Einmal Couch und zurück: Eine Reise in die Welt der Psychiater [1 ed.] 9783896447111, 9783896732521

Das Büchlein spricht alle an, die etwas über die »Heiler der Seele« erfahren möchten, wobei historische Wurzeln, die Abg

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German Pages 92 [95] Year 2005

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Einmal Couch und zurück: Eine Reise in die Welt der Psychiater [1 ed.]
 9783896447111, 9783896732521

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Jürgen Wettig

Einmal Couch und zurück Eine Reise in die Welt der Psychiater

Verlag Wissenschaft & Praxis

Jürgen Wettig

Einmal Couch und zurück Eine Reise in die Welt der Psychiater

Verlag Wissenschaft & Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Illustriert von Ulrich Neumann

ISBN 3-89673-252-8

©

Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2005 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany

Vorwort Jeder, der seinen Beruf nicht nur aus pekuniärer Motivation heraus ausübt, stellt sich hin und wieder die Frage nach dem Nutzen seiner Tätigkeit. Was kann man überhaupt mit den zur Verfügung stehenden Mitteln erreichen? Wie korrespondiert berufliches Engagement mit privater Zufriedenheit? Ohne dauerhafte selbstkritische Überprüfung degradiert sich der Arzt zum Arztdarsteller. Der Psychiater als „Heiler der Seele“ fischt trotz aller Fortschritte auch heute noch in trüben Gewässern. Seine therapeutischen Bemühungen zielen letztlich auf eine rätselhafte, aufregende und mystische weiche Masse mit einem Gewicht von ca. 1200 Gramm und einem Volumen von 600 Kubikzentimetern. Die Beschäftigung mit diesem blassgrauen Gewebeklumpen, furchig wie eine Walnuss, verletzlich wie eine reife Avocado, impliziert nach einer gewonnenen Erkenntnis gleich wieder eine Vielzahl neuer Fragen. Unterscheidet sich doch der Mensch von den anderen Tieren durch das Großhirn, das ihm bis ins hohe Alter zu geistigen Höchstleistungen verhilft. Mehr als 10 000 unterschiedliche Eiweißstoffe, gleichsam als molekulare Bausteine der Gedanken und Gefühle, sind in jeder einzelnen Hirnzelle aktiv. Eine Hirnzelle steht mit mindestens 20 000 weiteren Nervenzellen in direktem Kontakt. Dies ist so, als würden 20 000 Einwohner einer Stadt zugleich miteinander sprechen und sich dabei auch noch präzise verstehen. Jede Wahrnehmung ruft normalerweise in den ca. 100 Milliarden Nervenzellen des Gehirns eine plötzliche Ordnung hervor, die die Voraussetzung für dynamische Informationsverarbeitung und Handlungsplanung darstellt. Bei den meisten psychiatrischen Erkrankungen ist die Signalübertragung und Informationsverarbeitung im Gehirn gestört. Die Meinungen über Krankheitsmodelle und Therapiekonzepte gehen in der Klinik bei den unterschiedlichen Berufsgruppen, die direkt oder indirekt mit psychiatrischen Patienten befasst sind, häufig auseinander. Dann

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VORWORT

obliegt es dem Psychiater zu integrieren, das Team zu leiten und den Patienten am individuellen Ort seiner Krankengeschichte abzuholen. Mein Zahnarzt äußerte kürzlich pauschal die Ansicht, man könne psychisch Kranken doch nicht nachhaltig helfen. Eine Patientin war dagegen davon überzeugt, ich könne als Psychiater ihre Gedanken lesen und dadurch diese ins Positive umkehren. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo in der Mitte. Der empathische Psychiater ist in der Lage, zwischen den Zeilen zu lesen und bei seinem Gegenüber verborgene Affekte wahrzunehmen, die diesem möglicherweise gar nicht bewusst sind. Die Heilungsaussichten psychischer Erkrankungen vergrößern sich mit der Früherkennung und der Behandlungskontinuität über die Jahre hinweg. Voraussetzung ist prinzipiell eine tragfähige Arzt-PatientenBeziehung, die auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen beruht. Das vorliegende Büchlein gibt einen Einblick in den Beruf des Psychiaters in seiner Vielschichtigkeit. Es wurde in der Hoffnung gestaltet, den Lesern hier und da ein ähnliches Schmunzeln zu entlocken, wie es der Psychiater im Alltag benötigt, um die schwierigen Biographien und Schicksale aushalten zu können. Die durchgehende maskuline Formulierung wurde aus Gründen der Vereinfachung gewählt und ist selbstverständlich synonym durch die weibliche Form ersetzbar. Ich bitte die LeserInnen dafür um Verständnis.

Eltville, im Dezember 2004 Dr. Jürgen Wettig

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Inhaltsverzeichnis Der Psychiater und sein Tätigkeitsfeld ................................................... 9 Der Psychiater zwischen Gesundheit und Krankheit............................ 19 Der Psychiater und Zwangsmaßnahmen.............................................. 25 Der Psychiater als Therapeut ............................................................... 29 Der Psychiater in der Öffentlichkeit..................................................... 37 Der Psychiater und Psychopharmaka................................................... 43 Der Psychiater als Sachverständiger..................................................... 51 Der Psychiater und Suizid ................................................................... 59 Der Psychiater im zeitlichen Wandel................................................... 65 Der Psychiater und seine Perspektiven ................................................ 75 Literatur .............................................................................................. 83 Glossar................................................................................................ 85 Zur Person .......................................................................................... 92

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Psychiatrie

Erwachsenenpsychiatrie

Kinder- und Jugendpsychiatrie

Forensische Psychiatrie

Allgemeinpsychiatrie Suchtpsychiatrie

Gerontopsychiatrie

Gebiete und Teilgebiete der Psychiatrie

Der Psychiater und sein Tätigkeitsfeld

DER PSYCHIATER UND SEIN TÄTIGKEITSFELD

U

m die Komplexität menschlicher Daseinsformen annähernd begreifen zu können, ist es für den Psychiater unerlässlich, sich gleichermaßen den Geisteswissenschaften wie den Naturwissenschaften zuzuwenden. Gelingt es ihm in seiner täglichen Arbeit, den Bogen zwischen psychiatriegeschichtlichen, heute noch gültigen Erkenntnissen und aktueller neurobiologischer Forschung zu spannen, kann der Beruf äußerst interessant sein. So üben die schillernden Anekdoten um das Fach und seine Gelehrten, aber auch die unendlich vielen Spielarten des Wahnsinns einen ganz besonderen Reiz aus. Welcher biologisch ausgerichtete Psychiater würde nicht gerne das Gehirnpräparat Albert Einsteins (1879 bis 1955) mit seinem ausgefallenen Parietallappen in Montreal besichtigen? Der Psychopathologe wäre eher an der Dissertation Albert Schweizers (1875 bis 1965) zu dem Thema „Die psychiatrische Beurteilung Jesu“ interessiert. Die wissenschaftliche Fundgrube, aus der der Psychiater zu schöpfen vermag, ist unendlich groß und wird durch den Zeitgeist bzw. den gesellschaftlichen Wandel immer wieder aufs Neue bereichert. Prinzipiell gilt die Erkenntnis, dass Gehirne zwar eine genetische Determinante haben, aber eine ebenso starke biographische und umweltbedingte. Die Schizophrenieforschung Emil Kraepelins (1856 bis 1926) und Eugen Bleulers (1857 bis 1939) sowie die Psychopathologielehre Karl Jaspers (1883 bis 1969) und Kurt Schneiders (1887 bis 1967) bildeten die bis heute gültige methodologische Ausgangsbasis für systematisches Erkennen, Beschreiben und Ordnen psychischer Erkrankungen. Die biologische Psychiatrie profitierte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem von den Erkenntnissen der Psychopharmakologie. Wirkungen der Pharmaka auf Rezeptoren und ihre Affinität zu Rezeptorgenen in verschiedenen Hirnarealen sind verstehbar und berechenbar geworden. Bereits Freud sah zuversichtlich einer Zeit entgegen, in der das „Es“ pharmakologisch kontrolliert werden könnte: „Die Zukunft mag uns lehren, mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen. Vielleicht ergeben sich noch ungeahnte andere Möglichkeiten der Therapie. Vorläufig 10

DER PSYCHIATER UND SEIN TÄTIGKEITSFELD

steht uns nichts Besseres zu Gebote als die psychoanalytische Technik, und darum sollte man sie trotz ihrer Beschränkungen nicht verachten.“ Gegenwärtig bestimmt die Diskussion über evidenzbasierte Leitlinien, Qualitätsmanagement, Ökonomisierung und Kompetenznetzwerke die sozialpsychiatrisch geprägte Vorgehensweise. Gegenstand der Nobelpreise 1992 (Neher und Sakman) und 2000 (Carlsson, Greengard und Kandel) waren die elektrische und chemische Signalübertragung zwischen Neuronen bzw. die Plastizität auf synaptischer Ebene. Kandel erhielt für die Aufdeckung der molekularen Vorgänge, die dem Lernen und Erinnern zugrunde liegen, im Jahr 2000 den Medizinnobelpreis. Der Neurowissenschaftler forschte an Meeresschnecken mit vergleichsweise riesigen Neuronen und entschlüsselte so, wie Sinnesreize im Netzwerk der Nervenzellen gespeichert werden. Für bewusste Lernvorgänge, zu denen insbesondere der Mensch fähig ist, musste er höher entwickelte Versuchstiere, nämlich Mäuse, auswählen. Der bisher erste und einzige Psychiater, der den Nobelpreis erhielt, war Julius Wagner Ritter von Jauregg (1857 bis 1940). Der Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie in Wien, hatte 1917 die Malariatherapie zur Behandlung der progressiven Paralyse (syphilitische Spätform) eingeführt, nachdem er 30 Jahre lang Versuche zur Erzeugung künstlichen Fiebers unternommen hatte. Dem lag die Beobachtung zugrunde, dass psychotische Patienten sich während einer fieberhaften Erkrankung oft deutlich besserten. Wagner von Jauregg wurde dafür 1927 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

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Julius Wagner Ritter von Jauregg (1857-1940) Nobelpreis 1927 für die Malariatherapie der progressiven Paralyse Quelle: Kolle, Kurt: „Große Nervenärzte“, Thieme Stuttgart 1956

Seit einigen Jahren ist es möglich, mit ausgefeilten bildgebenden Verfahren (z. B. funktionelle MRT, Positronen-Emissions-Tomographie) Hirnfunktionen sichtbar zu machen. Ursprünglich beruhten die Hypothesen zur Genese bestimmter psychiatrischer Erkrankungen auf den empirischen Erkenntnissen der Pharmakotherapie, d. h. Feststellungen über die Wirksamkeit von Psychopharmaka mit bestimmten Wirkmechanismen bei bestimmten Störungen. Typisches Beispiel: Die aus der Wirksamkeit klassischer Neuroleptika abgeleitete Dopamin-Hypothese der Schizophrenie. Aus der erfolgreichen Behandlung der Schizophrenie mit der Medikamentengruppe der Neuroleptika, die das Dopaminsystem blockieren, konnte

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geschlossen werden, dass schizophrene Symptome durch einen Dopaminüberschuss in bestimmten Hirnarealen bedingt sind. Durch die neuen bildgebenden Verfahren gewinnen die Forscher nun differenzierte Einblicke in die komplexen Zusammenhänge zwischen der Interaktion verschiedener Neurotransmittersysteme einerseits und der Entwicklung von Krankheitsprozessen bis zur Manifestation einer psychiatrischen Störung mit entsprechender Medikamentenwirkung andererseits. All dies kann jetzt im Bild sichtbar gemacht werden. Bereits Wilhelm Griesinger (1817 bis 1868) wurde mit dem Satz berühmt: „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“. Griesinger gilt als Vater der modernen Psychiatrie. In Tübingen wurde er zunächst 1847 Professor für allgemeine Pathologie, innere Medizin und Medizingeschichte. 1850 ging er nach Ägypten und wurde unter anderem Präsident des ägyptischen Medizinalwesens. 1860 wurde er Ordinarius für innere Medizin an der Universität Zürich und zum Leiter der dortigen medizinischen Klinik samt angegliederter Irrenabteilung bestellt. Als erster hielt er in Zürich psychiatrische Vorlesungen. Er wurde mit der Planung der neuen Irrenanstalt „Burghölzli“ beauftragt, die 1870 fertig gestellt und der Leitung B. von Guddens (1824 bis 1886) aus der fränkischen Irrenanstalt Werneck anvertraut wurde. 1865 wurde Griesinger erster Ordinarius und Klinikleiter für Psychiatrie an der Berliner Charité. Er setzte sich dort nachhaltig für die verbesserte Unterbringung seiner Patienten ein und ordnete die völlige Beseitigung von Zwangsmitteln an. Schon 1845 erschien sein berühmtes Lehrbuch „Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“. 1868 erkrankte Griesinger an einer Blinddarmentzündung, an deren Folge – einschließlich einer aufsteigenden Polyneuropathie mit fast vollständiger Lähmung – er einige Wochen später verstarb.

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Wilhelm Griesinger (1817-1868) Begründer der biologischen Psychiatrie Quelle: Kolle, Kurt: „Große Nervenärzte“, Thieme Stuttgart 1956

Zu den Eigenschaften des Psychiaters äußerte sich Griesinger wie folgt: „Neben gründlichen ärztlichen Kenntnissen wird von dem Irrenarzt mit Recht noch ein Komplex besonderer geistiger Eigenschaften gefordert: Wohlwollender Sinn, große Geduld, Selbstbeherrschung, eine besondere Freiheit von allen Vorurteilen, ein Verständnis der Menschen, Gewandtheit der Konversation und eine besondere Neigung zu seinem Beruf.“ Der heutige Psychiater müsste eigentlich ein biopsychosozialer Generalist sein, der den Spagat zwischen Psychiatrie als subjektorientierter Erlebenswissenschaft und Psychiatrie als objektivierender, empirischer Verhaltens- sowie Neurowissenschaft beherrscht. So gesehen konnte natürlich weder die Annahme der schizophrenogenen Mutter noch die isolier-

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DER PSYCHIATER UND SEIN TÄTIGKEITSFELD

te Suche nach dem cerebral angesiedelten Schizokokkus, etwa in der Psychosebehandlung, zum Erfolg führen. Als Freud beispielsweise erstmals postulierte, dass sich die meisten geistigen Prozesse, die unser alltägliches Verhalten bestimmen, unbewusst vollziehen, wurde er verspottet. Heute wird dies von Neurowissenschaftlern uneingeschränkt akzeptiert. Besonders interessant ist die Tatsache, dass der Hippocampus in den ersten beiden Lebensjahren funktionell noch nicht gereift ist. Dies ist die Erklärung für ein Phänomen, das Freud „infantile Amnesie“ nannte: Frühkindliche Erinnerungen werden ausschließlich vom impliziten (unbewussten) Gedächtnis gespeichert. Sie werden deshalb nicht bewusst erinnert – und können dennoch unser späteres Leben maßgeblich beeinflussen. Entwicklungsbiologen haben sich deshalb die traditionelle Freud’sche Sichtweise zu eigen gemacht, der zufolge frühkindliche Erfahrungen an der Konstruktion des Neuronennetzwerkes im Gehirn maßgeblich beteiligt sind und auf diese Weise die zukünftige Persönlichkeit und seelische Gesundheit prägen – obwohl diese frühkindlichen Erfahrungen überhaupt nicht erinnert werden können. Was macht nun nach kurzer Zusammenschau von Historie und neuester Forschung das Tätigkeitsfeld des Psychiaters aus? Der passionierte Psychiatriespezialist erstellt im Vorbeigehen ein Persönlichkeitsprofil des neuen Freundes seiner Tochter und diagnostiziert seinen Nachbarn, der täglich die Gummibaumblätter poliert. Er führt den psychologischen Schnelltest bei seiner Schwiegermutter durch, die beim Kreuzworträtsel versagt und panische Angst vor der herannahenden Demenz hat. Schonungslos greift er aber auch im Kontakt mit Standeskollegen in die psychopathologische Trickkiste, um zu analysieren, zu deuten oder zu entwerten. So schreibt C. G. Jung 1913 an Freud: „Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Ihre Technik, Ihre Schüler wie Ihre Patienten zu behandeln, ein Missgriff ist. Sie weisen allen um sich herum Symptomhandlungen nach. Damit setzen Sie die ganze Umgebung auf das Niveau des Sohnes und der Tochter herunter und nehmen für sich die Vaterfigur ein.“ 15

DER PSYCHIATER UND SEIN TÄTIGKEITSFELD

Wer wird denn überhaupt Psychiater? Welche Menschen arbeiten mit psychisch Kranken? Vielleicht verhält es sich so, wie es der Schriftsteller S. Bergman, Psychoanalytiker und Professor für Psychiatrie („House of God“, „Mount Misery“) sagt, dass Psychiater wird, wer einen Psychiater braucht. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass bestimmte, angeborene oder früh erworbene Defizite die Persönlichkeit des Psychiaters kennzeichnen. Psychiater sind nicht mehr oder weniger intelligent, kreativ oder strebsam als Lehrer, Verkäufer, Journalisten oder Busfahrer. Ihr hohes, wenn auch manchmal zweifelhaftes Ansehen in der Öffentlichkeit verdanken sie der Tatsache, dass sie sich einer eher schwierigen Klientel annehmen. Emil Kraepelin berichtet über seine ersten Berufserfahrungen als 22jähriger in der Kreisirrenanstalt München unter der Leitung Bernhard von Guddens: „Die ersten Eindrücke, die ich von meiner neuen Tätigkeit hatte, waren entmutigend. Das verwirrende Gewimmel ungezählter verblödeter, bald unzugänglicher, bald zudringlicher Kranker mit ihren lächerlichen oder Ekel erregenden, bedauernswerten oder gefährlichen Absonderlichkeiten, die Ohnmacht des ärztlichen Handelns, die sich meist auf Begrüßungen und gröbste körperliche Pflege beschränken musste, die völlige Ratlosigkeit gegenüber all diesen Erscheinungsformen des Irreseins, für die es keinerlei wissenschaftliches Verständnis gab, ließen mich die ganze Schwere des von mir gewählten Berufs empfinden.“ Konsequenz dieser Einschätzung war die wissenschaftliche Laufbahn des Universitätspsychiaters Kraepelin, der seine Zeit fern von den Kranken in Laboratorien, Tierställen, Bibliotheken und Hörsälen verbrachte. Emil Kraepelin (1856 bis 1926) habilitierte 1882 in Leipzig und wurde einer der Begründer der Psychopharmakologie. Neben seiner psychiatrischen Tätigkeit veröffentlichte er auch einen Lyrikband, der ihn von einer sehr persönlichen und versteckten Seite zeigte. 1903 wurde Kraepelin Ordinarius für Psychiatrie in München und betrieb mit großem Einsatz die Gründung einer Forschungsanstalt für Psychiatrie, die 1918 ihren Betrieb mit einer pathologisch-anatomischen, chemisch-serologischen, experimentell-psychologischen und genetisch-psychiatrischen Abteilung aufnahm. 16

DER PSYCHIATER UND SEIN TÄTIGKEITSFELD

Emil Kraepelin (1856-1926) Systematik der endogenen Psychosen Quelle: Kolle, Kurt: „Große Nervenärzte“, Stuttgart Thieme, 1956

Ab 1922 wurde eine klinisch psychiatrische Aufnahmeabteilung mit zunächst 25, später 100 Betten im Schwabinger Krankenhaus geschaffen. Kraepelin war Naturwissenschaftler, Verstandes- und Willensmensch mit biologistischer Weltanschauung, bekämpfte fanatisch die Alkoholsucht. Psychoanalytische Gedanken in der klinischen Psychiatrie ließ er nicht zu. Er kümmerte sich fast ausschließlich um psychotische Krankheitsbilder. Seine größte Leistung war die Aufteilung der endogenen Psychosen in die beiden Formenkreise der affektiven und schizophrenen Erkrankungen mit der Bezeichnung „Manisch-depressives Irresein“ und „Dementia praecox“. Kraepelin schrieb in seinem Lehrbuch der Psychiatrie 1893: 17

DER PSYCHIATER UND SEIN TÄTIGKEITSFELD

„Meine Bestrebungen gingen dahin, diejenigen Krankheitsbilder abzugrenzen, die, durch ausgeprägte Wahnbildungen einerseits, lebhafte Gemütsbewegungen andererseits, Zwischenglieder zwischen den akuten affektiven Geistesstörungen und der chronisch verlaufenden Verrücktheit zu bilden schienen.“ Kraepelin verstarb kurz vor einer länger geplanten Auslandsreise 1926 an einer grippalen Lungenentzündung.

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Der Psychiater zwischen Gesundheit und Krankheit

DER PSYCHIATER ZWISCHEN GESUNDHEIT UND KRANKHEIT

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llein der mehrdimensionale Ansatz, der die Sozialpsychiatrie, biologische Psychiatrie und Psychotherapie gleichberechtigt integriert, wird der Vielschichtigkeit psychischer Erkrankungen gerecht. Dies trifft um so mehr zu, da in der heutigen „Spaßgesellschaft“, die sich durch kollektive, künstliche Stimulation des dopaminergen Belohnungssystems definiert, die Demarkation zwischen „krankhaft“ und „normal“ immer schwieriger wird. Der Psychiater steht oft exotischen Absonderlichkeiten gegenüber, die sich über die Medien multiplizieren, um dann sekundär im psychopathologischen Sinne außer Kontrolle zu geraten. Beispielhaft erwähnt sei die pharmakogene Ekstase durch gleichnamige halluzinogene Amphetaminderivate, aber auch der Gebrauch von so genannten Life-style-Medikamenten. Der Konsum dieser Substanzen ist oft Folge extremer narzisstischer Selbstbeobachtung und zielt auf Merkmale wie Haarwachstum, Potenz und Körpergewicht. Hier ist der Weg zur körperdysmorphen Störung, Soziophobie und Zwangsstörung geebnet. Wird die Scham zum Leitaffekt, schrecken diese Menschen nicht zurück vor Lasertherapie, plastischen Operationen und riskanter Medikation. Ob und wann sie zu psychiatrischen Patienten werden, hängt vom Ausmaß ihres Leidensdruckes ab. Dieser wird zuweilen künstlich hochstilisiert und hemdsärmelig in voyeuristischen Psycho-Shows oder durch opulenten Betroffenheitsjournalismus dargeboten. Angesichts werbewirksamer, materieller Weitschweifigkeit, zweifelhafter, phänotypischer Ästhetik (z. B. Ganzkörperpiercing) und dem Konsum kurzweiliger Gewaltvideos bereits im Grundschulalter, scheinen Größenwahn, Derealisation, Suchtverhalten, Autoaggression und Verlust der Impulskontrolle vorprogrammiert zu sein. Nicht selten obliegt dem Psychiater die Bewertung einer immer breiter werdenden Grauzone zwischen Gesundheit und psychischer Störung. In einer übersättigten, enttabuisierten Konsumgeneration, in der sich Menschen an Gummibändern von Kränen und Brücken stürzen, Schüler sich bewaffnen und Keimzellen per Mausklick käuflich zu erwerben sind, ist die Definition von Normalität nahezu unmöglich.

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DER PSYCHIATER ZWISCHEN GESUNDHEIT UND KRANKHEIT

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DER PSYCHIATER ZWISCHEN GESUNDHEIT UND KRANKHEIT

„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ (Berthold Brecht)

Während die augenärztliche Visusprüfung, das vom Internisten ausgewertete EKG oder die Röntgenaufnahme des Hüftgelenkes sich auf ein eng umschriebenes Wahrnehmungsfeld richtet, bleibt in der Beurteilung psychischer Erkrankungen immer ein Ermessensspielraum. Dieser ist von besonderer Bedeutung, da, anders als in allen übrigen medizinischen Fachgebieten, Psychiater und Patient bezüglich der Behandlungsnotwendigkeit oft konträre Auffassungen haben. Ist der Bankangestellte, der sich durch die Mikrowelle seines Nachbarn, mit dem er seit Jahren im Streit lebt, bestrahlt fühlt, psychotisch? Muss die vom Freund verlassene Studentin, die nachts nach einer Flasche Rotwein ihren Bruder anruft und den Sinn des Lebens anzweifelt, wegen Suizidalität zwangseingewiesen werden? Benötigt der Rentner, der ein Haus geerbt hat und einem Immobilienmakler nach kurzer Bekanntschaft eine Generalvollmacht erteilt, eine gesetzliche Betreuung? 22

DER PSYCHIATER ZWISCHEN GESUNDHEIT UND KRANKHEIT

Diese Fragen lassen sich ebenso wenig mit einem Messwert oder einem bildgebenden Verfahren beantworten wie der prospektive Wirkerfolg von Psychopharmaka. So gibt es keine sichere Korrelation zwischen der Blutplasmakonzentration und der tatsächlichen Wirkung von Antidepressiva und Neuroleptika. Während der Internist seine Antihypertensiva präzise nach den Blutdruckwerten dosieren kann, orientiert sich der Psychiater psychometrisch einerseits am Selbsturteil des Patienten, das die Befindlichkeit abbildet und andererseits am Fremdurteil (Arzt, Pflegepersonal, Angehörige), welches vorwiegend das Verhalten des Patienten erfasst. Die subjektive Einschätzung des Arztes wird wesentlich von der eigenen Lebenserfahrung, ethischen Grundhaltung und persönlichen Sympathie, kurzum Gegenübertragung, beeinflusst.

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Der Psychiater und Zwangsmaßnahmen

DER PSYCHIATER UND ZWANGSMAßNAHMEN

D

ie Sonderstellung des Psychiaters spiegelt sich vor allem in Zwangsmaßnahmen wieder. Viele psychisch schwer veränderte Menschen empfinden sich selbst keineswegs als krank und verweigern eine notwendige Behandlung. Der psychotische Erregungszustand löst Angst aus, der Alkoholismus zerstört Familien. Der maniforme Redefluss erschöpft Bezugspersonen und die täglichen, stundenlangen Waschrituale des Zwangskranken führen in die Isolation. Die affektive Starre des Depressiven löst Verzweiflung und Ohnmacht bei den Angehörigen aus. Repräsentative Bevölkerungsumfragen haben ergeben, dass psychisch Kranke zunächst Hilfe bei vertrauten Bezugspersonen suchen, dann beim Hausarzt. Der Psychiater hingegen findet sich nach diversen Notlösungen erst ganz am Schluss der Rangliste. In der Klinik hat er den Auftrag, dem Patienten innerhalb seiner Freiheitsrechte die langfristig besten Heilungschancen zu ermöglichen. Nachhaltiger Zwang zerstört die spätere Kooperation, vorzeitiger Behandlungsverzicht gefährdet das soziale Netz, auf das der Kranke angewiesen ist. Die gerichtliche Zustimmung zur geschlossenen Unterbringung, Fixierung und sedierenden Medikation verschafft dem Arzt zwar Rechtssicherheit, schützt ihn aber nicht vor der therapeutischen Beziehungsfalle. Die Auseinandersetzung mit Zwangseingewiesenen, oft therapieresistenten und unkooperativen Patienten in geschlossenen Abteilungen ist für den klinischen Praktiker eine gleichermaßen notwendige wie kraftzehrende und frustrane Aufgabe. Misstrauen und Feindseligkeit begleiten den Psychiater, wenn er auf gesetzlicher Grundlage Zwang ausüben muss. Dabei flankieren die Relikte der Antipsychiatrie der 1960er und 1970er Jahre, die Geisteskrankheiten als Kunstprodukte der kapitalistischen Gesellschaft („Soziose“) ideologisierte, die einseitigen Schilderungen so genannter „Psychiatrieerfahrener“ der heutigen Zeit. Im Zuge dieser Schilderungen wird regelmäßig die von der Institution „Klinik“ ausgehende Gewalt thematisiert, jedoch die Gewalt, die krankheitsbedingt von Patienten ausgehen kann, verschwiegen. Muss ein schwerkranker Mensch in der geschlossenen Abteilung untergebracht werden, wird der verantwortliche Arzt oft gleich vierfach kon26

DER PSYCHIATER UND ZWANGSMAßNAHMEN

frontiert. Es droht die Auseinandersetzung mit dem Verfahrenspfleger, einem beigeordneten Rechtsanwalt, der die Rechte des Betroffenen im Unterbringungsverfahren wahrnimmt, und ggf. mit der Beschwerdekammer des Landgerichtes, sofern der Patient schriftlich Widerspruch gegen die Unterbringung eingelegt hat. Dann sind da die Ansprüche der Angehörigen, der komplementären Einrichtungen (z. B. Heime für psychisch Kranke) und der niedergelassenen Kollegen, die den Klinikarzt unmittelbar unter Handlungszwang stellen. Schließlich verlangt der Kostenträger eine Rechtfertigung der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit und der stationären Verweildauer. Gerade psychiatrische Berufsanfänger müssen sich in diesem Dickicht der Interessen als „hilflose Helfer“ fühlen, sind sie doch angetreten, einfach nur Patienten nach bestem Wissen und Gewissen zu behandeln. Die Schilderung und das Erleben psychisch Kranker ist keineswegs immer wahr im juristischen Sinne. Es handelt sich vielmehr um eine subjektive und individuelle Wahrheit, so dass psychiatrische Tätigkeit oft auf Mutmaßungen, Interpretationen und Hypothesen beruht. Der Wahn des Schizophrenen, die Fassade des Alkoholikers, die Spaltung des Narzissten, die Dissoziation des Traumatisierten oder auch die Symptombildung des Neurotikers können als Ergebnis einer verzerrten Wahrnehmung oder der Abwehr schwer erträglicher Affekte aufgefasst werden. Die Tätigkeit des Psychiaters mündet immer in dem Auftrag, dem Patienten seine durch Krankheit verlorene Freiheit zurückzugeben und dessen individuelle Definition von Lebensqualität zu erspüren und zu akzeptieren.

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Der Psychiater als Therapeut

DER PSYCHIATER ALS THERAPEUT

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ie Psychotherapie als Ergänzung der Psychiatrie kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst in Gestalt der Psychoanalyse daher. Sie begreift die Symptomatik als Symbol eines überdauernden, unbewussten Konfliktes oder eines strukturellen Ich-Defektes und hebt die langfristige Wirksamkeit frühkindlicher Erfahrungen hervor.

Sigmund Freud (1856 bis 1939) wuchs in Wien auf und studierte dort 1873 bis 1881 Medizin. Er promovierte „Über den Bau der Nervenfasern und Nervenzellen beim Flusskrebs“. Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn wandte er sich gehirnanatomischen Studien zu und habilitierte sich 1885 für Neuropathologie. Um 1884 experimentierte er mit Kokain, das er auch selbst nahm, zur Lokalanästhesie und publizierte hierzu bis 1887 einige Arbeiten. 1885 bis 1886 hospitierte er bei J. M. Charcot in Paris, dessen Vorlesungen über Nervenkrankheiten er 1896 ins Deutsche übersetzte. 1886 eröffnete er eine Privatpraxis in Wien. Mit seinem Freund und Kollegen Josef Breuer (1842 bis 1925), niedergelassener Arzt in Wien, veröffentlichte Freud 1895 die „Studien über Hysterie“. Es handelte sich um Beobachtungen an Patienten mit hysterischen Lähmungen, die sich unter Hypnose an traumatische Ereignisse erinnern konnten. In den folgenden Jahren entwickelte Freud seine Theorie der sexuellen Genese hysterischer Störungen und entwarf das Behandlungsmodell des „freien Assoziierens“. Ab 1897 unterzog er sich einer Selbstanalyse. Ab 1901 traten unter anderem Alfred Adler, C. G. Jung und Eugen Bleuler mit ihm in Verbindung. 1910 wurde die „Internationale psychoanalytische Gesellschaft“ gegründet. 1923 erkrankte Freud an Lippenkrebs, der sich weiter ausdehnte und zahlreiche operative Eingriffe erforderlich machte. 1938 emigrierte er mit seiner Frau Martha und Tochter Anna nach London, wo er 1939 starb. Die „gesammelten Werke“ Freuds umfassen ein 18-bändiges literarisches Werk. Das „Instanzenmodell“ zur Persönlichkeitsstruktur wurde 1923 erstmals in „Das Ich und das Es“ veröffentlicht.

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DER PSYCHIATER ALS THERAPEUT

Sigmund Freud (1856-1939) Begründer der Psychoanalyse Quelle: Kolle, Kurt: „Große Nervenärzte“, Thieme Stuttgart 1956

Die Art, wie man einem Menschen begegnet, beeinflusst auch sein Verhalten. Diese lapidare Erkenntnis ist Kern aller wirksamen Psychotherapieverfahren und meint zunächst Offenheit gegenüber der persönlichen Problemsicht des Patienten und Respekt vor seiner Geschichte. Diese elementare therapeutische Grundhaltung ist nicht erlernbar, sondern von eigener psychischer Stabilität, „gesundem Menschenverstand“ und Lebenserfahrung des Behandlers getragen. Der psychotherapierende Psychiater kann bei fehlender Eignung, die im Übrigen kaum messbar und vom Patienten am allerwenigsten einschätzbar ist, nicht nur ineffizient, sondern sogar destruktiv wirken. Die konsequente, reflektierende Distanz des Arztes ist umso mehr gefordert, je deutlicher der verunsicherte, 31

DER PSYCHIATER ALS THERAPEUT

orientierungssuchende Kranke ihn idealisiert. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass körperliche Berührungen in der Therapie hoch mit Bedeutung aufgeladen sind und daher die ohnehin komplizierte Subjektivität verstärken können. Neben der Missachtung der Abstinenz sind voyeuristische Neugier, narzisstisches Überlegenheitsbedürfnis und direktives Sendungsbewusstsein geeignet, die Autonomie des Patienten nachhaltig zu schädigen. Fachlich gesehen sind das Nichtbeachten der Abstinenzregel und die unkontrollierte Gegenübertragung als handwerkliche Mängel des Therapeuten und dessen menschlich fehlende Reife und Charakterschwäche anzusehen. Im Zusammenhang mit der therapeutischen Entgleisung C. G. Jungs bezüglich seiner Patientin Sabina Spielrein gestand auch Freud eigene Probleme mit einer straff kontrollierten Gegenübertragung ein. Carl Gustav Jung (1875 bis 1961) trat im Jahre 1900 in das von Eugen Bleuler geleitete psychiatrische Krankenhaus Burghölzli in Zürich ein. Er habilitierte sich im Jahre 1905 und wurde erster Oberarzt bei Bleuler. 1907 lernte C. G. Jung in Wien Sigmund Freud kennen und setzte sich intensiv mit der Psychoanalyse auseinander. Im Gefolge von Spannungen mit Bleuler verließ er 1909 das Burghölzli und zog nach Küsnacht in sein berühmtes Haus, in dem er, unterbrochen von längeren Auslandsaufenthalten in Asien, Indien, Afrika und Südamerika, bis zu seinem Tode wohnte. 1911 hatte Jung die Präsidentschaft der „Internationalen psychoanalytischen Vereinigung“ übernommen. 1913 erfolgte die Abkehr von Freud durch Jungs Lehre der analytischen Psychologie. Grundlegend war die Vorstellung, dass der Mensch sich in einem lebenslangen Prozess der „Individuation“ zunehmend des Unbewussten bewusst wird. Bedeutsam sind dabei die „Archetypen“ oder Urbilder, verstanden als universelle, in allen Mythen und Märchen der Menschheitsgeschichte enthaltenen Symbole. Ab 1913 befasste sich Jung mit einer bipolaren Typenlehre und arbeitete 1921 in seinem Buch „Psychologische Typen“ zwei komplementäre psychische Grundformen heraus. Diese als „Extraversion“ und „Introversion“ benannten Formen der Persönlichkeit wurden später von H. J. Eysenck aufgegriffen und finden sich bis heute in den meisten psychologischen Persönlichkeitsmodellen wieder. 32

DER PSYCHIATER ALS THERAPEUT

Carl Gustav Jung (1875-1961) Lehre der analytischen Psychologie Quelle: Kolle, Kurt: „Große Nervenärzte“, Thieme Stuttgart 1956

Zur Suizidhäufigkeit in verschiedenen Arztgruppen gibt es eindeutige Befunde. Psychiater stehen hier vor den Anästhesisten an erster Stelle. Wo liegen die Gründe? Sicher übt das psychiatrisch-psychotherapeutische Tätigkeitsfeld auf Ich-schwache Charaktere mit defizitärer biographischer Entwicklung eine gewisse Faszination aus, unter der Vorstellung, sich selbst helfen zu können. Durchaus finden sich unter den Weiterbildungskandidaten introvertierte, sensible und gekränkte Menschen („verwundete Heiler“) mit einem großen Bedarf an Akzeptanz und Bestätigung. Die professionelle Beschäftigung mit psychisch Kranken ist der ideale Weg, von der eigenen Problematik abzulenken. Daraus folgen häufig narzisstische Kollusionen, wobei sich Therapeut und Patient so 33

DER PSYCHIATER ALS THERAPEUT

ineinander verstricken, dass ein Abschluss der Behandlung nahezu unmöglich ist. In einer vom Bundesfamilienministerium Mitte der 90er Jahre in Auftrag gegebenen Studie konnten hinsichtlich persönlichkeitsgestörter Therapeuten folgende vier Typen herausgearbeitet werden: 1. Der „verständnisvolle Retter“, der sich selbstlos und bedingungslos einsetzt, immer erreichbar ist und absolute Sicherheit bietet. 2. Der „Guru“ wirkt fortschrittlich, wissenschaftlich, kompromisslos, selbstsicher. Er wird bewundert und idealisiert. 3. Der „distanzierte Gott“. Er ist nahezu unerreichbar, hält übertrieben Abstand, thront weit oben, manipuliert und steuert, lässt Besitz- und Herrschaftsansprüche durchblicken. Er erscheint äußerlich korrekt, seriös und glaubwürdig. 4. Der „hilfsbedürftige Messias“ ist immer besorgt, hilfsbereit, erzeugt eine freundschaftlich-warme Atmosphäre, nimmt gern Körperkontakt auf, zeigt sich selbst aber auch schwach und unterlegen, spricht gerne von sich selbst und seinen Problemen. Diese hoch pathologischen Konstellationen betreffen überwiegend männliche Therapeuten und Patientinnen, wobei der Weg zu sexuellen Übergriffen in der Psychotherapie gebahnt ist. Zweifellos ist die Konfrontation mit Krankheit, Leid und allen Formen von Schmerz auch in somatischen Fachdisziplinen ausgeprägt. Im Gegensatz dazu nehmen Psychiater jedoch permanent ein Maximum an negativer Energie auf, die sie irgendwie kompensieren müssen. Freud bilanzierte 1937 seine Arbeit so: „Es hat den Anschein, als wäre das Analysieren der dritte jener unmöglichen Berufe, in denen man des ungenügenden Erfolges von vorn herein sicher sein kann. Die beiden anderen sind das Erziehen und das Regieren.“ 34

DER PSYCHIATER ALS THERAPEUT

Der Tendenz zu sadistischer Projektion, Verleugnung, Entwertung, Sucht, Suizidalität, Angst, Wut, Perversion und Depression auf Patientenseite steht die tagtägliche Verpflichtung des Therapeuten gegenüber, zuzuhören, sich einzufühlen und Stand zu halten. Dabei überwiegt ganz oft bei schweren Störungen die Erfahrung, nicht genug getan oder die eigenen Grenzen erreicht zu haben. Unmittelbar greifbare oder gar messbare Ergebnisse des therapeutischen Einsatzes sind nicht zu erwarten. Die intensivere Auseinandersetzung mit biographischen Details und dem Umfeld des Patienten impliziert beim Therapeuten auch eigene Erinnerungen und das Erkennen von Parallelen mit unvermeidlicher emotionaler Beteiligung. Im ungünstigsten Fall ist das Familienleben des Therapeuten durch Unverständnis gegenüber dessen affektiver Erschlaffung oder sogar Eifersucht auf die Patienten geprägt.

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Der Psychiater in der Öffentlichkeit

DER PSYCHIATER IN DER ÖFFENTLICHKEIT

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ls Kontrapunkt zum Romanhelden, der in Form des dynamischen Chirurgen mit eigener Privatklinik oder als unermüdlich lebensrettender Intensivmediziner daherkommt, nimmt sich der Psychiater in der Öffentlichkeit eher skurril und derangiert aus. Er gilt als komplexbeladener Kauz, zerfahren, durchgeistigt und eingenommen durch die Abnormitäten seiner Patienten. Man kennt den Psychiater, in entspannter Reserviertheit sitzend, das linke über das rechte Bein geschlagen, mit Block und Bleistift in der Hand. Er ist entweder dunkelblau, mausgrau oder schwarz gekleidet, neigt aber auch durchaus zu eigenwilligen Kombinationen aus braunen Schnürschuhen mit blauen Socken, eingelaufenen Hosen und antiquarisch zerknittertem Leinensakko. Beobachtet man Psychiater im Umgang mit ihresgleichen, treten deutliche Unterschiede zu den Kollegen somatischer Disziplinen zutage. Die meisten wirken verhaltener, angespannter, komplizierter und individualistischer, evtl. auch introvertierter, hier und dort getönt von narzisstischer Sensibilität. Auf Kongressen und Tagungen dominiert bedachtsame Eloquenz. Die Ansprüche an das Auditorium, zu dem sichere Distanz gehalten wird, sind hoch. Lautes Reden, spontane Reaktionen und hemdsärmeliges Gebaren sind dem Psychiater fremd.

„Charisma“ hat wohl derjenige, der durch seine bloße Erscheinung Heilkraft besitzt, Mut und Hoffnung verbreitet und wie selbstverständlich positive Übertragung bei den Patienten freisetzt. Diese Begabung, die unwillkürlich über Suggestion den Heilungsprozess beeinflusst, wird einigen der großen Persönlichkeiten, die vor rund 100 Jahren wirkten, zugeschrieben. J. H. Schultz beschrieb Freud folgendermaßen: „Der mittelgroße, leicht gebeugte, kräftig gebaute Mann mit den äußeren Allüren des deutschen Professors trug kurzen Vollbart, Brille, hatte einen scharf beobachtenden Blick und den Willen zu ruhender Sachlichkeit und objektivem Verstehen.“ Wilhelm Reich beschrieb Freud 1942 so: „Freud war anders, vor allem einfach im Auftreten. Freud sprach mit mir wie ein ganz gewöhnlicher 38

DER PSYCHIATER IN DER ÖFFENTLICHKEIT

Mensch und hatte brennend klare Augen. Er sprach rasch, sachlich und lebhaft. Seine Handbewegungen waren natürlich. Ironie klang durch alles hindurch. Ich war ängstlich gekommen und ging froh und glücklich weg.“

Eugen Bleuler (1857-1939) Begründer des Schizophreniebegriffes Quelle: Kolle, Kurt: „Große Nervenärzte“, Thieme Stuttgart 1956

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DER PSYCHIATER IN DER ÖFFENTLICHKEIT

Eugen Bleuler (1857 bis 1939) wurde 1898 Ordinarius für Psychiatrie in Zürich und Leiter der Anstalt Burghölzli, die er bis 1927 verwaltete. Bleuler galt als passionierter Psychiater, der zeitlebens engste Kontakte zu seinen Patienten pflegte und diese am Krankenbett studierte. Er schuf die Bezeichnung „Schizophrenie“, die Kraepelins „Dementia praecox“ ablöste. Er beschrieb die akzessorischen Symptome wie Sinnestäuschungen, Wahnideen und motorische Auffälligkeiten, von denen er die Kernform der „Schizophrenia simplex“ trennte. Bleuler beschäftigte sich intensiv mit der Psychoanalyse und führte Sigmund Freud in die Hochschulpsychiatrie ein. Bleuler prägte 1914 den Begriff „Tiefenpsychologie“, der auch von Freud akzeptiert wurde. Sein 1916 erschienenes „Lehrbuch der Psychiatrie“ gilt auch heute noch als Standardwerk. Jean-Martin Charcot (1825 bis 1893) genoss als Wissenschaftler außergewöhnlich hohes Ansehen. Seines Zeichens Neurologe und Neuropathologe, erregte er Aufsehen durch seine Beobachtungen zu den hysterischen Krankheitsbildern. Bereits 1862 wurde er Chefarzt und Leiter des für ihn geschaffenen neuropathologischen Labors, 1882, als historisch erster neurologischer Lehrstuhlinhaber, Professor für Nervenheilkunde. Charcot beforschte intensiv viele Nervenkrankheiten mit naturwissenschaftlichen Methoden und förderte alle Zweige der Neuropathologie und klinischen Neurologie. Auf psychiatrischem Gebiet befasste er sich mit dem Studium der Neurosen, vor allem der Hysterie, die er erstmals systematisch mit der Hypnose zu behandeln suchte. Er war klinisch wie auch im Unterricht äußerst aktiv und publizierte im großen Stil. Der Chefarzt des Hospice de la Salpêtrière in Paris verstarb während einer Urlaubsreise an einem akuten Lungenödem.

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DER PSYCHIATER IN DER ÖFFENTLICHKEIT

Jean-Martin Charcot (1825-1893) Neurologe und Neuropathologe, Vorlesungen zur Hysterie Quelle: Kolle, Kurt: „Große Nervenärzte“, Thieme Stuttgart 1956

Beim „normalen Menschen“ löst der Psychiater, der einerseits auf Ticks und bizarres Verhalten skeptisch taxiert wird, andererseits auch eine Furcht vor Entlarvung seelischer Untiefen aus. Die Menschen begegnen ihm zögernd und misstrauisch, fühlen sich nur allzu leicht durchschaut und demaskiert durch den oft überschätzten diagnostischen Blick. Nicht zuletzt durch die immer wieder medienwirksam kolportierten Zwangsmaßnahmen erhält er etwas Diabolisches.

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DER PSYCHIATER IN DER ÖFFENTLICHKEIT

Die weit verbreitete Skepsis hat natürlich historische Wurzeln und basiert auf der Erinnerung an die inhumane Behandlung psychisch Behinderter über Jahrhunderte hinweg. Die rassistische Hybris des Nationalsozialismus gipfelte schließlich in einer grauenhaften Perversion ärztlichen Handelns. Trotz alledem erfährt der Psychiater auch Wertschätzung von einer Gesellschaft, die ihm den Umgang mit störenden oder sogar lästigen, unberechenbaren sozialen Randgruppen überträgt. Diese Anerkennung findet ihren Niederschlag in der Lokalpresse, etwa bei der Eröffnung einer psychiatrischen Abteilung in einem Kreiskrankenhaus oder einer Behindertenwerkstatt, wobei hier regelhaft Kommunalpolitiker in gleicher Weise partizipieren, wie sie sich im Falle von Negativschlagzeilen von den selben Einrichtungen wieder distanzieren. Journalistisch aufbereitet werden ausschließlich spektakuläre Ereignisse für ein sensationslüsternes Publikum. Dabei wird dem Psychiater einerseits vorgeworfen, er halte willkürlich Menschen in geschlossenen Abteilungen fest, andererseits lasse er „gemeingefährliche Geisteskranke“ frei herumlaufen. Obgleich tatsächlich nur derjenige die Kranken wirklich beurteilen kann, der sie auch täglich sieht, gibt es in der Psychiatrie wie in keinem anderen Fach unzählige „Experten“ mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein. Diese fühlen sich aufgrund ihrer eigenen vordergründig geordneten Biographie kompetent genug, den Psychiater darüber aufzuklären, um was es bei der Behandlung eigentlich geht. Gerne genommen wird von den Medien auch der allgegenwärtige „Psychologenrat“, der bei Flugzeugkatastrophen, Erektionsstörungen, Amokläufern, Paranoia und Spinnenphobie weiterhilft. Dem gegenüber steht etwa in vielen Filmen das Klischee des Psychiaters als gemütskaltem Intellektuellen mit scharfen Gesichtszügen und randloser Brille, der sich zuweilen, selbst seelisch zerrüttet, am Abgrund seiner eigenen Existenz bewegt. Nach wie vor bedienen die Medien gesellschaftliche Vorurteile durch Instrumentalisierung des Psychiaters als Handlanger der Justiz und vermeiden eine kritische Auseinandersetzung mit der Realität, die mit kustodialer Psychiatrie nichts mehr zu tun hat. 42

Der Psychiater und Psychopharmaka

DER PSYCHIATER UND PSYCHOPHARMAKA

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equisiten, die dem Psychiater oft zugeschrieben werden, sind der Schlüssel und die Spritze. Letztere steht, neben allen anderen Darreichungsformen von Psychopharmaka, für die „chemische Keule“ des Horror-Doktors oder wird als Mittel zur „Gehirnwäsche“ angesehen. Die öffentliche Meinung geht davon aus, dass Psychopharmaka der Ruhigstellung dienen, Patienten den Ärzten ausliefern und schwere Nebenwirkungen verursachen. Bis heute werden Antidepressiva und Neuroleptika von vielen Patienten als invasive, unkontrollierbare und potentiell verletzende, fremde Stoffe erlebt. Wurden bereits früher einmal Nebenwirkungen bemerkt, ist die Angst umso größer. Auch die Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung wird oft pauschal auf diese Substanzen übertragen und der Patient akzeptiert dann allenfalls pflanzliche Arzneimittel wie Baldrian oder Johanniskraut. Ist ein Medikament schließlich über einige Zeit appliziert worden, setzen manche Patienten dieses mit der pseudologischen Begründung ab, sie hätten ihre chronische Erkrankung durch Weglassen des Präparates endgültig überwunden. Grundsätzlich nimmt die Diskussion über Pharmaka im Arzt-PatientenGespräch immer breiten Raum ein. Das ist auch gut so. Der Arzt ist verpflichtet, ausführlich zu informieren und zu beraten, über Nebenwirkungen und mögliche Komplikationen aufzuklären. Der Arzt muss aber auch wissen, dass Patienten mit neurotischem Potential das Medikament unter anderem als Medium einsetzen, um darüber etwas ganz anderes auszudrücken. So können die Klagen über Nebenwirkungen oder ausbleibende Wirkung – auch nach unterschiedlichsten Therapieversuchen – symbolisch Klagen über eine enttäuschende Beziehung zum Arzt sein. Psychopharmaka entfalten eine sehr unterschiedliche individualspezifische Wirkung, die stark von der Konstitution des Einzelnen abhängig ist. Es sind auch paradoxe Effekte zu beobachten. Bei Behandlungsbeginn ist nicht unbedingt klar, wer auf welche Dosis welcher Substanz respondiert. Es kann daher durchaus einige Wochen dauern, bis die jeweils richtige Medikation gefunden ist. Das hat nichts mit „blindem Herum-

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DER PSYCHIATER UND PSYCHOPHARMAKA

doktern“ zu tun, sondern ist der Versuch, eine maßvolle optimale Therapie zu ermitteln. Psychopharmaka sind Substanzen, die gestörte neurobiochemische, cerebrale Stoffwechselprozesse gezielt beeinflussen bzw. Fehlregulationen normalisieren können. Das Opium, der eingedickte Milchsaft aus den Samenkapseln des Schlafmohns, wurde über Jahrtausende hinweg als schmerzlindernd und schlaffördernd gepriesen und unter anderem zur Behandlung von Geisteskrankheiten empfohlen. Ebenso gehörten die Rauschdrogen Haschisch, Meskalin und Koka zu den ältesten Mitteln mit psychotroper Wirkung. Hippokrates (460 bis 377), der als Begründer der wissenschaftlichen Heilkunde gilt, verwendete für seine Verordnungen bereits über 200 Heilpflanzen. Der griechische Arzt Galenos, unter anderem Leibarzt des Kaisers Marc Aurel, übte später großen Einfluss aus, so dass seine Empfehlungen über 1500 Jahre weitergegeben wurden. Neben den Arzneipflanzen spielten Ernährung, Körperbewegung, die Heilkraft des Wassers und die Musiktherapie eine bedeutende Rolle. Im Mittelalter wurde die Arzneikunde in den Klöstern kultiviert. In ihrem Kräutergarten hatte die Äbtissin Hildegard von Bingen (12. Jahrhundert) bereits 270 Heilpflanzen, z. B. Baldrian, Löwenzahn, Bilsenkraut, Huflattich, Salbei und Mohn. Paracelsus (1493 bis 1541) entdeckte die Chemie für die Heilkunde. Er schrieb: „Aufgabe der Chemie ist es, Heilmittel gegen Krankheiten herzustellen, denn der Lebensprozess ist hauptsächlich ein chemischer Prozess.“ Paracelsus prägte auch den berühmten Satz: „Alle Dinge sind Gift, allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“ Zu Beginn des 19. Jahrhunderts spiegelte die Auflistung der „Marteria medica“, die P. J. Schneider 1824 in seinem Buch „Entwurf zu einer Heilmittellehre gegen psychische Krankheiten“ veröffentlichte, eine weitreichende Polypragmasie wieder. Einerseits werden folterähnliche Maßnah45

DER PSYCHIATER UND PSYCHOPHARMAKA

men wie Drehmaschine, Hohlrad, Tropfbad oder Zwangsstuhl erwähnt, andererseits die Brech- und Abführmittel aus dem Mittelalter. Als Narkosemittel dienten Stechapfel, Bilsenkraut, Blausäure, Opium und Tollkirsche. Zur Nervenbelebung wurden Salbei, Lavendel, Wacholder, Kümmel, Moschus und Fenchelöl empfohlen. Bereits 1803 gelang dem Apotheker Sertürner die Isolierung von Morphin aus Opium. Allerdings war erst durch die Erfindung der Injektionsspritze 1860 eine genaue Dosierung möglich. 1826 wurden die Bromide als erste reine Beruhigungs- und Schlafmittel entdeckt. Chloralhydrat, das bis heute als Sedativum eingesetzt wird, existiert seit 1869. Emil Kraepelin untersuchte gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Wirkung von Alkohol, Tee, Morphin und Chloralhydrat. Er begründete die Bezeichnung „Pharmakopsychologie“ und empfahl 1899 als Narkotika Opium, Morphin und Haschisch und als Schlafmittel Chloralhydrat und Chloroform. Kraepelin berichtete bereits 1892 über seine Experimente „zur Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch Arzneimittel.“ Bis 1930 kam es in München und Heidelberg zu systematischen Studien über die Wirkung von Meskalin. Kraepelins Absicht war es, bei gesunden Probanden künstliche Geistesstörungen zu erzeugen, um präzisere Aussagen über Persönlichkeitsstrukturen machen zu können. Eugen Bleuler wies 1916 auf die Suchtgefährdung durch Opium hin. 1903 wurde erstmals Barbital synthetisiert. Von nun an galten die Barbiturate als vielversprechende Stoffklasse und J. Klaesi führte ab 1920 aufsehenerregende Barbiturat-Schlafkuren durch. Lithium ist ein in der Natur weit verbreitetes Leichtmetall. Es wurde 1818 in einem Mineral gefunden, kommt aber auch in Wasser, Pflanzen und Tiergeweben vor. Auch in menschlichen Geweben finden sich Spuren von Lithium. 1949 entdeckte J. Cade die antimanische Wirkung des Lithiums. 1952 kam dann nach heutigem Verständnis die Geburtsstunde der Psychopharmakologie.

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DER PSYCHIATER UND PSYCHOPHARMAKA

J. Delay und P. Deniker berichteten über eine Substanz, die antipsychotische Eigenschaften besaß. Bis zu diesem Zeitpunkt galt die Schizophrenie als unheilbar. Jetzt hatte man mit Chlorpromazin (Megaphen) das erste Neuroleptikum entwickelt. Der Psychiater R. Kuhn machte 1957 folgende Beobachtungen: „Die Mimik der Patienten löst sich und gewinnt ihre Ausdrucksfähigkeit zurück. Die Patienten werden lebhafter, freundlicher, umgänglicher. Sie sprechen mehr und lauter. Sie stehen am Morgen spontan auf, werden aktiver, das verlangsamte Lebenstempo normalisiert sich. Schuldgefühle und depressive Wahnideen verschwinden, Suizidimpulse treten zurück.“ Kuhn hatte das erste Antidepressivum, nämlich Imipramin (Tofranil), das auch heute noch verordnet wird, entdeckt. Mit dem Haloperidol hatte Paul Janssen 1958 ein neues Neuroleptikum entwickelt, das sich durch hohe antipsychotische Potenz und geringe sedierende Eigenschaften auszeichnete. 1960 kam der erste Benzodiazepin-Tranquilizer namens Chlordiazepoxid (Librium) auf den Markt, 1963 folgte Diazepam (Valium) und danach viele weitere Benzodiazepine. Sie traten ihren Siegeszug um die Welt an, da sie unmittelbar angstlösend und sedierend wirkten und exzellent verträglich waren. Im Gegensatz zu den übrigen Psychopharmaka erfreuen sich die Tranquilizer ungebremster Beliebtheit und werden vorrangig durch Hausärzte verordnet. Offensichtlich sind diese „Happy Pills“ immun gegen die sonst üblichen Vorurteile und Ängste – obwohl sie abhängig machen. Leidensdruck reduzieren, Konflikte zudecken und Fassade erhalten – so lautet die Devise der Konsumenten, und zwar auf möglichst billige und einfache Art. Beruhigungsmittel sind die am häufigsten verlangten und verordneten Psychopharmaka. Sie erleichtern das Vergessen. Unpässlichkeiten an der Grenze zur seelischen Störung sind oft die Ursache, wobei Ungeduld und hohe Anspruchshaltung bei fehlendem Willen zum eigenen Einsatz die Nachfrage anheizen. Dem Psychiater nützt das Wissen um diese Zusammenhänge wenig. Wird doch bei Abhängigkeit, Intoxikation oder Entzug schnell aus dem Segen ein Fluch. Laienpublikum und Medien besinnen sich dann fern jeglicher Dif47

DER PSYCHIATER UND PSYCHOPHARMAKA

ferenzierung generell auf Psychopharmaka als teuflisches Ungemach aus der Hand des Seelendoktors. Neuroleptika (griechisch „die das Nervensystem ergreifen“) sind die unbeliebtesten Psychopharmaka. Die Ablehnung beruht auf den Eindrücken, die der Besucher einer psychiatrischen Klinik noch bis Anfang der 90er Jahre mit nach Hause nahm. Er sah Scharen reglos umherdümpelnder und mimisch erstarrter Patienten, die Arme lahm nach unten hängend, mit roboterhaft anmutendem Gangbild, die auf Ansprache kaum reagierten. Diese extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen wurden über Jahrzehnte hinweg als conditio sine qua non (unabdingbar) für die gewünschte antipsychotische Wirkung einer Substanz angesehen. Das bedeutet, es galt als normal, dass schizophrene Patienten unter Medikation in der Klinik dieses oben geschilderte Bild zeigten. 1972 wurde das erste so genannte atypische Neuroleptikum (Clozapin) zugelassen, das trotz antipsychotischer Wirksamkeit keine extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen aufwies. Bis heute folgten eine ganze Reihe weiterer atypischer Neuroleptika mit erweitertem und modifiziertem Rezeptorprofil, die auf eine Verminderung der Nebenwirkungen zielen. Seit den bahnbrechenden Forschungsarbeiten von Carlsson (1963) zur Blockade von Dopamin- und Noradrenalinrezeptoren durch Neuroleptika besteht heute Einigkeit darüber, dass die Blockade von Dopamin-d2Rezeptoren den entscheidenden Mechanismus der antipsychotischen Wirkung aller derzeit bekannten Neuroleptika darstellt. Die unermüdlichen Gegner der Pharmakotherapie seien daran erinnert, wie es früher war. Bis in die 60er Jahre sah man sich in den Fluren der psychiatrischen Anstalten mit extrem auffälligen Verhaltensweisen der Kranken konfrontiert. Einige Patienten standen stundenlang in bizarrer Haltung auf einem Fleck oder drehten sich, immer die gleichen Laute vor sich hin murmelnd, um die eigene Achse. Manche ließen ihrer sexuellen Enthemmung freien Lauf und masturbierten an jedem Ort und bei 48

DER PSYCHIATER UND PSYCHOPHARMAKA

jeder erdenklichen Gelegenheit. Andere schlugen ihren Kopf an der Wand blutig oder stürmten hoch erregt und unvermittelt auf einen Mitpatienten oder Pfleger zu, um ihn zu würgen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Psychopharmaka unverzichtbar sind. Sie schafften die Voraussetzungen für eine psychotherapeutische und soziotherapeutische Vorgehensweise und begründeten die sozialpsychiatrischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte. Ohne Psychopharmaka wäre keine offene Psychiatrie, kein Bettenabbau, keine Verkürzung der Verweildauer in den Kliniken und kein Ausbau der ambulanten Behandlung möglich gewesen. Dennoch werden diese Medikamente vielerorts immer noch falsch bewertet. Manche Patienten und Angehörige erwarten ein schnelles Wunder von ihrer „Pille“, andere geben den auftretenden Nebenwirkungen gleich die Schuld an ihrer eigentlichen Erkrankung. Psychopharmaka sind teuer. Je nach Einzelfall kommen zwischen 3,-und 20,-- Euro Tagestherapiekosten bei den modernen, nebenwirkungsarmen Substanzen zusammen. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel betrugen im Jahr 2002 22,7 Milliarden Euro. Davon entfielen auf die Psychopharmaka 1,7 Milliarden Euro, also 7,3 % (Arzneiverordnungsreport 2003, Springer Verlag). Mittelfristig führt aber eine effektive und vom Patienten akzeptierte Medikation, etwa bei den Psychosen, zu einer verminderten Rezidivrate mit allen positiven Folgen für soziale Integration und Arbeitsfähigkeit. Besonders gute Nachrichten kann der Psychiater seinen Patienten psychoedukativ hinsichtlich der Depressionsbehandlung vermitteln: Die heute verwendeten Antidepressiva sind nicht nur in der Lage, selektiv, punktgenau und nebenwirkungsarm am Entstehungsort der quälenden Affekte anzusetzen. Sie besitzen auch die Fähigkeit, das Neuronenwachstum im Hippocampus zu fördern. Dies stellt eine wissenschaftliche Sensation dar, da noch vor wenigen Jahren die allgemeine Lehrmeinung galt, untergegangene Hirnzellen könnten nicht nachwachsen.

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Der Psychiater als Sachverständiger

DER PSYCHIATER ALS SACHVERSTÄNDIGER

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er Psychiater fungiert als Gehilfe des Gerichtes in vielen Fragen des Straf-, Zivil-, Sozial- und Betreuungsrechtes. Durch seine Beurteilung ist er häufig Zünglein an der Waage und beeinflusst wesentlich das Schicksal der Betroffenen. In der Regel wird ein schriftliches Gutachten verfasst, das nach formaler Gliederung und inhaltlicher Argumentation wissenschaftlichen Standards entsprechen muss. Je nach Verfahren wird vom Gericht dann nach Aktenlage entschieden oder der Sachverständige muss das Gutachten in der Hauptverhandlung erläutern und sich der Diskussion stellen. Prinzipiell kann der Psychiater aber auch ohne vorheriges Gutachten, d. h. ohne Kenntnis und vorbereitende Exploration des Betroffenen, in die Hauptverhandlung berufen werden. In diesem Fall erfolgt dann die psychiatrische Befundung und Beurteilung direkt vor Gericht und der Sachverständige muss Kraft seiner Erfahrung sehr schnell im Zuge der Verhandlung zu einem objektiven und wissenschaftlich begründeten Ergebnis kommen. Von Seiten der Gerichte gibt es keine Standards, ob, wie oder wann bzw. an wen ein Gutachtenauftrag erteilt wird. So ist z. B. die Schwere des Deliktes im Einzelfall entscheidend. Allerdings spielt die subjektive Einschätzung des jeweiligen Richters oder Staatsanwaltes eine wesentliche Rolle. Die Juristen beurteilen zunächst im Vorfeld die Aktenlage und entscheiden dann, ob sie einen Sachverständigen hinzuziehen. Je spektakulärer das Delikt und je drastischer die psychopathologischen Auffälligkeiten des Betroffenen, z. B. laut Zeugenaussagen, um so wahrscheinlicher ist natürlich die Beauftragung eines psychiatrischen Sachverständigen. Bis heute existieren keine formalen Qualifikationskriterien für forensische Sachverständige. Dem Staatsanwalt oder Richter steht die Auswahl des Gutachters frei. Da es erhebliche Kapazitätsprobleme gibt und immer auch ein zeitlicher Rahmen vorgegeben ist, bleibt es oft dem Zufall überlassen, welcher Arzt letztlich das Gutachten erstattet. Es steht aber fest, dass auch sehr erfahrene Sachverständige nicht jedes Langzeitrisiko, nicht jedes evtl. Verhalten und jeden labilisierenden Lebensumstand auf Dauer vorhersagen können. Somit bleibt immer ein Restrisiko, das vom Gericht zu würdigen ist.

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DER PSYCHIATER ALS SACHVERSTÄNDIGER

Sicher gibt es eine Vielfalt von denkbaren Persönlichkeitsprofilen zwischen dem psychotischen Eierdieb und dem dissozialen Triebtäter. Bereits im allgemeinpsychiatrischen Alltag wird der Arzt oft mit latenten Gewaltphantasien und potentiellen Straftaten eines Anteils seiner Patienten konfrontiert, wobei hier natürlich das Primat der ärztlichen Schweigepflicht gilt. Der Sachverständige hingegen ist keinesfalls für eine Behandlung zuständig, sondern allein seinem Auftraggeber verpflichtet. Seine Aufgabe besteht darin, psychiatrische Sachverhalte so zu vermitteln, dass diese für weiterreichende Entscheidungen genutzt werden können. Immer bleibt der Gutachter selbstständig, unabhängig und objektiv. Er ist Berater eines Entscheidungsträgers und liefert aufgrund seines Fachwissens Erkenntnisse, die medizinischen Laien nicht ohne weiteres zugänglich sind. Er vermeidet juristische Fachtermini wie Schuldfähigkeit, Geschäftsfähigkeit oder Erwerbsfähigkeit. Der Sachverständige sollte dem Betroffenen mitteilen, dass er nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Allerdings gilt Geheimhaltung gegenüber Dritten wie z. B. Angehörigen. Ein Rollenkonflikt ist zu befürchten, wenn der Arzt gleichzeitig als Behandler und Gutachter tätig wird. Naturgemäß ist in diesem Fall nicht die notwendige Neutralität und Objektivität gegeben. Der Sachverständige ist bezüglich seiner gutachterlichen Schlussfolgerungen keiner Partei verpflichtet, sondern einzig und allein dem aktuellen und gesicherten Wissensstand seines Faches. Der Psychiater ist als Gutachter an Entscheidungen von erheblicher Tragweite beteiligt. So beurteilt er z. B. Rentenantragsteller, die vielfach somatisch vorbegutachtet und für vollschichtig leistungsfähig erklärt wurden, in letzter Instanz auf das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung, die evtl. doch noch eine Erwerbsunfähigkeit bedingen könnte. In diesen Untersuchungssituationen sind die Betroffenen nachvollziehbar extrem angespannt und oft auch persönlich gekränkt, da sie sich durch die Vorladung beim Psychiater gedemütigt fühlen. In die Bewertung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben gehen Krankheitsverlauf, Prognose, aktueller Befund und krankheitsbedingte Leistungseinbußen genauso ein, wie Therapiemöglichkeiten und vor allem die Reversibilität der Symptomatik und damit die Rehabilitationsindikation. Häufig begegnet der 53

DER PSYCHIATER ALS SACHVERSTÄNDIGER

Sachverständige hier einer resignativen Einstellung oder auch passiv-regressiven Versorgungswünschen. In Zusammenhang mit Vermögensangelegenheiten und Immobilienbesitz, Erstellung von Vollmachten und Testamenten hat der Psychiater die Geschäftsfähigkeit zu beurteilen und gerät dabei unter Umständen zwischen die Fronten der Angehörigen des Betroffenen. Geschäftsunfähigkeit besteht, wenn sich der Betroffene in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Dies trifft z. B. für Demenzen und hochgradige Intelligenzminderungen zu.

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DER PSYCHIATER ALS SACHVERSTÄNDIGER

In großen Bereichen der Psychiatrie ist das Menschenbild des Grundgesetzes, also der freie, mündige, selbstständige und eigenverantwortliche Bürger, nicht anzutreffen. Der psychiatrische Sachverständige hat so zum Beispiel im Rahmen des bundeseinheitlichen Betreuungsrechtes Fragen nach Wohnungsauflösung und Heimunterbringung, nach Aufenthaltsbestimmung, Einteilung der Einkünfte, Empfang und Öffnen der Post bis hin zu freiheitsentziehenden Maßnahmen zu beantworten. Gegen den Willen des Betroffenen kann nur dann gehandelt werden, wenn er zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht zur freien Willensbildung in der Lage ist. Die Unterbringung etwa in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung inklusive der so genannten unterbringungsähnlichen Maßnahmen (Fixierung mit Gurt, Bettgitter, Medikamente etc.) ist über die gesetzliche Betreuung nur bei Eigengefährdung, z. B. Suizidalität, und nicht bei Fremdgefährdung möglich. Eine Fremdgefährdung liegt unter anderem bei Bedrohung eines Familienangehörigen vor oder im Zusammenhang damit stehender Sachbeschädigung innerhalb der Wohnung. Abgesehen vom Betreuungsrecht sind Aufnahmen nicht einwilligungsfähiger Personen in geschlossenen Einrichtungen über die Unterbringungsgesetze der Bundesländer geregelt. Die Polizei ist danach befugt, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung psychisch Kranke gegen ihren Willen in ein psychiatrisches Krankenhaus einzuweisen. Die weitere Entscheidung über die Unterbringung wird dann spätestens bis zum Ablauf des folgenden Tages nach Aufnahme durch den Psychiater dem zuständigen Amtsgericht übermittelt. Folgt das Amtsgericht der Empfehlung des Facharztes, ergeht ein entsprechender Unterbringungsbeschluss. Für die psychiatrischen Krankenhäuser mit einem regionalen Pflichtversorgungsauftrag gilt Aufnahmepflicht für Patienten, die von der Polizei gebracht werden („Zwangseinweisung“). So besteht beim Schizophrenen, der in der Fußgängerzone im Wahn mit Steinen nach Passanten wirft, Fremdgefährdung und beim Alkoholiker, der sich im Vollrausch auf die Straße legt, Eigengefährdung im Sinne des Gesetzes. Der therapeutische Umgang mit gewalttätigen Patienten ist auf einer allgemeinpsychiatrischen Station immer problematisch. Gemeint sind die55

DER PSYCHIATER ALS SACHVERSTÄNDIGER

jenigen Patienten, die im Vorfeld der Aufnahme eine ernsthafte Bedrohung ausgesprochen oder eine Körperverletzung begangen haben und dann untergebracht wurden. Hier stellt sich für Psychiater und Juristen folgende Frage: Ist die Gewalttätigkeit als Delikt und nicht primär als Symptom im psychopathologischen Sinne zu sehen (forensischer Ansatz) oder gilt die Gewalttätigkeit als Symptom und nicht vorrangig als Delikt (Neglect)? Der psychiatrische Gutachter hat sich in diesem Zusammenhang zur Schuldfähigkeit zu äußern, wobei das Spektrum vom fortgesetzten Schwarzfahren mit verbaler Beleidigung über die Pyromanie bis hin zum Tötungsdelikt reicht. Laut Strafgesetzbuch besteht Schuldunfähigkeit, wenn der Täter aufgrund einer schweren krankhaften seelischen Störung zum Tatzeitpunkt nicht in der Lage war, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. So gilt im Allgemeinen derjenige als schuldunfähig, der im Zustand der akuten Psychose agiert oder eine psychotisch motivierte Tat, z. B. unter dem Einfluss von Stimmen, begeht. Eine Psychose ist die psychopathologisch nachweisbare Zerstörung des Persönlichkeitsgefüges, bei der die Freiheit zum Anderswollen und Anderskönnen ausgeschlossen ist und bei der das Denken, Fühlen und Handeln nicht mehr im Einklang steht. Die Schuldunfähigkeit resultiert dann aus der unkorrigierbar autistischen Erlebnisveränderung des Paranoiden mit seinem verzerrten Realitätsbezug und der Einengung der Wahrnehmungsfähigkeit. Die Sucht, die auch häufig mit Delinquenz einhergeht, ist als Ausweichen vor der inneren Leere in die Aktion zu verstehen. Der Rausch lässt aber den Betroffenen stets unbefriedigt zurück, so dass sich der Vorgang wiederholt, dann schließlich destruktiv gesteigert und in teilweise absurden Variationen ausgestaltet werden muss. Man denke hier an das große Feld der Beschaffungskriminalität. Die dissoziale Persönlichkeitsstörung besteht bei einem Menschen, der in seiner frühkindlichen Entwicklung so schwere emotionale Schäden erlitten hat, dass er nie eine normale Ansprechbarkeit für soziale Werte erlangen konnte. Die Persönlichkeitsstruktur entwickelt sich aus Anlage und Erfahrung. Der Ausprägungsgrad einer Persönlichkeitsstörung und 56

DER PSYCHIATER ALS SACHVERSTÄNDIGER

ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit sind unter anderem entscheidend für die Beurteilung der Schuldfähigkeit. Die Berufung des Psychiaters zum Sachverständigen vor Gericht bedeutet für den Arzt immer eine Betonung seiner Qualifikation und damit auch eine besondere Gratifikation. Der Psychiater hat bei Gericht die Möglichkeit, sich durch biographische Herleitung, psychodynamische Deutung und psychopathologische Beschreibung menschlichen Fehlverhaltens, rhetorisch vor medizinischen Laien, in dem Fall Juristen, zu exponieren. Dabei ist die Atmosphäre im Gerichtssaal bei einer Hauptverhandlung durch Ehrwürdigkeit, ritualisierte Abläufe und gegenseitigen Respekt gekennzeichnet. Der Sachverständige darf sicher sein, dass sein Vortrag, nach der üblichen Befragung des Angeklagten bzw. der Zeugen, mit größter Spannung vom Gericht erwartet und zur Urteilsfindung herangezogen wird. Er muss allerdings auch den kritischen Fragen von Staatsanwaltschaft oder Verteidiger standhalten können. Bei der Annahme von Gutachtenaufträgen kann der Psychiater durchaus moralisch in Konflikte geraten. Im Falle schwerer Gewalttätigkeit gegenüber Menschen und Tieren, Misshandlung und Missbrauch von Kindern oder sexuellen Deviationen kann es mitunter für den Sachverständigen schwierig sein, nicht in eine abwertende oder verurteilende Einstellung zu verfallen. Für den erfahrenen Psychiater gilt, dass ihm zwischen Himmel und Erde nichts fremd ist. Wenn es sich jedoch um wirklich „abscheuliche“ Taten handelt, sollte der Gutachter sich selbst prüfen, ob er noch die erforderliche Objektivität und Neutralität aufbringen und seine Gefühle kontrollieren kann.

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Der Psychiater und Suizid O glücklich, wer noch hoffen kann – aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen! Was man nicht weiß, das eben brauchte man, und was man weiß, kann man nicht brauchen Goethe

DER PSYCHIATER UND SUIZID

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ie Ärzte somatischer Disziplinen behandeln Erkrankungen, die mit dem natürlichen Tod enden können. Das ist auch im kollektiven Bewusstsein verankert und akzeptiert. Der Psychiater hingegen hat es mit dem Suizid als unnatürlicher Todesfolge von seelischen Erkrankungen und schweren Lebenskrisen zu tun. „Hand an sich zu legen“ entspricht nicht den Normen der christlichen Tradition. Mit Fortdauer des psychiatrischen Berufslebens häufen sich notwendigerweise diese, immer wieder ohnmächtige Betroffenheit hinterlassenden, Ereignisse. Das hängt damit zusammen, dass das Suizidrisiko beispielsweise bei den weit verbreiteten Depressionen oder Schizophrenien um ein Vielfaches gegenüber der Normalbevölkerung erhöht ist.

Dem Kliniker wird die traurige Nachricht oft durch Angehörige oder nahe Bekannte überbracht, manchmal aber auch anonym und kalt über die Anzeige in der Tagespresse. Es sind solche Patienten, die nach längerer stationärer Behandlung vordergründig gebessert entlassen werden, vorher keine Suizidgedanken mehr geäußert hatten und dann doch überraschend aus dem Leben scheiden. Die Zeit, kurz nach der Entlassung aus der Klinik, ist immer kritisch, da der Patient erst dann seine Situation drastisch reflektiert und realisiert oder sich nach Remission einer Psychose über die ganze Tragweite der Erkrankung bewusst wird. Noch einschneidender für das therapeutische Team sind Suizide, die auf der Station innerhalb der Klinik begangen werden. Nur schwer lässt sich das Bild eines am Fenstergriff mit eigenem Gürtel strangulierten, zyanotischen Patienten löschen, die Erinnerung an den dumpfen Schlag aus dem dritten Stock einer offenen Therapiestation oder der Anblick des blutverschmierten Körpers im Bad nach beidseitiger Eröffnung der Pulsader mit einem Teppichmesser. Bei denen, die sich professionell um diese Menschen zu kümmern hatten, bleibt immer ein sehr bitterer Geschmack zurück. Zweifellos potenziert sich die Sorge um die zurückgebliebenen Mitpatienten, die das Geschehen in der Regel sehr dicht miterleben. Sie saßen mit dem Verstorbenen in der gleichen Gruppentherapie, beim Essen oder teilten in gemeinsamen Gesprächen beim Spaziergang ihr Leid. Die Gedanken des 60

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Behandlers kreisen in dieser Situation um den so genannten „WertherEffekt“, einem Phänomen, das leider im psychiatrischen Alltag durchaus relevant ist. Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774), in dem sich der Hauptakteur in theatralischer Verzweiflung aus Liebeskummer erschießt, zog in Imitation eine wahre Selbstmordwelle nach sich. Werthers Verhalten, sich nach einem Abschiedsbrief an die Geliebte im feinen Anzug am Schreibtisch mit zwei Pistolen zu suizidieren, führte zur massenhaften Identifikation mit Weltschmerz und Empfindsamkeit. Ist nicht jeder Suizid irgendwo auch eine Anklage an die Umgebung? Wurde tatsächlich alles getan? Hat man nichts übersehen? War es die richtige Medikation? Wurde vielleicht das entscheidende Gespräch versäumt? Unweigerlich wird die Schuldfrage gestellt – indirekt durch selbstkritisches Hinterfragen oder direkt durch die Angehörigen bzw. den Juristen. Ohnmächtige Wut der Hinterbliebenen oder verdrängte Schuldgefühle können auch durchaus auf den Behandler in Form einer Anklage projiziert werden. Jedenfalls hat der Psychiater die Angehörigen in ihrer Not anzunehmen und aufzufangen, darf sie nicht alleine zurücklassen und muss etwaigen Anfeindungen sachlich und ruhig entgegen treten. Vieles relativiert sich nach den ersten Tagen der Trauer. Dennoch bleibt nach jedem Suizid eine Kernfrage: War der Patient im psychopathologischen Sinne noch so krank, dass der Therapeut ihm die Verantwortung abnehmen musste oder war er in der Lage, die Verantwortung für sich selbst zu tragen und seinen Willen frei zu bestimmen? Im ersten Fall ist der Psychiater verpflichtet, auch gegen den Willen des Betroffenen, zum Schutze seines Lebens freiheitsentziehende Maßnahmen einzuleiten und ihn in einer geschlossenen Abteilung unterzubringen. Dennoch gibt es auch hier keine absolute Sicherheit und lückenlose Überwachung für Menschen, die fest entschlossen sind. Nur die Hemmschwelle ist höher, es unter den Augen der Behandler zu tun. Der Psychiater allein entscheidet dann über den Zeitpunkt des ersten Ausganges, 61

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der Wochenendbeurlaubung und schließlich der Entlassung. Das geschieht in dem Bewusstsein, dass der Patient trotz aller gebündelten therapeutischen Maßnahmen und Wegbereitung ambulanter Möglichkeiten die freie Wahl hat, sein Leben zu beenden. Permanent muss der Arzt dieses Restrisiko bei einem großen Teil seiner Patienten kalkulieren. Er kann nur hoffen, dass es ihm während der Behandlung mit Gesprächen, Medikamenten und sozialer Unterstützung gelungen ist, die Hoffnungslosigkeit zumindest partiell zu zerstreuen. Gewissheit wird er vor allem bei den Patienten nicht haben, die schon irgendwann einmal einen Suizidversuch unternommen haben. Sie tragen das größte Wiederholungsrisiko – und kommen oft mit anderer Methode zum Erfolg. Besonders gefährdet sind Patienten mit Suiziden in der Familie oder näheren Umgebung, da hier von einer Suggestivwirkung auszugehen ist. Die eigentliche Suizidrate relativiert sich vor dem Hintergrund der unzähligen Suizidversuche, die ganz oft mit mehr oder minder vital gefährdenden Medikamenten unternommen werden oder durch mehr oder minder tiefere Schnitte am Handgelenk imponieren. Viele von diesen Suizidhandlungen haben appellativen Charakter, und führen nach Erstversorgung auf der Intensivstation relativ rasch wieder zur Distanzierung von Suizidalität. In diesen Fällen kann der Suizidversuch kathartische Funktion haben und ist gleichsam Ausgangspunkt für einen konstruktiven Neubeginn. Anders verhält es sich bei den harten Methoden wie Sprung aus großer Höhe, Ertrinken, Erhängen, Erschießen oder Eingriff in den Straßen- oder Schienenverkehr. Liegt zudem ein Abschiedsbrief vor, kann man von ernsthaft geplanten Suizidhandlungen ausgehen. Diese harten Suizide werden unter anderem auch von Schizophreniepatienten unter dem Einfluss von akustischen Halluzinationen begangen oder sind Ausdruck einer als quälend empfundenen Beziehungslosigkeit, Kontaktsperre und sozialen Isolation. Es versteht sich von selbst, dass der Psychiater im Alltag stets mit Wut, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Selbstwertverlust, Angst, Schuld, Kränkung und Traurigkeit konfrontiert wird, wobei Patienten oft auch Suizidgedan62

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ken mit einfließen lassen. Diese müssen sehr ernst genommen werden, münden aber nur selten in die eigentliche Suizidhandlung. Durch das Ansprechen dieser Gedanken begeben sich die Patienten schon in den therapeutischen Prozess und lassen sich größtenteils auf die Behandlerbeziehung ein. Abzusetzen von Suizidalität sind autoaggressive Verhaltensweisen überwiegend schwer persönlichkeitsgestörter Menschen. Das Ausdrücken von Zigaretten auf der Haut oder das mehrfach tägliche Ritzen mit Rasierklingen an den Unterarmen stellt keinen Suizidversuch dar. Vielmehr sind dies Mechanismen, den eigenen Körper bei stark empfundener innerer Leere und Gefühllosigkeit wieder zu spüren. Die Verletzung wird zugunsten einer kurzfristigen Ich-Stabilisierung in Kauf genommen. Der erweiterte Suizid weist mit Sicherheit die größte Tragik auf. Eine Mutter, die etwa ihre Kinder mit dem Kissen erstickt, um sich selbst dann aus dem Fenster zu stürzen, muss das Maximum an Ausweglosigkeit empfunden haben. Allerdings sind solche Taten ebenfalls raptusartig von Schizophreniekranken unter dem Einfluss von imperativen Stimmen vorstellbar. Suchtkranke begehen Suizide im Zustand der Intoxikation, d. h. unter Umständen außerhalb der freien Willensbestimmung. Im Zuge häufiger Rückfälle und körperlicher Folgeschäden wird bei Alkoholabhängigen der Begriff des protrahierten Suizids gebraucht. Der Suizid als absoluter und finaler Akt markiert die letzte Lösung einer als ausweglos empfundenen Situation. Menschen, die sich längere Zeit am seelischen Existenzminimum bewegen, steigen in eine apokalyptische Erlebniswelt ab, aus der es keine Rückkehr zu geben scheint. Nach Schopenhauer (1891) ist der Suizid die konsequente Verneinung des Leidens bei erloschener Genussfähigkeit. Gesunde Menschen sind in der Lage, psychische Belastungen zu kompensieren. Diese Fähigkeit zur Gegenregulation besitzt irgendwo ein Optimum, das mit völligem Wohlbefinden gleichzusetzen ist. In diesem Zustand befindet sich der Mensch, in kritischer Abwägung der eigenen Per63

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son, mit der Umgebung im angenehm empfundenen Gleichgewicht. Stets strebt die Persönlichkeit danach, dieses Gleichgewicht zu erreichen, verwendet darauf mehr oder weniger Energie, ist dabei unterschiedlich kreativ und pendelt in einem dauernden dynamischen Prozess auf und ab. Bei der Depression steht das Erleben und Verhalten einseitig im Dienst des negativen Affektes und die psychophysische Kompensationsfähigkeit versagt. Die Vernichtung des Selbst manifestiert sich in Form von Gedanken, die sich zunächst aus der Ferne einstellen, sich dann immer stärker aufdrängen und schließlich bis zur alles bestimmenden, überwertigen Idee im Vordergrund des Bewusstseins stehen. Daraus entwickelt sich, in tief empfundener Einsamkeit, die konkrete Planung des Suizids. Im Kontakt mit vielen psychisch Kranken beschleicht den Behandler, angesichts mancher Leidenswege mit kaum überwindbaren biographischen Hürden, die Furcht vor dem plötzlichen Therapieabschluss. Im Ergebnis bleiben mit Sicherheit alle theoretischen Betrachtungen über Suizid und Suizidalität blass und unscharf hinter dem zurück, was der Psychiater im täglichen Umgang mit Patienten erlebt.

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Der Psychiater im zeitlichen Wandel

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rüfe Dich allabendlich, ob Du am Tage stets mit Güte, Geduld und Gewissenhaftigkeit Dich um die Dir anvertrauten Kranken bemüht hast, niemandem zu nahe getreten bist, niemanden kränktest.“ So schreibt Medizinalrat Prof. Dr. Dannemann, Direktor der hessischen Heil- und Pflegeanstalt Heppenheim an der Bergstraße, 1925 im Vorwort zur 19. Auflage des Buches „Leitfaden für Irrenpfleger“ von dem Nervenarzt L. Scholz (1868 bis 1918). Scholz gab 1890 das Buch heraus, das über viele Jahrzehnte mit insgesamt 26 Auflagen der erste fachliche Standardlehrtext für psychiatrisches Pflegepersonal wurde. In dem Lehrbuch wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein längerer Umgang mit Geisteskranken per se nicht geisteskrank machen könne. Vielmehr hätten Geistesstörungen ihre Ursache in krankhaften Veränderungen am zentralen Nervensystem. Sie könnten auch nicht durch Berührung übertragen werden. Eine Infektiösität psychischer Erkrankungen existiere nicht. Die oben zitierte humane Einstellung ließ lange auf sich warten. Hippokrates (460 bis 377) beschrieb Geisteskrankheit als Ausdruck und Folge körperlicher Krankheitszustände, durch die die Funktion des Gehirns, des Sitzes der Seele, beeinflusst werde. Der römisch-griechische Arzt Galen (129 n.Chr. bis 199 n.Chr.) war ebenso wie Hippokrates ein Vertreter der Humoralpathologie, nach der ein Ungleichgewicht der Körpersäfte Ursache aller Krankheiten sei. Die Behandlung zielte auf die Entleerung schädlicher Körpersäfte durch Aderlass, Blutegel, Diuretika, Brech- und Schwitzmittel. Im Mittelalter galt Geisteskrankheit als Folge einer Todsünde. Die Betroffenen wurden als Besessene gefoltert und verbrannt. Wegen Übertretung gesellschaftlicher Ordnung erfolgte die Gleichsetzung mit Kriminellen und Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden zunächst in England die ersten Heil- und Pflegeanstalten, wobei Geisteskranke als hilfsbedürftig und besserungsfähig angesehen wurden. Philippe Pinel (1745 bis 1826), Psychiater am Bicêtre und an der Salpêtrière in Paris, befreite im Gefolge 66

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der Freiheitsideen der französischen Revolution 1793 40 Geisteskranke von Bicêtre von ihren Ketten und leitete damit ein Zeitalter humanerer Behandlung der psychisch Kranken ein. Er schaffte Vergeltungsmaßnahmen gegen gewalttätig gewordene psychisch Kranke ab. Pinel schuf darüber hinaus eine Lehre von den Krankheitszeichen, auf der die weitere Entwicklung von Psychologie und Psychiatrie im 19. Jahrhundert aufbaute. In Deutschland wurde die erste öffentliche, nach humanen Grundsätzen eingerichtete Anstalt im Jahre 1801 eröffnet. Es war die Landesirrenanstalt der Neumark in Neuruppin. Mitte des 19. Jahrhunderts etablierten sich dann in Deutschland in größerem Umfange solche Einrichtungen für psychisch Kranke. Diese gingen in der Regel aus Klöstern hervor, die sich aus caritativen Motiven heraus den Geisteskranken schon frühzeitig annahmen. Anfänglich noch gut gesicherte Verwahrungsanstalten mit Gittern, Mauern und Einzelzellen, entwickelten sich die Gebäude im Laufe der Jahrzehnte immer mehr zu Krankenanstalten, die den Patienten auch größere Freiheiten einräumten. Die innere Konzeption trug den unterschiedlichen Krankheitsprofilen Rechnung, so dass besonders gesicherte Bauten für Gewalttätige, Krankenstationen für Bettlägerige und offene Landhäuser für Arbeitsfähige errichtet wurden. Die Anstalten lagen abgeschieden und isoliert, hatten ihre eigene Landwirtschaft und ihre Werkstätten für den täglichen Bedarf. Das Zisterzienser-Kloster Eberbach nahm z. B. bereits im 13. Jahrhundert adelige Geisteskranke in ein Hospital auf. In Kiedrich wurde schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts ein Hospital für Epileptiker errichtet. 1815 wurde die herzoglich nassauische Irrenanstalt Eberbach eröffnet und 1849 erfolgte die Eröffnung der „Heil- und Pflegeanstalt Eichberg“. Die Verhältnisse in der Irrenanstalt Eberbach von 1815 bis 1849 spiegeln die therapeutische Konzeption der deutschen Anstaltspsychiatrie in diesen Gründerjahren sehr gut wieder. Jenseits einer wirksamen Psychopharmakologie und zaghafter Ansätze einer empirisch fundierten Psychologie galt die seit Jahrhunderten angewandte Humorallehre immer noch als 67

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probate Methode gegen Schwermut, Raserei und Wahnsinn. Die Vorstellung von der Überreizung bzw. Reizarmut des Nervensystems verschaffte den Mitteln der alten Säftelehre ihre Berechtigung. Blutegel, Aderlass, Glüheisen, Abführ- und Brechkuren, Wasserguss und kaltes Schockbad sowie Zwangsjacke und Zwangsstuhl hatten den Zweck, je nach vorherrschender Symptomatik, dem Organismus Energie zu entziehen oder zuzuführen. Sekundär dienten diese somatisch wirksamen Maßnahmen aber auch der Sanktionierung im Rahmen der „psychischen Kurmethode“, die das zentrale Therapiekonzept der frühen Anstaltspsychiater darstellte.

„Sturzbäder“ aus: E. Horn 1818 Quelle: Linde, Otfried: „Pharmakopsychiatrie im Wandel der Zeit“ Tilia Verlag Klingenmünster 1988

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„Der Tranquillizer“ aus: P.J. Schneider 1824 Quelle: Linde, Otfried: „Pharmakopsychiatrie im Wandel der Zeit“ Tilia Verlag Klingenmünster 1988

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„Hypnose“ Karrikatur um 1850 Quelle: Spektrum der Wissenschaft, Freud, Biografie 3/2000

Immanuel Kant hatte gelehrt, psychische Krankheit sei die Entordnung der Vernunft und Heilung sei nur durch Wiederherstellung dieser Ordnung zu erlangen. In diesem Sinne wurde die psychiatrische Anstalt des 19. Jahrhunderts als patriarchalisch geleitete Lebensschule geführt. Die Person des ärztlichen Direktors war von Rationalität, Prinzipientreue und sittenstrengem Ernst geprägt. Während seiner regelmäßigen Visiten bot er sich seinen Patienten entsprechend ihres Verhaltens als strenger Richter oder gütiger Vater, als Lehrer und Meister, in jedem Falle aber als unbedingte Autorität dar, wobei das pädagogische Regime jederzeit an nachrangige Ärzte delegierbar war. Geblieben ist bis heute die Notwendigkeit, im Angesicht sehr unterschiedlicher Krankheitsbilder schnell umschalten und individuell reagieren zu müssen. Ein Facharzt, der morgens 70

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eine geschlossene Aufnahmestation visitiert, dann einen Rentenneurotiker begutachtet, mittags mit Schizophreniepatienten eine psychoedukative Gruppe durchführt und danach seine Ambulanzsprechstunde abhält, muss neben Empathie und Sachkenntnis vor allem Flexibilität und rhetorisches Geschick besitzen. Allein dieser beruflichen Wandlungsfähigkeit gehört die Zukunft. Moderne Psychiatrie als Dienstleistung am Patienten ist heute nicht mehr kompatibel mit dem Besitzstandsdenken des trägen und ideologisch verfilzten Behandlers, der sich beharrlich weigert, seinen bequemen, angestaubten Sessel zu verlassen. Hier schließt sich der Kreis zum alten Anstaltspsychiater, der lediglich das nach außen sichtbare Verhalten des Patienten und nicht sein subjektives Befinden, will sagen seine Lebensqualität, als Maßstab der Heilung und Besserung begriff. Oberstes Prinzip der Behandlung und auch Beurteilung der Kranken war ihr Wille zur Arbeit und Beschäftigung. Die Irrenanstalt des 19. Jahrhunderts bildete die Normen und Werte der bürgerlichen Gesellschaft ab. Nur durch Ordnung, Anstand, Fleiß, Bescheidenheit und Beherrschung hinter den Anstaltsmauern war es möglich, die psychiatrische Krankenbehandlung vor dem „Bildungsbürgertum“ zu legitimieren. So gelang es auch, die Psychiatrie als Wissenschaft um 1900 mittels Nosologisierung und Schematisierung der Diagnostik weiter zu entwickeln. Ein Pionier der modernen Psychiatrie war Wilhelm Griesinger (1817 bis 1868), der keineswegs nur als einfacher „Hirnpsychiater“ zu verstehen war. Er engagierte sich auch als bedeutender Sozialpsychiater und setzte sich bereits frühzeitig für Reformen des Anstaltswesens ein. Für Akutkranke empfahl er nur kürzere, vorübergehende Aufenthalte in so genannten „Stadtasylen“, die in größeren Städten errichtet werden sollten. Diese Idee entspricht genau der heutigen psychiatrischen Abteilung am Allgemeinkrankenhaus, wobei Griesinger damals eine Größe zwischen 60 und 150 Plätzen und eine Behandlungsdauer von höchstens einem Jahr anstrebte. Im Sinne der heutigen sozialpsychiatrischen Dienste und Institutsambulanzen forderte Griesinger bereits zu seiner Zeit, dass „ei71

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ner der Assistenzärzte den Kranken in seiner Wohnung besuchen solle, um sich von der Sachlage und der Dringlichkeit einer stationären Aufnahme zu überzeugen. So lerne der Arzt die Verhältnisse des Kranken kennen und solle sich auch mit den Angehörigen besprechen.“ Griesinger schreibt 1845: „Der Umgang unter den Kranken selbst muss nicht zu streng abgesperrt sein. Man muss vielmehr auf Erhaltung einer gewissen Sozialität sehen, in welcher die Formen des gesunden Umgangs beobachtet werden, und alles muss ergriffen werden, was den Kranken vor weiterer Entfremdung gegen die Welt bewahrt.“ Zur Familienpflege gab Griesinger an, dass diese ermögliche, was die beste Anstalt niemals bieten könne: „Die Existenz unter Gesunden, die Rückkehr aus einem künstlichen, monotonen in ein natürliches soziales Medium, die Wohltat des Familienlebens“. „Was neuerdings von den Ärzten dieses Faches am Krankenbett, am Sektionstisch, in den Laboratorien und Forschungsinstituten gearbeitet wird, um die letzten Ursachen jener Störungen im Ablauf seelischer Prozesse, die man „Geisteskrankheiten“ nennt, herauszustellen, berechtigt zur Hoffnung, dass der in diesem Sonderfach tätige Arzt einst seinen Kranken das sein wird, was sein Name verspricht: ein Heiler der Seele, ein Psychiater.“ Aus: Scholz, Ludwig: „Leitfaden für Irrenpfleger“, Halle 1925

Das dunkelste Kapitel deutscher Psychiatrie folgte im Nationalsozialismus. 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen. Daraufhin erfolgten in großer Zahl Zwangssterilisationen in psychiatrischen Einrichtungen. Nach dem „Euthanasie-Erlass“ von 1939 wurden bis 1945 im Rahmen der so genannten „Aktion T 4“ Tausende von Patienten durch Gas, Nahrungsentzug oder Überdosen von Medikamenten ermordet. In Konzentrationslagern wurden brutale Menschenversuche vorgenommen.

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DER PSYCHIATER IM ZEITLICHEN WANDEL

Die deutsche Psychiatrie war in hohem Maße schuldig geworden. Nur wenige, wie Alexander Mitscherlich und Viktor von Weizsäcker, reflektierten in der Nachkriegszeit aus Betroffenheit und Scham in ihren Schriften die Katastrophe. Nur sehr schleppend konnten die Versäumnisse in der Versorgung aufgeholt werden. Die Heil- und Pflegeanstalten waren bald wieder überfüllt und wurden zu unübersichtlichen Großkrankenhäusern. Immerhin brachten in den 50er und 60er Jahren die ersten wirksamen Psychopharmaka entscheidende Fortschritte. In jener Zeit zogen sich die Psychiater diskreditiert hinter ihren Mauern zurück und verwalteten klaglos den Mangel. Viele Patienten waren bis in die 70er Jahre in den so genannten Langzeitbereichen der Anstalten untergebracht. Schlafsäle mit mehr als 11 Betten prägten das Bild, für persönliche Sachen stand nur ein Nachttisch zur Verfügung. Unter unzumutbaren hygienischen Verhältnissen verbrachten die Patienten oft viele Jahre ihres Lebens, wobei das Personal aller Berufsgruppen extrem knapp und schlecht ausgebildet war. Diese Missstände aufzuheben, war das Ziel der Psychiatriereform, die in den Jahren 1971 bis 1975 von einer Expertenkommission erarbeitet wurde. Zentrale Bestrebungen richteten sich auf Enthospitalisierung mit Verkleinerung der Landeskrankenhäuser und ihrer Einzugsgebiete, auf Regionalisierung und Sektorisierung mit dem Aufbau von Abteilungspsychiatrien an Allgemeinkrankenhäusern und auf die Erweiterung teilstationärer, ambulanter und komplementärer Behandlungsangebote. Es galt das Primat der gemeindenahen, sozialpsychiatrischen Versorgung vor psychiatrischen Fachkliniken mit Spezialstationen.

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Der Psychiater und seine Perspektiven

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m Zuge der Reformen war die Psychiatrie immer auch Spielwiese der Ideologien und selbst ernannter Experten. Ideologien sind ohne gerichtete materielle Interessen nicht denkbar. So schmücken sich die Träger von Allgemeinkrankenhäusern mit dem Etikett der „gemeindenahen Psychiatrie“, um über die Einrichtung einer psychiatrischen Abteilung den Bettenabbau in somatischen Disziplinen zu kompensieren. Immerhin gelten für die Psychiatrie als einzigem Fach noch keine Fallpauschalen (DRG’s), die eine Verkürzung der stationären Verweildauer bedeuten. Psychisch Kranke subventionieren die teure Apparate- und Intensivmedizin, da sie, gemessen am Pflegesatz, geringere Kosten verursachen, als die operativen Fächer. Aber sind psychiatrische Patienten im Allgemeinkrankenhaus wirklich akzeptiert und mit körperlich Kranken gleichberechtigt oder werden sie nicht eher in Nebengebäude, Seitenflure und Altbauten abgeschoben? Dennoch – der klinische Psychiater befindet sich in einer bedeutenden Entwicklung, weg von der alten Anstalt, hin zur modernen Klinikstruktur. Dies spiegelt sich in einem drastischen Bettenabbau und einer Verkürzung der stationären Verweildauer wieder. Enthospitalisierte chronisch Kranke haben aber auf ihrem Weg zurück in die Gemeinde durchaus mit Unebenheiten zu kämpfen. Nur vordergründig ist das von der Psychiatrie-Enquete geforderte Zusammenspiel zwischen ambulanten, teilstationären und komplementären Versorgungsangeboten umgesetzt worden. Zu oft erscheint das so genannte psychosoziale Netz nicht nur Betroffenen und Angehörigen, sondern sogar auch professionellen Helfern als Labyrinth. Vielerorts fehlt es an Koordination, wobei die Pluralität der Träger und der Angebote kaum zu durchschauen ist. Vor allem wird es immer eine gewisse Anzahl schwer gestörter und dissozialer Menschen geben, die keiner haben will. Bis heute existiert keine sektorisierte Versorgungspflicht komplementärer Einrichtungen und Heime. Nach vielfältigen Versuchen der Enthospitalisierung sind es diese Patienten oft selbst, die sich aus ihrer Entwurzelung heraus einen festen Platz in einer beschützenden Heimeinrichtung wünschen. Die neue Generation der „Langzeitpatienten“ der 70er und 80er Jahrgänge mit schlechter Progno76

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se und geringer Therapiebereitschaft muss zur Kenntnis genommen werden. Von Seiten der Kostenträger gibt es keinerlei Signale zur Integration oder gar Rehabilitation dieser schwierigen Klientel. Im Zuge allgemeiner Sparmaßnahmen wurden Anfang 2004 sogar vorhandene Gelder wieder gestrichen. So erhält z. B. ein wohnsitzloser, chronisch psychisch Kranker in der Regel in Hessen nach Entlassung aus der Klinik kein Hotelzimmer mehr auf Kosten des Landessozialamtes. Solche Menschen kommen dann auf Umwegen immer wieder in die Klinik zurück, die eben nicht, wie früher, Schutzräume und Nischen über Monate hinweg zur Verfügung stellen kann. Ein Teil dieser Patienten wird von der Gesellschaft „draußen“ nicht toleriert und von den Kostenträgern „drinnen“ nicht finanziert. Anlass zur Hoffnung geben Projekte wie die so genannte „Implementation personenzentrierter Hilfen“ in Städten und Landkreisen zur gezielten Förderung und Steuerung der Gemeindepsychiatrie. Hier sitzen alle Therapieanbieter regelmäßig an einem Tisch und beraten pragmatisch und ergebnisorientiert unter direkter Einbeziehung der Klienten über individuelle Unterstützungsmöglichkeiten. Die Psychiatriereform ab 1975 hat vielen Patienten mehr Freiheit und Lebensqualität gebracht. Richtig ist aber auch, dass in allen deutschen Bundesländern der Anteil forensischer Unterbringungen dramatisch gestiegen ist, und dass vielerorts deshalb der Maßregelvollzug aufgestockt werden muss. Die vorhandenen Plätze für psychisch kranke Straftäter reichen im Jahr 2004 bei weitem nicht aus. Das Verschwinden der großen psychiatrischen Anstalten mit ihren beschützenden und begrenzenden Konzepten scheint eine Ursache dafür zu sein.

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DER PSYCHIATER UND SEINE PERSPEKTIVEN

Nach Jahrhunderten stagnierender und dämonenhaft-mystischer Verschleierung psychiatrischer Versorgung etablierte sich die empirisch-wissenschaftliche Psychiatrie erst vor etwa 150 Jahren. Der ehemals paternalistische Anstaltspsychiater mutierte zum heutigen „Case-Manager“, der die Erkenntnisse aus Pharmakologie, Neurophysiologie und Molekularbiologie umsetzt, sozialpsychiatrisch denkt, psychotherapeutisch-empathisch agiert und dabei auch noch ökonomische Rahmenbedingungen beachten muss. Insbesondere die neuen bildgebenden Verfahren haben zum besseren Verständnis des Zusammenspiels zwischen Kognition und Hirnfunktion geführt. So ist die strenge Unterscheidung zwischen „somatogen“ und „psychogen“ nicht mehr haltbar, es gilt vielmehr ein „sowohl als auch“.

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„Die Anstalt vermag am besten ihren Zweck zu erfüllen, welche nahe einer großen Stadt und im Zentrum ihres Aufnahmebereiches liegt. Leicht kann dahin der Kranke verbracht werden, und denen, die sich seiner Pflege widmen, ist so stets Gelegenheit gegeben, an den idealen Gütern des Lebens teilzunehmen und neue Frische für den an trüben Eindrücken leider so überreichen Beruf zu gewinnen.“ Aus: Scholz, Ludwig: „Leitfaden für Irrenpfleger“, Halle 1925

Überall da, wo Menschen mit Menschen umgehen, sind die Neurowissenschaften nicht mehr wegzudenken. Dabei ist die Erforschung des Gehirnes nach einer gewonnenen Erkenntnis immer wieder Quelle vieler neuer Fragen unter der Überschrift: „Ein kognitives System ergründet sich selbst“. Molekularbiologische Grundlagen der Neuroplastizität und Neuromodulation werden die Therapiemöglichkeiten auf pharmakologischer und psychoedukativer Ebene erweitern. In diesem Sinne können gestörte Hirnstoffwechselfunktionen gentherapeutisch reguliert und computergestützt trainiert werden. Angesichts fortschreitender Bürokratisierung, Ökonomisierung und Reglementierung will aber keine Euphorie aufkommen. Damals wie heute entzieht sich auch ein gerüttelt Maß an „Psychiatrieerfahrenen“ den verzweifelten Behandlungsversuchen und gut gemeinten Ratschlägen der „Professionellen“. Krankheitsbedingt oder ganz einfach nur eigensinnig begreifen sie das immer dichter werdende „Kompetenznetzwerk“ der Psychiatrieanbieter weniger als Hilfe, sondern als Umzingelung und Freiheitsbeschränkung. Ein Netz ist eben nicht nur geeignet, aufzufangen, sondern auch einzufangen und gefangen zu halten. Diese bei den Kostenträgern naturgemäß unbeliebten „Drehtürpatienten“ verkörpern nicht selten die „dunkle Seite“ der menschlichen Natur. Fern ab von Vernunft und Einsicht geben sie sich unbeherrscht ihren Trieben und Wahrnehmungen hin, unterwerfen sich keiner Ordnung und nehmen die Welt um sich herum als ver...rückt wahr. So konnte der Bewohner eines 12-Parteien79

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Mietshauses, der seine Fenster akribisch mit Aluminiumfolie gegen von außen eindringende Strahlen abschirmte, überhaupt nicht verstehen, warum die anderen Mieter derartige Schutzvorkehrungen nicht vornahmen. Er erklärte sie kurzerhand für verrückt und lebensmüde. Wer jedoch kann für sich in Anspruch nehmen, diese so genannten Klienten nach eigener Facon umzupolen? Wer weiß, was wirklich für psychotische Menschen mit jahrzehntelangem Krankheitsverlauf gut und richtig ist? Wer weiß, was tief in ihrem Innersten vorgeht? Es sind immer wieder die bürgerlichen Ängste vor sozialer Unordnung, vor Aufruhr und Verwahrlosung, die, bei Grenzüberschreitungen durchaus berechtigt, Polizei, Gerichte und letztlich die Psychiater auf den Plan rufen. Jenseits jeglicher therapeutischer Standards bedienen aber auch Theologen, Pädagogen, Philosophen, Heilpraktiker, Sozialarbeiter, Krankenpfleger, Parapsychologen und Esoteriker die Nachfrage einer morbiden Konsumgesellschaft nach Psychohygiene. Große Bevölkerungsanteile werfen diese Berufsgruppen mit Neurologen, Psychiatern und Psychologen in einen Topf, wenn es um die Suche nach einem „Seelendoktor“ oder „Therapeuten“ geht. So liegt es im ureigenen Interesse des Arztes selbst, sich die Frage nach den Eigenschaften eines guten Psychiaters zu stellen. Die Mutter eines Schizophreniepatienten gab die Antwort in ihrem Brief folgendermaßen: „Er ist Tag für Tag bereit, sich mit Interesse, Geduld und Respekt in den Dienst des Kranken zu stellen und sich verbindlich auf die Beziehung mit ihm einzulassen.“ Der heutige Psychiater setzt wie früher seine ganze Person als diagnostisches und therapeutisches Medium ein. Er ist damit verwundbarer als der Mediziner hinter Apparaten und Geräten, da er seine Glaubwürdigkeit direkt präsentieren und einlösen muss. Über die Jahre hinweg ist aus dem Patriarchen ein Mitglied des therapeutischen Teams geworden. Die Erwartungen und Hoffnungen des Patienten und seiner Angehörigen

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DER PSYCHIATER UND SEINE PERSPEKTIVEN

richten sich jedoch in erster Linie auf ihn als Spezialisten und Mitmenschen. Trotz allem ist er nicht der Freund, der Nachbar oder gar der Vater, den viele gerne in ihm sehen möchten. Diejenigen, die ihn aufsuchen, tun es oft nicht freiwillig. Diejenigen, die sich zu ihm bekennen, müssen sich überwinden.

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Glossar Affekt

Heftige Gefühlswallung

akzessorisch

Zusätzliche Symptome bei Schizophrenie wie z.B. Wahnideen

Amphetaminderivate

Synthetische Drogen, die antriebssteigernd wirken

Anamnese

Krankengeschichte

Antidepressiva

Medikamente, die stimmungsaufhellend und angstlösend wirken

antipsychotisch

Gegen die Psychose gerichtet

autoaggressiv

Gegen den eigenen Körper gerichtet, selbstverletzend

Dementia praecox

Ursprüngliche Bezeichnung der Schizophrenie

Depression

Psychische Störung mit trauriger Verstimmung und Antriebsminderung

Determinante

Bedingung, Festlegung, Bestimmung

Deviation

Abweichung von der Normalität

dissozial

Abseits gesellschaftlicher Normen und Werte

Dissoziation

Spaltung des Bewusstseins

Dopamin

Chemischer Botenstoff im Gehirn, der vor allem für Antrieb, Bewegungsabläufe und geistige sowie körperliche Aktivität benötigt wird

dopaminerg

Auf das Dopaminsystem wirkend

DopaminHypothese

Annahme, ein Dopaminüberschuss sei verantwortlich für akute Schizophreniesymptome

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GLOSSAR

Empathie

Einfühlungsvermögen

empirisch

Aus der Erfahrung und Beobachtung erwachsen

Extrapyramidalmotorisch

Unwillkürliche Bewegungen z.B. der Gesichtsmuskulatur als Nebenwirkung auf Medikamente

Forensik

Bereich der Psychiatrie, der sich psychisch kranken Straftätern beschäftigt

Halluzination

Trugwahrnehmung, d.h. Wahrnehmung ohne den entsprechenden Sinnesreiz, z.B. Stimmenhören bei Schizophrenie

Hippocampus

Gedächtniszentrum im Gehirn

Humoralpathologie

Gemäß der antiken Säftelehre (z.B. Blut, Galle etc.), Ungleichgewicht der Säfte

Hypnose

Durch Suggestion herbeigeführter schlafähnlicher Zustand

Hysterie

Bereits von Hippokrates verwendeter Begriff für starke Gefühlsbetontheit und übermäßiges Verlangen nach Aufmerksamkeit sowie psychisch bedingte körperliche Symptome wie z.B. Lähmungen oder Krampfanfälle

körperdysmorph

Zwanghafte Vorstellung, durch wirkliche oder vermeintliche Körperfehler unter Menschen unangenehm aufzufallen

Kognition

Sammelbegriff für Wahrnehmen, Erkennen, Denken, Vorstellen, Erinnern und Urteilen

komplementär

Sich gegenseitig ergänzend, z.B. im psychiatrischen Versorgungssystem

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GLOSSAR

Manie

Form der Psychose. Heitere Verstimmung, Erregung, auch Gereiztheit, Enthemmung und Selbstüberschätzung

Molekularbiologie

Forschungszweig der Biologie, der sich mit den chemisch-physikalischen Eigenschaften organischer Verbindungen im lebenden Organismus beschäftigt

Neurobiologie

Wissenschaft vom Stoffwechsel der Nervenzellen

Neurologie

Wissenschaft, die sich mit der Erkennung und Behandlung organischer Krankheiten des Nervensystems befasst

Neuroleptika

Antipsychotisch wirksame Medikamente, Herabsetzung von Erregtheit und Gespanntheit

Neuronen

Nervenzellen

Neuropathologie

Wissenschaft, die sich mit krankhaften Veränderungen am Nervengewebe, z.B. am Gehirn, befasst

Neurophysiologie

Wissenschaft, die sich mit der elektrischen und chemischen Reizleitung und Informationsübertragung im Nervensystem befasst

Neurose

Seelisch bedingte Krankheit, die mit bestimmten seelischen Symptomen, wie Ängsten, Depressionen oder Zwängen sowie anderen Verhaltensstörungen einhergeht, deren Ursache in der Auseinandersetzung mit einem innerseelischen Konflikt gesehen wird. Nach psychoanalytischer Theorie spielen dabei ins Unbewusste verdrängte frühkindliche Konflikte die entscheidende Rolle.

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GLOSSAR

Neuroplastizität

Fähigkeit von Nervenzellen besonders beim Kind, aber auch in begrenzter Form bei Erwachsenen, die Bahnung und Vernetzung untereinander zu verändern. Durch Löschung und Neuverschaltung im Bereich der Synapsen sind z.B. Lernvorgänge bis ins hohe Alter möglich.

Neurotransmitter

Chemische Botenstoffe, die der Informationsübertragung zwischen den Nervenzellen dienen, z.B. Dopamin, Serotonin, Noradrenalin

Nosologie

Systematische Beschreibung und Klassifizierung von Krankheiten

paranoid

Wahnhaft

Paralyse, progressive

Psychische Krankheit durch Syphillis infolge massiver Infektion der Hirnrinde

Parietallappen

Größerer Bezirk der Hirnrinde

Pharmakotherapie

Behandlung mit Medikamenten

PositronenEmissionsTomographie

Bildgebendes Verfahren, wobei Gehirnstoffwechselvorgänge im lebenden Organismus dargestellt werden können. Ähnliche Ergebnisse liefert auch die funktionelle MRT, mit der nach unterschiedlichen äußeren Reizen bestimmte Hirnareale spontan in ihrer Aktivität abgebildet werden können.

Psychiatrie

Wissenschaft, die sich mit der Erkennung und Behandlung seelischer Krankheiten befasst

Psychiatrie, biologische

Erforschung des Gehirns als Ursache seelischer Krankheiten

Psychiatrie, kustodiale

Früher Anstaltspsychiatrie, die nur der Aufbewahrung der Patienten diente

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GLOSSAR

Psychoanalyse

Von S. Freud begründete medizinischpsychologische Disziplin. Ziel ist die Aufdeckung unbewusster Konflikte und frühkindlicher Erfahrungen mittels freier Assoziation. Dadurch wird eine adäquate seelische Verarbeitung aktueller Störung ermöglicht.

psychogen

Rein seelisch verursacht

Psychologie

Wissenschaft von der Seele. Psychologen sind keine Ärzte.

Psychopathologie

Teilgebiet der Psychiatrie, Beschreibung krankhafter seelischer Symptome

Psychopharmaka

Medikamente, die auf die Seele wirken, z.B. Antidepressiva oder Neuroleptika

Psychose

Schwerwiegende Beeinträchtigung im Denken und Fühlen, im Antrieb und in der Stimmung. Der Betroffene erlebt seine Umwelt in veränderter Weise. Oft sind Kontaktfähigkeit und Realitätseinschätzung eingeschränkt.

Psychosomatik

Lehre von den körperlich in Erscheinung tretenden Erkrankungen, von denen man annimmt, dass sie seelisch bedingt oder mitbedingt sind.

Psychotherapie

Behandlung von abnormen Seelenzuständen, psychischen und Körperkrankheiten durch gezielte seelische Einflussnahme, d.h. durch bewusste Ausnutzung der Beziehung zwischen Arzt und Patient. Sammelbegriff für viele unterschiedliche Methoden wie z.B. Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie, Hypnose, Psychoanalyse etc.

Pyromanie

Zwanghaftes oder triebhaftes Brandstiften

Rezeptoren

Bindungsstellen an Nervenzellen für chemische Botenstoffe

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GLOSSAR

Schizokokkus

Wortneubildung aus Schizophrenie und einer Bakteriengattung. Soll deutlich machen, dass die Schizophrenie niemals nur auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden kann.

Schizophrenie

Spaltungsirresein. Bleuler prägte den Begriff, weil die Spaltung der verschiedensten psychischen Grundsymptome (Denken, Affektivität, Aktivität) besonders charakteristisch für das Krankheitsbild ist. Das Individuum und die reale Welt sind durch Spaltung getrennt. Das Denken ist in Bruchstücke zerspalten, die Assoziationen sind aufgesplittert, Denken und begleitende Gefühle passen nicht mehr zusammen.

schizophrenogen

Die Schizophrenie auslösend

Sedativa

Schlafmittel

Somatogen

Durch den Körper verursacht

Sozialpsychiatrie

Teilgebiete der Psychiatrie, wobei besonderer Wert auf Reintegration der Patienten in die Gesellschaft und möglichst weitgehende Autonomie bezüglich Beschäftigung, Wohnen und Freizeit gelegt wird.

Soziophobie

Angst, mit Menschen in Kontakt zu treten

Suizidalität

Starke Tendenz, Selbstmord zu begehen. Häufiges Risiko bestimmter psychiatrischer Erkrankungen.

Synapsen

Verknüpfungszellen zwischen Nervenzellfortsätzen, an denen chemische Botenstoffe von den Nervenzellen ausgeschüttet werden, ihre Wirkung entfalten und wieder aufgenommen werden. Ort der Informationsübertragung im Gehirn.

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Tiefenpsychologie

Psychiatrische und psychologische Forschungsrichtung, die sich besonders mit der Bedeutung vorbewusster seelischer Gegebenheiten und der Tiefenschichten der Persönlichkeit für Seelenleben und Verhalten befasst.

Tranquilizer

Beruhigungsmittel, das nach längerer Einnahme zur Abhängigkeit führt

Übertragung

Begriff aus der Psychoanalyse. Während der Therapie entstehende Projektion frühkindlicher Einstellungen, Wünsche und Gefühle zu Vater, Mutter oder anderen Gefühlen auf den Analytiker. Der Patient verhält sich dann gegenüber dem Arzt, wie er es diesen Personen gegenüber in früher Kindheit getan hat. Gegenübertragung bedeutet, dass der Arzt eigene Gefühle, ob positiv oder negativ, auf den Patienten überträgt, wobei der Arzt aufgrund von umfassender Selbsterfahrung schnell wieder seine objektive Position einnehmen muss.

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Zur Person Der Autor, Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, stellt den Beruf des Psychiaters facettenreich, kritisch und transparent dar. Als leitender Klinikarzt bringt er seine langjährige Erfahrung mit Patienten und Angehörigen, aber auch mit Kollegen, Therapeuten, Juristen und Pflegepersonal ein. Das Büchlein spricht alle an, die etwas über die „Heiler der Seele“ erfahren möchten, wobei historische Wurzeln, die Abgrenzung von somatischen Disziplinen und gängige Klischees vor gesellschaftskritischem Hintergrund beleuchtet werden. „Psychiatrie zum Anfassen“ bedeutet unter anderem auch heute mehr denn je, sich mit dem Wunder zu beschäftigen, das sich als Substrat des Denkens, Fühlens und Handelns in unserem Schädel verbirgt.

ZUM WEITERLESEN

Prof. Dr. Klaus Ernst unter Mitarbeit von Dr. Cécile Ernst

Psychiatrische Versorgung heute Konzepte, Konflikte, Perspektiven 2., überarb. u. erw. Aufl., 232 S., € 20,00 ISBN 3-89673-116-5

Das Netz der psychiatrischen Versorgung hat Risse. Alte Verschickungsgewohnheiten und neue Euthanasieimpulse, Mehrklassenpsychiatrie und Chemiephobie, das Dilemma der Behörden zwischen Aufsichtspflicht und Sparzwang, die Gratwanderung zwischen Qualitätssicherung und Patientenselektion erzeugen Handlungsbedarf. Die Arbeitsfelder und die Selbstbilder der Psychiater wandeln sich rasch. Wer wissen will, wie die Psychiatrie heute funktioniert und wo sie nicht funktioniert, kommt am vorliegenden Buch nicht vorbei. Es gibt den notwendigen Überblick über Gelingen und Misslingen der Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten Institutionen und Personen einschließlich des Bereiches der niedergelassenen Ärzteschaft – und der Politik.

Verlag Wissenschaft & Praxis

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Michael Marie Jung

Gedichte und Aphorismen zur Kommunikationsfreude Lyrik und Spruchweisheit zur Menschenführung und Persönlichkeitsentwicklung 2003, 2., überarb. und erw. Aufl., 156 S., € 15,-- ISBN 3-89673-188-2

Dieses besondere Buch ist ein Erlebnis-, Erkenntnis- und Zitateschatz für Kommunikations-, Management- und Psychotrainer, Coaches, Psychotherapeuten, Pädagogen, Supervisoren, Mediatoren, Dialogbegleiter, Persönlichkeits- und Personalentwickler. Der Gedichtband will denen Freude bereiten, die von und mit gelungener Kommunikation leben. Warum sollte Lyrik nicht gerade in diese Tätigkeitsfelder ragen? Warum nicht mit Reimen, Rhythmen, Wortspielen, Metaphern, Aphorismen, fabelartigen Rahmen unter die Haut gehen? Warum sollten Aspekte und Szenen aus dem Kommunikationsalltag der Profis nicht in Gedichtform besonders einprägsam, kritisch und berührend auf den Punkt gebracht werden? Diese Lyrik ist bestens geeignet für den humorvollen und geistreichen Einsatz bei Reden, Seminaren und Workshops und natürlich zum Selberlesen und Verschenken.

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