aufeinander bezogen, Späteres in Früherem angelegt erscheinen läßt. Man mag diesen Vergleichshorizont als willkürliche Setzung des Interpreten betrachten, doch wie anders lassen sich Rückgriffe auf ein vorgegebenes Muster bzw. Abweichungen von diesem erkennen? Gefordert ist eine >präziseBoden zu gewinnenc das die Auswahl der Werke und den Gang der Argumentation bestimmende >Vorurteil< zu rechtfertigen. Die Fülle und Vielgestaltigkeit des zu beachtenden Materials sowie die verzweigte Entwicklung des Genres — die, um ein Beispiel aus jüngerer Zeit zu geben, innerhalb eines Jahrzehnts so unterschiedliche Werke wie Peter Härtlings >Hölderlin. Ein Roman< (1976), Dieter Kühns >Ich, Wolkenstein< (1977) Christa Wolfs >Kein Ort. Nirgends< (1979), Günter Grass' >Das Treffen in Telgte< (1979) Thomas Bernhards >Der Untergehen (1983). Peter Handkes >Nachmittag eines Schriftstellers< (1987) und Robert Schneiders >Schlafes Brüden (1992) hervorgebracht hat - zwingen zur exemplarischen Darstellung. Und mit Blick auf die Menge der Literatur, die diese Werke unter verschiedensten Aspekten erhellt, versteht sich, daß die Diskussion auf Fragen beschränkt bleiben muß, die den Gattungsaspekt betreffen. Jacobs hält es allerdings fur ein »zweifelhaftes Verfahren [...], eine gattungsgeschichtliche Untersuchung auf wenige Beispiele zu beschränken, deren historische Signifikanz nur behauptet, nicht aber aus dem Zusammenhang heraus demonstriert werden kann«. 36 Der geschichtliche Aspekt wird betont. Deshalb läßt Jacobs den ursprünglichen Plan, nur »drei oder vier wichtige Beispiele der Gattung genauer« zu untersuchen, fallen — und behandelt über vierzig Werke. Detailanalysen einzelner Motive oder Strukturelemente verbieten sich in diesem Rahmen ebenso wie ausführliche Erörterungen der verschiedenen, oft widersprüchlichen Perspektiven, die ein Werk eröffnet. Notwendig wird vielmehr die Beschränkung des Blickwinkels auf ein, wie Jacobs selbst sagt, >inhaltliches< Element: darauf nämlich, wie sich die >Bildungsfrage< im >individuellen Entwicklungsgang< des Helden - d.h., auf der Handlungsebene — stellt. Im Vorwort spricht Jacobs zwar von >ästhetischen Formqualitätens die für das behandelte Problem bedeutsam seien, doch bleibt unklar, was er damit meint, und in den textanalytischen Teilen spielt dieser Aspekt kaum eine Rolle. Das Künstlerromankonzept fordert hingegen, den entgegengesetzten Weg einzuschlagen, denn: — Die >ästhetischen Formqualitäten< haben für das Verständnis der untersuchten Werke elementare Bedeutung. Sie entstehen aus der Inkongruenz der Erkenntnishorizonte von Erzähltem und Erzählung - und zeugen von der >Dekonstruktion< des >gedanklichen< (geistigen) durch den >verbalen< Sprachaspekt, die in diesen Werken statt hat. — Das autoreflexive Gestaltungsprinzip, dem wir gattungskonstitutive Bedeutung beimessen, und die metonymischen Verkehrungen, die es hervorruft (gipfelnd in der Vorstellung des Erzählers als Produkt der Erzählung, die er hervorbringt) heben den rationalen Diskurs aus den Angeln. Zwar stellt die 36
Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder, a.a.O., S. 7.
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poststrukturalistische Literaturtheorie inzwischen adäquate Analyseverfahren und das zu ihrer Durchführung notwendige terminologische Instrumentarium zur Verfügung, doch kommen diese in der Diskussion der behandelten Werke bislang kaum zum Tragen. In der Regel stehen wir vor der Notwendigkeit eines interpretatorischen Neuansatzes, der das Ganze der Erzählung im Auge haben muß, um nachweisen zu können, daß er sich nicht mit hochgespielten Randphänomenen begründet. Entsprechend ist vorliegende Arbeit aufgebaut. Sie besteht aus 15 Interpretationskapiteln, die jeweils ein Werk zum Gegenstand haben und ohne Kenntnis anderer Teile verständlich sein sollen. Sie zielen vor allem darauf, die unterschiedlichen Konstellationen sichtbar zu machen, in denen die angesprochenen genrespezifischen Motive und Strukturelemente auftauchen. Die sich im Vergleich der Untersuchungsergebnisse zeigenden Verschiebungen eröffnen eine >historische< Perspektive. Wohl ist die Textbasis zu schmal, um einen Standpunkt zu gewinnen, von dem sich die Geschichte des Genres überblicken ließe. Doch kommt der Traditionsprozeß als ein Prozeß der topischen inventio, der Rekapitulation, Variation und Amplifikation eines bestimmten Komplexes von Themen, Bildern und Darstellungsformen, in den Blick, der sich bis in die Anfänge der europäischen Kulturgeschichte zurückverfolgen läßt. Wiederholungen sind bei dieser Vorgehensweise unvermeidlich; die beschriebenen Konstellationen setzen sich aus denselben Elementen zusammen und lenken den Blick in dieselbe Richtung. Doch stellen Wiederholungen im vorliegenden Fall keinen Mangel dar. Sie sind dem Thema immanent, sie reflektieren das Phänomen, um dessen Erfassung es geht: die proteische Wirkung eines mimetischen Prinzips, die jeden Identifikationsversuch hintertreibt, die >dasselbe< immer wieder >anders< zum Vorschein bringt. Aufgabe der detaillierten Textanalyse ist also nicht nur, — dem Verdacht interpretatorischer Willkür entgegenzuwirken, deutlich zu machen, daß die leitenden Fragestellungen, Thesen und analytischen Begriffe - so motiviert sie durch die literatur- und kunsttheoretischen Debatten der letzten Jahrzehnte auch sein mögen - den Werken nicht >äußerlich< sind, sondern sich aus Struktur und Gehalt dieser Werke direkt ableiten. — Auch muß sie die komplexe Gedankenbewegung nachzeichnen, in die das autoreflexive Werk den Leser verstrickt - ja, in deren Sogwirkung sich die Vorstellung der subjektiven Steuerung des traditionsbildenden Transformationsprozesses zersetzt. Ein grundsätzliches methodisches Dilemma wird hier sichtbar. Die Arbeit folgt hermeneutischen Prinzipien, deren Fragwürdigkeit sie zugleich aufzeigt. Sie hält fest am klassischen Konzept des vollendeten, in sich abgeschlossenen Werks, begriffen als Ausdrucksform eines einheitlichen Sinnes, sowie der damit verbundenen subjektivistischen Perspektive: der Vorstellung eines verantwortlichen Erzeugers dieses Sinnes. Kapitel für Kapitel sucht sie hineinzufinden in 16
die Sprachbewegung der behandelten Texte. Dort aber bewegt sie sich auf Glatteis, denn der >Sinnanderszerreißen< zu müssen. Dieser schizophrenen Tendenz, der in den behandelten Werken das Wahnsinnsmotiv entspricht, vermag die Arbeit nicht zu entkommen. Sie betrachtet das einzelne Werk als unverzichtbare, elementare Einheit des Verstehens, untergräbt zugleich aber seinen Autonomieanspruch. Denn sie weist das Werk als Produkt sprachlicher Transformationsprozesse aus, deren Anfang und Ende unausmachbar sind, und muß erkennen, daß die grundlegende Erfahrung, die es vermittelt, die eines erschreckenden Nichtverstehens ist — bzw. die einer prinzipiellen Differenz, die als Einheit zu denken sich verbietet, angesichts der es vielmehr geboten scheint, die Vorstellung eines identifizierbaren Sinnes aufzugeben. Adornos Essay >Über epische Naivetät< behandelt das Dilemma. Der durch das autoreflexive Strukturprinzip >großer< Kunst motivierte metonymische Prozeß, die >Umkehrung< des Verhältnisses von Bild und HandlungZweckrationalität< reduzierten) Vernunft begriffen. Adorno schreibt: Der Versuch, die Darstellung von der reflektierenden Vernunft zu emanzipieren, ist der stets schon verzweifelte Versuch der Sprache, indem ihre bestimmende Intention bis zum äußersten getrieben wird, vom Negativen ihrer Intentionalität, der begrifflichen Manipulation der Gegenstände zu heilen und das Wirkliche rein, unverstört von der Gewalt der Ordnungen hervortreten zu lassen. Die Dummheit und Blindheit des Erzählers [ . . . ] drückt bereits Unmöglichkeit und Hoffnungslosigkeit solchen Beginnens aus. Gerade das gegenständliche Element des Epos, das aller Spekulation und Phantasie extrem entgegengesetzte, fuhrt die Erzählung, um ihrer apriorischen Unmöglichkeit willen, an den Rand des Wahnsinns. 37
Wie aber soll die Kunst der >Gewalt der Ordnungens der begrifflichen Manipulation der Gegenständes entgegenwirken? Sie selbst unterliegt dem >Gesetz< der Verschiedenheit von Zeichen und Bezeichnetem, von Bild und Abgebildetem, und kehrt diese Differenz im autoreflexiven Prozeß, den sie initiiert, hervor. Die Kunst will, heißt es, >Natur< sein, Nachgeahmtes soll als originäre Schöpfung (spontane Hervorbringung), Scheinhaftes als Wahres gelten. Dieser 37
Theodor W. Adorno: Uber epische Naivetät, in ders.: Noten zur Literatur I, Frankfurt/M 1 9 5 8 , S. 5 0 - 6 0 , hier S. 55f.
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Widerspruch sprengt den Horizont des >gesunden Menschenverstandesapriorischen Unmöglichkeit des Werks und stellt den Interpreten vor unlösbare Probleme. Die Schwierigkeiten (die sich im Falle des Künstlerromans potenzieren, da das Paradox hier sowohl Darstellungsgegenstand als auch Grund und Motor der Erzählung ist) werden folgendermaßen beschrieben: Verstehen selbst ist angesichts des Rätselcharakters [der Kunstwerke] eine problematische Kategorie. Wer Kunstwerke durch Immanenz des Bewußtseins in ihnen versteht, versteht sie auch gerade nicht, und je mehr Verständnis anwächst, desto mehr auch das Gefühl seiner Unzulänglichkeit, blind in dem Bann der Kunst, der ihr eigener Wahrheitsgehalt entgegen ist. [ . . . ] J e besser man ein Kunstwerk versteht, desto mehr mag es nach einer Dimension hin sich enträtseln, desto weniger jedoch klärt es über sein konstitutiv Rätselhaftes auf. 38
Große Kunstwerke >blamierenWiderDoppelsinnsgeistige SubstanzNichts< einer Differenz, die Bedeutung zwar ermöglicht, dieser selbst aber entgeht. An die Stelle der Synthese (begriffen im hegelschen Sinne als >bestimmte Verneinungoffene, durch keine Synthese zu bändigende Ambivalenz geistigen< Herrschaftsanspruch und entziehen damit dem dialektischen Schema, auf das Adorno - auch wenn er es >negativ< wendet - weiterhin setzt, den Boden. Mit ihrem Gegenstand teilt vorliegende Untersuchung also den fragmentarischen Charakter: — Wichtige Werke vor allem der romantischen Epoche (Novalis' >Heinrich von OfterdingenGodwi< und Hölderlins >HyperionModernität< und ungebrochene Aktualität des Genres. Deshalb wird die in der Forschung bislang kaum diskutierte Entwicklung der Gattung im 20. Jahrhundert betont und bleibt die Darstellung des romantischen Künstlerromans auf wenige Werke beschränkt, an denen sich die wichtigsten Aspekte und Tendenzen zeigen lassen. - Unbeachtet bleiben auch Erzählungen, die Künstler zum Helden haben und in denen von Kunst und Künstlertum die Rede ist, denen dieses Thema aber >äußerlich< ist, die es ideologisch vereinnahmen und des autoreflexiven Horizonts entbehren. Es gibt sie in großer Zahl und in unterschiedlichster Form. Ernst Bloch spottet: Eine Künstlergeschichte hat schließlich auch den Trompeter von Säckingen, nicht nur den Kapellmeister Kreisler als Held. Aber mit solchen Karikaturen ist das Genus (obwohl selbst sie noch von dessen Phantasie leben) ersichtlich nicht berührt. So wenig auch wie von einem Hymnus Heinrich Harts, »Cäcilie« genannt, den Strauß komponiert hat, und der schließt: »Wenn du wüßtest, was leben heißt, umhaucht von der Gottheit weltschaffendem Atem, . . . wenn du es wüßtest, du kämest zu mir.« Sondern das gute Genus betrifft weniger Umhauchtes, nämlich Werkstatt als Leben, Leben als Werkstatt und darin eine Frucht, die bildend gerät oder auch nicht. 42
Man kann darüber streiten, ob Werke dieser Art dem behandelten Traditionszusammenhang überhaupt angehören, sicherlich aber fallen sie hinter das in ihm erreichte Reflexionsniveau zurück und tragen zu seiner Entwicklung nicht bei. Doch wie gesagt: Nicht um Beschreibung der verzweigten Entwicklung des Genres und seiner vielfaltigen Erscheinungsformen geht es im Folgenden, sondern um Erkenntnis seines paradoxen Motivationsgrunds, um Darstellung der dekonstruktiven Prozesse, die er initiiert, und der narrativen Strukturen, die sich in diesen Prozessen herausbilden. Eine künftige »Geschichte des Künstlerromans< mag davon profitieren.
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Ernst Bloch: Philosophische Ansicht des Künstlerromans, a.a.O., S. 65.
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I. Die Kunst als Verfuhrung - oder: Incipit Zarathustra. Wilhelm Heinse: >Ardinghello und die glückseligen Inseln
Diario Fiorentino< (publikumswirksam aufgebauschte Skandalgeschichten aus dem Haus der Medici), aus Temanzas »Geschichte Venedigs< ( 1 7 8 1 ) sowie Fogliettis Bericht über den Kampf der Dorias gegen die Türken und Seeräuber ( 1 5 1 8 - 8 1 ) . Darauf greift Heinse bei der Niederschrift des Romans ausgiebig zurück. Aber selbstverständlich handelt es sich nicht um einen »historischen Roman«. Mit dem im Titel zitierten Topos der »glückseligen Inseln< erinnert Heinse an eine Erzähltradition, die von Piatons Atlantis-Bericht über Thomas Morus' »De nova insula Utopia« ( 1 5 1 6 ) und Francis Bacons »Nova Atlantis« (1627) bis hin zu Schnabels »Insel Felsenburg« ( 1 7 3 1 / 4 3 ) und Zachariaes »Tayti oder die glückliche Insel« ( 1 7 7 7 ) reicht. Er verdeutlicht den utopischen Gehalt des Werks ebenso wie die literarische Vermitteltheit des Erzählten, seine Abgehobenheit von der »realen« Welt. Im Brief an Sömmerring vom 1 3 . 3 . 1 7 9 6 , in dem Heinse (der ein zurückgezogenes Gelehrtenleben führte) sich über die Entrüstung seiner ausschweifender lebenden Kritiker mokiert, heißt es: »Und bloße Begier, weil der Verfasser [des »Ardinghello«] nicht in der Tat Liebeshändel mit einer Cäcilia, einer Lucinde, Fulvia, Fiordimona gehabt hätte, sondern alles lauter Phantasie wäre?« (Dok, 646) Heinse insistiert hier auf die Differenz von realer und erfundener Wirklichkeit, in ihr erblickt er den Spielraum der Kunst, deshalb fordert er eine Lektüre, die der fiktionalen Qualität der Erzählung gerecht wird. Damit ist keinem »l'art pour l'art« das Wort geredet. Das imaginierte »schöne Leben« wird als Kontrastfolie begriffen, die dazu dient, die Defizite der bestehenden Welt deutlicher hervortreten zu lassen.6 Die Differenz von Schein und Sein, fiktiver und realer Welt, spiegelt sich nicht nur in der Diskrepanz zwischen historischem Gewand und utopischem Modus 7 6
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Heinrich Heine war sich des »revolutionären« Potentials des »Ardinghello« bewußt, am 15. Februar 1828 schreibt er an Detmold: »Ich habe jetzt Heinses Ardinghello gelesen [ . . . ] Er ist einer jener Dämonen, die ich vielleicht jetzt repräsentiere, zu denen auch Sie gehören, und die einst den Olymp stürmen werden. Freilich die Zeit dieses Sieges ist noch lange nicht da; ich und Sie und die anderen Gleichzeitigen, wir werden mit verdrießlich abgemiihtem Herzen ins Grab steigen, doch mit der festen Überzeugung, daß die Stärkeren unser Bestreben fortsetzen werden.« (Dok, 578) Dazu gehört, daß den vorgestellten Figuren des Cinquecento kunsttheoretische und
der Erzählung, sondern auch in der Disparatheit ihrer Teile, dem Spannungsfeld zwischen den kunsttheoretischen und narrativen Partien, aus denen der Roman sich zusammensetzt: -
Während im ersten Band (Teil I—III), in dem Ardinghello sich als Maler ausgibt, die Handlung nur gelegentlich durch kunstreflexive Partien unterbrochen wird, drängen im zweiten Band (Teil I V - V ) , in dem Ardinghello der Kunst entsagt und als Politiker agiert, ausgedehnte kunstphilosophische Betrachtungen die Handlung fast in den Hintergrund.
— Im Handlungsteil reihen sich hingegen Verfuhrungs- und Intrigengeschichten, deren Abfolge ebenso unmotiviert erscheint wie der Zusammenhang mit den sie unterbrechenden kunsttheoretischen Diskursen. Die diskrepante Erzählform hat Heinse den R u f eines zweitklassigen Autors eingetragen, dem es an poetischer Integrationskraft mangele und dessen Werk nurmehr historisch von Belang sei. Einer der ersten, die diesem Urteil widersprochen haben, war Walter Brecht. 1 9 1 1
stellt er fest, daß Heinse, »auch
wenn er zeitweilig vergessen schien, [ . . . ] immer modern war« und mit der Zeit »immer moderner wurde«, und »jetzt von vielen geradezu wie ein Mitlebender empfunden« werde, [wjeil er auf der Suche war nach einer immanenten Moral, die ihren Wertmaßstab aus dem Diesseits entnehmen sollte, in dem das Göttliche erscheint, nicht von irgendwelchen Glaubenssätzen supranaturalistischer Natur, außerhalb unserer Existenz; und weil es ihm glückte, in dem hinreißenden Gemälde seines Ardinghello einen solchen Maßstab aufzustellen, der viele befriedigt: den ästhetischen.8
8
staatsphilosphische Thesen des 18. Jahrhunderts in den Mund gelegt sind. Ähnlich verfahrt schon Heinses Mentor Wieland, der die Handlung des >Agathon< in die Antike verlegt, um politisch brisante Themen unbefangener diskutieren zu können. Dem >Agathon< folgt Heinses Roman auch darin, daß er mit dem ironisch akzentuierten Entwurf eines idealen Staatswesens endet. Anstelle des tugendhaften Weisen erscheint allerdings ein >KraftgenieNouvelle Héloïse< verdeutlicht das Problem. Heinse hat sich immer wieder zu dem enthusiastischem Naturkonzept bekannt, mit dem Rousseaus Helden ihre verbotene Liebe rechtfertigen. Doch kann nur von einem negativen Bezug die Rede sein. Die >Utopie von Clarens< ist Widerruf der Liebeshandlung des ersten Teils, des Wahrheitsanspruchs des spontanen Affekts, als dessen unmittelbarer Ausdruck< sich die mitreißende Gefiihlssprache der Liebesbriefe versteht. Vergleicht man die Werke, scheint es, als verteidige Heinse im >Ardinghello< Rousseaus Roman gegen sich selbst, als suche er dessen Heldin zu retten vor dem ihr zugemuteten Sühneopfer. Die Utopie der glückseligen Inseln< läßt sich interpretieren als Gegenentwurf zu Ciarens und dem dort herrschenden Transparenzgebot: der Vorstellung einer Welt ohne Lüge und Verstellung. Walter Brecht: Heinse und der ästhetische Immoralismus. Zur Geschichte der italienischen Renaissance in Deutschland, Berlin 1 9 1 1 , hier Dok, 600.
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Als >modern< gilt der >Ardinghello< hier deshalb, weil der Grund seiner h i n reißendem Wirkung sich subjektiver Vorstellung entzieht, weil der emotionale Effekt sich einer Konstruktion verdankt, die Disparates verbindet. Die Differenz zwischen den reflektierenden und narrativen Partien kommt so als Motivationsgrund und primärer Darstellungsgegenstand der Erzählung in den Blick. Eine entsprechende Interpretation des >Ardinghello< steht -
trotz der Mah-
nung Benno von Wieses 9 und des bemerkenswerten Ansatzes, den Henry C. Hatfield in >Aesthetic Paganism in German Literature< entwickelt -
bislang
aus. Hatfield schreibt: Of the plot of the novel little need be said: erotic scenes, orgies, duels, and a battle at sea alternate with descriptions of paintings, statues, and landscapes, and with dialogues about the nature of art. On first reading it seems formless indeed; but there are integrating factors. The most intense passages are devoted to love-making and to evocations of art; these, Heinse implies, are the activities of man most highliy charged with élan vital, and thus they are closely interrelated. Furthermore, his orgies are presented as pictures — ut pictura poesis — while his renderings of paintings and statues are usually erotic; the two strains are drawn together. 10
9
Benno von Wiese fordert 1 9 3 1 eine die »gedankliche« und die »dichtetische« Seite des Romans miteinander in Verbindung bringende Lektüre: »die [ . . . ] Unverbundenheit des dichterischen Raumes und des theoretischen Wissens darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie in einer inneren und notwendigen Beziehung stehen. Die theoretische Reflexion soll durch den Gedanken das verdeutlichen, was der Dichter im Bilde sagt.« (Benno von Wiese: Heinses Lebensanschauung im »Ardinghello«, in: Zeitschrift für Deutschkunde 45, 1 9 3 1 , S. 43). Das hier beschriebene Formprinzip der »notwendigen Beziehung« eines scheinbar >Unverbundenen< sowie der Hinweis auf die Vorrangigkeit des »dichterischen Bildes«, aus dem sich das »Gedankliche« sozusagen ableitet, lenken den Blick auf die Rhetorizität der Rede. Doch kehrt sich das Begründungsverhältnis von dichterischem Bild und philosophischem Gedanken am Ende der Untersuchung um. Die Darstellungsform des Romans wird hier zurückgeführt auf ein neuplatonisch pantheistisches Kunstkonzept, das »die Kunst neben Erotik und Natur zum metaphysischen Symbol« erhebt — und den Roman einer Metaphysiktradition zuordnet, »die seit Shaftesbury und Leibniz ihre entscheidenden Denkmotive, Totalität und Symbol, im Zusammenhang mit einer Philosophie der Kunst zu gewinnen« sucht. Diese aber fallt zusammen mit den in den diskursiven Romanteilen entwickelten philosophischen und ästhetischen Theorien und eignet sich daher nicht zur Erklärung der eingangs herausgestellten Differenz zwischen »bildlichen« und »gedanklichen« Erzählelementen. Es heißt: »Wie [Heinses] Lebensanschauung, so drückt auch seine Kunsttheorie seinen umfassenden Lebensbegriff aus in der Doppelheit seiner zwei Seiten, der Sinnlichkeit reiner vitaler und individueller Energien und der Geistigkeit der in ihn eingedrungenen göttlichen Idee.« (S. 49) Aus der zunächst beschriebenen Differenzstruktur wird so eine Figur der Dualität, die das idealistische Identitätskonzept nicht gefährdet. Das dem klassischen Symbolbegriff nicht subsumierbare konstruktive Bauprinzip des Romans gerät so völlig aus dem Blick. (Vgl. S. 4 2 - 5 2 . )
10
Henry C. Hatfield: Aesthetic Paganism in German Literature. From Winckelmann to the Death of Goethe, Cambridge 1964, hier Dok, 6 1 8 .
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Der >integrierende FaktorWirklichkeitsgrund< unerkennbar geworden ist. Die (fiktiven) Liebesaffären und Intrigengeschichten erscheinen als Projektionen der (realen) Kunstwerke, die Heinse in Italien aufsucht, bzw. der erotischen Wirkung, die von ihnen ausgeht. Gegenüber Benedikt, dem Erzähler, rechtfertigt Ardinghello sein Lotterleben so: Glaub [ . . . ] nicht, Benedikt, daß ich mich aus Muße und Langerweile verliebe; ich beschäftige mich gerade mit den ersten Werken der bildenden Kunst, der alten und der neuern; allein das Leben selbst triumphiert über alles und gewinnt im Gegenteil dadurch noch mehr Stärke. (Ard, 203f.)
Ardinghello behauptet den Primat des Lebens. Doch fragt sich, ob er da nicht einer Täuschung aufsitzt: ob er sich der Kunst wirklich nur bedient, um seine Erlebnisfähigkeit zu steigern — oder ob es sich nicht umgekehrt verhält: ob die Kunst nicht diktiert, wie sein Leben auszusehen hat. Der Roman legt diese verkehrte Perspektive nahe. Dann aber bedeutete die Kunst die Grundfunktion und Ardinghellos Leben die aus ihr zu berechnende Variable. Nicht zufällig beginnt der Roman damit, daß der Held dem Erzähler das Leben rettet. In diesem Eingriff des Erzählten in die Erzählung, in dem sich die Grenze zwischen fiktiver und fiktionsbildender Ebene aufhebt, und der deshalb im wörtlichen Sinne ein Kunstgriff ist, reflektiert der Roman die Bedingung seiner Möglichkeit und rechtfertigt sich selbst: in Vorwegnahme gleichsam des nietzscheschen Konzepts einer >lebensrettenden< Funktion der Kunst im nihilistischen Zeitalter.
2.
Das Erlebnis des Schönen erscheint im >Ardinghello< als >RealgrundSignatur des Schönenintegrativen Faktor< der Erzählung. In den Liebes- und Intrigengeschichten dominiert das Prinzip der szenischen Darstellung. Die Ereignisse überschlagen sich hier und lassen zum Nachdenken keine Zeit. Nichts soll die Illusion der Präsenz des Erzählten beeinträchtigen. Drei Großabschnitte lassen sich unterscheiden, die mit verschiedenen Frauengestalten verbunden sind: - Leitbild des ersten Abschnitts ist die >unerfahreneunschuldiges< Wesen geltenden Römerin Fiordimona. Entsprechend gestaltet sich die Reihe der theoretischen Diskurse, auch hier ist ein Dreierschema erkennbar: - Den Anfang bilden Gespräche über die Unterschiede zwischen der venezianischen und der römisch-florentinischen Malerschule, über die Gemälde Veroneses und die Architektur Palladlos. Sie fuhren in das behandelte Problem ein. - Der Mittelteil verdeutlicht den Konflikt in der Diskussion um die unterschiedlichen Kunstkonzepte Raffaels und Michelangelos bzw. den auf diese Nenner gebrachten Gegensatz von >schöner< und >erhabener< Kunst. - Und im dritten Teil findet sich dieser Gegensatz wieder aufgehoben in der Vorstellung des »starken Kontrasts« bzw. der »schlimmen Nachbarschaft« zweier (in den Uffizien ausgestellter) Kunstwerke: der erhabenen, bei aller Nacktheit unnahbaren >Venus Medici< einerseits und der als »bezaubernde Beischläferin« bezeichneten >Venus von Urbino< andererseits, der man ansehe, »daß das Jungfräuliche schon einige Zeit gewichen ist« (Ard, 33if.). 26
Der Bezug ist unverkennbar: Der Zwillingsgestalt der Venusdarstellungen entspricht im Handlungsteil das Geliebtenduo >Lucinde—FulviaArdinghello< beruft, sind allerdings älteren Datums. Zwei Namen stechen ins Auge: — Boccaccio, von dem es heißt, er habe nicht wie Petrarca am Schein, sondern an der Wirklichkeit gehangen (Ard, 61), und dessen besonderes Verdienst darin gesehen wird, Dantes >göttliche Komödie< durch eine >weltliche< ersetzt zu haben (Ard, 228), — und Machiavelli, dessen Briefen der Name >Ardinghello< entnommen ist; 1 7 von ihm ist mehrfach in einem Atemzug mit Homer, Pindar, Demosthenes und Aristoteles die Rede (Ard, 1 8 1 , 371). Der Rekurs auf die Renaissanceliteratur resultiert nicht aus dem historischen Setting des Romans, sondern umgekehrt. Selbstbewußt nimmt in Boccaccios >Decamerone< (1350) ein neuer Heldentyp sein Schicksal in die Hand; mit Klugheit und rhetorischer Raffinesse verfolgt er ganz und gar irdische Ziele. Dem neuen Lebensgefuhl entspricht der drastische Realismus der versammelten Anekdoten, sowie der mondane Gestus, die amüsiert heitere Tonlage der Erzählung. Die geschliffene Form macht den indezenten Inhalt salonfähig. Um die Schrecken der in Florenz wütenden Pest zu bekämpfen, gibt man Verfuhrungsgeschichten zum besten, die Intellekt, Phantasie und Sinnlichkeit gleichermaßen ansprechen. Zentrales Thema ist die Kulissenhaftigkeit menschlicher Existenz. Entsprechend steht es um Boccaccios Helden. Es sind Abenteurer, die keinem Ideal folgen, Verstellungskünstler, die sich durch Geistesgegenwart und taktisches Geschick aus jeder Affäre zu ziehen wissen. Nimmt man die Schriften Machiavellis hinzu, wird klar, worauf es Heinse ankommt. Es ist derselbe illusionslose Blick, mit dem die Welt hier betrachtet wird, und dasselbe pessimistische Menschenbild, das die Argumentation bestimmt: Machiavelli ist wie Boccaccio davon überzeugt, daß die Kräfte der >virtú< gegen den reißenden Strom der >fortuna< nicht ankommen, daß der Egoismus die dominante menschliche Triebkraft ist, und daß ein Politiker gut daran tut, damit zu rechnen. Entsprechend gestalten sich die Intrigengeschichten, die der Roman im Handlungsteil versammelt. Dem Masken- bzw. Theatermotiv kommt dabei zentrale Bedeutung zu. Im Rekurs auf das topische Arsenal der Verwechslungskomö16
17
Erich Hock: Nachwort, in: Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseligen Inseln, ohne Angabe [Frankfurt a.M. 1962], S. 3 5 3 — 367, hier S. 356 u. 359^ Der Name >Ardinghello< - eine paradoxe Zusammensetzung aus >ardere< [>brennengelarsi< [>gefrierenPrincipe< überreicht haben (vgl. Dok, S. 682).
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die entsteht das Bild einer karnevalesken Welt des Inkognito und permanenten Rollentauschs, in der Lüge und Verstellung an der Tagesordnung sind. Das gilt für den politischen Bereich ebenso wie für den privaten. Die Vorgänge am Hof der Medici, dem Ardinghelios Familie angehört, werden als Farce und Possenspiel, der Staatsminister wird als Chamäleon vorgestellt. Eine Kabale folgt hier der anderen. Ardinghello fuhrt Klage darüber, verfährt selbst aber, als er die Regierungsgeschäfte übernimmt, nicht anders. Stereotypen bürgerlicher Adelskritik häufen sich in der Darstellung der politischen Vorgänge und wären weiter nicht beachtenswert, wiederholten sie sich nicht in der Beschreibung intimster Vorgänge: käme die Intrige nicht auch als treibender Faktor der Liebeshandlung in den Blick. Ardinghelios Erzählung von der ersten Begegnung mit Cäcilia ist denn auch durchsetzt mit Metaphern aus der Theatersphäre: Ich trug schier eine Maske wie einer ihrer Brüder: sie sah mich im Getümmel fur denselben an, ging auf mich zu, faßte mich bei der Hand und flüsterte mir etwas freudig ins Ohr. [...] Männer und Weiber, die sie begleiteten, mochten ebenfalls im Irrtume wie sie sein; denn sie ließen uns beisammen, gaukelten auf dem bunten Welttheater im kleinen ihre Mummereien fort und hatten keinen Argwohn. Ich gebrauchte die schnelle Gelegenheit, so gut mir möglich war. Sie mußte mich auch mit einem Blick erkennen können: unsre Augen hatten sich schon oft mit Seele begegnet. Ich verlangte zu wissen, ob ich etwas über sie vermöchte; hob ein wenig meine Maske vom Gesicht: und sie wollte sich, errötend von den rundlichen Wangen bis an den schneeweißen Hals, zurückziehen; allein ich hielt das warme Händchen fest. (Ard, 43f·) Cäcilia ziert sich nicht lange. Daß sie verlobt ist, spielt keine Rolle. Schon bald treffen sich die Liebenden, zunächst heimlich, später auch unter den Augen der Familie, die Ardinghello als Maler engagiert. Im Vertrauen auf »ihre Gegenwart des Geistes und Verstellungsgabe« (Ard, 64) nehmen sie die Gefahr in Kauf. Nachdem Ardinghello den Verlobten meuchlings ermordet hat - nicht aus Eifersucht, sondern um seinen Vater zu rächen - sind Lug und Betrug erst recht geboten. Versiert spielt Cäcilia die schockierte Witwe und gibt das Kind, das sie von Ardinghello empfangen hat, als das des Ermordeten aus. Ich hatte nichts gemerkt, kommentiert Benedikt, »so sehr konnten sie sich verstellen.« (Ard, 50) Schlimmer noch treiben es Fulvia und Fiordimona: Fulvia verfuhrt Ardinghello, der nicht sie, sondern Lucinde, ihre spröde Freundin, begehrt, mit dem Versprechen, ihm diese zuzuführen. Und von Fiordimona, Ardinghellos letzter Geliebten, heißt es gar, sie trete die >verwegene Reise nach Neapel· nur an, um andere Liebhaber loszuwerden, »welche vielleicht auch den Weg zu den Quellen des Clitumnus wußten, und [um] den Ardinghello in aller möglichen Lust ungestört zu genießen« (Ard, 363). Noch in der intimsten Situation walten List und Tücke. Zwar behauptet Ardinghello, daß »alle Verstellung ein Ende hat gegen einen, der Person und 30
Sache kennt«, doch von einer Klärung der Situation kann angesichts des Verlaufs und Endes der Fulvia-Lucinde-Handlung keine Rede sein. Auf ihrem Höhepunkt erscheint denn auch das Verwandlungsmotiv: Das bacchantische Leben, das endlich alle Verstellung vergaß, brachte mich hernach doch etwas aus meiner UnÜberlegung, obgleich noch ganz im Rausche. >Lucinde, Lucinde«, rief ich, >welch eine glückliche Verwandlung! Laß mich deine Stimme hören. 0 du mein alles!* hört ich nun Fulvien statt ihrer, >verzeihe mir diesen Betrug [...]falsche< Geliebte kurzerhand fur die >wahre< - und rechtfertigt sein Verhalten mit dem dionysischen Blickwinkel, aus dem heraus die Dinge hier betrachtet werden: »Ich mußte mirs gefallen lassen; ich war angeführt auf eine Weise, die mir hohe Lust gewährt« (Ard, 104). Der Gegensatz von Kabale und Liebe, Kunst und Natur, von kalkuliertem Effekt und spontaner Reaktion verliert sich in dieser Perspektive. Sinn schlägt in Wahnsinn um. Lucinde, die zwischen zwei Männern steht, die sie gleichermaßen liebt, bekommt dies zu spüren. Anders als Ardinghello ist sie unfähig, sich beiden hinzugeben. Als sie zur Entscheidung gedrängt wird, erstarrt sie. Ardinghello beschreibt den Zustand so: Sie kennt Fulvien nicht mehr, ihren Bräutigam nicht mehr, und mich nicht mehr; [...] alles [ist] im Ruin ohne Zusammenhang; dasselbe nicht mehr dasselbe, es ist gräßlich! (Ard, I32f.) Für Lucinde ist die Liebe Medium der Selbsterfahrung. Unbedingte Liebe gilt ihr als Ausdruck persönlicher Identität, völliger Übereinstimmung des Ich mit sich selbst. Die Erfahrung der Teilbarkeit von Liebe entzieht ihr den Boden. In der Verbindung mit Fulvia, ihrem durchtriebenen Pendant, fällt ihr der »einfältige < Part zu. Doch der Schein täuscht: Lucindes >Naivität< stellt sich als sublimierte, bewußter Kontrolle entzogene Verstellung heraus: »Lucinde kam«, endet ihre Geschichte, »in der klösterlichen Einsamkeit [wohin sie zur Heilung gebracht worden war], wieder zu sich von ihrer Leidenschaft, wofür sie genug gebüßt hatte, und ließ ihren wohl größtenteils verstellten Wahnsinn.« (Ard, 369). Der Wahnsinn, von dem hier die Rede ist, resultiert nicht aus dem Verlust der Einfalt, sondern wird durch diese bewirkt. Ihm entgeht nur, wer den Zwiespalt erkennt, den die Einfalt birgt — wem nicht die auf Identität insistierende Lucinde einfältig erscheint, sondern der sich jedem Impuls hingebende Ardinghello, der Lucinde begehrt und zugleich alles tut, um ihren Geliebten aus türkischer Gefangenschaft zu befreien, der nicht moralisch, sondern ästhetisch agiert - der Moral durch >Doppelmoral< ersetzt und die Devise ausgibt: [Wir] erkannten inzwischen innig, daß die Natur unter allem bürgerlichen Verhältnis bei Menschen von reiner Empfindung und klarem Begriff immer durchgeht, trotz
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allen Gesetzen. Sie richten sich zwar im Äußerlichen nach der Ordnung des großen Haufens; betreiben aber im Geheim ihre eigne Art von Glückseligkeit, ohne welche kein Leben Wert hat. (Ard, 6 i f . )
Die Verstellung ist Leitmotiv des Handlungsteils. Sie zeigt sich hier vor allem als Verführung. Heinse knüpft damit an die galante Literatur an, die zu Beginn des Jahrhunderts die moralistische Kritik provoziert. Deren Verdikt findet sich im 19. Jahrhundert wiederholt: Kierkegaard betrachtet den Verführer als Inbegriff des skrupellosen Ästheten, dem die Folgen seines Tuns gleichgültig sind, dem sich die individuelle Perspektive verschließt. Dagegen wendet sich in unseren Tagen Jean Baudrillard. In >De la séduction« betrachtet er die Verführung unter >außermoralischem< Aspekt und beschreibt sie als universale, den psychologischen Reflexionshorizont sprengende Macht, die es vermag, [ . . . ] alles seiner Wahrheit zu berauben und wieder in das Spiel eintreten zu lassen, ins reine Spiel des Scheins, und dort im Handumdrehen die Sinn- und Machtsysteme zunichte zu machen: den Schein sich um sich selbst drehen zu lassen [.. .].' 8 Verführen heißt als Realität sterben und sich als Täuschung produzieren. Es bedeutet, in die Falle der eigenen Täuschung zu gehen und sich in einer verzauberten Welt zu bewegen. [ . . . ] Die Strategie der Verfuhrung ist diejenige der Täuschung. Sie lauert allen Dingen auf, die dahin tendieren, mit ihrer eigenen Realität zu verschmelzen. Darin liegt die Quelle zu einer sagenhaften Macht. Denn wenn die Produktion [« production] nichts als Objekte, nichts als reale Zeichen produzieren kann und ihr daraus eine gewisse Macht erwächst, so produziert die Verführung [- seduction] hingegen nichts als Täuschungen, und dadurch erhält sie alle Macht, darunter diejenige, die Produktion und die Realität auf ihre fundamentale Täuschung zurückzuwerfen.' 9
Diese Definition erläutert nicht nur den engen Zusammenhang von Verstellungsproblematik und Täuschungskonzept, dem in den kunstreflexiven Partien zentrale Bedeutung zukommt, sie wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Heldenfigur. Künstlerroman ist Heines Roman nicht, weil sein Held eine Zeitlang als Maler auftritt, sondern weil er die Kunst verkörpert und ihr Wesen bedeutet. Als Künstler gibt Ardinghello sich nur aus. In der Verstellung, der Falschheit seiner Erscheinung spiegelt sich die des Kunstwerks, dem die Differenz von Darstellung und Dargestelltem wesentlich ist. 20 Ardinghello entsagt der Kunst: »[I]ch will, ich muß nun scheiden«, heißt es im letzten Brief aus Rom, »Ach, scheiden von der Kunst überhaupt! Sie ist meine Bestimmung nicht; ich habe mich nur jugendlich getäuscht« (Ard, 230). Doch wieder irrt er. Das hohle Pathos ist bezeichnend. Der Entschluß ist nicht realisierbar. Für einen Romanhelden gibt es kein >Jenseits< der Kunst. Der Weg, den Ardin-
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Jean Baudrillard: Von der Verführung, a.a.O., S. 18. Jean Baudrillard: Von der Verführung, a.a.O., S. 98f. Cacilia bringt die Sache auf den Punkt; Ardinghello ist, schreibt sie »ein trefflicher Mann, voll Verstand und Talent, und das Geringste ist der Maler an ihm, so weit er's auch schon in seiner Kunst gebracht hat« (Ard, 128).
ghello von Rom aus einschlägt, führt nicht ins wirkliche Leben, sondern in den utopischen Raum der glückseligen Inselnmoderne< Perspektive eröffnet: in dem denkbar wird, daß Verstellung dem Subjekt nicht äußerlich ist, sondern sein Wesen ausmacht - und die Einsicht wächst, daß die Kunst nicht Ausdrucksmedium einer homogenen Substanz ist, sondern Erfahrungshorizont einer Brechung, die sich sinnvoller Bestimmung versagt. Die inneren Spannungen, die das Kunstwerk auszeichnen, legen davon Zeugnis ab. Die kunsttheoretischen Partien des >Ardinghello< reflektieren die zeitgenössische ästhetische Debatte. Die Kunstgespräche stehen - so wurde gesagt — [ . . . ] unter dem verbindenden und fortschreitenden Thema des 18. Jahrhunderts über die Eigenart und Grenzen von Malerei, Bildhauerkunst und Poesie und sind im einzelnen eine kritische Auseinandersetzung mit den Auffassungen Lessings und Winckelmanns. 21
Das historische Gewand, in das Heinse diese Diskussion einkleidet, ist die (in Vasaris >Künstlerbiographien< beschriebene) Auseinandersetzung zwischen der venezianischen Malerschule, der >sinnlichen< Kunst Veroneses, Tizians und Raffaels einerseits - und der römisch-florentinischen Schule um Michelangelo andererseits. Liegt der Akzent bei jenen auf Fleisch, Oberfläche und Farbe, so betonen diese Knochen, Umriß und Linie. Ausgangspunkt der Argumentation ist das vernichtende Urteil über die >allegorisierende< Kunstform Dürers. Wohl zeugten Dürers Bilder von einem genauen Studium des menschlichen Körpers, doch fehle ihnen alles »Hohe und
21
Max L. Bäumer: Nachwort, in: Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln. Kritische Studienausgabe, a.a.O., S. 6 4 1 - 7 1 8 , hier S. 7 1 6 .
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Schöne«, worum es in der Kunst allein gehe. Die Kunst Michelangelos komme zumindest der Forderung des >Hohen< nach. Die Fresken der sixtinischen Kapelle werden als »Geschöpfe einer ungeheuren Einbildungskraft« gepriesen, doch wird bemängelt, sie seien »nichts fur Auge und Herz« (Ard, 165), sie übten zu wenig sinnlichen Reiz aus, um als schön zu gelten. Es heißt: Michelangelo ahmt, »eine Natur nach, welche nur noch in Steinen existiert, eine Natur ohne Farbe mit Farbe: und will täuschen!« (Ard, 17). Der illusionäre Effekt bleibt aus. Das Dargestellte ist zu >entrücktschönen< Gemälden Raffaels. Ihre Beschreibung gipfelt in begeisterten Ausrufen: >Innige Rührunglauter Herz und EmpfindungGrazie überall< (Ard, 205—220). Doch auch sie sind nicht perfekt. Sie sind >zu gefällige ihnen fehlt das >HoheModernenAltenGott< ist der Natur abgeschaut. Er verweist auf keine transzendente Wirklichkeit, er ist nicht materielles Zeichen für einen immateriellen Gehalt. Als >ideal< gilt die antike Plastik, weil es scheint, die Natur selbst habe sie hervorgebracht, bevor (oder im Moment als) der Riß entstand, den der >moderne< Künstler reproduziert, der nichts als >Bilder< zuwege bringt, die von dem, was sie bedeuten, verschieden sind, und Gefahr läuft, beim Versuch, die Schönheit ins Leben zu ziehen, schlüpfrigen Phantasien nachzuhängen. 34
Dem Täuschungsbegriff kommt daher in Heinses Kunstlehre zentrale Bedeutung zu. »Täuschung ist das erste Gesetz der Kunst«, 22 und »[d]ie höchste Kunst, das ist, die diejenigen täuscht und entzückt, die die vollkommne Natur kennen«, 23 heißt es in den Tagebüchern. Im Roman entspricht dem die paradoxe Vorstellung einer >täuschenden Wahrheit< der Kunst (Ard, 65), gegen deren Macht wir »oft mit der sichersten Gewißheit von dem Gegenteil und dem stärksten Vorsatz nicht« ankommen (Ard, 268). Schlimm an der Täuschung ist nur der Moment ihrer Bewußtwerdung. Ardinghellos enthusiastische Beschreibung der Venus Medici endet mit der Klage: Doch was verschwend ich Worte [...]; komm und sieh! und fühle! und traure herzinniglich, daß sie nicht den Mantel von Dir sich umwirft, Dich zu begleiten. (Ard, 330)
Das >Problemaufgelöst< sieht, stellt sich wieder ein, sobald die Begeisterung nachläßt und die Illusion zerbricht: »Alle Kunst«, notiert Heinse, »ist ein Ersatz des Abwesenden«. 24 Das den Roman bewegende (und sich in seiner Gestalt spiegelnde) Paradox zeichnet sich hier ab. Er gehört der Wirklichkeit nicht an, die er imaginiert. Um die Kluft zu überwinden, bedarf es eines Salto mortale. Ardinghello nimmt dazu Anlauf, er erklärt: »[D]er Gesang [ist] der entzückendste, wo man die Musik, und die Poesie die vollkommenste, wo man die Sprache nicht merkt« (Ard, 234). Nicht anders sieht es Heinse, fur den Kunst sich darin vollendet, »daß man sie nicht merkt«, 25 der Kunstwerke als Zeichen betrachtet, die man als solche nicht erkennt, bzw. als Metaphern, die man für das nimmt, was sie ersetzen. Diesem Konzept liegt der rhetorische Grundsatz der dissimulatio artis zugrunde. Er spielt in der ästhetischen Debatte des 18. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle. Der Zusammenhang sei kurz erläutert: Der alte Streit über den Vorrang der Künste gewinnt durch die rationalistische Zeichentheorie, die zwischen >natürlichen< und >willkürlichen< Zeichen unterscheidet, neuen Boden. 26 In Gegensatz zu den willkürlichen Sprachzeichen, die, um bedeutsam zu werden, der >übersetzenden< Tätigkeit des Intel22
23 24
25 26
Zitiert nach Wilhelm Heinse: Sämtliche Werke. Hg. von Carl Schüddekopf, Leipzig 1 9 0 2 - 1 9 2 5 , hier Bd. 8 , 1 , S. 1 3 9 . Wilhelm Heinse: Sämtliche Werke. Hg. von Carl Schüddekopf. Bd. 10, a.a.O., S. 257. Wilhelm Heinse: Sämtliche Werke. Hg. von Carl Schüddekopf. Bd. 8 , 1 , a.a.O., S. 543. Wilhelm Heinse: Sämtliche Werke. Hg. von Carl Schüddekopf. Bd. 10, a.a.O., S. 109. Vgl. Tsvetan Todorov: Ästhetik und Semiotik im 18. Jahrhundert. G. E. Lessing: Laokoon, in: Gunter Gebauer (Hg.): Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 9 - 2 2 ; und Karlheinz Stierle: Das bequeme Verhältnis. Lessings >Laokoon< und die Entdeckung des ästhetischen Mediums, in: Gunter Gebauer (Hg.): Das Laokoon-Projekt, a.a.O., S. 2 3 - 5 8 .
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lekts bedürfen, wirken die »natürlichem Zeichen der bildenden Kunst >unmittelbar< auf die Sinne. Dubos spricht daher 1 7 1 9 der Malerei den ersten Platz unter den Künsten zu. Dagegen richtet sich die Kunstlehre der »Schweizern A u f der Basis der quintilianschen evidentia-Lehre entwickelt Breitinger in der >Critischen Dichtkunst ( 1 7 4 0 ) das Konzept einer >malenden Dichtkunst< und vertritt die These, — daß es möglich sei, die willkürlichen Sprachzeichen durch stilistische Uberformung (durch >Ausschmückung< der Rede) »nachträglich zu motivieren< (sie in >natürliche< zu verwandeln), -
und daß eine entsprechend gestaltete Rede wirkungsmächtiger sei, als es Werke der bildenden Kunst je sein könnten. 2 7
Vermittelt durch Mendelssohn 28 und Lessing, findet das Konzept Eingang in die klassische Ästhetik. In der >Laokoonnatürlichen< Zeichen der bildenden Kunst als Figuren und Formen im Raum und betrachtet das räumliche Nebeneinander als ihren adäquaten Darstellungsbereich. Entsprechend gilt für die Dichtung: Sie besteht aus artikulierten T ö nen in der Zeit und eignet sich daher vor allem für die Darstellung des Nacheinanders von
Gedanken
und Handlungen.
Das Konzept
der
>malenden
Dichtkunst< wird auf der Grundlage dieser Bestimmung folgendermaßen präzisiert: Ein poetisches Gemälde ist nicht notwendig das, was in ein materielles Gemälde zu verwandeln ist; sondern jeder Zug, jede Verbindung mehrerer Züge, durch die uns der Dichter seinen Gegenstand so sinnlich macht, daß wir uns dieses Gegenstandes deutlicher bewußt werden, als seiner Worte, heißt malerisch, heißt ein Gemälde, weil es uns dem Grade der Illusion näher bringt, dessen das materielle Gemälde besonders fähig ist, der sich von dem materiellen Gemälde am ersten und leichtesten abstrahieren lassen. 29 Der Poet will nicht bloß verständlich werden, seine Vorstellungen sollen nicht bloß klar und deutlich sein; [ . . . ] Sondern er will die Ideen, die er in uns erweckte, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke
27
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29
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Vgl. das Kapitel »Rhetorische Evidenz, semiotische Transparenz und die Anfänge der Ästhetik< in: Erich Meuthen, Selbstüberredung, a.a.O., S. 7 9 — 1 1 4 . In Mendelssohns Schrift >Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften< (1757), die Heinse in Rom liest, heißt es: »Das Mittel eine Rede sinnlich zu machen bestehet in der Wahl solcher Ausdrücke, die eine Menge von Merkmalen auf einmal in das Gedächtnis zurück bringen, um uns das Bezeichnete lebhafter empfinden zu lassen, als das Zeichen. Hierdurch wird unsere Erkenntnis anschauend. Die Gegenstände werden unseren Sinnen unmittelbar vorgestellt, und die unteren Seelenkräfte werden getäuscht, indem sie öfters der Zeichen vergessen, und der Sache selbst ansichtig zu werden glauben.« (Mendelssohn, Moses: Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften, in ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. von Otto F. Best, Darmstadt 1974, S. 1 7 3 - 1 9 7 , hier S. 183.) Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in ders: Werke. Hg. von G. Göpfert. Bd. 6, München 1974, S. 7 - 1 8 7 , hier S. 100.
ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte bewußt zu sein aufhören.30 Die rhetorische Argumentationsbasis ist deutlich markiert. Lessing zitiert den aristotelischen έ ν ά ρ γ ε ι α - B e g r i f f , aus dem sich die lateinische evidentia-Lehre ableitet. 3 1 Der geforderte Täuschungseffekt ist Produkt rhetorischer Raffinesse. E r wird hervorgerufen durch meisterhafte Handhabung des tropischen und figurativen Sprachpotentials. N i c h t zufällig spricht Lessing in diesem Z u s a m menhang von der Metapher und definiert sie als motiviertes Zeichen, das m i t H i l f e von nicht-motivierten Zeichen gebildet wird. Das Z i e l , das er verfolgt, ist dasselbe, das Quintilians >evidentiaoberen< und >unteren< Seelenkräfte, sich verwirren und der sprachliche Wirkungszusammenhang vergessen wird: in dem man glaubt, das Gesagte plastisch vor A u g e n zu haben. Diese Überlegungen bilden den Hintergrund des Streitgesprächs, mit dem der erste Band des >Ardinghello< endet. Heinses Kunstlehre und das in ihrem M i t telpunkt stehende Täuschungskonzept werden hier entwickelt. M i t der These, daß derjenigen K u n s t der Vorrang gebühre, die uns »ein Ganzes täuschend am geschwindesten in die Seele b r i n g t « , 3 2 bestreitet Dimitri den von Ardinghello behaupteten ästhetischen Führungsanspruch der Malerei. Lessings Einfluß ist unverkennbar: Ein Dichter muß dem Maler immer in Schilderung körperlicher Gegenstände unterliegen: und geradeso geht's dem Maler im Gegenteil mit Handlungen. Nichtsdestoweniger ragt doch die Poesie mit ihren willkürlichen Zeichen über alle ihre Schwestern hervor. (Ard, 1 7 1 ) In der Darstellung des Lebens, das wir als zeitliches Geschehen wahrnehmen, ist die Dichtung den anderen Künsten überlegen. Darin aber sieht Dimitri die wichtigste A u f g a b e der K u n s t . I m Lebendigen zeigt sich ihm das e n e r g e t i s c h e s die Körperwelt hervorbringende und bewegende >Wesen< der Natur:
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Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder Uber die Grenzen der Malerei und Poesie, a.a.O., S. 1 1 0 . Quintiiianus, Marcus Fabius: Institutionis Oratoriae Libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übersetzt von Helmuth Rahn, Darmstadt 1975 im folgenden zitiert mit der Sigle >Inst.or.< und nachfolgender Buch- Kapitel- und Abschnittszahl - hier Inst.or. VIII, 3, 6 1 . Das hier verwendete Ganzheitskonzept ist topisch bestimmt; es leitet sich her aus der Horazschen Aussage, daß ein »Ganzes [- eine vollkommene Gestalt] zu schaffen [...] das Ideal des Werkes« sei. (Quintus Horatius Flaccus: Ars poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch und deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hg. von Eckart Schäfer, Stuttgart 1972, V. 34f.)
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[ . . . ] die Schönheit nackender Gestalt ist der T r i u m p h bildender K u n s t ; viel fur A u g e und den ganzen körperlichen Menschen, w e n i g fur den innern. Sie allein ergreift das Unsterbliche nicht; dazu gehört etwas, was selbst gleichwie unmittelbar von der Seele k ö m m t und ihrer regenden unbegreiflichen Kraft: Leben, B e w e g u n g . U n d dies haben unter allen K ü n s t e n allein M u s i k und Poesie. (Ard, 1 7 3 )
Die plastischen Künste verfehlen das Unsterbliche der Natur, gerade weil sie es zu fixieren, ihm Dauer zu verleihen suchen. Dieses Unsterbliche aber ist nicht räumlich, sondern zeitlich verfaßt; es zeigt sich in der Vergeblichkeit aller Stabilisierungsversuche, in der Permanenz des Wechsels, dem alle Gestalt unterliegt. Dem entspricht die Darstellungsform des »gleichwie«. Die Vergleichspartikel markiert die Wirklichkeit des metaphorischen Tauschs, der bildlichen Rede, die nicht auf »Definition^ Stabilisierung des Sinnes zielt, sondern Sinn dadurch erzeugt, daß sie ihn verschiebt. — Ardinghello hält dagegen: W e n n wahr ist, was ihr selbst behauptet, daß, wer ein Ganzes täuschend am geschwindesten in die Seele bringt, den V o r z u g erhalte: so steht w o h l bildende K u n s t aller andern voran; die Seele g e n i e ß t vor ihren W e r k e n , der mühseligen Zeitlichkeit entrückt. Ihre Zeichen, wodurch sie darstellt, scheinen die Sache selbst zu sein, so leicht verschwinden sie; sie sind die natürlichsten und sichersten und g e l t e n überall einerlei ohne Mißverstand. Ich habe hier volle G e w i ß h e i t , da ich bei Poesie immer träumen m u ß und nach W i r k l i c h k e i t hasche. (Ard, I79Í.)
Dieses Argument läßt Dimitri jedoch nicht gelten. »Die Malerei ist eine beständige Lüge und ihre Erhobenheit und Tiefe erkünstelt. Wir lassen uns täuschen, weil völlige Wahrheit und Wirklichkeit wie bei Bildhauerei unmöglich ist . . . « (Ard, 174), insistiert er und gibt zu bedenken: D i e ganze bildende K u n s t ist ein vages unbestimmtes Wesen, das seinen H a u p t w e r t eigentlich von der Schönheit der Formen und Umrisse enthält; und dann außerwesentlich ist sie eine große Zierde der Poesie und Geschichte, die aber ganz natürlich ohne sie bestehen können. Poesie ist das innre Leben selbst: B i l d von Farbe oder Stein bloß das Zeichen; wer jenes nicht schon in sich hat, kann bei diesem w e n i g fühlen und erkennen. [ . . . ] K u r z : ich habe von d e m Menschen, außer der wirklichen V e r m i s c h u n g , hauptsächlich G e n u ß durch seine Reden und H a n d l u n g e n , durch W o r t e und B e w e g u n g e n ; beides kann m i r die bildende K u n s t nicht geben. (Ard, i 8 2 f . )
Durch das Hinzukommen der dritten Dimension in der plastischen Kunst ist das Problem keinesfalls gelöst. Ardinghellos verkehrtes Pygmalion-Erlebnis in Anschauung der Venus Medici -
die Einsicht in die Unauflöslichkeit des
Scheincharakters der Kunst — verdeutlicht dies. Das Versprechen von Glückseligkeit, das die Kunst bedeutet, ist wertlos, wenn es sich nur im Moment ihrer Anschauung erfüllt, sich im realen Leben aber nicht einlösen läßt. Zwar ist nach Dimitris Theorie der Kongruenz von sprachlicher und zeitlicher Wirklichkeit eine weitere Annäherung an den Idealzustand, in dem Kunst und Natur übereinkommen, im poetischen und musikalischen Medium möglich, doch verleiht das höhere Maß an Perfektion der Täuschung keine Dauer. 38
Es treibt diese nicht über sich hinaus. Im Gegenteil, die ästhetische Differenz tritt in der komprimierten Form deutlicher noch in Erscheinung. Ardinghello verabschiedet aus diesem Grunde die Kunst und sucht sein Heil anderwärts. Doch auf der Fiktionsebene ist der Täuschung nicht zu entkommen. Um zu erkennen, wo sie endet, bedarf es eines Standpunkts außerhalb des Illusionsraums. Der Leser ist berufen, ihn einzunehmen: Der Moment, an dem Ardinghello der Kunst entsagt, ist >Wendepunkt< auch in dem Sinne, daß der Roman hier den Blick auf sich selbst, die eigene Kunstwirklichkeit, richtet und dazu auffordert, den Bann der Fiktion zu brechen und diese als Funktion eines Erzählgeschehens zu begreifen, das in der >realen< Welt verortet ist. Damit aber beginnt die Verwirrung erst: Die gegensätzlichen Verhaltensweisen, mit denen Autor und Romanheld, reale Person und fiktive Figur, auf die Einsicht in den Surrogatcharakter der Kunst reagieren, verdeutlichen das Dilemma. Während Heinse sich in eine Scheinwelt zurückzieht, in Bibliotheken verschwindet und zu schreiben beginnt, setzt Ardinghello alles daran, >wirklich< zu werden, Anteil zu gewinnen an dem, was wir fur das >wahre Leben< halten. Als Romanfigur gibt es für ihn jedoch kein Jenseits der Kunst. Die »glückseligen Inselnreine< (»interesselose*) Verstellung. Ardinghello taugt nicht für das reale Leben. Nicht zufällig endet er als Seeräuber. Die Überlegung, daß »die Malerei eine beständige Lüge, und alle ihre Erhobenheit und Tiefe erkünstelt« sei, spitzt sich zu in der Erkenntnis: Alle Kunst soll bloß Zeichen seyn; sobald sie die Wirklichkeit selbst seyn will, ist sie gräßlich und wird wirklich todt, wie auf einmal ein Mensch am Schlag gestorben, und ohne Bewegung. Ζ. B. eine natürlich colorierte Statue. 33
Betrachtet man Ardinghello als reale Person, erstarrt er zur Kunstfigur. >Leben< hat er nur als Zeichen: als Repräsentant der Wirklichkeit, der er angehört, der Wirklichkeit einer Erzählung, die — in Beantwortung der Frage nach der Funktion der Kunst - sich selbst, ihre semiotische Verfaßtheit, zur Schau stellt und so auf die Fragwürdigkeit der Bewußtseinsbilder hinweist, die uns die Wirklichkeit bedeuten. Das in den Kunstgesprächen theoretisch Erörterte ge-
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Wilhelm Heinse: Sämtliche Werke. Hg. von Carl Schüddekopf. Bd. 8 , 1 , a.a.O., S. 522.
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winnt in den Handlungsteilen >Lebenuneigentliche Aussage< - und wir müssen befurchten, dem metaphorischen Effekt aufzusitzen, dem wir nachspüren. Der Roman distanziert sich daher von der vitalistischen Weltanschauung seines Helden. »Glaube nicht«, sagt Fiordimona, kurz nachdem sie einem bacchantischen Leben das Wort geredet hat, »daß mein Herz aus mir sprach; es waren nur Abstraktionen kalter Vernunft und leichte Flüge mutwilliger Phantasie, dich zu necken und zu warnen« (Ard, 226). Ein ironisches Prinzip kommt zum Tragen, das den Sinn der erzählten Geschichte untergräbt. Nicht anders steht es um die diskursiven Partien. Dimitri stellt die Gültigkeit seiner Kunsttheorie, nachdem er sie ausführlich dargestellt hat, explizit in Frage: Man behauptet in der Hitze des Streits oft Dinge, die man selbst für falsch oder übertrieben hält. Zuhörer, die Verstand haben, nehmen von selbst das Wahre heraus; und die keine Unterscheidungskraft besitzen, müssen überall Schwärmern [...] folgen. (Ard, 190)
Entsprechend ist der Roman organisiert. Die erzählenden und diskursiven Partien behaupten und dementieren sich wechselseitig - und nirgends findet sich Halt. Die Täuschung ist im Reich des willkürlichen Zeichens, das sich allen Fixierungsversuchen widersetzt, allgegenwärtig. Nicht zufällig wird Benedikt, der Erzähler des Romans, in Ardinghellos Inselstaat zum Hüter eines Tempels bestellt, der als Labyrinth bezeichnet wird und einem >unbekannten Gotte< geweiht ist.
Nachtrag Fällt die Maske, wird die Verkleidung abgestreift, zeigt sich in Heinses Roman kein >wahres GesichtDauer< zu künden, die sich im >Wechsel< erfüllt, einem >anderen ZustandBildesArdinghello< daher nicht nur Bild der Lust, sondern auch des Grauens vor einem Nicht- bzw. Nicht-mehr-sein, einer Leere, die das menschliche Vorstellungsvermögen sprengt. Von Mark-Anton, dem Bräutigam Cäciliens, den Ardinghello ermordet hat, heißt es: Der Tote ward unten in ein Zimmer gebracht; man zog die Kleider weg und besichtigte die Wunde: sie ging nett ins Herz, und da war an keine Hülfe mehr zu denken. (Ard, 78)
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Exkurs Rhetorische Klugheitslehre: Der Mensch als Schauspieler
[ . . . ] e quello che ha saputo meglio usare la golpe, è meglio capitato. Ma è necessario questa natura saperla bene colorire, ed essere gran simulatore e dissimulatore: e sono tanto semplici gli uomini, e tanto obediscano alle necessità presenti, che colui che inganna, troverrà sempre chi si lascerà ingannare. (N.
Machiavelli1)
Mon ami, il y a trois modèles, l'homme de la nature, l'homme du poète et l'homme de l'acteur. Celui de la nature est moins grand que celui du poète, et celui-ci mois grand encore que celui du grand comédien, le plus exagéré de tous. (D. DiderotV f . . . ] alles Verstellung. Zuerst habe ich geglaubt, nur die komplizierteren Menschen sind nichts als Verstellung, aber die einfachsten sind auch nichts als Verstellung. Und die Verstellung der einfachsten Menschen ist uns dann immer wieder die fürchterlichste Verdunkelung unseres Kopfes. (Th.
Bernhard3J
I m vorhergehenden K a p i t e l w u r d e der Verstellungsbegriff w i e selbstverständl i c h m i t R h e t o r i k in V e r b i n d u n g g e b r a c h t . D e r Z u s a m m e n h a n g hat f u r das Verständnis der Skepsis, die der K ü n s t l e r r o m a n seinem Sujet, der K u n s t , (und d a m i t sich selbst) e n t g e g e n b r i n g t , e l e m e n t a r e B e d e u t u n g . In r h e t o r i s c h e r P e r s p e k t i v e e r s c h e i n t K u n s t n i c h t als N a c h a h m u n g einer als e i n f ä l t i g v o r g e s t e l l t e n u n d d e s h a l b als >wahr< g e l t e n d e n N a t u r , s o n d e r n als S i g n u m ihres u n w i e d e r b r i n g l i c h e n V e r l u s t e s u n d S c h e i t e r n s aller V e r s u c h e , d i e v a k a n t e P o s i t i o n n e u z u b e s e t z e n . U m so p r o v o z i e r e n d e r w i r k t d e r V e r s t e l l u n g s b e g r i f F ; er s p i t z t diese Vorstellung unter subjektivistischem A s p e k t zu.
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Niccolò Machiavelli: II Principe. Der Fürst. Übersetzt und hg. von Phillipp Rippel, Stuttgart 1986, S. 136. Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien, in ders.: Œuvres. Texte établi et annoté par André Billy, Paris 1952 (Édition Gallimard), S. 1054. Thomas Bernhard: Watten, in ders.: Die Erzählungen, Frankfiirt/Μ 1979, S. 2 5 2 320, hier S. 303.
Der begriffliche Zusammenhang ist durch >höchste< dichterische Autorität verbürgt. Das Verdikt, mit dem Goethe - im Chor mit Kant und Hegel — den Stab über die Rhetorik bricht und so entscheidend zur Rhetorikverachtung im 19. und frühen 20.Jahrhundert beiträgt, lautet: »Die Redekunst . . . ist Verstellung vom Anfang bis zu Ende.« 4 Der Verstellungsbegriff ist heute negativ konnotiert. Das war nicht immer so. Die beiden Grundoperationen der Verstellung, Simulation (die Vortäuschung von etwas nicht Bestehendem) und Dissimulation (die Verbergung von Vorhandenem), gelten bis weit ins 18. Jahrhundert hinein als probate Mittel der gefälligen Selbstdarstellung und notwendigen Selbstbehauptung. Voraussetzung des Verstellungsbegriffs ist die Unterscheidung von verstellten und unverstellten, natürlichen Zuständen, letztlich von wahrem Sein und falschem Schein. Die Vorstellung einer ursprünglichen Natur- bzw. Eigentlichkeitsform impliziert die ihres Gegenteils: die eines von diesem Ursprung abgefallenen, verdorbenen Kulturzustands. Das Wahrheitskonzept impliziert die Möglichkeit der Lüge. Die strukturelle Parallelität mit dem Begriff der Metapher, der die Vorstellung einer eigentlichen Bedeutung voraussetzt, von der sich die >übertragene< abhebt, ist augenfällig. Sie exponiert die sprachliche Dimension des Problems. Dem entspricht, daß das Verstellungskonzept, wo immer es auch auftaucht — in der Analyse gesellschaftlicher Interaktion ebenso wie in psychologischen und physiognomischen Studien — von der Sprache her gedacht und am Modell der Lüge entwickelt wird. Das gilt für das gesamte Differenzsystem, innerhalb dessen sich die Verstellungstheorie entfaltet und mit dem man sie bekämpft: die Oppositionsfelder Mensch/Schauspieler, Natur/Kunst (ars/natura), unmittelbarer Ausdruck/topische Erfindung, Innerlichkeit/Äußerlichkeit. 5 Die durch das Christentum und die idealistische Philosophie geprägten subjektivistischen Denkmuster erlauben es kaum, in Verstellung etwas anderes als ein bewußt kontrolliertes Verhalten zu sehen. Aber schon im Bildungsroman kündigt sich eine veränderte Perspektive an: Dargestellt sind hier Prozesse der Selbstfindung (Ich-Konstitution) durch Einübung (Erkenntnis und Internalisierung) des gesellschaftlichen Rollenspiels, durch >Entsagung< und Anerkennung 4
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Johann Wolfgang Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans, in ders: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. Bd. 2, München ( 1 1 . Aufl.) 1978, S. 1 2 6 - 2 7 0 , hier S. 186. In Heinses Roman korrespondieren dem die Motivkomplexe: Nacktheit/Bekleidung und Gerippe/Oberfläche. Diese werden dort jedoch in der - die Tradition auf den Kopf stellenden - Deutung der >nackten Oberflächeäußeren Scheinst als Ort der Seele (das >Innere< ist nur >Gerippeeigentlichen< Ausdrucks als >verblaßte Metapher< entsprechende) Gedanke, daß der Schein natürlicher Einfalt eine artistische Meisterleistung darstellt: daß es sich um eine äußerst raffinierte Kunstform handelt, die als solche nicht mehr wahrgenommen wird. Die Menge der im 17. Jahrhundert entstehenden Handbücher zur Klugheitslehre ist kaum überschaubar. Ursula Geitner listet sie in ihrer Arbeit >Die Sprache der Verstellungs 6 auf die wir uns hier stützen, auf und beschreibt die historischen Zusammenhänge. A m bekanntesten sind Castigliones >11 Libro del Cortegiano< (1528), Eustache de Refuges »Traité de la Cour< (1616), dessen kommentierte deutsche Übersetzung, Georg Philipp Harsdöffers »Kluger Hofmann< (1655) und Balthasar Gracians »Oráculo manual y Arte de prudentia< (1647). Als Leitbild praktischen Handelns erscheint in dieser Literatur der »Politicus11 Principe< (1513), auf deren Bedeutung fur die Genese der Künstlerromantradition bereits hingewiesen wurde. Machiavelli argumentiert, daß der Herrscher sich im Gegensatz zum Privatmann den Luxus eines persönlichen Gewissens nicht leisten könne, daß er, um sich bzw. den Staat, den er verkörpert, zu behaupten, »nicht all das befolgen [könne], dessentwegen die Menschen fur gut gehalten werden«, sondern oft gezwungen sei, »gegen die Treue, die Barmherzigkeit, die Menschlichkeit und die Religion zu verstoßen«. 8 Ein Privatmann könne sich vornehmen, um seines Seelenheiles willen wahrhaftig zu sein; der Herrscher aber dürfe dies nicht, denn nicht nur er selbst, sondern das ganze Volk müsse für die Folgen seines Handelns aufkommen.
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Ursula Geitner: Sprache der Verstellung, a.a.O., S. 12. Niccolò Machiavelli: II Principe, a.a.O., S. 139.
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Dem entspricht das Bild des Fürsten, das Machiavelli zeichnet. Im berüchtigten 18. Kapitel wird von diesem nicht nur verlangt, »ein Fuchs [zu] sein, um Schlingen [ . . . ] erkennen, und ein Löwe, um die Wölfe [ . . . ] schrecken« zu können. Es heißt auch, er müsse diese Eigenschaften »durch geschicktes Stellen und Verstellen wohl zu verdecken wissen«. 9 Die Sorge um das allgemeine Wohl verpflichtet den Herrscher wider die >umanità< zu handeln, verschlagen und grausam zu sein, und dabei so vorzugehen, daß es unbemerkt bleibt. Um seine Position nicht zu gefährden, müsse er als redlicher >vir bonus< und mildtätiger Christ erscheinen. Das Volk dürfe den Glauben an die Moral, die es zu Treue und Gehorsam dem Herrscher gegenüber verpflichtet, nicht verlieren. Verstellungskunst kommt so als wichtiges Instrument der Staatslenkung, ja als politische Zentraltugend, in den Blick. Es gilt der rhetorische Grundsatz, daß >gestellte< Wahrheiten, solange die Verstellung unentdeckt bleibt, sich in der Wirkung von echten nicht unterscheiden und daß es im praktischen Leben auf Wirkung allein ankomme. Was der Fürst zur Sicherung seiner Herrschaft tut, unternimmt der Höfling zur Erhaltung seiner Stellung am Hof, die ständig bedroht ist. Der Hof gilt in der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts als Hort der Intrige, wo man mit Offenheit und Aufrichtigkeit nicht weit kommt. Das ist nur zum Teil Standeskritik, der Hof ist Modell für die Welt insgesamt. Der Verschlagenheit des Herrschers entspricht im Schwank die Bauernschläue. Nicht umsonst ist das Theater Zentralmotiv der Epoche, Verstellung wird als menschliche Grundfunktion begriffen. Der vollkommene Hofmann, dessen Bild Castiglione entwirft, bewältigt die Aufgaben, die ihm gestellt sind, dadurch, daß er als Künstler agiert. Wichtiger als was er tut, ist die Art, in der er es tut. Die spielerische Leichtigkeit (>sprezzaturazweiten Natur< wird. Doch darf der Vergleich nicht mißverstanden werden: Eine >erste Naturzweiten< voranginge und nachgeahmt werden 9
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Der italienische Originaltext ist dem Kapitel als Motto vorangestellt.
könnte, findet sich nirgends. Der Cortegiano erfindet sich selbst, er ist reine Kunstfigur. So bedeutet er das krasse Gegenteil von Identität und Unmittelbarkeit. Mit dem Kategoriensystem der klassischen Ästhetik, den Dichotomien Schein und Sein, Außen und Innen, Uneigentlich und Eigentlich läßt sich seine Wirklichkeit adäquat nicht erfassen. Der Glanz, den er verbreitet, ist der einer polierten Oberfläche, auf der sich ein Licht bricht, dessen Quelle unausmachbar ist. Da gibt es kein substanzielles >Innentheatrum mundisei personaggiRéflexions ou sentences et maximes morales< (1665). »Nos vertues ne sont, le plus souvent que des vices déguisés«, lautet das Motto der >RéflexionsRéflexions< verdichten. Sie verdeutlicht den rationalistischen Horizont der Argumentation, das tiefe Mißtrauen gegenüber den emotionalen Tiefenschichten der menschlichen Seele und ihrem sinnlichen Wurzelboden. Auf diesem 10
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La Rochefoucauld: Œuvres complètes. Edition établie par L. Martin-Chauffier. Révue et Augmenté par Jean Marchand, Bibliothèque de la Pléiade 2 1 9 6 4 , S. 405 La Rochefoucauld: Œuvres complètes, a.a.O., S. 4 1 7 .
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Wege ist dem Dilemma aber nicht beizukommen. Dazu bedarf es eines positiv gewendeten Herzensbegriffs, der den rationalistischen Reflexionsansatz sprengt: der das Herz in platonisch-christlicher Tradition als Ort vorstellt, wo Wahrheit unmittelbar einleuchtet. Im 18. Jahrhundert ist der Kampf gegen die Klugheitslehre Teil der allgemeinen Adelskritik. Sie gilt als Produkt einer verkommenen höfischen Kultur, auf deren Ablösung das sich als Tugendapostel aufspielende Bürgertum drängt. Propagiert wird das bürgerliche Weltbild vor allem durch die >Moralischen Wochenschriften. Bilder, die die Welt als Theater, als Karneval oder Maskenball vorstellen, verdeutlichen hier den >gefallenen< Zustand der Menschheit: Das Modell einer Welt, welche vom Hof abstrahiert und mit den Metaphern potentiellen Krieges und ernsthaft betriebenen Spiels beschrieben wurde, wird nun abgelöst von einer Semantik, die Gesellschaft vorrangig als Gemeinschaft der Tugendhaften konzipiert. Nicht um das Wohl des einzelnen [ . . . ] soll es fortan gehen, vielmehr sind das gemeine Wohl und die Glückseligkeit aller die anzustrebenden, zu realisierenden oder bereits realisierten Werte einer neuen Gemeinschaft. Christliche Imperative, insbesondere der der Nächstenliebe, und Aufrichtigkeitsgebote sind eingelassen in idyllisierend-szenenhafte Beschreibungen menschlichen Umgangs; sprachliche Genremalereien treten an die Stelle der in pragmatischem Stil gehaltenen Anweisungen der Privatpolitik. 12
Zum positiven Gegenbild der Verstellungskultur avanciert die Vorstellung der Herzenskommunikation. Es ist ein paradoxes, auf die augustinische Auffassung des Gebets basierendes Konzept, das ein Gespräch vorstellt, das keiner Zeichen bedarf, das sich in einer Sprache vollzieht, welche ihren Gegenstand >unmittelbarEssay sur l'origine des languesétat naturels verliert sich die natürliche Einfalt des >HerzensSturm und Drang< sind Klugheitslehre und Rhetorik Gegenstand heftigster Attacken. Allerdings läßt die Form, in der das Thema in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diskutiert wird, die Zusammenhänge kaum mehr
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Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung, a.a.O., S. 36
erkennen. Gesellschaftlich geächtet, wird Verstellungskunst nun an dem Ort aufgesucht, wo sie institutionell verankert ist: im Theater. Ein zentrales Thema der ästhetischen Debatte des 18. Jahrhunderts ist die Frage nach dem sittlichen Wert der Schauspielkunst - danach, ob die Schaubühne zur moralischen Bildung des Menschen beitragen könne oder diese hintertreibe. In Frankreich wird das Problem früher behandelt als im deutschen Sprachraum: Rousseaus >Lettre à D'Alembert sur les spectacles< (1758) und Diderots >Paradoxe sur le comédien< (1770/1830) markieren die konträren Standpunkte. Allerdings erhält die Debatte in Deutschland zusätzlichen Nährboden durch die Nationaltheaterbewegung, die Stoff abgibt ftir eine ganze Reihe literarischer Produktionen, insbesondere für zwei Erzählwerke, die für die Genese des Künstlerromans elementare Bedeutung haben, Karl Philipp Moritz' >Anton Reiser< und Goethes >Wilhelm Meisters theatralische Sendung< und >LehrjahreDu sollst aufrichtig sein!< sieht sich durch die glänzende Darstellung, die dem Prinzip >Du mußt dich gut verstellen können! < folgt, untergraben. Und je glaubwürdiger die Schauspieler agieren, je mehr in Vergessenheit gerät, daß sie spielen, desto stärker wiegt das Argument. Dem entspricht das Paradox, das Diderot für die Schauspielkunst 13 geltend macht: Dauerhaft zu überzeugen vermag ein Darsteller nicht durch sensibilités durch Einfühlung in die Figur, die er spielt, sondern allein durch sorgfältiges Studium von Gestik, Mimik und Text. Diderot verlangt den distanzierten, sich nicht in seiner Rolle verlierenden Schauspieler (le comédien de sang-froid/ l'acteur à profond jugement), der die menschlichen Verhaltensweisen studiert hat und begreift, »que les symptômes extérieurs qui désingnent le plus fortement la sensibilité de l'âme ne sont pas autant dans la nature que les symptô13
In >Le Neveu de Rameau< macht Diderot dieses Paradox auch fur die Musik geltend, im Zentrum dieser Schrift, die Goethe ins Deutsche übersetzt hat, steht die mit Skepsis betrachtete Forderung eines >echten< bzw. >wahren< Gefiihlsausdrucks. (Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Rameaus Neffe. Ein Dialog von Denis Diderot übersetzt von Goethe. Zweisprachige Ausgabe. Mit Zeichnungen von Antoine Watteau und einem Nachwort von Hotst Günther, Frankfurt/M 1984.)
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mes extérieurs de l'hypocrisie«. 14 Die Tränen des homme sensible (und schlechten Schauspielers) fließen aus dem Herzen (coeur), die des guten Schauspielers aber aus dem Kopf (cerveau).15 Wie Garrick muß er fähig sein, im Handumdrehen völlig andere Gesichter zu zeigen, vom Ausdruck der Freude oder Gelassenheit in den des Schmerzes, der Angst oder des Entsetzens wechseln. Er muß sich auf der Bühne > verdoppeln < (dédoubler) - d.h., den Charakter der Bühnenfigur annehmen, und darf doch nicht vergessen, daß er spielt. Dieser Zwiespalt, in dem sich das Wesen der Kunst selbst spiegelt, ist Quell seiner Kraft. Entsprechend argumentiert der >premier interlocuteurs dem Diderot seine Thesen in den Mund legt: [ . . . ] vous me parlez d'une chose réelle, et moi, je vous parle d'une imitation; vous me parlez d'un instant fugitif de la nature, et moi je vous parle d'un ouvrage de l'art, projeté, suivi, qui a ses progrès et sa durée." 6
Im Schauspieler enthüllt sich die >wahre< menschliche Natur. iHomme sensible< ist der Mensch nur im Moment des Schreis, mit dem er spontan auf Schmerz oder Schrecken reagiert; sobald er diesen Schrei moderiert oder forciert, ist er bereits >comédien qui joue< (S. 1026). Um so schockierender wirkt die Vorstellung der inneren Leere, der Charakterlosigkeit< des großen Schauspielers, in deren Beschreibung die Untersuchung gipfelt. Es heißt: Un grand comédien n'est ni un piano-forte, ni une harpe, ni un clavecin, ni un violon, ni un violoncelle; il n'a point d'accord qui lui soit propre; mais il prend l'accord et le ton qui conviénnent à sa partie, et il sait se prêter à toutes.' 7
Und deutlicher noch: On a dit que les comédiens n'avaient aucun caractère, parce qu'en les jouant tous ils perdaient celui que la nature leur avait donné [ ]. J e crois qu'on a pris la cause pour l'effet, et qu'ils ne sont propres à les jouer tous que parce qu'ils n'en ont point. 1 8
Dem entsprechen die merkwürdige Vorstellung des sich über den >homme de la nature< und >homme de poete< erhebenden Schauspielers als Seele eines >grand mannequin d'osier< (deren subversive Kraft später auch Kleists Aufsatz >Über das Marionettentheater« stimuliert) sowie der Widerruf der traditionellen KunstaufFassung als Naturnachahmung, der sich verdichtet in der These, Kunst entstehe in einem langwierigen Prozeß der Korrektur einer ersten fehlerhaften Modellvorstellung, 19 und die ihr korrespondierende Aussage, sie setze sich
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Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien, in ders.: Œuvres. Texte établi et annoté par André Billy, a.a.O., S. 1 0 0 3 - 1 0 5 8 , hier S. 1 0 5 3 . Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien, a.a.O., S. i o n . Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien, a.a.O., S. 1 0 1 5 . Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien, a.a.O., S. i034f. Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien, a.a.O., S. 1 0 3 7 . Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien, a.a.O., S. 1029.
selbst die Grenzen, durch die sie Form gewinnt: die Grenzen des »bon sens, qui ne veut pas qu'un talent nuise à un autre talent«. 20 Rousseau sieht die Sache kaum anders, doch vertritt er die moralistische Position. Entsprechend negativ fallt das Urteil aus. Im Gegensatz zu Diderot, der die Widersprüche, in die die Kunst das Denken verstrickt, als intellektuelle Herausforderung begreift und der Schauspielerexistenz besondere Bedeutung zuspricht, ist für ihn der Verstellungskünstler Sinnbild kultureller Verderbnis, des Elends des >homme civilisés der alle Bande mit der Natur gekappt hat. Im >Lettre à d'Alembert< argumentiert er, auch der Redner zahle fur den Erfolg mit seiner Person, doch wenigstens rede er im eigenen Namen und verfolge eigene Interessen (»il [= l'orateur] ne représente que lui-même, il ne fait que son propre rôle, ne parle qu'en son propre nom, ne dit ou ne doit dire que ce qu'il pense«). Der Schauspieler könne nicht einmal dies für sich in Anspruch nehmen, er verneine sich selbst und gerate so zum >être chimériques der sich mit der Rolle, die er spielt, auslöscht (»qui s'anéantit, pour ainsi dire, s'annule avec son héros«) und dabei noch verführerisch wirkt. Ihm wird vorgeworfen, »[...] de cultiver pour tout métier le talent de tromper les hommes, et de s'exercer à des habitudes, qui ne pouvant être innocentes qu'au Théâtre, ne servent par-tout ailleurs qu'à mal faire.« 21 In der >Nouvelle Héloïse< veranschaulichen die Briefe, in denen Saint-Preux, Julies Geliebter, die Pariser Gesellschaft beschreibt, diese Auffassung. Zugleich aber verdichtet sich hier die Vorstellung einer destruktiven Potenz des unverstellten Worts, mit der sich die Argumentation selbst hintertreibt. Rousseaus Helden opponieren gegen die gesellschaftliche Konvention, die ihre Liebe verbietet. Es ist ein Akt der Selbstbehauptung. Doch müssen sie erfahren, daß diese Liebe nur im Raum der Verstellung gedeiht, daß es um sie geschehen ist, sobald sie sich zu ihr bekennen, und ihnen dort, wo sie dem Wahrheitsgebot unterliegen, die Luft zum Atmen fehlt. Saint Preux schreibt: En un mot, bien que les oeuvres des hommes ne ressemblent guere à leurs discours je vois qu'on ne les peint que par leurs discours sans égard à leurs œuvres; je vois aussi que dans une grande ville la société paroit plus douce, plus facile, plus sûre même que parmi des gens moins étudiés; mais les hommes y sont-ils en effet plus humains, plus modérés, plus justes? J e n'en sais rien. Ce ne sont encore là que des apparences, et sous ces dehors si ouverts et si agréables les cœurs sont peut-être plus cachés, plus enfoncés en dedans que les nôtres.22 20
Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien, a.a.O., S. 1 0 5 5 . Jean-Jacques Rousseau: Lettre à M. d'Alembert sur les Spectacles. Edition critique par M. Fuchs, Lille, Genève 1948, S. io7f. " Jean-Jacques Rousseau: Julie, ou La nouvelle Héloïse. Lettres des deux amans, habitans d'une petite ville au pied des Alpes, in ders.: Œuvres complètes II. Edition publiée sous la direction de de Bernard Gagnbin et Marcel Raymond, Paris 1964 (Édition Gallimard), S. 2 54f. 21
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Und im Lichte des Theaters besehen: C'est pour eux [- die hier beschriebenen Menschen] uniquement que sont faits les spectacles. Ils y montrent à la fois comme représentés au milieu du théâtre et comme représentants aux deux côtés; ils sont personnages sur la scène et commédiens sur les bancs. C'est ainsi que la Sphère du monde et des auteurs se rétrécit; c'est ainsi que la scène moderne ne quite plus son ennuyeuse dignité. 23 Rousseaus Werk ist Ausdruck der Empörung angesichts eines sich im Moment des Schwindens der das Ich absichernden religiösen Dimension aufdrängenden Verdachts: des Gedankens nämlich, daß es dieses Ich >an sich< gar nicht gibt, sondern daß es sich >erfindetKünstler< — einem mit unverzeihlicher Gutmiithigkeit bisher behandelten Begriff — beikommen wird. Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung als Macht herausbrechend, den sogenannten >Charakter< bei Seite schiebend, überfluthend, mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein; ein Überschuss von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art [...]. Ein solcher Instinkt wird sich am leichtesten bei Familien des niederen Volkes ausgebildet haben, die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr Leben durchsetzen mussten, welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich, den Mantel nach jedem Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt: bis zum Schluss dieses ganze von Geschlecht zu Geschlecht aufgespeicherte Vermögen herrisch, unvernünftig, unbändig wird, als Instinkt andre Instinkte kommandiren lernt und den Schauspieler, den >Künstler< erzeugt [...]. 2 4
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Jean-Jacques Rousseau: Julie, ou La nouvelle Héloïse, a.a.O., S. 259. Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Fünfte Abteilung. Bd. 2, Berlin, New York 1 9 7 3 , S. 290.
II. Der Wahnsinn der Schrift. Johann Wolfgang von Goethe: >Die Leiden des jungen Werther< und Karl Philipp Moritz: >Anton Reiser
Ardinghello< besagt, ein Spiel mit dem Feuer. Thomas Manns Helden erkennen dies bekanntlich zu spät. Es sind Infizierte, Becircte, die der Cholera und Syphilis zum Opfer fallen -
und vom Teufel
geholt werden. Im >Doktor Faustus< verbindet sich damit eine beklemmende historische Perspektive: Deutschland bietet zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Schauspiel einer fatalen >Künstlerpolitik< (Nietzsche) mit Operettenfiguren in den Hauptrollen oder frustrierten Malergesellen, die die Akademie nicht aufnimmt.
I. Ich kann überhaupt nicht begreifen [...], wie man hat glauben können, daß Gott durch Bücher und Geschichten zu uns spreche. Wem die Welt nicht unmittelbar eröffnet, was sie fur ein Verhältnis zu ihm hat, wem sein Herz nicht sagt, was et sich und andern schuldig ist, der wird es wohl schwerlich aus Büchern erfahren, die eigentlich nur geschickt sind, unsern Irrtümern Namen zu geben. (J. W. Goethe*) Goethe sieht das Unheil kommen. Schillers Konzept der >ästhetischen Erziehung« ist ihm von Anfang an suspekt. Schon 1 8 0 5 äußert er grundsätzliche Bedenken und warnt vor der sinnzersetzenden und verrohenden Wirkung einer entfesselten Einbildungskraft: Was hilft es, die Sinnlichkeit zu zähmen, den Verstand zu bilden, der Vernunft ihre Herrschaft zu sichern? die Einbildungskraft lauert als der mächtigste Feind, sie hat von Natur einen unwiderstehlichen Trieb zum Absurden, der selbst in gebildeten Menschen mächtig wirkt und gegen alle Kultur die angestammte Rohheit fratzenliebender Wilden mitten in der anständigsten Welt wieder zum Vorschein bringt. 4 >Die Leiden des jungen Werther< ( 1 7 7 4 ) 5 sind eine Fabel auf diese Moral. Der Roman erzählt vom Schicksal eines literaturbegeisterten jungen Mannes, der 5
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Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in ders: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 7, München (9. Aufl.) 1 9 7 7 , S. 460. Johann Wolfgang Goethe: Annalen oder Tag- und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse. (1805), in ders.: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden. Bd. 30, Stuttgart, Berlin o.J., S. 188. Im fortlaufenden Text mit der Sigle >LjW< und anschließender Seitenzahl zitiert nach der überarbeiteten Fassung von 1787 in Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther, in ders: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 6, München 1 9 7 7 , S. 7 - 1 2 4 .
im Streben nach unbedingter Selbstverwirklichung kein Tabu gelten läßt und mit allen Konvention bricht. Der Einfluß der rousseauschen Kulturkritik ist unverkennbar. Doch verbindet sich das Sturm und Drang-Thema mit dem Schwärmermotiv, einem Gemeinplatz abendländischer Dichtung - der Gestalt des >tumben toren< oder hellsichtigen Narren - dem bei der Entstehung des modernen Romans eine wichtige Rolle zukommt. Wie Don Quijote reitet Werther gegen Windmühlen. Die Ideen des >wahren Selbst< und der >reinen NaturArs amatoria< zurückverfolgen lassen. — Dem entspricht die >Urszene< des Romans: Ihr Ort ist das Fenster eines Ballsaals, die Schwelle zwischen Gesellschafts- und Naturraum. Werther und Lotte verlassen die Tanzordnung, den Bereich gesellschaftlicher Dezenz, und werfen einen Blick ins Freie. Nicht aber die Natur selbst stimuliert das Liebesgefühl, sondern der Gedanke an ein Klopstock-Gedicht, die pathetische Beschreibung einer >FrühlingsfeierStrom der Empfindungen, in dem die Liebenden sich finden, als rhetorisches Produkt darstellt. Werther will das Naturgefiihl, von dem die Dichtung kündet, am eigenen Leib erfahren. Wie Ardinghello leugnet er die Differenz von Kunst und Leben. Um so bemerkenswerter ist, daß Goethe seinen unglücklichen Helden mit messianischen Attributen ausstattet, ihn als profanierte Christusgestalt konzipiert. Der >moderne< Mensch wird >genialer< Dichter, um die Lücke, die er im Vertrauen auf die Kraft des Verstandes gerissen hat, zu schließen. Er will das Erlösungswerk, an dem der im Brief vom 24. Dezember (LjW, 6if.) mit keinem Wort erwähnte Gottessohn offenbar gescheitert ist, selbst vollbringen; er will die Heilige Schrift durch eine poetische ersetzen. Dieser Aufgabe aber ist er nicht gewachsen. Er kann dem, was er poetisch imaginiert und gestaltet, kein Leben einhauchen. Das Ideal mutiert beim Versuch, es zu verwirklichen, zum todbringenden Ideologem. In Rousseaus >état naturel< sollte daher nicht mehr gesehen werden, als eine literarische Utopie. Heinses Künstlerroman gestaltet sich entsprechend. Er hält der realen Welt den Traum vom schönen Leben entgegen, und markiert so das ästhetische Spannungsfeld, in dem menschliches Leben sich erfüllt. Goethe aber will mehr: Die Differenz von Poesie und Wirklichkeit, imaginierter und realer 55
Welt erscheint im >Werther< als ein Effekt perspektivischer Verkürzungen, die sich aus ihrer subjektiven Wahrnehmung ergeben. Fiordimona und die glückseligen Inseln< bleiben Werther versagt. Statt dessen scheitert er an einem Mädchen, das seiner kleinbürgerlichen Herkunft nicht entkommt und das Ardinghello keines Blickes gewürdigt hätte. Doch nur vordergründig sind es gesellschaftliche Konventionen, an denen Werther zerbricht, die ihn in die Depression treiben und veranlassen, sich eine Kugel >vor den Kopf< zu schießen. Die Krankheit, der er erliegt, resultiert, wie Robert Jauß sagt, 6 aus einem Gegensatz nicht >zur< Natur, sondern >in< der Natur: Der >Kunstwillekrassen Realismus< des Erzählerberichts, mit dem der Roman schließt (LjW, 92ÎÏ.), und der pathetischen Stillage der (als spontaner Ausdruck eines enthusiastischen Lebens- bzw. Naturgefuhls geltenden) Werther-Briefe. Ihm entspricht auf der Ebene der erzählten Geschichte der Riß, der Werthers Seele spaltet. Die meisten Interpreten sehen den >rousseauschen< Part durch die drastische, sich identifikatorischer Lektüre verweigernde Schilderung des Selbstmords widerrufen.7 Im Lichte der Christusanalogie verliert der Schluß jedoch seine Eindeutigkeit: Folgt man der >Bildlogik< des am Kreuz triumphierenden Christus, stirbt Werther als Märtyrer der Poesie, der mit seinem Tod einsteht für die Wahrheit, von der seine Briefe künden. Zugleich aber erscheinen diese Briefe als Teil eines motivischen Netzwerks, das die disparaten Teile des Romans verbindet. Es besteht aus Bildern des Lesens und Schreibens, der Bücher und Literatur, der Papiere und Akte. Am Ende verknotet es sich in der Vorstellung des Lessing-Dramas, das man neben Werthers Leiche aufgeschlagen findet (LjW, 124). Der Selbstmord erscheint in dieser Perspektive ebenso inszeniert (literarisch inspiriert) wie die vorausgehende Liebesgeschichte. Um so bemerkenswerter ist, daß die Gestalt des >vernünftigen< Albert, des Vertreters der Aufklärungskultur, diesem Bildfeld angehört. Wie Werther nie das Haus verläßt, ohne ein Buch einzustecken, so ist Albert ständig mit »Skripturen beschäftigt« (LjW, 83); an kaum exponierter Stelle heißt es gar, er sei bis »über die Ohren in Akten begraben« (LjW, 53). Nimmt man die Formulierung wörtlich, steht es schlimmer um ihn als um den armen Werther: Albert erscheint als Opfer der Schrift, als lebendiger TotenNouvelle Héloïse und Goethes >Werther< im Horizontwandel zwischen französischer Aufklärung und deutschem Idealismus, in ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/M 1982, S. 585 — 653. Vgl. Anselm Haverkamp: Illusion und Enthropie. Die Struktur der teilnehmenden Lektüre< in den > Leiden WerthersOssian< vorzulesen. Sie weiß um die Folgen, doch betrügt sie sich selbst. Sie macht sich vor, ihre Bitte diene der Vermeidung der verfänglichen Situation, die sie herbeiführt. Im >Ossian< häufen sich stürmische Liebesszenen. Nichts wünschen sich die Liebenden mehr, als zu >erlebenScheinlösungverläßlichen< Albert, dessen >papierene< Wirklichkeit sie verkennt, den sie mit Literatur nicht in Zusammenhang bringt. Werther hingegen weiß, daß man der Schrift nicht entkommt, daß es kein Leben >jenseits< der Kunst gibt. Die reale Welt betrachtet er als verkrustete Poesie, und die Kunst als Mittel, die Starre zu lösen. Z u sich findet der Mensch, so glaubt er, nicht in der Welt selbst, sondern nur am Ort ihrer symbolischen Aufhebung. Daher nimmt er den Tod bewußt auf sich, dem der >unter Buchstaben begrabene< Albert längst anheimgefallen ist. U m so grotesker wirkt die Szene, als es sich bei dem Text, der sie motiviert - was Goethe, als er den Roman schrieb, nicht wußte — um eine Fälschung handelt, um fingierte Originalität. Der >Ossian< entstammt keiner unverdorbenen Vorzeit, ist nicht >wahrer< Naturausdruck, sondern Machwerk eines pfiffigen Schotten, der den ideologischen Schein, dem die Rousseau-Jünger aufsitzen, durchschaut und sich einen Spaß daraus macht, sie vorzufuhren. Z u Beginn des Romans wird Werther als Landschaftsmaler vorgestellt, aber seine Bilder bleiben unvollendet. Literarisch ist er beschlagen, zweifellos zeugen die Briefe, die er schreibt, von dichterischem Talent. Doch auch hier bleibt es bei Stückwerk. Ohne die Bemühungen des Freundes, der die Briefe mit Kommentaren versieht und erzählt, wie die Geschichte ausgeht, käme der Roman nicht zustande. Auch zum Dichter reicht es bei Werther nicht. Man mag daher bezweifeln, daß wir es mit einem Künstlerroman zu tun haben. Doch handelt das Werk von nichts anderem als dem ästhetischen Erlebnis, das es vermittelt.
In rousseauscher Tradition weist es die bestehende Welt
als
Kunstprodukt, als Erzeugnis einer verdorbenen Schriftkultur, aus - und läßt zugleich erkennen, daß es kein >Zurück zur Natur< gibt, daß sich der Spalt, den die Schrift treibt, nicht (wie von Locke und anderen Aufklärungsphilosophen gefordert) durch Vermeidung bildlicher Rede, sondern nur im poetischen Hö57
henflug — mittels eines metaphorischen Salto mortale - überwinden läßt. Der skeptische Blickwinkel, den das >Büchlein< bei der Betrachtung des Kunstphänomens anlegt, ist dem enthusiastischen des >Ardinghello< entgegengesetzt. Beide aber bedingen einander, sie provozieren sich wechselseitig und verdeutlichen so das Spannungsfeld, dem das Genre entspringt.
2. Unser Geselle Moritz ließ nicht ab, jetzt, in dem Kreise der höchsten Kunst und schönsten Natur, über die Innerlichkeiten des Menschen, seine Anlagen und EntWickelungen fortwährend zu sinnen und zu spinnen; deshalb er denn auch sich mit dem Allgemeinen der Sprache vorzüglich beschäftigte. (J. W. Goethe8j
Schon bald nach Abschluß des >Werther< beginnt Goethe mit der Arbeit an einen zweiten Roman, der, wie er in einem Brief vom 5.8.1778 notiert, »das ganze Theaterwesen« zum Thema hat: dessen Held, ein Kaufmannssohn, Schauspieler werden und beim Aufbau eines deutschen Nationaltheaters mitwirken will. Die Arbeit kommt jedoch nur schleppend voran. Goethe hat vor, den Werther-Konflikt einer positiven Lösung zuzuführen, das Konzept geht aber nicht auf. Um so erstaunter ist Goethe, als er 1786 in Rom die Bekanntschaft eines Berliner Gymnasialprofessors macht, und dieser ihm ein Romanmanuskript vorlegt, das den gedanklichen Ansatz des >Werthermania< als pathologisches Phänomen, aufgreift und mit dem Schauspielermotiv verbindet. Die Rede ist von Karl Philipp Moritz und dessen Werk >Anton Reiser. Ein psychologischer Roman< (1785ÍF.). 9 Thema ist hier bereits das erstaunliche Echo, das der >Werther< hervorruft. Nicht wenige Leser mißverstehen den Appell zur einfühlsamen Lektüre, mit dem die Erzählung beginnt. Sie sehen in Werthers Briefen die eigene Seelenlage gespiegelt und entdecken beim Lesen Züge ihrer selbst, von denen sie nichts wußten. Sie kokettieren mit ihrer Sensibilität, tragen gelbe Westen und blaue Röcke, und einige bringen sich sogar um. Gepackt vom rhetorischen Schwung des Romans, verkennen sie, daß er den Keim der >tödlichen KrankheitAR< und Seitenzahl zitiert nach Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Mit Textvarianten, Erläuterungen und einem Nachwort. Hg. von Wolfgang Martens, Stuttgart 1972.
Moritz betrachtet das Phänomen unter therapeutischem Aspekt. Er ist Herausgeber des >Magazins zur ErfahrungsseelenkundeAnton Reiser< erscheinen dort im Vorabdruck neben empirischen Fallstudien. Dem entsprechen Sprachgestus und Darstellungstechnik des Romans, die nüchtern distanzierte Betrachterhaltung des Erzählers und das um detaillierte Milieuschilderung bemühte szenische Gestaltungsprinzip. Martens beschreibt die Stillage so: Der Autor schiebt sich dazwischen und läßt seine Personen gleichsam nicht zu Worte kommen. Es geht ihm nicht um Bewegung, um anschauliche Vergegenwärtigung, um Einfühlung von selten des Lesers, sondern um Erkenntnis und Urteil. 1 0
Auch handelt es sich um eine autobiographische Schrift. Moritz beschreibt, wie im Vorwort angezeigt und durch die Forschung bestätigt, 11 die eigene Jugend. Pate stehen traditionelle Formen der religiösen Biographie und des Seelentagebuchs, mittels derer die frommen Verfasser sich ihrer Teilhabe an der göttlichen Gnade zu vergewissern suchen. Moritz wächst mit dieser Tradition auf. Der Vater ist Anhänger der Madame Guyon und des Baron von Fleischbein; er gehört einer pietistischen Sekte an, die ihre Mitglieder zu schonungsloser Selbstanalyse antreibt. Das psychologische Interesse hat hier seine Wurzeln. Moritz ersetzt die religiöse Motivation durch eine medizinische. Dessen ist er sich bewußt; in mehreren >MagazinAnton Reiser< Roman: Sprachkunstwerk. Ein dicht geknüpftes motivisches Netzwerk hält die Erzählung zusammen und etabliert die Perspektive, in der Antons Leben sich als kontinuierlicher Prozeß darstellt. Mittel der Fiktionsbildung spielen dabei eine zentrale Rolle. Ohne diese Elemente verlöre die psychologische und autobiographische Recherche das Ich, das zu erfassen sie vorgibt, aus den Augen. Die Plastizität der Personen-, Orts- und Situationsbeschreibungen, mit denen sich der Ruf des Romans begründet, ein frühes realistisches Werk zu sein, verdankt sich einer ausgeprägten Tendenz zur symbolischen Uberformung. Auch darüber ist Moritz sich im klaren. Davon zeugen die nach Fertigstellung des Romans entstehenden ästhetischen Schriften, in denen der klassische Symbolbegriff Gestalt gewinnt, 12 ebenso wie das autoreflexive Strukturprinzip der Erzählung, von dem noch die Rede sein wird. Moritz erzählt die Geschichte eines sensiblen Kindes, das die engen materiellen und geistigen Verhältnisse, in denen es aufwächst, nicht erträgt. Überall glaubt IO
Wolfgang Martens: Nachwort, in: Karl Philipp Moritz, Anton Reiser, a.a.O., S. 545 — 567, hier S. 564. " Hugo Eybisch: Anton Reiser. Untersuchungen zur Lebensgeschichte von K . Ph. Moritz und zur Kritik seiner Autobiographie, Leipzig 1909. 12 Vgl. Karl Philipp Moritz: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe. Hg. von Hans Joachim Schrimpf, Tübingen 1962.
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es, Verachtung zu spüren, und flieht deshalb in die Traumwelt der Bücher und des Theaters. Anton hat, so heißt es, »von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt« und muß deshalb »die Leiden der Einbildungskraft [...] dulden«. Er verfaßt Reden, schreibt Gedichte und vertieft sich in philosophische Spekulationen. Schon als Schüler fuhrt er ein >KünstlerlebenAnton Reiser« nur die Rede sei, um sozial- und tiefenpsychologische Einsichten zu vermitteln, daß es um Kunst gar nicht oder nur am Rande gehe. Entsprechend argumentiert Hans Joachim Schrimpf: Moritz behandle das rousseausche Thema des >homme civilisés der sich im Netz der Lüge, das er selbst knüpft, immer mehr verfangt, im Rekurs auf eines seiner zentralen Motive: die verderbliche Wirkung der Verstellungskunst. Antons Theaterleidenschaft bedeute die »extremste und dem imaginären Wirklichkeitsersatz gemäßeste Form«, zu der sich ein »>bodenloser< Idealismus am Ende mit innerer Notwendigkeit hinentwickeln muß.« 1 3 Das klingt plausibel. Doch stellt der Roman die Möglichkeit der Unterscheidung von psychologischem und (sprach)ästhetischem Blickwinkel prinzipiell in Frage. Beide erscheinen verschränkt; der eine ist nur im Licht des anderen erkennbar. Die materiellen Grenzen, auf die Anton stößt, erweisen sich als überwindbar. Immer wieder finden sich Gönner, die seine Ausbildung finanzieren. Mehr als die Armut selbst, ist es das Bewußtsein der Armut, das ihm zu schaffen macht. Von Interesse ist fur Anton nicht, wer er >istBilder< formieren, die wir für die Wirklichkeit selbst halten. Es heißt: Reiser lebte im Grunde immer ein doppeltes, ganz voneinander verschiedenes inneres und äußeres Leben, und sein Tagebuch schilderte gerade den äußeren Teil desselben, der gar nicht der Mühe Wert war, aufgezeichnet zu werden. (AR, 246f.)
Der beschriebene Riß zwischen der Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung entgeht den Schemata, mit denen die idealistische Philosophie den Subjekt-Objekt-Bezug beschreibt. Er trennt Anton nicht nur von der Außenwelt, sondern geht mitten durch ihn hindurch. Er spaltet ihn innerlich auf. Nicht zufallig ist in diesem Zusammenhang von Antons Tagebuch die Rede. Das Tagebuch ist ein Grundmotiv des Romans; es reflektiert die Wirklichkeit der autobiographischen Erzählung und verdeutlicht ihr zentrales Thema: die Bedeutung von Sprache und Schrift für den Prozeß der Bewußtseinsbildung und Selbstfindung. Die Schwierigkeiten, auf die Anton beim Schreiben des Tagebuchs stößt, sind dieselben wie die, an denen er im realen Leben scheitert. Sie bewirken, daß er, anstatt zum handlungsmächtigen Subjekt heranzureifen, zum Psychopathen und Schauspieler verkommt. Die autobiographische Schrift wirkt kontraproduktiv, sie führt nicht zur Selbsterkenntnis, sondern konfrontiert den Schreiber mit einer, wie es heißt, undurchdringlichen ScheidewandModerne< zuspitzt. Entsprechend ist Moritz' >profanes Seelentagebuch< zu verstehen. Kunst und Literatur besetzen die vakante Position Gottes, d. h., sie gelten als Ort authentischer Selbstwahrnehmung. Doch bieten sie, wie sich im Verlauf der Erzählung immer 61
deutlicher zeigt, nur unvollkommenen Ersatz; ihre Hervorbringungen sind vieldeutige Konstrukte ohne substanziellen Gehalt. Entsprechend steht es um den sich literarisch >bildenden< und gebildeten Tagebuchschreiber. Er ist in der Situation des an seiner Erwähltheit zweifelnden und dadurch zu immer rigoroserer Seelenrecherche getriebenen Pietisten; er kann sich seiner Berufung zum Künstlertum nicht sicher sein. Und was er zu notieren hat, wirkt alles andere als ermutigend. Antons Erlebnisse lassen kaum darauf schließen, daß er sich auf dem Heilsweg bewegt und zu den wenigen Auserwählten gehört. Diese Einsicht untergräbt nicht nur die Position des Helden, sondern auch die der Erzählung selbst. Um so bedeutsamer erscheint die Frage, »durch welche Merkzeichen vorzüglich der falsche Kunsttrieb von dem wahren sich unterscheidet«, die der Erzähler als ein zentrales Thema des Buches ausweist und mit folgender Überlegung verknüpft: Eigentlich kämpften in ihm [- Anton], so wie in tausend Seelen, die Wahrheit mit dem Blendwerk, der Traum mit der Wirklichkeit, und es blieb unentschieden, welches von beiden obsiegen würde, woraus sich die sonderbaren Seelenzustände, in die er geriet, zu Genüge erklären lassen. Widerspruch von außen und von innen war bis dahin sein ganzes Leben. - Es kömmt darauf an, wie diese Widersprüche sich lösen werden! (AR, 383)
Ließe sich der wahre vom täuschenden Schein der Kunst, der den Menschen in die Irre führt, ihn im Schauspielertum, in labyrinthischer Maskenhaftigkeit, verharren läßt, tatsächlich unterscheiden, wäre das (Selbsttäuschungs-)Problem gelöst. Anton wäre in der Lage, die Larven abzulegen und sein wahres Gesicht zu zeigen. Das genesene Ich, zu dem Moritz' Held sich entwickeln soll, wüßte, ob es löge oder nicht. Moritz hat diese Lösung im Blick, der Erzähler kündigt sie an, doch der Roman bleibt sie uns schuldig. Er bricht ab, bevor Anton dem Theater entsagt. Der Abgrund zwischen Subjekt und Objekt des autobiographischen Berichts wird nicht überbrückt. Der nüchtern distanzierten Stillage der Erzählung, dem Gestus des >objektiven Berichterstatters Kunsttrieb< folgt, ist nur durch die fiktionsbildenden Mittel zu erreichen, die sie, wie die erzählte Geschichte belegt, verhindern. Die Selbsttäuschung setzt sich in ihrer Analyse fort. Die Beschreibung vermag dem beschriebenen Phänomen nicht zu entkommen. Der zu therapeutischem Zweck erzählte Roman ist selbst Produkt der verklagten, fur die Krankheit verantwortlich gemachten Schriftkultur. In den frühen, aus Tagebuchnotizen entstandenen >Beiträgen zur Philosophie des Lebens< (1780/1) fragt Moritz im Abschnitt >Vom Selbstgefühls wie es überhaupt möglich sei, daß »man über sich selbst Betrachtungen anstellen, über 62
sich selbst lachen, mit sich selbst unzufrieden sein, und daß man sich, gleichsam in Gedanken, von sich selbst absondern« könne. 14 Die Antwort wirft ein bezeichnendes Licht auf den fünf Jahre später entstandenen autobiographischen Roman. Das Selbstgefühl wird als sinnliches Korrelat der Erinnerung begriffen. Nach Moritz entsteht die Erinnerung aus dem Vergleich früherer erinnerter IchZustände mit Bildern des Jetzt, des sich erinnernden Ich. Damit wird sie auf die Fähigkeit zurückgeführt, die bis ins 18. Jahrhundert als >Witz< bezeichnet und vor allem dem Dichter und Rhetor zugesprochen wurde, die Fähigkeit nämlich zur Metaphernbildung und Erkenntnis verborgener Ähnlichkeiten. D.h., die Ich-Einheit kommt hier als Effekt der arbiträren Semiose, der Sinnkonstitution durch Übertragung uneigentlicher Bedeutungen in den Blick, und da dieser Prozeß, wie alle sprachlichen Vorgänge, sinnlich verankert ist, läßt sich in ihm zugleich der Grund des Selbstgefühls erkennen. Im metaphorischen Tausch entladen sich die zwischen den Vergleichsgliedern bestehenden Spannungszustände, und diese >Entladungen< nimmt das Subjekt als spontane Empfindung (als Reiz zum Lachen oder Weinen, als Lust oder Mißvergnügen) wahr: Meine Freude an dem Gegenwärtigen stieg, je lebhafter das Andenken an das Vergangne wurde, und jene unbekannte sanfte Empfindung war nichts anders, als, durch den Gedanken an die Vergangenheit, erhöhtes Selbstgefühl. 15
Zehn Jahre später fügt Moritz der dritten Auflage der >Beiträge< einen Text bei, in dem sich tiefes Mißtrauen ausdrückt gegenüber dem Leistungsvermögen der Erinnerungsfunktion. Er trägt den Titel >Anhang: Über Selbsttäuschung< und beginnt mit folgender Feststellung: In der menschlichen Natur gibt es gewiß kein unerklärbareres Phänomen, als die Möglichkeit, sich selber zu täuschen, gleichsam als ob man ein von sich selbst verschiedenes Wesen wäre, daß [sie] zweierlei Interesse hätte.' 6
Der sprachliche Aspekt, unter dem die elementaren Subjektfunktionen in den >Beiträgen< betrachtet werden, wirkt sich destruktiv aus. Die Rede ist vom >Erlügen der Empfindungen durch Worte und GebärdenAnhang< bezieht. Es heißt: Offenbar findet der meiste Selbstbetrug bei den religiösen Empfindungen statt, welche man sich oft zu haben Mühe gibt, und am Ende wirklich zu haben glaubt, indem man bei leerem Herzen, in Ergießungen des Danks und der Ehrfurcht ausbricht, die 14
Karl Philipp Moritz: Beiträge zur Philosophie des Lebens mit einem Anhang über Selbsttäuschung, in ders.: Werke. Hg. von Horst Günther. Bd. 3: Erfahrung, Sprache, Denken, Frankfurt/M 1 9 8 1 , S. 7 - 8 3 , hier S. 68. 15 Karl Philipp Moritz: Beiträge zur Philosophie des Lebens, a.a.O., S. 69. ' 6 Der >Anhang über Selbsttäuschung< erschien parallel im >Magazin zur ErfahrungsseelenkundeSelbsttäuschungsBekenntnisse einer schönen Seele< (VII. Buch der >Lehrjahreedleste Täuschung< und >zarteste Verwechslung< überspielen den gedanklichen Abgrund, den sie selbst reißen. Durch schöne Worte, stilistische Perfektion sucht Goethe einen Sinn aufzufangen, der sich im freien Fall befindet, und das Netz zu verbergen, das er zu diesem Zweck knüpft. Moritz hingegen sucht den Abgrund zu ergründen; er begibt sich hinein in diesen, wie er sagt, letzten »Schlupfwinkel des menschlichen Selbstgefuhls< und erhellt ihn im Rekurs auf das im 17. Jahrhundert ins Zentrum der anthropologischen und ästhetischen Reflexion rückende Theatermotiv. Im >SelbsttäuschungsMagazinEin unglücklicher Hang zum Theater< erzählt Moritz die Geschichte eines hypochondrisch veranlagten jungen Mannes, dem die >Komödien< zum Verderben werden. 21 Die bürgerliche Ordnung des Vaterhauses erscheint ihm öde und abgeschmackt im Vergleich mit der Welt der großen Gesten und starken Empfindungen, wie sie die Bühne zeigt. Er verfällt in Melancholie und ist zu nützlichem Handeln nicht mehr in der Lage. Falscher Witz und falsche Affekte verzehren die Kräfte, deren er bedürfte, um im realen Leben zu bestehen. Es ist, parabolisch verdichtet, die Geschichte Anton Reisers, die hier erzählt wird. Wie im Roman ist es die Lektüre poetischer Texte, die den seelischen Zerrüttungsprozeß nährt und zum Entschluß fuhrt, Schauspieler zu werden. Und hier wie dort gibt der sonntägliche Kirchgang dazu Anlaß. Wie Anton ist der >verlorene Sohn< von den Predigten eines engagierten Pastors so angetan, daß er sie sich Wort fur Wort merkt, sie zuhause aufschreibt und nachstellt. Die Parabel endet positiv. Einsame Spaziergänge durch die »große und wahre Natur« wirken beruhigend auf die aufgeregte Seele des Sohnes und veranlassen ihn, sich vom Theater abzuwenden und zum Vater zurückzukehren. Rousseaus Einfluß ist unverkennbar. Der Einsicht in die prinzipielle Falschheit der Buchkultur, verstanden als Resultat eines historischen Pervertierungsprozesses, korreliert der Glaube an die >Selbst-Heilungskräfte< der Natur, die eine Reversion der Geschichte, eine Rückkehr in den Stand der Unschuld ermöglichen. Dem auf >Lebenswahrheit< insistierenden autobiographischen Roman ist dieses Happyend jedoch verwehrt. In den Vorworten zu den vier Büchern, aus denen er besteht, wird es zwar in Aussicht gestellt, doch lösen die >Bücher< das Versprechen nicht ein, sondern schieben es vor sich her, bis die Erzählung abbricht — und wir vor dem Nichts eines Textes stehen, der nicht geschrieben werden kann. Der Konflikt >Buch versus Natur< endet im Roman falsch. Für Anton findet sich kein guter Vater und kein Leben im Einklang mit der Natur. Ihm bleiben - um mit der Welt fertig zu werden und sich seiner selbst zu versichern — nur das Lesen und Schreiben, das Nachdenken in der Form des Tagebuchs, aus dem der Roman hervorgeht. Ihm bleibt nur die fragmentarische Schrift. Nach Moritz resultiert die Theaterleidenschaft seines Helden aus der Erfahrung des >Verdrängt-Werdens aus der wirklichen WeltSelbsttäuschung< reagiert. Sprache und Literatur ermöglichen die Flucht in >idealische< Traumwelten. Dieser psychologische Mechanismus wird in vielen Episoden von allen Seiten beleuchtet. Exponiert wird nicht 21
Karl Philipp Moritz: Ein unglücklicher Hang zum Theater, in ders: Werke. Hg. von Horst Günther. Bd. 3: Erfahrung, Sprache, Denken, a.a.O., S. 156—160.
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nur die elementare Bedeutung der Selbsttäuschung fur die Bewußtseinsbildung und die Raffinesse, mit der sie verdrängt wird, sondern auch ihre Allgegenwart. Noch in den intimsten Situationen ist sie anzutreffen. Anton >hat< sich nur dadurch, daß er sich verstellt und Theater spielt. Sein >Ich< ist Produkt des Rollentauschs, den er zu beherrschen glaubt. Anton macht, indem er sich entscheidet, Schauspieler zu werden, aus der Not eine Tugend: Er betrachtet die Verstellung als seine Bestimmung. Ein ironisches Element ist unverkennbar; Anton trägt Züge einer komischen Figur. Aber zum Lachen ist weder ihm noch dem Erzähler zumute. Die Selbsttäuschung kommt nur unter negativem Aspekt, als >Selbstvernichtunginnere Wortwahrer< vorkommt als die Wirklichkeit selbst, daß er die Literatur, den Wirklichkeitsersatz der Schrift, als Realgrund seiner selbst erlebt. Anton sitzt dem poetischen Schein jedoch nicht nur auf. Die Bücher lenken seine Aufmerksamkeit auch auf die Mittel, die den Schein erzeugen. Als Achtjähriger wundert er sich bereits über die >allegorische< Ausdrucksweise seiner Mutter (AR, 36) und stößt sich an all den unverständlichen, »auf heit, und keit, 66
und mg« endenden Wörtern, die der Vater den Guionschen Schriften entnommen hat und ständig im Munde fuhrt (AR, 32). Schon früh werden ihm sprachliche Wirkungszusammenhänge bewußt, und mit diesem Bewußtsein wächst die Einsicht in ihre Manipulierbarkeit. Um so verheerender wirkt sich das strikte Wahrheitsgebot aus, dem Anton im quietistischen Umfeld unterliegt. Es stürzt Anton in innerliche Konflikte, zu deren Bewältigung ihm alle Mittel fehlen. Folgendes Initialerlebnis verdeutlicht das Dilemma: Anton sollte einmal diesen Engländer [i. e. ein Mitglied des Pyrmonter Pietistenkreises] gegen einen Fremden, der ihn besuchen wollte, verleugnen, und sagen, er sei nicht zu Hause. Man konnte ihn auf keine Weise dazu bringen, weil er keine Lüge begehen wollte. Dies wurde ihm damals sehr hoch angerechnet [...]. (AR, 3of.)
Zum erstenmal fühlt Anton sich respektiert. Es ist ein wichtiger Moment in seinem Leben, der um so mehr Aufmerksamkeit verdient, als er einen Grundsatz der kantschen Morallehre zu illustrieren scheint, die im Willen zur Wahrhaftigkeit den Grund der Würde erblickt, durch die der Mensch sich über das Tier erhebt. Geradezu schockierend wirkt daher der Erzählerkommentar, mit dem die Episode schließt. Denn hier wird festgestellt, daß Anton damals »tugendhafter scheinen wollte als er wirklich war«, daß er »sich sonst eben aus einer Notlüge nicht so sehr viel gemacht« habe (AR, 31) und daß er »damals mehr aus einer Art von Affektadon als würklichem Abscheu gegen die Lüge« so gehandelt habe (AR, 50). Antons erster >Achtungserfolg< resultiert nicht aus Wahrheitsliebe, sondern Verstellung. Auf die fatalen Folgen wurde bereits hingewiesen. Die Überlegung, wie er sich verhalten muß, um positiv dazustehen, wird zur bestimmenden Bewußtseinsfunktion. Anton will bei der Verrichtung niederer Arbeiten nicht gesehen werden, und mehr noch schämt er sich seiner ärmlichen Kleider. Er ist ohne inneren Rückhalt. Wahr nimmt er sich nur durch die Augen anderer. Deshalb sucht er Blicke auf sich zu ziehen, läuft mit aufgeschlagenem Buch durch die Stadt herum und hofft, von dem Kantor, einem seiner Lehrer, »in dieser Attitüde bemerkt zu werden« (AR, 163). Antons >Schauspielerkarriere Kanzel·, des >Katheders< und der >Bühne< zu gelten haben. Sie bezeichnen rhetorische Aktionsbereiche und verdeutlichen in ihrer Abfolge die grundlegenden Veränderungen, denen die Rhetorik im 18. Jahrhundert unterworfen ist. An die Stelle des religiösen Funktionsraums tritt der aufgeklärt säkulare (philosophische) der Schule, und dieser wird schließlich ersetzt durch den ästhetischen, den mimetisch-reflexiven der Kunst. Entsprechend gestaltet sich die erzählte Geschichte. Das zentrale Thema des ersten Teils ist die religiöse Heuchelei. Berichtet wird, wie Anton sich beim
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Beten >verstelltfromme Mienen< aufsetzt und Traktate verfaßt über fromme Gefühle (»einen gewissen Durst und Sehnsucht nach Gott«, A R , 50), die er nicht hat und deren Vorstellung ihn zum Lachen reizt. Von Interesse sind weniger die bewußten Handlungen als die spontanen Begleiterscheinungen: die Verlegenheit, die in dem Lachen zum Ausdruck kommt, und das Unwohlsein, das Anton verspürt, solange es ihm nicht gelingt, den Betrug vor sich selbst zu verbergen. [S]o weit ging die Täuschung seiner Einbildungskraft, daß es ihm [beim Beten] zuweilen wirklich war, als ginge etwas ganz Besonders im Innersten seiner Seele vor; und sogleich war auch der Gedanke da, wie er nun diesen seinen Seelenzustand etwa in einem Briefe an seinen Vater [ . . . ] einkleiden [ . . . ] wollte. (AR, 65)
Unter dem Eindruck eines religiösen Pamphlets, das zur >Umkehr< aufruft, faßt Anton den Entschluß, sich zu bessern und sich um Wahrhaftigkeit zu bemühen. Als er dann aber liest, »wie unnütz und schädlich das Selbstbessern sei«, weil das Seelenheil allein durch Gottes Gnade erlangt werden könne, fällt er sogleich in die alte Gewohnheit zurück. Darüber berichtet er in einem Brief dem Vater. Er klagt sich selbst an und bekennt, »wie schlecht es mit dem Selbstbessern vorwärts ginge« (AR, 52). Anton ist überzeugt, aufrichtig zu sein. Die Mutter aber durchschaut das falsche Pathos, sie erkennt, daß das Bekenntnis vor allem dazu dient, dem Vater zu schmeicheln, und quittiert den Brief mit der Bemerkung: »Anton fuhrt sich auf, wie alle gottlosen Buben« (AR, 53.). Eine Zeitlang enthält Anton sich daraufhin der >schlechten< Bücher, die der Vater für die verderbliche Entwicklung verantwortlich macht, und hört auf zu schreiben. Doch entkommt er der Literatur nicht. In der Schulzeit verfällt er ihr vollends, fuhrt ein Lotterleben und kommt schließlich auf den Hund. In einem Brief an seinen Gönner, den Pastor Marquard, bittet er dafür um Verzeihung. Wieder bedient er sich überspanntester Ausdrücke der Selbstverachtung und Selbstherabwürdigung«. Aber weniger noch als im Falle des Schreibens an den Vater läßt sich die Selbstanklage einfach als >Heuchelei< abtun: Anton hält sich, als er den Brief abfaßt, wirklich »für ein Ungeheuer von Bosheit und Undankbarkeit.« (AR, 239). Die Außenperspektive ist internalisiert; aus Heuchelei ist Selbsttäuschung geworden. Die Szenen werfen ein bezeichnendes Licht auf Antons >Künstlerkarrierein Wahrheit zu verwandeln« beginnt — d.h., den Entschluß zum Studium ermöglicht und die dadurch eingeleitete Phase der Ich-Stabilisierung begründet. Der Text konfrontiert uns mit der — in der Rhetorik immer schon behaupteten und in Kleists Schrift >Uber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden< (1805/06) 2 2 neu bedachten - Möglichkeit einer Änderung der >Gedan"
Heinrich von Kleist: Übet die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in ders.: Sämtliche Werke und Briefe. H g . von H e l m u t Sembdner. Bd. 2, München 1 9 6 5 , S. 3 1 9 - 3 2 4 .
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ken< durch eine vorgängige Verschiebung der >Worte< - und bringt sie bereits auf den nietzscheschen Nenner der >Geburt der Wahrheit aus der Lügeechter< zu sein, als jede vordergründig wahre Aussage es sein könnte. Der Roman zerbricht an dieser Einsicht. Dem vernünftigen Erzähler ist sie inkommensurabel. Er diskreditiert sie als pathologisches Phänomen. Aber was stützt die >gesunde< Perspektive, die er glaubt anlegen zu können? Der (auto)biographische Bericht bricht ab, bevor er sein Ziel erreicht. Anton, das erzählte Ich, wächst nicht in die Erzählerposition, in das erzählende Ich, hinein; er erlebt keine Genesung. Am Ende erscheint der Knoten verwickelter denn je. Weder kommt Anton zur Besinnung, noch zerreißt das Lügengewebe. Vielmehr wird festgestellt: Da nun Reiser doch die Unmöglichkeit einsah, seinen Wunsch in Erfurt zu befriedigen, so täuschte er sich wiederum, und überredete sich selber, daß er freiwillig der Idee sich dem Theater zu widmen entsage, weil sich alles gleichsam vereinigte, um seinen Entschluß zu hintertreiben [...]. Kaum aber war er wieder fur sich allein, so rächte sich seine Selbsttäuschung durch erneuerten bittern Unmut, Unentschlossenheit, und Kampf mit sich selber [...]. (AR, 487)
Dem Roman ergeht es wie dem Tagebuch, von dem er erzählt. Er gibt auf, bevor er sein Ziel - die Erkenntnis des >wahren Ich< - erreicht, er scheitert an der undurchdringlichen Scheidewand< der Worte (AR, 254), die er selbst errichtet. Entsprechend findet sich die >Selbsttäuschung< am Ende des Romans auf den Begriff der >Selbstüberredung< gebracht - und damit als das ausgewiesen, als was sie sich im Roman darstellt: als ein Prozeß der topischen Inventio, in dem das Ich sich selbst >erfindetBildungswegSein ganzes Wesen verändern sich, wenn er die Stillage wechselt, er ist ein >Anderer< — je nachdem, ob er >seelenerschütternd< oder >sanftrührend< redet. Am erstaunlichsten ist, daß bei aller Kunstfertigkeit »nicht die mindeste Affektation« zu bemerken ist: Es war dem Pastor »natürlich«, heißt es, »sich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen, die der Stoff seiner Rede veranlaßte, zu verweben.« (AR, 82) — und an anderer Stelle: »[S]ein Ausdruck durch Mienen, Stellung und Gebärden überschritt alle Regeln der Kunst, und war doch natürlich, schön, und unwiderstehlich mit sich fortreißend« (AR, 76).
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Anton ist von diesem Über-sich-Hinaustreiben - diesem »Natur-Werd e n - der Kunst so beeindruckt, daß er versucht, das Geschehen selbst >ins Werk zu setzenEinsiedlerrichtiges< Theater besucht, und erlebt, wie sich hier die Fiktion des Publikums bemächtigt. Die »Theatergrille« löst, heißt es, die »Sucht zu predigen« ab (AR, 183). An die Stelle der Kanzel tritt — vermittelt durch das Katheder — die Bühne, die Antons Phantasie »weit größeren Spielraum« bietet, und wo er »weit mehr wirkliches Leben, und Interesse, [findet] als in dem ewigem Monolog des Priesters« (AR, 183): [Er konnte] auf dem Theater alles sein, wozu er in der wirklichen Welt nie Gelegenheit hatte — und was er doch so oft zu sein wünschte — großmütig, wohltätig, edel, standhaft, über alles Demütigende und Erniedrigende erhaben - wie schmachtete er, diese Empfindungen, die ihm so natürlich zu sein schienen, und die er doch stets entbehren mußte, nun einmal durch ein kurzes täuschendes Spiel der Phantasie in sich wirklich zu machen. [ . . . ] Er fand sich hier gleichsam mit allen seinen Empfindungen und Gesinnungen wieder, welche in die wirkliche Welt nicht paßten. - Das Theater deuchte ihm eine natürlichere und angemeßnere Welt, als die wirkliche Welt, die ihn umgab. (AR, 197)
An der rhetorischen Grundorientierung ändert der mediale Wechsel aber nichts. Nicht zufällig taucht der rhetorische Zentralbegriff der Angemessenheit hier an exponierter Stelle auf, in engster Verbindung mit dem der Natur und zur Bezeichnung des Gesetzes, dem (wie Goethe nur zu genau wußte) alle Kunst unterliegt, der Forderung nämlich, die verlorene >natürliche< Einfalt durch stilistische Perfektion, durch sprachkünstlerische Meisterschaft, wiederzugewinnen: durch eine Form, in der >res< und >verba< so verwoben erscheinen, daß die Nahtstellen nicht mehr wahrnehmbar sind.
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Dazu eine letzte Bemerkung: Der Erzähler weist darauf hin, daß es Anton beim >Briefeschreiben< nie allein um die Mitteilung von Inhalten gegangen sei, sondern er diese Tätigkeit stets auch als »Übung im Stil« betrachtet habe, und verknüpft damit folgende Erklärung, in der die Illusion zerbricht, und wir für einen Augenblick des Verfassers des autobiographischen Romans gewahr werden, der nicht Schauspieler, sondern Schriftsteller wird, und nicht Anton Reiser heißt, sondern Karl Philipp Moritz: Diese Übung bildete Anton Reisern zuerst zum Schriftsteller; er fing an, ein unbeschreibliches Vergnügen daran zu empfinden, Gedanken, die er für sich gedacht hatte, nun in anpassende Worte einzukleiden [...]. (AR, 268)
Das Problem spitzt sich zu, als Anton versucht, etwas über sich selbst zu Papier zu bringen. »Was ist mein Dasein, was mein Leben?« notiert er, und muß feststellen, daß ihm nichts als Worte in den Sinn kommen. Abgelöst von diesen, erscheint ihm sein Dasein als ein >dunkler< Abgrund. Wohl verspürt er den Drang, sich auszudrücken, doch dazu bedarf es >passender Wortes die sich nicht sogleich finden. Das >erste< Wort bereitet die größten Schwierigkeiten. Ist dieses erst einmal gesetzt, erscheint es schon leichter, ein zweites hinzuzufügen, und aus der Spannung beider ergibt sich das weitere fast wie von selbst. Das >ErsteEinkleidung< nackter >Gedanken< in wirkungsvolle >Worte< beschreibt. 23
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Marcus Tullius Cicero: De oratore. Über den Redner. Lateinisch/deutsch. Übersetzt und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 2 1 9 7 6 , S. 1 2 1 .
III. Der Blick hinter den Vorhang. Johann Wolfgang von Goethe: >Wilhelm Meisters Theatralische Sendung< und >Lehrjahre
Anton Reiser zwecklose Der religiöse Horizont, der zuvor Orientierung bot, ist verloren. Vernunft und Verstand waren stark genug, ihn zu zerstören, doch vermögen sie nichts Adäquates an seine Stelle zu setzten. Allein durch Kunst, durch die Symbiose von rationalen und sinnlichen Kräften (und das in ihr entstehende intuitiv-imaginative Spannungsfeld), scheint es möglich, die gerissene Lücke zu schließen. Die Kunst gilt als Ausdrucksträger 1
Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther, a.a.O., S. 1 0 0 .
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einer subjektiven Substanz des Menschen, die diesen über die übrige Natur erhebt und befähigt, sich selbst zu >begriindenLehrjahreschönen Schein« - begriffen als Ersatz dessen, was die Natur verweigert, Erkenntnis nämlich ihrer >wahren Bedeutung« — wird verworfen. Wilhelm wird kein »treffliche[r] Schauspieler und Schöpfer eines künftigen Nationaltheaters« (LJ, 35), 2 sondern Wundarzt. Das Nachdenken über Bewußtsein und Selbstbewußtsein, die elementaren Subjektfunktionen, endet mit der Entdeckung eines unheimlichen Verdopplungs- bzw. Wiederholungsprozesses, in dem sich das Wiederholte verliert, in dem Sinn sich nicht erhält, sondern verschiebt, in Wahnsinn umschlägt. Am Ende steht die Einsicht in ein >an sich« bedeutungsloses Sprachschema, das die Sinnfrage provoziert, der Möglichkeit ihrer Beantwortung aber zugleich den Boden entzieht. An die Stelle des Innenbezugs tritt der Außenbezug, der zumindest insofern Halt bietet, als er die Möglichkeit eröffnet, helfend wirken zu können. Sich selbst, lautet nun die Devise, findet der Mensch nur durch sittliches Handeln. Der in der theatralischen Sendung« beschrittene ästhetische Weg bedarf der ethischen Untermauerung. Fehlt diese, hält er keiner Belastung stand. Aus dieser Einsicht erwachsen die »Lehrjahre«. Thomas Manns Warnung vor dem >Irr- und Sündenweg der Kunst« ist zu Beginn der Künstlerromantradition bereits deutlich ausgesprochen. Doch fraglich ist, ob dieser Gefahr überhaupt ausgewichen werden kann. Denn - auch davon handeln die >Lehrjahre< - der ethische Weg ist in der Natur nicht angelegt, sondern muß vom Menschen mühsam gebahnt werden. Er ist Produkt eines zivilisatorischen Prozesses bzw. des gesellschaftlichen Diskurses, der diesen Prozeß antreibt. In ihm wird ausgemacht, was als wahr und gut zu gelten hat und was nicht. »[B]loß in sich gekehrt, betrachtete er sein hohles, leeres Ich, das ihm als ein unermeßlicher Abgrund erschien« (LJ, 436), so beschreibt Goethe den im Wahnsinn versinkenden Harfner. Er erinnert sich in dieser Figur der Anfänge seiner dichterischen Laufbahn. Zusammen mit der/dem zu keiner Identität gelangenden Mignon, in deren/dessen »Innerstem« sich »ein gewaltiger Riß« (LJ, 143) auftut, verkörpert der Harfner - wie Mathias Mayer 3 darlegt - die Postu2
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Zitiert werden die >Lehrjahre< im fortlaufenden Text mit der Sigle >LJ< und nachfolgender Seitenzahl nach Johann Wolfgang Goethe: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 7, München (9. Aufl.) 1 9 7 3 . Mathias Mayer: Selbstbewußte Illusion. Selbstreflexion und Legitimation der Dichtung im »Wilhelm Meister«, Heidelberg 1989, S. 7 o ff.
late der Sturm und Drang-Ästhetik: das Ideal einer unverdorbenen Naturpoesie (des unmittelbaren Ausdrucks, einer spontanen >HerzensspracheTurmsLehrjahre< der Welt der theatralischen Sendung< entgegenhalten, erweisen sich beide als lebensunfähig und gehen zugrunde. Novalis wirft Goethe deshalb »künstlerischen Atheismus« vor.4 Aber in der >realistischen< Perspektive der >Lehrjahre< (und des dort entwickelten Bildungs- bzw. Erziehungsgedankens) erscheint das naturpoetische Konzept als gefahrlicher >UtopismusGlückWanderjahre< bildet. Bedeutet der >Turm< wirklich (wie die Bildungsromantheoretiker glauben machen wollen) eine Welt eingelöster Humanität oder ist er Ort eines Satyrspiels, wo, wie Novalis schreibt, >alles zur Farce wirdLehrjahre< als eine seiner »inkalkulabelsten Produktionen, wozu [ihm] fast selbst der Schlüssel fehlt«. 7 Friedrich Schlegel legt den Finger auf den wunden Punkt. Im >Gespräch über die Poesie< betrachtet er die >Lehrjahre< als »das eine unteilbare Werk«, das »in gewissem Sinne doch zugleich ein zwiefaches, doppeltes ist«, und das
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Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Bd. 3: Das philosophische Werk II, Stuttgart 1968, S. 639. (Fragmente und Studien 1 7 9 9 - 1 8 0 0 . [505]) Hans-Jürgen Schings: Agathon, Anton Reiser, Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman, in: Wilhelm Wittkowski (Hg.): Goethe im Kontext, Tübingen 1984, S. 4 3 - 6 8 , hier S. 52fr. Novalis Schriften. Hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Bd. 3, a.a.O., S. 646. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. von Fritz Bergemann, Frankfurt/M ' 1 9 8 7 , S. 1 3 0 .
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»in zwei schöpferischen Momenten, aus zwei Ideen« hervorgegangen sei.8 Die erste (das Werk initiierende) Idee sei die eines >bloßen Künstlerromansgattungsspezifischen TendenzKünstlerroman< eine >Bildungslehre der LebenskunstLehrjahre< als Produkt eines ästhetischen Reflexionsprozesses und erkennt ihren Ursprung in der >Idee< eines einfach strukturierten Künstlerromans, in dem das spaltende (autoreflexive) Prinzip noch nicht zum Tragen kommt, aber keimhaft schon angelegt ist. Mignon, die Verkörperung >naiver NaturpoesieBretter< zu besteigen, >die die Welt bedeuten^ Schon in der >Theatralischen Sendung< ist sie als chimärisches Zwitterwesen konzipiert, das im Kindesalter verharrt, weil es sich, um erwachsen zu werden, aufspalten müßte - oder aber als Erwachsene(r), wie der Vater, dem Wahnsinn verfiele. So steht Mignon fur einen utopischen Stand der Unschuld, als deren Versprechen die Kunst erscheint, das einzulösen sich aber als unmöglich herausstellt. Das gilt vor allem fur die theatralische Illusionskunst. Verstellung ist ihr Prinzip. Nicht durch Rückkehr zur Natur, sondern durch Totalisierung der Kunst sucht sie die verlorene Einfalt wiederzugewinnen. Diesem Paradox aber (der Idee nach Westen zu segeln, um Indien zu erreichen) ist Mignon nicht gewachsen. Deshalb muß sie sterben und wird - in der Hoffnung auf eine unabsehbare Zukunft - einbalsamiert. Das Dilemma, aus dem das von Schlegel auf den >PunktLehrjahre< erwächst, ist in der theatralischen Sendung< bereits angezeigt. Auch wenn Wilhelm hier noch nicht als der >arme Hund< erscheint, als den Goethe ihn später beschreibt, sondern als >geliebtes dramatisches Ebenbild< des Dichters. 9 Das zögerliche »Ja denn«, mit dem Wilhelm am Ende der >Sendung< dem Drängen der Freunde nachgibt und in die Schauspielerkarriere einwilligt, markiert den Vorbehalt, aus dem die Revision erwächst. Der Glaube, daß Kunst und Leben in ein fruchtbares Verhältnis treten könnten, daß künstlerische Erfüllung innerhalb der Welt — sowie Vervollkommnung der Welt durch die Kunst - möglich
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Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, in ders.: Kritische Schriften. Hg. von Wolfdietrich Rasch, München 3 i 9 7 i , S. 4 7 3 - 5 2 9 , hier S. 524Í. Brief an Frau von Stein vom 2 4 . 6 . 1 7 8 2 — Johann Wolfgang Goethe: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Karl Robert Mandelkow unter Mitarbeit von Bodo Morawe. Bd. 1 : Briefe der Jahre 1 7 6 4 - 1 7 8 6 , Hamburg 2 1 9 6 8 , S. 399.
seien, steht von Anfang an auf der Kippe. Von einer theatralischen Sendling« Wilhelms kann nur ironisch die Rede sein. Die These, Goethe suche in den >MeisterKrankheit zum Tode< soll durch die Kunst, das Gift, das sie hervorruft, überwunden werden. Die Therapie ist riskant: Nur bei geringer Dosierung tritt der erwünschte Immunisierungseffekt ein. Sonst reißt die Kunst -
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Werther und Anton Reiser erfahren müssen - den, der sich auf sie einläßt, in den Abgrund. Leben gewährt sie nur um den Preis eines schockierenden IchVerlusts. An dieser Einsicht, die mit dem Darstellungsziel nicht in Deckung zu bringen ist, scheitert die »Theatralische SendungArchiv< heterogener Texte und überläßt es dem Leser, die Zusammenhänge herzustellen und die verlorene Einheit zurückzugewinnen. Werner, der auf Durchsichtigkeit und Eindeutigkeit der Aussage insistierende Kaufmann, ist verärgert. Gescholten wegen seines schlechten Kunstgeschmacks - mehr als Corneilles >Le Cid< hat ihn >Der lustige Schuster oder der Teufel ist los< beeindruckt - verlangt er von Wilhelm einen »ausfuhrlichen
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Herbert Marcuse: Der deutsche Künstlerroman, a.a.O., S. 69.
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und bestimmten Maßstab [..·], wornach [er] die Güte eines Stückes beurteilen könne« (TS, 330). 1 1 Sei erst einmal eine Regel als richtig erkannt und festgesetzt, lasse sich feststellen, ob sie befolgt werde oder nicht, auf dieser Grundlage müßten ästhetische Urteile doch möglich sein. Wilhelm aber kann dieser >Logik< nicht folgen. Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, beschreibt er die frustrierende Perspektive, die sich eröffnet, wenn man sich auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen einläßt: »Ich suche nun schon lange Zeit und besonders, seitdem mir meine Krankheit zum Lesen Raum läßt, zu finden, was zum Wesen des Schauspieles gehört und was nur zufällig dran ist«. Dazu aber sei es notwendig, »die Geschichte des Schauspiels von seinem ersten Ursprünge, die Theater aller Nationen und den größten Teil ihrer Stücke [zu] kennen« und zu »untersuchen, worin sie miteinander übereinkommen müssen, um gute Stücke zu sein, und worin sie voneinander abweichen können.« Endlose Studien dieser Art seien aber nicht nach seinem Geschmack. Lieber lasse er sich von bedeutenden Werken der Weltliteratur inspirieren und versuche, selbst produktiv zu werden - auch wenn sich auf diesem Wege zunächst alle Klarheit verliere. »Ich nahm«, erzählt er, »den Corneille vor, und kaum hatte ich einige Stücke gelesen, als eine solche Gärung in meinem Kopfe war und ein unwiderstehlich Verlangen in mir entstand, gleich eins in dieser Art zu komponieren« (TS, 33if.). Kunst ist das Produkt eines unerklärlichen Kopier- bzw. Reproduktionstriebs, des Dranges, ein Vorbild, das selbst schon Abbild ist, nachzuahmen und etwas >Gleichartiges< herzustellen. Sie versagt sich der von Werner verlangten einfachen Bestimmung, denn ihr Prinzip ist das der endlosen Verdopplung, in der sich die Identität des Wiederholten (nur) scheinbar erhält. Sie nimmt nicht die vom Marquis gewiesene Abkürzung (auf der, wie Wilhelm schmerzlich erfahren muß, Marodeure lauern), sondern bedeutet einen >UmwegWesen des Schauspiels^ Das Gespräch nimmt eine andere Richtung. Doch kommt das zentrale Problem des Romans, die Frage nach der ästhetischen Grundfunktion, deutlich in den Blick. Und in der Zuspitzung, die diese Frage hier erfahrt, in der Betrachtung des Problems unter dem Aspekt der Schauspielkunst, wird die Richtung erkennbar, aus der die Antwort zu erwarten ist, die Wilhelm schuldig bleibt. Leitbild des Romans, in dem sich die behandelte Problematik verdichtet, ist der >mystische Schleier< (TS, 272) bzw. >mystische Vorhang< (LJ, 12), der den 11
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Zitiert wird die theatralische Sendung< im fortlaufenden Text untere der Sigle >TS< und folgender Seitenzahl nach Johann Wolfgang Goethe: Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 9, Berlin u. Weimar 1976.
freien Blick (und Durchgang) in ein anderes Zimmer versperrt und statt dessen eine imaginäre Welt erscheinen läßt: die Bühne des Puppenspiels. Nicht nur teilt und verdoppelt er einen prinzipiell offenen Raum, er ist auch in sich selbst gespalten. Die Grenze, die er zieht, erscheint aufgehoben im Ausschnitt des Bühnenraumes, der sich in ihm eröffnet und auf den er den Blick konzentriert. Der Schleier, ein Zentralmotiv abendländischer Kunstreflexion, ist Sinnbild für das Ineins von Verhüllung und Enthüllung im ästhetischen Erlebnis. Der Grund des Paradoxons wird erkennbar: Der schöne Schein kaschiert die Spaltung, aus der er resultiert und die er betreibt, um die Welt als ein einheitliches Ganzes erscheinen zu lassen. Mit der Vorstellung des Schleiers verbindet sich die eines Davor und Dahinter, die Wilhelm nicht zur Ruhe kommen läßt. Sobald die frappierende Wirkung nachläßt, die das Puppenspiel erzeugt, sucht er herauszufinden, was der Schleier verbirgt. D.h. er gibt sich nicht zufrieden mit der Anschauung der imaginären Welt, die der Schleier hervorzaubert, sondern quält sich mit dem Gedanken, daß dieser Zauber seinen Grund in der Begrenzung des Blickfeldes hat: daß die Erscheinung des Ganzen auf der Verbergung eines Teils beruht. Dieser Gedanke bringt Wilhelm in Konflikt mit sich selbst, denn er erweckt in ihm den Wunsch, »zugleich unter den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich seine Hände verdeckt im Spiel zu haben und als Zuschauer ebendie Freude [der Illusion (LJ, 19)] zu genießen, die er und die übrige Kinder empfingen« (TS, 274). Die aufspaltende Wirkung des Schleiers setzt sich fort im Bewußtsein des Betrachters. Sie macht ihn zum Schauspieler, der sich, wie Diderot sagt, verdoppeln muß, um seiner Bestimmung gerecht zu werden. Das ist der Grund fur die Verwirrungen, von denen der Roman erzählt und an deren Auflösung er scheitert. Das Verwirrungsmotiv, das sein Gegenbild hat in der (zwar auch >doppeltenordentlichen Buchhaltung< (LJ, 37) im väterlichen Kontor, ist allgegenwärtig. Bezeichnenderweise taucht es erstmals auf in Verbindung mit den Drähten, an denen die Marionetten hängen, deren anderes Ende der Vorhang kaschiert und angesichts derer es Wilhelm klar wird, daß die Puppen »nicht selbst redeten« und »sich nicht von selbst bewegten« (TS, 273). »Verwirrt mir die Drähte nicht, es ist mehr Mühe, als Ihr denkt, bis man's so zusammenkriegt« (TS, 269), warnt die in der »Theatralischen Sendung< noch als Schutzpatronin des Helden auftretende Großmutter (selbst eine klassische Marionettenfigur), die überzeugt ist, daß Kinder »Komödien und Puppen haben müssenBüchelchen< hinter dem Rücken der wirtschaftenden Köchin öffnet und sich ans Lesen macht. Mit der Frage, wer die Fäden zieht, verbindet sich die nach den Stimmen der Marionetten, wer hinter dem Vorhang redet. Das Verwirrungsmotiv ist in Goethes Künstlerroman von Anfang an babylonisch verfaßt. Nicht umsonst wird erzählt, daß Wilhelm »eine ziemliche Gabe zu lügen« (TS, 277) besitzt. Dieser korrespondiert die weihnachtliche >Gabe< der Großmutter. Die durch das Wortspiel, das Homonym, hergestellte gedankliche Verbindung verdeutlicht das Problem: Der (den Raum spaltende und die verhüllte Wirklichkeit durch eine imaginäre ersetzende) »mystische Schleier< reflektiert die Wirklichkeit der Erzählung selbst. Entsprechend wirkt sich das Speisekammererlebnis die Urszene des Romans - aus: [Wilhelm] las nunmehro viel und fand in Komödien immer seine beste Befriedigung, und was er von Romanen las, konnte er nicht umhin, in seinem Sinne zu Schauspielen umzubilden. Er war in dem Wahn, daß alles, was in der Erzählung ergötzte, vorgestellt noch viel treffender sein müsse. (TS, 285)
Der theatralische Wahn gründet im symbolischen Tausch, in einem literarisch initiierten >UmbildungsArdinghello< stoßen wir an zentraler Stelle auf die ästhetische Forderung nach Versinnlichung des Sprachzeichens und die sie begründende rhetorische Vorstellung der evidenten Rede, die, wie Cicero und Quintilian schreiben, weniger über die Dinge spricht, als sie plastisch »vor Augen stelltLehrjahrenSprachrauschWorte< und >Gedanken< miteinander in Einklang, in ein angemessenes Verhältnis, zu bringen. Der Erzähler stellt diesen Aspekt deutlich heraus: Als Knabe hatte er zu großen, prächtigen Worten und Sprüchen eine außerordentliche Liebe, er schmückte seine Seele damit aus wie mit einem köstlichen Kleide und freute sich darüber, als wenn sie ihm selbst gehörten, kindisch über diesen äußern Schmuck. In der Folge, als der Jüngling sich von innen heraus fühlte, seine Seele in Arbeit und Bewegung kam, verschmähte er die Worte, weil er das für unaussprechlich hielt, was in ihm aufquoll. Ihm war es auch nicht in Worte zu fassen, es dehnte sich alles zu weit auseinander, daß er es mit den engen, ängstlichen Banden des bestimmten Ausdruckes nicht umgrenzen konnte. (TS, 328)
Im Gespräch mit anderen fühlt er sich mißverstanden, sieht er den >Faden seiner Ideen< zerrissen. »[U]m mehrerer Deutlichkeit willen« greift er auf >Gleichnisse< zurück und erzählt >Geschichtenres< und >verba< zu schließen, übt er sich im Schreiben, beginnt er, Gedichte und Stücke zu verfassen, und sieht in deutlicher Übereinstimmung mit der Lehre Ciceros die Aufgabe der Dichtung darin, >Begriffe und Sachen< miteinander in Einklang zu 81
bringen, um so jener »unsägliche[n] und unherstellbare[n] Verwirrungen« Herr werden zu können, die aus >Mißverständnissen< entstehen, »denen oft nur ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt [...].« (TS, 339) Entsprechend gestaltet sich Wilhelms Liebesverhältnis mit der Schauspielerin Mariane, die in der theatralischen Sendung< noch >Madame B.< heißt. Wie Mignon hat sie ein chimärisches Wesen. Seit ihr Mann sie verlassen hat, gilt sie »wechselweise fur Jungfrau, Frau und Witwe« (TS, 294). Eine der Marionetten, mit denen Wilhelm als Kind spielt, erscheint in dieser Figur verlebendigt. 1 5 Die Fäden sind nicht mehr sichtbar, um so deutlicher tritt in ihrer Beschreibung das Verwirrungsmotiv hervor. In der gewöhnlich »verworrne[n] Haushaltung ihrer Stube« (TS, 300), wo die »Trümmer eines augenblicklichen, leichten, falschen Putzes [...] zerstreut in rascher Unordnung durcheinander [liegen]« (TS, 301), trifft Wilhelm, heißt es doppeldeutig, >die Geliebte selbst anmystischen Schleier< hebt, um seine Neugier zu befriedigen: Aus dem Parterre konnte er ihren [- Marianes] Anblick fast gar nicht mehr aushalten, es saß ihm gleich an der Kehle. Er machte sich aufs Theater, hinter die Wände. Die perspektivische Magie war weg, aber der Zauber der Liebe blieb. (TS, 300)
Auf der Bühne des Romans, in der sich die beschriebene verdoppelt, erblicken wir ihn dann, wie er auf der anderen Seite des Vorhangs »am schmierigen Lichtwagen« steht, fasziniert vom Auftritt der Geliebten und sich inmitten der »Balken- und Lattengerippe« der Kulissen »wie im Paradies« fühlt. Kunst und Natur bilden bei Mariane eine Einheit: »[H]alb natürlich, halb theatralisch« (TS, 299), heißt es, tändelt sie eine Zeitlang mit Wilhelm herum; »mit Natur und Kunst« empfängt sie ihn »in verstohlener Nacht« (TS, 312). Mariane betrachtet die Affare zunächst nur als Spiel. Dieses aber entgleitet schon bald ihrer Kontrolle, denn sie identifiziert sich mit der Rolle, die sie spielt, und damit verliert sich der Unterschied zwischen fingierter und echter Leidenschaft. Mit dem Traum von einem >anderen Leben«, den sie in Wilhelms Armen träumt, verhält es sich nicht anders: Mariane lebt diesen Traum; für sie ist er realer als die Wirklichkeit, auf die die alte Barbara vergeblich hinweist.
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Kittler sieht das ähnlich; Mariane ist nicht Wilhelms >erste Liebe«, argumentiert er, sondern deren Fleisch gewordenes Abbild: Sie >reinkarniert«, die von einem >goldenen Schleier umgebene« Muse, die sich Wilhelm erstmals in Gestalt der weihnachtlichen >Gabe< der Großmutter zeigt. Vgl. Gerhard Kaiser, Friedrich A. Kittler: Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller, Göttingen 1978, S. 33.
Mariane gleicht Mignon, sie ist >naiv< - sie ist, was sie scheint. Für sie stellen sich die Dinge anders dar als für den gewitzten Leser, der durchschaut, daß sie Wilhelm und sich selbst etwas vormacht — der weiß, daß ihr >Glück< auf Verbergung und Verdrängung des Verhältnisses mit dem betuchten Norberg beruht, der sie aushält. Durch den Erzähler ist er bestens instruiert: Denn Leichtsinn war ihre Hülfe, so lang sie in niedriger Verworrenheit lebte, sich über ihren Zustand betrog oder vielmehr ihn nicht kannte; da erschienen ihr die Vorfälle, denen sie ausgesetzt war, nur einzeln. Vergnügen und Verdruß lösten sich ab, ihre Demütigung wurde durch Eitelkeit und der Mangel oft durch augenblicklichen Überfluß vergütet. (TS, 306)
Mariane zeigt sich, indem sie sich verstellt. Verstellung und Betrug sind wesentliche Elemente ihres Schauspielertums und Zeichen ihrer >Unnaturspielt< diese Liebe, anders aber als Mariane verfällt er seiner Rolle nicht, sondern benutzt sie, um sich als Künstler zu beweisen: Wo er stand und ging, redete er mit sich selbst, sein Herz flöß beständig über, und er sagte sich in einer Fülle von prächtigen Worten die erhabenste Gesinnungen vor, er glaubte den hellen Wink des Schicksals zu verstehen, das ihm durch Mariane die Hand reichte, sich aus dem stockenden, schleppenden bürgerlichen Leben herauszureißen, das er schon so lange gewünscht hatte. (TS, 306)
Die Beziehung zwischen Mariane und Wilhelm ist ähnlich strukturiert wie die zwischen Lotte und Werther: Die Liebenden täuschen sich selbst und gegenseitig, sie spielen, ohne es zu wissen, Komödie. In den >Lehrjahren< wird darauf hingewiesen: »[I]ch will dir alles erzählen«, ruft Wilhelm aus, »Wir wollen uns womöglich täuschen und jene fur die Liebe verlornen Zeiten wieder zu gewinnen suchen« (LJ, 25). Doch bedeutet die durch Illusion und Verstellung begründete Liebe, aus der Felix hervorgeht, ein Glück, das dem zur Besinnung gekommenen, in den Turm aufgenommenen Wilhelm nicht mehr zuteil wird. Kunst und Natur stimmen in ihr für einen kurzen Moment überein: [W]ie die Natur fast durchaus Unerfahrenheit der Erfahrenheit untergeordnet hat, so ist's auch hier; ein Teil wird immer die Rolle des Freundes spielen, der, in einer Gegend schon bekannt, den Ankömmling in ihre Schönheiten einweihen will. Schweigend lenkt er ihn unmerklich hie- und dorthin, läßt ihm bei diesem oder jenem Anblick sein Entzücken, ohne zu verraten, was für Großes ihm bevorsteht, läßt ihn mühsam auf- und absteigen, wo es nicht nötig wäre, um eine Aussicht von der Seite zu zeigen, wo sie eben die meiste Wirkung tut, und der andere, er merkt die List oder nicht, dankt seinem Führer fur die liebevolle Mühe. (TS, 303)
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Das Gleichnis, das das sexuelle Erlebnis, die Entdeckung von Marianes Körper als Reise durch eine Terra incognita vorstellt, symbolisiert, wie Friedrich Kittler formuliert, >den langwierigen und artifiziellen Initiationsweg zur ars amandiFranz Sternbalds Wanderungen^ Das zentrale Motiv des Genres, die Erfahrung eines >Anders-seins< bzw. >Anders-werdens des Selbst< erscheint hier enggefuhrt mit den Themen der gebrochenen Treue und der nicht mehr lesbaren, hieroglyphischen Schrift. Davon zeugt bereits die Abschiedsszene, mit der der Roman beginnt: »O versprich mir, daß du derselbe Mensch bleiben willst, daß du dich nicht vom Glanz des Fremden willst verfuhren lassen, daß alles dir noch ebenso teuer ist, daß ich dich noch ebenso angehe«, fordert Sebastian den Helden auf und entlockt ihm so das Versprechen: »[M]ag die ganze Welt klug und überklug werden, ich will immer ein Kind bleiben.« (STA, 19) 4 Dieser Abschiedsszene steht eine andere gegenüber, die ihre Korrektur bedeutet. Diesmal ist es Dürer, der Lehrmeister, dem Sternbald Lebewohl sagt. Der >UmwegWanderungenderselbe< zurückkommen wird, daß er nicht Kind bleiben kann (STA, 134). Sternbalds Versprechen erinnert an das Schicksal Mignons, die/der es in der Tat einlöst, die/der sich weigert (lieber stirbt als) erwachsen zu werden. Der Weg aber, den Tiecks Held zu gehen hat, ist der Wilhelms. Der Erzähler läßt daran keinen Zweifel. Franz, so erklärt er, »verließ jetzt Nürnberg, seine vaterländische Stadt, um in der Fremde seine Kenntnis zu erweitern und nach einer mühseligen Wanderschaft dann als ein vollendeter Meister zurückzukehren.« (STA, I2f.). Die Einsicht, die er auf diesem Weg, auf dem ihm an entscheidender Stelle ein Nachfahre Ardinghellos begegnet und die Richtung weist, gewinnt, ist eben die, daß die Kunst, in der er sich >ausbildetStA< und die überarbeitete Fassung von 1843 in Kursivschrift und mit der Sigle >StB< und folgender Seitenzahl im fortlaufenden Text nach Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen. Studienausgabe Hg. von Alfred Anger, Stuttgart 1966.
Abschied von der Natur und aller kindlichen Einfalt fordert, weil er ihr wesentlich ist, weil sie ihn selbst vollzieht. Wie die Schrift hintertreibt sie, was sie vordergründig behauptet: die Identität und Originalität des Gegenstandes, den sie, indem sie ihn >nachahmtStriche auf dem Papiere< (bzw. der >Schreibtafeltrockene< Original. Der tote Punkt läßt sich durch Imitation, durch >Nachzeichnen< des Vorbildes, nicht überwinden. Dazu bedarf es einer anderen Kunstform, die nicht >abbildetbildendeSternbald< die Bilder des Abend- und Morgenrots. So schon in der Eingangsszene: Sternbald verläßt Nürnberg im Licht der aufgehenden Sonne. Aber später erst, im Lichte des Altarbilds, das Sternbald für die Kirche seines Heimatdorfs malt, erschließt sich vollends, was dieses Bildfeld bedeutet.5 Bis zu Sternbalds Ankunft schmückt ein verblaßtes Ölgemälde, eine Kreuzigungsgruppe den Altar. Es ist >im alten Stil< gemalt; aus den Mündern der dargestellten Personen gehen »Zettul mit Sprüchen« (STA, 69) hervor, die Auskunft geben über die Bedeutung des Dargestellten und von denen sich der unbekannte Meister hat inspirieren lassen. Sternbald ersetzt dieses allegorisch (emblematisch) strukturierte Bild vom Leiden und Tod des Erlösers durch eine >naive< Darstellung der Verkündigung seiner Geburt, die symbolisch organisiert ist. Der Eindruck des Naiven entsteht auf zweierlei Weise: Auf formaler Ebene fuhrt das Verschwinden der Spruchbänder, der Schrift, zur Perfektionierung der Illusion, der mediale Bruch scheint aufgehoben, und inhaltlich künden die fromme Haltung, die einfältigen Gesichter und anmutigen Bewegungen der dargestellten Hirtengruppe, von der Wirklichkeit des göttlichen Kindes, die der eigentliche Gegenstand des Bildes ist — bzw. als deren symbolische Aufhebung es sich präsentiert. Um so bemerkenswerter ist, daß das Licht, das die Szene erhellt, zwei Quellen entspringt, daß die >naive< Figuration einem bipolaren Strukturraum eingepaßt ist: Ein dunkles Abendrot lag auf den fernen Bergen, denn die Sonne war schon seit lange untergegangen, in dem bleichroten Scheine lagen alte und junge Hirten mit ihren Herden, dazwischen Frauen und Mädchen; die Kinder spielten mit Lämmern. In der Ferne gingen zwei Engel durch das hohe Korn und erleuchteten mit ihrem Glänze die Landschaft. Die Hirten sahen mit stiller Sehnsucht nach ihnen, die Kinder streckten die Hände nach den Engeln aus, das Angesicht des einen Mädchens stand in rosenrotem Schimmer, vom fernen Strahl der Himmlischen erleuchtet. Ein junger Hirt hatte sich umgewendet und sah mit verschränkten Armen und tiefsinnigem Gesichte der untergegangenen Sonne nach, als wenn mit ihr die Freude der Welt, der Glanz des Tages, die anmutigen und erquickenden Strahlen verschwunden wären; ein alter Hirte faßte ihn beim Arm, um ihn umzudrehen, ihm die Freudigkeit zu zeigen, die von morgenwärts herschritt. Dadurch hatte Franz der untergegangenen Sonne gegenüber gleichsam eine neuaufgehende darstellen wollen, der alte Hirte sollte den jungen beruhigen und zu ihm sagen: >Selig sind, die nunmehr sterben, denn sie werden in dem Herrn sterbenKlarheitArdinghelloverschiebtwendenfrommer< und >sinnlicher< Kunst, von Norden und Süden, deutschem Mittelalter und italienischer Renaissance, spiegelt sich das die abendländische Sprachreflexion von Anfang an bewegende Spannungsverhältnis von Wortsinn und Wortkörper. - Der Künstlerroman reflektiert die res-verba-Dichotomie - wie Sebastians barsche Reaktion auf Vansens Forderung nach Natürlichkeit der Erzählung zeigt - im Lichte des Differenzschemas, von Kunst (ars) und Natur (natura), das ebenfalls rhetorischer Herkunft ist. Mit der Einsicht in die zeitliche Dimensioniertheit des sprachlichen Mediums verbindet sich daher die Forderung nach Darstellung der >Prozeßhaftigkeit< des ästhetischen Geschehens. Dem trägt der Roman auf zweierlei Weise Rechnung: Die Kunstwirklichkeit zeigt sich als alterierende Wirkung, als ein >Anderswerden< dessen, der sich auf sie einläßt. Die Klage des Schmiedegesellen, der 16
Alfred Anger, der Herausgeber der Studienausgabe des Sternbald spricht von der Gegenüberstellung zweier Kunst- und Lebensentwürfe, zwischen denen es >keine Verbindung< mehr gebe. (Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen. Studienausgabe. Hrsg. von Alfred Anger, a.a.O., S. 570.)
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auf Sternbalds Rat hin Dürer besucht und sich danach nicht mehr in der bürgerlichen Welt zurechtfindet, legt davon Zeugnis ab. Es ist, klagt er bei der zweiten Begegnung mit Sternbald, [...] ah wäre damals von Eurer Zunge Gift durch meine -Obren in meinen Körper geflossen, daß sich seitdem alle meine Sinne t/erdreht und verschoben haben, und ich darüber ein ganz anderer Mensch geworden bin. (STB, 443)
Zudem nimmt das im Roman erörterte dichtungstheoretische Postulat der Versinnlichung des abstrakten Sprachzeichens in der erzählten Geschichte die Gestalt der Reise an: der Wanderschaft eines Malergesellen, der die apollinische Kunstwelt des Nordens (eine Welt der klaren Kontur und des einfaltigen Sinnes, den ein fester Glaube stützt) verläßt und sich verliert in einer Welt der Farbe und des ausschweifenden Lebens, im sinnenfrohen Italien, der bacchantischen Welt Ardinghellos. Dieses Nacheinander im Aufbau darf nicht mißverstanden werden. Weder deckt sich das Ziel der Reise mit dem der Erzählung, noch geht es darum, diese Reise als Irrweg auszuweisen. Nicht um Rechtfertigung eines der beiden gegenübergestellten Kunst- und Lebensentwürfe ist es zu tun. Narratives Ziel ist vielmehr die Darstellung des Widerspruchs, aus dem das Kunsterlebnis resultiert: die frappierende Erfahrung einer Andersartigkeit desselben, von der die Kunst kündet und die sich in ihrer Anschauung einstellt. 1 7 Nichts bleibt auf dieser Reise wie es ist, im ästhetischen Erlebnis verliert sich alle Identität. Das erste, was Sternbald auf seiner Wanderschaft in Erfahrung bringt, ist denn auch die Ungewißheit seiner Geburt, das Rätsel seiner Herkunft. Der Mann, den er für seinen Vater gehalten hat, liegt, als er nach Hause zurückkehrt, im Sterben und verabschiedet sich von ihm mit den Worten: »Du bist mein Sohn nicht, liebes Kind.« (STA, 49), einer Negativfassung der Formel, mit der Gottvater den am Kreuz sterbenden Jesus erhöht. Dem geht folgendes Initialerlebnis voraus. Als Franz sich dem Heimatdorf nähert, erscheint ihm der Ort, wo er als Kind gespielt hat, unverändert. Er findet, heißt es, »den Baum und den Rasen am Fuße desselben noch ebenso weich und frisch als ehemals« und erschrickt »heftig im Innersten« bei der Vorstellung, »daß er nun wieder unter dem alten Baume stehe und wieder dasselbe denke und empfinde, er noch derselbe Mensch sei« (STA, 43). Diese Erfahrung bedeutet ihm jedoch nicht Bestätigung der Identität; im Gegenteil, sie macht ihm bewußt, daß er inzwischen ein >Anderer< geworden ist, und provoziert die beunruhigende Frage »Wer bin ich?« bzw.: 17
Das gilt nicht zuletzt auch ftir Dürers Werk, dessen >Hinfalt< täuscht, das den aufmerksamen Betrachter auf Reisen schickt, so daß dieser sich unvermutet bei Raffael und Correggio wiederfindet. Vgl. Hildegard Nabbe: Ludwig Tiecks Verhältnis zu Correggio, in: Seminar 1 3 , 1 9 7 7 , S. 154—169. III
Wie konnte ich alles, wie konnte ich meine Eltern so lange, fast, wenn ich wahr sein soll, vergessen? Wie wäre es möglich, daß uns die Kunst gegen die besten und teuersten Gefühle verhärten könnte. Und doch kann es nur das sein, daß dieser Trieb mich zu sehr beschäftigte, sich mir vorbaute und die Aussicht des übrigen Lebens verdeckte. (STA, 4 3 f . )
Zweierlei fällt auf: Den Grund des Vergessens bzw. der Veränderungen, die in ihm vorgehen, erblickt Sternbald weniger im Wirken der Zeit, als in der Begegnung mit der Kunst. Und Auslöser des Entfremdungserlebnisses ist die Erfahrung einer sich gleich bleibenden Natur. Als Motor der Kunst erscheint die Differenz zwischen einer als konstant erfahrenen Außenwelt und einem zeitlichem Wandel unterworfenen Ich, das der Kunst bedarf, um sich zu behaupten. Das prinzipiell >AndereNaturBerg, Tal und StromesglanzAhndung< zu erkennen glaubt, kommen als Ausfluß, Projektion eines nicht lokalisierbaren, und daher nicht einfach dem erlebenden Subjekt zuzuschreibenden >Innen< in den Blick. Die Landschaft erscheint als uneigentlicher Ausdruck, als Metapher, 112
fur etwas anderes, das zunächst als >Orgelgesang< bzw. >unendliche Melodie< beschrieben ist. Doch bringt uns diese zweite, das Naturbild ersetzende und sich aus ihm ableitende Metapher dem eigentlich Gemeinten< nicht näher. Sie ist diesem allenfalls ähnlicher, weil sie das Vorgestellte ins Unsichtbare entrückt. Und nicht anders steht es um die das musikalische Bild ablösende (dritte) Metapher einer >das Höchste bezeichnenden Hieroglyphe^ die das Bild als Piktogramm ausweist — die es in einen sprachlichen Horizont rückt und so auf den Text zurückweist. Die Rede schöpft aus sich selbst; sie ist ohne substanzielles Gegenüber. Das beschriebene Erlebnis ist nicht mystischer, sondern poetischer Art. Der Gegenstand der Rede ist austauschbar, ist nur Mittel zum Zweck, der darin besteht, eine emphatische Bewegung auszulösen und in Gang zu halten, die sich selbst einzuholen sucht, die dieses Ziel aber nicht erreicht. Deshalb die Klage über die Ohnmacht der Kunst und deshalb auch die Rechtfertigung der Darstellung des Mißlingens, des Zu-kurz-greifens der Bilder, die sie hervorbringt!
Dem beschriebenen Naturerlebnis korrelieren zwei >KunsterlebnisseNorden< verabschiedet, -
sowie das den Roman abschließende Erlebnis von Michelangelos Jüngstem Gerichts angesichts dessen Franz sich seines Lehrers (Dürer) erinnert und dem römischen dolce vita entsagt.
Der Besuch der Sixtinischen Kapelle ist als Bekehrungserlebnis gestaltet: In der ruhigen Einsamkeit schaute Sternbald das erhabene Gedicht mit demütigen Augen an. [ . . . ] das gewaltige Entsetzen des Augenblicks bemächtigte sich auch seiner. [ . . . ] er fühlte sich innerlich neu verändert, neu geschaffen, noch nie war die Kunst so mit Heeresmacht auf ihn zugekommen. (STA, 390f.)
Dem korrespondiert in der Beschreibung des als »schwindelerregenden Riesengebäude« und »Bild der Unendlichkeit« vorgestellten Straßburger Gotteshauses folgende Aussage: Da steht er [• der Münster] in voller Herrlichkeit, ist fertig, ist da und bedarf keiner Verteidigung in Worten und auf dem Papiere; er verschmäht das Zeichnen mit Linien und Bögen und all den Wirrwarr von Geschmack und edler Einfachheit. Das Erhabene dieser Größe kann keine andre Erhabenheit darstellen; die Vollendung der Symmetrie, die kühnste allegorische Dichtung des menschlichen Geistes, diese Ausdehnung nach allen Seiten und über sich in den Himmel hinein; das Endlose und doch in sich selbst Geordnete; die Notwendigkeit des Gegenüberstehenden, welches die andre Hälfte erläutert und fertigmacht, so das eins immer um des andern willen und alles, um die gotische Größe und Herrlichkeit auszudrücken, da ist. (STA, 2 1 7 )
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Gemeinsamer Nenner ist der ästhetische Zentralbegriff des Erhabenen. 18 Im Gegensatz zum Begriff des Schönen bzw. Anmutigen, mit dem ihn die Tradition paart, bedeutet er die Erfahrung eines unermeßlichen Abstands bzw. nicht zu kittenden Bruches zwischen dem (das menschliche Maß sprengenden) Gegenstand der Darstellung und ihren begrenzten Möglichkeiten. Das Erhabene signalisiert ein grundsätzliches Versagen des künstlerischen Ausdrucks bzw. eine prinzipielle Uneinholbarkeit des eigentlich Gemeinten und läuft daher auf eine Verneinung seiner selbst hinaus, um in dieser Form (in ironischer Exposition der eigenen Unzulänglichkeit) >einzuholenerschrickt< Sternbald >tief im Innersten^ er glaubt, »seine eigensten Gedanken [seien hier] deutlich ausgesprochen«. »[S]o habe ich mich denn nicht geirrt«, ruft er begeistert aus, »wenn ich mit dem stillen Glauben hier anlangte, daß ihr mir vielleicht behülflich sein würdet, mich aus der Irre zurechtzufinden.« - Der Alte aber winkt ab; er weiß um die Unauflöslichkeit des Irrtums: »Wir irren alle«, antwortet er, Wir irren alle, [ . . . ] wir müssen irren, und jenseit dem Irrtum liegt auch gewiß keine Wahrheit, beide stehn sich auch gewiß nicht entgegen, sondern sind nur Worte, die der Mensch in seiner Unbehülflichkeit dichtete, um etwas zu bezeichnen, was er gar nicht meinte. (STA, 253) 18
Aufschlußreiche Lektüre bietet in diesem Zusammenhang Christian Begemann: Erhabene Natur. Zur Übertragung des Kunstbegriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts, in: DVjs 58, 1984, S. 7 4 - 1 1 0 .
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Über diese - Goethes Konzept des >holden Irrens< überholende, auf Nietzsche vorverweisende - Einsicht wächst der Roman nicht hinaus. 1 9 Das Problem ist unlösbar. Der geplante dritte Teil, die Heimkehr, ist nicht bzw. nur um den Preis der Verkitschung realisierbar. In der symmetrischen Ordnung des Straßburger Münsters spiegelt sich das bipolare Erzählschema des Romans, und Bild für den Roman ist das Bauwerk auch hinsichtlich seiner Unvollendetheit. Beide Aspekte reflektieren die innere Gebrochenheit der allegorischen Form, die Ausdruck ist, wie Paul de Man formuliert, eines eigentlich zeitlichen Schicksalsc der Tragik des (romantischen) »Subjekt[s], das versucht [ . . . ] , sich der Einwirkung der Zeit zu entziehen, indem es in der ihm in Wahrheit ganz unähnlichen, in nichts entsprechenden Welt der Natur Zuflucht sucht [ . . . ] . « Paul de Man erläutert den Zusammenhang so: In der Welt des Symbols wäre es möglich, daß Bild und Substanz zusammenfallen, denn die Substanz und ihre Darstellung unterscheiden sich in dieser Sprache nicht seinsmäßig, sondern nur ausdehnungsmäßig, beide sind Teil und Ganzes desselben Kategoriengefiiges. Ihre Beziehung ist eine Beziehung der Simultaneität, welche im Grunde räumlicher Natur ist und in der die Zeit nur eine kontingente Rolle spielt. In der Welt der Allegorie hingegen ist die Zeit die ursprünglich konstitutive Kategorie. Die Beziehung zwischen dem allegorischen Zeichen und seiner Bedeutung (signifié) ist nicht dogmatisch festgeschrieben [··.]. [D]amit eine Allegorie zustande kommt, ist es notwendig, daß das allegorische Zeichen auf ein anderes, ihm voraufgehendes Zeichen Bezug nimmt. Die vom allegorischen Zeichen konstituierte Bedeutung kann daher nur in der Wiederholung [...] eines vorgängigen Zeichens bestehen, mit dem das allegorische Zeichen niemals identisch werden kann, da das Wesen dieses vorgängigen Zeichens sich in reiner Vorgängigkeit verhält. 20 Deutlicher läßt sich das Strukturprinzip des >SternbaldSternbald< füllen einen nicht unbeträchtlichen Teil des Romans. Sie gipfeln in der Herausarbeitung des Begriffs der allegorischen Kunst«, die wir heute die symbolische Kunst nennen würden und die der eigentliche Grundgedanke aller Kunstgespräche des >Sternbald< ist.« (Ernst Behler: Der Roman der Frühromantik, in: Helmut Koopmann (Hg.), Handbuch des deutschen Romans, Düsseldorf 1983, S. 2 7 3 - 3 0 1 , hier S. 2 8 1 . ) So sehr wir der These zustimmen, daß Tiecks Roman aus der systematischen Entwicklung« eines allegorischen Kunstbegriffs hervorgehe — bzw. daß eine sich im Allegoriekonzept zuspitzende Kunstreflexion das strukturbildende Prinzip der Erzählung ist — so vehement widersprechen wir also der möglicherweise unter dem Einfluß von Fr. Schlegels wechselnder Begriffsverwendung zustande gekommenen Deutung dieses Konzepts im symbolästhetischen Sinne. Die Romanstruktur belehrt uns eines Besseren. Paul de Man: Die Rhetorik der Zeitlichkeit, in ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. von Christoph Menke, Frankfurt/M 1993, S. 8 3 - 1 3 0 , hier S. I03f. " 5
V. Das zerrissene Buch. Ε. T. A. Hoffmann: >Lebensansichten des Katers Murr
gute Künstlerroman< zeigt, schreibt Ernst Bloch, »Werkstatt als Leben, Leben als Werkstatt und darin eine Frücht, die bildend gerät oder auch nicht« — und merkt an: Wird doch im Bilden solcher Geschichten — und nur in ihnen — wiederum ein Bilden abgebildet, voll Auf und Ab, viel Wetter und Einsamkeit, Meeresstille und glücklicher Fahrt, Labyrinth und Faden, Dickicht und Lichtung oder auch nicht. 1
Das autoreflexive Strukturprinzip ist dem Genre immanent. Der Künstlerroman ist selbst Kunstwerk; d. h., er gehört der Wirklichkeit an, die er zu erfassen sucht. Entsprechend behandelt er sein Thema, die Frage nach der Kunst — nach dem >Anderen< (dem Entgegengesetzten) der Natur — als Frage nach dem Grund seiner selbst, der poetischen Rede, die er realisiert. Die idealistische Ästhetik versteht diese Frage als Frage nach dem Autor, dem Subjekt des künstlerischen Schaffensprozesses. Die autoreflexiven Erzählform weist dieses Subjekt jedoch als Funktion der Kunstwelt aus, die es erschafft. Verstellung und Verführung sind der Stoff, aus dem der Künstlerroman gemacht ist und der seine Phantasie anregt. Nicht dem >wahren Gesicht«, sondern der Maske gilt das primäre Interesse. Die Erzählung realisiert sich in der Form anschaulicher Bilder, in der Schilderung von Personen und Handlungsabläufen. Aber nicht um das Dargestellte geht es, sondern um die Bedingungen der Möglichkeit von Darstellung. Die erzählte Geschichte interessiert nur, insofern sie diese reflektiert. Wichtiger als was erzählt wird ist der Modus der Erzählung. Der Ort aber, der so in den Blick kommt, entzieht sich positiver Bestimmung. Im Grunde ist es kein Ort, sondern — wie das Vorhangsmotiv in den >Lehrjahren< anzeigt — ein Spalt, der diesen Ort teilt und verdoppelt. Die semantische Differenz, der dem Kunstwerk wesentliche Unterschied zwischen dem Bild und dem, was es abbildet, läßt sich auch nicht dadurch überwinden, daß man ihn darstellt. In potenzierter Form wendet er sich vielmehr gegen das von ihm Hervorgebrachte und droht, es zu vernichten. Vergeblich versucht Goethe, den im >Ardinghello< dargestellten Riß zu kitten. Im >Sternbald< klafft er weiter auseinander denn je. Die Spaltungs- und 1
Ernst Bloch: Philosophische Ansicht des Künstlerromans, in ders.: Verfremdungen I, a.a.O., S. 65.
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Verdopplungsprozesse, die die auf Exposition der sprachlichen Differenzstruktur angelegte Erzählform initiiert, zerreißen die Erzählung innerlich und verhindern ihren Abschluß. Die Utopie der glückseligen InselnSternbald< als Metapher seines unmöglichen Schlusses und (Vor-)Zeichen einer fragmentarischen Tendenz, der in romantischer Literatur prinzipielle Bedeutung zukommt. Dem entspricht der negative Aspekt, unter dem das Genre das im Zentrum abendländischer Kunstreflexion stehende Wahnsinnsmotiv aktualisiert. Anders als in idealistischer Tradition, der es einen Zustand produktiver Hellsicht bedeutet, kündet das Wahnsinnsmotiv hier von den Agonien eines gespaltenen Bewußtseins. Das babylonische Trauma wirkt nach. Der >moderne< Mensch sieht sich verstoßen in eine Welt des täuschenden Scheins, in ein geschlossenes System der Verkennung und Selbstverkennung, und sieht diesen Zustand verursacht durch die Sprache, deren Zeichen der > natürlichen < Motivation entbehren: die im Dunkeln läßt, wie Worte und Gedanken zusammenhängen und so Zweifel nährt an der Identifizierbarkeit der Pole in der ars-natura-Relation. Der Künstlerroman reflektiert die inneren Widersprüche der transzendentalen Reflexion, die angewiesen ist auf >Bildermenschlicher< selbst als das vom Biographen Kreislers verfaßte, jener wahren Rhapsodie aus Flickstücken und Episoden. Doppelte Schrift, doppelte Biographie -
min-
destens.
(S. Kofman2)
Ε. T. A. Hoffmanns letzter Roman >Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufalligen
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Sarah Kofman: Schreiben wie eine Katze. Z u Ε . T. A . Hoffmanns »Lebens-Ansichten des Katers M u r r « . H g . von Peter Engelmann, Graz, W i e n 1 9 8 5 , S. i 8 f .
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Makulaturblätternrein< zur Erscheinung zu bringen, müßte die Erzählung sich der Worte, über die sie stolpert, und der Schrift, in der diese sich verfestigen, entledigen - ja, sie müßte sich selbst zerreißen. Das ist eine groteske Vorstellung. Doch bei der Arbeit am >Kater Murr< reitet Hoffmann der Teufel, vor dessen Raffinesse er andernorts warnt. Der Roman inszeniert die eigene Aufspaltung. Der Leser ist Zeuge eines narrativen Harakiri, mit dem die Erzählung sich der in ihr beschriebenen Welt der Kabale und Verstellung zu entziehen sucht.4 Der disparaten Erzählform entspricht die schizophrene Heldenfigur. Sie ist Wackenroders Berglinger-Gestalt 5 nachgezeichnet: ein am Rande des Wahnsinns lavierender Musiker, den die Intrige selbst im Kloster noch einholt, den nur der fehlende Schluß vor der Einweisung ins Irrenhaus bewahrt — und als dessen Alterego eine Katze erscheint, die seine Biographie zerreißt. Thomas Manns >Doktor Faustus< ist von diesem Werk inspiriert. 6 Das (als teuflische Eingebung ausgewiesene) Leverkühnsche Kunstkonzept der musikalisch destruierten Schrift - der Versuch, die sich direkter Realisation verweigernde Harmonie auf dem Umwege der Negation, durch Erzeugung einer >reinen< Dissonanz, einzuholen — ist im >Kater Murr< schon voll entwickelt. Der Roman zerbricht in der Wendung gegen sich selbst (gegen die Sprachform, in der er sich realisiert) und präsentiert diesen Bruch als Aufbruch in einen utopischen Stand der Eigentlichkeit (der aufgehobenen semiotischen Differenz), der sich nur musikalisch realisieren läßt. »Keinem Buche ist ein Vorwort nötiger als gegenwärtigem [...]« (KM, 129), beginnt das erste von insgesamt vier Vorworten. Der Herausgeber entschuldigt
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Im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle >KM< und folgender Seitenzahl nach E. T. A. Hoffmann: Werke. Durchgesehen und revidiert von Herbert Kraft. Bd. 3, Frankfart/M 1967, S. 1 2 7 - 4 9 7 . Zur autoreflexiven Erzählform des Romans s. Martin Swales: >Die Reproduktionskraft der EidechsenLebens-Ansichten des Katers Murr«, in: E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch 1 , 1992/93, S. 4 8 - 5 7 . Vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder: Sämtliche Schriften, Reinbek 1968, S. 8 8 - 1 0 4 u. 1 5 1 - 1 9 8 . Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, in ders: Gesammelte Werke. Bd. Ii, Frankfurt/M 1974, S. 159. Vgl. Dagmar von Gersdorff: Thomas Mann und
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sich fur die Erklärungsbedürftigkeit des vorliegenden Romans. Die Aussage bezieht sich auf die unglücklichen Umstände, die zum Fehldruck gefuhrt haben und im folgenden beschrieben werden. Doch eröffnet sich ein weiterer Verstehenshorizont. Die Erzählung begründet sich im Rekurs auf eine Vielzahl anderer Werke, die für ihr Verständnis wichtig sind: — Mit dem Hinweis auf die Herkunft des schreibenden - als >Kopisten< vorgestellten (KM, 165) — Katers aus dem Geschlecht derer >von Hinzenfeldt< bekennt sie sich zu ihrer Tieck-Nachfolge und den Formprinzipien der romantischen Ironie. — Durch Anspielungen auf Werke von Shakespeare und Cervantes, Rabelais und Sterne knüpft sie an die Tradition komischer Literatur an, die vom Stolpern des >Geistwesens< Mensch über seine sinnliche Natur handelt, die dieses Dilemma im Wortspiel engfuhrt und im Eklat des Lachens zu überwinden sucht. Damit macht sie fur sich eine Poetologie des Witzes geltend, die die Metapher als Mittel betrachtet, alles mit allem, selbst disparateste Gegenstände, in Zusammenhang zu bringen. 7 Dem entsprechen nicht nur die Plagiatsvorwürfe des Herausgebers, denen zufolge es sich bei Murrs Memoiren um ein Sammelsurium von lauter Abgeschriebenem handelt, so wie die das Katerbuch einleitende Feststellung, daß [ . . . ] kein einziger Mensch auf Erden das Wie und Wo seiner Geburt aus eigner Erfahrung [wisse], sondern nur durch Tradition, die noch dazu öfters sehr unsicher ist (KM, 134),
sondern auch das als Figur eines anfangslosen Anfangs konzipierte Fragment, mit dem die Kreisler-Handlung einsetzt. Es beginnt mitten im Satz: — und erinneren Sie sich, gnädigster Herr, denn nicht des großen Sturms, der dem Advokaten, als er zur Nachtzeit über den Pontneuf wandelte, den Hut vom Kopfe herunter in die Seine warf? (KM, 1 3 7 )
Zwar wird sogleich festgestellt, daß hier auf eine Rabelais-Anekdote Bezug genommen wird, daß es sich bei dem Unwetter, von dem die Rede ist, um ein literarisches Ereignis handelt. Und nach und nach erfahrt der Leser, — daß es Meister Abraham ist, der im vorangehenden Textfragment erwähnte Besitzer des Katers Murr, der hier das Wort fuhrt, — daß der Rabelais-Rekurs in einem Gespräch mit dem Fürsten Irenäus erfolgt, in dem Meister Abraham sich für das Mißlingen eines Gartenfestes entschuldigt, das zu organisieren ihm aufgetragen war, — und daß dieses Gespräch Erzählgegenstand einer Unterredung zwischen
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E. T. A. Hoflfmann. Die Funktion des Künstlers und der Kunst in den Romanen >Doktor Faustus< und >Lebens-Ansichten des Katers Murrin Wahrheit< um den apokalyptischen Schluß handelt, mit dem sie endet und dessen Stelle nun der Brief einnimmt, in dem Meister Abraham den Kapellmeister zum Gartenfest einlädt. Wir sehen uns konfrontiert mit einer Erzählung, die vor Erreichen des Endes, mit dem sie beginnt, abbricht — d.h., sich in einer Kreisbewegung verliert, die nicht zum Ausgangspunkt zurückfuhrt. Der in der >Nachschrift des Herausgebers< angekündigte, von Hoffmann jedoch nie in Angriff genommene dritte Band, der die Lösung aller Rätsel bringen sollte, ist daher unmöglich. Zwar liest sich die erzählte Geschichte als Erklärung der chaotischen Situation, mit deren Beschreibung sie einsetzt, doch verfehlt sie ihr Ziel: Das Chaos greift beim Versuch seiner Beschreibung auf diese über. Der >SchlußstrichA Sentimental Journey through France and Italy< entnommen (wo sie allerdings Rabelais zugeschrieben wird). 9 Doch erweist sich die Entdeckung der >wahren< Quelle als belanglos, denn sie ist austauschbar. Nur ein paar Seiten weiter reflektiert der Roman das Sturmmotiv im Lichte der gleichnamigen Shakespeare-Komödie und markiert so die topische Qualität des Motivs. Die Kreisler-Erzählung begründet sich mit einem literarischen Gemeinplatz, einer formelhaften Wendung, der kein argumentativer Wert zukommt, die nur Hinweis darauf ist, wo Argumente zu finden sind. Darüber aber täuschen die »loci communes< hinweg: Sie werden ständig wiederholt, und dabei erwachsen ihnen Bedeutungen, die sie eigentlich nicht besitzen. 8
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Herbert Singer: Hoffmann. Kater Murr, in: Benno von Wiese (Hg.): Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart. Struktur und Geschichte, Düsseldorf 1965, S. 3 0 1 - 3 3 8 , hier S. 327. Vgl. Steven Paul Scher: >Kater Murr< und >Tristram ShandyDoppelroman< - nicht im Sinne des Herausgeberberichts, der die Selbständigkeit der zufallig durcheinander geratenen Texte betont, sondern zur Bezeichnung der Verbundenheit der heterogenen Erzählstränge und inneren Einheit des Werks: des ironischen Strukturprinzips, als dessen äußere Erscheinungsform er diese Doppelheit betrachtet. 11 Um so mehr ist sie Stein des Anstoßes. Bei den ineinander geschobenen Erzählungen handelt es sich ja um biographische Werke, d.h., sie zielen auf Identitätsbildung, Selbstvergewisserung - und gerade dieses Bestreben wird durch die Doppelung hintertrieben. Der Roman präsentiert sich denn auch nicht als Werk eines individuellen Autors, sondern als Zufallsprodukt. Im Vorwort erläutert der Herausgeber die unglücklichen Umstände seines Entstehens. Leider habe er das Manuskript eine Katerbiographie, um deren Veröffentlichung ihn ein Freund gebeten habe — ungeprüft in Druck gegeben und die Folgen dieses >Leichtsinns< zu spät bemerkt. Er berichtet: Als der Kater Murr seine Lebensansichten schrieb, zerriß er ohne Umstände ein gedrucktes Buch, das er bei seinem Herrn vorfand, und verbrauchte die Blätter harmlos
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Vgl. Hartmut Steinicke: Ε. T. A. Hoffmanns »Kater MurrKreislerbuch< (Hans von Müller: Das Kreislerbuch. Texte, Compositionen und Bilder von Ε. T. A. Hoffmann, zusammengestellt von Hans von Müller, Leipzig 1903), das die von dem Kapellmeister handelnden Teile aus dem Textkorpus herauslöst, neu zusammensetzt und als kohärentes Ganzes vorstellt, demonstriert, wozu die Verabsolutierung des klassischen Stilideals und Goethes Diktum von der »krankhaften«, »gesunden Gemüthern< abträglichen Natur Hoffmanscher Erzählkunst (Brief an Großherzog Karl August vom 1 2 . 4 . 1 8 2 2 ) renommierte Literaturwissenschaftler verleiten kann. Müller rechtfertigt die Edition des »Kreislerbuchs« mit der Notwendigkeit, einem »gefährlichen, selbstmörderischen Spiel mit der Form« Einhalt zu gebieten. (Hans von Müller: Einleitung zum »Kreislerbuch«, in ders.: Gesammelte Aufsätze über E. T. A. Hoffmann. Hg. von Friedrich Schnapp, Hildesheim 1974, S. 89.)
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teils zur Unterlage, teils zum Löschen. Diese Blätter blieben im Manuskript und wurden, als zu demselben gehörig, aus Versehen mit abgedruckt! (KM, I29f.)
Und absurder noch klingt die Begründung dafür, daß der Fehldruck nicht sogleich eingestampft, sondern - ergänzt nur um einige Siglen (>Mak.Bl.< fur >Makulaturblatt< und >M.f.f.< fur >Murr fahrt fortunterdrückten< Vorwort mit seinen Krallen drohenden Kater als Kreislersches Alterego aus. Intrige und Kunst, >Kabale und Liebe< erscheinen, wie im >Ardinghellohöheren Seins< argumentiert, in die Intrige verstrickt ist und als Agent des Hofes agiert, der Kreisler von sich fernzuhalten sucht - daß es sich also bei dem Werbungsgespräch des Abtes um eine Versuchungsszene handelt. Sie ist folgendermaßen angelegt: Das zentrale Thema der ersten Künstlerromane, der Gegensatz von >reiner Poesie< und >Verstellungskunst< (Rhetorik/Intrige) ist nicht nur Gesprächsgegenstand; dieser Gegensatz wird durch die Gesprächspartner auch personifiziert. Doch fallt, was sie verkörpern, nicht mit dem zusammen, wofür sie in der Debatte eintreten. Vielmehr verschränken sich die konträren Positionen zwischen den Ebenen, auf denen der Roman das Problem behandelt - so daß eine eindeutige Zuordnung unmöglich ist: -
Chrysostomus deutet das ästhetische Erlebnis in idealistischer Tradition als Erhebung aus dem >schalen irdischen Treiben* bzw. Reflex einer >himmlischen< Sphäre, der wir >eigentlich< angehören, und warnt in diesem Zusammenhang ausdrücklich vor der Verwechslung
von geistig
bestimmter
>Künstlerliebe< und sinnlicher >Geschlechtsliebehöheren Seins< und einer unverbrüchlichen Wahrheit um einen versierten Rhetor. Der Roman stellt ihn als »Zögling der Propaganda in Rom« und gewieften Diplomaten vor, der durch scheinbare Nachgiebigkeit* und >einfache salbungsreiche Worte, die aus dem treusten Herzen zu kommen scheinen*, »jeden Widerstand, selbst den der obersten Gewalt, zu besiegen« weiß (KM, 367). -
Kreisler hingegen gibt seine diplomatische Stellung als Legationsrat auf und entflieht der politischen Welt, um sich als Künstler >rein< zu verwirklichen. Er verkörpert den >absoluten Kunstanspruchreinen< Ausdrucks zwingt den Künstler, sich und sein Werk zu verneinen. Beide verfallen einer ironischen Negationsbewegung, in der sich das bedeutungsschaffende Prinzip, der symbolische Tausch, >reinentsagenentzweit< die Kunst den Menschen von >der zerrissenen WeltGeist der Ironie< selbst vorstellig wird: Da begann aber auf Kreislers Antlitz jenes seltsame Muskelspiel, das den Geist der Ironie zu verkünden pflegte, der seiner mächtig worden. »Hoho«, sprach er, »hoho! Ew. Hochehrwürden haben unrecht, haben durchaus unrecht. Ew. Hochwürden irren sich in meiner Person, werden koniuse durch das Gewand, das ich angelegt, um en masque einige Zeit hindurch die Leute zu foppen und, selbst unerkannt, ihnen die Namen in die Hand zu schreiben, damit sie wissen, woran sie sind! (KM, 374). Ein Wille zu ausgelassener Sinnlichkeit, eine karnevaleske Lust am Verstoß gegen die Regeln der gesellschaftlichen Dezenz bemächtigt sich des Kapellmeisters und seiner Rede: Wäre es nicht fur einen ehrsamen Benediktiner unanständig, sich in Hasensprüngen zu erlustieren, ich tanzte sogleich hier auf der Stelle vor Ew. Hochehrwürden Augen einen Matelot oder eine Gavotte oder einen Hopswalzer aus purer Freude, die mich ganz übernimmt, wenn ich nur an Braut und Hochzeit denke. — Hoho! — was Liebesglück und Heirat betrifft, da bin ich ein ganzer Kerl! (KM, 375). Chrysostomus reagiert auf das >wüste< Bekenntnis mit dem Eingeständnis, selbst »nie an jene chimärische Liebe geglaubt [zu haben], die körperlos in den Lüften schwebt und nichts gemein haben soll mit dem Bedingnis des menschlichen Prinzips« ( K M , 3 7 5 f . ) -
doch nur, um Kreisler im Gegenzug
mit dem Hinweis auf das Schicksal seines Doppelgängers, des Malers Ettlinger, den die unrealisierbare Liebe zur Fürstin in den Wahnsinn trieb, 1 8 zum Schweigen zu bringen. In der Unterredung mit Hedwiga, in dem dieser Fall zur Sprache kommt, hatte Kreisler sich zum Thema >Künstlerliebe< noch ganz anders geäußert: »Ach, Gnädigste«, sagt er da, glauben Sie mir, sein Sie überzeugt, daß wahre Musikanten, die mit ihren leiblichen Armen und den darangewachsenen Händen nichts tun als passabel musizieren, sei es nun mit der Feder, mit dem Pinsel oder sonst, in der Tat nach der wahrhaften Geliebten nichts ausstrecken als geistige Fühlhörner, an denen weder Hand noch Finger befindlich, die mit konvenabler Zierlichkeit einen Trauring erfassen und anstecken könnten an den kleinen Finger der Angebeteten, schnöde Mesalliancen sind daher durchaus nicht zu befurchten [...]. Besagte Musikanten schaffen, sind sie in Liebe gekommen, mit der Begeisterung des Himmels, herrliche Werke und sterben weder elendiglich dahin an der Schwindsucht, noch werden sie wahnsinnig. (KM, 263^) Die Aussagen widersprechen sich, doch kann keine beanspruchen, >wahrer< zu sein als die andere. Im Moment der Äußerung ist der Kapellmeister von dem, was er sagt, völlig überzeugt. Sieht er sich dazu provoziert, behauptet er mit
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Kreisler hält Ettlinger für seinen Doppelgänger und sieht im Unglück dieses Malers, den der innere Widerspruch (das ironische Prinzip) der Kunst in Wahnsinn und Tod getrieben hat, das eigene Schicksal vorweggenommen.
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gleichem Pathos und derselben inneren Überzeugung das Gegenteil von dem, wofür er unter anderen Umständen eintreten würde. Kreislers Zerrissenheit resultiert aus Mangel an rhetorischer >DistanzHohn< auf »unser leicht verletzliches Inneres« und rekurriert, um zu verdeutlichen, was sie meint, auf das Bild eines sanft zwischen lichten Wäldern dahinströmenden Flusses, mit dem Quintilian die Wirkung der im genus medium realisierten >wohltemperierten< (anmutigen) Rede beschreibt. 19 »[I]st es billig«, fragt sie, [ . . . ] daß man im gemütlichen Zirkel, wo freundliche Unterhaltung obenanstehen soll, wo wechselseitige Anregungen Rede, Gesang forttreiben sollen wie einen zwischen Blumenbeeten sanft murmelnden Bach, daß man da extravagante Sachen auftischt, die das Innere zerschneiden, deren gewaltsamen zerstörenden Eindruck man nicht verwinden kann? (KM, 246)
Zwar stellt der Einwand Kreislers Kunstkonzept, das Streben nach dem >reinen Tonmannigfaltigsten MuskelspielAhnung und Gegenwart< endet, wie Heinses >Ardinghello< und Goethes >LehrjahreAhnung und GegenwartWahren, Guten und Schönens fur die Möglichkeit eines authentischen Lebens und des unverstellten Ausdrucks:
1
Theodor W. Adorno: Zum Gedächtnis Eichendorffs, in ders.: Noten zur Literatur I, Frankfurt/M 1958, S. 1 0 5 - 1 4 5 , hier S. I i 9 f .
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Die Poesie liegt [ . . . ] in einer fortwährend begeisterten Anschauung und Betrachtung der Welt und der menschlichen Dinge; sie liegt ebensosehr in der Gesinnung als in den lieblichen Talenten, die erst durch die Art ihres Gebrauches groß werden. Wenn in einem sinnreichen, einfach strengen, männlichen Gemüte auf solche Weise die Poesie wahrhaft lebendig wird, dann verschwindet aller Zwiespalt: Moral, Schönheit, Tugend und Poesie, alles wird eins in den adeligen Gedanken, in der göttlichen, sinnigen Lust und Freude [...]. (AuG, 673) 2
Zwar erleidet Friedrich bei dem Versuch, das Leben poetisch zu bewältigen, auf katastrophale Weise Schiffbruch: Privat täuscht er sich in seiner Liebe zu Rosa, und politisch verfolgt er einen Weg, auf dem der >poetische Wahn< die Gestalt des Blutrauschs im >Schlachtengemetzel· annimmt. Doch führen die Treulosigkeit der Geliebten, die militärische Niederlage und die gesellschaftliche Achtung zu keinen Zweifeln an der Richtigkeit seiner Weltsicht, an der Wahrheit des poetisch Imaginierten und der praktischen Relevanz seiner Einheitsphantasien. Die Schuld an der fatalen Entwicklung gibt er nicht sich selbst, seiner Unbesonnenheit (seiner Politikunfähigkeit und Rhetorikverachtung), sondern der verdorbenen Zeit, in der er lebt: der intriganten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Als Friedrich erkennt, daß seine Idealvorstellungen sich nicht realisieren lassen, verklärt er sie: wendet sie ins Religiöse und zieht sich ins Kloster zurück, nicht um sich dort wie Kreisler eine Zeitlang zu verbergen, sondern »um es niemals mehr zu verlassen« (AuG, 833). Und der Leser ist überzeugt: Friedrich war zu gut fur diese Welt; sie hat das Licht, das er ihr bedeutete, nicht erkannt. »Ahnung und Gegenwart< liest sich — übernimmt man die Perspektive des Protagonisten — als Gegenentwurf zum > Kater MurrDoppelroman< sich verdankt: das ihn teilt und zu keinem Ende kommen läßt. Zwar ist der Riß auch in >Ahnung und Gegenwart< zentraler Reflexionsgegenstand, das Wahnsinnsmotiv ist allgegenwärtig, doch fallt die Erzählung diesem nicht zum Opfer. Vielmehr macht sie sich den überlegenen Standpunkt ihres Helden zu eigen: Aus der Vogelperspektive schaut sie hinein in die Abgründe, entlang denen Friedrich sich bewegt und in die einige weniger vorbildliche Charaktere stürzen. Bei Hoffmann erklingt aus diesem Abgrund Kreislers wehmütige Musik. In ihren zum Zerreißen gespannten Harmonien verlautet der unsagbare Grund der Erzählung selbst. Der >WohllautAuG< und nachfolgender Seitenzahl nach Joseph von Eichendorff: Werke. Hg. von Wolfdietrich Rasch, Darmstadt (4., durch Anmerkungen erw. Aufl.) 1 9 7 1 .
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verlorene Dimension einer >unverstellten Natur< und eines >reinen HerzensNaturlautBuch der Natur< romantisch aktualisiert: 3 Das Leben [...], mit seinen bunten Bildern, verhält sich zum Dichter, wie ein unübersehbar weitläufiges Hieroglyphenbuch von einer unbekannten, lange untergegangenen Ursprache zum Leser. Da sitzen von Ewigkeit zu Ewigkeit die redlichsten, gutmütigsten Weltnarren, die Dichter, und lesen und lesen. Aber die alten, wunderbaren Worte der Zeichen sind unbekannt und der Wind weht die Blätter des großen Buches so schnell und verworren durcheinander, daß einem die Augen Übergehn. (AuG, 560).
Friedrich glaubt, es sei möglich, den vorbabylonischen Zustand wiederherzustellen. Im Lichte der Erfahrungen mit den Salondichtern der Residenz erscheinen ihm die (im ersten Buch beschriebenen) >seltsamen Gespräche< mit Leontin über Kunst und Poesie — sie finden unter freiem Himmel statt und tendieren zur Verdichtung im Lied — selbst als poetisches Ereignis. Er erinnert sich, daß Leontins »Worte, je finsterer es nach und nach ringsumher wurde, zuletzt eins wurden mit dem Rauschen des Waldes und der Ströme auf dem großen Geheimnisse des Lebens« (AuG, 665). Und der Erzähler steht dafür ein, daß diese Vorstellung nicht als Hirngespinst eines jugendlichen Schwärmers abgetan werden kann. Er erklärt: Das Rauschen des Waldes, der Vogelgesang rings um ihn [Friedrich] her, diese seit seiner Kindheit entbehrte grüne Abgeschiedenheit, alles rief in seiner Brust jenes ewige Gefühl wieder hervor, das uns wie in den Mittelpunkt alles Lebens versenkt, wo alle die Farbenstrahlen, gleich Radien, ausgehen und sich an der wechselnden Oberfläche zu dem schmerzlich-schönen Spiele der Erscheinung gestalten. Alles Durchlebte, und Vergangene geht noch einmal ernster und würdiger an uns vorüber, eine überschwengliche Zukunft legt sich, wie ein Morgenrot, blühend über die Bilder, und so entsteht aus Ahnung und Erinnerung eine neue Welt in uns und wir erkennen wohl alle die Gegenden und Gestalten wieder, aber sie sind größer, schöner und gewaltiger und wandeln in einem wunderbaren Lichte. Und so dichtete hier Friedrich unzählige Lieder und wunderbare Geschichten aus tiefster Herzenslust, und es waren fast die glücklichsten Stunden seines Lebens. (AuG, 605)
Der Rekurs auf mystische Vorstellungen ist unverkennbar. Das poetische Erlebnis wird als >Transparent-werden< einer instabilen (zeitlichem Wandel unter3
Vgl. das Kapitel >Die Welt muß romantisiert werdenNaturlautMittelpunkt des Lebens< korreliert daher der Ort der >tiefsten HerzenslustErinnerung< und schaffen so das Bild einer mythischen Welt, die zeitlichem Wandel enthoben ist. Entsprechend steht es um das poetische Erlebnis; es transzendiert die Wirklichkeit des Gedichts, in dem es sich mitteilt. Die >HerzenslustStillegeschickte Redeals [ob] Ahnung und Gegenwart< als >Zeitroman< ausweist. Im >Vorwort< von 1 8 1 5 schreibt Eichendorff, aus seinem Buch sei in
' Detlef W. Schuhmann: Rätsel um Eichendorffs >Ahnung und GegenwartAhnung und Gegenwart< als episch erweiterte Allegorie der Poesie vorstellt. Beide Ansätze vermitteln wichtige Einsichten in Aufbau und Erzählstruktur des Romans. Doch gehen die in >Ahnung und Gegenwart< vorgestellten Personen und Begebenheiten nicht in ihrer allegorischen Bedeutung auf. Horst Meixner hat dazu das Notwendige gesagt. 7 Er erinnert an Eichendorffs poetische Maxime, die Allegorie zu >verlebendigen, die imaginierten Gestalten nicht nur bedeutsam, sondern auch als »wirkliche, individuelle, leibhaftige Personen« erscheinen zu lassen, und zeigt, daß die in >Ahnung und Gegenwart< agierenden Figuren sich tatsächlich »in einem Zwischenbereich [...] zwischen allegorischer Bedeutsamkeit und individueller Eigenständigkeit« bewegen und unter der Last dieser >doppelten Figurierung< zerbrechen.8 Das Allegorische höhle, resümiert Meixner, das Individuelle aus, und die allegorischen Elemente wirkten im Lichte der individuellen Züge künstlich. Das allegorische Schema läßt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht einfach reproduzieren. Eichendorff entkommt nicht dem Reflexionshorizont der Goethezeit: >Christliche Transzendenz* und >dogmatische Heilsgeschichte< erscheinen in seiner Dich6
7
8
Thomas A. Riley: An allegorical Interpretation of EichendorfFs >Ahnung und Gegenwart*, in: MLR 54, 1959, S. 2 0 4 - 3 1 3 ; sowie ders.: Die Allegorie in >Ahnung und Gegenwart*, in: Aurora 44, 1984, S. 2 3 - 3 1 . Horst Meixner: Romantischer Figuralismus. Kritische Studien zu Romanen von Armin, Eichendorff und Hoffmann, Frankfurt/M 1 9 7 1 , Zu >Ahnung und Gegenwart* vgl. S. 1 0 2 - 1 5 4 . Horst Meixner: Romantischer Figuralismus, a.a.O., S. I04f.
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tung mit >pantheistischer Weltimmanenz* und >neuplatonisch-gnostischen Geschichtsvorstellungen* merkwürdig vermischt.9 Dem kann nur zugestimmt werden. Erzähltes und Erzählung klaffen in >Ahnung und Gegenwart* auseinander: - Friedrich, der >poetische Held*, steht für die klassische Ästhetik, die auf Überwindung des allegorischen Bruchs zielende symbolische Darstellungsform, für ein Kunstkonzept, das Kunst als synthetisierendes Medium und Ort der Wahrheitsfindung begreift und ihre Aufgabe nicht darin sieht, theologisch oder philosophisch begründete Wahrheiten zu veranschaulichen, sondern Einsichten zu vermitteln, die anders nicht möglich sind. — Die wichtigste Erkenntnis aber, die der Roman vermittelt, besteht darin, daß sich dieses (die Differenz von Natur und Kunst leugnende) Konzept in der Praxis nicht bewährt, daß es nicht nur utopisch, sondern auch gefährlich ist. Die Geschichte, die der Roman erzählt, endet ja damit, daß ihr Held scheitert, daß er der Poesie entsagt und sich aus dem Leben zurückzieht. Dieser Widerspruch treibt die Erzählung voran und bestimmt ihre allegorische Form. Meixner reflektiert das Dilemma im Lichte des frühromantischen Kunstkonzepts: Im Sinne Friedrich Schlegels lassen sich Eichendorffs Romane als poetische Rede von der Poesie verstehen, als eine Selbstdarstellung der Poesie in einem unendlichen Gespräch über Poesie. Leben und Poesie, Poesie und Reflexion gleiten unablässig ineinander. 10
Das autoreflexive Strukturprinzip spitzt sich zu im Nachdenken über die sprachliche Form, in der sich die Erzählung realisiert. Dieser Weg aber stellt sich - wie in den früheren Künstlerromanen — als Sackgasse heraus. Als Grund der Bedeutungsschöpfung erscheint der metaphorische Tausch, als Bedingung der Möglichkeit sinnvoller Rede die semiotische Differenz. Diese Einsicht entzieht den poetischen Einheitsphantasien Friedrichs den Boden. Entsprechend endet der Roman. Rudolf trifft auf seinen verlorenen Bruder, einen Wahnsinnigen, in dessen >Narrenburg< ein Ort semantischer Leere und innerer Gebrochenheit Kontur gewinnt, der sich nur ideologisch (im Rekurs auf dogmatisch verfügte Wahrheiten) bewältigen läßt — und von dem der Weg denn auch direkt ins Kloster führt. Allegorisch figuriert erscheint auch der Aufbau des Romans. Die Erzählung besteht aus drei Büchern mit insgesamt vierundzwanzig Kapiteln, in denen immer wieder dieselben Naturphänomene und Lebenskonstellationen beschrie9 10
Horst Meixner: Romantischer Figuralismus, a.a.O., S. 242. Horst Meixner: Romantischer Figuralismus, a.a.O., S. 146; vgl. auch Walter Killy: Der Roman als romantisches Buch, in ders.: Wirklichkeit und Kunstcharakter. Neun Romane des 19. Jahrhunderts, München 1963, S. 3 6 - 5 8 .
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ben werden. Im Tageszeitenrhythmus wiederholen sich ähnliche Handlungsabläufe. Walter Killy beschreibt die Kapitelfolge als eine >ins Unendliche geöffnetes den natürlichen Wechsel von Belebung und Ermattung, Erscheinen und Verschwinden imitierende Episodenreihe. 11 Zu diesem mythisch gestimmten (von der >ewigen Wiederkehr des Gleichen< kündenden) Cantus firmus bildet die dialektische Figur der drei Bücher den logischen Diskant. Nach Egon Schwarz liegt ihr das christliche Geschichtsmodell zugrunde, das die Menschheitsgeschichte als Unterbrechung eines ahistorischen >Eigentlichkeitskünstlich gesteigerten LebensGegenwartSchatten< umherscheuchen, erscheint die geordnete Welt (vorsorgliche Haushaltung) des Herrn von A. als Hort der Ruhe und Stabilität. Die Haltlosigkeit der poetischen Existenz ist durch diesen Kontrast herausgestellt. Aber als defizitär erweist sich auch das aufgeklärte, desillusionierte Leben auf dem Landgut, dessen Bewohner »den lebendigen Glauben an Poesie, Liebe, Heldenmut und alles Große und Ungewöhnliche im Leben aufgegeben haben« (AuG, 605). Die Transformation des poetischen Impulses in ökonomische Prosa spiegelt sich in der Erscheinung zweier Groteskgestalten, die vom Wahnsinn gezeichnet sind: des ausdrücklich als Cervantesfigur vorgestellten >tollen Ritters< (AuG, 635) sowie des von ironischen Anfallen< heimgesuchten und als zwiefacher Mensch< bezeichneten Viktor, der mit einer verstimmten Laute herumzieht und keinen seelischen Halt mehr findet. In einem Moment ist er, wie Kreisler, »bis zum Tode betrübt, mürrisch, und unbehülflich und im nächsten „bis zur Ausgelassenheit, witzig, sinnreich und geschickt«. Für die Poesie hat Viktor wie der Gutsherr keinen Sinn; doch im Gegensatz zu diesem ist ihm das funktionalisierte Leben unerträglich. In närrischen Auftritten muß er sich immer wieder Luft verschaffen. Zur Unterhaltung der Gesellschaft organisiert er einen Mummenschanz, in dem sich fvir einen Moment die Fesseln der Konvention lösen und diese als scheinhaft durchschaut wird. Nur zu gerne lassen Friedrich und Leontin sich auf das karnevaleske Treiben ein: »Hier erfindet jeder selbst, wie es ihm die Lust des Augenblicks eingibt, und die Torheit lacht uns unmittelbar und keck ins Gesicht, daß uns recht das Herz vor Freiheit aufgeht« (AuG, 617f.), kommentiert Friedrich, zugleich aber erschrekken ihn die bemalten Gesichter und Masken; er betrachtet sie als stumme Hilferufe einer deformierten Seele und weist deshalb die saloppe Bemerkung, >ja, der Viktor, das ist ein pudelnärrischer, lustiger Kerlfreie< Natur, sondern das gesellschaftliche Zentrum, die fürstliche Residenz. Die aus dem Spannungsgefiige des ersten Buchs (der Diskrepanz der dort beschriebenen Welten) resultierende Frage nach der
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Bedeutung des poetischen Impulses fur das praktische Handeln ist das zentrale Thema: Es geht um die Möglichkeit der Politisierung der Poesie und der Poetisierung der Politik. Die schon bei der Betrachtung der Verhältnisse auf dem Landgut des Herrn von A. angelegte kunstreflexive Perspektive bleibt bestimmend. Diskutiert wird, welche Gestalt die Poesie im politischen Raum annimmt - und wie Friedrich darauf reagiert. Die Residenz erscheint daher als eine Welt fortwährender Maskenbälle und Opern, literarischer Soiréen und ästhetischer Teegesellschaften. Leontin taucht in Gesellschaft einer Theatertruppe auf. Die Ambivalenz des Maskenmotivs hat sich allerdings verloren. Von einer befreienden Wirkung des Maskenspiels ist nichts mehr zu spüren. Der Hof kommt nur unter negativem Aspekt in den Blick: In alter Manier erscheint er als Brutstätte der Intrige, als Ort der Verfuhrung und Verstellung, der fingierten Gefühle und Überzeugungen. Man gibt sich in der Residenz patriotisch, kollaboriert aber mit der Besatzungsmacht, parliert Französisch und vertreibt sich die Zeit mit amourösen Abenteuern. Sprachrohr der Hofgesellschaft sind die »falschen Dichter [...] mit ihren Taubenherzen, die«, wie es heißt, »uneingedenk der himmelschreienden Mahnung der Zeit, ihre Nationalkraft in müßigem Spiele« verludern lassen (AuG, 696). Ihre Lieder sind so hohl und oberflächlich wie die Welt, in der sie sich bewegen — und als deren Sinnbild der Spiegel erscheint. Er fehlt in keinem der beschriebenen Säle. Das Spiegelbild ist >wahrer< als die gespiegelte Wirklichkeit. Die Menschen, die der Spiegel zeigt, besitzen keine Identität — sie sind von den Larven, die sie tragen, nicht zu unterscheiden. Entsprechend verhalten sie sich auch: Sie erkennen sich nicht mehr und verwechseln einander, tauschen im Leben wie beim Maskenball die Position und verlieren sich am Ende aus den Augen. Die Einsicht, die das zweite Buch vermittelt, ist ernüchternd. Abgeschnitten von der Natur, kann die Poesie ihre Aufgabe (spontaner Ausdruck menschlicher Freiheit zu sein) nicht mehr erfüllen. Sie mutiert zur >KunstNaturzurück in die Natur< — immer noch hoffend, seine Idee einer poetisch fundierten Politik realisieren zu können, denn im Hochgebirge, in das er flieht, halten sich die >Freiheitskämpfer< versteckt. Um so bemerkenswerter ist, daß der Roman sich dieser Welt zuordnet. Auf einer literarischen Soiree, an der Friedrich teilnimmt, öffnet sich ein Vorhang und gibt den Blick auf die Natur frei. Sie fungiert als Kulisse für ein Tableau, in dem Rosa und Romana, die beiden weiblichen Protagonisten, sich als christliche 144
Lichtgestalt und heidnische Liebesgöttin gegenüberstehen. Die Maske bedeutet hier das >wahre GesichtWirbel< bzw. der >furchtbare Kreisausgehauen< (AuG, 824). Friedrich hat in dieser Welt keine Heimat mehr, seine Güter sind eingezogen, er selbst ist in Acht und Bann gefallen. Der Glaube, die Welt poetisieren (re-mythisieren) zu können, hat sich als illusionär, der poetische Impuls als trügerisch erwiesen. Um sich aus der Umgarnung durch die höfische Welt zu lösen, reisen Friedrich und Leontin zum Rhein. Auf dieser >feenhaft verworrenen< Reise treffen sie Romana und Rosa. Doch erkennen sie die Frauen nicht, denn diese haben sich als Jäger verkleidet. Als Leontin ein Lied anstimmt, fallt einer der Jäger ein: Groß ist der Männer Trug und List, Vor Schmerz mein Herz gebrochen ist, Wohl irrt das Waldhorn her und hin, Oh flieh! du weist nicht, wer ich bin.
Und Leontin fährt fort: So reich geschmückt ist Roß und Weib, So wunderschön der junge Leib, Jetzt kenn ich dich - Gott steh mir bei! Du bist die Hexe Lorelei. (AuG, 7 1 5 )
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Von einer fatalen Verblendung und dem erschütternden Moment ihrer Entdeckung ist die Rede. In der besungenen Welt spiegelt sich die des Lieds, und zwar auf doppelte Weise: Nicht nur handelt das Lied von der verborgenen Identität des >JägersBetrugInhaltlichenMaler Nolten< entferne sich von der romantischen Tradition durch die »Wendung nach Innen und zur Tiefe«, durch »Verfeinerung und Intensivierung des dichterischen Teilnehmens an den eigenen Figuren«, versteht sich in diesem Sinne.17 Die Wahnsinns- und Selbstmordgeschichten, die Bilder sich auflösender Ichgrenzen, die der Roman aneinanderreiht, lassen sich als Psychogramme begreifen, die spätere Einsichten in die Zusammenhänge von Trauma, Verdrängung und Neurose vorwegnehmen. Eine Lektüre des Romans im Lichte moderner tiefenpsychologischer Erkenntnisse ist erhellend, doch darf sie nicht den Blick verstellen für den ästhetischen und sprachtheoretischen Reflexionshorizont, vor dem das Identitätsproblem hier erörtert wird. Schon das topische Bauprinzip des >Maler Nolten< läßt erkennen, daß es, wie im >WertherWahnsinndoppelten Motivation des Romans - als psychologische Erzählung in der Bildungsromantradition einerseits und als mystischer Schicksalsroman romantischer Provenienz andererseits - ist daher unter folgenden Gesichtspunkten zu revidieren: - Die strukturelle Gebrochenheit des Romans, auf die sie hinweist, steht in signifikanter Parallele zum inhaltlich behandelten Problem verhinderter Identitätsflndung, und läßt erkennen, daß das autoreflexive Strukturprinzip romantischer Dichtung im »Maler Nolten< hintergründig weiterwirkt. — Als Grund für das Nicht-Zustandekommen einer »einheitlichen« Erzählform erscheint ein dem »psychologischen Roman< inkommensurabler überindividueller bzw. transsubjektiver Motivationsgrund, dem Vischers Schicksalsbegriff nur als Ausdruck eines perennierenden Nichtverstehens gerecht wird. 17
Gerhard Storz: Maler Nolten, a.a.O., S. 204 u. 207.
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Um Rationalisierung dieses Schicksalsbegriffs bemüht sich Wolfgang Tarabas Untersuchung zur >Zeiterfahrung und Zeitgestaltung< im >Maler NoltenStrom< widersetzt. Taraba fuhrt dazu aus: Im >Maler Nolten< wird im dichterischen Vollzug die Eindimensionalität der >Zeit< in eine durch die Form angedeutete Gleichzeitigkeit« von Gegenwärtigem und Vergangenem gewandelt, wie sie entsprechend auch in dem Phänomen der Erinnerung stattfindet. 19
- und betont, daß diese >Verwandlung< durch die sprachlich-poetische Form bewirkt werde, von der Mörike einmal gesagt habe, sie sei »in ihrer tiefsten Bedeutung ganz unzertrennlich vom Gehalt, ja von ihrem Ursprung fast eins mit demselben und durchaus geistiger, höchst zarter Natur«. 20 Wie aber ist diese Äußerung zu verstehen? Worin besteht der innere Zusammenhang zwischen der Form der Erzählung und dem, was sie erörtert? Von welcher ursprünglichen (Fast-)Identität ist die Rede? Nimmt der Roman Bezug auf sich selbst, die eigene sprachliche Wirklichkeit? Begreift er sich als Konkretion eines ursprünglichen Textes, der sich in ihm fortschreibt, der er ist und zugleich nicht ist — der das schlechthin >Andere< seiner selbst bedeutet: etwas, das >an sich< zu bedeuten unmöglich ist: keine Konstante im Wechsel, sondern den Wechsel selbst: eine Utopie, in der sich das zeitliche Dilemma aufhebt? ' 8 Wolfgang Taraba: Die Rolle der >Zeit< und des >Schicksals< in Eduard Mörikes >Maler NoltenZeitZeitphantasmagorische< Schattenspiel >Der letzte König von Orplid< — Keimzelle und Mittelpunkt des Romans, in dem sich die Motivstränge verknoten - legt diesen Gedanken in der Tat nahe. Nicht nur erscheint ein »Götterspruch« (MN, 1 1 5 ) , »ein geheimes Wort« (MN, 125) als Grund fur die >magische< Bindung Ulmons an Thereile. Es ist auch von einem >dunklen Buch< die Rede, das beschafft werden muß, um den >Sinn< des Götterspruchs zu »ergründen« und das Rätsel von Ulmons Schicksal zu lösen - d.h., eine Antwort zu finden auf die Fragen: W a s leb ich noch? was bin ich? und was war V o r dieser Z e i t mit mir? [...] -
-
Vielleicht ist alles Trug
U n d Einbildung und ich bin selber Schein. (MN,
Ii8ß
Begründet wird der göttliche Zorn mit einem > ver jährten Betrug ursprünglicher Einfalt*
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Ausfuhrlich diskutiert wird das Meerbild in Heinrich Reinhardt: Mörike und sein Roman >Maler Noltenunendlicher Ersatz< fur die >Vorzüge der Erziehung< (état civilisé) enthüllt >tiefere< (verdrängte) Motivationsschichten: Nolten ist der Grund nicht nur für die Entzweiung, die er Agnes anlastet, sondern auch fiir den Wahnsinn, dem sie verfällt. Er ist Künstler, der die Natur >ersetztNaturkind< geschehen. Das > zweite leibliche LebenersteHeimat< zu finden sucht, vorgeordnet. Der Grund ihres Wahnsinns tritt in dieser Konstruktion deutlich zutage. Jenseits des Rahmens trifft sie - wie Wilhelm Meister, dessen Blick hinter den Vorhang sich als Spiegelblick erweist - auch nur auf eine Kunstwelt, in der es die unverstellte >Naturgeistert< das Bildmotiv (Nixe/Orgelspielerin) als literarisches Zitat >herumresurrectio des unbehausten Erostierischen Schwanzes< hat fatale Folgen. Mignon mutiert (angesteckt vom Wahnsinn des brandstiftenden Harfners) zum todbringenden Schreckgespenst,26 das schon Züge von Thomas Manns Tadzio-Gestalt trägt.
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Die Vorstellung der in der fiktiven Welt des Romans vergeblich nach Wirklichkeit suchenden Kunstfigur provoziert die Frage nach dem Wirklichkeitsstatus des das Buch in Händen haltenden Lesers. Welche Sicherheit hat er, nicht einer Scheinwelt anzugehören, >wirklicher< zu sein, als die Figuren, die er fur erfunden hält? Vgl. Heide Ellert: Eduard Mörike: Maler Nolten (1832), a.a.O., S. 169fr.; Claudia Liebrand: Identität und Authentizität in Mörikes Maler Nolten, a.a.O., S. 108. S. Prawer: Mignon's Revenge, in: Publications of the English Goethe-Society Ν. S. 25, 1 9 5 6 , S. 6 3 - 8 5 .
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Der Roman betrachtet seinen Gegenstand aus einer verkehrten, die Chronologie der beschriebenen Ereignisse auf den Kopf stellenden Perspektive. Die unter seltsamen Umständen zustande gekommenen Bilder, mit deren Beschreibung er beginnt, entstehen erst auf dem Höhepunkt von Nohens Künstlerkarriere, d.h., in der Mitte der erzählten Geschichte. Noltens Künstlerkarriere aber setzt das Vorhandensein dieser Bilder voraus, denn sie beginnt mit dem Moment ihrer Verlebendigung: damit, daß die Orgelspielerin zu Elisabeth wird und in Noltens Lebenswelt eindringt. Diese >unerhörte Begebenheit< wird in der Form einer eingeschobenen Erzählung, die Beck treffend als Künstlerberufungsnovelle 27 bezeichnet hat, am Ende des ersten Romanteils nachgereicht. Der Ort der Handlung könnte >romantischer< nicht sein. Elisabeth erscheint an einem nebligen Herbsttag auf dem >Rehstock< in einer Burgruine, die von dunklen Wäldern umgeben und in deren Mauern eine >unverständliche Inschrift eingeritzt ist (MN, 200). Mit >ahnungsvollen< Worten stimmt Adelheid, Noltens Schwester, den Leser auf das Kommende ein: Mir kommt es vor, an solchen trauerfarbnen Tagen werde die Seele am meisten ihrer selbst bewußt; es wandelt sie ein Heimweh an, sie weiß nicht wornach, und sie bekommt plötzlich wieder einen Schwung zur Fröhlichkeit, sie kann nicht sagen woher. (MN, 199)
Die Kulisse soll als solche durchschaut und bedacht werden. Der Kunstcharakter der dargestellten Welt ist deutlich markiert. Entsprechend steht es um das, was sich dort zuträgt: um Elisabeths Erscheinung und den Schock, den diese auslöst. Nohen berichtet: [D]a war es, als versank' ich tief in mich selbst, wie in einen Abgrund, als schwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe stürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo ich Euch in hundert Träumen gesehen habe, so, wie Ihr da vor mir stehet [...]. (MN, 203)
Und der Erzähler bestätigt: Es war, als erleuchtete ein zauberhaftes Licht die hintersten Schachten seiner inneren Welt, als bräche der unterirdische Strom seines Daseins plötzlich laut rauschend zu seinen Füßen hervor aus der Tiefe, als wäre das Siegel vom Evangelium seines Schicksals gesprungen. (MN, 228)
Man könnte meinen, Adelheids Prophezeiung habe sich bewahrheitet. Doch nicht zufällig häufen sich Vergleichspartikel und warnen eindringlicher noch als bei Eichendorff, dessen Sprachgestus hier nachgeahmt wird, vor dem chimärischen Charakter der metaphorischen Konstrukte, die sie anzeigen: vor poetischen Bildern und Formen, in denen die Sprache sich verselbständigt: denen in der realen Weh nichts mehr entspricht. Nohen sitzt ihnen auf; er deutet das Rehstockerlebnis als Moment der Selbstfindung bzw. Rückkehr in die >verlorene Heimat< und entschließt sich, 27
Adolf Beck: Forschungsbericht, a.a.O., S. 2 1 6 .
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seinem »Trieb zu bilden und zu malen« nachzugeben und Künstler zu werden (MN, 229). Die Möglichkeit dieser Deutung wird durch das Gedeutete aber ausdrücklich bestritten. Das einzige, was wir von Elisabeth hören, ist — außer dem Ausdruck des Befremdens, mit dem sie auf Noltens begeisterter Beschreibung des Erlebnisses reagiert (»Ich verstehe Euch nicht, lieber Herr!« [S. 203]) — die bereits erwähnte Klage, die gesuchte Heimat sei fur immer verloren, und die >Sehnsuchtwundersamen< Vorgänge damit, daß Nolten Elisabeth als verlebendigtes Bild, als Inkarnation eines Portraits, wahrnimmt, das er auf der Dachkammer des Elternhauses entdeckt hat und dessen >dämonische Schönheit ihn seither nicht losläßt. Um so wichtiger ist, daß dieses Portrait nicht Elisabeth darstellt, sondern deren Mutter Loskine, eine, wie später erzählt wird, Tante Noltens, deren Existenz die Familie verheimlicht. Denn damit wird deutlich, daß Nolten einer Verwechslung zum Opfer fallt - daß sein Entschluß zum Künstlertum und alle späteren Verwirrungen aus einer frappierenden Ähnlichkeit resultieren, über die zu sprechen, obwohl sie die Rede begründet, tabu ist. Kein Wunder also, daß der Roman eine Perspektive entwickelt, in der der Irrtum, dem Nolten erliegt, glaubwürdiger erscheint als die Tagebuchaufzeichnungen des Onkels, mit denen der Fehler erklärt wird: Als Nolten aus dem »magnetischen Zustand< erwacht, in den er beim Anblick Elisabeths fällt, will er wissen, was geschehen ist. Und als Elisabeth antwortet, sie wisse es nicht, fragt er verstört: »Wie? Ihr habt nicht in meiner Seele gelesen?« (MN, 203). Die Frage aktualisiert ein altes christliches Bild, das die Seele als Buch vorstellt, in dem die Lebensgeschichte aufgeschrieben ist. Sieht man darin mehr als eine nichtssagende Floskel, dann nimmt Nolten den Moment, in dem ihm ist, »als >versänk< [er] tief in [s]ich selbst«, als Lektüreprozeß wahr - dann erscheint dieses Versinken in den »schwindelerregenden AbgrundGedächtnisraumgeheime Leidenschaft moderne< Figur des Romans. Sie trägt Züge Hoffmannscher und Jean Paulscher Charaktere. Anders als diese vermag Larskens seine inneren Widersprüche jedoch nicht durch Witz und Ironie zu bewältigen. Zwar erscheint er, wie Benno von Wiese formuliert, als der »geborene Humorist«, 29 aber als einer, dem es nicht gelingt, entsprechend seiner Bestimmung zu leben: [E]r wäre der Liebling des Publikums gewesen, hätte er nicht die rätselhafte und hartnäckige Grille gehabt, das Fach des Komischen, wozu er durchaus geboren war, mit ernsten Rollen zu vertauschen, die er, ohne es selbst zu fühlen, nur mittelmäßig ausfüllte. ( M N , 3 4 )
Larskens weigert sich, die Welt des Scheins als eigentliche Heimat des Menschen anzuerkennen. Er beharrt auf der Wahrheit des Selbst; er sehnt sich nach Einfalt und ist doch mit Herz und Seele Komödiant. Um dem Konflikt zu entkommen, gibt er seinen Beruf auf und lebt als Schreiner Josef in einer fremden Stadt. Doch damit täuscht er sich nur selbst. Das einfältige Leben, das er fuhrt, ist gespielt; er spielt diese Rolle perfekt; in ihr verabsolutiert sich sein Schauspielertum. Als man ihm auf die Schliche kommt, sein Doppelleben durchschaut, weiß er keinen Ausweg mehr und bringt sich um. Entsprechend widersprüchlich gestaltet sich sein - als >Gegenintrige gegen das intrigante Wirken Elisabeths< beschriebener30 - Versuch, die Verbindung Noltens mit Agnes (des Künstlers mit der natürlichen Einfalt) zu retten. Seine »Kunst, ehrlichen Leuten ihre Züge abzustehlen«, soll, so argumentiert er, »endlich einmal für einen guten Zweck« (MN, 49) dienen. »[D]urch eine leichte Täuschung« — eine >Lügenschrift< (MN, 49) — glaubt er, der verlassenen Braut »allen Schmerz und alle Angst [...] ersparen« (MN, 47) und dem verblendeten Freund die Augen öffnen zu können. Als Nolten sich entschließt, den Briefwechsel mit Agnes abzubrechen, setzt er diesen heimlich fort, schreibt unter dessen Namen Briefe an Agnes, in denen er sie seiner Liebe versichert, 28
Brief an Mörike vom 2 2 . 1 0 . 1 8 3 3 , zitiert nach Robert Vischer (Hg.): Briefwechsel zwischen Eduard Mörike und Friedrich Theodor Vischer, München 1 9 2 6 , S. 1 0 7 .
29
Benno von Wiese: Eduard Mörike, a.a.O., S. I94Í-
30
Volker Hoffmann: Artikel >Maler N o l t e n s in: Kindlers Neues Literaturlexikon. H g . von Walter Jens. Bd. 1 1 , München 1 9 8 8 , S. 8 i 4 f f .
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und verwendet diese >MaskenkorrespondenzGeburt der Wahrheit aus der Lüge«. Sie exponiert die (rhetorischen) Aporien des symbolästhetischen Konzepts. Vorgestellt wird daher eine >getreuliche Abschrift«, die >wahrer< sein soll als das Original selbst - die nur äußerlich täuscht, im Kern aber wahr ist, weil sie einem >reinen Herzen« entspringt, das die Wahrheit zwar nicht kennt, aber doch der gewissesten Überzeugung« ist, daß der Zustand der Verblendung nicht anhält, und die Aufgabe der Kunst darin besteht, ihn zu überbrücken: d.h., den Schein der Wahrheit an die Stelle der Wahrheit zu setzen, solange diese unerkannt ist, damit sich der Glaube an sie erhält. Sich selber aber gesteht Larskens: Mitunter hat es mich ergötzt, von der innersten Seele dieses lieblichen Wesens gleichsam Besitz zu nehmen, und um so größer war mein Glück, je mehr ich's unerkannt und wie ein Dieb genießen konnte. Ich bilde mir ein, das Mädchen wolle mir wohl, während ich ihr in der Tat so viel wie nichts bedeute; ich schütte unter angenommener Firma die ganze Glut, die letzte, mühsam angefachte Kohle meines abgelebten Herzens auf dies Papier und schmeichele mir was Rechts bei dem Gedanken, daß dieses Blatt sie wiederum für mich erwärme. [...] Bei alle dem hat mir die Täuschung wohl getan, sie half mir, in hundert schwülen Augenblicken den Glauben an mich selbst aufrecht erhalten. Es fragt sich, ob es nicht ähnliche Täuschungen gibt, eben in Bezug auf unsre herrlichsten Gefühle? (MN, 249O
Die Inbesitznahme der innersten Seele« durch den Künstler, das Spiel mit Gefühlen, die wahr und falsch zugleich sind, von denen nicht gesagt werden kann, wer oder was sie auslöst und wem sie gelten, wird als ausgekochte >Selbsttäuschung« durchschaut: als Taschenspielertrick, mit dem der aufgeklärte Mensch sich über seine innere Leere >hinwegtäuscht«. Durch Aufhebung der Differenz von Fiktion und Wirklichkeit, ersetztem und wahrem Ich, soll der Glaube an das >Selbst«, begriffen als der Ort, an dem Wahrheit unmittelbar einleuchtet, aufrecht erhalten werden. 171
Eine Zeitlang scheint es, als ginge Larskens' Rechnung auf: als könne das authentische Ich den Platz, den sein Imitat vorübergehend besetzt hat, wieder einnehmen - als wäre es möglich, Schein in Sein zu verwandeln und sich einzureden, der Tausch hätte nie stattgefunden. Zurückgekehrt in die Heimat, erlebt Nolten mit Agnes eine Zeit ungeahnten Glücks. Sie gipfelt in dem Ausflug zum >GeigenspielMaskenkorrespondenzselbstBriefe des SchauspielersErfindungDoppelsinn< setzt. Dazu eine letzte Bemerkung: Im Gespräch, das Nolten mit Agnes' Vater und dem Baron am Vorabend der Reise zum Geigenspiel führt, erinnern sich die Teilnehmer einer >fixen Idee< des jungen Nolten. Dieser war eine Zeitlang von der Vorstellung besessen, daß 172
[ . . . ] hinter jedem sichtbaren Dinge, es sei dies was es wolle - ein Holz, ein Stein, oder der Hahn und Knopf auf dem Turme — ein Unsichtbares, hinter jeder toten Sache ein geistig Etwas steckt, das sein eignes, in sich verborgnes Leben andächtig abgeschlossen hegt, wo alles Ausdruck, alles Physiognomie annimmt. (MN, 300)
Diese >fixe Idee< wird nun als Zeichen seiner Berufung zum Künstlertum gedeutet und mit Agnes' >früherer Grille< verglichen, alles, was man ihr von fremden Ländern und Städten erzählt hatte, fur Ammenmärchen zu halten, mit denen man sie hinters Licht zu fuhren suchte, und sich selbst als »Mittelpunkt und Zweck einer großen Erziehungsanstalt zu betrachten, die aus unbegreiflichen Gründen darum bemüht war, ihren »Gesichtskreis durch Täuschung« zu erweitern: Sie vermutete, man wisse überall, wohin sie komme, wer ihr da und dort begegnen werde, und da seien alle Worte abgekartet, alles auf das sorgfältigste hinterlegt, damit sie auf keinen Widerspruch stoße. (MN, 302)
Zwar bemerkt der Baron, daß dieser »skeptische Kasus, der allerdings höchst merkwürdig bleibt«, dem zuvor erörterten Fall nicht ganz entspricht (MN, 302), doch exponiert Noltens Vorstellung der Erscheinungswelt als Komplex rätselhafter Zeichen die poetische Grundfrage nach der Differenz von fiktiver und realer Welt unter dem Aspekt des romantischen Hieroglyphenmotivs (das sie sprachlich dimensioniert) — und erscheint der Schrecken dieser Differenz im Lichte der Erzählung von Agnes' >Grille< als Stimulus, der ein hypertrophes Ich bewegt, alles auf sich zu beziehen: sich in einer Zentralposition zu wähnen, die ihm keineswegs zukommt.
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V i l i . Die weiße Wolke - oder: Das Ende der Kunstperiode. Gottfried Keller: >Der grüne Heinrich
Der grüne Heinrich< handelt von der Entfremdung des modernen Menschen. Erzählt wird ein Malerschicksal. Doch soll das Werk nicht als Künstlerroman verstanden werden (GrHA, 535). 2 Von der romantischen Tradition (dem Versuch, den >état naturel< durch exponierte und potenzierte Künstlichkeit wiederzugewinnen) setzt der Roman sich entschieden ab. Dem stellt er die Behauptung einer einheitlichen Welt, zu deren Bewältigung es keiner > spiri tualistischen< Ideen bedarf, sowie das Postulat der >einfachen< Darstellung entgegen, die auf nichts Uberirdisches verweist, die keine ideale (transzendente) Wirklichkeit einzuholen sucht, sondern davon ausgeht, daß die Welt ist, wie sie erscheint. Abstrakte Darstellungsweisen, manierierte und ironische Ausdrucksformen werden als >leer< abgetan und künstlerischem Unvermögen zugeschrieben (GrHA, 360). Nach >vierzigtägigen< (im >Lotterbettchen< verbrachten) Goetheexerzitien geht dem grünen Heinrich ein Licht auf: [A]lles richtige Bestreben [geht] auf Vereinfachung, Zuriickfiihrung und Vereinigung des scheinbar Getrennten und Verschiedenen auf Einen Lebensgrund, und in diesem Bestreben das Notwendige und Einfache mit Kraft und Fülle und in seinem ganzen Wesen darzustellen, ist Kunst. (GrHA, 444) 1
2
Jochen Hörisch: Geld, Gott und verunglücktes Dasein im >Grünen Heinrichs a.a.O., S. 1 6 1 . Zitiert wird im fortlaufenden Text mit der Sigle >GrHA< und folgender Seitenzahl nach Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. Mit Zeichnungen Gottfried Kellers und seiner Freunde, Frankfurt/M 1978, sowie die überarbeitete Fassung von 1879/80 mit der Sigle >GrHB< und folgender Seitenzahl nach Gottfried Keller: Der Grüne Heinrich, München 1959.
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Im Roman ist die geforderte einheitliche Welt< allerdings nur als surreales Traumbild präsent. In der Fremde (der deutschen >Kunststadtalte hölzerne Brücke< die Flußufer verband, eine ungeheure SäulenhalleAustausch< zwischen beiden Bereichen ist in vollem Gange. Er wird — in Analogie zu Geburt und Tod — als organischer Vorgang, als >Blutumlauf in durchsichtigen AdernIdentität der Nation< heißt. Befremdet fragt er, ob sich der Name auf »die Brücke [...] oder die Leute, so darauf sind«, beziehe. Die Antwort »Beide zusammen sind die Identität, sonst spräche man ja nicht davon« (GrHB, 665) schafft keine Klarheit. Die Nation besteht aus den Menschen, die ihr angehören; das identitätsbildende Prinzip jedoch, das sie verbindet und den Brückenschlag über den Fluß der Zeit ermöglicht, sprengt den individuellen Horizont. Thema ist der Funktionszusammenhang von allgemeinem Schema und individueller Realisationsform. Der Identitätsbegriff führt es eng: »[D]ie Formel, etwas sei mit sich identisch, verdoppelt, was sie doch als Einheit ausgeben möchte«, bemerkt Jochen Hörisch und sieht in der Unwirklichkeit der erträumten Brücke die des Namens gespiegelt, den sie trägt. 3 Das Namensmotiv exponiert den sprachtheoretischen Horizont und verweist auf die subjektivistische Zuspitzung des Problems im frühromantischen Diskurs. Den reflexions-
3
Jochen Hörisch: Geld, Gott und verunglücktes Dasein im >Grünen Heinrichs in ders.: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt/M 1983, S. 1 1 6 — 1 7 9 , hier S. 1 1 9 .
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theoretischen Implikationen dieses Diskurses gilt der Spott, mit dem Heinrichs Pegasus4 die Diskussion beschließt: Wisse [..], wer diese heiklige Frage zu beantworten, den Widerspruch zu lösen versteht, ohne den scheinbaren Gegensatz aufzuheben, der ist ein Meister hierzulande und arbeitet an der Identität selber mit. Wenn ich die richtige Antwort, die mir wohl so im Maule herumläuft, rund und nett zu formulieren verstände, so wäre ich nicht ein Pferd, sondern längst hier an die Wand gemalt. Übrigens erinnere dich, daß ich nur ein von dir geträumtes Pferd bin und also unser ganzes Gespräch eine subjektive Ausgeburt und Grübelei deines eigenen Gehirnes ist, die du Aberwitziger mit über den Rhein gebracht hast. (GrHA, 7 4 5 O
Der geträumten Heimreise folgt die tatsächliche. Ohne einen Pfennig in der Tasche, in zerlumpten Kleidern macht Heinrich sich auf den Weg. Um den Hunger zu vergessen, beginnt er zu philosophieren. Er denkt nach über die >immer wache< Eitelkeit, die den Menschen »unaufhörlich in tausend lügenhafte Dinge, Brutalitäten und kleinere oder größere Gefahren« verstrickt und »zuletzt ein ganz anderes Wesen aus ihm mach[t] als er ursprünglich war und eigentlich sein will« (GrHA, 767). Dabei fällt der Blick auf ein >Päckleingenügende Gefühl eines sicheren Daseins < abhanden gekommen ist und der durch seine Arbeit (die Verdopplung der Natur) nichts als Verwirrung stiftet. Ein letztes Mal beruft Heinrich das >klassische< Kunstideal, von dem er sich hat leiten lassen: Dies ist das Geheimnis! O wer allezeit auf rechte Weise zu sehen verstände, unbefangen mitten in der Teilnahme, ruhig in edler Leidenschaft, selbstbewußt, doch anspruchslos, kunstlos und doch zweckmäßig! ( G r H A , 7 7 1 )
Er ist einer Schimäre aufgesessen: der Vorstellung einer >kunstlosen< Kunst, die den zerstörten >état naturel· wiederherstellt. Das aber will er nicht wahr haben; eher zweifelt er an seiner Begabung und beschließt wie Wilhelm Meister, der Kunst zu entsagen: »noch irgend etwas Lebendiges [zu] lernen, wodurch ich unter den Menschen etwas wirke und nütze!« (GrHA, 7 7 1 ) Der Blick auf das regendurchnäßte >Päcklein< — in dem sich, wie gesagt, ein Teil des Romans befindet - hat denn auch keine peripetetische Bedeutung. Heinrich bleibt blind dafür, wie sich die Dinge tatsächlich verhalten. Der die Szene beschließende Erzählerkommentar stellt klar: Der Vorsatz, ein nützliches
4
Heinrichs Pferd heißt >Goldfuchs< (gr. Xanthos) wie Achills Pferd, das ebenfalls sprechen kann und seinem Reiter den bevorstehenden Tod prophezeit.
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Leben zu beginnen, kommt zustande wie der durch die Goethe-Lektüre motivierte Entschluß, Maler zu werden. Heinrich schlüpft in literarisch vermittelte Rollen, um sich >zu erhöhenc um >vor sich selbst eine gute Figur zu machen« (GrHA, 771). Ein ironisches Prinzip kommt zum Tragen, das dem propagierten >klassischen< Kunstkonzept widerspricht. Der Maler Römer, der einzige w i r k liche Künstlers den der Roman vorstellt, verkörpert dieses Prinzip. Römer aber endet im Irrenhaus. Außerhalb des Traums, in der Wirklichkeit der erzählten Geschichte, gibt es für Heinrich kein >Zurück zur Naturklassische Dämpfung< und Tilgung aller autoreflexiven Strukturelemente bemühten Zweitfassung kehrt Judith zwar aus Amerika zurück und begleitet als >Stimme der Natur« den gescheiterten Maler auf seinem Entsagungsweg. Eine Vereinigung des alten Liebespaares kommt aber nicht in Betracht. Im Dargestellten, in der erzählten Geschichte, spiegelt sich das Dilemma der Erzählung selbst, der es verwehrt ist, die geforderte einheitliche« Form zu realisieren. Im > Vorwort« zur Erstausgabe aus dem Jahre 1855 stellt Keller den Zusammenhang selbst heraus und entschuldigt sich für die »Unförmlicheit« seiner Erzählung, die zwar den »Eindruck einer wahr empfundenen und mannigfach bewegten Mitteilung« erwecke, nicht aber zu einem >reinen und meisterhaften Kunstwerk« heranwachse. Die >Absichten und Motive« des Romans seien seit dem »ersten Tag der Konzeption unverändert dieselben« geblieben, er selbst aber sei in dieser Zeit »vielfaltig ein Anderer« geworden (GrHA, 9) — und zwar aus Gründen, die mit dem Schaffensprozeß in direktem Zusammenhang stehen: Er habe, so erklärt er, »über der Arbeit besser schreiben« (GrHA, 9) gelernt. Aus der Verbindung zweier Komponenten, die die abendländische Kunstreflexion geprägt haben, der ars-natura-Dichotomie mit dem Wahnsinnsmotiv, entsteht das Leitthema der Künstlerromantradition: die Vorstellung einer grundlegenden >Veränderung«, der unterliegt, wer sich auf Kunst einläßt. Die genauere Bestimmung der >Unförmigkeit«, unter der der Roman leidet, verdeutlicht den Zusammenhang. Sie besteht darin, daß [...] der Roman in zwei verschiedene Bestandteile auseinanderfallt, nämlich in eine Selbstbiographie des Helden, nachdem er eingeführt ist, und in den eigentlichen Roman, worin sein weiteres Schicksal erzählt und die in der Selbstbiographie gestellte Frage gewissermaßen gelöst wird. Der eine Teil ist viel zu breit erzählt, um als Episode des andern zu gelten, und so bleibt nur, zu wünschen, daß die Einheit des Inhaltes beide genugsam möge verbinden und die getrennte Form vergessen lassen. (GrHA, 10)
Friedrich Theodor Vischer bezeichnet den >Grünen Heinrich« deshalb als eine »Mischung, aus der man nicht klug wird«, als ein »Mittelding zwischen Roman und Selbstbiographie« und erhofft von der angekündigten Überarbeitung
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die Behebung der kompositorischen Mängel. 5 Der Defekt erweist sich jedoch als irreparabel. An die Stelle des anonymen Erzählerberichts mit eingebauter Autobiographie tritt in der Fassung von 1879/80 die Fiktion zweier autobiographischer Schriften desselben Verfassers, die das Dilemma des sich schreibend aufspaltenden Subjekts deutlicher noch hervorkehrt. U m so mehr Aufmerksamkeit verdient, daß Keller den Erzählerbericht als den eigentlichen Roman< bezeichnet. Das >getrennte< Werk erscheint im Lichte dieser Aussage als metaphorisches Konstrukt, das ein tertium comparationis (der sich in der Invarianz der >Absichten und Motive< dokumentierende einheitliche Inhaltuneigentliche Aussage< Ersetzte) aus und degradiert die eingeschobene Autobiographie, von der es heißt, der Held habe sie »in jugendlicher Subjektivität und Schreibseligkeit [...] niedergeschrieben [...], um sich eine Art Abschluß und Übersicht zu bilden« (GrHA, 57), zur Ersatzform, die das im Erzählerbericht unverblümt Dargestellte veranschaulicht (ihm die im Vorwort beschriebene Form der >mannigfach bewegten und wahr empfundenen Mitteilung < gibt). Doch wächst die Verwirrung noch im Lichte der folgenden Bestimmung des >Romanteils< als Antwort auf die Frage, die die >Selbstbiographie< stellt. Betrachtet man die Frage als Grund der Rede, die sie beantwortet, haben wir es im >Grünen Heinrich< mit einer Aussage zu tun, in der das eigentlich Gemeinte< sich von der tropischen Ersatzform (vom >uneigentlichen AusdruckSelbstbiographie< nach der Möglichkeit >menschlicher Bildungreine gegebene Facta< zu nehmen, ernst, muß er an sich selbst, der eigenen Wirklichkeit, irre werden. Die geleugnete Differenz ist dem sie leugnenden Text immanent. Martin Swales hat darauf schon hingewiesen; für ihn resultiert die Erzählform des >Grünen Heinrich< aus der Erkenntnis, daß das, was die Menschen als Wirklichkeit erleben, kein bloßes Aggregat von objektiven, d.h. unvermittelten, Tatsachen ist, sondern von unzähligen Akten des Deutens, des Verstehens, der Reflexion abhängt. Somit überschneiden sich künstlerisches Medium, außerliterarisches Leben, textuelle Aussage und außertextuelle Erfahrungsbereiche; der gemeinsame Nenner ist der Vorgang der Reflexion, wobei der Mensch letztlich nicht nur im Faktischen, sondern auch im Bildlichen lebt. Mit anderen Worten: der Mensch ist nur dann im Bereich des Tatsächlichen beheimatet, wenn Fakten durch Bilder und Metaphern eloquent gemacht werden. 9 Das Interesse an Kunst und Künstlertum ist im >Grünen Heinrich< epistemologisch motiviert. Nicht um abstrakte ästhetische Theorien geht es, sondern um die Problematik des subjektivistischen Reflexionsansatzes: den Wirklichkeitswert der Bewußtseinsbilder, die der Mensch für die Realität selbst nimmt. N i c h t anders steht es um die verleugnete Tradition. Das A l l g e m e i n e s die Frage nach dem menschlichen >SelbstBesondereMoral< des >Griinen Heinr i c h s 1 0 verdeutlicht das Dilemma: Der Graf [macht] räth Heinrich, sich der produktiven Behandlung des öffentlichen Lebens zu widmen, als der einzigen noch möglichen und würdigen Form, die Gestaltungskraft und dichterische Phantasie zu benutzen, welche, wenn sie eine gesunde sein wolle, auch für das wirkliche Leben die besten und schönsten Erfindungen [machen] leisten müsse. Alle subjektive Eitelkeit, alles Phantastische müsse abgetan werden und nur in klarer, kühler Ruhe das Leben, der Staat [,die] betrachtet, beherrscht und gelenkt werden, indem man Alles als ein großes dichterisches und doch wirkliches Werk [behandeln] ansehen müsse, dem vor allem aus die Verwirklichung der poetischen Gerechtigkeit Noth thue. 1 1 Dem (schon in >Ahnung und Gegenwart< politisch gewendeten) romantischen Poesiekonzept ist hier das auf Überwindung des romantischen Diskurses (des reflexionspoetischen Dualismus) zielende Postulat der realistischen Darstellung 9
Martin Swales: Das realistische Reflexionsniveau: Bemerkungen zu Gottfried Kellers >Der grüne Heinrichs in: Hans Wepling (Hg.): Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk, München 1990, S. 9 - 2 2 , hier S. 1 1 . 10 Hans Dietrich Irmscher: Keller, Stifter und der Bildungsroman, a.a.O., S. 3 8 1 . " Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Hg. von Jonas Frankel und Carl Helbling. Band X I X , Zürich, Bern 1 9 2 6 - 1 9 4 9 , S. 350.
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eingeschrieben. Gefordert wird nicht, die ästhetische Energie in politische umzusetzen, sondern die poetische Schaffenskraft politisch zu nutzen: Staat und Gesellschaft sollen als >großes dichterisches und doch wirkliches Werk< begriffen, ästhetische Maximen (>poetische Gerechtigkeit^ zum Maßstab politischen Handelns gemacht werden. Zwar muß die poetische Einbildungskraft beschränkt werden, um politisch wirksam zu sein. Doch wie ist solche Beschränkung möglich, wenn die Realität als Kunstprodukt, als poetische Erfindung betrachtet wird? Die im >Ardinghello< und >Anton Reiser< noch im Rampenlicht stehende rhetorische Dimension des ästhetischen Scheins tritt aus dem Dunkel wieder hervor, in das die Symbolästhetik sie verbannt.
2.
Die >JugendgeschichteDoppelliebe< zu Anna und Judith Breite und Kontinuität gewinnt. Die Einleitungssätze reflektieren das im Vorwort angeschlagene Thema des Ineins von Konstanz und Varianz unter sprachlichem Aspekt, sie denken nach über den Fortbestand der Namen und den Wechsel ihrer individuellen Träger: Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe, welches seinen Namen von dem Alemannen erhalten hat, der zur Zeit der Landteilung seinen Spieß dort in die Erde steckte und einen Hof baute. Nachdem im Verlauf der Jahrhunderte das namengebende Geschlecht im Volke verschwunden, machte ein Lehensmann den Dorfnamen zu seinem Titel und baute ein Schloß, von dem niemand mehr weiß, wo es gestanden hat; ebensowenig ist bekannt, wann der letzte »Edle« jenes Stammes gestorben ist. Aber das Dorf steht noch da, seelenreich und belebter denn je, während ein paar Dutzend Zunamen unverändert geblieben und fur die zahlreichen, weitläufigen Geschlechter fort und fort ausreichen müssen. (GrHB, 7)
Genealogischer und sprachtheoretischer Diskurs fallen ineins. Von einer, wie Hörisch formuliert »strukturalen Disproportion zwischen Signifikanten und Signifikaten« wird berichtet, von einem »spezifische[n] Mangel« an Namen, der sich bei der Aneignung und Aufteilung des Landes, der durch Benennung vollzogenen Grenzziehung, bemerkbar macht — sowie von der List der tropischen Substitution, deren sich der Mensch bedient, um dem Mangel abzuhelfen: »Wie der Alemanne seinen Namen zu dem des Territoriums macht, das er besitzt, so macht später >ein Lehemann den Dorfnamen zu seinem TitelGrünen Heinrichs a.a.O., S. 147.
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Ebene der Erzählform, auf deren metaphorische Struktur das >Vorwort< schon hinweist, als auch auf der Ebene des Erzählten: der Geschichte vom Scheitern des Versuchs, die verlorene Einheit (Landteilung) durch Kunst (Landschaftsmalerei) wiederzugewinnen. Die Funktion der >Jugendgeschichte< besteht entsprechend darin, die späteren Verwirrungen (Heinrichs > Irrtum im Künstlerberufefesten Erde< verbunden sind, dem Blick entzogen ist. Die Mutter belehrt ihn, »das seien große Berge und mächtige Zeugen von Gottes Allmacht«, doch provoziert sie damit nur neue Mißverständnisse. Heinrich erzählt: [ . . . ] ich konnte und mochte sie [- die B e r g k u p p e n ] d a r u m nicht von den Wolken unterscheiden, deren Ziehen und Wechseln mich a m A b e n d fast ausschließlich beschäftigte, deren N a m e aber ebenso ein leerer Schall fur m i c h war wie das Wort Berg. D a die fernen Schneekuppen bald verhüllt, bald heller oder dunkler, weiß oder rot sichtbar waren, so hielt ich sie wohl für etwas Lebendiges, Wunderbares und Mächtiges, wie die Wolken, und p f l e g t e auch andere D i n g e m i t d e m N a m e n Wolke und oder B e r g zu belegen, wenn sie mir A c h t u n g und N e u g i e r d e einflößten. So nannte ich [ . . . ] die erste weibliche Gestalt, welche mir wohlgefiel und ein Mädchen aus der Nachbarschaft war, die weiße Wolke, von d e m ersten Eindrucke, den sie in einem weißen K l e i d e auf mich g e m a c h t hatte. M i t mehr R i c h t i g k e i t nannte ich vorzugsweise ein langes hohes Kirchendach, das m ä c h t i g über alle Giebel emporragte, den Berg. ( G r H A , 7 7 f . )
Preisendanz erläutert am Beispiel dieser Szene das > realistische Darstellungsprinzip« des Romans: In der (zu >mystischen< Spekulationen verleitenden) Uneinsichtigkeit dessen, was die Schneekuppen mit der irdische Welt verbindet, sieht er die mangelnde (erst durch die naturwissenschaftlichen Studien an der Universität erworbene) »Einsicht in >Faser und Textur der Wirklichkeit«« gespiegelt, mit der sich Heinrichs Scheitern begründet, und betrachtet daher das Mansardenerlebnis als »Vorspiel jener >Unverantwortlichkeit der Einbildungskraft««, mit dessen Inszenierung der Roman an die Schwärmerromantradition anknüpfe. 13
13
W o l f g a n g Preisendanz: Keller. D e r grüne Heinrich, a.a.O., S. ηJugendgeschichte< angeschlagene Thema der zu wenigen und deshalb fiir Verschiedenes verwendeten >NamenName Gott< bezeichne etwas >Geistigesprächtig gefärbte Tiger< im Bilderbuch. Mit der Zeit gelangt er zwar zu einem >edleren< Gottesbegriff, nie aber zu einem >klareren Bild< des Bezeichneten (GrHA, 79). In der Welt, in die die Sprache die Dinge entrückt, wachsen diesen Bedeutungen zu und bilden sich Begriffe heraus, die des konkreten Bezugs völlig entbehren.
-
Er folgen zwei Parabeln auf den Terror der Schrift: Die Erinnerung an einen Lehrer, der dem grünen Heinrich handfest einbleut, daß er das Wort P u m pernickels das er irgendwo aufgeschnappt hat und mit keiner leiblichen Form< verbindet, nicht als Namen fiir den Buchstaben Ρ verwenden darf — sowie die Geschichte vom armen Meretlein, einem Naturkind, das sich Gebet und Gottesdienst verweigert und deshalb von seinen orthodoxen Erziehern mißhandelt und verfolgt wird -
bis es auf dem >Buchberg< leblos
zusammenbricht (GrHA, 97). -
Aus der Verschränkung beider Aspekte - der Notwendigkeit metaphorischer Bedeutungsschöpfung und dem Drang zur dogmatischen Sinnfixierung - entsteht das paradoxe Bild, das zwei antithetisch aufeinander bezogene Episoden zeichnen: Z u m einen die Erzählung vom Trödelladen der Frau Margret, in dem alles bedeutsam ist und die »wunderbarsten Dinge von der Welt zur Sprache« kommen (GrHA, 108). Sie erinnert an die verlorene »Welt [ . . . ] mythischer Sinnenfälligkeit und Totalität«, 14 den Wurzelboden aller Poesie. A u f der Ebene des Dargestellten veranschaulicht sie das Wirken der kindlichen Phantasie, die die Welt als Ganzes erleben läßt und aus deren ungehemmter Entfaltung der Wille zum Künstlertum erwächst — und auf der Ebene der Darstellung den Grund des Romans selbst. Heinrich entsinnt sich: M i t all diesen Eindrücken beladen, zog ich dann über die Gasse wieder nach Hause und spann in der Stille unserer Stube den Stoff [- das bei Frau Margret Erlebte] zu
14
Wolfgang Preisendanz: Keller. Der grüne Heinrich, a.a.O., S. 81.
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großen träumerischen Geweben aus, wozu die erregte Phantasie den Einschlag gab. Sie verflochten sich mir mit dem wirklichen Leben, daß ich sie kaum von demselben unterscheiden konnte. (GrHB, 68)
und fügt in der Erstfassung hinzu: In der Tat muß ich auf diese erste Kinderzeit meinen Hang und ein gewisses Geschick zurückführen, an die Vorkommnisse des Lebens erfundene Schicksale und verwickelte Geschichten anzuknüpfen und so im Fluge heitere und traurige Romane zu entwerfen, deren Mittelpunkt ich selbst oder die mir Nahestehenden waren [...]. (GrHA, 1 2 1 )
Zum anderen die Erinnerung an ein >KinderverbrechenHang zum Ausmalen< der Wirklichkeit birgt: Wieder sind es Worte, die Heinrich in Schwierigkeiten bringen, anstößige Ausdrücke, die er irgendwo aufschnappt und verwendet, ohne ihre Bedeutung zu kennen. Von den Lehrern befragt, woher er sie habe, beschuldigt er ältere Mitschüler, und lügt mit >solcher Beredsamkeit*, daß er am Ende selbst von der Wahrheit des Erzählten überzeugt ist. Die zu Unrecht Beschuldigten werden hart bestraft. Das aber stört Heinrich nicht; er empfindet nur >Befriedigung< darüber, daß [ . . . ] die poetische Gerechtigkeit [sjeine Erfindung so schön und sichtbarlich abrundete, daß etwas Auffallendes geschah, gehandelt und gelitten wurde, und das infolge [s]eines schöpferischen Wortes. (GrHA, 124)
Gemeinsamer Nenner der Szenenfolge ist das zentrale Thema der Künstlerromantradition: die Herkunft der Kunst aus dem durch das arbiträre Sprachzeichen eröffneten Spielraum von Lüge und Verstellung. So wundert es nicht, daß in der Erzählung, in der die Kindheitserinnerungen gipfeln, das Theatermotiv auftaucht: Ein >wandernder Künstlerverein< bezieht im größten Gasthaus der Stadt Quartier und verwandelt den Tanzsaal in ein Theater. Gespielt wird Goethes >Fausttief beeindruckt< vom Treiben der Schauspieler und Wirken des Bühnenbildners, dem er im Rückblick »erste ahnende Einsichtfen] in den Geist der Malerei« (GrHA, 143) zu verdanken glaubt. Durch eine Seitentür, die zur Bühne führt, schaut er den Proben zu. Es ist dieselbe Position, aus der Wilhelm Meister Mariane beobachtet. Wie dieser wünscht er, »hinter die Kulissen zu kommen und das berückende Spiel und seine Spieler, wie ihre Mittel in der Nähe zu besehen« (GrHA, 144). Und als der Wunsch unerwartet in Erfüllung geht - es werden Meerkatzen fur die Hexenküchen-Szene gesucht - stellt sich auch die >doppelte< (den >Blick hinter den Vorhang* als Spiegelblick erweisende) Perspektive der >Lehrjahre< ein: [I]ch schaute unverwandt bald auf die Bühne, bald hinter die Kulissen und beobachtete mit hoher Freude, wie aus dem unkenntlichen, unterdrückt lärmenden und streitenden Chaos sich still und unmerklich geordnete Bilder und Handlungen ausschieden und auf dem freien, hellen Räume erschienen, wie in einer jenseitigen Welt, um wieder ebenso unbegreiflich in das dunkle Gebiet zurückzutauchen. (GrHA, 146)
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Daran knüpft Heinrich folgende Gedanken über die menschliche Natur: Die Menschen führten ein doppeltes Leben, wovon das eine ein Traum sein mochte; aber ich wurde nicht klug daraus, welches davon der Traum und welches fur sie die Wirklichkeit war. Lust und Leid schien mir in beiden Teilen gleich gemischt vorhanden zu sein; doch im innern Räume der Bühne, wenn der Vorhang geöffnet war, schien Vernunft und Würde und ein heller Tag zu herrschen und somit das wirkliche Leben zu bilden, während, sobald der Vorhang sank, mit ihm alles in trübe, traumhafte Verwirrung zu sinken schien. (GrHA, 146)
Der Opposition von Bühne und Zuschauerraum (der Vorstellung des durch den Vorhang in zwei Hälften geteilten Theaters) entspricht der die Erzählung innerlich zerreißende Unterschied zwischen Roman und Selbstbiographien Hier wie dort spiegelt sich das Dilemma bewußter Existenz: die Differenz von Dichtung und Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit - sowie die paradoxe Einsicht, daß eins ohne das andere nicht zu haben ist. Der Vorstellung des die Bühne betretenden Heinrichs korreliert daher die des sie verlassenden Gretchens. Im dunklen Zuschauerraum — Heinrich ist dort eingeschlafen - tritt sie ihm im weißen Nachthemd entgegen. Heinrich ist auch der Name des Liebhabers, den Goethe ihr zuschreibt. Gleichsam in Erfüllung ihrer Rolle küßt sie ihn und nimmt ihn mit in ihre Kammer. Es ist die Muse der Faustdichtung, die diesen Kuß gewährt. Zugleich aber ist es die Kindheitsgeliebte - das Mädchen aus der Nachbarschaft, das er >weiße Wolke< genannt hat — die hier auf Heinrich zukommt. Hals und Schultern der Schauspielerin sind entblößt und werfen »einen milden Schein, wie nächtlicher Schnee« (GrHA, 150). Im starren Blick »auf dem weißen Räume ihrer Brust« (GrHA, 1 5 1 ) wiederholt sich der des Fünfjährigen auf die leuchtenden Bergkuppen, die er einer überirdischen Wirklichkeit zuordnet. Die verschiedenen Bilder überlagern sich und bilden einen Reflexionszusammenhang, der der erotischen Situation die sinnliche Spitze bricht: der etwas bedeutsam erscheinen läßt im Lichte eines anderen, das es nicht ist. Kein Wunder, daß die Muse sich im folgenden aufspaltet, daß Heinrich in der Zeit seiner Malerausbildung immer wieder ins Heimatdorf zurückkehrt (um den Bruch mit der Natur, den die Entscheidung für die Kunst bedeutet, zu überwinden), dort aber keine Ruhe findet, sondern sich zerreißt in der Liebe zu zwei Frauen, die entgegengesetzte Kunstprinzipien verkörpern: - zu Anna, die als »fast wesenlose Gestalt«, >junger Engel< (GrHA, 260) und >Wolke des Himmels< (GrHA, 263) beschrieben wird, die im >weißen Kleide< auf der Hausorgel spielt (GrHA, 332) - und doch vor allem zum Küssen aufgelegt ist, — und zu Judith, die als heidnische Göttin und verführerische Eva vorgestellt wird, die Heinrich mit nach Hause nimmt und ihm dort im >schneeweißen Untergewande< mit >bloßen Armen und enthüllten Schultern< entgegen185
tritt, sich am liebsten aber mit ihm über Kunst und Poesie unterhält (GrHA, 429). Heinrich erklärt: »[I]ndem ich immer an die junge Anna dachte, hielt ich mich gern bei der schönen Judith auf«. Er entschuldigt den Leichtsinn mit jugendlichem Alter, einem >unbewußten< Zustand, in dem man »ein Weib fur das andere« nimmt. (GrHA, 258). Doch ändert sich nichts, als Judith ihn zur Rede stellt und wissen will, was er sich dabei denke, sie zu küssen und Anna im Sinn zu haben - nicht um ihm den Laufpaß zu geben, sondern um die >Doppelliebe< auf der Basis der im Konfirmationsunterricht erlernten Maxime, »daß man jeden Augenblick sich selbst klaren Wein einschenken [müsse], nie und in keiner Weise sich einen blauen Dunst vormachen« dürfe (GrHA, 358), zu bejahen. Die ästhetische Dimension des (die Dorfidylle hintertreibenden) Konflikts ist durch die Parallelstellung mit der unglücklich verlaufenden Malerausbildung deutlich markiert. Heinrich selbst bringt das Dilemma auf den uns interessierenden Nenner: »Ich schien mir dort ein Anderer und hier ein Anderer und doch immer der Gleiche« (GrHA, 426) bzw. »Ich fühlte mein Wesen in zwei Teile gespalten und hätte mich vor Anna bei der Judith und vor Judith bei der Anna verbergen mögen« (GrHA, 436). Nicht zufallig rekurriert er in diesem Zusammenhang auf das dem ästhetischen Reflexionsansatz zugrunde liegende Leib-Seele-Schema: [ . . . ] während ich in Anna den bessern und geistigern Teil meiner selbst liebte, suchte Judith wieder etwas Edleres in meiner Jugend als ihr die Welt bisher geboten; und doch sah sie wohl, daß sie nur meine sinnliche Hälfte anlockte [...]. (GrHA, 473)
Heinrichs Doppelliebe wird oft mit Pubertätsproblemen, ödipalen Komplexen erklärt. Entwicklungspsychologisch betrachtet, argumentiert Sautermeister, erscheint die Kunst im >Grünen Heinrich< als Produkt eines >sublimierten, von seiner naturwüchsigen Richtung abgelenkten Erose An die Stelle des wirklichen Genusses tritt der Traumgenuß des verletzlichen Narziß, an die Stelle einer Realitätsgestaltung das der autonomen Phantasie eigene Zögern und Verweilen, Ausmalen und entschlußlose Warten. Der von der Realität Verwundete flüchtet sich in die qualvolle Lust einer Phantasie, die das geliebte Mädchen begehrt und meidet. Eine Geburt dieser Phantasie ist das Portrait Annas, das der Einsame malt: Für den entgehenden Eros hält er sich an seinem Widerscheine schadlos; die vor sich selbst erschreckende Sinnlichkeit verklärt das geliebte Wesen zur unantastbaren >märchenhaften KirchenheiligenKirchenheilige< vorstellt (GrHA, 3 5 1 ) , als ästhetisches Mißverständnis bzw. künstlerische Fehlleistung. Wohl läßt sich das verklärte Bild Annas, das die >Jugendgeschichte< zeichnet, als verzerrtes Bewußtseinsbild eines schwärmerischen Verfassers deuten. Dann aber bleibt rätselhaft, warum Anna sterben muß. Die Dualität von sinnlicher und geistiger >Liebesartviel schönere< Bild, das zu malen Heinrich sich nach dem Verlust des ersten vornimmt (GrHA, 351). Annas Sarg weist über dem Gesicht der Toten eine Öffnung auf. In diese setzt Heinrich eine Glasscheibe ein. Er entnimmt sie einem Rahmen, aus dem das Bild — ein Kupferstich, der drei musizierende Engel darstellt - »lange verschwunden« ist. Doch wird es wieder sichtbar, wenn man das Glas »hoch gegen die Sonne« hält. Die Gravur hat sich über die Jahre >dem Glase mitgeteilt und ihr dauerndes Spiegelbild in demselben zurückgelassen< (GrHA, 514). So erklärt sich das »lieblichste Wunder«: die Erscheinung der Engel, die Anna in den Himmel geleiten. Die Erzählung von Annas Tod ist Schwanengesang auf eine Kunstform, die die >reale< Welt als Widerschein einer >höheren< Wirklichkeit auffaßt. Der schöne Schein wirkt im Verblassen faszinierender denn je. Die >Engelsbilder< (der mythische Reflexionshorizont, dem die idealistische Ästhetik entwächst) sind v e r schwundenen«, aber weiterhin verhexen sie das Denken: Der metaphorische Exzeß, den sie motiviert haben, ist nicht zu stoppen. Mit Annas Tod implodiert der geistige Pol der Geist-Körper-Dichotomie. Doch läßt die Spannung nicht nach. Im Gegenteil, an die Stelle der schönen Gestalt rückt das >schwarze Locherster Tod< ereignet sich auf dem Höhepunkt der Fastnacht, wo sie »wie umgewandelt« (GrHA, 385) scheint, wo sie, von Heinrich in eine literarische Falle gelockt (d.h., überredet, beim Tellspiel mitzumachen), diesem im Kostüm der Berta von Brunneck entgegentritt und ihm nicht nur den durch die Rolle diktierten Kuß zugesteht, sondern ihn mit Küssen überschüttet. Dieser Moment sinnlicher Ausgelassen16
Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, a.a.O., S. 85.
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heit wird als Augenblick der völligsten Verwirrung< und eines radikalen Identitätsverlusts beschrieben: [ . . . ] bei dem fünften oder sechsten Kusse wurde sie totenbleich und suchte sich loszumachen, indessen ich ebenfalls eine sonderbare Verwandlung fühlte. Die Küsse erloschen wie von selbst, es war mir, als ob ich einen urfremden, wesenlosen Gegenstand im Arme hielte [...]. Mich dünkte, ich müßte sie in eine grundlose Tiefe fallen lassen, wenn ich sie los ließe, und töten, wenn ich sie ferner gefangen hielt; eine große Angst und Traurigkeit senkte sich auf unsere kindischen Herzen. (GrHA, 4 1 4 )
Anna weiß um die ästhetische Qualität des Moments — wie um seine Abgründigkeit: »O es war so schön! Wir waren so glücklich bis jetzt!«, ruft sie aus und betrachtet ihr Spiegelbild, das im Wasser aufleuchtet. Preisendanz deutet die Szene so: Erst wenn Heinrichs Verhältnis zu Anna und Judith nicht einfach als Dualismus von Geistigkeit und Sinnlichkeit aufgefaßt wird, sondern als eine Gespaltenheit, die von dem Auseinandertreten des Bildes und der Wirklichkeit der Liebe bedingt ist, erst dann wird deutlich, wie genau ergänzend diesem Erfahrungskomplex des >neuen Lebens< die Kunstbeflissenheit des grünen Heinrich zugeordnet ist. 1 7
Aber nicht das >Auseinandertreten von Bild und Wirklichkeit der Liebe< ist durch die Doppelfigur >Anna-Judith< angezeigt, sondern die innere Spannung, die Bipolarität des Bildes selbst, das nicht identisch ist mit dem, was es bedeutet. In der Fastnacht, in der Judith und Anna die Rollen tauschen und Heinrich von beiden geküßt wird, kommen die oppositionellen Pole überein. Die Erzählung visiert diesen Punkt an. Der Welt aber, der Heinrich angehört, ist er entzogen. Denn in ihr gelten nicht die Gesetze des symbolischen Tauschs, der Materielles für Ideelles handelt, sondern die des Markts, des materiellen Tauschs, der sich im >Wechselkurs< des Geldes gleichsam >rein< darstellt. Für Anna ist in dieser Welt kein Platz mehr. Um so mehr Aufmerksamkeit verdient die Parallelstellung dieser Entwertung des >Geistigen< (dieses kapitalistischen Triumphs) zur >Naturvergessenheit< und mangelnden >Originalitätkopierteine ihm bekannte Natur um ihrer selbst willen mit einer gewissen Technik nachAbstand des Originales von der Natur< noch die >unendliche KluftOriginal< trennt, (GrHA, 179) je zum Problem. Nachdem er alle Bilder, die das elterliche Wohnzimmer schmücken, abgemalt hat, beginnt er, e i gene Landschaften zu erfindenc Zu diesem Zweck löst er einzelne Elemente 17 18
Wolfgang Preisendanz: Keller. Der grüne Heinrich, a.a.O., S. 97. Hierzu und zum folgenden vgl. Hartmut Laufhütte: Wirklichkeit und Kunst in Gottfried Kellers Roman >Der grüne Heinrichs Bonn 1969.
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aus fertigen Arbeiten heraus und arrangiert sie nach literarischen Motiven neu (GrHA, 205). -
Der Unterricht bei Habersaat schafft keine Abhilfe. Auch hier geht es um die Reproduktion von >Vorlagen ohne Naturwahrheit und Bedeutungfixen Jargonsrenommistischen Formeln^ mit deren Hilfe sich >wunderlichste Landschaftern aufs Papier werfen lassen, die aber nicht dazu befähigen, selbst einfachste Gegenstände nach der Natur zu malen und ihr >bewegliches Wesen< wiederzugeben.
— Schließlich trifft Heinrich auf einen >wirklichen Meisten, aber auch das bringt nichts. Römer macht ihn zwar mit den Techniken der Aquarellmalerei vertraut und schwört ihn auf die Prinzipien der einfachen Naturnachahmung - der Ablehnung von allem >Ausgesuchten, Interessanten, Pikanten und Fratzenhaftem (GrHA, 456) — ein. Der W e g zur >Naturunmittelbarkeitmeisterhafte< Werk stellt sich als Produkt eines schizophrenen Bewußtseins heraus, das seinen Zustand verkennt.
3· Indem [ . . . ] die spekulative Philosophie verkennt, daß »das, was gedacht wird, immer zugleich, indem es gedacht wird, dem Denken entzogen« ist, ist sie »im Zustande des Somnambulismus«. Eine poetische Schrift hingegen, die sich wie das »Schreibbuch« des grünen Heinrich und des >Grünen Heinrich< auch ausdrücklich als Schrift bekennt, läßt das Denken und das Dasein auf ein »lebendiges Memento Mori« auíprallen, das »die ganze Natur« als einen »Kirchhof der Selbstheit« begreiflich werden läßt. (/. Hörisch·9)
Die Frage, die Heinrichs >Selbstbiographie< stellt und auf die der (sie enthaltende) >Roman< die Antwort gibt, ist also die nach der Möglichkeit von Kunst in einer Welt, aus der sich die Musen (Anna und Judith) zurückgezogen haben. Als ihr Zentrum erscheint >die deutsche Kunststadt^ Der dörflichen Fastnacht korrespondiert hier eine große Mummenschanz, die in einem Umzug der Masken durch die Straßen gipfelt. 19
Jochen Hörisch: Geld Gott und verunglücktes Dasein im »Grünen Heinrichs a.a.O., S. 161.
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Heinrich tritt im Narrenkostüm auf. Dieses gebührt dem Herrn des Karnevals, der das Rollenspiel durchschaut, der alles nachäfft und der Lächerlichkeit preisgibt, sich selbst aber dem Spott entzieht, indem er zur >Unpersonreinen Maske< wird. Heinrich ist seinem Kostüm jedoch nicht gewachsen. Narr kann nur sein, wer selbst keiner ist, wer in den Rollen, die er spielt, nicht aufgeht. Heinrich hingegen weiß nicht, was er tut, als er den Part seines Freundes Lys übernimmt und ein Mädchen zum Ball führt, das diesem inzwischen lästig ist. Weder begreift er den Zusammenhang zwischen dem karnevalesken Treiben, dem Gestaltenwechsel, und dem minetischen Prozeß, in dem das Kunstwerk entsteht, noch erinnert er sich der eigenen >Treuelosigkeit< beim Tellfest. Statt dessen spielt er den Moralisten und macht dem Freund heftige Vorwürfe. Lys zahlt mit gleicher Münze zurück: Du aber schäme dich [...] als solch ein zierlich entworfenes, aber doch leeres Schema in der Welt umherzulaufen, wie ein Schatten ohne Körper! Suche, daß du endlich einen Inhalt, eine solide Füllung bekommst, anstatt anderen mit deinem Wortgeklingel beschwerlich zu fallen! (GrHA, 6 1 5 )
So endet die Münchener Fastnacht nicht, wie die dörfliche, mit Küssen, sondern mit einem Duell, in dem (in der Erstfassung) Lys tödlich verwundet wird. 20 Es ist ein Spiegelgefecht. Heinrich und Lys bekämpfen im anderen die eigene Sterilität: die Impotenz einer Epoche, die, wie Lys formuliert, ihren Vorbildern Raffael und Michelangelo nicht mehr gerecht wird. »[W]ir haben das Paradies der Unschuld, in welchem jene noch alles malen konnten, was ihnen unter die Hände kam, verloren« (GrHA,5 30), klagt er und verspottet den neumodischen >SpiritualismusDie Bank der Spötterklassische< Perspektive. Es setzt seinen Betrachter bohrenden Blicken aus, die »jede verborgene Schwäche, jede unbewußte Heuchelei aus ihm herauszufischen oder vielmehr schon entdeckt zu haben« scheinen, und bringt ihn damit derart in Verlegenheit, daß er »sich gern in das Bild hinein geflüchtet hätte« (GrHA, 533?.). Verstörender aber noch als diese Grenzaufhebung zwischen realer und fiktiver Welt wirkt die 20
Um so bemerkenswerter ist der in der >moderateren< Fassung von 1879/80 getilgte Satz, mit dem Lys den ungestümen Freund entschuldigt. Es ist wohl der abgründigste des Romans: » [...] der grüne Heinrich hat nur die Feder, mit welcher er seine Jugendgeschichte geschrieben, an meiner Lunge ausgewischt — ein komischer Kauz — « (GrHA, 619).
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Diskrepanz zwischen der verneinenden Absicht«, der destabilisierenden Funktion des Bildes und der Stabilität der Darstellung. Die den »ironischen Geist< verkörpernden Figuren sind so »ohne alle Manier« gezeichnet, erscheinen so »aus dem reinsten naiven Wesen der Kunst und aus der Natur herausgemalt, daß der Widerspruch zwischen diesem freudigen, kraftvollen Glanz und dem kritischen Gegenstand der Bilder die wunderbarste Wirkung hervorr[uft]« (GrHA, 543). Es heißt: Dies klare und frohe Leuchten der Formenwelt war Antwort und Versöhnung, und die ehrliche Arbeit, das volle Können, welche ihm zu Grunde lagen, waren der Lohn und Trost fur den, der die skeptischen Blicke der Spötter nicht zu scheuen brauchte oder sie tapfer aushielt. (GrHA, 534)
Dargestelltes und Darstellung provozieren und demontieren sich wechselseitig; Lys' Bild ist potenzierte Ironie. Indem es sich seines Gegenstandes, des verneinenden (den Schein als solchen durchschauenden und verwerfenden) Geistes, bemächtigt, unterwirft es ihn der Gewalt der (den Schein bejahenden) Form. Zwar vermag das Bild die destruktive Wirkung des überheblichen Geistes nicht zu brechen, doch hält es ihr stand. Es verfällt keinem »abstrakten SpiritualismusBank der Spötter< ist ein Bild, mit dem Heinrich am Ende seiner Künstlerkarriere der Durchbruch zu einer neuen Darstellungsform gelingt. Es ist ein abstraktes Bild. Insofern hier aber die >Realien< der Malkunst selbst thematisch werden, ließe sich auch das Gegenteil behaupten. Der erste Eindruck ist der eines »ungeheuren grauen SpinnennetzesJugendgeschichte< abgesteckten sprachtheoretischen Horizont. Heinrichs Strichzeichnung reflektiert das Dilemma der nach dem Verlust der geistigen Ebene auf ihre materielle Basis zurückgeworfenen Sprache. Oder anders formuliert: Als Signum der >Moderne< erscheint auf dem Bild, mit dem Heinrichs Künstlerkarriere endet, eine sinnlos wuchernde Schrift. In ihrer Wahrnehmung als Piktogramm vollzieht sich die für Erikson nur als groteske Vorstellung in Betracht kommende »Vermählung von Dichtung und bildender Kunst in Einer äußeren Form«: die Aufhebung des Zwiespalts durch Verabsolutierung des sinnlichen Sprachaspekts. 21 Die >Eine Formborghesischen Fechterfreie Wille< — der »löbliche Vorsatz« von christlicher Morallehre und idealistischer Philosophie -
21
Nietzsche, der das Ziel im >Zarathustra< bereits erreicht sieht, beschreibt die hier vorgestellte zukünftige Sprachform in >Ecce homo< so: »Die Sentenz von Leidenschaft zitternd; die Beredsamkeit Musik geworden; Blitze vorausgeschleudert nach bisher unerrathenen Zukünften. Die mächtigste Kraft zum Gleichnis, die bisher da war, ist arm und Spielerei gegen diese Rückkehr der Sprache zur Natur der Bildlichkeit.« (Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 6. Abteilung, Bd. 3, Berlin, New York 1969, S. 3 4 i f . )
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[...] das bedingteste Wesen von der Welt ist und ohne die notwendige Nahrung, ohne einen gesättigten Grund von Erfahrung [...] so ruhig schläft wie das Weizenkorn auf dem Speicher. (GrHA, 663) Erst jetzt begreift er, was Lys meinte, als er ihn ein >leeres Schema< nannte: -
U m seiner moralischen B e s t i m m u n g gerecht zu werden, muß der Mensch handeln.
-
U m bedeutsam zu sein, m u ß K u n s t etwas anderes als sich selbst darstellen.
-
Sinnvoll ist eine sprachliche Äußerung nur, wenn sie einen Gegenstand hat: wenn >über etwas< gesprochen wird.
M i t dieser Einsicht begründet sich Heinrichs Entschluß, der K u n s t den Rücken zu kehren und ein nützliches Leben zu beginnen — sowie die sich darauf stützende Deutung des >Grünen Heinrich< als Bildungsroman. 2 2 U m so bemerkenswerter ist, daß Heinrichs Leben sich durch diese Einsicht keineswegs zum Besseren wendet, daß die durch die Einbildungskraft gerissene Lücke sich in der >kunstlosen< Welt nicht schließt, sondern Traum und Wirklichkeit dort erst recht auseinanderklaffen: daß dem grünen Heinrich im >Finsterlochinneren Biographie< des Autors. Die metonymische Struktur ist unübersehbar. Anstelle des Dichter-Ichs erscheint das Produkt seiner Arbeit. Das ist u m so bemerkenswerter, als der innerfiktionalen Grenzaufhebung zwischen poetischer und realer Welt eine transfiktionale korreliert: Bei den beschriebenen Werken handelt es sich u m (damals bereits veröffentlichte oder im Entstehen begriffene) Schriften Thomas Manns. 8 Der K u n s t g r i f f ist in der Künstlerromantradition g ä n g i g . Der Text, den der Leser in Händen hält, präsentiert sich als integraler Bestandteil des fiktionalen R a u m s , den er schafft. Der B e g r i f f der W ü r d e verbindet sich hier mit der Idee eines >Heroismus der S c h w a c h e s deren Profilierung als die größte Leistung Aschenbachs beschrieben wird. In Aschenbachs Werken gewinne, heißt es, ein >neuer Heldentyp< Kontur, der auch unter widrigsten Umständen >Haltung< bewahrt, » A n mut in der Qual« (TiV, 4 5 3 ) zeigt. Als sein >schönstes Sinnbild< gilt eine R o m a n f i g u r Aschenbachs, eine Sebastian-Gestalt, die ihrem christlichen Vorbild Hohn spricht: die das Martyrium auf sich n i m m t , um im Moment des Todes zum Kunstwerk zu erstarren (ein B i l d vollkommener Schönheit abzugeben) — die für nichts steht als für die Geschliffenheit, die »elegante Selbstbeherrschung« (TiV, 4 5 3 ) , mit der sie »bis zum letzten Augenblick eine innere Unterhöhlung, den biologischen Verfall« verbirgt. Dieser Opfergang erscheine in Aschenbachs W e r k als ein »trotziger, alle H e m m u n g e n des Zweifels und der Ironie zurücklassender Aufstieg zur W ü r d e « und werde begriffen als Beding u n g der Möglichkeit ihrer >Wiedergeburtfast übermäßigen Erstarken des Schönheitssinnes< des Helden (TiV, 455)· Der B e g r i f f der W ü r d e verweist auf die klassische Ästhetik. Doch handelt es sich bei dem beschriebenen W e r k um das eines >modernen< Künstlers, der durch die geistigen Agonien des 1 9 . Jahrhunderts hindurchgegangen ist: der die Ironie nicht nur in ihrer romantischen Form kennengelernt hat, sondern auch in der zynischen Spielart, die Nietzsche entwickelt. 9 Aschenbachs Erzählung >Ein Elender< legt davon Z e u g n i s ab. Sie exponiert den Erkenntnisekel, dem sie entwächst: den Abscheu vor einem Wissen, das alle Werte untergräbt. Insbesondere wendet sie sich gegen den >modernen PsychologismusPathos der Distanza Zur Struktur der ironischen Rede bei Nietzsche, in: Josef Kopperschmidt, Helmut Schanze (Hg.), Nietzsche oder »Die Sprache ist Rhetorik«, München 1994, S. 127 — 136.
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durch eine Form der Darstellung, die den negativen Affekt (den >EkelVerwerfen des Verworfenen« ist in >Ein Elender« also nicht sachlich begründet; es motiviert sich selbst — durch die >Wucht der WorteGeist und Kunst< - trotz der ihr zugesprochenen großen Bedeutung — nichts verlautet. Hingewiesen wird nur auf die »ordnende Kraft und antithetische Beredsamkeit«, mit der sie sich ihres Gegenstands annehme, sowie ihre bemerkenswerte Wirkung: Die Darstellungsform habe »ernsthafte Beurteiler« veranlaßt, Aschenbachs Schrift »unmittelbar neben Schillers Raisonnement über naive und sentimentalische Dichtung [...] zu stellen.« (TiV, 450). Der Rekurs liegt nahe, Schillers letzte kunsttheoretische Schrift handelt vom Dilemma des modernen Dichters, dem der Zusammenhang der Welt nicht selbstverständlich ist, der Mensch und Natur, Sinnlichkeit und Vernunft nicht als harmonierende Größen erfährt, sondern fur den die Einheit beider nur als Ideal existiert, das der Verwirklichung harrt und das (antizipierend) darzustellen dem Künstler aufgegeben ist — auch wenn er diese Aufgabe unmöglich bewältigen kann, weil er sich des Risses bewußt ist und der Lüge verfiele, wenn er ihn übertünchte. Wichtiger aber noch fur das Verständnis von Aschenbachs Kunstkonzept ist der Aufsatz >Über Anmut und Würdemoralische Empfindungen zum Ausdruck bringt, die dem vernünftigen Individuum vorbehalten sind, von der aber zugleich gefordert werden muß, daß sie unbewußt (spontan) hervorgebracht wird, weil sie nicht berechnend sein darf. Personifiziert erscheint die Anmut als »schöne Seele«, die den Gegensatz von Pflicht und Neigung nicht kennt, die intuitiv will, was sie soll. Zwar betrachtet Schiller sie als reale Möglichkeit, doch fällt sie heraus aus der Wirklichkeit des >modernen< Menschen, den - eingespannt in den Konflikt zwischen Wollen und Sollen — die Vernunft verpflichtet, dem moralischen Gesetz zu gehorchen und der, indem er seiner Pflicht nachkommt, nicht »moralisch schön< (anmutig), sondern »moralisch groß* (erhaben) handelt. In der Realität der »modernen« Welt zeigt sich Anmut daher als Würde: als »Selbstbeherrschung« und verfeinerte Sinnlichkeit. Entsprechend wird die »Würde« definiert: »Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung«. 12 Aus der Verbindung dieser Bestimmung mit der des anmutigen Zustands ergibt sich die Formel, in der Schillers Argumentation gipfelt: »Anmut liegt [...] in der Freiheit der willkürlichen Bewegungen, Würde in der Beherrschung der unwillkürlichen « ; 1 3 ihr entspricht die an Lessing und Winckelmann erinnernde Definition der Würde als »Ruhe im Leiden« 14 - und aus dieser leitet sich schließlich die für die Konzeption der »Sebastian-Gestalt« zentrale Vorstellung der »Anmut in der Qual« (TiV, 453) direkt ab. Hans Mayer beantwortet deshalb die Frage, warum und woran Aschenbach in Venedig sterbe: »Man könnte es boshaft so formulieren, Aschenbach stirbt an der Schillerschen Philosophie, die ihn lehrte, den Schillerianer, die Anmut von der Würde zu trennen, den Eros vom Ethos. «15 Auf eine Begründung dieser Aussage glaubt er verzichten zu können: Zu deutlich spiegelt sich Schillers Antithetik in der Figurenkonstellation der Novelle: Aschenbach repräsentiert die Würde, von der seine Werke künden. Und zweifellos ist Tadzio als anmutige Gestalt konzipiert. Alle Attribute, die Winkkelmann dem »klassischen« Werk zuspricht, sind in seiner Beschreibung ver-
Gerhard Fricke und Norbert G. Göpfert. Bd. 5, München 1984 (5. Aufl.), S. 4 3 3 488, hier S. 447. " Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde, a.a.O., S. 446. 12 Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde, a.a.O., S. 474f. 13 Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde, a.a.O., S. 477. 14 Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde, a.a.O., S. 476. 15 Hans Mayer: Der Tod in Venedig. Ein Thema mit Variationen, in: J . Brummack u.a. (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, Tübingen 1 9 8 1 , S. 7 1 1 - 7 2 4 , hier S. 720.
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sammelt. Aschenbach erschrickt bei der ersten Begegnung über die vollkommene Schönheit< des Knaben und sieht sich an >griechische Bildwerke aus edelster Zeit< erinnert, nicht zuletzt an den >Dornauszieher< (TiV, 469F.), der schon in Kleists >MarionettentheaterEros< und >EthosPhilosophical Enquiry into the Origin of our Ideas on the Sublime and the Beautiful und die rhetorische Tradition läßt sie sich bis in die Antike zurückverfolgen. 16 - Schillers und Aschenbachs Konzepte stimmen nur partiell überein. Beide betrachten die - aus Selbstbeherrschung, Kontrolle der unwillkürlichen (spontanen) Bewegungen resultierende — Würde als Triebhemmungs- bzw. Affektdämpfungsphänomen. Aber während Schiller das Erlebnis des Schönen außerästhetisch in der vernünftigen Erkenntnis des moralischen Gesetzes verankert, begründet Aschenbachs beherrschte Form< sich selbst. Sie weist auf keine andere Wirklichkeit als die eigene. In radikalerem Sinne noch als bei Schiller ist sie Zeichen menschlicher Freiheit, denn sie selbst ist es, die dieser Freiheit Raum verschafft bzw. ihre Grenzen absteckt. — Entsprechend steht es um Tadzio: Die anmutige Gestalt erscheint nicht als >schöne Seelean Schillers Philosophie< zugrunde, sondern im Gegenteil an ihrer Zersetzung: am Verlust des idealistischen Reflexionshorizonts, der (wie sich im >Maler Nolten< und >Grünen Heinrich< schon abzeichnet) das ästhetische Erlebnis diskreditiert. Implodiert der geistige Pol in der Geist-Körper-Dichotomie, ist der Deutung von Schönheit als Widerschein einer >höheren< Wirklichkeit der Boden entzogen. Die >schöne Seele< verkommt, wie in >Tod in Venedig< zu beobachten, zum Objekt sinnlicher Begierde, und das ästhetische Erlebnis ihrer >Entrücktheit< erscheint als Erfahrungshorizont >aufgehobener< (negierter) sinnlicher Präsenz: eines gespenstischen Nicht-seins bzw. Nicht-mehr-seins - einer Seinsform des Todes. Doch trifft Mayer den Nagel auf den Kopf - und zwar deshalb, weil Schillers Konzept den Keim des Zersetzungsprozesses, dem es verfallt, in sich trägt und es diese Erkenntnis ist, die Thomas Manns Novelle motiviert, den schönen Schein, auf den die klassische Ästhetik setzt, (im Rekurs auf ein Motiv des >GorgiasUber Anmut und Würde< deutlich exponiert. Mehrfach wird darauf hingewiesen, daß »das Übersinnliche nie versinnlicht werden« 17 könne, daß die >moralische Kraft im Menschen Dichtergott< seinen Jünger beglückt. Unter dem Eindruck dieses Lächelns vergißt der alternde Schriftsteller sich selbst: läßt er den für den modernen Künstler konstitutiven Anspruch auf Würde fallen und gibt sich ganz der in ihm aufkeimenden Leidenschaft hin.
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Thomas Mann: Der Zauberberg, Frankfurt/M 1952, S. 633.
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Ort dieses Inspirationserlebnisses ist das zentrale vierte K a p i t e l . 2 4 Der Erzähler macht sich hier die Perspektive des Helden zueigen. So sehen wir uns entrückt in eine »mythisch verwandelt[e]«, »heilig entstellte« Welt »voll panischen Lebens« (TiV, 496). D i e H e r k u n f t der Bilder und Vorstellungen, aus denen sie sich formt, ist deutlich markiert: A u f das homerische Vorbild verweisen nicht nur eine Vielzahl von Motiven, sondern auch der D u k t u s der Rede, die Tendenz zur rhythmischen (musikalischen) Sprachgestaltung. Berühmt sind die Einleitungssätze. Bevor Hermes i m folgenden fünften Kapitel als Dionysos auftritt, zeigt er sich hier in der Gestalt seines Bruders Apollo: Nun lenkte Tag fur Tag der Gott mit den hitzigen Wangen nackend sein gluthauchendes Viergespann durch die Räume des Himmels, und sein gelbes Gelock flatterte im zugleich ausstürmenden Ostwind. Weißlich seidiger Glanz lag auf den Weiten des träge wallenden Pontos. (TiV, 486) D i e Sätze sind Ausdruck des Entzückens, der H o c h s t i m m u n g , in die der A n blick des anmutigen Knaben Aschenbach versetzt. Doch ist Vorsicht geboten. Der Sonnenaufgang des folgenden Tages wird emphatischer noch beschrieben. Das amplifikatorische Bemühen ist offensichtlich. B e i m Versuch, den ersten E n t w u r f zu überbieten, schleichen sich jedoch R o k o k o - und Jugendstilelemente ein, die den >modernen< Blickwinkel des Erzählers erkennen lassen und den Sprachgestus als unecht, >mimikrihaft< entlarven: Ein Rosenstreuen begann da am Rande der Welt, ein unsäglich holdes Scheinen und Blühen, kindliche Wolken, verklärt, durchleuchtet, schwebten gleich dienenden Amoretten im rosigen, bläulichen Duft, Purpur fiel auf das Meer, das ihn wallend vorwärts zu schwemmen schien, goldene Speere zuckten von unten zur Höhe des Himmels hinauf, der Glanz ward zum Brande, lautlos, mit göttlicher Übergewalt wälzten sich Glut und Brunst und lodernde Flammen herauf, und mit raffenden Hufen stiegen des Bruders heilige Renner über den Erdkreis empor. (TiV, 495O Das dichterische Bewußtsein erweist sich in dieser Spiegelung als ephemere Traumwelt ohne innere Konsistenz. Der schöne Schein der Ganzheit, den der antike Bilderbogen erzeugt, täuscht. Sieht man genauer hin, entpuppt er sich als Collage heterogener Vorstellungsgehalte: »Bei aller Reinheit und Erhabenheit des Inhalts«, schreibt Böschenstein, »wird hier durch die schauspielerisch angeeignete Diktion ein Artefakt geliefert, das sich selber richtet.« 2 5
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25
Im
»Das einfachste Konstruktionsschema der Erzählung ist ein X , gebildet aus den Strukturlinien von Geist und Sinnlichkeit, deren erste fällt, während die letzte steigt. Der Kreuzungspunkt, Aschenbachs kleine Abhandlung, im vierten, dem Lidokapitel, steht für das Glück der Synthese. Die auseinander liegenden Enden der gekreuzten Linien entsprechen dem Anfang und Ende der Novelle, in denen also die entgegengesetzten Kräfte jeweils ihren Höhepunkt haben.« (Ernst A. Schmidt: >Platonismus< und >Heidentum< in Thomas Manns >Tod in Venedigs in: Antike und Abendland 20, 1974, S. 1 5 1 - 1 7 8 , S. 153.) Bernd Böschenstein: Exzentrische Polarität. Zum Tod in Venedig, in: Volkmar Han205
Grunde handelt es sich um eine Form jener falschen (rhetorisch erzeugten) Anmut, die Schillers Ästhetik als affektiertes Getue diskreditiert, nicht aber verwirft, weil sie in ihrer Perfektionierung das Mittel erkennt, dem Dilemma >moderner< Kunst abzuhelfen. U m so mehr Aufmerksamkeit verdient das (Fälschung sowohl betreibende als auch entlarvende) ironische Erzählprinzip der Novelle, das im vierten Kapitel besonders deutlich zum Tragen kommt. Der entscheidende Impuls, der zur Auflösung der Schreibhemmung und Produktion jener anderthalb Seiten erlesener Prosa< führt, ist die Wahrnehmung einer
musikalisch
transformierten,
ihrer
Bedeutungsfunktion
enthobenen
Sprachform: Aschenbach verstand nicht ein Wort von dem, was er [• Tadzio] sagte; und mochte es das Alltäglichste sein, es war verschwommener Wohllaut in seinem Ohr. So erhob Fremdheit des Knaben Rede zur Musik, eine übermütige Sonne goß verschwenderischen Glanz über ihn aus, und die erhabene Tiefsicht des Meeres war immer seiner Erscheinung Folie und Hintergrund. (TiV, 489)
Entsprechend steht es um den Effekt, den poetischen Produktionsprozeß, den diese Wahrnehmung stimuliert; er wird als ein Komplex intermedialer Übertragungsprozesse beschrieben: Er [• Aschenbach] wünschte plötzlich zu schreiben. [ . . . ] Und zwar g i n g sein Verlangen dahin, in Tadzio's Gegenwart zu arbeiten, beim Schreiben den Wuchs des Knaben zum Muster zu nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers folgen zu lassen, der ihm göttlich schien, und seine Schönheit ins Geistige zu tragen, wie der Adler einst den troischen Hirten zum Äther trug. (TiV, 492)
Als >erlesen< gilt das so inspirierte Werk wegen der >KlassizitätErlesen< ist es aber auch in einem anderen, seinen Originalitätsanspruch untergrabenden Sinne: in dem nämlich der >Erlesenheit< dessen, was ihn stimuliert, sowie der Beschreibung seiner Genese. >Erlesen< im Sinne von literarisch vermittelt« sind ja nicht nur die antiken Texte, an die Aschenbach sich erinnert: die paraphrasierten und zum Teil auch wörtlich zitierten Piaton- 26 und Plutarch-Stellen 27 - >erlesen< ist auch die das
26
27
sen (Hg.), Interpretationen. Thomas Mann. Romane und Erzählungen, Stuttgart 1993, S. 8 9 - 1 2 0 , S. 106. Symposion, 2 0 2 d - 2 0 3 u. 2 i i b - d , Phaidros, 230b u. 2 5 o a - 2 5 2 a . Hier zitiert nach Piaton: Gastmahl. N e u übersetzt und erläutert von O t t o Apelt, Leipzig 1926, in ders.: Sämtliche Dialoge. In Verbindung mit Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter und Gustav Schnech hg. von O t t o Apelt. Bd. 3, Hamburg 1993; und Piatons Dialog >Phaidrosmoderne< Perspektive. Sie ist Nietzsches Schrift >Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik< ( 1 8 7 1 ) entnommen. Nietzsche stellt hier die alte Hierarchie in der Bestimmung der Geist-Körper-Relation auf den Kopf und ersetzt das damit hinfällig werdende AnmutWürde-Schema durch die Dionysos-Apollo-Polarität: 28 Der immaterielle Pol des ästhetischen Spannungsfelds gilt nicht mehr als Exponent einer der Körperwelt übergeordneten >geistigen< Dimension, sondern steht ein fur die Wirklichkeit der Zeit: für den Wandel bzw. Zerfall, dem alle Gestalt unterliegt. In der aeschyläischen Tragödie, die Nietzsche als Ausdrucksform dieser Polarität deutet, verläßt der Held den Chor (den dionysischen Raum der Musik) nur, um in der sprachlich dramatischen Aktion >unterzugehen< und durch dieses Opfer die verlorene Einheit wiederzugewinnen. Entsprechend ist die Strandszene angelegt: Sonnenbeschienen, im Glänze Apollos, wandelt Tadzio vor dem unendlichen Prospekt des Meeres - und spricht unverständliche Worte, die Aschenbach, der von Furcht und Mitleid überwältigte Zuschauer, nicht mehr als Sprache, sondern als (unmittelbar einleuchtende) Musik wahrnimmt. Natürlich unterliegt Aschenbach einer Täuschung. Ohne die literarischen Erinnerungen, die sich beim Anblick Tadzios einstellen, bliebe das Wahrgenommene bedeutungslos. An der sprachstrukturellen Verfaßtheit des Inspirationserlebnisses läßt Thomas Mann denn auch keinen Zweifel: »Welch eine Zucht, welche Präzision des Gedankens war ausgedrückt in diesem gestreckten und jugendlich vollkommenen Leibe!« (TiV, 490), schwärmt Aschenbach und eröffnet so eine bemerkenswerte Perspektive: Die ästhetische Vorstellung des anmutigen Körpers als sinnlich materieller Ausdruck geistiger (>gedanklichergeistigen< Herkunft und Bestimmung der Kunst: Der strenge und reine Wille [...], der, dunkel tätig, dies göttliche Bildwerk ans Licht zu treiben vermocht hatte — war er nicht ihm, dem Künstler, bekannt und vertraut? Wirkte er nicht auch in ihm, wenn er, nüchterner Leidenschaft voll, aus der Marmormasse der Sprache die schlanke Form befreite, die er im Geiste geschaut und die er als Standbild und Spiegel geistiger Schönheit den Menschen darstellte? (TiV, 490).
28
ständig herausgegeben. Bd. 2, München, Leipzig 1 9 1 1 . — Vgl. hierzu Ernst A. Schmidt: >Platonismus< und >Heidentum< in Thomas Manns >Tod in Venedigs a.a.O. In der >Geburt der Tragödie< wird die >klassische< Dichotomie vom >Schönen< und >Erhabenen< (Burke, Schiller), von >Anmut< und >Würde< nicht einfach umgekehrt. Die dionysische Kunst fungiert als unverstellter Ausdruck der Natur (Rousseaus >état naturel·) wie auch als Motor der Destruktionsbewegung, die den >erhabenen< Zustand hervorbringt und die apollinische Welt (die anmutige Erscheinung) als >Schein des Scheins< diskreditiert.
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Die folgenden Platon- und Plutarch-Zitate aktualisieren das idealistische Schönheitskonzept und legen es nahe, die Sätze als rhetorische, sich selbst beantwortende Fragen zu verstehen. Im Lichte der sich häufenden Hinweise auf die Rhetoriktradition erscheint jedoch auch eine andere Lesart möglich: Überzeugt von der Gleichrangigkeit der Komponenten im Wechselspiel von res und verba, erwägt Cicero schon die Möglichkeit der Hervorbringung des >Gedankens< durch das >WortTod in Venedig< finden sich auf den Blättern 20 und 28 zwei ähnlich lautende Eintragungen, deren Bezugspunkt durch das Stichwort »Arbeit am Strande« klar markiert ist. Sie sind Keimzellen der Erzählung; der Gedanke, aus dem nicht nur die Strandszene, sondern die gesamte Novelle erwächst, wird hier sichtbar: (Die kursiv gedruckten Stellen sind im Original unterstrichen.) Eros und Wort. (Ira Worte - da weiß er sicher zu lenken: Verhältnis der redegewandten Athener zu ihm. Die Arbeit am Strande.f)] Unterweisung durch Eros in der Beherrschung der Künste, ohne ihn kein Ruhm. In allen Mühen . . . im Worte da weiß er sicher zu lenken. Die Athener u. das Wort (Arbeit am Strande) .. . 3 °
Die Bedeutung der Bruchstücke erschließt sich im Kontext einer weiteren Notiz auf Blatt 1 5 , die den Zusammenhang erkennen läßt, aus dem diese Elemente herausgelöst sind. Dabei handelt es sich um ein Exzerpt des letzten (zum ErosHymnus gesteigerten) Abschnitts der Agathon-Rede in Piatons >Symposionin nuce< betrachten. Ins Auge sticht vor allem die Verschmelzung der beiden — von Walter Jens als >Verwalter eines segensreichen Austausches zwischen Göttern und Menschen bezeichneten33 — griechischen Gottheiten Eros und Hermes, aus der die Tadzio-Figur hervorgeht. Der zugrunde liegende Text, die platonische Schrift, legt diese Vorstellung keineswegs nahe. Sie ist Werk des Exzerptors; sie entsteht durch Zusammenstellung heterogener (im Original nicht aufeinander bezogener) Elemente sowie durch semantische Akzentsetzungen, die weder dem Duktus der platonischen Argumentation entsprechen noch durch die von Thomas Mann verwendete Kassnersche Ubersetzung gestützt werden. Kurz, sie verdankt sich einer fragwürdigen, nicht um Rekonstruktion der Autorintention bzw. eines originären Sinnes bemühten Interpretation. Schon Hesiod besingt Eros als den >Schönsten der Unsterblichen^ Im >Symposion< folgt die Agathon-Rede dieser Tradition. Sie preist den Liebesgott, der dem wilden Trieb Einhalt gebietet (Ares fesselt) auch als Quell der Schönheitsliebe und trägt so seinem Ruf als Musaget und >Schöpfer der Anmut< Rechnung. Piaton zitiert die alte Vorstellung jedoch nur, um sie in der folgenden Rede zu widerrufen, in der Sokrates auf der Unterscheidung zwischen einem >ordentlichen< geistigen und einem >übermütigen< sinnlichen Eros insistiert, die Göttlichkeit des zweiten leugnet und auf dieser Basis das (sich in Schillers Ästhetik fortschreibende) idealistische Schönheitskonzept entwickelt. Auch Thomas Manns Exzerpt zielt auf Revision des in der Agathon-Rede entworfenen Gottesbildes, nicht jedoch im Sinne der sokratischen Gegenrede, sondern zur Begründung einer Negativ-Variante, die dieser das Wasser abgräbt: In der — den Originaltext sinnentstellend verkürzenden34 - Aussage »Wo wir 32
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34
Zitiert nach T. J . Reed: Thomas Mann Der Tod in Venedig. Text, Materialien, Kommentar mit den bisher unveröffentlichten Arbeitsnotizen Thomas Manns, a.a.O., S. i o i f . Vgl. Walter Jens: Der Gott der Diebe und sein Dichter. Thomas Mann und die Welt der Antike, in ders.: Statt einer Literaturgeschichte, Pfullingen 1 9 5 7 , S. 1 6 5 - 1 8 3 , hier S. 183. Apelt übersetzt: »Er nimmt von uns, was uns entfremdet, und spendet in Fülle, was uns einander vertraut macht, er ist der Stifter all solcher Geselligkeit wie der unseren hier, der Führer bei Festen, Reigentänzen und Opfern [...]« (Piaton: Gastmahl. Neuübersetzt und erläutert von Otto Apelt, a.a.O., S. 38); bei Schleiermacher lautet die Stelle: »Und dieser eben entledigt uns des Fremdartigen und sättigt uns mit dem Angehörigen, indem er nur solche Vereinigungen uns untereinander anordnet, bei Festen, bei Chören, bei Opfern sich darbietend zum Anfuhrer [...]« (Piaton: Symposion, in ders.: Sämtliche Werke. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung hrsg. von Walter F. Otto, Ernesto Crassi, Gert Plamböck.
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uns alle finden, dorthin fuhrt Eros die Wege« gewinnt Eros Züge des Hermes psychopompos, der die Seelen in die Unterwelt (den Ort, »wo wir uns alle finden«) führt. Aber nicht nur den Toten erscheint Hermes, den Lebenden begegnet er als Übersetzer göttlicher Rede und Schirmherr der Beredsamkeit. Dem entspricht der sprachreflexive Aspekt, unter dem Thomas Mann den platonischen Text exponiert. Agathons Aussage, daß Eros nur im >Zartestenharter Gesinnung^ 5 oder >rauher Art< 36 aber meide, schrumpft zu: »Wo er auf harten Sinn stößt, dort flieht Eros« — womit er den Liebesgott als Herrn des >beweglichen Sinnes< und der >geschmeidigen< Rede ausweist — und »έν λόγω κυβερνήτης« ist übersetzt mit: »im Wort — da weiß er [- Eros] sicher zu lenken« — eine Formulierung, die im Gegensatz zur Deutungstradition 37 den >verbalen< Aspekt des logos-Konzepts betont, die die Arbeitsnotizen als Kerngedanken der Strandszene ausweisen - und die so auch in den Novellentext eingegangen ist. Dort heißt es: N i e hatte er die Lust des Wortes süßer empfunden, nie so gewußt, daß Eros im Worte sei, wie während der gefährlich köstlichen Stunden, in denen er, an seinem rohen Tische unter dem Schattentuch, im Angesicht des Idols und die Musik seiner Stimme im Ohr, nach Tadzio's Schönheit seine kleine Abhandlung, — jene anderthalb Seiten erlesener Prosa formte [ . . . ] . (TiV, 492Í.).
Das leitende Prinzip dieser Platon-Lektüre und der aus ihr erwachsenden Erzählung liegt auf der Hand. Die in der idealistischen Tradition als Erfahrungshorizont göttlicher Liebe vorgestellte anmutige Erscheinung wird als rhetorischer Effekt, der Seelenraum als Sprachraum vorgestellt. Dieser Umgang mit der platonischen Erosphilosophie hat viele Kritiker empört. Werner Deuse, einer ihrer prominentesten Vertreter, stellt fest: Die zu
Bd. 2 , H a m b u r g 1 9 5 7 , S. 2 0 3 - 2 5 0 , hier S. 2 2 8 ) ; und bei R . Rufener heißt es: » E r nimmt uns das Gefühl der Fremdheit und schenkt uns dafür das der Vertrautheit, und wo gemeinsam wir uns auf solchen W e g e n finden, da ordnet er unsern Gang: bei Festen, bei Chorreigen und wenn wir Opfer bringen, da ist er unser Führer [ . . . ] « (Piaton: Symposion, in ders.: Klassische Dialoge. Phaidon, Symposion,
Phaidros.
Übertragen von Rudolf Rufener. M i t einer Einleitung von Olof G i g o n , München 1 9 7 5 , S. 1 0 5 - 1 8 1 , hier S. 1 4 1 ) . 35
In der Übersetzung Schleiermachers (Piaton: Sämtliche Werke, a.a.O., S. 2 2 6 ) .
36
In der Übersetzung Rufeners (Piaton: Klassische Dialoge, a.a.O., S. 1 3 9 ) .
37
Die Übersetzungen betonen in der Regel den gedanklichen < Aspekt des logos-Konzepts. Apelt: »in Sehnsucht und Ratverlangen ein Leiter und Helfer« (Piaton: Gastmahl. Neuübersetzt und erläutert von Otto Apelt, a.a.O., S. 38)/Schleiermacher: »im Verlangen, in Gedanken der beste Lenker, Helfer, Berater und Retter« (Piaton: Sämtliche Werke, a.a.O., S. 228)/Rufener: »beim Verlangen und bei der Rede der beste Steuermann« (Piaton: Klassische Dialoge, a.a.O., S. 1 4 1 ) .
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B e g i n n des vierten Kapitels entfaltete »Theorie der G e b u r t der Form aus dem Gedanken«, die es Aschenbach erlaube, Tadzios anmutige Gestalt als Fleisch gewordene >Gottesidee< zu begreifen, erfahre »im schriftstellerischen Schöpfungsakt des Endes geradezu [ . . . ] eine U m k e h r u n g « ; im Moment des Schreibens, der Abfassung jener a n d e r t h a l b Seiten erlesener ProsaVerkehrung< geht Deuse mit keinem Wort ein, vielmehr spricht er von einer — der Sublimierung und Rechtfertig u n g homoerotischer A f f e k t e dienenden - > Verfälschungwahrer Schönheit< zu gewinnen. — Erinnert werde nur die >falsche< (mythologische) Rede Agathons, nicht aber die sie korrigierende (philosophische) des Sokrates. — Nichts weise mehr auf eine die materielle Dimension transzendierende geistige Sphäre hin. D i e f u r die platonische Philosophie konstitutive Unterscheidung »zwischen der Welt der Ideen (des wahren Seins) und der irdischen
Welt
des
Scheins,
der
Sinne
und
des
Körperlichen«
werde
unterschlagen. 3 9 Das alles ist richtig, doch ist damit nur das D i l e m m a beschrieben, u m dessen Darstellung und B e w ä l t i g u n g es geht: ein Zustand, den die Novelle nicht herbeiführt, sondern vorfindet. Zitiert werden die platonische Philosophie und die sie i m 1 8 . Jahrhundert erneuernde idealistische Ästhetik, — um zu zeigen, weshalb sie scheitern: um den >hermetischen< (rhetorischen) K o m p l e x hervorzukehren, d e m sie entwachsen -
gegen den sie sich aber
wenden und den sie deshalb kaschieren, — um zu verdeutlichen, daß die >Wahrheit< der zitierten Texte nicht in einer originären Bedeutung, einem bestimmten Sinn, besteht, sondern in den (wechselnden) >Gedanken< und affektiven Reaktionen, die diese Texte auslösen: in ihrer mitreißenden, den ermatteten Dichter stimulierenden W i r k u n g . In Verkehrung der idealistischen Position erscheint das Zitat in >Tod in Venedig< als Motor der >geistigen< B e w e g u n g : als sich verselbständigende, den >Wunsch zu schreiben< auslösende Schrift.
38
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Werner Deuse: >Besonders ein antikisierendes Kapitel scheint mir gelungene Griechisches in >Der Tod in Venedigs in: Gerhard Härle (Hg.), Heimsuchung und süßes Gift. Erotik und Poetik bei Thomas Mann, Frankfurt/M 1992, S. 4 1 - 6 2 , S. 52 u. 53. Ernst A. Schmidt: >Platonismus< und >Heidentum< in Thomas Manns >Tod in Venedigs a.a.O., S. I74ff. 211
Am Schluß des vierten Kapitels bekennt Aschenbach sich zu seiner verbotenen Liebe. In den erinnerten platonischen Texten steht die Knabenliebe fur eine sublimierte, >geistig< transformierte Form ästhetischer Erfahrung. Anders Aschenbach: Er verfällt der sinnlich materiellen Seite des Schönheitserlebnisses, der dem Untergang geweihten anmutigen Gestalt. Aber nicht deshalb (wegen dieses Mißverständnisses) ist seine Liebe >falschUnnaturhermetischen* Qualität. Die das Plutarch-Zitat einleitende Formel »Stand nicht geschrieben ...« exponiert den Aspekt: Aschenbachs Liebe ist wie die im >Werther< dargestellte — literarisch motiviert, sie ist >kunstvoll< erwirkt. In der Maske des Liebesgottes betreibt Hermes - der (vor Diebstahl und Betrug nicht zurückschreckende40) antike Seelenfuhrer und Gott der Schrift — sein fragwürdiges Geschäft. Dem entspricht die Bestimmung des Geschehens, in dem die »anderthalb Seiten erlesener Prosa« entstehen, als Übertragung körperlicher Schönheit ins Geistige< (TiV, 492); sie weist auf die metaphorische Qualität des poetischen Produktionsprozesses hin. Hermes' Herrschaft beruht auf der Metapher, die, indem sie das geistige Primat leugnet, die idealistische Position untergräbt: in deren Horizont sich der Zusammenhang von geistiger und körperlicher Dimension als Spiegelverhältnis darstellt, in dem Spiegelung und Gespiegeltes sich wechselseitig motivieren. 41 In Anschauung Tadzios, des »sich aus Meerrausch und Sonnenglast« spinnenden »reizenden Bildes< (TiV, 491), wird Aschenbach denn auch keines platonischen Ideenhimmels inne, sondern der Wirklichkeit des von den Mänaden zerrissenen Gottes Dionysos: des Wirklichkeitsverlusts oder, wie Derrida formuliert, des >Entzugs< von >Sein< in der Sinnverschiebung, die die Metapher leistet. 42 Er gewinnt Einblick in den >UnEs steht geschriebenfalschSein< und >Schein< auf. Jacques Derrida: Der Entzug der Metapher, in: Volker Bohn (Hg.), Romantik. Literatur und Philosophie, Frankfurt/M 1987, S. 3 1 7 - 3 5 5 .
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Die einzige >Wahrheitliterarische< Visionserlebnis angelegt, in dem die Strandszene gipfelt. Unter dem Eindruck der erinnerten Schriften glaubt Aschenbach in Tadzio Phaidros zu erkennen und schlüpft selbst in die Rolle des Sokrates: [ . . . ] die Schönheit, mein Phaidros, nur sie, ist liebenswürdig und sichtbar zugleich: sie ist, merke das wohl! die einzige Form des Geistigen, welche wir sinnlich empfangen, sinnlich ertragen können. Oder was würde aus uns, wenn das Göttliche sonst, wenn Vernunft und Tugend und Wahrheit uns sinnlich erscheinen wollten? Würden wir nicht vergehen und verbrennen vor Liebe, wie Semele einstmals vor Zeus? So ist die Schönheit der Weg des Fühlenden zum Geiste, - nur der Weg, ein Mittel nur, kleiner Phaidros . . . Und dann sprach er das Feinste aus, der verschlagene Hofmacher: dies, daß der Liebende göttlicher sei als der Geliebte, weil in jenem der Gott sei, nicht aber im andern, — diesen zärtlichsten, spöttischsten Gedanken vielleicht, der jemals gedacht ward und dem alle Schalkheit und heimliche Wollust der Sehnsucht entspringt. (TiV, 49 if.) Bedeutsamer als der am Schluß der Novelle widerrufene, den Grundgedanken der platonischen Schönheitslehre rekapitulierende erste Teil des Traumbildes (den der Hinweis auf Semele, die Mutter des Dionysos, merkwürdig beleuchtet), ist der folgende Abschnitt, in dem Sokrates als >verschlagener Hofmacher< bezeichnet wird. Der >Gedankezärtlichster< und >spöttischster< Gedanke, der je gedacht wurde, versteht sich aber nicht aus dem Argumentationszusammenhang
dieses Textes, sondern der Gesprächskonstellation
des
> Phaidros < -Dialogs : Sokrates, dem Thomas Mann den Gedanken in den Mund legt, wendet sich dort bekanntlich gegen die Rede des Lysias, von der Phaidros eingangs begeistert erzählt. Lysias vertritt in dieser Rede die These, der Geliebte solle eher dem Verehrer >zu Willen seinwahren< Liebe, die gottgewollt sei und in deren ekstatischer Form sich die Seele ihrer verlorenen Heimat, der Sphäre der ewig gültigen Ideen, erinnere. Derselben Quelle entspringe die poetische >maniaverschlagener Hofmacher* wendet diese Spitze gegen Sokrates selbst. Sie läßt ihn als einen der Verehrer des Phaidros erscheinen, die diesen durch versierte Rede für sich einzunehmen suchen - und alles daran setzen, ihre Rivalen auszustechen. Insbesondere erweckt sie Mißtrauen gegen den poetischen Schwung, den hymnischen Tonfall und die mythischen Bilder, die Sokrates' Rede auszeichnen, und ihre Rechtfertigung als spontane Hervorbringungen eines gottgewirkten Wahnsinns. Verklagt diese Rede, so fragt sich, die Rhetorik nur, um zu verdunkeln, was sie selbst bewegt? Ist sie nicht selbst gesteigerte Rhetorik, mit der Sokrates, der Häßliche, der mit körperlichen Reizen nicht werben kann, den Geliebten für sich einzunehmen sucht? Und vor allem: Unterscheidet Sokrates zwischen einer körperlichen und geistigen Dimension und spricht >Wahrheit< allein der letzten zu, nur um die Aufgabe zu erfüllen, mit der die Rhetorik sich seit je begründet: die nämlich, >aus einer schwächeren Position die stärkere zu machen*?46
45
46
Phaidros 2 3 7 b (Piatons Dialog Phaidros. Übersetzt, erläutert und mit einem ausführlichen Register versehen von Constantin Ritter, a.a.O., S. 44). Vgl. Lothar Bornscheuer: Anthropologisches Argumentieren. Eine Replik auf Hans Blumenbergs »Anthropologische Annäherungen an die Rhetorik*, in: Josef Kopperschmidt, Helmut Schanze (Hg.), Argumente/Argumentation. Interdisziplinäre Problemzugänge, München 1985, S. 1 2 1 —133.
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X . Das andere Sehen und Sagen — oder: »Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird«. Rainer Maria Rilke: >Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
lyrische A f f e k t < in R i l k e s G e d i c h t n i c h t d u r c h Inhaltliches, d u r c h d e n G e g e n s t a n d der R e d e , sei es ein B a u m , eine V i o l i n e , oder e i n W o l l t u c h , b e w i r k t u n d g e l e n k t w e r d e , sondern d u r c h die E r ö f f n u n g einer P e r s p e k t i v e , in der sich dieser G e g e n s t a n d »anders« darstelle: in der »ein E t w a s [sichtbar w e r d e ] w i e das u n b e g r e i f l i c h e D a s e i n
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Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1940. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 592. Robert Musil: Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. Bd. 2: Essays und Reden, Kritik, Reinbek bei Hamburg 1983; im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle >ERK< und nachfolgender Seitenzahl.
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dieser Vorstellungen und Dinge, ihr unbegreifliches Nebeneinander und unsichtbares] Verflochtensein« (ERK, 1237). Rilke treibe die sprachliche Verdichtung bis zu einem Punkt, wo alle Elemente des Gedichts einander zum Gleichnis würden: wo der Eindruck entstehe, alles sei mit allem >verwandt< und tausche den Platz »wie die Sterne, die sich bewegen, ohne daß man es sieht« (ERK, 1240). Dinge erschienen in Rilkes Werk nicht nur vermenschlicht, wie in der abendländischen Lyrik seit je üblich, sondern Menschen auch >verdinglichtMalteWirklichkeitsbilder< erzeugende (den schönen Schein verbreitende) Sprachschema als Brücke betrachtet, die das Ich trägt, oder als Abgrund, der es verschlingt, eher zu letzterem. Doch ist diese Frage wohl falsch gestellt. Es ist die Einheit beider Perspektiven, die Rilke zu denken aufgibt: etwas, das Brücke und Abgrund zugleich ist - etwas, das die Ich-Position zugleich fordert und negiert. Zum Schluß seiner Rede entschuldigt Musil sich, nur eine der vielen >Schönheiten< des behandelten Werks (ERK, 1239) betrachtet zu haben. Doch nicht zufällig spricht er über Rilkes Metaphernkunst. Die epistemologische Qualität metaphorischer Rede ist zentrales Thema auch des eigenen Schaffens. In dem Essay >Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu< ( 1 9 3 1 ) bestimmt Musil den poetischen Effekt als >Vorbildzauber< und erklärt: Nicht in der »Wiederholung des Lebens oder von Ansichten darüber, die man ohne sie besser ausdrückt« (ERK, 1224), besteht die Aufgabe moderner Dichtung, sondern darin, >Bilder herzustellen^ die eine Brücke schlagen über die wachsende Kluft zwischen Gefühl und Verstand, zwischen >Seele< und >RatioDer Mann ohne Eigenschaften ist eine >unendliche< Variation auf dieses Thema. Aus der Einsicht, daß »die Wirklichkeit [...] keinen Sinn mehr« habe, erwächst hier die Forderung, daß man sich »wieder der Unwirklichkeit bemächtigen« müsse;5 und als das probate Mittel dazu gilt die Metapher. Ulrich erläutert weshalb: »[J]edes Gleichnis [sei] f\ir den Verstand zweideutig, aber fur das Gefühl eindeutig«, deshalb könne derjenige, der die Welt als ein Gleichnis auffasse, »was nach ihren Maßen zwei ist, f . . . ] als eins erleben«.6 Aber nicht nur in diesem Werk, das aus denselben Gründen Fragment bleibt wie der >Sternbald< und der >Kater MurrNachlaß zu Lebzeiten< selbst hin: Die »Linie, an deren Ende der M.o.E. steht«, beginne, heißt es dort, mit dem Roman >Die Verwirrungen des Zöglings TörlessVereinigungen< zum Tragen, eine Poetik der >DoppelerzählungVorhang< der Erscheinungswelt zu werfen. Für diese Erzählform wird geltend gemacht: Das Gegenteil von Propaganda. Der größte Teil der dichterischen Technik geht auf Prop. aus./Aufstellen (Hinstellen) statt Packen (eine packende Erzählung). 8
Das Gegenteil von Propaganda ist Aufklärung. In Bezug auf Propaganda selbst besteht diese in der Exposition ihres Instrumentariums. Das >Auspacken< und >HinstellenDie Verwirrungen des Zöglings Törlesserste Andeutung einer seelischen EntwicklungTalent des Staunens< hervorgegangen sei. Es handelt sich um eine Schlüsselstelle des Romans, sie sei deshalb ausfuhrlich zitiert: Törleß' Vorliebe fur gewisse Stimmungen war die erste Andeutung einer seelischen Entwicklung, die sich später als ein Talent des Staunens äußerte. Späterhin wurde er nämlich von einer eigentümlichen Fähigkeit geradezu beherrscht. Er war dann gezwungen, Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst häufig so zu empfinden, daß er dabei das Gefühl sowohl einer unauflöslichen Unverständlichkeit als einer unerklärlichen, nie völlig zu rechtfertigenden Verwandtschaft hatte. Sie schienen ihm zum Greifen verständlich zu sein und sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen. Zwischen den Ereignissen und seinem Ich, ja zwischen seinen eigenen Gefühlen und irgendeinem innersten Ich, das nach ihrem Verständnis begehrte, blieb immer eine Scheidelinie, die wie ein Horizont vor seinem Verlangen zurückwich, je näher er ihr kam. Ja, je genauer er seine Empfindungen mit den Gedanken umfaßte, je bekannter sie ihm wurden, desto fremder und unverständlicher schienen sie ihm gleichzeitig zu werden [...]. (Tör, 25)
Man hat diese Aussage auf die platonischer Tradition entstammende Sentenz bezogen, am Anfang aller Philosophie stehe das Staunen (>thaumazeinwortloses< (nicht sprachlich konstituiertes) Erleuchtungsgeschehen vorstellt — sowie in einem entsprechenden, die sprachliche Wirklichkeit (das Wechselspiel von res und verba) ignorierenden Vergleichskonzept, das im Verglichenen den Grund des Vergleichs erkennt — ohne zu erwägen, inwieweit der Vergleich die Wahrnehmung des Verglichenen überhaupt erst ermöglicht. Die zitierten Passagen benennen das Problem nicht nur, sie stellen es auch dar. Bildliche und begriffliche Ausdrucksformen durchdringen einander. Die Funktion der >uneigentlichen< Aussagen besteht weniger darin, das eigentlich Gemeinte< zu illustrieren, als es in >anderem< Licht aufleuchten zu lassen. Die tropischen Elemente wirken scheinbar nur stabilisierend (tragen scheinbar nur zum besseren Verständnis bei), tatsächlich verschieben sie den Bedeutungshorizont des Gesagten ins Ungewisse. Jürgen Schröder hat (mit Blick auf die >VereinigungenGanze der Erzählung< als ein »riesigefs] sprachliche[s] Funktionsfeld abhängiger und unbestimmter Größen [beschrieben], die sich erst wechselseitig bestimmen und präzisieren«. 14 Musils Erzählform drängt den Leser in >Grenzbereiche des AusdrucksvermögensRuck durch den KopfSchwindels< oder >Erschreckens« (Tör, 23), von dem erzählt wird, daß es Törleß angesichts des >Loches in den Wolken< befallt, am eigenen Leibe verspüren. Dabei geht es um die ästhetische Wirkung des Textes selbst, den er in Händen hält: um die Aufhebung der Differenz von Fühlen und Denken, materieller und geistiger Wirklichkeit, die Musil als die eigentliche Leistung der Kunst und Basis aller »großen Erkenntnis« betrachtet. Diese bewußt zu erleben, bedeute ein Maximum an menschlicher Selbsterkenntnis. Es heißt: Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur anderen Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt . (Tör, 1 3 7 )
Die grundlegenden Konzepte dieser Argumentation markieren das >geistige< Spannungsfeld, dem die Künstlerromantradition entwächst. Das gilt — fiir die alte anthropologische Formel des >animal rationale« und die ihr immanente Geist-Körper-Dichotomie, — fiir die hierarchische Ordnung, der dieses Schema in der abendländischen Tradition (bis hin zur rationalistischen Seelenlehre, die zwischen >höheren< und >niederen< Seelenkräften unterscheidet) unterliegt, 14
Jürgen Schröder: Am Grenzwert der Sprache. Z u Robert Musils Vereinigungen, in: Euphorion 60, 1966, S. 3 1 1 - 3 3 4 , hier S. 322.
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— sowie fur die den ästhetischen Reflexionsansatz motivierende These der Verbundenheit und der Gleichrangigkeit der entgegengesetzten Bereiche: für den Entwurf einer Theorie der sinnlichen ErkenntnisÜber Robert Musils Bücher< bezeichnet Musil den sechzehnjährigem Helden seines ersten Romans als »eine List« und »Verhältnismäßig einfaches und darum bildsames Material für die Gestaltung von seelischen Zusammenhängen, die im Erwachsenen durch zuviel anderes kompliziert sind [...]«, 1 5 und erteilt allen >realistischen< Deutungsansätzen eine Absage. Im Roman selbst verdeutlicht der Rekurs auf das Motiv des Marionettentheaters, (Tör, 7) diesen Aspekt. Er erfolgt gleich auf der ersten Seite und weist die Erzählung als Bühnenstück aus, in dem nicht lebendige Menschen agieren, sondern Holzfiguren, die geschnitzt wurden, um eine >innere Wirklichkeit^ die zur Herausbildung des ästhetischen Charakters fuhrende seelische Disposition, in den Blick zu bringen. Entsprechend ist der Roman konzipiert: — Personenkonstellation und Ort der Handlung (die labyrinthische Welt des Konvikts) spiegeln die Seelenlandschaft entsprechend der vorgegebenen anthropologischen Schematik. Törleß bewegt sich im Spannungsfeld zweier entgegengesetzter Pole: Der in aufgeklärter Zeit auf die Vernunftfunktion reduzierten Geisteswelt, als deren Repräsentanten Kant und die Mathematik erscheinen, steht (nach dem Autoritätsverlust der religiösen Wertesysteme) eine wild wuchernde Sinnenwelt gegenüber, die das sado-masochistische Gespann Reifing, Beineberg, Basini sowie im expositorischen Teil die Dorfhure Bozena verkörpern. — Der psychologische Aspekt erscheint sprachkritisch bzw. literaturtheoretisch gewendet. Das anthropologische Schema verdichtet sich im rhetorischen: im Motiv der Schrift, das der Roman in einem komplexen Gefiige von Bildern des Lesens und Schreibens variiert. Dazu gehören, um nur die wichtigsten Elemente zu nennen, die Hinweise auf Bücher, die Beineberg und Reifing lesen und zitieren, um ihr sadistisches Handeln zu rechtfertigen, die Briefe, die Törleß schreibt, um sein >Heimweh< zu überwinden - die ersten »poetischen Versuche De natura hominumVerwirrung< Herr zu werden.
15
Robert Musil: Gesammelte Werke II. Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, a.a.O., S. 776.
242
Auf die Bedeutung des Schriftmotivs wird in der Eingangsszene bereits hingewiesen. Törleß' Eltern wenden sich an Beineberg und Reiting - die »übelsten [des] Jahrganges«, von denen es heißt, sie seien »bis zur Roheit wild und ungebärdig« (Tör, 12) - mit der Bitte, sich ihres Sohnes anzunehmen, wenn er »am Schreiben behindert« sei (Tör, 15). Damit verbindet der Erzähler Betrachtungen über den Verlust der literarischen Bildung in der modernen, durch Naturwissenschaft und Technik beherrschten Welt (Tör, 1 3 ) - und die verlorene Einsicht in den pädagogischen Nutzen, die affektdämpfende Wirkung der Kunst. Der Hinweis auf Goethe und Schiller erhellt die Aussagen im Lichte des klassischen Konzepts der >Ästhetischen ErziehungAssoziationsraum< schafft, der hinweg helfe über den »gefährlich weichen seelischen Boden dieser Jahre [...], wo man sich selbst etwas bedeuten muß und doch noch zu unfertig ist, um wirklich etwas zu bedeuten« (Tör, 13). Doch kommt dieser — »Bedeutung< schöpfende, also sprachlich verfaßte - >Assoziationsraum< nicht mehr als Ort in Betracht, wo die Dinge im Glanz der Wahrheit erstrahlen, sondern als Produktionsstätte von »Illusionen, Tricks zugunsten unserer Entwicklungschwarze Loch< - der A b grund des Vergleichs, in dem die Bilder verschmelzen — erscheint als das >Eigentliche< der Erzählung, der Fixpunkt, um den sich alles dreht, und die verglichenen Bilder, aus denen die erzählte Geschichte besteht, als der schwankende Boden einer täuschenden Vorstellungs- bzw. Bewußtseinswelt.
3· Der in den Riß gebrachte und so in die Erde zurückgestellte und damit festgestellte Streit ist die Gestalt. Geschaffensein des Werkes heißt: Festgestelltsein der Wahrheit in die Gestalt. Sie ist das Geflige, als welches der Riß sich fügt.
(M. HeideggerI&) Die Geschichte von der Entlarvung eines Schülers, der stiehlt und lügt, weil er wie Törleß mehr >bedeuten< will als kann, und bereit ist, alles zu tun, um öffentlicher A n k l a g e zu entgehen, reflektiert die Wirklichkeit des Romans selbst. Sie exponiert das D i l e m m a des modernen Menschen unter sprachtheoretischem Aspekt: — N i c h t nur tritt sie in die Fußstapfen der >klassischen< Literatur, die in der Büchersammlung des Internats zwar noch enthalten ist, aber nicht mehr gelesen
wird,
weil
ihre
Vorstellungswelt
dem
Reflexionshorizont
des
20. Jahrhunderts nicht mehr entspricht, und die deshalb ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht wird: nämlich das Denken einzuüben in die Wirklichkeit der Sprache, die es bestimmt, in den Unterschied zwischen Sein und Schein, Wahrheit und Lüge — auch wenn dieser Unterschied sich dem Denken entzieht, weil er Bedingung der Möglichkeit des Gedankens ist, der ihn zu erfassen vorgibt. — A u c h kommt sie nicht umhin, diesen Entzug zu markieren, um sich abzusetzen von den am Institut kursierenden sentimentalen Novellenbänden und witzlosen Militärhumoresken Versagen der Worte< auftuende >schwarze Loch< postitiv 16
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, in ders.: Holzwege, Frankfurt/M 1972 (5. Aufl.), S. 7 - 6 8 , hier S. 52.
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zu benennen suchen — die seine Unbestimmtheit nutzen zur Begründung haarsträubender Ideologien, die die Menschen zu Opfern ihrer Instinkte werden lassen. Die erzählte Geschichte veranschaulicht das Dilemma in der Gegenüberstellung von Törleß' Skrupeln, die Wirklichkeit durch Worte zu >entwertenrastlosen Suche< nach passenden Vergleichen - und Basinis bedenkenlosem Umgang mit Sprache: dem hemmungslosen Griff zur Lüge, der nach Beineberg von der Bereitschaft zeugt, die >eigene Seele zu verkaufen< (Tör, 43). Unter Verwendung zentraler Begriffe der kantschen Morallehre verklagt Beineberg die Lüge als Verletzung einer >PflichtselbstWürdeVerwirrung< in den Blick kommt — und Beineberg auf den Nenner einer >äffenden äußerlichen Ähnlichkeit bringt — ist der sprachliche Grund der Erzählung selbst: die Wirklichkeit metaphorischer Rede. Auf der Fiktionsebene erscheint sie personifiziert in der Gestalt Basinis. Entsprechend ist die Geschichte, die erzählt wird, angelegt. Sie variiert das 246
epische Grundmuster: Wie der mittelalterliche Held in den Zauberwald reitet, um aus der Welt zu schaffen, was ihre Ordnung stört, und sein >moderner< Nachfahre auszieht, um keinen Illusionen mehr aufzusitzen - bzw. um sich der Wirklichkeit der Welt und seiner selbst zu versichern, so >dringt< Törleß in Basini >einSelbstäffenden< Bilder hängen - bzw. als >tertium comparationisSelbst< sich zu wehren, Widerstand zu leisten beginnt (und ihr Versuch, sich seiner Seele durch Hypnose zu bemächtigen, auf eine Weise scheitert, die nicht nur sie selbst, sondern auch die Ideologie, mit der sie ihre Brutalität bemänteln, der Lächerlichkeit preisgibt), nähert Törleß sich demselben Ziel von entgegengesetzter Seite. Er attackiert Basini nicht körperlich, sondern seelisch: Er quält ihn nicht mit Nadeln, sondern Worten. »[L]eise, fast freundlich« fordert er ihn auf: »Sag doch, ich bin ein Dieb.« (Tör, 72) — und »alles [zu] erzählen« (Tör, 99), was auf der Dachkammer geschieht. Damit provoziert er erbittertere Gegenwehr als seine Widersacher: »Nein, verlange nicht, daß ich erzähle! Bitte, verlange es nicht! Ich will ja alles tun, was du willst. Aber laß mich nicht erzählen ...« (Tör, 99), bettelt Basini, und in diesem Zögern, dieser Angst zu reden, ist ein Gefühl der Scham spürbar, das den Unterschied zwischen realem und bewußtem Sein als Bedingung der Möglichkeit moralischen Empfindens ausweist - und so den Zusammenhang von sprachlicher und moralischer Wirklichkeit genauer bezeichnet. Darum geht es denn auch im folgenden Gespräch. »Ich könnte dich mit Nadeln stechen . . . Aber ich will nicht, will nicht, verstehst du?« (Tör, 104), erklärt Törleß, als er die Fassungslosigkeit bemerkt, mit der Basini auf sein Ansinnen reagiert. Was ihn hindert, zu handeln wie Beineberg und Reiting — d.h., seinen Trieben freien Lauf zu lassen - und was Basini hemmt, vom Geschehen auf der Dachkammer zu erzählen, hat denselben Grund. Erkennbar ist dieser Grund aber nicht an sich, sondern nur in seiner Wirkung - die beschrieben wird als Aufschub der Reaktion auf einen sinnlichen Reiz, als Verzögerung im Umsetzungsprozeß eines >Wollens< in die Tat. Törleß will diesen Effekt begreifen; entsprechend ist sein Experiment angelegt. Er quält den Lügner mit der Forderung, »selbst die volle Wahrheit zu
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sagen« (Tör, 99) — mit der Forderung des rückhaltlosen (Selbstbekenntnisses - und behauptet (wie Beineberg und Reiting), alles geschehe nur zu seinem Besten. »Wenn es dir mit deiner Besserung ernst ist, mußt du mir alles sagen« (Tör, 100), argumentiert er — und unterschiebt so seinem Unternehmen einen moralischen Zweck. Das religiöse Leitbild, das die Szene travestiert, ist unverkennbar: Törleß agiert als Beichtvater, der Selbsterniedrigung, Bekenntnis der Schuld, verlangt, um die gefallene Seele nachher wieder aufrichten zu können. Mit dieser Vorstellung verbindet sich die Idee einer vorsprachlichen Instanz, eines moralischen Ich-Grundes, der sich im Bekenntnis der Wahrheit regeneriert und seiner selbst bewußt wird. Auf Exposition dieses Ich-Grundes zielt nicht nur Törleß' Experiment, sondern auch der Roman selbst, dessen Spannungsbogen in dieser Szene seinen Höhepunkt erreicht. Um so bedenklicher stimmt, daß an dieser entscheidenden Stelle nicht mehr Basini, sondern Törleß als Lügner dasteht: daß nicht, wie zu erwarten wäre, der Sünder schamrot anläuft, sondern der Priester bzw. der durch ihn vertretene Gott, der, um sich als Herr der Lage zu zeigen, behauptet, längst zu wissen, was er zu hören verlangt. Der moralische Zweck des Experiments ist nur vorgeschoben. Weder empört Törleß sich wirklich über die Verwerflichkeit der Handlungen, zu denen sich Basini bekennen soll - der Diebstahl und die Geschehnisse auf der Dachkammer (der sexuelle Exzeß) erscheinen ihm banal und kaum der Rede wert — noch ist er davon überzeugt, Basini durch das Bekenntnis (die Aufhebung der Lüge) >bessern< zu können. Törleß' Versuch, das Selbst ausfindig zu machen, zum Kern von Basinis Persönlichkeit vorzudringen, scheitert auf ebenso eklatante Weise wie der Beinebergs. Die >Parallelität< beider >Aktionen< ist deutlich angezeigt. Am Schluß des Gesprächs fällt Törleß in die - Basini zugedachte, von diesem aber nicht zu bewältigende - Bekennerrolle und sagt: J a , ich quäle dich. Aber nicht darum ist es mir; ich will nur eines wissen: Wenn ich all das wie Messer in dich hineinstoße, was ist in dir? Was vollzieht sich in dir? Zerspringt etwas in dir? Sag! [ . . . ] Das Bild, das du dir von dir gemacht hast, verlöscht es nicht mit einem Hauche; springt nicht ein anderes an seine Stelle, wie die Bilder der Zauberlaternen aus dem Dunkel springen? [ . . . ] Näher erklären kann ich's dir nicht; du mußt mir selbst sagen ...! (Tör, 104)
Der Vergleich der Worte mit in den Körper eindringenden Messern (der sich in Goethes >Iphigenie< und Kleists >Penthesilea< vorgeprägt findet18) markiert den Zusammenhang: Er entlarvt Törleß' (moralisch begründetes) Wahrheitspostulat als Psychoterror, als Kehrseite des sado-masochistischen Geschehens, dem es sich überlegen dünkt — und exponiert so die Gebundenheit des >Gedan18
Vgl. Erich Meuthen: Das Entsetzen der schönen Seele. Über die rhetorische Dimension des ästhetischen Scheins bei Goethe und Kleist, in: Karl Eibl (Hg.), Goethes Kritiker, Freiburg i.Br. 2 0 0 1 .
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kens< an die verachtete >verbale< Seite seiner selbst. Das Motiv des Hauchs (in dem die Bilder verlöschen) reflektiert die sprachliche Verfaßtheit des Reflexionsraumes, dem das Denken nicht entkommt. Das Problem findet sich in der Rede, die Törleß Basini abverlangt, um einer Lösung näher zu kommen, aufgehoben und reproduziert. Die Rede selbst ist das Problem. Basini trifft daher - ohne es zu ahnen und ohne daß Törleß es begriffe - den Nagel auf den Kopf, indem er antwortet: [ . . . ] ich kann dir nichts erklären; es geschieht im Augenblicke, es kann dann gar nicht anders geschehen: du würdest ebenso handeln wie ich. (Tör, 104)
Törleß empfindet diese Aussage zunächst als Zumutung - ist überzeugt, >mehr Charakter< zu besitzen als Basini. Doch wird ihm bewußt, daß es gar nicht darauf ankommt, ob er an dessen Stelle anders gehandelt hätte, ob er aus Gründen, die zufällig sind, >standhafter< oder >aufrichtiger< gewesen wäre, sondern darauf, daß er, wenn er »einmal wirklich so handelte wie Basini, ebensowenig Außergewöhnliches dabei empfinden würde wie [dieser]«. Die Einsicht spitzt sich zu in dem Gedanken: Dies ist das Eigentliche: mein Gefühl meiner selbst würde genau so einfach und von allem Fragwürdigen entfernt sein wie das seine . . . (Tör, 105)
Wie es tatsächlich um Törleß' Standhaftigkeit bestellt ist, zeigt die folgende Szene. Musils pubertierender Held vermag hier dem schönen Körper Basinis schon nicht mehr zu widerstehen und macht sich auch auf dieser Ebene mit Beineberg und Reifing gemein. Aber wie könnte er dem auch widerstehen? Reflektiert er doch die Sprachwirklichkeit, an der er >sein Leben hatGedankeresverba< vereinigen muß, damit der Roman zustande kommt! Grund des >Schwindelswürdelosen< (die Wirklichkeit der Lüge veranschaulichenden) Geschehens auf der Dachkammer ebenso wie bei Beinebergs haarsträubenden Hypnotisierungsversuchen einstellt, ist der Blick ins Nichts, in das unsägliche >Loch< zwischen den Wolken, dessen Erinnerung Törleß verfolgt: in dem sich für ihn das >UnsäglicheGesichtsverlustsRiß< nicht >sagen< läßt - bzw. daß er sich beim Versuch, ihn sprachlich zu fassen, erweitert und vertieft, weil die Sprache selbst es ist, die ihn reißt: die 249
die Dinge bedeutsam werden läßt, indem sie sie >vergleicht< bzw. in Metaphern verwandelt, die fiir etwas stehen, das sie nicht >sindsensible Naturen< wahrnehmen, die - wie Törleß - das Zeug zum Dichter haben. Jürgen Söring hat von dem >SchwindelDe natura hominumpoetischereUnlesbarkeit< der Worte abfindet: weil er nicht, wie Törleß, von den >Verzerrungen des Mundes< absieht und sich nicht nur fur die Bedeutung der ihnen abgelesenen Worte interessiert, sondern schon die Beschreibung der Qual - der Agonie einer den eigenen Sinn hintertreibenden Sprachform — als Gewinn betrachtet. Was Törleß bei seinem ersten literarischen Schreibversuch zu Papier bringt, bezeichnet Heftrich als »hilflose Andeutung dessen, was Musil selbst nur mit Mühe, stilistisch durch die Häufung von Metaphern und Als-ob-Vergleichen 19
Jürgen Söring: Musils poetischer Brückenschlag, a.a.O., S. 33.
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dem diffusen Zwielicht des bloß Gefühlten entwinden kann.« 20 So stellt es sich dar in der Perspektive der Fiktion, die der Roman aufbaut; jenseits dieser aber verkehrt sich das Bezugsverhältnis: Das Andeutende erscheint als Reflex des Angedeuteten, die erzählte Geschichte als anschauliches Bild der stilistischen Müheendlos gerade< verlaufenden Schienensträngen (den in das Labyrinth der Erzählung hineinführenden, parallel gesetzten Zeilen des gedruckten Textes) klafft ein Spalt, in dem der Sinn abstürzt - und angesichts dessen es kaum ratsam erscheint, den Zug, mit dessen Einfahrt die Erzählung beginnt, zu besteigen.
20
Eckhard Heftrich: Robert Musil: >Die Verwirrungen des Zöglings TörlessDer Tod des Vergil
monologischen Retouche*. 16 Daß dieser >Monolog< sich über weite Strecken als traditioneller Autorenbericht gestaltet, wird dabei übersehen. Aber um nichts anderes als die Darstellung dieses Widerspruchs — des Zerbrechens der lyrischen Einheit< bzw. des Bruchs, aus dem der lyrische Ton hervorgeht und von dem er kündet - geht es in Brochs Roman. Die Einsicht, die er zu vermitteln sucht und als >Todeserkenntnis< deklariert, begründet sich weniger auf der Ebene des Erzählten, der Ebene der (zitierten) Bilder und Symbole, die am wenigsten überzeugen, als auf der Ebene der Erzählform, wo diese Bilder sich als bloßer Vorwand herausstellen: als topische Formeln, die wiederholt werden, um das eigene Versagen, die Vergeblichkeit der Rede, in den Blick zu bringen. Es gilt daher, diese Bruchstelle möglichst deutlich in den Blick zu bringen: Als innerer Monolog beansprucht der Roman, die Lücke zwischen Erzähler und Held zu schließen. Deshalb insistiert er auf Unmittelbarkeit und
14
15 16
Hannah Arendt: Hermann Broch und der moderne Roman, in: Der Monat 8/9, 1949, S. 1 4 7 - 1 5 1 . Wieder abgedruckt in und hier zitiert nach Manfred Durzak (Hg.): Hermann Broch. Perspektiven der Forschung, München 1 9 7 2 , S. 2 5 - 3 3 . Hannah Arendt: Hermann Broch und der moderne Roman, a.a.O., S. 30. Vgl. Doris Stephan. Der innere Monolog in Hermann Brochs >Tod des VergilTod des Vergil< zwischen logischem Kalkül und phänomenologischem Experiment, Würzburg 1994. Dort heißt es u.a.: »Im übrigen wäre es falsch, Brochs Kommentar über den >inneren Monolog in der dritten Person< blind zu folgen. Nur Teile des Romans sind in erlebter Rede oder in der Form des erzählten Monologs abgefaßt. Vor allem der 3. Teil (>Erde — die ErwartungSchicksalselegieKlage< daher dem unbegreiflichen Wirken einer sich immer wieder anders füllenden »Leerform« (TdV, 1 9 3 ) gilt. Das Dichter-Ich erscheint in dieser lyrischen Spekulation als Funktion der Sprachbewegung, die es hervorbringt: der Mund bewegt durch die >StimmeTod des Vergil< als ein dicht gewebtes >Illusionsnetz der Subjektivität beschrieben, das darauf zielt, »die Eigenständigkeit der Redeformen« zu kaschieren. Dem rhetorisch geschulten Blick halte es jedoch nicht stand. Denn diesem entdecke sich das »den ganzen Roman durchziehende Wiederholungssystem«: die topische Organisationsform der Erzählung. Die Illusion subjektiver Wirklichkeit zerbreche in der Erkenntnis ihrer sprachlichen Hervorbringung. Entsprechend lautet das Fazit: Damit, daß die >Subjektivität< des Bewußtseinsstroms den Bereich der Motivierung nicht überwindet, bleibt sie eine stoffliche Setzung, deren Einmaligkeit kein sprachformales Äquivalent hat. 21
Brochs Kunstgriff, die >Versetzung des inneren Monologs in die dritte PersonTod des Vergil< »die Menschenseele und ihre Struktur ins Dichterische projizieren, [ . . . ] Geistiges in Bilder und Geschehnisse umsetzen«. 22 Das Gegenteil ist der Fall: Die >StrukturSelbstkommentar< (1942), zitiert nach Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler. Bd. 4, a.a.O., S. 4 7 1 . Vgl. das Kapitel >Der subjektive Monolog in »Der Tod des Vergil«< von Gerhart von Graevenitz: Die Setzung des Subjekts. Untersuchungen zur Romantheorie, Tübingen 1 9 7 3 , S. 8 8 - 9 6 , hier S. 92f. und 95. Walter Hinderer: Grundzüge des >Tod des Vergilf.
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erzählte Geschichte) veranschaulicht, ist der Beschreibung immanent. Brochs Roman lotet sich selbst aus. Was sich als Darstellung eines subjektiven Erlebnisses präsentiert, ist sprachliches Konstrukt, das sich selbst zu begründen sucht. 2 3
2. An der Grenzlinie des Todes reflektiert sich das Sprechen: es trifft auf so etwas wie einen Spiegel; und um den Tod aufzuhaken, der es aufhalten wird, hat es nur eine Möglichkeit: in sich, in einen Spiel mit Spiegeln, das selbst keine Grenzen hat, sein eigenes Bild entstehen zu lassen. In der Tiefe des Spiegels, da, wo das Spiel wiederbeginnt, um wieder an den Punkt zu kommen (den des Todes), um ihn jedoch wieder zu umgehen, gewahrt man ein anderes Sprechen - das Bild des wirklichen Sprechens, aber als ein winziges, inneres, virtuelles Modell [...].
(M. Foucault**) Das erste Kapitel beschreibt, wie Vergil in einer Sänfte durch die Elendsquartiere Brundisiums in den kaiserlichen Palast getragen und dort in einem Turmzimmer — abseits des höfischen Festes und »ein gutes Stück oberhalb der Stadtdächer« — untergebracht wird. Sein Führer ist Lysanias. Er gleicht einem >Musik-Sklavenwegweisendem< Lied der todkranke Dichter während der soeben beendeten Schiffsreise fasziniert war. Vergil erinnert sich: »[U]ber alles Menschliche hinausreichend« — »mild strahlend wie Sphärenluft, die sich selber singt«, erfüllte die Senkende Stimme< des Knabens den Nacht23
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Dasselbe gilt fiir Hannah Arendts These, Thema des Buchs sei die >Wahrheitreinen< (d.h., bedeutungslosen und deshalb »jenseits der Sprache« verorteten) >Wortes der Unterscheidung< (TdV, 455), das in der >Schicksalselegie< als Schöpfungsgrund erscheint und mit dessen Wahrnehmung der Roman endet. Die Vorstellung dieses Wortes begründet sich nicht mit der biblischen bzw. mystischen Rede, die sie zitiert, der »spinozistisch anmutende[n] Kosmos- und Logos-Spekulation«, in der Arendt den »eigentlichen philosophischen Gehalt« des Romans erblickt. Das Zitierte erscheint nur zur Verdeutlichung der Wirklichkeit des Zitats. Die >Wahrheitwelcher Erinnerungstiefe der Knabe auftaucht< (TdV, 33). In Lysanias' Darstellung verschränken sich verschiedene Wirklichkeitsebenen. Im Bewußtsein des delirierenden Dichters verschmilzt Lysanias nicht nur mit dem Knaben auf dem Schiff, sondern auch mit dem Palastsklaven, der ihm aufwartet, sowie mit dem >Gedächtnisbild< Plotia Hierias, der aus Künstlerhochmut verschmähten Jugendgeliebten. (Gemeinsam mit dieser bildet er auch das Schlußtableau des Romans: die im Rekurs auf Vergils vierte Ekloge gestaltete Todesvision einer jungfräulichen Mutter mit göttlichem Kind - eine Vorstellung, die die christliche Phantasie seit dem Altertum beflügelt.) Zudem trägt Lysanias Züge des Eros und Hermes psychopompos (Telesphoros).25 In androgyner Gestalt und mit verführerischem Lächeln nähert er sich dem (im Ruf der Knabenliebe stehenden26) Dichter und geleitet ihn in den Tod. Die Verwandtschaft mit Thomas Manns anmutigem Seelenfuhrer 27 liegt auf der Hand, sie verdeutlicht die literarische Tradition, der er entstammt: Er ist Nachfahre Mignons, verkörperte >Naturpoesiemodernen< Welt kein Platz mehr ist. Wie Tadzio kann auch er nicht für sich allein stehen. Er verginge, fände er nicht Rückhalt im Sinnbild des Sklaven, des geduldigen Trägers irdischer Last, sowie in der Erinnerung an Plotia, die fur das weibliche und mütterliche Prinzip steht. 25
16
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Curt von Faber du Faur: Der Seelenfiihrer in Hermann Brochs >Tod des VergilQuelle< seines Romans ausweist, heißt es: »Man sagte von ihm, daß er Knaben außerordentlich zugeneigt war. Aber die Guten glauben, daß er die Knaben so geliebt habe, wie Sokrates den Alkibiades, und Plato seinen Knaben. [ . . . ] Es wurde bekannt, daß er Plotia Hieria liebe. Aber Ascanius behauptet, daß er selber später Jüngeren zu erzählen pflegte, er sei zwar von Varius zur Gemeinschaft mit der Frau aufgefordert worden, habe sich aber auf das hartnäckigste geweigert.« (Zitiert nach Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler. Bd. 4, a.a.O., S. 498f.) Vgl. u.a. Doris Stephan: Thomas Manns >Tod in Venedig< und Brochs >Vergilnackte Wahrheit< bezeichnete Elend der Menschen nicht hinwegsehen. Sie darf nicht zum belanglosen >Schönheitsspiel< verkommen - zum Dekor, der die Misere kaschiert. Entsprechend lauten die Fragen, die Vergil in der letzten Nacht seines Lebens quälen, sie betreffen das Werk, das er nun schon jahrelang mit sich herumschleppt und nicht fertigstellen kann: Was ist der Grund dieser Schreibhemmung, seiner Griechenlandreise und Flucht in die Philosophie? Liegt es an der Wirklichkeitsferne dieses Werks, an seiner Idealität und Klassizität? Verfällt die Aneis gerade deshalb der Lüge, weil sie nach Perfektion und Harmonie strebt, weil sie die Herrschaft des Augustus mythisch verklärt und zu politischem Mißbrauch geradezu herausfordert? Vergil glaubt, alle diese Fragen bejahen zu müssen - und deshalb beschließt er, sein Werk zu verbrennen. Die Maxime, auf die der im 2. und 3. Kapitel dargestellte ästhetische Reflexionsprozeß hinausläuft, wurde bereits angesprochen. Nicht um Schönheit, sondern um Erkenntnis muß es der Kunst zu tun sein. Sich auf Schönheit einzulassen, ist ihr nur erlaubt, solange sie >Sinnbild< ist und der »Pflicht zur selbsterkennenden Wahrheitsfindung und Wahrheitsäußerung« (TdV, 1 3 3 ) genügt. Wofür aber soll die Kunst Sinnbild sein? Welche Einsichten kann sie vermitteln — und zwar sie allein, nicht Religion, Philosophie oder Wissenschaft, die für sich in Anspruch nehmen, besser beurteilen zu können, was >wahr< ist und was nicht? Die Antwort, die Vergil auf diese Fragen gibt, ist mißverständlich: Die Kunst genügt ihrer Pflicht, erklärt er, indem [ . . . ] sie die Seele zu fortgesetzter Selbstbewältigung aufruft und sie solcherweise Schichte um Schichte ihrer Wirklichkeit aufdecken, Schichte um Schichte tiefer dringen läßt, Schichte um Schichte ihres innersten Seins-Gestrüpps durchdringend, Schichte um Schichte hinabdringend zu den niemals erreichbaren, trotzdem stets erahnten, stets gewußten Dunkelheiten, aus denen das Ich stammt und zu denen es einkehrt, die Dunkelheitsregionen des Ich-Werdens und des Ich-Verlöschens, der Seele Eingang und Ausgang [...]. (TdV, 1 3 2 )
Scheinbar handelt es sich um einen psychologischen Diskurs. Doch lassen sich die anvisierten »Dunkelheitsregionen des Ich-Werdens und Ich-Verlöschens« 28
Johann Wolfgang Goethe: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 7, a.a.O., S. 144.
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nicht als Bereiche des individuellen oder kollektiven >Unbewußten auffassen. Weder ist von der Entdeckung verschütteter >Urbilder< die Rede, noch von einem Vorstoß in die Abgründe des >Es< und >Über-Ichder Seele Aus- und EingangAbstieg in die Unterweid gängiges Motiv, an dem der Dichter sich zu bewähren hat. 29 Im Roman reihen sich Hinweise auf den Orpheusmythos und Homers Odyssee. Letztere setzt die Maßstäbe, die Vergil für die Konzeption und Ausführung des eigenen Werks geltend macht. Damit aber gerät Vergil in Schwierigkeiten, denn der >GeistAneis< ihrem Anspruch nicht mehr genügte. Vergils ästhetische Reflexionen gipfeln entsprechend in der Bestimmung der Kunst als »Erkenntnisbild des Todes« (TdV, 77), »[G]erade infolge solcher Sinnbildhaftigkeit des Schönen«, heißt es, sei die Kunst imstande, die »unüberschreitbaren innersten und äußersten Grenzen des Seins« in den Blick zu bringen (TdV, 133). Die Rede ist nicht von möglichen >Bildern< (Metaphern) für die angesprochene Grenze, sondern davon, was diese Bilder überhaupt erst ermöglicht: vom >Grenzwert< des symbolischen Tauschs, in dem sich das mimetische Prinzip erfüllt. >ErkenntnisWirklichkeitsbild des TodesWesen< der Kunst ausmacht. Im Gespräch mit Augustus erklärt Vergil: »Nirgends [...] ist die Erkenntnispflicht der Kunst so zwingend und bündig und scharf vorgeschrieben wie im Bereich der Dichtung«, denn »Dichtung ist Sprache, und Sprache ist Er-
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Im 20. Jahrhundert erneuert sich das Interesse an diesem Stoff, am prägnantesten wohl in Thomas Manns >ZauberbergUnterwelt< hier allerdings auf 1 6 5 0 Meter Höhe ins graubiindische Bergland verlegt. »Homer war der Götter Verkünder; er bleibt mit ihrer Wirklichkeit«. (TdV, 226).
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kenntnis« (TdV, 320). Das sprachtheoretische Fundament der Vergilschen Ästhetik kommt in den Blick. Die Sprache wird als erkenntnisstiftende, da Bewußtsein schaffende Kraft begriffen - und die Dichtung als konzentrierte, um sich selbst kreisende, sich selbst reflektierende Sprache. Seelen- und Sprachraum fallen zusammen; Vergil beschreibt sie als »ineinander verwoben und einander spiegelnd« (TdV, 188). Entsprechend gestaltet sich die Hadesreise, die Vergil in den Fieberphantasien der letzten Nacht >tatsächlich< erlebt, als semiotischer Reflexionsprozeß: als Nachdenken über die Herkunft und das Wesen der Bilder, die uns die Wirklichkeit bedeuten. Für Vergil besteht das »tiefste Wirklichkeitsgeheimnis«, auf das die Todeserfahrung hinweist, im [ . . . ] Geheimnis der Entsprechung [...], die gegenseitige Entsprechung von Ich-Wirklichkeit und Welt-Wirklichkeit, jene Entsprechung, welche dem Sinnbild die Schärfe der Richtigkeit verleiht und es zum Wahrheitssinnbild erhebt, [ . . . ] (TdV, 1 3 3 )
Der transzendentalpoetische Reflexionsansatz weist Vergil als >modernen< Dichter aus. Der Kerngedanke lautet: Kunst erfüllt sich nicht in der Nachahmung eines unabhängig von ihr existierenden Gegenstandes, weder in der Imitation seiner materiellen Erscheinung noch in der Darstellung eines ihm zugeschriebenen ideellen Gehalts, sondern in der Exposition der in ihm wirksamen schöpferischen Potenz. Die romantische Herkunft des Konzepts liegt auf der Hand. Doch wird die poetische Kraft nicht mehr mit der in der Natur waltenden identifiziert. Nichts verbürgt mehr die Einheit von Darstellung und Dargestelltem. Der mimetische Prozeß erscheint als Übertragungsvorgang und das in ihm entstehende Bild als Metapher der den poetischen Prozeß steuernden Sprachfunktion. Der von Vergil ins Auge gefaßte »allem Verstände, [ . . . ] aller Philosophie vorausgehende]« Bewußtseins- bzw. Erkenntnisgrund (TdV, 324) stellt sich als Abgrund heraus: als Lücke zwischen den Worten, als Abstand zwischen Zeichen und Bezeichnetem - als das Nichts einer Differenz, in die der Sinn, den sie erzeugt, stürzt. Entsprechend definiert Vergil die Erkenntnis, die die Kunst vermittelt, als das »Wissen um das Zweihafte, dem alle Einheit unterworfen ist« (TdV, 4 1 9 ) und betrachtet — ja, besingt — die Dichtung als: - »Augenaufschlag der Sprache«, als >Augenblicks in dem sie [ . . . ] über ihre eigenen irdisch-sterblichen Grenzen schlägt und ins Unaussprechliche dringt, den Wortausdruck verläßt und - bloß sich selber noch im Gefiige der Verse singend - den atembeklommenen, atemraubenden Sekundenabgrund zwischen den Worten aufreißt,
-
sowie als Moment, in dem »sie über alle Mitteilung und über alles Beschreiben hinweg sich selbst aufhebt« und »in die Gleichzeitigkeit eintaucht, so daß es unentschieden bleibt, ob Erinnerung aus der Sprache oder ob Sprache aus der Erinnerung quillt« (TdV, 80). 265
Der hier ins Bild des >Sekundenabgrunds zwischen den Worten< gefaßten >inneren< (Sprach-)Grenze korreliert eine >äußereInnenwelt< (poetische Funktion), und Gedanken über ihre äußere/praktische Wirksamkeit (rhetorische Funktion) überlagern und motivieren sich hier wechselseitig. Entsprechend steht es um die Zweifel, die Vergil quälen, wenn er über sein Werk nachdenkt. Die Furcht vor mangelnder ästhetischer Perfektion wechselt mit der vor politischem Mißbrauch. Die Bedenken werden nacheinander vorgetragen: Der poetischen und poetologischen Reflexion des zweiten Kapitels, in dem der von Fieberträumen heimgesuchte Dichter die Kontrolle über seine Gedanken verliert, in dem sich die Sprachbewegung zusehends verselbständigt und ein Bild das nächste hervortreibt, steht im dritten Kapitel die rhetorische Aktion gegenüber: das versierte argumentative Gefecht (die nur kurzfristig von Phantasiebildern unterbrochene Auseinandersetzung mit Augustus über den politischen Zweck und die moralische Verantwortung der Kunst) sowie das Diktat der Schrift: das auf die fragmentarische Qualität der Äneis insistierende, sie festschreibende Testament. Doch gilt es, dieses Nacheinander als antithetisches Konstrukt zu begreifen, das das Spannungsfeld markiert, dem der Roman entwächst, und in dessen Horizont der Erzählvorgang als ein sich selbst regelnder, gleichsam automatisch ablaufender Prozeß erscheint, den die Differenz von dargestellter und darstellender Rede, von poetischem und poetologischem Diskurs motiviert und in Bewegung hält. Überzeugt davon, daß der Mensch Bewußtsein von sich und der Welt nur erlangt mittels sprachlich erzeugter >Bilder< (»bildgesegnet und bildverflucht ist das menschliche Leben«/»Bild sich selber war er, der hier lag« [TdV, 72]), bestimmt Vergil die Kunst als Nachdenken der »zur Frage gespannten menschlichen Seele« über sich selbst, als Ausdruck ihrer >Eingespanntheit< bzw. >Hineingehaltenheit< in »das Jetzt [ihres] eigenen Sinnbilds« (TdV, 96) - ihrer Motiviertheit durch die sprachliche >GleichniskraftUnerreichbar< ist, so dichtet er, der »Stimmenquell des Zeitenanfanges«, >unerschaubar< das »Sinnbild aller Sinnbilder« (TdV, 85). Entsprechend raffiniert gestaltet sich der im zweiten Kapitel dargestellte poetisch-poetologische Reflexionsprozeß. Er erscheint als Produkt ausschweifender Phantasie: eines in Auflösung begriffenen Bewußtseins. Das literarisch 266
tradierte, durch Orpheusmythos und >Odyssee< vorgegebene Motiv der Hadesfahrt mutiert zum Bild für eine Reise ins >SprachinnereletztenUnterweltBefehl< zur Vernichtung seiner Schriften: als Gebot, Buße zu tun für sein liebloses, dem schönen Schein verfallenes Künstlerleben. Anders als sein Vorläufer Orpheus erfahrt er dieses >Jenseits der Bilderunspiegelbaresalleszertrümmernden< Lachen. Es ist dasselbe Lachen, mit dem Zarathustra auf die ebenso erschütternde wie entlastende Erkenntnis der Metaphorizität (Uneigentlichkeit und Austauschbarkeit) der Bewußtseinsbilder reagiert: auf das ästhetische Erlebnis der »Wirklichkeit alles Unwirklichen« (TdV, 125) sowie die damit korrespondierende Vorstellung der Unwirklichkeit des Wirklichen — der Reversibilität der Zeiten- bzw. Bilderfolge. Dem entspricht das Hoheitszeichen dieses Nicht-Orts, an dem das »Schönheitsspiel< endet (TdV, 120), das Symbol der >ewigen Wiederkehre die >zum Kreise geschlossene Schlangen Vor dem >Umkehrschluß< aber, dieser letzten, undenkbaren Konsequenz, die zu ziehen der Blick ins >Nichtssinnbildlose< Dunkel am Ort des symbolischen Tauschs, gebietet, scheut Vergil, der Dichter Roms (der Propagator römischer Ordnung) zurück. Der Schlange den Kopf abzubeißen, wie Nietzsche es fordert, fehlt ihm der Mut. Lieber beugt er sich dem Tabu, beruft sich auf das im Zentrum der Erzählung von Orpheus' Hadesfahrt stehende Verbot sich >umzuwenden< und deutet den Mythos als Warnung vor dem »Unheilsweg der Umkehrung«, auf dem sich der schönheitsberauschte (in Liebe zu Euridyke entbrannte) Künstler bewegt (TdV, 236) - auch wenn er sich damit selbst das 267
Wasser abgräbt und sich am Ende gezwungen sieht, den Stab über das eigene Werk zu brechen. Schönheit darf - lautet das Credo, mit dem er die sich im Zentrum des symbolischen Tauschs eröffnende nihilistische Perspektive bekämpft - niemals Selbstzweck sein, weil, wenn immer solches geschieht, [ . . . ] die Kunst in ihren Wurzeln angegriffen wird, weil dann ihre Schöpfungstat unweigerlich sich umkehrt, weil dann plötzlich das Erzeugende durch das Erzeugte ersetzt ist, der Wirklichkeitsinhalt durch die leere Form, das erkenntnishaft Richtige eben durch das bloß Schöne, in einer ständigen Verwechslung, in einem ständigen Vertauschungs- und Umkehrungskreis, dessen Insichgeschlossenheit keinerlei Erneuerung mehr zuläßt [ . . . ] . (TdV, 1 3 4 )
Deshalb gilt: [ . . . ] selbst wenn es letzter, eigentlichster A u f t r a g der Dichtung wäre, die N a m e n der D i n g e zu heben, ja, selbst wenn es ihr im A u f k l a n g ihrer größten Augenblicke gelungen wäre, einen Blick in das Niemals-Erstarrende der Sprache zu werfen [ . . . ] , sie vermag im Gedicht wohl die Schöpfung im Worte zu verdoppeln, hingegen vermag sie nicht das Verdoppelte wieder zur Einheit zusammenzufassen, sie vermag es nicht, weil die Scheinumkehrung, weil die A h n u n g , weil die Schönheit, weil all dies, was sie als Dichtung bestimmt und sie zur Dichtung macht, ausschließlich in der W e l t verdopplung statthat [ . . . ] , nimmermehr wird Dichtung zur G r ü n d u n g , nimmermehr erwacht Dichtung aus ihrem ahnenden Spiel, nimmermehr wird Dichtung zum G e bet, zu dem opfergültigen Wahrheitsgebet, das dem echten N a m e n der D i n g e so sehr innewohnt, daß fiir den Betenden, eingeschlossen vom Opferwort, sich die Weltverdopplung wieder schließt. (TdV, I 7 9 Í . )
Entsprechend begründet Vergil seinen Entschluß, die Äneis zu vernichten: Das Werk sei nichts als »ein mäßig geglückter Abklatsch des homerischen Vorbildes ein leeres Nichts, angefüllt mit Göttern und Helden« (TdV, 303), an die niemand mehr glaube. Die >Bilderfalschen< Bilder nicht durch >wahre< ersetzen. Dem schönen Schein, den das klassische Werk verbreite, sei nicht zu trauen: Es bestehe aus >voreiligen< Worten, und die einzige Wahrheit, von der diese Worte kündeten, sei das sinnlose Dunkel, der >blinde Fleckverkehretieferes< Wissen sei er zurückgekehrt. Er sei geblieben, was er immer schon war: »ein leeres Gleichnis, ohne Heil, ohne Wahrheit, ohne Wirklichkeitswahrheit« (TdV, 307). Bei noch >tieferem Einstieg< hätte er begriffen, daß sein Vorhaben (Euridyke zurückzuholen) von An268
fang an chancenlos war: Er war immer nur >Gleichnis< und als solches gehört er der Wirklichkeit nicht an. Äneas erhebe Anspruch auf etwas, das seiner >Natur< entgehe: Um Leben zu gewinnen, müßte er aufhören, Kunstfigur — Bild, Metapher - zu sein. Deshalb muß >das Opfer zu vollzogen< werden: >Mitsamt seinem Gedicht< will Vergil ins Nichts, in die >Todeswirklichkeitleere Gleichnis< dadurch >fiillenWirklichkeit< unter Beweis stellt, daß er das Kunstwerk vernichtet: durch die >Leere< ersetzt, die es bedeutet (fur die es Sinnbild ist). Augustus, dem Repräsentanten der weltlichen Macht, traut Vergil nicht zu, seinen Überlegungen folgen zu können. Er fragt: »Was ahnet der Augustus von den wahren Unzulänglichkeiten?! was wußte er von der tiefen Unstimmigkeit, unter der alles Leben und erst recht alle Kunst steht?!« (TdV, 295). Doch da täuscht er sich. Dem Kaiser ist die nihilistische Perspektive, die sich hier eröffnet, durchaus vertraut. Allerdings zieht er daraus andere Schlüsse als der Dichter. Er ist Politiker, Mann der Praxis, getrieben vom >Willen zur Machtästhetischen Erziehung< herleitet — die Mahnung nämlich, [ . . . ] daß die physische Gesellschaft in der Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die moralische in der Idee sich bildet, daß um der Würde des Menschen willen seine Existenz nicht in Gefahr geraten darf. 31
Angelpunkt einer jeden Interpretation des Romans ist daher die Frage, weshalb Vergil der Forderung des Kaisers am Ende nachgibt. Die Antwort hängt letztlich davon ab, wie man Vergils Aussage, »die neue Erkenntnis liegt außerhalb der Kunst, außerhalb des Machtbereichs ihrer Gleichnisse« (TdV, 323), deutet. Die Interpreten kommen hier zu keinem klaren Ergebnis. Durzak sieht die Sache so: 31
Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Norbert G. Göpfert. Bd. 5, München (5. Aufl.) 1984, S. 5 7 0 - 6 6 9 , hier S. 575.
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Während sich Vergil in den späteren Bearbeitungen nur aus Freundschaft zu Augustus und scheinbar gegen seine eigene Überzeugung dazu entschließt, ihm das Manuskript zu überlassen, überwindet er in der Urfassung seinen Zweifel und entdeckt einen neuen verborgenen Wert seiner Dichtung. Es ist kaum zweifelhaft, auf welchen Wert in Vergils Dichtung Broch hier anspielt: Es ist die Vorahnung der christlichen Humanitas, wie sie seit dem Mittelalter bis hin zu T. S. Eliot in der vierten Ekloge als Verkündigung des Sohnes, nämlich Christus, interpretiert wurde. 32
Die >neuekünstlerisch< begründete Erkenntnis, die sich in der Äneis ankündigt und den Erhalt des Werks rechtfertigt, wäre demnach religiös bestimmt. Vergils Kniefall vor dem Tabu deutet in der Tat in diese Richtung. Zugleich aber stellt Durzak fest, daß diese Motivation in der letzten Fassung verblaßt. Nicht mehr die Idee der christlichen Humanitas< fuhrt hier zur Revision des Entschlusses, das Werk zu vernichten, sondern Vergils Freundschaft mit Augustus. Sinn macht Durzaks These nur, wenn man diese Freundschaft im Lichte der autoreflexiven Erzählform und des ihr immanenten sprachstrukturellen Reflexionsansatzes als Bild für den Zusammenhalt von >Wort< und >GedankenTasso< - an den verachteten Politiker und Rhetor. Es ist eine paradoxe Vorstellung. Sie exponiert den Gegensatz, den sie zu überbrücken scheint. Aber nur so versteht sich das Argument, das Plotius vorbringt, um Vergil von seinem Entschluß abzubringen: Oh, Vergil, du hast die Äneis gerade noch dichten können, knapp dazu haben deine Fähigkeiten gereicht, doch bilde dir ja nicht ein, daß du sie verstündest. Weder weißt du etwas von ihrer Wirklichkeit, noch von der des Mannes Vergil; du kennst sie beide nur vom Hörensagen. (TdV, 229)
Man hat diese Bemerkung auf die von Vergil noch unbegriffene, sich in seinem Werk aber andeutende christliche Wahrheit bezogen. Im Horizont der spiegelstrukturierten Rede, der sich im Erzählten (Vergils >Hadesfahrtutopisch< erscheint. In seinem Testament verfugt Vergil daher, daß am bestehenden Text der Äneis nichts verändert, kein Wort gestrichen oder hinzugefugt werden dürfe. Folgende Überlegungen fuhren zu diesem Entschluß: Die Götter wollten nicht, daß er die Verse fettigstelle, sie wollten nicht, daß er der Verse Unstimmigkeit behebe, denn alles Menschenwerk muß aus Dämmerung und Blindheit entstehen, also in Unstimmigkeit verbleiben; dies ist der Götter Ratschluß. [ . . . ] weder im Geschehen des Gottes noch in dem des Tieres gibt es Unstimmigkeit — , erst in der Unstimmigkeit enthüllt sich die fruchtbare Herrlichkeit des menschlichen Loses, das ein Hinausgreifen über sich selber ist: zwischen der Stummheit des Tieres und der des Gottes steht das menschliche W o r t , harrend, daß es selber in Verzückung erschweige [ . . . ] . ( T d V , 4 0 7 Í . )
Aus der Vorstellung des >zerrissenenunstimmigen< bzw. dissonanten Kunstwerks entwickelt sich im >Tod des Vergil< der Gedanke vom >Erschweigen des Worts< in einem über die sprachliche Dimension >hinausgreifenden< musikalischen Geschehen. Es ist der Leitgedanke des Romans, entsprechend dem sich das Werk organisiert: der die Sprache zum >Fließen< bringt — der sie ins Lyrische erhebt. Für die weitere Entwicklung der Künstlerromantradition hat dieses Konzept grundlegende Bedeutung. In Thomas Manns gleichzeitig entstandenem Roman >Doktor Faustus< wird er breit erörtert - wenn auch nur als inhaltliche Position, der sich die Form hartnäckig widersetzt.
3· R O S E , oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern.
(R. M. Rilke") Das vierte Kapitel beschreibt den Tod Vergils. Es stellt ihn nicht im traditionellen Sinne dar, es zeichnet kein Bild des Todes, sondern dieser wird sprachliches Ereignis. Die diskursive Ordnung zerbricht, die Satzgefüge lösen sich auf. Die syntaktischen Elemente unterliegen einer Wirbelbewegung, in der diese sich immer schneller wiederholen und paradoxe Figuren entstehen, die jeden Verstehensversuch hintertreiben. Mit dem Bewußtseinsraum kollabieren die Unterschiede. Doch ist dieser Kollaps nicht als Zusammenbruch der Differenz33
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. H g . vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 2 , Frankfurt/M 1 9 7 4 , S. 1 8 5 .
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struktur dargestellt, sondern als ein Sich-verlieren in dieser: Die Sprache >hebt sich auflöst sich auf< im >Brausen< eines >reinen Worts der UnterscheidungTodeserkenntnisVerwandlungDen Tod gebenNichts< des Todes, nur gibt, weil das Zeichen sich des Bezeichneten bemächtigt, weil es dieses ersetzt und auf diese Weise vernichtet. Beide Aspekte gelten; die Aufgabe besteht darin, diesen Widerspruch zu erfassen. In einem Aufsatz über die Wirklichkeit metaphorischer Rede (des symbolischen Tauschs), bringt Derrida ihn auf den Begriff des >EntzugsTod des Vergil< geschieht, zu verstehen. Broch opfert seinen Held anstelle des Werks. Vergil stirbt, damit die Äneis erhalten bleibt. Sein Tod ist Voraussetzung für die Rettung des Werks, das er Augustus zum Geschenk macht. Damit aber erhält sich kein bestimmter Sinn. Die einzige Dauer, von der dieses Werk kündet, ist die eines alles erfassenden Wechsels.
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Zum folgenden vgl. Maximilian G . Burckhart: Dekonstruktive Autopoiesis - Paradoxe Strukturen in Kleists Trauerspiel >PenthesileaModerne< I. Thomas Mann: >Doktor Faustus
rücksichtslose< Manier des >Vergil< oder der späteren Bernhardschen Prosa zu fallen, obwohl er es gerne möchte und es geboten scheint, ist Serenus Zeitblom, der Erzähler des >Doktor FaustusDF< und nachfolgender Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert nach Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, in ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 6, Oldenburg i960. Volker Hage: Vom Einsatz und Rückzug des fiktiven Ich-Erzählers. >Doktor Faustus« — ein moderner Roman?, in: Text und Kritik. Sonderband >Thomas Manns (2., erw. Aufl.) 1982, S. 1 1 2 - 1 2 2 .
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Befürchtung, den ästhetischen Anforderungen seiner Zeit nicht gewachsen zu sein, ist dem Werk nicht äußerlich, ist keine Frage dichterischer Eitelkeit. Die traditionelle Erzählform, das bewußte Verharren >at the margin of modernisms 5 erweist sich vielmehr als wesentliches Element im bedeutungskonstitutiven Prozeß der Erzählung selbst. Denn: - Thema ist das Ende der Epoche der Subjektivität und der Verlust ihrer prominentesten Konzepte (des Humanitätsgedankens sowie der Idee des verantwortlich handelnden Individuums), die sich bis in die Renaissance, das Zeitalter Fausts und Ardinghellos, zurückverfolgen lassen. -
Und betrachtet wird das Ende dieser Epoche unter dem Aspekt des Zerfalls ihres elaboriertesten Produkts: der als Ausdruck harmonischer Subjektivit ä t begriffenen >klassischen< Kunstform, die sich in der transzendentalpoetischen Reflexionsbewegung des >romantischen< Werks gleichsam selbst überholt - und so der Künstlerromantradition den Boden bereitet, die diese Entwicklung reflektiert: deren primärer Darstellungsgegenstand das Scheitern des idealistischen Projekts der ästhetischen Subjektkonstitution ist.
Entsprechend ist der >Doktor Faustus< konzipiert. Die erzählte Geschichte verdeutlicht den Epochenwechsel am Beispiel des radikalen Traditionsbruchs, der sich auf musikalischem Gebiet zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzieht. Aber erst im Zerbrechen der Erzählung, in der Diskrepanz von Erzählinhalt (dem Leben und Werk des Avantgardekomponisten Adrian Leverkühn) und Erzählform (der Behandlung dieses Gegenstands in der traditionellen Form der Künstlerbiographie) zeigt sich das ganze Ausmaß der Katastrophe, von dem der Traditionsbruch kündet — und nur im Hinblick darauf läßt sich die Haltung bestimmen, die Thomas Mann zu diesem >Durchbruch< der >Moderne< einnimmt. Serenus Zeitblom, der Erzähler des >Doktor Faustusklassischen< Sprachen. Maxime seines Erzählens sind die Forderungen des aptum, der angemessenen (maßvollen) Rede, die Cicero als Reflex einer verlorenen harmonischen Weltordnung versteht und als wichtigste Aufgabe der Redekunst betrachtet. Dem, wovon Zeitblom zu berichten hat, hält das alte Konzept jedoch nicht stand. Das im Wahnsinn endende Leben des >deutschen Tonsetzers< Adrian Leverkühn, das sich in seinem Leidensweg spiegelnde ästhetische Dilemma und erst recht die damit in Verbindung gebrachten historischen Ereignisse verweigern sich harmonischer Darstellung.
5
So der Titel eines Symposiums an der University of California - vgl. Herbert Lehnert, Peter C. Pfeiffer (Hg): Thomas Mann's >Doctor Faustus«. A Novel at the Margin of Modernism, Camden House 1 9 9 1 .
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Um seinem Anspruch gerecht zu werden, muß Zeitblom auf eine Weise erzählen, die ihn in Verruf bringt: die Zweifel an der Seriosität seines Berichts aufkommen läßt. Nur unter Aufbietung gewagtester Vergleiche, im Rekurs auf die Faustlegende — einen dämonischen Mythos, der sich mit der Aufklärungsidee, die er propagiert, nicht in Einklang bringen läßt6 — gelingt es ihm, seiner Erzählung noch die Gestalt eines in sich geschlossenen, >harmonischen< Werks zu geben. Zeitblom bezeichnet sich selbst als >Mann des WortesDoktor Faustus< zitierten literarischen Werke ist lang, man hat sie als das »Gerüst einer - wenn auch grobmaschigen - europäischen Literaturgeschichte« bezeichnet.7 Um so mehr fällt auf, daß Klingers und Goethes Bearbeitungen der Teufelspaktlegende unerwähnt bleiben, daß an den Sturm-und-Drang - die Epoche, in der die Faustlegende >moderne< Gestalt gewinnt - nur das Genre erinnert, in dem sich der Roman realisiert. Auf die Entstehungszeit des Faustmythos verweisen hingegen eine ganze Reihe von Elementen; das >Volksbuch< ist ebenso präsent wie Luthers Tischreden und Dürers Kupferstiche. Deutlich ist auch das >romantische< Erbe markiert: nicht nur durch eine Vielzahl von Zitaten aus Werken dieser Epoche, sondern auch durch das ironische Darstellungsprinzip und das behandelte Problem, die vor dem Hintergrund von Deutschlands Untergang in Faschismus und Krieg unerträglich belastete Frage nach dem Zusammenhang von Politik und Kunst bzw. nach der Möglichkeit einer Poetisierung der Politik. Der Roman reflektiert das Problem in der Diskrepanz zweier Aspekte seiner selbst: - des ästhetisch-poetischen, den der Held, der avantgardistische Musiker Leverkühn, verkörpert, — sowie des pragmatisch-politischen, den der Erzähler, der konservative Rhetor und Pädagoge Zeitblom, repräsentiert. 6
7
Goethes Faustdichtung, die als Versuch gelten kann, einen Einklang herzustellen, bleibt im >Doktor FaustusDie Beleuchtung, die auf mich fällt, hat . . . oft gewechselt. Neue Studien zum Werk Thomas Manns, Würzburg 1 9 9 1 , S. 146—188, hier S. 160, 169, 175.)
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Gemeinsamer Nenner ist die Vorstellung des dämonisch-genialen Werks, mit der sich in abendländischer Tradition die Motive des Verführers und wahnsinnigen Musikers verbinden.8 Zeitblom verwendet den Geniebegriff nicht nur bei der Beschreibung von Adrians Kiinstlertum, ihn fasziniert auch der Gedanke einer >dämonisch inspiriertenDurchbruch< und >Erlösung< strebenden Politik (DF, 336, 4 1 of.). Dieses Thema aber ist seiner Natur zuwider. Der Geniebegriff untergräbt die moralische Perspektive, aus der die idealistische Ästhetik die >erhabene< Kunst betrachtet. Er verweist, notiert Zeitblom, auf etwas >ÜbermäßigesHuman-gesunden< und den Regeln des >aptumDoktor Faustusgeheime Identität< von Erzähler und Heldenfigur zu gelten hat. Sie ist zwiespältig angelegt: - Mit ihr verbindet sich die Vorstellung, daß die Kräfte, die die Kunst in die Enge (Adrian in den Wahnsinn) treiben, dieselben sind, die die politische Katastrophe herbeiführen - daß der Prozeß, der mit dem Untergang Deutschlands in Faschismus und Krieg endet, ausgelöst wird durch jene ästhetische Wendung des Aufklärungsdiskurses, die Goethe als >deutsche literarische Revolution« bezeichnet hat (und von der er sich mehr versprochen hat als von der politischen in Frankreich), 10 während Lukács sie als Beginn einer unheilvollen Entwicklung betrachtet, die er als >Zerstörung der Vernunft < bezeichnet. -
Andererseits steht der Avantgardekünstler Leverkühn, dessen Kompositionen und musiktheoretische Konzepte mit der klassisch-romantischen Tradition brechen, zugleich aber den Wahrheitsanspruch der Kunst verteidigen, dem idealistischen Konzept näher als der Rhetor Zeitblom, der sich auf humanistische Werte beruft, Adrians Insistieren auf Wahrheit aber als Teufelswerk diffamiert: dessen Rede deutlicher Spuren faschistischen Denkens aufweist als das Werk Adrians, dem er diese unterstellt. 11 8
9
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Im 19. Jahrhundert nehmen sich vor allem E. T. A. Hoffmann, Kierkegaard und Nietzsche dieses Themas an. Auf Kierkegaards >Don Giovanni «-Deutung wird im >Doktor Faustus; an zentraler Stelle, zu Beginn der Teufelspaktszene, hingewiesen (DF, 297). (Vgl. das Kapitel >Die unmittelbaren erotischen Stadien oder Das MusikalischErrotische« in: Sören Kierkegaard, Entweder - Oder, München 1 9 7 5 , S. 5 7 - 1 6 3 . ) Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, in ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 1 1 , Oldenburg i960, S. 1 4 5 - 3 0 1 ; zitiert im fortlaufenden Text mit der Sigle >EDF< und nachfolgender Seitenzahl. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in ders: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 9, München (7., Überarb. Aufl.) 1974, S. 490. Das »Fatale und im Wortsinne Abstrakte, das Abgeschnittene« seines Standpunktes
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Thomas Mann hat den >Doktor Faustus< mehrfach als >Roman seiner EpocheZeitroman< sich als Chronik »eines hoch-prekären und sündigen Künstlerlebens« (EDF, 169) gestaltet. Das erklärt sich aus den soeben beschriebenen Zusammenhängen wie auch aus der autoreflexiven Erzählform des Romans: Erzählung und Erzähltes erscheinen als Seiten derselben Medaille. Die erzählte Geschichte veranschaulicht die >inneren< Spannungszustände, die sich in dem Kriegsgeschehen entladen, vor dessen Hintergrund sich der Schreibprozeß vollzieht. In >Ahnung und Gegenwart < wird das romantische Kunstkonzept (Weltpoetisierungsprojekt, transzententalphilosophischer Ansatz, Ironiebegriff) bereits unter politischem Aspekt beleuchtet. Eichendorffs Roman will ein >getreues Bild< seiner Zeit - der Jahre der napoleonischen Fremdherrschaft - geben, und zwar nicht durch Schilderung >äußerer< Umstände und Abläufe (der bekannten historischen Ereignisse), sondern durch Veranschaulichung der psychischen Anspannung, der, wie es heißt, >GewitterschwüleGemüter< vor Beginn des Befreiungskampfes bedrückt. Der Rekurs ist jedoch nur in gebrochener Form möglich: Der korrupten, sich mit der Fremdherrschaft arrangierenden >Gegenwart< halten Eichendorffs poetisch und politisch ambitionierte Helden die >Ahnung< eines sich besinnenden (zu sich kommenden) Deutschland entgegen, das das untergegangene Reich und zusammen mit diesem die gestörte Ordnung der Natur wiederherstellt. Dieses nationalistische Konzept wird im >Doktor Faustus< widerrufen. In der >GegenwartDoktor Faustus< schärfster Kritik. Damit aber verklagt der Roman die Tradition, der er entwächst. Wie Esmeralda - und das von Leverkühn vertonte Blake-Gedicht >The Sick Rose< warnt er vor einem Gift, das er birgt. Die ästhetische Untergrabung der pragmatischen Vernunft, die Mythisierung des politischen Kalküls, die die Katastrophe - die ästhetische ebenso wie die politische — herbeifuhrt, setzt sich in ihm fort. Nur scheinbar bewältigt die Erzählung das Erzählte. Sie ist bestimmt durch das, wovon sie berichtet: durch die Kräfte, die das Desaster herbeiführen. zeigt sich, schreibt Manfred Frank, beispielhaft darin, daß es ihm möglich ist, »die >heilige Not< bei der Entwicklung der >Wunderwaffe des Führers< mitzuempfinden«, ohne zu bedenken, welchen Zwecken diese Entwicklung dient - ohne zu bemerken, daß er den Greueln, die er verklagt, das Wort redet.(Vgl. Manfred Frank: »Kaum das Urthema wechselnd«. Die alte und die neue Mythologie im >Doktor FaustusModerne< in den Gliedern. Das erörterte Thema, die Wirklichkeit moderner Kunst, wendet sich gegen den Versuch seiner Behandlung in der Form der kohärenten Erzählung. Leverkühns Kompositionen künden, indem sie das Zerbrechen des »schönen Scheins< (den das klassische Werk verbreitet) gestalten, vom Verlust des Glaubens an eine harmonische Welt, an die Begreifbarkeit der Dinge und die Möglichkeit ihrer adäquaten Beschreibung. Sie legen Zeugnis ab von einer disparaten Wirklichkeit, die sich >angemessen< nurmehr in unangemessener Form darstellen läßt. Adrian selbst beschreibt das Problem so: An einem Werk ist viel Schein, man möchte weitergehen und sagen, daß es scheinhaft ist in sich selbst, als >WerkMalte< dargestellte Dilemma moderner Kunst hat sich zugespitzt: Die tradierten Ausdrucksformen erscheinen nicht nur verschlissen, hohl und abgeschmackt. Die Bedeutung der Begriffe der >Originalität< und Spontaneität, der >Natur< und >LiebeLügeKunst< und >GefuhlskälteDoktor FaustuslitteraeKater MurrDoktor Faustus< zu Rate zieht (EDF, 159). Er reflektiert das Dilemma im Bild des >zerrissenen Buchs< und gestaltet sich entsprechend. Diesem Kunstgriff korreliert im >Doktor Faustus< die Demontage der Erzählerfigur: der Aufbau einer Erzählperspektive, die den Verdacht nährt, der Erzähler erzähle die Geschichte nicht aus redlichen Gründen, wie er vorgibt, sondern um Rache zu nehmen an einem überheblichen Freund, der ihn ein Leben lang verspottet hat: um das Werk dieses Freundes in ein Licht zu rücken, das es diskreditiert: um es mit der barbarischen Wirklichkeit zu identifizieren, gegen die es sich wendet. In der Tat begründet sich die Erzählung mit einer haarsträubenden Fehldeutung: damit nämlich, daß der Erzähler fur bare Münze nimmt, was deutlich als Falschgeld ausgewiesen ist: daß er sich sträubt, die ironische Machart einer kunsttheoretischen Abhandlung Leverkühns anzuerkennen, die unter dem Eindruck des Don Giovanni-Kapitels in Kierkegaards >Entweder - oder< entstanden ist. Adrian denkt in dieser Schrift über die schwierige Situation der »modernem Kunst nach und gibt ihr — entsprechend seiner »verfluchten Neigung, die Dinge im Lichte ihrer eigenen Parodie zu sehen« (DF, 182) (von der zuvor der in Lutherdeutsch abgefaßte Brief über das Bordellerlebnis zeugt) - die Gestalt eines Teufelsgesprächs. Dabei springen die Ironiesignale ins Auge. In markantem Adorno-Jargon doziert der Teufel: Die Subsumtion des Ausdrucks unters versöhnlich Allgemeine ist das innerste Prinzip des musikalischen Scheins. Es ist aus damit. Der Anspruch, das Allgemeine als im Besonderen harmonisch enthalten zu denken, dementiert sich selbst. Es ist geschehen um die vorweg und verpflichtend geltenden Konventionen, die die Freiheit des Spiels gewährleisteten. (DF, 322).
Doch erfolgt die Belehrung nicht, um das beschriebene Dilemma im Sinne von Adornos »negativer Dialektik< aufzulösen, sondern im Sinne der nietzscheschen 279
Ästhetik (die dem Wahrheitspathos und Moralismus Adornos spottet) — und um sich von deren rhetorischem Schwung anstecken zu lassen: Lohnt es zu fragen, ob ich wirklich bin? Ist wirklich nicht, was wirkt, und Wahrheit nicht Erlebnis und Gefühl? Was dich erhöht, was dein Gefühl von Kraft und Macht und Herrschaft vermehrt, zum Teufel, das ist die Wahrheit, — und wäre es unterm tugendlichen Winkel gesehen zehnmal eine Lüge. Das will ich meinen, daß eine Unwahrheit von kraftsteigernder Beschaffenheit es aufnimmt mit jeder unersprießlich tugendhaften Wahrheit. Und ich wills meinen, daß schöpferische, Genie spendende Krankheit, Krankheit, die hoch zu Roß die Hindernisse nimmt, in kühnem Rausch von Fels zu Felsen sprengt, tausendmal dem Leben lieber ist als die zu Fuß latschende Gesundheit. [ . . . ] Das Leben ist nicht heikel, und von Moral weiß es einen Dreck. (DF, 323)
Man mag diesen Widerspruch auf einen Konzeptionsbruch der Erzählung während ihrer Niederschrift zurückfuhren, auf eine sich unter dem Einfluß Adornos vollziehende Abkehr vom ursprünglichen Plan, einen Nietzsche-Roman zu schreiben. 12 Die widersprüchlichen Positionen, die der Roman aufeinander bezieht, treten in dieser personalisierten Form markant hervor. Doch entwickelt der Roman keine historische Perspektive, in der sich das ironische Konstrukt auflöst. Was er zu denken aufgibt, ist vielmehr die Gleichzeitigkeit, die >geheime Identität^ der entgegengesetzten Standpunkte: des durch Nietzsche vertretenen rhetorischen, der sich aus der Herauslösung des romantischen Ironiekonzepts aus dem Horizont der idealistischen Ästhetik und ihres Wahrheitsanspruchs ergibt, sowie des durch Adorno repräsentierten philosophischen, der sich aus der Behauptung der Wahrheitsposition trotz Einsicht in die Unmöglichkeit ihrer positiven Bestimmung ergibt und eine schroffe Ablehnung der Ironie impliziert.
2. Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. (Fr. Hölderlin1*)
Auf Adrians Schreibtisch liegt Kleists Schrift »Über das Marionettentheater (DF, 406 u. 4 1 of.). Ihr zufolge läßt sich der ästhetische Idealzustand der Anmut 12
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Karol Sauerland: »Er wußte noch mehr ...«. Zum Konzeptionsbruch in Thomas Manns Doktor Faustus unter dem Einfluß Adornos, in: Orbis Litterarum 34, 1979, S. 1 3 0 - 1 4 5 ; und Rolf Tiedemann: »Mitdichtende Einfühlung«. Adornos Beiträge zum >Doktor Faustus< - noch einmal, in: Frankfurter Adorno-Blätter 1 , 1992. S. 9 - 3 3 . Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hg. von Friedrich Beissner. Bd. 3, Stuttgart 1 9 6 5 , S. 166.
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(in dem >Geist< und >Körper< eine perfekte Einheit bilden) nicht durch Nachahmung der >NaturSchönen< der moralischen Dimension, als deren sinnlichen Ausdruck die klassische Ästhetik dieses Erlebnis begreift. Anmut besitzen nach Kleist nur die geistlose Materie (Puppe/Tier) und das »unendliche Bewußtsein< (Gott). Im menschlichen Bereich zwischen diesen Extremen erscheint sie nur als Fata Morgana eines utopischen Orts, wo der Bewußtsein schaffende, sich in Sprache und Schrift manifestierende Riß durch die Welt nicht klafft. Sie bedeutet dem Menschen ein verlockendes Ziel; um es zu erreichen, muß dieser aber die ihm gesteckten Grenzen >durchbrechenschönen Seele« als Marionette. Der (von Rousseau gewiesene) Weg >zurück zur Natur< ist verschlossen, so bleibt nur, den Gang um die Welt anzutreten, sich nicht auf das Ziel zu-, sondern von ihm wegzubewegen in der Hoffnung, von >hinten< Einlaß zu finden. Diese Möglichkeit wird in der abendländischen Tradition seit je in Betracht gezogen: Im »Marionettentheater«-Aufsatz erneuert sich die rhetorische Devise, die zerstörte Natur durch Perfektionierung bzw. Totalisierung der Kunst zurückzugewinnen - auch wenn auf der ersten Hälfte dieses Wegs der Abstand zur Natur wächst, wenn sich die Bande zwischen den Worten (verba) und ihren Bedeutungen (res) zunächst lockern und sich die Inhalte (der Gegenstand moralischer Reflexion) verlieren. Dieses Konzept hat der Rhetorik bekanntlich die Feindschaft der Philosophie eingetragen. Auch Kleist weiß um das Risiko. Entsprechend ist der Aufsatz angelegt; es bleibt offen, ob der Mensch auf dem vorgeschlagenen Weg tatsächlich in die göttliche Dimension vorstößt, wie er hofft, oder aber auf die Stufe des Tieres zurückfällt. 14 Kleists Text, der Adrian zur Komposition einer »dramatischen Suite fur Gliederpuppen« anregt (DF, 406t.), reflektiert das Dilemma des modernen Menschen. Sprache und Kunst, die Mittel der Aufklärung, haben sich, so scheint es, gegen sich selbst gewandt und betreiben die Auflösung des (humanen) Sinnes, den herzustellen stets als ihre wichtigste Aufgabe betrachtet wurde. Der Sinn stürzt ab in eine »Lücke«, die sie selbst reißen. Dieser Einsicht muß Adrian sich stellen. Grundlage seines Schaffens ist das Wissen, daß es kein »Zurück zur Natur« gibt, daß die Kunst »lügt«, wenn sie 14
Vgl. Benno von Wiese: Das verlorene und wiederzufindende Paradies. Eine Studie über den Begriff der Anmut bei Goethe, Kleist und Schiller, in: Helmut Sembdner (Hg.), Kleists Aufsatz über das Marionettentheater, Berlin 1967.
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sich naiv stellt. Um ihrem Wahrheitsanspruch zu genügen, muß sie den Erkenntnis· bzw. Reflexionsprozeß, den sie initiiert, vorantreiben — muß sie »hindurch« durch einen Ort, an dem aller Sinn sich zersetzt und der Mensch diesen geistigen Bankrott mit unbändigem Lachen quittiert. Damit korrespondiert Adrians hervorstechende Charaktereigenschaft: sein »Sinn für das Komische«, seine Zarathustra abgeschaute »Neigung zum Lachen, ja zum Tränenlachen« (DF, 1 1 5 ) . 1 5 Der Weg, auf dem Adrian das Kleistsche Programm zunächst durchzusetzen sucht, ist denn auch der der musikalischen Groteske. Von seinen frühen Werken heißt es, sie hätten »etwas von hoch-spielerischer Preziosität«; Wagners »NaturDämonie< werde überholt durch den Hang zum Manierierten, Spöttischen und Parodistischen. Auf dem Höhepunkt dieser Schaffensphase entsteht eine Vertonung der Shakespeare-Komödie >Love's Labours LostManierSpiel mit Formen, aus denen [ . . . ] das Leben geschwunden ist< als >trübseligen< Ausdruck eines »aristokratischen Nihilismus« (DF, 322). Um weiter zu kommen, um den >Durchbruch< zu schaffen, muß das ironische Spiel über sich hinausgetrieben werden - muß ein Punkt erreicht werden, an dem die Negation in Position umschlägt: an dem die (subjektiv bestimmten) »Inhalte« verblassen und das sie ermöglichende Schema, das der subjektiven Äußerung zugrunde liegende »grammatische Gesetz« hervortritt. Nicht zufällig besteht Adrians Werk vor allem aus Liedern, Opern und Kantaten - Kompositionen, die sich auf Texte beziehen und so der sprachlichen Dimension verhaftet bleiben. Adrian betrachtet die Musik als »Laut-werden« einer sprachlichen Grundspannung. Deshalb scheint ihm im musikalischen Medium möglich, was sich der Dichtung verbietet: nämlich eine Figur des »reinen Widerspruchs« zu schaffen, in dem, wie Adorno formuliert, »die Sprache selbst laut wird« 1 6 - das Bewußtsein schaffende Prinzip: die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem, von Kunst und Natur. Davon zeugen nicht nur die beiden in der zweiten Schaffensphase entstehenden Hauptwerke Adrians, »Apocalipsis cum figuris« und »Dr. Fausti Weheklag«, sondern auch das in ihnen zur Anwendung kommende Kompositionsprinzip des »strengen Satzes«, als dessen Schöpfer Adrian vorgestellt wird. Der
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Vgl. Mark W. Roche: Laughter and Truth in »Doktor Faustus«. Nietzschean Structures in Mann's Novel of Self-cancellations, in: DVjs 60, 1986, S. 3 0 9 - 3 3 2 . Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft, in ders.: Noten zur Literatur I, Frankfurt/M 1958, S. 7 3 - 1 0 4 , hier S. 85.
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>strenge Satz< entläßt die einzelnen Töne aus ihrer harmonischen Bindung und unterwirft sie statt dessen einem mathematisch technischen Kalkül. Er verlagert den Ort des musikalischen Erlebnisses - entsprechend dem Liebesverbot der Teufelspaktszene — von der Ebene der subjektiven Empfindung auf die des rationalen Denkens. Auf das realgeschichtliche Vorbild der Schönbergschen >Zwölfton- bzw. Reihentechnik< wird am Ende des Romans ausdrücklich hingewiesen (DF, 677). Wichtiger aber als der Gegenstand selbst, ist die Brille, durch die Thomas Mann ihn betrachtet: die negative Kritik, der Schönbergs Reihentechnik in Adornos >Philosophie der neuen Musik< unterliegt. Diese wird hier als Allegorie des technischen Zeitalters< und Signatur der totalitären Epoche ihres Entstehens betrachtet. 17 Wörtlich heißt es: Die totale Rationalität der Musik ist ihre totale Organisation. Durch Organisation will die befreite Musik das verlorene Ganze, die verlorene Macht und Verbindlichkeit Beethovens [- des klassischen Werks] wiederherstellen. Das gelingt ihr bloß um den Preis ihrer Freiheit, und damit mißlingt es. Beethoven hat den Sinn von Tonalität aus subjektiver Freiheit reproduziert. Die neue Ordnung der Zwölftontechnik löscht virtuell das Subjekt aus. 18
Entsprechend gestaltet sich das Oratorium >Apocalipsis cum figurisstrengen Satz< zu realisieren sucht. Die von Adorno beklagte antihumane Tendenz zeigt sich in >entsetzlichen Posaunen- und Paukenglissandis in deren Dröhnen die >menschliche Stimme< untergeht, sowie in einer >seltsamen Klangvertauschung< zwischen Vokal- und Instrumentalpart, die bewirkt, daß Chor und Orchester »nicht mehr als das Menschliche und das Dingliche gegenübergestellt]«, sondern ineinander aufgelöst erscheinen. Der Chor, heißt es, [ . . . ] ist instrumentalisiert, das Orchester vokalisiert - in dem Grade und zu dem Ende, daß tatsächlich die Grenze zwischen Mensch und Ding verrückt erscheint [...]. (DF, 498)
Der musikalisch inszenierten Auflösung der >menschlichen Stimme< entspricht im vertonten biblischen Text das Motiv des >Verschlingens des Buches< (DF, 475). Die im >MarionettentheaterDurchbruch< in die göttliche Dimension gelingt, oder aber ein Rückfall auf die Stufe des Tieres erfolgt, wird hier scheinbar negativ beantwortet. Im atonalen Gefiige von A p o calipsis cum figuris< findet sich die >reichste Vokalmusik durchsetzt mit archaischen Klängen, die Zeitblom veranlassen, das Werk als »spätkulturelle [...] Erneuerung kultischer Musik aus profaner Zeit« zu deuten, und angesichts der 17
18
Vgl. das Kapitel >Schönberg und der Fortschritt in Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/M 1958, S. 3 4 - 1 2 0 . Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, a.a.O., S. ö j f .
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ihm der Vorwurf des musikalischen Regresses in einen >vorkulturellen< Zustand barbarischer Rituale (DF, 4 9 5 ) berechtigt erscheint. Der W e g aus der Erkenntniskrise, den Adrians Komposition weist, ist in der Tat ein >TeufelswegVölkischen Beobachters kulturellen ZerfallHohe, Ernste, Fromme, Geistige< in Adrians W e r k durch dissonante K l ä n g e repräsentiert ist, steht das >Harmonische und Tonale< f ü r die »Welt der Hölle, [
-
] der Banalität und des Gemeinplatzes« (DF, 498).
Das den ersten Teil abschließende >Höllengelächter< entsteht aus einer Variation desselben Tonmaterials, das bei der Darstellung des entgegengesetzten >Sphären- und Engelsgetön< verwendet wird.
D i e Paradoxien erscheinen i m Lichte des zitierten apokalyptischen Textes als R e f l e x einer taumelnden Sprachbewegung, der die >Wahrheitriesenhaftes Lamento< beschriebene Kantate >Dr. Fausti W e h e k l a g s bleibt unvollendet. Doch soll der ersehnte >Durchbruch< hier gelingen. Angeblich wird ein Punkt erreicht, wo >kalkulatorische Kälte< (>strengste Gebundenheit) in >expressiven Seelenlaut< (die >freie Sprache des Subjektsreines Pathos der Klage< hervortritt (DF, 6 4 3 ^ . Z e i t b l o m bezeichnet den Ton, das >hohe g eines Cellosrein< in Erscheinung treten zu lassen. In der weiteren Beschreibung der Kantate wird dazu ausgeführt: In einem gewissen, gröberen und tonmateriellen Sinn ist die Arbeit ja abgetan, ehe die Komposition nur anhebt, und diese kann sich nun völlig ungebunden ergehen, das heißt: sich dem Ausdruck überlassen, als weichet jenseits des Konstruktiven, oder innerhalb ihrer vollkommensten Strenge, wiedergewonnen ist. Der Schöpfet von Fausti Wehklage kann sich, in dem vororganisierten Material, hemmungslos, unbekümmert um die schon vorgegebene Konstruktion, der Subjektivität überlassen, und so ist dieses sein strengstes Werk, ein Werk äußerster Kalkulation, zugleich rein expressiv. (DF, 64) Entsprechend argumentiert Adorno im Schlußteil des Schönberg-Kapitels der >Philosophie der neuen MusikWeheklag< im Sinne von Adornos Theorie und des ihr zugrunde liegenden Reflexionsschemas, der >negativen DialektikKryptogramm< einer Wahrheit zu interpretieren, die positiv zu bezeichnen unmöglich geworden ist: Das Leiden an der Dissonanz (an der verweigerten Harmonie) verstünde sich als Anteilnahme an den Qualen der Entfremdung -
d . h . , als direkter Reflex einer sub-
jektiven Substanz des Menschen, die moralisch verfaßt ist, die Einsicht gewährt 20
21
Erhard Bahr: »Identität des Nichtidentischen«. - Zur Dialektik der Kunst in Thomas Manns >Doktor Faustus< im Lichte von Theodor W. Adornos »Ästhetischer Theor i e s in: Thomas Mann Jahrbuch 2, 1 9 8 9 , S. 1 0 2 - 1 2 0 ; Bernhard Schubert: Das Ende der bürgerlichen Vernunft? Z u Thomas Manns >Doktor FaustusNatur< durch gesteigerte Künstlichkeit wiederzugewinnen) im Lichte des »religiösen Paradoxons«, daß in »tiefster Heillosigkeit< der Keim der Hoffnung stecke - d. h., durch semantische Aufladung sinnleerer Schemata in einem Prozeß der tropischen Substitution. Ahnlich verfahren Interpreten, die den »reinen Ton LW, 5of. Vgl. Metamorph. XV, 87 iff. 15 Volker Hage: Mein Name sei Ovid. Anmerkungen zu Christoph Ransmayrs »Die letzte WeltDie letzte Welt< geltend zu machen: » [...] dieses Buch ist alles andere denn ein Künstlerroman und schon gar kein Künstlerroman mit historisierendem Dressing.« 16 ) Aber Hages Verlustanzeige gilt nicht nur dem Dichter. Als >verlorengegangen< gelten in der >letzten Welt< auch die >Metamorphosenovidische RepertoireMetamorphosen< und den >Epistulae ex PontoMetamorphosen< wie der >Letzten Weltletzteeiserne WeltMetamorphosen< stellen ihrerseits Varianten älterer Erzählungen dar. Der Anfang des narrativen Traditionsprozesses, an den Ransmayr anknüpft, ist unausmachbar; er verliert sich in v o r geschichtlichen Zeit. Der Roman bringt sich selbst - wie das Werk, das er zitiert - als Teil eines umfassenden >Verwandlungsprozesses< in den Blick (mit, wie Thomas Anz formuliert, »semiotische[n], mythologische[n], apokalypti16
17 18
Wendlin Schmidt-Dengler: »Keinem bleibt seine Gestalt.« Christoph Ransmayrs Roman >Die letzte Weltseine Gestalt behält< (»nulli sua forma manebat« 20 ). Der Verlust des historischen Horizonts - die Austauschbarkeit von Anfang und Ende, von Fort- und Rückschritt — ist denn auch charakteristisches Merkmal der erzählten Geschichte. Ins Auge fallen die Anachronismen. Am Ort der Handlung, im Tomi des zweiten nachchristlichen Jahrzehnts verkehren Busse und surren Filmprojektoren, in den römischen Villen kontrollieren Lichtschranken den Zutritt. D.h., >letzte Welt< ist die beschriebene auch im chronologischen Sinne: Sie bedeutet die Welt der Wissenschaft und Technik, die glaubt, sich ihres mythischen Wurzelbodens enthoben zu haben. Als ihr Zentrum erscheint Rom, begriffen als der Ort, wo diese >moderne< Welt pragmatischer Vernunft und des Glaubens an die Logik und Gültigkeit erschlossener und beschlossener Gesetze entstanden ist. Befremdlicher noch als die anachronistischen Elemente wirken Anzeichen, die auf eine Reversion des zeitlichen Bewegungsablaufs deuten. Die in den >Metamorphosen< als urzeitliches Ereignis — als Beginn der sich im augusteischen Reich vollendenden Geschichte - vorgestellte Sintflut erscheint in Echos Version als apokalyptische Vision: als prophetisches Bild ihres Endes. Die e i serne Stadt< rostet vor sich hin. Tomi, das >Kaff< am Rand der zivilisierten Welt, ist in Auflösung begriffen. Die Uhren laufen rückwärts; Anfang und Ende haben ihre Positionen vertauscht. Der Rückverwandlung des der Natur abgerungenen Kulturraums in Wildnis entspricht eine regressive technologische Entwicklung. Bezeichnenderweise ist sie auf dem Gebiet der Illusionsbzw. >Ubertragungstechnik< zu beobachten. Der >mattschimmernde Projekt o r - die »Maschine, in die Cyparis ganze Schicksale einspannen und sie dann surrend in die bewegte Welt überführen« kann (LW, 24), mit der er schöne Bilder auf die Schlachthauswand projiziert und so die blutige Wirklichkeit in ein verklärendes Licht taucht - verschwindet spurlos und wird ersetzt durch ein Episkop, das als »Wunderwerk« menschlicher Erfxndungskunst gepriesen wird, [ . . . ] dessen Bilder sich zwar nicht bewegten wie jene des Filmvorführers, das dafür aber noch die wertlosesten Dinge des Lebens heraushob und zu einer solchen Schönheit verklärte, daß sie kostbar und einzigartig wurden. Betrachtete man die Spiegelungen an der Wand nur lange genug, glaubte man, das innere Leben der Dinge wahrzunehmen, ein Flackern, ein Pulsieren und Flirren, gegen das die Bewegtheit der äußeren Welt plump und nichtssagend erschien. (LW, 209)
An die Stelle der beweglichen Bilder treten statische. Der >illusionstechnische< Rückschritt bewirkt eine Verlangsamung der Bilderfolge, die erkennen läßt, 19
20
Thomas Anz: Spiel mit der Überlieferung. Aspekte der Postmoderne in Ransmayrs Die letzte Welt, in: Uwe Wittstock (Hg.), Die Erfindung der Welt, a.a.O., S. 1 2 0 1 3 2 , hier S. 1 3 0 . Metamorph. I, 1 7 (Ovid: Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, a.a.O., S. 6).
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daß das, was uns die Wirklichkeit bedeutet, die Vorstellung kontinuierlicher Handlungsabläufe und Lebenszusammenhänge, Effekt eines beschleunigten Bildertauschs ist, der unserer Wahrnehmung entgeht (sich also der Wirkung verdankt, die die >evidente< Rede erzeugt). So wundert es nicht, daß der Prozeß der Verlangsamung, des Anhaltens und der Umkehr des zeitlichen Ablaufs nicht auf die Ebene der projizierten Bilder beschränkt bleibt, sondern auf die Wirklichkeit des Projektionsraumes übergreift, d. h. auch Battus, den das Episkop bedienenden und (wie der Veitstänzer im >MalteBann der Projektionen bezeichnet. Wörtlich heißt es: [ . . . ] der Fallsüchtige [sah] die Dinge der Welt an der Wand erscheinen und wieder verschwinden und schien seinem unstillbaren Bedürfnis nach immer neuen körperlosen Bildern aus Licht ebenso ausgeliefert zu sein wie jener ungeheuren Kraft, die manchmal an ihm riß, ihn schüttelte, zu Boden warf und schaumigen Speichel aus seinem Mund treten ließ. (LW, 2 1 3 )
Mit der Versteinerung aber, der Umkehr des Pygmalion-Mythos, ist es nicht getan: Der mimetische Prozeß kommt mit der Rückverwandlung der durch den Menschen geschaffenen Kunstwelt in Natur nicht zum Abschluß. Die Natur setzt ihn vielmehr fort. Die >Bildersucht< ist ihr immanent — davon weiß schon der >die Elemente spekulierende< alte Leverkühn zu berichten. Das letzte Stadium im Verfallsprozeß Tomis (als dessen Repräsentanten der von Alpträumen heimgesuchte deutsche Söldner Thys und Philomela, die von ihrem Schwager geschändete und verstümmelte Schwester Procnes erscheinen) ist entsprechend beschrieben: Unter den Umarmungen der Zweige war schließlich nicht mehr zu erkennen, ob ein Wetterhahn oder eine Giebelfigur noch an ihrem Platz stand oder längst zerfallen war. Das wuchernde Grün ahmte die Formen, die es umfing, anfänglich spielerisch und wie zum Spott nach, wuchs dann aber nur noch seinen eigenen Gesetzen von Form und Schönheit gehorchend weiter und unnachgiebig über alle Zeichen menschlicher Kunstfertigkeit hinweg. (LW, 2 7 1 ) Bücher verschimmelten, verbrannten, zerfielen zu Asche und Staub; Steinmale kippten als formloser Schutt in die Halden zurück, und selbst in Basalt gemeißelte Zeichen verschwanden unter der Geduld von Schnecken. Die Erfindung der Wirklichkeit bedurfte keiner Aufzeichnungen mehr. (LW, 287)
Alles geschieht, heißt es, wie es »auf den Fetzen und Wimpeln von Trachila geschrieben stand« (LW, 284). Die Wirklichkeit stellt sich als poetisches Erzeugnis heraus, als Erfindung einer Schrift, deren Sinn unausmachbar ist, die den Stein, dem sie sich einschreibt, sprengt, die nichts ist als Zeichen eines umfassenden >VerwandlungsprozessesMetamorphosen< bringen mit dem Grund von Sprache und Dichtung - dem metaphorischen Tausch - zugleich den der Bewußtseinsbildung zur Darstellung und eröffnen damit eine Perspektive, in der sich der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit verliert, in der dieser Unterschied selbst fiktiv erscheint. Deshalb ist mit der Fertigstellung der >Metamorphosen< »jede Geschichte bis an ihr Ende erzählt [...]« (LW, 287) - also nicht nur die poetisch erzeugten Geschichten, sondern alle denkbaren: einschließlich derer, die wir als >historisch real< bezeichnen. Mit seinem Werk, dessen Zentralfigur kein Held ist, sondern der Wechsel, dem alles unterworfen ist, dessen Helden alle >untergehenanders< werden, hat Ovid das Bild einer >von den Menschen und ihren Ordnungen befreiten Welt< geschaffen, und ist schließlich selbst in dieses menschenleere Bild eingegangen (LW, 287). Mit der Eindeutigkeit der zeitlichen Bewegungsrichtung, der Vorstellung des zeitlichen Wandels als reversibler metaphorischer Prozeß, verliert sich der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion: »Was nun geschah, war nur Erfüllung dessen, was längst f . . . ] geschrieben stand.« Dieser bereits zitierten Aussage, mit der die Erzählung zum Schluß kommt, entspricht eine Formulierung des zweiten Kapitels, das von den Filmvorführungen des Cyparis vor der Schlachthauswand handelt. »Von nun an geschah alles, wie es geträumt war, nur in dunkleren, leuchtenderen Farben.« (LW, 33). Sie bezieht sich auf das dramatische Ende des Films, der an diesem Abend gezeigt wird. In ihm realisiert sich die schreckliche Vision der Alcyone vom Schiffbruch und Tod ihres Mannes Ceyx, die sich einstellt, als er sie verläßt. Deshalb gestaltet sich dieses Ende über weite Strecken als Wiederholung von Bildern der Abschiedsszene, mit der der Film beginnt. Danach kommt nurmehr Ceyx' Leichnam ins Bild; mit >zerhacktem Gesicht< und >zerrissenen Wangen< (LW, 39) wird er ans heimatliche Ufer gespült. Proserpina, eine der Zuschauerinnen, schreit angesichts dieses grausamen Bildes auP 1 - und, so heißt es schließlich, [a]ls ob Proserpinas Entsetzensgeschrei sie aufgeschreckt hätte, hob Alcyone, die wie an allen Tagen am Strand saß, den Kopf und sah den Toten nun auch. (LW, 38) 21
Alle Filme, die auf Cyparis' Programm stehen, enden ähnlich katastrophal: mit der Verstümmelung Hectors vor der Kulisse des zerstörten Troja, mit dem grausamen Ende des Herkules, der sich selbst das Fleisch von den Knochen reißen muß, weil das vergiftete Hemd, das er angelegt hat, sogleich mit seiner Haut verwachsen ist, sowie mit dem >Martertod< des Dichters Orpheus, der von den Mänaden gesteinigt, gehäutet und zerstückelt wird. Aber der letzte Film muß vorzeitig abgebrochen werden. Er wird am Karfreitag gezeigt; ein byzantinischer Missionar erzwingt deshalb durch Glockengeläut ein Ende des heidnischen Treibens.
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Die Differenz zwischen den verschiedenen Realitäts- bzw. Fiktionsebenen des Geschehens >auf< und >vor< der Leinwand bzw. dem >Vorhangs die schon Thema der >Lehrjahre< ist, bricht im Moment des Schreckens zusammen. Deutlich wird so die vernichtende Wirklichkeit der Schrift, der >MetamorphosenMalte Laurids BriggeTod des VergilDoktor Faustuss in: DVjs 49, 1975, S. 695—720. 332
Foucault, Michel: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen übersetzt von Karin von Hofer, München 1974. Frank, Manfred: »Kaum das Urthema wechselnd«. Die alte und die neue Mythologie im >Doktor Faustus«, in: Fugen 1980, S. 9 - 4 2 . Fülleborn, Ulrich: >VeränderungMalte< und Kafkas >SchloßWerther< - >Hyperion< - >Malte Laurids BriggeDer grüne Heinrichs Bonn 1969. Lehnert, Herbert, Peter C. Pfeiffer (Hg.): Thomas Mann's »Doctor Faustus