Kunst und Strafrecht: Eine Reise durch eine schillernde Welt 9783110784992, 9783110784831

The articles in this volume were written within the scope of the research carried out at Uwe Scheffler’s chair of art an

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German Pages 467 [468] Year 2022

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Wenn Kunst und Strafrecht einander begegnen – Auszug aus einer Spurensuche …
Kunst und Freiheit der Kunst – Zwei schwierige Rechtsbegriffe in Deutschland
Wenn zwei unbestimmte Begriffe über die Strafbarkeit entscheiden sollen
Die vorbehaltlose Kunstfreiheit des deutschen Grundgesetzes – nur ein Lippenbekenntnis?
Unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit? – Werbung und die Grenze zur Rechtsverletzung
Kunst und Sachbeschädigung – Von einer enthaupteten Meerjungfrau und den Streifzügen eines Säureattentäters –
Kunst, „Gotteslästerung“ und Bildersturm* – Kurze Gedanken zu einer kleinen, aber befremdlichen Begebenheit –
Diebstahl von Buntmetallskulpturen im öffentlichen Raum
Hin und zurück – Die Geschichte der Rückführung der Bibelglasfenster der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder) –
Malle Babbe, die Hexe von Haarlem – An was ein Strafrechtler so bei dem Gemälde des niederländischen Barockmalers Frans Hals denkt –
Talent schützt vor Strafe nicht – Aus dem Atelier eines Meisterfälschers
„#MeToo“ und Kunstzensur
Grenzen der zulässigen Satire zur verbotenen Schmähkritik – damals und heute
Böhmermanns Gedichtzeilen über Erdoğan – mal ganz anders betrachtet
„Verfassungsrechtlich gibt es keine gute oder schlechte Kunst“* Ermittlung gegen Künstlergruppe „Zentrum für politische Schönheit“ als kriminelle Vereinigung
Kunst und Gewaltverherrlichung – Zwei Beispiele‚ die verdeutlichen, dass nicht jedes künstlerische Werk die gleiche grundrechtliche Freiheit genießt –
„Gotteslästerung“ und Ars artis gratia
„The Holy Virgin Mary“ von Chris Ofili auf dem Prüfstand
De Kölsche Jong Max Ernst und seine prügelnde Gottesmutter aus dem Museum Ludwig
George Grosz vor Gericht
Die nackten Hexenbilder des Hans Baldung Grien – Ein Fall berechtigter Zensur im Museum?
Wenn die Muse das Recht (scheinbar) küsst …
Balthus, der Maler der „Gitarrenstunde“, und das neue deutsche Kinderpornographiestrafrecht
Antonio da Correggios „Leda mit dem Schwan“ – Das vielleicht schönste Gemälde der Renaissance und seine ereignisreiche Geschichte –
Autorenverzeichnis
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Kunst und Strafrecht: Eine Reise durch eine schillernde Welt
 9783110784992, 9783110784831

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Halecker, Melz, Scheffler (†), Zielińska Kunst und Strafrecht Juristische Zeitgeschichte Abteilung 6, Band 58

Juristische Zeitgeschichte Hrsg. von Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Thomas Vormbaum (FernUniversität in Hagen, Institut für Juristische Zeitgeschichte)

Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht Mitrsg. Prof. Dr. Gunter Reiß (Universität Münster) Prof. Dr. Anja Schiemann (Deutsche Hochschule der Polizei, Münster-Hiltrup)

Band 58 Redaktion: Katharina Lukoschek

De Gruyter

Dela-Madeleine Halecker, Joanna Melz, Uwe Scheffler (†), Claudia Zielińska unter Mitwirkung von Alice Anna Bielecki, Yvonne Biesenthal, Robert Franke, Paul Hoffmann, Lisa Weyhrich, Peggy Zimmer

Kunst und Strafrecht Eine Reise durch eine schillernde Welt

De Gruyter

ISBN 978-3-11-078483-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078499-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078504-3

Library of Congress Control Number: 2022931614 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Umschlagabbildung: Ernst Ludwig Kirchner, Der Maler (Selbstbildnis am Fenster) (um 1923), Nachlass Ernst Ludwig Kirchner, Privatbesitz www.degruyter.com

Vorwort Im Jahre 2013 wurde auf Initiative von Dela-Madeleine Halecker von unserem gesamten Lehrstuhlteam an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) eine Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ gemeinsam konzipiert und erstellt. Auf insgesamt zwölf Tafeln sind dort in Wort und Bild Fälle dargestellt, mit denen insbesondere Berührungspunkte zwischen der Freiheit der Kunst und strafrechtlich geschützten Rechtsgütern veranschaulicht werden. Wesentliches Ziel war es vor allem‚ die verfassungsrechtliche Garantie und die Schranken der Kunstfreiheit sowie den Schutz des Kunstwerks gegenüber einfachem Recht (insbesondere Strafrecht) zu verdeutlichen. Als Grundlage für die Erörterung zogen wir zumeist Beispiele aus der einschlägigen Rechtsprechung verschiedener Staaten und auch aus vergangener Zeit heran. Die Tafeln gliedern sich wie folgt: Kunst und Kunstfreiheit „Ernie“-Fall / „Sprayer-von-Zürich“-Fall Kunst und Sachbeschädigung „Kopenhagener-Meerjungfrau“-Fall / „Bohlmann“-Fall Kunst und Diebstahl „Madonna-im-Rosenkranz“-Fall / „Saliera“-Fall Kunst und Fälschung „Rotes-Bild-mit-Pferden“-Fall / „Christus-und-die-Ehebrecherin“-Fall Kunst und Beleidigung „Strauß-Schweinchen“-Fall / „König-Birne“-Fall Kunst und Allgemeines Persönlichkeitsrecht „Allmächtiger-Sommer“-Fall / „Dresdener-Bürgermeisterin“-Fall Kunst und „Gotteslästerung“ „Christus-mit-der-Gasmaske“-Fall / „The-Holy-Virgin-Mary“-Fall Kunst und Staatsgefährdung „Urin-auf-Bundesflagge“-Fall / „Kiss“-Fall

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Vorwort Kunst und Gewaltverherrlichung „Butchered-at-Birth“-Fall / „Max-und-Moritz“-Fall Kunst und Pornographie „Kunstpostkarten“-Fall / „Goldener-(Penis-)Winkel“-Fall Kunst und Tierquälerei „My-dearest-cat-Pinkeltje“-Fall / „Das-Ableben-des-Hasen“-Fall

Die Texte der Tafeln stellen wir auf Deutsch‚ Polnisch‚ Englisch‚ Russisch, Türkisch und Ukrainisch mit einigen zusätzlichen Informationen auf unserer Lehrstuhl-Website www.rewi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sr/krimirecht zur Verfügung; Türkisch wird folgen. Ausführliche Erschließungstexte (in deutscher Sprache) zu den einzelnen Fällen befinden sich auf der von Uwe Scheffler bearbeiteten Website www.kunstundstrafrecht.de. Die Tafeln wurden zuerst ab Oktober 2013 für mehrere Wochen an der EuropaUniversität Viadrina Frankfurt (Oder) gezeigt; danach war die Ausstellung (zusätzlich mit Tafeln in polnischer Sprache) am Collegium Polonicum in Słubice zu sehen. Inzwischen haben wir die Ausstellung an knapp 40 Stationen‚ zumeist Universitäten‚ im In- und Ausland gezeigt (die einzelnen Stationen sind auf der ständig aktualisieren Website www.kunstundstrafrecht.de dokumentiert). Zu den Ausstellungen wurden von verschiedenen Veranstaltern nicht nur Vernissagen bzw. Finissagen mit (Kurz-)Vorträgen, sondern auch Tagungen zu Themenbereichen aus „Kunst und Strafrecht“ organisiert. Wir haben ebenfalls zwei Symposien – „Darf die Kunst alles? Aktuelle Rechtsentwicklungen aus deutscher und polnischer Perspektive“ am 19./20. Oktober 2017 sowie „Musik und Strafrecht“ am 24. April 2019 – an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) veranstaltet. Anlässlich dessen haben wir und die anderen aus unserem Lehrstuhlteam zahlreiche Vorträge in deutscher und mehrfach auch in polnischer Sprache gehalten‚ bislang die meisten unveröffentlicht. Gelegentlich haben wir auf Initiative der jeweiligen Veranstalter auch Aufsätze in deutscher‚ polnischer oder englischer Sprache verfasst‚ für den (deutschen) Leser wenig zugänglich. Deshalb haben wir uns zur Veröffentlichung dieser Arbeiten – aktualisiert‚ teilweise ergänzt und verfußnotet – in zwei Sammelbänden (neben „Kunst und Strafrecht“ erscheint parallel in dieser Reihe „Musik und Strafrecht“) entschlossen. Dass die Vorträge häufig mit multimedialer Unterstützung gehalten

Vorwort

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wurden, haben wir mittels der Fußnoten weitgehend kompensiert; der Vortragsstil wurde nicht immer in toto beibehalten. Weitere Stationen – und damit Gelegenheiten zu neuen Vorträgen – sind geplant‚ zumal wir über unsere Ausstellungstafeln inzwischen auch als (leichter zu transportierende) Roll-Ups in englischer Sprache verfügen und somit unproblematischer den deutsch-polnischen (Sprach-)Raum verlassen können. Die erzwungene Unterbrechung unserer Vortragstätigkeit infolge der CoronaPandemie soll jedoch den Anlass für eine Zäsur geben. Dela-Madeleine Halecker Joanna Melz Uwe Scheffler Claudia Zielińska

Inhaltsverzeichnis Dela-Madeleine Halecker‚ Uwe Scheffler Einleitung .................................................................................................... 1 Dela-Madeleine Halecker, Lisa Weyhrich, Robert Franke, Uwe Scheffler Wenn Kunst und Strafrecht einander begegnen – Auszug aus einer Spurensuche ................................................................ 5  Uwe Scheffler  Kunst und Freiheit der Kunst – Zwei schwierige Rechtsbegriffe in Deutschland .................................... 21  Uwe Scheffler  Wenn zwei unbestimmte Begriffe über die Strafbarkeit entscheiden sollen .................................................... 31  Uwe Scheffler  Die vorbehaltlose Kunstfreiheit des deutschen Grundgesetzes – nur ein Lippenbekenntnis? .................................................................... 43  Joanna Melz  Unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit? – Werbung und die Grenze zur Rechtsverletzung ..................................... 65  Claudia Zielińska, Alice Anna Bielecki  Kunst und Sachbeschädigung – Von einer enthaupteten Meerjungfrau und den Streifzügen eines Säureattentäters – ............................................ 77  Uwe Scheffler  Kunst, „Gotteslästerung“ und Bildersturm – Kurze Gedanken zu einer kleinen, aber befremdlichen Begebenheit – ................................. 99 

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Inhaltsverzeichnis

Joanna Melz  Diebstahl von Buntmetallskulpturen im öffentlichen Raum ................... 105  Joanna Melz  Hin und zurück – Die Geschichte der Rückführung der Bibelglasfenster der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder) –............. 121  Uwe Scheffler  Malle Babbe, die Hexe von Haarlem – An was ein Strafrechtler so bei dem Gemälde des niederländischen Barockmalers Frans Hals denkt – ................................ 133  Joanna Melz  Talent schützt vor Strafe nicht – Aus dem Atelier eines Meisterfälschers ............................................... 147  Uwe Scheffler  „#MeToo“ und Kunstzensur .................................................................... 155  Claudia Zielińska  Grenzen der zulässigen Satire zur verbotenen Schmähkritik – damals und heute ................................................................................. 201  Uwe Scheffler  Böhmermanns Gedichtzeilen über Erdoğan – mal ganz anders betrachtet ................................................................... 219  Uwe Scheffler  „Verfassungsrechtlich gibt es keine gute oder schlechte Kunst“ Ermittlung gegen Künstlergruppe „Zentrum für politische Schönheit“ als kriminelle Vereinigung ...................................................................... 237  Yvonne Biesenthal  Kunst und Gewaltverherrlichung – Zwei Beispiele‚ die verdeutlichen, dass nicht jedes künstlerische Werk die gleiche grundrechtliche Freiheit genießt –......................................... 241 

Inhaltsverzeichnis

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Uwe Scheffler  „Gotteslästerung“ und Ars artis gratia ..................................................... 249  Uwe Scheffler  „The Holy Virgin Mary“ von Chris Ofili auf dem Prüfstand .................. 261  Uwe Scheffler  De Kölsche Jong Max Ernst und seine prügelnde Gottesmutter aus dem Museum Ludwig ................................. 281  Uwe Scheffler  George Grosz vor Gericht ....................................................................... 301  Dela-Madeleine Halecker  Die nackten Hexenbilder des Hans Baldung Grien – Ein Fall berechtigter Zensur im Museum? ........................................... 335  Dela-Madeleine Halecker  Wenn die Muse das Recht (scheinbar) küsst … ...................................... 351  Uwe Scheffler  Balthus, der Maler der „Gitarrenstunde“, und das neue deutsche Kinderpornographiestrafrecht ............................. 367  Uwe Scheffler  Antonio da Correggios „Leda mit dem Schwan“ – Das vielleicht schönste Gemälde der Renaissance und seine ereignisreiche Geschichte – ..................................................... 419 Autorenverzeichnis ……………………………………………………………………….. 445

Dela-Madeleine Halecker‚ Uwe Scheffler

Einleitung [Die Kunst] muß die Wirklichkeit verlassen und sich mit anständiger Kühnheit über das Bedürfniß erheben; denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Nothwendigkeit der Geister, nicht von der Nothdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Friedrich Schiller (* 1759; † 1805) In Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen, Zweiter Brief (1795)

Kunst und Strafrecht weisen viele interessante Berührungspunkte auf. Kunst kann nämlich, so könnte man sagen, sowohl passiv „Opfer“ als auch aktiv „Täter“ von Straftaten sein. Opfer, genauer gesagt: Leidtragender ist die Kunst, wenn sie beschädigt, gestohlen‚ gefälscht oder zensiert wird. Hier tun sich schnell spannende und längst noch nicht umfassend hinterfragte Problemstellungen auf, die sich juristisch gar nicht so einfach lösen lassen: Beispielsweise kennt das deutsche Strafrecht keinen Tatbestand der Kunstfälschung; ein Absatzmarkt oft unverkäuflicher Kunstwerke und damit ein Tatanreiz zum Kunstdiebstahl oder -raub wird erst durch die erwarteten heimlichen (Rück-)Kaufbemühungen der Eigentümer (und ihrer Versicherungen!) geschaffen – also Begünstigung oder Hehlerei? Außerdem hat man es auch mit den merkwürdigsten Tätern zu tun, also nicht nur mit „gewöhnlichen“ Kriminellen: Da gibt es beispielsweise verrückte „Kunstmörder“, die mit Salzsäure durch die Museen schleichen (darf man die „für immer“ wegsperren?), aber auch geniale Maler, die sich ein Luxusleben als Fälscher Großer Meister „verdienen“ und nach ihrer Entlarvung (fast) zu „Popstars“ werden. Dagegen ist die Kunst Täter (besser gesagt: Tatwerkzeug in der Hand von Künstlern) vor allem dann, wenn sie ihr Publikum schockiert, kränkt, provoziert oder verletzt. Es gibt hier zahlreiche Fallgruppen: Ein Kunstschaffender kann sich auf seinen Bildwerken staatliche oder religiöse Symbole, etwa die Nationalflagge oder das Kruzifix, verächtlich machen. Er kann auch beispielsweise einen Politiker oder einen anderweitig Prominenten in einer Satire verulken oder in einer Karikatur aufgrund physiognomischer Merkmale abwertend als Tier oder Frucht abbilden. Er vermag auch Gewalttätigkeiten oder Pornographisches darstellen. Ein Künstler kann weiter auf Fotos oder in https://doi.org/10.1515/9783110784992-001

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Einleitung

Filmen Tabus brechen, etwa extrem drastisch Perversionen, Exkremente oder Leichen abbilden, wie es der Amerikaner Andres Serrano in seinen Fotoserien macht. Ein Künstler kann schließlich auch Tiere im Theater schlachten oder sexuelle Handlungen auf der Bühne vornehmen wie einst die „Wiener Aktionisten“. Wer Kunst nicht wie weiland das Reichsgericht (RGSt 24, 365 [367]) auf die „interesselose Freude am Schönen“ reduziert‚ sondern „Engagierte Kunst“ erschafft, ist in ständiger Gefahr, gegen Strafrechtsnormen zu verstoßen, namentlich, einen der sogenannten „kunstgeneigten“ Tatbestände (insbesondere Beleidigung, „Gotteslästerung“, Staatsverunglimpfung, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung, Gewaltverherrlichung, Pornographie, Tierquälerei, Sachbeschädigung) mit seiner Kunst zu verwirklichen. Solchen Themen widmen sich nicht nur verschiedene Tafeln unserer Ausstellung „Kunst und Strafrecht“‚ sondern auch‚ und zwar unter den unterschiedlichsten Betrachtungswinkeln‚ die Beiträge dieses Bandes. Der Musik‚ als „Ton-“Kunst eigentlich diesem Bereich zugehörig‚ wird zeitgleich ein weiterer Band dieser Reihe „Musik und Strafrecht“ gewidmet. Dem Bereich jeder Kunst‚ ob nun Bildende‚ Darstellende‚ Dicht- oder TonKunst‚ ist die Frage der Kunstfreiheit vorgelagert. „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“‚ sagt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG – und nennt für die Kunst keinerlei Einschränkung. Dass das nicht absolut verstanden werden kann‚ liegt auf der Hand. Denn dann dürfte nicht nur ein futuristischer Künstler verlangen‚ den (Berufs-)Verkehr mitten auf der Hauptstraße sitzend geruhsam zeichnen zu dürfen‚ sondern es wäre beispielsweise auch jedem Maler erlaubt, Pinsel und Leinwand zu stehlen, dem (Erotik-)Fotografen‚ jedermann (und jederfrau!) zum Modellstehen zu nötigen, oder dem Theaterregisseur, allabendlich einen wirklichen Mord auf der Bühne zu inszenieren. Umgekehrt wäre es aber eine Farce‚ wenn man heute noch – wie 1930 das Reichsgericht (RGSt 64, 121 [128] – Christus mit der Gasmaske)‚ trotz des fast mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG identischen Wortlautes in Art. 142 der Weimarer Reichsverfassung – urteilte‚ es dürfe „auch ein Künstler die Schranken nicht überschreiten“, die die „anderen Kulturbetätigungen gesetzlich gewährleisteten Schutzmaßnahmen“‚ also etwa das Strafgesetzbuch‚ errichtet haben. Dann wäre das Kunstfreiheitspostulat ein bloßer Programmsatz‚ dann würde die Kunst in der Tat „von der Nothdurft der Materie … ihre Vorschrift empfangen“ und nicht „von der Nothwendigkeit der Geister“‚ wie Schiller es ausdrückte. – Aber wo ist denn nun die Grenze der Kunstfreiheit? Ab welchem Punkt muss nicht doch Strafbarkeit als Beleidigung, als Tierquälerei, als „Gotteslästerung“, als Porno-

Dela-Madeleine Halecker‚ Uwe Scheffler

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graphie angenommen werden? Wo verläuft die Grenze des noch Erlaubten, des gerade noch Hinzunehmenden? Und was ist überhaupt Kunst? Joseph Beuys meinte, alles sei Kunst, weil jeder Mensch ein Künstler sei; andere sind der Ansicht‚ man dürfe Kunst überhaupt nicht definieren. Teilt man solche Ansichten‚ verflüchtigt sich Art. 5 Abs. 3 GG völlig. Auch diversen dieser mit der Freiheit der Kunst zusammenhängenden Fragen widmen sich die Beiträge in diesem Band. Kunst und Strafrecht – ein weitgespanntes Thema!

Dela-Madeleine Halecker, Lisa Weyhrich, Robert Franke, Uwe Scheffler

Wenn Kunst und Strafrecht einander begegnen – Auszug aus einer Spurensuche …* I. Zur Eröffnung der Spurensuche Treffen Kunst und Strafrecht aufeinander, dann schreibt das Leben spannende, zum Teil fast schon skurril anmutende Geschichten über die Ländergrenzen hinaus. Dabei können der Kunst gänzlich unterschiedliche Rollen zufallen. Schleicht sich beispielsweise jemand nachts in ein Museum, um eine wertvolle Goldschmiedearbeit aus dem 16. Jahrhundert zu entwenden1, dann ist die Kunst das Tatobjekt der nach §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 Nrn. 2, 3, 5 StGB strafbaren Handlung. Wird hingegen eine Person des politischen Lebens nackt in pinken Strapsen und mit Amtskette gemalt2, dann wandelt sich die Kunst zur beleidigenden „Täterin“ (§ 185 StGB), soweit sie nicht mehr von der Kunstfreiheit gedeckt ist. Doch manchmal erfordern es die Umstände sogar, dass sich der Künstler selbst als Straftäter entlarvt, so wie einst der vielleicht genialste Kunstfälscher des 20. Jahrhunderts Han van Meegeren3: Mit den Worten „Ich habe das Bild *

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Der Beitrag fußt auf dem Aufsatz, den die Autoren 2014 in der Münsteraner Ausbildungszeitschrift „Iurratio“ (S. 137 ff.) und 2015 in englischer Sprache in dem im polnischen Bydgoszcz erscheinenden „Santander Art and Culture Law Review“ (H. 2, S. 245 ff.) veröffentlicht haben. Er ist noch um wesentliche Teile des um Fußnoten ergänzten Vortrages erweitert worden, den Dela-Madeleine Halecker unter dem Titel „Sanat Performansı Olarak Hayvanlara Eziyet?“ („Tierquälerei als Kunstperformance?“) am 6. April 2018 in der Rechtsanwaltskammer Istanbul (İstanbul Barosu) auf Einladung der Forschungsstelle für Deutsches Recht der Istanbuler Özyeğin-Universität in deutscher Sprache gehalten hat. Der Beitrag ist auf Deutsch und Türkisch in der Zeischrift Rechtsbrücke / Hukuk Körpüsü Nr. 20, Juni 2021 erschienen. Dahinter verbirgt sich der sog. „Saliera-Fall“ aus dem Jahre 2003, bei dem es sich um einen der aufsehenerregendsten Kunstdiebstähle der Nachkriegszeit handelt. Auf diese Art und Weise stellte die Künstlerin Erika Lust im Frühjahr 2009 die Dresdener Oberbürgermeisterin Helma Orosz vor der Waldschlösschenbrücke dar. Han van Meegeren war ein niederländischer Maler, Restaurator und Kunsthändler. Wegen der engen Anlehnung seiner Malweise an die „Alten Meister“ des 17. Jahrhunderts wurde sein Werk jedoch von den Kunstkritikern abschätzig beurteilt: „Der

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Halecker, Weyhrich, Franke, Scheffler

selbst gemalt!“ kämpfte er nach dem Zweiten Weltkrieg sprichwörtlich um sein Leben. Denn ihm drohte wegen des Vorwurfs der Kollaboration – Verkauf nationalen Kunstbesitzes an eine feindliche Macht – die Todesstrafe: Er hatte dem nationalsozialistischen Reichsmarschall Hermann Göring ein vom ihm gemaltes Bild namens „Christus und die Ehebrecherin“ als angebliches Werk des großen holländischen Barockmalers Jan Vermeer van Delft4 für 1.650.000 Niederländische Gulden veräußert5. Der Untersuchungsrichter schenkte dem Geständnis van Meegerens jedoch keinen Glauben6. Und so bat van Meegeren darum, sein Atelier in Nizza aufzusuchen, in dem vier weitere „Versuchsfälschungen“ hängen würden, zwei davon wiederum im Stile Vermeers. Als diese tatsächlich aufgefunden wurden, ging das Gericht auf einen weiteren Vorschlag van Meegerens ein: Er durfte in der Untersuchungshaft – versehen mit den nötigsten Materialien und unter Polizeiaufsicht – einen neuen

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van Meegeren mit seinen verkitschten symbolischen Bildern! Immer diese epigonenhafte Anlehnung an die alten Meister! Nichts als billige Effekthascherei!“ (Zit. nach Schulz, in: Mostar / Stemmle [Hrsg.], Der neue Pitaval, S. 22). Aus diesem Grund schwor van Meegeren, sich an seinen Kritikern „zu rächen, ihnen zu beweisen, daß … sie die Dummen sind, die nichts von Kunst verstehen!“ (Zit. nach Schulz, a.a.O., S. 34 – Hervorhebung von dort). Er beschloss, die „Alten Meister“ so gut nachzuahmen, dass Kunstkritiker seine Werke für echt halten würden. Er begann sich systematisch mit der Technik der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts zu befassen, dabei insbesondere mit der Malweise von Jan Vermeer van Delft (im Weiteren mit der von Frans Hals, Gerard ter Borch und Pieter de Hooch). Durch den Verkauf von acht gefälschten Werken (zwei im Stile de Hochs und sechs im Stile Vermeers) erzielte van Meegeren einen Verkaufserlös von insgesamt ca. 7.300.000 Niederländischen Gulden. Siehe hierzu Kilbracken: Fälscher oder Meister?, S. 11 ff. Vermeers Werk, das weniger als 40 Gemälde umfasst und von dem wohl das Bildnis „Das Mädchen mit dem Perlohrengehänge“ von 1665 (Den Haag, Mauritshuis) am populärsten sein dürfte, gilt als gesichert. Ein entscheidender Grund dafür, dass das Bildnis „Christus und die Ehebrecherin“ bei seiner Entdeckung nach Kriegsende 1945 in einem Salzstollen bei Alt-Aussee in Österreich – hier hatte Göring seine Kunstwerke 1944 zum Schutz vor den Angriffen der Alliierten einlagern lassen – als unbekannter „Vermeer“ so viel Aufsehen erregte. Insofern ist klarzustellen, „daß van Meegeren nie bloß irgendeines des wenigen bekannten Bilder des großen Delfter Meisters kopiert hat. Er malte ganz im Stil Vermeers – aber er suchte immer neue Motive, arbeitete immer nach eigenen Einfällen.“ (Schulz, a.a.O., S. 21). „Wie sich herausstellte, hatte Göring aber … im Tauschwege gezahlt: er übergab … mehr als zweihundert Gemälde, die von Nazi-Okkupatoren in Holland geraubt worden waren. Der Gesamtwert dieser Bilder dürfte indes den vereinbarten Kaufpreis eher noch überstiegen haben.“ (Kilbracken: Fälscher oder Meister?, S. 234). „Die Situation ist eigenartig genug. In der Regel ist es doch so, daß der Richter dem Angeklagten seine Straftat vorwirft und daß der Angeklagte alles daran setzt, seine Unschuld zu beteuern. Hier aber steht ein Mann vor Gericht und bezichtigt sich einer Tat, und der Richter setzt alles daran, ihm zu beweisen, daß er sie nicht begangen haben kann.“ (Schulz, in: Mostar / Stemmle [Hrsg.], Der neue Pitaval, S. 20 – Hervorhebung von dort).

Wenn Kunst und Strafrecht einander begegnen

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„Vermeer“ malen. Das binnen acht Wochen angefertigte Bildnis „Jesus unter den Schriftgelehrten“7 begründete nunmehr erhebliche Zweifel an der Echtheit des an Göring veräußerten Gemäldes. Um endgültige Gewissheit zu haben, setzte das Gericht unter Leitung des Direktors des chemischen Laboratoriums der belgischen Museen, Professor Dr. Paul Coremans, eine internationale siebenköpfige Sachverständigenkommission ein, der Direktoren, Professoren und Doktoren aus den Niederlanden, Belgien und England angehörten8. Die Kommission erhielt den Auftrag, sämtliche verkauften Gemälde, die van Meegeren als von ihm gefälscht bezeichnete9, nach allen Regeln der Kunst und Wissenschaft auf ihren Ursprung hin zu untersuchen. Es dauerte über zwei Jahre, bis die Kommission ihr einstimmiges Ergebnis im Oktober 1947 vorlegen konnte. Es lautete10: 7

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Mit dem gewählten Motiv hatte sich van Meegeren schon früher (1918) in einer eigenen religiösen Phase befasst, siehe hierzu Kilbracken: Fälscher oder Meister?, S. 144 f.; 242. Siehe hierzu ausführlich Kilbracken, a.a.O., S. 248 ff. Von diesen (acht) Gemälden erregte neben dem von Göring gekauften Werk das Bildnis „Christus für Emmaus“ im Stile Vermeers im Jahre 1937 großes Aufsehen. Van Meegeren hatte seine Fälschung als angebliche Schmuggelware aus italienischem Privatbesitz auf den Kunstmarkt gebracht. Es wurde vom damals bedeutendsten Kunsthistoriker der Niederlande Abraham Bredius als echter Vermeer eingestuft und überstand fünf weitere Stichproben, die seinen vermeintlichen Urheber bestätigten. Es wurde sodann für 530.000 Niederländische Gulden von der RembrandtGesellschaft für das Boymanns-Museum in Rotterdam gekauft. Dort konnte man es im September 1938 anlässlich der Feier des Regierungsjubiläums von Königin Wilhelmina inmitten von 450 niederländischen Meisterwerken bewundern. Siehe hierzu Kilbracken, a.a.O., S. 11; 90 ff.; Schulz, in: Mostar / Stemmle (Hrsg.), Der neue Pitaval, S. 24 ff. Gerade vor diesem Hintergrund erwies sich der Prozess gegen van Meegeren als brisant, würde doch die Wahrheit seines Geständnisses angesehenen Experten, die sich jahrelang für die Echtheit des „wiederentdeckten“ Vermeers verbürgt hatten, ein vernichtendes Zeugnis ausstellen. Ebenso drohte den Käufern der Bilder van Meegerens ein herber Kapitalverlust, sollten sie tatsächlich wertlose Fälschungen besitzen; siehe hierzu Kilbracken, a.a.O., S. 242 f. Zit. nach Schulz, a.a.O., S. 30. Insoweit ist zu beachten, dass mit dem Nachweis der Fälschung noch nicht die Urheberschaft van Meegerens feststand, sondern dies zwei voneinander zu trennende Untersuchungsfragen darstellten. Den Nachweis der Fälschung stützte die Kommission insbesondere auf folgende Aspekte: 1. Vorhandensein von Phenol und Formaldehyd in der obersten Farbschicht (bis ins 19. Jahrhundert unbekannt), 2. Tusche in der Krakelüre (Risse, die durch Austrocknung von Farbe und Firnis [Flüssigkeit zum Schutz von Farben] entstehen), 3. Verhärtungsgrad der Farbe (die z.T. selbst Lösungsmitteln widerstand, die jedes echte Gemälde vollständig zerstört hätten) und 4. Beschaffenheit der Krakelüre, die sich als künstlich erwies, vgl. Kilbracken, a.a.O., S. 254. Für van Meegeren als Urheber sprachen insbesondere die in seinen Ateliers aufgefundenen „Versuchsfälschungen“, Pigmente, Kunstharzmischungen, Öle, Leinwand- und Rahmenfragmente. Weiteres Beweismaterial waren diverse Gegenstände aus dem 17. Jahrhundert, die man im Besitz van

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Halecker, Weyhrich, Franke, Scheffler Unsere … Untersuchungen haben einwandfrei erwiesen, daß keines dieser … Gemälde aus dem 17. Jahrhundert stammen kann. Sie sind alle ausnahmslos allerjüngsten Datums – alle gefälscht … und wahrscheinlich von der Hand van Meegerens.

Dem Vorwurf der Kollaboration war damit die Grundlage entzogen11. Die weiterhin aufrecht erhaltene Anklage beschränkte sich nunmehr darauf, dass van Meegeren sich in betrügerischer Absicht bereichert, ferner, dass er auf die verkauften Bilder falsche Namen oder Signaturen angebracht habe, um sie für das Werk anderer auszugeben, was gegen Art. 32612 und 326 bis13 des niederländischen Strafgesetzbuches verstoße14. Am 12. November 1947

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Meegerens entdeckt hatte, wie bspw. einen Weinkrug, der sich auf fünf der acht verkauften Fälschungen bildlich wiederfindet (Kilbracken, a.a.O., S. 252 f.). Ein gerichtlicher Prozess gegen Coremans im Jahre 1955, eingeleitet durch den Kunstsammler Daniël George van Beuningen, der unter anderem von van Meegeren das Bildnis „Abendmahl“ für 1.600.000 Niederländische Gulden (entspricht ca. 728.000 Euro) gekauft hatte und weiterhin darauf bestand, dass es sich bei diesem Gemälde um einen echten Vermeer handelt, endete ohne Erfolg und bestätigte damit das Ergebnis der Kommission. Weiterführend hierzu Kilbracken, a.a.O., S. 255 f.; Schulz, a.a.O., S. 42 ff. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters, ob die Anklage wegen Kollaboration aufrecht erhalten bleibt, soll der Staatsanwalt zynisch geantwortet haben: „Wer Bilder, die auf den Trödelmarkt gehören, zu hohen Preisen an den Feind verschachert, kann nicht als Kollaborateur verurteilt werden. Er müßte einen Orden dafür erhalten!“ (Zit. nach Schulz, a.a.O., S. 30). Art. 326 niederländisches StGB (Wetboek van Strafrecht): „Wer in der Absicht, sich oder einem anderen widerrechtlich einen Vorteil zu verschaffen, durch das Annehmen eines falschen Namens oder einer falschen Eigenschaft, durch listige Kunstgriffe oder durch ein Lügengewebe jemanden zur Herausgabe einer Sache oder zur Eingehung einer Schuld oder Aufhebung einer Forderung bewegt, wird wegen Betruges … bestraft.“ (Übersetzung bei Klaus Toebelmann: Das niederländische Strafgesetzbuch vom 3. März 1881, 1959, S. 68). Als wichtigster Unterschied zum deutschen § 263 StGB fällt auf, dass „für die Strafbarkeit nicht auf eine bloße Täuschung abgestellt wird, sondern auf betrügerische Machenschaften. Da einfache Lügen, auch wenn sie täuschend sind oder sein können, im Prinzip außerhalb des strafrechtlichen Bereichs liegen, bleibt in … den Niederlanden … der strafrechtliche Schutz des Vermögens gegen Täuschung insoweit einigermaßen hinter § 263 StGB zurück.“ (Faure, ZStW 108 [1996], 544). Art. 326 bis niederländisches StGB: „… wird bestraft: 1. wer auf oder in einem Werk der … Kunst … fälschlich einen Namen oder ein Zeichen anbringt …, dadurch glaubhaft zu machen, daß das Werk von der Hand desjenigen herrühre, dessen Namen oder Zeichen er darauf oder darin angebracht hat; 2. wer vorsätzlich ein Werk … der Kunst, auf dem oder in dem fälschlich ein Name oder ein Zeichen angebracht … ist, verkauft …“ (Siehe Toebelmann, a.a.O., S. 68 f.). Im deutschen Strafrecht ist die Kunstfälschung nicht geregelt. Sie kann aber unter den Voraussetzungen des § 267 Abs. 1 StGB als Urkundenfälschung geahndet werden, der Verkauf eines gefälschten Kunstwerkes unter den Voraussetzungen des § 263 Abs. 1 StGB als Betrug. Vgl. Kilbracken, Fälscher oder Meister?, S. 269; bzgl. des Anklagepunktes Art. 326 niederländisches StGB plädierte van Meegerens Verteidiger E. Heldring auf Frei-

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wurde van Meegeren schließlich durch das Amsterdamer Landgericht in beiden Anklagepunkten für schuldig gesprochen und zu einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt15. Doch es ist nicht nur diese Art von Geschichten, die den Themenbereich „Kunst und Strafrecht“ so interessant gestaltet. Es sind insbesondere auch die damit eng verbundenen juristischen Fragestellungen, die einen als Jurist das Gesetz immer wieder neu entdecken lassen und ganz nebenbei die Allgemeinbildung in Sachen Kunst schulen. So rückt beispielsweise die Frage, ob das Verhüllen der Kopenhagener Meerjungfrau mit einer schwarzen Burka eine Sachbeschädigung darstellt, neben § 303 StGB auch den in strafrechtlichen Fallbearbeitungen oftmals vernachlässigten § 304 StGB in den Fokus der Betrachtung16. Und beschäftigt man sich unter gleichem juristischen Blickwinkel mit den auf Hausfassaden und Mauerwerk befindlichen Strichfiguren des sogenannten „Sprayer von Zürich“ Harald Naegeli, dann verlieren in der Graffiti-Szene gängige Begrifflichkeiten wie „Piece“ und „Tags“, die entweder „gebombt“ oder „gepimpt“ werden, ihre bisherige Stellung als Fremdwort. Die Fülle und Vielfalt an möglichen juristischen Fragestellungen knüpfen im Kern jedoch stets an zwei grundsätzlich zu klärende Aspekte an: 1. Was ist Kunst? Und 2. Darf Kunst, so wie es einst Tucholsky für die Satire rekla-

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spruch, weil sein Mandant nicht aus gewinnsüchtigen Motiven gehandelt habe. Er wollte sich nur gegen die Kritiker zur Wehr setzen, die ihn erbarmungslos abgelehnt oder totgeschwiegen hatten, Geld habe dabei keine Rolle gespielt. „Beim Malen seien zwar gewisse ʻraffinierte Kunstkniffeʼ angewendet worden, beim Verkauf habe es jedoch ʻkeinerlei Tricksʼ gegeben. Niemals sei behauptet worden, das betreffende Bild sei ein Vermeer oder ein de Hooch, ja nicht einmal, es könnte einer sein – diese Entscheidung sei in jedem Falle dem Sachverständigen, dem Händler oder dem Käufer anheimgestellt geblieben.“ (Kilbracken, a.a.O., S. 281). Van Meegeren legte gegen das Urteil kein Rechtsmittel ein. Bereits am 26.11.1947 erlitt er einen Herzinfarkt, von dem er sich zwar im Krankenhaus ein wenig erholte. Doch schon am 29.12.1947 ereilte ihn ein weiterer Herzinfarkt, an dessen Folgen er einen Tag später verstarb. Im August 1958 meldeten zwei Zeitungen („Welt“ und „Rheinischer Merkur“) gleichlautend, dass in „Haarlem … in der Kunsthandlung de Boer eine Ausstellung des Gesamtwerkes von van Meegeren statt[findet]“ und „eine Reihe von ʻechtenʼ van Meegeren zur Zeit Preise von einigen tausend Gulden je Stück brächten … Inzwischen seien Fälscher am Werk, um Gemälde van Meegerens nachzuahmen und zu hohen Preisen an den Mann zu bringen“. (Zit. nach Schulz, in: Mostar / Stemmle [Hrsg.], Der neue Pitaval, S. 45). Die darin zum Ausdruck kommende Popularität des Fälschers dauert bis heute an – im Jahr 2010 zeigte das Museum Boijmanns Van Beunigen in Rotterdam eine Ausstellung „Die falschen Vermeers von Van Meegeren“. Siehe dazu Zielińska / Bielecki: Kunst und Sachbeschädigung (in diesem Band).

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mierte17, „alles“? Wird der Jurist bei der Suche nach einer Antwort im Gesetz oftmals fündig, so fällt die Auslese diesmal recht mager aus. Denn Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG enthält nur folgenden kurzen, prägnanten Satz: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Das Gesetz verliert kein Wort darüber, wie Kunst zu definieren ist und ob ihre Freiheit Grenzen unterliegt. Mithin blieb es der Rechtsprechung überlassen, für diesen Bereich entsprechende Leitlinien zu entwickeln. Sie sollen nachfolgend anhand von Beispielsfällen illustriert werden:

II. Dem Kunstbegriff auf der Spur: „Ernie, der Flitzer“ Ernst Wilhelm Wittig (* 1947), genannt Ernie, ist ein deutscher Flitzer aus Bielefeld, zumeist in Ostwestfalen „aktiv“. Während seiner Auftritte ist eine Baseballkappe – sein Markenzeichen – meistens neben Schuhen und Socken die einzige Textilie an seinem Körper. Überregionale Aufmerksamkeit erregte er erstmals am 16. Februar 1997 beim Fußball-Bundesligaspiel zwischen Arminia Bielefeld und Borussia Mönchengladbach im Bielefelder Alm-Stadion, als sein Flitzerauftritt in der zweiten Halbzeit vor 22.0000 Zuschauern zu einer Unterbrechung der Partie führte18. Die größte Zuschauerkulisse hatte Ernie am 16. April 2005, als er im Dortmunder Westfalenstadion beim Fußball-Bundesligaspiel zwischen Borussia Dortmund und Arminia Bielefeld in der 78. Minute vor 76.500 Zuschauern nackt über das Spielfeld lief19. Ernie sieht sich als „Interaktionskünstler“. Er bezeichnet sich als „Deutschlands schönster Flitzer“ und hat seinen Körper zum Kunstwerk erklärt. Psychologen sehen ihn als einen persönlichkeitsgestörten Mann, Juristen als Straftäter und Störer. Über 20 Mal sind gegen Ernie schon Geldstrafen und Geldbußen als Folge seiner „Interaktionen“ verhängt worden. Bereits 1995 hatte ihm die Stadt 17 18

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Tucholsky, Berliner Tageblatt vom 27.01.1919 (Abendausgabe). Das „streaking“ bei Sportveranstaltungen, wie das (Nackt-)Flitzen im Englischen genannt wird, gilt als „Erfindung“ des damals 25-jährigen Australiers Michael O’Brian, der am 20.04.1974 beim Rugby-Länderspiel England gegen Frankreich im Stadion von Twickenham, London, vor 48.000 Zuschauern aufgrund einer Wette über das Spielfeld lief. Borussia Dortmund wurde vom Sportgericht des Deutschen Fußballbundes im Einzelrichterverfahren nach Anklageerhebung durch den DFB-Kontrollausschuss wegen nicht ausreichenden Ordnungsdienstes mit einer Geldstrafe in Höhe von 3.000 Euro belegt.

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Herford durch Ordnungsverfügung die Zurschaustellung seines nackten Körpers auf allen öffentlichen Straßen und Wegen sowie in allen öffentlichen Anlagen und Gebäuden untersagt. Dies geschah auf der Rechtsgrundlage der polizeirechtlichen Generalklausel unter dem Gesichtspunkt, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung abzuwehren20. Ernie hatte dagegen eingewandt, es handele sich bei seinen Nacktauftritten um Kunst – ein grundsätzlich rechtlich relevanter Aspekt, denn das Bundesverwaltungsgericht hatte schon früh ausdrücklich betont21, „daß die Freiheit der Kunst nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht den Schranken ... der polizeilichen Generalermächtigung ... unterliegt.“ Die Fragestellung verlagert sich damit von Ernie als Kunstwerk hin zu seinen Nacktauftritten als Werk der Darstellenden Kunst, etwa vergleichbar mit den Darbietungen eines unbekleideten Opernsängers auf der Bühne22. Ernies Klage gegen die Ordnungsverfügung wurde jedoch letztinstanzlich vom Oberverwaltungsgericht Münster abgewiesen23. Seine Aktionen fielen nicht in den Schutzbereich des in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verankerten Grundrechts der Kunstfreiheit. Das Gericht begründete dies anhand drei verschiedener, vom Bundesverfassungsgericht formulierter Kunstbegriffe: Zum einen zog das Oberverwaltungsgericht den sogenannten formalen Kunstbegriff heran, den das Bundesverfassungsgericht 1984 in seinem Beschluss zum „Anachronistischen Zug“24 angeführt hatte25: Das Wesentliche eines Kunstwerkes könne darin zu sehen sein, daß bei „formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind“ – ein Kunstbegriff, „der nur an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens“ anknüpft. 20

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§ 14 Abs. 1 OBG NRW, „Die Ordnungsbehörden können die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren“. BVerwGE 1, 303 (305) – Sünderin. Zu denken wäre hier bspw. an die Darbietung von Jens Larsen als „nackter“ Seneca in Barrie Koskys Inszenierung „Poppea“ nach Claudio Monteverdi im Jahr 2013 an der Komischen Oper Berlin. OVG Münster, NJW 1997, 1180 mit Besprechung Hufen, JuS 1997, 1131. Der „Anachronistische Zug“ bezeichnet ein 1980 in München aufgeführtes politisches Straßentheater, das auf dem 1947 entstandenen gleichnamigen Gedicht von Bertolt Brecht basierte und in dessen Rahmen der damalige Bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß beleidigt worden sein sollte. BVerfGE 67, 213 (226 f.).

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Auf dieser Grundlage sah das Gericht durch Ernies Auftritte keine Kunstform umgesetzt26: Das bloße Präsentieren des nackten Körpers ist weder eine „klassische“ Form des Straßentheaters noch eine avantgardistische Form künstlerischer Installation oder Aktion.

Des Weiteren ging das Oberverwaltungsgericht Münster auf den sogenannten materialen Kunstbegriff ein, den das Bundesverfassungsgericht schon 1971 in seiner „Mephisto“-Entscheidung27 entwickelt hatte28: Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.

Auch unter diesem Gesichtspunkt verneinte das Gericht – mit relativ kurzer Begründung – eine Einstufung von Ernies Nacktauftritten als Kunst29: Den so beschriebenen Anforderungen an Kunst wird das Auftreten des Klägers nicht gerecht. Auch bei großzügigem Verständnis der begrifflichen Anforderungen ist nicht erkennbar, daß das Verhalten des Klägers dem Bereich des künstlerischen Schaffens zugeordnet werden könnte. Dem bloßen Nacktsein des Klägers ist keinerlei schöpferische Ausstrahlungskraft eigen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum „Anachronistischen Zug“ noch einen dritten Kunstbegriff herangezogen30, der dem materialen näher steht als dem formalen: den offenen Kunstbegriff. Während der materiale mehr auf den schöpferischen Akt des Künstlers blickt, fokussiert der offene eher den interpretativen Aspekt.

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OVG Münster, NJW 1997, 1180 (1181). Nicht geäußert hat sich das Oberverwaltungsgericht Münster allerdings zu dem Aspekt der Unterhaltungskunst. In der Entscheidung ging es um den Roman „Mephisto“ des Schriftstellers Klaus Mann, in dem der verstorbene Schauspieler Gustav Gründgens herabgewürdigt worden sein sollte. BVerfGE 30, 173 (188 f.). OVG Münster, NJW 1997, 1180 f. BVerfGE 67, 213 (227).

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Selbst unter diesem Blickwinkel kam das Oberverwaltungsgericht Münster zu keinem anderen Ergebnis31: Sieht man das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung schließlich darin, daß sie wegen der Mannigfaltigkeit ihrer Aussage ständig neue, weiterreichende Interpretationen zuläßt …, so fehlt es auch an diesem Merkmal. Der Nacktauftritt des Klägers reicht weder über seine alltägliche Aussagefunktion hinaus noch führt er zu einer unerschöpflichen, vielstufigen Informationsvermittlung.

Aber was denn nun Kunst ist, bleibt auch im Ergebnis dieser Ausführungen nebulös. Offenbar lässt sich dieser Begriff nicht eindeutig definieren. Ist nun aber ein Hetzgedicht über Asylbetrüger Kunst, nur weil es sich an den Zeilenenden so leidlich reimt? Ja, meinte das Bayerische Oberste Landesgericht im Jahre 199432. Kann das Zeigen des sogenannten Hitlergrußes Kunst sein, wenn man dabei von der „Diktatur der Kunst“ schwadroniert? Ja, meinte das Amtsgericht Kassel im Jahre 201333. Die Bedeutung der Frage, ob etwas zur Kunst zählt, lässt sich mit den Worten Schillers gut veranschaulichen: Er beschrieb die Kunst einst als „eine Tochter der Freiheit“34. Es wäre jedoch verfehlt anzunehmen, dass der Kunst damit im 31

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OVG Münster, NJW 1997, 1180 (1181). Eine entsprechende Interpretation ließe z.B. die Performance „Imponderabilia“ der serbischen Künstlerin Marina Abramovic, zusammen mit dem Deutschen Frank Uwe Laysiepen alias Ulay, zu. BayObLGSt 1994, 20 (25), wonach das Gedicht „allein schon wegen seiner Reimform unter den formalen Kunstbegriff fällt“; anders LG Hannover, NdsRpfl 1995, 110. AG Kassel, NJW 2014, 801: „Hier handelte es sich … um eine Kunstperformance. Dies zeigt sich daran, dass der Angeklagte zu Anfang ein von ihm selbst verfasstes Manifest zur ‘Diktatur der Kunstʼ über mehrere Minuten hinweg verlas. Er bediente sich dabei der Stilmittel der Übertreibung – inhaltlich durch die ständige Verwendung von Superlativen und formal durch seine Lautstärke und Gestik – und der Lächerlichkeit. … Inhaltlich sprach der Angeklagte über seine Sicht auf die Kunst der Gegenwart und Künstlerkollegen. Die Veranstaltung fand zudem nur wenige Tage vor der Eröffnung der Kunstausstellung ʻdocumenta 13ʼ ... statt. Die Atmosphäre ... war zu diesem Zeitpunkt ʻmit Kunst aufgeladenʼ. … Aufgrund dessen, dass sich der Angeklagte beispielsweise mit einem Einhorn vor Hakenkreuzen stehend fotografieren lässt und dieses Bild zusammen mit dem den Hitlergruß zeigenden Bild auf seiner Internetseite eingestellt hat, lässt dies auch den Schluss zu, dass der Angeklagte sich gerade nicht mit den Kennzeichen identifiziert, sondern diese verspottet. Es handelt sich dabei um das Kunstmittel der Satire, welche dadurch gekennzeichnet ist, dass durch Spott, Ironie oder Übertreibung bestimmte Personen, Anschauungen, Ereignisse oder Zustände lächerlich gemacht werden; sie vermittelt ein Zerrbild der Wirklichkeit …“ Aufgrund der rechtlichen Einordnung der Handlung des Angeklagten als Kunstperformance verneinte das Gericht im Ergebnis eine Strafbarkeit aus §§ 86a Abs. 1 Nr. 1, 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB mit Verweis auf §§ 86a Abs. 3, 86 Abs. 3 StGB und sprach den Angeklagten frei. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen, Zweiter Brief, 1795.

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Verhältnis zu anderen geschützten Interessen eine unantastbare Vorrangstellung zukommt …

III. Der Kunstfreiheit auf der Spur: „Das Ableben des Hasen“ Im Februar 2006 erregte eine Performance35 des damals 46-jährigen deutschen Aktionskünstlers Falk Richwien großes Aufsehen. Die Vorführung, die unter der Überschrift „Das Ableben des Hasen“ stand, fand in einer Hinterhofgalerie – dem „Monsterkeller“ – im Berliner Stadtteil Mitte statt. Die wortlos durchgeführte Veranstaltung mit dem Titel „Das Ableben des Hasen“ begann damit, dass der Künstler ein weißes Kaninchen einem anwesenden Fleischermeister überreichte. Dieser versetzte dem Tier mit einem Knüppel einen gezielten Schlag ins Genick. Sodann hielt er es an den Pfoten fest, während eine in schwarzem Leder gekleidete Assistentin des Künstlers dem Kaninchen den Hals umdrehte. Danach schnitt sie dem Tier auf einem Holzklotz den Kopf ab, und hängte ihn, an einem Nylonfaden gebunden, in ein mit Formaldehyd gefülltes Glas. „Hase in Formol“ hieß das nun geschaffene Kunstwerk, das für 9.800 Euro erworben werden konnte. Auf die gleiche Weise wurde mit einem zweiten Kaninchen verfahren. Die übrigen Kaninchenteile wurden einige Tage später als „Kaninchen an Apricot“ – wie von Anfang an geplant – durch eine zwölfköpfige Gesellschaft verspeist36. Das Publikum war im wahrsten Sinne des Wortes geschockt. Es hagelte Strafanzeigen, die Presse überschlug sich mit Schlagzeilen wie: Kaninchenmörder, brutale Hinrichtung, Horrordarbietung. Nach seiner Intention für diese Kunstdarbietung befragt, antwortete der Künstler37: 35 36

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Unter Performance (engl. „Vorführung“) wird eine künstlerische Darbietung eines Künstlers oder einer Künstlergruppe verstanden. Vgl. AG Tiergarten, KuR 2007, 116; KG, NStZ 2010, 175; siehe auch Falck, Spiegel online vom 04.06.2007; Eisenhardt, Stern.de vom 03.03.2009. In der erstgenannten Pressemitteilung ist auch zu lesen, dass der „Hasenskandal“ von der Berliner Boulevardpresse gründlich aufgearbeitet wurde und Richwiens Akte vor Anzeigen strotzte. Doch warum regt sich in der Öffentlichkeit oftmals immer dann sehr heftige Kritik, wenn sich ein Künstler bei der Kunstausübung tierischer Lebewesen bedient oder sie Teil des Kunstwerkes oder der Kunstaktion werden lässt? Richwien konfrontierte zwar sein Publikum mit schockierenden Szenen, gleichwohl erfahren zahllose Tiere tagtäglich in Betrieben der Massentierhaltung eine nicht weniger verabscheuungswürdige Behandlung. Und dazu dürfte nicht zuletzt auch das Konsumverhalten der Mehrheit des sich über „Tierkunst“ echauffierenden Publikums beitragen. Zit. nach Eisenhardt, a.a.O.

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Ich habe versucht, etwas bewusst zu machen und darum das Bewusstsein gequält – das Bewusstsein der vor sich hin fressenden Konsumenten. Dieses Vorgehen grausam zu nennen ist naiv, denn es findet tagtäglich in unseren Schlachthöfen statt – es wird nur verdrängt.

Etwa ein Jahr nach der Vorführung verurteilte das Amtsgericht Tiergarten38 alle drei Mitwirkenden wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz (TierSchG) zu Geldstrafen, Richwien und den Fleischer wegen des Verstoßes gegen § 17 Nr. 1 TierSchG39, die Assistentin wegen Verstoßes gegen § 17 Nr. 1 und Nr. 2 lit. a TierSchG40 – jeweils in Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB41). Letztere nahm das Urteil an, die anderen beiden legten dagegen Rechtsmittel ein. Ihre Berufung als auch Revision hatten keinen Erfolg. Das Kammergericht42 sah es als erwiesen an, dass die beiden Kaninchen „ohne vernünftigen Grund“ getötet wurden – eine Handlung, die § 17 Nr. 1 TierSchG unter Strafe stellt. Zwar könne in der Fleischgewinnung ein vernünftiger Grund43 für das Töten von Tieren liegen44. Hier hätten die Tötungen aber in erster Linie einem anderen Zweck gedient. Den Angeklagten sei es in Umsetzung ihres künstlerischen Projekts um eine möglichst publikumswirksame Tötung der beiden Tiere gegangen. Dass die Tiere eine Woche später noch gegessen wurden, ändere daran nichts.

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AG Tiergarten, KuR 2007, 116. Nach § 17 Nr. 1 TierSchG macht sich strafbar, wer „ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet“. Nach § 17 Nr. 2 lit. a TierSchG macht sich strafbar, wer „einem Wirbeltier aus Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt.“ Die Verurteilung der Assistentin wegen § 17 Nr. 1 und 2 lit. a TierSchG (in Tateinheit) erklärt sich vor dem Hintergrund, dass sie ihren Einspruch gegen den Strafbefehl auf die Rechtsfolgen beschränkt hatte, wodurch der Schuldspruch aus dem Strafbefehl in Rechtskraft erwuchs (vgl. § 410 StPO). Bei den beiden anderen Angeklagten wurde hingegen die Strafverfolgung hinsichtlich eines Verstoßes gegen § 17 Nr. 2 lit. a TierSchG mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gemäß § 154a Abs. 2 StPO beschränkt, vgl. AG Tiergarten, KuR 2007, 116 ff. Zum Konkurrenzverhältnis zwischen § 17 Nr. 1 und 2 TierSchG siehe Pfohl in Münchener Kommentar, StGB, § 17 TierSchG Rn. 144 ff. § 25 Abs. 2 StGB, „Begehen mehrere die Tat gemeinschaftlich, so wird jeder als Täter bestraft (Mittäter)“. KG, NStZ 2010, 175. „Vernünftig ist ein Grund, wenn er als triftig, einsichtig und von einem schutzwürdigen Interesse getragen anzuerkennen ist und wenn er unter den konkreten Umständen schwerer wiegt als das Interesse des Tiers an seiner Unversehrtheit und an seinem Wohlbefinden.“ Metzger in Erbs / Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 1 TierSchG Rn. 24. Weiterführend hierzu Lorz / Metzger, TierSchG, § 17 Rn. 19; Ort / Reckewell in Kluge, TierSchG, § 17 Rn. 165 ff.

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Ohne weiter in die Tiefen des Tierschutzgesetzes einsteigen zu wollen, möchten wir der gerichtlichen Argumentation einmal Folgendes entgegenstellen: Nimmt man Richwiens Performance ernst, dann spricht viel für die Annahme, dass sein Kunstprojekt aus drei Teilen bestand: Aus dem „Ableben des Hasen“, dem „Hasen in Formol“ und dem „Kaninchen an Apricot“. Ein Tier muss getötet werden, um gegessen zu werden – dieses Bewusstsein wollte der Künstler dem Vergessen derjenigen entreißen, die abgepacktes SupermarktFleisch kaufen. Ist es vor diesem Hintergrund dann nicht vielmehr gerechtfertigt anzunehmen, die Kaninchen wurden gerade getötet, um sie zu essen? Doch wechseln wir nun zu der noch spannenderen Frage, ob die Tötung der Kaninchen, selbst wenn sie „ohne vernünftigen Grund“ geschehen sein mag, durch die Kunstfreiheit gedeckt gewesen sein kann, was ja alle Gerichte im Falle Richwiens abgelehnt haben. Seit der sogenannten „Mephisto“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 197145 ist unbestritten anerkannt, dass die Kunst „in ihrer Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos gewährleistet“ ist und insbesondere weder durch die „Vorschriften der allgemeinen Gesetze“ (Art. 5 Abs. 2 GG) noch durch „die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz“ (Art. 2 Abs. 1 GG) eingeschränkt werden kann. Mit anderen Worten: Alle Verbotsnormen des Tierschutzgesetzes stehen unter dem Vorbehalt der Kunstfreiheit – nicht umgekehrt! Sie können als einfaches Recht das Grundrecht der Kunstfreiheit nicht beschränken46: Sinn und Aufgabe des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist es vor allem, die auf der Eigengesetzlichkeit der Kunst beruhenden, von ästhetischen Rücksichten bestimmten Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen von jeglicher Ingerenz öffentlicher Gewalt freizuhalten. Die Art und Weise, in der der Künstler der Wirklichkeit begegnet und die Vorgänge gestaltet, die er in dieser Begegnung erfährt, darf ihm nicht vorgeschrieben werden, wenn der künstlerische Schaffensprozeß sich frei soll entwickeln können. Über die „Richtigkeit“ seiner Haltung gegenüber der Wirklichkeit kann nur der Künstler selbst entscheiden. Insoweit bedeutet die Kunstfreiheitsgarantie das Verbot, auf Methoden, Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum einzuengen, oder allgemein verbindliche Regeln für diesen Schaffensprozeß vorzuschreiben. … Die Kunst ist in ihrer Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos gewährleistet. Versuche, die Kunstfreiheitsgarantie durch wertende Einengung des Kunstbegriffes, durch erweiternde Auslegung oder Analogie aufgrund der Schrankenregelung anderer Verfassungsbestimmungen einzuschränken, müssen angesichts der klaren Vorschrift des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erfolglos bleiben. 45 46

BVerfGE 30, 173. BVerfGE, a.a.O., S. 190 f.

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Aber: In seiner Mephisto-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht auch ausdrücklich betont, dass die Kunstfreiheit zwar vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos gewährt werde. Die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie seien dabei von der Verfassung selbst zu bestimmen47: Andererseits ist das Freiheitsrecht nicht schrankenlos gewährt. Die Freiheitsverbürgung in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geht wie alle Grundrechte vom Menschenbild des Grundgesetzes aus, d.h. vom Menschen als eigenverantwortlicher Persönlichkeit, die sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltet … Jedoch kommt der Vorbehaltlosigkeit des Grundrechts die Bedeutung zu, daß die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind. Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthält, darf sie weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden ... Vielmehr ist ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen.

Im Ergebnis kann also ein hinter den Geboten des einfachen Rechts stehendes konkretes Verfassungsrechtsgut in einem Abwägungsprozess gegenüber der Kunstfreiheit obsiegen und damit gewissermaßen über einen Umweg einfachrechtlichen Normen wie denen des Tierschutzgesetzes doch noch zur Durchsetzung verholfen werden. Bis zum Jahre 2002 gab es im deutschen Grundgesetz ein Verfassungsgut „Tierschutz“ nicht. Diese Rechtslage änderte sich aber grundlegend durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Staatsziel Tierschutz) vom 26. Juli 200248. Mit ihm wurde der ethische Tierschutz ausdrücklich in den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag des Art. 20a GG als weitere Staatszielbestimmung aufgenommen. Auf dieser – geänderten – Rechtslage hatte sich nun das Kammergericht in Richwiens Fall mit dem Verhältnis des Grundrechts der Kunstfreiheit und der Staatszielbestimmung des Tierschutzes (der beiden Kaninchen) auseinanderzusetzen. Das Kammergericht erkannte zwar, dass die vorbehaltlos gewährleistete Kunstfreiheit49 verfassungsimmanenten Schranken unterliege, und dass es seit 47 48 49

BVerfGE, a.a.O., S. 193. BGBl. I, 2863. Ob deren „verfassungsrechtliche Gewährleistung auf der Ebene des Tatbestands Bedeutung gewinnt oder bei der Rechtswidrigkeit“, ließ der Senat offen, vgl. KG, NStZ 2010, 175 (176). Siehe zur umstrittenen systematischen Stellung des Merkmals „ohne vernünftigen Grund“ i.S.d. § 17 Nr. 1 TierSchG die Übersichten bei Ort / Reckewell in Kluge, TierSchG, § 17 Rn. 29 mit weiteren Nachweisen; Pfohl in Münchener Kommentar, StGB, § 17 TierSchG Rn. 31 ff.

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der Aufnahme des Tierschutzes als Staatszielbestimmung auch bei der Kunstfreiheit einer Abwägung mit den Interessen des Tierschutzes bedürfe50. Dabei wollen wir mal dahingestellt lassen, ob eine Staatszielbestimmung gegenüber anderen Verfassungsnormen einschließlich Grundrechten als grundsätzlich gleichrangig anzusehen ist51. Nach Ansicht des Kammergerichts war die gewählte Form des künstlerischen Ausdrucks – Eventkunst, die in drastischer Weise durch deutliche Präsentation, gleichsam durch das Zelebrieren der Tötungen, aufrütteln sollte – jedoch besonders geeignet gewesen, dem Ziel der Staatszielbestimmung Tierschutz zuwiderzulaufen. Dem Publikum sei die Leichtigkeit der bewussten Tötung von Tieren der betroffenen Art vor Augen geführt worden52. Diese Auslegung, so das Kammergericht weiter, nehme der Kunstfreiheit auch nicht ihren Wesensgehalt. Denn es stand den Angeklagten frei, ihr Anliegen auf andere Weise auszudrücken. Im Übrigen habe das künstlerische Anliegen nicht die Tötung gleich zweier Tiere erfordert. Insofern genieße der Tierschutz Vorrang und legitimiere damit eine Einschränkung der Kunstfreiheit53. Nun ja, es möge jeder für sich selbst entscheiden, ob der vom Kammergericht vorgenommene „Ausgleich im Wege der praktischen Konkordanz“54 zwischen Tierschutz und Kunstfreiheit überzeugt. Denn es werden sich auch genügend Argumente für das gegenteilige Ergebnis finden lassen. Hier offenbart sich eine grundlegende Schwäche, die aller (verfassungsrechtlichen) Abwägungslehren gemein ist: Letztendlich entscheidet das Rechtsgefühl der jeweils zur Entscheidung berufenen Richter, nicht das (geschriebene) Recht – ein Ergebnis, das insbesondere im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz und das Analogieverbot nicht wirklich befriedigt. Ausdrücklich widersprechen möchten wir jedoch den Ausführungen des Kammergerichts, wonach es Richwien freigestanden hätte, sein Kunstprojekt auf andere, schonendere Weise auszudrücken. Natürlich hätte Richwien einen anderen Weg wählen können. Aber – und das ist das Entscheidende:

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KG, a.a.O., 175 f. Als Folge der Aufnahme des Tierschutzgedankens in Art. 20a GG wird das Staatsziel „Tierschutz“ gegenüber anderen Verfassungsnormen einschließlich Grundrechten als grundsätzlich gleichrangig angesehen, vgl. hierzu AG Tiergarten, KuR 2007, 116; Epiney in v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 20a Rn. 88 mit weiteren Nachweisen. KG, NStZ 2010, 175 (176). KG, a.a.O. KG, a.a.O.

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Die Kunstfreiheit ist durch Art. 5 Abs. 3 GG vorbehaltlos gewährleistet. Damit verbietet es sich, auf Methoden, Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum einzuengen, oder allgemein verbindliche Regeln für diesen Schaffensprozess vorzuschreiben55. Halten wir also fest: Kunst darf zwar nicht, was sich in Anschluss an Tucholskys Worte postulieren ließe, „alles“. Sie muss vielmehr mit anderen Verfassungswerten wie beispielsweise dem Tierschutz „mit dem Ziel der Optimierung zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden“56. Kunst darf also „vieles“. Entgegen den Ausführungen des Kammergerichts braucht Kunst sich jedoch nicht vorschreiben zu lassen, dass sie auch anders, schonender für andere Verfassungswerte ausgeübt werden könnte. Denn dann dürfte Kunst nur „weniges“: Ihr wäre all jenes untersagt, das auf vermeidbarer Weise andere Verfassungswerte tangiert – mit der Konsequenz, dass die Kunstfreiheit nur ein Grundrecht 2. Klasse wäre.

Literatur EISENHARDT, UTA, Das Ableben des Hasen, Stern.de vom 03.03.2009 (https://www.stern.de/panorama/stern-crime/-icke-muss-vor-jericht--das-ableb en-des-hasen-3432988.html). ERBS / KOHLHAAS, Strafrechtliche Nebengesetze – Kommentar. Stand: 224. Erg.-Lfg. März 2019. FALCK, UTA, Tierschutz vs. Kunstfreiheit: Kaninchenmeucheln im Monsterkeller“, Spiegel online vom 04.06.2007 (http://www.spiegel.de/panorama/jus tiz/tierschutz-vs-kunst-kaninchenmeuchelnim-monsterkeller-a-486660.html). FAURE, MICHAEL G., Der strafrechtliche Schutz des Vermögens gegen Täuschung in Belgien, Frankreich und den Niederlanden, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 108 (1996), S. 524 ff. KILBRACKEN, (LORD) JOHN RAYMOND GODLEY, Fälscher oder Meister? Der Fall van Meegeren, dt. 1968. KLUGE, HANS-GEORG, Tierschutzgesetz – Kommentar. 2002. LORZ, ALBERT / METZGER, ERNST, Tierschutzgesetz – Kommentar. 6. Auflage 2008. 55 56

Vgl. BVerfGE 30, 173 (190) – Mephisto. BVerfGE 83, 130 (143) – Mutzenbacher.

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METZGER, ERNST, Tierschutzgesetz – Kommentar. 6. Auflage 2008. MANGOLDT, HERRMANN V. / KLEIN, FRIEDRICH / STARCK, CHRISTIAN, Kommentar zum Grundgesetz, 7. Auflage 2018. MÜNCHENER KOMMENTAR ZUM STRAFGESETZBUCH. 3. Auflage 2017–2019. SCHULZ, HELMUT, Der Meisterfälscher, in: G. H. Mostar, R. A. Stemmle (Hrsg.), Der neue Pitaval – Betrug, 1964. TUCHOLSKY, KURT (IGNAZ WROBEL), Was darf die Satire?, in: Berliner Tageblatt vom 27.01.1919 (Abendausgabe).

Uwe Scheffler

Kunst und Freiheit der Kunst – Zwei schwierige Rechtsbegriffe in Deutschland* Die Freiheit der Kunst gehört nicht zu den „klassischen“ Freiheitsrechten, die seit der Französischen Revolution1 in die Verfassungen aller europäischen Staaten Eingang gefunden haben2. Selbst die Europäische Menschenrechtskonvention enthält bis heute in ihrem Katalog der „Rechte und Grundfreiheiten“ nicht die Kunstfreiheit; sie wird in Art. 10, der die Freiheit der Meinungsäußerung betrifft3, nur hineininterpretiert4. *

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Der Beitrag hat den um Fußnoten erweiterten Vortrag zum Inhalt, den der Autor am 6. April 2018 unter dem Titel „Sanat ve Sanat Özgürlüğü – Almanya’da İki Güç Hukuki Kavram“ anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ an der Rechtsanwaltskammer Istanbul (İstanbul Barosu) auf Einladung der Forschungsstelle für Deutsches Recht der Istanbuler Özyeğin-Universität in deutscher Sprache gehalten hat. Der Beitrag ist auf Deutsch und Türkisch in der Zeitschrift Rechtsbrücke / Hukuk Körpüsü Nr. 20, Juni 2021 erschienen. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung von 1789 benannte nur die Meinungsäußerungsfreiheit – Art. XI Déclaration des Droits de lʼHomme et du Citoyen: „La libre communication des pensées et des opinions est un des droits les plus précieux de lʼHomme: tout Citoyen peut donc parler, écrire, imprimer librement, sauf à répondre de lʼabus de cette liberté dans les cas déterminés par la Loi“. § 152 der Paulskirchenverfassung von 1849 und wortgleich Art. 20 der preußischen Verfassung von 1850 enthielten die Kunstfreiheit noch nicht: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.“ Die Bismarcksche Reichsverfassung von 1871 enthielt überhaupt keine Grundrechte. Art. 10 EMRK, „(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben. (2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung“. EGMR, Urteil vom 24.05.1988 – 25/1986/123/174 – Müller u.a. gegen Schweiz, NJW 1989, 379: „Zwar führt Art. 10 MRK die Freiheit künstlerischer Äußerung, um

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In der Türkischen Republik ist die Freiheit der Kunst in Art. 27 der Verfassung von 1982 garantiert5, in Deutschland in Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes von 1949, der deutschen Verfassung. Satz 1 dieser Vorschrift lautet6: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“

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die es hier geht, nicht besonders an; dieser Artikel unterscheidet aber andererseits auch nicht zwischen den verschiedenen Formen der Meinungsäußerung. Wie alle vor dem Gerichtshof auftretenden Parteien anerkannt haben, schließt er die Freiheit der künstlerischen Äußerung ein – namentlich im Rahmen der Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen –, welche die Möglichkeit verbürgt, am öffentlichen Austausch von kulturellen, politischen und sozialen Informationen und Ideen aller Art teilzuhaben. Wenn für die Richtigkeit dieser Interpretation überhaupt eine Bestätigung notwendig ist, findet sich diese im 3. Satz des Art. 10 I MRK, der sich auf ʻRundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmenʼ bezieht, also auf Massenmedien, deren Aktivitäten sich auf den Bereich der Kunst erstrecken. Eine Bestätigung dafür, daß das Konzept der Meinungsäußerungsfreiheit die künstlerische Äußerung einschließt, findet sich auch in Art. IPBPR Artikel 19 II IPBPR, der in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit ausdrücklich Informationen und Ideen in der Form von ʻKunstwerkenʼ einbezieht“. In der Tat wird im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte die Kunstfreiheit nur indirekt genannt – Art. 19 IPBPR: „(1) Jedermann hat das Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit. (2) Jedermann hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben. (3) Die Ausübung der in Absatz 2 vorgesehenen Rechte ist mit besonderen Pflichten und einer besonderen Verantwortung verbunden. Sie kann daher bestimmten, gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die erforderlich sind a) für die Achtung der Rechte oder des Rufs anderer; b) für den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), der Volksgesundheit oder der öffentlichen Sittlichkeit.“ Schließlich wird auch in der US-amerikanischen Verfassung die Kunstfreiheit nur über die Meinungsfreiheit umfasst – First Amendment to the United States Constitution: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances“. Art. 27 Türkiye Cumhuriyeti Anayasası (AY), „(1) Jedermann hat das Recht, Wissenschaft und Kunst frei zu lernen und zu lehren, zu äußern, zu verbreiten und in diesen Bereichen jede Art von Forschung zu betreiben. (2) Das Recht zur Verbreitung darf nicht zu dem Zweck gebraucht werden, eine Änderung der Artikel 1, 2 und 3 der Verfassung herbeizuführen. (3) Die Vorschrift dieses Artikels steht einer Regelung zu Einfuhr und Vertrieb ausländischer Veröffentlichungen im Land durch Gesetz nicht entgegen“. Ergänzt durch den allenfalls im Umkehrschluss die Kunstfreiheit betreffenden Satz 2: „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“.

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I. Zu den Grenzen der Kunstfreiheit Nun ist auch in Deutschland anerkannt, dass die Kunstfreiheit, obwohl das Grundgesetz keine Schranken nennt, nicht unbeschränkt gelten kann. Denn sonst wäre es beispielsweise dem Maler erlaubt, seine Pinsel zu stehlen, oder dem Theaterregisseur, einen wirklichen „Mord“7 auf der Bühne zu inszenieren. Die Kunst ist also frei – und sie ist doch nicht frei. Wie löst man nun aber diesen Widerspruch auf? Das war in Deutschland lange Zeit durchaus unklar und umstritten. In der Weimarer Republik äußerte sich 1930 das damals höchste Gericht in Strafsachen, das Reichsgericht, dazu. Die zu jener Zeit geltende sogenannte Weimarer Reichsverfassung von 1919 hatte schon damals in Art. 142 mit den gleichen Worten wie heute das deutsche Grundgesetz postuliert, dass die „Kunst … frei“ sei8. Das Reichsgericht erklärte dann aber dennoch in einer Strafsache gegen den Maler und Zeichner George Grosz wegen seiner als blasphemisch empfundenen Graphik „Christus mit der Gasmaske“9, es dürfe „auch ein Künstler nicht die Schranken überschreiten, die … [das Strafgesetzbuch] zum Schutze des religiösen Gefühls errichtet hat“. Diese Rechtsauslegung gelte genauso, so war das Reichsgericht zu verstehen, für „andern Kulturbetätigungen gesetzlich gewährleistete Schutzmaßnahmen“10. Sämtliche Straftatbestände würden also der Freiheit der Kunst Grenzen setzen. Daraus folgt nun aber, dass es dann keine gegenüber der Meinungsfreiheit besonders privilegierte Kunstfreiheit geben würde. Denn schon damals sagte in Deutschland Art. 118 der Weimarer Reichsverfassung ausdrücklich, dass das Recht der freien Meinungsäußerung nur „innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze“ gewährleistet würde11. Die Kunstfreiheit

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Übrigens ist die Kunstfreiheit jetzt auch von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausdrücklich umfasst, siehe Art. 13: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet“. Juristisch präziser: Totschlag. Art. 142 WRV: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil“. RGSt 64, 121 (128) – Christus mit der Gasmaske. Siehe dazu auch Scheffler: George Grosz vor Gericht (in diesem Band). RGSt, a.a.O. Art. 118 WRV: „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.

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und die Freiheit der Meinungsäußerung hätten somit also die gleichen Grenzen trotz unterschiedlicher Regelungen in der Verfassung. Das kann nicht richtig sein. Das Bundesverfassungsgericht, das höchste deutsche Gericht der Bundesrepublik Deutschland, verwarf deshalb diese Auslegung dann auch 197112. Es ging in dem Verfahren um die Verletzung von Persönlichkeitsrechten eines Schauspielers, der in dem Schlüsselroman „Mephisto“ des Schriftstellers Klaus Mann unzutreffend als Opportunist zur Zeit des Nationalsozialismus dargestellt worden sein sollte. Wenngleich das Bundesverfassungsgericht das Buch letztlich verbot, so betonte es doch: Die Kunstfreiheit dürfe „weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden“. Die Begründung entsprach dann auch dem soeben Vorgetragenen: Das Grundrecht der Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG enthalte, anders als das Grundrecht der Meinungsfreiheit13, „keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber“. Der damit auf der Hand liegenden, völlig kuriosen Folgerung, dass dann wegen der vom Grundgesetz nicht beschränkten Kunstfreiheit der Pinseldiebstahl durch einen Maler nicht nach dem Diebstahlparagraphen, der Mord auf der Bühne nicht nach dem Mordparagraphen zu bestrafen wäre, trat das Bundesverfassungsgericht aber sofort entgegen. Trotz der sich aus der „klaren Vorschrift des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG“ ergebenden Vorbehaltlosigkeit werde „das Freiheitsrecht nicht schrankenlos gewährt“14: „Vielmehr ist ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt … durch Verfassungsauslegung zu lösen.“

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Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig“. BVerfGE 30, 173 (191 ff.) – Mephisto. Art. 5 Abs. 1 und 2 GG, „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“. „Vielmehr ist ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen.“ (S. 193).

Kunst und Freiheit der Kunst

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Das bedeutet: Die Kunstfreiheit des Pinsel stehlenden Malers ist zwar nicht am Diebstahlparagraphen, aber an der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes15 zu messen. Und beim „Mord auf der Bühne“ ist der Kunstfreiheit das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit16 gegenüberzustellen. Dass die Abwägung in diesen beiden Beispielsfällen zu Lasten der Kunstfreiheit ausgehen muss, und der Künstler bestraft werden kann, erscheint nicht fraglich. Und auch der „Sprayer von Zürich“ von unserer Ausstellungstafel ist aufgrund der Eigentumsverletzungen an den besprayten fremden Häuserwänden wegen Sachbeschädigung sowohl in Deutschland wie auch der Schweiz für strafbar erachtet worden17. Aber nicht immer ist die Abwägung so einfach. Muss ein Graffiti-Künstler wirklich auch dann bestraft werden, wenn er keine Hauswand, sondern einen hässlichen Bauzaun bemalt – oder könnte hier das Eigentumsrecht am Zaun auch mal hinter die Freiheit des Künstlers zurücktreten? Oder: In welchen Fällen muss eine kränkende Karikatur eines Prominenten aufgrund der erfolgten Persönlichkeitsverletzung verboten werden? Und manchmal wird es noch komplizierter. Es gibt Strafrechtstatbestände, bei denen fällt es schwer, eine Verfassungsnorm zu finden, die hinter dem Verbot steht. Nur ein Beispiel: Die grundlose Tötung von Tieren ist in Deutschland nach dem Tierschutzgesetz strafbar18; die Kunstausübung soll nicht per se einen „vernünftigen Grund“ darstellen19. Wird nun aber ein Tier in einem Theaterstück getötet, stellt sich die Frage, ob denn ein Tierleben überhaupt von der deutschen Verfassung geschützt ist20. Falls nein, geht die Kunstfreiheit dem Tierschutz in jedem Fall vor!

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Art. 14 Abs. 1 GG, „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt“. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. BVerfG (Vorprüfungsausschuss), NJW 1984, 1293 – Sprayer von Zürich; die Entscheidungen der schweizerischen Gerichte sind unveröffentlicht; siehe zu dem Fall auch EKMR, EuGRZ 1984, 259. § 17 Nr. 1 TierSchG, „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer … ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet …“. KG, NStZ 2010, 175 (176) – Ableben des Hasen. Siehe dazu Halecker / Weyhrich / Franke / Scheffler: Wenn Kunst und Strafrecht einander begegnen – Auszug aus einer Spurensuche … (in diesem Band). In Betracht kommt lediglich der in dieser Fassung seit 2002 geltende Art. 20a GG: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung

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II. Zu den Grenzen der Kunst Nun habe ich bisher die Frage zurückgestellt, was denn eigentlich Kunst ist. Graffitischmieren? Karikaturen? Theateraufführungen, in denen echtes Menschen- oder Tierblut fließt? Ist das alles Kunst? Denn in den Genuss des Schutzes der Kunstfreiheit kann natürlich nur kommen, wer auch tatsächlich Kunst ausübt! Aber wer soll das feststellen? Eine staatliche Behörde? Das wäre Zensur, vom Grundgesetz verboten. Und der vermeintliche Künstler darf dies sicherlich auch nicht selbst entscheiden. Lassen wir extreme Ansichten außer Acht, die die Grenzziehung für sowieso nicht machbar halten, weil man Kunst überhaupt nicht definieren könne21, oder weil ohnehin alles Kunst wäre, da jeder Mensch ein Künstler sei22. Das Bundesverfassungsgericht, an dem wir Juristen in Deutschland uns auszurichten haben, macht deutlich, dass die Entscheidung lediglich die Rechtsprechung treffen darf, dass aber selbst einem Gericht „nur die Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst“ erlaubt sei23: … eine Niveaukontrolle, also eine Differenzierung zwischen „höherer“ und „niederer“, „guter“ und „schlechter“ (und deshalb nicht oder weniger schutzwürdiger) Kunst, liefe demgegenüber auf eine verfassungsrechtlich unstatthafte Inhaltskontrolle hinaus.

Das Bundesverfassungsgericht hatte sich in der schon erwähnten „Mephisto“Entscheidung von 1971 erstmals an einer Kunstdefinition versucht24: Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden.

Künstlerisches Schaffen sei „Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers“. Dieser sogenannte „materiale“ Kunstbegriff war schnell dem Vorwurf ausgesetzt, dass er sich zu sehr an einem tradierten ästhetischen Kunstverständnis orientiere25 und deshalb bei modernen Kunstformen nicht weiterhelfen würde.

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durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ (Hervorhebung von hier). Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 214 ff. Joseph Beuys. BVerfGE 75, 369 (377) – Strauß-Karikaturen. BVerfGE 30, 173 (188 f.). Siehe dazu das Reichsgericht 1893 (RGSt 24, 365 [367]): Kunst sei durch die „interesselose Freude am Schönen“ gekennzeichnet; vgl. Immanuel Kant: Kritik der Ur-

Kunst und Freiheit der Kunst

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In der Tat lässt uns diese Definition bei der sogenannten „Engagierten Kunst“, also gesellschaftskritischer Kunst – beispielsweise dem Schlachten von Tieren auf der Theaterbühne, um zur Reflexion des Fleischkonsums anzuregen – im Stich. Darüber hinaus ist die materiale Kunstdefinition infolge ihrer Konturenlosigkeit auch nicht geeignet, Kurioses, das sich vielleicht lediglich in die Kunst „retten“ möchte, in Frage zu stellen: Ist zum Beispiel der „Ernie“ auf unserer Tafel schon dann ein Künstler, wenn er es zur „freien schöpferische Gestaltung“, zum „Ausdruck seiner individuellen Persönlichkeit“ erklärt, nackt durch Fußballstadien und Supermärkte zu „flitzen“26? Der Konturenlosigkeit des materialen Kunstbegriffs wirkt das Bundesverfassungsgericht seit 1984 nun mit dem sogenannten „formalen“ Kunstbegriff entgegen27: Das Wesentliche eines Kunstwerkes könne darin zu sehen sein, „daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind“. Das Gericht formuliert also einen Kunstbegriff, der „nur an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft“. Dieser Kunstbegriff ist nun wiederum sehr statisch und eng. Fortentwicklungen künstlerischer Tätigkeit sowie neue Erscheinungsformen der Kunst, die noch keinem bestimmten Werktyp zuzurechnen sind, wären nicht vom Schutzbereich der Kunstfreiheit umfasst. Wie hätten Fotografie, Performance oder Videoclip so zur Kunst werden können?

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teilskraft (1790), § 59 Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit: „1) Das Schöne gefällt unmittelbar … 2) Es gefällt ohne alles Interesse …“. Aber auch der Kunstbegriff von Kaiser Wilhelm II. aus seiner berühmten „Rinnsteinrede“ zur Eröffnung der Berliner Siegesallee am 18.12.1901 hallt hier nach: „Wer sich … von dem Gesetz der Schönheit und dem Gefühl für Ästhetik und Harmonie, die jedes Menschen Brust fühlt, ob er sie auch nicht ausdrücken kann, loslöst und in Gedanken in einer besonderen Richtung, einer bestimmten Lösung mehr technischer Aufgaben die Hauptsache erblickt, der versündigt sich an den Urquellen der Kunst. … Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, sie ist Fabrikarbeit, ist Gewerbe, und das darf die Kunst nie werden.“ (Abgedruckt bei Röhl: Wilhelm II., S. 1024). Siehe dazu Halecker / Weyhrich / Franke / Scheffler, Wenn Kunst und Strafrecht einander begegnen – Auszug aus einer Spurensuche … (in diesem Band). BVerfGE 67, 213 (226 f.) – Anachronistischer Zug.

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Andererseits kann der formale Kunstbegriff auch zu weit sein: Wenn ich heute Nacht betrunken Sauflieder gröle, bin ich dann wirklich Gesangeskünstler? Und reimt sich der Liedtext, rezitiere ich auch noch ein Gedicht28? Das Bundesverfassungsgericht zieht inzwischen gleichzeitig noch einen dritten Kunstbegriff heran, den sogenannten „offenen“ Kunstbegriff29. Der sieht das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung darin …, dass es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiter reichende Bedeutungen zu entnehmen.

Dieser Kunstbegriff blickt also weniger auf den vermeintlichen Künstler als auf die möglichen Wirkungen seines Werkes. Damit ist der offene Kunstbegriff in der Lage, auch Engagierte Kunst oder neue Kunstformen aufzunehmen. Seine Schwäche besteht jedoch darin, dass er indirekt Qualitätsmaßstäbe anlegt: Er erfasst keine triviale Unterhaltungskunst. Das Bundesverfassungsgericht hat „wiederholt“ die „Schwierigkeit“ hervorgehoben, „den Begriff der Kunst abschließend zu definieren“30. Es wendet deshalb heute alle drei Kunstbegriffe nebeneinander an. Trotz ihrer jeweiligen Schwächen bieten diese vom Bundesverfassungsgericht genannten Lösungsansätze hinreichende Gesichtspunkte, um im Einzelfall zu entscheiden, ob die Kunstfreiheit ihrem Schutzbereich nach berührt wird,

formulierte ein langjähriger Richter am Bundesverfassungsgericht31. Da muss man genau hinhören: Man habe für die Entscheidung im Einzelfall „Gesichtspunkte“ der einzelnen Kunstbegriffe heranzuziehen. Weder werden also die Kunstbegriffe kumulativ, noch alternativ herangezogen – sondern so, wie es gerade einem offenbar intuitiv gefundenen Verständnis entspricht. Ist es also letztlich bei dem über 50 Jahre alten berühmten Satz des damaligen Richters am US-amerikanischen Supreme Court Potter Stewart geblieben32: „I can’t define it, but I know it when I see it”? 28

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Das BayObLG (St 1994, 20 – Asylbetrügergedicht) hatte das für die (volksverhetzerischen) Verse „Der Asylbetrüger in Deutschland“ bejaht, weil das „Pamphlet ... allein schon wegen seiner Reimform unter den formalen Kunstbegriff fällt“. BVerfGE 67, 213 (226 f.) – Anachronistischer Zug. BVerfGE 119, 1 (23) – Esra. Hentschel, NJW 1990, 1939. Potter Stewart (* 1915; † 1985) äußerte diesen Satz 1964 im Zusammenhang mit der Abgrenzung von Kunst und Pornographie in einem Strafprozess gegen den Manager eines Filmtheaters. In dem Verfahren ging es um die Frage, ob der französische Spielfilm „Les Amants“ (Die Liebenden) von Louis Malle aus dem Jahre 1958 als obszön einzustufen sei.

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Resümee Ich fasse zur Rechtslage in Deutschland zusammen: Was Kunst ist, lässt sich nicht klar und eindeutig definieren. Und in welchen Fällen die Freiheit der Kunst anderen Grundrechten oder Verfassungswerten vorgeht, muss in einem keinen festen Regeln unterliegenden offenen Abwägungsprozess frei ermittelt werden. Ein Künstler, der ein Werk mit einem „kritischen“ Gegenstandsbereich schaffen will, begibt sich demzufolge auf schwankenden Boden. Mit dem Zitat: „Bei Kunst ist jeder Prozessausgang möglich“, hat vor ein paar Jahren einmal eine Zeitung ein Interview mit mir überschrieben33. Ich glaube, diese Einschätzung ist nach wie vor richtig.

Literatur HENTSCHEL, JOHANN FRIEDRICH, Die Kunstfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift 1990, S. 1937 ff. KNIES, WOLFGANG, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967. RÖHL, JOHN C. G., Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888–1900, 2. Aufl. 2010. ZABEL, BENNO, Die Kunst des Strafrechts. Ein Essay, Bonner Rechtsjournal 2018, S. 74 ff.

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Monopol-Magazin.de vom 13.12.2013 (http://www.monopol-magazin.de/bei-kunst-istjeder-prozessausgang-möglich); auch in Märkische Oderzeitung vom 16.12.2013, S. 10. Benno Zabel hat das Zitat kürzlich aufgegriffen; siehe Zabel, BRJ 2018, 77.

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Wenn zwei unbestimmte Begriffe über die Strafbarkeit entscheiden sollen* I. Problemaufriss Jeder Künstler, zumindest derjenige, der Kunst nicht nur um der Kunst willen, nicht „Ars artis gratia“, sondern „Engagierte Kunst“ schafft, ist in ständiger Gefahr, gegen Strafrechtsnormen zu verstoßen, namentlich, einen der sogenannten „kunstgeneigten“ Tatbestände (Beleidigung, „Gotteslästerung“, Staatsverunglimpfung, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung, Gewaltverherrlichung, Pornographie, Tierquälerei, Sachbeschädigung) mit seiner Kunst zu verwirklichen. Letztlich hängt seine Strafbarkeit davon ab, ob ihn die grundrechtlich garantierte Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes) vor entsprechender Bestrafung schützt. Das Grundgesetz schweigt hierzu; das Bundesverfassungsgericht hält eine Abwägung der Kunstfreiheit mit dem hinter der jeweiligen Strafrechtsnorm stehenden verfassungsrechtlichen Wert für erforderlich. Wie das klar und vorhersehbar geschehen soll, ist völlig im Dunkeln, zumal sich oftmals nicht einmal die hinter den einzelnen Strafrechtsnormen stehenden Verfassungswerte eindeutig ermitteln lassen. Vollends verworren wird die Situation dadurch, dass man im Grenzfall nur ähnlich unsicher ermitteln kann, was denn nun eigentlich noch als Kunst anzusehen ist. Selbst wenn man Ansichten außer Acht lässt, die meinen, nach einem „Erweiterten Kunstbegriff“ sei alles Kunst, weil jeder Mensch ein Künstler sei (Joseph Beuys), oder man dürfe Kunst überhaupt nicht definieren (Wolfgang Knies)1, so löst das nicht die Probleme: Die gebräuchlichen Kunst*

Der Beitrag hat den um Fußnoten erweiterten Vortrag zum Inhalt, den der Autor am 18. März 2016 unter dem Titel „Sztuka i wolność sztuki – gdy dwa pojęcia nieokreślone mają decydować o karalności“ auf der internationalen wissenschaftlichen Konferenz „Nauki penalne wobec zjawiska destrukcji w sztuce“ („Strafwissenschaften und das Phänomen der Zerstörung in der Kunst“) anlässlich der Ausstellung „Kunst und Strafrecht / Sztuka a prawo karne“ an der Fakultät für Recht und Verwaltung der Universität Ermland-Masuren in Olsztyn in deutscher Sprache gehalten hat. Eine Fassung in polnischer Sprache ist in dem an den Universitäten Olsztyn und Tarnopol (Ukraine) erstellten und von Mieczysław Różański, Serhiy Banakh und Oksana Koval herausgegebenen

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begriffe bergen die Gefahr in sich, entweder zu eng zu sein, und so etwa bei neu entstehenden Kunstformen wenig hilfreich sein zu können, oder aber umgekehrt mangels festumrissener Konturen keine eindeutige Grenzziehung zu ermöglichen. Das Bundesverfassungsgericht zieht deshalb im Einzelfall „Gesichtspunkte“ aus den verschiedenen Kunstbegriffen heran, was erst recht wenig zu Klarheit und Vorhersehbarkeit beiträgt. Beiden Fragen wollen wir uns im Folgenden nähern. Ausgangspunkt ist, dass das (deutsche) Grundgesetz in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 eigentlich deutlich und unmissverständlich sagt, dass die Kunst „frei“ ist2. Und ähnlich proklamiert Art. 73 der Verfassung der Republik Polen: „Die Freiheit des künstlerischen Schaffens ... wird jedermann gewährleistet.“ Beide Normen haben also die gleichen Zentralbegriffe: die Kunst sowie ihre Freiheit.

II. Das erste Problem: „Die Ausübung der (Kunst-)Freiheit des einen tangiert ganz schnell die Freiheit eines anderen“ Betrachten wir zunächst einmal näher die Kunstfreiheit. Das Problem mit ihr liegt klar auf der Hand: Die Ausübung der Freiheit des einen tangiert ganz schnell die Freiheit eines anderen. Male ich zum Beispiel eine Bürgermeisterin figürlich wenig schmeichelhaft und dann auch noch in „Reizwäsche“, habe ich meine Freiheit, dasjenige zu malen, was ich möchte, auf dem Rücken der Persönlichkeitsrechte dieser Bürgermeisterin ausgeübt3. Genauso habe ich – zumindest vielleicht – auch die „Ehre“ des Staates verletzt, wenn ich eine Collage herstelle, die zeigt, wie auf die Nationalflagge uriniert wird4. Und ich tangiere wohl das religiöse Gefühl

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Sammelband „Guarantees and Protection of Fundamental Human Rights as the Integral Element of Integration of Ukraine on the EU“, Olsztyn 2019, S. 329 ff. mit Abstracts in englischer und ukrainischer Sprache erschienen. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 214 ff. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. Erika Lust (* 1961), Frau Orosz wirbt für das Welterbe (2009). Privatbesitz. Jürgen Holtfreter (* 1937), Umschlagrückseite von H. Venske / N. Ney / S. Merian / G. Unmack (Hrsg.), Laßt mich bloß in Frieden, Hamburg 1982.

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anderer, male ich Christus mit Gasmaske5 oder Maria mit Elefantenkotstücken6. Diese und einige weitere solcher Beispiele zeigen die Tafeln unserer Ausstellung. Nun gibt das deutsche Grundgesetz keine Beschränkung der Kunstfreiheit vor. Dem direkten Umfeld von Art. 5 Abs. 3 GG, dem dortigen Absatz 2, können wir zwar entnehmen, dass etwa Meinungs- und Pressefreiheit7 „ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“ finden8. Eine solche Norm fehlt jedoch völlig für die Kunstfreiheit. Sie ist ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht. Heißt das nun, dass die Kunst, frei nach Kurt Tucholsky9, „alles“ darf? Kann ich also als Maler jemanden zum Aktmodellstehen nötigen, darf ich meine Pinsel stehlen oder auch nur den Verkehr lahmlegen, um ausgerechnet von der Mitte einer Hauptstraße aus das Stadtpanorama zu zeichnen? Das deutsche Bundesverfassungsgericht wurde mit dieser Frage 1971 grundsätzlich befasst10. Es ging um Klaus Manns Roman „Mephisto“, in dem der Schauspieler Gustav Gründgens als ein zur Zeit des Nationalsozialismus sehr angepasster Opportunist dargestellt worden war. „Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthält“, befand das Bundesverfassungsgericht, dürfe sie „weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden“. Klare Worte – aber die Kunst dürfe gleichwohl nicht „alles“: Grenzen gebe es dennoch; diese Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie seien jedoch ausschließlich „von der Verfassung selbst zu bestimmen“. 5 6

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George Grosz (* 1893; † 1959), Maul halten und weiterdienen (1928). Siehe dazu Scheffler, George Grosz vor Gericht (in diesem Band). Chris Ofili (* 1968), The Holy Virgin Mary (1996). New York, Museum of Modern Art. Siehe dazu Scheffler, „The Holy Virgin Mary“ von Chris Ofili auf dem Prüfstand (in diesem Band). Art. 5 Abs. 1 GG, „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt“. Art. 5 Abs. 2 GG, „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“. Tucholsky, Berliner Tageblatt vom 27.01.1919 (Abendausgabe). BVerfGE 30, 173 (191 ff.) – Mephisto.

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Wie soll das gehen? Das Bundesverfassungsgericht erklärte auch dies: Ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt [ist] nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen.

Wie soll das nun aber konkret geschehen? Wer will vorgeben, ob die Kunstfreiheit überwiegt oder aber beispielsweise das Persönlichkeitsrecht Gustav Gründgens’ bzw. unserer halbnackt gemalten Bürgermeisterin? Oder eine andere Frage: Deutsche und Schweizer Gerichte sowie die Europäische Kommission für Menschenrechte haben unisono gesagt, dass die Kunstfreiheit Harald Naegelis, des „Sprayers von Zürich“, zurückzutreten habe, wenn er etwa seine „Undine“ auf eine Universitätswand sprüht11. Das Eigentumsrecht an dem Gebäude habe Vorrang. Warum eigentlich? Aus dem deutschen Grundgesetz lässt sich dieser Vorrang jedenfalls nicht herauslesen. Denn Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG „gewährleistet“ zwar das Eigentum. Aber dem fügt Satz 2 gleich eine weitgehende Einschränkung an: „Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.“12 Schranken sind also selbst durch „die“ – also lediglich einfachen – „Gesetze“ möglich! Und da soll die verfassungsrechtlich garantierte, vorbehaltlose Kunstfreiheit hinter zurückstehen müssen? Eine weitere Frage: Darf blasphemische Malerei als „Gotteslästerung“ gemäß § 166 des deutschen Strafgesetzbuches bestraft werden13? Es gibt noch viel „schlimmere“ Kunstwerke als den Gasmaskenchristus und die Elefantenkotmadonna, man schaue sich nur den gekreuzigten Frosch Martin Kip-

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Harald Naegeli (*1938), Undine (1978). Zürich, Deutsches Seminar, Schönberggasse 9. Art. 14 Abs. 1 GG, „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt“. § 166 StGB, „(1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.“ (§ 11 Abs. 3 StGB, „Den Schriften stehen Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen in denjenigen Vorschriften gleich, die auf diesen Absatz verweisen.“).

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penbergers14 oder Dorota Nieznalskas „Pasja“15 an! Art. 4 GG schützt die „Freiheit des Glaubens“, „die Freiheit des religiösen ... Bekenntnisses“16 und die „ungestörte Religionsausübung“17. Dieser Artikel wird auch, anders als Art. 14 GG, vorbehaltlos gewährt. Aber: Ist aus der Vorschrift auch ein Recht Gläubiger abzuleiten, vor den in § 166 StGB genannten religiösen „Beschimpfungen“ geschützt zu werden? Eine solche Beschimpfung schränkt weder die Glaubensfreiheit noch die Bekenntnisfreiheit noch die Religionsausübung anderer ein, meinen jedenfalls viele18. Heute wird deshalb zumeist anders argumentiert: Von § 166 StGB geschützt sei weniger die Religionsfreiheit als das „friedliche Zusammenleben der Menschen untereinander und das Vertrauen in den Fortbestand dieses Zustandes ..., d.h. der sog. öffentliche Friede“19. Und weiter gefragt: Welchen Verfassungswert verletzt das „Beleidigen“ einer Nationalflagge? Ihre Verunglimpfung könne „die für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates beeinträchtigen“, hat das deutsche Bundesverfassungsgericht mehrfach gesagt, zuletzt 200820. „Innerer Frieden“; „Öffentlicher Frieden“ – können solche diffusen, nebulösen Werte wirklich die Kunstfreiheit einschränken? 1971 war das Bundesverfassungsgericht sich doch noch sicher gewesen, dass die Kunstfreiheit nicht „durch eine unbestimmte Klausel relativiert“ werden dürfte21! Vergegenwärtigt man sich, dass es in all den angesprochenen Fällen von der jeweiligen Abwägungsentscheidung abhängt, ob ein Künstler für seine Kunstausübung bestraft wird, so merkt man: Für eine so einschneidende Rechtsfolge wie Kriminalstrafe ist die Rechtsgrundlage dramatisch unbestimmt. Für den Künstler bedeutet das, schon bei bloßen Zweifeln auf seine Kunst verzichten zu müssen, will er nicht bestraft werden:

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Etwa Martin Kippenberger (* 1953; † 1997), Zuerst die Füße (1990). Innsbruck, Sammlung Lothar Tirala. (Es gibt mehrere Fassungen). Dorota Nieznalska (* 1973), Pasja (2001). Besitz der Künstlerin. Art. 4 Abs. 1 GG, „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“. Art. 4 Abs. 2 GG, „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet“. Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 166 Rn. 2; dies., ZRP 2015, 62; Hilgendorf in Satzger / Schluckebier / Widmaier, StGB, § 166 Rn. 4. Tag in Dölling / Duttge / Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 166 StGB Rn. 2. BVerfGE 81, 278 (293 f.) – Bundesflagge; BVerfG (Kammer), NJW 2009, 908 – Schwarz-Rot-Senf. BVerfGE 30, 173 (193) – Mephisto.

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Das Berliner Kammergericht hat in dem Fall des „Ableben des Hasen“22, der auch auf einer unserer Ausstellungstafeln behandelt ist, den Künstler wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz23 bestraft und das dementsprechend begründet24: Er hätte durch Einholung von Rechtsrat erkennen können ... [dass] die Möglichkeit, Tiertötungen zu künstlerischen Zwecken zu rechtfertigen, ... [heute] ganz überwiegend abgelehnt [wird]. ... Auf Grund sachkundiger Beratung wären mindestens Zweifel an der Rechtmäßigkeit [seines] Vorhabens aufgekommen, die [ihn] von der Durchführung hätten Abstand nehmen lassen [müssen].

III. Das zweite Problem: „Niemand weiß so richtig, was eigentlich Kunst ist.“ Aber das ist noch nicht alles. Kommen wir zum Begriff der Kunst! Niemand weiß nämlich auch so richtig, was eigentlich Kunst ist. Und viele wollen Künstler sein, Kunst ausüben – und längst nicht nur, um nicht so einfach wegen Beleidigung, „Gotteslästerung“ oder Tierquälerei bestraft werden zu können. Manche wollen auch nur in die Künstlersozialversicherung25, Tätowierer etwa26 oder der junge Mann aus München, der als Aktion gegen den Autoverkehr jahrelang als „Carwalker“ über Personenkraftwagen hinwegstieg, die auf Gehwegen geparkt waren27. Eine Prostituierte wünschte ihren „Künstler“Namen in den Personalausweis28 eingetragen zu bekommen29. Ein auf Beerdigungen tätiger Trauerredner bevorzugte, als freiberuflicher Künstler30 besteuert 22

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Falk Richwien (* 1963), Das Ableben des Hasen (2006). Theater der Rituale. Siehe dazu Halecker / Weyhrich / Franke / Scheffler: Wenn Kunst und Strafrecht einander begegnen – Auszug aus einer Spurensuche … (in diesem Band). § 17 Nr. 1 TierSchG, „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer ... ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet ...“. KG, NStZ 2010, 175 – Ableben des Hasen. § 2 Satz 2 KSVG, „Künstler im Sinne dieses Gesetzes ist, wer Musik, darstellende oder bildende Kunst schafft, ausübt oder lehrt.“ BayLSG, Urteil vom 06.04.2006 – L 4 KR 74/04 – bei juris; LSG NiedersachsenBremen, Urteil vom 18.01.2006 – L 4 KR 214/02 – bei juris. BayLSG, Urteil vom 23.09.1999 – L 4 KR 30/97 – bei juris. § 5 Abs. 2 PAuswG, „Der Personalausweis enthält ... ausschließlich folgende ... Angaben über den Ausweisinhaber: ... 12. Ordensname, Künstlername“. VG Berlin, NJW 2015, 811. § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG, „Zu der freiberuflichen Tätigkeit gehören die selbständig ausgeübte wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, unterrichtende oder erzieherische Tätigkeit ...“.

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zu werden31. Und Ernie, der Flitzer von einer unserer Tafeln32, der seinen Körper zum Kunstwerk erklärt hatte, wollte schlicht weiter nackig durch die Stadt laufen33. Das Bundesverfassungsgericht hatte in der schon erwähnten „Mephisto“Entscheidung von 1971 erstmals eine Kunstdefinition versucht34: Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.

Hilft das weiter? Dieser „materiale“ Kunstbegriff war schnell dem Vorwurf ausgesetzt, dass er sich vor allem an einem idealistischen Kunstverständnis der Ästhetik orientiere35. Nun lässt uns diese Definition in der Tat bei der sogenannten „engagierten“ Kunst, also politischer, gesellschaftskritischer Kunst, die besonders durch „obrigkeitliche“ Interventionen gefährdet ist, im Stich. „Es mag sein, daß irgendein Professor aus seiner subjektiven Bewertung irgendeine sogenannte Kunst in diesem Bild entdecken mag“, spottete ein Gericht 1982 über die schon angesprochene „Urin-auf-Bundesflagge“-Collage gegen die Bundeswehr36. Darüber hinaus: Die materiale Kunstdefinition ist auch nicht geeignet, Kurioses, das sich – vielleicht? – lediglich in die Kunst „retten“ will, in Frage zu stellen. Nur ein Beispiel dazu: Der chinesische Künstler Ai Weiwei (* 1957) nahm 2007 an der Documenta 12 in Kassel mit dem Projekt „Fairytale“ teil. Er lud dafür 1.001 Landsleute nach Kassel ein. Im Internet ausgeschrieben, fanden sich innerhalb weniger Tage rund 3.000 Interessierte. Ai Weiwei wählte Chinesen unterschiedlichen Alters, Berufs und aus den verschiedenen Provinzen des Landes aus. Ihnen 31 32 33 34 35 36

BFHE 134, 135. Siehe dazu Halecker / Weyhrich / Franke / Scheffler, Wenn Kunst und Strafrecht einander begegnen – Auszug aus einer Spurensuche … (in diesem Band). OVG Münster, NJW 1997, 1180. BVerfGE 30, 173 (188 f.). Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 27. AG Gießen, DuR 1983, 339 (340).

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wurden die Reise- und Aufenthaltskosten bezahlt. Die mit allem verbundenen Kosten sollen drei Millionen Euro betragen haben, die von zwei privaten Schweizer Stiftungen übernommen wurden. Ai Weiwei erklärte seine Reiseeinladungen zu Kunst37: Es ist Kunst, wenn man es Kunst nennt. Mein Traum war es, Menschen die Reise zur Documenta zu ermöglichen, die diese Möglichkeit sonst nie im Leben gehabt hätten.

Der Konturenlosigkeit des materialen Kunstbegriffs wirkte das Bundesverfassungsgericht 1984 nun mit dem „formalen“ Kunstbegriff in seinem Beschluss zum „Anachronistischen Zug“, einem politischen Straßentheater nach Bertolt Brecht38, entgegen39: Das Wesentliche eines Kunstwerkes könne darin zu sehen sein, „daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind“ – ein Kunstbegriff, „der nur an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft“. Dieser Kunstbegriff ist nun wiederum zu statisch und eng. Fortentwicklungen künstlerischer Tätigkeit sowie neue Erscheinungsformen der Kunst, die noch keinem bestimmten Werktyp zuzurechnen sind, wären nicht vom sachlichen Schutzbereich der Kunstfreiheit umfasst. Wie hätten Fotografie, Performance oder Videoclip so zur Kunst werden können? Andererseits kann der formale Kunstbegriff auch zu weit sein: Wenn ich also heute Nacht betrunken Nazi-Lieder gröle, bin ich dann wirklich Gesangeskünstler? Und reimt sich der Liedtext, rezitiere ich auch noch ein Gedicht40? 37 38

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Interview mit Henry Bork, SZ.de vom 02.04.2007 (http://www. Sueddeutsche.de/kultur/essen-wie-aus-dem-weltall-die-chinesen-kommen-1.436721). Der „Anachronistische Zug“ bezeichnet ein 1980 in München aufgeführtes politisches Straßentheater, das auf dem 1947 entstandenen gleichnamigen Gedicht von Bertolt Brecht (* 1898; † 1956) basierte und in dessen Rahmen der damalige Bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß beleidigt worden sein sollte. BVerfGE 67, 213 (226 f.). Das BayObLG (St 1994, 20 – Asylbetrügergedicht) hatte das für die (volksverhetzenden) Verse „Der Asylbetrüger in Deutschland“ bejaht, weil das „Pamphlet ... allein schon wegen seiner Reimform unter den formalen Kunstbegriff fällt“. Siehe auch LG Berlin, ZUM 2015, 903 (904) (zu „Stress ohne Grund“ von Shindy und Bushido): „Der verfassungsrechtlich verankerte Schutz der Kunstfreiheit im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG gebietet es, ein Lied bzw. den Liedtext unabhängig von dem persönlichen Geschmack des Betrachters neutral zu betrachten und einzelne Elemente nicht von dem Ganzen loszulösen und damit aus dem Zusammenhang zu reißen. Aus diesem Grund verbietet es sich auch, den Liedtext isoliert, ohne den ʻSprechgesangʼ, Melodie etc. zu beurteilen. ... [Es] ist auffällig, dass [die Angeschuldigten] ... versuchen, den Liedtext in historischen Formen des Vers und der

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Vor allem aber kann sich auch hierhinter jedermann gut verstecken. Hierzu wiederum ein Beispiel: Bayerische Gaststätten waren auf die findige Idee gekommen, „Historienspiele“41 oder auch „Experimental-Theater“, bei dem auch die Zuschauer mitmachen können, aufzuführen, als ein Gesetz ein bußgeldbewehrtes Rauchverbot in Lokalen angeordnet hatte42: Thema eines solchen „Theaterstücks“: „Das Leben in einer Kneipe, wie es früher einmal war“43.

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Strophe zu halten. Fast krampfhaft versuchen die Angeschuldigten Reimwörter zu bilden ...“ Siehe dagegen die Indizierungsentscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zum Tonträger „Der nette Mann“ der Rechtsrockgruppe „Böhse Onkelz“ (BAnz. Nr. 160 vom 30.08.1986): „ ... die Lieder auf der Schallplatte [stellen] keine Kunst dar und dienen ihr auch nicht. Ein Kunstwerk liegt nämlich nur dann vor, wenn ein bestimmtes Maß an künstlerischem Niveau vorliegt. Dies beurteilt sich nicht allein nach ästhetischen Kriterien, sondern auch nach dem Gewicht, daß das Kunstwerk für die pluralistische Gesellschaft nach deren Vorstellungen über die Funktion der Kunst hat. Dabei ist nicht nur auf die Stilrichtung der Musik sondern auch auf den Inhalt der Texte abzustellen. Die Lieder der vorliegenden Schallplatte sind für die pluralistische Gesellschaft ohne jede Bedeutung. Weder die Stilrichtung der Musik noch die Inhalte der Texte sind so bedeutsam bzw. von derart hohem künstlerischem Gewicht, daß sie der Kunst dienen würden“. So etwa die „Uschi-Bar“ in Mühldorf am Inn: „Nach Ansicht des Landratsamtes handelt es sich hierbei eindeutig um eine Umgehung des Gesetzes. Der betroffene Wirt wird darauf hingewiesen, dass auch weiterhin das Rauchen in der ʻUschi-Barʼ untersagt ist, da es sich vorliegend nicht um eine künstlerische Darbietung handelt, sondern um einen üblichen Gaststättenbetrieb ... Gegen den Betreiber wird ein Verfahren eingeleitet.“ (Rosenheim24.de vom 08.10.2010 [http://www.rosenheim24.de/bayern/uschi-bar-landratsamt-untersagt-rauchen-news-rosenheim24-952456 .html]). Art. 5 Nr. 3 BayGSG, „Das Rauchverbot nach Art. 3 Abs. 1 gilt nicht: ... bei künstlerischen Darbietungen, bei denen das Rauchen als Teil der Darbietung Ausdruck der Kunstfreiheit ist“. Ein Aushang im „Pilsbar Treff“ in Memmingen lautete auszugsweise: „Liebe Gäste, grundsätzlich ist das Rauchen in Gaststätten verboten. Wir gestatten das Rauchen in unsere[r] Gaststätte nur dann, wenn Sie sich als Gast auf Ihre Kunstfreiheit berufen. ... Wir überlassen Ihnen die Entscheidung, ob Sie sich auf Ihre Kunstfreiheit berufen und beispielsweise ʻDas Leben in einer Raucherkneipe! ... Wie es früher einmal war.ʼ ... nachspielen möchten. Dabei gehen wir davon aus, dass Ihr Rauchen als Teil der Darbietung Ausdruck Ihrer Kunstfreiheit ist.“ Nach einer Pressemeldung verhängte das AG Memmingen im März 2011 gegen den Wirt des „Pilsbar Treff“ ein Bußgeld von 200 Euro: „Ich sehe weit und breit keine Kunst“, habe die Amtsrichterin erklärt, „sondern nur Rauchen.“ (Abendzeitungmuenchen.de vom 01.04.2011 [http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.rauch verbot-gericht-qualmen-in-kneipen-ist-keine-kunst.b3fac33e-8be1-48d7-b575c8ac8e408f22.html]).

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Das Bundesverfassungsgericht wendet heute beide Kunstbegriffe44 nebeneinander an. Trotz ihrer jeweiligen Schwächen bieten diese vom BVerfG genannten Lösungsansätze hinreichende Gesichtspunkte, um im Einzelfall zu entscheiden, ob die Kunstfreiheit ihrem Schutzbereich nach berührt wird,

formulierte Johann Friedrich Henschel, lange Jahre Richter am Bundesverfassungsgericht45. Es sollen also die Kunstbegriffe weder kumulativ noch alternativ herangezogen werden – sondern abgestimmt auf den Einzelfall irgendwelche „Gesichtspunkte“ der einzelnen Kunstbegriffe, die ein offenbar gefühlsmäßig gefundenes Verständnis begründen können. Ist es letztlich bei dem vielzitierten, über 50 Jahre alten Satz des damaligen Richters am USSupreme Court Potter Stewart geblieben46: „I can’t define it, but I know it when I see it”? Wie sehr damit infolge der vom Bundesverfassungsgericht selbst „wiederholt hervorgehobenen Schwierigkeit, den Begriff der Kunst abschließend zu definieren“47, letztlich heute immer noch weitgehende Unklarheit herrscht, zeigt ein Blick auf die wohl beiden von Strafverfolgung gefährdetsten literarischen Genres, nämlich die Satire und die Pornographie: 1992 musste sich die deutsche Satire-Zeitschrift „Titanic“ vom Bundesverfassungsgericht sagen lassen48, einer ihrer Beiträge49 sei zwar

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Es soll hier im Hintergrund bleiben, dass das BVerfG im „Anachronistischer Zug“Beschluss noch einen dritten Kunstbegriff herangezogen hat, den sog. „offenen“ Kunstbegriff. Der sieht „das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung darin …, dass es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiter reichende Bedeutungen zu entnehmen, so dass sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt“. Seine Schwäche besteht darin, dass er indirekt Qualitätsmaßstäbe anlegt; denn bei strenger Betrachtung erfasst er keine vordergründige oder triviale Unterhaltung, die – formal betrachtet – als Kunst einzustufen ist. (Siehe dazu Hentschel, NJW 1990, 1939). Hentschel, a.a.O. Potter Stewart (* 1915; † 1985) äußerte diesen Satz 1964 im Zusammenhang mit der Abgrenzung von Kunst und Pornographie in einem Strafprozess gegen den Manager eines Filmtheaters. In dem Verfahren ging es um die Frage, ob der französische Spielfilm „Les Amants“ (Die Liebenden) von Louis Malle (* 1932; † 1995) aus dem Jahre 1958 als obszön einzustufen sei. BVerfGE 119, 1 (23) – Esra. BVerfGE 86, 1 (9) – geb. Mörder. Das monatlich erscheinende Magazin enthielt die ständige Rubrik „Die sieben peinlichsten Persönlichkeiten“. In der März-Ausgabe 1988 ist den drei letzten Namen der Liste ein Klammerzusatz beigefügt, der jeweils mit „geb.“ beginnt, aber nur bei der

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durch satirische Verfremdung geprägt. Seine satirischen Elemente heben ihn jedoch noch nicht in den Rang eines durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Kunstwerks. Satire kann Kunst sein; nicht jede Satire ist jedoch Kunst.

Nichts anderes gilt für pornographische Schriften: Es würde „zu Überschneidungen kommen“50, meinte der deutsche Bundesgerichtshof, bestätigt vom Bundesverfassungsgericht51. Kunstcharakter könnten „unter Umständen“52 auch pornographische Darstellungen aufweisen – oder eben auch nicht. Der Bundesgerichtshof akzeptierte damals, dass es sich bei dem Roman „Opus Pistorum“53, obwohl er „praktisch nur aus einer Aneinanderreihung von Schilderungen sexueller Handlungen in ununterbrochener Abfolge besteht“54, um ein „Werk der Kunst“55 handele. Hätte es dies auch getan, wenn der Autor nicht der große amerikanische Schriftsteller Henry Miller gewesen wäre, sondern irgendein „Heinrich Müller“ oder „Henryk Młynarz“?

Literatur DÖLLING, DIETER / DUTTGE, GUNNAR / KÖNIG, STEFAN / RÖSSNER, DIETER, Gesamtes Strafrecht – Kommentar. 4. Auflage 2017.

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an fünfter Stelle genannten Frau Desiree Becker im herkömmlichen Sinne zur Kennzeichnung ihres Geburtsnamens als „geb. Nosbusch“ verwandt wird. An sechster Stelle wird der damalige Bundespräsident als „Richard von Weizsäcker (geb. Bürger)“ aufgeführt, während an siebter Stelle der Kläger des Ausgangsverfahrens mit Vor- und Zunamen (Martin Rudloff) und mit dem Klammerzusatz „geb. Mörder“ genannt wird. Im Begleittext dazu heißt es: „Noch obszöner freilich ist die Vorstellung, daß ein Querschnittsgelähmter im Rollstuhl zu einer Wehrübung einrückt. Nicht, weil er müßte – nein, er wollte unbedingt. Gegen alle Widerstände der von solchem Kampfeseifer verblüfften Bundeswehrführung hat M. Rudloff seinen eisernen Willen durchgesetzt und freut sich nun ʻunheimlichʼ aufs Kriegspielen. ʻDein Kopf ist doch völlig o.k.ʼ will er sich gesagt haben, ʻwarum solltest du der Bundeswehr nicht weiterhin als Reserve-Offizier nützlich sein?ʼ Eine müßige Frage, da schon die Voraussetzung offenbar falsch ist“. BGHSt 37, 55 (57) – Opus Pistorum. BVerfGE 83, 130 (138 f.) – Mutzenbacher. BGHSt 37, 55 (59) – Opus Pistorum. Henry Miller (* 1891; † 1980), Opus Pistorum. Grove Press, New York (1983). „... die den in verschiedenen Stellungen ausgeübten Geschlechtsverkehr, Mundverkehr (fellatio und cunnilingus), homosexuelle und lesbische Betätigungen, Analkoitus, Triolenverkehr, Gruppensex und sexuelle Betätigungen sonstiger Art in allen Einzelheiten sowie Vergewaltigungen, pädophile und sodomitische Handlungen zum Gegenstand haben.“ (BGHSt 37, 55 [64]). BGHSt 37, 55 (57) – Opus Pistorum.

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HENTSCHEL, JOHANN FRIEDRICH, Die Kunstfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift 1990, S. 1937 ff. HÖRNLE, TATJANA, Abschaffung des Blasphemie-Paragrafen?, Zeitschrift für Rechtspolitik 2015, S. 62. ISENSEE, JOSEF, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980. KNIES, WOLFGANG, Schranken Der Kunstfreiheit Als Verfassungsrechtliches Problem, 1967. MÜNCHENER KOMMENTAR ZUM STRAFGESETZBUCH, 3. Auflage 2017–2019. SATZER, HELMUT; SCHLUCKEBIER, gesetzbuch – Kommentar. 4. Auflage

WILHELM,

WIDMAIER, GUNTER, Straf-

TUCHOLSKY, KURT (IGNAZ WROBEL), Was darf die Satire?, Berliner Tageblatt vom 27.01.1919 (Abendausgabe).

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Die vorbehaltlose Kunstfreiheit des deutschen Grundgesetzes – nur ein Lippenbekenntnis?* Der seit 1949 unverändert im deutschen Grundgesetz stehende Art. 5 Abs. 3 besagt es eigentlich eindeutig: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

Da, wie sich aus Satz 2 der Norm im Umkehrschluss entnehmen lässt, nicht einmal fehlende „Treue zur Verfassung“ die Kunstfreiheit beschränken kann, scheint die von Kurt Tucholsky abgeleitete Frage im Titel unserer Tagung beantwortet zu sein: „Was darf die Kunst? Alles!“ Nun verkündete allerdings 1961 der Bundesgerichtshof apodiktisch – es ging um das vermeintlich blasphemische Gedicht „Missa profana“ eines Studenten, des späteren Literaturwissenschaftlers Reinhard Döhl –, dass der „Gotteslästerungsparagraph“ § 166 StGB der Freiheit der Kunst „Schranken setzt“1. Er begründete das damit, Art. 5 Abs. 3 GG unterliege dem sogenannten allgemeinen Gemeinschaftsvorbehalt des Art. 2 Abs. 1 GG, die Kunstfreiheit finde also ihre Schranken in den Rechten anderer, in der verfassungsmäßigen Ordnung und im Sittengesetz. Zur verfassungsmäßigen Ordnung gehörten alle Rechtsnormen, also auch § 166 StGB. Die Vorbehaltlosigkeit der Kunstfreiheit wurde mithin ausgehebelt.

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Der Beitrag hat den um Fußnoten erweiterten Vortrag zum Inhalt, den der Autor am 19. Oktober 2017 auf der in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Strafrecht (prof. zw. dr hab. Emil W. Pływaczewski) der Universität Białystok veranstalteten internationalen Tagung „Darf die Kunst alles? Aktuelle Rechtsentwicklungen aus deutscher und polnischer Perspektive / Czy sztuce wolno wszystko? Aktualne kierunki rozwoju prawa z perspektywy polskiej i niemieckiej“ an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) gehalten hat. Der Beitrag ist auch als Aufsatz in dem von Emil W. Pływaczewski und Ewa M. Guzik-Makaruk herausgegebenen Band 8 der Reihe „Current problems of the penal law and criminology / Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie“, 2019, S. 269 ff. erschienen. BGH, UFITA 1962, 181 (182 f.) – Missa profana.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-005

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Was dürfte danach also ein Künstler – alles? Nein. Er dürfte nur das, was auch ein jeder darf2. Der Bundesgerichtshof befand sich hier noch im Denken der Zeit der Weimarer Republik. Art. 142 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung von 1919, der anders als die Grundrechtskataloge ihrer Vorgänger3 die Kunstfreiheit neben der Freiheit von Wissenschaft und Lehre nannte4, besagte zwar ähnlich wie später das Grundgesetz: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.“ Nicht gänzlich unwichtig zum Verständnis ist jedoch der angefügte Satz 2: „Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.“ Die Norm stand im Zweiten Hauptteil der Weimarer Reichserfassung unter dem Titel „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“, dort allerdings erst im 4. Abschnitt „Bildung und Schule“. Somit war die Kunstfreiheit Bestandteil eines Normenkomplexes, der weniger individuelle Grundrechte im Sinne subjektiver Rechte gewähren als vielmehr die objektiven Ordnungsprinzipien der staatlichen Bildungs- und Kulturverfassung verfassungsgesetzlich festlegen wollte. Art. 142 der Weimarer Reichsverfassung entsprach also eher dem, was wir heute Staatszielbestimmung nennen, als einem subjektiven Grundrecht5. 2

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Allerdings fügte der BGH unter Hinweis auf BVerfGE 12, 113 – Schmid-Spiegel noch an, auch § 166 StGB selbst würde „in seiner das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt; denn bei seiner Auslegung muß die Bedeutung berücksichtigt werden, welche die im Grundgesetz anerkannte Freiheit der Kunst im freiheitlich demokratischen Staate hat“. – Im Ergebnis sprach der BGH Döhl frei: „Denn bei rechtlich einwandfreier Auslegung ist es unmöglich, ... eine Beschimpfung der Marienverehrung zu finden“. Die Bismarcksche Reichsverfassung von 1871 enthielt keine Grundrechte. § 152 der Paulskirchenverfassung von 1849 und wortgleich Art. 20 der preußischen Verfassung von 1850: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.“ Der Kunsthistoriker Franz Kugler, Kunstreferent für den Preußischen Staat, hatte dem preußischen Kultusministerium 1843 einen „Entwurf zu einem Gesetz über die Organisation der Kunstangelegenheiten“ als einen Vorschlag zur Regelung der Kunstfreiheit vorbereitet: „Die Ausübung der Kunst ist frei, mit Ausnahme derjenigen gesetzlich bestimmten Fälle, in welchen aus Rücksicht auf das Gemeinwohl Beschränkungen eintreten.“ (Hoffmann: Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes, S. 57; Bartsch, in: Kluth [Hrsg.], Freiheit der Kunst und Verantwortung des Künstlers, o.S. [S. 29]). Anschütz, Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung, Art. 142 Anm. 4 (S. 662) – Hervorhebungen von dort: „Art. 142 Satz 1 darf nicht einseitig individualistisch, als Gewährung eines persönlichen Freiheitsrechts ..., er muß vielmehr in erster Linie institutionell aufgefaßt werden, als eine ʻinstitutionelle Garantieʼ. Das heißt: er will die Lehrfreiheit [Anschütz nennt hier allerdings wohl ohne inhaltlichen Grund nicht aus-

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Nach Gerhard Anschütz, dem großen Staatsrechtler der damaligen Zeit, konnte Art. 142 der Weimarer Reichsverfassung dementsprechend keine „unbedingte, absolute, souveräne“, keine schrankenlose Freiheit garantieren; allerdings dürfe die Norm auch nicht, wie zunächst geschehen, als „leerlaufendes Grundrecht“ ausgedeutet werden6. Richtig sei vielmehr die ab 19277 vorherrschende Auslegung, dass zum einen die Verwaltung in die Freiheit des künstlerischen Schaffens „nur ... aufgrund und innerhalb der Schranken des Gesetzes“ eingreifen dürfe. Art. 142 der Weimarer Reichsverfassung binde zum anderen aber „nicht nur die Verwaltung an das Gesetz, sondern auch das Gesetz selbst“. Der Gesetzgeber dürfe nicht durch „Sondergesetze, die sich gegen Künste ... oder gegen einzelne Kunstrichtungen8 als solche wenden“, sondern nur auf Grundlage allgemeiner Gesetze in die Kunstfrei-

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drücklich auch die Kunstfreiheit – USch] nicht nur als subjektives Recht des einzelnen, sondern auch – und vor allem – als Einrichtung gewährleisten und schützen ...“. Die Weimarer Rechtsprechung schien die erstmalige Kodifizierung der Kunstfreiheit überhaupt nicht zu interessieren. Sie interpretierte die künstlerische Tätigkeit als rein subjektive Meinungsäußerung und unterwarf sie demgemäß nur der Meinungsfreiheit (Art. 118 Abs. 1 Satz 1 WRV: „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern.“). Anschütz, a.a.O., Anm. 2 (S. 658 f.): „Satz 1 unterscheidet sich von vielen anderen Grundrechten dadurch, daß er keinen Vorbehalt zugunsten gesetzlicher Beschränkungen enthält. ... Es fragt sich, was das bedeutet. Zwei Auffassungen sind zunächst möglich. Man könnte versucht sein, den Mangel des Vorbehalts als das von der Verf[assung] tatsächlich und wirklich gewollte anzusehen. Die Freiheit der Kunst ... wäre demnach eine unbedingte, absolute, souveräne; an keinem Gesetz würde sie eine Schranke finden, nicht einmal an den allgemeinen Strafgesetzen. Daß dies nicht der Wille des Verfassungsgesetzgebers sein kann, ist ohne weiteres deutlich. Denn es ist nicht einzusehen, warum den in Art. 142 eingeräumten Betätigungsmöglichkeiten der persönlichen Freiheit eine so einzigartige Stellung hat eingeräumt werden wollen ... Man könnte umgekehrt so argumentieren: Die im Zweiten Hauptteil aufgezählten Freiheiten gelten im Zweifelsfalle nicht gegenüber dem Gesetzgeber. ... Denkt man so, dann gehört Art. 142 Satz 1 in die Reihe jener ʻleerlaufendenʼ Grundrechte, die ... nichts anderes und nicht mehr bedeuten als eine Bestätigung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ... Diese Auslegung des Satzes 1 war früher ... herrschend“. Seit der fünften Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer am 24./25.03.1927 in München mit den Referaten zum Recht der freien Meinungsäußerung von Rothenbücher (VVDStRL 4 [1927], 6 ff.) und Smend (VVDStRL 4 [1927], 44 ff.). Vollständig zitiert: „einzelne Kunst- und Wissenschaftsrichtungen“.

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heit eingreifen9: „Allgemeine Gesetze in diesem Sinne sind insbesondere ... alle Strafgesetze ...“ Dementsprechend hat dann auch das Reichsgericht 1930 in dem spektakulärsten Weimarer Kunststrafprozess, dem „Christus mit der Gasmaske“-Verfahren gegen dessen Zeichner George Grosz, die Kunstfreiheit der Weimarer Reichsverfassung nicht einmal erwähnt10: Auch ein Künstler dürfe die Schranken nicht überschreiten, die der § 166 RStGB zum Schutze des religiösen Gefühls errichtet hat, befand damals das Reichsgericht. Diese Rechtslage kam 1971 in Bewegung11 durch den vielleicht für die Kunstfreiheit wichtigsten Entscheid des Bundesverfassungsgerichts, den „Mephisto“-Beschluss des 1. Senats, in dem es allerdings nicht um „Gotteslästerung“, sondern um die Verunglimpfung eines verstorbenen Schauspielers in einem Schlüsselroman ging12.

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Anschütz, Kommentar zur WRV, Art. 142 Anm. 3 (S. 660 f.) – Hervorhebungen von dort; siehe ausführlich Oehme, in: Kluth (Hrsg.), Freiheit der Kunst und Verantwortung des Künstlers, o.S. (S. 54 ff.). RGSt 64, 121 (128) – Christus mit der Gasmaske. Näher dazu Scheffler: George Grosz vor Gericht (in diesem Band). Genaugenommen kam die Rechtslage schon 1954 in Bewegung durch die „Sünderin“-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts: „Für die Auffassung, daß der Grundgesetzgeber die Freiheit von Kunst und Wissenschaft nicht generell an die Schranken der allgemeinen Gesetze binden wollte, spricht ... nicht nur die Tatsache, daß er trotz der Meinungsverschiedenheiten, die über die Auslegung des Art. 142 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung bestanden hatten, von einer ausdrücklichen Einschränkung der Freiheit von Kunst und Wissenschaft abgesehen hat, sondern auch die Systematik des Grundgesetzes, in der der Art. 5 Abs. 3 über die Freiheit von Kunst und Wissenschaft hinter die die freie Meinungsäußerung behandelnden Absätze 1 und 2 gestellt ist. Dafür spricht schließlich der sonst überflüssige Satz 2 in Abs. 3, wonach die Freiheit der Lehre nicht von der Treue zur Verfassung entbindet. Darüber hinaus entspricht es dem freiheitlichen Gehalt des Grundgesetzes, daß es Kunst, Wissenschaft, Lehre und Forschung von der im obrigkeitsstaatlichen Denken verhafteten Kontrolle im Sinne des Polizeirechts freigestellt hat. Der Senat vertritt deshalb die Ansicht, daß die Freiheit der Kunst nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht den Schranken der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG ... unterliegt. Das bedeutet jedoch nicht, daß für die Freiheit der Kunst überhaupt keine Schranken beständen. Wie der Senat in anderem Zusammenhang ausgesprochen hat (Urteile vom 15. Dezember 1953 [BVerwGE 1, 48] und vom 10. März 1954 [BVerwGE 1, 92]), darf ein Grundrecht nicht in Anspruch genommen werden, wenn dadurch ein anderes Grundrecht verletzt wird oder Güter, die für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendig sind, gefährdet werden ...“ (BVerwGE 1, 303 [306] – Sünderin). BVerfGE 30, 173 (191 ff.) – Mephisto. In der Entscheidung ging es um den Roman „Mephisto“ des Schriftstellers Klaus Mann (* 1906; † 1949), in dem der verstorbene

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Die Kunst, so das Gericht, sei durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos gewährleistet13: Versuche, die Kunstfreiheitsgarantie ... aufgrund der Schrankenregelung anderer Verfassungsbestimmungen einzuschränken, müssen angesichts dieser klaren Vorschrift erfolglos bleiben.

Zu der Auffassung des Bundesgerichtshofs im „Missa profana“-Urteil führte das Bundesverfassungsgericht explizit aus, dass die Meinung, die Freiheit der Kunst würde gemäß Art. 2 Abs. 1 GG durch die Rechte anderer, durch die verfassungsmäßige Ordnung und durch das Sittengesetz beschränkt, abzulehnen sei. Sie sei unvereinbar mit dem vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung anerkannten Verhältnis der Subsidiarität des Art. 2 Abs. 1 GG zur Spezialität der Einzelfreiheitsrechte.

Das Bundesverfassungsgericht machte aber zugleich klar, dass das nicht bedeutete, Kunst dürfe „alles“: Die Kunstfreiheit würde zwar vorbehaltlos, jedoch „nicht schrankenlos gewährt“. Der Vorbehaltlosigkeit komme jedoch die Bedeutung zu, „daß die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind“. Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthalte, dürfe sie jedoch „weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden“. Vielmehr sei ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen.

Lediglich die gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG „unantastbare“ Menschenwürde wirke als Schranke „absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs“. Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts – es ging um Schmähkritik an einem Politiker mittels mehrerer „Schweine“-Karikaturen – sprach dies 1987 deutlich aus14; im „Mephisto“-Beschluss war es nur angedeutet worden.

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Schauspieler Gustav Gründgens als Opportunist während der Zeit des Nationalsozialismus herabgewürdigt worden sein sollte. Unanwendbar sei insbesondere auch „Art. 5 Abs. 2 GG, der die Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG beschränkt. Die systematische Trennung der Gewährleistungsbereiche in Art. 5 GG weist den Abs. 3 dieser Bestimmung gegenüber Abs. 1 als lex specialis aus und verbietet es deshalb, die Schranken des Abs. 2 auch auf die in Abs. 3 genannten Bereiche anzuwenden.“ (BVerfGE, a.a.O., S. 191; ähnlich schon 1954 BVerwGE 1, 303 – Sünderin). BVerfGE 75, 369 (380) – Strauß-Karikaturen: „Zwar genießt der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts keinen generellen Vorrang gegenüber dem Recht aus

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I. Kunstfreiheit und vorbehaltlose Grundrechte am Beispiel der „Gotteslästerung“ 1. Abwägung der Kunstfreiheit mit der Religionsfreiheit? Diese zum Konflikt der Kunstfreiheit mit dem postmortalen Persönlichkeitsschutz ergangene Entscheidung scheint auch genau zu einem Konflikt zwischen der Kunst- und der Religionsfreiheit des Art. 4 GG bei nach § 166 StGB strafbedrohten „gotteslästerlichen“ Kunstwerken zu passen. § 166 StGB, seit 1969 nicht mehr mit „Gotteslästerung“, sondern mit „Beschimpfung von Bekenntnissen und Religionsgesellschaften“ überschrieben, bedroht heute mit Strafe denjenigen, der „den Inhalt des religiösen ... Bekenntnisses anderer“ (Abs. 1) oder aber eine „Religionsgesellschaft“, deren „Einrichtungen oder Gebräuche“ (Abs. 2) „in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“. Die „Mephisto“-Entscheidung scheint deshalb so gut zu passen, weil Art. 4 GG genauso wie Art. 5 Abs. 3 GG ein vorbehaltloses Grundrecht ist. Eine Kollision mit der Kunstfreiheit kann deshalb unter „Berücksichtigung der Einheit ... der grundgesetzlichen Wertordnung“ gar nicht anders als durch „Verfassungsauslegung“ gelöst werden. Aber ist Art. 4 GG überhaupt bei „Beschimpfungen“ durch „gotteslästerliche“ Gedichte oder Zeichnungen berührt? Das ist mehr als fraglich. Art. 4 GG schützt nur die „Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen ... Bekenntnisses“ (Abs. 1) sowie die „ungestörte Religionsausübung“ (Abs. 2). Aus der Vorschrift ist kein Recht der Anhänger einer Religion abzuleiten, gegen „Beschimpfungen“ geschützt zu werden; eine bloße Schmähung ohne nötigenden Charakter schränkt weder die Glaubensfreiheit noch die Religionsausübung anderer ein15 und fällt somit

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Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, sondern muß auch im Lichte dieses Grundrechts verstanden werden. Soweit das allgemeine Persönlichkeitsrecht allerdings unmittelbarer Ausfluß der Menschenwürde ist, wirkt diese Schranke absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs (Starck, in: v. Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl., Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 209). Bei Eingriffen in diesen durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kern menschlicher Ehre liegt immer eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts vor, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 67, 213 [228]) durch die Freiheit künstlerischer Betätigung nicht mehr gedeckt ist“. Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 166 Rn. 1; dies., ZRP 2015, 62; Hilgendorf in Satzger / Schluckebier / Widmaier, StGB, § 166 Rn. 4.

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nicht in den Schutzbereich des Art. 4 GG16. Demzufolge ist im Bereich der Bildenden Kunst eine Kollision zwischen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG und Art. 4 GG kaum möglich17.

2. Abwägung der Kunstfreiheit mit dem Schutz des Öffentlichen Friedens? Nun wird heute im Allgemeinen anders argumentiert: Hinter § 166 StGB stehe nicht, wie früher angenommen, die Religionsfreiheit des Art. 4 GG als Rechtsgut, sondern die Norm diene dem „öffentlichen Frieden“: § 166 StGB nehme zwar seinen Ausgangspunkt im religiösen Bereich, geschützt sei aber „das friedliche Zusammenleben der Menschen untereinander und das Vertrauen in den Fortbestand dieses Zustandes“18. Kann nun aber diese eher nebulöse Rechtsgutsbestimmung genügen, einen Verfassungswert zu benennen, der geeignet ist, die vorbehaltlos gewährte Kunstfreiheit einzuschränken? Die darf doch dem „Mephisto“-Beschluss zufolge nicht „durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden“! Die herrschende Meinung „drückt“ sich um die Frage und löst das Problem ganz pragmatisch auf der Tatbestandsebene, so als gäbe es keine verfassungsrechtliche Dogmatik hierzu: Sie will zu einem Ausgleich zwischen der Kunstfreiheit und den „Belangen des § 166 [StGB]“ kommen und „dem hohen Rang, den das GG der Kunstfreiheit eingeräumt hat, in der Weise Rechnung ... tragen ..., dass man nur besonders rohe Äußerungen der Missachtung als Beschimpfung genügen lässt“19.

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So aber offenbar die Begründung des Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes (Stärkung des Toleranzgebotes durch einen besseren Schutz religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen gemäß § 166 StGB) vom 07.05.1998 von Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, BT-DrS 13/10666, S. 5: „Schutzgut des § 166 StGB ist daher das sich aus Artikel 4 Abs. 2 GG ergebende allgemeine Toleranzgebot, das religiöse und weltanschauliche Bekenntnis Dritter zu achten (vgl. Rudolphi, in: SK-StGB, Vor § 166 Rdnr. 1)“. Anderes mag für die (früher in § 166 Alt. 3 RStGB) geregelte Störung der Religionsausübung gemäß § 167 StGB durch sogenannte „Engagierte Kunst“ gelten. Die „Performance“ einer „Femen“-Aktivistin während eines Gottesdienstes kann selbst dann strafbar sein, wenn sie als Kunstausübung klassifiziert wird (was die sie bestrafenden Gerichte allerdings nicht einmal erwogen haben, siehe LG Köln, StV 2016, 810 – „I am God“ sowie die Vorinstanz AG Köln, KirchE 64, 430 mit Bespr.-Aufs. Bülte, StV 2016, 837). Siehe auch zum „Punk-Gebet“ der russischen Gruppe „Pussy Riot“ Fahl, StraFo 2013, 1 ff. sowie Weyhrich: Pussy Riot – Die Moskauer Furien (im Band „Musik und Strafrecht“). Tag in Dölling / Duttge / Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 166 StGB Rn. 2. So wörtlich Lenckner / Bosch in Schönke / Schröder‚ StGB, § 166 Rn. 10.

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Wäre es nicht auf der Grundlage des Mephisto-Beschlusses richtiger, zumindest bei Werken der Bildenden und der Dichtenden Kunst eine Strafbarkeit nach § 166 StGB von vornherein auszuschließen, weil es keinen genügend bestimmten Verfassungswert gibt, der geeignet ist, die Vorbehaltlosigkeit von Art. 5 Abs. 3 GG zu relativieren20?

II. Kunstfreiheit und Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt am Beispiel der Sachbeschädigung Der „Mephisto“-Beschluss wird aber noch viel weiter interpretiert, nämlich auch auf Konflikte zwischen der vorbehaltlosen Kunstfreiheit und Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt angewendet, von denen es deutlich mehr gibt. Als wohl wichtigstes Beispiel mag hier die Eigentumsgarantie in Art. 14 GG, die besonders durch Graffiti-Kunst berührt wird, dienen. Dessen Abs. 1 besagt: „Das Eigentum … [wird] gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.“

1. Vorrang der Kunstfreiheit vor der Eigentumsgarantie? Kann es aber richtig sein, den vorbehaltlosen Art. 5 Abs. 3 GG auch hier in eine Abwägung zu zwingen? Wenn Art. 14 Abs. 1 GG schon durch „die Gesetze“ eingeschränkt werden kann – hat er sich nicht dann erst recht Art. 5 Abs. 3 GG zu beugen? Art. 14 Abs. 2 GG stützt diesen Gedanken sogar noch durch die Mahnung, dass „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ – etwa durch die Gewährleistung künstlerischer Freiheit? Die Literatur geht über dieses Problem zumeist hinweg. Wird es doch einmal angesprochen, dann wird nur mit Blick auf das – zugegebenermaßen obskur erscheinende – Ergebnis dieses Gedankens argumentiert21: „Zwar steht die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG erst am Ende des Grundrechtskataloges, doch wird man daraus kaum eine mindere Rangstelle gegenüber Art. 5 III GG ableiten können“, kann man in einem schon etwas älteren Aufsatz zum Thema „Kunst als Störung privater Rechte“ lesen. Und weiter: 20

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Entsprechendes könnte auch für andere Strafnormen gelten, etwa § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB, die „Verunglimpfung staatlicher Symbole“, der als Verfassungswert „die für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates“ zugrunde liegen soll, wie das BVerfG mehrfach gesagt hat (BVerfGE 81, 278 [293 f.] – Bundesflagge; BVerfG [Kammer], NJW 2009, 908 – Schwarz-Rot-Senf). Schmieder, NJW 1982, 630.

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Die „Privatautonomie, mit seinem Eigentum ʻnach Belieben zu verfahren und andere von jeder Einwirkung auszuschließenʼ (§ 903 BGB)“, sei für unsere gegenwärtige verfassungsmäßige Wertordnung „mindestens ebenso konstituierend wie die Gewährleistung künstlerischer Freiheit“. Auch die Sozialbindung des Eigentums führe hier nicht weiter; sie könne nicht „die Pflicht zur Inkaufnahme eines der Allgemeinheit eher unverständlichen und lästigen Sonderopfers auf dem Altar der Kunst rechtfertigen“. „Hart im Raume stoßen sich die Sachen“, konstatierte denn auch der offenbar selbst nicht so ganz überzeugte Autor dieser Gedanken, übrigens ein kunstund vor allem musikbegeisterter langjähriger Vorsitzender Richter am Bundespatentgericht. Verlassen wir aber diesen Gedanken, zumal ihm 2016 der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich, wenn auch ohne nähere Begründung, entgegengetreten ist22: „ ... ein prinzipieller Vorrang der Kunstfreiheit vor dem Eigentum [lässt sich] nicht aus der Verfassung herleiten.“ Jedenfalls im praktischen Ergebnis Zustimmung: Unerträglich die Vorstellung, mein künstlerische Graffiti sprayender Nachbarsjunge dürfte die Motorhaube meines Autos etwa mit einem flügelschlagenden Adler ungefragt verschönern. Gegen den prinzipiellen Vorrang der Kunstfreiheit vor Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt spricht allerdings nicht, dass nach Art. 2 Abs. 2 GG selbst in „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ sowie „die Freiheit der Person“ „auf Grund eines Gesetzes“ eingegriffen werden darf: Der „Mord auf der Bühne“, das Zwangstätowieren oder das Nötigen zum (Akt-)Modeln könnten als Eingriffe in die Menschenwürde (natürlich) nicht durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt werden. Denn hier wirkt, wie erwähnt, die „unantastbare“ Menschenwürde als Schranke „absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs“23.

2. Vorrang der Eigentumsgarantie vor der Kunstfreiheit? Das Bundesverfassungsgericht – genauer gesagt: kein Senat, sondern ein vergleichbar einer heutigen Kammer mit nur drei Richtern besetzter Vorprüfungssauschuss des 2. Senats – hatte möglicherweise das Problem, dass die Eigentumsgarantie unter Gesetzesvorbehalt steht, schon 1984 gesehen und sich des-

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BVerfGE 142, 74 (104) – Metall auf Metall. BVerfGE 75, 369 (380) – Strauß-Karikaturen.

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halb damals im Fall des „Sprayers von Zürich“ entschieden24, besser eine Abwägung der beiden Grundrechte zu umgehen: Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verbürge zwar ein individuelles, mit keinem Vorbehalt versehenes Freiheitsrecht, sich künstlerisch zu betätigen, Kunstwerke darzubieten und zu verbreiten. Die Reichweite der Kunstfreiheit erstrecke sich aber „von vorneherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung“. In der strafrechtlichen Kommentarliteratur kann man bis heute zur Sachbeschädigung (§ 303 StGB) fast überall unter Hinweis auf den „Sprayer von Zürich“-Beschluss lesen, dass die Kunstfreiheit keinen Rechtsfertigungsgrund darstelle25. Dementsprechend ist mir auch keine einzige strafrechtliche Entscheidung bekannt, in der bei einem Graffiti-Künstler die Kunstfreiheit als möglicher Rechtfertigungsgrund auch nur angesprochen worden ist, oder, verfassungsrechtlich gewendet, eine Abwägung zwischen vorbehaltloser Kunstfreiheit und Eigentumsgarantie wenigstens in Erwägung gezogen wurde. Dies muss besonders bei der neueren Kommentarliteratur überraschen, weil der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts schon 2007 im vielbeachteten „Esra“-Beschluss explizit der „Tendenz“ im ausdrücklich benannten „Sprayer von Zürich“-Beschluss entgegengetreten war, zu versuchen, „künstlerische Ausdrucksformen, die in Konflikt mit den Rechten anderer kommen, von vornherein vom Grundrechtsschutz der Kunstfreiheit auszuschließen“26. Das Gericht verdeutlichte: „Eingriffe in die Kunstfreiheit ... sind darauf zu überprüfen, ob sie den Grundrechten von Künstlern und der durch das Kunstwerk Betroffenen gleichermaßen gerecht werden.“

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BVerfG (Vorprüfungsausschuss), NJW 1984, 1293 – Sprayer von Zürich. Weidemann in BeckOK, StGB, § 303 Rn. 28; Zaczyk in Nomos-Kommentar, StGB, § 303 Rn. 21 mit Fn. 88; Heger in Lackner / Kühl, StGB § 303 Rn. 9; Kindhäuser, StGB, § 303 Rn. 12; 20; Stree / Hecker in Schönke / Schröder, StGB, § 303 Rn. 22; Wieck-Noodt in Münchener Kommentar, StGB, § 303 Rn. 64 mit Fn. 221; so auch Ralph Ingelfinger, Graffiti und Sachbeschädigung, S. 15 f.; ähnlich Wolff in Leipziger Kommentar, StGB, § 303 Rn. 2; Fischer, StGB, § 303 Rn. 20; Saliger in Satzger / Schluckebier / Widmaier, StGB, § 303 Rn. 19; siehe auch BVerwG, NJW 1995, 2648 – Breker-Skulpturen; VG Hamburg, BeckRS 2015, 48201 = GRUR-Prax 2015, 380 (Kurzfassung) mit Anm. Garbers-v. Böhm – Schattenbänke. BVerfGE 119, 1 (23) – Esra. Es ging um das Verbot des autobiographische Züge tragenden Romans „Esra“ des Schriftstellers Maxim Biller (* 1960), der das Allgemeine Persönlichkeitsrecht seiner ehemaligen Freundin und derer Mutter verletzen soll, weil sie in dem autobiographischen Text identifizierbar seien.

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Wie gesagt, es änderte sich jedoch nichts. Die Vorbehaltlosigkeit der Kunstfreiheit ist bei Konflikten mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG faktisch abgeschafft geblieben.

3. Abwägung der Kunstfreiheit mit der Eigentumsgarantie? Nun hat der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts 2016 noch einmal nachgelegt. Im „Metall auf Metall“-Urteil ist das Gericht noch deutlicher geworden27: Es betont wiederum, dass sich ein prinzipieller Vorrang der Eigentumsgarantie vor der Gewährleistung der Kunstfreiheit nicht aus der Verfassung herleiten lässt: Jedes künstlerische Wirken bewegt sich ... zunächst im Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, gleich wie und wo es stattfindet (anders noch BVerfG, … Sprayer von Zürich). Ob die Kunstfreiheit dann wegen der Beeinträchtigung insbesondere von Grundrechten Dritter zurücktreten muss, ist erst anschließend zu entscheiden.

In diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht sodann Abwägungskriterien entwickelt, die demonstrieren, wie weit wir heute unreflektiert akzeptieren, die Vorbehaltlosigkeit der Kunstfreiheit bei Konflikten mit Art. 14 Abs. 1 GG völlig zu ignorieren. Nun ist es dort allerdings um einen völlig anderen Sachverhalt gegangen als im „Sprayer von Zürich“-Beschluss. „Metall auf Metall“ betrifft nicht sächliches, sondern geistiges Eigentum, nämlich das Urheberrecht: Der Rapper, Komponist und Musikproduzent Moses Pelham hatte 1997 eine zweisekündige Sequenz28 aus dem Stück „Metall auf Metall“ der Elektropop-Pioniere „Kraftwerk“ von 1977 gesampelt und ohne deren Einwilligung dem Song „Nur mir“ des HipHop-Sternchens Sabrina Setlur als Loop unterlegt. Das Verfahren hatte seit 2004 schon zahlreiche Instanzen – darunter zweimal den Bundesgerichtshof – beschäftigt29; inzwischen ist es, vom Bundesverfas-

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BVerfGE 142, 74 (104) – Metall auf Metall. Takte 19 und 20. Das LG Hamburg, Urteil vom 08.10.2004 – 308 O 90/99 (bei juris) hatte der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten war ohne Erfolg geblieben (OLG Hamburg, GRUR-RR 2007, 3 – Metall auf Metall I). Auf die Revision der Beklagten hatte der BGH das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen (BGH, GRUR 2009, 403 – Metall auf Metall I). Das Berufungsgericht hatte die Berufung der Beklagten wiederum verworfen (OLG Hamburg, GRUR-RR 2011, 396 – Metall auf Metall II). Die erneute Revision der Beklagten hatte der BGH zurückgewiesen (BGH, GRUR 2013, 614 – Metall auf Metall II). Vor dem BVerfG haben sie nun – zumindest vor-

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sungsgericht zurückverwiesen, das dritte Mal beim Bundesgerichtshof gelandet, der es zunächst dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt hat30. Die urheberrechtlichen Probleme mögen uns hier nicht weiter interessieren; es geht dort unter anderem um die Fragen, ob zweisekündige Tonfetzen überhaupt Schutz genießen können, und ob Pelham in der Lage gewesen wäre, die Sequenz selbst herzustellen statt sie zu sampeln31. Relevant ist für unser Thema vielmehr, dass das Bundesverfassungsgericht Abwägungskriterien nannte und letztlich die Kunstfreiheit sogar obsiegen ließ. Ein umfassendes Verbot des Samplings ohne Erlaubnis, so das Gericht, „könnte die Schöpfung neuer Kunstwerke verhindern, die durch die Kunstfreiheit geschützt ist“32: Der Musikschaffende, der unter Einsatz von Samples ein neues Werk schaffen möchte, stünde vor der „Alternative, sich entweder um eine Samplelizenzierung durch den Tonträgerhersteller zu bemühen oder das Sample selbst nachzuspielen“33. In beiden Fällen würde jedoch die künstlerische Betätigungsfreiheit eingeschränkt34: Auf die Einräumung einer Lizenz zur Übernahme des Sample bestehe kein Anspruch; „sie kann ...

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läufigen – Erfolg gehabt. Siehe zur Prozessgeschichte jetzt ausführlich Lecheler, AL 2018, 23 ff. Der BGH hat dem EuGH Fragen zur Auslegung u.a. der RL 2001/29/EG vorgelegt (BGH, GRUR 2017, 895 – Metall auf Metall III). Nachtrag hierzu nach der Verfassung des Vortragsmanuskripts: Ende 2018 erfolgten die Schlussanträge des Generalanwalts Maciej Szpunar, der u.a. vorschlug, auf die Vorlagefragen des BGH zu antworten, „dass das ausschließliche Recht der Tonträgerhersteller, gemäß Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/29 die teilweise Vervielfältigung ihrer Tonträger zu erlauben oder zu verbieten, im Fall ihrer Verwendung zu Zwecken des Sampling nicht gegen die in Art. 13 der Charta verankerte Freiheit der Kunst verstößt.“ (Generalanwalt beim EuGH, Schlussanträge vom 12.12.2018 – C476/17 – bei juris). Sollte der EuGH dem folgen, wären insoweit hier die Karten wieder neu gemischt. – Erneuter Nachtrag: Der EuGH ist nunmehr weder dem BVerfG noch dem Generalanwalt gefolgt; die Karten sind also sogar völlig neu gemischt (EuGH, GRUR 2019, 929). Siehe dazu Hoffmann: Metall auf Metall (im Band „Musik und Strafrecht“). Zum Schmunzeln: Vor dem OLG Hamburg legte ein Gutachter dar, „dass er die tieferen Metallschläge ... durch die Aufnahme von Hammerschlägen auf eine Schubkarre und die helleren Metallschläge ... durch eine Mischung eines aus einer KlangBibliothek ausgewählten fertigen Samples (China Crash-Becken) und einer selbst hergestellten Aufnahme von Schlägen auf ein Zinkregal hergestellt habe“. (OLG Hamburg, GRUR-RR 2011, 396 [398 f.] – Metall auf Metall II). BVerfGE 142, 74 (106) – Metall auf Metall. BVerfGE, a.a.O. BVerfGE, a.a.O., S. 107.

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ungeachtet der Bereitschaft zur Zahlung eines Entgelts für die Lizenzierung verweigert werden“35. Das eigene Nachspielen von Klängen stellt für das Bundesverfassungsgericht ebenfalls keine befriedigende Alternative dar, weil „genrespezifischen Aspekte nicht unberücksichtigt“ bleiben dürfen36: Der Einsatz von Samples sei eines der stilprägenden Elemente des HipHop37. Und daran schließt das Bundesverfassungsgericht an, dass in diesem Fall die aus Art. 14 Abs. 1 GG resultierenden Rechte zurückzutreten haben38: Diesen Beschränkungen der künstlerischen Betätigungsfreiheit steht hier für den Fall einer erlaubnisfreien Zulässigkeit des Sampling ... nur ein geringfügiger Eingriff in das Tonträgerherstellerrecht ... ohne erhebliche wirtschaftliche Nachteile gegenüber.

Verwenden wir diese Gedanken, um zu erkunden, wie man die Vorbehaltlosigkeit der Kunstfreiheit auch bei sächlichem Eigentum aus dem Koma erwecken könnte. Zunächst einmal: Die Ausführungen des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts stehen einer weiteren apodiktischen Behauptung des damaligen Vorprüfungsausschusses im „Sprayer von Zürich“-Beschluss entgegen, wonach sich in Deutschland „Kunst auch ohne Beschädigung fremden Eigentums entfalten“ könne. Die Fragwürdigkeit dieses Satzes hätte sich damals den drei Verfassungsrichtern, gerade weil es um Harald Naegeli, den „Sprayer von Zürich“ ging, ei35

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Und weiter: „Für die Übernahme kann der Tonträgerhersteller die Zahlung einer Lizenzgebühr verlangen, deren Höhe er – innerhalb der allgemeinen rechtlichen Grenzen, also insbesondere des Wucherverbots des § 138 Abs. 2 BGB – frei festsetzen kann. Besonders schwierig gestaltet sich der Prozess der Rechteeinräumung bei Werken, die viele verschiedene Samples benutzen und diese collagenartig zusammenstellen. Die Existenz von Sampledatenbanken, auf denen Samples samt den Nutzungsrechten erworben werden können, sowie von Dienstleistern, die Musikschaffende beim Sampleclearing unterstützen, beseitigen diese Schwierigkeiten nur teilweise, da bei deren Inanspruchnahme unter Umständen erhebliche Transaktionskosten und größerer Rechercheaufwand entstehen. Außerdem schränkt die Verweisung hierauf die Samplingmöglichkeiten erheblich – nämlich auf das jeweils vorhandene Angebot – ein.“ (BVerfGE, a.a.O.). BVerfGE, a.a.O. „Der direkte Zugriff auf das Originaltondokument ist – ähnlich wie bei der Kunstform der Collage – Mittel zur ʻästhetischen Reformulierung des kollektiven Gedächtnisses kultureller Gemeinschaftenʼ ... und wesentliches Element eines experimentell synthetisierenden Schaffensprozesses. ... Hinzu kommt, dass sich das eigene Nachspielen eines Sample als sehr aufwendig gestalten kann ...“ (BVerfGE, a.a.O.). BVerfGE, a.a.O., S. 108.

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gentlich aufdrängen müssen. Er mag zwar richtig sein bei (Wand-)Malerei und (Spray-)Graphik. Was Naegeli gemacht hatte, ordnet sich jedoch in die Street Art ein39. Bei Street Art geht es um die „aktive ästhetische Mitgestaltung des Stadtbilds“40: „Street Art spielt mit dem urbanen Raum, dem Ort, der Umgebung und dem Vorhandenen“41. Bemalt (oder auch beklebt), gar umgestaltet wird dabei alles: Stromkästen, Verkehrsschilder, Telefonzellen, Mülleimer, Ampeln, Bürger-steige und Straßen, Bäume. Das ästhetische Bezugsfeld „gehört“ mit zum eigentlichen Werk. Street Art weist insofern Parallelen zur Land Art auf, die ohne Einbeziehung der Natur völlig undenkbar ist, man denke nur an Christos letztes Projekt, die „Floating Piers“ im Iseo-See. In einem sehr kundigen Besprechungsaufsatz des „Sprayer von Zürich“Beschlusses in der NJW wurde dann auch schon der Gedanke, den das Bundesverfassungsgericht im „Metall auf Metall“-Beschluss entwickelte, vorweggenommen42. Im Wortlaut: Angesichts dieses künstlerischen Ansatzes dürfte es in einer Großzahl der Fälle ... von vornherein ausgeschlossen sein, die rechtliche Einwilligung der Eigentümer der Sprayobjekte zu erhalten oder die Vielzahl der für Naegelis spezielles Kunst-engagement benötigten Projektionsflächen zu Eigentum zu erwerben. Insofern kann sich Naegelis Kunst nicht ohne Beeinträchtigung fremden Eigentums frei entfalten ...

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„Ich habe unglaublich gelitten unter der Architektur in Zürich. Ich habe immer wieder erlebt, wie gute Gebäude niedergerissen und dafür Betonklötze errichtet wurden. Das hat mich aufgewühlt. Das ist mir tief nahegegangen.“ (Naegeli, zit. nach Blumenberg, Die Zeit 40/1983). „... ich [begann] 1977 in nächtlichen Streifzügen, auf lauter leeren Flächen der Banken, Geschäftshäuser, auf Mauern und auf heiligem Privatbesitz meine Kunst auszuüben: klar gezeichnete Figuren und Zeichen aufgehaucht mit modernem Farbspray. Poesie gegen Einfallslosigkeit.“ (Naegeli, in: ders., Mein Revoltieren, mein Sprayen, o.S.). „Bei meinen Figuren spielt der Träger eine entscheidende Rolle. Die Figur gehört zum ganzen Kontext dieser bürgerlich-gesellschaftlichen Architektur mit all ihren Vorgaben und Verboten. Ich integriere und sondere nicht ab. Meine Entscheidung ist abhängig vom Träger, vom Gebäude, von der Wand. Wie ist sie beschaffen? Ist sie ganz leer? Ist sie geometrisch? Was hat sie für eine Farbe? Welche Materialität, welche Struktur hat sie? Es ist ein Dialog mit dem Träger ... Bei mir kommt der Träger sogar noch mehr hervor. Der Beton wird erst durch die menschliche Geste sichtbar.“ (Naegeli im Interview mit Piotrowicz, 16vor.de vom 16.01.2004). Siegl, Definition des Begriffs Street-Art. Gabber, Street Art, S. 16. Hoffmann, NJW 1985, 240.

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Und weiter heißt es in diesem Besprechungsaufsatz, vergleichbar der Abwägung bei „Metall auf Metall“43: Naegeli wird im Innersten des Werkbereichs seiner Kunst betroffen ...; dagegen bleibt die Funktionsfähigkeit des betroffenen Hauseigentums unberührt, ja hat vielleicht an ästhetischem und finanziellem Wert durch Naegelis Aktionen noch hinzugewonnen. Lediglich der beliebige Ausschluß Dritter, mithin die ungestörte Privatnützigkeit des Eigentums hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbilds wurde tangiert.

Damit haben wir genügend Stoff gesammelt, um die bislang unterlassene Abwägung der Belange von Art. 5 Abs. 3 und Art. 14 Abs. 1 GG mit dem Ziel der verfassungsrechtlichen Optimierung formulieren zu können: Wie gesampelter HipHop ist die Street Art, ginge Art. 14 GG der Kunstfreiheit vor, in ihrem Kern betroffen. Die aus dem Eigentum abgeleiteten Rechte können in bestimmten Fällen nur geringfügig beeinträchtigt sein44. Das mag bei Tonschnipseln der Fall sein, aber auch bei Graffiti am Bauzaun oder bei Reverse Graffiti, wenn auf verdreckten Flächen ein Bild durch teilweise Säuberung entsteht. Vor allem aber wäre dies bei bloßen Zustandsveränderungen gemäß § 303 Abs. 2 StGB45 durch Graffiti-Kunst zu erwägen. Der Gesetzgeber hat diese Norm zwar erst 2005 eingeführt, um Graffiti zu „bekämpfen“; viel spricht dafür, sie nicht bei Kunst, sondern nur auf „Schmierereien“ von Graffiti-Writern durchgreifen zu lassen46. 43 44

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Hoffmann, a.a.O., S. 244. Siehe dazu schon Schmieder, NJW 1982, 630: „... ganz von der Hand zu weisen ist der Gedanke nicht, es könnte gegenüber einem derartigen Künstler, wenn er sich seine Objekte einigermaßen rücksichtsvoll und mit vernünftigem Augenmaß aussucht, die gesellschaftliche Toleranzschwelle für bestimmte Orte und zu weniger ʻordentlichenʼ Zeiten auch einmal niedriger liegen ...“. „[Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe] wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert“. Graffiti-Writing sollte (trotz Überschneidungen und Zwischenformen) vom GraffitiDrawing im Bereich der Kunst im öffentlichen Raum unterschieden werden: Beim Writing bildet die Schrift (Buchstaben und Zahlen) und nicht wie beim Drawing etwas Figurales oder Abstraktes das Basiselement der Bildkomposition; vor allem aber sind Blickwinkel und Zielrichtung der Akteure ganz anders: Beim Graffiti-Writing handelt es sich nicht um Street Art im eigentlichen Sinne. Der Writer möchte seine Signatur nicht primär in die Stadtlandschaft integrieren und so das Stadtbild künstlerisch gestalten, sondern er will den eigenen Namen (genauer: seinen „Writing Name“) bzw. den seiner „Crew“ möglichst oft malen und weit bekannt machen („Getting-up“), so dass ihn nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität seiner Zeichnungen leitet. Oftmals „bombt“ der Writer auch zahlreiche schnell hingeworfe-

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Der Eigentümer unbeweglicher Sachen erlangt übrigens Eigentum an den Graffiti (arg. § 950 BGB47) – und darf sie wirtschaftlich verwerten. So ließ nach der „Wende“ 1990 die DDR-Regierung insgesamt 81 Mauersegmente mit „Mauerbildern“ zum Teil bekannter Graffiti-Künstler für insgesamt rund 1,7 Millionen DM in Monte Carlo weltweit versteigern. Oder: Die Deutsche Bahn AG hat 2010 eine „Schwebende Ratte“ des englischen Street Artisten Banksy, die sich seit 2003/04 unter einem Bogen der ihr gehörenden S-Bahntrasse in Berlin-Mitte befunden hatte, von der ziemlich verwahrlosten Wand abgeschlagen und vom Hamburger Auktionshaus Stahl versteigern lassen; sie brachte 6.200 Euro ein. Die Wand sieht, längst neu besprayt, fast wieder aus wie vorher. – Wäre Banksy wirklich zu bestrafen, würde die Berliner Staatsanwaltschaft, zeitweise eine konsequente „zero tolerance“-Strategie gegen Graffiti verfolgend, hier das „besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung“ (§ 303c StGB) bejahen und anklagen?

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ne „Tags“ – angefangen von der mit einem „Edding“ beschmierten Parkbank bis zum Bahnwaggon als „Wholecar“, „end2end“ und „top2bottom“. Die Writer bewegen sich in der Tradition von „TAKI 183“ (* 1953/54), einem New Yorker Botenjungen aus einer Einwandererfamilie aus Griechenland, der Ende der 1960er Jahre auf seinen weitläufigen Botengängen sein „Tag“, geschrieben mit einem dicken Lackfaserstift, an vielen Häuserwänden in allen fünf Bezirken New Yorks, aber auch in U-Bahnstationen sowie U-Bahnen hinterließ und zahlreiche Nachahmer animiert haben soll: Besonders ansonsten perspektivlose Jugendliche bemerkten, dass man durch das fleißige Verbreiten seines Namens in der ganzen Stadt Bekanntheit und Ansehen erlangen konnte. Die „New York Times“ widmete „TAKI 183“ im Sommer 1971 einen längeren Artikel, der eine regelrechte „Tag“Welle auslöste – die alsbald auch Europa erfasste und bis heute anhält. Graffiti-Writer schätzen besonders die Bahnen als hervorragendes Mittel, ihren Namen leichter zu verbreiten, da er so zum Publikum kommt und nicht umgekehrt. Wie rollenden Leinwände fahren ihre Signaturen durch die Stadt, werden bewundert und fotografiert, bringen den Writern, die „all city“ sind, Ruhm („Fame“) und Respekt in der Szene. (Oftmals warten „Trainwriter“-Crews am nächsten Tag an der UBahn-Linie, um ihr Werk bei Tageslicht begutachten zu können, und um die Reaktionen der Passanten zu erfahren.) Insofern kann man durchaus in Frage stellen, ob – oder jedenfalls: inwieweit – Graffiti-Writing überhaupt dem Kunstbegriff des Art. 5 Abs. 3 GG unterfällt. Denn: Ein Werk wird nicht schon deshalb Kunst, weil der „Künstler“ es dazu erklärt – kann dann aber umgekehrt etwas Kunst sein, das der „Künstler“ überhaupt nicht als Kunst versteht? § 950 Abs. 1 Satz 1 BGB – Hervorhebung von hier: „Wer durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache herstellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache ...“.

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III. Kunstfreiheit und Staatszielbestimmungen am Beispiel der Tierquälerei Kommen wir zu einer dritten Gruppe, bei der die Vorbehaltlosigkeit wie ein Lippenbekenntnis wirkt, am Beispiel des Tierschutzes. Vor allem die Tötung von Tieren während einer Performance kommt seit dem Wiener Aktionismus in den 1960er Jahren immer wieder auch in Deutschland vor. Eigentlich hätte dies bis vor einigen Jahren kein verfassungs- und strafrechtliches Problem sein dürfen: Es gab schlicht keinen Verfassungswert, der für die Tiere gegen Art. 5 Abs. 3 GG streiten konnte. Klar hatte dies 1990 das Amtsgericht Kassel erkannt, das zwar die Behandlung eines Wellensittichs während einer Performance als Tierquälerei einstufte, aber dennoch freisprach, „weil die Kunst nach Art. 5 III GG frei ist“48: Die Kunstfreiheit ist vorbehaltlos, denn es gibt für den Gesetzgeber keine Möglichkeit durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eine Beschneidung der Kunstfreiheit vorzunehmen. Selbstverständlich unterliegt auch die Kunstfreiheit verfassungsimmanenten Schranken ... Eine solche verfassungsimmanente Schranke ist weder dem derzeitigen Grundrechtskatalog noch sonstigen Bestimmungen der Verfassung zu entnehmen. ... Tierschutz ist bisher nur in einem einfachen Gesetz, nicht aber in einer Norm mit Verfassungscharakter geregelt worden.

Andere Gerichte kümmerte die seit dem „Mephisto“-Beschluss von 1971 verfassungsrechtlich eindeutig entschiedene Rechtslage weniger. So hatte 1989 das Landgericht Köln zum Köpfen eines Huhns auf der Bühne formuliert49: ... die Freiheit der Kunst [unterliegt] verfassungsimmanenten Schranken. Diese Schranken erscheinen hier im Sinne eines Verstoßes gegen das Sittengesetz, Art. 2 Abs. 1 GG, als verletzt ...

1. Abwägung der Kunstfreiheit mit dem Tierschutz? Die Rechtslage änderte sich 2002. In diesem Jahr wurde der ethische Tierschutz durch die Einfügung der Worte „und die Tiere“ ausdrücklich in den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag des Art. 20a GG als (weitere) Staatszielbestimmung aufgenommen. Bei Staatszielbestimmungen handelt es sich um Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die jeglicher Staatstätigkeit, vor allem aber der Gesetzgebung die fortdauernde Beachtung bestimmter Aufgaben vorschreiben.

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AG Kassel, NStZ 1991, 443 mit abl. Anm. Selk – Wellensittich. LG Köln, NuR 1991, 42 – Algunas Bestias.

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Staatszielbestimmungen umreißen jedoch lediglich ein bestimmtes Programm für das staatliche Handeln und begründen keine subjektiven Rechtspositionen. Art. 20a kam zunächst 1994 mit der einzigen Staatszielbestimmung des Schutzes der „natürlichen Lebensgrundlagen“ in das Grundgesetz. Es dauerte gerade ein Jahr, bis das Bundesverwaltungsgericht diese neue Staatszielbestimmung extensivst auslegte und über die Kunstfreiheit obsiegen ließ, als der Eigentümer eines im Außenbereich gelegenen Grundstücks dort zwei monumentale Statuen zweier römischer Göttinnen aufstellen wollte – Werke von „Hitlers Hofkünstler“ Arno Breker aus den 1930er Jahren50. Nach der Einfügung „und die Tiere“ in Art. 20a GG konnte das Kammergericht 2009 – in Berlin war zwei Kaninchen während einer Performance zur Reflexion des Fleischkonsums der Hals umgedreht worden – ausführen51, dass zu den verfassungsimmanenten Schranken, den jedes Grundrecht unterliege, auch die Staatszielbestimmungen gehörten, die den Grundrechten gleichrangig seien. Deshalb bedürfe es seit der Aufnahme des Tierschutzes als Staatszielbestimmung in das Grundgesetz auch bei vorbehaltlos52 gewährleisteten Grundrechten einer Abwägung mit den Interessen des Tierschutzes. Das Ergebnis dieser Abwägung, so scheint es, hat für das Kammergericht nicht nur im konkreten Fall festgestanden: Motiv der Aufnahme des Tierschutzes in das Grundgesetz sei die „Anerkennung der Mitgeschöpflichkeit von Tieren im Verhältnis zu Menschen“ gewesen. Dieses Motiv lasse die Staatszielbestimmung des Tierschutzes in der Abwägung mit der Kunstfreiheit besonders schwer wiegen. Der Kunstfreiheit würde durch ihre Einschränkung bei Tiertötungen auch nicht ihr Wesensgehalt genommen. Es stehe Künstlern frei, ihr Anliegen auf andere Weise auszudrücken53.

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BVerwG, NJW 1995, 2648 – Breker-Skulpturen. KG, NStZ 2010, 175 (176) – Ableben des Hasen. Siehe dazu Halecker / Weyhrich / Franke / Scheffler, Wenn Kunst und Strafrecht einander begegnen – Auszug aus einer Spurensuche … (in diesem Band). Das KG (a.a.O.) spricht hier – wohl irrtümlich – von „schrankenlos gewährleisteten Grundrechten“ (Hervorhebung von hier). Täuscht es, oder wird hier an Art. 5 Abs. 3 GG ein anderer Maßstab als an Art. 4 GG angelegt? Das BVerwG (E 127, 183 [186 f.] – Schächten III) hatte kurze Zeit davor zum Schächten noch erklärt: „Auch wenn die Einfügung des Tierschutzes als Staatsziel eine verfassungsrechtliche Aufwertung gebracht hat, genießt dieser Belang keineswegs Vorrang gegenüber anderen Verfassungsgewährleistungen ... Ziel der Regelung des § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG [Ausnahmegenehmigung zum betäubungslosen Schlachten] ist es, den Grundrechtsschutz gläubiger Juden und Muslime zu wahren, ohne damit die Grundsätze und Verpflichtungen eines ethisch begründeten Tierschutzes aufzugeben. ... Eine andere Betrachtung würde einen ... Vorrang des Tier-

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2. Vorrang der Kunstfreiheit vor dem Tierschutz? Ich möchte zum Abschluss aber einen Schritt in die andere Richtung gehen: Bei genauem Hinsehen erscheint es mir überhaupt nicht so zwingend und selbstverständlich, ein vorbehaltloses Grundrecht wie Art. 5 Abs. 3 GG und eine bloße Staatszielbestimmung als „gleichrangig“ anzusehen und einem „Ausgleich im Wege der praktischen Konkordanz“ zu unterwerfen54: Im Vergleich mit den Staatszielbestimmungen handelt es sich bei grundrechtlichen Verbürgungen wie der Kunstfreiheit um höherrangiges Verfassungsrecht. Die Grundrechte stellen nicht nur ebenfalls ein Leitbild für die Staatlichkeit insgesamt dar, sondern bilden darüber hinaus einklagbare Rechtspositionen des Einzelnen. Aus diesem Ranggefälle ergibt sich, dass Grundrechtsausübungen durch bloße Staatszielbestimmungen grundsätzlich nicht in dem Maß begrenzt werden können, wie dies im Fall der Kollision zu anderen Grundrechten denkbar ist. Die Möglichkeiten der Beschränkung von Grundrechten durch die Staatszielbestimmung „Tierschutz“ sind schon unter diesem Gesichtspunkt per se begrenzt. Speziell für den Fall der Kunstfreiheit erlangt nun aber noch der Umstand der vorbehaltlosen Gewährleistung dieses Grundrechts zusätzliche Bedeutung. Eine bloße Staatszielbestimmung soll hier Freiheitseingriffe trotz fehlender Nennung von Schranken im Verfassungstext ermöglichen können? Muss es demgegenüber nicht vielmehr richtig erscheinen, im Kollisionsfall wegen des verfassungsrechtlichen Gewichts des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG die Kunstfreiheit einem Staatsziel „Tierschutz” von vornherein überzuordnen55?

IV. Fazit Was darf die Kunst? Alles? Nein. Sie darf Vieles. Aber mit Blick auf die vorbehaltlos gewährte Kunstfreiheit darf sie viel zu wenig.

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schutzes bedeuten und dazu führen, dass der Grundrechtsschutz gläubiger Juden und Muslime insoweit leerliefe“. Ich mache mir einige Gedanken Tade Matthias Sprangers zu eigen, die er 2000 zum gleich gelagerten Problem der ebenfalls vorbehaltlos gewährten Wissenschaftsfreiheit dargelegt hatte (Spranger, ZRP 2000, 287 f.). Entsprechendes sollte dann auch für andere Staatszielbestimmungen gelten, etwa den Umweltschutz („Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ... auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“) gemäß Art. 20a Alt. 1 GG; ein Zurücktreten der Kunstfreiheit hinter die aus ihm abgeleitete „Integrität des Landschaftsbildes“ (BVerwG, NJW 1995, 2648 – Breker-Skulpturen) erscheint äußerst fragwürdig.

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Joanna Melz

Unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit? – Werbung und die Grenze zur Rechtsverletzung* Jeden Tag stoßen wir auf sie im Internet, im Fernsehen, auf der Straße, sogar im Briefkasten. Die Werbung wurde, ob wir es wollen oder nicht, zu einem festen Bestandteil unseres Lebens, und oftmals nehmen wir sie gar nicht mehr wahr. Ihre Legaldefinition suchen wir im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vergebens. Der Bundesgerichtshof hat sie aber, gestützt auf den allgemeinen Sprachgebrauch, als „alle Maßnahmen eines Unternehmens“ bezeichnet, „die auf die Förderung des Absatzes seiner Produkte oder Dienstleistungen gerichtet sind“1. Im Vordergrund der Reklame steht also stets ihre wirtschaftliche Funktion. Kann Werbung Kunst sein? Vergleichen wir an dieser Stelle zwei Beispiele, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Widmen wir uns zunächst einem Werk von Alfons Mucha, einem der bekanntesten Vertreter des Jugendstils. Auf einem von ihm geschaffenen Werbeposter für die Champagner-Marke Moët & Chandon ist eine barfüßige, anmutige blonde Dame im rosafarbenen Kleid mit einer Schale voller üppiger Trauben in der Hand abgebildet, umschlungen von Weinreben und weißen Blüten2. Auch andere Künstler, wie Henri de Toulouse-Lautrec, verdienten ihr tägliches

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Der Beitrag hat den um Nachweise ergänzten Vortrag zum Inhalt, den die Autorin am 20. Oktober 2017 auf der in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Strafrecht (prof. zw. dr hab. Emil W. Pływaczewski) der Universität Białystok veranstalteten internationalen Tagung „Darf die Kunst alles? Aktuelle Rechtsentwicklungen aus deutscher und polnischer Perspektive / Czy sztuce wolno wszystko? Aktualne kierunki rozwoju prawa z perspektywy polskiej i niemieckiej“ an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) gehalten hat. Der Beitrag ist auch als Aufsatz in dem von Emil W. Pływaczewski und Ewa M. Guzik-Makaruk herausgegebenen Band 8 der Reihe „Current problems of the penal law and criminology / Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie“, 2019, S. 257 ff. erschienen. BGH, MMR 2014, 250 (251). Alfons Mucha, Poster für Moët & Chandon: Champagne White Star (1899). Das Bild ist im Internet zu finden unter http://www.muchafoundation.org/gallery/browseworks/object/53.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-006

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Brot oft mit Werbeplakaten3. Das zweite Bild gehört zu einer Werbekampagne, die Abhilfe einer Berliner Handwerkerfirma bei einem kaputten Dach, einem defekten Schloss oder abgerissener Tapete verspricht. Hier wurde die umgangssprachliche Bezeichnung „im Arsch“ wörtlich genommen, indem die zu reparierende Sache mitten im Gesäß gezeigt wird4. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bis dato inhaltlich nicht mit der Frage befasst, inwieweit Wirtschaftswerbung den Schutz der Kunstfreiheit genießt5. In seiner grundlegenden Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 3 GG stellte es aber Kriterien für die Einordnung von Werken in den Schutzbereich der Kunstfreiheit auf. Zwei seiner Ansätze möchte ich kurz darstellen. In der wegweisenden „Mephisto“-Entscheidung entwickelte es das sog. „materiale“ Kunstverständnis6: Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden.

In den Kunstwerken geht es also um die unmittelbare Anschauung der Intention, der Eindrücke des Künstlers in seinem Werk. Diese Betrachtung hat der Bundesgerichtshof bei mehreren Entscheidungen über die Kunsteigenschaft der Werbung herangezogen7. Einen weiteren Versuch, die Kunst zu definieren, unternahm das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Straßentheateraufführung „Anachronistischer Zug“ nach Bertolt Brecht. Hier stellte es nicht auf die ideelle Seite ab, sondern darauf, „daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind“ – ein Kunstbegriff also, „der nur an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft“8.

Ausschlaggebend sollten danach Gesichtspunkte einer bestimmten Form sein. Deshalb spricht man von einem „formalen“ Kunstbegriff.

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Siehe hierzu etwa die Ausstellung „Affichomanie. Toulouse-Lautrec und das Plakat um 1900“, die vom 12.03. bis 10.07.2016 im Museum der Moderne Salzburg zu sehen war (https://www.museumdermoderne.at/en/exhibitions-events/detail/translateto-english-affichomanie-toulouse-lautrec-und-das-plakat-um-1900/). Zu dem Bild siehe Drewinski, 2+3D vom 19.11.2012. BVerfGE 102, 347 – Benetton I; 107, 275 – Benetton II; BVerfG (Kammer), NJW 2015, 1438 – Verbot anwaltlicher Schockwerbung. BVerfGE 30, 173 (188 f.) – Mephisto. BGH, NJW 2005, 2856 (2857) – Lila Postkarte; BGHZ 205, 22 (38) – Springender Pudel. BVerfGE 67, 213 (226 f.) – Anachronistischer Zug.

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Bezogen auf unsere zwei Beispiele: Nach dem formalen Ansatz sind beide Werbungen bereits wegen ihrer Zugehörigkeit zum Typus Malerei oder Graphik/Fotomontage als Kunst zu werten. Aber auch nach dem materialen Ansatz handelt sich bei den beiden Werken um Kunst. Die Champagnerwerbung von Mucha zeigt das Produkt als schöpferische Gestaltung des Künstlers, der es mit einer aus einem Rebstock erwachsenen stilvollen und eleganten Frau assoziiert. Die Handwerkerwerbung, wenn auch nicht für jeden geschmackvoll, zeugt von der Kreativität und einem gewissen Sinn für Humor ihres Autors. Nach der Rechtsprechung unterfallen dem Schutz der Kunstfreiheit ... nicht nur Werke, die über eine gewisse Gestaltungshöhe verfügen ... Da die Kunstfreiheit grundsätzlich jede künstlerische Aussage schützt9.

Die Tatsache, dass das Hauptziel der Werbung stets die Anpreisung eines Produktes ist, ist also kein Hindernis für die vereinzelte Klassifizierung der Werbung als Kunst. Die weitere Frage ist, ob sich der Träger der werblichen Aussage, also das die beworbenen Waren oder Leistungen anbietende Wirtschaftsunternehmen auf die Kunstfreiheit berufen kann. Einige verneinen dies mit dem Argument, das Wirtschaftssubjekt instrumentalisiere die Werbung für sich und die künstlerische Gestaltung sei für es bedeutungslos10. Andere stellen darauf ab, wie stark der konzeptionelle Einfluss des Trägers auf das Kunstwerk war11. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann sich der Träger jedenfalls dann auf Art. 5 Abs. 3 GG berufen, wenn er notwendiger Vermittler dieser Werbung ist, z.B. als Verleger künstlerisch gestaltete Postkarten vertreibt12. Im Folgenden möchte ich Ihnen einige Fälle aus der deutschen Rechtsprechung nahebringen. Sie entstammen unterschiedlichen Rechtsbereichen, haben jedoch gemeinsam, dass der Kunsteigenschaft der Werbung andere Rechtspositionen gegenüberstehen, und dass die Gerichte über die rechtliche Zulässigkeit der Werbung zu entscheiden hatten. Ist daraus aber der Schluss zu ziehen, dass die Werbung unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit agiert? Mein erstes Beispiel bezieht sich auf die dänische Zeichentrickserie „Popetown“, die einen fiktiven Kirchenstaat karikiert. 2006 beabsichtigte der TVSender MTV, sie in Deutschland auszustrahlen. Für die Serie wurde mit folgenden Plakaten geworben: 9 10 11 12

BGH, NJW 2005, 2856 (2857) – Lila Postkarte. Scholz in Maunz / Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 35. v. Becker, GRUR 2001, 1101 (1105). Vgl. BGH, NJW 2005, 2856 (2857) – Lila Postkarte.

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Auf einem Werbeplakat ist der belustigte Jesus im Fernsehsessel mit einer Fernbedienung zu sehen. Im Hintergrund steht das leere Kreuz auf Golgota, darüber eine Aufschrift mit einem Wortspiel: „Lachen statt rumhängen“13. Nach heftigen Protesten des Erzbistums München und Freising wurde ein neues Plakat veröffentlicht: Christus auf dem Kreuz verdeckt sich das Gesicht14. Die Überschrift lautete diesmal: „Gott sieht alles. Außer Popetown“. Das Erzbistum beantragte vor dem Landgericht München ein einstweiliges Werbe- und Ausstrahlverbot wegen vermeintlichen Verstoßes gegen § 166 StGB, also Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen15. Das Gericht wies den Antrag zurück16. Es setzte sich mit dem Inhalt der Plakate und der Serie nicht auseinander, stellte aber fest, dass die Veröffentlichung nicht geeignet war, den Öffentlichen Frieden zu stören. Die Tathandlung sei nicht geeignet gewesen, die Besorgnis zu begründen, der Friedenszustand oder das Vertrauen in seine Fortdauer werde mindestens in Teilen der Bevölkerung erschüttert oder deren Neigung zu Rechtsbrüchen angeheizt17.

Die Proteste seien im Bereich der sachlichen Diskussion geblieben, daher sei die Schwelle der Gefährdung des Öffentlichen Friedens noch nicht erreicht18. In dem kurzen Beschluss ging das Gericht auf das Beschimpfen als Tathandlung des § 166 StGB nicht ein. Im Folgenden soll deshalb ergänzend überprüft werden, ob den Plakaten ein beschimpfender Charakter in Bezug auf den Inhalt eines religiösen Bekenntnisses nach § 166 Abs. 1 StGB zukommt – sie beziehen sich auf den Kreuzestod Christi als einen zentralen Inhalt des christlichen Glaubens sowie, auf dem zweiten Plakat, zusätzlich auch auf den Glauben an den allwissenden und allgegenwärtigen Gott19. Nach ständiger Rechtsprechung und Literaturmeinung ist nicht jede herabsetzende Äußerung als Beschimpfen zu werten. Es muss sich um eine „durch Form oder Inhalt besonders verletzende Äußerung der Mißachtung“ handeln, 13 14 15 16 17 18 19

Zu der Abbildung siehe https://www.spiegel.de/fotostrecke/skandalwerbung-fotostre cke-108318-15.html. Zu der Abbildung siehe http://www.digitalvoodoo.de/blog/fernsehen/gott-sieht-allesaus ser-popetown-popetown-plakat.php. O.V., FAZ.net vom 14.04.2006; o.V., FAZ.net vom 03.05.2006. LG München, ZUM 2006, 578. LG München, a.a.O. LG München, a.a.O. Psalm 139.

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wobei das besonders Verletzende entweder äußerlich in der Rohheit des Ausdrucks oder inhaltlich in dem Vorwurf eines schimpflichen Verhaltens zu sehen ist20.

Die geistigen Inhalte einer Religion müssten dabei grob diffamiert bzw. in den Schmutz gezogen werden21. Bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Beschimpfen“ muss man berücksichtigen, dass die Plakate Karikatur, also bildliche Satire sind, und, ausgehend von dem formalen Kunstbegriff, bereits durch ihre Zugehörigkeit zur Gattung „Graphik“ von dem Schutzbereich der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG umfasst sind. Aus diesem Grund bedarf es einer restriktiven Auslegung des Begriffes des Beschimpfens22. Zu fragen ist, wie ein künstlerisch aufgeschlossener oder zumindest ein um Verständnis bemühter Betrachter das Werk beurteilen würde23. Wegen des satirischen Charakters der Plakate ist, wie bereits vom Reichsgericht vorgegeben24, zusätzlich zwischen dem Kern der Aussage und ihrer satirischen Einkleidung zu unterscheiden. Den Aussagekern des ersten Plakates kann man auf den Unterhaltungsgehalt der Serie beziehen: Sie sei so lustig, dass selbst Christus beim Verfolgen der Geschehnisse in Popetown amüsiert wäre. Der Aussagekern hat also keinen beschimpfenden Charakter. Bei der Beurteilung der Einkleidung dieser Aussage ist zu beachten, dass der Satire Übertreibungen, Verzerrungen sowie Verfremdungen wesenseigen sind; dabei gelten für die Beurteilung der Einkleidung weniger strenge Maßstäbe als für die Bewertung des Aussagekerns25.

Die Einkleidung, also die Darstellung des vom Kreuz herabgestiegenen Christi mit dem Wortspiel „Lachen statt rumhängen“, bezieht sich auf seine Kreuzigung und seinen Tod, hier als „Rumhängen“ bezeichnet, nicht im übertragenen Sinne als „sich irgendwo zum bloßen Zeitvertreib aufhalten“26. So gesehen, wohnt der Einkleidung eher eine Verspottung bei als ein gehässiges Verächt-

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OLG Karlsruhe, NStZ 1986, 363 mit weiteren Nachweisen. Bosch / Schittenhelm in Schönke / Schröder, StGB, § 166 Rn. 9. Für die restriktive Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Beschimpfen“ unter Berücksichtigung der Kunstfreiheit etwa OLG Köln, NJW 1982, 657 (658); OLG Karlsruhe, NStZ 1986, 363 (365); OVG Koblenz, NJW 1997, 1174 (1175); Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 166 Rn. 15. Für die Verortung der Kunstfreiheit auf der Rechtfertigungsebene etwa (T.) Fischer, StGB, § 166 Rn. 16; (K. A.) Fischer: Die strafrechtliche Beurteilung von Werken der Kunst, S. 142 f. Vgl. OLG Köln, a.a.O.; OVG Koblenz, a.a.O. RGSt 62, 183. RGSt, a.a.O., S. 183 f.; BVerfGE 75, 369 (378) – Strauß-Karikaturen. Siehe Duden, Stichwort: „Rumhängen“.

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lichmachen oder Diffamierung der Kreuzigung Christi27. Eine Verspottung soll für ein Beschimpfen erst bei einer ausdrücklich „aggressiven Tendenz“ genügen28. Die Darstellung des lachenden Christi unter Heranziehung seiner Kreuzigung, wenn auch durchaus geschmackslos und pietätlos, beinhaltet nichts gravierend Herabsetzendes29. Der Aussagegehalt des zweiten Plakates ist ein Kommentar zu der Protestaktion der Kirche bezogen auf das erste Poster: Die katholische Kirche, symbolisiert durch den „korrekt“ gekreuzigten Christus, boykottiert die Serie „Popetown“. Diese Aussage beinhaltet keine Missachtung, ist also nicht als Beschimpfen anzusehen. Die verfremdende Einkleidung der Aussage – gekreuzigter Christus mit verdeckten Augen, dazu erneut ein Wortspiel, diesmal bezogen auf den Glauben an den allwissenden und allgegenwärtigen Gott, der die Serie doch nicht sieht bzw. nicht sehen möchte, wenn auch spöttisch, ist nicht von beschimpfendem Charakter. Will man im Rahmen der Gesamtbetrachtung die Kunstfreiheit gegen andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang abwägen30, stößt man auf Probleme, die ich nur kurz skizzieren möchte: Art. 4 GG im Abs. 1 (Glaubensfreiheit) und Abs. 2 (Recht der ungestörten Religionsausübung) schützt nicht vor Beschimpfungen ihrer Anhänger31. Es ist auch zumindest diskutabel, ob dem Öffentlichen Frieden Verfassungsrang zukommt. Eventuell könnte man das Toleranzgebot als vermeintliches Schutzgut von Art. 4 Abs. 2 GG heranziehen32. Berücksichtigt man den Aussagegehalt der Plakate, also Unterhaltungsgehalt der Serie im ersten und Kritik der Reaktion der Kirche im zweiten Poster, sowie den Umstand, dass Art und Ausmaß der Verfremdung, auch wenn die Verwendung religiöser Symbole und Inhalte zur Werbung einer Serie über Kirchenstaat, sich noch in Grenzen grober Geschmacklosigkeiten halten, gebührt der Kunstfreiheit Vorrang33. So gesehen, verstoßen die Werbungen bereits aus diesem Grund nicht gegen § 166 Abs. 1 StGB.

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So auch Heller / Goldbeck, ZUM 2007, 634 zur ganzen „Popetown“-Serie. Fischer, StGB, § 166 Rn. 12. Ein beschimpfender Charakter könnte allenfalls darin erblickt werden, dass Christus zum Werbeobjekt herabgewürdigt wird. Vgl. OLG Karlsruhe, NStZ 1986, 363 (364). Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 166 Rn. 1; dies., ZRP 2015, 62; Isensee, AfP 2013, 195. Rogall in Systematischer Kommentar, StGB, vor § 166 Rn. 1. Ähnlich auch OLG Karlsruhe, NStZ 1986, 363 (365).

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Anders als sein polnisches Pendant, Art. 196 des polnischen Strafgesetzbuches (Kodeks karny), dient § 166 StGB nicht dem Schutz religiöser Gefühle34. Gleichwohl befassten sich deutsche Gerichte mit dieser Frage bezogen auf Werbung, allerdings nicht im strafrechtlichen, sondern im lauterkeitsrechtlichen Kontext35. So verwenden zwei Jeans-Werbungen aus dem Katalog des Modedesigners Otto Kern „Paradise now“ aus dem Jahre 1994 das Sujet des Abendmals aus dem Bild Leonardo da Vincis36. Das erste Bild „Mann mit barbusigen Frauen“37 trägt den Untertitel „Wir wünschen mit Jesus, daß Frauen die Männer respektieren lernen“. Das zweite Bild mit dem Titel „Frau mit barbusigen Männern“38 zierte die Unterzeile: „Wir wünschen mit Jesus, daß die Männer die Frauen respektieren lernen“39. Allerdings waren sie kein Gegenstand des Verfahrens, gerichtet auf Untersagung von Werbung mit biblischen Inhalten wegen vermeintlicher Sittenwidrigkeit und damit Verstoßes gegen § 1 UWG a.F., dennoch nahm das Oberlandesgericht Frankfurt/M. auch dazu Stellung: Im Gegensatz zu anderen zurückhaltenderen und nicht pervertierenden Bildern mit biblischen Motiven, von denen weder eine Diffamierung noch Verächtlichmachung ausging, ließen lediglich die beiden Abendmahls-Szenen [diese Zurückhaltung] vermissen, in denen zwölf Frauen mit unbekleidetem Oberkörper die zwölf Apostel verkörpern bzw. eine Frau die Gestalt Jesu angenommen hat.40

Mittlerweile hat sich dieses Motiv von seinem ursprünglichen religiösen Charakter losgelöst und entwickelte sich zum festen Bestandteil der Popkultur41. Der nächste Fall, eigentlich zwei Fälle in einem, bezieht sich auf Werbung und Vertrieb von Produkten, die bewusst an ein bereits existierendes Produkt anknüpfen und von dessen Popularität profitieren. 2005 urteilte der BGH über 34 35 36 37 38

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OLG Karlsruhe, a.a.O., S. 364; Isensee, AfP 2013, 193 f. OLG Frankfurt/M., NJW-RR 1994, 734. Leonardo da Vinci, La Última Cena (Das [letzte] Abendmahl) (1494/97). Mailand, Santa Maria delle Grazie. Abbildung unter http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/8848816. Abbildung unter http://www.zh-kirchenspots.ch/www.zh.ref.ch/gemeinden/www.zh-ki rchenspots.ch/content/e1639/e1642/e1645/e1647/e5788/e5933/kern--abendmahl-maenn er.jpg. Zu den Bildern siehe auch Reichertz, Medien praktisch 2/1994, 21 f. und 3/1994, 44 f. OLG Frankfurt/M., NJW-RR 1994, 734. Zu unterschiedlichen Versionen (etwa mit Disney-Figuren, Simpsons, Star Wars, Rock-Musiker u.v.m.) siehe Suddenly Last Supper, Culturepopped.blogspot.com vom 06.04.2007 (http://culturepopped.blogspot.com/2007/04/suddenly-last-supper.ht ml). Siehe auch Mertin, Tà katoptrizómena – Magazin für Theologie und Ästhetik 41/2006.

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eine Postkarte mit einem Gedicht auf einem violetten Hintergrund42: „Über allen Wipfeln ist Ruh, irgendwo blökt eine Kuh. Muh!“, vermeintlicher Autor: Rainer Maria Milka. Der Hersteller der Milka-Schokolade machte geltend, der gute Ruf der Marke sei für eigene kommerzielle Zwecke unberechtigt ausgenutzt worden und klagte u.a. auf Unterlassung des Vertriebs der Postkarte. Der Kartenhersteller und -vertreiber war der Auffassung, es handle sich um eine satirische Auseinandersetzung mit der allgegenwärtigen Präsenz der Milka-Werbung43. In einem ähnlich gelagerten Fall klagte ein bekannter Sportartikelhersteller auf Löschung der Wort-/Bildmarke PUDEL aus dem Markenregister, weil die Anlehnung an die Marke PUMA, bestehend aus einem Schriftzug und einem springenden Puma, zu offensichtlich gewesen sei44. In dem „Lila-Postkarte-Fall“ urteilte der Bundesgerichtshof, dass durch die Herstellung und Vertreibung der Karten das Markenrecht nicht verletzt und das Milka-Markenzeichen nicht rechtswidrig verwendet wurde. In der Kollision der Kunstfreiheit mit der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, von der auch Markenrechte umfasst sind, überwiege in diesem konkreten Fall die Kunstfreiheit45. Hier hat sich der Bundesgerichtshof auf den materialen Kunstbegriff gestützt und weiter ausgeführt46: Da die Kunstfreiheit grundsätzlich jede künstlerische Aussage schützt, unterfällt ihrem Schutzbereich auch die vorliegende Postkarte, in der die Eindrücke des Künstlers von den Marken der Klägerin und deren Werbung mit der Herausstellung der Abbildung von Kühen humorvoll-satirisch aufgegriffen werden.

Der Bundesgerichtshof führte weiter aus47: Den Verbrauchern wird die in der scherzhaften Gestaltung der Postkarten ebenfalls liegende kritische Auseinandersetzung mit den Marken und Werbeauftritten der Klägerin nicht verborgen bleiben, mag die Beklagte auch ... vorrangig kommerzielle Ziele mit der Verbreitung der Postkarte verfolgen.

Der Kunstfreiheit gebühre Vorrang, weil der Gestaltung der Postkarte kein verunglimpfender Charakter zukomme und die Herstellerfirma nicht aus-

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BGH, NJW 2005, 2856 (2858) – Lila Postkarte (= GRUR 2005, 583 [dort mit Abbildung]). BGH, a.a.O. BGHZ 205, 22 (23 f.) – Springender Pudel (mit Abbildungen). Siehe auch Schmidt, Grenzziehung zwischen Eigentumsgarantie und Kunstfreiheit – „Springender Pudel“, GRUR-Prax 2010, 51. BGH, NJW 2005, 2856 (2858) – Lila Postkarte. BGH, a.a.O., S. 2857; zustimmend Born, GRUR 2006, 192 (194). BGH, a.a.O., S. 2858.

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schließlich kommerzielle Zwecke mit dem Vertrieb der Postkarte verfolge48. Was der Bundesgerichtshof übersehen hat: Die Lila-Postkarte soll bei dem Betrachter nicht nur Assoziationen an die Milka-Schokolade wecken, sondern auch an das Gedicht von Johann Wolfgang v. Goethe „Über allen Gipfeln ist Ruh“, anders bekannt als „Wandrers Nachtlied“, mit Liedkompositionen unter anderem von Franz Schubert und Franz Liszt. Mehr noch: Die Karte ist als eine dreifache Parodie zu werten, weil das Goethesche Gedicht einem anderen Dichter, nämlich Rainer Maria Rilke (hier: Milka) „untergejubelt“ wurde. Zu einem anderen Ergebnis als im „Lila-Postkarte-Fall“ kam der Bundesgerichtshof in dem „Springender-Pudel-Fall“: Zwar bejahte das Gericht auch hier die Kunsteigenschaft unter Berufung auf den materialen Kunstbegriff wegen eines Parodie-Charakters des Werkes. Dazu führte das Gericht aus49: Wesentliches Merkmal einer Parodie ist es, an ein bekanntes Werk, an bekannte Personen oder an bekannte Umstände und Ereignisse durch Nachahmung zu erinnern, den nachgeahmten Gegenstand jedoch wahrnehmbar zu verändern. Dabei ist die Anspielung auf den nachgeahmten Gegenstand humorvoll und nicht notwendig spöttisch ... Es handelt sich dabei um eine humorvolle und witzige Anspielung auf die Klagemarke.

Allerdings gewährte er dem Eigentumsrecht der Klägerin den Vorrang über die Kunstfreiheit wegen des erheblichen Werbeaufwandes des PUMA-Herstellers50: Der Beklagte, der unter Ausnutzung dieser Aufwendungen identische, mit der Streitmarke versehene Waren vertreiben will, verschafft sich mit einem originellen, an die Klagemarke angelehnten Motiv im selben Markt Vorteile, die ohne die Existenz der bekannten Klagemarke nicht denkbar wären. ... Es ist der Klägerin nicht zuzumuten, dass der Beklagte unabhängig von der konkreten Art der Verwendung dauerhaft ein Registerrecht an einem Produktkennzeichen begründet, das in den Schutzbereich der Klagemarke eingreift und das der Beklagte übertragen und lizenzieren kann.

Das Gericht stellte gleichzeitig fest, dass es für das gefundene Urteil ausschlaggebend sei, dass die Klägerin nicht die Untersagung der Verwendung des Motivs, sondern die Löschung aus dem Register beantragte51. In dem letzten Fall, den ich Ihnen darstellen möchte, ging es um ein beantragtes Verkaufsverbot von Likören mit der Bezeichnung „Busengrapscher“ bzw. „Schlüpferstürmer“52. Auf den 4 x 5 cm großen Etiketten im Comic-Stil ist ein 48 49 50 51 52

BGH, a.a.O. BGHZ 205, 22 (40) – Springender Pudel. BGHZ, a.a.O., S. 41. BGHZ, a.a.O., S. 40 f. BGHZ 130, 5 (6) – Busengrapscher / Schlüpferstürmer (mit Abbildungen).

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Mann, der den Busen einer Frau anfasst, bzw. eine halbnackte, auf einem Bett liegende Frau zu sehen, die sich ihrer Unterwäsche entledigt. Der Bundesgerichtshof sah hier einen Verstoß gegen die guten Sitten und verbot die Werbung wegen Verstoßes gegen § 1 UWG in der damals geltenden Fassung53. Der Inhalt der Etiketten weise auf eine freie Verfügbarkeit der Frau in sexueller Hinsicht hin und lege nahe, dass Konsum des Likörs die Enthemmung nicht allein der Männer, sondern auch der Frauen fördere54. Es handle sich bei der Gestaltung der Werbung nicht mehr um ein lediglich als grob geschmacklos zu qualifizierendes Verhalten, das im Geschäftsleben noch hinzunehmen ist, sondern um eine Form der Werbung, die das sittliche Empfinden der maßgeblichen Verkehrskreise verletzt55.

Der Bundesgerichtshof stellte eine Verletzung der Menschenwürde, also des Art. 1 GG, fest56: Der hohe Rang der hier betroffenen menschlichen Würde ... erfordert ihre Achtung und Wahrung auch im Wettbewerbsgeschehen. Ihre Verletzung sowie die hier mit in Rede stehende Diskriminierung eines Bevölkerungsteils allein zu dem Zweck, den Absatz eines bestimmten Produkts zu fördern, entspricht nicht den Anschauungen der großen Mehrheit des Publikums und der Wettbewerbsteilnehmer von einem grundsätzlich einzuhaltenden Mindeststandard dessen, was im Wettbewerb als unanstößig (noch) zu tolerieren ist, und zwar jedenfalls dann nicht, wenn solche Rechtsverletzungen – wie vorliegend – bei einer Werbung erfolgen, die sich – durch Wahl des normalen Vertriebswegs – an das allgemeine Publikum wendet und nicht auf Waren bezieht, deren besonderer Charakter sich schon aus ihrer spezifischen Zwecksetzung ... und ihren entsprechenden besonderen Vertriebsstätten wie Sex-Shops ergibt.

Zu der Kunstfreiheit äußerte sich der Bundesgerichtshof nur lapidar in einem Halbsatz, den (eventuellen) Schutz von Art. 5 Abs. 3 GG könne der Hersteller nicht in Anspruch nehmen. Ergänzend ist deshalb anzumerken, dass bei einer Verletzung der Menschenwürde die Kunstfreiheit zurückzutreten hat57. Dieses Urteil aus dem Jahre 1995 ist bis dato wohl die einzige höchstrichterliche Entscheidung, die sich mit der Problematik der sexistischen Werbung

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Gesetz gegen den Unlauteren Wettbewerb vom 07.06.1909 (RGBl., 499), aufgehoben durch Gesetz vom 03.07.2004 (BGBl. I, 1414). § 1 UWG a.F.: „Wer im geschäftlichen Verkehre zu Zwecken des Wettbewerbes Handlungen vornimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen, kann auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen werden“. BGHZ 130, 5 (9) – Busengrapscher / Schlüpferstürmer. BGHZ, a.a.O. BGHZ, a.a.O., S 10. Hufen, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 4, § 101 Rn. 100.

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befasst58. Bedenkt man, dass 2015 45 % und 2016 35 % der vom Deutschen Werberat, einer Selbstkontrolleinrichtung der Werbebranche, beanstandeten Fälle geschlechtsdiskriminierende Werbung betrafen59, und auch den letztendlich gescheiterten Versuch von 2016, das Verbot sexualisierter Werbung explizit in das UWG einzuführen60, sind die Aussagen dieser Entscheidung umso mehr von Bedeutung. Allerdings würde man aus heutiger Perspektive, wo um ein vielfaches drastischere Frauendarstellungen die Werbung „schmücken“61, die beiden Zeichnungen jedenfalls als frivol, vielleicht obszön und geschmacklos, aber wohl nicht mehr als sittenwidrig bezeichnen können62. Die Analyse der dargestellten, so unterschiedlichen Fälle gibt im Ergebnis keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob die Werbung unter dem Deckmantel der Kunst andere Rechtsgüter verletzt. Man kann aber abschließend, wie so oft in der Juristerei, sagen: Es kommt darauf an.

Literatur BECKER, BERNHARD V., Werbung Kunst Wirklichkeit – Bemerkungen zu einem schwierigen Verhältnis, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 2001, S. 1101 ff. DREWINSKI, LEX, Plakat do dupy?, 2+3D vom 19.11.2012 (http://www.2plus 3d.pl/artykuly/plakat-do-dupy). FISCHER, KLAUS ANDREAS, Die strafrechtliche Beurteilung von Werken der Kunst, 1994. FISCHER, THOMAS, Strafgesetzbuch – Kommentar. 66. Auflage 2019. 58 59

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Zur sexistischen Werbung siehe auch Scherer, WRP 2007, 600 f. Deutscher Werberat, Jahrbuch „Deutscher Werberat 2017“ erschienen – Werberat legt Jahresbilanz vor, Werberat.de vom 16.03.2017 (https://www.werberat.de/con tent/jahr buch-deutscher-werberat-2017-erschienen-werbe rat-legt-jahresbilanz-vor). Vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Rechtliche Zulässigkeit und Verbotsmöglichkeiten für sexistische Werbung, Sachstand WD 10 – 3000 – 028/16 vom 10.05.2016 (https://www.bundestag.de/blob/426952/eab9fe64163c3f2 c8db227df2ce63b22/wd-10-028-16-pdf-data.pdf). Beispiele: Werbung der Firma Metzger Meyer: Scharf aber mit Geschmack (www.metzger-mayer.de/images/uploads/werbung/werbung_scharf_popup.jpg); Burger King: Itʼll blow your mind away (http://www.digezz.ch/sexy-odersexistisch/); Werbung der Kleiderfirmen American Apparel (https://www.floraqu een.de/blog/sexistische-werbung-des-21-jahrhunderts) und Saint Laurent (http:// de.fashionnetwork.com/ news/Sexistische-Werbung-von-Saint-Laurent-verletzt-Rege ln-der-Werbung,804084.html#.WecNZ7VpGic). Hufen, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 4, § 101 Rn. 100.

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HELLER, SVEN / GOLDBECK, NINO, Mohammed zu Gast in Popetown, Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 2007, S. 628 ff. HÖRNLE, TATJANA, Abschaffung des Blasphemie-Paragraphen?, Zeitschrift für Recht und Politik 2015, S. 62. ISENSEE, JOSEF, Meinungsfreiheit im Streit mit der Religion – „Gotteslästerung“ heute, Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht (AfP) 2013, S. 189 ff. MAUNZ, THEODOR / DÜRIG, GÜNTER, Grundgesetz-Kommentar, Stand: 86. Erg.-Lfg. 2019. MERTEN, DETLEF / PAPIER, HANS-JÜRGEN, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, 2004–2017. MERTIN, ANDREAS, Bilderstreit und Kulturverlust. Über die Reizbarkeit des religiösen Gefühls am Beispiel von Leonardos Abendmahl, Tà katoptrizómena – Magazin für Theologie und Ästhetik 41/2006 (https://theomag.de/41/am 186.htm). MÜNCHENER KOMMENTAR ZUM STRAFGESETZBUCH. 3. Auflage 2017–2019. O.V., Stoiber: Papst-Serie ein „übler Angriff“, FAZ.net vom 14.04.2006 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/fernsehen-stoiber-papst-serie-ei n-uebler-angriff-1329625.html?GEPC=s45). O.V.,

Einstweilige Verfügung gegen „Popetown”, FAZ.net vom 03.05.2006 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/mtv-serie-einstweilige-verfuegunggegen-popetown-1329143.html). REICHERTZ, JO, Religiöse (Vor-)Bilder in der Werbung – Zu Anzeigen von Benetton, Kern und Diesel, Medien praktisch 2/1994, S. 18 ff. DERS., Varianten – Zur Otto-Kern-Werbung, Medien praktisch 3/1994, S. 44 f. SCHERER, INGE, Verletzung der Menschenwürde durch Werbung, Wettbewerb in Recht und Praxis 2007, S. 594 ff. SCHMIDT, MICHAEL, Grenzziehung zwischen Eigentumsgarantie und Kunstfreiheit – „Springender Pudel“, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Praxis im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht 2010, S. 51 ff. SCHÖNKE / SCHRÖDER, Strafgesetzbuch – Kommentar. 30. Auflage 2019. SYSTEMATISCHER KOMMENTAR 2015–2018.

ZUM

STRAFGESETZBUCH. 9. Auflage

Claudia Zielińska, Alice Anna Bielecki

Kunst und Sachbeschädigung – Von einer enthaupteten Meerjungfrau und den Streifzügen eines Säureattentäters – Kunst kann im Lichte des Strafrechts sowohl Opfer als auch Täter sein. Einerseits kann Kunst beschädigt oder zerstört werden, andererseits in Rechte und Freiheiten anderer eingreifen. Die nachstehend ausgewählten Fallbeispiele dienen zur Erläuterung des Straftatbestandes der Sachbeschädigung anhand des deutschen Strafrechtes, wobei die Kunst hier die Rolle des Opfers einnimmt. Die Sachbeschädigung ist im deutschen Strafgesetzbuch in § 303 und § 304 geregelt. Zum besseren Verständnis sollen zunächst die einschlägigen Normen näher betrachtet werden. § 303 Abs. 1 und Abs. 2 StGB bestimmt: (1) Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wird … bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert.

§ 304 Abs. 1 und Abs. 2 StGB lautet hingegen: 

Der Beitrag wurde 2016 von den Autorinnen unter dem Titel „Sztuka a uszkodzenie mienia“ anlässlich der Ausstellung „Kunst und Strafrecht / Sztuka a prawo karne“ an der Fakultät für Recht und Verwaltung der Universität Ermland-Masuren in Olsztyn für den an den Universitäten Olsztyn und Tarnopol (Ukraine) erstellten und von Mieczysław Różański, Serhiy Banakh und Oksana Koval herausgegebenen Sammelband „Guarantees and Protection of Fundamental Human Rights as the Integral Element of Integration of Ukraine on the EU“, Olsztyn 2019, S. 23 ff. mit Abstracts in englischer und ukrainischer Sprache verfasst. Claudia Zielińska hat am 18. März 2016 auf der dortigen internationalen wissenschaftlichen Konferenz „Nauki penalne wobec zjawiska destrukcji w sztuce“ („Strafwissenschaften und das Phänomen der Zerstörung in der Kunst“) einen diesbezüglichen Vortrag in polnischer Sprache gehalten. Der Text wurde für die vorliegende Publikation von Claudia Zielińska ins Deutsche übersetzt, überarbeitet und aktualisiert. Der Beitrag fußt auf mehreren Vorträgen, die Claudia Zielińska („Mała Syrenka – symbol zarówno Kopenhagi jak i wandalizmu“ / „Die Kleine Meerjungfrau – Wahrzeichen Kopenhagens wie auch Vandalismus“) und Alice Anna Bielecki („Uszkodzenie dzieł sztuki na przykładzie czynów Hansa-Joachima Bohlmanna“ / „Sachbeschädigung an Kunstwerken am Beispiel der Taten Hans-Joachim Bohlmanns“) zuvor an mehreren polnischen und deutschen Universitäten sowie der Paris-LodronUniversität Salzburg anlässlich der Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ gehalten hatten.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-007

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Claudia Zielińska, Alice Anna Bielecki (1) Wer rechtswidrig … Gegenstände der Kunst … oder Gegenstände, welche … zur Verschönerung öffentlicher Wege, Plätze oder Anlagen dienen, beschädigt oder zerstört, wird … bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer in Absatz 1 bezeichneten Sache oder eines dort bezeichneten Gegenstandes nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert.

Der Grundtatbestand der Sachbeschädigung im Sinne einer Substanzverletzung ist in § 303 Abs. 1 StGB geregelt. § 303 Abs. 2 StGB wurde hingegen im Zuge der Gesetzesnovelle zur besseren Graffiti-Bekämpfung1 eingeführt. Ziel dieser Gesetzesänderung war es, auch solche Handlungen als Sachbeschädigung zu klassifizieren, die keine Substanzverletzung bewirken, jedoch das Erscheinungsbild einer Sache verändern2. Aufgrund dessen könnte man annehmen, dass § 304 StGB in Hinblick auf § 303 StGB lex specialis wäre. Dabei muss berücksichtigt werden, dass § 304 StGB nicht die Fremdheit der Sache voraussetzt, sodass dies zu der sonderbaren Rechtslage führt, dass selbst der Eigentümer (s)einer Sache sich dieses Vergehens strafbar machen kann. Zudem ist das Schutzgut des § 304 StGB entgegen der Bestimmung des § 303 StGB nicht das Eigentum, sondern vielmehr das Erhaltungs- und Nutzungsinteresse der Allgemeinheit an den abschließend aufgezählten Tatobjekten mit Allgemeinbedeutung3. Diese unterschiedliche Schutzrichtung der beiden Straftatbestände führt dazu, dass § 304 StGB als selbstständiges Delikt und nicht als Qualifikation zu § 303 StGB anzusehen ist4. Die vorangegangenen Erläuterungen erlauben nunmehr eine rechtliche Analyse von Handlungen, die in den nachstehenden Fallbeispielen an verschiedenen Kunstgegenständen verübt wurden. Anzumerken ist, dass sowohl die Protagonistin wie auch der Protagonist der nachfolgenden Ausführungen als Opfer ihres eigenen Schicksals bezeichnet werden können – der einzige Unterschied besteht jedoch darin, dass die Gründe für diese Schlussfolgerung unterschiedlicher nicht sein könnten.

I. Die Kleine Meerjungfrau – sowohl Wahrzeichen Kopenhagens als auch Objekt von Vandalismus Die Kleine Meerjungfrau (dän.: Den Lille Havfrue), ist eine 125 cm große Bronzeskulptur, die seit dem 23. August 1913 an der Uferpromenade der Lan1 2 3 4

39. Strafrechtsänderungsgesetz vom 01.09.2005, BGBl. I, 2674. Wieck-Noodt in Münchener Kommentar, StGB, § 303 Rn. 54. Wieck-Noodt, a.a.O., § 304 Rn. 1; Hecker in Schönke / Schröder, StGB, § 304 Rn. 1. Hecker, a.a.O.; Zaczyk in Nomos-Kommentar, StGB, § 304 Rn. 1; a.A. Heger in Lackner / Kühl, StGB, § 304 Rn. 7.

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gelinie als bekanntestes Wahrzeichen Kopenhagens aufgestellt ist. Geschaffen wurde sie von dem dänischen Bildhauer Edvard Eriksen (* 1876, † 1959), der von Carl Jacobsen (* 1852, † 1914), dem Sohn des Firmengründers der Bierbrauerei Carlsberg, mit dieser Arbeit beauftragt wurde. Die Auftragsvergabe soll der Entzückung Jacobsens über die Figur der Kleinen Meerjungfrau, die er in einer gleichnamigen Ballettaufführung des von Hans Christian Andersen (* 1805, † 1875) aufgeschriebenen Märchens sah, geschuldet sein. Die Skulptur sollte nach dem Abbild der Primaballerina Ellen Price (* 1878, † 1968) geschaffen werden, die die Kleine Meerjungfrau im Königlichen Theater Kopenhagen zu dieser Zeit verkörperte. Die Balletttänzerin lehnte es jedoch ab, dem Bildhauer zur Nachbildung des Körpers Akt zu stehen, sodass Eriksen sich hierfür seiner eigenen Frau Eline Eriksen (* 1881, † 1963) bediente5. Die Kleine Meerjungfrau war in ihrer 100-jährigen Geschichte unzähligen vandalischen Aktionen ausgesetzt. Nicht alle waren jedoch durch pure Zerstörungswut motiviert, häufig fiel sie nämlich auch politischen Aktivisten zu Opfer, die sie für ihre Zwecke zu nutzen wussten. Aufgrund der zahllosen Übergriffe, denen die Kleine Meerjungfrau immer wieder ausgesetzt war und auch weiterhin ist, erwog die Kopenhagener Stadtverwaltung im Jahre 2001 sogar, das Wahrzeichen weiter ins Wasser zu versetzen, „damit die Jungfrau nicht pausenlos betatscht oder anderen merkwürdigen Dingen ausgesetzt werden kann“6. Am häufigsten ist die Kleine Meerjungfrau wohl „Farbattacken“ ausgesetzt gewesen. Beschmiert wurde sie beispielsweise mit roter, weißer oder pinker Farbe (so geschehen in den Jahren 1961, 1970 und 2007)7. Es fehlte jedoch auch nicht an aggressiveren Angriffen. So wurde der Kleinen Meerjungfrau 1984 von Unbekannten der Arm abgesägt – die Skulptur konnte allerdings problemlos wieder repariert werden, da der abgetrennte Teil wieder aufgefunden wurde8. Schlimmeres wiederfuhr dem Kopf der kleinen Bronzeskulptur, der ihr bereits zweimal abgesägt wurde; zum ersten Mal 1964 und später 5

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H.C. Andersen Information, Historien om „Den lille Havfrue“ (https://www. hcandersen-homepage.dk/?page_id=1561); Visitkopenhagen: Den Lille Havfrue (http s://www.visitcopenhagen.dk/da/copenhagen/den-lille-havfrue-gdk586951); Levy, Spiegel online vom 23.08.2013. Zit. nach o.V., Wehmütig am Wasser, Kleine Meerjungfrau wird 100, SZ.de vom 22.08.2008 (https://www.sueddeutsche.de/reise/kleine-meerjungfrau-wird-alter-sch uetzt-vor-attacken-nicht-1.1751255-2). O.V., Wehmütig am Wasser, a.a.O.; Levy, Spiegel online vom 23.08.2013; H.C. Andersen Information: Historien om „Den lille Havfrue“ (https://www.hcandersenhomepage.dk/ ?page_id=1561). Levy, a.a.O.

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nochmals 19989. Beide Ereignisse entwickelten sich jedoch zu wahren Kriminalfällen. Obwohl nach der ersten Enthauptung eine Belohnung in Höhe von 3.000 Dänischen Kronen für den Fund des Kopfes ausgesetzt wurde, blieb dieser verschwunden – um die Skulptur dennoch restaurieren zu können, musste mit Hilfe des ursprünglichen Gipsmodelles ein neuer Kopf gegossen werden10. Erst gut 30 Jahre später (1997) bekannte sich der dänische Aktionskünstler Jørgen Nash (* 1929, † 2004) in seiner Autobiographie „Havfruemorderen krydser sine spor“11 zur Enthauptung der Kleinen Meerjungfrau12. Die Aussagen des Künstlers über das Motiv für die Tat sind allerdings widersprüchlich, so gab dieser an, dass ihn der Rummel um das Wahrzeichen genervt habe und er deswegen die Enthauptung vornahm13, ein anderes Mal, dass er die Tat in einem Wutanfall, weil ihn zu dieser Zeit eine seiner beiden Ehefrauen verlassen hatte, begangen habe14. Das Geständnis des Aktionskünstlers konnte jedoch nie bestätigt werden, und auch die widersprüchlichen Aussagen führten dazu, dass vermutet wurde, der Künstler wollte lediglich die Aufmerksamkeit auf sich und sein neu erschienenes Buch lenken. Nash gab an, das Haupt der Kleinen Meerjungfrau mit Hilfe seiner Kettensäge abgetrennt zu haben. Die Untersuchungen der Polizeibeamten ergaben hingegen, dass diese nicht zu den Sägezähnen des 175 kg schweren, überlebenden Meerjungfrauenkörper passte15. In eine ganz andere Richtung deuten hingegen die Aufnahmen eines ehemaligen dänischen Pressefotographen der dänischen Zeitung „Politiken“, der am Tattag auf einem seiner Bilder ein deutsches Kriegsschiff, das zu dieser Zeit im Kopenhagener Hafen vor Anker lag, einfing. Nach eigenen Angaben kontaktierte dieser die Besatzung des Kriegsschiffes, welche angab, in der „Mordnacht“ an Bord des Schiffes ausgiebig gefeiert zu haben. Hierauf gestützt, stellte der Pressefotograf die Vermutung auf, dass die feucht-fröhlich feiernden Männern mit Hilfe eines der Gummiboote ans Ufer zu der Kleinen Meerjung-

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H. C. Andersen Information, Historien om „Den lille Havfrue“ (https://www. hcandersen-homepage.dk/?page_id=1561). H. C. Andersen Information, a.a.O. Auf Deutsch etwa: „Ein Meerjungfrauen-Mörder kreuzte seinen Weg“; siehe Levy, Spiegel online vom 23.08.2013. O.V., Politiken.dk vom 18.05.2004. Levy, Spiegel online vom 23.08.2013. Beder, Independent.co.uk vom 15.01.1999; o.V., BBC.com vom 15.06.2017. Koefoed, Lisahoyrup.dk vom 05.06.2011.

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frau gelangten, sie enthaupteten und dann wieder zu ihrem Schiff zurückkehrten. Aber auch diese Behauptungen konnten nie bestätigt werden16. Ungeachtet dessen wurde die kleine Bronzeskulptur 1998 erneut von Unbekannten enthauptet. Aus gegebenem Anlass wurde sogleich der als „Meerjungfrauen-Mörder“ bekannte Jørgen Nash der Tat verdächtigt, jedoch konnte dieser nachweisen, dass er am Tattag zu Hause war und geschlafen hatte. Erneut wurde eine Belohnung für das Auffinden des Kopfes ausgesetzt, diesmal in Höhe von 25.000 Dänischen Kronen. Das Interesse der Medien war enorm – nicht nur dänische Zeitungen, Fernseh- und Radiostationen berichteten von dem Geschehen, sondern auch die internationale Presse. Drei Tage nach dem Anschlag auf die Kleine Meerjungfrau tauchte das Corpus Delicti auf einem Parkplatz eines Fernsehsenders wieder auf17. Es wurde vermutet, dass Täter oder zumindest Mittäter der freiberufliche Fotograf Michael Forsmark Poulsen war. Die Verdächtigung entsprang der Tatsache, dass der Fotograf aufgrund anonymer Anrufe stets als erster am Ort des Geschehens war und aufgrund dessen stets exklusive Aufnahmen von den Ereignissen um die erneute Enthauptung der kleinen Bronzeskulptur machen konnte, die ihm viel Geld einbrachten. Zudem war er es, dem die Täter schlussendlich den abgesägten Kopf auf dem Parkplatz eines TV-Senders zukommen ließen. Die Polizei leitete deswegen entsprechende Ermittlungen gegen den Pressefotografen ein, nachweisen konnte sie ihm die Tat allerdings nicht18. Erst kürzlich (2018) gestand Poulsen in einem Buch des Journalisten und Schriftstellers Jens Høvsgaard jedoch ein, die Tat begangen zu haben19. Wie bereits zuvor erwähnt, sind nicht alle Angriffe auf die Kleine Meerjungfrau durch Zerstörungswut motiviert. Während eines Brüsseler Gipfels zu den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurde die Bronzeskulptur in der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember 2004 in eine Burka gehüllt, zudem wurde ihr eine Schärpe umgehängt, auf der die Fragestellung zu lesen war: „Tyrkiet i EU?“20. Die Aktivisten wollten damit ihren Unmut über die mögliche Aufnahme der Türkei in die Europäische Union zum Ausdruck bringen21. 2007 wurde dem Wahrzeichen erneut ein Gewand muslimischer Frauen angezogen, nur eine Nacht später ein weißes Kleid und eine weiße Kapuze, bekanntes Symbol der 16 17 18 19 20 21

Koefoed, a.a.O. Beder, Independent.co.uk vom 15.01.1999; Levy, Spiegel online vom 23.08.2013. O.V., DR.dk vom 23.08.2013; Nordentoft, Fyens.dk vom 16.04.2012; Levy, a.a.O. Høvsgaard, Politiken.dk vom 14.10.2018. Zu Deutsch, „Die Türkei in die EU?“. O.V., DR.dk vom 16.12.2004; Levy, Spiegel online vom 23.08.2013.

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rassistischen Organisation Ku-Klux-Klan22. Einer anderen politischen Aktion fiel die Nixe im März 2009 zum Opfer, als Klimaaktivisten anlässlich eines bevorstehenden Treffens der EU-Ministerpräsidenten, die die Position der EU bis zum UN-Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember festlegen wollten, der Kleinen Meerjungfrau ein Plakat mit der Aufschrift „EU se din klimagæld i øjnene!“23 umhängten und ihr eine Taucherbrille und einen Schnorchel in den Farben der Europaflagge aufsetzten. Die Aktivisten wollten damit auf die globale Erwärmung und das ansteigende Schmelzwasser aufmerksam machen24. Es kommt allerdings auch vor, dass die Kleine Meerjungfrau aus weniger politisch motivierten Gründen ein verändertes Aussehen erhält. So zogen Fußballfans dem Wahrzeichen bereits des Öfteren ein Trikot oder einen Schal ihres Lieblingsvereins über25. Unproblematisch ist der Straftatbestand der Sachbeschädigung gemäß § 303 Abs. 1 StGB in allen Fällen des Abtrennens von Teilen der Kleinen Meerjungfrau erfüllt, da diese körperliche Gegenstände darstellen, die für den Täter stets fremd sind und das Absägen eine Substanzverletzung bewirkt26. Darüber hinaus stellt die Bronzeskulptur einen Gegenstand mit Allgemeinbedeutung dar. Die Beschädigung oder Zerstörung solcher Gegenstände unterliegt der mit höherer Strafe bedrohten Gemeinschädlichen Sachbeschädigung gemäß § 304 Abs. 1 StGB27. Die Lösung auf Konkurrenzebene zwischen diesen beiden Vorschriften ist jedoch umstritten28. Ebenfalls umstritten ist die rechtliche Bewertung im Falle des Beschmierens mit Farbe oder des Bedeckens mit Kleidungsstücken oder anderen Gegenständen29. Zur Bestimmung der einschlägigen Rechtsgrundlage ist zunächst entscheidend, ob die Tathandlung als Sachbeschädigung angesehen werden kann. Im ersten Augenblick könnte angenommen werden, dass § 303 Abs. 1 StGB aufgrund einer offensichtlich fehlenden Substanzverletzung nicht einschlägig 22 23 24 25 26 27 28

29

Levy, a.a.O; Pedersen, Ekstrabladet.dk vom 21.05.2007. Auf Deutsch etwa: „Die EU muss ihre Klimaschuld im Auge behalten!“. Rønn, Stiften.dk vom 19.03.2009; Levy, Spiegel online vom 23.08.2013. Melgaard, Avisen.dk vom 23.05.2007; o.V., Spiegel online vom 01.06.2012. Zaczyk in Nomos-Kommentar, StGB, § 303 Rn. 2 ff. Zaczyk, a.a.O., § 304 Rn. 1 ff. Spezialität des § 304 StGB zu § 303 StGB: Heger in Lackner / Kühl, § 304 Rn. 7; Wieck-Noodt in Münchener Kommentar, StGB, § 304 Rn. 31; a.A. Tateinheit zwischen den beiden Vorschriften: Hecker in Schönke / Schröder, StGB, § 304 Rn. 17; Zaczyk, a.a.O., Rn. 20. Siehe dazu auch Scheffler, Kunst, „Gotteslästerung“ und Bildersturm (in diesem Band).

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wäre, da dieser als Tathandlung das Beschädigen oder Zerstören eines Gegenstandes voraussetzt, sondern vielmehr § 303 Abs. 2 StGB aufgrund der Veränderung des Erscheinungsbildes herangezogen werden müsste. Im Zuge des 39. Strafrechtsänderungsgesetzes (Graffiti-Bekämpfungsgesetz) vom 1. September 200530 führte der deutsche Gesetzgeber das Tatbestandsmerkmal der nicht nur unerheblichen und nicht nur vorübergehenden unbefugten Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes in Abs. 2 des § 303 StGB ein31. Vor Einführung der Gesetzesänderung wurden die Tathandlungen wie bloßes Verdecken, Abdecken oder Verbergen durch das Besprühen oder Bemalen nicht als Sachbeschädigung behandelt, solange durch diese keine Substanzverletzung bewirkt wurde oder die Substanz problemlos und ohne Kostenaufwand entfernt werden konnte32. Diese Strafbarkeitslücke wollte der Gesetzgeber mit der Gesetzesnovelle schließen. Gemäß § 303 Abs. 2 StGB kann eine nicht nur unerhebliche unbefugte Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes nur bei Überschreitung der Erheblichkeitsschwelle bejaht werden. Eine normative Einschränkung erfährt diese Regelung insbesondere durch den Ausschluss minimaler Beeinträchtigungen, nämlich wenn die Beseitigung der Beeinträchtigung der Sache von kurzer Dauer ist oder ohne besonderen Aufwand beseitigt werden kann. Gleiches soll gelten, wenn der Eigentümer der Sache diese während der Beeinträchtigung nicht benötigt33. Die nicht nur vorübergehende Veränderung ist hingegen ein zeitliches Kriterium, welches bei solchen Veränderungen des Erscheinungsbildes ausgeschlossen ist, die entweder innerhalb kurzer Zeit von selbst wieder vergehen (z.B. durch Regen) oder vom Täter selbst unverzüglich beseitigt werden34. Demgegenüber kann gemäß § 303 Abs. 1 StGB eine Beschädigung selbst im Falle einer (bloßen) Brauchbarkeitsminderung, demnach bereits dann, wenn die Zwecksetzung der Sache ohne Substanzverletzung beeinträchtigt wird, angenommen werden35. Diese kurze Erläuterung zur Auslegung des Tatbe30 31 32 33 34

35

BGBl. I, 2674. Wieck-Noodt in Münchener Kommentar, StGB, § 303 Rn. 39. Wieck-Noodt, a.a.O., Rn. 44 ff. Wieck-Noodt, a.a.O., Rn. 57 f.; Zaczyk in Nomos-Kommentar, StGB, § 303 Rn. 24a. Hecker in Schönke / Schröder, StGB, § 303 Rn. 19 (sieht zudem das Tatbestandsmerkmal nicht erfüllt, wenn die Veränderungen mit minimalem Aufwand beseitigt werden können); Zaczyk. a.a.O., Rn. 25 (hiernach betrifft der mit der Beseitigung verbundene Aufwand die Erheblichkeit); Heger in Lackner / Kühl, StGB, § 303 Rn. 7d. Heger, a.a.O., Rn. 3.

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standmerkmals des Beschädigens führt zu der Annahme, dass der Gesetzgeber bei der Ergänzung des § 303 StGB um den zweiten Absatz diesen Umstand „übersehen“ und auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes unberücksichtigt ließ. Dies führt nunmehr unter Strafrechtswissenschaftlern zur Uneinigkeit, wie die bereits erläuterten Tathandlungen (das Beschmieren mit Farbe, Verdecken oder Abdecken von Gegenständen) rechtlich einzuordnen sind36. Dabei stellte bereits das Reichsgericht in seiner Entscheidung37, die später vom Bundesgerichtshof38 bestätigt wurde, fest: Ein zur Verschönerung öffentlicher Plätze und Anlagen dienendes Standbild wird schon durch Entstellung seiner Schönheit mittels Einwirkung auf seine äußere Erscheinung regelmäßig seiner eigentlichen Zweckbestimmung entzogen.39 … Diese Wirkung wird aber schon durch die bloße Besudelung mit Farbe und die dadurch hervorgerufene Verdeckung der eigentlichen Reize ihrer Oberfläche, wenn nicht zerstört, so doch wesentlich beeinträchtigt und beschädigt.40

Dabei soll es nicht darauf ankommen, ob die vorgenommenen Veränderungen von Dauer sind oder sich mit Leichtigkeit entfernen lassen können41. Diesen ästhetischen Zweck erfüllen insbesondere Statuten, Gemälde oder Baudenkmäler42. Dies führt jedoch nunmehr zu der Kuriosität, dass vorübergehende Veränderungen von Gegenständen eine Strafbarkeit gemäß § 303 Abs. 1 StGB nach sich ziehen würden und nur solche, die die Erheblichkeitsschwelle überschreiten, also eine gewisse Dauerhaftigkeit aufweisen, von § 303 Abs. 2 StGB erfasst sein würden. In der Literatur ist deswegen der Lösungsansatz zu finden, dass bei belanglosen Veränderungen der äußeren Erscheinung von Kunstobjekten, die zugleich den Gebrauchszweck – die Ästhetik des Kunstobjektes – beeinträchtigen, nunmehr Abs. 2 und nicht Abs. 1 unterliegen43. Diese Konstruktion ist aus systematischer Sicht jedoch nicht hinnehmbar44. Aus diesem Grunde werden „Bemalungen“ unabhängig von ihrer zeitlichen Dauer wei-

36 37 38 39 40 41 42 43 44

Wolff in Leipziger Kommentar, StGB, § 303 Rn. 11, Heger, a.a.O., Rn. 7a. RGSt 43, 204 – Marmorbüste. BGHSt 29, 129 – Verteilerkasten. RGSt 43, 204 (206) – Marmorbüste. RGSt, a.a.O. RGSt, a.a.O. BGHSt 29, 129 (134) – Verteilerkasten. Weiler in Dölling / Duttge / König / Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 303 StGB Rn. 5. Heger in Lackner / Kühl, StGB, § 303 Rn. 7a.

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terhin unter § 303 Abs. 1 StGB erfasst45, wobei geringe oder unauffällige Veränderungen nicht von der Pönalisierung dieser Norm umfasst sind46. In Hinblick auf die Kleine Meerjungfrau sind demnach alle gegen sie gerichteten Farbattacken als Sachbeschädigung i.S.d. § 303 Abs. 1 StGB zu werten, schließlich stellt diese als Skulptur ein Objekt dar, dessen Zweckbestimmung es ist, „auf den Beschauer zu wirken und damit die Schönheit des Kunstwerks zur vollen Geltung zu bringen“47. Die rechtliche Einordnung von Tathandlungen wie das Verdecken oder Behängen mit Gegenständen, wie im Falle des Kopenhagener Wahrzeichens geschehen, ist umso schwieriger. Der Begründung zum Graffiti-Bekämpfungsgesetz folgend sollen Veränderungen, die ohne Aufwand binnen kurzer Zeit von selbst wieder vergehen oder entfernt werden können, wie Verhüllungen, Plakatierung mittels ablösbarer Klebestreifen sowie Kreide- und Wasserfarbenauftrag

nicht vom Anwendungsbereich des § 303 Abs. 2 StGB umfasst sein48. Bedeutungslos ist dabei das wertende Kriterium, entscheidend ist ausschließlich, dass das äußere Erscheinungsbild aus objektiver Sicht verändert wurde. Unbedeutend ist demzufolge, ob die Veränderung dem ästhetischen Empfinden eines Beobachters mehr entgegenkommt als die ursprüngliche Gestaltung49. Somit gilt es stets eine Einzelfallentscheidung zu treffen, gemessen an dem Kriterium, ob die jeweiligen Tathandlungen die Zweckbestimmung der Skulptur beeinträchtigen und damit eine Strafbarkeit gemäß § 303 Abs. 1 StGB wegen Sachbeschädigung begründen50. Der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofes folgend, muss dies jedoch in den zuvor geschilderten Beispielen des Verdeckens oder Behängens wohl bejaht werden. Hinzu kommt, dass die Kleine Meerjungfrau einen Gegenstand mit besonderer Eigenschaft darstellt; es handelt sich hierbei nämlich zum einen um ein öffentlich ausgestelltes Kunstobjekt und zum anderen um einen Gegenstand, welcher zur Verschönerung öffentlicher Plätze dient. Dies führt nunmehr

45 46 47 48 49 50

Wieck-Noodt in Münchener Kommentar, StGB, § 303 Rn. 23. Heger in Lackner / Kühl, StGB, § 303 Rn. 5. RGSt 43, 204 (206) – Marmorbüste; BGHSt 29, 129 (134) – Verteilerkasten. Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90 / Die Grünen, BT-DrS. 15/5313, S. 3; Zaczyk in Nomos-Kommentar, StGB, § 303 Rn. 23. Wieck-Noodt in Münchener Kommentar, StGB, § 303 Rn. 55; Zaczyk, a.a.O. Heger in Lackner / Kühl, StGB, Rn. 7a.

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dazu, dass die mit höherer Strafe bedrohte Gemeinschädliche Sachbeschädigung gemäß § 304 Abs. 1 StGB im Falle der Bronzeskulptur einschlägig ist51.

II. Die Sachbeschädigung an Kunstgegenständen am Beispiel Hans-Joachim Bohlmanns Hans-Joachim Bohlmann (* 1937, † 2009) erlangte traurige Berühmtheit aufgrund seiner zahlreichen Anschläge auf Kunstobjekte. Besonders auffallend dabei ist, dass der als „Säureattentäter“52 bekannte Bohlmann seine Taten stets gegen Meisterwerke berühmter Künstler richtete. Innerhalb des Zeitraums von 11 Jahren gelang es ihm, über 50 Kunstgegenstände zu beschädigen und insgesamt einen Schaden von ungefähr 270 Millionen DM zu verursachen53. Bohlmanns psychische Gesundheit ist von seiner unglücklichen Kindheit geprägt gewesen. Er selbst meinte, dass der Sturz in eine Sickergrube als Zweijähriger, bei dem er Todesängste ausstehen musste, während die Mutter mit der Nachbarin schwatze, ein prägendes Schlüsselerlebnis gewesen sei. „Unser Schöpfer hat ja gewusst, was der Bohlmann nachher noch macht, aber ich bin aus der Jauche gerettet worden“54, kommentierte er diesen Unglücksfall. 1945 dann die Flucht aus Schlesien55. Bereits seit seiner Jugend litt Bohlmann unter schweren Persönlichkeitsstörungen, geplagt von Angstzuständen und Kontrollzwang. Insbesondere Wasser und Feuer lösten in ihm Angstzustände aus. Hinzukam die Strenge des Vaters, vor dem er Angst hatte und die Vernachlässigung durch seine Mutter56. Bereits als Jugendlicher unterzog sich Bohlmann deswegen einer psychiatrischen Behandlung57. „Mir war bewusst, dass ich nie so werden würde, wie ich sein wollte.“58 Damit begann die „Kranken-Karriere“ Bohlmanns, wobei die Nervenheilkunde zur Heilung des jungen Mannes überaus fragliche Methoden anwandte59. Bohlmann vertraute jedoch den Ärzten, ertrug jedes ihm zugefügte Leid in der Überzeugung, dass sein 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Wieck-Noodt in Münchener Kommentar, StGB, § 303 Rn. 55; Zaczyk in NomosKommentar, StGB, § 303 Rn. 23. Zit. nach Kipphoff, Die Zeit 18/1988. Lakotta, Der Spiegel, 40/2005; o.V., Tagesspiegel.de vom 31.07.2001; o.V., Der Spiegel 5/1998. Zit. nach Lakotta, a.a.O. Lakotta, a.a.O. Lakotta, a.a.O.; o.V., Der Spiegel. 5/1998. Pickshaus, Kunstzerstörer, S. 233; Lakotta, a.a.O. Zit. nach Lakotta, a.a.O. O.V., Der Spiegel 5/1998.

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Leben nach der Behandlung wieder lebenswert oder doch zumindest besser werden würde60. Allerdings half ihm weder die Behandlung mit Elektroschocks noch eine Insulinkomatherapie. 1974 unterzog sich Bohlmann auf Anraten seiner Ärzte – im Beisein eines Fernsehteams – einer stereotaktischen Leukotomie. Der ihn operierende Neurochirurg versprach ihm eine 75–80prozentige Chance auf Heilung, mindestens aber eine Besserung. Die Redakteure des (Dokumentar-)Films ließen diesen mit der Schlussfolgerung enden, dass es dem Patienten gut gehe und er nunmehr von seinem Leiden befreit sei61. In Wahrheit hatte die Operation jedoch negative Auswirkungen auf den Gesundheitszustand Bohlmanns; sie führte zu einer hirnorganischen Beeinträchtigung62, welche wiederum seine Intelligenz minderte. Nur ein Jahr später wurde Bohlmann zum Frührentner. Zudem bewirkte der Eingriff an seinem Gehirn die Enthemmung seiner aggressiven Impulse63. Bohlmann begann in der Heide Brände zu legen, die er selbst aber umgehend löschte, und Wasserhähne auf Friedhöfen aufzudrehen64. Die Gehirnoperation hätte man nicht machen dürfen. Das war das größte Unrecht. Die kriminelle Energie ist ein Teil meiner Persönlichkeit, der dadurch richtig herauskam.65

Selbst der Arzt, der den Frührentner hinsichtlich der stereotaktischen Leukotomie beriet, bedauerte später in einer Zeugenaussage vor der Polizei den Eingriff, ließ immerhin erst dieser die Aggressionszustände seines Patienten frei werden66. Bohlmann war nun eine Person voller Widersprüche. Einerseits gläubiger Christ, andererseits zerstörte er Gegenstände der Gottesverehrung. Trotz seiner Abscheu gegenüber dem Dritten Reich und dessen Folgen beschmierte er unzählige Grabmäler mit Hakenkreuzen67.

60 61 62 63 64 65 66

67

Pickshaus, Kunstzerstörer, S. 228. O.V., Der Spiegel 5/1998. OLG Hamburg, NStZ-RR, 2005, 40 (40). Lakotta, Der Spiegel 40/2005. OLG Hamburg, NStZ-RR 2005, 40 (40). Zit. nach Lakotta, Der Spiegel 40/2005. O.V., Der Spiegel 5/1998; Pickshaus: Kunstzerstörer, S. 267: „Die Operation habe aber nicht den gewünschten Erfolg erreicht, sondern im Gegenteil bewirkt, daß die bis dahin vorhandene Hemmschwelle abgebaut wurde. Nun seien bei dem Patienten verstärkt Aggressionen freigeworden“. Pickshaus, a.a.O., S. 227.

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Nach dem Tod seiner Ehefrau, die infolge eines Sturzes aus dem Fenster tödlich verunglückte, von dem Bohlmann tief betroffen war68, begann er mit dem Beschädigen von Gegenständen von großer Bedeutung. Er fühlte sich vom Leben betrogen und wollte deswegen mit seinen Taten die Gesellschaft treffen69. Seinen ersten Anschlag verübte Bohlmann am 29. März 1977 in der Kunsthalle Hamburg, als er den „Goldenen Fisch“ von Paul Klee mit Säure beschädigte. Das Gemälde konnte jedoch restauriert werden. Bereits am selben Abend berichtete die Tagesschau von seiner Tat. Damit begann nun die erste Zerstörungsserie Bohlmanns, während derer es ihm gelang, 23 Kunstwerke im Wert von ungefähr 110 Millionen DM zu beschädigen70. Seine Taten brachten ihm bis zu einem solchen Grade Zufriedenheit, dass er kurzerhand beschloss, seine Medikamente abzusetzen71. Ausgestattet mit einem Kunstlexikon suchte er anhand dessen seine nächsten Opfer aus. Dabei zielte er die verwendete Säure bei Portraits stets mitten in die Gesichter, da sie nach seiner Meinung die wertvollste Partie darstellten und der Schaden dadurch potenziert wurde72. Es folgten weitere Anschläge auf Meisterwerke. Zu den Opfern Bohlmanns zählen unter anderem das „Porträt des Erzherzogs Albrecht VII.“ von Peter Paul Rubens, Bildnisse Martin Luthers und Katharina von Boras von Lucas Cranach dem Älteren wie auch „Der Jakobssegen“ von Rembrandt Harmenszoon van Rijn73. Besondere Aufmerksamkeit gilt es jedoch dem Gemälde „Noli me tangere“ von Willem Drost zu widmen, welches Bohlmann ebenfalls 1977 mit Säure übergoss. Die bislang von Bohlmann angegriffenen Kunstwerke hatten aufgrund einer im Verhältnis zum Kunstwerk geringen Beschädigung durch deren Retusche innerhalb weniger Jahre wiederhergestellt werden können. Die Beschädigung an Drosts Gemälde war hingegen so schwerwiegend, dass eine gewöhnliche Restaurierung des Kunstwerkes nicht infrage kam. Deswegen entschlossen sich die Experten erst 2005, sich der Restaurierung dieses Meisterwerkes anzunehmen. Ausschlaggebend für diesen Entschluss ist der Umstand gewesen, dass Drost das Gesicht Christi verschattet angelegt hatte, was 68 69 70 71 72 73

„Ich habe damals nicht begriffen, daß Gott das zulässt.“ (Zit. nach Pickshaus, a.a.O., S. 235). „Da wollte ich die Gesellschaft treffen, und nebenbei wollte ich noch Furore machen.“ (Zit. nach Lakotta, Der Spiegel 40/2005). Kipphoff, Die Zeit 18/1988. Lakotta, Der Spiegel 40/2005. Lakotta, a.a.O. Kipphoff, Die Zeit 18/1988.

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dessen Rekonstruktion erleichterte; die anderen Laufspuren der Säure wurden retuschiert und ausgekittet. Das Gemälde kehrte am 20. April 2008, also erst 30 Jahre nach der Tat Bohlmanns, in die Gemäldegalerie Alte Meister im Schloss Wilhelmshöhe in Kassel zurück74. Nach diesem Säureattentat wollte Bohlmann nunmehr festgenommen werden. Im Hotel hatte er sich unter seinem richtigen Namen eintragen lassen. Zurück in Hamburg kaufte er sich auf dem Heimweg in seine Wohnung ein Kilogramm Pflaumen und wartete auf die Polizei, die abends an seiner Wohnungstür klingelte75. In seinen Taten spiegelte sich ein „anal-sadistischer Haß“ auf den autoritären Vater und die lieblose Mutter wider; diese blinde Wut auf seine Eltern entlud sich stellvertretend bei Bohlmanns Angriffen auf kostbare Kunstgegenstände, die „vor allem wegen ihrer Verletzlichkeit etwas von menschlichen Individuen an sich haben“, befand ein Psychoanalytiker76. Bohlmann selbst verstand seine Taten als Hilferuf aus seinem Leid, seiner großen Einsamkeit77. Die rechtliche Bewertung dieser Taten ist unproblematisch. Bei der Beschädigung von Kunstobjekten liegt regelmäßig eine Strafbarkeit gemäß § 303 Abs. 1 StGB wie auch gemäß § 304 Abs. 1 StGB vor, da die Verwendung von Säure stets eine Substanzverletzung bewirkt. Alle von Bohlmann beschädigten Gegenstände waren für ihn fremd (Tatbestandsmerkmal des § 303 Abs. 1 StGB), zudem sind diese aufgrund ihrer Kunsteigenschaft vom Schutzbereich des § 304 Abs. 1 StGB umfasst. Das Landgericht Hamburg verurteilte Bohlmann 1979 wegen Gemeinschädlicher Sachbeschädigung gemäß § 304 Abs. 1 StGB in 17 Fällen, wegen (einfacher) Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB in drei Fällen und wegen Tierquälerei zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren78. Das Landgericht nahm die volle Schuldfähigkeit des Säuretäters an. Das Gericht folgte damit den Ausführungen des Sachverständigen, der Bohlmann strafrechtlich für verantwortlich erklärte. In Bohlmann sah dieser einen Psychopathen, keinen Zwangsneurotiker, die Entstehungsbedingungen des ungewöhnlichen Verhaltens Bohlmanns wurden für die Beurteilung seiner psychischen Verfassung als unwesentlich gewertet. Zudem wurde seinen seelischen Störungen kein Krankheitswert beigemessen, diese hätten vielmehr einen genetischen Ur74 75 76 77 78

Museumslandschaft Hessen Kassel, 30 Jahre nach Säureattentat. Lakotta, Der Spiegel 40/2005. O.V., Der Spiegel 5/1998, S. 161. Pickshaus, Kunstzerstörer, S. 235. OLG Hamburg, NStZ-RR 2005, 40 (40).

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sprung. Ferner seien die Zwänge und Ängste, sofern sie bei Bohlmann überhaupt vorhanden waren, so der Sachverständige, ohne Einfluss auf die Straftaten geblieben. Darüber hinaus urteilte der Gerichtsgutachter, dass er eine strafrechtlich relevante Persönlichkeitsänderung durch die stereotaktische Leukotomie nicht erkennen könne79. Dass Bohlmann erst im Alter von 37 Jahren zum ersten Mal strafauffällig wurde, wurde ebenfalls nicht weiter hinterfragt80. Bohlmanns Verteidiger, der die Schlussfolgerungen des Sachverständigen problemlos hätte widerlegen können, unterließ dies jedoch aufgrund der Verteidigungsstrategie, nach der eine Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt verhindert werden sollte81. Nach vollständiger Verbüßung seiner Strafe wurde Bohlmann 1982 aus dem Strafvollzug entlassen82. Nach einer zweiten Tatserie, während derer er unter anderem Bauwagen und Baumaschinen in Brand setzte und dadurch einen Schaden von über 130.000 DM verursachte, wurde er erneut verurteilt; dieses Mal wegen Sachbeschädigung in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. 1986 kam Bohlmann nach vollständiger Verbüßung seiner Strafe wieder frei83. Ein Jahr später begab sich Bohlmann abermals in eine offene psychiatrische Abteilung, da er erneut Angstzustände entwickelte und die Wut in ihm aufzulodern begann. Auslöser hierfür war eine lebenslange Pfändung in Höhe von 158,60 DM von seiner kleinen Rente aufgrund einer Schadenersatzforderung für die Beschädigung eines Rubens-Gemäldes84. Trotz seiner andauernden Behandlung verspürte er jedoch erneut den Drang, wertvolle Kunstgegenstände zu beschädigen. Seinem Arzt verschwieg er diesen aufkommenden Gedanken, da er fürchtete, anderenfalls in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie verlegt zu werden85. Stattdessen kaufte er im März 1988 in einer Hamburger Apotheke Schwefelsäure, die er zunächst in einem Park versteckte86. Kurze Zeit später konnte Bohlmann seiner Sehnsucht nach Zerstörung jedoch nicht mehr widerstehen und ließ sich von der Klinik beurlauben. Bewaffnet mit Schwefelsäure machte Bohlmann sich mit dem Nachtzug nun auf den Weg nach München. Sein Ziel war die Alte Pinakothek, in der er gleich drei weltbe79 80 81 82 83 84 85 86

Pickshaus, Kunstzerstörer, S. 236 f.; 242. Pickshaus, a.a.O., S. 228; 256. Pickshaus, a.a.O., S. 265 ff. Vgl. OLG Hamburg, NStZ-RR 2005, 40 (40). OLG Hamburg, a.a.O. Lakotta, Der Spiegel 40/2005. OLG Hamburg, NStZ-RR 2005, 40 (40). OLG Hamburg, a.a.O.

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rühmte Meisterwerke Albrecht Dürers mit Säure übergoss. Beschädigt wurden der „Paumgartner Altar“, die „Mater Dolorosa“ und die „Beweinung Christi“. Bohlmann verursachte einen geschätzten Schaden in Höhe von 100 Millionen DM. Den größten Schaden nahm jedoch die „Beweinung Christi“, die zu 70 % zerstört wurde. Die Restaurierung allein dieses Gemäldes dauerte 21 Jahre und verlangte den Restauratoren die Entwicklung neuartiger Methoden zur Rettung des Meisterwerkes ab87. Im Januar 1989 wurde Bohlmann wegen Gemeinschädlicher Sachbeschädigung gemäß § 304 Abs. 1 StGB zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Diesmal nahm das Gericht gemäß § 21 StGB eine verminderte Schuldfähigkeit Bohlmanns an und ordnete aufgrund dessen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf ungewisse Zeit an88. § 67e Abs. 2 StGB bestimmt Fristen für die Überprüfung der Fortdauer einer Unterbringung: Die Fristen betragen bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sechs Monate, in einem psychiatrischen Krankenhaus ein Jahr, in der Sicherungsverwahrung ein Jahr, nach dem Vollzug von zehn Jahren der Unterbringung neun Monate.

Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hamburg überprüfte nach dieser Vorschrift jährlich die weitere Unterbringung Bohlmanns. Da sich nach Meinung der Experten jedoch an der den Taten zugrundeliegenden Persönlichkeitsstörung nichts Wesentliches geändert hatte, wurde wiederholt die Fortdauer der Unterbringung angeordnet89. Bohlmann wurden jedoch zwischenzeitlich auch Lockerungen gewährt, zunächst begleitete Ausgänge ab März 1993, später ab September 1997 sogar unbegleitete Ausgänge90. 1998 kehrte Bohlmann von einem seiner unbegleiteten Ausgänge jedoch nicht zurück und fuhr stattdessen nach Dresden, sämtliche Museen waren nun in Angst versetzt und auf der Hut vor dem „Kunstmörder“. Derweil besichtigte Bohlmann die Frauenkirche und spazierte in die Semperoper91. Zwei Tage später, Bohlmann befand sich gerade auf dem Rückweg ins Klinikum, wurde er von der Polizei aufgegriffen und festgenommen. Sämtliche Lockerungen wurden aufgrund dieses Vorfalls nunmehr aufgehoben92. Bohlmann äußerte später, dass er mit

87 88 89 90 91 92

OLG Hamburg, a.a.O.; Lakotta, Der Spiegel 40/2005. OLG Hamburg, a.a.O.; Lakotta, a.a.O. OLG Hamburg, a.a.O. OLG Hamburg, a.a.O. Lakotta, Der Spiegel 40/2005. OLG Hamburg, NStZ-RR 2005, 40 (40).

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der Flucht lediglich beweisen wollte, dass er auch außerhalb der Einrichtung zurechtkomme und nicht rückfallgefährdet sei93. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hamburg erklärte 1999 die Vollstreckung der angeordneten Unterbringung für erledigt, obwohl nach den Feststellungen eine wesentliche Veränderung oder Verbesserung des Zustandes Bohlmanns in der Vergangenheit nicht erreicht werden konnte. Dieser Beschluss erging allerdings aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, immerhin dauerte der Maßregelvollzug bereits 10 Jahre an. Die Staatsanwaltschaft erhob gegen diesen Beschluss erfolgreich Sofortige Beschwerde. Der vom Beschwerdegericht, dem Oberlandesgericht Hamburg, zur Erstellung eines nervenärztlichen Gutachtens beauftrage Sachverständige gelang zu dem Schluss, dass sich bei Bohlmann zwar allmählich eine Besserung seines psychischen Zustandes abzeichne, jedoch ohne spezielle Vorbereitung bei seiner Entlassung aufgrund seines ausgeprägten Geltungsbedürfnisses zu befürchten sei, dass dieser erneut Säureattacken und andere Beschädigungen an möglichst wertvollen Kunstwerken begehen würde. Das Gericht, den Ausführungen des Sachverständigen folgend, hob den Beschluss der Strafvollstreckungskammer auf und ordnete die Fortdauer der Unterbringung an. Das Oberlandesgericht Hamburg erklärte seine Entscheidung aufgrund der negativen Kriminalprognose und der von Bohlmann drohenden Gefahr für verhältnismäßig. Bohlmann sollte allerdings allmählich mit Hilfe von Lockerungen auf die (Wieder)Eingliederung in die Gesellschaft vorbereitet werden94. Die vorgesehenen Lockerungen wurden jedoch aufgrund von Sicherheitsbedenken seitens des Klinikums immer wieder herausgeschoben oder abgebrochen und schlussendlich sogar ganz ausgesetzt95. 2004 erklärte die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung der angeordneten Unterbringung mit Beschluss für erledigt. Die von der Staatsanwaltschaft dagegen erhobene Sofortige Beschwerde blieb diesmal erfolglos. Bohlmann kam dabei eine Gesetzesänderung zugute, durch die § 67d StGB um einen 6. Absatz erweitert wurde96. Gemäß § 67d Abs. 6 Satz 1 StGB galt nunmehr97: Stellt das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus fest, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr 93 94 95 96 97

OLG Hamburg, a.a.O., S. 41. OLG Hamburg, a.a.O., S. 40. OLG Hamburg, a.a.O., S. 42. Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung 23.07.2004, BGBl. I, 1838. Siehe Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, BT-DrS 15/2887.

Kunst und Sachbeschädigung

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vorliegen oder die weitere Vollstreckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre, so erklärt es sie für erledigt.

Nach Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts98 sind die Voraussetzungen des Freiheitsentzuges umso strenger …, je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauert. Maßgeblich hier ist das Verhältnis zwischen der vom Täter ausgehenden Gefahr und der Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stößt jedoch im Einzelfall auf Grenzen, wo es im Blick auf die Art der von dem Untergebrachten drohenden Taten, deren Bedeutung und Wahrscheinlichkeit vor dem staatlichen Schutzauftrag für Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Untergebrachten in die Freiheit zu entlassen99.

Das Oberlandesgericht Hamburg befand, dass dem Freiheitsanspruch Bohlmanns nach 16 Jahren in Haft, davon über 15 Jahren im Maßregelvollzug, der Vorrang einzuräumen sei100. In seiner Begründung führte das Gericht aus, dass weiterhin die Gefahr künftiger Säureattentate und anderer Beschädigungen möglichst wertvoller Kunstwerke bestehe, die Möglichkeiten zur Heilung des Untergebrachten jedoch ausgeschöpft seien und diese auch nicht mehr erwartet werden könne. Das Oberlandesgericht wies allerdings darauf hin, dass Bohlmann immerhin keine Gefahr für seine Mitmenschen darstelle, wurde er während seiner gesamten kriminellen Karriere doch niemals gegenüber Menschen gewalttätig101. Zudem stelle die Unterbringung für Bohlmann aufgrund einer immer wieder in Aussicht gestellten, aber zeitlich ungewissen Entlassung in die Freiheit eine besonders große Belastung dar102. Das Gericht schloss den Beschluss mit der Erklärung, dass bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Schutz der Allgemeinheit vor schwerwiegenden Taten … aber zu berücksichtigen [ist], dass auch grundgesetzlich geschützte Rechtsgüter strafrechtlichen Schutz nur mit der Intensität genießen, mit der der Gesetzgeber ihre Verletzung strafrechtlich sanktioniert hat103.

98 99 100 101 102 103

BVerfGE 70, 297. BVerfGE a.a.O., S. 315; OLG Hamburg in NStZ-RR 2005, 40 (41). OLG Hamburg, a.a.O., S. 42. OLG Hamburg, a.a.O., S. 41. OLG Hamburg, a.a.O., S. 42. OLG Hamburg, a.a.O.

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Claudia Zielińska, Alice Anna Bielecki

Bohlmann habe jedoch bereits das fünffache des vorgesehenen Höchstmaßes der Freiheitsstrafe für Gemeinschädliche Sachbeschädigung gemäß § 304 Abs. 1 StGB im Maßregelvollzug verbracht104. 2005 wurde Bohlmann in die Freiheit entlassen. Hamburg durfte er ohne Genehmigung nicht verlassen, und ihm wurde zudem ein generelles Hausverbot für Museen auferlegt. Darüber hinaus musste er zur Nachsorge gehen und seine Medikamente nehmen. Das Interesse der Medien an der Freilassung Bohlmanns war groß, Reporter warteten am Tag seiner Entlassung am Kliniktor. Die Empörung des Kulturbetriebes war ebenfalls enorm, Museen im ganzen Land verteilten Fotos mit dem Konterfei Bohlmanns105. Der vom Klinikum erstellte Plan, der auch die sozialen Kontakte Bohlmanns fördern sollte, sah unter anderem vor, dass dieser sich abwechselnd beim Betreuten Wohnen, bei seinem Bewährungshelfer und bei seinem Therapeuten in der Klinik melden musste. Zudem wurde ein Krisenplan erstellt, falls Bohlmann erneut etwas aus der Bahn werfen sollte106. Bohlmanns Urteil über seine kriminelle Karriere fiel 2005 überaus positiv aus: Sie müssen sich keine Sorgen machen. Jetzt geht es mir so gut wie in den letzten 54 Jahren nicht mehr. Ich bin freundlich zu jedermann. Ich werde mir doch nicht die letzten Jahre meines Lebens zerstören. Das wäre doch verrückt.107

Die vorbeugenden Maßnahmen schienen zu funktionieren, allerdings nur ein halbes Jahr. Während seines wöchentlichen Besuchs bei seinem Therapeuten im Juni 2006 soll sich Bohlmann unauffällig verhalten haben. Trotz allem machte er sich im Anschluss daran auf den Weg nach Amsterdam108. Wie ein gewöhnlicher Besucher kaufte er eine Eintrittskarte für das Rijksmuseum, obwohl der Ticketkasse des Amsterdamer Museums sein „Fahndungsfoto“ vorlag, und tauchte im Besucherstrom unter109. Dort übergoss Bohlmann dann am 25. Juni 2006 das Gemälde „Schützenmahlzeit zur Feier des Friedens von Münster“ des Holländischen Malers Bartholomeus van der Helst mit Feuerzeugbenzin und zündete es anschließend an. Noch vor Ort ließ er sich widerstandslos festnehmen110. Der Schaden fiel gering aus, das Feuer beschädigte 104 105 106 107 108 109 110

OLG Hamburg, a.a.O. Lakotta, Der Spiegel 40/2005. Lakotta, a.a.O. Zit. nach Lakotta, a.a.O. Spilcker, Focus 27/2006. Spilcker, a.a.O. Spilcker, a.a.O.

Kunst und Sachbeschädigung

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lediglich die oberste Schutzschicht des Meisterwerkes. Bohlmann wurde vom Amsterdamer Gerechtshof in zweiter Instanz zu drei Jahren Gefängnis und zur Zahlung von 17.772 Euro Schadenersatz an das Rijksmuseum verurteilt. Im Juni 2008 wurde Bohlmann nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Freiheitsstrafe aus der Haftanstalt entlassen. Kaum ein halbes Jahr später erlag Bohlmann 2009 in Hamburg einem Krebsleiden111.

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Säureattentäter: „Schlimmes Leid, schlimme Tat“, Der Spiegel 5/1998.

O.V., Kunstschänder auf der Flucht: Museen in Angst, Tagesspiegel.de vom 31.07.2001 (http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/kunstschaender-auf-der-fl ucht-museen-in-angst/245186.html). O.V.,

Forfatteren og maleren Jørgen Nash død, Politiken.dk vom 18.05.2004 (https://politiken.dk/kultur/art5686546/Forfatteren-og-maleren-J%C3%B8rgen -Nash-d%C3%B8d). O.V., Den lille Havfrue klædt på med burka, DR.dk vom 16.12.2004 (https: //www.dr.dk/nyheder/indland/den-lille-havfrue-klaedt-paa-med-burka). O.V., Helsingör will mit männlicher Meerjungfrau Touristen locken, Spiegel online vom 01.06.2012 (nebst Fotostrecke) (https://www.spiegel.de/reise/ aktuell/daenemark-kleine-meerjungfrau-bekommt-konkurrenz-a-836382.html). O.V., Halshugning og lemlæstelse: Den lille havfrue fylder 100, DR.dk vom 23.08.2013 (https://www.dr.dk/nyheder/kultur/kunst/halshugning-og-lemlaeste lse-den-lille-havfrue-fylder-100). O.V.,

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Kunst und Sachbeschädigung SCHÖNKE / SCHRÖDER, Strafgesetzbuch – Kommentar. 30. Auflage 2019. SPILCKER, AXEL, Alte Meister müssen büßen, Focus 27/2006.

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Uwe Scheffler

Kunst, „Gotteslästerung“ und Bildersturm* – Kurze Gedanken zu einer kleinen, aber befremdlichen Begebenheit – Kunst und Künstler können nicht nur „Täter“ eines Angriffs auf Religion sein, sondern auch „Opfer“ von religiös motivierten Angriffen. Man denke hier zunächst einmal an den islamistischen Fundamentalismus und die gewalttätigen, teilweise tödlichen Anschläge auf den niederländischen Filmregisseur Theo van Gogh („Submission“), den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie („Satanische Verse“), den dänischen Zeichner Kurt Westergaard („Mohammed-Karikaturen“) oder die Mitarbeiter der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“.

I. Bildersturm Es gibt aber auch Anschläge auf die Kunstwerke selbst: Am 12. März 2001 etwa wurden die monumentalen Buddha-Statuen von Bamiyan im Zentrum Afghanistans, von der UNESCO als Weltkulturerbe gelistet, von TalibanMilizen gesprengt. Für die Zerstörung der Statuen brauchten die Taliban mehrere Tage. In der Literatur wird mitunter betont, dies sei „kein vandalistischer Akt barbarischer Terroristen, sondern ein Akt des performativen Ikonoklasmus“ der islamistischen Taliban gewesen1 – durchaus nachvollziehbar. Nun versteht man unter Ikonoklasmus oder „Bildersturm“ allerdings eigentlich die Zerstörung heiliger Bilder oder Denkmäler der eigenen Konfession als Ausdruck religiös entfachter Bildfeindlichkeit oder Bilderfurcht. Am bekanntesten ist der protestantische Bildersturm während der Reformation im 16. Jahrhundert. Ursache für die mutwillige Zerstörung von Bildern und Skulpturen in christlichen Kirchen war die Vorstellung, dass das Herstellen *

1

Diese Gedanken hat der Autor anlässlich des Betrachtens der Tafeln bei der Vernissage der Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ an einer deutschen Universität zu Papier gebracht. Siehe Falser, ZfK 1/2010, 82.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-008

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und die Verwendung von Bildern zur Ausübung des christlichen Glaubens im Widerspruch zum Bibelwort stehen würden. Denn das zweite der Zehn Gebote lautet2: Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Abbild machen, weder von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!

Der spätmittelalterliche Heiligenkult in seiner volksfrömmigen Ausprägung hatte Formen angenommen, die der Götzenverehrung sehr nahekamen. So wurden Heiligenskulpturen gottgleich verehrt und ihr Beistand für bestimmte Situationen im Leben erbeten, manch eine Stiftung erging nicht im Namen eines Heiligen an eine Kirche, sondern unmittelbar an ein Gemälde oder eine Figur dieses Heiligen. In Gegenden, in denen die Reformatoren Huldrych Zwingli oder Johannes Calvin Einfluss ausübten, kam es daher zur Entfernung und oft auch Zerstörung von Gemälden und Skulpturen, die die mittelalterlichen Kirchen gefüllt hatten (lutherisch geprägte Gegenden wurden nur selten von „Bilderstürmen“ heimgesucht). Während mancherorts die Bildnisse geordnet aus den Kirchen entfernt und so zwar dem Kult entzogen, aber nicht zerstört wurden, übertünchten die „Bilderstürmer“ sie andernorts, verbrannten sie auf Scheiterhaufen oder schlugen sie noch in der Kirche in Stücke. Wir gebrauchen den Ausdruck „Bildersturm“ hier dennoch, wissend, dass die Aufmacher in vielen deutschen Presseorganen vom „Bildersturm“ der Taliban eigentlich die Sachlage nicht ganz zutreffend eingeordnet haben. Der Ausdruck „Bildersturm“ ist auch problematisch, sofern er ebenfalls in der Presse verwendet wird, um die aktuellen Angriffe von Katholiken auf als blasphemisch angesehene Kunstwerke zu bezeichnen. Denn der Katholizismus ist, anders als der Islam und einige Strömungen des Protestantismus, der Ikonophobie abhold, wie ein Blick in jede katholische Kirche zeigt. Bei diesen Angriffen geht es nicht darum, dass Bildnisse von Gott, Christus oder Maria, von Heiligen oder von katholischen Würdenträgern gefertigt werden, sondern um das despektierliche „Wie“. Jedenfalls haben auch Katholiken, zumeist im Unterschied zu den islamistischen „Bilderstürmern“ fanatische Einzeltäter, schon weltweit Werke der Bildenden Kunst „gestürmt“, besser gesagt beschädigt und zu zerstören versucht. Berühmt geworden ist hier die Beinahe-Zerstörung des meiner Ansicht nach „vielleicht schönsten Gemälde der Renaissance“, der „Leda mit dem Schwan“ 2

2. Moses 20, 4–5.

Kunst, „Gotteslästerung“ und Bildersturm

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von Antonio da Correggio von 1531/323 durch Louis I. von Orléans, den frommen Sohn des Regenten von Frankreich, Herzog Philippe II. von Orléans. Louis I. ertrug offenbar die ins Bild gebannte Erotik der Darstellung nicht und beschädigte in einem Anfall religiösen Irrwahns irgendwann zwischen 1726 und 1731 Correggios Gemälde. Er zerschnitt das Bild in drei Teile, trennte Ledas Kopf heraus und verbrannte ihn. Die Bildmitte war damit komplett zerstört, das Werk, mühsam restauriert, ist heute in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen. Correggios besonderes Flair hat es nicht zurückerlangt. Es ist unwiederbringlich verloren. Aus jüngerer Zeit ist hier zu denken an die spektakulären Anschläge auf die Bildcollage „Keinen Keks heute“ des österreichischen Aktionskünstlers Otto Muehl 1998 in Wien4, auf das Mixed Media Painting „The Holy Virgin Mary“ des nigerianisch-britischen Malers Chris Ofili 1999 in New York5 und die Fotos „Piss Christ“ und „The Church (Soeur Jeanne Myriam)“ des USamerikanischen Fotographen Andres Serrano 2011 im französischen Avignon6. Vor einiger Zeit hat es auf unserer Ausstellungstafel „Kunst und ʻGotteslästerungʼ“ nun auch eine Abbildung von George Groszʼ „Christus mit der Gasmaske“ („Maul halten und weiter dienen“) erwischt7, und zwar im Foyer einer deutschen Universität – in welcher, spielt keine Rolle. Ein Aufkleber mit einem Alpenpanorama machte das Kruzifix fast vollständig unsichtbar. Die Motivation des unbekannten Klebers ist mir natürlich nicht bekannt. Da er aber auf Martin Kippenbergers gekreuzigtem Frosch („Zuerst die Füße“) auf unserer Eingangstafel einen ebensolchen alpinen Aufkleber hinterließ8, dürfte diese sicherlich im Christlich-Religiösen zu finden sein, und es dürfte um das „Wie“ der Darstellung der Kreuzigungen gehen. 3

4 5 6

7 8

Antonio da Correggio (* 1489; † 1534), Leda e il cigno (Leda mit dem Schwan) (1531/32). Berlin, Gemäldegalerie. Siehe dazu Scheffler: Antonio da Correggios „Leda mit dem Schwan“ (in diesem Band). Otto Muehl, Keinen Keks heute / Apokalypse (1998) – beschädigt am 12. Juni 1998 von „Pornojäger“ Martin Humer in der Wiener Secession. Chris Ofili, The Holy Virgin Mary (1996) – beschädigt am 16. Dezember 1999 von Dennis Heiner im New Yorker Brooklyn Museum. Andres Serrano, Piss Christ (1987) und The Church (Soeur Jeanne Myriam) (1991) – beschädigt am 18. April 2011 von zwei, wie es in Presseberichten heißt, „mutmaßlich katholischen Fundamentalisten“ in der Collection Lambert im Avignoner Hôtel de Caumont. George Grosz (* 1893; † 1959), Maul halten und weiter dienen (Christus mit der Gasmaske). Blatt 10 der Mappe „Hintergrund“ (1928). Martin Kippenberger (* 1953; † 1997), Zuerst die Füße (1990). Innsbruck, Sammlung Lothar Tirala.

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Dass sich die religiöse Empörung gegen fotographische Abbildungen auf Ausstellungstafeln richtet, die die Werke nicht als zu bewundernde Meisterleistungen präsentieren, sondern als Beispiele besonders umstrittener Kunstwerke zeigen und deren mögliche strafrechtliche Relevanz diskutieren, irritiert im akademischen Fluidum einer Universität besonders. – Übrigens könnte man durchaus ab dem mit Erlangen der Hochschulreife vorauszusetzenden intellektuellen Niveau wissen oder zumindest erkennen, dass jedenfalls Grosz’ Zeichnung nicht blasphemisch, sondern antimilitaristisch verstanden werden muss9.

II. Strafrecht Wenn wir uns schon mit „Kunst und Strafrecht“ beschäftigen – wie hat sich der beklebende Alpenpanoramafreund strafbar gemacht? Nach § 303 Abs. 1 StGB – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht. Denn ein „Beschädigen“ scheitert – eigentlich – daran, dass sich die Aufkleber wieder rückstandslos entfernen ließen, so dass also keine Substanzverletzung vorliegt. Bevor man jetzt vorschnell auf den durch das „Graffitibekämpfungsgesetz“ 2005 eingefügten § 303 Abs. 2 StGB blickt und subsumiert, ob die Aufkleber „das Erscheinungsbild … nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert“ hätten (beides kann man wohl bejahen), ist zunächst zu erwägen, ob eine „Beschädigung“ im Sinne von Abs. 1 in Form einer Brauchbarkeitsminderung anzunehmen ist10. Denn die Bestimmung der Ausstellungstafeln liegt ja gerade darin, die dort abgebildeten – und nunmehr überklebten – Bilder zu betrachten, um so den dazugehörigen (nicht überklebten) Text zu verstehen und zu würdigen. Allerdings wird dazu vorausgesetzt, dass die Beseitigung der Überdeckungen „Aufwand an Zeit und Mühe verursacht“11. Darüber kann man hier streiten, haben sich die Alpenaufkleber unter bloßer Zuhilfenahme von Spiritus mit einiger geduldigen Vorsicht rückstandslos abziehen lassen. Bei den Ausstellungstafeln „Kunst und Strafrecht“ kommt jedoch noch ein Sonderfall hinzu: Solche Tafeln bezwecken, das zeigt schon ihre optisch aufwendige Gestaltung, nicht nur die Informationsvermittlung, sondern sie dienen gleichzeitig als Schmuck der Räumlichkeiten, also hier des Universitätsfoyers, 9

10 11

„Selbst der primitivste Mensch sieht klar und deutlich, dass nicht Christus mit dem inkriminierten Bilde getroffen werden solle, sondern die, die ihn mißbrauchen.“ (George Grosz, zit. nach Sozialdemokratischer Pressedienst vom 06.10.1930). Siehe dazu Zielińska / Bielecki, Kunst und Sachbeschädigung (in diesem Band). BGHSt 13, 207 (208) – Plattfuß.

Kunst, „Gotteslästerung“ und Bildersturm

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wo zu diesem Zweck manchmal auch reine Kunstausstellungen präsentiert werden. Bei Sachen, deren ästhetische Erscheinung deren maßgebliche Funktion beinhaltet, kommt es schon bei deren auch nur vorübergehenden Vereitelung selbst dann zu einer „Beschädigung“, wenn sich der normale Zustand sofort und ohne jede Mühe wiederherstellen lässt. Das ist weitgehend anerkannt seit dem berühmten „Marmorbüsten“-Urteil des Reichsgerichts von 191012, in dem das Reichsgericht ausführte, dass, wenn es auf die „Schönheit des Kunstwerks“ ankommt, „eine Wiederherstellung des früheren Zustandes … den Eintritt der Beschädigung nicht ungeschehen“ mache, selbst wenn „sofortiges Reinigen durch bloßes Abwaschen mit Wasser und Seife sich ohne besonderen Aufwand von Kosten und Mühe bewerkstelligen ließe“: ... unter Umständen [kann] auch das bloße Verunreinigen einer Sache eine Beschädigung darstellen … Eine [belangreiche Veränderung der äußeren Erscheinung und Form] träte … bei dem Beschmieren einer in ihrer Naturfarbe gehaltenen Marmorbüste mit einer ihr fremden Farbe in … ausgebreitetem Maße … zweifellos auch dann ein, wenn … die Fläche des Marmors so glatt wie Glas wäre, so daß ein Eindringen der Farbe in den Stein für ausgeschlossen erachtet werden müßte und sofortiges Reinigen durch bloßes Abwaschen mit Wasser und Seife sich ohne besonderen Aufwand von Kosten und Mühe bewerkstelligen ließe. … Die Wahl des Marmors für eine derartige Büste bezweckt, gerade durch ihre natürliche weiße, glänzende und reine Farbe sowie die klare Bestimmtheit ihrer Linien auf den Beschauer zu wirken und damit die Schönheit des Kunstwerks zur vollen Geltung zu bringen. Diese Wirkung wird aber schon durch die bloße Besudelung mit Farbe und die dadurch hervorgerufene Verdeckung der eigentlichen Reize ihrer Oberfläche, wenn nicht zerstört, so doch wesentlich beeinträchtigt und beschädigt …

Der Bundesgerichtshof hat in seiner „Verteilerkasten“-Entscheidung von 197913 das Reichsgericht ausdrücklich bestätigt für den Fall, daß die Gebrauchsbestimmung eines Gegenstandes, etwa einer Statue, eines Gemäldes oder eines Baudenkmals, offensichtlich mit seinem ästhetischen Zweck zusammenhängt.

Nun sei nur am Rande darauf hingewiesen, dass diese Beschränkung auf den „ästhetischen Zweck“ vielleicht zu kurz greift. Denn im Fall des Vereitelns einer Gebrauchsbestimmung zu informatorischen Zwecken ist die gleiche Konstellation zu erkennen. So hatte auch das Oberlandesgericht Hamburg 198114 – ähnlich unserem „Alpenpanorama“-Fall – über das Überkleben von politischen Werbeplakaten zu entscheiden, was „in entscheidender Hinsicht mit dem Marmorbüstenfall des RG (RGSt 43, 204) zu vergleichen“ sei:

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RGSt 43, 204 (205). BGHSt 29, 129 (132 f.). OLG Hamburg, NJW 1982, 395 (395).

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Durch das Überkleben der Plakate wurde ihre Gebrauchsbestimmung, nämlich die Werbefunktion für die CDU, aufgehoben. Mit dem Aufkleben der anderen Plakate …, das den Inhalt der CDU-Plakate unsichtbar machte und damit praktisch auslöschte, war die Sachbeschädigung vollendet.

Dort „zog“ ein Polizist die übergeklebten Plakate kurz nach der Tat schlicht wieder „ab“. Ich hatte diesen Gedanken schon 2001 näher ausgeführt15. Die Strafbarkeit des – ohnehin unbekannten – Täters wegen Sachbeschädigung gemäß § 303 Abs. 1 StGB scheiterte also wohl erst daran, dass wir keinen Strafantrag (§ 303c StGB) gestellt haben. Ein Strafantrag ist jedoch im Falle einer Gemeinschädlichen Sachbeschädigung gemäß § 304 StGB nicht vonnöten. Nach Abs. 1 dieser Norm macht sich unter anderem strafbar, wer „Gegenstände der Kunst, der Wissenschaft oder des Gewerbes, welche … öffentlich aufgestellt sind“, also Kulturgegenstände, die sich (wie hier im Universitätsfoyer) an einem allgemein zugänglichen Ort befinden, beschädigt; das „Beschädigen“ wird hier genauso wie in § 303 Abs. 1 StGB ausgelegt. Das Reichsgericht bekräftigte zur „Gemeinschädlichen Sachbeschädigung“ seine Auffassung nochmals16: Weiter ist zu beachten, daß dem Angeklagten eine Beschädigung nach § 304 StGB zur Last gelegt ist, die auch dann vorliegt, wenn der Gegenstand in derjenigen Beziehung minder tauglich wird, vermöge deren er zu den durch § 304 geschützten gehört. Ein zur Verschönerung öffentlicher Plätze und Anlagen dienendes Standbild wird schon durch Entstellung seiner Schönheit mittels Einwirkung auf seine äußere Erscheinung regelmäßig seiner eigentlichen Zweckbestimmung entzogen.

Kurzum: Das Strafrecht kann nicht nur Religion vor Kunst schützen, sondern auch Kunst vor Religion.

Literatur FALSER, MICHAEL, Die Buddhas von Bamiyan: performativer Ikonoklasmus und das „Image“ von Kulturerbe, Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1/2010, S. 81 ff. SCHEFFLER, UWE, Das Verteilerkasten-Urteil (BGHSt 29, 129) – eine falsch interpretierte Entscheidung?, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2001, S. 290 ff.

15 16

Scheffler, NStZ 2001, 290 ff. RGSt 43, 204 (206) – Marmorbüste.

Joanna Melz

Diebstahl von Buntmetallskulpturen im öffentlichen Raum* Diebstahl von Kunstwerken ist ein Phänomen, das seit Langem weltweit zu beobachten ist. In den letzten Jahren machten im In- und Ausland mehr oder weniger spektakuläre Fälle Schlagzeilen wie der Diebstahl von fünf Gemälden von Francis Bacon aus einer Privatsammlung in Madrid vom Juni 20151 oder kürzlich ein eher untypischer Fall – Diebstahl von Entwürfen Gerhard Richters aus der Papiermülltonne des Künstlers2.

I. Neuer Trend und Statistiken Die Anzahl der Diebstähle von Kunstwerken, Antiquitäten und sakralen Gegenständen in Deutschland überstieg in den Jahren 2001 bis 2018 1.400 Fälle jährlich. Wurden 2012 noch 2.930 solche Fälle erfasst, sank ihre Anzahl seitdem bis zuletzt auf 1.403 Fälle 20183. Die Polizeiliche Kriminalstatistik Brandenburg erfasste 2016 36 und 2017 16 derartige Diebstähle4. Nach den Aufklärungsstatistiken derartiger Delikte in den Jahren 2000 bis 2018 überstieg die *

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Dem Beitrag liegt der von der Autorin am 18.03.2016 auf der internationalen wissenschaftlichen Konferenz „Nauki penalne wobec zjawiska destrukcji w sztuce“ („Strafwissenschaften und das Phänomen der Zerstörung in der Kunst“) anlässlich der Ausstellung „Kunst und Strafrecht / Sztuka a prawo karne“ an der Fakultät für Recht und Verwaltung der Universität Ermland-Masuren in Olsztyn unter dem Titel „Kradzież rzeźb z metali kolorowych w miejskiej przestrzeni publicznej“ in polnischer Sprache gehaltene Vortrag zugrunde. Eine Fassung des Beitrages in polnischer Sprache wird in Kürze in dem an den Universitäten in Olsztyn und Tarnopol (Ukraine) erstellten und von Mieczysław Różański, Serhiy Banakh und Oksana Koval herausgegebenen Sammelband „Guarantees and Protection of Fundamental Human Rights as the Integral Element of Integration of Ukraine on the EU“, Olsztyn 2019, S. 225 ff. mit Abstracts in englischer und ukrainischer Sprache erschienen. O.V., SZ.de vom 13.03.2016. AG Köln, Urteil vom 24.04.2019 – 539 Ds 48/18 – bei juris. Bundeskriminalamt, PKS-Zeitreihen 1987 bis 2018 – Grundtabelle, Diebstahl insgesamt von Antiquitäten, Kunst- und sakralen Gegenständen; siehe auch die Aufbereitung der Daten bei Statista.com (http://de.statista.com/statistik/daten/studie/15 8684/umfra ge/diebstahl-von-antiquitaeten-kunst--und-sakralen-gegenstaenden/). Polizeiliche Kriminalstatistik Brandenburg 2017, Tabelle 77 (S. 95).

https://doi.org/10.1515/9783110784992-009

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Aufklärungsquote deutschlandweit bis auf wenige Ausnahmen die Grenze von 20 % und erreichte 2002 41,7 %, 2009 30,8 %, 2012 32,8 % und 2018 25,5 %5. Ähnliche Ergebnisse wurden in Brandenburg 2016 und 2017 erzielt: 33,3 % von 36 Fällen 2016 und 25 % von 16 Fällen 20176. Die überwiegende Zahl der Straftäter wird jedoch nicht zur Verantwortung gezogen. Ein spektakulärer Fall, der aktuell das Berliner Landgericht beschäftigt hat, betrifft den Diebstahl einer 100 kg wiegenden kanadischen Goldmünze „Big Maple Leaf“ mit dem Bild der Königin Elisabeth II. im Wert von 3,75 Millionen Euro aus dem Bode-Museum in Berlin von 20177. In den vergangenen Jahren hat sich in ganz Deutschland verstärkt ein Trend bemerkbar gemacht, dem Skulpturen aus Buntmetallen im öffentlichen Raum – in den Straßen, in den Parks, auf Friedhöfen – zum Opfer fallen. Bei den „Wilderern der Großstadt“8 handelt es sich jedoch sehr selten um Kunstliebhaber, denen es auf die Kunstwerke ankommt, oder diejenigen, die im Auftrag eines „Sammlers“ stehlen. Vielmehr ist die Gewinnerzielung durch die Weiterveräußerung das Motiv für den Diebstahl. So werden etwa Friedhofsfiguren aus Bronze nicht selten nach einiger Zeit in Antiquitätenläden, auf Kunstauktionen, im Internet oder auf Flohmärkten „wiederentdeckt“9. Der häufigste Beweggrund für die Täter, die auf eigene Faust oder im Rahmen von organisierten kriminellen Gruppierungen tätig sind10, ist jedoch nicht das Kunstwerk selbst, sondern der Rohstoff – in den meisten Fällen Bronze. Bronze ist eine Legierung aus Kupfer und Zinn mit einem sehr hohen Kupferanteil11. In den letzten Jahren erzielte Kupfer, das sog. rote Gold, hohe Preise auf dem Weltmarkt: 2005 kostete eine Tonne im Jahresdurchschnitt noch ca. 3.000 Euro, 2015 knapp 5.000 Euro12, 2017 ca. 5.500 Euro13, zurzeit ist sie unter 5.200 Euro ge5

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Bundeskriminalamt, PKS-Zeitreihen 1987 bis 2018 – Grundtabelle, Diebstahl insgesamt von Antiquitäten, Kunst- und sakralen Gegenständen; siehe auch die Aufbereitung der Daten bei Statista.com (http://de.statista.com/statistik/daten/studie/158710/ umfrage/aufklaerungsquote-bei-diebstahl-von-kunst/). Polizeiliche Kriminalstatistik Brandenburg 2017, Tabelle 77 (S. 95). Mayer, SZ.de vom 28.03.2019. Volkmann-Schluck, Morgenpost.de vom 20.05.2013. Vgl. Müller, Wormser Zeitung vom 22.10.2014; Gehrke / Lackmann, Tagesspiegel.de vom 17.09.2013. Volkmann-Schluck, Morgenpost.de vom 20.05.2013; Gehrke / Lackmann, a.a.O. Siehe Archaeometallurgie.de, Stichwort: Bronze (http://archaeometallurgie.de /archaeo metallurgie/grundlagen/bronze). WirtschaftsVereinigung Metalle, Die Statistik der Nichteisen-Metallindustrie 15.16, S. 11, https://www.wvmetalle.de/fileadmin/uploads/public/Metallstatistik/Metallstatistik2015.pdf. WirtschaftsVereinigung Metalle, Metallstatistik 2017, S. 11 (https://www.wvmetalle. de/fileadmin/uploads/public/Metallstatistik/Metallstatistik_2017.pdf).

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fallen14. In den Ankaufstellen von Altmetall in Berlin wird zurzeit für ein Kilo Kupfer 4,00 Euro, für hochwertiges Kupfer Millberry (Kupfer blank I) 4,50 Euro/kg bezahlt15. Vor der Transaktion müssen Verkäufer ihre Personaldokumente vorlegen; in der Praxis kommt es jedoch oft vor, dass potenzielle Verkäufer, die im Verdacht stehen, Diebesgut zu veräußern, ihren Personalausweis „vergessen“16. Manche Händler melden Fälle, in denen versucht wird, Bronzefiguren zu verkaufen, der Polizei. Andere wissen zwar, wer von den Kollegen derartige Ware ankauft, behalten dieses Wissen aber zur eigenen Sicherheit lieber für sich17. Wenn die Skulpturen in Rohmetall eingeschmolzen werden, werden sie unwiederbringlich zerstört. Den veröffentlichten polizeilichen Statistiken im Land Brandenburg ist nicht zu entnehmen, welchen Anteil an Metalldiebstahl18 der Diebstahl von Kunstwerken aus Buntmetall ausmacht. 2014 wurden in Brandenburg insgesamt 2.302 Fälle von Metalldiebstahl erfasst19, ein Zuwachs von etwa 40 % im Vergleich zu 2010, als 1.647 Fälle erfasst wurden20. Die Aufklärungsquote solcher Delikte schwankte in Brandenburg von 2010 bis 201421 zwischen 24,5 und 34,0 %22. Metalldiebstahl ist jedoch kein ausschließlich deutsches Phänomen. Die Presse berichtete über Fälle aus Österreich, Japan, Vietnam oder aus Russland, konkret aus St. Petersburg und Moskau, wo die Metalldiebe es speziell auf gusseiserne Gullideckel abgesehen haben23.

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Siehe Finanzen.net am 02.08.2019, Stichwort: Kupferpreis: 5.159,03 Euro (https:// www.finanzen.net/rohstoffe/kupferpreis/chart/euro). Siehe z.B. die Ankaufspreise der Berliner Firma „Schrottankauf Gouchev“ am 02.08.2019 (https://www.schrottankauf-bitterfelderstr23.de/kupferpreis.php). Volkmann-Schluck, Morgenpost.de vom 20.05.2013. Volkmann-Schluck, a.a.O. Besonders attraktiv für Metalldiebe sind Erdungskabel aus Kupfer, die von den Bahnanlagen demontiert werden; durch sämtliche Diebstähle und damit einhergehende Zerstörungen an Bahnstrecken entstehen deutschlandweit Sachschäden in Millionenhöhe, abgesehen von den daraus resultierenden Tausenden Stunden Zugverspätungen für ihre Behebung, die ihrerseits erhebliche Folgeschäden anrichten, siehe Volkmann-Schluck, a.a.O.; Huhndorf, Bergedorfer-Zeitung.de vom 02.09.2011. Die Polizei hat dabei zwischen folgenden Kategorien: Buntmetall, Metall, Buntmetallschrott, Edelmetall, Schrott, unedles Metall, Kabeltrommel und Kabel unterschieden, siehe Polizeiliche Kriminalstatistik Brandenburg 2014, S. 159. Polizeiliche Kriminalstatistik Brandenburg 2014, Tab. 165 (S. 159). In polizeilichen Kriminalstatistiken der Folgejahre sind keine gesonderten Angaben zum Metalldiebstahl enthalten. Polizeiliche Kriminalstatistik Brandenburg 2014, Tab. 165 (S. 159). Sabitzer, Öffentliche Sicherheit 7-8/2007, S. 6 ff.

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II. Nicht aufgeklärte Fälle von Skulpturendiebstahl Fälle von Diebstahl von Bronzeskulpturen häufen sich in ganz Deutschland. In den letzten Jahren treten sie auch in Brandenburg vermehrt auf, vor allem in Ortschaften an der deutsch-polnischen Grenze. Eine der Visitenkarten mittelgroßer brandenburgischer Städte sind ihre umfangreichen Kunstsammlungen, die im öffentlichen Raum präsentiert werden. Allein in Frankfurt (Oder) sind ca. 260 solcher Kunstwerke öffentlich aufgestellt, darunter 47 Bronzefiguren24, Werke von bekannten deutschen Bildhauern wie Waldemar Grzimek, Werner Stölzer, Fritz Cremer und Wieland Förster. In Cottbus können 230 Skulpturen bewundert werden25, in Schwedt um 200 und in Eisenhüttenstadt über 10026. Im Folgenden werden ausgewählte Beispiele von Diebstahl von Bronzeskulpturen aus Brandenburg sowie ein Fall aus Hamburg dargestellt. Frankfurt (Oder), Anfang Februar 2016: Innerhalb von wenigen Tagen, genauer gesagt Nächten, verschwanden zwei Bronzeskulpturen aus dem Stadtbild. Die erste von ihnen war die vor dem Stadion aufgestellte Plastik des Kopfes Werner Seelenbinders, eines Ringers, ein Werk von Walter Kreisel im Wert von 5.000 Euro27. Opfer von Metalldieben wurde zwei Tage später auch „Penthesilea I“ von Wieland Förster, die liegende Torsi von Amazonenkönigin Penthesilea und Achill darstellte. Die Plastik war ein Teil eines VierSkulpturen-Zyklus, inspiriert vom Werk Heinrich von Kleists, der in der Oderstadt geboren war. Sie wurde aus dem Garten des Kleist-Museums gestohlen. Die Täter entfernten die Skulptur vom Sockel und warfen sie anschließend über den Zaun28. Diese Geschichte endete jedoch mit einem Happy End – dank der Hilfe zahlreicher Spender wurde ein neuer Abguss erstellt und 2018 eingeweiht29. Am selben Wochenende wie die Frankfurter „Penthesilea I“ wurde in Schwedt in der Uckermark „Trini“ gestohlen. Die Skulptur von Fritz Cremer von 1967, 1,10 Meter groß und 10.000 Euro wert, stellte seine damals 14-jährige Tochter 24

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Adesiyan, MOZ.de vom 24.02.2016; Stralau, MOZ.de vom 02.03.2016; Stadt Frankfurt (Oder): Kunst im öffentlichen Raum wirksam schützen! Pressemitteilung vom 29.02.2016 (https://www.frankfurt-oder.de/Schnellnavigation/Startseite/Kunst-im%C3%B6ffentlichen-Raum-wirksam-sch%C3%BCtzen-php?object=tx|2616.14&Mo dID=7 &FID=2616 .6911.1). Höfer, MOZ.de vom 16.11.2008. Dietrich, MOZ.de vom 09.02.2016; Neiser, MOZ.de vom 11.02.2011. O.V., BlickPunkt vom 13.02.2016. Krause, MAZ-online.de vom 10.02.2016; Stiehler, MOZ.de vom 08.02.2016. Kannenberg, MOZ.de vom 08.07.2018; Krause, a.a.O.

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Katrine dar. Als Frau Cremer von dem Diebstahl ihrer kleinen Namensträgerin aus Bronze erfuhr, war sie umso mehr erstaunt, weil sie nicht wusste, dass „Trini“ im öffentlichen Raum gezeigt wurde. Eine Kunstgalerie in Leipzig, die einen Abguss von „Trini“ besaß, bot der Stadt Schwedt an, die Figur für 20.000 Euro abzutreten30. Die Polizei Brandenburg suchte Zeugen beider Diebstahlsfälle auch im Internet über ihre vom Polizeipräsidium in Potsdam geführte Facebook-Fanpage31. Die Fahndungsaufrufe waren seinerzeit auch auf der Homepage der Brandenburger Polizei abrufbar32. Kehren wir aber für einen Moment zurück nach Frankfurt (Oder). Anfang Februar 2013 verschwand von der Oderpromenade die Bronzeplastik „Große Badende“ von Wieland Förster aus dem Jahre 1971 im Wert von ca. 50.000 Euro, die an jener Stelle bereits seit 30 Jahren zu bewundern war33. Abgüsse befinden sich auch in Berlin34, Halle35, Antwerpen36 und Boston37. Die überdimensionale Frauendarstellung (Länge: ca. 2,70 m) „badete“, nur auf einer zentralen Stütze horizontal ruhend, quasi schwerelos in der Luft38. Das machten sich die Täter zunutze, brachen sie aus der Verankerung heraus und transportierten sie wahrscheinlich mit einem Lastwagen ab. Was ihre „Arbeit“ einfacher machte, war die Tatsache, dass die Skulptur an einer schlecht beleuchteten Stelle ohne direkte Wohnbebauung auf einer Grünfläche aufgestellt war. Für einen neuen Bronzeabguss hätte die Stadt Frankfurt (Oder) 45.000 Euro bezahlen müssen, zuzüglich des Honorars für den Künstler. Der Autor der Skulptur bot der Stadt an, einen Betonabguss für 15.000 Euro anzufertigen39. Die Oderstadt konnte sich jedoch eine solche Ausgabe nicht leisten, weil diese Summe den ganzen städtischen Jahresetat für den Schutz und Pflege der städtischen Kunstwerke

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Dietrich, MOZ.de vom 09.02.2016. Polizei Brandenburg: Fahndungsaufruf vom 09.02.2016, (https://www.facebook. com/polizeibrandenburg/photos/a.1528025210778605.1073741828.14296670939477 51/1683729845208140/?type=3&theater). Unter https://polizei.brandenburg.de/pressemeldung/bronzestatuen-gestohlen-polizeibittet-u/163931 sowie unter https://polizei.brandenburg.de/pressemeldung/-trini-gestohlen/165407. Kannenberg / Stralau, MOZ.de vom 04.02.2013. Prenzlauer Berg, Fröbelstr. 17 / Ecke Diesterwegstr. Kunstmuseum Moritzburg. Middelheimmuseum. Sandow, MOZ.de vom 02.02.2013; Zauft, Prenzlauerberg-Nachrichten.de vom 12.08.2012. Abbildung bei Sandow, a.a.O.; Susanne Kähler, https://bildhauerei-in-berlin.de/bild werk/grosse-badende/. Stralau, MOZ.de vom 13.12.2014.

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ausgemacht hätte40. Ein halbes Jahr nach dem Diebstahl wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt41. Lassen Sie uns einen kurzen Abstecher von der Oder an die Elbe nach Hamburg machen. Auch dort kam es zu einem Diebstahl, der Schlagzeilen machte und bis heute nicht aufgeklärt wurde. Im Januar 2014 wurde vom Familiengrab der Familie Hagenbeck eine lebensgroße Löwenfigur gestohlen, die etwa 250 kg wog42. Mit dieser Skulptur ist eine echte Geschichte verbunden: Der Löwe trug den Namen Triest und war der Liebling Carl Hagenbecks, Gründers und Leiters des Hamburger Zoologischen Gartens. Das Tier soll ihm das Leben gerettet haben, als er sich im Raubtiergehege aufhielt und von anderen Großkatzen attackiert wurde43. Die Skulptur des Bildhauers Josef Pallenberg im Wert von 100.000 Euro war ein Unikat44. Der schlafende Löwe beschützte das Grab seines Freundes hundert Jahre lang45.

III. Beispiele für aufgeklärte Fälle Die Polizei hat jedoch auch Erfolge im Kampf gegen die auf Bronzeskulpturen fokussierten Diebe aufzuweisen. Einer der in Brandenburg aufgeklärten Fälle betrifft den Diebstahl des „Wildschweins“ Reinhard Dietrichs und der „Schimpansenkinder“ Stefan Horotas in Eisenhüttenstadt im Februar 2011. Im Anschluss an einen Kneipenabend beschlossen fünf Täter, die Skulpturen zu stehlen und anschließend beim Schrotthändler zu versilbern46. Die 80 cm große Figur eines verspielten, sich auf dem Rücken wälzenden Wildschweins ist 20.000 Euro wert47. Dank eines anonymen Hinweises wurden beide mit einer Plane bedeckten Skulpturen in einer Garage gefunden und die Tat weiter aufgeklärt48. Die Angeklagten räumten vor Gericht ein, die Bedeutung ihrer Tat erst realisiert zu haben, als die Presse umfänglich über den Diebstahl berichtete49. Die reumütigen Täter beglichen den bei der Tatausführung infolge einer Beschädigung der Schimpansenplastik (einem der beiden Schimpansen40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

Stralau, a.a.O. Stiehler, MOZ.de vom 08.02.2016. O.V., Radiohamburg.de vom 08.01.2014. O.V., Mopo.de vom 07.01.2014. O.V., Radiohamburg.de vom 08.01.2014. Radiohamburg.de a.a.O. Neiser, MOZ.de vom 07.02.2012. Neiser, MOZ.de vom 11.02.2011. Lötsch, MOZ.de vom 21.03.2011; Neiser, MOZ.de vom 07.02.2012. Neiser, a.a.O.

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kinder wurde der Arm herausgebrochen) entstandenen Schaden in Höhe von 5.000 Euro. Sie wurden vom Amtsgericht Eisenhüttenstadt mit äußerst niedrigen Geldstrafen in Höhe zwischen 90 bis 150 Tagessätzen bestraft50. Ein anderer aufgeklärter Fall betrifft den Diebstahl der „Ricke mit Kitz“ von einem Friedhof in Berlin-Lichterfelde im Juli 2012, die am Grab des Industriellen Wilhelm Forthmann aus der Kaiserzeit, eines begeisterten Jägers, von seiner Ehefrau aufgestellt wurde51. Die 300 kg wiegende Skulptur schmückte das Grab über mehrere Jahrzehnte, ihr geschätzter Wert betrug 30.000 Euro52. Die Metalldiebe hatten keinen guten Tag: Zur Zeit der Tat, kurz vor Mitternacht, machte eine unbeteiligte Person mit ihrem Fahrzeug offenbar Fahrübungen in der Nähe des Friedhofseingangs, was einer Zivilstreife der Polizei auffiel. Dabei wurden die Beamten auch auf drei Personen aufmerksam, die sich auffällig verhielten, indem sie einen Gegenstand vom Friedhof in einen Kastenwagen luden und die Autokennzeichen mit einer Zeitung unkenntlich zu machen versuchten53. Drei Brüder, die bei der Polizei bereits aktenkundig waren, wurden nach einer Verfolgungsfahrt schließlich festgenommen54. Im Laufe des Prozesses vor dem Amtsgericht Tiergarten stellte sich heraus, dass sie im Auftrag handelten: Die verpackte Skulptur lag transportbereit auf einem Sargwagen, die Täter sollten für den Abtransport 500 Euro erhalten55. Zwei der Angeklagten wurden zu einem Jahr Freiheitsstrafe mit Aussetzung zur Bewährung verurteilt, der dritte zu einer Strafe von sieben Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung56. Zusätzlich wurde jedem von ihnen 120 Stunden gemeinnützige Arbeit auferlegt57.

IV. „Wiedergefundene“ Skulpturen Es gibt auch Fälle in Brandenburg, in denen Skulpturen aufgrund ungeklärter Gegebenheiten wiederauftauchen. So geschah es mit dem „Betenden Knaben“ aus Bad Freienwalde. Das Original der Skulptur eines Jungen mit 50 51 52 53 54 55 56 57

Neiser, a.a.O. Eisenhardt, Berlinkriminell.de 2013. O.V., Berliner-Kurier.de vom 17.09.2013; Eisenhardt, a.a.O. Eisenhardt, a.a.O. Eisenhardt, a.a.O.; siehe auch Bild.de vom 15.03.2013 (http://www.bild.de/regional/ berlin/friedhofsdiebe-vor-gericht-skulptur-gestohlen-32409490.bild.html). Eisenhardt, a.a.O; Gehrke / Lackmann, Tagesspiegel.de vom 17.09.2013; o.V., Morgenpost.de vom 16.09.2013. O.V., Berliner-Kurier.de vom 17.09.2013. Eisenhardt, Berlinkriminell.de 2013; Gehrke / Lackmann, Tagesspiegel.de vom 17.09.2013.

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hoch gestreckten Armen in der Gebetspose stammt aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Sie wurde von Friedrich dem Großen erworben, erfreute ihn seinerzeit im Schloss Sanssouci und gehört gegenwärtig zur Sammlung des Alten Museums auf der Museumsinsel in Berlin. Die Bad Freienwalder Figur ist ein Abguss vom Original, wiegt 75 kg und ihr Wert wird auf 10.000 Euro geschätzt58. 1949 wurde sie als herrenloses Kunstgut nach Bad Freienwalde gebracht und Anfang der 1950er Jahre vor dem Krankenhaus aufgestellt59. Sie verschwand 1976 aufgrund ungeklärter Umstände. 2009 wurde die in eine Folie gewickelte Plastik im Park von einer Joggerin entdeckt. Auf der Skulptur wurden keine Fingerabdrücke gefunden, sie wurde vorher sorgfältig gereinigt60. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um die verschwundene Skulptur handelt61. Der „Betende Knabe“ erfreut seitdem die Besucher des Stadtparks62. Ein ähnliches Beispiel betrifft das wiedergefundene „Liebespaar“ von Joachim Karbe in Eisenhüttenstadt. Die Skulptur wurde 2006 aus dem Gelände des städtischen Inselbades gestohlen und zwei Jahre später im Oder-Spree-Kanal entdeckt63.

V. Methoden zur Diebstahlprävention und -verfolgung bei Buntmetallskulpturen Auch wenn sich ein determinierter Metalldieb von der Tatbegehung nicht abhalten lässt, gibt es inzwischen zahlreiche Präventionsmethoden sowie Maßnahmen, die die Wiedererlangung gestohlener Plastiken erleichtern. Eines der Mittel, das etwa in Eisenhüttenstadt Anwendung findet, ist die Markierung der

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Stachowiak, MOZ.de vom 16.10.2009. Stachowiak, a.a.O.; siehe auch Schlosspark-Freienwalde.de (http://www.schlossparkfreienwalde.de/sites/skulptur.htm). Eine andere Replik des Betenden Knaben befindet sich z.B. im Lennépark in Frankfurt (Oder). Göttmann, MOZ.de vom 13.01.2010; Stachowiak, a.a.O. Stachowiak, a.a.O.; Göttmann, a.a.O. Siehe dazu Schlosspark-Freienwalde.de (http://www.schlosspark-freienwalde.de /sites/skulptur.htm). Ein ähnlicher Fall ist aus Kiel bekannt: 1970 war „Der Schwimmer“ von Francesco Messina aus der Kieler Stadtgalerie gestohlen worden. 2017 wurde die Skulptur in einem abgelaufenen Schließfach am Hauptbahnhof wiederentdeckt. Die Polizei erhielt einen anonymen Anruf, dass der inzwischen alt gewordene Täter das Kunstwerk wieder der Öffentlichkeit zuführen möchte (O.V., NDR.de vom 03.05.2019). Stiehler, MOZ.de vom 08.02.2016; Neiser, MOZ.de vom 12.02.2008.

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Skulpturen mit sog. künstlicher DNA64. Es handelt sich dabei um eine unter UV-Licht aufleuchtende, nicht abwaschbare Flüssigkeit, die an Joghurt mit Mohn erinnert, mit winzigen Metallteilchen65. Als andere Maßnahmen werden eine bessere Beleuchtung, Installation von Alarmsystemen, die Platzierung der Skulpturen an andere, belebtere Orte und eine verstärkte Präsenz der Ordnungsbehörden diskutiert66. In Dänemark sowie in Polen werden Skulpturen mit GPS-Sendern versehen67. Nach den Diebstählen in Frankfurt (Oder) 2016 (keine der Figuren war versichert68) wurden drei am meisten diebstahlgefährdete Skulpturen ins Depot gebracht69. Das drastischste Mittel, also eine dauerhafte Verwahrung, wird aber nicht in Betracht gezogen. Ein Vertreter des städtischen Kulturbüros äußerte sich hierzu70: „Es wäre eine Kapitulation vor den Dieben, den ursprünglichen Sinn der öffentlichen Kunst in Frage stellen zu lassen und sie ins Depot zu verbannen.“ Eine andere Lösung wäre, die Originale der Bronzeskulpturen mit Abgüssen aus anderen Materialien, etwa aus Bronze imitierendem Beton, zu ersetzen71. Słubice, die polnische Nachbarstadt von Frankfurt (Oder), entschied sich für eine andere Variante. In den städtischen Parks und Plätzen sind zwei Plastiken aus Kunststoff aufgestellt: Das weltweit erste Wikipedia-Denkmal zeigt vier unbekleidete Menschen, die die Wikipedia-Weltkugel stützen. Es ist aus „Laminat mit MessingEffekt in Altgold“ gefertigt und hat die Stadt 62.000 PLN (etwa 14.800 Euro) gekostet72. Die andere Skulptur mit Bronze-Effekt stellt das Käthchen von Heilbronn dar, die Kleistsche Protagonistin73.

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Lötsch, MOZ.de vom 28.02.2012. O.V., N-TV.de vom 06.08.2017; Volkmann-Schluck, Morgenpost.de vom 20.05.2013. Siehe Stralau, MOZ.de vom 02.03.2016. Brandt Lilliecrona, DR.dk vom 21.01.2012; Ellerbrock, Spiegel online vom 28.05.2012. Stralau, MOZ.de vom 13.12.2014. „Mädchenakt“ von Wieland Störzer, „Schwimmerin“ von Fritz Cremer, „Großes Martyrium“ von Wieland Förster. Siehe dazu Adesiyan, MOZ.de vom 24.02.2016; Stadt Frankfurt (Oder): Kunst im öffentlichen Raum wirksam schützen! Pressemitteilung vom 29.02.2016 (https://www.frankfurt-oder.de/Schnellnavigation/Startseite /Kunst-im-%C3%B6ffentlichen-Raum-wirksam-sch%C3%BCtzen-.php?object=tx|26 16.14 & ModID=7&FI D=2616.6911.1.). Adesiyan, MOZ.de vom 15.02.2013. Lehrke, Berliner-Kurier.de vom 21.11.2012. (Poln.) Wikipedia, Stichwort: Pomnik Wikipedii w Słubicach. Heilbronn ist die Partnerstadt Słubices. Zu der Abbildung des Denkmals siehe (poln.) Wikipedia, Stichwort: Pomnik Kasi z Heilbronnu w Słubicach.

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VI. Die strafrechtliche Bewertung Diebstahl gemäß § 242 Abs. 1 StGB setzt die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in der Absicht ihrer rechtswidrigen Zueignung voraus. Bei den Skulpturen handelt es sich insbesondere um Sachen, die als beweglich im Sinne der Norm gelten, soweit sie fortgeschafft werden können74, sei es auch erst nach der Abtrennung von ihrer Halterung. Der Skulpturendieb handelt in der Regel auch in der Absicht rechtswidriger Zueignung, sei es in Bezug auf die Sache als Kunstobjekt oder als Rohstoffträger. Ein derartiger Diebstahl kann unter Umständen die Merkmale eines besonders schweren Falls des Diebstahls aus § 243 StGB, eines Strafzumessungsgrundes, erfüllen, der keinen abschließenden Charakter hat. Lassen Sie uns § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StGB, der 1969 im Rahmen der 1. StrRG eingeführt wurde75, näher betrachten: Danach macht sich strafbar, wer „eine Sache von Bedeutung für ... Kunst stiehlt, die sich in einer allgemein zugänglichen Sammlung befindet oder öffentlich ausgestellt ist“. Die Bundesregierung begründete das Bedürfnis für die Einführung dieser Vorschrift im „Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB) E 1962“76 damit, dass „Sachen dieser Art der Gefahr des Diebstahls besonders ausgesetzt“ seien und in dem Diebstahl „ein besonders grober Mißbrauch des den Besuchern von Sammlungen oder Ausstellungen entgegengebrachten Vertrauens zum Ausdruck kommt“77. Diese Regelung bezieht sich auf öffentlich, also unter anderem an öffentlich zugänglichen Orten wie Plätze oder Parkanlagen, selbst auf Privatgrundstücken zur Besichtigung ausgestellte Kunstwerke78, unabhängig davon, ob das Eigentum in Händen von öffentlichen Institutionen oder Privatpersonen liegt79. Von dem Schutzbereich der Vorschrift umfasst sind Sachen unter anderem „von Bedeutung für Kunst“. Es wird vertreten, dass dieser Begriff Gegenstände umfasst, deren Diebstahl einen empfindlichen Verlust für die Kunst bedeuten würde, selbst im regional 74

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Vgl. Bosch in Schönke / Schröder, StGB, § 242 Rn. 11. Abgesehen davon, dass bei der Bestimmung der Beweglichkeit die zivilrechtliche Beurteilung außer Betracht bleiben soll (Kindhäuser in Nomos-Kommentar, StGB, § 242 Rn. 14), wird eine im Garten aufgestellte Statue auch nicht als wesentlicher Bestandteil eines Grundstücks i.S.v. § 94 BGB bewertet, siehe OLG Frankfurt/M., NJW 1982, 653 (654 f.). Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25.06.1969, BGBl. I, 645. BT-DrS IV/650. Dort: § 236 Satz 2 Nr. 5 StGB, in der Überschrift als Schwerer Diebstahl bezeichnet (S. 50). A.a.O., S. 404. Vogel in Leipziger Kommentar, StGB, § 243 Rn. 44; Schmitz in Münchener Kommentar, StGB, § 243 Rn. 49. Vgl. BGHSt 10, 285 (286); Vogel, a.a.O.; Wittig in BeckOK, StGB, § 243 Rn. 22.

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eingeschränkten Bereich80. Berücksichtigung soll dabei die Einzigartigkeit der Sache sowie die Möglichkeit einer Neubeschaffung finden81, ihr Wert soll dagegen zweitrangig sein82. Darüber, ob die konkrete Sache von Bedeutung für die Kunst ist, soll die Auffassung fachkundiger Personen83 bzw. die Meinung einer möglichst repräsentativen, nicht näher bestimmten Gruppe von Betrachtern84 entscheiden. Gleichwohl ist, wie im Gesetzentwurf zu lesen ist, „nicht jedes Bild in einer Galerie geschützt“85. Diese Regelung ist dem ernst zu nehmenden Vorwurf ausgesetzt, nicht präzise und nicht klar genug86 zu sein, sie ist auch mit einer großen Subjektivität in der Beurteilung behaftet. Ihre Auslegung kann des Weiteren zu Wertungswidersprüchen führen: Aus welchem Grund ist etwa einer Grabfigur im Wert von (nur? sogar?) 10.500 Euro, die einen verstorbenen Handballspieler darstellt und anhand von Fotos von einem der breiten Öffentlichkeit nicht bekannten Künstler angefertigt wurde87, die Bedeutung für die Kunst abzusprechen, während dieses Merkmal für jedes, selbst misslungenes Werk eines bekannten Künstlers anzunehmen wäre? Anhand welcher Indizien soll beurteilt werden, ob einer öffentlich ausgestellten Skulptur eine hinreichende regionale Bedeutung zukommt? Es gibt auch Zweifel prozessrechtlicher Natur: Ist es tatsächlich so, dass jedes Mal, wenn es um Diebstahl von Kunstwerken gehen könnte, Sachverständigengutachten eingeholt werden? In vielen Fällen würde dies eine erhebliche Verfahrensverzögerung zur Folge haben. Lässt sich diese Auslegung schließlich mit der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts vereinbaren, dass es für die Beurteilung, ob ein Werk Kunst ist oder nicht, das künstlerische Niveau keine Rolle spielt, also dass eine Unterscheidung zwischen „guter“ und „schlechter“ Kunst nicht vorgenommen wird88? Hinzu kommt, dass der Vorsatz des Täters auch das strafverschärfende Merkmal der Bedeutung der Sache für die Kunst umfassen muss89. Dies zu bewei80 81 82 83 84 85 86 87 88 89

Wittig, a.a.O. Wittig, a.a.O.; Kindhäuser in Nomos Kommentar, StGB, § 243 Rn. 32. Wittig, a.a.O.; Schmitz in Münchener Kommentar, StGB, § 243 Rn. 47; Vogel in Leipziger Kommentar, StGB, § 243 Rn. 43; a.A. wohl Kindhäuser, a.a.O. Schmitz, a.a.O.; Vogel, a.a.O. Hoyer in Systematischer Kommentar, StGB, § 243 Rn. 36. BT-DrS IV/650, S. 404. Bosch in Schönke / Schröder, StGB, § 243 Rn. 36. O.V., Derwesten.de vom 28.10.2014. BVerfGE 75, 369 (377) – Strauß-Karikaturen. Schmitz in Münchener Kommentar, StGB, § 243 Rn. 72; Bosch in Schönke / Schröder, StGB, § 243 Rn. 43.

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sen, selbst im Rahmen einer Parallelwertung in der Laiensphäre90, erweist sich im Falle eines Diebstahls von Buntmetallskulpturen als äußerst schwierig, weil das Kunstwerk, wie dargestellt, als solches für den Metalldieb meist keine Rolle spielt, da es ihm vielmehr auf den Rohstoff ankommt, aus dem die Plastik gefertigt wurde91. Der Ankauf einer gestohlenen Skulptur, also einer durch gegen fremdes Vermögen gerichteten rechtswidrigen Tat erlangten Sache durch einen Dritten, etwa einem Schrotthändler oder Kunstliebhaber, ist als Hehlerei nach § 259 Abs. 1 StGB strafbar.

VII. An Fazits Stelle: Hommage an eine gestohlene Skulptur Die Thematik des Diebstahls von Bronzeskulpturen kann auch eine Inspiration für Künstler darstellen. So war es im Fall der auf dem Gelände des Bundeskriminalamtes in Berlin aufgestellten Bronzeplastik „Pure Moore“. Die Schöpfungsquelle für ihren Künstler Fritz Balthaus war der Diebstahl der über zwei Tonnen wiegenden Skulptur „Reclining Figure“ von Henry Moore Ende 2005 in Hertfordshire in England im Wert von 3 Millionen Pfund Sterling92. Der ganze Vorgang wurde von Kameras aufgenommen: Zunächst kam ein Geländewagen, anschließend ein Lkw mit einem Kran. Die Aktion dauerte nicht länger als zehn Minuten93. Die Täter haben die Skulptur vermutlich eingeschmolzen und verkauften den Rohstoff für ungefähr 1.500 Pfund Sterling94. Die Berliner Skulptur von Balthaus, eine Hommage an die gestohlene Skulptur, besteht aus 221 Bronzebarren, jede von ihnen wiegt 9,5 kg. Das Gesamtgewicht aller Barren beträgt 2,1 Tonnen, also exakt das ursprüngliche Gewicht der englischen Skulptur von Moore95. Die Berliner Plastik hat bis dato noch keinen Dieb gelockt ...

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Schmitz, a.a.O. Vogel in Leipziger Kommentar, StGB, § 243 Rn. 45. Townsend / Davies, Theguardian.com vom 17.05.2009; Mundy: Lost Art: Henry Moore. Herold, Zur Arbeit „Pure Moore“ von Fritz Balthaus im BKA-Dienstsitz BerlinTreptow (auch detailliert zur Entstehungsgeschichte der Plastik). Herold, a.a.O.; Townsend / Davies, Theguardian.com vom 17.05.2009. Herold, a.a.O.

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Hin und zurück* – Die Geschichte der Rückführung der Bibelglasfenster der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder) – Hin und zurück. In diesen drei einfachen Worten ist die Quintessenz der Schicksale kriegsbedingt verloren gegangener Kulturgüter enthalten, die dank der Bemühungen zahlreicher Personen, Institutionen und nicht selten mit einem Quäntchen Glück an ihren Ursprungsort zurückkehrten, mit dem sie unzer-trennlich verbunden waren. Die Bemühungen um die Rückgabe kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter, sog. Beutekunst, erfordern Augenmaß und einen langen Atem, wie es Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin im Zusammenhang mit der Rückgabe der Fenster der St. Marienkirche Frankfurt (Oder), der sog. Bilderbibel durch Russland ausdrückte1. Ich werde Ihnen diesen Fall mit Vergnügen nahebringen, zumal die Marienkirche in unmittelbarer Nachbarschaft des Hauptgebäudes der Europa-Universität Viadrina steht und auch wir ihre imposante Silhouette von den Fenstern unseres Lehrstuhls aus sehen können. Drehen wir ein bisschen am Rad der Geschichte: Die mittelalterliche slawische Siedlung an der Oder erhielt um 1225 das Stapelrecht2 vom schlesischen Herzog, Heinrich I. dem Bärtigen aus der polnischen Piasten-Dynastie. Als die askanischen Markgrafen von Brandenburg die Herrschaft über das Land Lebus übernahmen, wurde Frankfurt (Oder) 1253 vom Markgraf Johann I. das Stadtrecht verliehen, und so begann auch um diese Zeit der Bau der St. Marienkirche, der größten Hallenkirche der Backsteingotik Norddeutschlands3. Mitte des *

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Der Beitrag hat den um Fußnoten erweiterten Vortrag zum Inhalt, den die Autorin am 19. September 2017 in polnischer Sprache unter dem Titel „Tam i z powrotem. Historia restytucji witraży biblijnych z Kościoła Mariackiego we Frankfurcie nad Odrą“ im Rahmen des IV. Nationalen Seminars zum Denkmalschutzrecht (IV Ogólnopolskie Seminarium Prawa Ochrony Zabytków) im Pałac Lubostroń in Zentralpolen gehalten, an dem sich der Lehrstuhl mit einigen Tafeln unserer Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ (in englischer Sprache) beteiligt hat. Kaiser, Das Schicksal, in: Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz, S. 147. Durch das Stapelrecht konnten durchreisende Kaufleute verpflichtet werden, für eine gewisse Zeit ihre Waren am konkreten Ort feilzubieten. Zu der Baugeschichte siehe Schumann, in: Deiters / Kemmether (Hrsg.), Bürger, Pfarrer, Professoren, S. 52 ff.

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14. Jahrhunderts wurde der Hallenumgangschor errichtet und 1367 der Kreuzaltar geweiht4. Um diese Zeit5 entstand der Zyklus der Chorglasfenster, eine Bilderbibel6. Es sind leider bis heute keine Dokumente überliefert, die auf den Autor des Werkes sowie seine Stifter schließen lassen. Bis in das heutige Zeitalter ist ein Bildertryptichon aus 117 Einzelfenstern erhalten geblieben. Jedes einzelne rechteckige Fenster ist ca. 47 x 84 cm groß; jedes Chorhauptfenster ist 11,60 m hoch7. Der erste Bilderzyklus, das sog. Schöpfungs- oder Genesisfenster8, enthält Bibelgeschichten aus dem 1. Buch Mose, angefangen mit Luzifers Höllensturz und der Erschaffung der Welt bis zur Arche Noah. Der zweite, mittlere Zyklus (das sog. Christus- oder Bibelfenster9), bereits im 19. Jahrhundert wegen der Farbzusammenstellung und seiner kunstvollen Ausarbeitung für das schönste der Fenster befunden10, zeigt das Leben Christi, dargestellt auch mit im Zusammenhang stehenden Szenen aus dem Alten Testament (z.B. Mose vor dem brennenden Dornbusch, Geburt Christi und Aarons blütender Stab). Das dritte, rechte Chorhauptfenster ist weltweit einmalig: Es zeigt die Geschichte des Antichrist, des falschen Christus (sog. Antichrist- oder Endzeitfenster11). Forscher gehen davon aus, dass die Bilderbibel ursprünglich umfangreicher war, es ist aber ungewiss, wie viele Fenster sie konkret zählte12. Nach den Überlieferungen aus dem 19. Jahrhundert wurden einzelne Glasmalereifelder aus dem unvollständigen vierten Chorhauptfenster zur Vervollständigung fehlender Teile in den ande-

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Abbildung der Weihurkunde vom 09.04.1367 bei Flügge, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege u.a. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche, S. 75. Nach einer Ansicht waren die Glasfenster zur Einweihung fertig, siehe statt vieler Flügge, a.a.O., S. 77; nach einer anderen Auffassung sind sie erst nach 1373 entstanden, siehe Weber, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 81 ff. Zu den Bildquellen siehe Weber, a.a.O., S. 90 ff.; Vavra, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 75. Meinung, in: Rieger-Jähner (Hrsg.), Das spätgotische Antichristfenster. Eine biblische Botschaft im Zusammenspiel von Glas, Farbe und Licht, 2007, S. 25. Flügge, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege u.a. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche, S. 83. Flügge, a.a.O., S. 80. Spieker, Beschreibung und Geschichte der Marien- oder Oberkirche zu Frankfurt an der Oder, S. 82: „Das mittlere Fenster ist das schönste, theils wegen der frischen Farben, theils wegen der Composition der Bilder. Es enthält meistentheils Darstellungen aus der biblischen Geschichte des neuen Testaments“. Flügge, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege u.a. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche, S. 88. Flügge, a.a.O., S. 114.

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ren drei verwendet13. Dies verwundert nicht: An den zarten Glasscheiben hinterließ der Zahn der Zeit seine Spuren. Über Jahrhunderte war die Bilderbibel ein stiller Begleiter von Gottesdiensten, zunächst katholischen und ab Ende der 1530er Jahre von evangelischen; die Frankfurter Gemeinde bezeichnete sie liebevoll als „Predigt ohne Worte“14. Drehen wir das Rad der Geschichte noch einmal und wechseln in das Jahr 1941, in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Es begann das Unternehmen Barbarossa, also der Angriff des Dritten Reiches auf die Sowjetunion. Zahlreiche deutsche Städte waren damals den Luftangriffen der Alliierten ausgesetzt. So erließ bereits am 5. Oktober 1940 der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung einen Erlass über den Luftschutz von Kulturgütern. Der Provinzialkonservator der Mark Brandenburg wies im Schreiben an die Stadt Frankfurt (Oder) vom 3. Mai 1941 auf die „dringende Notwendigkeit des Schutzes der wertvollen Glasgemälde“ der St. Marienkirche hin und empfahl unter Verweis auf eine entsprechende Praxis der Dome in Westdeutschland zu prüfen, ob eine Möglichkeit der Herausnahme der Fenster bestehe15. Die Bilderbibel16 wurde dementsprechend im September 1941 ausgebaut, die Fenster zerlegt in vier Kisten aufbewahrt, die zunächst in einem Grabgewölbe im Nordturm der St. Marienkirche untergebracht und zu einem späteren Zeitpunkt im Keller des Pfarrhauses gelagert wurden17. Im Jahre 1945, höchstwahrscheinlich im März oder April, wurden die Kisten mit den Bleiglasfenstern auf Anweisung der Dienststelle des Denkmalpflegeamtes in Potsdam zunächst nach Berlin und anschließend in das Neue Palais in Potsdam transportiert, in dem Kunstwerke aufbewahrt wurden18. Sie sollten dann in einer der Bergwerke in Westdeutschland versteckt werden; diese Pläne wurden jedoch durch die Kriegsereignisse konterkariert19. Aus der Zeitperspektive betrachtet bedeutete 13

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Spieker, Beschreibung und Geschichte der Marien- oder Oberkirche zu Frankfurt an der Oder, S. 83: „Früherhin soll die Kirche vier Fenster mit alter Glasmalerei gehabt haben. Da sie aber alle durch Fahrlässigkeit und Sturmwinde sehr gelitten hatten, so wurde das vierte zur Ausbesserung der drei anderen benutzt und durch gewöhnliches Glas ersetzt. Dahin deutete auch die frühere Stellung der Fenster vor der Restauration“. Klemt, Neues Deutschland vom 12.04.2002. Abgedruckt bei Kaiser, Das Schicksal, in: Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz, S. 143. Nicht aber die Ornamentfenster von Karl Friedrich Schinkel aus dem 19. Jahrhundert. Voigt, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 174 f.; Kaiser: Das Schicksal, in: Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz, S. 144. Voigt, a.a.O., S. 175; Kaiser, a.a.O. Voigt, a.a.O.

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die Entscheidung über die Demontage der Bilderbibel und den Abtransport aus Frankfurt (Oder) ihre Rettung – am 16. April 1945 begann der Sturmangriff der Roten Armee auf die Stadt. 93 % des Stadtzentrums wurde infolge von Bombardierungen und Brandstiftungen vernichtet20. Auch die St. Marienkirche fiel dem Brand zum Opfer und wurde in großen Teilen zerstört. Die Bilderbibel wurde in Potsdam durch eine Einheit der 47. Armee entdeckt und zusammen mit anderen Kunstschätzen auf Befehl der Trophäenbrigade Ende Juni 1946 in das Hauptsammellager im Berliner Schlachthof transportiert21. Am 14. August 1946 wurden sie vom Bahnhof Lichtenberg mit dem Zug nach Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, überführt22. Bevor die Bleiglasfenster sechs Tage später in der Stadt an der Newa eintrafen, wurden sie vier Mal umgeladen, was zu erheblichen Beschädigungen führte23. Sie wurden in der Staatlichen Eremitage im Spezialmagazin der Abteilung für westeuropäische Kunst gelagert24. Die Museumsmitarbeiter hielten in einem Protokoll die Beschädigungen fest und bezeichneten die Glasfenster als „grobe deutsche Arbeit“, zu ihrer Herkunft dagegen: „vermutlich alle aus einer Kirche“25. Zum damaligen Zeitpunkt war die konkrete Herkunft der Bleiglasfenster in Leningrad offenbar nicht bekannt. Bereits im Juni 1946 begann die Frankfurter Gemeinde der St. Marienkirche die Suche nach ihrer „Predigt ohne Worte“. Dem Frankfurter Denkmalpfleger gelang es, das Schicksal der Bilderbibel bis zu ihrem Abtransport zu rekonstruieren und korrespondierte mit den Behörden zwecks ihrer Rückführung26. Die Zentralverwaltung für Volksbildung deutete in ihrer abschließenden Antwort vom Juli 1948 zwar an, dass sich der Frankfurter Schatz möglicherweise in der

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Lexikon der Wehrmacht, Stichwort: Garnison Frankfurt an der Oder (http://www.lexi kon-der-wehrmacht.de/Kasernen/Wehrkreis03/KasernenFrankfurt-R.htm); Kaiser: Das Schicksal, in: Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz, S. 144. Akinscha / Koslow / Toussant, Operation Beutekunst, S. 55. Voigt, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 175. Akinscha / Koslow / Toussant: Operation Beutekunst, S. 55. Krylowa, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege u.a. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche, S. 21. Protokoll 1144/SE, Stadt Leningrad, 20.08.1946, S. 11. (Zit. nach Meinung, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege u.a. [Hrsg.], Die Chorfenster der St. Marienkirche, S. 69, und Akinscha / Koslow / Toussant: Operation Beutekunst, S. 55). Voigt, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 175 f.

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Sowjetunion befände, zeigte aber keinen Handlungswillen und suggerierte andere Lösungen27: In jedem Fall kann die Benutzbarkeit der Kirche mit neuen Materialien angestrebt werden, zumal genügend hochqualifizierte Künstler zur Verfügung stehen, die in der Lage sind, gute Lösungen zu erreichen. Ein solcher Weg hätte zudem das Verdienst, aktiv Anteil zu nehmen an der künstlerischen Entwicklung der Gegenwart.

Über die nächsten Jahrzehnte stand die Angelegenheit der Bleiglasfenster aus politischen Gründen nicht auf der Tagesordnung, teilweise geriet sie auch in Vergessenheit, bis sie schließlich als verschollen galten28. In Betracht gezogen wurde sogar der Abriss der Marienkirche, in den 1990er Jahren wurde jedoch ihr Wiederaufbau beschlossen. Die Situation änderte sich diametral nach der Wende. Im April 1991 erschien in der russischen Zeitung „Literaturnaja Gasjeta“ ein Beitrag des Kunsthistorikers Alexej Rastorgujew über „ungewöhnliche Scheiben“ in den geheimen Spezialmagazinen der Eremitage, der die Frankfurter „elektrisierte“29. Der Museumsdirektor Michail Piotrovsky bestätigte diese Information nicht, widersprach ihr aber auch nicht. Kurze Zeit später wurde offiziell bekannt gegeben, dass es sich tatsächlich um die Frankfurter Bilderbibel handele30. So wurde ein langer und langwieriger diplomatischer Weg zwecks ihrer Rückführung beschritten. 1994 wandte sich die deutsche Botschaft in Moskau mit einer Verbalnote an die russische Regierung mit der Bitte um Rückgabe der Glasfenster31. Auch der damalige Frankfurter Oberbürgermeister Wolfgang Pohl schrieb 1996 in dieser Angelegenheit an den russischen Präsidenten Boris Jelzin32. Die Evangelische Gertraud-Marien-Kirchen gemeinde in Frankfurt (Oder) als Eigentümerin der St. Marienkirche und die Stadt agierten Hand in Hand und betonten nicht nur den sakralen Charakter des Kunstwerkes, sondern auch seine herausragende Bedeutung für die Identität der Stadt Frankfurt, die 2003 ihr 750. Gründungsjubiläum feiern sollte; auch der Patriarch von Moskau und ganz Russland der russisch-orthodoxen Kirche, 27 28 29

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Voigt, a.a.O., S. 176. Voigt, a.a.O. So Martin Patzelt, Einführende Worte, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum, Stadt Frankfurt (Oder) und Förderverein St. Marienkirche Frankfurt (Oder) e.V. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2008, S. 9. Siehe auch Kaiser: Das Schicksal, in: Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz, S. 148; Meinung, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege u.a. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche, S. 70. Kaiser, a.a.O. Schoen, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 200. Pohl, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege u.a. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche, S. 13.

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Alexej II., wurde um Unterstützung gebeten33. Eine passende Gelegenheit, das Thema der Bilderbibel mit dem russischen Vizekulturminister Michail Schwydkoj sowie dem russischen Botschafter anzusprechen, ergab sich für die Stadtvertreter auch am Rande der Moskauer und Bonner Konzerte des Brandenburgischen Staatsorchesters Frankfurt (Oder)34. Die offiziellen Verhandlungen mit Russland wurden von dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien geführt35. Als Rechtsgrundlage wurde Art. 56 Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 190736 herangeführt37. Nach Abs. 1 ist das Eigentum der Gemeinden und der dem Gottesdienst, der Wohltätigkeit, dem Unterrichte, der Kunst und der Wissenschaft gewidmeten Anstalten, auch wenn diese dem Staate gehören, als Privateigentum zu behandeln. Abs. 2 regelt, dass jede Beschlagnahme, jede absichtliche Zerstörung oder Beschädigung von derartigen Anlagen, von geschichtlichen Denkmälern oder von Werken der Kunst und Wissenschaft untersagt ist und geahndet werden soll. Als Rechtsgrundlage wurde weiter die sog. Kulturgüterrückführungsklausel in Art. 16 Satz 2 des deutsch-sowjetischen Nachbarschaftsvertrags38 genannt39, nach dem verschollene oder unrechtmäßig verbrachte Kunstschätze, die sich auf ihrem Territorium befinden, an den Eigentümer oder seinen Rechtsnachfolger zurückgegeben werden sollen, sowie Art. 15 des deutschrussischen Kulturabkommens von 199240 mit gleichem Inhalt. 1997 wurde einer Gruppe deutscher Kunsthistoriker offiziell die Genehmigung erteilt, die Bleiglasfenster in der Eremitage in Augenschein zu nehmen41. Ein zeitweises Patt in den Verhandlungen ergab sich, als, vereinfacht dargestellt, das durch die russische Duma sowie den Föderationsrat verabschiedete, durch Präsident

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Pohl, a.a.O. Pohl, a.a.O., S. 13 f. Schoen, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 198. Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18.10.1907, RGBl. 1910, 107 (sog. 4. Haager Konvention). Siehe Schoen, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 199 f. Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der BRD und der UdSSR vom 09.11.1990, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 133 vom 15.11.1990, S. 1379. Schoen, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 199 f. Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Russischen Föderation über kulturelle Zusammenarbeit vom 16.12.1992, BGBl. 1993 II, 1256. Meinung, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege u.a. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche, S. 70.

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Jelzin abgelehnte und anschließend vom russischen Verfassungsgericht42 bestätigte Gesetz der Russischen Föderation über die infolge des zweiten Weltkrieges in die UdSSR verbrachten und im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation befindlichen Kulturgüter vom 15. April 199843 (sog. Beutekunstgesetz) in Kraft trat44. Das Gesetz erklärte in Art. 6 unter anderem deutsche Kulturgüter, die in die Sowjetunion verbracht wurden, zum Eigentum Russlands („Bundeseigentum“) als Entschädigung für eigene kriegsbedingte Kulturgüterverluste („zur Gewährleistung ihres Rechtes auf kompensatorische Restitution“). Das russische Verfassungsgericht bestätigte diese Aussage und betonte, dass „die Verpflichtung der ehemaligen Feindstaaten zur gewöhnlichen und kompensatorischen Restitution von Kulturgütern durch das Prinzip der völkerrechtlichen Haftung eines Aggressorstaates“ bedingt sei45; gleichwohl sei die Rückgabe „entweder im Zuge eines beiderseits vorteilhaften Austauschs im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit auf Grund des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge oder als freundschaftliche Geste Russlands“ möglich46. Deutschland erkennt die oben genannte gesetzliche Regelung nicht an47. Dennoch enthält das Beutekunstgesetz in Art. 8 Unterabsatz 2 eine Passage, die ausgerechnet auf die Frankfurter Bilderbibel Anwendung fand und somit einen Lösungsweg ermöglichte48: Von dem Anwendungsbereich des Gesetzes ausgeschlossen sind unter anderem Kulturgüter, die „Eigentum religiöser Organisationen ... darstellten und ausschließlich zu religiösen ... Zwecken verwandt wurden und nicht den Interessen des ... Militarismus und (oder) des Nationalsozialismus (Faschismus) gedient haben“. Trotzdem erwies sich der Weg als steinig: Mal wurde argumentiert, dass die Bleiglasfenster zu fragil seien, um nach Deutschland transportiert zu werden, mal wurden Beweise verlangt, dass die St. Marienkirche keinen nationalsozialistischen Zwecken diente, und schließlich, dass

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Urteil des Verfassungsgerichts der Russischen Föderation vom 20.07.1999, Beschluss Nr. 12-P. Der amtliche Text ist in der Rossijskaja Gazeta vom 10.08.1999, S. 4 ff. abgedruckt, die Übersetzung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland in AVR 2000, 85 ff. Der amtliche Text ist veröffentlicht in Sobranie zakonodatel stva Rossijskoj Federacii (Gesetzblatt der Russischen Föderation) 1998, Nr. 16, Pos. 1799, S. 3413 ff., die Übersetzung des Gesetzes durch das Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland ist in AVR 2000, 72 ff. abgedruckt. Siehe im Einzelnen Hipp, Schutz von Kulturgütern in Deutschland, S. 118 ff. Verfassungsgericht der Russischen Föderation, AVR 2000, 85 (91). Verfassungsgericht der Russischen Föderation, a.a.O., S. 92. Schoen, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 200 f.; Hipp, Schutz von Kulturgütern in Deutschland, S. 120 f. Schoen, a.a.O., S. 201.

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die Bilderbibel vor Ort in der Eremitage restauriert wird49. Die Methode der kleinen Schritte begann jedoch Wirkung zu zeigen. Bei dem Treffen von Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Präsident Wladimir Putin 2000 übergab der in der Oderstadt geborene und in der Marienkirche getaufte Abt eines niederbayerischen Benediktiner-Klosters einem orthodoxen Bischof die in Russland als wundertätig verehrte Pskower Mariae-Schutz-Ikone („Bogomatjer Pokrowskaja”), die von deutschen Truppen 1944 von Pskow nach Deutschland verbracht wurde50. 2001 erhielt eine Gruppe deutscher Kunstexperten eine Genehmigung, den Zustand der Bilderbibel zu untersuchen51. Schließlich wurde 2002 ein Abkommen zwischen beiden Regierungen über die Rückführung der Bleiglasfenster unterzeichnet52, die am 5. April 2002 von der Duma und anschließend vom Föderationsrat bestätigt wurde53. Es wurde auf Staatsebene mehrfach betont, die Rückgabe beruhe nicht auf einem „Tauschhandel“; Deutschland übergab aber an Russland zur selben Zeit sieben Beutekunst-Gemälde sowie – zu einem späteren Zeitpunkt – eine Replik des Bernsteinzimmers. Deutschland kofinanzierte auch die Sanierung der WalckerOrgel in St. Petersburg sowie den Wiederaufbau der von der Wehrmacht 1941 zerstörten Mariä-Entschlafungskirche in Wolotowo bei Nowogrod54. In der Eremitage wurden 15 einzelne Glasmalereifelder restauriert, die anschließend erstmalig öffentlich im Rahmen einer Ausstellung in der Kirche des Winterpalais in St. Petersburg 2002 gezeigt wurden55. Am 24. Juni 2002 fand schließlich die feierliche Übergabe der Bilderbibel durch den russischen Kulturminister Michail Schwydkoj an den deutschen Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin statt: Beide schoben symbolisch den beladenen LKW mit der fragilen Fracht an56. Fünf Tage später, am 29. Juni 2002, kehrten 111 Glasmalereifelder „nach Hause“ zurück, wo sie feierlich von zahlreichen 49 50

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Schoen, a.a.O. Kaiser, Das Schicksal, in: Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz, S. 150; o.V. (ko/dpa/bas), Die Welt vom 13.07.2001 (mit dem Bemerken, der Moskauer Patriarch Alexej II. habe es anschließend „vergessen“, die Ikone nach Pskow zurückzugeben). Kaiser, a.a.O., S. 149. Schoen, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 197. Kaiser, Das Schicksal, in: Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz, S. 149. Kaiser, a.a.O., S. 149 f.; siehe auch Klemt, Neues Deutschland vom 12.04.2002. Zu der Restaurierung und Ausstellung von 15 Fenstern in der Eremitage siehe Krylowa, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege u.a. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche, S. 21 ff.; dies., in: Der Antichrist. Die Glasmalereien der Marienkirche in Frankfurt (Oder), S. 203 ff. Pohl, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege u.a. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche, S. 15; Kaiser: Das Schicksal, in: Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz, S. 151.

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Frankfurter Bürgern begrüßt wurden57. Es wurde beschlossen, dass sie (mit Ausnahme der bereits in Russland renovierten Fenster) vor Ort, also in der St. Marienkirche, restauriert werden sollen. So wurde im sog. Märtyrerchor eine professionelle Werkstatt errichtet und die Bilderbibel einem Team von zunächst drei Expertinnen anvertraut58. Diese Aufgabe war nicht einfach – die Fenster trugen nicht nur Spuren ihrer jahrhundertealten Geschichte, sondern wiesen auch Beschädigungen aufgrund des Transports in die Sowjetunion auf. Die Gesamtkosten für die Restaurierung wurden auf 2,5 Millionen Euro geschätzt59. Bei der umfangreichen Spendenaktion waren zahlreiche Institutionen und Frankfurter Bürger engagiert. Manche Sammelideen waren äußerst kreativ: So wurden etwa Marienbrötchen, Uhren mit abgebildeten Bleiglasfenstern, und von einem pfiffigen Viadrina-Student sogar symbolisch Betonstücke der alten abgerissenen Oderbrücke für diesen guten Zweck verkauft. Die Sparkasse organisierte zwei Aktionen „Aus 1 mach 3“ und verdreifachte die gesammelten Geldsummen60. Am 29. Juni 2005, zum dritten Jahrestag der Rückkehr der Bilderbibel nach Frankfurt (Oder), wurde der erste restaurierte Fensterzyklus feierlich eingeweiht, zwei Jahre später die anderen beiden. Am 30. Juni 2005 informierte der Kunsthistoriker Andrej Worobjow in der Zeitschrift „Kommersant“, dass sechs bislang fehlende Glasmalereifelder 1946 nach Moskau überführt und anschließend jahrzehntelang in einem Außenlager des Puschkin-Museums im Kloster in Zagorsk gelagert wurden61. Im April 2006 wurde diese Information offiziell bestätigt62. Genauso wie früher im damaligen Leningrad war die genaue Herkunft der restlichen Fenster nicht bekannt, ihre Darstellungen wurden zudem auch unzutreffend gedeutet. So wurde etwa „Die Erschaffung Adams“ als „Die Gottesmutter mit dem Kind“ und „Noah sendet die Taube aus“ als „Die Krieger auf dem Schiff“ interpretiert63. Trotz des anfänglichen Widerstandes des Puschkin-Museums64 wurden 2008 57 58

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Pohl, a.a.O.; Kaiser, a.a.O. Sandra Meinung, Gerlinde Möhrle, Nicole Sterzing, ab 2006 zusätzlich Sandra Williger. Näher Flügge / Meinung, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 182 ff. Kaiser: Spender und Sponsoren in: Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz, S. 196. Siehe Flügge / Meinung, in: Knefelkamp / Martin (Hrsg.), Der Antichrist, S. 183; Kaiser, a.a.O., S. 196 ff. Siehe hierzu Mangelsdorf / Schröder, in: Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz, S. 153; Meinung, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege u.a. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche, S. 74. Meinung, a.a.O. Mangelsdorf / Schröder, in: Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz, S. 153. Zabrzynski, Berliner-Zeitung.de vom 17.10.2009.

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auch diese Fenster nach Frankfurt zurückgegeben. Seit Ende Oktober 2009 schmücken die vollständigen Glasmalereien wieder die St. Marienkirche und laden Besucher von nah und fern zum Innehalten und tiefen Nachsinnen ein. Von einigen wird die Rückführung der „Predigt ohne Worte“ in die Kategorie „Wunder“ eingeordnet, andere sehen sie als Ausdruck historischer Gerechtigkeit. Kenner der Problematik sind sich bewusst, dass das Thema Rückführung von Kulturgütern für Russland ein äußerst heikles Thema darstellt65, sich die Verhandlungen sehr mühsam gestalten und zahlreiche Versuche der Rückführung kriegsbedingt verbrachter Kulturgüter erfolglos geblieben sind66. Trotzdem und vielleicht gerade deshalb ist die Bilderbibel der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder) ein schillernder Beweis dafür, dass scheinbar Unmögliches manchmal doch möglich ist.

Literatur AKINSCHA, KONSTANTIN / KOSLOW, GRIGORI / TOUSSANT, CLEMENS, Operation Beutekunst, 1995. FLÜGGE, MARTINA, Vom Anfang und vom Ende der Welt. Die mittelalterlichen Glasmalereien und die Zeit ihrer Entstehung, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum, Stadt Frankfurt (Oder) und Förderverein St. Marienkirche Frankfurt (Oder) e.V. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2008, S. 75 ff. DIES. / MEINUNG, SANDRA, Zur Geschichte, Rückkehr und Restaurierung der Glasmalereien der St. Marienkirche Frankfurt (Oder), in: U. Knefelkamp / F. Martin (Hrsg.), Der Antichrist. Die Glasmalereien der Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2008, S. 181 ff. HIPP, ANETTE, Schutz von Kulturgütern in Deutschland, 2000.

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Siehe den Artikel des Kulturministers der Russischen Föderation Wladimir Medinski für die Tageszeitung „Rossijskaja Gaseta“ zur Restitution der Kulturgüter in den deutsch-russischen Beziehungen vom 07.02.2019, übersetzt von der Botschaft der Russischen Föderation in Deutschland (https://russische-botschaft.ru/de/2019/ 02/07/artikel-des-kulturministers-der-russischen-foederation-wladimir-medinski-fuer -tageszeitung-rossijskaja-gaseta-zur-restitution-der-kulturgueter-in-den-deutsch-russ ischen-beziehun gen/). Siehe hierzu auch Holm, FAZ.net vom 08.02.2019. Siehe die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der AfD zur Rückführung deutscher Kunstschätze und Kulturgüter aus Polen, Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion vom 02.03.2018, BT-DrS 19/1045 unter Pkt. 1, 12 und 13.

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HOLM, KERSTIN, Beutekunst-Streit mit Moskau. Großzügiges Russland, FAZ.net vom 08.02.2019 (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ russland-erklaert-beutekunst-diskussion-fuer-beendet-16029668.html). KAISER, FRANK, Das Schicksal des gläsernen Schatzes, in: F. Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz. Die Bilderbibel der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2. Aufl., 2007, S. 143 ff. DERS., Spender und Sponsoren in: F. Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz. Die Bilderbibel der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2. Aufl., 2007, S. 196 ff. KLEMT, HENRY-MARTIN, Heimkehr der „Predigt ohne Worte“. Russland gibt Marienkirchen-Fenster von Frankfurt (Oder) zurück, Neues Deutschland vom 12.04.2002. KRYLOWA, ELENA M., Die Restaurierung von 15 Glasmalereifeldern der Marienkirche in der Staatlichen Eremitage, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum, Stadt Frankfurt (Oder) und Förderverein St. Marienkirche Frankfurt (Oder) e.V. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2008, S. 21 ff. DIES., Zur Restaurierung der Buntglasfenstersammlung in der Staatlichen Eremitage, in: U. Knefelkamp / F. Martin (Hrsg.), Der Antichrist. Die Glasmalereien der Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2008, S. 203 ff. MANGELSDORF, FRANK / SCHRÖDER, DIETRICH, Sechs verschollene Fenster, in: F. Mangelsdorf (Hrsg.), Der Gläserne Schatz. Die Bilderbibel der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2. Aufl., 2007, S. 152 ff. MEINUNG, SANDRA, Die Maße der Fenster, in: B. Rieger-Jähner (Hrsg.), Das spätgotische Antichristfenster. Eine biblische Botschaft im Zusammenspiel von Glas, Farbe und Licht, 2007, S. 25. DIES., Die Geschichte der Marienkirchenfenster, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum, Stadt Frankfurt (Oder) und Förderverein St. Marienkirche Frankfurt (Oder) e.V. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2008, S. 69 ff. O.V., (ko/dpa/bas), Maria kam nicht nach Pskow, Die Welt vom 13.07.2001. POHL, WOLFGANG, Die Geschichte der Rückkehr der Marienkirchenfenster, in: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum, Stadt Frankfurt (Oder) und Förderverein St. Marienkirche Frankfurt (Oder) e.V. (Hrsg.), Die Chorfenster der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2008, S. 13 ff.

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SCHOEN, SUSANNE, Die Rückgabe der kriegsbedingt nach Russland verbrachten Fenster der Marienkirche aus politischer Sicht, in: U. Knefelkamp / F. Martin (Hrsg.), Der Antichrist. Die Glasmalereien der Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2008, S. 197 ff. SCHUMANN, DIRK, Die mittelalterliche Baugeschichte der Marienkirche in Frankfurt (Oder), in: M. Deiters / G. Kemmether (Hrsg.), Bürger, Pfarrer, Professoren. St. Marien in Frankfurt (Oder) und die Reformation in Brandenburg, 2017, S. 52 ff. SPIEKER, CHRISTIAN WILHELM, Beschreibung und Geschichte der Marienoder Oberkirche zu Frankfurt an der Oder. Ein Beitrag zur Kirchen- und Reformations-Geschichte der Mark Brandenburg, 1835. VAVRA, ELISABETH, Die Fenster der Marienkirche als kulturelles Erbe. Deutung und Bedeutung heute, in: U. Knefelkamp / F. Martin (Hrsg.), Der Antichrist. Die Glasmalereien der Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2008, S. 71 ff. VOIGT, MARTINA, Die Geschichte der Frankfurter Fenster vom 14. bis zum 20. Jahrhundert nach schriftlichen Quellen, in: U. Knefelkamp / F. Martin (Hrsg.), Der Antichrist. Die Glasmalereien der Marienkirche in Frankfurt (Oder), S. 171 ff. WEBER, ANNETTE, Das Antichristfenster der Marienkirche in Frankfurt (Oder) im kulturhistorischen Kontext, in: U. Knefelkamp / F. Martin (Hrsg.), Der Antichrist. Die Glasmalereien der Marienkirche in Frankfurt (Oder), 2008, S. 80 ff. ZABRZYNSKI, KATHARINA, Die berühmten Fenster der Frankfurter Marienkirche sind ab Sonnabend wieder komplett: Bibel auf Glas, Berliner-Zeitung.de vom 17.10.2009 (http://www.berliner-zeitung.de/die-beruehmten-fenster-der-frankfurt er-marienkirche-sind-ab-sonnabend-wieder-komplett-bibel-auf-glas-15376612).

Uwe Scheffler

Malle Babbe, die Hexe von Haarlem* – An was ein Strafrechtler so bei dem Gemälde des niederländischen Barockmalers Frans Hals denkt – Ohne einen inzwischen 60 Jahre alten „Hollywood-Schinken“ würde ich heute nicht mit einem Vortrag zum Bildnis der „Heks van Haarlem“ vor Ihnen stehen. Es handelt sich um den US-amerikanischen Spielfilm „Lust for Life“ aus dem Jahre 1956, in dem Kirk Douglas Vincent van Gogh darstellte1, wie Frans Hals ein großer niederländischer Maler. Ich hatte diesen Film im Alter von 15 Jahren im Fernsehen gesehen und mich in den mächtigen Pinselstrich vor allem in den Landschaftsbildern dieses großen Wegbereiters der modernen Malerei, so früh und so tragisch verstorben, verliebt. Schon am nächsten Tag kaufte ich damals mein allererstes Kunstbuch mit Gemälden van Goghs von meinem Taschengeld – für 1,95 DM bei „Hertie“ auf dem Wühltisch. Schnell begeisterten mich in der Folgezeit auch die Impressionisten und die Expressionisten, deren Stile van Gogh zeitlich umrahmen; meine kleine Kunstbuchsammlung wuchs stetig. Mit der älteren Malerei allerdings konnte ich, blutjung wie ich war, zunächst nicht so viel anfangen.

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Der Beitrag fußt auf dem mit Fußnoten versehenen, ansonsten weitgehend unveränderten Manuskript des Vortrages des Autors vom 15. April 2016 im Gebäude der Alten Universität in Würzburg während der Veranstaltungswoche „Würzburg liest ein Buch“, in deren Rahmen zunächst die sodann auf den Herbst verschobene Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ geplant war. Der Beitrag wurde erstveröffentlicht in: E. Hilgendorf / D. Osthoff / M. Weis-Dalal (Hrsg.), Vernunft gegen Hexenwahn, Verlag Königshausen & Neumann‚ Würzburg 2017, S. 146 ff. Lust for Life (dt.: Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft) ist ein 1955 gedrehter Spielfilm des US-amerikanischen Regisseurs Vincente Minnelli nach dem gleichnamigen Roman von Irving Stone. Neben Kirk Douglas als Vincent van Gogh spielte dort Anthony Quinn den Maler Paul Gauguin.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-011

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I. Zum Maler – Frans Hals Gleich mein erster Besuch – ich bin in Berlin aufgewachsen – in der dortigen Gemäldegalerie bei den Alten Meistern hatte mich allerdings vor einem Gemälde begeistert einhalten lassen: „Malle Babbe, die Hexe von Haarlem“ von Frans Hals2, dem großen holländischen Porträtmaler des 17. Jahrhunderts, des „Goldenen Zeitalters“ („Gouden Eeuw“) der Niederlande. Was für ein Pinselstrich! Zur Barockzeit, als Frans Hals die „Malle Babbe“ malte, war es üblich gewesen, dass die Maler selbst die damals so beliebten Spitzen an Hauben und Krägen in unendlich vielen präzisen dünnsten Pinselstrichen einzeln malten. Gleich daneben hing damals in der Berliner Gemäldegalerie das „Bildnis der Catharina Hooft mit ihrer Amme“3, auf dem Frans Hals einige Jahre zuvor bewiesen hatte, dass auch er diese filigrane Malerei meisterlich beherrschte. Aber auch so manche weitere Gemälde Frans Hals’ weisen einen schnellen, groben Pinselstrich auf – wenn auch nirgends so ausgeprägt wie bei der „Malle Babbe“: Beispielsweise sein „Zigeunermädchen“4 oder sein „Fischerjunge“5. Man sieht schnell, was das Besondere an diesen Werken ist: Der skizzenhafte Pinselstrich schafft Bewegung, bringt Leben in das Bild. Es wirkt wie ein „Schnappschuss“. Dieses Neuartige in der Maltechnik war wohl nur bei Porträts zu realisieren, die nicht von einem Auftraggeber bestellt waren. Man findet diese Technik Frans Hals’ ausschließlich dann, wenn er gesellschaftlich Randständige sicherlich „umsonst“ malte. Solche Bilder verkaufte er auf offener Straße, in Kneipen und auf Jahrmärkten. Zehn bis zwanzig Gulden bekam Frans Hals, zeitlebens klamm6, für solche schnell hingeworfenen Bilder.

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Frans Hals (* 1580/85; † 1666), Malle Babbe (Heks van Haarlem) (1633/35). Öl auf Leinwand, 75 x 64 cm. Berlin, Gemäldegalerie. Frans Hals, Catharina Hooft en haar min (1619/20). Berlin, Gemäldegalerie. Frans Hals, Zigeunermeisje (um 1626). Paris, Musée du Louvre. Frans Hals, Vissersjongen (1630/32). Dublin, National Gallery of Ireland. Im 17. Jahrhundert entstanden in den Vereinigten Niederlanden zahlreiche Zentren der Malerei – neben Amsterdam etwa Haarlem, Delft, Utrecht, Leiden, Den Haag und Deventer. Bald waren Malerei und Druckgraphik geradezu allgegenwärtig, die Niederlande wurden zu einer riesigen „Kunstfabrik“. Jährlich kamen 70.000 Bilder auf den Markt, wobei 650 bis 700 niederländische Maler gemeinsam mit ihren Schülern nahezu fließbandartig produzierten. Diese Überzahl von Künstlern innerhalb einer regelrechten Bilderindustrie führte zur Entwicklung eines Kunstproletariats. Die Preise der zunächst meist auf offener Straße, auch auf Jahrmärkten, angebotenen

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Frans Hals nahm damit jedoch die Maltechnik der Impressionisten weit über 200 Jahre vorweg, wie beispielsweise Vergleiche mit Porträts Jugendlicher von Renoir7 oder Manet8 verdeutlichen. Mit seiner „Malle Babbe“ wies er aber außerdem sogar schon weiter auf den Protoexpressionismus van Goghs voraus. Van Gogh studierte die Halssche Malweise Ende 1885 in den Amsterdamer und Antwerpener Museen, änderte wohl auch unter diesem Eindruck den Pinselstrich seiner Art zu malen9 und entwickelte sich so zu dem großen Maler, den wir heute im Gedächtnis haben. Besonders im 18. Jahrhundert war Frans Hals allerdings „out“, und zwar gerade wegen dieser spontanen, früher völlig unüblichen Malweise10. Vor allem wirkte nach, dass er in einem großen biographischen Künstler-Kompendium als ein Maler dargestellt worden war, der sich „gewöhnlich jeden Abend volllaufen ließ“11, so dass sein skizzenhafter Stil als schlampige Arbeit eines leichtlebigen Malers interpretiert wurde12. Erst nachdem im 19. Jahrhundert die Impressionisten ihn (wieder-)entdeckten, schätzen wir Frans Hals so, dass wir ihn heute in einem Atemzug mit Rubens, Rembrandt und Vermeer nennen.

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Bilder waren im Allgemeinen sehr niedrig. Viele heute hochgeschätzte Maler mussten ihren Lebensunterhalt anderweitig finanzieren, die wenigsten konnten allein von der Malerei leben. (Wikipedia, Stichwort: Goldenes Zeitalter [Niederlande]). Auguste Renoir (* 1840; † 1926), La bohémienne (En été) (1868). Berlin, Alte Nationalgalerie. Modell für die „Zigeunerin“ auf „Im Sommer“ war Renoirs 20jährige Geliebte Lise Tréhot. Édouard Manet (* 1832; † 1883), Jeunne homme à la poire (1868). Stockholm, Nationalmuseum. Modell für den „Birnenschäler“ war Manets 16-jähriger Patensohn Léon Leenhoff. Näher Jowell, in: Slive (Hrsg), Frans Hals, S. 76 f. Man vergleiche etwa Vincent van Goghs „Kop van een vrouw“ vom März 1885, mit seinem „Kop van een prostituee“ vom Dezember 1885 (beide Amsterdam, Van Gogh Museum). Wobei William Hogarth, Thomas Gainsborough, Francesco Guardi und Honoré Fragonard damals ebenfalls auf vielen Bildern einer Malweise frönten, die man mit „Rokoko-Impressionismus“ bezeichnen könnte. Houbraken, S. 93: „Frans was gemeenlyk allen avond tot de keel toe vol met drank.“ Und weiter: „Seine Schüler hatten jedoch große Achtung vor ihm, und die älteren unter ihnen einigten sich darauf, abwechselnd auf ihn aufzupassen und ihn gegen Abend, besonders, wenn es spät und dunkel wurde, aus dem Wirtshaus abzuholen, damit er nicht ins Wasser falle oder ein anderes Unglück ihm zustoße.“ (Übersetzung bei Slive: Frans Hals, S. 18). Näher Jowell, in: Slive (Hrsg), Frans Hals, S. 62 f.; v. Zitzewitz: Frans Hals – Malle Babbe, S. 5.

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II. Zum Motiv – die „verrückte Barbara“ Schauen wir uns die „Malle Babbe“ genauer an. Bis vor rund 150 Jahren dachte man infolge eines Lesefehlers einer nach dem Tode Franz Hals’ auf einem Teil des inneren Keilrahmens später angebrachten Namensbezeichnung, das Gemälde zeige eine „Hille Bobbe“. Eine Hildegard oder Hiltrud mit dem Nachnamen Bobbe war allerdings nicht bekannt. Die ursprüngliche Deutung des Bildes und die Titulierung „Hexe von Haarlem“ resultierte von den „wilden, tierähnlichen Bewegungen“ und dem „dämonischen Lachen“ der vermeintlichen Frau Bobbe, als ob sie „von mächtigeren, mehr mysteriösen Kräften beherrscht“ würde13. Und in der Tat: Entspricht nicht die „Malle Babbe“ genau unserer Vorstellung, die wir seit den Märchen der Gebrüder Grimm, insbesondere durch „Hänsel und Gretel“ („steinalte Frau, die sich auf eine Krücke stützte“14) von einer Hexe haben? In „Jorinde und Joringel“, einem anderen Grimmschen Märchen, wird die Hexe („Erzzauberin“) so beschrieben15: „... eine alte krumme Frau ..., gelb und mager: große rothe Augen, krumme Nase, die mit der Spitze ans Kinn reichte.“ Als man dann vor knapp 150 Jahren den Lesefehler bemerkte, konnte man die nunmehr entzifferte „Malle Babbe“, auf Deutsch die „verrückte Barbara“, identifizieren. Durch einen Fund im „Gemeentearchief“ Haarlem ist vor einigen Jahren bekannt geworden, dass sie jedenfalls im Jahre 1653 im Arbeitshaus („Werkhuis“) von Haarlem untergebracht gewesen war. Durch diese Information konnte man das Gemälde neu deuten. Denn „Hexen“ wurden damals nicht in ein Arbeitshaus gesteckt. Zunächst: Was ist ein „Arbeitshaus“? Das Arbeitshaus oder Zuchthaus („Tuchthuis“), das sich seit Ende des 16. Jahrhunderts – fast durchweg auf protestantischem Gebiet – in Mitteleuropa verbreitete, wird häufig als Vorform moderner Strafanstalten verstanden. Seine Wiege steht in Holland16: Als erstes entstand das „Rasphuis“ 1595 in Amsterdam, eine Damenabteilung, das „Spinhuis“, folgte zwei Jahre später. Das Haarlemer Werkhuis eröffnete 1609. 13 14 15 16

Slive, Frans Hals, S. 236. Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 84. Brüder Grimm, a.a.O., S. 369. Zumindest gilt dies für Kontinentaleuropa; 1555 war in London im Schloss Bridgewell schon ein „House of correction“ errichtet worden, das allerdings ursprünglich eine Einrichtung der Armenpflege gewesen war und zunächst nur eine lose Verbindung zur Strafrechtspflege hatte.

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Nun waren allerdings Straftäter nur eine von vielen Insassengruppen in diesen Arbeitshäusern. Sie wurden vielmehr bevölkert von allen Außenseitern, die die frühe Neuzeit hervorgebracht hatte: Bettler, Waisenkinder, Dirnen, ehemalige Soldaten, Handwerker ohne Anstellung, Geisteskranke und Trunksüchtige. Das einzig verbindende Element war ihr Arbeitspotential. Und darauf kam es an: Die damals aufkommende auf Überschuss ausgerichtete merkantilistische Wirtschaftspolitik der absolutistischen Staaten hatte großen Bedarf an billigen Arbeitskräften, die bei der neu entstehenden, das mittelalterliche Handwerk ablösenden arbeitsteiligen manufakturellen Produktionsweise besonders für einfache, stereotype Tätigkeiten gebraucht wurden. Nicht zufällig entstanden die ersten Arbeitshäuser im deutschen Raum in den wirtschaftlich blühenden Hansestädten (1609 Bremen, 1613 Lübeck, 1620 Hamburg und 1629 Danzig). Insofern waren die Arbeitshäuser weniger der Beginn des „modernen“ Strafvollzugs17. Diese Interpretation entstand erst später, Ende des 18. Jahrhunderts, als Arbeit als Allheilmittel zur Resozialisierung, die damals noch „Besserung“ hieß, verstanden wurde und Straftäter selbst zu Zeiten der Rezession, in denen ihre Arbeitskraft nicht benötigt wurde, mit sinnlosen Tätigkeiten wie dem vielstündigen quälenden Antreiben von ins Leere laufenden Tretmühlen, zynisch manchmal „dancing academies“ genannt, „gebessert“ werden sollten18. Arbeitshäuser gab es sogar bis weit ins 20. Jahrhundert. In der Bundesrepublik Deutschland stand die Unterbringung im Arbeitshaus als „Maßregel der Sicherung und Besserung“ gegen straffällig gewordene Landstreicher, Bettler, Spie17

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Robert v. Hippel (* 1866; † 1951), der wohl bedeutendste Kriminalwissenschaftler auf den Gebieten der Strafrechtsgeschichte und des Strafvollzugs zur Zeit der Weimarer Republik, sah in der Amsterdamer Anstalt erstmals die moderne Freiheitsstrafe verwirklicht. Hier habe ein grundlegender Wandel im gesamten Strafvollzug begonnen. (v. Hippel, in: Bumke [Hrsg.], Deutsches Gefängniswesen, S. 10; ähnlich Eb. Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, §§ 176–182; s. aber auch § 183). Der aus Ipswich stammende englische Ingenieur William Cubitt entwickelte die Tretmühle im Jahr 1818. Sie wurde in England in 54 Anstalten installiert. (Nutz: Strafanstalt als Besserungsmaschine, S. 148). Auf eine Publikation in der Zeitschrift Criminalistische Beyträge im Jahre 1825 hin übernahmen deutsche Anstalten dieses System. (Nutz, a.a.O., S. 149 f.). Anfangs hatte man die Tretmühle noch zum Antrieb von Wasserpumpen und Getreidemühlen eingesetzt. Bald jedoch dienten sie nur dem Betrieb von Windsegeln, die sich auf dem Dach der Trethäuser befanden und die Nutzlosigkeit der Gefangenenarbeit zum Ausdruck brachten. (Nutz, a.a.O., S. 151). „Die Tretmühle bot die Möglichkeit, Arbeit in konzentrierter Form, gleich, exakt meßbar und zeitlich reguliert auszuüben. Sie war damit der perfekte Übungsapparat zur Gewöhnung an die Arbeit an sich.“ (Nutz, a.a.O., S. 150).

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ler, Trinker, Müßiggänger, Prostituierte und Arbeitsscheue (siehe §§ 42d, 361 a.F. StGB) noch bis 1969 im Strafgesetzbuch. Mit diesem Vorwissen hat man die „Malle Babbe“ dann nicht mehr als Hexe betrachtet. Denn, wie schon erwähnt, Hexen wurden nicht ins Arbeitshaus gesperrt. Nunmehr wurde das Augenmerk darauf gelegt, dass sie von Frans Hals ja nicht wie eine Märchenhexe mit einem Raben auf der Schulter abgebildet worden ist, sondern mit einer Eule. Erst seitdem fällt auch der riesige Bierkrug mehr auf, den die „verrückte Barbara“ in der Hand hält. War sie etwa eine Trunksüchtige? „So betrunken wie eine Eule“ ist eine alte niederländische Redensart19. Allegorische Darstellungen waren damals nicht unüblich. Und das Gesicht und das Lachen der „Malle Babbe“ auf dem Gemälde könnten jedenfalls deutlich vom Alkohol geprägt sein. Franz Hals hat schließlich auch sonst nicht nur angetrunkene „feine Leute“, sondern auch betrunkene Säufer gemalt20. Seit 2013 bietet sich nun aber noch eine weitere Interpretation an: Es wurde bekannt, dass „Malle Babbe“ aufgrund von Dokumenten, die man im Haarlemer „Noord-Hollands Archief“ fand, als Barbara Claes identifiziert werden konnte, die im Haarlemer Arbeitshaus seit 1646 eingeschlossen war und dort 1663 starb. Sie war geistig zurückgeblieben und litt vermutlich an Kretinismus, einer durch Jodmangel bedingten schweren hormonellen Schilddrüsen-Erkrankung21. Da diese Krankheit unter anderem schwere Deformationen der Physiognomie und Störungen in der grob- und feinmotorischen Koordination bewirken kann, stellt sich das „Hexenhafte“ der „Malle Babbe“ nochmals unter einem anderen Blickwinkel dar – besonders, wenn man eine Darstellung der „Malle Babbe“ mit in Betracht zieht, die vermutlich durch einen Schüler von Frans Hals ge-

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„Zo zat als een uil“ oder „Zo beschonken als een uil“. Siehe etwa Frans Hals, De vrolijke drinker (Der fröhliche Trinker) (1628/30). Amsterdam, Rijksmuseum; Peeckelhaering („Hanswurst“) (1628/30). Kassel, Staatliche Kunstsammlungen. Wird die Erkrankung nicht erkannt und behandelt, zeigt sich ab dem zweiten bis dritten Lebensmonat eine Verzögerung des Wachstums. Die Minderung der Intelligenz nimmt ebenfalls zu, je später die Behandlung einsetzt. Andere Langzeitfolgen sind Störungen in der grob- und feinmotorischen Koordination, Gleichgewichtsstörungen (Ataxien), Muskelschwäche und Spastizität, Sprachstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen und Schielen. (Wikipedia, Stichwort: Angeborene Hypothyreose).

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malt wurde, und deutlich ein von Kretinismus gezeichnetes Gesicht zeigen dürfte22. Auch das Lachen muss nicht als „dämonisch“ oder betrunken klassifiziert werden, sondern kann durchaus als Zeichen psychischer Erkrankung gedeutet werden23 – und nannte man sie damals nicht die „ʻverrückte Barbaraʼ“? „Am Lachen erkennt man den Narren“, lautete eine niederländische Redensart des 17. Jahrhunderts24. Die Eule – eigentlich Symbol der Weisheit – war in der altniederländischen Malerei auch Sinnbild für Torheit, Narrheit, Dummheit25 – und zwar, weil sie als Nachtvogel in „geistiger Blindheit“ die Dunkelheit dem Licht vorzieht26. Aus dem Umkreis des um 1500 wirkenden niederländischen Malers Hieronymus Bosch gibt es eine Federzeichnung, die unter acht „verrückt“ agierenden Frauen eine zeigt, die auf einer hölzernen Schaufel wie auf einem Hexenbesen reitet und einen Bratrost in der Hand hält. Auf ihrer „Besenschaufel“ sitzt eine Eule27. Frans Hals’ Lehrer, Karel van Mander, zeichnete sogar einen Narren mit Eule28. Die „Malle Babbe“ – Hexe, Trinkerin oder Verrückte?

III. Zum Gemälde – „Malle Babbe, die Hexe von Haarlem“ Verlassen wir die alte Frau und wenden wir uns dem Gemälde selbst zu. Schnell fällt auf, dass die „Malle Babbe“ von Frans Hals nicht signiert ist. Keinerlei Hinweis findet sich auf der Leinwand auf den Urheber. 22 23 24 25

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Umfeld von Frans Hals, Dolle vrouw met kruik (Verrückte Frau mit Krug). Privatbesitz. Siehe v. Zitzewitz, Frans Hals – Malle Babbe, S. 10. „An’t lachen kendmen den zot“; näher v. Zitzewitz, a.a.O. Siehe etwa bei Hieronymus Bosch (* um 1450; † 1516), De uil en de dansers (Die Eulentänzer) auf der Mitteltafel von De tuin der lusten (Der Garten der Lüste) (um 1500). Madrid, Museo del Prado. „Die Eule kann in christlichen Bildern nicht im antik-mythologischen Sinn als Symbol der Weisheit interpretiert werden. Bosch hat die Eule in vielen Bildern untergebracht, er setzt sie dabei manchmal in den Kontext zu Personen, die sich heimtückisch verhalten oder einer Todsünde verfallen sind. Deshalb wird vielfach angenommen, dass sie als Nachttier und Raubvogel für das Böse steht und Torheit, geistige Blindheit und die Unbarmherzigkeit alles Irdischen versinnbildlicht.“ (Wikipedia, Stichwort: Hieronymus Bosch). Umfeld von Hieronymus Bosch, Acht heksen (1500/25). Paris, Musée du Louvre. Karel van Mander (* 1548; † 1606), Elk meent zijn uil een valk te zijn (Der Narr mit der Eule um 1590/94). Amsterdam, Rijksmuseum.

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Der Strafrechtler merkt hier sofort auf: Gemälde ohne Signatur kann man nämlich nicht „fälschen“! Gemeint ist, dass es im deutschen Strafgesetzbuch zwar einen Tatbestand der Geldfälschung (§ 146 StGB), aber keinen der Kunstfälschung gibt. Natürlich wird sich derjenige wegen Betruges strafbar machen, der gefälschte Kunstwerke als echt (überteuert) verkauft. Aber hebt die Polizei beispielsweise eine Fälscherwerkstatt rechtzeitig aus, so vermisst man eine eindeutige Strafrechtsnorm, um den Fälscher zu bestrafen und die Fälschungen als Gegenstand einer Straftat einziehen zu können (§ 74 StGB). Die Rechtsprechung hilft sich hier mit einem Straftatbestand, dessen Anwendbarkeit dem Laien – und auch manchem angehenden Juristen – kaum einleuchtet: Es liege Urkundenfälschung vor! Nach § 267 StGB macht sich wegen Urkundenfälschung strafbar, „wer zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte Urkunde herstellt, eine echte Urkunde verfälscht oder eine unechte oder verfälschte Urkunde gebraucht“. Kaum ein Begriff des Strafrechts ist so verquer und kompliziert und – vor allem – vom Alltagsverständnis abgehoben wie der der Urkunde29. Ersparen wir uns Einzelheiten: Für Juristen ist ein signiertes Gemälde letzten Endes eine Urkunde! Schon das Leipziger Reichsgericht erklärte 1900, dafür, dass ein mit einer Signatur versehenes Gemälde eine Urkunde darstelle, sei entscheidend, dass der Künstler mit dieser Maßregel ... einzig und allein bezwecken [kann], ein sichtbares Zeichen dafür zu geben, daß das Gemälde von seiner ... Hand herrühre, daß er es für vollendet und verkehrsreif gelten lassen wolle, und daß er es als seine Schöpfung gegenüber der Öffentlichkeit anerkennen und vertreten werde30.

Anerkannt ist, dass es dabei nicht auf die eigenhändige Ausstellung ankommen kann. Sonst würde ich ein Urkundendelikt begehen, wenn ich einen „Schein“ für meine Studenten unterschreibe, den meine Sekretärin vorbereitet hat: Nach der sog. Geistigkeitstheorie oder materiellen Urheberlehre ... kommt es ... bei der Frage des Ausstellers nicht auf den Schreiber, sondern auf den Erklärer an. ... bei Auseinanderfallen zwischen geistiger Urheberschaft und körperlicher Herstellung [ist] Aussteller diejenige Person, die als Garant hinter der urkundlichen Erklärung steht31.

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„Eine Urkunde ist jede verkörperte menschliche Gedankenerklärung, die allgemein oder für Eingeweihte verständlich, zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt ist und ihren Aussteller erkennen lässt.“ (Weidemann in BeckOK, StGB, § 267 Rn. 3 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). RGSt 34, 53 (54). BayObLGSt 1980, 153 (156).

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Diese Auslegung führt nun aber im Bereich der Bildenden Kunst zu merkwürdigen Ergebnissen: Danach hätte auch ein talentfreier Schüler von Frans Hals, der die „Malle Babbe“ mit seinem eigenen Namen signiert hätte, vielleicht um damit bei den hollands meisjes anzugeben oder um in einer anderen Künstlerwerkstatt anzuheuern, das Gemälde so erst zu einer Urkunde gemacht – und zwar zu „seiner“ eigenen, einer „echten“ Urkunde32. Das freilich ist nicht passiert. Geschehen ist aber das Umgekehrte: Es gibt zumindest drei „Malle Babbes“, unter die ein anderer Maler die Signatur von Frans Hals gesetzt hat. – Drei Urkundenfälschungen? Schauen wir als Erstes auf die „Malle Babbe“ des großen französischen Realisten Gustave Courbet33. Er erstellte im Jahr 1869 eine Kopie der „Malle Babbe“, als er das Gemälde in München sah, wo es erstmals öffentlich ausgestellt war. Er signierte „seine“ „Malle Babbe“ sowohl links unten mit seinem eigenen Namenszug sowie auch mit dem Signaturkürzel „FH“ von Frans Hals’ an der rechten Seite. Dadurch hat Courbet alles richtig gemacht: Hätte er nur die „erfundene“ Signatur von Frans Hals hinzugefügt, hätte er den Anschein erweckt, als ob Frans Hals das Bild „unterschrieben“ hätte und so fälschlich suggeriert, dass Hals der „Schöpfer“ dieser zweiten „Malle Babbe“ sei, und damit eine „unechte Urkunde“ hergestellt. So aber gab sich Courbet selbst als „Aussteller“ der Urkunde zu erkennen. Diese Technik des „doppelten“ Signierens ist heute nicht gänzlich ungewöhnlich. Konrad Kujau, der Fälscher der Hitler-Tagebücher, machte seinen zweifelhaften Ruhm zu Geld, indem er in Baden-Württemberg ein Museum mit seinen eigenen Gemäldefälschungen – darunter Gemälde im Stil von van Gogh – eröffnete, die übrigens teuer gehandelt wurden. Alle erhielten, wenn auch relativ klein, zusätzlich die Signatur Kujaus; zumeist, ähnlich wie bei Courbets „Malle Babbe“, auf der der falschen Signatur gegenüberliegenden Seite. Kriminell wurde es erst, als nach dem Tod Kujaus eine Verwandte neue „Kujaus“ mit einer nicht vom Meisterfälscher stammenden Kujau-Signatur verscherbel-

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Freilich hätte er sich nach § 107 Abs. 1 Nr. 1 UrhG strafbar gemacht: „Wer ... auf dem Original eines Werkes der bildenden Künste die Urheberbezeichnung ... ohne Einwilligung des Urhebers anbringt oder ein derart bezeichnetes Original verbreitet, ... wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist“. Gustave Courbet (* 1819; † 1877), Malle Babbe (1869). Hamburg, Kunsthalle.

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te, also falsche „falsche Kujaus“ herstellte. Zwei Jahre Bewährungsstrafe gab es dafür. Eine andere „Malle Babbe“ stammt von einem wohl noch berühmteren Kunstfälscher, nämlich dem Niederländer Han van Meegeren34. Van Meegeren wurde als Fälscher von Bildern des holländischen Barockmalers Jan Vermeer bekannt, vor allem, weil es ihm gelang, einen gefälschten Vermeer Hitlers Generalfeldmarschall Hermann Göring teuer anzudrehen35; später wollten ihn die Niederländer deshalb als Verkäufer nationalen Kulturgutes schwer bestrafen, und van Meegeren hatte größte Mühe, das Gericht davon zu überzeugen, dass „sein“ Vermeer nicht echt ist36. Van Meegeren ging ähnlich vor wie der vor einigen Jahren in Deutschland zu zweifelhaftem Ruhm gekommene Fälscher Wolfgang Beltracchi37: Er studierte das Werk eines Malers, eignete sich seinen Stil an und malte dann ein neues Motiv, aber ein solches, wie es auch der gefälschte Maler durchaus hätte malen können. Van Meegeren signierte das Bild rechts unten mit dem Monogramm Frans Hals’. Also in der Tat – endlich! – eine „unechte Urkunde“! – Nun setzt der Tatbestand der Urkundenfälschung aber zusätzlich voraus, dass der Maler beabsichtigte, damit „im Rechtsverkehr zu täuschen“, also insbesondere das Werk zu verkaufen. Dies ist nun allerdings ziemlich fraglich. Das Gemälde gehört zu den frühesten Fälschungen van Meegerens, die er allesamt nicht veräußert hat. Vieles spricht deshalb dafür, dass es sich bei seiner „Malle Babbe“ um ein „Probebild“ han34 35 36

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Han van Meegeren (* 1889; † 1947), Malle Babbe (1935/36). Amsterdam, Rijksmuseum. Han van Meegeren, Jezus in gesprek met de schriftgeleerden (Jesus im Gespräch mit den Schriftgelehrten). Ferreirastown/Johannesburg, St. Albanʼs Church. Die spektakuläre Transaktion kam nach Kriegsende ans Licht. Van Meegeren wurde wegen Kollaboration – Verkauf nationalen Kunstbesitzes an eine feindliche Macht – festgenommen. Ihm drohte die Todesstrafe. Am 12. Juli 1945 legte er deshalb ein Geständnis ab: „Das in Görings Hände gelangte Gemälde ist nicht, wie Sie annehmen, ein Vermeer, sondern ein van Meegeren! Ich habe das Bild gemalt!“ Weil die Strafverfolgungsbehörden ihm nicht glaubten, fertigte van Meegeren in der Untersuchungshaft – versehen mit den nötigen Materialien – in wenigen Wochen „Jesus unter den Schriftgelehrten“ wiederum im Stile Vermeers an. Daraufhin untersuchten vier Gerichtexperten mehrere „wiederentdeckte“ Vermeers und stellten fest, dass sie tatsächlich Fälschungen waren. Am 12. November 1947 wurde van Meegeren durch das Amsterdamer Landgericht wegen Kunstfälschung und Betrugs zur Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. Siehe zu ihm Melz: Talent schützt vor Strafe nicht – Aus dem Atelier eines Meisterfälschers (in diesem Band).

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delte. Man bedenke, dass ein perfekt gefälschtes Bild auch richtig alt erscheinen muss; van Meegeren buk seine Fälschungen etwa im Ofen bei 100 bis 120 Grad38. Insoweit müssen wir van Meegeren also freisprechen. Im Zweifel für den Angeklagten! Kommen wir zum letzten Gemälde: Es gibt in New York eine weitere „Malle Babbe“. Der Künstler dieses Bildes ist unbekannt, bis etwa 1880 wurde es sogar als Gemälde von Frans Hals betrachtet39. Man kann allerdings sehen, dass es nicht die Qualität der „richtigen“ „Malle Babbe“ erreicht40. Signiert ist das Bild mit „FH“, wodurch sich die frühere Zuordnung zu Frans Hals erklären lässt. Die Forschung hält dieses Gemälde für kaum jünger und vermutet den Maler im direkten Umfeld von Frans Hals. Viel spricht also dafür, dass einer seiner Schüler dieses Bild gemalt hat, vielleicht sogar im Einvernehmen mit Frans Hals, der möglicherweise auch die Signierung mit seinen Initialen billigte. Um das zu verstehen, muss man sich kurz klarmachen, dass damals Malerei ein Handwerk war. Maler arbeiteten in Werkstätten, umgeben von, modern gesprochen, „Gesellen“ und „Lehrlingen“. Wie heute in einem bodenständigen Handwerksbetrieb entstanden viele Werke gemeinsam. Frans Hals’ flämischer Zeitgenosse Peter Paul Rubens, damals der „Fürst der Malerei“, hatte in seiner 38

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Nicht überzeugend ist es für mich allerdings, van Meegerens „Malle Babbe“ als Probebild im Hinblick auf die Malqualität einzustufen. Man vergleiche das Bild einmal genau mit dem Kopierversuch des großen französischen Realisten Georges Courbet, erst recht mit der sogleich zu besprechenden „New Yorker Malle Babbe“. Courbet gelang es in seinem „Kräftemessen“ (v. Zitzewitz: Frans Hals – Malle Babbe, S. 8) mit Frans Hals nicht ansatzweise, die beeindruckende Lebendigkeit des Gesichtsausdrucks der Halsschen „Malle Babbe“ wiederzugeben. (Siehe auch Slive: Frans Hals, S. 236: „enttäuschende Qualität“). Van Meegeren vollbrachte es dagegen, mit dem Gesichtsausdruck des Vorbildes virtuos zu spielen: Er gab dem Gesicht der „Malle Babbe“, so finde ich, eine ähnliche Lebendigkeit wie Frans Hals, aber er kopierte die Mimik nicht, er kreierte einen neuen, einen ähnlichen Gesichtsausdruck, so dass man sicher glaubt, tatsächlich habe der gleiche Maler dieselbe Frau zweimal porträtiert. Wenn man van Meegerens „Malle Babbe“ studiert, kann man meines Erachtens verstehen, wie es dem Fälscher gelingen konnte, nicht nur den vielleicht tumben Göring hereinzulegen, sondern die gesamte niederländische Kunstwissenschaft zu blamieren. (Dezidiert anderer Ansicht insoweit allerdings der USamerikanische Kunsthistoriker Seymour Slive [* 1920; † 2014], ein ausgewiesener Hals-Experte [Slive, a.a.O., S. 239]: „[wäre] nicht als echt absetzbar gewesen ... es gibt nicht die geringste Spur der psychologisch durchdringenden Erfassung“). Umfeld von Frans Hals, Malle Babbe (2. Viertel des 17. Jh.). New York, Metropolitan Museum of Art. Siehe dazu Slive, Frans Hals, S. 238.

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großen Werkstatt Spezialisten für jedes Detail eines Gemäldes. So manche seiner Bilder sind arbeitsteilige Gemeinschaftswerke41; der Anteil Rubens’ bestimmte den Preis. Vor allem in seinen letzten Lebensjahren, geplagt von schweren Gichtanfällen, entwarf Rubens oft nur noch die Komposition des Bildes, überwachte die Arbeit seiner Mitarbeiter und führte das Werk dann allenfalls zu Ende. Rubens unterschied zwischen „ganz eigenhändig“, „teilweise eigenhändig“ und „von der Werkstatt ausgeführt“. Aus Sicht eines Strafrechtlers wird es dann interessant, wenn sich die Tätigkeit des „Chefs“ nur noch aufs Signieren beschränkt, er also das Gemälde eines Schülers aufwerten will oder auch nur seine eigenen Aufgaben delegieren möchte. Auch heute noch, obwohl die Malerei den Sprung vom Handwerk zur Kunst geschafft hat, gibt es dafür zahlreiche aktuelle Beispiele. Der Engländer Damien Hirst, der wohl gerne ein Malerfürst der Gegenwart wäre, lässt inzwischen seine zahlreichen teuer gehandelten, immer größeren „Spot Paintings“ ausschließlich von Assistenten „punkten“. Nun ist so eine „Stellvertretung“ im Urkundenstrafrecht grundsätzlich kein Problem. Ich hatte es schon angesprochen. Aber es geht noch weiter. So darf etwa meine Sekretärin den von ihr gefertigten „Schein“ mir nicht nur zur Unterschrift hinlegen, sondern, wenn ich sie entsprechend beauftragt habe, auch noch mit meinem Unterschriftenstempel signieren – oder sogar selbst handschriftlich mit „Uwe Scheffler“ zeichnen. Es bleibt „meine“ Urkunde. Aber in der Bildenden Kunst löst sich so das Verständnis von Kunst als einer individuellen, höchstpersönlichen Leistung auf: Das ist vor Kurzem diskutiert worden in dem Fall des deutschen Malers und Grafikers Jörg Immendorff, der in den letzten Jahren vor seinem Tod 2007 krankheitsbedingt seine Arme und Hände nicht mehr bewegen konnte, aber weiter Bilder schuf, indem er seinen Assistenten beschrieb, wie neue Werke auszusehen haben, und die dann die allein von ihrer Hand geschaffenen Werke selbst mit einem Unterschriftenstempel mit seinem Namen versahen – „echte“ Urkunden. Aber wirklich auch „echte“ Immendorffs?

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Siehe beispielsweise Peter Paul Rubens (* 1577; † 1640) / Frans Snyders (* 1579; † 1657) (Stillleben mit Affen) / Jan Wildens (* 1585/86; † 1653) (Landschaft): Cimon en Iphigenia (um 1617). Wien, Kunsthistorisches Museum.

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IV. Zum Schluss – „Hexen“ in Haarlem und Würzburg Ich komme zum Ende und zu „Malle Babbe“ zurück. Unsere „Heks van Haarlem“ hatte Glück gehabt. Sie wurde nicht verbrannt. In den protestantischen nördlichen Niederlanden42 soll es nur rund 150 Todesopfer der Hexenprozesse gegeben haben, das vermutlich letzte Urteil wurde 1608 vollstreckt43. Offenbar ist unsere kranke, trunksüchtige „Malle Babbe“ steinalt geworden, denn sie hat noch nach Frans Hals’ Bildnis rund 30 Jahre im Haarlemer „Werkhuis“ gelebt. Nun waren die Zustände in den Arbeitshäusern nach heutigen Maßstäben katastrophal44; die Engländer sprechen noch heute von „thin as workhouse gruel“, wenn wir „dünn wie Wassersuppe“ sagen. Aber sie überlebte. Hier in Würzburg fanden, so liest man45, die Hexenprozesse unter Fürstbischof Philipp Adolph von Ehrenburg in den Jahren zwischen 1626 und 1631, also kurz bevor Frans Hals die „Malle Babbe“ malte, ihren Höhepunkt während des Dreißigjährigen Krieges. Im Würzburger Stiftsgebiet sollen unter der Anklage der „Hexerei“ in dieser Zeit über 900 Personen verbrannt worden sein. – Was wäre wohl hier mit der „verrückten Barbara“ geschehen“? Aber das war nicht mein Thema. Mein Thema war: „An was ein Strafrechtler so bei dem Gemälde des niederländischen Barockmalers Frans Hals denkt“ – und das wissen Sie nun!

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Die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen, auch bekannt als Vereinigte Niederlande bzw. Republik der Vereinigten Niederlande (niederländisch Republiek der Zeven Verenigde Provinciën oder Verenigde Nederlanden) oder als Generalstaaten, war ein frühneuzeitliches Staatswesen auf dem Gebiet der nördlichen Niederlande und ein Vorläufer des heutigen niederländischen Staates. Die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen ging 1581 aus der Rebellion der habsburgischen Niederlande gegen Philipp II. von Spanien hervor und erkämpfte sich im Achtzigjährigen Krieg (mit Pausen bis 1648) ihre vollständige Unabhängigkeit von den spanischen Habsburgern. Die Republik, eigentlich ein eher loses, wenn auch dauerhaftes Bündnis von mehr oder weniger eigenständigen Kleinstaaten, bestand als eine der wenigen und bekanntesten Republiken der Frühen Neuzeit bis zum Jahr 1795, als die alte Republik im Zuge des französischen Revolutionsexports durch die neue Batavische Republik ersetzt wurde. (Wikipedia, Stichwort: Republik der Sieben Vereinigten Provinzen). Aescht, „Nachtridders“, S. 6. Siehe dazu Engels, in: Marx / Engels, Werke, Bd. 2, S. 496 ff. Etwa bei Grießhammer, Angeklagt – gemartert – verbrannt, 2013.

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Literatur AESCHT, PETRA, „Nachtridders“. Die Hexendarstellungen des Jacques de Gheyn II., 2003. BECK’SCHER ONLINE-KOMMENTAR ZUM STRAFGESETZBUCH. Stand: 42. Edition 2019. BRÜDER GRIMM (JACOB chen, 7. Aufl. 1857.

UND

WILHELM GRIMM), Kinder- und Hausmär-

ENGELS, FRIEDRICH, Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1844/45), in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 2, 1957, S. 225 ff. GRIEßHAMMER, BIRKE, Angeklagt – gemartert – verbrannt: Die Opfer der Hexenverfolgung in Franken, 2013. HIPPEL, ROBERT V., Die geschichtliche Entwicklung der Freiheitstrafe, in: E. Bumke (Hrsg.), Deutsches Gefängniswesen, 1928, S. 1 ff. HOUBRAKEN, ARNOLD, De groote schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, eerste deel, tweede druk, 1753. JOWELL, FRANCES S., Die Wiederentdeckung des Frans Hals im 19. Jahrhundert, in: S. Slive (Hrsg.), Frans Hals, 1989, S. 61 ff. LEIPZIGER KOMMENTAR ZUM STRAFGESETZBUCH. 12. Auflage 2006 ff. NUTZ, THOMAS, Strafanstalt als Besserungsmaschine – Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775–1848, 2001. SCHMIDT, EBERHARD, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage 1965. SLIVE, SEYMOR, Frans Hals, 1989. ZITZEWITZ, JUTTA V., Frans Hals – Malle Babbe, 2001.

Joanna Melz

Talent schützt vor Strafe nicht – Aus dem Atelier eines Meisterfälschers* Ich werde Ihnen die Geschichte einer Straftat nahebringen, die in der Presse als „Fukushima des Kunstmarktes“1 bezeichnet wurde. Die Kunst tritt dort gewissermaßen in der Rolle des Opfers auf. Alles begann mit einem farbenfrohen Gemälde. Es heißt „Rotes Bild mit Pferden“ und wurde 2006 im Kunsthaus Lempertz, einer Kölner Galerie, als verschollenes Werk von Heinrich Campendonk, einem rheinischen Expressionisten, für knapp drei Millionen Euro verkauft2 und in der Presse als „Schlüsselwerk der Moderne“ gefeiert3. Der letzte Vermerk zu dem Kunstwerk stammte aus dem Jahre 1920 aus einem Katalog der Galerie Alfred Flechtheim, eines namhaften Kunstsammlers, jedoch ohne Abbildung, Maße, Signatur und Aufbewahrungsort. Ungewöhnlich war, dass das Gemälde ohne eine Echtheitsexpertise verkauft wurde. Ohne eine solche ist ein Bild für den Kunstmarkt so gut wie wertlos. Die Kölner Galerie beteuerte, der Enkel des Künstlers habe die Echtheit des Bildes bestätigt – es solle die Lebensfreude des frisch vermählten Großvaters ausdrücken. Nur war der Enkel kein Kunsthistoriker, sondern Maschinenbau-

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Zu der Thematik hat die Autorin anlässlich der Eröffnungen der Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ Vorträge an Universitäten in Deutschland, Österreich, Polen („Fałszerstwo dzieł sztuki z perspektywy prawa niemieckiego. Jak pewien fałszerz i jego żona wodzili za nos rynek sztuki“) und der Türkei („Yetenek Cezadan Korumaz – Bir Usta Sahtekârın Atölyesinden“) mehrere Vorträge in deutscher sowie polnischer Sprache gehalten. Eine Fassung des Beitrages in polnischer Sprache ist in dem an den Universitäten Olsztyn und Tarnopol (Ukraine) erstellten und von Mieczysław Różański, Serhiy Banakh und Oksana Koval herausgegebenen Sammelband „Guarantees and Protection of Fundamental Human Rights as the Integral Element of Integration of Ukraine on the EU“, Olsztyn 2019, S. 211 ff. mit Abstracts in englischer und ukrainischer Sprache veröffentlicht. Der Beitrag ist auf Deutsch und Türkisch in der Zeitschrift Rechtsbrücke / Hukuk Körpüsü Nr. 20, Juni 2021 erschienen. Maak, FAZ.net vom 27.10.2011. Der Preis: 2,4 Millionen Euro, 480.000 Euro Aufpreis; siehe Koldehoff / Timm, Falsche Bilder, S.13 f. Vgl. Zeitz, FAZ.net vom 03.09.2010.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-012

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ingenieur4. Die auf das Werk von Campendonk spezialisierte Expertin zögerte zunächst mit ihrem Urteil zu der Authentizität des Gemäldes, bejahte sie aber schließlich5. Dennoch wurde das Gemälde auf Wunsch der genannten Expertin sowie der Käuferin, einer Malteser Firma, nachträglich zwei unabhängigen chemischen Expertisen in München und Oxford unterzogen6. Auf dem Bild wurden Spuren von Titanweiß entdeckt, eines Pigments, das erst ab den 1930er Jahren industriell hergestellt wurde. Das bedeutete, dass das Bild nicht von Campendonk, jedenfalls nicht aus dem Jahre 1914 stammen konnte und somit eine Fälschung war. An dieser Stelle möchte ich Ihnen die Rechtslage in Deutschland kurz skizzieren: Eine spezielle Rechtsnorm, die Kunstfälschung unter Strafe stellt, kennt das deutsche Strafgesetzbuch nicht. Die Kunstfälschung wird jedoch von der Rechtsprechung schon seit Ende des 19. Jahrhunderts als Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB angesehen7. Danach macht sich strafbar, wer zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte Urkunde herstellt, eine echte Urkunde verfälscht oder eine unechte oder verfälschte Urkunde gebraucht.

Der Tatbestand dieser Norm ist jedoch nicht bereits mit dem Anfertigen eines Bildes erfüllt, sondern erst mit dem Anbringen oder Verfälschen einer Signatur des Künstlers8. Denn erst ein signiertes Bild wird zu einer Urkunde. Genauer gesagt, handelt es sich um eine sogenannte zusammengesetzte Urkunde, bei der die Urkunde (Signatur) mit einem Augenscheinsobjekt (Bild) zum Nachweis der Authentizität räumlich fest verbunden ist9. Dabei macht es juristisch keinen Unterschied, ob ein bestehendes Kunstwerk zur Täuschung im Rechtsverkehr kopiert oder ein Werk im Stil eines bekannten Künstlers mit gefälschter Signatur hergestellt wird10. Wer ein gefälschtes Gemälde in der Absicht rechtswidriger Bereicherung in Verkehr bringt, dabei dem Kontrahenten seine Echtheit vortäuscht und den Preis wie für ein Original erlangt, macht sich wegen Betruges nach § 263 Abs. 1 StGB strafbar11. Darüber hinaus wird die Kunstfälschung durch das Urheberrecht geahndet, diese Vorschriften sind 4 5 6 7 8 9 10 11

Koldehoff / Timm, Falsche Bilder, S. 24. Koldehoff / Timm, a.a.O., S. 20; 23; 25. Siehe hierzu Koldehoff / Timm, a.a.O., S. 20; 21 ff. RGSt 34, 53; 56, 357; 76, 28. RGSt 34, 53 f.; 56, 357 f.; Würtenberger, Der Kampf gegen das Kunstfälschertum, S. 106; a.A. Sandmann, Die Strafbarkeit der Kunstfälschung, S. 38; 41. Sandmann, a.a.O., S. 39; v. Selle / v. Selle, Kultur & Recht, Teil 1, S. 15. Siehe auch RGSt 56, 357 (358). Jacobs, GRUR 2013, 9; Anton, jM 2014, 178. RGSt 34, 53; 76, 28 (29).

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jedoch in der Praxis von geringer Bedeutung und in manchen Fällen gegenüber den genannten Normen des StGB subsidiär12. Kommen wir aber zurück zu unserem Fall: Die Käuferin erstattete Strafanzeige. Es stellte sich heraus, dass auch die Aufkleber auf der Rückseite des Bildes gefälscht waren13. Darüber hinaus wurde ein Aufkleber mit einem Porträt des Galeristen Alfred Flechtheim verwendet, der in dieser Form früher nie existierte14. In der Zwischenzeit wurden weitere Gemälde mit verfälschten Aufklebern aus der Sammlung Flechtheim entdeckt; so wurde der Schluss gezogen, dass, wenn die Etiketten falsch seien, müssten auch die Bilder gefälscht sein15. Das war ein Volltreffer. Wie kam es dazu, dass das Gemälde in der Kölner Galerie auftauchte? Die Quelle hieß Helene Beltracchi. Sie stellte sich als Erbin einer Sammlung ihres Großvaters, Werner Jägers, vor, wobei der Großvater zwar echt war, die Sammlung aber fiktiv. Frau Beltracchi verkaufte bereits seit 1993 gefälschte Bilder französischer und deutscher Expressionisten16, zumeist ausgestattet mit Echtheitszertifikaten von Kunstexperten, die die vorgelegten Bilder tatsächlich für authentisch hielten. Nachlässigerweise wurde dieses Mal in Köln eine solche Expertise nicht vor dem Verkauf vorgelegt und das Bild ausnahmsweise von der Schwester von Helene Beltracchi eingeliefert17. Die Strafverfolgungsbehörden kannten Helene Beltracchi, wussten jedoch bis 2010 nicht, woher die Bilder tatsächlich stammten. In einem abgehörten Telefongespräch fiel zum ersten Mal der Name ihres Ehemannes, Wolfgang Beltracchis. Wolfgang Beltracchi wies

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Hierzu näher Sandmann, Die Strafbarkeit der Kunstfälschung, S. 112 f. Hierzu im Einzelnen Koldehoff / Timm, Falsche Bilder, S. 33 ff. Das Porträt Alfred Flechtheims auf dem Aufkleber sieht einem 1919 von Heinrich Nauen gemalten Porträt täuschend ähnlich aus, das sich in den Sammlungen des Düsseldorfer Kunstmuseums im Ehrenhof befindet. Zu dem Effekt, der entsteht, wenn man den Aufkleber und das genannte Gemälde übereinanderlegt, siehe die Abbildung bei Keazor, Henry / Öcal, Tina (Hrsg.), Der Fall Beltracchi und die Folgen, 2014, S. 215. Beltracchi selbst behauptete, er habe den Aufkleber nach einem Porträt Flechtheims von Maria Nauen nachempfunden, Koldehoff / Timm, a.a.O., S. 195. So Ralph Jentsch, Forscher und Experte zu der Sammlung Flechtheim; siehe Koldehoff / Timm, a.a.O., S. 36. Z.B. Christie’s in London, Cazeau-Béraudière in Paris; siehe Meinhof, SZ.de vom 10.09.2010. Siehe hierzu Beltracchi / Beltracchi, Selbstporträt, S. 505 f. Nach Angaben der Beltracchis sollte in diesem Fall der Chef des Kunsthauses Lempertz eine entsprechende Expertise einholen, Gorris / Röbel, Der Spiegel 10/2012.

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seinen Sohn in einem Telefonat an, den Laptop mit entlarvenden Fotos der Fälschungen wegzuwerfen18. Ein paar Worte über den spiritus rector. Wolfgang Beltracchi, Jahrgang 1951, ist ein ungewöhnliches Naturtalent. Sein Vater war Kunstrestaurator, der junge Wolfgang half ihm bei den Arbeiten und bereits als 14-Jähriger schuf er eine verbesserte Version eines Picassos der Blauen Periode19. Sein Kunststudium brach er vorzeitig ab und begann sein Berufsleben mit der Restaurierung und dem Handel mit Kunstwerken20. Ende der 1970er Jahre stellte er jedoch fest, dass Kunstfälschen viel lukrativer ist21. Er führte ein buntes Hippieleben – Sex, Drugs and Rock & Roll – nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Niederlanden, Spanien und Marokko22. Mit der Veräußerung der Bilder befasste sich ein Bekannter, Beltracchi blieb immer im Hintergrund23. Als er Anfang der 1990er Jahre seine Ehefrau Helene kennlernte, war Schluss mit Drugs and Rock & Roll und es begann ein Luxusleben auf einem Landgut in Südfrankreich, finanziert aus Erlösen immer teurer verkaufter Fälschungen24. 2011 fand der Strafprozess gegen die Eheleute Beltracchi und ihre zwei Komplizen25 vor dem Kölner Landgericht statt. Prozessgegenstand waren letztlich nur 14 Bilder26 von über 50, die Gegenstände des Ermittlungsver-fahrens waren, unter anderem Bilder von Kees van Dongen27, Max Ernst28 und Max Pechstein29. Von einem gefälschten Bild von Max Ernst30 soll dessen Ehefrau gesagt haben, dies sei der schönste Ernst, den sie je gesehen habe31. Der Verkauf dieser 14 Bilder erbrachte den Beltracchis 16 Millionen Euro. Die Akten füllten mehrere tausend Seiten, es war geplant, über 100 Zeugen zu verneh18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Zum Inhalt der Gespräche siehe Koldehoff / Timm, Falsche Bilder, S. 83 f.; 85 f. Siehe hierzu Beltracchi / Beltracchi, Selbstporträt, S. 41 f. Siehe hierzu Beltracchi / Beltracchi, a.a.O., S. 80 f. Angefangen hat er mit Winterlandschaften, auf denen er Schlittschuhläufer hinzumalte, Beltracchi / Beltracchi, a.a.O., S. 94 f. Siehe hierzu Beltracchi / Beltracchi, a.a.O., S. 43 f.; 66 f.; 145 f. Siehe hierzu Beltracchi / Beltracchi, a.a.O., S. 204 f. Siehe hierzu Beltracchi / Beltracchi, a.a.O., S. 261 f. Otto Schulte-Kellinghaus, der die Werke des Fälschers bereits seit den 1980er Jahren verkauft hatte, und Jeannette Spurzem, die Schwester von Helene Beltracchi. Aufgelistet bei Koldehoff / Timm, Falsche Bilder, S. 245 ff. Akt mit Hut. La Mer; La Horde; Vögel; Vögel im Winterlandschaft; La Forêt II. Liegender Akt mit Katze; Seine mit Brücke und Frachtkähnen. La Forêt II. Gorris / Röbel, Der Spiegel 10/2012.

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men, unter anderem den Schauspieler Steve Martin, der auch auf einen falschen Campendonk hereingefallen war32. Der Prozess endete jedoch bereits nach 9 Tagen mit einer Verständigung im Strafverfahren33. Das Ehepaar hatte sich umfangreich geständig eingelassen gegen eine relativ niedrige Freiheitsstrafe von 6 Jahren (Wolfgang) und 4 Jahren (Helene) wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs und gewerbsmäßiger Urkunden-fälschung34. Der Fälscher sagte, es habe ihm mächtig Spaß gemacht, die Sammler, die bereit waren, Millionen für seine Werke auszugeben, und die Kunstexperten hinters Licht zu führen35. Dies sei „absurd einfach“ gewesen, sagte Helene Beltracchi36. Die Fälschung „Rotes Bild mit Pferden“ sei nur deshalb als solche entlarvt worden, weil der Autor eine fertige Tubenfarbe verwendete, von der er nicht wusste, dass sie Titanweiß enthalte, statt wie immer die Farben selbst zu mischen37. Beltracchi verriet auch einige Geheimnisse seiner Herangehensweise38: Er versetzte sich gewissermaßen in die persönliche Welt des konkreten Künstlers und überlegte, welche Bilder in seinem Œuvre fehlen. Er reiste zu Orten, wo die Maler geschaffen hatten, und verinnerlichte die Atmosphäre ihrer Werke. Bis zur Perfektion habe er die Maltechnik eines jeden Künstlers beherrscht, ihre „Handschrift“, wie er sie selber bezeichnete39. Er besaß auch eine umfangreiche Bibliothek mit Katalogen und Fachliteratur, kaufte alte Bilderrahmen und Leinwände auf und buk seine Bilder in einem Ofen. Die Technik, Bilder in einem Ofen altern zu lassen, wurde übrigens auch von Han van Meegeren, dem genialen Fälscher aus den Niederlanden angewandt, der sich auf die Erstellung von neuentdeckten Vermeers spezialisierte. Einer dieser Fälschungen 32 33 34 35 36 37 38 39

Koldehoff / Timm, Falsche Bilder, S. 183 f.; Sack / Braun / Treisch, Bild.de vom 31.08.2011. Siehe § 257c StPO. LG Köln, Urteil vom 27.10.2011, 117 Js 407/10 (unveröffentlicht); Essig / Schury, Schlimme Finger, S. 272 f. Koldehoff / Timm, Falsche Bilder, S. 196. Maak, FAZ.net vom 30.09.2011. Gorris / Röbel, Der Spiegel 10/2012. Zu der Entstehungsgeschichte des Bildes im Einzelnen siehe Beltracchi / Beltracchi, Selbstporträt, S. 499 f. Siehe Koldehoff / Timm, Falsche Bilder, S. 192 f. Z.B. Radiointerview mit Helene und Wolfgang Beltracchi in SRF 3 vom 18.01.2016 (http://srf.ch/sendungen/focus/faelscher-wolfgang-beltracchi-ich-bin-ein-bisschen-an archist). „Wenn ein Maler damals zwei, drei Stunden für eine kleine Leinwand brauchte, dann darf man selbst nicht schon in einer Stunde oder erst in vier Stunden fertig werden. Dann stimmt der Duktus irgendwie nicht.“ (Wolfgang Beltracchi in Gorris / Röbel, Der Spiegel 10/2012).

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ist sogar Hermann Göring auf den Leim gegangen – von „Christus und der Ehebrecherin“ ist die Rede40. Aber kommen wir zurück zu Beltracchi. Falsche Etiketten stellte er mit selbstgemachten Linoleumstempeln her und tunkte sie anschließend in Tee bzw. Kaffee, um den Effekt „alten Papiers“ zu erzeugen. Jedem Bild wurde eine eigene Provenienz unterlegt. Damit die Experten keine Zweifel an der Existenz der erdachten Sammlung Jägers schöpften, erstellte er mit einer alten Originalkamera eine inszenierte Serie von „alten“ schwarz-weiß Fotos zusammen mit seiner Frau, die als ihre eigene Großmutter Modell stand – feine Dame mit Perlenkette und hochgesteckter Frisur, im Hintergrund hingen die vermeintlichen Bilder aus der Sammlung. Die gefälschten Gemälde waren zur Zeit der Entstehung der Fotos längst verkauft, an der Wand hingen großformatige eingerahmte Fotos dieser Bilder41. Der Prozess verhalf dem Fälscher und seiner Frau zu enormer Popularität, die bis heute andauert. Die Beltracchis geben gerne Interviews in der Presse und treten in TV-Talkshows auf. 2014 entstand ein amüsanter Dokumentarfilm über das Werk des Fälschers mit dem Titel „Beltracchi – Die Kunst der Fälschung“ (Regie: Arne Birkenstock – Der Sohn seines Verteidigers). Der Fernsehsender 3sat produzierte eine preisgekrönte Dokuserie, in der Beltracchi einer Reihe deutscher Stars porträtierte. Der Fälscher gab seine Autobiografie42 und eine Sammlung von Liebesbriefen heraus, die er und seine Frau in der Untersuchungshaft wechselten43. Auf Grundlage dieser Briefwechsel wird zurzeit an einem Bühnenstück gearbeitet. In einem aktuellen Interview äußerten sich die Beltracchis44: „Wir wollen noch das ultimative Gesetz brechen, dass ein Fälscher niemals zum Künstler wird.“ Er arbeitet hart daran: Vor kurzem noch verbannt von der Kunstwelt, darf Beltracchi jetzt seine Werke ausstellen, für die es inzwischen auch einen Markt gibt. Sie kosten bis zu 150.000 Euro45, es gebe zurzeit etwa 100 Beltracchi-Sammler46. Sein aktuelles Projekt ist eine internationale Ausstellung, in deren Rahmen Beltracchi 23 relevante, aber nie gemalte Augenblicke aus 2.000 Jahren Kunstgeschichte in der Handschrift verschiedener Meister präsentiert, von römischen Freskenmalern, über Botticelli bis hin zu Max Ernst. Die Ausstellung heißt „KAIROS. 40 41 42 43 44 45 46

Siehe hierzu etwa Dolnick, Der Nazi und der Kunstfälscher, S. 82 f.; 165 f. Gorris / Röbel, Der Spiegel 10/2012. Beltracchi / Beltracchi, Selbstporträt. Beltracchi / Beltracchi, Einschluss mit Engeln. Albrecht / Schulz, Bilanz.ch vom 10.01.2018. Gigor, 20min.ch vom 27.11.2017. Siehe NWZonline.de vom 16.06.2016 (https://www.nwzonline.de/kultur/neue-schauvon_a_31,0,1434913799.html).

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Der richtige Moment“47. Vielleicht ist das für den Ex-Fälscher der richtige Moment, von der Kunstwelt wegen seines Talents beachtet zu werden?

Literatur ALBRECHT, PHILIPP / SCHULZ, DIRK, Meisterfälscher Wolfgang Beltracchi: „Ich bin einfach der Beste“, Bilanz.ch vom 10.01.2018 (https://www.bilanz. ch/people/kunst-meisterfalscher-wolfgang-beltracchi-ich-bin-einfach-der-beste). ANTON, MICHAEL, „Echte Kunstfälschungen“, juris – Die Monatszeitschrift 2014, S. 178 ff. BELTRACCHI, HELENE / BELTRACCHI, WOLFGANG, Einschluss mit Engeln: Gefängnisbriefe vom 31.08.2010 bis 27.10.2011, 2014. DIES., Selbstporträt, 2014. DOLNICK, EDWARD, Der Nazi und der Kunstfälscher. Die wahre Geschichte über Vermeer, Göring und den größten Kunstbetrug des 20. Jahrhunderts, 2014. ESSIG, ROLF-BERNHARD / SCHURY, GUDRUN, Schlimme Finger. Eine Kriminalgeschichte der Künste von Villon bis Beltracchi, 2015. GIGOR, DANIELA, Meisterfälscher hat sich in Meggen niedergelassen, 20min.ch vom 27.11.2017 (https://www.20min.ch/schweiz/zentralschweiz/ story/Meisterfaelscher-hat-sich-in-Meggen-niedergelassen-26577190). GORRIS, LOTHAR / RÖBEL, SVEN, Geständnis eines ewigen Hippies (Interview mit H. und W. Beltracchi), Der Spiegel 10/2012. JACOBS, RAINER, Kunstfälschungen, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 2013, S. 8 ff. KOLDEHOFF, STEFAN / TIMM, TOBIAS, Falsche Bilder. Echtes Geld. Der Fälschercoup des Jahrhunderts – und wer alles daran verdiente, 3. Aufl. 2012. MAAK, NIKLAS, Alles war absurd einfach, FAZ.net vom 30.09.2011 (http: //www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/kunstfaelscher-prozess-alles-war-absurd -einfach-11411088.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2).

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Stationen, Venedig (Biblioteca Nazionale Marciana, 05.10.–03.11.2018), Hamburg (Barlach Halle K, 20.11.–13.01.2019), Wien (Bank Austria Kunstforum, 04.09.– 21.09.2019); weitere Ausstellungsorte in Planung. Zu den Einzelheiten siehe die Ausstellungsankündigung unter https://kairos-exhibition.art.

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DERS., Das Schicksal korrigieren. Kunstfälscher-Prozess, FAZ.net vom 27.10.2011 (http://www.faz.net/aktuell/kunstfaelscher-prozess-das-schicksal-k orrigieren-11508538.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2). MEINHOF, RENATE, Das kann doch nicht teurer Ernst sein, SZ.de vom 10.09.2010 (http://www.sueddeutsche.de/kultur/faelschungen-in-der-kunstszen e-das-kann-doch-nicht-teurer-ernst-sein-1.998049). SACK, BENJAMIN / BRAUN, PETRA / TREISCH, SABRINA, Der größte Kunstfälscher-Prozess aller Zeiten ... und US-Star Steve Martin ist als Zeuge geladen, Bild.de vom 31.08.2011 (https://www.bild.de/regional/koeln/faelschung/groess ter-prozess-aller-zeiten-19684846.bild.html). SANDMANN, MELANIE, Die Strafbarkeit der Kunstfälschung, 2014. SELLE, CLAUDIA V. / SELLE, DIRK V., Illegaler Kunsthandel, in: Kultur und Recht, Teil 1 (K-L 3.7) und 2 (K-L 3.8), 2008. WÜRTENBERGER, THOMAS, Der Kampf gegen das Kunstfälschertum in der deutschen und schweizerischen Strafrechtspflege, 1951. ZEITZ, LISA, Das Titanweiß verrät den Fälscher, FAZ.net vom 03.09.2010 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/faelschungsskandal-das-titanweiss -verraet-den-faelscher-1576399.html).

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„#MeToo“ und Kunstzensur* Ich möchte mich eng an mein Thema „ʻ#MeTooʼ und Kunstzensur“ halten. Kein Gegenstand soll hier also die „#MeToo“-Debatte an sich sein. Denn dafür gibt es Beschlagenere als mich. Nur so viel: Als Strafrechtler und Kriminologe würde ich in einer solchen Diskussion darauf hinweisen, dass die Weite des Spektrums dessen, das unter diesem Schlagwort „#MeToo“ zusammengefasst wird, nämlich das Spektrum von krimineller Vergewaltigung bis zu lästiger Anbaggerei, für eine juristische Aufarbeitung hinderlich ist1. Man sollte nicht schlimme Sexualstraftaten in einem Hotelzimmer mit tölpelhaftem „Rumgebrüderle“ an einer Hotelbar2 in einen Topf werfen. *

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Der Beitrag ist aus dem erheblich erweiterten und mit zahlreichen Fußnoten ergänzten Manuskript eines Vortrages hervorgegangen, den der Autor am 10. Juli 2018 im Rahmen eines Streitgesprächs zu diesem Thema am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld anlässlich der Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ gehalten hat. Der Charakter als Statement in einer Pro- und Kontra-Diskussion wurde beibehalten. Der – zumal für einen Vortrag – ungewöhnlich ausladende Fußnotenapparat erklärt sich (vor allem) mit den möglicherweise schnell aus der Erinnerung geratenen zahlreichen zeithistorischen Bezügen, die in einem Vortragstext selbst nur angetippt werden können, sowie daraus, dass (Zeitungs-)Artikel mit tagespolitischem Inhalt oftmals nicht zeitlich unbegrenzt im Internet auffindbar sind und deshalb hier des Öfteren ausführlicher wiedergegeben werden. Siehe dazu Millet / Caven / Deneuve u.a, Le Monde vom 09.01.2018: „Le viol est un crime. Mais la drague insistante ou maladroite n’est pas un délit, ni la galanterie une agression machiste.“ („Die Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber die Anmache oder das Anbaggern, das insistiert oder ungeschickt ist, ist kein Delikt wie auch die Galanterie keine machistische Aggression ist.“). Ende Januar 2013 warf die Journalistin Laura Himmelreich (* 1983) in einem im Magazin „Stern“ (5/2013) erschienenen Artikel („Der Herrenwitz“) dem FDP-Politiker Rainer Brüderle (* 1945) vor, ihr gut ein Jahr zuvor zu nahe getreten zu sein. Journalisten und Politiker hätten am Vorabend des traditionellen Stuttgarter Dreikönigstreffens der FDP (wie nicht unüblich vor solchen Veranstaltungen) an der Bar des Hotels Maritim zusammengestanden. Die Journalistin schrieb detailliert von unangemessenen Bemerkungen Brüderles, zudem soll der damalige FDP-Fraktionschef ihr gegenüber nicht die gebotene Distanz gewahrt haben.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-013

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Natürlich würde ich auch darauf aufmerksam machen, dass das öffentliche Beschuldigen von „Promis“ in den Sozialen Netzwerken und vor der teils sehr aggressiven Medienöffentlichkeit auf bloße Behauptungen hin rechtsstaatlich höchst bedenklich ist. „Edeka“ – Ende der Karriere. Die berufliche Todesstrafe3. Man muss hier bei der erstmaligen „Enthüllung“ gar lange zurückliegender Vorfälle auf „Facebook“ oder einer Illustrierten weder auf die im strafrechtlichen Bereich bestehende vielzitierte Unschuldsvermutung noch auf die Verjährung hindeuten. Für die Anzeige von Straftaten gibt es Polizei und Staatsanwaltschaft; zur Sanktionierung rüden oder tolpatschigen Verhaltens haben nicht die (Sozialen) Medien als Pranger verwendet zu werden. Ich veröffentliche es auch nicht auf „Twitter“ oder in einem Uni-Magazin, wenn ein Student mich tölpel- oder flegelhaft oder gar massiv um eine bessere Benotung angeht. Ist es wirklich zu heftig, ist der Uni-Präsident und notfalls die Justiz die richtige Adresse. Dieses „Outing“ entspricht auch nicht der Idee von Alyssa Milano, der Schauspielerin, die im Oktober 2017 auf „Twitter“ die „#MeToo“-Welle auslöste und dort lediglich aufrief4: „Wenn du sexuell belästigt oder angegriffen wurdest, 3

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Siehe dazu Millet / Caven / Deneuve u.a., Le Monde vom 09.01.2018: „De fait, #metoo a entraîné dans la presse et sur les réseaux sociaux une campagne de délations et de mises en accusation publiques d’individus qui, sans qu’on leur laisse la possibilité ni de répondre ni de se défendre, ont été mis exactement sur le même plan que des agresseurs sexuels. Cette justice expéditive a déjà ses victimes, des hommes sanctionnés dans l’exercice de leur métier, contraints à la démission, etc., alors qu’ils n’ont eu pour seul tort que d’avoir touché un genou, tenté de voler un baiser, parlé de choses ʻintimesʼ lors d’un dîner professionnel ou d’avoir envoyé des messages à connotation sexuelle à une femme chez qui l’attirance n’était pas réciproque.“ („Tatsächlich hat #metoo zu einer Kampagne in der Presse und in den sozialen Medien geführt, in der öffentliche Beschuldigungen und Anklagen gegen Personen erhoben werden, die, ohne die Möglichkeit zu haben, zu reagieren oder sich zu verteidigen, in die gleiche Kategorie wie Sexualstraftäter gestellt werden. Diese summarische Justiz hat bereits ihre Opfer gehabt: Männer, die am Arbeitsplatz diszipliniert wurden, zum Rücktritt gezwungen wurden und so weiter, deren einziges Verbrechen darin bestand, das Knie einer Frau zu berühren, einen Kuss zu stehlen, über ʻintimeʼ Dinge während eines Arbeitsessens zu sprechen, oder sexuell anzügliche Nachrichten an Frauen, die ihre Zuneigung nicht erwiderten, zu senden.“). Tweet von Alyssa Milano („Who’s the Boss?“) vom 15.10.2017 (https://twitter.com/ Alyssa_Milano/status/919659438700670976/photo/1): „If you’ve been sexually hara-ssed or assaulted write ʻme tooʼ as a reply to this tweet.“ Die „#MeToo“-Bewegung wurde schon vor über zehn Jahren von der afroamerikanischen Aktivistin Tarana Burke angestoßen. Sie zeigte sich im Februar 2018 enttäuscht darüber, wie sich die Debatte entwickelt hatte, und stellte klar, was #MeToo nicht sein solle: „Es geht definitiv nicht darum, mächtige Männer abzuschießen. … Als Alyssa Milano mit #MeToo eine Lawine lostrat, verband sie anfangs damit keine Forderung – außer, Menschen dazu zu ermutigen, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Die

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schreibe ʻMe tooʼ als Antwort auf diesen Tweet“ – woran sich zunächst auch viele hielten und nur diese zwei Worte posteten5. Und ich würde noch etwas vor Augen führen: Es ist offenbar wenig bekannt, dass das deutsche Strafrecht jedermann sehr weit vor „Übler Nachrede“ schützt: § 186 StGB besagt nämlich, dass dann, wenn eine ehrabschneidende Behauptung „nichterweislich wahr ist“, der Behauptende bestraft wird6. „In dubio contra reum“, könnte man sagen7. Konkret: Wenn beispielsweise der Regisseur Dieter Wedel die Schauspielerinnen, die ihm Schlimmes vorwerfen8, bei der Staatsanwaltschaft anzeigen würde9, hätten diese ein echtes Problem: Ihre Anschuldi-

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Frauen versuchten einfach, einen Raum zu finden, in dem sie ihre Wahrheit aussprechen konnten. Sie versuchten, gehört zu werden und hofften, dass ihnen geglaubt wird.“ (Burke, zit. nach Haas, SZ-Magazin 10/2018). Beispielsweise die neuseeländische Oscarpreisträgerin Anna Paquin („Das Piano“) nach sechs Minuten: „Me too“ (https://twitter.com/AnnaPaquin/status/919661 07515015987 2), nach 30 Minuten die US-amerikanische Schauspielerin Debra Messing („Will & Grace“): „Me too“ (https://twitter.com/debramessing/status/9196685 78357452800?lang =de) und auch am gleichen Tag noch Lili Reinhart, ebenfalls USamerikanische Schauspielerin („Riverdale“): „Me too“ (https://twitter.com/lilirein hart/status/919812853992865793?lang=de) – und keine Silbe mehr. § 186 StGB: „Wer in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ „Zwar hat das Gericht gem. § 244 Abs. 2 StPO von Amts wegen darüber Beweis zu erheben, ob die behauptete oder verbreitete Tatsache wahr ist … Zweifel wirken sich insoweit aber – in Umkehrung des Satzes in dubio pro reo – zulasten des Täters aus, der demnach gem. § 186 auch dann bestraft werden kann, wenn offen bleibt, ob die behauptete Tatsache wahr ist.“ (Schneider in Dölling / Duttge / König / Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 186 StGB Rn. 13). Dem deutschen Regisseur und Drehbuchautoren Dieter Wedel („Der große Bellheim“ / „Der Schattenmann“ / „Der König von St. Pauli“) warfen in einem Artikel des „Zeitmagazin“ vom 03.01.2018 (Simon / Wahba, Zeitmagazin 2/2018) mehrere Schauspielerinnen sowie ehemalige Mitarbeiter gewalttätige und sexuelle Übergriffe vor, die er in den 1990er Jahren begangen haben soll, und gaben dazu entsprechende Eidesstattliche Versicherungen ab. Zumindest zunächst mag Wedel so etwas erwogen haben: „Mein Mandant wird sich gegen diese Veröffentlichung mit allen juristisch zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr setzen“, wurde sein Rechtsanwalt Michael Philippi in der Tagesschau vom 03.01.2018 zitiert. Wenige Wochen später, wohl nach einer erlittenen Herzattacke, erklärte Wedel, in einem „Klima der Vorverurteilung, der sogenannten ‘Verdachtsberichterstattungʼ“ könne er den „Kampf gegen meine Reputation nicht gewinnen – weder mit juristischen Mitteln noch mit medialen Stellungnahmen“, zumal die Anfeindungen „ein für meine Gesundheit und natürlich auch für meine Familie erträgliches Maß weit überschritten“ hätten (zit. nach o.V., Zeit online vom 23.01.2018).

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gungen müssen sich spätestens, wenn sie als Angeklagte vor Gericht stehen, beweisen lassen10 – ansonsten werden sie selbst bestraft11! Und es gibt im deutschen Strafrecht etwas dem (nicht nur) für das Internet bekannten „Recht auf Vergessenwerden“12 Verwandtes: Selbst eine bewiesene ehrenrührige Tatsache darf, das ergibt sich aus § 192 StGB13, vor allem nach längerem Zeitablauf nur dann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, wenn das Opfer in seiner konkreten Position die öffentliche Erörterung gerade dieser Tatsache dulden muss, weil ein Zusammenhang zwischen beiden besteht14.

Ob das beispielsweise bei dem späten Outing des Dirndl-Spruchs des ehemaligen Politikers Brüderle im „Stern“15 einschlägig war, lässt sich durchaus bezweifeln16. Gegeben wäre dann eine strafbare (Formal-)Beleidigung gemäß 10

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„Nach den schweren Vorwürfen gegen Dieter Wedel haben deutsche Produktionsfirmen und Sender damit begonnen, ihre vergangene Zusammenarbeit mit dem deutschen Regisseur zu untersuchen. Das Filmstudio Bavaria, das … drei von Wedels bekanntesten TV-Filmen produzierte, legt nun die Ergebnisse seiner internen Untersuchung vor: Das Rechercheteam kommt zu dem Schluss, ‘dass die in der Presse erhobenen Anschuldigungen des sexuellen Missbrauchs durch Dieter Wedel bei den genannten Produktionen nicht belegt werden können.ʼ … Schon im Februar hatte das ZDF seine Untersuchungen im Fall Wedel abgeschlossen. Der Sender gab an, dass ihm keine Hinweise zu möglichen sexuellen Übergriffen des Regisseurs vorliegen.“ (O.V., SZ.de vom 29.03.2018). Es mag in einem solchen Strafverfahren vielleicht aber auch ein Absehen von der Verfolgung unter einer (Geld-)Auflage gemäß § 153a StPO denkbar sein – solange das Gericht nicht gar noch zu der Überzeugung gelangte, die Anschuldigungen seien „wider besseres Wissen“ erhoben worden (Verleumdung, § 187 StGB). Vgl. Art. 17 Abs. 1 lit. a DSGVO, „Die betroffene Person hat das Recht, von dem Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden, und der Verantwortliche ist verpflichtet, personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, sofern einer der folgenden Gründe zutrifft: … Die personenbezogenen Daten sind für die Zwecke, für die sie erhoben oder auf sonstige Weise verarbeitet wurden, nicht mehr notwendig“. § 192 StGB, „Der Beweis der Wahrheit der behaupteten oder verbreiteten Tatsache schließt die Bestrafung nach § 185 nicht aus, wenn das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Behauptung oder Verbreitung oder aus den Umständen, unter welchen sie geschah, hervorgeht“. Zaczyk in Nomos-Kommentar, StGB, § 192 Rn. 4. „Brüderles Blick wandert auf meinen Busen. ‘Sie können ein Dirndl auch ausfüllenʼ“ (Himmelreich, Der Stern 5/2013). „Ausgerechnet drei Tage, nachdem die FDP Brüderle zu ihrem Spitzenkandidaten gekürt hatte, veröffentlichte Himmelreich ein Porträt des Liberalen.“ (Ehrich, NTV.de vom 07.04.2014). „‘Sternʼ-Chefredakteur Thomas Osterkorn verteidigt dagegen das mit ‘Der Herrenwitzʼ betitelte Porträt. Der Artikel sei legitim; und auch der gewählte Zeitpunkt. ‘Die Geschichte lag nicht ein Jahr in der Schubladeʼ, sagt Osterkorn am Donnerstag dem Tagesspiegel. Sondern der erste Eindruck, den die Autorin

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§ 192 StGB17 und eine Unterlassungs- und Schadensersatzpflichten auslösende Persönlichkeitsverletzung18. Und mich würde noch ein bisher kaum zur Sprache gekommener Aspekt beschäftigen: Wird nicht in der „#MeToo“-Debatte eine wichtige Opferkategorie ausgeblendet? Ich meine die Schauspielerinnen, die eine Filmrolle deshalb nicht bekommen haben, weil sie sexuelle Handlungen verweigert oder sich Belästigungen nachdrücklich verbeten hatten, was offenbar so manche der erfolgreichen Schauspielerinnen, die sich in der „#MeToo“-Debatte als Opfer geoutet haben, nicht getan hatten19. Wie man hört, war in Hollywood namentlich das unsägliche Gebaren des Produzenten Harvey Weinstein ein offenes Geheimnis20. Dennoch berichten zahlreiche Schauspielerinnen, sie hätten ihn abends in

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vor einem Jahr vom Umgang des FDP-Politikers mit Frauen gewonnen habe, sei ‚im Laufe der Zeit bei weiteren Beobachtungen und Begegnungenʼ bestätigt worden. Es scheine ein ʻwiederkehrendes Verhaltenʼ zu sein. ‘Die Geschichte wurde erst jetzt geschrieben, weil unsere Leser ein Interesse daran haben, zu erfahren, was für ein Typ der künftige Spitzenkandidat istʼ.“ (Markus Ehrenberg / Sonja Pohlmann, Tagesspiegel.de vom 24.01.2013). Siehe dazu zusammenfassend Sinn in Satzger / Schluckebier / Widmaier, StGB, § 192 Rn. 5 mit weiteren Nachweisen: „Aus den Umständen der Äußerung kann sich eine Beleidigung ergeben, wenn der Täter die Rahmenbedingungen, in die eine Äußerung gestellt wird, für seine Tat nutzt und sich daraus eine Ehrabschneidung ergibt. Möglich ist dies bspw. durch die Wahl eines Publikationsmediums (Presse, Wandzeitung, Internetforum etc.), das der Bedeutung der Tatsachenäußerung nicht angemessen ist (sog. Publikationsexzess …), oder der Täter einen Publikationszeitpunkt wählt, um einen bereits in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt erneut kundzutun (sog. Reaktualisierung ...). Da es sich bei den Äußerungen i.S.d. § 192 um wahre Tatsachen handelt, ist eine Formalbeleidigung jedenfalls nur dann anzunehmen, wenn sich mit ihr eine ‘Prangerwirkungʼ für das Opfer verbinden lässt ...“. § 1004 Abs. 1 BGB analog, § 823 Abs. 1 und 2 BGB. Die deutsche Schauspielerin Bettina Kenter-Götte hat diesen Aspekt in einer Leserzuschrift in der Süddeutschen Zeitung im Januar 2018 deutlich betont, wohl weil sie sich selbst als ein solches Opfer fühlt: „1971, bei meiner ersten Fernsehrolle, sollte ich barbusig auftreten. Das wollte ich nicht … bekam … erst sieben Jahre später bei jenem großen Sender wieder eine Rolle … So funktioniert(e) das. Natürlich wird niemand je nachweisen können, welche Kolleginnen keine Karriere gemacht haben, weil sie sich verweigert und widersetzt haben. Leicht zu recherchieren wäre jedoch, ob eine einzige von denen, die (zumindest auf Leinwand oder Bildschirm) nicht die Hüllen hat fallen lassen, Karriere gemacht hat. Ich bezweifle das.“ (SZ.de vom 20.01.2018 [https://www.sueddeutsche.de/kolumne/metoo-bewegung-und-gegenbeweg ung-1.3832184]). „Harvey Weinstein … (… * 19. März 1952 in Flushing, Queens, New York) ist ein US-amerikanischer Filmproduzent. … Insgesamt waren seine Produktionen 19 Mal für den Oscar als Bester Film nominiert, fünf der Filme erhielten die Auszeichnung.

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seinem Hotelzimmer aufgesucht, wo er sie im Bademantel empfangen hätte. Sie hätten das (und vielleicht noch mehr) getan aus Angst, keine Filmrolle zu bekommen. Inwieweit darf man von einer – erwachsenen – Frau erwarten, diesem ausgesprochenen oder auch nur befürchteten Druck, sofern er nicht mit Gewalt oder der Drohung mit Gewalt verbunden ist, standzuhalten? Es gibt eine nur auf den ersten Blick überraschende Parallele, nämlich in den Korruptionsdelikten: Hier wird beispielsweise von dem Bauunternehmer, der einen Auftrag erlangen möchte, bei Strafdrohung verlangt, dass er einer ihm angesonnenen Schmiergeld-aufforderung etwa eines kommunalen Baudezernenten widersteht, selbst in dem Wissen, dass dann deshalb ein Konkurrent vermutlich den Auftrag erhalten dürfte. Zahlt er aber dennoch, wird er wegen aktiver Bestechung neben dem Bestochenen bestraft, während jeder Konkurrent, der aufgrund des unlauteren Verhaltens beider leer ausgegangen ist, als das geschädigte Opfer, als Verletzter gilt. Aber das alles nur am Rande.

I. Verbannung infolge von Kunstzensur? Mich soll heute stattdessen nur das interessieren, was zum Thema unserer Veranstaltung gehört: „ʻ#MeTooʼ und Kunstzensur“. Das betrifft zwei verschiedene Fragen: Wie ist zum einen allgemein mit den Werken von als sexuell übergriffig beschuldigten Künstlern umzugehen – und wie zum anderen mit konkreten Kunstwerken, die als sexuell anstößig kritisiert werden? Anders formuliert: Es kann um das Verbannen eines inkriminierten Künstlers oder aber um das Verbannen inkriminierter Kunstwerke gehen. – Beide Fallgruppen haben in der „#MeToo“-Debatte der letzten Monate eine Rolle gespielt. Ein paar nicht unbedingt vollständige Beispiele zu der ersten Fallgruppe, dem Verbannen eines inkriminierten Künstlers – zeitlich geordnet: – Das US-amerikanische Filmunternehmen „Netflix“ kündigte Ende 2017 an, den fast fertigen Spielfilm „Gore“ mit dem zweifachen Oscarpreisträger Er selbst erhielt 1999 den Oscar für die Produktion von Shakespeare in Love. … Im Oktober 2017 wurde Weinstein beschuldigt, eine große Anzahl Frauen vergewaltigt oder sexuell belästigt zu haben; Vorwürfe wurden unter anderem von den Schauspielerinnen Asia Argento, Ashley Judd, Gwyneth Paltrow, Rosanna Arquette, Salma Hayek, Angelina Jolie, Léa Seydoux, Cara Delevingne und Uma Thurman erhoben. Die Vorfälle sollen bis in die 1980er Jahre zurückreichen und in der USMedienbranche lange ein offenes Geheimnis gewesen sein.“ (Wikipedia, Stichwort: Harvey Weinstein).

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Kevin Spacey („American Beauty“), dem Jahre zurückliegende sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden, nicht zu veröffentlichen21. Ebenfalls annoncierte „Netflix“ die Einstellung der Serie „House of Cards“ nach der sechsten Staffel; Spacey, der dort die Hauptrolle gespielt hat, sei nicht mehr Teil der Besetzung22. Anfang November 2017 wurde schließlich auch bekannt, dass Spacey aus dem eigentlich schon fertiggestellten Spielfilm „All the Money in the World“ des britischen Regisseurs Ridley Scott entfernt und seine Szenen mit einem anderen Schauspieler nachgedreht werden sollen23. – In Deutschland forderte Anfang 2018 der Regisseur Simon Verhoeven, alle Fernseharbeiten seines Kollegen Dieter Wedel, gegen den Missbrauchsvorwürfe erhoben worden waren, „nie wieder auszustrahlen“24.

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„Ermutigt durch die Sexismus-Debatte um Harvey Weinstein, äußerte der Schauspieler-Kollege Anthony Rapp Ende Oktober 2017 in einem Interview mit BuzzFeed, er sei 1986 im Alter von 14 Jahren auf einer Party vom damals 26-jährigen, alkoholisierten Spacey sexuell belästigt worden. Spacey antwortete Rapp auf … Twitter, er könne sich nach 30 Jahren nicht mehr erinnern. Er entschuldigte sich für das ʻunangemessene betrunkene Verhaltenʼ und nutzte die Erklärung für sein Comingout als Homosexueller. … Nachdem die ersten Anschuldigungen öffentlich geworden waren, gaben allein gegenüber CNN acht weitere Männer an, von Spacey sexuell belästigt worden zu sein. Seine Agentur trennte sich daraufhin von ihm. Am 3. November kündigte der Streamingdienst Netflix mit sofortiger Wirkung die Zusammenarbeit mit Kevin Spacey auf und eigene Untersuchungen an, nachdem einige Kollegen der Serie House of Cards die Vorwürfe der sexuellen Belästigung wiederholt hatten. … Ebenfalls kündigte Netflix an, den … in der Postproduktion befindlichen Spielfilm Gore von Michael Hoffman nicht zu veröffentlichen, der ursprünglich 2018 gezeigt werden sollte. Spacey hatte in dem Film … Gore Vidal (1925–2012) dargestellt.“ (Wikipedia, Stichwort: Kevin Spacey). „Keine 24 Stunden nachdem Anschuldigungen der sexuellen Belästigung gegen Kevin Spacey bekannt geworden sind, bestätigt der Streamingdienst Netflix … das Ende von ‘House of Cardsʼ, wo Spacey nicht nur in einer der Hauptrollen vor der Kamera sondern auch als Executive Producer hinter den Kulissen beteiligt war, nach der kommenden sechsten Staffel. Die Entscheidung für das Ende der Serie sei jedoch, so betont der Streamingdienst in den USA ausdrücklich, völlig unabhängig von den aktuellen Vorwürfen getroffen worden.“ (Lückerath, DWDL.de vom 30.10.2018). Die Szenen wurden mit Christopher Plummer („The Sound of Music“) nachgedreht. Der Film kam im Dezember 2017 ohne Spacey ins Kino. Plummer erhielt für „Alles Geld der Welt“ eine Oscar-Nominierung als „Bester Nebendarsteller“. Simon Verhoeven („Männerherzen“) auf Facebook am 28.01.2018 (https://www.face book.com/Simonverhoevenofficial/posts/945705585605275): „ … ich erwarte … vom ZDF, dem Saarländischen Rundfunk und von allen anderen Sendern und Produktions-firmen, allen Verantwortlichen, auch aus den Filmteams, die mit diesem Drecksack jahrzehntelang gearbeitet und Erfolge gefeiert haben, daß sie jetzt schleunigst beginnen, diese Zeit aufzuarbeiten und offen zu sagen, was sie damals wußten,

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– In den USA beschloss die Washington National Gallery of Art im Januar 2018, nach Vorwürfen sexueller Belästigung eine für Mai 2018 geplante Ausstellung des Fotorealisten Chuck Close abzusagen. – Zur gleichen Zeit setzten die Hamburger Deichtorhallen eine für den Herbst geplante Ausstellung des US-amerikanischen Modefotografen Bruce Weber nach Belästigungsvorwürfen von Models zumindest vorläufig ab. – Der Leiter der Berlinale, Dieter Kosslick, erklärte im Februar 2018, es würden auf dem Filmfestival keine Filme von Regisseuren gezeigt werden, die Missbrauchsvorwürfe eingeräumt hätten. Und zur zweiten Fallgruppe, das Verbannen inkriminierter Kunstwerke, wäre zu nennen – ebenfalls zeitlich geordnet: – In einer Ende 2017 gestarteten Online-Petition ist vom New Yorker Metropolitan Museum of Art gefordert worden, Balthus’ Gemälde „Träumende Thérèse“25 zu entfernen26.

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ahnten, in Kauf nahmen. … Es ist Zeit, sich von diesem Mann aufs deutlichste zu distanzieren. Seine Serien nie wieder auszustrahlen“. Balthus (* 1908; † 2001), Thérèse rêvant (1938). New York, Metropolitan Museum of Art. „Angesichts des aktuellen Klimas, wo täglich mehr sexuelle Übergriffe und Vorwürfe bekannt werden [gemeint wohl: die seit Oktober 2017 anschwellende „#MeToo“Kampagne – USch], romantisiert das Met den Voyeurismus und die Darstellung von Kindern als Objekt, indem sie dieses Werk einem grossen Publikum zeigt.“ Es sei verstörend, dass das Museum so ein Bild stolz zeige, schrieb die Organisatorin der Petition. Sie schlug vor, das Gemälde mit dem einer zeitgenössischen Malerin zu ersetzen. Sie wolle nicht, dass das Bild zerstört oder zensiert wird, aber fordere eine Abhängung oder zumindest mehr Kontext, beispielsweise in der Beschreibung neben dem Werk. „... wo ich eine Grenzlinie ziehe ist, wenn ein Kind offensichtlich zum Objekt gemacht und sexualisiert wird.“ Die weltweit journalistisch beachtete Petition hatte in den Tagen nach ihrem Start bald mehr als 11.000 Unterzeichner gefunden. (Näher o.V., Monopol-Magazin.de vom 07.12.2017; o.V., NZZ.ch vom 08.12.2017). Übrigens hatte im Februar 2014 das Museum Folkwang in Essen eine für April 2014 bereits angekündigte Ausstellung mit Fotografien von Balthus („The Last Studies“), die zuvor schon ohne besonderes Aufsehen in New York und in Rom gezeigt worden war, wieder abgesagt. Das Museum hatte mitgeteilt, Vorgespräche mit verschiedenen Instanzen, unter anderem dem Essener Jugendamt, hätten ergeben, dass die geplante Schau „zu ungewollten juristischen Konsequenzen und einer Schließung der Ausstellung führen könnte“. Eine solche Entwicklung widerspreche dem Auftrag und der Verantwortung des Hauses. Geplant war, Polaroid-Aufnahmen zu zeigen, die in den 1990er Jahren der damals über 80-jährige Balthus, dem es altersbedingt zunehmend schwerer gefallen war zu zeichnen und zu malen, von dem Mädchen Anna Wahli, der Tochter seines Arztes, gemacht hatte. (Seit Ende der 1980er Jahre malte Balthus nur noch nach Polaroids.) Die insgesamt 2.400 Polaroids waren ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen. Anna soll zu der Ausstellung ihre Zustimmung

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– An der Göttinger Universität wurden zur gleichen Zeit Bilder der Zeichnerin Marion Vina nach Protesten von Studenten und der Gleichstellungsbeauftragten in der Mensa des Studentenwerks abgehängt27. – Im Januar 2018 wurde das Gemälde „Hylas und die Nymphen“ von John William Waterhouse28 vorübergehend aus der Schausammlung der Manchester Art Gallery genommen29.

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gegeben haben. Sie war zu Beginn der Aufnahmen acht Jahre alt, am Ende war sie 16. Balthus hatte sie bei seinen Fotosessions stets sorgsam arrangiert. Oft war sie halbnackt. Die Mutter des Mädchens sei bei den Aufnahmen anwesend gewesen. (Näher Rauterberg, Die Zeit 50/2013; o.V., Die Welt vom 04.02.2014). Marion Vina (* 1961), Wortspiele, in: Ausstellung „Geschmacksache“. „… Gruppen und Vertreter der Hochschule … haben die Ausstellung mit dem Titel ‘Geschmackssache’ scharf kritisiert. Die Künstler haben reagiert – und alle 45 Bilder abgehängt … Künstlerin Marion Vina verbindet freizügige Zeichnungen mit deftigen Wortspielen. … Der Allgemeine Studierenden-Ausschuss (AStA) und andere Studentengruppen hatten die Darstellung von nackten Brüsten und eines Pos kritisiert, weil damit Frauen ‘in objektifizierender Weise’ gezeigt würden. ‘Ich teile die Sicht, dass die Ausstellung Bilder mit diskriminierendem und sexistischem Inhalt enthält’, bekräftigte Doris Hayn, die Gleichstellungsbeauftragte der Hochschule.“ (NDR.de vom 08.11.2017 [im Internet noch zu finden unter https://web.archive.org/web/ 20171110084538/http://www.ndr.de:80/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_ha rz_goettingen/Nacktbilder-abgehaengt-Selbstzensur-in-Goettingen,sexismus176.html]). Zur Vervollständigung: Zwischenzeitlich ging es auch um eine von der Künstlerin Ulrike Martens geschaffene Karikatur, auf der Albert Einstein mit herausgestreckter Zunge und Schweineohren zu sehen ist, was die Jüdische Gemeinde Göttingen scharf kritisierte. John William Waterhouse (* 1849; † 1917), Hylas and the Nymphs (1896). Manchester Art Gallery. Wobei es sich freilich um eine Performance der Londoner Künstlerin Sonia Boyce (* 1962) handelte. Aus Pressemitteilungen der Manchester Art Gallery vom 02.02. und 08.02.2018 (http://manchesterartgallery.org/blog/presenting-the-female-body-challenging-avictorian-fantasy/): „This gallery presents the female body as either a ‘passive decorative form’ or a ‘femme fatale’. Let’s challenge this Victorian fantasy! … The gallery exists in a world full of intertwined issues of gender, race, sexuality, and class which affect us all. How could artworks speak in more contemporary, relevant ways? The painting … was temporarily removed from display as part of a project the gallery is working on with the artist Sonia Boyce … The painting’s short term removal from public view was the result of a ‘take-over’ of some of the gallery’s public spaces by a wide range of gallery users and artists on Friday January 26th. … In its place, notices were put up inviting responses to this action that would inform how the painting would be shown and contextualized when it was rehung. … Hylas was chosen because the painting has been a barometer of public taste since it was painted in 1896 and continues to be so”. Inwiefern „die kurzfristige Entfernung des Gemäldes aus der öffentlichen Wahrnehmung“ dabei hilfreich sein konnte, die gewünschte Auskunft darüber zu erhalten,

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– Ebenfalls im Januar 2018 wurde auf Initiative des AStA vom Akademischen Senat der Berliner Alice-Salomon-Hochschule (ASH) in Berlin-Hellersdorf beschlossen, das 2011 an der Uni-Fassade angebrachte Gedicht „avenidas“ des bolivianisch-schweizerischen Dichters Eugen Gomringer30 im Herbst 2018 zu übermalen31.

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„wie das Gemälde gezeigt und in Zusammenhang gebracht werden sollte, wenn es neu aufgehängt worden ist“, ist mir nicht bekannt und erschließt sich wohl nicht nur mir nicht ohne Weiteres von selbst: „Ein Bild abzuhängen, um ein Gespräch über seine Motive anzustoßen, ist widersinnig. Erkennbar wird hier als Diskussionsanstoß verbrämt, was in Wahrheit der Versuch ist, die von solchen ‘Kuratorenʼ erwünschten Ergebnisse einer solchen Diskussion vorwegzunehmen: dass nämlich so nicht hätte gemalt werden sollen, wie Waterhouse malte. Vielleicht auch, dass Waterhouse, der 47 Jahre alt war – und also den Begriff des alten weißen Mannes erfüllte –, als er im Jahr 1896 zeigte, wie der Gespiele des Herakles in einen See gezogen wurde, besser gar nicht gemalt hätte. Oder gar nicht mehr ausgestellt werden sollte. Oder nur, wenn mindestens ebenso viele Bilder von nicht-weißen, nicht-alten Nicht-Männern im selben Museum gezeigt würden.“ (Kaube, FAZ.net vom 02.02.2018). Eugen Gomringer (* 1925), avenidas (1951/53): „avenidas / avenidas y flores // flores / flores y mujeres // avenidas / avenidas y mujeres // avenidas y flores y mujeres y / un admirador“ („Alleen / Alleen und Blumen // Blumen / Blumen und Frauen // Alleen / Alleen und Frauen // Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer“). An seine Stelle soll auf der Hauswand die Trägerin des „Alice Salomon Poetik Preises“ von 2017 (also einer Nachfolgerin Gomringers, der den Preis 2011 gewonnen hatte) Barbara Köhler (* 1959), deren „zentrales Anliegen“ es ist, in ihrem Werk „weibliche Perspektiven – und ihr Verschwinden – in Denken und Grammatik sichtbar zu machen“ (so jedenfalls Wikipedia, Stichwort: Barbara Köhler), mit Verszeilen zu Wort kommen. Köhler hatte sich bereits im September 2017 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zum Thema gemeldet und kein Wort zum Schutz des Werkes ihres bedrängten Kollegen Gomringer gefunden („kein Angriff auf die Kunstfreiheit, keine Zensur und keine Barbarei“) (Köhler, FAZ.net vom 25.09.2017) – im Gegenteil: „[Dieses Gedicht ist] ja nicht Ergebnis einer Kunst-am-Bau-Ausschreibung …, sondern ein Geschenk – und mit Geschenken dürfen Beschenkte schon verfahren …“Sie könne sich in Studentinnen hineinfühlen, „die sagen, wir möchten den Text, der uns an patriarchalische Denkmuster erinnert, so nicht mehr haben“, zitierte sie der „Bonner General-Anzeiger“ (Kanthak, General-Anzeiger-Bonn.de vom 27.01.2018). Köhler hatte der Hochschule im November 2017 von sich aus angeboten, ein Gedicht zu schreiben und es ihr für die Fassade zu schenken. Sie halte es dabei für möglich, dass sie darin auf die Gomringer-Debatte eingehen werde – vielleicht so?: „Gedicht / Gedicht und AStA // AStA / AStA und Übermalung // Gedicht / Gedicht und Übermalung // Gedicht und AStA und Übermalung und / eine Nutznießerin“? Aber nun soll alle fünf Jahre der Text eines neuen Poetik-Preisträgers an die Fassade der Hochschule gepinselt werden. – Die Zukunft wird zeigen, inwieweit Künstler einen durch diese Vorkommnisse so beschädigten Poetik-Preis überhaupt noch annehmen werden und gar das Risiko auf sich nehmen wollen, dass ihr Werk wegen irgendwelcher Befindlichkeiten vorzeitig abgewaschen wird …

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– Weil sich eine Gemeindevertreterin durch Bilder im Rathaussaal „sexistisch belästigt“ fühlte32, musste im März 2018 in Heikendorf in Schleswig-Holstein der Maler Kai Piepgras die Frauenporträts seiner Ausstellung „Inkognito“ im Rathaus zu den Gemeinderatssitzungen mit Bettlaken verhängen.

II. Verbannung von Kunstwerken? Versuchen wir, uns diesen Fällen vom Juristischen her zu nähern, und beginnen wir mit der letztgenannten Fallgruppe, dem Entfernen „anstößiger“ Kunstwerke. Eine „Zensur“ erwähnt das Grundgesetz nur für die Meinungs- und Pressefreiheit in Art. 5 Abs. 1 Satz 3 und erklärt, sie finde in Deutschland „nicht statt“33. Über die Kunstfreiheit sagt Art. 5 Abs. 3 GG apodiktisch, die Kunst sei „frei“34.

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Ergänzend zum Schmunzeln: Ende März 2018 meldete ein regionales Online-Portal, „‘Avenidas’ bleibt in Hellersdorf“: „Die Wohnungsgenossenschaft Grüne Mitte e.G. will das Poem gut sichtbar an einer Fassade ihrer Wohnhäuser anbringen. Das bestätigte der Vorstand der Genossenschaft … ‘Das Einverständnis von Herrn Gomringer liegt uns bereits vor’ … Wo und wann die Fassade mit ‘Avenidas’ gestaltet wird, werde sie zu gegebener Zeit mitteilen. … ein Genossenschaftsmitglied … hatte dem Vorstand in einem Brief … u.a. geschrieben: ‘Ich bin dafür, dass das Gedicht in Hellersdorf bleibt. Deshalb möchte ich als Mitglied der Wohnungsgenossenschaft Grüne Mitte vorschlagen, dass wir eine gut sichtbare Wand finden, an der das Gedicht ‘Avenidas’ ein neues Zuhause bekommt. Vielleicht fällt es den hysterischen Studentinnen hier jeden Morgen auf dem Weg zu ihrer Hochschule ins Auge. Sie werden keine Chance haben, es noch einmal zu tilgen!’“ (Eltzel, LichtenbergMarzahnPlus.de vom 28.03.2018). „Piepgras hat Bilder in die ganze Welt verkauft und lebt davon. Die Werke, auf denen Frauen zu sehen sind, meist in Rückansicht und mit Gewändern, die Haut durchblitzen lassen, bezeichnet er als ‘Hommage an die Schönheit der Weiblichkeit’. Zur Vernissage im Rathaus kamen 200 Besucher. … Es habe viel Lob gegeben, zehn Bilder habe er noch am selben Abend verkauft. ‘Was dann nach der nächsten Gemeindevertretersitzung passierte, habe ich … noch nicht erlebt’, so der 54-Jährige. Bürgermeister Alexander Orth rief ihn an und berichtete, die Bilder hätten für Empörung gesorgt. Von einer gefühlten Belästigung durch die Bilder sei die Rede gewesen, Parallelen zur #MeToo-Debatte seien gezogen worden … Gemeindevertreterin Karla Schmerfeld (64, SPD) bestätigt, dass sie sich als einzige in der Sitzung beschwert habe: ‘Als Frau stoßen diese Bilder mich ab.’ Den künstlerischen Wert wolle sie nicht beurteilen. ‘Aber die Motivlage mit Frauen, die portionsweise abgebildet werden, ist für einen Ratssaal nicht passend.’ Sie wolle nicht stundenlang etwa auf einen Lederstiefel mit Stiletto-Absatz gucken.“ (Schaack, KN-online.de vom 09.03.2018). Art. 5 Abs. 1 GG, „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt“. Art. 5 Abs. 3 GG, „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“.

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Das ist mehr als ein bloßes Verbot der (Vor-)Zensur. Es bedeutet nach heute allgemeiner Ansicht aufgrund dessen, dass das Grundgesetz keine Grenzen nennt, dass Kunst sogar gegen Gesetze verstoßen darf. Die Kunst braucht selbst strafrechtlichen Verbotsnormen nicht zu weichen, sondern höchstens dahinterstehenden Verfassungsgrundrechten, aber auch denen erst nach einer gegenseitigen Abwägung im Einzelfall35. Um das kurz zu erklären: Wenn beispielsweise ein Gedicht einen Staatspräsidenten beleidigt, genügt nicht der Verstoß des Poeten gegen den Beleidigungsparagraphen, um ihn zu bestrafen oder ihn zivilrechtlich zu belangen, sondern es muss eine Einzelfallabwägung stattfinden zwischen der Kunstfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht des Beleidigten aus Art. 2 Abs. 1 GG36. Erst bei sehr schweren Verletzungen des Kerns des Persönlichkeitsrechts, der Menschenwürde37, wird die Kunstfreiheit sicher zurücktreten müssen38. Wäre das anders, wären politische Karikaturen, wären Satire und Kabarett kaum noch möglich. Diese Kunstfreiheit besteht nicht nur im Werkbereich, das heißt bei der Herstellung eines Kunstwerks, sondern auch im Wirkbereich39. Ein Verbot, 35

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BVerfGE 30, 173 (193) – Mephisto: „… kommt der Vorbehaltlosigkeit des Grundrechts die Bedeutung zu, daß die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind. Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthält, darf sie weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden … Vielmehr ist ein im Rahmen der Kunstfrei-heitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen“. „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. Art. 1 Satz 1 GG, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. BVerfGE 75, 369 (380) – Strauß-Karikaturen: „Zwar genießt der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts keinen generellen Vorrang gegenüber dem Recht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, sondern muß auch im Lichte dieses Grundrechts verstanden werden. Soweit das allgemeine Persönlichkeitsrecht allerdings unmittelbarer Ausfluß der Menschenwürde ist, wirkt diese Schranke absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs … Bei Eingriffen in diesen durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kern menschlicher Ehre liegt immer eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlich-keitsrechts vor, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts … durch die Freiheit künstlerischer Betätigung nicht mehr gedeckt ist“. BVerfGE 30, 173 (189) – Mephisto: „Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft in gleicher Weise den ‘Werkbereichʼ und den ‘Wirkbereichʼ des künstlerischen Schaffens. Beide Bereiche bilden eine unlösbare Einheit. Nicht nur die künstlerische Betätigung (Werkbereich), sondern darüber hinaus auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks sind sachnotwendig für die Begegnung mit dem Werk als eines ebenfalls

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ein Kunstwerk, etwa ein Gemälde, öffentlich präsentieren zu können, käme letztlich ja einem Malverbot nahezu gleich. Deshalb ist anerkannt, dass die Kunstfreiheit des Künstlers auch Dritte schützt, die seine Bildwerke ausstellen, sein Gedicht drucken, seine Schallplatte produzieren oder seine Theateraufführung bewerben. Ein staatliches Verbot, gar die strafrechtliche Verfolgung solcher Helfer wäre verfassungswidrig. Nun bleibt es mir als Privatmann selbstverständlich unbenommen, ob ich eine CD mit geschmacklosen Texten erwerben, ein Gemälde mit Nacktdarstellungen an meine Wand hängen oder eine blasphemische Performance besuchen möchte. Schwieriger ist es schon zu entscheiden, inwieweit eine Stadt die Anmietung ihres Kulturhauses für ein Konzert etwa von Bushido40

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kunstspezifischen Vorganges; dieser ‘Wirkbereichʼ, in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird, ist der Boden, auf dem die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG vor allem erwachsen ist. Allein schon der Rückblick auf das nationalsozialistische Regime und seine Kunstpolitik zeigt, daß die Gewährleistung der individuellen Rechte des Künstlers nicht ausreicht, die Freiheit der Kunst zu sichern. Ohne eine Erstreckung des personalen Geltungsbereichs der Kunstfreiheitsgarantie auf den Wirkbereich des Kunstwerks würde das Grundrecht weitgehend leerlaufen“. Der Berliner Gangsta-Rapper Bushido (* 1978) wurde ab Herbst 2013 nach einem gewaltigen Medienecho zu einer Art Persona non grata: Aufgrund des mit dem Rapper Shindy (* 1988) 2013 auf dem Album „NWA“ veröffentlichten Stückes „Stress ohne Grund“ wurde ihm vorgeworfen, er hetze gegen Homosexuelle und drohe mit Gewalt: „Bushido singt in ‘Stress ohne Grundʼ über den Ex-Kumpel und Rapper Kenneth Glöckler (‘Kay Oneʼ), mit dem er sich verkracht hat. Er beschreibt in vulgärer Sprache homosexuellen Verkehr mit ihm und ergänzt am Ende des Satzes ‘wie Wowereitʼ. Weiter wird der [damalige Berliner Regierende] Bürgermeister in dem Song nicht namentlich erwähnt. Bushido rappt aber auch offensichtlich schwulenfeindlich, beispielsweise heißt es im Song, er wolle die ‘Schwuchtelʼ Kay One ‘folternʼ. Auch geht es um Mordfantasien gegenüber der Grünen-Politikerin Claudia Roth und um Gewaltfantasien gegen den TV-Moderator Oliver Pocher. Zudem rappt Bushido, der FDP-Politiker Serkan Tören solle ‘ins Gras beißenʼ.“ (Müller-Neuhof, Tagesspiegel.de vom 16.01.2014). Näher dazu Oğlakcıoğlu / Rückert, ZUM 2015, 876 ff.; Melz / Zielińska / Bielecki: „Verbotene“ Lieder? (in Band „Musik und Strafrecht“). Auf eine Anklage wegen „Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB, Gewaltdarstellung gemäß § 131 Abs. 1 Nr. 1 und 4 StGB sowie Beleidigung gemäß § 185 StGB“ lehnten sowohl das AG Tiergarten (ZUM 2015, 904) als auch das LG Berlin (ZUM 2015, 903) die Eröffnung des Hauptverfahrens insbesondere unter Hinweis auf die Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG ab. Wegen der Inhalte seines Songs „Stress ohne Grund“ soll Bushido und Shindy jedoch von den (privaten) Betreibern der Berliner Columbiahalle („C-Halle“) verweigert worden sein, dort am 28.09.2013 aufzutreten. (Näher Hülskötter, Bild am Sonntag vom 25.08.2013). Die Meldung der „BamS“ wirft allerdings insofern Zweifel auf, als die Veranstaltungsstätte „Huxleys Neue Welt“ schon am 17.07.2013, nur fünf Tage nach dem Erscheinen von „NWA“, die Empörungswelle lief gerade erst an, ge-

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oder Kollegah41, das öffentliche Museum den Ankauf oder die Ausstellung eines „nackten“ Gemäldes beispielsweise von Peter Paul Rubens oder Auguste Renoir oder das staatlich subventionierte Theater die Aufführung eines religionskritischen Stücks mit der Begründung, das Werk sei geschmacklos, sexistisch oder blasphemisch und gefalle der vermietenden Stelle deshalb überhaupt nicht, ablehnen darf. Vieles spricht dafür, das zu verneinen; wir kennen die Parallelsitua-

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twittert hatte: „Das Konzert von Bushido am 28.09.2013 wurde von der C-Halle ins Huxleys verlegt. Karten behalten ihre Gültigkeit! Die Show ist ausverkauft!“ (https://twit ter.com/huxleysneuewelt/status/357459777489608704). Im Dezember 2013 trat Bushido dann auch in der C-Halle auf, als sei nichts gewesen (siehe den Konzertbericht in TAZ.de vom 06.12.2013 [http:// www.taz.de/!5190459/]). Das dritte gemeinsame Album der beiden Rapper Kollegah und Farid Bang „Jung, brutal, gutaussehend 3“ oder kurz „JBG3“ stieß auf starke Kritik, wobei den Rappern vor allem frauenfeindliche und antisemitische Texte vorgeworfen wurden. Nachdem Kollegah und Farid Bang im April 2018 aufgrund von guten Verkaufszahlen einen „Echo“ (Kategorie „HipHop / Urban National“) für ihr Werk erhielten, wurde der Veranstalter der Preisverleihung, die Deutsche Phono-Akademie, stark kritisiert, was letztendlich zur Abschaffung des Preises führte. Es ging dabei um einen Track, den die Rapper bei der Echo-Verleihung überhaupt nicht gesungen hatten (sie präsentierten dort „All Eyez on Us“, auch nicht gerade mit schönen Texten, etwa: „ … ich zerficke die Mütter der Rapper vom Ghetto durch“), der genau genommen auch nicht auf dem prämierten Album enthalten war: Nur in dem Battle-Track „0815“ auf der „§ 185 EP“, die ausschließlich einer limitierten Deluxe-Box als Bonus beiliegt, findet sich die von Farid Bang gerappte Zeile: „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“. Sonstige Zeilen dieses Raps, anderweitig heftig, gingen in der Aufregung unter (etwa: „Fuck mich ab und ich ficke deine schwangere Frau / Danach fick’ ich deine Ma, die Flüchtlingsschlampe“). Ebenfalls ging unter, dass Kollegah schon in „Nacht“ aus dem Album „Boss der Bosse“ 2006 gerappt hatte: „… ich verkaufʼ Rauschgift in Massen / An blasse Frauen, die aussehn wie Auschwitzinsassen …“. Im Mai 2018 sollte ein Auftritt der beiden Rapper in Schaffhausen untersagt werden: „Gegen das Konzert der Skandal-Rapper … am 5. Mai auf dem Albanian Festival in der BBC-Arena in Schaffhausen laufen seit der Debatte um deren antisemitische sowie schwulen- und frauenfeindlichen Texte Politiker, aber auch Schwulen- und Lesbenvertreter Sturm. Über 50 haben einen offenen Brief gegen das Konzert unterschrieben. … Der Hallenbesitzer … wies die Vorwürfe zurück, will aber mit dem Alba-Kulturverein reden.“ (Latzer, Blick.ch vom 17.04.2018). Der Kulturverein Alba sagte den Auftritt der beiden Rapper wenige Tage später „nach intensiven Gesprächen mit Behörden und Festivalpartnern sowie aus Sicherheitsüberlegungen“ ab. (Näher o.V., Tagesanzeiger.ch vom 20.04.2018). Übrigens hatten sich schon 2011 die AStA der Uni und der FH Bielefeld dafür eingesetzt, dass Kollegah im Bielefelder Jugendzentrum „Kamp“ nicht auftreten dürfe: „Enttäuschend mussten wir feststellen, dass das Kulturkombinat des JZ Kamp anscheinend doch keine Probleme damit hat, Rappern wie Kollegah eine Bühne für ihre mehr als fragwürdigen und verachtenden Inhalte zu geben“, schrieben sie in einem offenen Brief. (Näher Pförtner, NW.de vom 30.11.2011).

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tion, wenn eine politisch nicht verbotene, aber unerwünschte Partei zum Missfallen von Kommunalpolitikern ihren Parteitag in der Stadthalle abhalten will42. Dass es mehr als fraglich ist, ob staatliche Museen, Universitäten und Studentenwerke Bilder kurzerhand abhängen oder Gedichte einfach von der Wand löschen dürfen, weil jemand bekundet, dass ihm diese Art von Kunst nicht gefällt, ist auch aus umgekehrter Sicht zu bekräftigen: Die Kunstfreiheit, der Wirkbereich des Werkes wird beeinträchtigt, wenn verfassungsrechtlich irrelevanten Animositäten ohne Weiteres nachgegeben wird. Dem Künstler wird die Präsentation seines Werkes genauso unmöglich gemacht wie dem Kunstfreund, der diese Abneigung nicht teilt, das Kunsterlebnis. Sogar die inhaltliche Auseinandersetzung über das Werk wird vollständig vereitelt. Nun ist die Verfolgung vermeintlich sittlich anstößiger Kunst kein neues Phänomen. Ein paar Schlaglichter: – Während des Gottesstaates des dominikanischen Bußepredigers Savonarola43 in Florenz wurden 1497 und 1498 unter anderem Gemälde auf einem riesigen Schei42

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„Schon vor der Sondersitzung des Hauptausschusses am Freitagmittag ist allen Beteiligten dank eines ausführlichen Papiers von Rechtsdezernent Frank Motschull klar: Rein rechtlich betrachtet ist der AfD der Zugang zur vollständig der Stadt gehörenden Luise-Albertz-Halle zu gewähren. Weil in der Stadthalle … bereits zahlreiche Parteitage stattgefunden haben, ist jeder Partei die Nutzung der Räume zu erlauben – aufgrund der gebotenen Gleichbehandlung und der grundgesetzlich geschützten Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Dieser Anspruch der AfD kann recht zügig vor Gericht durchgesetzt werden. Doch die breite Mehrheit der Oberhausener Politiker lässt sich nicht beirren – sie wollen ein Zeichen setzen. … So wies am Ende der Hauptausschuss mit breiter Mehrheit ohne Enthaltungen, nur gegen die Stimmen der FDP, den Stadthallen-Chef Hartmut Schmidt am Freitag um 14.35 Uhr an, keinen Mietvertrag mit der AfD abzuschließen.“ (Waz.de vom 21.01.2017 [https:// www.waz.de/staedte/oberhausen/oberhausens-rat-darum-soll-die-afd-nicht-in-die-sta dthalle-id209345 153.html]). „Girolamo Maria Francesco Matteo Savonarola (… * 21. September 1452 in Ferrara; † 23. Mai 1498 in Florenz) war ein italienischer Dominikaner und Bußprediger. Er erregte Aufsehen mit seiner Kritik am Lebenswandel des herrschenden Adels und Klerus und war faktisch Herrscher über Florenz von 1494 bis kurz vor seiner Hinrichtung 1498. … Anfang Februar 1497 ließ Savonarola große Scharen von Jugendlichen und Kindern (‘Fanciulli’) durch Florenz ziehen, die ‘im Namen Christi’ alles beschlagnahmten, was als Symbol für die Verkommenheit der Menschen gedeutet werden konnte. Dazu zählten nicht nur heidnische Schriften (oder solche, die von Savonarola dazu gezählt wurden) oder pornographische Bilder, sondern auch Gemälde, Schmuck, Kosmetika, Spiegel, weltliche Musikinstrumente und -noten, Spielkarten, aufwendig gefertigte Möbel oder teure Kleidungsstücke. Teilweise lieferten die Besitzer diese Dinge auch selbst ab, sei es aus tatsächlicher Reue oder aus Angst vor Repressalien. Am 7. Februar 1497 und am 17. Februar 1498 wurden all diese Gegenstände auf einem riesigen Scheiterhaufen auf der Piazza della Signoria verbrannt.“ (Wikipedia, Stichwort: Girolamo Savonarola).

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terhaufen auf der Piazza della Signoria verbrannt. Der Maler Sandro Botticelli warf einige seiner Bilder selbst in die Flammen; wir können von Glück sagen, dass damals nicht seine heute hoch bewunderte und verehrte „Geburt der Venus“44, der erste fast lebensgroß gemalten Frauenakt seit der Antike, unwiderruflich verlorenging. – Zur Zeit der Gegenreformation wurden die Geschlechtsteile auf Bildnissen aus der Renaissance mit Feigenblättern oder einem Lendenschurz verdeckt45. Es traf hier auch Große wie Masaccio46 und Michelangelo47 – selbst Michelangelos „Jüngstes Gericht“ in der Sixtinischen Kapelle wurde mit Dutzenden aufgemalter Unterhosen verschandelt48. – Um 1900 wurde es in Deutschland durch Gesetzgeber49, Polizei und Justiz50 unternommen, Schaufenster-Präsentationen in Buch- oder Kunsthandlungen 44 45

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Sandro Botticelli (* 1445; † 1510), La nascita di Venere (um 1485/86). Florenz, Galleria degli Uffizi. Grundlage war das sogenannte „Bilderdekret“ des Trienter Konzils vom 03./04.12.1563, wonach unter anderem „im heiligen Gebrauche der Bilder ... alles Schlüpfrige vermieden [werde], so dass keine Bildnisse mit verführerischer Schönheit gemalt oder ausgeziert ... werden“. (Das Dekret „Cum catholica ecclesia“ ist übersetzt abgedruckt in der Kathpedia [http://www.kathpedia.com/index.php?tit le=Cum_ca tholica_ecclesia_(Wortlaut)]. Es wurde durch päpstliche Bulle Pius’ IV. vom 26.01.1564 bestätigt. Als Folge mussten auch hunderte antike Statuen in den Vatikanischen Museen mit strategisch positioniertem Laub versehen werden („Feigenlaubkampagne“). Siehe dazu auch Halecker: Wenn die Muse das Recht (scheinbar) küsst … (in diesem Band). Masaccio (* 1401; † 1428), La cacciata dal Paradiso (Die Vertreibung aus dem Paradies) (1426/28) 1980. Florenz, Santa Maria del Carmine. Siehe dazu o.V., Die Zeit 21/1988: „Prüdere Epigonen Masaccios haben gegen Ende des 17. Jahrhunderts die vermeintlich sündhafte Szene ganz ungeniert kaschiert. Sie malten das Geschlecht von Urvater und Urmutter mit einem Lendenschurz aus Feigenblättern zu. Der blieb drei Jahrhunderte lang. Seit ein paar Wochen ist das erste Menschenpaar allerdings wieder in seinen Urzustand zurückgekehrt. Bei der Restaurierung des gesamten Freskenzyklus … wurden die Laubkränze abgewaschen.“ Michelangelo (* 1475; † 1564), Crocifissione di San Pietro (Kreuzigung des heiligen Petrus) (1545/49). Vatikanstadt, Palazzo Apostolico, Cappella Paolina. (Näher Dittmar, Welt.de vom 07.08.2009). Auf Geheiß von Papst Pius IV. wurde 1565, nach dem Tode Michelangelos, sogar der Maler Daniele da Volterra (* 1509; † 1566) beauftragt, die anstößigen Blößen auf dessen „Jüngstem Gericht“, dem berühmten Altargemälde der Sixtinischen Kapelle, zu übermalen, was diesem den Spottnamen „Braghettone“ („Hosenmaler“) eintrug. Die Übermalungen, zum Glück mit Temperafarben ausgeführt, wurden auch später noch fortgesetzt und erst im Zuge der großen Restaurierung von 1980 bis 1994 weitgehend entfernt. Insgesamt waren Dutzende Stellen überdeckt worden. Im Zuge der langjährigen Diskussionen um die „Lex Heinze“ vom 25.06.1900 (Gesetz betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuchs vom 25.06.1900, RGBl., 301; benannt nach einem Zuhälter, dessen Mordprozess 1891 zunächst öf-

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von Kunstpostkarten mit Werken Alter Meister strafrechtlich zu verfolgen, sofern die nackte Haut zeigen. Zwei Beispiele für Große: Rubensʼ „Urteil des Paris“51 und Palma il Vecchios „Ruhende Venus“52, die beide damals besonders häufig verfolgt wurden. – Aktuell ist hier bislang die USA führend gewesen – sei es mit Janet Jacksons Nipplegate53 oder der Facebookschen Mammophobie54, der vorübergehend sogar Kopenhagens „Kleine Meerjung-

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fentliche [sogar kaiserliche] Erregung über das Prostitutionsmilieu und dann über die „Unsittlichkeit“ allgemein hervorgerufen hatte) war in der Session 1899/1900 ein Gesetzentwurf zur Ersten Lesung in den Reichstag gekommen, der einen sogenannten Kunst- und Schaufensterparagraphen enthielt. Danach sollten nicht nur unzüchtige – heute würde man sagen: pornographische – Schriften strafrechtlich relevant sein, sondern auch derjenige bestraft werden können, der „Schriften und Abbildungen, welche, ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzen“, zu geschäftlichen Zwecken „in Ärgernis erregender Weise“ öffentlich (z.B. in Schaufenstern) ausstellt oder anschlägt. – Das Gesetz scheiterte in dieser Form nicht zuletzt an einem Proteststurm in der Öffentlichkeit, vor allem in der Kunst- und in der Literaturszene. „Es gab kaum einen Künstler des Bildes und des Wortes, der sich nicht mehr oder minder tätig ... angeschlossen und die mindestens vermeintlich bedrohte Freiheit der Kunst verteidigt hätte.“ (Leiss: Kunst im Konflikt, S. 83). Siehe dazu auch Halecker: Wenn die Muse das Recht (scheinbar) küsst … (in diesem Band). Es würde zu weit führen, hier im Einzelnen nachzuzeichnen, wie die Rechtsprechung letztlich auch ohne den gescheiterten „Kunst- und Schaufensterparagraphen“ es begründete, den Handel mit Kunstpostkarten und ähnlichen Abbildungen von „nackten“ Gemälden und Skulpturen zu pönalisieren. (Schule des) Peter Paul Rubens (* 1577; † 1640), Het oordeel van Paris (um 1636). Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister. Jacopo Palma il Vecchio (* 1440; † 1528), Venere in riposo (1518/20). Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister. Es passierte 2004 bei „dem“ Sportereignis der USA, dem „Super Bowl“, der vor über 70.000 Zuschauern im Stadion und vor 130 Millionen Fernsehzuschauern in 87 Ländern am 01.02.2004 in Houston, Texas, stattfand. Die Pop-Superstars Janet Jackson und Justin Timberlake traten mit einem Medley von Jacksons Songs „All for You“ und „Rhythm Nation“ sowie Timberlakes Stück „Rock Your Body“ auf. Ausgerechnet bei der letzten Textzeile „Iʼm gonna have you naked by the end of this song“ riss Timberlake in einer ruckartigen Tanzbewegung angeblich versehentlich so an Jacksons Bluse, dass ihre rechte Brust dabei entblößt wurde. Für eine knappe Sekunde war ein Blick auf die gepiercte Brustwarze von Jackson im Fernsehen zu erheischen, bevor die Kamera eilends in die Totale schwenkte. Die Folge waren unzählige Beschwerden amerikanischer TV-Zuschauer, Gerichte wurden bemüht. Seitdem werden der Super Bowl, aber auch andere Livesendungen wie „Oscar“Preisverleihungen um ein paar Sekunden zeitversetzt ausgestrahlt, um gegebenenfalls eingreifen zu können. Die „Gemeinschaftsstandards“ des US-amerikanischen „Facebook“ besagen unter „Teil III. Anstößige Inhalte 14. Nacktheit und sexuelle Handlungen von Erwachsenen“: „Folgende Inhalte sind untersagt: Bilder von realen, nackten Erwachsenen, wobei Nacktheit wie folgt definiert wird: … Unbedeckte weibliche Brustwarzen, außer im Kontext des Stillens, einer Entbindung und der Momente danach, gesund-

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frau“55 sowie die Steinzeit-„Venus von Willendorf“56 zum Opfer fielen57. Der konservative New Yorker TV-Sender „Fox 5“ pixelte 2015 sogar auf dem wenig (foto-)realistischen Picasso-Gemälde „Die Frauen von Algier“ die Brüste58. Offenbar ist nun im Gefolge von „#MeToo“ auch die Zensur-Welle über den großen Teich zu uns hinübergeschwappt59. Insofern haben wir es hier jetzt auch mit einem neuen Phänomen zu tun: Der Ruf nach Beschränkungen der Kunst ging bislang immer von streng religiösen oder politisch ultrakonservativen Gruppen aus, während die „#MeToo“-Bewegung einschließlich der Kunstzensur zumindest in Deutschland dem großstädtischen links-grün-alternativ-feministischen, dem universitären Milieu verhaftet ist60. Es war dagegen zuletzt die „linke“ 68er Studentenbewegung, die das verstaubte Adenauersche Sexualmoralstrafrecht, das beispielsweise Eltern ins

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heitsbezogener Situationen (z. B. nach einer Brustamputation, zur Sensibilisierung für Brustkrebs oder bei einer Geschlechtsumwandlung) oder einer Protestaktion …“. Anfang Januar 2016 sperrte „Facebook“ (zunächst) einen Post mit einem Foto von Edvard Eriksons Skulptur „Lille havfrue“ („Kleine Meerjungfrau“), dem Wahrzeichen Kopenhagens, das Dänemarks Ex-Landwirtschaftsministerin Mette Gjerskov hatte hochladen wollen, weil es „zu viel nackte Haut“ zeige und „sexuelle Untertöne“ aufweise. Einen Tag später veröffentlichte „Facebook“ den Post jedoch nachträglich, inklusive Foto. Im Dezember 2017 wurde von „Facebook“ eine Abbildung der altsteinzeitlichen Statuette „Venus von Willendorf“ nicht zugelassen, da sie „gefährlich pornografisch“ sei. Die Künstlerin und Aktivistin Laura Ghianda hatte die Aufnahme zuvor viermal auf „Facebook“ hochgeladen. In einer Stellungnahme verurteilte das Naturhistorische Museum in Wien, in dem die etwa 30.000 Jahre alte Figur ausgestellt ist, die Sperrung. „Facebook“ reagierte: „Wir entschuldigen uns für den Fehler“, erklärte eine Sprecherin. Trotz der Ausnahme in den „Gemeinschaftsstandards“, wonach „Fotos von Gemälden, Skulpturen und anderen Kunstformen …, die nackte Personen oder Figuren zeigen“, gestattet seien. Pablo Picasso (* 1881; † 1973), Les femmes d’Alger (Version O) (1955). Privatbesitz. Konstantin Wecker (* 1947) hat das in einem Lied 1990 folgendermaßen kommentiert: „Kaum kommt etwas übern Teich geflogen, / wieder mal Moral aus Ju, Es, Ei, / wird die Narrenkappe aufgezogen, / stammelt man debil: okay.“ (Sexual Correctness. Wenn Du fort bist: Lieder von der Liebe und vom Tod). Siehe auch Rauterberg, Die Zeit 52/2017: „Nun gibt es den puritanischen Furor, seit es Kunst gibt. Schon immer mussten Künstler damit rechnen, dass ihre Motive auf Ablehnung stoßen. Doch in der jüngeren Geschichte kam die Kritik selten von jenen, die für Gleichheit und Aufklärung eintreten. Das Wegsperren unliebsamer Kunst war eine Sache evangelikaler Christen oder dumpf-rechter Politiker. Jetzt ist es auch das Milieu der Kulturlinken, in dem Zensur von unten erwogen oder verlangt wird“.

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Gefängnis steckte, weil sie den Verlobten ihrer Tochter bei sich nächtigen ließen61, und das Homosexualität streng bestrafte62, hinweggefegt hat. Im Pornographiebereich wurde damals das Strafrecht vom Begriff des „Unzüchtigen“ befreit: Georg Baselitz, heute einer der höchstbezahlten deutschen Maler, dessen Kunst den Weg bis ins Bundeskanzleramt geschafft hat63, wurde in den 1960er Jahren noch für die Ausstellung zweier Gemälde männlicher Personen mit erregtem Glied in (neo-)expressionistischer Manier64 durch mehrere Instanzen strafrechtlich so verfolgt65, dass der damals junge Künstler, wie er später beschrieb66, „geächtet“ und „an den Rand des Ruins getrieben“ wurde, weil niemand seine Bilder mehr kaufte. Die Enkel der „68er“ stellen sich also heute mit dem Ruf nach Kunstzensur gegen ihre Großeltern, die für uns alle den klerikal-verklemmten konservativen Muff der ersten 20 Jahre der Bundesrepublik beseitigt hatten67. Euch interes61

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Siehe die Grundsatzentscheidung des Großen Strafsenats 1954 in BGHSt 6, 46 – Kuppelei: „Wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz oder durch hinterlistige Kunstgriffe dem Geschlechtsverkehr Verlobter Vorschub leistet oder wer als Vater, Mutter oder Vormund, Geistlicher, Lehrer oder Erzieher dem Geschlechtsverkehr Verlobter Vorschub leistet oder ihn entgegen seiner Rechtspflicht zur Gegenwirkung duldet, fördert eine grundsätzlich gegen die geschlechtliche Zucht verstoßende Handlung“. § 175 Abs. 1 StGB bis zum 01.09.1969: „Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft“. Anfang des Jahrtausends ließ der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder das Gemälde „Fingermalerei III – Adler“ (1972) von Georg Baselitz (* 1938) hinter seinem Schreibtisch im Bundeskanzleramt aufhängen. Georg Baselitz, Der nackte Mann (1962). Kornwestheim, Museum im Kleihues-Bau / Die große Nacht im Eimer (1962/63). Köln, Museum Ludwig. Siehe BGHSt 20, 192. Interview mit Florian Illies, Spiegel online vom 27.10.2006 (http://www.spiegel. de/kultur/gesellschaft/maler-star-baselitz-ich-will-keine-ruhe-geben-a-444598.html). Am 17.07.2018, drei Tage nach diesem Vortrag, veröffentlichten zwei Politiker der Partei Bündnis 90 / Die Grünen, Claudia Roth und Erhard Grundl, auf der Petitionsplattform „change.org“ die „Brüsseler Erklärung – für die Freiheit der Kunst“ (https: //www.change.org/p/br%C3%BCsseler-erkl%C3%A4rung-f%C3%BCr-die-frei-heitde r-kunst). Auszüge: „Die 68er-Bewegung in Europa … brachte mit ihrem Bekenntnis zu Nonkonformismus, zur Freiheit des Denkens, gegen das Spießertum und für den politischen Diskurs frischen Wind unter Talare, auf Bühnen, in Ateliers und Orchester.“ Jetzt aber würde „der ideologische Kampf gegen die Freiheit der Kunst … unsere Kulturlandschaft – und damit eine Grundfeste unserer Gesellschaft“ bedrohen. „Kunst ist frei, sie muss nicht gefallen und sie darf nicht dienen. Nur so kann sie ihre innovative Kraft entwickeln und uns immer wieder neue Perspektiven eröffnen.“ Wunderbare Worte, voll zustimmungswürdig – auch dass sie gegen die „nationalisti-

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sieren 50 Jahre alte „olle Kamellen“ nicht? Dann zum Nachdenken: Ohne die damalige Studentenrevolte wäre heute „Gender Mainstreaming“, wäre die „Ehe für alle“, wäre „Nein heißt nein“, wäre „Refugees welcome“ undenkbar – und auch „#MeToo“. Überraschen muss auch, dass es bisher bei den Zensurforderungen um eher „harmlose“ Kunst geht, die selbst vor „68“ kaum jemanden im spießigen Nach-kriegsdeutschland aufgeregt hätte: – Marion Vina, gar noch eine Frau, zeigt bei ihren „Spielen mit Wort“ in Göttingen auch die weiblichen Körper weitgehend bekleidet68; Kai Piepgrasʼ in Heikendorf69 gezeigte Bilder sind überdies vollständig facebookkompatibel. – Balthusʼ „Träumende Thérèse“ ist ein sehr junges Mädchen70, man sieht nackte Oberschenkel und ein wenig vom Slip. Sogar das seit 2015 sehr weit ausgedehnte Kinderpornographiestrafrecht fordert selbst für kunstferne „Schmuddelbildchen“ die Wiedergabe eines zumindest „teilweise unbekleideten Kindes“, und das auch nur „in unnatürlich geschlechtsbetonter Körper-

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sche Kultur-politik“ einiger Nachbarländer und entsprechende Tendenzen bei uns („Aber auch in Deutschland sprechen die Rechtsnationalen davon, ʻdie Entsiffung des Kulturbetriebes in Angriff‘ nehmen oder ʻlinksliberalen Vielfalts-ideologienʼ im Theater die öffentlichen Subventionen streichen zu wollen.“) gerichtet sind. Aber hätte es den Machern der Erklärung nicht gut zu Gesicht gestanden, den „ideologischen Kampf gegen die Freiheit der Kunst“ auch dort zu geißeln, wo im Gefolge der „#MeToo“-Bewegung wieder der „frische Wind“ von den Bühnen und aus den Ateliers und Orchestern erstickt zu werden droht? Das meines Erachtens „sexistischste“ Bild Vinas „will kommen“, das einen in der Unterhose steckenden, offenbar erigierten Penis zeigt, den eine Frauenhand anfasst, regte (weil es ein männliches Geschlechtsorgan betrifft?) nicht auf; vielmehr empörten die Zeichnungen „aus laden“ mit einer großen, weitgehend von einen Negligé bedeckten weiblichen Brust, und das Bild „warte Schleife“, das ein weibliches Gesäß in einem mit einer Schleife versehenen Slip zeigt. Heikendorf – das frühere Fischerdorf im heutigen Kreis Plön war bislang Kunstinteressierten wegen der Heikendorfer Künstlerkolonie ab Mitte der 1920er Jahre mit dem großartigen Spätimpressionisten Heinrich Blunck (* 1891; † 1963) als der zweiten wichtigen Künstlerkolonie Norddeutschlands nach Worpswede bekannt. Nun assoziiert man mit ihr auch Kunstbanausentum. Heikendorfs Bürgermeister Alexander Orth entschied nun im März 2018, dass der in der Vergangenheit genutzte Ratssaal für Kunstausstellungen in Zukunft nicht mehr zur Verfügung steht … (Schaack, KNonline.de vom 15.03.2018). Das Modell, Balthusʼ 1925 geborene Nachbarstochter Thérèse Blanchard, war also 1938, als das Gemälde entstand, rund 13 Jahre alt. Balthus malte sie, anfänglich erst zehn- oder elfjährig, bis 1939, als er Paris verließ, mehrere Jahre lang wiederholt (insgesamt zehnmal), auch zusammen mit ihrem Bruder Hubert.

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haltung“71. Und: Das Gemälde ist ein Zitat eines damals schon knapp 60 Jahre alten Bildes des Kindermalers Émile Munier, sexistischer Malerei nun sicher unverdächtig72; es wurde 1935 ebenfalls von dem großen Surrealisten Man Ray in einer Fotocollage aufgegriffen73. Zum Ende des prüden Viktorianischen Zeitalters hatte Muniers Kinderbild sogar englische Seifenreklame geschmückt74 … – Von Waterhouses sieben Nymphen (Najaden) sind gerade drei barbusig zu erkennen, untenrum sieht man nichts. Waterhouse, den Präraffaeliten nahestehend, malte fast durchweg züchtige romantisch-klassizistische Bilder aus der Sagen- und Märchenwelt; er war keiner, der antike Motive als Vorwand für Nacktgemälde suchte75 – anders etwa als sein Zeitgenosse William Adolphe Bouguereau, dessen Gemälde aus der griechischen Mythologie76 die „Facebook“-Zensoren zu Überstunden genötigt hätten77. – Und ohnehin: Nach der Argonautensage begehren die Wassernymphen Hylas, den schönen jugendlichen Gespielen des Herakles, und ziehen „den Knaben, den

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§ 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. b StGB, „Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer … eine kinderpornographische Schrift verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht; kinderpornographisch ist eine pornographische Schrift (§ 11 Absatz 3), wenn sie zum Gegenstand hat: … die Wiedergabe eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung …“. Émile Munier (* 1840, † 1895), En pénitènce (1879). Privatbesitz. Man Ray (* 1890, † 1976), Photocollage, Minotaure 3 (1935). Plakat für „Pears Soap“ (1901). Waterhouse hatte schon 1893 das Hylas-Motiv – eine einzelne nackte Najade (man sieht [nur] eine Brust) betrachtet den schlafenden Hylas – für ein Gemälde verwendet (Hylas with a Nymph [A Naiad]. Privatbesitz). Siehe statt vieler das berühmteste Bild William-Adolphe Bouguereaus (* 1825; † 1905), La naissance de Venus (1879) im Besitz des Musée dʼOrsay in Paris. Wer dieses Gemälde (und auch die noch aufgesetzter wirkende „nackte“ Verarbeitung des gleichen Motivs durch Alexandre Cabanel [* 1823; † 1889] von 1863, ebenfalls im Musée d’Orsay) mit der „Geburt der Venus“ von Botticelli vergleicht, sieht einen „Klassenunterschied“ und ist nochmals glücklich, dass dessen Jahrtausendbild vor über 500 Jahren in Florenz nicht auf Savonarolas Scheiterhaufen gelandet ist. Aber was wäre ich traurig, wütend und entsetzt, wenn ich bei einem Besuch des Musée d’Orsay statt der „nackigen“ Gemälde der beiden Akademischen Realisten eine Pinnwand vorfände und gar Angst haben müsste, die Bilder sollten auch zukünftig im Magazin verstauben müssen! Die Manchester Art Gallery besitzt allerdings nur einen Bouguereau, das brave Porträt eines Bauernmädchens von 1898 mit dem treffenden Titel „Innocence“.

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weinenden“ zu sich in den Teich78 – kein gutes Beispiel für männliche Übergriffigkeit79. – In Gromringers Gedicht „avenidas“ geht es um die Worte „Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer“. Es ist „das“ Zentralwerk der von Gomringer begründeten, sicher nicht sexistischen Konkreten Poesie80. Der AStA 78

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„Hylas, der Blonde, auch gieng, daß Wasser er holʼ zu der Mahlzeit, / Für den Herakles selbst und den Telamon, männlicher Seele, / Die an einerlei Tisch stets aßen, die Beiden, als Freunde. / Tragend den ehernen Eimer gewahrtʼ er in Kurzem die Quelle / In abschüßʼgem Gehegʼ, viel Binsen erwuchsen im Umkreis, / Schöllkraut, dunkel umblaut, und grünendes Haar Aphroditeʼs, / Lustige Triebe des Eppichs und bodenbekleidende Quecken. / Mitten im Born doch waren zum Tanze getreten die Nymphen, / Niemals schlafende Nymphen, die Schreckgottheiten des Landvolks, / Euneika und Malis und frühlingblickend Nycheia. / Und an die tränkende Flut anschmiegte den Krug, den geräumʼgen, / Ein ihn zu tauchen, der Knabʼ: da faßten sie alle die Hand ihm; / Denn um das luftige Herz zog allen der Liebe Umhüllung / Zu dem argeiischen Kind, und es glitt in das dunkele Wasser / Jach, wie ein funkelnder Stern von dem Himmel herunter entgleitet / Jach in das Meer, und Einer bemerkt zu des Schiffes Genossen: / ʻLoser die Segel gemacht, ihr Jungen; es naht uns der Fahrwind!ʼ / Drunten, im Schooße den Knaben, den weinenden, haltend geschweigten / Ihn mit freundlichen Worten die schmeichelnden Nymphen der Quelle.“ (Theokrit [um 270 v. Chr.]: Eidylla 13 [Hylas]). Bei Ovid (* 43 v. Chr; † 17 n. Chr.) findet sich zu dem Vorkommnis nur ein Satz: „Hylas. der zarte, geraubt ward durch der Nymphen Vergehn …“ (Ars amatoria II, 108). Man könnte das Bild auch so beschreiben: Ein (minderjähriger?) „Knabe“ (so Theokrit), wohl ein Gay oder ein Bisexual (so genau kann man das bei den Eromenoi [insbesondere der griechischen Sagenwelt] nicht einordnen), wird von mehreren jungen „Hetero“-Frauen („Heten“) sexuell bedrängt – dann hätte es eher die „LGBT“Community als die „#MeToo“-Bewegten auf den Plan rufen müssen. Konkrete Poesie ist eine Dichtkunst, die die phonetischen, visuellen und akustischen Dimensionen der Sprache als literarische Mittel verwendet. Die Sprache dient nicht mehr der Beschreibung eines Sachverhalts, eines Gedankens oder einer Stimmung, sondern sie wird selbst zum Zweck und Gegenstand des Gedichts. Die Sprache stellt sich also selbst dar. Durch besondere Anordnungen der Buchstaben und Wörter wird eine eigene künstlerische Realität erschaffen und Bedeutungsinhalte werden visualisiert. Wörter, Buchstaben oder Satzzeichen werden aus dem Zusammenhang der Sprache herausgelöst und treten dem Betrachter „konkret“, d.h. für sich selbst stehend, gegenüber. Mit der graphischen Anordnung des Textes soll sein inhaltlicher Gehalt unterstrichen werden. Insofern hat in der Konkreten Dichtung das Schriftbild große Bedeutung, was eine Brücke zur Bildenden Kunst, zur Graphik schlägt. Gomringers Manifest „vom vers zur konstellation – zweck und form einer neuen dichtung“ (1954 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ und später in mehreren überarbeiteten Druckfassungen erschienen) wurde zum Gründungsmanifest der Konkreten Poesie. Gomringer entwickelt in diesem Manifest, wie der Titel schon andeutet, die „Konstellation“ als Überwindung des Verses (hier zit. nach Planetlyrik.de vom 17.08.2017 [http://www.planetlyrik.de/eugen-gomringer-zur-sache-der-konkreten/20 17/08/]): „die konstellation ist die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem

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der Alice-Salomon-Hochschule, dem solche literaturhistorischen Zusammenhänge offen-bar unbekannt oder jedenfalls egal sind, begründete seine Ablehnung der Verse wie folgt81: Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen*82 ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind.

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wort beruhenden dichtung. sie umfasst eine gruppe von worten – so wie ein sternbild eine gruppe von sternen umfasst. in ihr ist zwei, drei oder mehreren neben- oder untereinandergesetzten worten – es werden nicht zu viele sein – eine gedanklichstoffliche beziehung gegeben. und das ist alles!“ Und Gomringer kommt in dem Manifest dann dazu, ein (einziges) Beispiel zu bilden – und wählt dazu „avenidas“, seine erste 1953 publizierte Konstellation: „ein beispiel der konstellation: gegeben sind die sechs spanischen worte: avenidas (strassen), flores (blumen), mujeres (frauen), admirador (bewunderer), y (und), un (ein). die konstellation, die ich vorschlage, sieht so aus: Avenidas avenidas y flores. flores flores y mujeres. avenidas avenidas y mujeres. avenidas y flores y mujeres y un admirador. Nicht zuletzt deshalb gilt das schon 1951 entstandene Gedicht „avenidas“ als Ausgangspunkt der Konkreten Poesie. Ob der AStA und besonders der Akademische Senat der ASH auch nur im Ansatz ahnte, was für ein bedeutendes Geschenk Gomringer der doch eher weniger bedeutenden Hochschule gemacht hatte? Jetzt also Barbara Köhler statt Eugen Gomringer?! Passt eigentlich, denn die ASH ist ja auch nicht Harvard oder Oxford. AStA ASH, Offener Brief: Stellungnahme zum Gedicht Eugen Gomringers vom 12.04.2016 (http://www.asta.asfh-berlin.de/de/News/offener-brief-gegen-gedicht-ander-h ochschulfassade.html). Man kann diese Stellungnahme besser einordnen, wenn man in Rechnung stellt, dass an der ASH, wie man auf ihrer Website lesen kann (https://www.ashberlin.eu/hochschule/profil/lehrprofil/), „Gender-Forschung eine lange Tradition“ besitzt und dort „zwei Professuren mit einer expliziten Denomination in GenderForschung“ existieren. „Gender spielt in der Lehre an der ASH Berlin eine große Rolle … die Vermittlung von Gender-Wissen und -Kompetenz [wurde] in allen Studienordnungen, Studienplänen und Modulhandbüchern als Querschnittsthema verankert.“ „Das Sternchen kann … verschieden benutzt werden. Wenn wir es hinter die Worte ʻFrauʼ, ʻMannʼ, usw. schreiben, soll es vor allem anzeigen, dass es sich um soziale Konstruktionen handelt (nicht um unveränderliche ‘biologischeʼ Wahrheiten).“ (Femgeeks, Glossar: Gendersternchen [https://femgeeks.de/glossar/#gender-sternchen]).

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Uwe Scheffler Zwar beschreibt Gomringer in seinem Gedicht keineswegs Übergriffe oder sexualisierte Kommentare und doch erinnert es unangenehm daran, dass wir uns als Frauen* nicht in die Öffentlichkeit begeben können, ohne für unser körperliches „Frau*-Sein“ bewundert zu werden. Eine Bewunderung, die häufig unangenehm ist …

Womit wir bei einem wichtigen Punkt sind: Wer ein Gemälde wie Waterhouses „Hylas“ wegen der Nymphen nicht öffentlich haben mag, muss in den Museen einen beträchtlichen Teil der Werke der Alten Meister abhängen. Nicht nur die antiken Göttinnen des erwähnten Bouguereau. Auch Vieles besonders aus Renaissance, Barock, Rokoko83. Nackte Brüste, auch unbedeckte Geschlechtsteile überall. Selbst antike und indische Kunst gehörte auf den Prüfstand, sogar die fast 30.000 Jahre alte Figurine der „Venus von Willendorf“, eine Steinzeitfrau mit hervorgehobenen primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, die ja schon die Zensoren von „Facebook“ schockierte. Und wer schon Gomringers „avenidas“ wegen seines „Bewunderers“ nicht in der Öffentlichkeit sehen möchte, muss nicht nur konsequenterweise die Werke von Schriftstellern wie Charles Bukowski oder Henry Miller wegen ihrer extrem drastischen Sprache und expliziten sexuellen Darstellungen indizieren oder besser noch einziehen. Es bliebe auch von der „schönen Literatur“ kaum noch etwas übrig. Als „Bewunderer“ von Frauen zeigen sich viele klassische Schriftsteller. „Du bist wie eine Blume, / So hold und schön und rein“, dichtete beispielsweise Heinrich Heine84, vertont von zahlreichen romantischen Komponisten85. Oder man denke an die „Commedian Harmonists“, die Anfang der 1930er Jahre einen „Genießer aus Posen“ besangen, der die „wunderschöne“

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Erste Initiativen in diese Richtung hatte es schon vor „#MeToo“ gegeben: 2013 wurde in einem offenen Brief an die Berliner Gemäldegalerie gefordert, Caravaggios Meisterwerk „Amor als Sieger“, das einen breitbeinigen nackten Jungen mit Flügeln zeigt, aus den Ausstellungsräumen zu entfernen. „Ein offener Brief an die Berliner Gemäldegalerie Alter Meister richtet allergrößte Bedenken gegen Caravaggios Meisterwerk „Amor als Sieger“ ... Das Bild soll nun, ginge es nach den Briefschreibern, wegen seiner ʻunnatürlichen und aufreizenden Positionʼ schleunigst von der Wand. Die ʻausdrücklich obszöne Szeneʼ diene ʻzweifellos der Erregung des Betrachtersʼ.“ (Ruthe, Berliner-Zeitung.de vom 28.02.2014). Heinrich Heine, Du bist wie eine Blume, Zyklus Die Heimkehr Nr. 47 (1823/24), in: Buch der Lieder (1827): „Du bist wie eine Blume, / So hold und schön und rein; / Ich schau dich an, und Wehmut / Schleicht mir ins Herz hinein. / Mir ist, als ob ich die Hände / Aufs Haupt dir legen sollt, / Betend, daß Gott dich erhalte / So rein und schön und hold“. Robert Schumann, Franz Schubert, Franz Liszt, Richard Wagner, Anton Bruckner, Johannes Brahms, Sergei Rachmaninow und Jean Sibelius.

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„Donna Clara … tanzen gesehn“ hat86. In der Bildenden Kunst sei nur erinnert, wie bewundernd, fast anbetend Rubens seine junge Gemahlin Hélène, „die schönste Frau in Flandern“87, mehr als einmal gemalt hat. „Fühlen Sie sich sexuell belästigt, / wenn Sie jemand so wie ich verehrt“, fragte 1990 der Liedermacher Konstantin Wecker, als ob er die Stellungnahme des AStA der ASH schon vorausahnte – um dann hinzuzufügen88: „Oder wär'n Sie dann genug gefestigt, / wenn Sie dessenthalben niemand mehr begehrt.“ 86

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„Oh, Donna Clara“. Der Text Fritz Löhner-Bedas (* 1883; † 1942 in Auschwitz ermordet) von 1930 ist insgesamt sogar noch mehr „incorrect“ („wilde Gefühle“ / „Leidenschaft“): „In einer dämmrigen Diele tanzt die Spanierin jede Nacht. / In ihrem edlen Profile ist die Saharet neu erwacht. / Und ein Genießer aus Posen, er schickt täglich ʼnen Strauß roter Rosen, / denn er hat wilde Gefühle, und er flüstert heiß, wenn sie lacht: / Donna, Donna, Donna, Donna, Donna Clara, Donna Clara! Oh, Donna Clara, / ich hab dich tanzen gesehn, und deine Schönheit hat mich tollgemacht. / Ich hab im Traume dich dann im Ganzen gesehn, das hat das Maß der Liebe voll gemacht. / Bei jedem Schritte und Tritte biegt sich dein Körper genau in der Mitte, / und herrlich, gefährlich sind deine Füße, du Holde, zu sehn. / Oh, Donna Clara, ich hab dich tanzen gesehn, / oh, Donna Clara, du bist wunderschön! / Er zählt schon fünfzig der Lenze, doch er ist von ihr ganz behext, / und bis zur äußersten Grenze seine Leidenschaft heute wächst. …“. Siehe näher zu Löhner-Beda Manfred Rath, Mord an einem Librettisten, LTO vom 20.12.2012 (https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/fritz-loehner-beda-herz-in-heidelberg-verloren-ermordung-kz-nazi/). „[Rubens] ehelichte … am 3. Dezember 1630 die kaum 16jährige Helene Fourment, die der Statthalter der Niederlande, Kardinal Erzherzog Ferdinand, für die schönste Frau des Landes hielt, und wie die Geschichte erzählt, soll seine Eminenz sich auf Derartiges verstanden haben. Rubens war in seine schöne Frau leidenschaftlich verliebt und hat sie wenigstens ein dutzendmal gemalt.“ (Max Rooses, Geschichte der Kunst in Flandern, 2013, S. 234). Wecker, Sexual Correctness. Wenn Du fort bist: Lieder von der Liebe und vom Tod (1990). Möglicherweise würde der AStA der ASH diese spöttisch-rhetorische Frage Weckers sogar dahin beantworten, dass „wir uns als Frauen*“ (offenbar besteht der AStA nur aus Menschen, die nach ihrem biologischen oder sozialen Geschlecht Frauen sind) dann eher „gefestigt fühlen“ würden, weil die „Bewunderung“ des „körperlichen ‘Frau*-Seins‘“ an sich als „unangenehm“ angesehen wird. Hier spielt als neue Variante des Genderismus der „(Anti-)Lookismus“ hinein, der es als sexistisch empfindet, überhaupt jemanden als „hübsch“ wahrzunehmen. Man erinnere sich an die Aufregung, den 2017 ein ehemaliger Botschafter im Rentenalter auslöste, als er als Versammlungsleiter bei einer Diskussionsrunde die Staatssekretärin Sawsan Chebli (* 1978) nicht erkannte. Um sich zu entschuldigen, sagte er in Altherrenmanier: „Ich habe keine so junge Frau erwartet. Und dann sind Sie auch so schön.“ Chebli war, wie sie sogleich auf „Facebook“ schrieb (https://www.facebook.com/Saws anChebliOf fiziell/posts/371289303306372) „so geschockt“ über diesen „noch nicht erlebten Sexismus“ und antwortete (offenbar ironisch gemeint), es sei „schön, am Morgen mit so vielen Komplimenten behäuft zu werden“. (Näher Niewendick, Morgenpost.de vom 14.10.2017).

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Und an eigentliche „sexuelle Belästigungen … erinnern“ – bleiben wir bei Rubens89 – beispielsweise dessen Werke „Raub der Töchter des Leukippos“ durch Kastor und Polydeukes90 und „Susanna und die beiden Alten“91 – zwei der berühmtesten, ihrerseits verehrten und bewunderten Werke des flämischen Barocks. Übrigens: Die belästigte „Susanna“, die auf dem Plakat zu dieser Veranstaltung abgebildet war, stammt von Artemisia Gentileschi92 – einer sehr jungen Barockmalerin, die ein Jahr später selbst Opfer schlimmen sexuellen Missbrauchs wurde93. – Wollen wir auch dieses Gemälde einer Frau übertünchen,

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Catherine Deneuve und ihre Mitstreiterinnen wiesen auf den „Raub der Sabinerinnen“, das ungefähr zeitgleich (1634/35) gemalte Werk Nicolas Poussins (* 1594; † 1665), eines anderen ganz Großen des Barock, aus dem New Yorker Metropolitan Museum of Art hin (Millet / Caven / Deneuve u.a., Le Monde vom 09.01.2018); der Kunstkritiker Jonathan Jones auf die „shockingly ambivalent“ Darstellung einer Vergewaltigung auf Tizians (* um 1488/90; † 1576) „Tarquinius und Lucretia“ von 1571 aus dem Fitzwilliam Museum in Cambridge und – in einem großen Zeitsprung – auf das 1909 gemalte Werk „Nymphe und Satyr“ von Henri Matisse (* 1869; † 1954), beheimatet in der Hermitage in St. Petersburg (Jones, Theguardian.com vom 07.12.2017). Peter Paul Rubens (mit Jan Wildens (* 1586; † 1653), der die Landschaft malte), De ontvoering van de dochters van Leucippus (um 1618). München, Alte Pinakothek. – Man muss wahrlich kein Rubens-Fan sein, um von der genialen Komposition dieses Bildes begeistert zu sein. Peter Paul Rubens, Susanna en de oudsten (1636/39). München, Alte Pinakothek. Artemisa Gentileschi (* 1593; † 1653), Susanna e i vecchioni (1610). Pommersfelden, Schloss Weißenstein. „[Artemisas Vater, der Maler] Orazio Gentileschi bittet seinen Freund und Kollegen Agostino Tassi, Artemisia in die Kunst der Perspektive einzuweisen. Dieser nutzt [im Mai 1611] das in ihn gesetzte Vertrauen aus und vergewaltigt die Siebzehnjährige, die zunächst darüber schweigt, in der Annahme, dass Tassi sie wie versprochen heiraten und ihre Ehre retten wird. Als sie jedoch erfährt, dass Tassis Ehefrau noch lebt, erzählt sie dem Vater, was geschehen ist, der daraufhin Anklage gegen seinen Kollegen erhebt und damit einen der aufsehenerregensten Prozesse des 17. Jahrhunderts, eine ʻcause célèbreʼ, initiiert. Für seine Tochter beginnt ein Spießrutenlauf, sie wird der Promiskuität und der Prostitution beschuldigt, da sie Monate verstreichen ließ, ehe sie über die Vergewaltigung sprach. Sieben Monate zieht sich der Prozess hin, zahlreiche ZeugInnen werden befragt. Artemisia selbst muss sich gynäkologischen Untersuchungen unterziehen und erklärt sich bereit, unter Folter auszusagen. Ihre Finger werden mit Schnüren umwickelt und gequetscht, doch sie hält stand. … Am Ende des Prozesses wird Tassi schuldig gesprochen. Er kann zwischen fünf Jahren Zwangsarbeit oder Exil wählen, entscheidet sich für das Exil. Seine Strafe wird er nie antreten.“ (FemBio, Biografie: Artemisia Gentileschi).

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weil es uns gerade wegen der von Gentileschi gemalten bedrückenden Eindeutigkeit „unangenehm an sexuelle Belästigungen erinnert“94? Offenbar ist das AStA-Gleichstellungsreferat der Bielefelder Universität nicht weniger sittenstreng als die Berliner Kollegen von der ASH, wenn es den Auftritt des deutschen Panda-Rapperchens Cro95 – für „richtige“ Rapper wohl eher ein „Wannabe“96, ein „Wanksta“97 – auf dem Campus-Festival in Zukunft nicht mehr wünscht98, weil „seine Texte und seine Inhalte nerven“ 94

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Mir fällt aus dieser Zeit nur eine „Susanna“ ein, die ähnlich eindrucksvoll diese bedrückende Atmosphäre eingefangen hat: „Susanna en de oudsten“ von Antonis van Dyck (* 1599; † 1641) von 1621/22 (München, Alte Pinakothek). Allerdings ist die gelegentlich geäußerte Mutmaßung, Gentileschi habe mit ihrer „Susanna“ ihren eigenen sexuellen Missbrauch thematisiert oder gar zu verarbeiten versucht, aufgrund der zeitlichen Reihenfolge nicht zutreffend. Vielmehr liegt nahe, dass Gentileschi mit ihren drastischen Darstellungen der Enthauptung des Holofernes in ihren Gemälden „Judith und Holofernes“ („Giuditta che decapita Oloferne“) die Geschehnisse verarbeiten wollte; die erste Fassung malte sie sehr zeitnah 1611/12 (Neapel, Museo di Capodimonte), eine weitere 1612/13 (Florenz, Palazzo Pitti) und schließlich um 1620 die bekannteste, die sich in der Galleria degli Uffizi in Florenz befindet. „Cro (* 31. Januar 1990 in Mutlangen; bürgerlich: Carlo Waibel) ist ein deutscher Musiker, Künstler, Modedesigner, Regisseur und Musikproduzent … Sein Pseudonym geht aus der Verkürzung seines Vornamens hervor. Er bezeichnet seine Musik als eine Mischung aus Rap- und Pop-Musik, was er mit dem Begriff ʻRaopʼ abkürzt. Sein Markenzeichen ist eine Pandamaske, hinter der er sein Gesicht verbirgt.“ (Wikipedia, Stichwort: Cro [Rapper]). „Ein ʻMöchtegernʼ. Menschen, die sich als ʻHip-Hopper sehenʼ, aber nur so tun als wären sie ʻhartʼ.“ (Wikipedia, Stichwort: Hip-Hop-Jargon). „… mit einem gleichnamigen Song vom US-Rapper 50 Cent geprägter Begriff; Kombination der Wörter wannabe (möchtegern) und Gangster / Gangsta (Krimineller, Bandenmitglied). Die mit ʻkʼ geschriebene Kombination spielt absichtlich des Weiteren auf den englischen Kraftausdruck wanker (Wichser) an.“ (Wikipedia, a.a.O.). Asta Uni Bielefeld auf Facebook am 19.06.2018 (https://www.facebook.com/as ta.unibielefeld/posts/1716470345085851). Offenbar gibt es weitere Parallelen an anderen Hochschulen: Der AStA der Universität Paderborn cancelte im Frühjahr 2018 aus ähnlichen Gründen sogar den Gig der Hamburger Band „187 Strassenbande“ beim AStA-Sommerfestival – die freilich, im Unterschied zu Cro, nun mitunter wirklich „harte“ Texte rappen: „Der geplante Auftritt der Gangsta-Rap-Gruppe ʻ187 Strassenbandeʼ auf dem Sommerfestival am Donnerstag, 17. Mai [2018], ist abgesagt. … Bereits seit einigen Wochen wird über den Auftritt von ʻ187 Strassenbandeʼ heftig diskutiert – sexistisch, homophob, menschenverachtend lauten nur einige der Vorwürfe gegen die Hamburger Band. … Innerhalb der politischen Debatte in den vergangenen Wochen sei auch zu ʻStöraktionenʼ aufgerufen worden, heißt es in einem offiziellen Statement auf der Facebookseite des AStA. Weil man nicht mehr für ein friedliches Festival garantieren könne, habe man sich in Absprache mit der Agentur und dem Management von

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und die Gleichstellerinnen „keinen Bock auf Sexismus“ haben und „in gemachte Geschlechterrollen gedrängt oder zu Sexobjekten degradiert zu werden“99. Die mit einer „Inhaltswarnung“100 vor „Sexismus, Gewalt, Transfeindlichkeit“ versehene Analyse der Texte Cros müsste aber nicht nur, konsequent zu Ende gedacht, über die „Commedian Harmonists“ hinaus praktisch die „genervte“ ʻ187 Strassenbandeʼ dazu entschieden, den Auftritt abzusagen.“ (Bartsch, NW.de vom 16.05.2018). Als ich diese Zeilen schrieb (Ende Juli 2018), traten gerade „187 Strassenbande“ ohne jegliche Probleme beim „Helene Beach Festival“ in Frankfurt (Oder) auf. 99 Zum Nachdenken: Das AStA-Gleichstellungsreferat der Bielefelder Universität möchte den Rapper Cro wegen seiner „sexistischen und von Gewaltphantasien geprägten“ Texte nie wieder „auf dem Campus Festival sehen“ (Asta Uni Bielefeld, a.a.O.). Die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alice Weidel, möchte, dass der Rapper Farid Bang wegen seiner Texte mit „Juden- und Frauenhaß“ gegebenenfalls „nach Marokko ausgewiesen“ wird: „Es ist unbekannt, ob vor allem Farid Bang einen Doppelpaß besitzt. Sollte dem so sein, sollte ihm eher die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt werden, als daß man ihn für seinen Juden- und Frauenhaß auch noch ehrt. Einen Integrationskurs sollte er mindestens besuchen, und sofern er diesen nicht besteht, sollte er nach Marokko ausgewiesen werden. … Er ist nichts weiter als ein ʻasozialer Marokkanerʼ, der unsere Kultur und Werte verachtet, und der in Marokko deutlich besser aufgehoben wäre als in unserem Land.“ (Alice Weidel, Für solche „Künstler“ ist in Deutschland kein Platz!, Theeuropean.de vom 19.04.2018 [https://www.theeuropean.de/alice-weidel/13885-farid-bang-ist-ein-asozialermarokkaner]). Eine „große Koalition“ gegen Rap-Musiker? 100 „Im Internet gibt es … seit einigen Jahren den Trend zu Warnungen. Ihren Ursprung haben sie in Beiträgen in Selbsthilfeforen, wo Opfer (sexueller) Gewalt einander damit auf potenzielle Stressreaktionen hinweisen. Potenziell verstörende Inhalte werden durch ein ʻTW ʼ oder ʻCWʼ (für trigger oder content warning, also Inhaltswarnung) eingeleitet. Wie es dann weitergeht, entscheiden die Nutzer_innen: Sie wägen nun selbst ab, ob sie trotzdem draufklicken und weiterlesen wollen.“ (Gabriela Kielhorn, Achtung, Triggerwarnung!, Progress-online.at vom 25.03.215 [https://www.progress-online.at/seiten/im pressum]). „… auf einmal stellt sich die Frage, ob Studenten die Lektüre der Werke von William Shakespeare zumutbar ist. In Stücken wie ʻTitus Andronicusʼ fließt oft reichlich Blut; Mord und Totschlag waren eben schon Thema vieler Erzählungen, bevor es den TV-ʻTatortʼ gab. Studenten der britischen Universität Cambridge fanden vor einiger Zeit, dass verletzliche Studierende vor Shakespeare geschützt werden sollten. Die Aktivisten kämpften dafür, dass dessen Stücke in Kursen mit Warnhinweisen versehen werden sollten, mit sogenannten Trigger Warnings. Sie sind nicht allein. Auch an anderen Bildungseinrichtungen gelten klassische Werke mittlerweile als problematisch, wenn nicht gar gefährlich. So haben Studenten in den USA dafür gekämpft, in Seminaren vor der Lektüre auf die problematischen sexuellen Inhalte der ʻMetamorphosenʼ des römischen Dichters Ovid hinzuweisen. Oder zu betonen, dass das Frauenbild in F. Scott Fitzgeralds ʻDer große Gatsbyʼ schwierig sei; oder dass Alltag im 19. Jahrhundert, wie von Mark Twain in ʻDie Abenteuer des Huckleberry Finnʼ geschildert, von Rassismus geprägt war.“ (Herrmann, SZ.de vom 04.08.2018).

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Ablehnung der gesamten populären Musik vom Rock ’n’ Roll Chuck Barrys („Sweet Little Sixteen“) über den deutschen Schlager beispielsweise von Howard Carpendale („Das schöne Mädchen von Seite Eins“) bis zu Prince („Sexy Dancer“) und ihre Verbannung von Campus-Festen zur Folge haben. Vor allem lassen die Gleichstellerinnen hier allgemein jegliche musiktheoretischen Kenntnisse von dem in den Schwarzen-Ghettos der US-amerikanischen Städte entstandenen Rap vermissen101: „Grenzüberschreitung ist eines der zentralen Stilmittel des Gangster- und Battle-Raps“, hat es vor kurzem Sina Nitzsche, Gründerin des „European HipHop Studies Netzwerk“, auf den Punkt gebracht102: Der ist auch homophob, frauenfeindlich und in anderer Weise abwertend. Das gehört allerdings zum Genre wie der Cowboy zum Western.

101 „Hip-Hop entstand in den 1980er Jahren in den Ghettos der US-amerikanischen Großstädte, vor allem in den Regionen der sogenannten ‘West-‚ und Eastcoastʼ wie Los Angeles und New York. … gemeinsame soziale Probleme wie Armut, Gewalt und Drogen [wurden] von Beginn an wichtige Bestandteile der Liedtexte. … Gangster Rap ist eine Subkategorie des Hip-Hop, ein Musikstil, dessen wichtigstes Kennzeichen der rhythmische Sprechgesang ist. Die in Songtexten … vorherrschenden Bilder spiegeln affirmativ das hart umkämpfte Lebensumfeld der Gangster Rapper wider: Wohnbausiedlungen und dunkle Ecken, wo Drogendealer, Obdachlose und Gestrandete ihr Dasein fristen, führen uns ZuschauerInnen und ZuhörerInnen das gesellschaftliche Schattendasein der Rapper vor Augen. Es wird das Bild einer Existenz vermittelt, in der Armut, instabile Familienkonstellationen, Gewalterfahrungen, Misshandlungen, Drogenkonsum und Perspektivlosigkeit den Alltag prägen. … Um … auch dem Image des starken aber von der Gesellschaft Ausgestoßenen gerecht zu werden, inszenieren Rapper hierbei eine Form der überhöhten Männlichkeit. Repräsentiert wird diese durch ‘männlicheʼ Eigenschaften (wie z.B. durch Härte, Stärke, Gewaltbereitschaft, Dominanz etc.), sowie ‘männlicheʼ Posen (wie z.B. das Zeigen von Muskeln, Tattoos, dominanten Arm- und Handbewegungen etc.), die von den Rappern offensiv nach außen getragen werden. … Formale Kennzeichen der meisten Gangster Rapsongs ist eine besonders aggressive, provokante und gegenüber Frauen, Ausländern und Homosexuellen diffamierende Sprache (durch die Verwendung von Schimpfwörtern, sexuell konnotierten Ausdrücken etc.). Dementsprechend abwertend sind auch die Bezeichnungen, die verallgemeinernd für die gesamte Personengruppe eingesetzt werden und meist dem Rotlichtmilieu entnommen sind. So werden (alle) Frauen als ‘Schlampenʼ, ‘Hurenʼ, ‘Nuttenʼ, ‘Bitchesʼ … und Homosexuelle bzw. die ‘Nicht-starkenʼ Männer als ‘Schwuchtelʼ, ‘Hurensöhneʼ, ‘Wichserʼ etc. bezeichnet.“ (v. Hilgers, Gewalt in Musikvideos, S. 3 ff.). 102 Zit. nach Kurier.de vom 19.04.2018 (https://www.nordbayerischer-kurier.de/inha lt.gangster-rap-schwer-in-der-kritik.77b46567-eaa9-4599-a638-ceaf869425b1 .html).

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Und genauso wie das „Dissen“ und das „Boasten“103 ist auch der Tabubruch Bestandteil des Rap. Er zeigt, was für ein „extrem harter Kerl“ man sei, dem „die Befindlichkeit anderer Menschen … egal“ ist104. In einer Gesellschaft, in der weiße Amerikaner eine historisch verankerte Vormachtstellung besitzen, ist Hypermaskulinität für den Überlebenskampf zentral, stiftet Identität und verleiht den Künstlern eine gewisse Macht, Aura und Authentizität.105

Man muss also die sprachlichen Überdrehungen ähnlich im Rap relativierend interpretieren wie die Verzerrungen der Realität durch Karikatur und Satire, wo man den Aussagekern von seiner künstlerischen Einkleidung trennt106. Wer das anders sieht und einzelne Rapper wegen ihrer Wortwahl von Uni-Festen fernhalten will, greift letztlich unbewusst die gesamte Stilrichtung an107. Darüber hinaus darf man nicht die frauenfeindlichen und rassistischen Implikationen übersehen, die die reflexhafte pauschale Ablehnung „harter“ Rap-Texte in sich birgt: Besonders der Hardcore Rap der East Coast (manche trennen ihn nicht von dem Gangsta Rap der West Coast) war ein Stilmittel der Emanzipation der Schwarzen Frauen in der Bronx und in Harlem. Es waren Mitte/Ende der 1990er Jahre junge Künstlerinnen wie Foxy Brown und Lilʼ Kim, zunächst von männlichen Rappern als „viel zu süß fürs Rappen“108 abgetan, die aus dem Schatten der schwarzen Männer traten, indem sie möglichst noch drastischer, noch radikaler rappten und in ihren äußerst expliziten Texten die vor allem sexuelle Gleichberechtigung, gar Dominanz der Frau einforderten. „I donʼt want dick tonight, eat my pussy right“, rappte etwa Lilʼ Kim in ihrem Song „Not Tonight“109 von ihrem 1996er Debütalbum „Hard Core“ mehrmals – ich will es bei diesem einen Beispiel belassen. Das Aufbegehren schwarzer 103 Siehe näher zum „Schmähen“ und „Prahlen“ Deppermann / Riecke, in: Richard / Neumann-Braun (Hrsg.), Ich-Armeen. Täuschen – Tarnen – Drill, S. 157 ff. 104 Meyer, Blick.ch vom 17.04.2018. 105 Arndt, Südkurier vom 13.07.2018. 106 Oğlakcìoğlu / Rückert, ZUM 2015, 880; Melz / Zielińska / Bielecki: „Verbotene“ Lieder? (im Band „Musik und Strafrecht“). 107 … und braucht dann auch nicht haltzumachen beispielsweise vorm Death Metal mit seinen nihilistischen, misanthropen (Splatter-)Texten; aber das wäre ein anderes Thema. 108 So der Rapper Notorious B.I.G. über Lilʼ Kim. 109 Lilʼ Kim (* 1974), Album Hard Core (1996). Für das Songwriting bei „Not Tonight“ werden übrigens fünf Frauen aus der Rap-Szene genannt: Neben Lilʼ Kim noch Lisa Lopes („Left Eye“) Shawntae Harris („Da Brat“), Angela „Angie“ Martinez und Melissa „Missy“ Elliott.

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Frauen gegen machistische Männer läuft und lief in den US-amerikanischen Ghettos anders als in dem geschützten Biotop bundesdeutscher Hochschulen110. Es geben dort keine zarten weißen Schneeflöckchen111, sondern starke braune Schokoflocken, die sich mitunter selbst als „Bitches“ bezeichnen, den Ton an. – Soll auch die Musik solcher HipHop-Sistas ein „No Go“ bei uns sein? Oder haben wir, wenn es um eine rappende schwarze Frau in Strapsen und Pelzmantel geht – Lilʼ Kims früher bevorzugte Arbeitskleidung – doch plötzlich „Bock auf Sexismus“? Schlagen wir den Bogen zurück zur ASH Berlin und ihrem „Bewunderer“Problem: Sollten etwa die Berliner Rapperinnen mit marokkanischeritreisch-saudiarabischen Wurzeln von „SXTN“112 wegen ihrer Cro weit überbietenden sexistischen Texte – Songtitel etwa: „Die Fotzen sind wieder

110 Man sollte nicht vergessen, dass auch der „weiße“ Feminismus auch andere, dem offensiven, aggressiven Feminismus der New Yorker Rapperinnen nicht unbedingt diametral gegenüberstehende Kampfformen kennt: „Femen“ (ukr. „Фемен“), eine 2008 in Kiew gegründete Gruppe, die sich als feministisch definiert, hat durch provokante Aktionen internationale Beachtung gewonnen. Das Markenzeichen von „Femen“ sind seit 2010 Oben-ohne-Aktionen („Sextremismus“), bei denen die Aktivistinnen ihre nackten Oberkörper mit Parolen bemalt haben. „Femen“ sieht sich selbst als neue globale Frauenbewegung. Schon vor rund 50 Jahren hatte die studentische „68er“ Frauenbewegung den BH als Symbol der patriarchalen Unterdrückung abgelegt: Mit öffentlichen BH-Verbrennungen forderten Frauen die Freigabe der Pille, die Abschaffung des Abtreibungs-Paragraphen 218 StGB, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und das Ende der männlichen Vorherrschaft. 111 „Als Generation Snowflake (Generation Schneeflocke) wird in den USA die um 1990 geborene Generation bezeichnet, die oft als emotional hochverletzlich, psychisch fragil und wenig resilient wahrgenommen wird. … Snowflakes gelten ihren Kritikern als larmoyant; sie seien nicht in der Lage, sich mit Ansichten auseinanderzusetzen, die von ihren eigenen abwichen. Sie sprächen häufig über ihre Gefühle, fühlten sich moralisch überlegen, bedürften einer besonderen Aufmerksamkeit und forderten permanent Gerechtigkeit für sich ein, worunter sie aber die positive Diskriminierung ihrer eigenen Gruppe verstünden. Sie vermieden alle Auslösereize (‘Triggers‘), die ihr Wohlbefinden stören, sie herausfordern oder gar ängstigen könnten.“ (Wikipedia, Stichwort: Generation Snowflake). 112 „SXTN … ist ein deutsches Hip-Hop-Duo aus Berlin, bestehend aus den Rapperinnen Juju (bürgerlich Judith Wessendorf, * 1992) und Nura (bürgerlich Nura Habib Omer, * 1988). … Juju kam als Tochter eines Marokkaners und einer Deutschen in Marokko auf die Welt und wuchs bei ihrer Mutter in Berlin auf. Nura wurde als Tochter eines Saudis und einer Eritreerin in Saudi-Arabien geboren und kam als Dreijährige mit ihrer Mutter und ihren drei Geschwistern als Flüchtling nach Deutschland … Beide lernten sich in bescheidenen Verhältnissen in der Bundeshauptstadt kennen.“ (Wikipedia, Stichwort: SXTN).

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da“113 – ihren Neuköllner Kiez, „wo Kanaken Messer ziehen“114, nicht mehr zum Rappen in Richtung eines schnieken Uni-Campus mit „an Unangenehmes erinnernden“ Gedichten an der Wand verlassen dürfen115?

III. Verbannung von Künstlern? Kommen wir zu der anderen Fallgruppe, nämlich dem Unterfangen, die Werke von als sexuell übergriffig beschuldigten Künstlern nicht mehr zu zeigen. Nachvollziehbar war 2013, dass die Londoner Tate Britain sämtliche Gemälde mit Mädchenporträts des britischen Malers Graham Ovenden, der wegen sexuellen Missbrauchs minderjähriger Modelle rechtskräftig verurteilt worden war116, von der Museumswebsite entfernte, weil man nicht eventuelle Opfer präsentieren wollte – wenngleich man hinterfragen könnte, ob das immer im Interesse der vielleicht auf ihre Porträts stolzen, in den hoffentlich meisten Fällen nicht missbrauchten Mädchen geschah. Zweifelhaft erschien es mir allerdings schon damals, dass diesem Verdikt auch drei fast abstrakte Landschaftsbilder Ovendens unterfielen – der Tate Britain offenbar später auch, denn 2015 kamen diese Bilder wieder zurück117.

113 SXTN, Album Leben am Limit, 2017. Kostprobe: „Du glaubst nicht, dass man dich brechen kann / Doch, glaub mir, mit einem Lächeln, Mann / Du bist Haustier, ich bin Raubtier / Und ich guckʼ grad, was ich heut fressen kann / Gehʼ mit dir auf einen Sektempfang / Ziehe mich wie ʼne Lesbe an / Kläre mir deine Bitches weg / Und rauchʼ am Ende dein letztes Gramm“. Im Video zum Song „Deine Mutter“ (Refrain: „Ich ficke deine Mutter ohne Schwanz“) vom gleichen Album sind in vielen Szenen (sehr) nackte junge Frauen zu sehen (https://www.youtube.com/watch?v=rE QNoC2SaqM). 114 SXTN, Deine Mutter („SXTN, das beste Team / Deine Olle wird zur Lesbe, / sie will Sex mit mir / Ein Fick in den Arsch aus Westberlin / Das Neukölln, wo Kanaken Messer ziehen“). 115 Ende Juli 2018 sind, wie ich beim Schreiben der Fußnoten zu diesem Vortrag mitbekommen habe „SXTN“ (wie „187 Strassenbande“) ohne jegliche Probleme beim „Helene Beach Festival“ in Frankfurt (Oder) aufgetreten. 116 „Graham Stuart Ovenden (born 11 February 1943) is an English painter, fine art photographer and writer. … In 2013, Ovenden was found guilty of six charges of indecency with a child and one charge of indecent assault against a child, and on 9 October 2013, he was jailed for two years and three months by the Court of Appeal.“ ([Engl.] Wikipedia, Stichwort: Graham Ovenden). 117 Allerdings sind sie inzwischen schon wieder nicht mehr zu sehen; dafür enthalten nun alle 34 Werke im Online-Katalog des Museums neben den Daten der Bilder den Hinweis: „View by appointment“ (https://www.tate.org.uk/art/artists/grahamovenden-1730). Die Werke einschließlich der Landschaften werden damit wohl nur noch für wissenschaftliche Zwecke unter Aufsicht zugänglich sein.

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Nun sind also im Rahmen der „#MeToo“-Debatte Ausstellungen von Malern und Modefotografen abgesagt, jedenfalls auf unbestimmte Zeit verschoben worden: – In den USA beschloss die Washington National Gallery of Art im Januar 2018, nach Vorwürfen gegen den Fotorealisten Close118, der seit dreißig Jahren gelähmt im Rollstuhl sitzt, die für Mai 2018 geplante Ausstellung „In the Tower: Chuck Close“ abzusagen119. Close soll (was er nicht abstreitet) gegenüber mehreren Models „inappropriate comments about their bodies“ abgegeben und zu der Autorin Julia Fox gesagt haben, ihre Vulva „looks delicious“120. Zu körperlichen Kontakten soll es aber nie gekommen sein. – Zur gleichen Zeit entfernte deshalb zudem die Universität von Seattle Closes „Self Portrait 2000“ aus der Bibliothek und ersetzte es durch ein Werk einer weitgehend unbekannten Künstlerin121. 118 „Chuck Close (* 5. Juli 1940 in Monroe, Washington …) ist ein US-amerikanischer Maler und einer der bekanntesten Fotorealisten in den USA. … Close geht beim Malen nicht von der Wirklichkeit der Natur und ihrem direkten Reiz auf die Netzhaut aus, vielmehr orientiert er sich an der indirekten Wirklichkeit des Fotos. Mit Hilfe eines Rasters (Grafikdruckerei) zerlegt er jedes Foto und überträgt es auf diese Weise auf die Leinwand. Für die verschiedenen Bildpartien benutzt er verschiedene Fotos. … Er reduziert zum Teil die Farbe und malt teilweise nur in Grautönen. … Ein geplatztes Blutgefäß in der Wirbelsäule hatte 1988 eine rechtsseitige Querschnittlähmung zur Folge. Dennoch schaffte er es, wieder mit Hilfe von Schienen zu malen, die seine Handgelenke und den Pinsel stabilisieren. Dazu führt er seine rechte Hand mit der linken.“ (Wikipedia, Stichwort: Chuck Close). 119 Die Pennsylvania Academy of the Fine Arts setzte dagegen ihre laufende CloseRetrospektive fort, ergänzte sie aber um eine Zusatzausstellung über Gender- und Machtfragen in der Kunst. 120 Pogrebin, NYTimes.com vom 20.12.2017. 121 … und zwar um ein Werk der in Pennsylvania gebürtigen Linda Stojak; es handelt sich wohl um ihr Bild „Untitled (Shirley)“, siehe Cascone, News.artnet.com vom 29.01.2018. Stojak, über die „Google“ auch nicht viel mehr weiß, als dass sie ab 1978 an der privaten Arcadia University in Glenside / Pennsylvania und ab 1980 am New Yorker Pratt-Institute, eine der führenden privaten Kunsthochschulen in den USA, studierte, und dass sie seit 1991 zahlreiche Ausstellungen in New Yorker Galerien hatte. In die modernen Kunststile ist ihr Werk nicht so einfach einzuordnen; manchmal werden nicht zu Unrecht Ähnlichkeiten zu den Porträts des US-amerikanischen Impressionisten John Singer Sargent (* 1856; † 1925) betont: „The works do recall a romantic past, not in any nostalgic way, but in a knowing way, as through a filter of time … The … paintings … are enigmatic renderings of women, lushly executed and textured by building up the paint. The subjects in some of her works seem plucked from the canvases of a bygone era. The figures may put you in mind of 19th-century portraiture … and the clothing some of Stojak’s figures wear harks back to Victorian times. … [The feature of Stojak’s figures] are … indeterminate, and the faces are almost entirely featureless. In several paintings, the women are partially rendered in

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– Ebenfalls im Januar 2018 setzten die Hamburger Deichtorhallen eine für den Herbst geplante Ausstellung „Far from Home“ des US-amerikanischen Modefotografen Bruce Weber122 nach Belästigungsvorwürfen von wohl fünfzehn männlichen Models zumindest vorläufig ab. Es sei zwar nicht zu Sex gekommen, so Robyn Sinclair, ein bekanntes Model, „but a lot of things happened“123. Weber hat die Vorwürfe bestritten. Nun kann ich persönlich auf die schwül-erotischen Reklamefotos der „Ikone der Modefotografie“124 Weber etwa für die Jeansmarke „Calvin Klein“ gut verzichten – weniger aber auf Closes Bilder. Sein monumentales Gemälde „Big Nude“ und sein riesiges Fingerpainting „Fanny“125 sind „die“ Ikonen des Fotorealismus und gehören damit zu den wichtigsten Gemälden des 20. Jahrhunderts. Sollte der Vorwurf sexueller Übergriffe ausreichen, um das Gesamtwerk eines Künstlers zu verbannen, so hätte das weitreichende Folgen. Jock Reynolds, der Direktor der Yale University Art Gallery, kritisierte den Umgang mit Closes Werk126:

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outline, and little besides the line designating the figures separates them from the background. Some wear hoop skirts that wouldn’t have been out of place in Sargent’s time. One can think of this shape as formed by a metal cage — which seems pertinent to Stojak’s feminist subject matter. … Stojak’s works can be seen as commentary on paintings under the jurisdiction of the male gaze …, in which the female form is objectified and sexualized. In Stojak’s paintings, identity is obliterated.“ (Abatemarco, Santafenewmexico.com vom 10.03.2017). Man wird wohl mit aller vorsichtigen Zurückhaltung sagen können: Unter künstlerischen Gesichtspunkten – das entfernte Selbstbildnis Closes wird auf einen Wert von 35.000 US-Dollar geschätzt und gilt als eines der wertvollsten Werke in der Kunstsammlung der Universität – ist der ohne vorherige Rücksprache mit Kunstdozenten oder Experten erfolgte Austausch der Bilder nicht so einfach legitimierbar. „Bruce Weber (* 29. März 1946 in Greensburg, Pennsylvania) ist ein US-amerikanischer Fotograf und Filmproduzent. Er ist international bekannt für seine Werbekampagnen für Calvin Klein, das Modeunternehmen Abercrombie & Fitch und Ralph Lauren sowie für seine Arbeiten für die Magazine GQ und Rolling Stone.“ (Wikipedia, Stichwort: Bruce Weber). Bernstein / Schneier / Friedman, NYTimes.com vom 13.01.2018. So die Deichtorhallen in ihrer Ausstellungsankündigung, Fotocultmagazin.com vom 17.12.2017 (http://www.fotocultmagazin.com/fotocultblog/2017/12/17/diedeichtorhal len-hamburg-stellen-ihr-programm-2018-vor). „Fanny“ gehört der Washingtoner National Gallery of Art und sollte zu den rund 30 Exponaten der abgesagten Ausstellung gehören. „Pablo Picasso was one of the worst offenders of the 20th century in terms of his history with women. Are we going to take his work out of the galleries?“ (Pogrebin / Schuessler, NYTimes.com vom 28.01.2018).

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Pablo Picasso war einer der schlimmsten Missetäter des 20. Jahrhunderts in Bezug auf seine Frauengeschichten. Sollten wir sein Werk aus den Kunstgalerien nehmen?

Und damit nicht genug: Paul Gauguin lebte auf Tahiti Ende des 19. Jahrhunderts mit der anfangs 13-jährigen Tehaʼamana eheartig zusammen – Kindesmiss-brauch nach deutschem Recht, damals127 wie heute128. Konsequenterweise wäre dann ebenfalls sein gesamtes Œuvre, ein Schlüsselwerk der Moderne, aus den Museen zu verbannen – das ist im Rahmen der „#MeToo“Debatte sogar schon thematisiert worden129. Auch gegen die beiden großen Expressionisten Egon Schiele und Ernst Lud-wig Kirchner wurden Missbrauchsvorwürfe zulasten einer 13-jährigen Tatjana130 bzw. der etwa zehn Jahre alten Fränzi131 geäußert. Sollte auch ihr Gesamtwerk entsorgt werden?

127 § 176 Abs. 1 Nr. 1 RStGB, „Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer … mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt …“. 128 § 176 Abs. 1 StGB, „Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft“. 129 Siehe Zimmermann, Kulturrat.de vom 23.12.2017; Rauterberg, Die Zeit 52/2017. 130 Das 13-jährige Mädchen Tatjana war 1911 aus ihrem gutbürgerlichen Haus ausgerissen und zu Egon Schiele (* 1890; † 1918) und dessen Muse geflohen, von wo sie nach einer Nacht wieder zurückkehrte. Doch der Vater hatte Schiele bereits bei der Polizei gemeldet. Obwohl er die Entführungsanzeige wieder rückgängig machen wollte, nahm alles seinen Lauf. Es gab eine Hausdurchsuchung, Schiele kam 24 Tage in Untersuchungshaft. Er wurde am 04.05.1912 vom k.k. Kreisgericht St. Pölten zwar von der Anklage der Schändung (§ 128 österr. StG) freigesprochen, jedoch für schuldig befunden, die Sittlichkeit verletzt zu haben, indem er seine Bilder, darunter „ein ganz junges, nur am Oberkörper bekleidetes Mädchen“, offen sichtbar in seiner Wohnung aufbewahrt hatte, in der Kinder ein- und ausgehen konnten, und verurteilte ihn zu drei Tagen strengem Arrest. Das genannte Bild soll in der Verhandlung durch einen Richter verbrannt worden sein (Näher Mossig.info [http://www.mossig .info/mossig/schiele1. htm]). 131 Lina Franziska „Fränzi“ Fehrmann (* 1900; † 1950), Kind einer Dresdener Arbeiterfamilie, tauchte im Sommer 1909 bei den „Brücke“-Malern in deren Ateliers in Dresden-Friedrichstadt auf und war auch bei deren Mal-Ausflügen an die Moritzburger Teiche mit dabei. Jedenfalls ist Fränzi bis 1911 auf zahlreichen Gemälden und Zeichnungen Ernst Ludwig Kirchners, Erich Heckels und Max Pechsteins zu finden; vor allem Kirchner stellt sie oftmals nackt posierend, mit deutlich sichtbarem Genital, dar. Im Zuge der Ausstellungen „Fränzi, Modell und Ikone der ʻBrückeʼKünstler“ 2009 im Buchheim-Museum in Bernried am Starnberger See und „Der Blick auf Fränzi und Marcella“ 2010 im Sprengel-Museum in Hannover wurde über einen möglichen Missbrauch Fränzis vor allem durch Kirchner (* 1880; † 1938) ergebnislos spekuliert. (Siehe Koldehoff, Welt.de vom 11.05.2010).

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Und der Kinder-, besser gesagt Knabenfreund Michael Jackson132? „Thriller“, „Bad“, „Dangerous“ raus aus allen Plattenschränken, Music-Boxen und Playlists? Das im Rahmen der „#MeToo“-Debatte geforderte Vorgehen, die Werke mit beschuldigten Schauspielern nicht zu zeigen oder gar alle Filme betroffener Regisseure nicht mehr zu wiederholen, bedeutete zusätzlich einen Eingriff in den Wirkbereich der Kunstfreiheit aller sonstigen beteiligten Schauspieler, für die übrigens die Lizenzgebühren für Wiederaufführungen oft eine wichtige Einnahmequelle sind. Deren Kapital ist es zudem, durch ihre Filmrollen bekannt und demzufolge für neue lukrative Filmprojekte begehrt zu sein. Und macht sich jemand, der solche Forderungen erhebt, klar, dass dann zukünftig Meisterwerke wie „Tanz der Vampire“ „Rosemaries Baby“, „Chinatown“ und „Tess“ von Roman Polański sowie Woody Allens „Stadtneurotiker“, „Manhattan“, „Zelig“ und „Hannah und ihre Schwestern“ weggeschlossen werden müssten? Beide Regisseure sind seit langem sogar sehr plausiblen Vorwürfen sexuellen Missbrauchs einer Dreizehnjährigen133 bzw. der siebenjährigen Adoptivtoch132 „Im August 1993 erhob Evan Chandler Vorwürfe, sein minderjähriger Sohn Jordan sei von Michael Jackson sexuell missbraucht worden. … Michael Jackson beteuerte öffentlich seine Unschuld. Im Januar 1994 einigte sich Michael Jacksons Versicherungsfirma außergerichtlich mit den Chandlers: Sie erhielten eine Abfindung über 22 Millionen US-Dollar und kooperierten daraufhin nicht mehr mit den Behörden. … Im Jahr 2003 wurden Michael Jackson ʻunanständige oder laszive Taten mit einem Kind unter 14 Jahrenʼ [Gavin Arvizo] vorgeworfen. … Am 13. Juni 2005 wurde Michael Jackson in allen Anklagepunkten von den Geschworenen einstimmig freigesprochen.“ (Wikipedia, Stichwort: Michael Jackson). 133 „Roman Raymond Polański (* 18. August 1933 … in Paris) ist ein französischpolnischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Schauspieler. … 1977 wurde Polański in Los Angeles wegen ‘Vergewaltigung unter Verwendung betäubender Mittelʼ der damals 13 Jahre alten Samantha Jane Gailey (nach ihrer Heirat Geimer) angeklagt. … Um die Minderjährige zu schützen, schlug ihr Anwalt eine Verständigung im Strafverfahren (engl. plea bargain) vor, damit sie nicht öffentlich vor Gericht aussagen musste. … im Rahmen dieser Verständigung bekannte sich Polański [des ʻaußerehelichen Geschlechtsverkehrs mit einer Minderjährigenʼ] schuldig. … Als sich abzeichnete, dass der zuständige Richter sich nicht an die Absprache halten würde, floh Polański nach London und lebte anschließend in Frankreich. Seither vermied er Reisen in die USA und in Länder, in denen mit einer Auslieferung zu rechnen ist.“ (Wikipedia, Stichwort: Roman Polański). Polański ist neuerdings diesbezüglich unter Druck geraten: Im Oktober 2017 ist die Cinémathèque française wegen einer Roman-PolańskiRetrospektive in Paris scharf angegriffen worden: „Die Organisation Osez le Féminisme wirft ihr vor, sich an ʻder Kultur der Straffreiheit männlicher Gewaltʼ zu beteiligen. ʻDie Straffreiheit Polanskis zusammen mit den Lorbeeren, die ihm diese Institution des Kinos aufsetzt, ist unerträglichʼ, erklärten die Feministinnen. Die Cinémathèque betonte, sie vergebe weder Belohnungen, noch Zertifikate für gutes

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ter134 ausgesetzt135. Und die Mitwirkung Klaus Kinskis, der (zumindest) seine Tochter Pola viele Jahre missbraucht haben soll136, würde, wenn es nicht gelänge, ihn aus den Handlungen herauszuschneiden, der Aufführung selbst von „Winnetou II“ oder „Dr. Schiwago“ im Wege stehen – von seinen Filmen mit Werner Herzog137 ganz zu schweigen. Was machen wir schließlich mit dem deutschen Schauspieler, Regisseur und Romanautor Burkhardt Driest138? Vom Vorwurf der Vergewaltigung seiner

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Verhalten, auch sei es nicht ihre Rolle als Museum, ʻwen auch immer auf irgendein moralisches Podest zu stellenʼ.“ (O.V., Tagesspiegel.de vom 26.10.2017. Die sogenannte Oscarakademie hat Polański Anfang Mai 2018 wegen des Missbrauchs-vorwurfs von 1977 ausgeschlossen. „Der Ausschluss erfolge wegen Verstoßes gegen die Verhaltensrichtlinien der Akademie, teilte der Vorstand der Academy of Motion Picture Arts and Sciences mit. … Nach dem Fall Harvey Weinstein hatte die Oscarakademie entschieden, ihre Richtlinien für Mitglieder zu ändern. Laut neuem Verhaltenskodex ist in der Organisation kein Platz für ʻMenschen, die ihren Status missbrauchen, ihre Macht und ihren Einfluss, um gegen Werte des Anstands zu verstoßenʼ.“ (O.V., Zeit online vom 03.05.2018). „Woody Allen (* 1. Dezember 1935 als Allan Stewart Konigsberg in Brooklyn, New York) …, ist ein US-amerikanischer Komiker, Filmregisseur, Autor, Schauspieler und Musiker. … seit August 1992 [wurden] gegen Allen … Vorwürfe [erhoben], er habe seine damals siebenjährige Adoptivtochter Dylan [Farrow] sexuell missbraucht. Zu einer juristischen Klärung kam es jedoch nicht: Die Untersuchungsbehörden konnten keine Beweise für die von dem Mädchen geschilderten sexuellen Übergriffe feststellen. … Seit 2013 werden die Missbrauchsvorwürfe gegen Woody Allen erneut öffentlich diskutiert, seit Dylan Farrow … sich in einem Gespräch mit dem Magazin Vanity Fair erstmals selbst öffentlich über ihre Erfahrung als Missbrauchsopfer äußerte. Anfang 2014 konkretisierte sie die Vorwürfe in einem offenen Brief auf der Webseite der New York Times.“ (Wikipedia, Stichwort: Woody Allen). Siehe dazu Kaever, Spiegel online vom 04.11.2017. „Die älteste Tochter des 1991 verstorbenen deutschen Schauspielers Klaus Kinski erhebt schwere Vorwürfe gegen ihren Vater. Er habe sie vom 5. bis zum 19. Lebensjahr sexuell missbraucht, sagte Pola Kinski … ʻEr hat sich über alles hinweggesetzt. Auch darüber, dass ich mich oft gewehrt habe und gesagt habe: Ich will nicht. Das war ihm egal. Er hat sich einfach genommen, was er wollteʼ …“ (o.V., Spiegel online vom 09.01.2013). Aguirre, der Zorn Gottes (1972), Nosferatu – Phantom der Nacht (1979) und Fitzcarraldo (1982). „Burkhard Driest (* 28. April 1939 in Stettin) ist ein deutscher Autor, Schauspieler, Regisseur, Maler und Produzent. … Driest studierte in Kiel, Berlin und Göttingen Jura. … 1965 … überfiel er die Sparkasse in Burgdorf bei Hannover. … Nach drei Jahren und vier Monaten wurde er 1968 wegen guter Führung vorzeitig entlassen. … 1980 wurde Driest von seiner Schauspielkollegin Monika Lundi in den USA wegen Vergewaltigung angezeigt. … Der zuständige Richter … hielt die Vorwürfe für unglaubhaft und verurteilte Driest lediglich zu 500 Dollar Geldstrafe wegen fahrlässiger Körperverletzung. … In der ZDF-Talkshow Markus Lanz behauptete Driest … 2012, auch eine Bank in Dransfeld bei Göttingen überfallen zu haben. Dies konnte

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Kollegin Monika Lundi wurde er zwar 1980 von einem US-amerikanischen Gericht mangels Beweises freigesprochen. Aber vor seiner Karriere „saß“ er drei Jahre und vier Monate wegen Bankraubes … Alles vergeben und vergolten? Nun ja, später räumte er einen weiteren Banküberfall ein, von dem er zu Unrecht freigesprochen worden sei … Damit ist jedenfalls noch ein weiteres Stichwort geliefert. Wenn die Forderung erhoben wird, die Werke von Künstlern nicht mehr zu zeigen, denen sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird, selbst eines solchen, das (straf-)rechtlich irrelevant ist – müssen wir dann nicht erst recht unsere Museen von den Werken von Straftätern aller – zumindest aller schweren – Delikte befreien? Es ist nicht so, dass alle Künstler früherer Jahrhunderte Engel waren. Vielleicht können wir es ja noch Veit Stoß nachsehen, dass er wegen Urkundenfälschung bestraft werden musste und gebrandmarkt wurde139, und lassen seinen Hochaltar in der Krakauer Marienkirche140 stehen. Aber, um einen weiteren Bildenden Künstler aus der Champions League der Alten Meister zu nennen: Benvenuto Cellini soll zwei, nach eigener Behauptung sogar drei Morde begangen haben141. Sollte sich deshalb jetzt Wien von der ihm jedoch nicht nachgewiesen werden, deswegen sei er freigesprochen worden.“ (Wikipedia, Stichwort: Burkhard Driest). 139 Veit Stoß (* um 1447; † 1533) war ein Bildhauer und -schnitzer der Spätgotik. Er war vor allem in Krakau und Nürnberg tätig. Stoß hatte sich um 1500 in Nürnberg auf Spekulationsgeschäfte eingelassen. Nach einem heftigen Geldverlust verklagte er seinen „Anlageberater“, der ihn hintergangen hatte, und fälschte in Beweisnot einen Schuldschein. Der Schwindel flog auf und Stoß wurde festgenommen. „Als Höchststrafe wartete auf ihn die Todesstrafe, bei einem milden Urteil die Blendung, also der Verlust des Augenlichts. Doch Stoß hatte gewichtige Fürsprecher. … Der Sünder kam relativ glimpflich davon. Die Strafe: Brandmarkung. Stoß wurden am 4. Dezember 1503 glühende Eisen durch beide Backen gestoßen.“ (Nuernberginfos.de [http://www.nuernberginfos.de/bedeutendenuernberger/veit-stoss. html]). 140 Stoß schuf in Krakau von 1477 bis 1489 mit dem Krakauer Hochaltar für die Marienkirche den zweitgrößten geschnitzten Flügelaltar der deutschen Gotik. 141 Der Florentiner Benvenuto Cellini (* 1500; † 1571) war als italienischer Goldschmied und Bildhauer der Spätrenaissance. „Im Alter zwischen 30 und 40 Jahren, so berichtet er in seiner Autobiografie, habe er drei Morde begangen. Die dritte, an einem Sieneser Postmeister begangene Tat würde nach heutigem Verständnis als aus dem Affekt begangener Totschlag gelten, aber die ersten beiden Vorfälle waren geplante Aktionen. Im Jahre 1530 hatte Cellini seinem sterbenden Bruder, der im Kampf mit der Polizei getroffen worden war, Vergeltung geschworen. Um diesen Schwur zu erfüllen, lauerte er dem Täter nachts auf, um ihm von hinten die Kehle zu durchschneiden. Der Dolch ging jedoch in die Schulter, woraufhin das Opfer vier Schritte fliehen konnte, um dann von einem Stoß in den Nacken getötet zu werden. Auf ähnliche Weise beging Cellini auch den zweiten

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„Saliera“142 und Florenz von seinem „Perseus“143 trennen? Und auch Caravaggio werden Straftaten bis hin zum Totschlag nachgesagt144. Ein Grund mehr, endlich seinen nackten „Amor“ aus der Berliner Gemäldegalerie zu eliminieren?

IV. Verbannung von Kunstzensur! Die Antwort kann nur lauten: nein. Ich kenne keine Epoche außer den Zeiten des Totalitarismus, in denen vorausgesetzt wurde, dass einem bedeutenden Werk ein moralisch makelloser Künstler entsprechen müsste,

hat kürzlich der Kunsthistoriker Horst Bredekamp geäußert145. Im Gegenteil. Große Künstler sind in früheren Zeiten manchmal von Strafe freigestellt worden, durchaus mit dem Hintergedanken, dass sie trotz ihrer Freveltaten weiter als (Auftrags-)Künstler wirken können: Cellini wurde von Papst Paul III. nach seinem zweiten Mord straffrei gestellt146, weil „Männer wie Benvenuto, die in ihrem Beruf einzigartig sind, nicht dem Gesetz unterworfen sein müssen“. Auch Stoß, dem der Rat der Stadt Nürnberg mit dem „bloßen“ Brandmarken anstelle des eigentlich vorgeschriebenen Todes durch Verbrennen oder wenigstens Blendens „gnad und barmhertzigkeit“ erwiesen hatte, so dass er weiter bildhauen und -schnitzen konnte, wurde durch den

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Mord. Kurz nach dem Tod von Klemens VII. im September 1534 versuchte er auf offener Straße, seinem Konkurrenten für das Amt des päpstlichen Münzmeisters, Pompeo deʼ Capitaneis, den Dolch ins Gesicht zu stoßen. Er traf seinen Todfeind unterhalb des Ohres mit zwei Stichen, der zweite war tödlich.“ (Bredekamp, Zeit online vom 07.12.2000). Die „Saliera“ (ital. für Salz- oder Pfefferfass) ist ein von Cellini für Franz I. von Frankreich von 1540 bis 1543 angefertigtes Tafelgefäß. Es wird im Kunsthistorischen Museum in Wien aufbewahrt. Der „Perseus mit dem Medusenhaupt“ ist eine Bronzeplastik in Florenz. Sie wurde in der Mitte des 16. Jahrhunderts von Cellini geschaffen und gilt als sein Hauptwerk. Michelangelo Merisi da Caravaggio (* 1571; † 1610), war ein italienischer Maler des Frühbarocks. „Caravaggio führte ein bewegtes Leben. Nach einer Lehrzeit bei Simone Peterzano in Mailand reiste er nach Rom, wo er vom mittellosen Künstler zum bevorzugten Maler der römischen Kardinäle aufstieg. Wegen eines Totschlags wurde er aus Rom verbannt und ließ sich in Neapel und später Malta nieder …, floh aber von dort nach einer tätlichen Auseinandersetzung nach Sizilien …“ (Wikipedia, Stichwort: Michelangelo Merisi da Caravaggio). Horst Bredekamp im Interview mit Trinks, FAZ.net vom 14.02.2018. Näher Bredekamp, Der Künstler als Verbrecher, S. 11 ff.

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König (und späteren Kaiser) Maximilian I. zusätzlich „Absolution seiner ihm auferlegten [weiteren, USch] Strafen“ (namentlich dem Verbot, die Stadt zu verlassen, mit dem der Rat der Stadt seine künstlerischen Dienste hatte sichern wollen) erteilt147. Auch Caravaggio wurde letztlich von Papst Paul V. begnadigt – was der plötzlich verstorbene Künstler allerdings nicht mehr erfuhr148. Nun wird heute natürlich niemand auf die Idee kommen zu fordern, straffällige Künstler nicht zu bestrafen, damit sie uns weiterhin als Regisseure, Schauspieler, Sänger, Fotografen, Maler oder Bildhauer kulturell bereichern können. Das Umgekehrte erscheint aber nicht weniger widersinnig: ihre schon bestehende Kunst aus unserem Kulturschatz zu verbannen, nur weil sie sich strafbar gemacht haben könnten. Und was einzelne Kunstwerke angeht, so kann zunächst einmal bei älterer Kunst ein moralisches Verdikt nicht deshalb erfolgen, weil sie inhaltlich den gerade aktuellen Kriterien der „Political Correctness“ widersprechen oder weil ihr Sujet vom Künstler mit einem seit Kurzem verpönten „Male Gaze“ betrachtet wird. Der englische Kunstkritiker Jonathan Jones hat davor kürzlich eindringlich gewarnt149: Wenn Sie möchten, dass alle Kunst, die jemals hergestellt wurde, den heutigen ethischen Standards entspricht, können Sie jetzt auch alle Museen leeren. … Über Kunst zu streiten ist richtig, aber zu versuchen, sie zu verbieten, ist die Arbeit der Faschisten.

Und Bredekamp stößt warnend ins gleiche Horn150: Uns trennt nurmehr eine papierdünne Wand vor dem, was die ʻEntartete Kunstʼ und der gedankliche Rahmen der Säuberung einmal fabriziert haben.

Und was zeitgenössische Kunst, egal ob Gemälde, Gedichte oder Rapsongs betrifft, haben wir ohnehin eine klare Grenze: Erlaubt ist, was nicht so heftig gegen Strafgesetze verstößt, dass die grundgesetzlich geschützte Kunstfreiheit ausnahmsweise einmal zurücktreten muss! 147 Näher Bredekamp, a.a.O., S. 23 ff. In dem Schreiben (des späteren Kaisers) Maximilian I. vom September 1506 heißt es, dass Stoß „seines geübten falsch (darumb er hiervor ein straff mit prennen durch seine packen empfangen) restituiert und abilitirt“ sei. (Nuernberginfos.de[http://www.nuernberginfos.de/bedeutende-nuernberger/veitstoss.html]). 148 Siehe dazu Bredekamp, a.a.O., S. 22. 149 Jones, Theguardian.com vom 07.12.2017: „If you want all art that has ever been made to conform to today’s ethical standards, you may as well empty all museums right now.” 150 Horst Bredekamp im Interview mit Stefan Trinks, FAZ.net vom 14.02.2018.

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Überlassen wir alle Zensurforderungen also religiösen Eiferern und autoritären Politikern. Wir an den Universitäten, Professoren wie Studenten, sollten immer auf der Seite der Freiheit und nicht in der Tradition von Bilderstürmen und Bücherverbrennungen stehen. „Kunst ist eine Tochter der Freiheit“, hat Friedrich Schiller gesagt151. Und Rosa Luxemburg hat den Satz geprägt: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“152. Wir sollten immer und überall für die Freiheit Andersdenkender eintreten – der von Künstlern als auch der von Kunstfreunden. Wir haben kein moralisches Recht, Künstlern ihre Freiheit zu nehmen, und wir dürfen nicht so selbstgerecht sein, Kunstfreunden unser Missfallen an einem Werk zu oktroyieren und ihnen sogar die eigene kritische Auseinandersetzung mit dem umstrittenen Kunstwerk unmöglich machen. Sollten wir insoweit nicht einig werden können?

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Claudia Zielińska

Grenzen der zulässigen Satire zur verbotenen Schmähkritik – damals und heute* I. Einleitung Satire gehört seit Menschengedenken zu einer gesunden und kritischen Gesellschaft. Bereits in der Antike ist sie ein gängiges Mittel gewesen, um zeitgenössische Ereignisse zu hinterfragen und Autoritäten anzuprangern1. Die Satire klar zu definieren ist jedoch nicht ganz einfach und stellt selbst die zu entscheidenden Gerichte regelmäßig vor eine Herausforderung. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Satire als Kunstgattung (Literatur, Karikatur, Film), die durch Übertreibung, Ironie und (beißenden) Spott an Personen und Ereignissen Kritik übt, sie der Lächerlichkeit preisgibt, Zustände anprangert und mit scharfem Witz geißelt,

verstanden2. Ziel einer Satire ist es stets, sich kritisch mit der Gesellschaft oder den herrschenden Obrigkeiten und Institutionen – nicht nur des eigenen Landes – auseinanderzusetzen. Im Vordergrund der Satire steht nicht das Individuum selbst, vielmehr sein Makel, der durch die Verwendung dieses Stilmittels besonders herausgestellt wird. Satire kann als umgekehrte Wirklichkeit verstanden werden, die nicht die Unterstützung, sondern die Ableh-

*

1 2

Den Beitrag hat die Autorin im Rahmen der internationalen Tagung „Darf die Kunst alles? Aktuelle Rechtsentwicklungen aus deutscher und polnischer Perspektive“ am 20. Oktober 2017 auf der in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Strafrecht (prof. zw. dr hab. Emil W. Pływaczewski) der Universität Białystok veranstalteten internationalen Tagung „Darf die Kunst alles? Aktuelle Rechtsentwicklungen aus deutscher und polnischer Perspektive / Czy sztuce wolno wszystko? Aktualne kierunki rozwoju prawa z perspektywy polskiej i niemieckiej“ an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) gehalten. Die schriftliche Fassung wurde überarbeitet und aktualisiert. Der Beitrag ist auch als Aufsatz in dem von Emil W. Pływaczewski und Ewa M. Guzik-Makaruk herausgegebenen Band 8 der Reihe „Current problems of the penal law and criminology / Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie“, 2019, S. 839 ff. erschienen. Arntzen, Satire in der deutschen Literatur, S. 5 f. Duden, Stichwort: „Satire“.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-014

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Claudia Zielińska

nung gegenüber einer Sache versinnbildlicht3. Zudem zeichnet sich Satire durch ihre aggressive (Bild)-Sprache aus4: Ihre Waffe der Verhöhnung ist nicht das Argument, sondern das Vorweisen im vorgehaltenen Spiegel; und seine Schärfe erhält der Spiegel im Ausdruck der Individualität als Kontrapunkt zum Vorbild …

„Satire kann Kunst sein; nicht jede Satire ist jedoch Kunst.“5 – Bereits diese kurze Erklärung, die das Bundesverfassungsgericht 1992 formulierte, deutet an, dass bei der Kollision von Satire mit Rechtsgütern von verfassungsrechtlichem Rang stets die Fragestellungen implementiert sind: Was hält sich noch in den Grenzen des nach deutschem Recht Erlaubten und wie weit darf eine satirische Darstellung in Rechte Dritter eingreifen? Darf Satire wirklich alles, wie Kurt Tucholsky proklamierte6? Diese Fragestellungen zu beantworten, fällt nicht leicht und ist dem Wesen der Satire, welche dem Rezipienten fortwährend eine Interpretation und zeitliche Einordnung abverlangt, geschuldet. Dies führt, trotz der Heranziehung von zum Teil gleichen Maßstäben, in der Satire-Judikatur zu uneinheitlichen Entscheidungen, die anhand der nachfolgenden Fallbeispiele verdeutlicht werden. Im Vordergrund der Untersuchung stehen Entscheidungen bzw. Ereignisse, denen die Abwägung der widerstreitenden Interessen von Kunstfreiheit einerseits und Ehrverletzung andererseits anhaftet.

II. BVerfGE 75, 369: „Strauß-Karikaturen“ Die Entscheidung, die in Zusammenhang mit den sogenannten StraußKarikaturen ergangen ist, wird häufig als Präzedenzfall in der Satire-Judikatur bezeichnet7. Die in diesem Zuge ergangene BundesverfassungsgerichtsEntscheidung, in der die höchsten Richter des Landes zu ergründen hatten, ob die Karikaturen in den durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kern menschlicher Ehre eingreifen, wurde regelmäßig in Folgeentscheidungen als Maßstab für das Abgrenzungsproblem zwischen der Ehrverletzung im Rahmen des Strafrechts und der Satire als

3 4 5 6 7

Steffen, Festschrift für Helmut Simon, S. 368 ff. Steffen, a.a.O. BVerfGE 86, 1 (9) – „geb. Mörder“. Tucholsky, Berliner Tageblatt vom 27.01.1919 (Abendausgabe). Siehe näher Würkner, JA 1988, 183 ff.; Gounalakis, NJW 1995, 809 ff.

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Ausformung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG8 herangezogen9. Dabei orientierte sich das Gericht bei der Beurteilung des Eingriffes in das Persönlichkeitsrecht an einer weiteren Entscheidung, die es zuvor zu Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht10 in Zusammenhang mit der Aufführung eines politischen Straßentheaters („Anachronistischer Zug“) getroffen hatte11. In dem sieben Jahre dauernden Verfahren um den deutschen Karikaturisten Rainer Hachfeld bemühte sich die Hamburger Justiz aufzuklären, ob dieser den damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß durch seine Zeichnungen in der monatlich erscheinenden Zeitschrift „Konkret“12 beleidigt habe13. Gegenstand des Verfahrens waren insgesamt drei Zeichnungen, die Strauß als sich sexuell betätigendes Schwein darstellten. In der ersten Zeichnung war ein mit den Gesichtszügen des Politikers versehenes Schwein, welches mit einem anderen, das in richterlicher Amtstracht abgebildet wurde, kopuliert, zu sehen. Die Darstellung war mit der Frage versehen14: „Satire darf alles. Rainer Hachfeld auch?“ Anlass hierfür ist ein in dieser Ausgabe abgedrucktes Interview mit dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten gewesen, in dem er freimütig erklärte15: 8

„… der Bereich der ʻengagiertenʼ Kunst ist von der Freiheitsgarantie [des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG] nicht ausgenommen.“ (BVerfGE 30, 173 [191] – Mephisto; 67, 213 [228] – Anachronistischer Zug).

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Gärtner, Was die Satire darf, S. 31. Gegen die Darstellung seiner Person wehrte sich auch in diesem Verfahren der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß. Das Gericht stellte fest: „… eine geringfügige Beeinträchtigung oder die bloße Möglichkeit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung reichen hierzu angesichts der hohen Bedeutung der Kunstfreiheit nicht aus. Läßt sich freilich eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts zweifelsfrei feststellen, so kann sie auch nicht durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt werden.“ (BVerfGE 67, 213 [228]). „Konkret“ ist eine von kommunistisch-pazifistischen Studenten gegründete Zeitschrift für Politik und Kultur. Selbst versteht sie sich als „die einzige linke Publikumszeitschrift Deutschlands“. O.V., Die Zeit 08/1988. Dies war jedoch nicht das erste Verfahren, welches Strauß gegen den Karikaturisten Rainer Hachfeld führte, siehe OLG München, NJW 1971, 844. Kühn, Konkret 07/1980, S. 46 f. Kühn, a.a.O., S. 48. Die Infragestellung dieser Aussage durch Rainer Hachfeld verwundert nicht, da Franz Josef Strauß zahlreiche gerichtliche Verfahren gegen seine Kritiker, darunter bereits zuvor ein erfolgreiches gegen Rainer Hachfeld selbst, geführt hatte, vgl. OLG München‚ NJW 1971, 844, ferner bspw. BVerfGE 67, 213 – Anachronistischer Zug; OLG Hamm, NJW 1982, 659.

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Claudia Zielińska … ich halte nichts von Prozessen gegen Karikaturisten. Die müssen ein größeres Stück Narrenfreiheit haben.

Strauß beantwortete diese Fragestellung höchstpersönlich, indem er Strafanzeige wegen Beleidigung stellte. Hachfeld sah sich aufgrund dessen dazu veranlasst, eine zweite Zeichnung, die dieselben zwei Schweinsgestalten – teils paarweise, teils einzeln – bei unterschiedlicher sexueller Betätigung zeigte, anzufertigen. Sie erschienen in Heft 06/1981. Diesen Karikaturen war wiederum ein provozierender Begleittext beigefügt: „Welches ist nun die endgültig richtige Zeichnung, Herr Staatsanwalt?“ Im Oktoberheft desselben Jahres folgte die Fortsetzung der ersten Zeichnung. Dargestellt waren diesmal vier Schweine, von denen drei dem jeweils vor ihm befindlichen Schwein aufreiten. Auch hier trugen zwei der Schweinsgestalten die Gesichtszüge Straußʼ, zwei waren mit Justizrobe und Barett bekleidet. Den Karikaturen war ein Brief Hachfelds an die „Konkret“-Redaktion vorangestellt, in dem er sich beklagte, dass er immer wieder neue „Schweinchenbilder“ zeichnen müsse, da Strauß keine Ruhe geben wolle16. Strauß stellte auch wegen dieser beiden Karikaturen Strafanzeige wegen Beleidigung. Zunächst verurteilte das Amtsgericht Hamburg den Karikaturisten wegen Beleidigung in drei Fällen. Wesentlich für das Gericht war die „geschlechtliche Betätigung“ wie auch die Darstellung als Schwein an sich17. Hachfeld selbst hatte stets versichert, dass seine Zeichnungen in „keiner Weise sexualbezogen“ seien; er vielmehr damit zum Ausdruck bringen wollte, dass Strauß – wie im Rangordnungsstreit der Schweine – Dominanz gegenüber der Justiz ausübe18. Der durch das zuständige Landgericht Hamburg ergangene Freispruch, gestützt auf dem Argument, dass die Karikaturen das wirkliche Sexualleben Straußʼ nicht wiederspiegeln würden19, wurde jedoch vom Hanseatischen Oberlandesgericht aufgehoben20. Das Hanseatische Oberlandesgericht befand, dass „die Zeichnungen die Ehre … verletzen, weil sie diesen [F. J. Strauß] als ein sich 16

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Konkret 10/1981, S. 4 („Running gag“): „Alle Schweinchenbilder, die nach dem ersten in KONKRET 7/80 veröffentlicht wurden, sind nur deshalb gezeichnet und gedruckt worden, weil FJS dieses erste angezeigt hatte. Hätte er das nicht getan, wäre bestimmt kein zweites Schweinchenbild erschienen. Was nun passiert, kann er sich wohl denken: Ich muss ein neues Schweinchenbild zeichnen, weil er immer noch keine Ruhe geben will. Auch daran ist FJS selbst schuld und verantwortlich dafür …“. O.V., Die Zeit 08/1988. Die Zeit, a.a.O. OLG Hamburg, NJW 1985, 1654 (1654). OLG Hamburg, a.a.O.

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geschlechtlich betätigendes Schwein darstellen“. Weiter führte das Gericht aus, dass Aussagekern und Einkleidung der Satire aller drei Zeichnungen beleidigend seien, weil der bayerische Ministerpräsident durch den Vergleich mit einem kopulierenden Schwein in provozierender Weise lächerlich gemacht werden sollte. Zudem läge die Darstellung abwegigen Sexualverhaltens „jenseits jeden satirischen Freiraums“21. Hachfelds dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte ebenfalls keinen Erfolg und wurde als unbegründet zurückgewiesen. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, dass der Karikaturist mit seinen Zeichnungen offenkundig einen Angriff auf die personale Würde Straußʼ beabsichtigte22. Zudem stellte das Gericht bei der Beurteilung, ob die Karikaturen eine Ehrverletzung darstellen, vor allem auf das Sexuelle in den Zeichnungen Hachfelds ab und führte dazu aus23: Gerade die Darstellung sexuellen Verhaltens, das beim Menschen auch heute noch zum schutzwürdigen Kern seines Intimlebens gehört, sollte den Betroffenen als Person entwerten, ihn seiner Würde als Mensch entkleiden. … Bei Eingriffen in diesen durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kern menschlicher Ehre liegt immer eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts vor, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch die Freiheit künstlerischer Betätigung nicht mehr gedeckt ist.

Eine meines Erachtens nicht ganz stimmige Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht beruft sich in seiner Urteilbegründung immerhin auf eine Entscheidung des Reichsgerichts von 192824, ohne die darin gesetzten Grundsätze zu beachten. Darin heißt es25: Es ist der Satire wesenseigen, dass sie, mehr oder weniger stark, übertreibt, d.h. dem Gedanken, den sie ausdrücken will, einen scheinbaren Inhalt gibt, der über den wirklich gemeinten hinausgeht … Eine satirische Darstellung [muss] erst des in Wort und Bild gewählten satirischen Gewandes entkleidet werden, bevor beurteilt werden kann, ob das, was in dieser Form ausgesprochen und dargestellt ist, den Tatbestand einer strafbaren Handlung, im besonderen eine Beleidigung enthält.

Genau diesem Grundsatz ist das Bundesverfassungsgericht nicht gefolgt, denn es fokussierte sich bei der Urteilsfindung lediglich auf die Darstellung des Sexuellen in der Zeichnung und nicht auf den Aussagekern26. Dies stellt ein Urteil über die Form der Gestaltung dar, welches jedoch verfassungsrechtlichen 21 22 23 24 25 26

OLG Hamburg, a.a.O. BVerfGE 75, 369 (379). BVerfGE, a.a.O., S. 380. Siehe BVerfGE, a.a.O., S. 377. RGSt 62, 183. So auch Gärtner, Was die Satire darf, S. 129 f.

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Grundsätzen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner „Mephisto“Entscheidung setze27, selbst widerspricht. Dabei dürfte für nahezu jeden Betrachter der Zeichnungen Hachfelds der damaligen Zeit klar erkennbar gewesen sein, dass Hachfeld mit seiner Darstellung der kopulierenden Schweinchen auf einen ganz anderen Aspekt hinweisen wollte. Strauß ist immerhin ein besonders umstrittener Politiker gewesen, welches auch durch die vielen Verfahren, die der Politiker gegen seine Gegner führte, deutlich wird28. Seine politische Karriere ist von zahlreichen Skandalen um Schmiergeld- und Korruptionsvorwürfe geprägt gewesen. Dafür verantworten musste sich Strauß im Grunde nie – ausgenommen davon ist wohl die „Spiegel-Affäre“, die ihn zwar zum Rücktritt als Verteidigungsminister zwang, Strauß jedoch bereits wenig später als Bundesfinanzminister aufs politische Parkett zurückkehren konnte29. Die Darstellung des Schweinchens mit dem Gesicht Straußʼ, das sich an demjenigen mit Richterrobe vergnügt – entkleidet man die Aussage aus seinem satirischen Gewand –, kann deshalb vielmehr dergestalt interpretiert werden, dass der Politiker Strauß es immer wieder schafft, die Justiz auf seiner Seite zu wissen, sie gar aufs Kreuz legt, und dabei sein tierisches Vergnügen hat30. Dabei darf auch die Szenerie des nach der Konvention sittlich Anstößigen nicht prinzipiell verschlossen sein, wenn und weil auch hierin Symbolhaftes zum Ausdruck kommen kann31.

III. Die „Kartoffel-Affäre“ Es ist jedoch nicht unüblich, dass auch an ausländischen Politikern auf satirische Weise Kritik geübt wird. Dies war bspw. 2006 der Fall, als Peter Köhler – ein Satireautor – in der „TAZ“ („Die Tageszeitung“) mit dem Porträt des pol27

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„… die Kunstfreiheitsgarantie [bedeutet] das Verbot, auf Methoden, Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum einzuengen, oder allgemein verbindliche Regeln für diesen Schaffensprozeß vorzuschreiben.“ (BVerfGE 30, 173 [190]). Siehe etwa BVerfGE 67, 213 – Anachronistischer Zug; OLG München, NJW 1971, 844; OLG Hamm, NJW 1982, 659; siehe eine Auswahl an Plakaten der Gegnerschaft F. J. Straußʼ bei R. Höpfinger / H. Rader / R. Scheutle (Hrsg.), Franz Josef Strauß – Die Macht der Bilder, 2015, S. 100 ff. Möller, Franz Josef Strauß, S. 209 ff.; o.V., Stern.de vom 01.10.2008; Honert, Tagesspiegel.de vom 24.08.2015. Siehe BVerfGE 75, 369 (379). Steffen, Festschrift für Helmut Simon, S. 376.

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nischen Staatspräsidenten Lech Kaczyński eine Staatsaffäre zwischen Polen und Deutschland auslöste32. Köhler hatte auf der Satireseite „Die Wahrheit“, auf der er regelmäßig die offiziellen Politikerbiographien parodiert, unter der Überschrift „Polens neue Kartoffel, Schurken, die die Welt beherrschen wollen. Heute: Łech ‘Katscheʼ Kaczyński“ über den nationalkonservativen Politiker, der im Jahr zuvor zum polnischen Staatsoberhaupt gewählt worden war, geschrieben33. In dem Artikel prangert Köhler vor allem die Vorbehalte des Politikers gegen Deutsche und Homosexuelle an34. Kurz nachdem der Artikel erschienen war, folgte eine Absage des polnischen Staatspräsidenten zu einem Gipfeltreffen, dem sogenannten Weimarer Dreieck35, mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem damaligen französischen Präsidenten Jacques Chirac. Begründet wurde die Absage mit einer Magenverstimmung. Dies veranlasste die Medien (und trug nochmals zum Unmut der polnischen Regierung bei), darüber zu spekulieren, dass die „TAZ“-Satire dem polnischen Staatsoberhaupt wohl auf den Magen geschlagen wäre. Die Absage L. Kaczyńskis sorgte jedoch ebenfalls innenpolitisch für Unruhen und veranlasste ausnahmslos alle Außenminister Polens, die seit 1989 bis dahin im Amt waren, zu einem offenen Brief, in dem sie das Verhalten L. Kaczyńskis scharf kritisierten36. Nach anfänglichem Schweigen in dieser Angelegenheit machte der polnische Staatspräsident jedoch zunehmend deutlich, dass er sich durch den Artikel Köhlers persönlich angegriffen fühlte und dass dieser die Grenzen des guten Geschmacks überschritten habe. Den Politiker kränkte vor allem die Verunglimpfung seiner Mutter37. Besonders empört zeigte sich der damalige 32 33 34 35

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Lesser, Die Tageszeitung vom 28.06.2007. Köhler, Die Tageszeitung vom 26.06.2006; siehe auch Lesser, a.a.O.; Ringel, Die Tageszeitung vom 15.11.2011. Vgl. Köhler, a.a.O. Das „Weimarer Dreieck“ ist ein Forum, das auf das Jahr 1991 zurückgeht und von den damaligen Außenministern der drei Länder (Deutschland, Frankreich und Polen) im Rahmen des Aussöhnungsprozesses ins Leben gerufen wurde, um die außenpolitischen Beziehungen dieser Länder zu stärken und in alljährlichen Treffen der Staatsoberhäupter mündete. O.V., FAZ.net vom 07.07.2006; Lißmann, Zeit online vom 07.07.2006; Urban, Deutschlandfunk.de vom 10.07.2006. Die offen geäußerte Kritik gegenüber dem Staatspräsidenten führte jedoch zu einem innenpolitischen Disput, vgl. Piaseczny, Tygodnikprzeglad.pl vom 16.07.2006; Rosati, Wprost 28/2006. Siehe o.V., TVN24.pl vom 07.12.2007; o.V., Spiegel online vom 07.07.2006; Rosati, a.a.O. Lech Kaczyński meint damit wohl die letzte Passage des Artikels („Dass die zwei vorn wie hinten sauber sind, haben sie bewiesen: Łech, der öffentliche Hinterteile an

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polnische Premierminister Kazimierz Marcinkiewicz, der hierzu ausführte38: „Es ist kaum vorstellbar, dass in Polen sich jemand erlauben würde, so über ein Staatsoberhaupt herzuziehen.“ Die damalige polnische Außenministerin Anna Fotyga sah sich sogar dazu veranlasst, die linksliberale Tageszeitung mit dem nationalsozialistischen Hetzblatt „Der Stürmer“ zu vergleichen39. Diese Aussage passt jedoch in den zeitlichen Kontext – Deutschland war 2006 Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft, das ganze Land war in die deutschen Nationalfarben schwarz-rot-gold gehüllt –, was einen Journalisten der polnischen Wochenzeitschrift „Wprost“ aus Sorge um die Erstarkung des deutschen Nationalismus zu fragen veranlasste40: „Müssen wir uns erneut vor den Deutschen fürchten?“ Lech Kaczyński forderte eine offizielle Entschuldigung des damaligen deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier für die Verunglimpfung. Dieser lehnte das Ersuchen der polnischen Regierung jedoch mit dem Hinweis ab, dass in Deutschland die Pressefreiheit gelte41. In Polen wurde derweil ein Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung des polnischen Präsidenten eingeleitet, jedoch bereits ein Jahr später (2007) wegen Mangels an Beweisen eingestellt, unter anderem auch da die Berliner Senatsverwaltung für Justiz die Bitte um Rechtshilfe abgelehnt hatte42.

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Warschaus Männern mehrmals verbot, mehr noch Jarosław [sein Bruder, der im Juli 2006 zum Ministerpräsidenten ernannt wurde], der mit der eigenen Mutter zusammenlebt – aber wenigstens ohne Trauschein.“); siehe Köhler, Die Tageszeitung vom 26.06.2006; so auch Skiba, Wprost 28/2006. Lesser, Die Tageszeitung vom 05.07.2006. „Das ist eine Vermischung von Politik und Obszönität. Solche Verbindung muss die Assoziierung mit historischen Fakten wecken, z.B. mit der politischen Sprache, die vom Stürmer genützt wurde.“ (Krohn, Deutschlandfunk.de vom 07.07.2006); siehe ferner Falksohn / Schulz, Der Spiegel 28/2006; o.V., Stern.de vom 11.01.2016; vgl. dazu auch die Titelseiten der Wprost 38/2003 und 02/2016. „Czy znów mamy się bać Niemców?“ (Semka, Wprost 28/2006). „Der Artikel … ist allein Auffassung des Autors, der für diesen Artikel verantwortlich ist. Natürlich kann man … über den Stil und den Inhalt von Kommentaren unterschiedlicher Meinung sein und das ist hier auch so.“ (Stellungnahme des damaligen deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier in einem Videobericht in FAZ.net vom 05.07.2006 [http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/satire-ueberkaczynski-polnische-praesidentenkanzlei-vergleicht-taz-mit-stuermer-1357255/kaczy nski-taz-artikel-veraegert-polen-1379151.html]). Lesser, Die Tageszeitung vom 28.06.2007; Ringel, Die Tageszeitung vom 15.11.2011; o.V., TVN24.pl vom 07.12.2007.

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Dass sich der Artikel Köhlers zu einer Staatsaffäre entwickelte, wird zum einen auf die misslungene Übersetzung des Artikels ins Polnische43 zurückgeführt, da diese den satirischen Charakter und die darin enthaltene Ironie nicht entsprechend widerspiegelte44. Zum anderen wird jedoch wohl auch das Verhalten der polnischen Politiker und die lautstark geäußerte Kritik an dem Artikel ebenfalls dazu beigetragen haben, da hierdurch erst die breite Öffentlichkeit auf die Satireschrift aufmerksam gemacht wurde45. Obwohl selbst Bascha Mika, damals Chefredakteurin der „TAZ“, vor allem auf die in Deutschland geltende Pressefreiheit hinwies und sich damit hinter die Veröffentlichung Köhlers stellte46, räumte sie auch ein, dass der Artikel zwar klar als Satire erkennbar und als solche einzuordnen sei, jedoch „an einigen Stellen ins Geschmacklose abgleitet“47. Köhler legte 2016 nochmals nach und schrieb auf derselben Satireseite nunmehr unter der Überschrift Polens andere Kartoffel, Schurken, die die Welt beherrschen wollen. Heute: Jarosław „Ja“ Kaczyński, die graue Eminenz im sauber gebürsteten Staat hinter der Oder.

über den Parteivorsitzenden der konservativen Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość48). Köhler prangerte in dem Artikel insbesondere die geheime Alleinherrschaft J. Kaczyńskis über Polen an, die harte Flüchtlingspolitik des Landes und die Verschwörungstheorien um den Flugzeugabsturz der Tupolew bei Smoleńsk49. Eine ähnliche Staatsaffäre, wie sie der vorangestellte Artikel Köhlers nach sich zog, ist in diesem Zusammenhang bisher jedoch nicht bekannt geworden.

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48 49

Die polnische Übersetzung des Artikels ist nachzulesen bei: Bonacchi, in: Meinhof / Reisigl / Warnke (Hrsg.), Diskurslinguistik, S. 355. Lesser, Die Tageszeitung vom 05.07.2006; Mika, Die Tageszeitung vom 06.07.2006. Rosati, Wprost 28/2006; Skiba, Wprost 28/2006; Urban, Deutschlandfunk.de vom 10.07.2006. Mika, Die Tageszeitung vom 06.07.2006. „Ich bin davon überzeugt, dass Satire ganz hart an die Grenzen gehen muss. Und dann kann man sich immer noch überlegen: Überschreitet sie diese Grenzen, wird sie wirklich geschmacklos? Und ich gebe gerne zu, dass man darüber streiten kann, ob nicht auch unsere Satire über Lech Kaczynski an einigen Stellen ins Geschmacklose abgleitet.“ (Zit. nach Krohn, Deutschlandfunk.de vom 07.07.2006). Auf Deutsch: Recht und Gerechtigkeit. Köhler, Die Tageszeitung vom 08.02.2016.

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IV. Die „Böhmermann-Affäre“ Es kann jedoch auch anders kommen, wie ein neuerer Fall gezeigt hat – gemeint ist die sogenannte Böhmermann-Affäre50. Ausgangspunkt ist damals ein in der ARD-Satiresendung „Extra 3“ veröffentlichter Beitrag in Form eines Musikclips mit dem Titel „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ gewesen. Inhalt des knapp zweiminütigen Videos war unter anderem der Umgang mit Journalisten in der Türkei und das Flüchtlingsabkommen mit der Bundesregierung Deutschland51. Auf die Ausstrahlung folgte die Einbestellung des deutschen Botschafters in das türkische Außenministerium in Ankara und auch die Aufforderung, die Bundesregierung solle die Löschung des Musikvideos bewirken. Weitere Konsequenzen blieben jedoch zunächst aus52. Jan Böhmermann, deutscher Satiriker und Fernsehmoderator, sah sich aufgrund dieser Vorkommnisse und der Reaktion der türkischen Regierung dazu veranlasst, in seiner auf dem Sender ZDFneo ausgestrahlten Satiresendung „Neo Magazin Royale“ am 31. März 2016 den Zuschauern, insbesondere aber dem türkischen Staatspräsidenten, den Unterschied zwischen zulässiger Satire und verbotener Schmähkritik zu erläutern. Dabei wandte sich Böhmermann in seiner „Ansprache“ nicht nur an das Publikum, sondern sprach den türkischen Präsidenten direkt an53. Hiernach trug Böhmermann sodann das schon viel diskutierte Schmähgedicht, mit dem der Satiriker nach eigener Aussage verdeutlichen wollte, was verbotene Schmähkritik ist, vor54. 50 51

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Siehe dazu auch Scheffler, Böhmermanns Gedichtzeilen über Erdoğan – mal ganz anders betrachtet (in diesem Band). Das Video ist in der „Das Erste“-Mediathek abrufbar: Song Erdowie, Erdowo, Erdogan, Extra 3 vom 17.03.2016 (http://mediathek.daserste.de/extra-3/Song-ErdowieErdowo-Erdogan/Video?bcastId=23817212&documentId=34188528). Bähr, FAZ.net vom 29.03.2016; Ehrenberg, Tagesspiegel.de vom 30.03.2016. „Jan Böhmermann, ʻHerr Erdoğan, es gibt Fälle, wo man auch in Deutschland, in Mitteleuropa Sachen macht, die nicht erlaubt sind. Also: Es gibt Kunstfreiheit, das eine – Satire und Kunst und Spaß. Das ist erlaubt, Und auf der anderen Seite, wie heißt es?’ Ralf Kabelka: ‘Schmähkritik’ Jan Böhmermann: ʻSchmähkritik, das ist ein juristischer Ausdruck, also: was ist ‘Schmähkritik?’ Ralf Kabelka: ‘Wenn du Leute diffamierst. Wenn du einfach nur so untenrum argumentierst. Wenn du die beschimpfst und wirklich nur bei privaten Sachen, die die irgendwie ausmachen, herabsetzt’ Jan Böhmermann: ‘Herabwürdigen, das ist Schmähkritik. Und das ist in Deutschland auch… das ist auch nicht erlaubt?’ Ralf Kabelka: ‘Das ist Schmähkritik, ja.’ Jan Böhmermann: ‘Haben Sie das verstanden, Herr Erdoğan?’ Ralf Kabelka: ‘Das kann bestraft werden’ Jan Böhmermann: ‘Das kann bestraft werden?’ Ralf Kabelka: ‘Ja …’ Jan Böhmermann: ‘Sehr gut, also das Gedicht. Und das ist jetzt, was jetzt kommt, das darf man nicht machenʼ.“ (Zit. nach Fahl, NStZ 2016, 316 Fn. 37). Das Schmähgedicht ist nachzulesen bei Fahl, a.a.O., S. 313 Fn. 1.

Grenzen der zulässigen Satire zur verbotenen Schmähkritik

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Bereits am darauffolgenden Tag überschlugen sich die Reaktionen, was zunächst dazu führte, dass das ZDF den Beitrag aus der Mediathek und anderen Videodiensten entfernte55. Es folgten jedoch weitere, vor allem politische Konsequenzen. Die Republik Türkei erklärte kurz darauf in einer Verbalnote gegenüber dem Auswärtigen Amt ihr Strafverlangen wegen der Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten gemäß § 103 StGB56 gegen Böhmermann. Solch ein Ansinnen setzte gemäß § 104a StGB57 eine Ermächtigung der Bundesregierung voraus, deren Erteilung die Bundeskanzlerin mit der in Deutschland geltenden Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit begründete58. Gleichzeitig erklärte Angela Merkel jedoch, dass § 103 StGB aufgrund seiner Entbehrlichkeit bis 2018 aufgehoben werden würde59. Allerdings bezeichnete die Bundeskanzlerin bereits einige Tage zuvor das Schmähgedicht Böhmermanns in einem Telefonat mit dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu als „bewusst verletzenden Text“60. Dies sollte wohl 55

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„… die Parodie im ʻNeo Magazin Royaleʼ vom 31. März zum Umgang des türkischen Ministerpräsidenten mit Satire entspricht nicht den Ansprüchen, die das ZDF an die Qualität von Satiresendungen stellt.“ (Zit. nach o.V., Spiegel online vom 01.04.2016; siehe auch Brauck / Diehl / Hipp u.a., Der Spiegel 16/2016). § 103 Abs. 1 StGB lautete, „Wer ein ausländisches Staatsoberhaupt oder wer mit Beziehung auf ihre Stellung ein Mitglied einer ausländischen Regierung, das sich in amtlicher Eigenschaft im Inland aufhält, oder einen im Bundesgebiet beglaubigten Leiter einer ausländischen diplomatischen Vertretung beleidigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, im Falle der verleumderischen Beleidigung mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft“. Seit dem 01.01.2018 ist dieser Paragraph gestrichen, vgl. Gesetz zur Reform der Straftaten gegen ausländische Staaten, 17.07.2017, BGBl. I, 2439. § 104a StGB, „Straftaten nach diesem Abschnitt werden nur verfolgt, wenn die Bundesrepublik Deutschland zu dem anderen Staat diplomatische Beziehungen unterhält, die Gegenseitigkeit verbürgt ist und auch zur Zeit der Tat verbürgt war, ein Strafverlangen der ausländischen Regierung vorliegt und die Bundesregierung die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt“. Erklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Vorgehen der Bundesregierung nach der türkischen Verbalnote an das Auswärtige Amt am 15. April 2016 in Berlin, Pressemitteilung der Bundesregierung vom 15.04.2016 (https://www.bundesregier ung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2016/04/2016-04-15-erklaerung-bk in.html). „Darüber hinaus möchte ich Ihnen mitteilen, dass unabhängig von diesem konkreten Verfahren die Bundesregierung der Auffassung ist, dass § 103 StGB als Strafnorm zum Schutz der persönlichen Ehre für die Zukunft entbehrlich ist.“ (Merkel, a.a.O.). Der Regierungssprecher Steffen Seibert verdeutlichte jedoch, „dass das Grundgesetz nicht verhandelbar sei – und das gelte unabhängig davon, ob die Kanzlerin persönlich etwas für geschmackvoll oder geschmacklos, für gelungen oder abstoßend halte“. (Bundesregierung: Debatte über Böhmermann-Satire: Meinungsfreiheit ist

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einen Versuch darstellen, das von der türkischen Regierung angestrebte Strafverfahren gegen den Satiriker zu verhindern61. Ungeachtet der Strafverfolgung gemäß § 103 StGB erstattete der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bei der Staatsanwaltschaft Mainz gegen Böhmermann wegen Beleidigung gemäß § 185 StGB einen Strafantrag. Der Satiriker musste derweil unter Polizeischutz gestellt werden, da Angriffe von Anhängern des Staatspräsidenten, nach Polizeiangaben, nicht ausgeschlossen werden konnten. Die „Causa-Böhmermann“ belastete zunehmend die deutsch-türkischen Beziehungen und spaltete ganz Deutschland62. Die Staatsanwaltschaft Mainz stellte mit Beschluss vom 4. Oktober 2016 das Ermittlungsverfahren gegen Böhmermann wegen Beleidigung gemäß §§ 103, 185 StGB mangels Tatnachweises gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein und führte dazu aus63: Entstehungsgeschichte, aktuelle zeitgeschichtliche Einbindung und die konkrete über das bloße Vortragen des sog. ʻSchmähgedichtsʼ hinausgehende Gestaltung des Beitrages ziehen in Anwendung dieser verfassungsrechtlichen Prinzipien [der Kunstgattung der Satire und Karikatur] die Verwirklichung des objektiven Straftatbestandes in Zweifel. … Insoweit ist bereits zu berücksichtigen, dass der Beitrag Bestandteil einer bekanntermaßen satirischen Fernsehsendung war und ein durchschnittlich informiertes verständiges Publikum mithin davon ausgehen dürfe, dass den dort getätigten Äußerungen … die Ernstlichkeit fehlt.

Der Anwalt des türkischen Staatspräsidenten legte sowohl bei der Staatsanwaltschaft Mainz, als auch bei der Generalstaatsanwaltschaft am Oberlandesgericht Koblenz eine Beschwerde gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens ein. Die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz wies die Beschwerde mit Entscheidung vom 13. Oktober 2016 als unbegründet zurück und führte bezugnehmend auf die zuvor erörterten „Strauß-Karikaturen“ aus64: Der Darstellung des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten als ein Schwein, welches u.a. mit einem anderen Schwein in richterlicher Amtstracht kopuliert, war die Aussage zu entnehmen, der Ministerpräsident „mache sich die Justiz in anstößiger Weise seinen Zwecken zunutze“ und er „empfinde an einer ihm willfährigen Justiz ein tierisches Vergnügen“. … Bei den so gen. „Strauß-Karikaturen“ ging es darum, aufzuzeigen, dass der Betroffene ʻausgesprochen tierische Wesenszüge ha-

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höchstes Gut, Pressemitteilung vom 13.04.2016 [https://www.bundesregierung.de/ Content/DE/Artikel/2016/04/ 2016-04-11-boehmermann.html]). Brauck / Diehl / Hipp u.a., Der Spiegel 16/2016. Brauck / Diehl / Hipp u.a., a.a.O. Staatsanwaltschaft Mainz, Pressemitteilung vom 04.10.2016 (https://stamz.justiz .rlp.de/de/startseite/detail/news/detail/News/pressemeldung-staatsanwaltschaft-mai nz-1/). Generalstaatsanwaltschaft beim OLG Koblenz, AfP 2016, 556 (561).

Grenzen der zulässigen Satire zur verbotenen Schmähkritik

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be und sich entsprechend benehmeʼ. … Demgegenüber ist der Darbietung des Beschuldigten bei verständiger Würdigung des Gesamtkontextes nicht zu entnehmen, er unterstelle dem türkischen Ministerpräsidenten ein unanständiges Verhältnis zu den als vermeintliche Sexualpartner Dargestellten oder ein „tierisches Wesen“. Vielmehr ging es dem Beschuldigten nach seiner unwiderlegten Einlassung darum, zu zeigen, dass der türkische Staatspräsident mit dessen Versuch der politischen Einflussnahme auf zulässige satirische Meinungskundgaben in Deutschland eine Grenze überschritten habe. … Aus der maßgeblichen Sicht eines verständigen und zur Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung des künstlerischen Gesamtkonzeptes bereiten Beobachters liegt der Aussagekern der Darbietung des Beschuldigten in der Kritik an dem Umgang des türkischen Staatspräsidenten mit den Grundfreiheiten aus Art. 5 GG.

Das Verfahren war damit rechtsgültig abgeschlossen und blieb ohne strafrechtliche Konsequenzen für den Satiriker65.

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Dagegen steht eine endgültige Entscheidung in Hinblick auf die Unterlassungsklage des türkischen Staatspräsidenten noch aus: Das LG Hamburg erließ auf Antrag Erdoğans gegen Böhmermann eine einstweilige Verfügung und untersagte diesem die Äußerung einzelner Textpassagen (18 von 24) des Schmähgedichts, sie „überschreiten … das vom Antragsteller hinzunehmende Maß“: „ … die fraglichen Zeilen greifen gerade gegenüber Türken oftmals bestehende Vorurteile auf, die gewöhnlich als rassistisch betrachtet werden. Erschwerend kommt hinzu, dass in Kenntnis dessen, dass das Schwein im Islam als ʻunreinesʼ Tier gilt – von einer solchen Kenntnis des Antragsgegners kann ausgegangen werden –, der ʻSchweinefurzʼ erwähnt wird. Des Weiteren haben nahezu sämtliche Zeilen einen sexuellen Bezug.“ (LG Hamburg, ZUM 2016, 774 [775]). Die verbotenen Textpassagen sind als Anhang in einer Pressemitteilung der Hamburger Justiz vom 17.05.2016 (http://justiz.hamburg. de/pressemitteilungen/6103290/pressemeldung2016-05-17-olg-01/) nachzulesen: (https:// justiz.hamburg.de/contentblob/61 03298/6b1b7ae264e23809630af9d7716ef2fd/data/schmaehgedicht-jan-boehmermann -pdfanhang.pdf). Am 10.02.2017 bestätigte das LG Hamburg die Entscheidung aus dem einstweiligen Verfügungsverfahren: „Weder hat der Kläger einen Anspruch darauf, dass das gesamte Gedicht untersagt wird, weil einzelne Passagen rechtswidrig verbreitet wurden, noch hat der Beklagte einen Anspruch darauf, dass der Unterlassungsanspruch insgesamt abzuweisen ist, weil einzelne Passagen rechtmäßig veröffentlicht wurden.“ (LG Hamburg, ZUM-RD 2017, 412 [416]). Im Berufungsverfahren wurde am 15.05.2018 durch das Hanseatische Oberlandesgericht erneut das Urteil der Vorinstanz bestätigt. Das OLG Hamburg sprach dem Gedicht in Hinblick auf die Einbettung in die Sendung die Eigenschaft als Gesamtkunstwerk ab, weil es sich „nicht um ein einheitliches, untrennbares Werk handelt“, sondern um eine „Mehrzahl von Texten, deren Inhalte nur durch eine sie verbindende Klammer äußerlich zusammengehalten werden“: „Die Verbreitung der von dem Landgericht untersagten Äußerungen stellt einen rechtswidrigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers dar, der nicht durch ein vorrangiges Recht des Beklagten auf Verbreitung derartiger Äußerungen gedeckt ist, während hinsichtlich der weiteren Äußerungen des Beklagten dessen berechtigte Interessen an ihrer

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Die Begründung der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz ist dabei insoweit von besonderem Interesse, als dass in der herangezogenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den „Strauß-Karikaturen“ dieses, anders als die Generalstaatsanwaltschaft im Falle des Schmähgedichts Böhmermanns, bereits allein in der sexuellen Darstellung einen Eingriff in das Intimleben Straußʼ annahm, der keinesfalls mehr von der Kunstfreiheit gemäß Art 5 Abs. 3 Satz 1 GG gedeckt wäre66. Damit verdeutlicht die Entscheidung im Fall Böhmermann jedoch nochmals die vorangestellten Ausführungen, dass Satire stets einer Gesamtwürdigung aller Umstände unterzogen werden muss, da sich nur so der die Wirklichkeit widerspiegelnde Aussagekern ermitteln lässt. Dies dürfte auch nicht anders für die Karikaturen Hachfelds gelten.

Literatur ARNTZEN, HELMUT, Satire in der deutschen Literatur. Geschichte und Theorie. Bd. 1: Vom 12. bis zum 17. Jahrhundert, 1989. BÄHR, JULIA, Erdogan contra Extra3: Einladung zur Fernsteuerung, FAZ.net vom 29.03.2016 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/erdogan-contraextra3-satire-erdowie-erdowo-erdogan-14149807.html). BONACCHI, SILVIA, Einige Bemerkungen zum polnisch-deutschen Dialogdiskurs. Die „Kartoffel-Affäre“ und die Rolle der diskursiven Kompetenz im interlingualen Diskurstransfer, in: U. H. Meinhof / M. Reisigl / I. H. Warnke (Hrsg.), Diskurslinguistik im Spannungsfeld von Deskription und Kritik, 2012, S. 351 ff. BRAUCK, MARKUS / DIEHL, JÖRG / HIPP, DIETMAR / HÜLSEN, ISABELLE / KAZIM, HASNAIN / KÜHN, ALEXANDER / MINKMAR, NILS / MÜLLER, MARTIN U. / MÜLLER, PETER / NEZIK, ANN-KATHRIN / PFISTER, RENÉ /

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Verbreitung die Interessen des Klägers überwiegen. Das ergibt eine Abwägung der beiderseitigen Rechtspositionen.“ OLG Hamburg, ZUM-RD 2018, 484 (487; 488). Das Urteil wurde nicht rechtskräftig, da gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht Beschwerde beim Bundesgerichtshof eingelegt werden kann. Dies hatte Böhmermann getan (Tagesschau.de vom 22.01.2019 [https://www.tagesschau.de/kul tur/boehmermann-bgh-101.html]). Inzwischen hat der BGH (Beschluss vom 30.07.2019 – VI ZR 231/18) Böhmermanns Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurückgewiesen, siehe Pressemitteilung des BGH Nr. 102/2019 vom 31.07.2019 (http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art =pm&pm_nummer=0102/19). – Das Ende des Rechtsstreits? Manche vermuten anderes: „Sofern der BGH einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht stattgibt, ist mit einer Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe zu rechnen.“ (Hoßbach, ZUM-RD 2018, 496). Siehe BVerfGE 75, 369 (379 f.) – Strauß-Karikaturen.

Grenzen der zulässigen Satire zur verbotenen Schmähkritik

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Claudia Zielińska

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Grenzen der zulässigen Satire zur verbotenen Schmähkritik

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SEMKA, PIOTR, Czy znów mamy się bać Niemców?, Od czasu III Rzeszy nie było w Niemczech takiego wybuchu narodowej dumy jak podczas mundialu, Wprost 28/2006. SKIBA, KRZYSZTOF, Najśmieszniejsza wojna nowożytnej Europy – nikt nie przewidział, że trzecia wojna z Niemcami będzie się toczyć o kartofla, Wprost 28/2006. STEFFEN, ERICH, Politische Karikatur und politische Satire im Spannungsfeld von Kunstfreiheitsgarantie und Persönlichkeitsschutz, in: Festschrift für Helmut Simon, 1987, S. 359 ff. TUCHOLSKY, KURT (IGNAZ WROBEL), Was darf die Satire?, Berliner Tageblatt Nr. 36 vom 27.01.1919 (Abendausgabe). URBAN, THOMAS, „Polens neue Kartoffel“. Wie ein Zeitungsartikel beim polnischen Präsidenten Kaczynski eine Magenverstimmung auslöste, Deutschlandfunk.de vom 10.07.2006 (http://www.deutschlandfunk.de/polens-neuekartoffel.795.de.html?dram:article_id=116391). WÜRKNER, JOACHIM, „Was darf die Satire?“ Anmerkungen zum aktuellen Verhältnis von Kunstfreiheit (Art 5 III 1 GG) und strafrechtlichem Ehrenschutz gemäß § 185 StGB bei der Beurteilung politischer Karikaturen, Juristische Arbeitsblätter 1988, S. 183 ff.

Uwe Scheffler

Böhmermanns Gedichtzeilen über Erdoğan – mal ganz anders betrachtet* Zur „Causa Böhmermann“ ist in den letzten Jahren viel gesagt und geschrieben worden. Vielleicht sogar viel zu viel. Es ist merkwürdig, dass sowohl über den Bereich der Kunst als auch über den des Strafrechts offenbar ein jeder meint‚ mitreden zu können. Keiner wird auf die Idee kommen, mit einem Herzchirurgen oder einem Raketeningenieur über deren Arbeit diskutieren zu wollen‚ und niemand‚ der mit diesen Fachgebieten nichts zu tun hat‚ wird meinen, deren fachlichen Meinungen so mal eben als falsch und töricht kritisieren zu können. Den Juristen, Kunstwissenschaftlern und einigen anderen Geistes- oder Sozialwissenschaftlern wie etwa den Kriminologen, Politologen und Psychologen geht es anders. Hier kommt der Dunning-Kruger-Effekt voll zu Geltung. So reicht offenbar notfalls ein abgebrochener Hauptschulabschluss, um mit lautstarken Worten Fachleute als dumm und ahnungslos zu klassifizieren und selbst genau zu wissen, ob denn beispielsweise nun Böhmermann bestraft und sein Gedicht verboten gehört. Die Leserbriefspalten‚ aber auch die redaktionellen Seiten gedruckter wie digitaler Medien sind gefüllt mit Statements offenbar schon als Experten für Kunst und Strafrecht Geborener zur Causa Böhmermann. Selbst die Bundeskanzlerin wusste schnell, nachdem sie (nur) einen Zusammenschnitt des sog. Schmähgedichts ohne die in dem Beitrag enthaltenen Zwischenfragen, Einwürfe und Kommentierungen

auf der Website www.bild.de – was für eine Informationsquelle für eine Regierungschefin! – gesehen hatte, zu entscheiden‚ dass es sich „um einen bewusst verletzenden Text“ handelte1.

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Einen Vortrag zu diesem Thema hat der Autor auf der Vernissage der Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ am 2. Dezember 2019 an der Universität Leipzig im Rahmen des Dies academicus gehalten. Siehe VG Berlin, AfP 2019, 268. Freilich ist Merkel zuzugestehen, dass sie einige Tage später öffentlich erklärte, dass sie sich über ihren Schnellschuss „ärgere“.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-015

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I. Einblick Nun ist über die Causa Böhmermann aber auch von kompetenter juristischer Seite genug geschrieben worden2. Die Frage, ob man den gesamten satirischen Auftritt3 oder nur das bloße Gedicht bei der Entscheidung‚ ob es sich um Kunst handelt‚ heranziehen muss4‚ ist genauso diskutiert worden wie das Problem, wo denn die Grenze der noch erlaubten zur schon verbotenen Beleidigung durch Satire liegt; immer wieder ist hierzu besonders die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Strauß-Karikaturen5 herangezogen worden6, in der die Menschenwürde als absolut unübersteigbare Grenze für die Kunst bei Beleidigungen betont worden ist. Wir wollen hier nur, gewissermaßen ergänzend, einen Blick auf die Wortwahl des eigentlichen Gedichts werfen‚ und zwar unter mehreren Gesichtspunkten, die bisher weniger betrachtet wurden – und dazu auch noch durchaus vergnüglich sind. Den Wortlaut des Gedichtes brauchen wir hier nicht im Einzelnen noch einmal zu wiederholen7. Es ist bekannt, dass es sich um Paarreime handelt‚ in denen 2

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6 7

Siehe etwa Fahl, NStZ 2016, 313 ff.; Brauneck, ZUM 2016, 710 ff.; Ignor, Tagesspiegel.de vom 20.04.2016; Faßbender, NJW 2019, 705 ff.; Zielińska: Grenzen der zulässigen Satire zur verbotenen Schmähkritik – damals und heute (in diesem Band). Faßbender (a.a.O., S. 708) kritisiert sogar die Einschätzung „in einer frühen rechtswissenschaftlichen Stellungnahme“, die Erfüllung des Tatbestandes der Beleidigung sei kein Grenzfall, sondern juristisch „klar“. Der Wortlaut der Rahmenhandlung ist abgedruckt u.a. bei Fahl, a.a.O., S. 316 Fn. 37. „Zu den die Darbietung prägenden künstlerischen Elementen dürfte weniger der Vortrag eines in Reimform verfassten Gedichtes, sondern vor allem die ʻEinrahmungʼ in eine Art ʻLehrstückʼ … beitragen.“ (Generalstaatsanwaltschaft beim OLG Koblenz, AfP 2016, 556 [559 f.]). BVerfGE 75, 369 (379 ff.) – Strauß-Karikaturen, „Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß für Karikaturen Übertreibungen ʻstrukturtypischʼ sind und Personen, die … im öffentlichen Leben stehen, in verstärktem Maße Zielscheibe öffentlicher, auch satirischer Kritik sind, überschreiten die Darstellungen bei weitem die Grenze des Zumutbaren. … Gerade die Darstellung sexuellen Verhaltens, das beim Menschen auch heute noch zum schutzwürdigen Kern seines Intimlebens gehört, sollte den Betroffenen als Person entwerten, ihn seiner Würde als Mensch entkleiden. Damit mißachtet der Beschwerdeführer ihn in einer Weise, die eine Rechtsordnung, welche die Würde des Menschen als obersten Wert anerkennt, mißbilligen muß. … Der Umstand, daß dieser ein im Kreuzfeuer des öffentlichen Meinungskampfes stehender Politiker ist, entkleidet ihn nicht seiner personalen Würde und rechtfertigt derartige Ehrverletzungen auch nicht unter Berufung auf die Freiheit der Kunst“. Siehe etwa Generalstaatsanwaltschaft beim OLG Koblenz, AfP 2016, 556 (561). Das Gedicht ist nachzulesen u.a. bei Fahl, NStZ 2016, 313 Fn. 1.

Böhmermanns Gedichtzeilen über Erdogan

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jeweils der türkische Präsident Erdoğan vorkommt und ihm in obszöner Form entwürdigende Handlungen und herabsetzende Eigenschaften angedichtet worden sind. Nur zwei der Reimpaare zur Erinnerung‚ nicht zuletzt mit Blick auf Metrum und Rhythmus: Jeden Türken hört man flöten, die dumme Sau hat Schrumpelklöten, Von Ankara bis Istanbul weiß jeder, dieser Mann ist schwul.

Diese und die anderen Reime sind oft als primitiv gescholten worden, weil sie, nur wegen des Endreimes, Sinnloses und Unsachliches dumm aneinanderreihen – Hauptsache‚ es wirke irgendwie ehrabschneidend, heißt es immer naserümpfend. Machen wir uns aber zunächst einmal auf die Spur dieser Reime – so ganz ohne Vorbild sind sie ja nicht.

II. Ramses, der Ägypterkönig Gehen wir dazu kurz zurück in die Wilhelminische Kaiserzeit, die Zeit des Ersten Weltkriegs und auch noch in die Zeit der Weimarer Republik. Es gab damals noch keine Schulmädchen-Reporte im Bahnhofskino und auch kein YouPorn im Internet. Es gab praktisch nichts Nacktes in der Öffentlichkeit zu sehen. „Ich hab das Fräul’n Helen baden seh’n, das war schön. Da kann man Waden seh’n, rund und schön im Wasser stehn“‚ hieß es noch in einem Schlager der 1920er Jahre8 – Waden!! Männer drücken sich damals die Nase platt an den Schaufenstern von Buchhandlungen, in denen Kunstpostkarten mit Abbildungen von Gemälden und Skulpturen Alter Meister mit nackten Körpern zum Verkauf ausgestellt wurden. Lediglich Akademische Realisten wie Alexandre Cabanel oder William-Adolphe Bouguereau malten ihren nackten antiken Göttinnen jedes einzelne Schamhaar – im höheren Interesse der Kunst selbstverständlich‚ und in die Museen und Salons verirrte sich eh kein einfacher Mensch. Auch die Sprache machte um das Sexuelle einen weiten Bogen. Geschlechtsteile und sexuelle Handlungen wurden öffentlich, wenn überhaupt, nur auf Lateinisch angesprochen – eine Sprache, die dem einfachen Volk nicht geläufig war‚ das seinerseits aber‚ im Schafzimmer und als Männer unter sich‚ jene 8

Schlager von 1924, u.a. im Repertoire der „Comedian Harmonists“ (Text: Fritz Grünbaum [* 1880; † 1941]; Musik: Fred Raymond [* 1900; † 1954]).

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Uwe Scheffler

allseits verpönten Ausdrücke für Geschlechtsteile und sexuelle Handlungen verwendeten‚ die heute besonders noch die hiesigen Gangsta-Rapper gerne präsentieren.

1. Zotenverse Es war die Zeit, in der sich in den Kneipen und Bordellen, in den Kasernen und Schützengräben Verse verbreiteten, in denen kein Blatt vor den Mund genommen wurde9. „Wie unsere Großeltern ferkelten“‚ betitelte dies vor einiger Zeit ein entsprechendes Buch10. Zu dieser Zeit entwickelten sich die lange nur mündlich überlieferten großen Zotenverse von „Frau Wirtin“11‚ vom „Sanitätsgefreiten Neumann“12 und von „Bonifazius Kiesewetter“13. Und es bildete sich noch eine weitere aus: Das Gedicht vom Pyramidenbau des Ägypterkönig Ramses. Um dieses geht es mir hier. Die Geschichte von „Ramses dem Ägypterkönig“ wird manchem bekannt sein. In ungezählten Varianten geistert sie durch das Netz. 9

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Eine neue Entwicklung war das freilich nicht. „Geschweinigelt“ wurde schon immer. Es sei nur auf die „Spittelberg-Lieder“ hingewiesen, derb-erotischen Vierzeiler, wie sie in der Wiener Vorstadtgemeinde Spittelberg, eine Gegend mit zahlreichen Wirtsund Bierhäusern sowie Winkelbordellen, schon im frühen 19. Jahrhundert gesungen wurden, etwa: „Laßts gehen d’altn Weiba, / Is a hellnarrisch Gsind, / Bei der Arbeit sans langsam, / Beim Schuastern sans gschwind. // D’ Frau Wirtin bei da Lindn, / Die hats zu weit hintn / Und d’Frau Wirtin beim schwarzn Turm / Hats zu weit vurn. // Mei Schwaf is vurn zrißn / Mei Mensch hab i gnaht, / Hernach hab ich ihr an Schlampn / Aus da Fotz aussazaht.“ (Zit. nach Wiener Blut. Ein Bilderzyklus mit Liedern, 1970, o.S.). Thomas, Frau Wirtin. Diesem Buch sind auch alle folgenden in diesem Beitrag zitierten „Ferkeleien“ entnommen. „Es steht ein Wirtshaus an der Lahn, / da halten alle Fuhrleut an. / Frau Wirtin schlägt die Leier, / die Gäste sitzen um den Tisch / und kratzen sich die Eier. // Es kam noch nie aus diesem Haus / ein Mann mit schlappem Schwanz heraus; / doch muss man drein sich schicken / und lange warten mit Geduld, / denn dort will jeder ficken“. „Früher spritztʼ manʼs auf den Rasen / oder ließ sich einen blasen. / Heute wendet jedermann / Neumanns Überzieher an. // Früher stand man ziemlich lange / vor der Hurenwohnung Schlange. / Heute wendet jedermann / Neumanns Puffwegweiser an“. „Frau Baronin hatte Fieber, lag auf ihres Bettes Pfühl; / schleunigst rief sie Kiesewetter, dass er ihren Puls befühl. / Kiesewetter tritt ins Zimmer, und was macht das alte Schwein? / Greift der gnädigen Baronin einfach zwischen beide Beinʼ. / Als er sich genug gelabt hat, spricht er: Na, soviel ich weiß, / ist das kaum was von Bedeutung, nur das Fötzchen etwas heiß“.

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Ramses der Ägypterkönig hatte der Moneten wenig,

beginnt das Gedicht zumeist. Für den Pyramidenbau war die Kasse plötzlich leer, und das quält den Herrscher sehr. Drum sprach er zur Tochter Isis: Jungfer‚ jetzt kommt eine Krisis; bald schon werde ich gepfändet, und der Bau wird nicht beendet.

Ramses II. (* um 1303; † 1213 v. Chr.), war der dritte Pharao aus der 19. Dynastie des Neuen Reichs. Er regierte rund 66 Jahre von 1279 bis 1213 v. Chr. Ramses gilt als einer der bedeutendsten Herrscher des alten Ägypten. Kein anderer Pharao hat seiner Nachwelt so viele Monumente hinterlassen wie Ramses – die großen Pyramiden waren allerdings schon lange vorher‚ zur Zeit des Alten Reiches gebaut worden. Eine Tochter Isis hat es nicht auf die ersten Seiten der Geschichtsbücher geschafft. Allerdings muss man wissen‚ dass damals ein Pharao stets mehrere königliche Gemahlinnen (deren Kinder als rechtmäßige Nachkommen betrachtet wurden) und zahlreiche Nebenfrauen hatte. Von Ramses sind als Nachkommen rund 40 Töchter und 45 Söhne bekannt (manche Quellen gehen auch von noch mehr aus), eine vollständige Namensliste fehlt. Ramsesʼ zweite (von drei) königlichen Gemahlinnen hieß Isisnofret („die schöne Isis“)‚ vermutlich eine syrische Prinzessin. Isisnofret gebar drei Söhne und (neben Bintanat‚ später weitere Hauptgemahlin Ramsesʼ – Vater-Tochter-Ehen waren bei den Pharaonen nichts Ungewöhnliches; Ramses heiratete drei seiner Töchter) wohl noch eine zweite Tochter‚ ebenfalls mit Namen Isisnofret. Doch zurück zu Ramses und seiner monetären „Krisis“ in dem Gedicht. Er hatte eine „Geschäftsidee“, wie ein Spötter anmerkte14 – Ramses „vermarktete sein Prinzesschen als Porno-Queen der Antike“: Räumen wir den Tempel aus, bauen wir ein Freudenhaus. Deine schönen Jungfernzitzen können mir jetzt sehr viel nützen. Die Bezahlung, die soll sein je ein Pyramidenstein.

Gesagt – getan:

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Thomas, Frau Wirtin, S. 43.

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Uwe Scheffler Ramses ließ sogleich verkünden, auf den Bergen, in den Gründen, auf den Märkten, in den Tempeln: Die Prinzessin lässt sich stempeln.

Und dann geht es, in nicht enden wollenden Versen, los, zu reimen, wie Männer aus aller Welt nach Ägypten zur Prinzessin Isis eilen. Wen alle Verse interessieren, der möge ins Internet gucken. Wir suchen uns hier einfach mal die Verse als Beispiele heraus, die deutsche Freier der Isis betreffen. Luden von der Reeperbahn schleppten ihre Kundschaft an. Ruhrstadt Essen war vertreten mit den Kruppschen Gussstahlklöten. Männer aus dem Raume Aachen, die mit Schwänzen Kohle brachen. Kumpel aus dem Saargebiet brachten ihr Kondom gleich mit. Sachsen strömten an den Nil, alle stolz auf ihren Stiel. Pommern, frisch von Strelasund, mit dem Kampfruf: Dübel rund! Schwaben traten an zur Hatz mit abgeklapptem Hosenlatz. Als Empfehlung trugen Bayern Hofbräustempel auf den Eiern.

In manchen anderen Versen wird der Nonsens noch deutlicher, der dadurch entsteht, das einziges Kriterium für die Wortwahl der paarige Endreim ist. Auch hierfür noch ein Beispiel: Buddhas von der Insel Ceylon schützten sich diskret mit Nylon.

2. Nonsens-Gedichte Der Hinweis auf das Ramses-Gedicht soll aber nicht nur zeigen, dass Böhmermann ein literarisches Vorbild für sein Schmähgedicht gehabt haben dürfte (er hatte sogar einmal behauptet, es stamme aus dem Internet15), sondern auch Folgendes: 15

Böhmermann im Interview mit Kalle / v. Uslar, Die Zeit 20/2016.

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Das Gedicht Böhmermanns kann nur richtig verstanden und eingeordnet werden‚ wenn wir es als Bestandteil der Gattung der Nonsens-Literatur betrachten: Nonsens ist komisch, tendenzlos‚ textintern ausgerichtet und weicht von empirischen Tatsachen, logischen Gesetzen (beziehungsweise Vorschriften) oder sprachlichen Regeln ab,

lautet die gängige Definition16. Nonsens ist eine Literaturgattung, die besonders mit den Namen Christian Morgenstern17, Joachim Ringelnatz18, Heinz Erhardt19 und der sogenannten Frankfurter Schule (aus der die „Titanic“ hervorgegangen ist), und hier namentlich mit Robert Gernhardt20 und F. W. Bernstein21, verbunden ist. Auch Jüngeren ist vermutlich der Limerick der Blödelbarden Schobert & Black erinnerlich22: Es lagen zwei Greise auf Rügen Des Nachts in den letzten Zügen In den ersten Zügen Da konntʼ keiner liegen. Die halten gar nicht auf Rügen.

Daraus ergibt sich zweierlei: Dass niemand Ceylonesen oder Deutsche der genannten Regionen in dem Ramses-Gedicht diffamieren will, sondern dass die Zeilen lediglich möglichst lustig Gereimtes transportieren sollen‚ ist evident. Dies gilt auch für hier nicht näher wiedergegebene‚ für die Protagonisten eigentlich despektierliche Verse, in denen Asiaten (Philippinos) „Eier gelb wie Mandarinen“ und Cowboys „Lues“, also Syphilis, oder Kardinälen Besuche bei der Isis angedichtet wer16 17

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Köhler, Nonsens, S. 29. Siehe auch Kollmer: „Gedicht ab – Vers läuft“. „Ein Wiesel / saß auf einem Kiesel / inmitten Bachgeriesel. / Wisst ihr / weshalb? / Das Mondkalb / verriet es mir / im Stillen: / Das raffinier / te Tier / tatʼs um des Reimes willen.“ (Das ästhetische Wiesel, Die Galgenlieder, 1905). „In Hamburg lebten zwei Ameisen, / Die wollten nach Australien reisen. / Bei Altona auf der Chaussee / Da taten ihnen die Beine weh, / Und da verzichteten sie weise / Denn auf den letzten Teil der Reise.“ (Die Ameisen, Kuttel Daddeldu, 1924). „Ein jeder Stier hat oben vorn / auf jeder Seite je ein Horn; / doch ist es ihm nicht zuzumuten, / auf so ʼnem Horn auch noch zu tuten. / Nicht drum, weil er nicht tuten kann, / nein, er kommt mit dem Maul nicht ʼran!“ (Der Stier, Nochʼn Gedicht, 1963). „Seht ihn an, den Texter. / Trinkt er nicht, dann wächst er. / Mißt nur einen halben Meter – / weshalb, das erklär ich später.“ (Folgen der Trunksucht, Wörtersee, 1981). „Das Haferkorn, das reift, / das Glied, das sich versteift, / die Leine, die sich löst, / die Frau, die sich entblößt – / das sind vier Phänomene. / Warum ich sie erwähne? / Die ersten beiden Zeilen / sind, um euch aufzugeilen. / Die andern zwei? Der Rest? / Der macht m i c h scharf – verstehst?!“ (An die Mädchen dieser Welt, 1999 – Hervorhebung von dort). Löns mir ein grünes Lied. Limericks und Lästerlieder (1971).

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den. Und auch Böhmermann quält sich nicht dichterisch unbeholfen irgendwie reimende Beleidigungen ab‚ sondern schafft ein (freilich nicht tendenzloses) Nonsens-Gedicht – man gucke mal auf den wohl groteskesten‚ etwas holperigen Paarreim: Und selbst abends heißtʼs statt schlafen, Fellatio mit hundert Schafen.

Das ist Nonsens-Lyrik in reinster Form. Denn Nonsens ermöglicht nicht nur Autoren‚ „sich auszuprobieren, mit Sprache zu experimentieren und sprachliche Grenzen zu überschreiten“23: Davon abhängig kann man mit Nonsens auch Regeln und Normen durchbrechen und Zustände kritisieren, ohne dafür direkt haftbar gemacht zu werden. Und die Nonsens-Dichtung erlaubt dem Autor, ohne auf Moral und Botschaft Acht geben zu müssen, hemmungslos zu fantasieren und … dadurch den Leser zum Lachen und Aufhorchen zu reizen.

Böhmermann selbst hat betont, das Gedicht sei zwar ein „rumpeliger … Witz“, aber ein „gelungenes Gedicht“, denn „es reimt sich ganz toll“. Und man müsse doch dem „reichlich bescheuerten Schmähgedicht“ anmerken, dass es trotz des Hantierens mit „plumpen Klischees und Vorurteilen“ nicht um die Beleidigung Erdoğans gegangen sei24. Es werde, so Böhmermann weiter, eine Spannung zwischen der Form des Gedichtes – der verwendete Paarreim begegne einem regelmäßig eher in Kinderreimen, Kinderliedern und Abzählreimen – „und seinem absurden, offensichtlich übertriebenen Inhalt und ins Blaue hinein fabulierten Haltlosigkeiten erzeugt“, die nicht zusammenpassen „und daher Komik entstehen“ lassen25.

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Rossipotti-Literaturlexikon, Stichwort: Nonsense, bearb. von Helma Hörath (https: //www.literaturlexikon.de/genres/nonsense.html). Böhmermann im Interview mit Kalle / v. Uslar, Die Zeit 20/2016. Zit. nach LG Hamburg‚ ZUM-RD 2017, 412 (413). Ergänzend wird Böhmermann vom Landgericht wiedergeben, es sei „zudem ein Knittelvers verwandt worden, was ebenfalls das Artifizielle und den Nichternst unterstreiche“. Nun besteht das ganze Gedicht nur aus Knittelversen, und zwar aus sogenannten „strengen“. Vermutlich ist das letzte Reimpaar gemeint, ein „freier“ Knittelvers, der in der Silbenzahl variieren darf: „Bis der Schwanz beim Pinkeln brennt, / das ist Recep Erdoğan, der türkische Präsident.“ „– Auch insofern übrigens eine Ähnlichkeit zu dem (möglichen) Vorbild Böhmermanns, dem „Ramses“-Gedicht, das auch zumeist mit einem freien Knittelvers ausklingt: „Hervor tritt da aus schwarzem Tuch / säbelschwingend ein Eunuch. / Und hinterm Vorhang, voller grausen, / sieht man die Eierschleifmaschine sausen“.

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Dieser Interpretation hat sich auch die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz in ihrem Einstellungsbescheid im Ermittlungsverfahren gegen Böhmermann angenähert26, in dem sie betont hat, Böhmermann habe die Absurdität der dem türkischen Staatspräsidenten zugeschriebenen Verhaltensweisen derart offensichtlich werden … lassen, dass sie schlechterdings nicht ernst genommen werden könnten.

Der Text des Gedichts sei von einer Reihe offensichtlicher Unsinnigkeiten und völlig übersteigerter Absurditäten gekennzeichnet;

ein solcher „außerordentlicher Grad an Verzerrung“ könne „gegen eine Beleidigung bzw. eine Beleidigungsabsicht sprechen“. Juristisch nachvollziehbar‚ aber doch irritierend und „nicht frei von Ironie“27: Damit „retten“ Böhmermann strafrechtlich genau jene von „völlig übersteigerten Absurditäten“ gekennzeichneten Verse‚ die zu wiederholen ihm zivilrechtlich untersagt wurde. Während Böhmermann hinsichtlich der Teile des Gedichts‚ in denen „in zulässiger Form harsche Kritik an der Politik des Antragstellers“ Erdoğan geäußert wurde28‚ obsiegte‚ wurden die Reime mit den „in das Absurde gewendete[n] Beschreibungen des Sexuallebens“ Erdoğans mit den einem (zivil-)gerichtlichen Bann belegt29: Es liegt auf der Hand, dass der von einer Beleidigung oder einer Beschimpfung Betroffene diese nicht bereits deswegen hinzunehmen hat, weil sie ersichtlich nicht ernsthaft gemeint sind.

Aus dieser Betrachtung ergibt sich aber auch noch etwas anderes, nicht weniger Wichtiges: Man muss, um Böhmermanns Gedicht isoliert als Kunst einzu26 27 28 29

Generalstaatsanwaltschaft beim OLG Koblenz, AfP 2016, 556 (563). Faßbender, NJW 2019, 709. LG Hamburg‚ ZUM 2016, 774 (775). So das LG Hamburg‚ ZUM-RD 2017, 412 (415). Die Entscheidung wurde in der Berufungsinstanz gehalten, siehe OLG Hamburg‚ AfP 2018, 335. Der BGH (Beschluss vom 30.07.2019 – VI ZR 231/18) hat Böhmermanns Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurückgewiesen, siehe Pressemitteilung des BGH Nr. 102/2019 vom 31.07.2019 (http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprech ung/document.py?Gericht=bgh&Art =pm&pm_nummer=0102/19). Erlaubt ist Böhmermann nunmehr nur die Wiederholung von Fragmenten des Gedichts: „Sackdoof, feige und verklemmt, / ist Erdoğan, der Präsident. / Er ist der Mann, der Mädchen schlägt / und dabei Gummimasken trägt. / … / und Minderheiten unterdrücken, / Kurden treten, Christen hauen“, siehe den Anhang der Pressemitteilung der Hamburger Justiz vom 17.05.2016 (https://justiz.hamburg.de/content blob/6103298/6b1b7ae264e23809630af9d7716ef2fd/data/schmaehgedicht-jan-bo ehmermann-pdfanhang.pdf).

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ordnen, nicht auf die – in letzter Konsequenz etwas fragwürdige – Ansicht des Bayerischen Oberlandesgerichts zurückgreifen, wonach selbst ein Pamphlet „allein schon wegen seiner Reimform unter den formalen Kunstbegriff fällt“30, sondern kann darauf abstellen, dass der formale Kunstbegriff, der „an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft“31, wegen der Zuordnung des Gedichts zur Gattung der Nonsens-Lyrik einschlägig ist! Zur Klarstellung: Die Satire (der das Böhmermanngedicht zuzuordnen ist) ist keine Kunstgattung, sondern ein Stilmittel, eine Darstellungsweise, die (wie hier) als (Spott-)Gedicht, aber auch als Karikatur oder Kabarett / Comedy daherkommen kann. „Satire kann Kunst sein; nicht jede Satire ist jedoch Kunst.“32

III. Sirko, der Kosaken-Ataman Aber kommen wir nun zu einem weiteren‚ nicht weniger amüsanten Punkt‚ der eine überraschende neue Sichtweise auf den Wortlaut des BöhmermannGedichtes ermöglicht: Präsident Erdoğan‚ von der Presse oft als „neuer Sultan“ bezeichnet, ist nicht der erste Herrscher der Türkei‚ der in dieser Weise beschimpft worden ist. Schon vor knapp 350 Jahren musste sich der damalige türkische Sultan Mehmed IV. als „Ziegenhirt“‚ „Sauhalter“‚ „Schwein“‚ „Gottes Dummkopf“, „Enkel des leibhaftigen Satans“‚ „Schweinefresse“, „Stutenarsch“, „Metzgerhund“ sowie als jemand‚ der nicht mal mit seinem „nackten Arsch einen Igel töten“ könne‚ und dessen Mutter „gefickt“ gehört‚ bezeichnen lassen – so ist es jedenfalls überliefert. Was war geschehen? Zu Beginn des Osmanisch-Russischen Krieges hatten im Jahre 1675 die Saporoger (von russisch „Запорожье“ [Saporosche] – „Land hinter den Stromschnellen“) Kosaken, die am unteren Verlauf des Dnepr lebten, die Osmanen und die mit ihnen verbündeten Tataren in einer großen Schlacht besiegt. (Zum Hintergrund: Nachdem die Kosaken in ihren Scharmützeln mit der polnisch-litauischen Adelsrepublik im Kampf um Autonomie in die Enge gedrängt worden waren, waren sie auf das Moskowiter Reich zugegangen. In dem 1654 geschlossenen Vertrag von Perejaslaw schworen sie Zar Alexei I. den Treueid. Die Kosaken hatten danach einen privilegierten Militärstand im 30 31 32

BayObLGSt 1994, 20 (25) – Asylbetrügergedicht. BVerfGE 67, 213 – Anachronistischer Zug. BVerfGE 86, 1 (9) – „geb. Mörder“.

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russischen Zarenreich inne; sie erhielten an den Landesgrenzen Boden, mussten dafür aber diese Grenzen militärisch schützen.) Trotz seiner Niederlage verlangte der türkische Sultan Mehmed IV. ein Jahr später in einem Brief die Unterordnung der Saporoger Kosaken unter die Osmanenherrschaft. Der Text der Botschaft des Sultans an die Kosaken lautete33: Ich, Sultan und Herr der Hohen Pforte, Sohn Mohammeds, Bruder der Sonne und des Mondes, Enkel und Statthalter Gottes auf Erden, Beherrscher der Königreiche Mazedonien, Babylon, Jerusalem, des Großen und Kleinen Ägyptens, König der Könige, Herr der Herren, unvergleichbarer Ritter, unbesiegbarer Feldherr, Hoffnung und Trost der Muslime, Schrecken und großer Beschützer der Christen, befehle euch, Saporoger Kosaken, freiwillig und ohne jeglichen Widerstand aufzugeben und mein Reich nicht länger durch eure Überfälle zu stören. Sultan Mehmed IV.

Die Kosaken‚ damals dem Schreiben eher abhold‚ sollen mit einem Brief geantwortet haben (das Original des Antwortschreibens der Kosaken ist nicht erhalten geblieben‚ es gibt eine im 18. Jahrhundert gefertigte Abschrift34): Du türkischer Teufel, Bruder und Genosse des verfluchten Teufels und des leibhaftigen Luzifers Sekretär! Was für ein Ritter bist du zum Teufel, wenn du nicht mal 33

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„Я, султан и владыка Блистательной Порты, сын Ибрагима I, брат Солнца и Луны, внук и наместник Бога на земле, властелин царств Македонского, Вавилонского, Иерусалимского, Великого и Малого Египта, царь над царями, властитель над властелинами, несравненный рыцарь, никем не победимый воин, владетель древа жизни, неотступный хранитель гроба Иисуса Христа, попечитель самого Бога, надежда и утешитель мусульман, устрашитель и великий защитник христиан, повелеваю вам, запорожские казаки, сдаться мне добровольно и без всякого сопротивления и меня вашими нападениями не заставлять беспокоиться. Султан турецкий Мехмед IV.“ Es gibt verschiedene Versionen, diese ist die von Dmitrij Jawornizkij in der dreibändigen „Geschichte der Saporischschja-Kosaken“ (Истории Запорожских казаков) von 1892/97 wiedergegebene. Die ins Deutsche übersetzte Fassung ist aus Wikipedia übernommen. „Ти, султан, чорт турецький, i проклятого чорта син і брат, самого Люцеферя секретарь. Який ти в чорта лицар, коли голою сракою єжака не вбʼєш?! Чорт ти, висрана твоя морда. Hе будеш ти, сукін син, синів християнських під собою мати, твойого війска ми не боїмося, землею i водою будем биться з тобою, враже ти розпроклятий сину! Распронойоб твою мать! Вавилонський ти жихась, Македоньский колесник, Iєрусалимський бравирник, Александрійський козолуп, Великого і Малого Египта свинарь, Армянська злодиюка, Татарський сагайдак, Каменецький кат, у всего світу i підсвіту блазень, самого гаспида онук, а нашого хуя крюк. Свиняча ти морда, кобиляча срака, різницька собака, нехрещений лоб, ну і мать твою йоб. От так тобi Запоріжцi відказали, плюгавче. Не будеш ти i свиней христіанських пасти.“ Die ins Deutsche übersetzte Fassung des Briefes ist aus Wikipedia übernommen.

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Uwe Scheffler mit deinem nackten Arsch einen Igel töten kannst? Was der Teufel scheißt, frisst dein Heer. Du wirst keine Christensöhne unter dir haben. Dein Heer fürchten wir nicht, werden zu Wasser und zu Lande uns mit dir schlagen, gefickt sei deine Mutter! Du Küchenjunge von Babylon, Radmacher von Mazedonien, Ziegenhirt von Alexandria, Bierbrauer von Jerusalem, Sauhalter des großen und kleinen Ägypten, Schwein von Armenien, tatarischer Geißbock, Verbrecher von Podolien, Henker von Kamenez und Narr der ganzen Welt und Unterwelt, dazu unseres Gottes Dummkopf, Enkel des leibhaftigen Satans und der Haken unseres Schwanzes. Schweinefresse, Stutenarsch, Metzgerhund, ungetaufte Stirn, gefickt sei deine Mutter! … Glatzkopf. Du bist nicht einmal geeignet, christliche Schweine zu hüten. … küss unseren Hintern! Unterschrieben: Der Lager-Ataman Iwan Sirko mitsamt dem ganzen Lager der Saporoger Kosaken.

Iwan Dmytrowytsch Sirko (ukrainisch Іван Дмитрович Сірко; * ca. 1605/10; † 1680) war langjähriger Anführer, nämlich Ataman35 der Saporoger Kosaken. Es heißt, dass er während seiner Ataman-Zeit von 1659 bis 1680 in 244 Schlachten beteiligt war und nie besiegt wurde. Daran anknüpfend existiert die Legende, dass die Saporoger Kosaken Sirko nach seinem Tod fünf Jahre lang nicht beerdigten, sondern seinen Körper mit sich führten, damit er als Toter die Feinde in Schrecken versetzte und den Kosaken zum Sieg verhalf; vor der Beerdigung amputierten sie angeblich die rechte Hand des Leichnams und nahmen sie danach immer überall hin mit, damit sie ihnen als Talisman diente. Jedenfalls wurde er nach seinem Tod zu einem der beliebtesten Heerführer in der ukrainischen Geschichte und zum Helden vieler Mythen, Volkslieder und Gedichte. Der Historiker und Ethnograph Dmitrij Jawornizkij (Дмитрий Яворницкий) (* 1855; † 1940) komponierte zwei Dumas (ukrainische Volkslieder) über Sirko und veröffentlichte 1894 eine Biographie. Noch im August 2017 ist in Charkiw ein neues Denkmal für Sirko aufgestellt worden36. Der neu gewählte Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, erinnerte in seiner Rede anlässlich des 28. Jahrestages der Unabhängigkeit der Ukraine am 24. August 2019 an ihn37.

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Stammes- und militärischer Führer der Kosaken. Sokolynska, Kharkivobserver.com vom 25.08.2017. Selenskyj erwähnte mit Blick auf die Geschichte der Ukraine, dass Sirko an der Spitze von 2.500 ukrainische Kosaken im Dreißigjährigen Krieg 1646 an der seit 1559 unter spanischer Herrschaft stehenden Belagerung der Franzosen und der Vereinigten Niederländer von Dünkirchen teilgenommen haben soll (siehe Ukrinform.net vom 29.08.2019 [https://www.ukrinform.net/rubric-polytics/2766422speech-by-presiden t-of-ukraine-on-occasion-of-independence-day.html]). – Er habe damals durch eine Taktik „entgegen alle Gesetze der Militärwissenschaft“

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Ein kurzer Einschub: Nicht zuletzt im 19. Jahrhundert wurde dem freiheitsliebenden, kampferprobten Volk der Kosaken allgemein sehr viel Sympathie entgegengebracht. Der Schriftsteller Nicolas Gogol (Никола́й Го́голь), der sich mit der historischen Vergangenheit der Ukraine befasste, trug in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seinen Schriften (insbesondere „Taras Bulba“ (Тарас Бульба) dazu bei, den Kosaken in der russisch-ukrainischen Kultur Raum zu geben. Auch Ilja Repin‚ damals der bedeutendste Maler des russischen Zarenreiches38‚ war ein großer Bewunderer der Kosaken, er schrieb am 6. November 1880 an den russischen Kunstkritiker Wladimir Stassow (Владимир Стасов)39: Alles, was Gogol über sie geschrieben hat, ist wahr! Ein Teufelsvolk! Niemand auf der ganzen Welt hat so tief die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gefühlt.40

Repin entwarf ab 1878 über die Brieflegende das großformatige (2,03 × 3,58 m) Gemälde „Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief“ (Запорожцы пишут письмо турецкому султану [Saporoschzy pischut

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(„всупереч усім законам військової науки“) die als uneinnehmbar geltende Festung erobert. Als der französische Präsident Charles de Gaulle 1966 die Sowjetunion besuchte, bat er persönlich, ihn an den Begräbnisort von Sirko, den er als „Nationalhelden von Frankreich“ titulierte, zu bringen. (Näher Pelechowoї / Schewtschenko, Getmanat.org vom 26.04.2015). Ilja Jefimowitsch Repin (Илья́ Ефи́мович Ре́пин) (* 1844; † 1930) gilt als der bedeutendste Vertreter des russischen Realismus. Ein Stipendium führte ihn 1873 nach Paris. Dort setzte er sich mit dem (Früh-)Impressionismus auseinander und traf Édouard Manet. Sein Beitrag zum Pariser Salon von 1875, „Pariser Café“‚ ganz unter dem Einfluss von Manet‚ fand allerdings keine Beachtung. Als er auch im Jahr darauf keinen Erfolg erzielen konnte, kehrte er schon zwei Jahre vor Ablauf seines Stipendiums enttäuscht nach Russland zurück und beschloss, sich fortan russischen Themen zu widmen. Repins kunsthistorische Bedeutung ist meines Erachtens kaum zu überschätzen. Er ist nicht nur ein wichtiger Anreger für den Sozialistischen Realismus der SowjetMalerei‚ sondern gehört der Handvoll großer Sozialer Realisten des 19. Jahrhunderts zugerechnet. Seine fulminanten „Wolgatreidler“ von 1872/73, (St. Petersburg‚ Russisches Museum) stehen ebenbürtig neben den „Steineklopfern“ Gustave Courbets‚ den „Heumachern“ Camille Corots‚ den „Ährenleserinnen“ Jean-François Millets‚ der „Wäscher in“ Honoré Daumiers‚ den „Gänserupferinnen“ Max Liebermanns und dem „Eisenwalzwerk“ Adolph v. Menzels. Näher Lang, Nineteenth-Century Art Worldwide 1/2002 („A hell of a people! … No one on this earth has felt liberty, equality and fraternity as deeply as they!“). Die hier verwendete deutsche Übersetzung stammt aus Wikipedia, Stichwort: Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief. „Недаром про них Гоголь писал, все это правда! Чертовский народ! Никто на всем свете не чувствовал так глубоко свободы, равенства и братства. Во всю жизнь Запорожье осталось свободно, ничему не подчинилось“.

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pismo turezkomu sultanu]), heute im Staatlichen Russischen Museum (Государств енный Русский музей) in Sankt Petersburg. Repin hatte von der Geschichte über die Saporoger Kosaken im Jahre 1878 durch den schon erwähnten Historiker Jawornizkij, wie der Kritiker Stassow ein Freund Repins, erfahren‚ der ihm die Abschrift des Briefes aus dem 18. Jahrhundert zeigte. Er fertigte zunächst mit Bleistift auf Papier eine Kompositionsskizze an, die sich heute in der Moskauer Tretjakow-Galerie befindet. Repin stellte in der Folge weitere Nachforschungen über das Thema an und entwarf während einer Reise an den Dnjepr 1880 Skizzen von Trachten und Waffen der Kosaken. Im Anschluss daran entstand eine erste kleinformatige, in Öl auf Leinwand ausgeführte Fassung (67 × 87 cm) des Bildes (Vadodara, Baroda Museum & Picture Gallery). Gleichzeitig arbeitete er an der erst 1891 vollendeten großformatigen Fassung. In Russland wird das Bild einfach als „Saporoshzy“ (Запорожцы) bezeichnet. Es ist dort genauso wichtig wie beispielsweise Emanuel Leutzes „Washington crossing the Delaware“41 für das Nationalbewusstsein der USA oder wie Jacques-Louis Davids „Schwur der Horatier“42 für die Franzosen. Repins Gemälde wurde 1944, 1956 und 1969 für sowjetische Briefmarken und 2014 für eine ukrainische Briefmarke ausgewählt. Der sowjetische Komponist Reinhold Glière komponierte 1921 zu diesem Bild eine symphonische Dichtung43. Der französische Dichter Guillaume Apollinaire (* 1880; † 1918) nahm das Motiv des Briefes der Saporoger Kosaken in seinem (sehr langen) Gedicht „La Chanson du mal-aimé“ als Abschnitt „Réponse des Cosaques Zaporogues au Sultan de Constantinople“ auf44. Plus criminel que Barrabas / Cornu comme les mauvais anges / Quel Belzébuth estu là-bas / Nourri d'immondice et de fange / Nous n'irons pas à tes sabbats / Pois41 42 43

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Emanuel Leutze (* 1816; † 1868), Washington überquert den Delaware (1851). New York, Metropolitan Museum of Art. Jacques-Louis David (*1748; †1825), Le Serment des Horaces (1784). Paris, Musée du Louvre. Allerdings eine zweite Version des Gemäldes, die Repin vor der Fertigstellung des ersten Gemäldes im Jahr 1889 begonnen hatte, aber nie vollendet wurde. Sie befindet sich im Kharkov Art Museum (Харківський художній музей). Reinhold Moritzewitsch Glière (* 1875; † 1975), Die Saporoser Kosaken. Nach dem Gemälde von Ilja Jefimowitsch Repin (op. 64). Veröffentlicht in „Alcools“ (1913). Vertont findet sich Apollinaires Gedicht als 8. Satz in der 1969 komponierten XIV. Symphonie von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (* 1906; † 1975), selbst aus Kosakenfamilie stammend wieder.

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son pourri de Salonique / Long collier des sommeils affreux / D'yeux arrachés à coup de pique / Ta mère fit un pet foireux / Et tu naquis de sa colique / Bourreau de Podolie Amant / Des plaies des ulcères des croûtes / Groin de cochon cul de jument / Tes richesses garde-les toutes / Pour payer tes médicaments.

Wir wollen hier unsere Französischkenntnisse nicht überfordern und gucken (auch) auf die – freie – Übertragung des hoch angesehenen Übersetzers aus dem Russischen und Musikwissenschaftler Jürgen Köchel alias Jörg Morgener (* 1925)45: Der du schlimmer als Barrabas bist und gehörnt wie ein Höllendrachen, Beelzebub ist dein Freund, und du frisst nichts als Unflat und Dreck in den Rachen, abscheulich dein Sabbath uns ist. Du verfaulter Kadaver von Saloniken, blutiger Traum ohne Sinn, deine Augen zerstochen von Piken: deine Mutter, die Erzbuhlerin, sie gebar dich stinkend in Koliken. Henkersknecht von Podolien! Du träumst von Pein, Schorf und Wunden, Eitergeschwüren. Arsch der Stute, Schnauze vom Schwein! Alle Arznei soll nur schüren Pest und Aussatz in deinem Gebein.

Betrachtet man dieses Gedicht des großen Apollinaire und vergleicht es selbst nur oberflächlich mit Böhmermanns Schmähgedicht, so fällt gerade durch die viel kunstvollere Dichtform auf, dass Apollinaires Worte wie ein gezielter Schwerthieb treffen – während Böhmermanns Verbalinjurien eher an ein heftiges Rumgefuchtel mit einer solchen Waffe erinnern, das Souveräne eigentlich kaltlassen sollte.

IV. Rück- und Ausblick Noch einmal kurz zurück zum Gemälde Repins: Über ihren Streich mit dem Brief freuen sich dort die Kosaken unbändig. Das Bild stellt verschiedene Nuancen der Fröhlichkeit dar, vom verschmitzten Lächeln des Schreibers bis hin zum donnernden Gelächter; ein Dicker hält sich den Bauch vor Lachen. Den abgebildeten Kosaken sieht man an, was für einen Spaß sie haben, sich immer neue Beleidigungen auszudenken. Aber: Es ist die Freude über die für diesen Moment errungene Freiheit. Wie lange dürfte sie dauern? Das Osmanische Reich war ein mächtiger Gegner. 45

Siehe Gojowy, Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa, 7/2000, S. 47.

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Uwe Scheffler

Ob Böhmermann genauso viel Spaß beim Verfassen seines Gedichtes über Erdoğan hatte? Ich glaube nicht. Wenn ich einen Mitschnitt seiner Satiresendung betrachte‚ meine ich‚ in seiner Mimik ein nervöses Zucken zu sehen‚ wenn er, tief Luft holend, sein Gedicht zu verlesen beginnt. Ich denke‚ ihm war nicht nur in diesem Moment klar, dass er hier etwas in die Welt setzt, dessen Folgen für ihn kaum zu überblicken sind. Und in der Tat wurde er nicht nur mit Zivilklagen und Strafanzeigen seitens des türkischen Präsidenten belegt, sondern gegen ihn ergingen auch Morddrohungen; zumindest längere Zeit stand er unter Personenschutz. Für die Saporoger Kosaken ging ihre Provokation des mächtigen Gegners letztlich gut aus. Nach wechselndem Kriegsglück wurde der russischosmanische Krieg mit dem Vertrag von Bachtschyssaraj vom 13. Januar 1681 beendet; das Osmanische Reich erkannte darin die Moskowiter Oberhoheit über das linke Dnjepr-Ufer und das Gebiet der Saporoger Kosaken an. Nach einer wechselhaften‚ aber letztlich doch weitgehend autonomen Zeit wurde erst hundert Jahre später unter Katharina II. mit der Zerstörung ihrer beim Kachowkaer Stausee gelegenen (Nowa) Sitsch, ihrem Zentralsitz‚ durch die russischen Truppen des Fürsten Grigori Alexandrowitsch Potjomkin das freie ukrainische Kosakentum endgültig aufgehoben. Auch bei Ramses ging die clevere „Geschäftsidee“ auf: Und so wuchs der Bau gen Himmel, dank der vielen Völker Pimmel. Alle Kundschaft, groß und klein, brachte einen Ziegelstein.

Und Böhmermann? Warten wir ab‚ ob und wann wir ihn bei einem Badeurlaub in Antalya erleben können …

Literatur BRAUNECK, ANJA, Das Problem einer „adäquaten Rezeption“ von Satire mit Anmerkungen zum Beschluss des LG Hamburg vom 17.5.2016 im Fall Böhmermann, Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 2016, S. 710 ff. FAHL, CHRISTIAN, Böhmermanns Schmähkritik als Beleidigung, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2016, S. 313 ff. FAßBENDER, KURT, Was darf die Satire? Bemerkungen aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts, Neue Juristische Wochenschrift 2019, S. 705 ff.

Böhmermanns Gedichtzeilen über Erdogan

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GOJOWY, DETLEF, Guillaume Apollinaire mit Bezug auf die Vertonungen seiner Gedichte in der 14. Sinfonie von Dmitrij Šostakovič, Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa, 7/2000, S. 36 ff. IGNOR, ALEXANDER, In der Strafsache Jan Böhmermann: Der Freispruch / Die Verurteilung, Tagesspiegel.de vom 20.04.2016 (https://www.tagesspie gel.de/kultur/in-der-strafsache-jan-boehmermann-der-freispruch/13470870.ht ml/https://www.tagesspiegel.de/kultur/in-der-strafsache-jan-boehmermann-die -verurteilung /13470868.html). KALLE, MATTHIAS / USLAR, MORITZ lacht“, Die Zeit 20/2016.

V.,

„Ich bin gespannt, wer zuletzt

KÖHLER, PETER, Nonsens. Theorie und Geschichte der literarischen Gattung, 1989. KOLLMER, PATRICK, „Gedicht ab – Vers läuft“ – Parodie, Metapoesie und Komik in der Lyrik F. W. Bernsteins, Mag.-Arb. FU Berlin 2006. LANG, WALTHER K., The Legendary Cossacks: Anarchy and Nationalism in the Conceptions of Ilya Repin and Nikolai Gogol, Nineteenth-Century Art Worldwide 1/2002 (http://www.19thc-artworldwide.org/spring02/193-the-leg endary-cossacks-anarchy-and-nationalism-in-the-conceptions-of-ilya-repin-an d-nikolai-gogol). PELECHOWOЇ, ALLI / SCHEWTSCHENKO, WITALIJA (ПЕЛЕХОВОЇ, АЛЛИ / ШЕВЧЕНКО, ВІТАЛІЯ), Іван Сірко – Національний Герой Франції, Getmanat.org vom 26.04.2015 (im Internet zu finden unter https://web.ar chive.org/web/20150426213843/http://getmanat.org/ivan-sirko-natsionalniy-ge roy-frantsiyi/). SOKOLYNSKA, OLENA, Legendary Cossack Defends Kharkiv, Kharkivob server.com vom 25.08.2017 (https://kharkivobserver.com/legendary-cossackdefends-kharkiv/). THOMAS, PETER, Frau Wirtin hatte einen Knecht. Wie unsere Großeltern ferkelten, 2008.

Uwe Scheffler

„Verfassungsrechtlich gibt es keine gute oder schlechte Kunst“* Ermittlung gegen Künstlergruppe „Zentrum für politische Schönheit“ als kriminelle Vereinigung1 Die Aktionskünstler vom „Zentrum für politische Schönheit“ (ZPS) provozieren. In Chemnitz starteten sie einen Online-Pranger für Neonazis. In Thüringen bauten sie neben dem Haus des AfD-Politikers Björn Höcke das Berliner Holocaust-Mahnmal nach und behaupteten, sein Haus technisch zu überwachen. Nun wird bekannt, dass gegen das ZPS seit Monaten Ermittlungen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung laufen.

Freie Presse: Was halten Sie davon, dass gegen die Gruppe mit Paragraf 129 als „kriminelle Vereinigung" ermittelt wird? Uwe Scheffler: Grundsätzlich bin ich vorsichtig bei der Beurteilung von Verfahren, die ich nur über die Medien verfolgen kann. Generell ist der Paragraf 129 des Strafgesetzbuchs aber problematisch, denn er greift nicht erst, wenn jemand eine Straftat begangen hat, sondern schon, wenn eine Gruppe offenbar Straftaten begehen will. Der Grund, warum dieser Paragraf genutzt wird, ist ohnehin oft ein anderer: Er eröffnet die Möglichkeit für

*

1

Der Beitrag gibt das um einige Fußnoten ergänzte Interview wieder, das der Autor anlässlich der Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ an der BTU Cottbus-Senftenberg dem Berlin-Korrespondenten der Chemnitzer Zeitung Freie Presse‚ Alessandro Peduto‚ gegeben hat. Das Gespräch erschien in Freie Presse vom 5. April 2019, S. 5; es ist auch im Internet (nebst Leserkommentaren) zu finden unter https:// www.freiepresse.de/nachrichten/deutschland/verfassungsrechtlich-gibt-es-keine-gute -oder-schlechte-kunst-artikel10485 814. Siehe Einzelheiten zu dem Fall bei Alexandra Dehe, Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Zentrum für politische Schönheit‚ FAZ.net vom 03.04.2019 (https://www.faz. net/aktuell/politik/inland/staatsanwaltschaft-ermittelt-gegen-zentrum-fuer-politisches choe nheit-16122386.html); Arno Frank: Staatsanwälte ermitteln gegen Zentrum für Politische Schönheit‚ Spiegel online vom 03.04.2019 (https://www.spieg el.de/politik/deutschland/zentrum-fuer-politische-schoenheit-ermittlungen-gegen-zps -a-1260910-amp.html) Christian Malzahn: Ermittlungen nach Mahnmal-Aktion gegen Höcke eingestellt‚ Welt.de vom 08.04.2019 (https://www.welt.de/politik /deutschland/article191539211/Thueringen-Ermittlungen-nach-Mahnmal-Aktion-geg en-Hoecke-eingestellt.html).

https://doi.org/10.1515/9783110784992-016

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Uwe Scheffler

Telefonüberwachung2 und Computerdurchsuchung3. Das ist wie ein Zauberschlüssel für Ermittler. Greift der Paragraf für die Aktion der Gruppe ZPS? Ich habe da meine Zweifel. Denn es geht bei dem Paragrafen darum, dass der Zweck oder die Tätigkeit der Gruppe auf die Begehung von Straftaten gerichtet sein muss, und nicht darum, ob es bei der Aktion zu Straftaten gekommen ist. Was bedeutet es, wenn sich die Gruppe auf Kunstfreiheit beruft? Dann wird es in der Regel kompliziert. Die Kunstfreiheit steht im Grundgesetz. Daher gilt bei solchen Aktionen stets die Frage zu klären: Ist das überhaupt Kunst? Verfassungsrechtlich gibt es keine gute oder schlechte, keine politisch konforme oder nicht konforme Kunst. Und dann muss die Kunstfreiheit gegen andere verfassungsrechtliche Güter abgewogen werden. Die Frage wäre also, 2

3

§ 100a StPO (Auszug): „(1) Auch ohne Wissen der Betroffenen darf die Telekommunikation überwacht und aufgezeichnet werden, wenn 1. bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand als Täter oder Teilnehmer eine in Absatz 2 bezeichnete schwere Straftat begangen, in Fällen, in denen der Versuch strafbar ist, zu begehen versucht, oder durch eine Straftat vorbereitet hat, 2. die Tat auch im Einzelfall schwer wiegt und 3. die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre. Die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation darf auch in der Weise erfolgen, dass mit technischen Mitteln in von dem Betroffenen genutzte informationstechnische Systeme eingegriffen wird, wenn dies notwendig ist, um die Überwachung und Aufzeichnung insbesondere in unverschlüsselter Form zu ermöglichen. Auf dem informationstechnischen System des Betroffenen gespeicherte Inhalte und Umstände der Kommunikation dürfen überwacht und aufgezeichnet werden, wenn sie auch während des laufenden Übertragungsvorgangs im öffentlichen Telekommunikationsnetz in verschlüsselter Form hätten überwacht und aufgezeichnet werden können. (2) Schwere Straftaten im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1 sind: 1. aus dem Strafgesetzbuch: … d) Straftaten gegen die öffentliche Ordnung nach den §§ 129 bis 130 …“. 100b StPO (Auszug): „(1) Auch ohne Wissen des Betroffenen darf mit technischen Mitteln in ein von dem Betroffenen genutztes informationstechnisches System eingegriffen und dürfen Daten daraus erhoben werden (Online-Durchsuchung), wenn 1. bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand als Täter oder Teilnehmer eine in Absatz 2 bezeichnete besonders schwere Straftat begangen oder in Fällen, in denen der Versuch strafbar ist, zu begehen versucht hat, 2. die Tat auch im Einzelfall besonders schwer wiegt und 3. die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre. (2) Besonders schwere Straftaten im Sinne des Absatzes 1 Nummer 1 sind: 1. aus dem Strafgesetzbuch: … b) Bildung krimineller Vereinigungen nach § 129 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 5 Satz 3 und Bildung terroristischer Vereinigungen nach § 129a Absatz 1, 2, 4, 5 Satz 1 erste Alternative, jeweils auch i. V. m. § 129b Absatz 1 …“.

„Verfassungsrechtlich gibt es keine gute oder schlechte Kunst“

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welche Rechtsgüter die Planung der Aktionen des ZPS verletzt hat. Es geht darum, inwieweit schon dadurch der öffentliche Frieden gefährdet wird. Eine mögliche Verletzung der Privatsphäre des AfD-Politikers Björn Höcke ist somit nicht das Thema. Muss die Gruppe beweisen, dass sie künstlerisch arbeitet? Nein, die Beweispflicht liegt beim Staat. Im Fall eines Verfahrens müsste das Gericht notfalls durch einen Sachverständigen klären lassen, ob die Aktion Kunst war. Die Verteidiger könnten dann auf andere Aktionen der Gruppe verweisen, um darzulegen, dass es sich um Kunst handelt und nicht um Aktionen, die primär auf das Abhören von Personen abzielen. Inwiefern handelt es sich hier um einen Präzedenzfall? Es ist meines Wissens noch nie passiert, dass Kunst im Zusammenhang mit der Bildung einer kriminellen Vereinigung eine Rolle gespielt hätte. Es gibt Straftatbestände, mit denen Künstler häufiger in Konflikt kommen: Sachbeschädigung, Beleidigung, Pornografie, Gotteslästerung, Tierquälerei, Verwendung von Nazi-Symbolen. Aber Kunst als Vorbereitung von Straftaten ist mir in diesem Zusammenhang noch nie untergekommen. Es ist ein Novum. Wie bewerten Sie das? Der Paragraf scheint mir doch etwas an den Haaren herbeigezogen. Als Strafverteidiger wundert man sich schon mitunter, welche Paragrafen von Staatsanwaltschaften bemüht und was für Dinge mit großem Nachdruck verfolgt werden. Das nutzt dem Rechtsstaat nicht. Im Gegenteil.

Yvonne Biesenthal

Kunst und Gewaltverherrlichung – Zwei Beispiele‚ die verdeutlichen, dass nicht jedes künstlerische Werk die gleiche grundrechtliche *Freiheit genießt – Gewaltdarstellungen, die in Deutschland unter Strafandrohung stehen1, können der Kunstfreiheit unterliegen und dann ihre Rechtfertigung finden. Doch wie sich Kunst genau definiert und ob eine Arbeit als Kunstwerk klassifiziert werden kann, wird sehr unterschiedlich beurteilt. Zwei prominente Beispiele verdeutlichen, dass nicht jedes künstlerische Werk die gleiche grundrechtliche Freiheit genießt, und wie unterschiedlich die Auslegungsgrenzen sein können.

I. Cannibal Corpse: Butchered at Birth 1991 erregte die 1988 gegründete2 US-amerikanische Death-Metal-Band Cannibal Corpse mit dem Cover ihres zweiten Studioalbums „Butchered at Birth“ („Geschlachtet bei der Geburt“)3 großes Aufsehen. Dieses wurde von 

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2 3

Der Beitrag beruht auf den Vorträgen, die die Autorin jeweils im Rahmen der Eröffnung der Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ am 13. November 2015 an der Rechtwissenschaftlichen Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg sowie am 11. April 2016 am Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Osnabrück gehalten hat. Er wurde für die vorliegende Publikation von Lisa Weyhrich verfußnotet‚ aktualisiert und ergänzt. Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat mit dem 4. Strafrechtsreformgesetz (StrRG) vom 23.11.1973 die Verbreitung exzessiver Formen gewaltverherrlichender Darstellungen unter Strafe gestellt (§ 131 StGB). Andere Staaten kennen eine entsprechende Strafvorschrift nicht. Nach der heutigen Fassung ist u.a. das Verbreiten von Darstellungen mit Freiheitstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe zu ahnden, die „grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen in einer Art schildern, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise“ zeigen. Instruktiv zur Gründungsgeschichte von Cannibal Corpse siehe Metal.de (https:// www.metal.de/bands/cannibal-corpse-93225/). Die genauen Angaben zur dazugehörigen CD und zum noch indizierten Cover siehe Musiksammler.de (https://www.musik-sammler.de/media/12426/).

https://doi.org/10.1515/9783110784992-017

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Yvonne Biesenthal

dem amerikanischen Comiczeichner Vincent Locke (* 1966) gestaltet4. Locke hat durch die Schaffung extrem gewalttätiger Horror-Zeichnungen (im Stil des Zombie-Horror-Comic) Bekanntheit erlangt und illustrierte nahezu alle Alben von Cannibal Corpse5. Das Cover von „Butchered at Birth“, das die Band von den bisher erschienenen vierzehn Studioalben als besonders gelungen ansieht6, zeigt zwei Zombies mit blutbefleckten Schürzen, die eine Frau skelettieren und ihr einen blutigen Fötus aus dem Leib reißen. Im Hintergrund befinden sich an Därmen und Nabelschnüren aufgehängte Säuglingsleichen, denen teilweise Arme und Beine fehlen7. Wenngleich es keine vergleichbare Death-Metal-Band gibt, die durch derartig brutale Tötungsszenarien mehr provoziert und polarisiert als Cannibal Corpse, so ist es typisch für das (Sub-)Genre dieser Form des Extreme-Metal-Stils, dass (neben dem als „Growling“8 bezeichneten Gesang, martialischen Melodien und sehr tief gespielten E-Gitarren und E-Bässen) die Liedtexte Themen wie Folter, Horror, Tod, Krieg, Krankheit und gesellschaftliche Unzulänglichkeiten oder Satanismus behandeln9; ferner, dass das Coverdesign derartig blutige Gewalt- und Horror-Szenarien wie jene von Locke darstellt10. Genau dies sind die Attribute, die die Fans der Szene von dieser Band erwarten und die schließlich die „Besonderheit“ dieses Musikgenres ausmachen. Nun lässt sich über Geschmack bekanntlich streiten ... Kurz nach dem Erscheinen des Albums „Butchered at Birth“ (1991) wurden das CD-Cover als auch die Schallplatteninnenhülle des Albums wegen des Coverdesigns durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in der Liste jugendgefährdender Schriften indiziert11. Jene Bundesbehörde prüft auf Antrag bestimmter 4 5 6 7 8 9 10

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Siehe näher zu den Cover Vincent Lockes Discogs.com (https://www.discogs.com /de/artist/1829228-Vincent-Locke). Reprints der Cover findet man auf Vincelocke.com unter http://vincelocke .com/product-tag/cannibal-corpse/. Siehe Falzon, Exclaim.ca vom 31.10.2017 (http://exclaim.ca/music/article/an_essenti al_guide_to_cannibal_corpse). Das Cover ist auf zahlreichen Internetseiten abgebildet, etwa auf https://pt.wikipedia. org/wiki/Ficheiro:Butchered_at_Birth.jpg. Siehe zum „Growling“ Musik-unterricht.de (http://www.musik-unterricht.de/growling-screaming-shouting-metal-g170.php). Zur Beschreibung des Genres siehe Metal.hammer.de (https://www.metal-hammer. de/genres/death-metal/). Exemplarisch sind einige typische Coverdesigns anderer Death-Metal-Bands bei Bowar, Liveabout.com vom 24.05.2019 zu finden (https://www.liveabout.com/bestdeath-metal-album-covers-4122698). BAnz. Nr. 204 vom 31.10.1991.

Kunst und Gewaltverherrlichung

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Jugendbehörden, wie zum Beispiel des Jugendamts oder anerkannter Träger der freien Jugendhilfe, ob bestimmte Computerspiele, Filme, Schriften oder andere Medien jugendgefährdende Inhalte aufweisen und in die Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen sind12. Von der Indizierung unberührt blieben zu diesem Zeitpunkt die nicht weniger gewalttriefenden Liedtexte, die damals weder auf der Albumhülle noch auf dem Booklet abgedruckt und auch nicht im Internet abrufbar waren. Ferner ist das „Growling“ des damaligen Sängers beim bloßen Hören unverständlich gewesen, was die bloße Teilindizierung erklären mag13. Die Indizierung hatte jedoch zur Konsequenz, dass das Cover unter Strafandrohung (Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, damals gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 1 GjS, heute gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG) keinem Kind oder Jugendlichen mehr zugänglich gemacht werden durfte14. Die Bundesprüfstelle meinte zwar, das von Locke gestaltete Coverartwork könne „unter Zugrundelegung eines breiten Kunstbegriffs … als ein Werk der Kunst einzustufen sein“15. Jedoch würde durch die Darstellung die Würde des Menschen extrem tangiert, da der Mensch hier zum Objekt degradiert wird, was beliebig abgeschlachtet werden kann. Diese Darstellungen können auf Kinder und Jugendliche schockierend wirken ...

Das Album verschwand unter der Ladentheke16.

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13 14 15 16

Zum Ablauf des Indizierungsverfahrens siehe Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien: Wie läuft ein Indizierungsverfahren ab?, 2018 (https://www.bundespruefstelle.de/bpjm/indizierung/wie-laeuft-ein-indizierungsverfahren-ab/wie-laeuftein-indizierung sverfahren-ab-/128780). VG Mainz, Urteil vom 29.09.2016 – 1 K 710/15 – bei juris, Rn. 65. Zur Strafbarkeit aus § 27 Abs. 1 Nr. 3 JuSchG siehe Liesching in Erbs / Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 27 JuSchG Rn. 3. BAnz. Nr. 204 vom 31.10.1991. Der heute geltende § 18 Abs. 1 Satz 1 JuSchG formuliert dazu, es gehe um Medien, „die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden.“ Ausdrücklich werden in Satz 2 der Vorschrift „unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien sowie Medien, in denen ... Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert dargestellt werden oder ... Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahegelegt wird“, genannt. Ist ein Trägermedium in die Liste aufgenommen, darf es gemäß § 15 Abs. 1 JuSchG in keiner Weise mehr „einem Kind oder einer jugendlichen Person ... zugänglich gemacht werden“. Ein Verstoß hiergegen stellt eine Straftat dar und kann mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden (§ 27 JuSchG). Anders als sein Vorgänger unterscheidet das Jugendschutzgesetz seit 2003 mehrere Teile der

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Das Plattenlabel von Cannibal Corpse reagierte umgehend und vertrieb das Album in Deutschland 1994 mit neutralem Cover und ohne Innenhülle weiter. Dies jedoch nur kurz, da im März 1994 das Album als Ganzes (Cover und nun auch die Liedtexte) auf Antrag der Staatsanwaltschaft durch einen Beschluss des AG Stuttgart bundesweit wegen Gewaltverherrlichung (Verstoß gegen § 131 Abs. 1 und § 184 Abs. 3 StGB a.F.), nunmehr auch für Erwachsene17, verboten wurde und sämtliche Tonträger der bundesweiten Beschlagnahme18 unterlagen19– offenbar hatte man inzwischen auch die Liedtexte verstanden20. Das neuerliche Indizierungsverfahren wurde maßgeblich aufgrund der Anzeige einer Frau aus Weinstadt in Baden-Württemberg eingeleitet, deren 14-jährigem Sohn das Album in einem Stuttgarter Schallplattengeschäft trotz der Indizierung verkauft worden war. Die Ende 2002 erschienene Neuauflage des Albums „Butchered at Birth“ wurde 2003 insgesamt indiziert21. Das gesamte Album wurde auf den inzwischen eingeführten Teil B der Liste gesetzt, da dieser Teil nunmehr unter anderem Medien erfasst, die von der Bundesprüfstelle wegen Gewaltverherrlichung – Verstoß gegen § 131 StGB – indiziert werden (§ 18 Abs. 2 Nr. 2 JuSchG)22.

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Liste; relevant ist hier Teil B, in den Trägermedien aufzunehmen sind, „die nach Einschätzung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien einen in § 86, § 130, § 130a, § 131, § 184a, § 184b oder § 184c des Strafgesetzbuches bezeichneten Inhalt haben“ (§ 18 Abs. 2 Nr. 2 JuSchG) und demzufolge einem absoluten Verbreitungsverbot – also auch gegenüber Erwachsenen – unterliegen sollten. Eine solche Aufnahme in die Liste B muss gemäß § 24 Abs. 4 JuSchG der Staatsanwaltschaft mitgeteilt werden, hat aber selbst noch keine rechtlichen Konsequenzen. Die Staatsanwaltschaft hat lediglich – wie auf jede Strafanzeige eines Bürgers auch – zu prüfen, ob gleichfalls ihrer Auffassung nach ein strafrechtlich relevanter Sachverhalt vorliegt. AG Stuttgart, Beschluss vom 03.03.1994 – 21 Js 58315/93 (unveröffentlicht). Der Beschlagnahmebeschluss des AG Stuttgart, a.a.O., ist seit 1997 verjährt. AG Stuttgart, a.a.O. Jedoch enthält die Stuttgarter Akte einen Hinweis darauf, dass der Durchsuchungsanordnung und der Beschlagnahmeverfügung zugleich „ein Ersuchen der Staatsanwaltschaft Saarbrücken“ zugrunde lag. Sie hatte ihr paralleles Verfahren wegen Verbreitung gewaltverherrlichender Schriften (11 Js 2762194) an die StA Stuttgart wegen dessen örtlicher Zuständigkeit (Hauptsitz der Vertriebsfirma Intercord Record war Stuttgart) abgegeben. Allerdings sind schon die Titel der einzelnen Stücke des Albums recht aussagekräftig: Meat Hook Sodomy / Gutted / Living Dissection / Under the Rotten Flesh / Covered with Sores / Vomit the Soul / Butchered at Birth / Rancid Amputation / Inwards Decay. BAnz. Nr. 243 vom 31.12.2003. Vgl. § 24 Abs. 4 Satz 1 JuSchG: „Wird ein Medium in Teil B ... der Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen, so hat die oder der Vorsitzende dies der zuständi-

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Um die Alben vor einer Indizierung zu bewahren bzw. diese zu umgehen, gestaltete Locke häufig auch auf den folgenden Alben entschärfte, weniger brutale Cover für Deutschland. Das war für viele deutsche Fans nicht hinnehmbar, wollten diese doch das internationale Cover erwerben, was über das Internet kein Problem darstellte. Die Indizierung eines Covers und das Verbot eines Albums sind als ein Eingriff nicht nur in die Meinungs-, sondern auch – und vor allem – in die Kunstfreiheit aus Art. 5 GG zu sehen: Nach Absatz 1, der Meinungsäußerungsfreiheit, hat zwar jeder „das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern“. Sie findet nach Absatz 2 jedoch ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

Die Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG hat jedoch keine geschriebenen Schranken: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

Trotz des Eingriffs in die Kunstfreiheit durch die vorgenommenen Indizierungen blieb und bleibt die Band ihrem Stil treu. Im September 2017 erschien bereits das vierzehnte Studioalbum von Cannibal Corpse („Red Before Black“). Auch für dieses zeichnete Vincent Locke ein blutig-brutales Cover. Cannibal Corpse hat mittlerweile, und dies nicht zuletzt durch die Indizierungen und Verbote, Kultstatus erreicht. Zu fragen ist, ob die Band unter „normalen“ Umständen, ohne die mit den Indizierungen und Verboten verbundene Aufmerksamkeit, jemals diesen Bekanntheitsgrad erreicht hätte? Ist es nicht so, dass der Reiz gerade im Verbotenen liegt? Im Falle von Cannibal Corpse kann man dieses Phänomen beobachten, denn kein Motiv war und ist gefragter als jenes des bekannten zweiten Studioalbums. Insofern ist auch fraglich, ob die „deutsche“ Handhabung, die Verbreitung der Originalcover aus Gründen des Jugendschutzes über den Handel unterbinden zu wollen, nicht schon deshalb in eine Sackgasse führt, weil es im Internet (z.B. bei Amazon) ohne Probleme möglich ist, die Alben mit den (indizierten) Originalcovern aus dem Ausland zu beziehen. Ferner kann das Covermotiv, auch das von „Butchered at Birth“ gegoogelt und dort angesehen werden. Da auch nur das Motiv als Cover und Bestandteil des Albums indiziert ist, kann das Motiv z.B. auf T-Shirts oder als Aufnäher völlig legal erworben werden, gen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen.“ Zur Prangerwirkung der festgestellten strafrechtlichen Relevanz siehe Erdemir, JMS-Report 3/2011, 66.

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sofern es nicht als Werbematerial für ein indiziertes Album dient23. Ferner spielt die Band noch immer ihre Konzerte.

II. Wilhelm Busch: Max und Moritz Ein weiteres Werk verdeutlicht die Unbestimmtheit bei der Abwägungsprüfung zwischen der Kunstfreiheitsgarantie und anderem Verfassungsrecht: Vor 150 Jahren startete ein Buch seinen erfolgreichen Weg in viele deutsche Kinderzimmer. Im Februar 1865 schickte Wilhelm Busch (* 1832; † 1908) sein berühmtestes Werk „Max und Moritz“ an seinen damaligen Entdecker und Verleger Kaspar Braun nach München24. Die Lausbuben-Geschichte in sieben Streichen, die seit der Erstveröffentlichung Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene aus aller Welt amüsiert, sollte ihn zu einem der berühmtesten Deutschen seiner Zeit machen. Mit seinen Bildergeschichten kreierte Busch zudem ein neues Genre und wird daher als „Vater des modernen Comics“ bezeichnet25. Sein unverkennbarer Stil: Ein Wechselspiel humoristischer Bilder in holzstichartiger Zeichnung und Worte in Zweizeiler gefasst, die vor Schadenfreude strotzen. Max und Moritz treiben in einem Dorf im damaligen Königreich Hannover Mitte des 19. Jahrhunderts26 ihre kindlichen Späße: Ihr erster und zweiter Streich richten sich gegen Witwe Bolte: Deren „Federvieh“ schluckt Brotstücke, die Max und Moritz durch über Kreuz miteinander verknotete Fäden verbunden hatten. Die Hühner erhängten sich an einem Baumast bei dem Versuch, sich zu entfädeln. Später landen sie als Braten in Witwe Boltes Pfanne. Die frisch gebratenen Hühner angeln Max und Moritz durch den Schornstein und verzehren diese. Als nächsten trifft es Schneider Böck, der auf einer angesägten Holzbrücke kopfüber in das Wasser fällt. Dem Lehrer Lämpel stecken sie Flintenpulver in die Pfeife, woraufhin diese beim Anzünden explodiert: „… und des Haares letzter Schopf ist verbrannt bis auf den Kopf …“ Onkel Fritz stecken Max und Moritz Maikäfer unter die Bettdecke und besche23

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Vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 6 JuSchG – Hervorhebung von hier: „Trägermedien, deren Aufnahme in die Liste jugendgefährdender Medien nach § 24 Abs. 3 Satz 1 bekannt gemacht ist, dürfen nicht ... öffentlich an einem Ort, der Kindern oder Jugendlichen zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann, ... angeboten, angekündigt oder angepriesen werden.“ Ein solches Anpreisen kann ohne weitere Begleitumstände jedoch nicht einfach angenommen werden. Weissweiler, Wilhelm Busch, S. 121. So 2008 der Titel eines Artikels zum 100. Todestags Buschs von Petra Nicklis. Vgl. Lange, Dewezet.de vom 04.06.2015.

Kunst und Gewaltverherrlichung

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ren ihm eine unruhige Nacht. Bei dem Versuch, dem Meister Bäcker Leckereien zu stehlen, fallen sie in den Kuchenteig und werden selbst im Backofen gebacken. Der siebte Streich wird ihnen zum Verhängnis und damit ihr letzter Streich: Bauer Mecke erwischt die Buben beim Löcher schneiden in gefüllte Getreidesäcke. Er schnappt sie und bringt sie zur Mühle. Dort schüttet der Müller Max und Moritz zur Strafe kopfüber in den Trichter der Mühle, bis diese – „Rickeracke! Rickeracke! Geht die Mühle mit Geknacke“ – bei lebendigem Leibe zerkleinert und anschließend geschrotet Gänsen zum Fraß vorgeworfen werden. Und als wäre die brutale Hinrichtung nicht Strafe genug, so zeigt die Dorfgemeinschaft nach dem Tod von Max und Moritz keinerlei Entsetzen über die grausame Tat, sondern vielmehr Freude über das Ende der „Übeltäterei“. Busch entwirft in seinen Bildergeschichten brutale Todesszenarien. Wenngleich das Werk als soziale Anklage Buschs gegen die damaligen sozialen Missstände auf dem Land im vom Niedergang gezeichneten damaligen Königreich Hannover interpretiert werden kann, in dem elternlose, vagabundierende Kinderbanden durchs Land zogen und mit kriminellen Handlungen dem Hungertod zu entgehen versuchten27, so verwundert es schon, dass bis heute eine derart brutale Geschichte in Wort und Bild als „harmlose“ Rebellions- bzw. Protestgeschichte gegen die Autorität Erwachsener gelesen wird, die amüsiert und scheinbar niemanden auf den Gedanken bringt, sie wegen Gewaltverherrlichung zu verbieten und das Buch wegen Verstoßes gegen § 131 StGB zu beschlagnahmen und wegen Gewaltdarstellung auf den Index zu setzen28.

Literatur BECKER, WALTER, Das jugendgefährdende Opus in der Rechtsprechung, Monatsschrift für Deutsches Recht 1968, S. 881 ff. BOWAR, CHAD, Best Death Metal Album Covers, Liveabout.com vom 24.05.2019 (https://www.liveabout.com/best-death-metal-album-covers-41226 98). ERBS / KOHLHAAS, Strafrechtliche Nebengesetze – Kommentar. Stand: 224. Erg.-Lfg. 2019.

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Instruktiv zu den damaligen Zuständen im Königreich Hannovers und zu Buschs Motivlage: Weissweiler, Wilhelm Busch, S. 122 ff.; zur Kritik Buschs an der dörflichen Scheinmoral: Weissweiler, a. a. O., S. 132 f. Eine Auseinandersetzung mit der möglichen Strafbarkeit des Verlegers, der Buchhändler und der Eltern ist nachzulesen bei Günther, Der Fall Max & Moritz.

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Yvonne Biesenthal

ERDEMIR, MURAD, Anmerkung zu VG Köln, Urteil vom 26.04.2011 – 22 K 6364/09, JMS-Report S. 3/2011, S. 66. FALZON, DENISE, An Essential Guide to Cannibal Corpse, Exclaim.ca vom 31.10.2017 (http://exclaim.ca/music/article/an_essential_guide_to_cannibal _co rpse). GÜNTHER, JÖRG-MICHAEL, Der Fall Max & Moritz, Juristisches Gutachten über die Umtriebe zweier jugendlicher Straftäter zur Warnung für Eltern und Pädagogen, 1988. LANGE, DIETRICH, Mehr als „Max und Moritz“, Dewezet.de vom 04.06.2015 (https://www.dewezet.de/region/weserbergland_artikel,-mehr-als-max-und-mo ritz-arid,713864.html). NICKLIS, PETRA, Der Vater des modernen Comics, Dw.com vom 09.01.2008 (https://www.dw.com/de/der-vater-des-modernen-comics/a-3045996). WEISSWEILER, EVA, Wilhelm Busch, Der lachende Pessimist. Eine Biografie, 2007.

Uwe Scheffler

„Gotteslästerung“ und Ars artis gratia* Vor allem Kunstwerke der Moderne, die religiöse Darstellungen enthalten, die von der tradierten altmeisterlichen Art abweichen, führen schnell zum Vorwurf der „Gotteslästerung“ und dem Ruf nach Verboten sowie Bestrafung des Künstlers. Nicht nur Muslime, auch gläubige Christen, insbesondere Katholiken fühlen sich sehr schnell in ihren religiösen Gefühlen verletzt. Dann hagelt es Proteste und Strafanzeigen. Das begann schon mit Max Klingers riesigem Gemälde (251 × 465 cm) „Kreuzigung“ von 1890/911. Eigentlich eher konventionell im Stil von RenaissanceDarstellungen gemalt, zeigte Klinger Christus völlig nackt; das Gemälde rief, als es nach Fertigstellung in München und 1893 in Dresden ausgestellt wurde, jeweils einen Skandal hervor.

I. § 166 StGB Allerdings ist solche Kunst kaum einmal strafbar. Selbst wenn der Tatbestand des einschlägigen § 166 StGB dem Wortlaut nach erfüllt ist, steht dem noch das Grundrecht der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG im Weg. § 166 StGB, heute nicht mehr mit „Gotteslästerung“, sondern mit „Beschimpfung von Bekenntnissen und Religionsgesellschaften“ überschrieben, bedroht mit Strafe (unter anderem) denjenigen, der „den Inhalt des religiösen ... Bekenntnisses anderer“ (Abs. 1) oder die „Einrichtungen oder Gebräuche“ einer

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Der Beitrag hat den erweiterten und erheblich überarbeiteten „Allgemeinen Teil“ des Vortrages „ʻBluźnierstwoʼ i ars artis gratia – analiza ʻThe Holy Virgin Maryʼ Chrisa Ofiliego“ („ʻGotteslästerungʼ und Ars artis gratia – ʻThe Holy Virgin Maryʼ von Chris Ofili auf dem Prüfstand“) zum Inhalt, den der Autor am 6. Mai 2016 anlässlich der Präsentation der Ausstellung „Kunst und Strafrecht / Sztuka a prawo karne“ an der Fakultät für Recht und Verwaltung der Universität Gdańsk im Rahmen der Konferenz „Bluźnierstwo w sztuce – z perspektywy polskiego i niemieckiego prawa karnego“ („Blasphemie in der Kunst – aus der Perspektive des polnischen und deutschen Strafrechts“) in deutscher Sprache gehalten hat. Max Klinger (* 1857; † 1920), Die Kreuzigung Christi (1890/91). Leipzig, Museum der bildenden Künste.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-018

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Religionsgesellschaft2 (Abs. 2) „in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“.

1. Öffentlicher Frieden Der „öffentliche Frieden“ wird üblicherweise mit einem objektiv und einem subjektiv orientierten Element umschrieben: Er soll danach sowohl den „Zustand allgemeiner Rechtssicherheit und des befriedeten Zusammenlebens der Bürger“ als auch das „im Vertrauen der Bevölkerung in die Fortdauer dieses Zustands begründete Sicherheitsgefühl“ beinhalten3. Dieser „Frieden“ kann auch erst durch Proteste und Protestaktionen gegen ein Kunstwerk gestört werden. Dass diese Störungen nicht vom Künstler ausgehen, sondern von der Reaktion der sich angegriffen Fühlenden, sei, so die herrschende Ansicht, unerheblich4: „... der Schutzzweck des § 166 StGB ist es ja gerade, solche Reaktionen zu verhindern ...“

2. Beschimpfung Wann geschieht die „Friedensstörung“ nun aber durch die „Beschimpfung“ des Inhalts eines religiösen Bekenntnisses? Der Schluss, es liege eine „Beschimpfung“ eben deshalb vor, weil der „öffentliche Frieden“ gestört worden 2

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„Einrichtungen“ sollen entgegen der sonst üblichen Bedeutung des Wortes nicht etwa die räumlich ortbaren Institutionen oder Unterorganisationen der religiösen oder weltanschaulichen Vereinigungen sein; das Wort fungiere vielmehr als Sammelbezeichnung für alle erdenklichen symbolischen Formen, Zeremonien und Organisationsstrukturen, durch die sich inhaltliche Aussagen zum Ausdruck bringen lassen (Stübinger in Nomos-Kommentar, StGB, § 166 Rn. 11). Seit einer Entscheidung des Reichsgerichts von 1880 war anerkannt, dass die „Christusverehrung“ hierunter falle (RGSt 2, 428 [429]; siehe auch RGSt 64, 121 [123] – Christus mit der Gasmaske; OLG Nürnberg, NStZ-RR 1999, 238; LG Köln, MDR 1982, 771). Seit aber infolge der Neufassung von § 166 StGB durch das 1. StrRG vom 25.06.1969 nicht mehr derjenige den Tatbestand erfüllt, der „in beschimpfenden Äußerungen Gott lästert“, sondern derjenige, der „den Inhalt des religiösen ... Bekenntnisses anderer ... beschimpft“, sollte die Christusverehrung, da es sich hierbei (wie bei der Marienverehrung) „in Wahrheit um Bekenntnisinhalte handelt“ (Bosch / Schittenhelm in Schönke / Schröder, StGB, § 166 Rn. 17/18), passender unter das Merkmal „Bekenntnisse“ im neuen § 166 Abs. 1 StGB geordnet werden. (Siehe dazu Stübinger, a.a.O.; Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 166 Rn. 12; Hilgendorf in Satzger / Schluckebier / Widmaier, StGB, § 166 Rn. 12; Fischer, StGB, § 166 Rn. 10). In der Sache ändert sich dadurch freilich nichts Entscheidendes. Sternberg-Lieben / Schittenhelm in Schönke / Schröder, StGB § 126 Rn. 1. OLG Nürnberg, NStZ-RR 1999, 238 (241).

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sei, ist zirkulär und damit unzulässig5, wenngleich er bei mancher Argumentation durchscheint6. „Beschimpfen“, so sagen Rechtsprechung und Literatur7, „bedeutet eine durch Form oder Inhalt besonders verletzende Kundgabe von Missachtung“ aus Sicht eines unbefangenen und auf religiöse Toleranz bedachten Dritten. Das „besonders Verletzende“ kann sich vor allem in der Rohheit des Ausdrucks zeigen oder dadurch, dass die geistigen Inhalte des Bekenntnisses grob diffamiert werden8. Die Kundgabe muss aber auch noch „Missachtung“, also Verachtung (und nicht nur mangelnde Achtung, wie der Beleidigungstatbestand [§ 185 StGB] genügen lässt) zum Ausdruck bringen9; erforderlich ist ein „bösartiges Verhöhnen“10. Ein absichtliches „Beschimpfen“ ist nicht erforderlich, der beschimpfende Charakter der Kundgabe muss jedoch erkannt und gewollt sein11. Nicht nur bei der sogenannten „Engagierten Kunst“, sondern allgemein bei jeder Kunst, die etwas bewirken will, deren Aussage auf den Betrachter zielt, mag deshalb das Merkmal der „Missachtung“ relativ einfach aus dem Bedeutungsgehalt des Kunstwerkes und den Motiven des Künstlers zu ermitteln sein.

II. Typologie Ich will mir diesbezüglich ein paar kurze Gedanken zu einer ersten, sicher zu verbessernden und weiter zu differenzierenden Typologie zum Bedeutungsgehalt und zu den Motiven möglicherweise blasphemischer Kunstwerke machen, und zwar – wir haben schon mit Klingers „Kreuzigung Christi“ begonnen – anhand einiger Kruzifikationsdarstellungen. Christus am Kreuz ist das zentrale Motiv christlicher Verehrung, dessen Missachtung ausdrückende Bearbeitung und Interpretation ein Tabu, so könnte man meinen, für alle Kunstschaffende egal welcher Konfession darstellen müsste – zumindest für alle, denen, wenn 5 6

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Siehe dazu Steinke, KritJ 41 (2008), 453. Näher Stübinger in Nomos-Kommentar, StGB, § 166 Rn. 15; („ … ein Umkehrschluss [nach dem Motto: ʻWo Rauch ist, muss auch Feuer seinʼ] ist nicht möglich …“). OLG Köln, NJW 1982, 657; Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 166 Rn. 15; Stübinger, a.a.O. – jeweils mit weiteren Nachweisen; siehe auch BGHSt 7, 110. Tag in Dölling / Duttge / König / Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 166 StGB Rn. 5. Stübinger in Nomos-Kommentar, StGB, § 166 Rn. 5. Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 166 Rn. 17. Stübinger in Nomos-Kommentar, StGB, § 166 Rn. 17.

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nicht schon die religiöse Bedeutung für Christen, so doch wenigstens der drastische Realismus des Sujets des zu Tode gefolterten Christus auf Matthias Grünwalds „Isenheimer Altar“12 oder auf seinem „Tauberbischofsheimer Altar“13 gewahr ist. Doch dem ist nicht so. Es gibt zahlreiche Kreuzigungsdarstellungen, die der Blasphemie bezichtigt worden sind. Bemühen wir uns hier um eine ordnende Bestandsaufnahme. – Zunächst sollte man diejenigen Werke abteilen, mit denen der Künstler geradezu beabsichtigt, religiöse Gefühle zu verletzen, Gläubige zu kränken. Die (gegebenenfalls „besonders verletzende“, zur Friedensstörung geeignete) „Missachtung“ liegt auf der Hand. Als das älteste Beispiel bezüglich des Christentums wäre an das SpottGraffito aus dem 3. Jh. n. Chr. zu denken, bei dem ein Kruzifix mit einem Esel in eine römische Wand geritzt worden war14. Als ein aktuelleres Beispiel gilt Martin Kippenbergers (in fünf Versionen hergestellte) Skulptur „Zuerst die Füße“ eines ans Kreuz genagelten Frosches mit heraushängender Zunge und einem Bierkrug sowie einem Ei in den Händen15.

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Matthias Grünewald (* um 1475/80; † 1531/32), Isenheimer Altar – Mitteltafel der ersten Schauseite (1516). Colmar, Unterlinden-Museum. Matthias Grünewald, Tauberbischofsheimer (Karlsruher) Altar – Tafel Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes (1523/25). Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle. Graffito aus dem 3. Jh. n. Chr. (Inschrift: ΑΛΕΞΑΜΕΝΟΣ ΣΕΒΕΤΕ ΘΕΟΝ [Alexamenos verehrt einen Gott]). 1856 auf dem Palatin in Rom entdeckt. Rom, Museo Palatino. Martin Kippenberger (* 1953; † 1997), Zuerst die Füße (1990). Innsbruck, Sammlung Lothar Tirala. Das Bozener Museion, das 2008 einen der „Frösche“ ausstellte, verteidigte sich allerdings gegen massive Angriffe seitens Katholischer Kirche und Politik damit, die Skulptur spiegele den damaligen Gemütszustand des Künstlers wider, der zu jener Zeit gerade einen Alkohol- und Drogenentzug hinter sich gebracht hatte, und habe nichts mit Religion zu tun. Sie sei ein ironisches Selbstporträt und ein Ausdruck seiner Angst. Die Schwester des verstorbenen Künstlers fügte an: „Die gekreuzigte Comicfigur … ist seine Antwort auf den Jesuskitsch, den er in Tirol antraf. Dort saßen die Säufer unter Jesus am Kreuz in der Kneipe.“ Doch kein „Missachtung“ ausdrückendes „Beschimpfen“? Immerhin betitelte Kippenberger einen seiner Frösche „Fred Frog rings the bell“ – eine Anspielung auf die „Last Orders“ in englischen Pubs. Einen anderen seiner Frösche taufte er allerdings „Was ist der Unterschied zwischen Casanova und Jesus? – Der Gesichtsausdruck beim Nageln“.

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Schließlich wären hier einige (Titel-)Bilder des Satiremagazins „Titanic“ zu nennen16. – Als zweites könnte man an Werke denken, bei denen es dem Künstler allgemein um einen Tabubruch, um die Erregung entsprechender Aufmerksamkeit geht. Die Gefühle der Gläubigen sind ihm eher gleichgültig. Prototyp hierfür mag Andres Serranos „Piss Christ“ sein, das Foto eines Kruzifixes in einem uringefüllten Glas17: Serrano stellte außerdem verschiedene tabubrechende Fotoserien her, die in Großaufnahme Körperflüssigkeiten, Kothaufen, Tote im Leichenschauhaus oder extreme sexuelle Perversionen abbilden18. „Missachtung“ seinem jeweils oftmals entsetzten Publikum gegenüber bringt er damit nicht zum Ausdruck. „Piss Christ“ ist zudem Teil einer „Piss-Serie“, die auch andere in Urin getauchte Objekte zeigt19. Vielleicht sollte man hier auch die Sängerin Madonna hinzuzählen, die auf ihrer „Confessions“-Tour 2006 am Kreuz hängend eine Dornenkrone trug und ihren alten Hit „Live to tell“ sang, der keinerlei religiösen Bezug aufweist20. Es ging um eine spektakuläre Bühnenshow, um verkaufsfördernde skandalisierende Konzertberichte in den Medien, nicht um „Missachtung“, um „Verhöhnung“ der Gläubigen, erst recht nicht ihrer Fans. Ganz deutlich wird eine vor allem Profit und Aufmerksamkeit bezweckende Intention, wenn im Dezember 2017 die deutsche Schauspielerin Sophia Thomalla für den Online-Lottoanbieter „Lottohelden“ als Jesus am Kreuz posierte – die Werbeaktion lief unter dem Motto „Weihnachten wird jetzt noch schöner“ und warb für die spanische Weihnachtslotterie „El Gordo“. – Weiter könnte man Kunstwerke abgrenzen, bei denen die „Blasphemie“ nur Aufhänger für eine ganz andere, insbesondere politische Aussage ist. Zu denken wäre hier etwa an Georges Grosz‘ bekannte Zeichnung eines Christus mit Gasmaske und Kommissstiefeln, die nicht die Christusverehrung tref-

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Beispielsweise „Ich war eine Dose“, Titanic 12/1986 und „Spielt Jesus noch eine Rolle?“, Titanic 10/1995. Andres Serrano (* 1950), Piss Christ (1987). Andres Serrano, Body Fluids (1990); The Morgue (1992); A History of Sex (1996); Shit (2008). Etwa „Piss Discus“ (1988): „Piss Satan“ (1988). Siehe dazu auch Zielińska, Madonna – Eine Pop-Ikone zwischen Gotteslästerung und Gottesverehrung (im Band „Musik und Strafrecht“).

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fen wollte, sondern einen Angriff auf die Verbindung von Kirche und Militär im 1. Weltkrieg darstellen sollte21. Ein neueres Beispiel wäre eine Collage des in der Ukraine geborenen Künstlers Wagritsch Bachtschanjan, der den „Gekreuzigten Christus“ von Diego Velazquez aus dem Madrider Prado mit dem Leninorden als Kopf verband, offenbar um auszudrücken, dass der Kommunismus in der UdSSR als eine Art Religion fungierte22. Als nächstes könnte man auf das gekreuzigte tote Huhn der österreichischen Konzeptkünstlerin Deborah Sengl hinweisen23, das, wie schon die Ersetzung der Initialen „INRI“ durch „KFC“ („Kentucky Fried Chicken“, eine auf Hühnerfleisch spezialisiertes US-amerikanisches Fast-Food-Kette) deutlich macht, das „Tierleid in der Nahrungsproduktion unserer Zeit“, aber „keine Kritik am christlichen Glauben“ thematisieren soll24. Hier wäre auch ein Plakat mit einem gekreuzigten, zur Weiterverarbeitung geschlachteten „Schwein am Kreuz“ zu verorten25, mit dem die Tierschutzorganisation „Soylent Network“ zu Weihnachten 2006 gegen Fleischkonsum aufrütteln wollte26. Zu bemerken ist auch, dass „Soylent Network“ auch ansonsten mit „schockierenden“ (Tier-)Plakaten – und zwar ohne religiösen Bezug – arbeitet27. In diesen Zusammenhang gehört auch der gekreuzigte „McJesus“, mit dem der finnische Künstler Jani Leinonen (* 1978) Anfang 2019 Probleme bei einer 21 22 23 24 25

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George Grosz (* 1893; † 1959), Maul halten und weiterdienen (1928). Hintergrund – 17 Zeichnungen zur Uraufführung des „Schwejk“. Wagritsch Bachtschanjan (Вагрич Бахчанян) (* 1938; † 2009), Без названия (Ohne Titel / [Sowjetischer] Gekreuzigter (1985). Deborah Sengl (* 1974), Via Dolorosa (2012). Privatbesitz. So die Künstlerin auf ihrer Homepage (http://www.deborahsengl.com/via-dolorosa/). Nur am Rande: Das Motiv erinnert ikonographisch an die Darstellungen von Tier-, namentlich von Schweineschlachtungen in der altniederländischen Malerei (etwa von Barent Fabritius, Isaac van Ostade oder Michiel van Musscher; natürlich sei auch an Rembrandts berühmtes Werk „De geslachte os“ [Der geschlachtete Ochse] aus dem Louvre hingewiesen). Bei Hendrick ten Oever (* 1639; † 1716) ist in seinem um 1670 gemalten Gemälde „Het geslachte varken“ (Das geschlachtete Schwein) (ehem. Zwolle, Stedelijk Museum) neben dem kopfüber an einer Leiter hängenden Schwein sogar ein an die Wand gemaltes weißes Kreuz zu sehen. – Diese Assoziation verstärkte der Wiener Aktionist Hermann Nitsch (* 1938) in den 1960er Jahren noch mit seinen „Lammkreuzigungen“. Im Internet zu finden bei Helmut F. Kaplan, Fellbeißer Tierschutznachrichten vom 22.12.2006 (https://www.fellbeisser.net/authors/weihnachten-fest-der-verlogenheit). Siehe die Motive auf Massentierhaltung-abschaffen.de (http://start.massentierhaltung -abschaffen.de/flyer-von-soylent-network).

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Ausstellung im israelischen Haifa bekam28. Der späte Nachfahre der Pop-Art kritisiert Kapitalismus, Warenwelt und Ernährungskultur mit den Bildern und Ikonen von Unternehmensmarken. Seit 2011 führe er einen „Krieg“ mit dem Fast-Food Konzern McDonalds, auf dessen Maskottchen „Ronald McDonald“ er sich fokussiert hat. Das Leinonen hier anderes im Sinn hat, als den christlichen Gott zu lästern, zeigt sich schon daran, dass es aus der gleichen Reihe neben dem „McJesus“ in ähnlicher Machart auch einen „McPharaoh“, einen „McBuddha“ und einen „McLeninism“ gibt. – Dann könnte man noch eine Gruppe unterscheiden, denen es eigentlich bloß um Alberei, um die Unterhaltung eines oftmals jugendlichen Publikums geht, nicht um die „Missachtung“ der Gefühle Gläubiger. Ein Beispiel wäre die „geschmacklose oder schlicht dümmliche“29 britische Comicstripserie „Popetown“, in der unter anderem ein Papst als Comicfigur gezeigt wird, die auf einem als Springstock zweckentfremdeten Kreuz durch den Vatikan hüpft30. Geworben wurde mit Plakaten, die Scherze mit der Kreuzigung trieben31. Hier sind auch die unzähligen, manchmal nicht weniger geschmacklosen oder dümmlichen Cartoons einzuordnen, die uns gleich beim Googeln nach „jesus kreuzigung cartoon“ oder Ähnlichem in der Bildersuche präsentiert werden32. In diesen Zusammenhang kann man sicher auch den gekreuzigten (Plüsch-)Osterhasen einordnen, der große Aufregung verursachte, als er in der satirischen Fernsehsendung „heute show“ vom 12. April 2018 zur Verspottung einer Bemerkung eines AfD-Politikers in eine Kreuzigungsszene montiert wurde.

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Im Internet zu finden auf der Website von Jani Leinonen (https://janileinonen.com/ mcdonalds/2-14/). Siehe LG München, ZUM 2006, 578. Siehe dazu auch Melz, Unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit? – Werbung und die Grenze zur Rechtsverletzung (in diesem Band). Siehe die Anzeigen der Werbeagentur Roxy Munich: „Gott sieht alles. Außer Popetown“ und „Lachen statt rumhängen“ (2006). Siehe etwa: Michael Fredrich, Jesus, Episode 5 (2007) (http://www.michaelfredrich.de/Cartoons/542.htm); Winfried Besslich (bessctoon) (* 1951): Hampelmann (2008) (https://www.toonpool.com/cartoons/Hampelmann–10929); Harm Bengen (* 1955): Der neue Messias (2008) (https://de.toonpool.com/cartoons/Der%20neue% 20Messias_19787); Marcelo Rampazzo (* 1980): Cruification (2009) (https:/ /www.toon pool.com/cartoons/Crucification_37457); Mario Lars (* 1964): Jesus erhält eine Botschaft von ganz oben (2012) (http://www.freerepublic.com/focus/news/ 2923997 /posts).

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Meines Erachtens könnte man hier auch entgegen dem OLG Nürnberg33 das gekreuzigte Schwein verorten, das die Punkgruppe WiZo auf ein T-Shirt gedruckt verkaufte und in das Booklet ihrer 1994er CD „UUAARRGH!“ einfügte34. Was ist durch eine an einer solchen Typologie ausgerichteten Auslegung gewonnen? Man kann mit Blick auf den Künstler alle als blasphemisch gescholtenen Werke ordnen, ohne in eine Gemengelage mit der Eignung zur „Friedenstörung“ sowie der (opferorientierten) Wirkung der vermeintlichen „Beschimpfung“ zu geraten: All die betrachteten Werke sind geeignet, den „öffentlichen Frieden“ zu stören, weil viele Gläubige sich sehr schnell beschimpft und in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlen. Das einzige klare Kriterium bleibt dann, ob der Künstler mit seinem Werk „Missachtung“ bekundet oder ob es ihm um etwas ganz anderes geht. Oftmals will er vor allem Aufmerksamkeit durch eine gezielte Provokation erheischen – das mag Ausdruck von Nichtachtung, aber nicht von „Missachtung“ sein.

III. Ars artis gratia Die vielleicht nicht (straf-)rechtlich, wohl aber künstlerisch interessanteste Gruppe stellen jedoch diejenigen religiösen Darstellungen dar, bei denen es dem Künstler offenbar ausschließlich um seine Kunst geht und er mit seinem Kunstwerk weder Gläubige „beschimpfen“ noch besondere Aufmerksamkeit erregen will. Anders gewendet heißt dies, dass diejenigen Werke gemeint sind, die nicht nur den formalen Kunstbegriff erfüllen, also den Kunstbegriff, der „an die Tätig-

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OLG Nürnberg, NStZ-RR 1999, 238 (239 f.): „Bei dem ... ʻSchwein am Kreuzʼ handelt es sich offenkundig um eine beabsichtigte, geschmacklose und bösartige Profanierung (Entweihung) der seit fast 2000 Jahren für den christlichen Glauben zentralen Darstellung des gekreuzigten Christus (Kruzifixus). Das ergibt sich schon daraus, daß sich die Verbindung Schwein und Kreuz in dieser Form auf andere Weise gar nicht sinnvoll erklären läßt. Das Schwein wird, weil es als unrein gilt, üblicherweise als Symbol verwendet, wenn es darum geht, andere zu verunglimpfen und herabzusetzen. Die Profanierungsabsicht wird noch dadurch unterstrichen, daß dort, wo sich bei der christlichen Darstellung Jesu am Kreuz regelmäßig die Aufschrift ʻINRIʼ (lateinisch: Jesus von Nazareth, König der Juden) befindet, bei dem Schweine-TShirt die Aufschrift ʻWiZoʼ angebracht ist. ... Das Glaubenssymbol wird auf diese Weise besudelt und in den Schmutz gezogen ...“. Motiv von Karl-Heinz Stille (KHS) (* 1966): Stoppt den Rinderwahnsinn!

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keit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft“35. Es geht vielmehr um solche Kunstwerke, die (auch) den materialen Kunstbegriff ausfüllen, den das deutsche Bundesverfassungsgericht schon 1971 so umschrieben hatte36: Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.

Der materiale Kunstbegriff steht mithin eher für Kunst um der Kunst willen, um l’art pour l’art, also um Kunst, die nicht auf den Effekt des Schocks, nicht auf Provokation oder Aggression und auch nicht auf Unterhaltungswirkung zielt. Solche Kunst will nicht unbedingt irgendeine Wirkung beim Betrachter hervorrufen. Der Künstler schafft hier vielmehr Kunstwerke, u m Kunst zu schaffen, und zwar primär für sich selbst. Sogar der Aspekt der Verkäuflichkeit spielt keine, zumindest keine relevante Rolle. Illustrative Extremfälle unter Malern wären der „verrückte“ Vincent van Gogh37 oder Emil Nolde, der trotz Malverbotes zur Nazizeit weit über 1.000 kleine Aquarelle heimlich anfertigte38, auch der fast erblindete Claude Monet, der ungeachtet dessen unzählige Male seinen Garten malte39, sowie Alexej v. Jawlensky, der sich für seine „Meditationen“ den Pinsel an seine arthritischen Hände binden lassen musste40. 35 36 37

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BVerfGE 67, 213 (226 f.) – Anachronistischer Zug. BVerfGE 30, 173 (188 f.) – Mephisto. Vincent van Gogh (* 1853; † 1890) hinterließ nach gegenwärtigem Wissensstand 864 Gemälde und über 1.000 Zeichnungen, die allesamt in den letzten zehn Jahren seines Lebens entstanden sind. Er konnte zu Lebzeiten nur wenige Bilder verkaufen; die Annahmen reichen von einem bis zu zehn Stück. Emil Nolde (* 1867; † 1956) schuf in seinem Haus in Seebüll in Nordfriesland zwischen 1941 und 1945 trotz einer Art Berufsverbot heimlich mehr als 1.300 kleinformatige Aquarelle („ungemalte Bilder“), die er nicht ausstellen, geschweige denn verkaufen konnte. (Dass Noldes Stellung zum Nationalsozialismus zu hinterfragen ist, ändert an diesem Befund nichts). Der Impressionist Claude Monet (* 1840; † 1926), durch eine 1912 ausbrechende Augenkrankheit auf bis zu 20 % Sehleistung reduziert, malte weiter seine zwangsläufig immer abstrakter werdenden Bilder von seinem Garten in Giverny. Der russisch-deutsche Expressionist Alexej v. Jawlensky (* 1865; † 1941) litt seine letzten Lebensjahre unter schwerster rheumatoider Arthritis. Dennoch ließ er bis zu seiner endgültigen Bettlägerigkeit 1937 / 38 nicht davon ab, selbst mit an der Hand

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Nennen wir solche Kunst im Folgenden mangels eines allgemein gebräuchlichen Begriffs „Ars artis gratia“. Verallgemeinert und ins Juristische gewendet: Bei Ars artis gratia sollte es von vornherein nicht auf die Frage ankommen, ob durch eine „Beschimpfung“ der „öffentliche Friede“ beeinträchtigt wird oder gar eine Abwägung der Kunstfreiheit mit in Konkurrenz stehenden Grundrechten erfolgen muss. Ars artis gratia drückt nämlich notwendigerweise schon keine „Missachtung“ aus. Die so verstandene Ars artis gratia sollte dem (gläubigen) Betrachter eigentlich keinen Verdruss bereiten; sie mag ihm gefallen oder auch nicht, er muss sich von ihr aber nicht verletzt, belästigt, verspottet oder beleidigt fühlen – sofern er sie als solche „Kunst um der Kunst willen“ erkennt. Und genau da liegt das Problem vor allem bei moderner Kunst mit religiösem Gegenstand. So sollte die Kreuzigung Christi auf dem „Tanz ums Kreuz“ des deutschen Neoexpressionisten Georg Baselitz41 nur solange als fragwürdige Adaption der Kreuzigung Petri oder gar als („beschimpfende“!?) Vermengung mit der Symbolik des Satanismus interpretiert werden können42, wie der Betrachter nicht weiß43, dass Baselitz über viele Jahre nicht nur diese Kreuzigungsszene, sondern alle seine Bildmotive kopfüber stehend gemalt hat44. Hierher gehören auch zwei Tierkreuzigungen – und zwar einer Schnecke sowie einer Ratte – des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass45. (Allerdings könnte man diese Radierungen auch, weil sie das ganze literarische Werk Grassʼ durchziehende gesellschaftspolitische Aussagen transportieren, in die Nähe des Gasmasken-Christus von Grosz ordnen; die Grenzen solcher Kategorisierungen bleiben natürlich fließend.) Die Radierungen stehen in engster Verbindung zu zwei literarischen Werken von Grass, der Erzählung „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ von 1972 und dem Roman „Die Rättin“ von 1986,

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festgebundenem Pinsel seine strukturell (erzwungenermaßen) immer einfacher werdenden „Meditationen“ zu malen. Georg Baselitz (* 1938), Tanz ums Kreuz (1983). Ehem. Luttrum, Annenkirche. Ein umgedrehtes Kreuz, ein Petruskreuz (der Apostel Petrus soll mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden sein), gilt im Okkultismus als ein Symbol des Satanismus, ein Zeichen für die Umkehrung christlicher Werte. Baselitzʼ Bild führte zu Turbulenzen in der Gemeinde. Viele ließen sich in andere Gemeinden „umpfarren“; schließlich nahm Baselitz sein Bild wieder zurück. Mit diesen auf dem Kopf stehenden Bildern wurde Baselitz ab Mitte der 1970er weltweit berühmt. Mit dem Umdrehen seiner Bilder nahm er dem Bild seinen konventionell gedachten Inhalt, machte also den Bildgegenstand gegenstandslos und damit abstrakt. Günter Grass (* 1927; † 2015), Schnecke am Kreuz (1972). Golgatha (1985).

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in denen er die beiden Tiere, in gewissem Sinne vergleichbar mit George Orwells Fabel „Animal Farm“ von 1945, in eine Parabel auf menschliche Verhaltensweisen setzte46. Als Kundgabe der „Missachtung“, der Verhöhnung des Christuskultes können die Radierungen auf der Grundlage dieser Erklärung nun sicher nicht mehr verstanden werden. Sie sind vielmehr, wie das Bundesverfassungsgericht es formuliert hatte47, „nicht Mitteilung, sondern Ausdruck … der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.“ Nicht ganz so offensichtlich mag dies bei den zwei Bildern aus dem 16teiligen Hieronymus-Zyklus des Wiener „Neuen Wilden“ Siegfried Anzinger (* 1953) sein, die 2012 die Ausstellung des Zyklus in der Kunst-Station Sankt Peter in Köln verhinderten, weil auf ihnen gekreuzigte Schweine zu sehen waren48. Abgesehen davon, dass Anzinger selbst sich damit im Sinne des materialen Kunstbegriffs verteidigte, es sei ihm nicht um eine Provokation gegangen, sondern er sei „lediglich seinem malerischen Gewissen gefolgt“49, ist zu bemerken, dass sich Anzinger seit der Jahrtausendwende besonders mit religiösen Themen der Kunstgeschichte beschäftigt hat: Bibel, Geschichte der Heiligen und der Kirchenväter (neben Hieronymus auch mit Antonius, zu dessen Attributen das Schwein gehört!), Maria mit Kind, Adam und Eva50 – immer in seiner eigenwilligen, spontanen, manchmal an Karikaturistisches erinnernden Mal- und Darstellungsweise. Eine solche Transformation von intrinsisch Innerviertem in Kunst ist die ureigene Bestimmung des Künstlers. Ars artis gratia. Es geht nicht um Beschimp46

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„In ʻAus dem Tagebuch einer Schneckeʼ demonstriert Grass an den Schnecken menschliche Eigenschaften, die er schätzt, das Gewundene, das Nacktsein wie das In-sich-geborgen-sein, die Empfindlichkeit, das Zögern, die Einsamkeit, die Geduld, die Beharrlichkeit, die Bereitschaft zur permanenten Revision … Sobald die Schnecke zum Messias gemacht wird, folgt bald ihre regelrechte Kreuzigung … Noch krasser drücken in ʻDie Rättinʼ Rattenkreuzigungen gezielte Vernichtung aus. Bei den Ratten reicht allein die Erinnerung an das böse Beispiel der Menschen aus, um auch bei ihnen Glaubenskriege ausbrechen zu lassen; auch sie fangen an, nach bewährter Menschenart Andersdenkende zu kreuzigen ― ʻes menschelteʼ.“ (Neuhaus, Anu.Filol.Lit.Contemp. 7/2017, 118 ff.). BVerfGE 30, 173 (189) – Mephisto. Im Internet zu finden auf Catholoc Conclave vom 24.05.2012 (http://cathcon.blog spot.com/2012/05/exhibition-of-crucified-pigs-in-church.html). Siegfried Anzinger / Galerie Julia Garnatz, Statement zur abgesagten Ausstellung (www.juliagarnatz.com/de/2012/siegfried-anzinger/st-peter/Statement.pdf). Es gibt übrigens aus dem gleichen Jahre noch ein Werk von Anzinger mit Goethes Faust als Gekreuzigtem. (Faust am Kreuz [Quo vadis]. München, Pinakothek der Moderne).

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fung, nicht um die „Missachtung“ religiöser Gefühle. Es geht um Kunst. Man muss diese Kunst nicht schön finden, nicht zu Hause als Kunstdruck aufhängen wollen – aber niemand sollte sich „beschimpft“ und in seinen Empfindungen „missachtet“ fühlen müssen.

Literatur DÖLLING, DIETER / DUTTGE, GUNNAR / KÖNIG, STEFAN / RÖSSNER, DIETER, Gesamtes Strafrecht – Kommentar. 4. Auflage 2017. FISCHER, THOMAS, Strafgesetzbuch – Kommentar. 66. Auflage 2019. MÜNCHENER KOMMENTAR ZUM STRAFGESETZBUCH. 3. Auflage 2017–2019. NEUHAUS, VOLKER, Das Kreuz im literarischen und künstlerischen Werk von Günter Grass, Anuari de Filologia. Literatures Contemporànies 7/2017, S. 111 ff. NOMOS-KOMMENTAR ZUM STRAFGESETZBUCH. 4. Auflage 2013. SATZGER, HELMUT / SCHLUCKEBIER, WILHELM / WIDMAIER, GUNTER, Strafgesetzbuch – Kommentar. 4. Auflage 2019. SCHÖNKE /SCHRÖDER, Strafgesetzbuch – Kommentar. 30. Auflage 2019. STEINKE, RON, „Gotteslästerung“ im säkularen Staat. Ein Plädoyer für die Streichung des § 166 StGB, Kritische Justiz 41 (2008), S. 451 ff.

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„The Holy Virgin Mary“ von Chris Ofili auf dem Prüfstand* Viele Probleme mit Kunstwerken, die der Beleidigung, der Staatsverunglimpfung, vor allem der „Gotteslästerung“ (moderner und richtiger: der „Kirchenbeschimpfung“) gescholten werden, entstehen durch „Engagierte Kunst“, also Kunst, die sich nicht mehr auf den idealistischen, von Kant beeinflussten Kunstbegriff des Reichsgerichts von 1893, wonach Kunst durch die „interesselose Freude am Schönen“ gekennzeichnet sei1, reduzieren lassen will. Engagierte Kunst ist solche, die ein politisches, soziales, religiöses oder ideologisches Engagement erkennen lässt und dieses mit den Mitteln der Kunst vorträgt und verficht. In der Engagierten Kunst geht es nicht in erster Linie um ästhetische Werte. Sie besteht nicht – etwa nach dem Prinzip l’art pour l’art – um ihrer selbst willen. Will Kunst sich dagegen, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem „Mephisto“-Beschluss 1971 den idealistischen Kunstbegriff zu dem sogenannten materialen Kunstbegriff zu schärfen versuchte2, in „freier schöpferischer Gestaltung“ betätigen, „in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden“, fehlt es am politischen, sozialen, religiösen oder ideologischen Engagement. Wir wollen solche Kunst mangels eines allgemein *

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Dieser Beitrag hat den mit Fußnoten versehenen, überarbeiteten und aktualisierten Hauptteil des Vortrages „ʻBluźnierstwoʼ i ars artis gratia – analiza ʻThe Holy Virgin Maryʼ Chrisa Ofiliego“ („ʻGotteslästerungʼ und Ars artis gratia – ‚The Holy Virgin Maryʼ von Chris Ofili auf dem Prüfstand“), den der Autor am 6. Mai 2016 anlässlich der Präsentation der Ausstellung „Kunst und Strafrecht / Sztuka a prawo karne“ an der Fakultät für Recht und Verwaltung der Universität Gdańsk im Rahmen der Konferenz „Bluźnierstwo w sztuce – z perspektywy polskiego i niemieckiego prawa karnego“ („Blasphemie in der Kunst – aus der Perspektive des polnischen und deutschen Strafrechts“) gehalten hat. Eine ausführlichere, vor allem auch die biographischen sowie die zeit- und kunsthistorischen Zusammenhänge näher beleuchtende Darstellung des Schaffens Chris Ofilis findet sich auf der Website des Autors „www.kunstundstrafrecht.de“ unter Ausstellungstafeln – „Kunst und ʻGotteslästerungʼ“ – „The-Holy-Virgin-Mary“-Fall. RGSt 24, 365 (367). BVerfGE 30, 173 (188 f.) – Mephisto.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-019

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gebräuchlichen Begriffs „Ars artis gratia“ (wörtlich: „die Kunst für die Kunst“) nennen3. Es mangelt bei solcher Kunst also selbst dann, wenn Kreise der Bevölkerung wenig kunstaffin sich durch die Motivwahl eines Künstlers getroffen fühlen, a priori an einem Anknüpfungspunkt für das Strafrecht. Es fehlt am „Beschimpfen“‚ „Verunglimpfen“‚ am Ausdruckgeben von „Nicht-“ bzw. „Missachtung“. Statt also gleich an der Störung des „inneren“ oder „öffentlichen“ Friedens oder der Verletzung der Personenwürde anzusetzen, wäre der Fokus darauf zu richten, ob das Kunstwerk nicht vielmehr, wie es das Bundesverfassungsgericht weiter formulierte4, lediglich „Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers“ ist. Das hört sich alles höchst abstrakt an. Wir wollen also einmal die Nagelprobe machen und stellen dasjenige Gemälde – genauer gesagt: Mixed Media Painting – auf den Prüfstand, das wie kaum ein zweites in jüngerer Zeit der Blasphemie gescholten worden ist: „The Holy Virgin Mary“ von Chris Ofili aus dem Jahre 1996, ein Bildnis aus Papiercollage, Ölfarbe, Glitzer, Polyesterharz, Pinnwandnadeln und Elefantendung auf Leinwand, fast 4,5 m2 (243,8 x 182,9 cm) groß: Vor einem goldgelben Hintergrund zeigt das nicht (foto-)realistisch gemalte‚ sondern irgendwo zwischen (Neo-)Expressionismus‚ Pop Art und Phantastischem Realismus anzusiedelnde Gemälde eine schwarze Frau mit negroiden‚ wohl sogar äffischen Gesichtszügen. Sie trägt ein blaues Gewand, ein traditionelles Attribut der Jungfrau Maria. Sie wird von vielen collagierten Bildern umschwirrt, die auf den ersten Blick wie Schmetterlinge aussehen, bei näherer Betrachtung jedoch Fotografien nackter weiblicher Gesäße zeigen. Ein Stück getrockneter, lackierter Elefantenmist ist auf ihre entblößte Brust drapiert.

I. Chris Ofili Bevor wir das Bild näher betrachten‚ sei gefragt: Wer ist dieser Chris Ofili? Ofili, 1968 geboren, ist ein britischer Maler nigerianischer Abstammung. Seine katholischen Eltern waren 1965 aus Lagos in Nigeria immigriert. Sie wurden in Manchester als Fabrikarbeiter ansässig und bekamen vier Kinder, Chris ist

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Siehe näher dazu Scheffler, „Gotteslästerung“ und Ars artis gratia (in diesem Band). BVerfGE 30,173 (189) – Mephisto.

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das zweitälteste. Der Vater verließ, als Chris elf Jahre alt war, die Familie und ging zurück nach Nigeria. Ofili besuchte in Manchester katholische Schulen, war Ministrant in der Kirchengemeinde und dachte daran, katholischer Priester zu werden; allerdings verwirrte ihn schon früh das Dogma der Jungfrauengeburt5: As an altar boy, I was confused by the idea of a holy Virgin Mary giving birth to a young boy.

Letztlich studierte er dann bis 1993 erfolgreich in London Kunst, und zwar mit dem Schwerpunkt auf Malerei. 1998 gewann Ofili als erster Schwarzer den „Turner Prize“ der Londoner Tate Britain. Die mit 20.000 Pfund Sterling dotierte renommierte Auszeichnung wird jährlich an einen britischen Künstler unter 50 Jahren vergeben. Heute besitzen viele internationale Sammlungen und Museen Ofilis Werke, so das Museum of Modern Art in New York und die Tate Gallery in London. Im „MoMA“ befindet sich seit 2018 auch Ofilis „Holy Virgin Mary“6.

II. „Sensation“ in New York Nun mag man zunächst durchaus erstaunt sein, Ofilis „Holy Virgin Mary“ als ein Bild einstufen zu wollen, das um der Kunst willen gemalt worden ist, und nicht, um im Sinne Engagierter Kunst eine – abwertende – Aussage zum Marienglauben zu transportieren: Eine Madonna, dunkelhäutig mit äffischem Gesicht, Elefantenkot auf der nackten Brust, umflattert von Pornoschnipseln – man kann zunächst durchaus auch gewillt sein, das Gemälde eher bei dem

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Artner, Chicagotribune.com vom 11.10.1999. Von 2011 bis 2015 war „The Holy Virgin Mary“ im neu eröffneten privaten Museum of Old and New Art (MONA) des australischen Kunstsammlers David Walsh im tasmanischen Hobart ausgestellt worden. Im Juni 2015 bot Walsh dann aber über das Auktionshaus Christieʼs in London Ofilis „Holy Virgin Mary“ zum Verkauf an. Am 30. Juni 2015 ist Ofilis Werk dann tatsächlich für 2.900.000 Pfund Sterling verkauft worden – ein Auktionsrekord für Ofili. Der Käufer blieb zunächst unbekannt. Später stellte sich heraus, dass der Hedgefonds-Milliardär Steven Cohen Ofilis Bild erworben hatte. Es musste befürchtet werden, dass es für lange Zeit aus der Öffentlichkeit verschwinden würde. Das Bild wurde jedoch 2018 über die Steven & Alexandra Cohen Foundation dem Museum of Modern Art in New York geschenkt.

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Graffito mit dem gekreuzigten Esel aus der Römischen Kaiserzeit7 oder bei Martin Kippenbergers gekreuzigten Fröschen8 einzuordnen. Ofilis Werk löste im Herbst 1999 auf der viel beachteten Wanderausstellung „Sensation“9 in New York, der dritten Station nach London und Berlin, einen heftigen Skandal aus, und zwar beginnend schon vor ihrer Eröffnung im Brooklyn Museum of Art: Offenbar bevor er es überhaupt gesehen hatte10, bezeichnete der damalige Bürgermeister von New York, der Katholik Rudolph Giuliani, das Bild als „sick“ und „disgusting“11. Dass Ofili Elefantendung verwendet hatte, verstand Giuliani als einen Angriff auf die Religion. Er verlangte die Entfernung des Werkes und drohte dem Museum, ansonsten Zuschüsse in Höhe von rund sieben Millionen US-Dollar zu streichen12. 7 8

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Das 1856 auf dem Palatin in Rom entdeckt Graffito aus dem 3. Jh. n. Chr. (heute Rom, Museo Palatino) zeigt die Inschrift: „Alexamenos verehrt einen Gott“. Die dem Hamburger Sammler Harald Falckenberg gehörende „Frosch“-Skulptur von 1990 trägt den Titel: „Was ist der Unterschied zwischen Casanova und Jesus? – Der Gesichtsausdruck beim Nageln“. Die Wanderausstellung „Sensation: Young British Artists from the Saatchi Collection“ wurde von dem Sammler und Galeristen Charles Saatchi ausgerichtet. Saatchi war auf den damaligen Kunststudenten Damien Hirst (* 1965) aufmerksam geworden, der im Juli 1988 in einem Lagerhaus in den Londoner Docklands unter dem Titel „Freeze" eine Ausstellung mit Werken von Mitstudenten des Goldsmiths College kuratierte. Er begann, Hirst und eine Gruppe junger Künstler, die sich um ihn scharte, zu fördern, darunter auch Ofili. Saatchi kaufte in den kommenden Jahren fast 3.000 Werke, erfand ein griffiges Label, nämlich eine Marke namens „YBA“ („Young British Artists“) und kuratierte schließlich eine große „Sensation“ betitelte Gruppenausstellung. Ofili war mit seiner „Holy Virgin Mary“ dabei. „Sensation“ wurde zunächst 1997 in London gezeigt. 110 Werke von 43 Künstlern wurden präsentiert. Die Ausstellung ging sodann nach Berlin in den Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart (vom 30.09.1998 bis zum 21.02.1999) und schließlich nach New York in das Brooklyn Museum (vom 02.10.1999 bis 09.01.2000). O.V., BBC News vom 23.09.1999: „The mayor has not seen the exhibition himself, but has examined a copy of the showʼs catalogue”. Plagens, Newsweek.com vom 04.10.1999. O.V., BBC News vom 23.09.1999. Später entschied der United States District Court for the Eastern District of New York (Brooklyn Inst. of Arts & Scis v. City of New York & Rudolph W. Giuliani, 64 F. Supp. 2d 184, 205 [E.D.N.Y. 1999]), die Streichung der Mittel durch Bürgermeister Giuliani verstoße gegen die im 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten garantierte Meinungsfreiheit (First Amendment to the United States Constitution: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for

„The Holy Virgin Mary“ von Chris Ofili

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Auch der Bischof von New York, Kardinal John Joseph O’Connor, entrüstete sich und sprach von einer „attack on our Blessed Mother”13. Schon am 30. September 1999, noch vor der Eröffnung der Ausstellung, warf Scott LoBaido, ein, wie er sich auf seiner Homepage selbst bezeichnet14, „Creative Patriot Artist“ aus Staten Island, dessen Lieblingsmotiv die USamerikanische Flagge ist15, Pferdemist an die Fassade des Brooklyn Museums. Von der Polizei festgenommen, erklärte er, er habe sich schöpferisch ausdrücken wollen und verwies spöttisch auf das Bild von Ofili, den er des „Catholicbashing" beschuldigte16. Mitte Dezember 1999 gelang es schließlich dem 72-jährigen pensionierten Lehrer Dennis Heiner, das Gesicht und den Oberkörper der Madonnen-Gestalt zu überschmieren, ehe ihn die Sicherheitskräfte des Brooklyn Museums festnehmen konnten. Seine Ehefrau gab später an, ihr Mann habe als strenggläubiger Katholik gegen die „blasphemous art“ und „insult to Christians“ protestie-

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a redress of grievances.“): „Bundesweit ist keine Angelegenheit ernstzunehmender als der Versuch von Regierungsbeamten, Kunstwerke zu zensieren und eine bedeutende kulturelle Institution in ihrer Vitalität zu bedrohen, um sie dafür zu bestrafen, dem Willen der Regierung nicht zu entsprechen“. Roediger, Colored White, S. 28. Der ebenfalls ob des Bildes erboste William Donohue, Präsident der „Catholic League for Religious and Civil Rights“, einer streitbaren katholischen Bürgerrechtsorganisation, meinte, das Gemälde würde Abscheu („revulsion“) hervorrufen (o.V., BBC News vom 23.09.1999) und verstieg sich, auf Ofili und seine „Holy Virgin Mary“ bezogen, sogar zu der Äußerung, es sei kein Wunder, dass selbst Adolf Hitler als Künstler anerkannt wurde, brauchte er sich doch bloß als solcher zu bezeichnen, um in Künstlerkreisen willkommen zu sein (Siehe o.V. (Bill), Catholicleague.org vom 26.10.1999). Siehe http://scottlobaido.com/. „Flags Across“ America-Projekt: „His greatest creative accomplishment thus far was ʻFlags across Americaʼ where he drove across the United States, in 10 months, and painted a large American flag on one rooftop in each of the 50 states. His goal was to ensure that all soldiers flying home from war would look down and see an American Flag greeting them home … Scottʼs mission was to make sure that the soldiers knew how grateful we all are for their service to this great country, and to acknowledge the families of these great men and women, and of course express his pride in being a free American.“ (So war es mehrere Jahre auf LoBaidos Homepage zu lesen [im Internet noch zu finden unter http://web.archive.org/web/20130809015524/http: //www.scottlobaido.com/flags-acros s-ame rica/]). O.V., Artcrimes.net vom 16.12.1999.

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ren wollen17. Den Elefantenkot und die Ausrisse aus Pornomagazinen auf dem Bild habe er für frevelhaft gehalten. Am Morgen der Tat habe er gesagt18: This painting is your mother, the painting of the Blessed Mother, the mother of Christ. … I will go there today and try to clean it.19

Nach den Kontroversen um Ofilis Bild in New York wurde die für Juni 2000 bereits geplante weitere Ausstellung in der National Gallery of Australia in Canberra abgesagt20.

III. § 166 StGB: Beschimpfung von religiösen Bekenntnissen Szenenwechsel. Prüfen wir, ausgehend vom deutschen Strafrecht, inwieweit diese Proteste gegen Ofilis Gemälde „berechtigt“ waren. § 166 Abs. 1 StGB bedroht mit Strafe (unter anderem) denjenigen, der den Inhalt des religiösen ... Bekenntnisses anderer21 in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.

Dieser „öffentliche Frieden“ ist unbezweifelbar in New York erst durch die genannten Proteste und Protestaktionen gegen das Gemälde gestört worden. Dass diese Störung nicht von Ofili ausging, der damals überhaupt nicht in New

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De La Cruz, CBSNews.com vom 17.12.1999. McFadden, The New York Times vom 17.12.1999. Heiner wurde wegen „kriminellen Unfugs“ („criminal mischief in the second degree“) zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt, die ihm gegen Zahlung eines Geldbetrages von 250 US-Dollar erlassen wurde. Vogel, The New York Times vom 01.12.1999. Die Auffassung, die seit einer Entscheidung des Reichsgerichts von 1880 allgemein vertreten wurde, dass der „Marienkult in der katholischen Kirche“ als „Einrichtung“ dieser Religionsgesellschaft zu verstehen sei (RGSt 2, 428 [429]; siehe auch RGSt 64, 121 [123] – Christus mit der Gasmaske; BGH, UFITA 1962, 181 [186] – Missa profana; LG Köln, MDR 1982, 771; LG Düsseldorf, NStZ 1982, 290), sollte, seit infolge der Neufassung von § 166 StGB durch das 1. StrRG vom 25.06.1969 den Tatbestand auch derjenige erfüllt, der „den Inhalt des religiösen ... Bekenntnisses anderer ... beschimpft“, nicht mehr vertreten werden, weil es sich bei dem Marienkult viel eher um einen Bekenntnisinhalt handelt. (Siehe Bosch / Schittenhelm in Schönke / Schröder, StGB, § 166 Rn. 17/18; Stübinger in Nomos-Kommentar, StGB, § 166 Rn. 11; Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 166 Rn. 12; Hilgendorf in Satzger / Schluckebier / Widmaier, StGB, § 166 Rn. 12). In der Sache ändert sich dadurch freilich für unsere Überlegungen nichts.

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York war, sondern durch die Proteste katholischer Kreise, soll keine Rolle spielen, weil solche Reaktionen § 166 StGB gerade verhindern soll22. Geschah die Friedensstörung aber auch durch eine „Beschimpfung“ des katholischen Bekenntnisses? Der Schluss von der Friedensstörung auf eine „Beschimpfung“ etwa „nach dem Motto: ʻWo Rauch ist, muss auch Feuer seinʼ“23, wäre ein unzulässiger Umkehrschluss. Die allgemeine Ansicht versteht unter „Beschimpfen“ eine „durch Form oder Inhalt besonders verletzende Äußerung von Missachtung“ – wobei einschränkend hinzugefügt wird, dass bei Kunstwerken nur die „besonders rohe“ Äußerung als „Beschimpfung“ gewertet werden könne24. Eine Mutter Gottes mit negroiden Gesichtszügen, versehen mit Elefantenkot auf der nackten Brust und umschwirrt von pornographischen Cut Outs‚ mag man als „durch Form oder Inhalt besonders verletzend“ aus Sicht der vermeintlichen „Opfer“, der gläubigen Betrachter, einstufen können. Dabei muss aber auch „Missachtung“ durch den vermeintlichen „Täter“, also den Künstler zum Ausdruck kommen. Egal wie man es definiert, hieran scheitert das Merkmal „Beschimpfung“ bei Ars artis gratia, die ja „Kunst um der Kunst willen“ darstellt und eben nicht auf den Betrachter gezielt einwirken will. Nur – woran soll man festmachen, dass Ars artis gratia vorliegt? Ob solche „Kunst um der Kunst willen“ angenommen werden kann, ist, wie schon angedeutet, im Einzelfall nicht einfach zu entscheiden. Um das bezogen auf Ofilis „Holy Virgin Mary“ zu entscheiden, bedarf es genaueren Hinsehens. Ofili selbst ist hierfür keine große Hilfe. Die „New York Times“ hatte ihn damals zur Zeit der Vorkommnisse um die Brooklyner Ausstellung gebeten, sein Gemälde zu erklären. Ofili antwortete25:

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So ausdrücklich OLG Nürnberg, NStZ-RR 1999, 238 (241). Stübinger in Nomos-Kommentar, StGB, § 166 Rn. 15; siehe auch Steinke, KritJ 41 (2008), 453. OLG Köln, NJW 1982, 657 mit weiteren Nachweisen; Bosch / Schittenhelm, in Schönke / Schröder, StGB, § 166 Rn. 10. Meiner Ansicht nach, das sei hier nur kurz erwähnt, sollte man besser die Subsumtion des Tatbestandsmerkmals der zur Friedensstörung geeigneten „Beschimpfung“ vornehmen, ohne auf dieser Prüfungsebene schon auf die Kunstfreiheit zu rekurrieren, und stattdessen Art. 5 Abs. 3 GG erst auf der Rechtfertigungsebene in Stellung bringen. Zit. nach Vogel, The New York Times vom 28.09.1999.

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Uwe Scheffler I donʼt feel as though I have to defend it. The people who are attacking this painting are attacking their own interpretation, not mine. You never know whatʼs going to offend people, and I donʼt feel itʼs my place to say any more.

IV. The Holy Virgin Mary Versuchen wir also eine Interpretation des Werkes, vor allem derjenigen seiner Bildelemente, deren „Rohheit“ so viel Empörung ausgelöst haben. Nochmals: Eine Mutter Gottes mit negroiden Gesichtszügen, versehen mit Elefantenkot auf der nackten Brust und umschwirrt von pornographischen Schnipseln.

1. Schwarze Frau Zunächst einmal: Dass Ofilis „Holy Virgin Mary“ eine Schwarze ist, kann keinesfalls als „beschimpfende Äußerung von Missachtung“ interpretiert werden – auch ohne dass man auf die mitunter bizarren Ansichten einiger Verfechter der „Political Correctness“ rekurriert. So sind auch in Europa schwarze Madonnen auf Kirchenbildnissen nicht selten; das berühmteste ist wohl die „Schwarze Madonna von Tschenstochau“26. Es gibt zudem zahlreiche Schwarze Madonnen in afrikanischen und südamerikanischen Kirchen, die oft sogar ausgeprägte negroide Gesichtszüge aufweisen, möglicherweise (auch) zurückzuführen auf Einflüsse dortiger Naturreligionen. Die bekanntesten sind wohl die in Aparecida / Brasilien27 und Soweto / Südafrika28. Außerdem haben auch Künstler wie der Deutsch-Amerikaner Winold Reiss das Motiv der schwarzen Maria schon vor fast hundert Jahren in der New Yorker afroamerikanischen Künstlerbewegung „Harlem Renaissance“ verwendet29. 26

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Matka Boska Częstochowska. Częstochowa, Kloster Jasna Góra. Erklärung findet die dunkle Färbung, die regelmäßig nicht auf Alterungsprozesse zurückführbar ist, oftmals im Hinweis auf das alttestamentarische Hohelied Salomos, wo es, wohl der Königin von Saba zugesprochen, heißt: „Braun bin ich, doch schön ...“ (Hohelied 1,5). Nossa Senhora de Aparecida (Unsere Liebe Frau von Aparecida). Aparecida do Norte, Basilica Nova Nossa Senhora. Larry Scully (* 1922; † 2002), Madonna and Child. Soweto, Regina Mundi Church. Winold Reiss (* 1886; † 1953), The Brown Madonna (1925). Illustration zu Alain Locke, The New Negroe. „Das New Yorker Stadtviertel Harlem war in den 1920er Jahren ein Brennpunkt künstlerischer Aktivität. In diesem Schmelztiegel versammelten sich die bildenden

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2. „Äffisches“ Gesicht Auch das karikaturartige „äffische“ Gesicht von Ofilis „Madonna“ lässt sich schwerlich als „beschimpfende Äußerung von Missachtung“ gegenüber Maria interpretieren, weil Ofili, von Comics inspiriert, damals auch andere (Phantasie)-Porträts ohne religiösen Bezug stilistisch ähnlich malte30. Ob sich darin nun „Spuren des wissenschaftlichen Rassen-Diskurses“ wiederfinden lassen31, oder von Ofili „parody-like“ ein afrikanischen Gesicht gemalt wird32, mag dahinstehen können – „beschimpft“ werden hier, wenn überhaupt, Schwarze, nicht Maria.

3. Elefantenkot Als gewichtigerer Ansatzpunkt für den Ausdruck von Missachtung als die Darstellung Marias als Schwarze käme – natürlich – die Verwendung von Elefantenkot auf dem Gemälde in Betracht33. Nun ist zu beachten, dass Ofili nicht erst- und einmalig bei seiner „Holy Virgin Mary“ Elefantendung verwendete, sondern den in ähnlicher

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Künstler der sogenannten ʻHarlem Renaissanceʼ … Neben ihrer Kunst einte sie ihre afroamerikanische Herkunft. Vor diesem Hintergrund war es das große Verdienst der Gruppe, eine neue Bildsprache und damit gewissermaßen ein neues Vokabular für die Darstellung der afroamerikanischen Kultur zu formulieren.“ (Lexikon Ketterer Kunst, Stichwort: Harlem Renaissance [http://www.kettererkunst.de/lexikon/harlemrenaissance.php]). Siehe beispielsweise „Captain Shit and the Legend of the Black Stars“ (1996). London, Victoria Miro Gallery. Siehe dazu Cada, Strategien der Repräsentation, S. 121 f. Fn. 68: „In der maskenhaften Wiedergabe des Gesichts der ʻMuttergottesʼ lassen sich Spuren des wissenschaftlichen Rassen-Diskurses wiederfinden. Rassen wurden im 18. und 19. Jahrhundert anhand phänotypischer Eigenschaften wie Haut- und Haarfarbe sowie einzelner Gesichts- und Schädelformen hierarchisch klassifiziert. ... Ofili betont diesen Aspekt durch die übertriebene Darstellung der einzelnen Gesichtsmerkmale von Maria. Diese besitzt eine überdurchschnittlich breite Nase und wulstige Lippen, die einen ellipsenartigen Mund formen und somit an Affenkarikaturen denken lassen“. Baker, Surpassing the Spectacle, S. 51: „... big-toothed, big-lipped almost parodylike African mouth“. Bei Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 166 Rn. 18, findet sich hierzu der Hinweis, bei Abbildungen könne diese Tathandlung bei der Verbindung mit Objekten angenommen werden, „die als Symbole für extreme Herabwürdigung stehen. Möglich ist dies durch ... Kombinationen mit abstoßenden Materialien (Fäkalien und Ähnliches, etwa das Beschmieren einer ʻheiligen Schriftʼ mit solchen Substanzen)“.

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Weise schon seit Jahren auf seinen Bildern als künstlerisches Mittel eingesetzt hatte und auch danach weiterhin einsetzte34. Ofili hatte 1992 auf einem vom British Council finanzierten dreiwöchigen Kunstworkshop in Zimbabwe, an den er eine mehrwöchige Rundreise anschloss, zum ersten Mal eine persönliche ethnische Bezugslinie zu Afrika aufgebaut. Er sah hier keine Elefanten, wohl aber Elefantendung, der in verschiedenen afrikanischen Stammeskulturen ein Symbol für Fruchtbarkeit, Wachstum und Erdverbundenheit darstellt. Er war von seiner runden Form fasziniert und begann, den Dung in seiner künstlerischen Arbeit zu verwenden35: Ich dachte darüber nach, wie ich meine europäischen Ideen zur Malerei mit diesen neuen, mehr erdigen, afrikanisierten Ideen und Erfahrungen zusammenbringen könnte,

erinnerte sich Ofili an seine Zimbabwe-Reise36. Und da habe ich einfach ein Stück Dung auf mein Gemälde geworfen. Einfach so. Und ich dachte, hm, da hast du gerade ein richtig gutes Bild ruiniert.

Später resümierte er, it was a crass way of bringing the landscape into the painting37.

1995 beschrieb er seinen konzeptionellen Ansatz38: The paintings themselves are very delicate abstractions, and I wanted to bring their beauty and decorativeness together with the ugliness of shit and make them exist in a twilight zone ...

An „Sensation“ hatte Ofili mit insgesamt fünf Werken teilgenommen; nicht nur „The Holy Virgin Mary“, auch die anderen vier39, weitgehend abstrakt und keinerlei religiösen Bezug aufweisend, waren mit Elefantendung drapiert. Noch deutlicher wird der fehlende abwertende, Missachtung ausdrückende Bezug des Verwendens von Dung auf dem 1998 entstandenen Bild „No Woman No Cry“40. Ofili hatte es als Hommage an eine schwarze Frau ge34

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Bis 2003/04 verwendete Ofili auf seinen Bildern Elefantendung als Gestaltungselement, zunächst aus Zimbabwe mitgebracht, später vom „Whipsnade Wild Animal Park“ in Bedfordshire, einer „Filiale“ des Londoner Zoos, bezogen. Siehe Young, Chris Ofili, The Holy Virgin Mary. Müller, Art – Das Kunstmagazin 2/2000. Siehe Young, Chris Ofili, The Holy Virgin Mary. Cada, Strategien der Repräsentation, S. 6. Spaceshit (1995); Afrodizzia I (1996); Popcorn Tits (1996); Afroblufff (1996). No Woman No Cry (1998). London, Tate Britain.

„The Holy Virgin Mary“ von Chris Ofili

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schaffen, deren Sohn in London einem rassistisch motivierten Mord zum Opfer gefallen war. Die Frau trägt auf dem Gemälde an einer Halskette eine Kugel Elefantendung – was ganz sicher nicht Ausdruck von Missachtung war.

4. Nackte Brust Nun bleibt jedoch noch der Umstand, dass der Elefantendung ausgerechnet die entblößte rechte Brust der „Holy Virgin Mary“ bildet oder jedenfalls bedeckt – eine Komposition, die sich so ähnlich auch auf Ofilis ebenfalls auf „Sensation“ ausgestelltem Bild „Popcorn Tits“ findet. Zunächst einmal ist auch hier ein von den gängigen europäischnordamerikanischen Vorstellungen abweichender Bezug zur afrikanischen Kultur in Betracht zu ziehen. Auf einen möglichen Schlüssel zur Interpretation dieser provokanten Kombination könnte eine Anekdote von Arnold L. Lehman, dem Direktor des Brooklyn Museums zur Zeit der New Yorker „Sensation“Ausstellung hinweisen41: Arnold L. Lehman ... recounts that a group of nuns from a nursing order based in Malawi contacted the museum after Sensation had opened. The uproar over Chris Ofili’s painting had reached them as far away as Africa, but the sisters were perplexed: they customarily use a poultice incorporating dung to treat women suffering from inflammation of their breasts after childbirth. The poultice takes down the swelling and allows those women to successfully breast-feed – only then does the milk flow. In their experience, dung has revitalizing powers that bolster the image of the Madonna. It corroborates rather than derides the image of women as the source and preserver of life.

Unabhängig davon ist die Darstellung Marias mit entblößter Brust in der abendländischen Kunst nichts völlig Neues. Edvard Munch (* 1863; † 1944) etwa malte Ende des 19. Jahrhunderts seine damalige Geliebte als barbusige „Madonna“ in insgesamt fünf Versionen42. Vor der Moderne, also von den Alten Meistern, wird Maria häufig mit zumeist nur einer nackten Brust (wie Ofilis „Holy Virgin Mary“) beim Stillen des Jesusknaben dargestellt43.

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Dubin, Displays of Power, S. 254. Die bekannteste Fassung von 1894 befindet sich in der Osloer Nationalgalerie. Siehe etwa: Unbekannter Miniaturist: Seite im Amesbury Psalter (ca. 1250), Oxford, All Souls College; Meister der (Heiligen) Magdalena, Thronende Madonna lactans mit Hl. Petrus und Hl. Leonhard (ca. 1270), New Haven, Yale University Art Gallery; Ambrogio Lorenzetti (* um 1290; † 1348), Madonna del latte (Madonna mit Milch) (ca. 1335), Siena, Palazzo Arcivescovile; Pietro da Rimini († um 1345), Ma-

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Das Motiv der „Maria lactans“ findet sich in der abendländischen Malerei schon seit dem 13./14. Jahrhundert44. Ofili war sich der zumindest (!) latenten Erotik in den Bildnissen der stillenden Maria sehr wohl bewusst45: I was going to the National Gallery Sainsbury Wing and looked at Van Eyck’s paintings of mother and child. I just wanted the image of the breast really. The exposed breast is hinting at motherhood but those images are very sexually charged. … I think the Virgin Mary was an excuse for pornography in the homes of these holy priests and Godfearers. So I think in the 90s a version of it would allow the pornographic images to come more to the surface.

Nun verwundert diese Aussage insofern, als sich im Sainsbury-Flügel der Londoner Nationalgalerie kein „Mutter und Kind”-Bild des flämischen Malers Jan van Eyck befindet46; es ist zu vermuten, dass Ofili „Jungfrau und Kind“ von Dirk Bouts, dem von van Eyck stark beeinflussten jüngeren Zeitgenossen, meinte, das dort hängt und der Beschreibung entspricht47. Übrigens: Zufall oder nicht? Zu einem kleinen gotischen Altarbild des italienischen Malers Francescuccio Ghissis aus dem 14. Jahrhundert von der stillenden Maria weist Ofilis „Holy Virgin Mary“ einige überraschend ähnelnde Züge auf48. Ob Ofilis es gekannt hat, weiß ich nicht.

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donna in trono col Bambino (Madonna auf dem Thron mit Kind) (1320/40), Florenz, Fondazione Longhi. Später kam als weiteres Motiv die „Lactatio Bernhardi“ hinzu. Siehe die Versionen der „Vision des Hl. Bernhard“ von Joos van Cleve (* 1485; † 1540), Paris, Musée du Louvre (um 1505); Juan de Roelas (* um 1570; † 1625), Sevilla, Palacio Arzobispal (1611); Alonso Cano (* 1601; † 1667), Madrid, Museo del Prado (um 1650); Bartolomé Esteban Murillo (* 1617; † 1682), Madrid, Museo del Prado (um 1660); Josefa de Obidos (* 1630; † 1684), Coimbra, Museu Nacional Machado de Castro (1670). Besonders im lateinamerikanischen Raum ging die Anziehungskraft des Motives sogar so weit, dass dargestellt wurde, wie Maria noch anderen Kirchenmännern ihre Brust sogar zum Säugen darbietet. Siehe etwa Juan Tinoco (* 1617; † 1699), La lactación de San Cayetano (Stillen des Sankt Cajetan), Ciudad de México, Museo Franz Mayer; Unbekannter peruanischer Meister: La lactación de San Pedro Nolasco (Lactatio des Hl. Pedro Nolasco) (1663), Cuzco / Peru, Monasterio de la Merced. Siehe dazu Cada, Strategien der Repräsentation, S. 37. Ein der Beschreibung am ehesten entsprechendes Gemälde van Eycks (* um 1390; † 1441), die Lucca-Madonna (um 1436), befindet sich im Städel Museum in Frankfurt/M. (Die dortige Verwendung der Farbe Rot für die Bekleidung Marias ist ein Charakteristikum der niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts). Dirk Bouts (* 1410/20; † 1475), Maagd en kind (um 1465). Francescuccio Ghissi (* unbekannt; † 1395), Madonna dellʼUmiltà (Madonna der Demut) (1350/60). Rom, Pinacoteca vaticana.

„The Holy Virgin Mary“ von Chris Ofili

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5. Pornoschnipsel Die Deutung Ofilis, solche Mariendarstellungen hätten den Kirchenmännern damals als „Vorwand für Pornographie“ gedient, so dass er meinte, seine Version der 1990er Jahre würde es den pornographischen Bildern erlauben, stärker an die Oberfläche zu kommen, kann außerdem auch eine Erklärung für die aus Sexheften ausgeschnittenen Schnipsel vor allem um den Kopf seiner „Holy Virgin Mary“ herum nahelegen, wie Ofili sie damals auch auf einigen anderen Bildern ohne irgendeinen religiösen Bezug einfügte49. In Bildnissen der traditionellen religiösen Malerei umschwirren häufig kleine Engel die Figur der Maria. Waren es seit der Frührenaissance zunächst regelmäßig geflügelte, körperlose Kinderköpfe (Cherubköpfe)50, so traten später häufig Putti (Kinderengel) an deren Stelle51. Im katholischen Barock, etwa bei Rubens, veränderten sie sich weiter zu splitternackte Knaben52. Das Ende der Entwicklung findet sich bei William-Adolphe Bouguereau (* 1825; † 1905), der diese Bildkonstellation, zumindest vordergründig von Maria getrennt, für sexuell aufgeladene Gemälde verwendete53.

6. Gesäße Von hier zu den die „Holy Virgin Mary“ umkreisenden Porno-Schnipseln Ofilis ist es künstlerisch also ein kurzer Weg – wenngleich noch die Frage offenbleibt, weshalb Ofili denn gerade ausgeschnittene (weibliche) Gesäße gewählt hat. Zur Beantwortung könnte daran angesetzt werden, dass Ofili, wie er in einem Interview einmal sagte, versuchen wollte, „a nineties hip-hop version of the Virgin Mary“ zu schaffen54. 49 50

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Foxy Roxy (1997); Pimpinʼ ainʼt easy (1997). Siehe etwa Andrea Mantegna (* um 1431; † 1506), Madonna con il Bambino e un coro di cherubini (Madonna und Kind mit Cherubim) (um 1485), Mailand, Pinacoteca di Brera; Giovanni Bellini (* 1430; † 1516), Madonna dai cherubini rossi (Madonna der roten Cherubim) (um 1485), Venedig, Gallerie dellʼAccademia. Siehe etwa Hans Holbein der Ältere (* um 1464; † um 1524), Maria mit Kind („Böhlersche Madonna“) (1515/16), München, Sammlung Julius Böhler; Lucas Cranach der Ältere (* 1472; † 1553), Madonna mit Kind (um 1515/20), Den Haag, Mauritshuis, Koninklijk Kabinet van Schilderijen. Siehe nur Peter Paul Rubens (* 1577; † 1640), Madonna im Blumenkranz (um 1616/18). München, Alte Pinakothek. Siehe etwa Chansons de printemps (1889), Privatbesitz; LʼEveil du coeur (1892), Privatbesitz; Rêve de printemps (1901), Indianapolis, Museum of Art. Siehe dazu Cada, Strategien der Repräsentation, S. 38.

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Im Hiphop, der in den späten 1970er Jahren in den Schwarzen-Ghettos der USA (namentlich in New York) entstandenen Jugendkultur, die sich seit Anfang der 1990er Jahre international verbreitete, spielt der Po der (schwarzen) Frau eine besondere Rolle. Anders als in den von Weißen geprägten Gesellschaften Europas und Nordamerikas hat ein ausgeprägtes weibliches Gesäß in Afrika und Lateinamerika schon immer als besonders attraktiv gegolten. Es zählt längst auch in der afroamerikanischen Kultur der USA zu den Schönheitsidealen55. Der (schwarze) Rapper Sir Mix-a-Lot aus Seattle stand am Anfang des Siegeszuges des Pos im Hiphop. Seine Single „Baby Got Back“ stand 1992 fünf Wochen lang auf Platz 1 der „Billboard Hot 100”. Seine ersten Worte „I like big butts and I can not lie / You other brothers can't deny“ haben im Hiphop Kultstatus und werden oft zitiert. Seitdem verbreitete sich der Tanzstil des „Twerking“ in Hiphop-Videos. Seine Bewegungen sollen aus einer Form des afrikanischen Tanzes kommen, bei der man dem Publikum den Rücken zuwendet, sich vornüberbeugt und den „Booty shaked“. Kurzum: Die Gesäß-Schnipsel Ofilis, die „The Holy Virgin Mary“ anstelle von Putti umkreisen, finden eine künstlerisch nachvollziehbare Erklärung. Eine „beschimpfende Missachtung“ des Marienkultes im Sinne von § 166 StGB ist also auch insoweit nicht erkennbar.

7. Rapperin Ofili dürfte für seine „nineties hip-hop version of the Virgin Mary“ wenig „madonnenhafte“ (Hardcore-)Rapperinnen wie die New Yorkerinnen Lil‘ Kim und Foxy Brown, die „bad girls of hip hop“56 vor seinem geistigen Auge gehabt haben. Beide stellten damals die „Underdogs der Popkultur“ dar: „schwarz, weiblich, in der Unterschicht verortet, dazu aggressiv, körperbetont und explizit.“57 Sie bezeichneten sich selbst als „Bitches“. Ofili sah Auftritte von ihnen in London und empfand sie als „Ladung von unglaublicher Energie“58. Ihn reizte die Widersprüchlichkeit59: 55 56 57 58

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Siehe dazu näher den Rundfunkbeitrag von Ann-Kathrin Mittelstraß, Der Hintern in der Popkultur, Bayern 2 vom 07.10.2014 (im Internet nicht mehr auffindbar). Joan Morgan, The Bad Girls of Hip-Hop, Essence 3/1997, 76. Müller, FAZ.net vom 15.08.2014. Siehe o.V., Erewhon.ticonuno.it 1999: „Ha una carica di energia incredibile, come se fosse posseduta. Sale sul palco ed è come se ti tirasse un pugno in faccia per svegliarti fuori.” Miller, Parkett No. 58 (2000), 176.

„The Holy Virgin Mary“ von Chris Ofili

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Ein Bild wie „The Holy Virgin Mary“ … ist unendlich vielschichtig. … Es geht … darum, wie auf der Hip-Hop-Szene über schwarze Frauen gesprochen wird; um meine religiöse Erziehung und die Verwirrung, die sie auslöste; um den Widerspruch einer jungfräulichen Mutter. Es geht um das Klischee der schwarzen Frau. Und es ist ein Versuch, in den 90er Jahren eine Hip-Hop-Version der Jungfrau Maria zu schaffen, die alles einschliesst, was ich mit ihr assoziiere. Es geht um Schönheit, Karikatur und schlichte Verwirrung …

Stellt man sich etwa ein bekanntes Foto von Foxy Brown, in dem sie eine ähnliche Haltung wie Ofilis „Holy Virgin Mary“ einnimmt60, vor dem goldgelben Hintergrund von Ofilis Bild vor, so kann man vielleicht ein wenig spüren, was Ofili vor seinem geistigen Auge gesehen haben könnte, als er seine Madonna so verfremdet malte. Maria, versetzt in die 1990er Jahre und in die schwarze HipHop-Subkultur des (Hardcore-)Raps, des Breakdances und des Graffiti-Writings.

8. Maria Auch andere Künstler der Moderne haben Madonnenbilder kreiert, auf denen sie Maria mit oder ohne Kind in eine andere kulturelle und zeitliche Umgebung transformiert haben – und haben dabei durchaus auch schwere Irritationen bei Gläubigen hervorgerufen: – Paul Gauguin hatte Maria rund 100 Jahre zuvor in die Südsee, seine spätere Wahlheimat, versetzt. In seiner „Verkündigung“ – man kann am linken Bildrand in Gelb den Engel Gabriel erahnen – trägt Maria schon ein Kleinkind auf den Schultern61. – Edvard Munch machte zur gleichen Zeit mit seiner schon erwähnten „Madonna“, wie „Die Zeit“ es formulierte62, „aus einer Heiligen eine Sexikone ... Wo ein Heiligenschein sein sollte, sitzt eine rote Baskenmütze, wie sie die Pariser Prostituierten der Zeit trugen.“ Eine Madonna des „Fin de Siècle“. Zwei Lithographien, die Munch von diesem Motiv anfertigte, zeigen auf einem Rahmen um die barbusige Frauengestalt zusätzlich offenbar einzelne Spermien. In eine Ecke des Bildes ist eine rätselhafte zusammengekauerte Gestalt zugefügt, die man als Embryo interpretieren könnte.

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Das Foto ist auf zahlreichen Internetseiten zu finden, etwa auf https://geni us.com/1043891. Eine Aufnahme aus der gleichen Fotosession wurde 2001 für das Cover von Browns Single „Oh Yeah“ verwendet. Paul Gauguin (* 1848; † 1903), Ia Orana Maria („Gegrüßet seist Du, Maria“) (1891). New York, Metropolitan Museum of Art. Frenzel, Die Zeit 27/2010.

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– Der Dadaist Kurt Schwitters verwandelte Maria, Raffaels „Sixtinische Madonna“ zur Basis einer Collage machend, versehen mit Bubikopf und Topfhut in eine „Neue Frau“ der „Goldenen Zwanziger Jahre“63. – Der Rheinische Expressionist Paul Adolf Seehaus hatte kurz zuvor eine „Madonna der Vorstadt“ gemalt64. – Salvador Dalí schließlich interpretierte Maria nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund des Atom(kriegs)zeitalters – und porträtierte dabei seine geschiedene, nunmehr mit ihm verheiratete Muse Gala als Jungfrau Maria65 – Blasphemie? – Schon vorher hatte der Verist Otto Dix noch in Kriegsgefangenschaft im Mittelteil eines Triptychons eine „Madonna vor Stacheldraht und Trümmern“ gemalt66. – Schließlich sei an „Je vous salue, Marie“ des schweizerisch-französischen Filmemachers Jean-Luc Godard aus dem Jahre 1984 erinnert, in dem die biblische Geschichte der unbefleckten Empfängnis Marias in die Gegenwart und in die Schweiz übertragen wird und Maria als moderne Frau zeigt, die Basketball spielt und zum Gynäkologen geht.

V. Ergebnis Ich komme zum Ergebnis meiner Interpretationsversuche: Ofili hat nichts anderes gemacht als andere Künstler seit Ende des 19. Jahrhunderts auch. Er hat das traditionelle Motiv der Maria in seine Bildsprache übertragen und es aktualisiert, in Bezug zum Hier und Heute gesetzt. Vergleicht man Ofilis „Holy Virgin Mary“ einerseits mit Madonnenbildern aus dem toskanischen Quattrocento, etwa von Fra Angelico67, andererseits mit Porträts von Hardcore-Rapperinnen wie Foxy Brown, so mag man Ofilis Bild verstehen können – wenngleich die meisten von uns ein Gemälde des Florentinischen Meisters vorziehen würden (und vielleicht so manche unserer jungen Studenten ein Poster der New Yorker HipHop-Musikerin). 63 64 65

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Kurt Schwitters (* 1887; † 1948), Mz. 151, Wenzel Kind Madonna mit Pferd (1921). Hannover, Sprengel Museum. Paul Adolf Seehaus (* 1891; † 1919), Madonna der Vorstadt (1919) (Privatbesitz). Salvador Dalí (* 1904; † 1989), Die Madonna von Port Lligat. 1. Fassung Milwaukee, Marquette University, Haggerty Museum of Art (1949); 2. Fassung Fukuoka Art Museum (1950). Otto Dix (* 1891; † 1969), Madonna vor Stacheldraht und Trümmern (1945). Berlin, Kirche Maria Frieden. Ich denke hier besonders an die „Madonna der Demut“ von Fra Angelico (* um 1395; † 1455), Madonna dellʼUmiltà (1430). Washington, D.C., National Gallery of Art.

„The Holy Virgin Mary“ von Chris Ofili

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Ich wiederhole abschließend, was ich schon in anderem Zusammenhang gesagt habe: Eine solche zeitliche Transformation und gegenständliche Verschmelzung ist eine ureigene Aufgabe des Künstlers. Ars artis gratia. Es geht nicht um Beschimpfung, nicht um die Missachtung religiöser Gefühle. Es geht um Kunst. Man muss diese Kunst nicht schön finden“ – und erst recht nicht in Kirchen aufhängen68 oder gar als Andachtsbild verwenden69 –, aber niemand sollte sich „beschimpft“ und in seinen Empfindungen „missachtet“ fühlen müssen.

Literatur ARTNER, ALAN G., Donʼt Believe the Hype, Chicagotribune.com vom 11.10.1999 (http://articles.chicagotribune.com/1999-10-11/features/991011013 4_1_advertising-mogul-charles-saatchi-giuliani-brooklyn-museum). BAKER, CAROL, Surpassing the Spectacle: Global Transformations and the Changing Politics of Art, 2002. CADA, NATALIE, Strategien der Repräsentation: Chris Ofili und das Konzept des Samplings, Diss. phil. LMU München 2011. DE LA CRUZ, DONNA, Artist's Virgin Mary Defaced, CBSNews.com vom 17.12.1999 (http://www.cbsnews.com/news/artists-virgin-mary-defaced/). DUBIN, STEVEN C., Displays of Power: Memory and Amnesia in the American Museum from the Enola Gay to Sensation, 1999. FRENZEL, SEBASTIAN, Die Madonna und der Sex, Die Zeit 27/2010. MCFADDEN, ROBERT D., Disputed Madonna Painting In Brooklyn Show Is Defaced, The New York Times vom 17.12.1999.

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Eine mit manieristisch-überstreckten Formen gemalter „Großer Marienaltar“ des dem Expressiven Realismus zuzuordnenden schleswig-holsteinischen Malers Max Kahlke (* 1892; † 1928) befindet sich seit den 1930er Jahren im (evangelisch-lutherischen) Schleswiger St.-Petri-Dom. Das auf dem Kopf stehende Altarbild „Tanz ums Kreuz“ von Georg Baselitz, das er für die St. Annen-Kirche in Grasdorf-Luttrum gemalt hatte, führte 1983 zu Turbulenzen in der Gemeinde. Viele ließen sich in andere Gemeinden „umpfarren“; schließlich nahm Baselitz sein Bild wieder zurück. Von 2011 bis 2015 war „The Holy Virgin Mary“ allerdings fast wie ein Andachtsbild in David Walsh privaten Museum of Old in Hobart präsentiert worden. Walsh sagte: „When we hung it in the gallery I put a throne in front of it. A painting fit for a king. Or queen. Or something in between.“ (Walsh, Christieʼs vom 22.06.2015).

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MILLER, PAUL D., Deep Shit – A conversation with Chris Ofili / Starke Scheisse – Ein Gespräch mit Chris Ofili, Parkett No. 58 (2000), S. 164 ff. MORGAN, JOAN The Bad Girls of Hip-Hop, Essence 3/1997, S. 76 f., 132 ff. MÜLLER, LENA First Female Kings, FAZ.net vom 15.08.2014 (http://blogs. faz.net/10vor8/2014/08/15/lil-kim-first-female-king-2319/). MÜLLER, SILKE, Chris Ofili: Maler und Mythenspieler, Art – Das Kunstmagazin 2/2000. MÜNCHENER KOMMENTAR ZUM STRAFGESETZBUCH. 3. Auflage 2017–2019. NOMOS-KOMMENTAR ZUM STRAFGESETZBUCH. 4. Auflage 2013. O.V., Abbecedario: Chris Ofili, Erewhon.ticonuno.it 1999 (im Internet noch zu finden unter https://web.archive.org/web/20160721060459/http://erewhon. ticonuno.it/arch/1999/colore/ofil/ofil.htm). O.V., Sensation sparks New York storm, BBC News vom 23.09.1999 (http://news.bbc.co.uk/2/hi/455902.stm). O.V. (BILL), Beastly exhibit at Brooklyn Museum of Art, Catholicleague.org vom 26.10.1999 (http://www.catholicleague.org/beastly-exhibit-at-brooklynmuseum-of-art/). O.V., Chris Ofili’s Holy Virgin, Artcrimes.net vom 16.12.1999 (im Internet noch zu finden unter https://web.archive.org/web/20160321130930/http:// www.artcrimes.net/holy-virgin-mary).

PLAGENS, PETER, Holy Elephant Dung!, Newsweek.com vom 04.10.1999 (http://www.newsweek.com/holy-elephant-dung-167884). ROEDIGER, DAVID R., Colored White. Transcending the Racial Past, 2002. SATZGER, HELMUT / SCHLUCKEBIER, WILHELM / WIDMAIER, GUNTER, Strafgesetzbuch – Kommentar. 4. Auflage 2019. SCHÖNKE / SCHRÖDER, Strafgesetzbuch – Kommentar. 30. Auflage 2019. STEINKE, RON, „Gotteslästerung“ im säkularen Staat. Ein Plädoyer für die Streichung des § 166 StGB, Kritische Justiz 41 (2008), S. 451 ff. VOGEL, CAROL, Holding Fast to His Inspiration; An Artist Tries to Keep His Cool in the Face of Angry Criticism, The New York Times vom 28.09.1999. DIES., Australian Museum Cancels Controversial Art Show, The New York Times vom 01.12.1999.

„The Holy Virgin Mary“ von Chris Ofili

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WALSH, DAVID, The man from Mona, Christie’s vom 22.06.2015 [http:// www.christies.com/features/David-Walsh-The-Man-from-Mona-6293-3.aspx ]). YOUNG, ALLISON, Chris Ofili, The Holy Virgin Mary, o.J. (https://www.Khan academy.org/humanities/global-culture/identity-body-europe/a/chris-ofili-the-h oly-virgin-mary).

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De Kölsche Jong Max Ernst und seine prügelnde Gottesmutter aus dem Museum Ludwig* Max Ernst kam am 2. April 1891 in Brühl, „nicht weit vom heiligen Köln“1 zur Welt; er ist also (anders, als man oftmals denkt) kein ganz waschechter Kölner, sind es doch gut zwei Stunden Fußweg von Brühl bis zum Kölner Dom. Allerdings waren beide Städte schon seit 1899 durch eine „Vorgebirgsbahn“ miteinander verbunden. Maximilian Maria Ernst, so sein vollständiger Name, wurde als drittes von insgesamt neun Kindern des Taubstummenlehrers Philipp Ernst („strenger Vater, … stets gutgelaunt“2) und seiner Frau Luise („liebevoll, Sinn für Humor und Märchen“3) geboren; kleinbürgerliche, streng katholische Leute, worauf schon die Taufe Maxens auf den zweiten Vornamen „Maria“ (auch alle seine Geschwister erhielten diesen Zweitnamen) hindeutet. Malen im klassischen Sinn hatte der junge Max nie gelernt; Vater Philipp (* 1862; † 1942), ein durchaus begabter Laienmaler „von ganzem Herzen“4, hatte ihn zwar unterrichtet („mein Vater hat mich … immer angeschrien, wenn ich nicht malte, wie er es wollte“5), vom Besuch einer Kunstakademie aber abgehalten.

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Der Beitrag hat die spätere, um Fußnoten ergänzte Verschriftlichung eines Vortrags zum Inhalt, den der Autor am 16. April 2018 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln gehalten hat. Eine ausführlichere, vor allem auch die biographischen sowie die zeit- und kunsthistorischen Zusammenhänge näher beleuchtende Darstellung des Schaffens Max Ernsts findet sich auf der Website des Autors „www.kunstundstrafrecht.de“ unter Ausstellungstafeln – „Kunst und ʻGotteslästerungʼ“ – Ergänzung: „Prügelnde-Gottesmutter“Fall. Ernst: Biographische Notizen, S. 19. Ernst, a.a.O. Ernst, a.a.O. Ernst, a.a.O. Ernst, Der Spiegel 9/1970.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-020

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I. Max Ernsts Weg zum vielleicht wichtigsten Maler des Surrealismus Von Max Ernst sind zwei ganz frühe Gemälde von 1909 bekannt, die als Vorbild Vincent van Gogh erkennen lassen, aber auch an spätpointilistische Werke Paul Signacs, Henri Edmond Cross’ oder Théo van Rysselberghes sowie protofauvistische Gemälde Henri Matisses und André Derains von 1905 aus Collioure erinnern6. Ernst studierte nach dem Abitur von 1910 bis 1914 in Bonn Altphilologie, Psychologie, Philosophie und Kunstgeschichte. „Vermeidet sorgfältig alle Studien[,] die zum Broterwerb ausarten können“, bemerkt er dazu später, wiederum wie so häufig in dritter Person von sich schreibend7. Aber er erwarb andere Kenntnisse, die ihn später doch zu einem wohlsituierten Maler des Surrealen werden ließen: In der großen Abguss-Sammlung des kunsthistorischen Instituts sah er figürliche romanische Kapitelle mit Tiergestalten, Fabel- und Mischwesen. Und 1913 las der Psychologiestudent Sigmund Freuds „Traumdeutung“, ein Schlüsselwerk der Psychoanalyse8. Angeleitet und unterstützt von dem vier Jahre älteren Expressionisten August Macke begann er 1911 ernsthaft und zielbewusst mit dem Berufsziel (Bildender) Künstler zu malen9. Über Macke lernte Ernst nicht nur die Rheinischen Expressionisten kennen, von denen ihn offenbar vor allem Heinrich Campendonk, wohl auch Paul Adolf Seehaus und Carlo Mense beeinflussten. Im Haus von Macke machte er im Januar 1913 die Bekanntschaft Robert Delaunays, damals mit seinem Orphismus einer der einflussreichsten Maler der Pariser 6 7 8

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Ohne Titel (Landschaft mit Sonne) (1909). Privatbesitz / Landschaft mit Sonne (1909). Privatbesitz. Ernst, Biographische Notizen, S. 23. Sigmund Freud, Die Traumdeutung (1900). „… ein Schlüsselwerk der Psychoanalyse, eine Lektüre, die im späteren surrealistischen Œuvre des Künstlers [Ernst] ohne Zweifel ihren Niederschlag gefunden hat.“ (Wick, Musenblätter vom 12.03.2014). Er las in diesem Jahr außerdem Freuds „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ von 1905. 1911 malte Macke (* 1887; † 1914) noch, bis auf einige experimentelle Versuche mit nichtgegenständlicher Malerei, in tradierter (hoch-)expressionistischer Manier, vergleichbar dem „Brücke“-Stil oder den frühen Werken seiner Kollegen vom „Blauen Reiter“. Erst 1912 veränderte sich seine Malerei durch die Aufnahme von Stilelementen aus Kubismus, Futurismus und Orphismus. Als „Wende“ gilt sein Gemälde „Spaziergänger am See I“ (Privatbesitz); besonders deutlich wird die Veränderung im wenig später gemalten „Großen hellen Schaufenster“ (Hannover, Sprengel Museum). Der stilistische Einfluss Mackes auf Ernst dürfte von solchen Bildern der letzten drei Lebensjahre Mackes ausgegangen sein.

Max Ernst und seine prügelnde Gottesmutter

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Avantgarde. Der Kontakt setzte sich im Spätsommer auf einer fünfwöchigen Parisreise Ernsts fort. Ernst hatte im Oktober 1912 eine große Futuristen-Ausstellung in der Kölner Galerie Feldmann gesehen. Seine ein Jahr später gemalte „Kreuzigung“ zeigt neben expressionistischem auch futuristischen und orphistischen Einfluss. Das Motiv aber, und das ist in unserem Zusammenhang beachtlich, ist eine tiefreligiöse Kruzifixionsdarstellung. Man fühlt sich erinnert an die dramatischen Kreuzigungsszenen von Matthias Grünewald10, an El Greco11. Später verschob sich Ernsts Stil in eine für seine weitere Entwicklung nicht unwichtige Richtung: Verschiedene Gemälde erinnern an den (Weiß-)Russen Marc Chagall, der ab 1910 für einige Jahre in Paris gelebt hatte und in die dortige Avantgardeszene integriert gewesen war. Chagall nahm auf seinen Bildern dieser Zeit, eigentlich von seiner wehmütigen Erinnerung an sein Witebsker Schtetl angetrieben, viele Elemente des Surrealismus vorweg12. Sodann kam ein noch gewaltigerer neuer Impuls in Ernsts Malerei: Er lernte von Giorgio de Chirico, dem Hauptvertreter der Pittura Metafisica, Bildmotive in rätselhaften Kombinationen und Perspektiven zusammenzustellen. Die Malweise entsprach der freien Assoziation, die Sigmund Freud anwendete, um das Unbewusste in den Gedanken seiner Patienten, das sich in Träumen äußerte, freizulegen. Ernst war begeistert, als er die ersten Abbildungen von de Chiricos Werken in einer italienischen Kunstzeitschrift sah13: Ich hatte … das Gefühl, etwas wiederzuentdecken, was mir seit jeher vertraut war, wie wenn ein bereits gesehenes Ereignis uns einen ganz anderen Bereich der eigenen Traumwelt aufschließt, einer Traumwelt, die man sich mit einer Art von Zensur zu sehen oder zu verstehen versagte.

Er schuf danach sogleich ein Album von Lithographien14 als „Huldigung für Chirico“15. 10

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Insbesondere die Kreuzigungsszenen des Isenheimer Altars von 1516 (Colmar, Unterlinden-Museum) und des Tauberbischofsheimer Altars von 1523/25) (Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle). Besonders an Cristo en la Cruz con las dos Marias y San Juan (Christus am Kreuz mit den beiden Marias und dem Heiligen Johannes) (1588). Athen, Ethniki Pinakothiki-Mouseio Alexandrou Soutzou. Beispielsweise Moi et le village (Ich und das Dorf) (1911). New York, Museum of Modern Art. Ernst, zit. nach Helmut R. Leppien, in: Herzogenrath (Hrsg.), Max Ernst in Köln, S. 130. Mappe „Fiat Modes Pereat Ars“ (1919). Schlömilch-Verlag, Köln.

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Allerdings rückte de Chirico zunächst schnell in den Hintergrund. Die DadaBewegung, 1916 in Zürich entstanden, schwappte nach Deutschland, vor allem nach Berlin und Köln, über. Ernst hatte 1919 zusammen mit Johannes Theodor Baargeld und Hans Arp, zwei Tausendsassa der damaligen Kunst- und Literaturszene, die Kölner Dada-Gruppe gegründet. Der Dadaismus war eine Kunstbewegung der europäischen Avantgarde, die sich, angestoßen durch „die große Schweinerei“16 des Ersten Weltkrieges, den Ernst vom ersten bis zum letzten Tag zunächst als freiwilliger Artillerie-Soldat und zuletzt als unfreiwilliger Leutnant in Frankreich, Russland und zum Schluss noch Belgien durchlebt hatte, mit der Aufhebung und Verhöhnung der etablierten Welt befasste. Mit den Worten Ernsts17: Dada war ein Ausbruch einer Revolte von Lebensfreude und Wut, war das Resultat der Absurdität, der großen Schweinerei dieses blödsinnigen Krieges. Wir jungen Leute kamen wie betäubt aus dem Krieg zurück, und unsere Empörung musste sich irgendwie Luft machen. Dies geschah ganz natürlich mit Angriffen auf die Grundlagen der Zivilisation, die diesen Krieg herbeigeführt hatte, Angriffen auf die Sprache, Syntax, Logik, Literatur, Malerei, usw.

Mit der Verwendung der von den Kubisten erfundenen Collagetechnik und ihrer Weiterentwicklung, der Fotomontage – man kann sagen, der wichtigsten Techniken vor allem der deutschen Dada-Künstler, um Bilder zu zerstören und dennoch neue zu erzeugen – schuf Ernst in seiner dadaistischen Phase von 1919 bis 1921 eine große Anzahl von Werken aus Druckmaterialien18, in denen er fremdes Material, beispielsweise Zeichnungen aus Katalogen, aus Lehrbüchern aller Wissenschaftsbereiche oder Häkelvorlagen ausschnitt, verwirrend kombinierte, neu zusammenklebte und übermalte19. Selbst manche Ölbilder entstehen als quasi „gemalte Collagen“. Die „gemalten Collagen“ entstehen durch die von Ernst entwickelte Technik der „Übermalungen“. Er schrieb zu deren „Geburtsstunde“20 im Dezember 191921: 15 16 17 18

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Ernst, Biographische Notizen, S. 24. Ernst, a.a.O. Ernst in dem Film von Carl Lamb / Peter Schamoni, Max Ernst – Entdeckungsfahrten ins Unbewußte, 1963. Aus seinen „Biographischen Notizen“ kann man schließen, dass Ernst erst nachdem er sich mit de Chirico beschäftigt hatte, „seine ersten ʻCollagenʼ“ gemacht hat. Ernst: Biographische Notizen, S. 24. Siehe etwa Der Hut macht den Mann (Der Stil kommt vom Anzug) (1920). New York, Museum of Modern Art. Bischoff, Max Ernst 1891–1976, S. 19. Ernst, Biographische Notizen, S. 24.

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An einem Regentag in Köln am Rhein erregt der Katalog einer Lehrmittelanstalt meine Aufmerksamkeit. Ich sehe Anzeigen von Modellen aller Art, mathematische, geometrische, anthropologische, zoologische, botanische, anatomische, mineralogische, paläontologische und so fort, Elemente von so verschiedener Natur, dass die Absurdität ihrer Ansammlung blickverwirrend und sinnverwirrend wirkte, Halluzinationen hervorrief, den dargestellten Gegenständen neue, schnell wachsende Bedeutungen gab. Ich fühlte mein „Sehvermögen“ plötzlich so gesteigert, dass ich die neuentstandenen Objekte auf neuem Grund erscheinen sah. Um diesen festzulegen, genügte ein wenig Farbe oder ein paar Linien, ein Horizont, eine Wüste, ein Himmel, ein Bretterboden und dergleichen mehr. So war meine Halluzination fixiert. Es galt nun, die Resultate der Halluzinationen durch ein paar Worte oder Sätze auszudeuten.

Maßgeblich war für Max Ernst also nicht mehr die dadaistische Zerstörung, sondern die farbig-malerische Umdeutung vorgefundener Abbildungen, die Verleihung eines neuen Kontextes. Ernst definierte seine Collage-Technik so22: Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung überspringt …

Mit der Zusammenfügung des eigentlich nicht Zusammengehörigen entwickelte Max Ernst in Köln ausgehend von der Collage ein eigenes bildnerisches Verfahren der surrealistischen Kombinatorik – noch vor den anders gearteten Experimenten der Pariser Avantgarde um André Breton23 mit gezeichneten sogenannten „Cadavres Exquis“24.

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Ernst, a.a.O., S. 25. André Breton (* 1896; † 1966) war ein französischer Dichter und Schriftsteller. Er war mit den Kollegen Louis Aragon und Philippe Soupault Gründer der Pariser Dada-Gruppe, zu der alsbald auch Tristan Tzara und Paul Éluard stießen. 1924 leitete er die Gruppe in die surrealistische Bewegung über. Er wurde der wichtigste Theoretiker des Surrealismus; sein ganzes Leben war mit dieser Bewegung verbunden. „Cadavre Exquis (deutsch: vorzügliche oder köstliche Leiche) bezeichnet eine im Surrealismus entwickelte spielerische Methode, dem Zufall bei der Entstehung von Texten und Bildern Raum zu geben. Definition von André Breton: … Spiel mit gefaltetem Papier, in dem es darum geht, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne dass ein Mitspieler von der jeweils vorhergehenden Mitarbeit Kenntnis erlangen kann. Das klassisch gewordene Beispiel, das dem Spiel seinen Namen gegeben hat, bildet den ersten Teil eines auf diese Weise gewonnenen Satzes: Le cadavre-exquis-boira-le-vin-nouveau (frz. = ‘Der köstlicheLeichnam-wird-den-neuen-Wein-trinkenʼ). Breton betont des Weiteren, dass man mit dem Cadavre exquis über ein unfehlbares Mittel verfüge, das kritische Denken auszuschalten und der metaphorischen Fähigkeit des Geistes freie Bahn zu verschaffen.“ (Wikipedia, Stichwort: Cadavre Exquis).

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Ernst hatte nun alles zusammen. Und in der Tat: In Köln malte Max Ernst in der Folgezeit „Celebes“25 und „Oedipus Rex“26 – zwei sensationelle Werke. Beide Gemälde sind schon Surrealismus pur27. Max Ernst hatte nun den Dadaismus, der zunehmend erstarrte, der totzulaufen drohte, überwunden. Ehe der „offizielle Startschuss“ der surrealistischen Bewegung durch Bretons Erstes Surrealistisches Manifest vom 15. Oktober 1924 ertönte, malte Ernst schon im surrealistischen Stil. Will man vollständig erkennen, wie weit Ernst damals seiner Zeit voraus war, muss man das allerdings noch genauer präzisieren: Der malerische Surrealismus kann stilistisch in zwei Strömungen unterteilt werden, deren eine, der sogenannte Absolute (oder auch Abstrakte) Surrealismus, aus dem spontanen Automatismus („Écriture automatique“) erwachsen ist, während die andere, der Veristische (oder auch Naturalistische) Surrealismus, sich mit geradezu photographischer Genauigkeit daran macht, Traumvisionen und ähnliche Sujets künstlerisch „nachzuzeichnen“. Der Veristische Surrealismus ist es auch, der heute in der allgemeinen Vorstellung nicht zuletzt durch die ungemeine Popularität vieler Werke Salvador Dalís mit dem „Surrealistischen“ schlechthin verknüpft wird.

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(Der Elefant) Celebes (1921). London, Tate Gallery of Modern Art. Oedipus Rex (1922). Privatbesitz. Der Ausdruck „Surrealismus“ bedeutet wörtlich „über dem Realismus befindlich“. In der Anfangszeit zeigte sich der Surrealismus als philosophisch-literarische Bewegung. Die von Breton seit 1921 fast institutionell in Paris geführte (zunächst dadaistische) surrealistische Gruppe suchte die eigene Wirklichkeit des Menschen im Unbewussten. Sie verwertete Trance-, Rausch- und Traum-Erlebnisse als Quelle der künstlerischen Eingebung und bemühte sich darum, das Bewusstsein von der Wirklichkeit methodisch zu erweitern. Mit den Worten „Insofern sind wir Freud zu Dank verpflichtet“, stellen sich die Surrealisten im Ersten Surrealistischen Manifest vom 15. Oktober 1924 in den Windschatten des berühmten „Vaters“ der Psychoanalyse und vor allem der Traumdeutung. Der Begriff „Surrealität“ soll eine „künftige Auflösung der scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität“ bezeichnen. Die bevorzugten Arbeitsweisen lagen auf zweierlei Ebenen: Zum einen darin, das Bewusstsein durch Traum, Schlaf oder Rauschmittel abzuschalten und Unbewusstes in einem automatischen, nicht gesteuerten Schaffungsprozess zum Ausdruck kommen zu lassen, und zum anderen in der Verfremdung oder Kombination unmöglicher Dinge und Zustände, die die Wirklichkeit übersteigen. Die Surrealisten zog zum Letzteren fast magisch der Satz des von Breton und dem Dichter Philippe Soupault schon 1919 „entdeckten“ Comte de Lautréamont an, der in seinem Werk „Les Chants de Maldoror“ von der Schönheit des zufälligen Zusammentreffens „einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ gesprochen hatte (Comte de Lautréamont: Les Chants de Maldoror [Die Gesänge des Maldoror] [1869], 6. Gesang, 3. Strophe: „… beau … comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie!“).

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Am Beginn des Surrealismus steht jedoch seine abstrakte absolute Variante, die auch einigen von dessen theoretischen Vorgaben und Ideenwelten genuin näher ist. Sie war aus der Vorstellung entstanden, dass das Unbewusste so direkt wie möglich in das Kunstwerk übertragen werden sollte. Das Unbewusste war im Absoluten Surrealismus somit nicht nur das darzustellende Sujet, sondern vielmehr Teil des Darstellungsvorgangs selbst. Als Künstler aufzuzählen wären hier Joan Miró und André Masson sowie Jean Arp und der frühe Yves Tanguy; als Seelenverwandter in Deutschland wäre Paul Klee zu nennen, der 1925 auch zusammen mit den Surrealisten in Paris ausstellte und schon um 1921 Bilder malte, die den Absoluten Surrealismus vorwegzunehmen scheinen. Während die frühen Jahre des malerischen Surrealismus vom Automatismus beherrscht waren, kam es so ab 1927 zu einer Rückbesinnung auf die illusionistische Schilderung, die auch dem alten „Regenschirm trifft Nähmaschine“Gedanken von der Verfremdung oder Kombination unmöglicher Dinge und Zustände, die die Wirklichkeit übersteigen, mehr Raum gibt. Vorbild wurde das Frühwerk Ernsts, aber auch die Pittura Metafisica. Als Hauptvertreter dieses Veristischen Surrealismus gelten seit den späten 1920er Jahren Dalí und René Magritte. Die beiden heute durch die zahlreichen Reproduktionen ihrer Bilder auf Postern so populären, so viele andere überragenden Künstler stehen somit auf den Schultern des Riesen Ernst. Ernst war also nicht nur der erste surrealistische Maler, sondern er nahm den Veristischen Surrealismus schon viele Jahre vor seinem eigentlichen Entstehen vorweg! Und: Man kann sagen, dass Ernst nicht nur den malerischen Surrealismus, der zunächst nur eine philosophisch-literarische Bewegung war, begründete, sondern dass auf ihn das gesamte Bild, das wir heute vom Surrealismus haben, zurückzuführen ist28.

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Der Vollständigkeit halber: Ernst blieb Zeit seines Lebens – entgegen dem bisweilen fast übermächtigen Zeitgeist – der gegenständlichen Malerei (wenn auch nicht der fast fotorealistischen der frühen 1920er Jahre) treu, die er 1927 um die aus der Zeichentechnik der Frottage entwickelte Grattage und 1942 um die Oszillation erweiterte. Letzteres wurde als „Drip Painting“ die stilbildende Technik des Action Painting von Jackson Pollock und später der Schüttbilder des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch. Ernst, dessen Kunst in Nazi-Deutschland als „entartet“ diffamiert worden war, wurde als Deutscher zu Beginn des Zweiten Weltkriegs mehrfach in Frankreich interniert, konnte schließlich zusammen mit der Kunstmäzenin Peggy Guggenheim, seiner späteren (kurzzeitigen) dritten Ehefrau, fliehen und wählte, wie viele andere europäische Künstler, 1941 als Exil die USA. 1953 kehrte Ernst mit seiner vierten Ehefrau und großen Liebe seiner späten Jahre, der surrealistischen Malerin Dorothea Tanning,

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II. „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind“ – das vielleicht wichtigste surrealistische Gemälde Damit haben wir nun aber alles zusammen, um uns einem, vielleicht sogar „dem“ Hauptwerk des Veristischen Surrealismus, Ernsts „Prügelnde Gottesmutter“, wie die „Tageszeitung“ sie so despektierlich bezeichnet hat29, zuzuwenden. Das 1926 entstandene Ölgemälde Ernsts „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler“ misst stattliche 196 x 130 cm. Das Werk hängt heute im Museum Ludwig, gerade 100 m vom Kölner Dom entfernt. Das Bild zeigt die Jungfrau Maria, wie sie dem Jesuskind, längst kein Baby mehr, den Hintern versohlt, der schon gerötet ist. Sie geht dabei so heftig zur Sache, dass dem Jesuskind der Heiligenschein zu Boden purzelt. Breton und der Dichter Éluard – damals ebenfalls ein führender surrealistischer Theoretiker – sowie Ernst beobachten die Szene wie Voyeure aus einem Versteck; allzu sehr scheint sie das Geschehen allerdings nicht zu interessieren. Das Gemälde selbst hat eine ikonographisch nicht zufällige Gestaltung. Maria ist renaissancetypisch dargestellt: Die Gottesmutter bildet ein nach oben zulaufendes spitzwinkliges und gleichschenkliges Dreieck, ein klassisches Kompositionsschema von Marienbildern seit der Renaissance. Sie wird als aparte junge Frau gezeigt, so wie sich in Mitteleuropa seit dem 15. Jahrhundert der Typ der „schönen Madonna“ durchsetzte. Gekleidet in die marianischen Farben Blau (als Zeichen des Himmels bzw. der Himmelskönigin) und Rot (für die Liebe zu ihrem Sohn), erinnert sie schnell an Raffaels Madonnen, die ebenfalls zumeist mit einem roten Kleid mit einem blauen Umhang bekleidet sind. Sie trägt einen Heiligenschein. Die in alten Gemälden häufigen Cherubim oder Putti fehlen am blauen Himmel. Und statt eines „schönen“ Hintergrundes, etwa einem Paradiesgarten, finden sich kahle Wände, links als eine kulissenartige Stellwand, perspektivisch verzerrt wie auf den Stadtansichten de Chiricos, die Ernst ein paar Jahre zuvor beschäftigt hatten.

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nach Frankreich zurück. Bei einem Heimatbesuch im Oktober 1953 war für ihn der Anblick seines geliebten Köln, das er so zerstört kaum wiedererkannte, eine „schreckliche Überraschung“: „Von der Stadt, deren jeden Stein er kannte, war nichts übriggeblieben.“ (Ernst: Biographische Notizen, S. 34). – Ernst starb am 1. April 1976 in Paris. Koldehoff, Die Tageszeitung vom 06.07.1991.

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Zitiert wird mit dem Gemälde das klassische Sujet des „Amor poenitus“, des von Venus gezüchtigten Amorknaben, ein vor allem im 17. und 18. Jahrhundert beliebtes Motiv: Die Göttin Venus bestraft ihren Sohn Amor, weil er Unfug angestellt hat. Auf manchen Darstellungen legt sie ihn dazu wie auf dem Gemälde von Ernst über das Knie30. Ganz sicher war Ernst diese Parallele genau bekannt. Was mag nun aber überhaupt der tiefere Sinn dieses Gemäldes sein? Dafür dass Ernst, wie der Begleittext des Ludwig-Museums zu dem Bild erklärt, „gezielt das Publikum“ provoziert habe, fehlen meines Erachtens genügende Anhaltspunkte. Auch die verschiedenen (tiefen-)psychologischen Erklärungsversuche31 kommen über mehr oder häufig weniger überzeugende Spekulationen nicht hinaus. Aber hören wir Ernst selbst. In seinen „Biographischen Notizen“ beschreibt er, sich selbst wieder in die dritte Person setzend, er sei 1896 „eines Nachmittags dem Elternhaus entschlüpft“32: Barfuß, roter „Punjel“33, blondgelockt, blauäugig, Peitsche in der linken Hand (i.e. ein Besenstil und dünner Faden). Der Strolch erregt das Wohlgefallen der Kevelaer-Pilger, welche gerade des Weges kommen. „Et Kriskink!“ flüstern sie voll Ehrfurcht. Der Knabe glaubt’s, spaziert in ihrer Mitte, verläßt sie am Bahndamm … Geschnappt und heimgebracht. Zornschnaubender Papa. „Ich bin das Christkind.“ Besänftigung, Versöhnung. Vater Philipp malt sodann den Sohn als Jesusknaben auf einem Wölkchen stehend im roten Punjel, mit elegantem Kreuz (anstelle Peitsche) und segnender Handbewegung.

Überhaupt soll sich Philipp Ernst häufig an Raffael-artigen MadonnenBildnissen versucht haben und den kleinen Max dabei als Jesus-Double eingesetzt haben. Max habe gern als Christkind posiert, was ihn dennoch vor gelegentlicher Strafe durch seine Mutter nicht geschützt hätte. Sein „strenger Vater“34 soll ihn zudem sogar häufiger schwer gezüchtigt haben.

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Siehe etwa Odoardo Fialetti (* 1573; † um 1638), Vénus corrigeant lʼAmour (1. Viertel des 17. Jh.), Nancy, Musée des Beaux-Arts; Jean Baptiste Regnault (* 1754; † 1829), Le châtiment de Cupidon, Privatbesitz. Siehe etwa Barth, Wize.life vom 23.12.2013 (das Gemälde zeige „das ʻÖdipaleʼ nach Sigmund Freuds Lehre. Das Geschlecht des Knaben befindet sich im Schoß der ʻMutterʼ und mit der rechten Hand greift der Junge in eine dunkle Rockfalte, die die Vagina symbolisiert“) oder Kahl, Atheodoc.com, Diskurs 14.22 (das Bild dokumentiere „den Emanzipationsprozess des jungen Künstlers von der elterlich überkommenen christlichen Religion römisch-katholischer Konfession“). Ernst, Biographische Notizen, S. 19. Kölnisch für „langes Nachthemd“. Ernst, Biographische Notizen, S. 19.

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Diese Erinnerungen ordnete Max Ernst dann seiner „Prügelnden Gottesmutter“ zu. Er kommentierte35: „Obwohl ich also das Jesuskind war, bin ich von meiner Mutter, die das Modell für die Madonna abgab, versohlt worden.“ Nur eine phantasiereiche Schnurre, etwas Seemannsgarn von Max Ernst? Dafür, dass Ernst hier ein wenig fabulierte, spricht, dass sein Sohn Jimmy in seinen Erinnerungen etwas anderes berichtet hat: Sein Vater habe ihm einmal erzählt, „daß er die Idee [zu diesem Gemälde] in Tirol hatte, als er sah, wie Maya“ – das mitgereiste Hausmädchen – „ihn [Jimmy] strafte“36. Will man den eher psychologisierenden oder autobiographisch orientierten Deutungsansätzen einen „politischen“ Erklärungsversuch an die Seite stellen, könnte man das Bild kurz zusammengefasst etwa so interpretieren: Auch Maria und Jesus waren Menschen wie du und ich, Menschen wie im Hier und Heute. Wollte Ernst also zum Ausdruck bringen, man sollte bei aller Marienund Christusverehrung daran denken, beide auch als „normale“ Menschen zu sehen? Dann verstünde man auch, die drei Zuschauer, bei denen man zunächst natürlich sofort an die Heiligen Drei Könige, die drei Weisen aus dem Morgenland denkt, einzuordnen: Die namentlich benannten Surrealisten könnten dann eher drei Weise aus dem zeitgenössischen Abendland darstellen; die Szene würde auf eine zeitlose Dimension erweitert37. Sei es drum. Wenn es um religiöse Darstellungen geht, ist die öffentlich vernehmbare Reaktion zumindest katholischer Kreise regelmäßig nicht der Versuch, sich mit dem Kunstwerk – und sei es unter Kontemplation des Glaubens – auseinanderzusetzen, sondern reflexartiges Blasphemie-Gerufe. So löste auch Ernsts Gemälde, betitelt mit „La vierge corrigeant l’enfant Jésus devant trois témoins: André Breton, Paul Éluard et le peintre“, 1926 sofort im Pariser „Salon des Indépendants“ einen Skandal aus. „Die Franzosen sind doch

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Ernst, Cahiers d’Art Nr. 6/7/1936; hier zit. nach der Übersetzung in v. Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden, S. 275. (Jimmy) Ernst, Nicht gerade ein Stilleben, S. 167 f.; 199; siehe auch Weissweiler: Notre Dame de Dada, S. 167 f.; 199. Diese Deutung macht auch Sinn vor dem Hintergrund, dass Ernst schon 1913, wie erwähnt, eine Kreuzigungsszene gemalt hatte, die an Grünewald erinnert. Schaut man nämlich genauer auf das Bild, sieht man, dass er den als Menschen leidenden Christus in das 20. Jahrhundert übertragen hatte! Die knieende Maria Magdalena trägt Rock und Bluse mit Gürtel sowie flache Damenschuhe; Maria, am linken Bildrand stehend, zeigt Waden und trägt ein Kleid sowie halbhohe rote Pumps. Beide sind also, wie man an der Kleidung sieht, in die Zeit der Entstehung des Bildes transformiert worden.

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alle sehr katholisch, selbst wenn sie ungläubig sind“, kommentierte Ernst dies später38. Danach wurde das Bild im November 1926 unter dem Titel „Die Jungfrau Maria verhaut den Menschensohn vor drei Zeugen, A.B., P.E. und dem Maler des Bildes“ auf einer Ausstellung der Kölner Sezession im Kölnischen Kunstverein gezeigt, wo die Resonanz noch heftiger ausfiel. Der Kölner Erzbischof Karl Joseph Schulte erzwang nicht nur die Schließung der Ausstellung gleich am Eröffnungstag; er ließ Ernst wohl auch noch auf einer Katholikenversammlung im Kölner Gürzenich wegen Gotteslästerung exkommunizieren, wie Ernst später erzählte39: Der Maler Max Ernst ist aus der Kirche ausgeschlossen, und ich rufe die Versammlung auf zu einem dreimaligen „Pfui“.

Auch sein Vater Philipp soll unter den Pfui-Rufern gewesen sein. So berichtet es jedenfalls später Max Ernst; objektiv belegt ist der Vorfall nicht. Die Legende, so der Kunsthistoriker und Ernst-Experte Werner Spies, gehört jedoch „inzwischen unantastbar zur Wirkungsgeschichte des Bildes“40. Jedenfalls erfolgte damals keine strafrechtliche Reaktion wegen Gotteslästerung; das Bild ist schnell in einer Privatsammlung verschwunden und ziemlich in Vergessenheit geraten41.

III. Strafbarkeit Die Einleitung eines Strafverfahrens hätte auf der Grundlage der ehemaligen Fassung des „Gotteslästerungsparagraphen“ § 166 RStGB und seiner Auslegung durch das Reichsgericht allerdings leicht geschehen können. Die Norm lautete damals: Wer dadurch, daß er öffentlich in beschimpfenden Äußerungen Gott lästert, ein Ärgernis gibt, oder wer öffentlich eine der christlichen Kirchen … oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft, ingleichen wer in einer Kirche oder in einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft.

Voraussetzung wäre also die Annahme gewesen, dass Ernst mit seinem Gemälde entweder „in beschimpfenden Äußerungen Gott lästert“ oder „eine der 38 39 40 41

Ernst, Der Spiegel 9/1970. Ernst, a.a.O. Spies, FAZ.net vom 18.09.2007. Das Gemälde kam erst 1984 in die Sammlung Ludwig. Vorbesitzer waren drei Privatsammler aus Brüssel sowie die Galerie von Ernst Beyeler in Basel.

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lichen Kirchen oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft“. Die 3. Alternative, die Störung der Religionsausübung, liegt a priori neben der Sache. Eine Gotteslästerung im engeren Sinne scheidet aus. Abgesehen davon, dass zu diesem Zeitpunkt die ganz allgemeine Ansicht der Auffassung war, bildliche Darstellungen könnten keine „Äußerungen“ im Sinne der 1. Alternative des § 166 RStGB sein (das Reichsgericht nahm dann allerdings 1930 anderes an42), fällt es schwer zu begründen, was denn nun an dem Gemälde konkret Gott beleidigt haben sollte43 – eine Schmähung Marias genügt ohnehin nicht. Wenn man heute jedoch meinen würde, der beschriebene biographische sowie der ikonographische Hintergrund des Bildes hätte Ernst damals vor dem Vorwurf der 2. Alternative des § 166 RStGB, der Kirchenbeschimpfung, schützen können, irrt: 1930 formulierte das Reichsgericht in dem „Gotteslästerungs“-Verfahren gegen den Maler, Zeichner und Karikaturisten George Grosz wegen dessen Zeichnung „Maul halten und weiterdienen“, die Christus am Kreuz mit Gasmaske und Knobelbechern zeigte44, zunächst einmal, „Beschimpfen“ hieße, „die Mißachtung in roher, besonders verletzender Form zum Ausdruck“ zu bringen45. Es führte weiter aus46, es komme dabei überhaupt nicht darauf an, welche Zwecke der Angeklagte verfolgte, sondern darauf, ob er die Angehörigen eine der christlichen Kirchen in ihren Empfindungen durch eine rohe Beschimpfung ihrer Einrichtungen und Gebräuche“ (worunter die Christus47- [und auch die Marien48-]Verehrung fällt)49 verletzt hat. 42 43

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RGSt 64, 121 (121 f.) – Christus mit der Gasmaske. Das Reichsgericht definierte die Gotteslästerung im Januar 1927, also unmittelbar nach der Kölner Ausstellung, wie folgt (RGSt 61, 151 [153] – Märzgesänge): „Der Begriff ʻGottʼ umfaßt im Sinne des § 166 StGB. auch die Person Christi (RGRspr. Bd. 1 S. 143). ʻGott lästernʼ heißt in schmähsüchtiger Weise etwas Verächtliches über Gott aussagen, der Ehre und Heiligkeit Gottes Abbruch tun. Dies geschieht durch eine ʻbeschimpfende Äußerungʼ, wenn sich die Äußerung nach Inhalt und Form oder nach Inhalt oder Form als eine rohe, verletzende Kundgebung der Mißachtung Gottes darstellt. Eine solche Kundgebung liegt auch dann vor, wenn ohne den Gebrauch von Schimpfworten in roher Weise herabwürdigende Tatsachen in Bezug auf Gott behauptet werden …“. Siehe dazu Scheffler, George Grosz vor Gericht (in diesem Band). RGSt 64, 121 (123 f.) – Christus mit der Gasmaske. RGSt, a.a.O., S. 125. RGSt, a.a.O., S. 123. RGSt 2, 428 (429); siehe auch BGH, UFITA 1962, 181 [186] – Missa profana; LG Köln, MDR 1982, 771; LG Düsseldorf, NStZ 1982, 290. „Einrichtungen“ sollen entgegen der sonst üblichen Bedeutung des Wortes nicht etwa die räumlich ortbaren Institutionen oder Unterorganisationen der religiösen o-

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Wesentlich sei, so das Reichsgericht50, das Erkennen der Absicht des Künstlers durch die Beschauer nur dann, wenn auch die angewendeten künstlerischen Mittel geeignet waren, nur die beabsichtigten und nicht auch noch andere Eindrücke hervorzurufen.

Und zusammenfassend51: Es genügt für den Tatbestand des § 166 StGB., daß ein Bild geeignet ist, in … [einfachen, religiös gesinnten] Menschen als eine Beschimpfung der Kirche oder ihrer Einrichtungen und Gebräuche empfunden zu werden.

Wäre der Tatbestand des § 166 RStGB erst einmal bejaht worden, hätte Max Ernst damals die Berufung auf Art. 142 der Weimarer Reichsverfassung nicht geholfen, wonach die Kunst „frei“ sei52. Das Reichsgericht 193053: … auch ein Künstler [darf] nicht die Schranken überschreiten, die der § 166 StGB. zum Schutze des religiösen Gefühls errichtet hat.

Und es fügte sogar noch an, dies müsse „um so mehr“ gelten, wenn es sich um Werke handelt, die nicht rein künstlerischen Zwecken zu dienen bestimmt und geeignet sind, vielmehr … mit bestimmter „Tendenz“ gearbeitet sind

– was bei Ernsts „Prügel-Madonna“ wohl begründbar erscheint. Die Rechtslage wäre heute eine deutlich andere, das sei hier nur kurz angedeutet. Die Gotteslästerung im engeren Sinne gibt es nicht mehr, die hier ohnehin nicht relevante Störung der Religionsausübung ist nunmehr in § 167 StGB

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der weltanschaulichen Vereinigungen sein; das Wort fungiere vielmehr als Sammelbezeichnung für alle erdenklichen symbolischen Formen, Zeremonien und Organisationsstrukturen, durch die sich inhaltliche Aussagen zum Ausdruck bringen lassen. RGSt 64, 121 (125) – Christus mit der Gasmaske. RGSt, a.a.O., S. 126. „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil“. RGSt 64, 121 (128 f.) – Christus mit der Gasmaske. Ab 1927, seit der fünften Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in München, hatte sich lediglich die Auslegung durchgesetzt (nachdem zuvor Art. 142 WRV sogar als letztlich „leerlaufendes Grundrecht“ ausgedeutet worden war), dass zum einen die Verwaltung in die Freiheit des künstlerischen Schaffens „nur ... aufgrund und innerhalb der Schranken des Gesetzes“ eingreifen dürfe, zum anderen die Norm „nicht nur die Verwaltung an das Gesetz, sondern auch das Gesetz selbst“ binde. Der Gesetzgeber dürfe nicht durch „Sondergesetze, die sich gegen Künste ... oder gegen einzelne Kunstrichtungen als solche wenden“, sondern nur auf Grundlage allgemeiner Gesetze in die Kunstfreiheit eingreifen: „Allgemeine Gesetze in diesem Sinne sind insbesondere ... alle Strafgesetze ...“ (Anschütz: Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung, Art. 142 Anm. 2 f. [S. 658 ff.]).

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geregelt. § 166 StGB in der heutigen Fassung (auf den hier relevanten Teil verkürzt) bedroht denjenigen mit Strafe, der (etwa durch Gemälde oder Graphiken) „den Inhalt des religiösen … Bekenntnisses anderer“ (Abs. 1) oder „eine im Inland bestehende Kirche …, ihre Einrichtungen oder Gebräuche“ (Abs. 2) „beschimpft“ – und zwar „in einer Weise …, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.“

Die Bewertung als „Beschimpfung“, dessen eigentliche Definition durch das Reichsgericht nach wie vor gilt, soll sich nun „nach dem Urteil eines unbefangenen und auf religiöse Toleranz bedachten Dritten“54 und nicht mehr nach den Empfindungen eines „einfachen, religiös gesinnten Menschen“ richten55. Ein Gericht dürfe sich auch nicht unter mehreren objektiv möglichen Deutungen für die zur Verurteilung führende entscheiden, ohne die anderen unter Angabe überzeugender Gründe auszuschließen56.

Und zudem würde heute, anders als damals, die Kollision mit der Kunstfreiheit eine erhebliche Rolle spielen. Nach herrschender, meines Erachtens aber unzutreffender Ansicht soll sie schon auf der Tatbestandsebene, bei der Auslegung des „Beschimpfens“ relevant werden: Erforderlich sei eine Abwägung im Einzelfall, welche die Kunstfreiheit und die Belange des § 166 im Wege praktischer Konkordanz zu einem sinnvollen Ausgleich kommen lässt. Ergibt sich daraus der Vorrang der Kunstfreiheit, liegt bereits keine Beschimpfung i.S.d. § 166 vor …57

Wohl richtiger Ansicht zufolge spielt, um verfassungsrechtlich tragfähige Ergebnisse zu erzielen, die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG allerdings erst auf der Rechtfertigungsebene eine Rolle. Denn Praktische Konkordanz darf nicht schon zwischen der Kunstfreiheit und § 166 StGB hergestellt werden, sondern erst zwischen der Kunstfreiheit und dem konkret hinter § 166 StGB stehenden Verfassungswert: Schon seit 1971, seit dem „Mephisto“-Beschluss 54 55

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Valerius in BeckOK, StGB, § 166 Rn. 9 mit weiteren Nachweisen. Die Eignung der Beschimpfung zur Friedensstörung, ein sehr diffuses und umstrittenes Tatbestandsmerkmal, sei hier außen vorgelassen. Nach herrschender Ansicht liegt es vor, wenn „die begründete Befürchtung“ besteht, „dass das Vertrauen der betroffenen Bekenntnisanhänger in die Respektierung ihrer religiösen Überzeugungen beeinträchtigt werde, oder dass bei Dritten Intoleranz gegenüber den Anhängern des betroffenen Bekenntnisses gefördert werde“. (Näher Hörnle, NJW 2012, 3416 mit weiteren Nachweisen). BVerfGE 82, 272 (280 f.) – Anti-Strauss-Parole. Valerius in BeckOK, StGB, § 166 Rn. 13 mit weiteren Nachweisen.

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des Bundesverfassungsgerichts58, ist anerkannt, dass die Kunstfreiheit, weil sie „keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthält, ... weder durch die allgemeine Rechtsordnung“ – dazu gehört § 166 StGB – „noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden“ dürfe. Die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie seien „nur von der Verfassung selbst zu bestimmen“. Diese hinter § 166 StGB stehende Verfassungsnorm ist nach einer, meines Erachtens nicht zutreffenden Ansicht die Glaubensfreiheit in Art. 4 GG59, nach einer anderen, auch nicht unproblematischen Ansicht („unbestimmte Klauseln“ hat das Bundesverfassungsgericht ja ausgeschlossen) ein nebulöses Verfassungsrechtsgut, nämlich der „Öffentliche Frieden“60: Zwar nimmt § 166 seinen Ausgangspunkt im religiösen bzw. weltanschaulichen Bereich, geschützt ist aber das friedliche Zusammenleben der Menschen untereinander und das Vertrauen in den Fortbestand dieses Zustandes ..., d.h. der sog. öffentliche Frieden …

Lehnt man – wie ich – beide Ansichten ab, kann ein Kunstwerk – genauer gesagt: ein Gemälde oder eine Graphik61 – selbst bei „beschimpfendem“ Inhalt heute niemals der Strafdrohung des § 166 StGB unterfallen.

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BVerfGE 30, 173 (193) – Mephisto. Art. 4 GG schützt nur die „Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ (Abs. 1) sowie die „ungestörte Religionsausübung“ (Abs. 2). Aus der Vorschrift ist demzufolge kein Recht der Anhänger einer Religion abzuleiten, gegen „Beschimpfungen“ geschützt zu werden; eine Schmähung ohne nötigenden Charakter schränkt weder die Glaubensfreiheit noch die Religionsausübung anderer ein (Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 166 Rn. 1; dies., ZRP 2015, 62; Hilgendorf in Satzger / Schluckebier / Widmaier, StGB, § 166 Rn. 4. A.A. offenbar die Begründung des Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes [Stärkung des Toleranzgebotes durch einen besseren Schutz religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen gemäß § 166 StGB] vom 07.05.1998 von Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, BT-DrS13/10666, S. 5: „Schutzgut des § 166 StGB ist daher das sich aus Artikel 4 Abs. 2 GG ergebende allgemeine Toleranzgebot, das religiöse und weltanschauliche Bekenntnis Dritter zu achten [vgl. Rudolphi, in: SK-StGB, Vor § 166 Rdnr. 1]“). Tag in Dölling / Duttge / König / Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 166 StGB Rn. 2 mit weiteren Nachweisen. Anderes mag für die (früher in § 166 Alt. 3 RStGB) geregelte Störung der Religionsausübung bei Aktionskunst gemäß § 167 StGB gelten. Die „Performance“ einer „Femen“-Aktivistin während eines Gottesdienstes kann selbst dann strafbar sein, wenn sie als Kunstausübung klassifiziert wird (was die sie bestrafenden Gerichte allerdings nicht einmal erwogen haben, siehe LG Köln, StV 2016, 810 sowie die Vorinstanz AG Köln, Urteil vom 3.12.2014 – 647 Ds 240/14 – bei juris mit Bespr.Aufsatz Bülte, StV 2016, 837). Siehe auch zum „Punk-Gebet“ der russischen Gruppe Pussy Riot Fahl, StraFo 2013, 1 ff.; Weyhrich: Pussy Riot – Die Moskauer Furien (im Band „Musik und Strafrecht“).

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Wie dem auch sei – ohne das zu vertiefen: Ein (zumindest oberes) deutsches Gericht, das in unserer Zeit auch nur in Erwägung ziehen würde, das Ausstellen von Ernsts „Prügelnder Gottesmutter“ wegen „Gotteslästerung“ (oder genauer gesagt: Kirchenbeschimpfung) zu verbieten, erscheint unvorstellbar. Zum Abschluss sei aber noch ein ganz anderer Blick auf Ernsts Gemälde geworfen. Ernst „diffamiert“ – aus heutiger Sicht – die Muttergottes als Täterin einer strafbaren Körperverletzung! § 223 StGB besagt – insoweit damals mit fast dem gleichen Wortlaut wie heute – zu bestrafen sei derjenige, der „eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt“. Das mehrfache Schlagen mit der Hand auf das nackte Gesäß mit einer solchen Wucht, dass deutlich sichtbare Hautrötungen hervorgerufen werden, dürfte sogar beide Alternativen erfüllen. Zur Zeit der Entstehung des Gemäldes wurde als Rechtfertigung solcher Körperverletzungen ohne jeglichen Zweifel das ungeschriebene Elterliche Züchtigungsrecht herangezogen. Das Züchtigungsrecht gilt nun aber seit 2002 als vollends abgeschafft62. § 1631 Abs. 2 BGB sagt seitdem in unmissverständlicher Deutlichkeit: Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.

Selbst ein elterlicher „kleiner Klaps“ ist seitdem nicht mehr erlaubt. Nun könnte man unter dem Aspekt, dass die Gottesmutter von Ernst als Straftäterin, als Kindesmisshandlerin dargestellt wird, neuerlich über Gotteslästerung, genauer gesagt über Kirchenbeschimpfung durch die Ausstellung des Bildes diskutieren. Allerdings wäre zu bedenken, dass Ernst ein weder zu biblischen Zeiten noch zur Zeit der Entstehung des Bildes verbotenes Verhalten dargestellt hat. Wir verbannen jedoch heute auch Wörter aus Werken etwa von Astrid Lindgren als rassistisch, die zum Zeitpunkt des Entstehens der Bücher ubiquitärer Sprachgebrauch waren63. Jedoch wäre hier besonders zu beachten, dass das Motiv auch die Interpretation zulässt, es mache darauf aufmerksam, das christliche Kindeserziehung ohne Schläge auszukommen habe – weil es eben unvorstellbar erscheint, Maria hätte ihren Sohn übers Knie gelegt. Eine andere „moderne“ Rechtsauffassung erscheint hier schon etwas problematischer: Seit 2015 ist der Kinderpornographietatbestand in § 184b StGB um eine Fallgruppe bereichert, die der damalige Vorsitzende Richter am 62 63

Näher Scheffler, JRE 10 (2002), 279 ff. Siehe dazu Geisel, NZZ.ch vom 18.01.2013.

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Bundesgerichtshof und StGB-Kommentator Thomas Fischer als „merkwürdige ʻGesäßʼ-Variante“ bezeichnet hat64. Der eingefügte § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. C StGB, der auch auf die Ausstellung von Gemälden anwendbar ist, verbietet selbst „die sexuell aufreizende Wiedergabe … des unbekleideten Gesäßes eines Kindes“. Dass der von Ernst gemalte gerötete Po des Jesuskindes für Pädophile, gar wenn sie eine sadistische Ader haben, eine „sexuell aufreizende Wiedergabe“ darstellen mag, erscheint durchaus nicht ausgeschlossen. Das Museum Ludwig „rettet“ dann nur die – wenig einleuchtende65 – einschränkende Auslegung, dass es bei der aufreizenden Wirkung ausschließlich auf die „Beurteilung eines durchschnittlichen Betrachters“ ankommen soll66. – Das nahegelegene Kölner Wallraf-Richartz-Museum (und auch die Alte Pinakothek in München67) sollte aber bei François Bouchers Rokoko-Gemälde des „Ruhenden Mädchens“68 aufpassen69 und vielleicht sicherheitshalber nochmals genau recherchieren, ob das sexy gemalte Modell Marie-Louise O’Murphy, das dort seinen Po zeigt, wirklich schon gerade vierzehn Jahre alt geworden war70!

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Fischer, StGB, § 184c Rn. 4. „Das ist insoweit erstaunlich, als der ʻaufreizendeʼ Charakter als objektives Merkmal beschrieben wird, obgleich doch – angeblich – der ʻgesundeʼ, durchschnittliche Erwachsene beim Betrachten unbekleideter kindlicher Körperteile überhaupt keinen sexuellen Reiz verspürt.“ (Fischer, a.a.O., Rn. 9b). Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 12.11.2014, BT-DrS 18/3202 (neu), S. 27. In München befindet sich eine fast identische zweite Fassung des „Ruhenden Mädchens“. François Boucher (* 1703; † 1770), La jeune fille allongée (Portrait von MarieLouise OʼMurphy, geb. 21.10.1737) (1751). Köln, Wallraf-Richartz Museum. Natürlich würde, ohne dies hier zu vertiefen, eine Bestrafung des Ausstellens dieser Meisterwerke Bouchers spätestens an der Kunstfreiheitsgarantie scheitern. Ein im September 2019 bekannt gewordener Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz „Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Modernisierung des Schriftenbegriffs und anderer Begriffe sowie Erweiterung der Strafbarkeit nach den §§ 86, 86a, 111 und 130 des Strafgesetzbuches bei Handlungen im Ausland“ will § 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB um einen Buchstaben c erweitern, der, entsprechend zu 184 b Abs. 1 Nr. 1 lit c StGB auch „die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes einer vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alten Person“ pönalisiert, so dass es auf das Alter OʼMurphys – 13 oder 14 Jahre – nicht mehr ankäme.

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Literatur ANSCHÜTZ, GERHARD, Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung. 14. Auflage 1933. BARTH, VOLKER, „Die Jungfrau Maria verhaut den Menschensohn“ von Max Ernst, Wize.life vom 23.12.2013 (https://wize.life/themen/kategorie/kultur /artikel/19111/die-jungfrau-maria-verhaut-den-menschensohn-von-max-ernst). BECK’SCHER ONLINE-KOMMENTAR 42. Edition 2019.

ZUM

STRAFGESETZBUCH,

Stand:

BEYME, KLAUS V., Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905–1955, 2005. BISCHOFF, ULRICH, Max Ernst 1891–1976. Jenseits der Malerei, 1987. BÜLTE, JENS, Heuristik und Intuition als Hindernisse einer grundrechtswahren den Auslegung von § 167 StGB, Strafverteidiger 2016, S. 837 ff. DÖLLING, DIETER / DUTTGE, GUNNAR / KÖNIG, STEFAN / RÖSSNER, DIETER, Gesamtes Strafrecht – Kommentar. 4. Auflage 2017. ERNST, JIMMY, Nicht gerade ein Stilleben – Erinnerungen an meinen Vater Max Ernst, dt. 1985. ERNST, MAX, Au delà de la peinture, Cahiers d’Art Nr. 6/7/1936. DERS.: Biographische Notizen (Wahrheitsgewebe und Lügengewebe); Katalog zur Max-Ernst-Ausstellung im Wallraf Richartz-Museum in Köln vom 28.12.1962 bis 3.3.1963 und im Kunsthaus Zürich vom 23.3.1963 bis 28.4.1963; S. 19 ff. DERS., Die Frommen riefen dreimal pfui – Interview mit Jürgen Hohmeyer, Der Spiegel 9/1970; FAHL, CHRISTIAN, Die Strafbarkeit der Punk-Rock-Band „Pussy Riot“ nach deutschem Strafrecht, Strafverteidiger Forum 2013, S. 1 ff. FISCHER, THOMAS, Strafgesetzbuch – Kommentar. 66. Auflage 2019. GEISEL, SIEGLINDE, Debatte um sprachliche Säuberungen, NZZ.ch vom 18. 01.2013 (https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/debatte-um-sprachliche-sa eube rungen-1.17944924). HÖRNLE, TATJANA, Strafbarkeit anti-islamischer Propaganda als Bekenntnisbeschimpfung, Neue Juristische Wochenschrift 2012, S. 3415 ff. DIES., Abschaffung des Blasphemie-Paragrafen?, Zeitschrift für Rechtspolitik 2015, S. 62.

Max Ernst und seine prügelnde Gottesmutter

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KAHL, JOACHIM, Philosophische Bildmeditation zu Max Ernst – Die Jungfrau züchtigt den Jesusknaben vor drei Zeugen, Atheodoc.com, Diskurs 14.22 (http://www.atheodoc.com/buch-14/diskurs-14-22/). KOLDEHOFF, STEFAN, Die prügelnde Gottesmutter – Max Ernst und „Das Rendezvous der Freunde“ in Köln, Die Tageszeitung vom 06.07.1991. LEPPIEN, HELMUT R., Ein Besuch bei Goltz und die Folgen, in: W. Herzogenrath (Hrsg.), Max Ernst in Köln: Die rheinische Kunstszene bis 1922, S. 126 ff. MÜNCHENER KOMMENTAR zum Strafgesetzbuch. 3. Auflage 2017–2019. SATZGER, HELMUT / SCHLUCKEBIER, WILHELM / WIDMAIER, GUNTER, Strafgesetzbuch – Kommentar. 4. Auflage 2019. SCHEFFLER, UWE, Der Staatsanwalt im Kinderzimmer?, Jahrbuch für Recht und Ethik 10 (2002), S. 279 ff. SPIES, WERNER, Der Kardinal züchtigt den Maler, FAZ.net vom 18.09.2007 (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/meisners-kunstbegriff-der-kardin al-zuechtigt-den-maler-1461826.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0); WEISSWEILEr, EVA, Notre Dame de Dada: Luise Straus-Ernst, die „Muse der Dadaisten“ – das dramatische Leben der ersten Frau von Max Ernst, 2016. WICK, RAINER K., „Seine Augen trinken alles“. Das Frühwerk Max Ernsts im Brühler Max Ernst Museum, Musenblätter vom 12.03.2014 (http://musen blaetter.de/artikel.php?aid=13819).

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George Grosz vor Gericht* Der Maler, Graphiker und Karikaturist George Grosz (*26. Juli 1893 als Georg Ehrenfried Groß in Berlin; † 6. Juli 1959 ebenda), so wurde er zu seinem 125. Geburtstag 2018 im „Deutschlandfunk“ gefeiert1: „zählt zu den wichtigsten Künstlern der 1920er-Jahre: Gnadenlos ungeschönt malte und zeichnete er die Missstände der Weimarer Republik. Er kritisierte Armut und Massenarbeitslosigkeit, Aufrüstung und Faschismus. … Grosz entwickelte Typen, die für jeden sofort erkennbar waren: Generäle mit kantigen Gesichtern, die noch Skelette für kriegstauglich erklären. Feiste Unternehmer, die auf ermordete Kommunisten anstoßen. Reichswehrsoldaten, die demonstrierende Arbeiter erschießen. Frauen, die ihren Körper verkaufen müssen. Arbeitslose, die hungernd am Straßenrand hocken.“ Grosz, „in weiten Kreisen der Republik verhasst“, hatte deshalb „einen Prozess nach dem anderen am Hals ... Das erste Mal wegen Verunglimpfung der Reichswehr, dann wegen Verbreitung pornographischer Zeugnisse und zuletzt wegen Gotteslästerung“. Aber der Reihe nach – es ging um die drei Graphik-Mappen „Gott mit uns“, „Ecce Homo“ und „Hintergrund“.

I. Mappe „Gott mit uns“ 1920 gab der Malik-Verlag in Berlin die Mappe „Gott mit uns“2 mit neun losen Fotolithographien von Grosz heraus. Die Mappe war schon 1919 entstanden und 1920 auf der ersten (und letzten) Dada-Kunstmesse in Berlin ausgestellt, genauer gesagt „wie zufällig ausgebreitet“3 auf dem Büchertisch ausgelegt worden. *

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Es handelt sich um den leicht überarbeiteten Text, den der Autor Anfang 2019 für den Ausstellungskatalog einer letztlich nicht realisierten Ausstellung über Max Liebermann und George Grosz für eine Berliner Galerie erstellte. Eine erweiterte, vor allem auch die zeit- und kunsthistorischen Zusammenhänge näher beleuchtende Darstellung des Lebens, des Schaffens und der Strafprozesse George Grosz’ findet sich auf der Website des Autors „www.kunstundstrafrecht.de“ unter Ausstellungstafeln – „Kunst und ʻGotteslästerungʼ“ – „ʻChristus-mit-der-Gasmaskeʼ“-Fall. Schneider, Deutschlandfunkkultur.de vom 26.07.2018. Die Worte „Gott mit uns“ zierten vom 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich die Koppelschlösser der deutschen Soldaten und Unteroffiziere. Jentsch, George Grosz – Alltag und Bühne, S. 17.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-021

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In neun Bildern thematisierte Grosz hier die korrupte Natur der pompösen, überfütterten und selbstzufriedenen Offiziere und Beamten, die Deutschland in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hineingezogen und in der jungen Weimarer Republik immer noch das Sagen hatten. Kurt Tucholsky bezeichnete Grosz’ Mappe als „genial“4: … einer ist dabei, der wirft den ganzen Laden um. Dieser eine, um den sich der Besuch lohnt, ist George Grosz, ein ganzer Kerl und ein Bursche voll unendlicher Bissigkeit. Wenn Zeichnungen töten könnten: das preußische Militär wäre sicherlich tot. (Zeichnungen können übrigens töten.) Seine Mappe „Gott mit uns“ sollte auf keinem gut bürgerlichen Familientisch fehlen – seine Fratzen der Majore und Sergeanten sind infernalischer Wirklichkeitsspuk. Er allein ist Sturm und Drang, Randal, Hohn und – wie selten –: Revolution.5

Und an anderer Stelle6: Die Zeichnungen von Grosz stellen den deutschen Militarismus von Wilhelm bis zu seinem größeren Nachfolger, dem Arbeiterverräter Noske, nackt dar. Feldwebel, Unterärzte, Oberstabspflasterkasten, kommandierende Rotweingenerale, Puffleutnants und jener grauenhafte Typ der Freiwilligenkorpshäuptlinge – sie sind alle noch nie so gut getroffen worden wie in diesen Bildern.

Im Herbst 1920 wurde die Mappe – wohl auf Antrag des Reichswehrministeriums – im Malik-Verlag beschlagnahmt. Grosz wurde mit Wieland Herzfelde, dem Verleger der Mappe, angeklagt, durch die Präsentation dieser Zeichnungen auf der Dada-Messe die Angehörigen der Reichswehr beleidigt zu haben. Ein Hauptmann namens Matthäi – man vermutete, als „Strohmann“ der Reichswehr, Herzfelde sprach von einem „Hakenkreuzritter“7 – hatte Anzeige erstattet, weil er die Dada-Ausstellung im Allgemeinen und besonders die Mappe von Grosz als „systematische Hetze“ sowie „infame und verabscheuungswürdige Verunglimpfungen“ empfunden hatte8. Tucholsky kommentierte9: Wenn sich die Reichswehr beleidigt fühlt, kann sie einem leid tun. Entweder sie ist gar nicht getroffen: dann liegt kein Grund vor, einen Staatsanwalt, der im Felde Offizier gewesen, also befangen ist, in Bewegung zu setzen. Oder sie ist getroffen: dann hat Grosz recht.

Am 20. April 1921 wurde Grosz von der 1. Strafkammer des Landgerichts II Berlin wegen Beleidigung der Reichswehr zu einer eher milden Geldstrafe von 300 Reichsmark verurteilt, Herzfelde zu 600 Reichsmark. Die Staatsanwaltschaft hatte für beide noch sechs Wochen Gefängnis beantragt. 4 5 6 7 8 9

Tucholsky, Die Weltbühne Nr. 17/1921, S. 454. Tucholsky, Berliner Tageblatt vom 20.07.1920 (Abendausgabe). Tucholsky, Freiheit vom 24.10.1920. Herzfelde, Der Gegner Nr. 4/1920/21, S. 119. Siehe die Nachweise bei Neugebauer, George Grosz, S. 74 Fn. 14. Tucholsky, Freiheit vom 24.10.1920.

George Grosz vor Gericht

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Tucholsky, der über den Prozess gegen Grosz und Herzfelde in der „Weltbühne“ schrieb, bemerkte dazu10: Festzustellen ist, daß diese Verhandlung mit Justiz überhaupt nichts zu tun hat. Ich habe nie begriffen, warum nicht der Angeklagte in den Saal zu treten gezwungen ist, zu sagen hat: „Mein Name ist Grosz – Schwerverbrecher“, und der Vorsitzende sagt dann: „Sehr angenehm. Dreihundert Mark Geldstrafe!“ Das würde viel Zeit und Arbeit sparen. Bei der politischen Erziehung und der allgemeinen Vorbildung unsrer Richter ist nicht zu verlangen, daß sie diesen Dingen so gegenübertreten, wie wir es erwarten. … Bestraft wird in allen diesen Fällen nicht das Delikt. Bestraft wird – nach bestem Wissen und Gewissen – die Gesinnung.

Die Akten des Prozesses sind verschollen11; so weiß man nur, dass Grosz Revision einlegte; die Entscheidung des Reichsgerichts – offenbar die Verwerfung der Revision – ist nicht bekannt. Die Beleidigung „der“ Reichswehr war nach damals (wie auch heute) herrschender Auffassung zufolge nach § 185 Alt. 1 (R)StGB ([Reichs-]Strafgesetzbuch), dem einzigen in Betracht kommenden Tatbestand („Die Beleidigung wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Haft oder mit Gefängnis bis zu einem Jahre ... bestraft“) nur in engen Grenzen als „Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung“12 oder „Beleidigung von Personengemeinschaften“13 strafbar. Die Bestrafung Grosz’ war somit eigentlich kaum dogmatisch zu begründen. Tucholsky war von dem zuvor noch als „ganzer Kerl“ bezeichneten Grosz, dem er nunmehr indirekt absprach, sich wie ein „Mann“ verteidigt zu haben, „enttäuscht“14 (Grosz soll sich in der Hauptverhandlung unter anderem dahin eingelassen haben, er habe mit seinen Zeichnungen nur die früheren Zustände und das alte Militär strafen wollen15): Was Grosz angeht, so weiß ich nicht, ob die Schlappheit seiner Verteidigung darauf zurückzuführen ist, daß er nicht sprechen kann. Er sagte kein Wort, das auch nur einem Strich seiner Blätter adäquat gewesen wäre. Die Verteidigung war im großen ganzen darauf gerichtet, bei Grosz als Spaß hinzustellen, was bitterster und bester Ernst ist. 10 11 12

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Tucholsky, Die Weltbühne Nr. 17/1921, S. 456. Näher dazu Weck, NJW 1994, 1929. Kollektivbeleidigungen sind strafrechtlich nur relevant, wenn sie sich auf einen deutlich aus der Allgemeinheit hervortretenden Personenkreis beziehen, der klar abgrenzbar und überschaubar ist und dessen Mitglieder sich zweifelsfrei bestimmen lassen. Ansonsten verliert sich die Beleidigung in der Anonymität. (Siehe Valerius in BeckOK, StGB, § 185 Rn. 8 f. mit weiteren Nachweisen). Die Beleidigungsfähigkeit einer Personengemeinschaft setzt voraus, dass sie eine rechtlich anerkannte soziale Funktion erfüllt und einen einheitlichen Willen bilden kann. (Siehe Valerius, a.a.O., Rn. 11 f. mit weiteren Nachweisen). Tucholsky, Die Weltbühne Nr. 17/1921, S. 455. Siehe Neugebauer, George Grosz, S. 71.

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Tucholsky kritisierte hier auch ausdrücklich Grosz’ damaligen Rechtsanwalt Fritz Grünspach, als Verteidiger politisch nicht festgelegt (… gleichermaßen Zeichner und Gezeichnete verteidigen kann“)16, weil der „geschickt genug“ gewesen sei, „nicht den starken Angriff auf Kaisers Geist“ zu starten: Sein Plädoyer rettete Grosz den Kragen und war vernichtend für ihn und seine Freunde. So sieht eure Verteidigung aus? Ihr habt es nicht so gemeint?

Und: Wenns Grosz nicht so gemeint hat – wir habens so gemeint. In meiner Wohnung hängen die Blätter der Mappe, und ich bin stolz darauf, sie zu besitzen.

II. Mappe „Ecce Homo“ Grosz veröffentlichte sodann 1922 die Bildermappe „Ecce Homo“17 mit Reproduktionen von Zeichnungen und Aquarellen, wiederum im Malik-Verlag. In 84 Schwarzweißzeichnungen und 16 Farbaquarellen ging Grosz mit den politisch-gesellschaftlichen Zuständen der Weimarer Republik so erbarmungslos um wie kein Künstler vor oder nach ihm18: Es ist die willenlose, brutale Welt, die von mir hier dargestellt worden ist. Man bekommt sonst die Wahrheit gewissermaßen immer in einem Bonbon eingepackt zu sehen. Mein Buch aber zeigt die Wahrheit nackt und bloß, und deshalb ist es sozusagen ein Erziehungsbuch.

Die Bilder – der US-amerikanische Schriftsteller Henry Miller beschrieb „these expressions of despair, hate and disillusionment“ später „as naked and ugly, as beautiful and eloquent, as truth itself“19 – wurden zum Skandal. Dem Künstler, wiederum Herzfelde als Verleger sowie Julian Gumperz, seit 1921 (gutsituierter) Mitinhaber des ständig klammen Malik-Verlages, wurde 1923/24 der Prozess gemacht, da „Ecce Homo“ etliche Blätter enthalten würde, die das 16

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Fritz Grünspach (* 1874; † 1924) verteidigte u.a. auch Angeklagte wegen ihrer Beteiligung am Kapp-Putsch sowie die Angeklagten im Liebknecht/LuxemburgVerfahren. Ikonographisch sind seit Jahrhunderten die „Ecce Homo“-Darstellungen auf die Zurschaustellung des gepeinigten Christus durch Pontius Pilatus und dessen Ausruf festgelegt (siehe Johannes 19,5). Wenn Grosz „Ecce Homo“ als Titel für diese Mappe wählte, mag das wie Hohn wirken. Er erklärte später vor Gericht dazu: „Im Zusammenhang dieses ganzen Werkes kann man sagen: ʻSeht, welche Menschenʼ. … Ein Moralist, wie ich, kann … kein besseres Wort wählen, als dieses ʻEcce homoʼ! Denn Christus ist die Verkörperung des Menschen und das Gegenteil von dem, was hier dargestellt wird.“ (O.V., Das Tage-Buch 5/1924, S. 247). Zit. nach Neugebauer: George Grosz, S. 114. Miller, Evergreen Rev Nr. 40 (1966), 31. Und an anderer Stelle: „What a revelation it was! Such unmitigated savagery, such sublime desperation, such remorseless excoriation! An enlightened madman, I thought. A Goya come to life. A more ferocious Goya than ever Goya was.“ (Miller: To Paint is to Love Again, S. 5).

George Grosz vor Gericht

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Scham- und Sittlichkeitsgefühl eines normal empfindenden Menschen in geschlechtlicher Beziehung“ verletzten – so die Anklage wegen der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen und Abbildungen nach § 184 Abs. 1 Nr. 1 RStGB vom 23. Dezember 192320. 34 Blätter aus der Mappe waren schon zuvor am 25. April 1923 beschlagnahmt worden21, nachdem der Generalstaatsanwaltschaft, auf die Mappe schon im Dezember 1922 „durch einen Prospekt betreffend ein Bilderwerk von George Grosz“ aufmerksam geworden22, die Mappe nach einigen erfolglosen Bemühungen „von privater Seite für die Dauer von einer Woche zur Verfügung gestellt“ worden war23. Grosz äußerte dazu später rückblickend24: In diesem Werk aber handelt es sich überhaupt nicht um Pornographie. Es ist ein Dokument jener Inflationszeit … mit ihren Lastern und ihrer Sittenlosigkeit … es ist in seiner Wirkung so brutal wie die Zeit die es mir eingab. … und wenn man die Wirkung fragt … so schreckt es wahrhaftig ab … aber es regt keineswegs die Unzucht an … lächerlich und ungerecht war es, dieses pessimistische Opus vom Menschen in einen Topf zu werfen mit den vielen pornographischen, rein schweinischen Publikationen.

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§ 184 Abs. 1 Nr. 1 RStGB (i.d.F. seit 1900), „Mit Gefängnis bis zu einem Jahre und mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark oder mit einer dieser Strafen wird bestraft, wer ... unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen feilhält, verkauft, verteilt, an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt oder sonst verbreitet, sie zum Zwecke der Verbreitung herstellt oder zu demselben Zwecke vorrätig hält, ankündigt oder anpreist ...“. Siehe dazu Mehring, Die Weltbühne Nr. 24/1923, S. 705. Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft bei dem Landgericht I Berlin an das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 18.12.1922, GStA PK, I. HA Rep. 76, Ve Sekt. 1 Abt. I Nr. 36 Bd. 2, Bl. 228 (unveröffentlicht). – Herzfelde berichtete die „viel weniger bekannte“ Vorgeschichte (in „Ecce homo“, einem nicht mehr zuzuordnenden Zeitungsartikel, zu finden im Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin, SMB-ZA, V/Künstlerdokumentation George Grosz [Ecce homo, Bl. 1]) leicht abweichend, wonach die Mappe zunächst „bei niemand Anstoß“ erregte. Das hätte sich erst geändert, nachdem Grosz „in einem äußerst scharfen Brief“ eine Aufforderung der Reichsregierung abgelehnt hatte, „die im Ruhrgebiet begangenen Grausamkeiten der Franzosen zu zeichnen“: „Die plötzlich unsittlich gewordenen Mappen wurden beschlagnahmt.“ Die hier und im Folgenden verwendeten Materialien zum „Ecce homo“-Prozess aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA) sowie aus dem Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin verdanke ich Hanna Seibel von der Judin GmbH. Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft bei dem Landgericht I Berlin an das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 14.03.1922, GStA PK, a.a.O., Bl. 236 (unveröffentlicht). George Grosz, Lebenslauf, Notizen für den Prozeß, Typoskript vom 03.12.1930, zit. nach Neugebauer: George Grosz, S. 114 – die Auslassungszeichen sind im Original.

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Und an anderer Stelle25: Das waren meiner Überzeugung nach keine obszönen, sondern gesellschaftskritische Bilder.

Die Hauptverhandlung fand am 16. Februar 1924 vor der 6. Strafkammer des Landgerichts III Berlin statt. Die Angeklagten wurden gemeinsam26 von Paul Levi, einem der brillantesten Verteidiger der Weimarer Republik sowie Mitbegründer der KPD, vertreten27. Das stenographische Protokoll der Befragung Grosz’ durch den Vorsitzenden der Strafkammer, Landgerichtsdirektor Kurt Ohnesorge, belegt eine erschreckende monologisierende, aus Suggestivfragen bestehende „Vernehmung“, in der der Vernommene, dem in der Tagespresse eine „eindringliche, sympathisch-unbeholfene Art“ bescheinigt wurde28, kaum zu Wort kommt. Wer sie vollständig nachliest29, kann spüren, wie weit damals die linke Intelligenz und der reaktionäre Teil des Bürgertums sich voneinander entfernt hatten – so weit, dass offenbar selbst im Gerichtssaal fast keine kommunikative Verständigung mehr möglich war30. – Kostprobe31: Vorsitzender Landgerichtsdirektor Ohnesorge (zu George Grosz): „… Glauben Sie, daß Sie Ihr künstlerisches Empfinden ohne gewisse Grenzen darstellen dürfen? Sind Sie sich nicht bewußt, daß auch dann, wenn derartige sexuelle Entartungen dargestellt werden, gewisse Schranken eingehalten werden müssen, deren Ueberschreitung den, wie Sie sagen ‘angeblich‘ normal empfindenden Menschen verletzen könnten? Daß Sie jedenfalls vielleicht nicht gerade auf sexuelle Lüsternheit ausgehen, daß Sie aber doch durch die Art, durch den Gegenstand Art und Form der Darstellung den Widerwillen und den Abscheu eines normal empfindenden Personenkreises hervorrufen können? Ich meine, ob Sie glauben, nicht nur al25 26

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Zit. nach o.V., Sozialdemokratischer Pressedienst vom 06.10.1930. Bis 1987 war es grundsätzlich zulässig, dass ein Verteidiger gleichzeitig mehrere derselben Tat Beschuldigte verteidigt. § 146 Abs. 1 StPO lautete damals: „Die Verteidigung mehrerer Beschuldigter kann, insofern dies der Aufgabe der Verteidigung nicht widerstreitet, durch einen gemeinschaftlichen Verteidiger geführt werden“. Als gerade 30-jähriger Rechtsanwalt war Levi 1914 bekannt geworden, als er Rosa Luxemburg, vorübergehend seine Geliebte, 1914 vor einer Strafkammer in Frankfurt a. M. wegen „Aufforderung zum Ungehorsam gegen behördliche Anordnungen und Befehle“ verteidigte, weil sie auf zwei Veranstaltungen im September 1913 öffentlich zum Kampf gegen die Kriegsgefahr aufgerufen und an alle Arbeiter appelliert hatte, im Falle eines Kriegs nicht auf ihre französischen Brüder zu schießen. (Siehe o.V., Volksstimme vom 22.02.1914). O.V., Vossische Zeitung vom 17.02.1924. O.V., Das Tage-Buch 5/1924, S. 240 ff. „Mit einem leisen Schauer wurde man wieder gewahr, daß hier Parteien miteinander verhandeln, die ganz verschiedene Sprachen sprechen und die darum dauernd in tragischem gegenseitigen Mißverstehen verharren.“ (O.V., Vossische Zeitung vom 17.02.1924). O.V., Das Tage-Buch 5/1924, S. 240 f.

George Grosz vor Gericht

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lein Ihr eigenes Empfinden, sondern auch das Empfinden anderer in Betracht ziehen zu müssen? Sie wollen den Zeitgeist geißeln, zum Beispiel ein Schieberpublikum, seine Genüsse und Leidenschaften, die sich in unverfeinerter sexueller und sonstwelcher Art äußern. Ja, derartige Sachen sind doch allgemein bekannt durch die Zeitungen; das weiß doch schließlich das Publikum, daß eine derartige Gesellschaftsschicht besteht, daß in dieser Weise Sachen, wie Sie sie zeigen, getrieben werden – wenn auch vielleicht nicht mit all den Einzelheiten, die Sie darstellen. Meinen Sie, daß Sie eine Berechtigung dazu haben, alle diese Sachen in voller Nacktheit und Deutlichkeit zu reproduzieren, um sie nochmals gewissermaßen dem Beschauer recht vor Augen zu führen?“ (Es folgt nunmehr die Besprechung der einzelnen Zeichnungen und Bilder).

Man ahnt auch an dem empörten Ton der „Vernehmung“, dass der Vorsitzende womöglich Grosz’ Zeichnungen insoweit verstanden hat, dass er sich selbst darin gespiegelt gesehen haben könnte32. Der als Sachverständiger geladene Kunstkritiker Max Osborn, berichtete Herzfelde33, soll die Richter sogar aufgefordert haben, „ihr eigenes Privatleben mit einer der ominösen Platten zu vergleichen“34. Und Verteidiger Levi bemerkte später polemisch, ob er den Vorsitzenden oder einen der Beisitzer meinte, bleibt offen35: Als ich meine Augen aufhub zu dem Gerichte, da war mir wie allen Angeklagten die Verurteilung eine Gewissheit. Denn siehe: unter den Richtern saß einer, der hatte das, was Grosz als Karikatur gedacht und gezeichnet hatte, zum Porträt erhoben.

Die von der Strafkammer angehörten Sachverständigen (neben Osborn noch Reichskunstwart Edwin Redslob sowie Maximilian Harden, Herausgeber der 32

33 34

35

Es ist aber zu betonen, dass Ohnesorge nicht zu den Juristen gehörte, die sich ab 1933 den Vorstellungen nationalsozialistischer Rechtsprechung unterordneten: „Seine richterliche Unabhängigkeit wahrte Landgerichtsdirektor Ohnesorge, der 1934 den ʻMaikowski-Prozeßʼ leitete, ein gegen Kommunisten geführtes Verfahren wegen Landfriedensbruchs, bei dem der Vorsitzende sich durch die bedrohliche Hetze der NS-Presse nicht beirren ließ, die Todesurteile verlangte. Die Strafkammer sprach keine Todesurteile aus, blieb weit hinter den Anträgen der Staatsanwaltschaft zurück und rechnete allen Verurteilten die Untersuchungshaft an. Ohnesorge erhielt dafür von Freisler eine ʻMißbilligungʼ ausgesprochen und sah sich alsbald beruflich eingeschränkt. Die Loyalität leitender Richter bewahrte ihn vor Schlimmeren.“ Laufs, in: Ebel / Randelzhofer (Hrsg.), Rechtsentwicklungen in Berlin, S. 194. Herzfelde, „Ecce homo“, SMB-ZA, V/Künstlerdokumentation George Grosz (Ecce homo, Bl. 1). Auch Henry Miller sah dies später ähnlich: „There is nothing Surrealistic about Grosz’ portraits; distorted, exaggerated as they are, we recognize the subjects for the everyday figures which they are. He simply removed the blinders with which we had been accustomed to viewing them. He saw them with X-ray eyes, penetrating not only the flesh but the mind and spirit as well. (Miller, The Evergreen Rev Nr. 40 [1966], 39). Paul Levi, Die deutsche Zensur, Die literarische Welt vom 06.08.1926, zit. nach Neugebauer: George Grosz, S. 112.

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Wochenzeitschrift „Die Zukunft“) verneinten laut den Urteilsgründen „die Unzüchtigkeit des Werks in seiner Gesamtheit“36: Grosz habe Anklage erheben und der Gegenwart einen Zerrspiegel vorhalten wollen. Das Werk und seine Bilder seien ein reines starkes satirisches Kunstwerk.

Und weiter referierte das Landgericht (was hier etwas ausführlicher wiedergegeben sei, weil die Urteilsgründe unveröffentlicht sind)37: [Die Sachverständigen] erklärten den Angeklagten Grosz für einen ernstzunehmenden Zeichner von starkem künstlerischem Talente. Die in den Bildern und in dem Werk dargestellten Widerwärtigkeiten seien mit großer künstlerischer Kraft unter Benutzung außerordentlicher Mittel wiedergegeben. … Der Sachverständige Harden zählt Grosz nicht zu den Pornographen, vielmehr „zu den Juvenalen aller Zeiten“. Der Sachverständige Dr. Osborn hat bei der Erstattung seines Gutachtens erklärt, daß er zunächst über die Fülle von Darstellungen der Geschlechtsteile auf den Bildern erstaunt gewesen, indessen sei er aus der Betrachtung und Beurteilung des Werks als ganzen schließlich dazu gekommen, daß Grosz nicht etwas Unzüchtiges habe bringen, sondern mit seinen Darstellungen warnend, abschreckend und heilend habe wirken wollen.

Noch deutlicher wurde Max Liebermann, damals Präsident der Akademie der Künste, der in einem von Rechtsanwalt Levi dem Gericht überreichten Gutachten hervorhob38, die Arbeiten Grosz’ seien in hohem Gerade [sic] künstlerisch und können deshalb nicht als unmoralisch angesprochen werden. Denn die Kunst sei jenseits von Moral und Unmoral. Grosz erhebe Anklage gegen das Laster und gegen die Unsittlichkeit mit den Mitteln seiner Kunst.

Damit war der Weg, die Angeklagten wegen der gesamten Mappe zu verurteilen, praktisch verbaut. Das Gericht habe sich sogar gezwungen gesehen, berichtete Herzfelde39, die Urteilsverkündung mit den Worten einzuleiten: „Obwohl die Herren Sachverständigen …“ Dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Einziehung und Vernichtung der ganzen „Ecce Homo“-Mappe trat das Gericht demzufolge auch nicht bei. Aber, so führte es aus40: Auch wenn man das Werk als Ganzes als Kunstwerk mit erzieherischen Zielen ansieht, so sind damit doch die einzelnen Bilder der Nachprüfung nicht entzogen, ob ihre Darstellung unzüchtig ist.

36 37 38 39 40

LG III Berlin, Urteil vom 16.02.1924, Urteilsausfertigung (UA) S. 6, GStA PK, I. HA Rep. 76, Ve Sekt. 1 Abt. I Nr. 36 Bd. 2, Bl. 289 ff. (unveröffentlicht). LG III Berlin, a.a.O., UA S. 6 f. LG III Berlin, a.a.O., UA S. 7. Herzfelde, „Ecce homo“, SMB-ZA, V/Künstlerdokumentation George Grosz (Ecce homo, Bl. 1). LG III Berlin, Urteil vom 16.02.1924, Urteilsausfertigung (UA) S. 7, GStA PK, I. HA Rep. 76, Ve Sekt. 1 Abt. I Nr. 36 Bd. 2, Bl. 289 ff. (unveröffentlicht).

George Grosz vor Gericht

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Dann folgte doch die übliche Litanei41, so, als habe man die Ausführungen der Sachverständigen, namentlich das Votum von Liebermann, nicht gehört42: Unzüchtig sind Bilder, wenn sie geeignet sind, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl des normal empfindenden Menschen in geschlechtlicher Beziehung[,] sei es auch nicht gröblich, zu verletzen. (R.G.Str. 4, S. 87; 8, S. 130; 21, S. 306; 24, S. 365; 27, S. 115; 32, S. 418). Maßgebend ist dabei, das Empfinden, das in den gesitteten Kreisen des Volkes herrscht, das Schamgefühl, das sich nach dem Durchschnittsempfinden der Gesamtheit bestimmt. (R.G.St. 32, S. 418; 44, S. 179). Die Angeklagten haben sich zwar gegen diese Anschauung gewendet. Aber wie das Reichsgericht mit Recht hervorhebt, hat die Bestimmung des § 184 Str.G.B. den Zweck, die im Volke allgemein bestehenden Begriffe von Scham, Sitte und Anstand in geschlechtlichen Dingen davor zu schützen, daß ein einzelner sie verletze; da es sich hierbei um eins der idealen Güter handelt, die dem ganzen Volk eigen sind, so muß hier notwendigen Weise das Durchschnittsempfinden der Gesamtheit für Zucht und Sitte als Gegenstand dieses Schutzes angesehen werden. Dann kann es aber nicht jemand erlaubt sein, dies Empfinden zu verletzen. Auch ein Künstler von anerkannter Fertigkeit kann gegen dieses Empfinden verstoßen, indem er seine Kunst an anstößige Stoffe wendet. Dabei ist es nicht erforderlich, daß die Bilder zur Erregung geschlechtlicher Lüsternheit hergestellt und geeignet sind. Sie müssten allerdings geeignet sein, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung zu verletzen. Dieser Erfolg kann auch verursacht werden durch Bilder, die eine geschlechtliche Beziehung haben, und welche durch die Art und den Gegenstand ihrer Darstellung in dem normalen, unbefangenen Beschauer Widerwillen oder Abscheu, keineswegs geschlechtliche Lüsternheit hervorrufen. (R.G.Str. Bd. 31, S. 260). Ebensowenig ist es notwendig, daß ein Bild etwas unmittelbar zur Anschauung bringen muß, um unzüchtig zu werden; es kann auch durch das unzüchtig werden, was es nur andeutet oder ahnen läßt.

Die Angeklagten wurden jeweils zu einer eher moderaten Geldstrafe in Höhe von 500 Reichsmark43 verurteilt. Herzfelde zufolge44 waren sich die zwölf

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Siehe dazu o.V., Vossische Zeitung vom 17.02.1924: „Immer wieder wird Künstlern und Kunstfreunden jene berühmte Entscheidung des Reichsgerichts vorgehalten [gemeint ist wohl RGSt 32, 418 vom 24.11.1899, USch], daß ein Kunstwerk, auch wenn es nicht die Lüsternheit erregt, doch als unzüchtig anzusehen sei, wenn es das Scham- und Sittlichkeitsgefühl des normal empfindenden Menschen auch nur leicht verletzt. Es ist wahrlich höchste Zeit, daß die höchste Justizbehörde sich zu anderen Formulierungen entschließt“. LG III Berlin, Urteil vom 16.02.1924, Urteilsausfertigung (UA) S. 7 f., GStA PK, I. HA Rep. 76, Ve Sekt. 1 Abt. I Nr. 36 Bd. 2, Bl. 289 ff. (unveröffentlicht). Die gelegentlich zu lesende Summe von 6.000 Reichsmark ist unzutreffend; siehe dazu Neugebauer: George Grosz, S. 112 Fn. 14. Herzfelde: „Ecce homo“, SMB-ZA, V/Künstlerdokumentation George Grosz (Ecce homo, Bl. 1).

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Geschworenen nicht einig und hätten (nur) mit 8:4 für schuldig gestimmt45. Und das Landgericht verfügte lediglich, dass von fünf der 16 Aquarellreproduktionen und von 17 der 84 Zeichnungen „alle Exzemplare [sic] … sowie die zur Herstellung dieser Bilder bestimmten Platten und Formen“ unbrauchbar zu machen seien. Die Revisionen der Angeklagten verwarf das Reichsgericht am 2. Juni 192446 – auch dieses Urteil, das zur Folge hatte, dass Grosz ein zweites Mal zu einer Geldstrafe wegen den Zeichnungen einer Mappe verurteilt war, ist unveröffentlicht und soll deshalb hier in seinen Kernaussagen dokumentiert werden: Die Frage, ob das Werk „Ecce Homo“, als ganzes betrachtet, als ein Kunstwerk mit erzieherischen Zielen angesehen werden kann, hat die Strafkammer unentschieden gelassen. Sie ist jedoch im Anschluß an das Urteil des Reichsgerichts R.G.Str. Bd. 37 S. 315 der rechtlich zutreffenden Ansicht, daß, auch wenn diese Frage nach den Gutachten der darüber vernommenen Sachverständigen zu bejahen wäre, die einzelnen Bilder einer Nachprüfung auf die Unzüchtigkeit „ihrer Darstellung“, d.h. des in ihnen Dargestellten, nicht entzogen sind. In der Entscheidung R.G.Str. Bd. 24 S. 367 ist allerdings anerkannt, daß so wenig wie der unverhüllte männliche oder weibliche Körper selbst, ebensowenig auch dessen bildliche Darstellung an sich mit Zucht oder Unzucht etwas zu tun hat. Zugleich hebt aber das Urteil ausdrücklich hervor, daß der Hinzutritt besonderer Umstände wie beispielsweise sinnfällig hervortretender geschlechtlicher Beziehungen, dasjenige, was zunächst nur die natürliche Erscheinung des natürlichen Menschen ist, zu einer unsittlichen oder schamlosen Erscheinung umzuwandeln vermag. Im Einklang mit dieser Auffassung weist die Strafkammer namentlich auf die vielfach „aufdringliche“ Zeichnung der weiblichen Brüste und Geschlechtsteile besonders hin. In demselben Sinne ist ihr Ausspruch zu verstehen, daß auch ein Künstler von anerkannter Fertigkeit gegen das Durchschnittsempfinden der Gesamtheit für Scham und Sitte verstoßen könne, indem er seine Kunst an „anstößige“ Stoffe wende. Gemeint sind damit solche Stoffe, die durch die Art der Darstellung bei dem maßgeblichen Durchschnittsempfinden Anstoß erregen. Ob der Ansicht der Strafkammer, daß ein Bild auch durch das, was es nur andeutet oder „ahnen“ läßt, unzüchtig werden könne, in dieser Allgemeinheit beigetreten werden kann, bedarf bei Lage des Falles keiner Erörterung. … Das angegriffene Urteil macht vielmehr dem Angeklagten Grosz zum Vorwurf, daß er durch die Art der Darstellung das Geschlechtliche unmittelbar … in schamverletzender Weise „betont“ hat.

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Diese riesigen Schwurgerichte (mit sehr weiter sachlicher Zuständigkeit) wurden erst kurze Zeit später, zum 01.04.1924, abgeschafft (Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 04.01.1924, sog. „Emminger-Reform“). RG, Urteil vom 02.06.1924 – II 492/24, GStA PK, I. HA Rep. 76, Ve Sekt. 1 Abt. I Nr. 36 Bd. 2, Bl. 29 ff. (unveröffentlicht).

George Grosz vor Gericht

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III. Mappe „Hintergrund“ Das nächste Strafverfahren gegen Grosz, der wohl bekannteste Kunstprozess der Neuzeit, gipfelte wenige Jahre später in einem spektakulären Urteil des Reichsgerichts und einem nicht minder spektakulären endgültigen Freispruch durch das Landgericht III Berlin. Der Prozess verlief über fünf Instanzen und dauerte fast drei Jahre. Es ging um drei Blätter einer wiederum im Malik-Verlag veröffentlichten Mappe von Grosz. Am meisten Aufsehen erregte eine Zeichnung, die Christus am Kreuz mit Gasmaske und Soldatenstiefeln mit der Bildunterschrift „Maul halten und weiter dienen” zeigte. Die Auseinandersetzung um die drei Graphiken von Grosz aus dem Jahr 1928 hatte ihren Ausgangspunkt in den „Abenteuern des braven Soldaten Schweijk”, einem im Ersten Weltkrieg spielenden antimilitaristischen und satirischen Schelmenroman von Jaroslav Hašek. Die Schriftsteller Hans Reimann und Max Brod erwarben die Dramatisierungsrechte am „Schwejk“ und bearbeiteten den Stoff „Monate lang“ mit dem Ziel, „den Geist Hascheks [sic] auf die Bühne zu bringen“47. Das Stück sollte im Berliner Theater am Nollendorfplatz unter der Regie von Erwin Piscator aufgeführt werden. Die 1927 eröffnete Piscator-Bühne wurde zum Inbegriff für das Avantgardetheater der 1920er Jahre. Piscator war mit dem Bühnenmanuskript nicht zufrieden – er empfand es als witzigen Militärschwank, er wollte eine stärker satirische Fassung – und überarbeitete es mit Grosz48; die beiden kannten sich seit den Tagen von Dada Berlin. Etwas überraschend, hatte doch Grosz noch im August 1926 an einen Freund, den Kunsthistoriker Eduard Plietzsch, geschrieben49, er habe den „Schwejk“ „angefangen“, der sei ihm aber „zu ʻfeinerʼ Humor. Nichts für mich.“ Piscator und Grosz („eine verdammt nette Zeit“50) entwickelten völlig neue Bühnenideen. Im Bühnenhintergrund war ein überdimensioniertes Papierband angebracht, auf das Grosz begleitend zur Handlung einzelne Szenenbilder und Schwejk-Texte gezeichnet hatte51. Weiter gab es einen in den Hintergrund projizierten Film, der unter anderem stark vergrößert zahlreiche von etwa 300 von Oktober bis Dezember 1927 für diesen Zweck angefertigte Grosz47 48 49 50 51

Brod, Die Weltbühne Nr. 49/1929, S. 844. Auch Bertolt Brecht, der russische Autor Leo Lania und der deutsch-italienische Schriftsteller Felix Gasbarra arbeiteten vermutlich am Bühnenmanuskript mit. Brief an Eduard Plietzsch vom 16.08.1926, in: Herbert Knust (Hrsg.), George Grosz, Briefe 1913–1959, 1979, S. 99. Brief an Erwin Piscator vom 03.05.1935, in: Knust (Hrsg.), a.a.O., S. 215. Hierzu und zum Folgenden siehe auch ausführlich v. Becker, NJW 2005, 559 ff.

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Zeichnungen zeigte; auch wurden weitere der Grosz-Zeichnungen als Dias in Überblendtechnik auf die Leinwand projiziert52. Die Uraufführung fand am 23. Januar 1928 statt. Von den Theaterbesuchern nahm niemand Anstoß an Grosz’ Hintergrundbildern. Der Kritiker Franz Servaes sprach nach der Premiere von „kecken und manchmal frechen Karikaturen“53. Wenige Wochen nach der Uraufführung der „Schwejk”-Inszenierung erschien im Frühjahr 1928 in einer Auflage von 10.000 Exemplaren Grosz’ „Hinter-grund”Mappe, bestehend aus 17 Blättern mit Zeichnungen, die (deshalb der Titel) dem Bühnenhintergrund der Inszenierung entsprachen. Diese Blätter illustrieren einerseits Stationen aus Schwejks Abenteuern, verfremden diese aber gleichzeitig zu eindringlich anklagenden Sinnbildern der extremen Gräuel des Ersten Weltkriegs. Den größten Anstoß verursachte die erwähnte Zeichnung auf Blatt Nr. 10, die Christus am Kreuz mit Gasmaske und Kommissstiefeln, in der linken erhobenen Hand ein Kreuz haltend, zeigt. Bei dem dort wiedergegebenen Satz „Maul halten und weiter dienen“ handelt es sich um ein Originalzitat aus dem „Schwejk“-Roman. Im 2. Kapitel des 1. Teils („Der brave Soldat Schwejk auf der Polizeidirektion“) trifft Schwejk in einer Gefängniszelle auf Mitgefangene, die ihre Unschuld beteuern. Darauf entgegnet Schwejk: Jesus Christus war auch unschuldig … und sie ham ihn auch gekreuzigt. Nirgendwo is jemals jemandem etwas an einem unschuldigen Menschen gelegen gewesen. ʻMaulhalten und weiterdienen!ʼ – wie mans uns beim Militär gesagt hat. Das is das Beste und Schönste.

Seinen Ausgang nahm das Strafverfahren wegen dieser und zwei weiterer vermeintlich gotteslästerlichen Zeichnungen der „Hintergrund“-Mappe gegen Grosz (und wiederum gegen seinen Verleger Herzfelde) nach mehreren anonymen Anzeigen auf Initiative des sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel, der am 15. März 1928 die Staatsanwaltschaft beim Landgericht III Berlin um „Entscheidung zur Frage des Einschreitens aus § 166 des Strafgesetzbuches54 und der Beschlagnahme der Blätter 9 und 10“ ersuchte55. 52 53

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Siehe näher Neugebauer, George Grosz, S. 126 f. Franz Servaes, Melde gehorsamst – ein Durchfall! Jaroslav Hašeks „Schwejk“ auf der Piscator-Bühne, Berliner Lokal-Anzeiger vom 24.1.1928, zit. nach Neugebauer, a.a.O., S. 128. Damals, von 1872 bis 1953 unverändert, lautete § 166 RStGB wie folgt: „Wer dadurch, daß er öffentlich in beschimpfenden Äußerungen Gott lästert, ein Ärgernis gibt, oder wer öffentlich eine der christlichen Kirchen … oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft, ingleichen wer in einer Kirche oder in einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft“. § 166 RStGB umfasste also drei Alternativen: die eigentliche Gotteslästerung, die Kirchenbeschimpfung und die Störung der Religionsausübung. Zit. nach Neugebauer, George Grosz, S. 148.

George Grosz vor Gericht

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Auf Antrag der Staatsanwaltschaft beim Landgericht III Berlin vom 24. März erging ein Beschlagnahmebeschluss des Amtsgerichts Charlottenburg vom 26. März 1928 hinsichtlich der Blätter 9 und 10 sowie zusätzlich von Blatt 256: Diese Zeichnungen allein und in Verbindung mit der Unterschrift stellen öffentliche Beschimpfungen von Einrichtungen der christlichen Kirchen (Christusverehrung, Predigtamt, Priestertum) im Sinne des § 166 St.G.B. dar und unterliegen gemäss § 41 St.G.B. der Unbrauchbarmachung.

Der Beschluss wurde am 4. April 1928 vollzogen57: Es sind in Berlin im ganzen je 3690 Stücke der Zeichnungen 2, 9 und 10 der Mappe ʻHintergrundʼ beschlagnahmt worden … Ferner sind … bei der Arbeiterbuchhandlung in Magdeburg … je 4 Exemplare der Zeichnungen beschlagnahmt worden.

Am 5. Mai 1928 erhob die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage wegen Vergehens gegen § 166 RStGB, genauer gesagt wegen Gotteslästerung und Beschimpfung von Einrichtungen der christlichen Kirchen. Grosz und Herzfelde beauftragten gemeinsam am 7. September 1928 Alfred Apfel, einen der großen Strafverteidiger der Weimarer Republik (als Rechtsanwalt in vielen auch politischen Prozessen verteidigte er unter anderem v. Ossietzky im „Weltbühne“-Prozess) mit ihrer Verteidigung: Da die Angriffe gegen die Freiheit sich in erschreckender Weise vervielfacht hatten …, entschied ich mich dafür, diesen Fall mit allergrößter Energie zu verteidigen,

schrieb Apfel später58.

1. Das Schöffengericht Charlottenburg Das Verfahren kam vor das (Erweiterte59) Schöffengericht Charlottenburg, Abteilung 57.

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Faksimile des Beschlusses, in: Der Malik-Verlag 1916–1947. Eine Verlagschronik, 1986, S. 125. Faksimile des Schreibens des Polizeipräsidenten, in: Der Malik-Verlag, a.a.O., S. 126. Apfel, Hinter den Kulissen der deutschen Justiz, S. 70. § 29 Abs. 2 GVG lautete damals, sachlich nicht so viel anders als heute: „Ein zweiter Amtsrichter ist zuzuziehen, falls die Staatsanwaltschaft es bei Einreichung der Anklageschrift beantragt. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag nur stellen, wenn die Zuziehung eines zweiten Amtsrichters nach Umfang und Bedeutung der Sache notwendig erscheint“.

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Uwe Scheffler Schon nach wenigen Minuten spürte ich, dass der Vorsitzende des Schöffengerichts über den Geist der Zeichnung ʻChristus mit der Gasmaskeʼ empört war,

erinnerte sich Apfel60. „Er glaubte an die Heiligkeit des Krieges.“ Vorsitzender war Landgerichtsdirektor Dr. Walter Tölke, im Ersten Weltkrieg Leutnant der Reserve, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse, seit 1918 Mitglied der DNVP61. Das Gericht verurteilte die beiden Angeklagten am 10. Dezember 1928, den Strafantrag der Staatsanwaltschaft verdoppelnd, (nur) aufgrund des Christusbildes auf Blatt 10 der Mappe wegen „Angriffs auf eine Einrichtung der christlichen Kirchen, nämlich der Christusverehrung“, also nach der 2. Alternative des § 166 RStGB, der sogenannten Kirchenbeschimpfung, zu einer Geldstrafe von je 2.000 Reichsmark. Gotteslästerung im engeren Sinn gemäß der 1. Alternative lehnte das Schöffengericht ab62. Aber: „Die Zeichnungen Nummer 10 werden eingezogen. Die dazugehörigen Platten sind unbrauchbar zu machen.“ In der Begründung führte das Schöffengericht aus63: … in Bild 10 [ist] unverkennbar Christus selbst als Träger und Symbol jenes christlichen Glaubens … das Angriffsobjekt. Bei der Auslegung des in diesem Bilde und seiner Unterschrift verkörperten Gedankens hat das Gericht nach freier Überzeugung zu entscheiden. Es ist dabei als allgemein gültige Auslegungsregel auch der Grundsatz zu erachten, daß, soweit der Wortlaut einer Gedankenäußerung nicht durchaus eindeutig ist, der Sinn der Äußerung aus den Nebenumständen, insbesondere aus dem Zusammenhang, aus dem Zwecke und dergleichen zu erforschen ist … das Gericht [sieht sich] nicht in der Lage, der Auslegung zu folgen, die der Angeklagte Grosz seiner Darstellung gegeben hat.

Grosz hatte, dem stenographischen Protokoll der Hauptverhandlung zufolge, bei der Vernehmung durch den Vorsitzenden Richter Tölke auf dessen Frage, was die Worte „Maul halten und weiter dienen“ denn „zum Ausdruck bringen“ sollten, erklärt64: Dieses Blatt ist als eine kleine Randnotiz zu dem Buch von Schweijk entstanden. Da ist in einem Kapitel etwa folgendes geschildert – ich erzähle es ganz grob, weil

60 61

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Apfel, Hinter den Kulissen der deutschen Justiz, S. 70. In der Vernehmung Grosz’ interessierte er sich auch zunächst einmal ausführlich für den Soldaten Grosz: „Haben Sie den Krieg mitgemacht? … In welcher Eigenschaft? … Bei der Infanterie? … Sind Sie im Westen gewesen? … Wann sind Sie ins Feld gekommen? … Sind Sie da auch nochmal an die Front gekommen? … Also 1914/15 sind Sie kürzere Zeit an der Front im Westen gewesen? … Verwundet worden sind Sie nicht?“ (O.V, Das Tage-Buch 51/1928, S. 2211). Die 3. Alternative („… wer in einer Kirche oder in einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte beschimpfenden Unfug verübt“) spielt in diesem Fall ohnehin keinerlei Rolle. Zit. nach Tucholsky, Die Weltbühne Nr. 12/1929, S. 435 f. O.V, Das Tage-Buch 51/1928, S. 2215.

George Grosz vor Gericht

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ich mich im einzelnen auch nicht mehr so genau darauf entsinnen kann65. Da liegen zwei Soldaten auf einer Pritsche in einer Zelle, glaube ich, und erzählen sich beide Kriegserlebnisse. Sie schimpfen auf den Krieg. Da sagt dann der eine ungefähr: Ja, Maul halten und weiter dienen. Als ich diese Schilderung las, entstand das Blatt so ungefähr in meiner Vorstellung. Ich stellte mir vor, daß Christus jetzt kommen würde. Ich darf hier bemerken, daß ich gar nicht eine so besondere Sympathie für Christus habe. Ich sehe ihn hauptsächlich als einen Menschen, der die Liebe predigte. Ich dachte also: wenn Christus plötzlich so ankommen würde! Natürlich wird das nicht vorkommen, er wird nicht zurückkehren, und wenn, dann würde er nicht in den Schützengraben kommen. Aber ich bin eben ein altertümlicher Mensch und habe mir so vorgestellt, daß Christus zwischen den Schützengräben herumgeht und verkündet: Liebet euch untereinander. Ich dachte mir: in demselben Moment würde man ihn packen, ihm eine Gasmaske geben und Militärstiefel anziehen, also kurz, man würde ihn überhaupt nicht verstehen. Also hier kommt Christus sogar sehr gut weg. Er wird von einer anderen Macht vergewaltigt.

Auf die Zwischenfrage des Vorsitzenden „Soll ‘Maul halten und weiter dienen!ʼ ein Wort sein, das an ihn [Christus] gerichtet wird, oder eins, das er spricht?“, antwortete Grosz: Das wird an ihn gerichtet. Die tiefere Vision dieses Blattes ist nämlich die: die einfache gekreuzigte Kreatur, die doch im Grunde genommen lebenserhaltend ist.

Das Schöffengericht überzeugte dies nicht; es sah sich „nicht in der Lage, der Auslegung zu folgen, die der Angeklagte Grosz seiner Darstellung gegeben hat“66: Nach der ganzen Anlage der Zeichnung müssen die Worte der Unterschrift „Maul halten und weiterdienen“ nicht als an Christus gerichtet, sondern als von ihm gesprochen aufgefaßt werden. Die starke Wirkung des Bildes beruht zum großen Teil darauf, daß die Christusfigur allein abgebildet ist, ohne jedes Beiwerk von Personen und sonstigen Requisiten ... Neben der Gasmaske und den Soldatenstiefeln lenkt das erhobene Kreuz in der linken Hand des gekreuzigten Christus die Blicke auf sich ... Wären auf dem Bilde noch andre Personen gezeichnet oder wären die Gasmaske und die Soldatenstiefel die einzigen Besonderheiten, so würde die Behauptung des Angeklagten, er habe die ans Kreuz geschlagene Menschheit darstellen wollen, an die jene die Unterschrift bildenden Worte gerichtet wurden, noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben. Aber gerade die besonders ins Auge fallende Abweichung von der sonstigen Darstellung des gekreuzigten Christus, nämlich das stark und sichtbar gezeichnete Kreuz in der linken Hand, gibt dem Bild die Wirkung, die es nach der Ansicht des Gerichts auf den Beschauer haben muß: Christus, für seine Lehre ans Kreuz geschlagen, hat für die Menschheit im Kriege, mit dessen Symbolen Gasmaske und Kommißstiefel man ihn bekleidet hat, trotz seines eignen Opfers auch nur den Trost und die Worte „Maul halten und 65

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Vermutlich meinte Grosz die Episode am Anfang des 2. Kapitel des 1. Teils („Der brave Soldat Schwejk auf der Polizeidirektion“), obwohl diese von seiner Schilderung nicht unerheblich abweicht. Im 8. Kapitel des 1. Teils („Schwejk als Simulant“) kommt der Ausspruch „Maul halten und weiterdienen“ in Hašeks Roman nochmals vor. Zit. nach Tucholsky, Die Weltbühne Nr. 12/1929, S. 435 f.

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Uwe Scheffler weiterdienen“. Das Kreuz in seiner Hand gibt der ganzen Darstellung erst das typische; es wirkt in Verbindung mit den Worten der Unterschrift wie ein Ausrufungszeichen, Christus ruft diese Worte im Zeichen des Kreuzes der Menschheit zu. Es erscheint auch unverständlich. welchen Sinn diese Worte, wenn sie an den sterbenden Christus gerichtet würden, haben sollten.

Das Urteil löste besonders unter linken Intellektuellen Entrüstung aus – Kurt Tucholsky kommentierte es in der „Weltbühne“67: Die Worte „Maul halten und weiterdienen“ werden selbstverständlich nicht von dem am Kreuze hängenden Christus gesprochen – wenn überhaupt diese oberlehrerhafte Feststellung von irgendwelchem Werte ist. … Dem steht entgegen, daß er eine Gasmaske trägt, so daß also die Worte „Maul halten und weiterdienen“ nur als dumpfes Gemurmel, nicht aber als artikulierte Wörter an das Ohr der Außenwelt zu dringen vermöchten … Es ist aber auch dem Sinn des Bildes widersprechend, wenn angenommen wird, Christus spräche. Die gebeugte, gefesselte, mit einer Gasmaske geknebelte Gestalt ist wohl zu allerletzt berufen, einen Befehl zu erteilen – ihre ganze Haltung drückt genau das Gegenteil aus. Wenn das Gericht hinzufügt: „Es erscheint unverständlich, welchen Sinn diese Worte, wenn sie an den sterbenden Christus gerichtet würden, haben sollten“, so begeht es einen doppelten Denkfehler. Es wird damit zunächst unterstellt, als müßten die Worte entweder von Christus gesprochen oder an ihn gerichtet sein, was falsch ist. Die Worte werden von niemand gesprochen und sind leiblich an niemand gerichtet – kein Mund und keine Ohren sind zu konstruieren. Es ist aber auch falsch, daß die Worte, an Christus gerichtet, keinen Sinn ergäben. Der Sinn, den sie haben, ergibt sich aus der Tendenz der Bildermappe. Die Worte sind vom Zeichner hinzugefügt, sie werden über den Christus hinweggesprochen, und zwar zur Menschheit, die in den Krieg getrieben wird – unter dem Zeichen des Kreuzes ... Das und nur das hat George Grosz gezeichnet und empfunden.

Desgleichen war die Staatsanwaltschaft mit dem – freilich ihrer Ansicht nach zu milden – Urteil des Schöffengerichts Charlottenburg unzufrieden; sie legte, wie auch Verteidiger Apfel für Grosz und Herzfelde, schon am 11. Dezember 1928 Berufung zum Landgericht ein. Die Erfolgsaussichten für die Berufung der Angeklagten schätzte Verteidiger Apfel „minimal“ ein68, weil der Kammervorsitzende Siegert als einer der strengsten Richter mit reaktionären Überzeugungen galt und die Presse der Rechten ebenso wie die katholischen und die protestantischen Blätter das erste Urteil enthusiastisch begrüßt hatten.

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Tucholsky, a.a.O., S. 436 f. Apfel, Hinter den Kulissen der Justiz, S. 70.

George Grosz vor Gericht

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2. Das Landgericht III Berlin Am 10. April 1929 kam es dann zur Berufungsverhandlung. Die 2. Große Strafkammer des Landgerichts III Berlin unter Vorsitz des 60-jährigen Landgerichtsdirektors Julius Siegert hob das Urteil auf und sprach die Angeklagten „gegen alle Erwartungen … glänzend frei“69. Moritz Goldstein, Gerichtsreporter der Vossischen Zeitung, lobte nicht nur das Ergebnis70: Unter der Leitung dieses überlegenen und kultivierten Mannes wurde die … Verhandlung zu einer kunstphilosophischen Diskussion, tiefschürfend und aufschlussreich.

Siegert holte schon in der mündlichen Urteilsbegründung weit aus, ihm gelangen Sätze von großer, modern anmutender Prägnanz71: Millionen von Menschen sind heute Kriegsverneiner. In ihren Dienst hat sich George Groß [sic] gestellt und hat als der Meister der Graphik, der er ist, ihren Empfindungen Ausdruck verliehen. Wenn man diese Millionen an seinen Blättern vorbeiführte, so würden sie sich wohl begeistern. Die Kunst muß frei sein, sie darf nicht in eine Zwangsjacke gesteckt werden. Was ihr offen steht und was ihr verboten ist, darf vor allen Dingen nicht nach der Meinung derjenigen beurteilt werden, die sie nicht verstehen. Alle Interessen können nicht geschützt werden, es müssen vielmehr die verschiedenen Interessen nach ihrem kulturellen Wert abgeschätzt werden. Dabei überwiegt das Interesse der Kunst.

In den schriftlichen Urteilsgründen, in denen es um die konkrete juristische Subsumtion geht, führte die Strafkammer zunächst einmal aus, dass die 1. Alternative des (damaligen) § 166 RStGB, die eigentliche „Gotteslästerung“ – „ein Ärgernis“ geben, indem jemand „öffentlich in beschimpfenden Äußerungen Gott lästert“ – von vornherein abzulehnen sei72: Zur Beurteilung der Schuldfrage ist zunächst festzustellen, daß der Tatbestand der Gotteslästerung schon deswegen ausscheidet, weil nach § 166 StGB. hierzu beschimpfende Äußerungen vorliegen müssen, die nur mündliche oder schriftliche sein können, während bildliche Darstellungen nicht darunter fallen. Die unter den Bildern befindlichen Unterschriften … kommen nach dieser Richtung hin nicht in Betracht, weil die Unterschriften ohne die bildlichen Darstellungen unverständlich sind und letztere den überragenden Wert darstellen, so daß die bildlichen Darstellungen allein für diese Frage in Betracht kämen.

Zu prüfen sei aber die 2. Alternative des § 166 RStGB, die Kirchenbeschimpfung73:

69 70 71 72 73

Apfel, a.a.O. Goldstein, Vossische Zeitung vom 11.04.1929 (Morgenausgabe). Zit. nach Goldstein, a.a.O. LG III Berlin, Die Weltbühne Nr. 19/1929, S. 708 (708 f.). LG III Berlin, a.a.O., S. 709.

318

Uwe Scheffler Die Anklage wirft den Angeklagten auch nur Beschimpfung kirchlicher Einrichtungen, nämlich des Priestertums, des Predigtamts und der Christusverehrung vor; zur Beurteilung dieses Tatbestandes und der darauf bezüglichen Schuldfrage ist davon auszugehen: Was hat der Angeklagte Grosz gewollt?

Die Strafkammer referierte zunächst die Einlassung von Grosz74: Erfüllt von seinen eignen Erfahrungen als Kriegsteilnehmer und infolge seiner Einstellung als Kriegsgegner habe er die durch den Krieg und an seinen Folgen leidende Menschheit wachrütteln und auf das Unsinnige des Krieges hinweisen wollen. Insbesondere habe er auch die Stellungnahme der Kirche kennzeichnen wollen, soweit sie durch kriegshetzende Vertreter ihrer Lehre entgegen dem Kriegsgeist unterstützt habe. Die Unterschriften unter den einzelnen Bildern seien weiter nichts als eine Unterstreichung der satirischen Kraft und Eindringlichkeit der bildlichen Darstellungen. Eine Verletzung religiöser Gefühle oder eine Herabwürdigung kirchlicher Einrichtungen habe weder in seiner Absicht gelegen, noch sei er sich dessen bewußt gewesen. Ihm sei es nur auf die Kriegsbekämpfung angekommen.

Die Strafkammer problematisierte hier vor allem das Bild Nr. 10, den „Christus mit der Gasmaske“75: Der Künstler hat zeigen wollen: So wenig Gasmaske und Soldatenstiefel zum Christusbild passen, genau so wenig paßt die Lehre der kriegshetzenden Vertreter der Kirche zur eigentlichen christlichen Lehre. Er will zeigen: Das habt Ihr, die Ihr den Krieg predigt, aus Christus gemacht; so sieht der Christus aus, in dessen Namen Ihr den Krieg unterstützt. Wenn der Künstler weit, sehr weit ging und selbst vor dem höchsten Symbol der christlichen Kirche, dem Kruzifix, nicht Halt machte, so beweist das nur, wie ernst es ihm mit dem Aufzeigen einer seiner Meinung nach falschen christlichen Lehre ist. Grade das höchste Symbol der Kirche erschien ihm geeignet, der Menschheit und der Kirche die Irrlehre ihrer Kriegshetzer sinnfällig und überzeugend darzutun. … Eine etwaige Nebenabsicht, Einrichtungen der Kirche herabzuwürdigen, ist nicht erkennbar. Wenn Grosz zeigt, wie durch krieghetzerische Kirchenvertreter die christliche Lehre ins Gegenteil verkehrt und dadurch herabgewürdigt werde, so zeigt er damit noch längst nicht, daß er selbst dies tun will.

Sodann beschäftigte sich das Berufungsgericht ausführlich damit, ob die Bilder, namentlich der „Christus mit der Gasmaske“, in strafrechtlich relevanter Weise religiöse Gefühle verletzt haben könnten, was es letztlich verneint76: Die Sprache der Bilder ist … so einseitig und eindringlich, daß auch das geringste Nachdenken schon die Absicht des Künstlers erkennen läßt, die dahin geht und nur dahin geht, den Kriegsgedanken zu bekämpfen und Auswüchse der Kirche zu geißeln, soweit sie den Kriegsgedanken betreffen. Allgemein wird man daher sagen müssen, daß die meisten Menschen den Künstler begreifen und sich deshalb in ihren religiösen Empfindungen nicht verletzt fühlen werden. …

74 75 76

LG III Berlin, a.a.O. LG III Berlin, a.a.O., S. 710. LG III Berlin, a.a.O., S. 712.

George Grosz vor Gericht

319

Weiter lassen sich auch Menschen denken, welche die Bilder richtig verstehen, sich aber trotzdem in ihren religiösen Gefühlen verletzt glauben. Diesen Menschen wird man vorhalten müssen, daß die kirchlichen Einrichtungen zwar vor Kundgebungen grober Mißachtungen geschützt, dadurch aber nicht der Kritik, auch der bildlichen, entzogen sind. … Schließlich wird es Menschen geben, die in den Sinn der Groszschen Bilder nicht einzudringen vermögen und nur das Äußere auf sich wirken lassen. Wenn gleichwohl solchen Menschen die Kunst nicht vorenthalten werden soll, so kann doch unmöglich ihre Ansicht die Grenze der Kunstausübung darstellen, wenn anders nicht die Kunst in eine Zwangsjacke hineingeraten soll, in die sie nicht hineingehört. Dann wäre es der Kunst unmöglich, ihre kulturelle Mission am Volke zu erfüllen.

Zumindest fehle es aber ohnehin am Vorsatz von Grosz77: Aber selbst wenn man nicht so weit gehen will und eine objektive Verletzung kirchlicher Einrichtungen durch die Bilder Nummer 2, 9 und 10 als gegeben ansieht, ist weiter zu untersuchen, ob der Künstler damit gerechnet und somit den Vorsatz dazu gehabt hat. … Seinen Bildern haftet unverkennbar der Eifer an, mit dem er seinen Zweck der Kriegsbekämpfung verfolgt. Daß er hierneben noch das Bewußtsein gehabt haben könnte, seine Bilder drückten Mißachtung kirchlicher Einrichtungen aus und noch dazu in roher verletzender Form, oder daß er eine rohe Gesinnung dadurch zum Ausdruck bringen wollte, ist durch Nichts erkennbar. … Die Annahme, daß seine Bilder nicht oder gar falsch verstanden werden könnten, lag ihm, der sein Streben so offen kundgab, völlig fern.

Bemerkenswert, dass die Strafkammer zu der für das Schöffengericht Charlottenburg als Vorinstanz so entscheidende „oberlehrerhafte“78 Frage, wem denn nun die Worte „Maul halten und weiter dienen“, zuzuordnen seien, kein einziges Wort verlor. Der unerwartete Freispruch durch die Strafkammer unter dem Vorsitz von Siegert sah Verteidiger Apfel als „ein Beispiel dafür, dass es auch unter den deutschen Richtern aufrechte und dem Recht verpflichtete Männer gab“79. V. Ossietzky beschrieb Richter und Urteil in der „Weltbühne“ so80: Herr Siegert ist kein bon juge, kein Richter, dem am Beifalle der Journale gelegen wäre, wohl aber die stärkste und charaktervollste Persönlichkeit in Moabit, ein überlegener Jurist zudem, dessen Entscheidungen immer stichfest sind. … Die Urteilsbegründung des Landgerichtsdirektors Siegert ist allgemein mit einem Seufzer der Erleichterung aufgenommen worden. Endlich einmal ein Richter, der in dem Millenarprozeß zwischen Künstler und Priester zugunsten des Künstlers ent-

77 78 79 80

LG III Berlin, a.a.O., S. 712 f. Tucholsky, Die Weltbühne Nr. 12/1929, S. 436. Apfel, Hinter den Kulissen der Justiz, S. 70. v. Ossietzky, Die Weltbühne Nr. 10/1930, S. 337.

320

Uwe Scheffler schied. … In Sätzen von klassischer Prägnanz hatte Herr Siegert dargelegt, daß der Künstler Grosz nicht ehrlichen, saubern Christenglauben hatte kränken wollen …“

„Nach diesem Freispruch verfiel die gesamte Rechte in Wutgeheul“, erinnerte sich Apfel81. Im preußischen Landtag wurde folgender Antrag eingebracht: „Ist der Minister bereit, den Richter Siegert seines Amtes zu entheben, der mit seiner Urteilsbegründung die Missbilligung der gesamten öffentlichen Meinung bewirkt hat?“ Die Staatsanwaltschaft legte Revision zum Reichsgericht ein, die dort der gerade ernannte Reichsanwalt Karl Schneidewin, später Generalstaatsanwalt beim Obersten Gerichtshof für die britische Zone und Honorarprofessor für Strafrecht an der Universität Köln, vertrat82. Schneidewin beantragte, das Freispruchsurteil in vollem Umfang aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Ferner beantragte er, das Verfahren an ein anderes Landgericht zu verweisen. „… der Herr Ankläger des Reichs … hofft“, so vermutete v. Ossietzky sicherlich zu Recht83, „auf zuverlässigere Richter, als Herr Siegert ist“84.

3. Das Reichsgericht in Leipzig Der II. Senat des Reichsgerichts unter dem Senatsvorsitzenden Wilhelm Witt hob am 27. Februar 1930 „in Übereinstimmung mit dem Antrage des Oberreichsanwalts“ das Urteil auf und verwies die Sache an die Vorinstanz zurück85 – aber entgegen dem Antrag Schneidewins wieder an das gleiche Landgericht. Das Reichsgericht „zerpflückte“ das Urteil der Strafkammer mit bisweilen harschen Worten, teilweise juristisches Neuland betretend. Denn „eigentlich“ war das Urteil „revisionssicher“, das heißt hieb- und stichfest gemacht: „Die Richter der Siegertkammer, die Grosz und Herzfelde freisprachen, sind … keine juristischen Kleinkinder“86. v. Ossietzky kommentierte87:

81 82

83 84

85 86 87

Apfel, Hinter den Kulissen der Justiz, S. 72. Im Simplicissimus 51/1930 verewigte Hans Seiffert (hs.) Schneidewin und seine Rolle im Verfahren gegen Grosz und Herzfelde in einem bitterbösen Gedicht: „Reichsanwalt Schneidewins Normalchrist“. v. Ossietzky, Die Weltbühne Nr. 10/1930, S. 338. Damals lautete § 354 Abs. 2 RStPO: „… ist die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht, dessen Urteil aufgehoben ist, … zurückzuverweisen.“ Erst 1965 wurde die Formulierung in „… an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichtes, dessen Urteil aufgehoben wird, zurückzuverweisen“, geändert. RGSt 64, 121 (130). Apfel, Die Weltbühne Nr. 26/1930, S. 955. v. Ossietzky, Die Weltbühne Nr. 10/1930, S. 337 f.

George Grosz vor Gericht

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Auf seinem eignen Felde war Siegert nicht zu schlagen, die Herren von der höchsten Instanz mußten also ein paar Kunststückchen anwenden, die für einen kleinen Amtsgerichtsrat die Strafversetzung ziemlich sicher nach sich ziehen würden.

Zunächst einmal monierte das Reichsgericht, dass die Strafkammer die eigentliche „Gotteslästerung“ in der 1. Alternative des § 166 RStGB überhaupt nicht geprüft hatte88: Denn zum einen könnten auch Bilder „Äußerungen“ im Sinne dieser Vorschrift darstellen – das war, so selbstverständlich uns das heute erscheint, damals völliges dogmatisches Neuland. „Mit kühnem Bogen“, so v. Ossietzky dazu89, „erweitert … das Reichsgericht …, entgegen der gesamten Judikatur, die Strafbestimmungen auch auf die bildliche Darstellung“: Das Berufungsgericht legt zunächst dar, daß von den drei Mischtatbeständen des § 166 StGB. der erste, der der Gotteslästerung, deswegen ausscheide, weil bildliche Darstellungen nicht unter den Begriff von Äußerungen fallen. Diese Rechtsansicht wird im Schrifttum vielfach vertreten; sie kann aber nicht als zutreffend anerkannt werden. Weder der Wortlaut der Vorschrift, nach der bestraft wird, wer dadurch ein Ärgernis gibt, daß er öffentlich in Beschimpfenden Äußerungen Gott lästert, noch ihre Entstehungsgeschichte nötigen zu dieser einengenden Auslegung. … Da gerade durch beschimpfende bildliche Darstellungen der Ehre und Heiligkeit Gottes Abbruch getan werden, gerade ein Bild sich durch seine unmittelbare Anschaulichkeit als besonders anstößig erweisen kann, so muß davon ausgegangen werden, daß in § 166 StGB. im ersten Satzteile unter „Äußerung“ auch diese Form der Kundgebung nach außen verstanden wird. … Voraussetzung einer Verurteilung der beiden Angeklagten würde jedoch sein, daß das Bild Nr. 10, das Christus am Kreuz mit einer Gasmaske vor dem Gesicht und mit Soldatenstiefeln an den Füßen darstellt und für das allein diese erste Begehungsform des § 166 StGB. in Frage steht, unter dem mindestens bedingten Einverständnis der Angeklagten bei dem unbefangenen Beobachter den Eindruck erweckt, als solle dadurch die Person Christi an sich, ihrem Wesen nach, gekennzeichnet und herabgewürdigt werden. … Nach dieser Richtung wird das Berufungsgericht den Sachverhalt hinsichtlich dieses Bildes von neuem zu prüfen haben.

Zum anderen habe die Strafkammer jede Prüfung über die Bedeutung der Unterschriften unter den Bildern unterlassen und nicht untersucht, ob nicht sie eine Äußerung auch in dem engeren, von ihm allein als strafbar angesehenen Sinn enthalten90.

Dieses Monitum war unzutreffend, denn die Strafkammer hatte dies geprüft und dazu ausgeführt91: „Die unter den Bildern befindlichen Unterschriften … kommen nach dieser Richtung hin“, nämlich als beschimpfende Äußerungen, 88 89 90 91

RGSt 64, 121 (121 ff.). v. Ossietzky, Die Weltbühne Nr. 10/1930, S. 338; siehe auch Apfel, Die Weltbühne Nr. 1/1932, S. 13. RGSt 64, 121 (123). LG III Berlin, Die Weltbühne Nr. 19/1929, S. 708 (709).

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Uwe Scheffler

„nicht in Betracht, weil die Unterschriften ohne die bildlichen Darstellungen unverständlich sind“. Sodann nähert sich das Reichsgericht der zweiten Alternative des § 166 RStGB, wonach derjenige bestraft wird, der „eine der christlichen Kirchen … oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft“, worauf zu untersuchen sich das Berufungsgericht „aus seiner rechtsirrigen Auffassung heraus“ beschränkt hatte92. Auch hier habe die Strafkammer jedoch alles falsch gemacht, indem sie davon ausgegangen sei, „welche Absicht der Künstler, der Angeklagte Grosz, bei der Herstellung … der Bilder verfolgt habe, und was er mit ihnen auszudrücken bestrebt gewesen sei“93. Eine daraus gezogene Folgerung vermöge jedoch die Handlungsweise des Angeklagten „nicht zu rechtfertigen“94: Denn es kommt zum mindesten bei der Feststellung des äußeren Tatbestands überhaupt nicht darauf an, welche Zwecke der Angeklagte verfolgte, sondern darauf, ob er die Angehörigen einer der christlichen Kirchen in ihren religiösen Empfindungen durch eine rohe Beschimpfung ihrer Einrichtungen und Gebräuche verletzt hat. … Denn nach dem Gesetz, das das religiöse Gefühl der gläubigen Anhänger der Religionsgesellschaften zu schützen bestimmt ist, kommt es darauf an, welche Wirkungen bei ihren überzeugten Anhängern die vom Angeklagten im Bilde Nr. 10 gewählte entstellende Art der Darstellung … hervorzurufen geeignet war und hervorrief, ob durch die Bilder das religiöse Gefühl solcher Mitglieder der christlichen Kirchen verletzt wird, die sich ebenso von übergroßer Reizbarkeit wie von Gleichgültigkeit fernhalten. … Denn das Gesetz will auch das schlichte Gefühl des einfachen, religiös gesinnten Menschen schützen, der das Bild unbefangen beschaut und die sinnlichen Wahrnehmungen in sich aufnimmt. Es genügt für den Tatbestand des § 166 StGB., daß ein Bild geeignet ist, in solchen Menschen als eine Beschimpfung der Kirche oder ihrer Einrichtungen und Gebräuche empfunden zu werden.

Schließlich genügten dem Reichsgericht „auch die Ausführungen des Berufungsgerichts zum inneren Tatbestande nicht, die Freisprechung des Angeklagten Grosz zu rechtfertigen“95: Der innere Tatbestand ist erfüllt, wenn der Angeklagte in dem Bewußtsein gehandelt hat, daß die gläubigen Angehörigen der christlichen Kirchen die Bilder auf Christus, auf seinen Erlösertod … und die Verkündung des Wortes Gottes beziehen und durch die rohe Form der Darstellungen in ihren religiösen Empfindungen gekränkt werden.

92 93 94 95

RGSt 64, 121 (123). RGSt, a.a.O., S. 124. RGSt, a.a.O., S. 125 f. RGSt, a.a.O., S. 129 f.

George Grosz vor Gericht

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4. Nochmals das Landgericht III Berlin Die gleiche Strafkammer des Berliner Landgerichts III96 sollte nun die Sache noch einmal neu verhandeln. Hinter den Kulissen ging es um die Frage, ob das unter dem Vorsitz von Siegert zu geschehen hatte, hoch her, wie Apfel berichtete97: Siegert trat einen langen Urlaub an, um sich dem Vorsitz bei dem neuen Verfahren zu entziehen. Die während seiner Abwesenheit anberaumten Verhandlungstermine konnten aber trotz aller Bemühungen der Staatsanwaltschaft nicht stattfinden, weil ich nicht zustimmte, dass meinem Mandanten der gesetzliche Richter entzogen werden solle. Nach seiner Rückkehr erklärte Siegert sich für befangen und damit ungeeignet, den Vorsitz zu führen, weil er bei der intensiven Befassung mit den Bildern des Angeklagten einen so starken Eindruck von den künstlerischen Absichten gewonnen habe, dass er sich nicht mit der gebotenen Objektivität mit den Hinweisen des Reichsgerichts auseinandersetzen könne. Aber die Kammer98 akzeptierte dies nicht, keiner der anderen Richter wollte in diesem dornigen Prozess den Vorsitz führen. Schließlich musste Siegert akzeptieren, der neuen Verhandlung vorzusitzen …

Aber nicht nur Siegert litt, sondern, wen verwundert es, auch Grosz. Apfel erreichte die Terminverlegungen (auch99) „wegen nervlicher Zerrüttung seines Mandanten“100. Grosz selbst kommentierte die Urteilsaufhebung und Zurückverweisung an das Landgericht als „scheußlich“; es liege ihm gar nicht, „coram Publikum meine Absichten auseinanderzupolken“101. Gerichtsreporter Goldstein hatte denn auch schon vom 1. Berufungsverfahren berichtet, dass 96

Wir erinnern uns an den damaligen § 354 Abs. 2 RStPO: „… ist die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht, dessen Urteil aufgehoben ist, … zurückzuverweisen“. 97 Apfel, Hinter den Kulissen der Justiz, S. 73. 98 § 27 Abs. 2 RStPO bestimmte damals, der heutigen Gesetzeslage entsprechend: „Wird ein richterliches Mitglied der erkennenden Strafkammer abgelehnt, so entscheidet die Strafkammer in der für Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung vorgeschriebenen Besetzung.“ Für den abgelehnten Richter rückt ein anderes Mitglied der Strafkammer ein, steht kein weiteres Mitglied mehr zur Verfügung, der geschäftsplanmäßige Vertreter. § 30 RStPO ergänzte (bis heute ebenfalls praktisch unverändert), das Gleiches gilt „wenn ein solches [Ablehnungs-]Gesuch nicht angebracht ist, ein Richter aber von einem Verhältnisse Anzeige macht, welches seine Ablehnung rechtfertigen könnte …“. 99 Sein späterer Hinweis in seiner Autobiographie, er habe Terminanberaumungen mit dem Argument verhindert, sonst würde „der gesetzliche Richter entzogen“ werden, überzeugt wenig: Beim urlaubenden, kranken oder erfolgreich (selbst-)abgelehnten Richter ist der geschäftsplanmäßig vorgesehene Vertretungsrichter der neue Gesetzliche Richter. 100 Neugebauer: a.a.O., Rn. 27. 101 Brief an den befreundeten Kulturjournalisten Mark Neven DuMont vom 2.10.1930, zit. nach Neugebauer: George Grosz, S. 151 Rn. 27.

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Uwe Scheffler

Grosz „sich mit dem Worte nur unbeholfen, gewissermaßen tastend auszudrücken vermag“102. Auch Tucholsky hatte schon im „Dada-Prozess“, wo er sich von der „Schlappheit“ der Verteidigung Grosz’ „enttäuscht“ gezeigt hatte103, angemerkt, dass Grosz „kein Wort“ gesagt hätte, „das auch nur einem Strich seiner Blätter adäquat gewesen wäre“: Der Gerichtssaal war nicht Grosz’ Bühne. Unter dem letztlich fast erzwungenen Vorsitz von Siegert fand eine neuerliche Berufungsverhandlung am 6. Oktober 1930 statt. Das Interesse des Publikums war ungemein groß – um ihm zu genügen, war die Verhandlung in den großen Schwurgerichtssaal des Moabiter Strafgerichts verlegt worden. Zahlreiche Richter und Rechtsanwälte wohnten der Verhandlung bei, „weil das Urteil [des Reichsgerichts] das Privileg der unteren Gerichte angetastet hatte, den tatsächlichen Sachverhalt abschließend festzustellen“104. Grosz betonte in seiner Vernehmung durch Siegert wiederum105, seine Bilder sollten „keine antireligiöse, sondern eine antimilitaristische Wirkung ausüben“. Und: Meine Bilder sind nicht mißzuverstehen. Selbst der primitivste Mensch sieht klar und deutlich, dass nicht Christus mit dem inkriminierten Bilde getroffen werden solle, sondern die, die ihn mißbrauchen.

Das Gericht beschloss nach einhalbstündiger Beratung schließlich, die Verhandlung zu vertagen. Zum nächsten Termin sollten die Vertreter der protestantischen und katholischen Religionsgemeinschaften sowie sämtliche von der Verteidigung noch zu benennenden Sachverständigen und Zeugen geladen werden. Siegert teilte mit, er werde den Termin der nächsten Verhandlung bestimmen, der allerdings erst noch gründlicher Vorbereitung bedürfe. „Heute kann man schon mit ziemlicher Sicherheit feststellen, er wird sich selbst revidieren, er muß sein eigenes Urteil revidieren“, prognostizierte tags darauf die „Rote Fahne“106. Siegert unternahm ein zweites Mal eine Selbstanzeige wegen Befangenheit, die am 23. November wiederum zurückgewiesen wurde. Den Ausweg, sich krank zu melden oder sonst eine Entschuldigung zu suchen, verschmähte er begreiflicherweise. … er mußte die von ihm entschiedene Sache noch einmal entscheiden.107

Am 3. Dezember 1930 begann schließlich die Hauptverhandlung – also wiederum unter Siegert – nochmals. Wegen der Anhörung der vielen Sachverständigen glich der Moabiter Gerichtssaal einem „Kirchenkonzil“108: 102 103 104 105 106 107

Goldstein, Vossische Zeitung vom 11.04.1929 (Morgenausgabe). Tucholsky, Die Weltbühne Nr. 17/1921, S. 454. Apfel, Hinter den Kulissen der Justiz, S. 73. O.V., Sozialdemokratischer Pressedienst vom 6.10.1930. O.V. (ess), Rote Fahne vom 7.10.1930. Goldstein, Vossische Zeitung vom 5.12.1930 (Morgenausgabe).

George Grosz vor Gericht

325

Die Vertreter der katholischen und der protestantischen Kirchen, der Jugendverbände, der Quäker und der ausgewiesenen Pazifisten diskutierten mit uns über den Sinn der Religion, über Krieg und Frieden und über die Persönlichkeit Christi.

Nach fast neun Stunden Dauer musste die Verhandlung wegen „Ermüdung aller Beteiligten“ unterbrochen und vertagt werden. Am nächsten Tag, dem 4. Dezember 1930, sprach die 2. Strafkammer die beiden Angeklagten dann wiederum frei. Gerichtsreporter Goldstein war wieder des Lobes voll über Siegerts Verhandlungsführung109: Er hat die schwere Probe bestanden. Mit gelassener Ueberlegenheit führte er den neuen Prozeß durch, mit einer Objektivität, daß wohl niemand von den Prozeßbeteiligten vorher zu sagen vermocht hätte, auf wessen Seite er diesmal treten würde.

Für einen Kenner des Revisionsrechts ist es ein Genuss nachzulesen, wie die Siegertsche Strafkammer die teilweise harsche Kritik des Reichsgerichts und dessen Argumente geschmeidig aufnahm, sich an die Vorgaben des Gerichts hielt – und dennoch unbeirrt zu dem von ihm nach wie vor für richtig erachteten Freispruchsurteil kam. Es kann hier nicht der Ort sein, dieses Gefecht der Strafkammer mit dem Florett gegen die Schwerthiebe des Reichsgerichts im Einzelnen nachzuzeichnen. Beschränken wir uns auf die „Meilensteine“ in der Gedankenfolge des Urteils110. Zunächst beehrte die Strafkammer Grosz, nachdem sie die Argumente des Reichsgerichts erwogen hatte, indem sie zusammenfassend im Rahmen ihrer dem Revisionsrecht weitgehend entzogenen freien richterlichen Beweiswürdigung feststellte111: Die Zeichnung Nummer 10 erfüllt, richtig verstanden, den äußern Tatbestand der Gotteslästerung nicht, auch nicht den der Kirchenbeschimpfung. Weder greift sie Christus in seinem Wesen an, noch beschimpft sie ihn. Gegenüber den christlichen Kirchen, ihren Einrichtungen und Gebräuchen, nimmt sie überhaupt nicht Stellung.

1:0! Sodann beugte sich die Strafkammer jedoch der sie bindenden Rechtsauffassung des Reichsgerichts112, dass auf Grundlage von „Mißverständnissen“

108 109 110 111 112

Apfel, Hinter den Kulissen der Justiz, S. 73. Goldstein, Vossische Zeitung vom 5.12.1930 (Morgenausgabe). LG III Berlin, Die Weltbühne Nr. 8/1931, S. 311. LG III Berlin, a.a.O., S. 314. § 358 Abs. 1 RStPO lautete damals (und heute noch ähnlich): „Das Gericht, an welches die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, welche der Aufhebung des Urteils zu Grund gelegt ist, auch seiner Entscheidung zu Grund zu legen“.

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Uwe Scheffler

seitens der Betrachter, also nicht „richtig verstanden“, das Bild objektiv doch § 166 RStGB erfüllen könne – 1:1113: Weiterhin bleibt jedoch zu erwägen, ob die künstlerischen Mittel geeignet waren, nur die beabsichtigten und nicht auch noch andre Eindrücke hervorzurufen. Die Prüfung dieser Frage führte zu dem Ergebnis, daß … das Bild in zweifacher Weise Mißverständnissen Raum läßt. Es ist möglich, daß auch ein Unbefangener die Zeichnung dahin deutet, daß Christus selbst die Worte der Unterschrift spreche, also daß der Befehl ʻMaul halten und weiterdienenʼ der Trost sei, den Christus für die Menschheit im Kriege übrig habe. … Wegen der Möglichkeit dieses Mißverständnisses ist daher durch die Herstellung und Verbreitung der Zeichnung Nummer 10 der äußere Tatbestand der Gotteslästerung erfüllt worden … Aber auch noch auf eine zweite Art kann dieses Bild mißdeutet werden. Es ist nämlich möglich, daß auch ein Unbefangener, grade wenn er sich in den Sinn des Bildes zu vertiefen sucht, zu der Auffassung kommt, das, was hier gezeigt wird, haben nach Meinung des Künstlers die Kirchen im Kriege aus Christus gemacht. … So verstanden greift das Bild die christlichen Kirchen als solche und die Christusverehrung an. Es sagt den Kirchen eine schimpfliche Tatsache nach durch den Vorwurf, Gott verleugnet zu haben. Durch diese Äußerung roher Mißachtung der Kirchen sind ihre Mitglieder, die das Bild auf diese Weise irrig auslegen, in ihrem religiösen Gefühl verletzt. Wenn also auch der wahre Sinn der Zeichnung Nummer 10 nicht geeignet ist, das Tun der Angeklagten als strafbar erscheinen zu lassen, so genügt doch der Umstand, daß dieser wahre Sinn einem Unbefangenen nicht notwendig erkennbar wird, um den äußern Tatbestand sowohl der Gotteslästerung als auch der Kirchenbeschimpfung zu erfüllen.

Auf Grundlage dieses „Kotau“ vor dem Revisionsgericht war es nun aber der Strafkammer möglich, in freier richterlicher Beweiswürdigung „revisionsfest“ den Vorsatz der Angeklagten (weiterhin) zu verneinen und damit den Siegtreffer zu setzen114: Der innere Tatbestand war dagegen nicht verwirklicht. Er erfordert das Bewußtsein, daß die gläubigen Angehörigen der christlichen Kirchen die Zeichnung auf Christus oder die Christenverehrung oder die Kirchen beziehen und durch die rohe Form oder den rohen Inhalt der Darstellung in ihren religiösen Empfindungen gekränkt werden. Dieses Bewußtsein hat beiden Angeklagten gefehlt. … Der Angeklagte George Grosz hat aber auch nicht damit gerechnet, daß sein Bild mißdeutet werden könne. …

113 LG III Berlin, Die Weltbühne Nr. 8/1931, S. 311 (315 f.). 114 LG III Berlin, a.a.O., S. 316.

George Grosz vor Gericht

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Alle diese Gründe haben das Gericht zu der Überzeugung geführt: weder wußte noch wollte der Angeklagte George Grosz, daß seine Zeichnung Nr. 10 als eine Äußerung roher Mißachtung der Person Christi oder der christlichen Kirchen oder der Christusverehrung aufgefaßt werden könne. Er hat weder bei der Herstellung noch während der Verbreitung des Bildes mit der Möglichkeit gerechnet, daß ein Unbefangener das Bild in einem solchen Sinne verstehen und sich darum als Mitglied einer christlichen Kirche in seinem religiösen Gefühl verletzt fühlen könne. Die „überaus irritierte“115 Staatsanwaltschaft, die „bereits einige Sekunden nach der Urteilsfällung“ Revision angekündigt hatte116, zog wiederum vor das Reichsgericht, diesmal ohne konkret ausgestaltete Begründung („Gerügt wird die Verletzung materieller Rechtsnormen, insbesondere der §§ 166, … 41 StGB. durch Nichtanwendung.“)117. Ausgeführt wurde lediglich der wiederum gestellte weitere Antrag, „die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung ein dem Landgericht III benachbartes Gericht zurückzuweisen“, weil „die Gefahr besteht, dass die bisherige Einstellung der Strafkammer bei einer erneuten Hauptverhandlung dieses Gerichts an der unbefangenen Würdigung des Verhandlungsergebnisses hindert“.

Verteidiger Apfel amüsierte sich118: Das heißt auf hochdeutsch: Wir sind am Ende unsres Lateins. Nicht ein einziger rechtlicher Gesichtspunkt wird in der Revisionsschrift angeführt, aus dem das Urteil der Siegertkammer anfechtbar ist. Das Urteil ist nämlich, wie wir Juristen sagen, revisionssicher, das heißt hieb- und stichfest gemacht, unter peinlich genauer Anwendung der Rechtsgrundsätze, die das Reichsgericht aufgestellt hat, als es das erste freisprechende Urteil aufhob. … Wenn es nach reinen Rechtsgrundsätzen geht, muß … das Reichsgericht die Revision durch einfachen Beschluß, also ohne mündliche Verhandlung, verwerfen. Aber wundern wollen wir uns nicht, wenn wir in Jahresfrist an einem „benachbarten Landgericht“, etwa Potsdam oder Prenzlau, kämpfen müssen.

Man kann insbesondere aufgrund des Beratungsgeheimnisses nur spekulieren, inwieweit diese genauso mutige wie brillante Urteilsbegründung aus Kopf und Feder des Vorsitzenden Richters Siegert, der sich in diesem Verfahren offensichtlich inzwischen ziemlich unwohl gefühlt hatte, oder aber des beisitzenden Berichterstatters Adolf Arndt stammte. Arndt, der schon mit 22 Jahren zum Dr. iur. promoviert hatte und danach in der Kanzlei Max Alsbergs, des wohl brillantesten aller der fast ausschließlich jüdischen großen Strafverteidiger der Weimarer Republik gearbeitet hatte, war seit Oktober 1930, also 26-jährig, für ein halbes Jahr Gerichtsassessor an der „Siegert-Kammer“ am Landgericht III Berlin. 1933 aus dem Richteramt entfernt, war er zunächst wieder ein unerschrockener Rechtsanwalt auch in politi115 116 117 118

Apfel, Hinter den Kulissen der Justiz, S. 73. Apfel, Die Weltbühne Nr. 9/1931, S. 317. Zit. nach Apfel, a.a.O. Apfel, a.a.O.

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schen Strafprozessen, bevor er selbst als „Halbjude“ von den Nazis verfolgt wurde. In der Bundesrepublik war er, wie häufig tituliert wird, der „Kronjurist der SPD“, für die er ab 1949 bis 1969 im Bundestag saß. Eine dienstliche Beurteilung, höchstwahrscheinlich von Siegert, beschreibt Arndts Befähigung, Kenntnisse und Leistungen als „phänomenal“119. Siegert sagte ihm weiter eine ausgesprochene „Intuition für strafrechtliche Beurteilung“ nach, die er mit einem Wissen seltenen Ausmaßes verbinde, so dass „seine Leistungen ohne Tadel und weit über das Durchmaß hinaus“ einzuschätzen seien. Da die Niederschrift eines Urteilsentwurfs die vornehmliche Pflicht des Berichterstatters in dem jeweiligen Verfahren, also die Aufgabe von Arndt im Gotteslästerungsprozess war, spricht einiges dafür, dass dieses genauso brillante wie mutige – und kunstaffine – Urteil weitgehend von Arndt stammt.

5. Nochmals das Reichsgericht in Leipzig Wie dem auch sei. Dieses Urteil hielt jedenfalls der neuerlichen Revision stand. Es blieb beim Freispruch. Allerdings ließ es sich das Reichsgericht in seinem zweiten Urteil in dieser Sache vom 5. November 1931 nicht nehmen, nunmehr wenigstens die Unbrauchbarmachung aller Blätter und der Druckplatten auszusprechen120: Das Urteil des Landgerichts III in Berlin vom 4. Dezember 1930 wird dahin abgeändert: Die Zeichnung Nummer 10 der im Malik Verlag erschienenen Sammelmappe „Hintergrund“ und alle im Besitz des Verfassers, Druckers, Herausgebers, Verlegers oder Buchhändlers befindlichen und die öffentlich ausgelegten oder öffentlich angebotenen Exemplare der Abbildung dieser Zeichnung sowie die zu ihrer Herstellung bestimmten Platten und Formen sind unbrauchbar zu machen. Im Übrigen wird das Rechtsmittel als unbegründet verworfen.

Apfel fand es „unverständlich, warum dies abschließende Reichsgerichtsurteil eine so gute Presse gefunden hat“121 und sogar „die Parteien der Linken diesen … Freispruch … als großen Sieg über die Reaktion gefeiert haben“122. Er konstatierte zwar zunächst123, es dürfe 119 Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Stichwort: Adolf Arndt (https://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/nachlass/nachlass_a/arndt-ad.htm). 120 Zit. nach Apfel, Die Weltbühne Nr. 1/1932, S. 11. 121 Apfel, a.a.O. 122 Apfel, Hinter den Kulissen der Justiz, S. 73. 123 Apfel, Die Weltbühne Nr. 1/1932, S. 12; ähnlich ders.: Hinter den Kulissen der Justiz, S. 73 f.

George Grosz vor Gericht

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nicht unterschätzt werden, daß George Grosz und Wieland Herzfelde von Strafe verschont bleiben. … Als Aktivum kann schließlich gebucht werden, daß die Mappe „Hintergrund“ vom Malikverlag weiter vertrieben werden kann, und zwar einschließlich der ursprünglich mitverfolgten Bilder Nummer 2 … und Nummer 9 …

Sodann erklärte Apfel ausführlich, warum dennoch „zu Jubelhymnen … kein Anlaß“ vorliege124: Aber das inzwischen zur Berühmtheit gelangte Christusbild, und das war wohl der Hauptzweck der Übung, hat endgültig aus dem Verkehr zu verschwinden. Dieses Bild, das in eindringlicher Form den Widerspruch zwischen der reinen christlichen Lehre und dem tatsächlichen Verhalten vieler ihrer Anhänger zeigt, von dem wahrhaft gläubige Christen gesagt haben, daß man es an jede Kanzel hängen müsse, ist für Deutschland, bis andre Zeiten kommen, erledigt worden.

Dieses „Aus-dem-Verkehr-Verschwinden“ beruhte auf den §§ 41 f. RStGB, wonach auf die Unbrauchbarmachung einer Zeichnung „selbstständig erkannt“ werden durfte, wenn „die Verfolgung oder die Verurteilung einer bestimmten Person nicht ausführbar“ war125. Apfel wertete es als „ein sehr zweifelhaftes Mittel, um das Urteil auszuhöhlen“126: § 42 RStGB betreffe „nur Fälle …, wo man keinen Angeklagten auftreiben kann“127. Dem Reichsgericht zufolge war diese sogenannte selbständige Unbrauchbarmachung hier jedoch auch möglich, weil die Verurteilung der durchaus „aufgetriebenen“ Grosz und Herzfelde nach den Feststellungen der 2. Großen Strafkammer im zweiten Berufungsurteil lediglich mangels Vorsatzes „nicht ausführbar“ war128: § 41 StGB. enthält eine polizeiliche vorbeugende Maßregel, die nur voraussetzt, daß durch den Inhalt der Schrift, Abbildung oder Darstellung der äußere Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllt werde. Auch dann, wenn ein Täter wegen des Fehlens des inneren Tatbestands nicht verfolgt oder nicht bestraft werden kann, ist der Ausspruch nach § 41 StGB. zulässig … 124 Apfel, Causa finita, a.a.O., S. 12 f. 125 § 41 RStGB: „(1) Wenn der Inhalt einer Schrift, Abbildung oder Darstellung strafbar ist, so ist im Urteile auszusprechen, daß alle Exemplare, sowie die zu ihrer Herstellung bestimmten Platten und Formen unbrauchbar zu machen sind. (2) Diese Vorschrift bezieht sich jedoch nur auf die im Besitze des Verfassers, Druckers, Herausgebers, Verlegers oder Buchhändlers befindlichen und auf die öffentlich ausgelegten oder öffentlich angebotenen Exemplare“. § 42 RStGB: „Ist in den Fällen de[s] § … 41 die Verfolgung oder die Verurteilung einer bestimmten Person nicht ausführbar, so können die daselbst vorgeschriebenen Maßnahmen selbstständig erkannt werden“. 126 Apfel, Hinter den Kulissen der Justiz, S. 73. 127 Apfel, Die Weltbühne Nr. 1/1932, S. 13. 128 Zit. nach Apfel, a.a.O.

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Im Malik-Verlag wurden daraufhin, wie die Polizei der Staatsanwaltschaft am 3. Juni 1932 mitteilte, (nur) 253 Exemplare des mit Beschlagnahme belegten Bildes Nr.10 abgeholt129. „Diese 253 Zeichnungen werden mit den hier noch lagernden 1506 Stücken bei der nächsten turnusmäßigen Akteneinstampfung vernichtet werden.“ Herzfelde hatte offenbar diverse Restexemplare zur Seite geschafft; er erhielt dafür eine neuerliche Strafanzeige wegen Verstrickungsbruchs130. Und weiter berichtete die Berliner Polizei der Staatsanwaltschaft: „Die Platten und Formen konnten hier nicht unbrauchbar gemacht werden, da der Druck der Zeichnung Nr. 10 bei der Firma P. Ullmann in Zwickau erfolgt ist.“ Am 10. Juni 1932 teilte die Polizeidirektion Zwickau dem Berliner Polizeipräsidenten mit, dass die Zinkplatten für den Druck von Blatt 10 der GroszMappe in der Firma Ullmann sofort nach Gebrauch zur Neuverwendung abgeschliffen worden seien und sich so die Unbrauchbarmachung erübrige131. Dies kann so nicht stimmen. Herzfelde, der noch während der Prozessjahre „unerschrocken die konfiszierten Blätter einfach nachdruckte“132, mag auch hier seine Hände im Spiel gehabt haben. Zudem befinden sich heute noch Blätter mit eindeutigen späteren Nachdrucken, wie die Papiersorte zeigt, auf dem Markt133. Jedenfalls: Die Graphik Nr. 10 hat den Weimarer Bildersturm „überlebt“; wir können uns so noch heute an ihr erfreuen.

6. Resümee Auch, wenn man mit Apfel meint, „daß der Ausgang des Kampfes um das Christusbild im Endresultat nicht sehr erfreulich“, jedenfalls kein „überragender Sieg“ war134, muss man konstatieren, dass genaugenommen ein Konservativer, der letztlich doch unbeugsame Landgerichtspräsident Siegert (und sei es im zweiten Verfahren mit Unterstützung seines jungen Beisitzers Arndt) schlussendlich gleichwohl einen „Punktsieg“ der „Linken“ ermög-

129 Faksimile des Schreibens des Polizeipräsidenten an die Staatsanwaltschaft vom 03.06.1932, in: Der Malik-Verlag 1916–1947. Eine Verlagschronik, 1986, S. 132. 130 Siehe Faksimile des Schreibens des Polizeipräsidenten an die Staatsanwaltschaft vom 03.06.1932, in: Der Malik-Verlag, a.a.O. 131 Neugebauer, George Grosz, S. 152. 132 Neugebauer, a.a.O., S. 46. 133 Siehe auch Neugebauer, a.a.O., S. 152 Fn. 35. 134 Apfel, Die Weltbühne Nr. 1/1932, S. 13; ders.: Hinter den Kulissen der Justiz, S. 73.

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lichte. Insofern ist es „fast überflüssig zu erwähnen“135, dass auch Siegert zu den ersten Richtern gehörte, die 1933 ihr Amt wegen „Kulturbolschewismus“ verloren. Siegert wurde zum 1. Juni 1933 in den Einstweiligen Ruhestand versetzt. Dann verliert sich seine Spur136. Anders, als etwa der Gerichtsreporter Goldstein nach dem (zweiten) Freispruchsurteil euphorisch jubelte137 – der „Prozeß George Grosz“ würde in der Geschichte der Justiz fortleben als ein Zeichen dafür, wie inmitten einer gärenden und strudelnden Zeit die bessere Zukunft von ein paar mutigen Männern vorbereitet worden ist – ,

wurden die „mutigen Männer“ allesamt von einer schlechteren, von einer entsetzlichen Zukunft überrollt138. Denn nicht nur für Siegert und Arndt, mehr noch für Grosz, Herzfelde und Apfel ging 1933 das bisherige Leben in Deutschland jäh zu Ende – sie mussten Hals über Kopf ins Ausland fliehen.

Literatur APFEL, ALFRED, Reichsgericht über George Grosz, Die Weltbühne Nr. 26/ 1930, S. 952 ff. DERS., Nachwort des Verteidigers, Die Weltbühne Nr. 9/1931, S. 317. DERS., Causa finita, Die Weltbühne Nr. 1/1932, S. 11 ff. DERS., Hinter den Kulissen der deutschen Justiz. Erinnerungen eines deutschen Rechtsanwalts 1882–1933 (1934/35), dt. 2013. BECKER, BERNHARD V., „Gegen Grosz und Genossen“ – Der Gotteslästerungsprozess gegen George Grosz, Neue Juristische Wochenschrift 2005, S. 559 ff. BECK’SCHER ONLINE-KOMMENTAR Edition 2019.

ZUM

STRAFGESETZBUCH. Stand: 42.

BROD, MAX, Schwejk und Piscator, Die Weltbühne Nr. 49/1929, S. 844 ff.

135 136 137 138

Apfel, Hinter den Kulissen der Justiz, S. 74. Siehe Neugebauer, George Grosz, S. 151. Goldstein, Vossische Zeitung vom 05.12.1930 (Morgenausgabe). Auch Goldstein wurde 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft vom Ullstein-Verlag, in dem die Vossische Zeitung erschien, entlassen und emigrierte aus seiner Geburtsstadt Berlin.

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Uwe Scheffler

GOLDSTEIN MORITZ (INQUIT), George Grosz freigesprochen, Vossische Zeitung vom 11.04.1929 (Morgenausgabe), 1. Beilage. DERS., George Grosz freigesprochen, Vossische Zeitung vom 05.12.1930 (Morgenausgabe), 1. Beilage. HERZFELDE, WIELAND, Deutsch-Holländische Kulturaktion, Der Gegner Nr. 4/1920/21, S. 119 f. JENTSCH, RALPH, George Grosz – Alltag und Bühne – 1914–1931, 2015. LAUFS, ADOLF, Die Berliner Justiz in der Zeit des NS-Regimes, in: F. Ebel / A. Randelzhofer (Hrsg.), Rechtsentwicklungen in Berlin, 1988, S. 193 ff. MEHRING, WALTER, Abrechnung folgt!, Die Weltbühne Nr. 24/1923, S. 705 f. MILLER, HENRI, The Man at the Zoo: George Grosz’ Ecce Homo, The Evergreen Review Nr. 40 (1966), S. 31 ff. DERS., To Paint is to Love Again, 1968. NEUGEBAUER, ROSAMUNDE (ROSA VON DER SCHULENBURG), George Grosz. Macht und Ohnmacht satirischer Kunst. Die Graphikfolgen „Gott mit uns“, „Ecce homo“ und „Hintergrund“, 1993. O.V., Ein Schreckensurteil gegen eine Friedensrede, Volksstimme vom 22.02.1914. O.V., George Grosz verurteilt. Das „normale Empfinden“ siegt, Vossische Zeitung vom 17.02.1924, 1. Beilage. O.V., Unterhaltungen zwischen Ohnesorge und George Grosz, Das Tage-Buch 5/1924, S. 240 ff. O.V., George Grosz wird vernommen. Aus dem stenografischen Protokoll des Gotteslästerungsprozesses, Das Tage-Buch 51/1928, S. 2210 ff. O.V., Der „gelästerte Christus“, Sozialdemokratischer Pressedienst vom 06.10.1930. O.V. (ESS), Er soll auf alle Fälle verurteilt werden, Rote Fahne vom 07.10.1930.

OSSIETZKY, CARL V., George-Grosz-Prozeß – Schober – Masaryk – Grzesinskis Abgang – Krach beim Genossen Z., Die Weltbühne Nr. 10/1930, S. 337 ff. SCHNEIDER, ANNETTE, Maler der Weimarer Verhältnisse – Vor 125 Jahren wurde George Grosz geboren, Deutschlandfunkkultur.de vom 26.07.2018 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/vor-125-jahren-wurde-george-grosz-ge boren-maler-der.932.de.html?dram:article_id=423849).

George Grosz vor Gericht

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TUCHOLSKY, KURT (PETER PANTER), DADA, Berliner Tageblatt vom 20.07.1920 (Abendausgabe). DERS. (IGNAZ WROBEL), Der kleine Geßler und der große Grosz, Freiheit vom 24.10.1920, 1. Beilage. DERS. (IGNAZ WROBEL), Dada-Prozeß, Die Weltbühne Nr. 17/1921, S. 454 ff. DERS. (IGNAZ WROBEL), Die Begründung, Die Weltbühne Nr. 12/1929, S. 435 ff. WECK, BERNHARD, „Dada vor Gericht“ – Ein Schlaglicht auf den schwierigen Umgang der (Weimarer) Justiz mit avantgardistischer Kunst, Neue Juristische Wochenschrift 1994, S. 1929 f.

Dela-Madeleine Halecker

Die nackten Hexenbilder des Hans Baldung Grien* – Ein Fall berechtigter Zensur im Museum? I. Einleitung Der Held des diesjährig im Rahmen der Aktion „Würzburg liest ein Buch“ besprochenen Werkes von Jakob Wassermann, der Junker Ernst, wird durch eine wunderbare Fähigkeit zur Zielscheibe eines fanatischen Hexenverfolgers – er vermag phantasievoll zu erzählen und durch diese Kunst die Zuhörer – ob groß, ob klein – in seinen Bann zu schlagen. Dieser Fähigkeit würde ich mich jetzt gern bemächtigen, aber: Ich bin Juristin. Und Jurisprudenz und Hexerei vertragen sich bekanntlich nicht. Aber der Künstler, über den ich gern heute referieren möchte, vermag mit seinen Hexendarstellungen den Betrachter ähnlich magisch zu fesseln wie die Worte des Junkers Ernst seine Zuhörer: Hans Baldung Grien – ist Ihnen dieser Name bekannt? Ich selbst muss zugestehen, ich hätte die Frage mit nein beantworten müssen. Aber eines seiner Hexenbilder – es trägt den Titel „Zwei Hexen“ – dürfte der eine oder andere von Ihnen schon gesehen haben1. Zumindest dem interessierten Leser eines historischen Romans oder eines erotischen Buches könnten diese beiden Damen bereits begegnet sein. Die einschlägige Fachliteratur zu Hexen und Hexenverfolgung reproduziert es ausgiebig und auch dort schafft es oft den Weg auf den Buchumschlag2. Die *

1 2

Bei dem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete und mit Fußnoten versehene Fassung eines Vortrages, den die Autorin am 15. April 2016 im Gebäude der Alten Universität in Würzburg während der Veranstaltungswoche „Würzburg liest ein Buch“, in deren Rahmen zunächst die sodann auf den Herbst verschobene Ausstellung „Kunst und Strafrecht“ geplant war, gehalten hat. Der Beitrag wurde erstveröffentlicht in: E. Hilgendorf / D. Osthoff / M. Weis-Dalal (Hrsg.), Vernunft gegen Hexenwahn, Verlag Königshausen & Neumann‚ Würzburg 2017, S. 95 ff. Hans Baldung Grien (* 1484/85; † 1545), Zwei Hexen (1523). Frankfurt/M., Städel Museum. Beispiele hierfür wären die Taschenbuchausgabe der Werkmonographie „Hans Baldung. Hexenbilder“ des Kunsthistorikers Gustav Friedrich Hartlaub von 1961 und der 1989 erschienene „Hexensabbat“ des italienischen Historikers und Kulturwissenschaftlers Carlo Ginzburg, dessen Taschenbuchausgabe aus dem Jahre 2005 Bal-

https://doi.org/10.1515/9783110784992-022

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größte Überraschung dürfte jedoch sein, dass dieses Hexenbild fast 500 Jahre alt ist. 1523 entstanden, ist das Gemälde nicht „nur das früheste, sondern es bleibt auch für lange Zeit das einzige autonome Tafelbild, das diesem Thema gewidmet ist“3. In den Niederlanden existiert zwar annähernd zeitgleich eine schmale Überlieferung von Darstellungen der Hexe von Endor wie zum Beispiel auf dem berühmten Bild von Jacob Cornelisz van Oostsanen4. Die Themenwahl war hier aber vorwiegend durch das Alte Testament legitimiert. Ebenso existieren kleinformatige Bilder, mit denen der Kupferstich „Die Hexe“ von Albrecht Dürer5 später kopiert worden ist, wie zum Beispiel von Adam Elsheimer6. Die isolierte Stellung von Baldungs Hexengemälde in der Geschichte der Malerei wird dadurch jedoch nicht relativiert7. Baldungs Hexen-Œuvre umfasst neben diesem noch etwa acht Zeichnungen und zwei Holzschnitte8. Kein anderer Maler seiner Zeit hat derart ausführlich das Hexenwesen gewürdigt, womit sich die Frage nach dem Warum förmlich aufdrängt. Von besonderem Interesse dürfte dabei sein, welchen Standpunkt Baldungs Werk in der von den Zeitgenossen durchaus vielstimmig und kontrovers geführten Diskussion über die Hexenverfolgung einnimmt: Will Baldung seine Hexen verteidigen und vor dem Aberglauben in Schutz nehmen? Oder bezichtigt er sie schandbaren und strafwürdigen Treibens? Begeben wir uns auf die Suche nach einer Antwort zunächst auf die Spuren des Künstlers selbst …

3 4 5 6 7 8

dungs genanntes Werk ebenfalls ziert. Siehe hierzu auch das Vorwort von Max Hollein in dem von Bodo Brinkmann herausgegebenen Ausstellungskatalog des Städel Museums „Hexenlust und Sündenfall – Die seltsamen Phantasien des Hans Baldung Grien“ von 2007 (S. 16). Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 50. Jacob Cornelisz van Oostsanen (* etwa 1472/1477; † 1533), Saul bij de heks van Endor (Saul und die Hexe von Endor) (1526), Amsterdam, Rijksmuseum. Albrecht Dürer (* 1471; † 1528), Die Hexe (um 1500). Frankfurt/M., Städel Museum. Adam Elsheimer (* 1578; † 1610), Die Hexe (um 1596/97). Frankfurt/M., Städel Museum. Siehe hierzu im Ganzen Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 50. Ausführlich hierzu der Ausstellungskatalog des Städel Museums „Hexenlust und Sündenfall – Die seltsamen Phantasien des Hans Baldung Grien“ mit den mit zahlreichen Nachweisen versehenen Beiträgen von Bodo Brinkmann und Berthold Hinz von 2007.

Die nackten Hexenbilder des Hans Baldung Grien

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II. Baldung als Künstler Hier zeigt sich bereits eine Besonderheit zu allen anderen deutschen Künstlern seiner Zeit – der 1484 oder 1485 vermutlich in Schwäbisch Gmünd geborene Hans Baldung, genannt Grien, stammte aus einer Gelehrtenfamilie9: Zu seinen Verwandten zählten ein Magister Hans Baldung am bischöflichen Gericht in Straßburg und der kaiserliche Leibarzt Dr. Hieronymus Baldung. Sein Bruder Caspar war zuerst Dekan der Juristischen Fakultät und Rektor der Freiburger Universität und trat 1522 als Stadtadvokat in Straßburger Dienste; 1531 wurde er Beisitzer des Reichskammergerichts und kaiserlicher Rat in Speyer.

Der bekannte Rechtsphilosoph und Strafrechtler Gustav Radbruch (* 1878; † 1949) formulierte vor diesem Hintergrund, dass wir Juristen an Baldung „ein gewisses Anrecht gelten machen“ können10. Und das auch „in dem Maler selbst etwas von jenem Juristengeist gelebt zu haben [scheint], der das Recht um des Rechtes willen sucht“. Denn als Baldung in einem Strafverfahren vom Straßburger Offizial als Zeuge geladen war, weigerte er sich vor dem geistlichen Gericht zu erscheinen, weil er nur vor dem Straßburger Rat als seiner ordentlichen Obrigkeit Zeugnis abzulegen schuldig sei.

Er nahm damit indirekt Stellung zu einem politischen Machtkampf, der in Straßburg zwischen Rat und Bischof im 15. Jahrhundert erbittert geführt wurde. Von Baldung selbst ist weder der Name seines Vaters noch der Ort seiner Ausbildung bekannt11. Er wuchs als Künstler in einer Zeit auf, die seinen Berufstand wie selbstverständlich in die zünftische Ordnung der Reichsstädte eingebunden hatte. … Ihre Erzeugnisse standen unter der mittelalterlichen Prämisse, den Christenmenschen zu memoria, devito und imitatio anzuleiten, zur Kenntnis der rechten Glaubensinhalte, zur Andacht und zur Nachfolge Christi und der Heiligen12.

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Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 19; siehe hierzu auch Hegele: Hans Baldung, S. 11 ff.; Fischer: Hans Baldung Grien, S. 5 ff. Radbruch, in: G. Spendel (Bearb.), Kulturphilosophische und kulturhistorische Schriften, S. 261 f. mit weiteren Nachweisen. Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 19 (mit weiteren Nachweisen) verweist darauf, dass der Ausbildungsort neueren Forschungen zufolge nach Schwaben zu lokalisieren sei. Hegele, Hans Baldung, S. 7 f.

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Beispielgebend für diese spätgotische Generation stehen die beeindruckenden Flügelaltäre von Tilmann Riemenschneider und Veit Stoß13. Zu ihnen gesellte sich auch Baldung mit seinem Freiburger Hochaltar14. Er wird zusammen mit Grünewalds Isenheimer15, Ratgebs Herrenberger16 und Altdorfers Sebastian-Altar in St. Florian17 „zu den letzten malerischen Riesenwerken“ jener Zeit gezählt18, wenngleich sie doch allesamt bereits einen deutlich erkennbaren Hauch künstlerischer Neuentfaltung in sich tragen19. Dieser spürbare Umbruch wird insbesondere auf Albrecht Dürer zurückgeführt, welcher sich durch seine zweimaligen Italienreisen ein neues Selbstbewusstsein als Künstler mitgebracht hatte20. Seine berühmte Briefstelle aus Venedig an den daheimgebliebenen Pirkheimer: „Hy pin jch ein her, doheim ein schmarotzer“, läßt unzweideutig anklingen, wie er die engen zünftischen Verhältnisse für seinen Malerstand empfand.

Dürer wagte den Vorstoß und malte sich beispielsweise selbst in einem Typus, der bislang nur Christus vorbehalten war21 – für die Generation vor ihm undenkbar. In seinem Werk verbanden sich auf eigentümliche Weise das alte Gotische, dem er entwachsen war, und die italienische Renaissance, die er sich angeeignet hatte.22

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Tilmann Riemenschneider (* um 1460; † 1531), Heilig-Blut-Altar (1500/05). Rothenburg ob der Tauber, St. Jakobs Kirche; Veit Stoß (* um 1447; † 1533): Hochaltar (1477/89). Krakau, Marienkirche. Hans Baldung Grien, Hochaltar (1512/16). Freiburg/Brsg., Stadtpfarrkirche Freiburger Münster. Ausführlich zur Entstehung dieses Werkes siehe Fischer: Hans Baldung Grien, S. 23 ff. Matthias Grünewald (* wohl 1475/1480; † 1528), Isenheimer Altar (1506/15). Isenheim, Antoniterkloster, ausgestellt in Colmar, Museum Unterlinden. Jerg Ratgeb (* um 1480; † 1526), Herrenberger Altar (1518/21). Ehemals Herrenberg, Stiftskirche, jetzt Stuttgart, Staatsgalerie. Albrecht Altdorfer (* um 1480; † 1538), Sebastiansaltar (1509/18). Linz, Stift St. Florian. Hegele, Hans Baldung, S. 7 f. In diesem Zusammenhang werden der Verzicht auf die traditionelle Typisierung, das Streben nach einer befreiten Wohlräumigkeit, die Körper- und Raumklarheit sowie die klangvolle und leuchtende Farbenfülle hervorgehoben; vgl. in Bezug auf Baldung Fischer: Hans Baldung Grien, S. 18 ff.; Hegele, a.a.O., S. 41. Hegele, a.a.O., S. 15. Willibald Pirkheimer (* 1470; † 1530) war ein Nürnberger Ratsherr, Universalgelehrter und Freund Dürers, vgl. Brinkmann: Hexenlust und Sündenfall, S. 97 ff. Albrecht Dürer, Selbstbildnis im Pelzrock (1500). München, Alte Pinakothek. Hegele, Hans Baldung, S. 9; siehe hierzu auch Fischer: Hans Baldung Grien, S. 65 f.

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Er wurde damit zum Weichensteller vor allem für die Künstler, die einen neuen Realismus, die genaue Perspektive als konstruierten Bildraum erforschten und die uralten heidnischen Themen der Antike wiederentdeckten23.

Und wie sich zeigen wird, hinterließ Dürer auch bei Baldung seine Spuren, welcher 1503 als ausgebildeter Geselle in die Werkstatt Dürers eintrat und ihn als Meister in dessen entscheidender Zeit genoss24. In der Werkstatt Dürers soll auch die Wiege seines Rufnamens „Grien“ stehen, der auf eine Vorliebe für diese Farbe oder auf ein grünes Festtagskleid des Malers anspielen könnte25. Gewiss diente der Rufname aber auch der Unterscheidung von den beiden anderen Gesellen Schäufelein (* 1480; † 1540) und Süß von Kulmbach (* 1476; † 1528), die ebenfalls den Vornamen Hans trugen. 1509 siedelte Baldung sodann nach Straßburg um, wo er 1509 das Bürgerrecht erwarb, im Folgejahr die Kaufmannstochter Margarete Herlin heiratete und zünftig wurde. Für die Jahre 1512 bis 1517 zog er nach Freiburg im Breisgau, um dort den bereits erwähnten Hochaltar des dortigen Münsters anzufertigen. Dieser Auftrag hatte sich gelohnt, denn er konnte eine große festverzinsliche Summe in eine Leibrente für sich und seine Frau umwandeln – in seinem Alter von Anfang 30 eine erstaunliche Tatsache. Nach seiner Rückkehr nach Straßburg wird Baldung kaufmännisch tätig (Immobilien- und Geldgeschäfte)26. Er vertritt seit 1533 seine Zunft als Schöffe, kurz vor seinem Tode 1545 wird er sogar Ratsherr27. 23 24 25

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Hegele, a.a.O., S. 8 f. Siehe hierzu Fischer, Hans Baldung Grien, S. 6 f. Siehe Hans Baldung Grien, Sebastiansaltar (Mitteltafel) (1507). Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum. Der Mann in grüner Kleidung hinter dem Hl. Sebastian ist vermutlich ein Selbstbildnis Baldungs. Siehe dazu Hegele: Hans Baldung, S. 27: „Baldung hat sich in seinem frühen Sebastians-Altar selbst verewigt, in hervorragender Position, direkt hinter dem Heiligen stehend und zwischen diesem und der Gruppe der Schergen gleichsam vermittelnd. Daß er in gleicher Größe wie die anderen Figuren und auch wie der Stifter auftritt, dazuhin kostbar gekleidet wie ein junger reicher Patrizier, zeugt von einem ungeheuren Selbstbewußtsein des knapp über Zwanzigjährigen.“ Siehe auch Brinkmann: Hexenlust und Sündenfall, S. 19; Fischer, a.a.O., S. 7. Siehe hierzu Fischer, a.a.O., S. 10: „Nach seiner Heimkehr hat [Baldung] Straßburg nicht mehr verlassen und vereinzelte Nachrichten zeugen von Ansehen und Wohlstand. … Nach dem damaligen Geldwert muß der Maler mit einem Kapitalbesitz von an die tausend Gulden, mit Haus und Hof ein reicher Mann gewesen sein“. Siehe hierzu im Ganzen Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 19 f.; Fischer, a.a.O., S. 5 ff.; Hegele: Hans Baldung, S. 16 f.

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Und er bleibt trotz der reformatorisch veränderten Auftragslage ein gefragter Maler28. Es entstehen unter anderem „eine grandiose Folge von lebensgroßen Akten“ oder Serien antiker Historien, Madonnen-Bildnisse und Porträts29. Dabei passt Baldung seinen Stil schrittweise und je nach dem Charakter des Auftrags dem Zeitgeschmack an und bereitet damit dem Manierismus in Deutschland den Boden. Seine gelegentlichen Kopien nach erfolgversprechenden Vorbildern verraten bewusstes Kalkül: So wiederholt die Madonna mit den Edelsteinen im Germanischen Nationalmuseum eine Komposition von Jan Gossaerts30; ein Porträt in der Madrider Sammlung Thyssen orientiert sich unverkennbar an Lucas Cranach31.

Hier zeigt sich: Baldungs Kunst profitiert von einem hohen Grad an Selbstreflexion und Reflexion der Werke anderer, vor allem von einer lebenslangen kritischen Stellungnahme zum Schaffen seines Lehrers Albrecht Dürer: In seinen besten Werken bringt Baldung immer auch Kunst über Kunst hervor und ist darin seiner Zeit erstaunlich weit voraus32.

Schon 1521 führt ihn der französische Kunsttheoretiker Jean Pèlerin (* um 1440; † 1524) als Hans Grün von Straßburg unter den größten Malern der Zeit auf, 1526 der deutsche Humanist und Philologe Beatus Rhenanus (* 1485; † 1547) neben Albrecht Dürer, Lucas Cranach dem Älteren und Hans Holbein dem Älteren (* um 1465; † 1524) unter den berühmtesten deutschen Meistern33. Nach Dürers Tod im Jahre 1528 soll Baldung dessen Locke erhalten haben – eine Geste, die höchst modern anmutet und an die seit dem Tode August Wilhelm Iffland ... gepflegte Tradition der testamentarisch geregelten Weitergabe des Iffland-Ringes an den jeweils bedeutendsten und würdigsten Bühnenkünstler des deutschsprachigen Theaters erinnert34. 28

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Siehe etwa Lucretia (1520), Frankfurt/M., Städel Museum; Venus und Cupido (1525), Otterlo, Kröller-Müller Museum; Judith mit dem Haupt des Holofernes (um 1525), Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum. Fischer, Hans Baldung Grien, S. 11 f.; siehe auch Brinkmann: Hexenlust und Sündenfall, S. 21. Siehe Jan Gossaert (* um 1478; † 1532), Madonna met kind (1527), Madrid, Museo del Prado, und Hans Baldung Grien: Madonna mit Kind und Edelsteinen (1530), Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. Siehe dazu Brinkmann, a.a.O. Siehe Lukas Cranach der Ältere (* 1472; † 1553), Venus (1532), Frankfurt/M., Städel Museum, und Hans Baldung Grien: Porträt einer Dame (1534), Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza. Siehe dazu Brinkmann, a.a.O. Brinkmann, a.a.O.; siehe auch Fischer: Hans Baldung Grien, S. 7: „Baldungs Kunst ist jedenfalls ganz aus derjenigen Dürers herausgewachsen, und er hat sich später als der begabteste wohl, jedenfalls als der bedeutendste seiner Schüler erwiesen“. Vgl. Fischer, a.a.O., S. 10. Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 21; 107 f. Die Bedeutung Ifflands (* 1759; † 1814) als Schauspieler reflektiert auch der Umstand, dass ihm Johann Wolfgang

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Offenbar schätzten bereits die Zeitgenossen Baldung „als den wahren und eigentlichen Nachfolger Dürers“ ein35.

III. Baldung und der Hexenglaube seiner Zeit Ich glaube, es ist nicht vermessen anzunehmen, dass Baldung einen neuen Typus verkörperte, der sich gegenüber dem Mittelalter eine neue innere und in seinem Fall auch wirtschaftliche Unabhängigkeit erarbeitet hatte. Er war kein Hofkünstler, abhängig von der Gnade oder den Launen eines Herrn. Er war vielmehr sein eigener Herr, sozusagen ein frühmoderner Künstler36. Und als Bürger von Straßburg dürfen wir ihn auch im Verkehr mit der gerade damals sehr lebendigen geistigen Welt dieser Stadt denken – mit dem Stadtschreiber Sebastian Brant (* 1457/58; † 1521), dem Humanisten Jakob Wimpheling (* 1450; † 1528), dem Barfüßermönch Johannes Pauli (* um 1455; † um 1530/33), dem Franziskaner Thomas Murner (* 1475; † 1537). Straßburg nahm zu jener Zeit eine herausragende Stellung unter den Reichstädten ein und war neben Basel das größte Zentrum humanistischer Verlagstätigkeit am Oberrhein37. Es herrschte ein ausgesprochen freier Geist in der Stadt, in dem auch das Andenken des großen Kanzlerredners Johann Geiler von Kaysersberg (* 1445; † 1510) noch sehr lebendig war38. Geiler hatte wesentlich dazu beigetragen, dass „in Straßburg zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein besonders liberales Klima herrschte und Hexenprozesse äußerst selten vorkamen“39. Und dies, obwohl die berüchtigte Hexenbulle von 1484 dem Bischof von Straßburg eine Unterstützung der Inquisitoren Henricus Institoris (* um 1430; † 1505, eigentlich Heinrich Kramer) und Jakob Sprenger

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Goethe (* 1749; † 1832) die sog. Satyr-Knöpfe (auch Gorgonen-Knöpfe genannt) übergab. Dahinter verbirgt sich eine traditionsreiche Auszeichnung für den jeweils bedeutendsten Schauspieler seiner Zeit. Derzeit befinden sie sich im Besitz der schweizerischen Schauspielerin Sunnyi Melles (* 1958). Träger des Iffland-Ringes ist aktuell der deutsche Schauspieler Jens Harzer (* 1972). Brinkmann, a.a.O. mit weiteren Nachweisen. Vgl. Hegele, Hans Baldung, S. 17. Vgl. Hegele, a.a.O., S. 16. Geiler kam nach Studienjahren in Freiburg und Basel 1478 nach Straßburg und entwickelte sich zu einem der einflussreichsten deutschen Prediger des 15. Jahrhunderts: „Seine bildhafte, anschauliche und oft in Dialogform geführte Rhetorik kam so gut an, dass er seine Predigten bald von einer Seitenkapelle ins Hauptschiff des Münsters verlegen musste, wo 1485–87 aufgrund des großen Zuspruchs extra eine neue Kanzel errichtet wurde.“ (Brinkmann: Hexenlust und Sündenfall, S. 31). Brinkmann, a.a.O.

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(* 1435; † 1495) zur besonderen Pflicht gemacht hatte40. Institoris (die Mitautorenschaft von Sprenger ist umstritten) hatte mit dem 1486 erstmals erschienenen Hexenhammer (lat. „Malleus Maleficarum“) ein mächtiges Instrument zur Legitimation von Hexenverfolgungen geschaffen. Mit ihm rückte die Frage in den Mittelpunkt, wie verbreitet und gefährlich das Treiben von Hexen nun tatsächlich sei. Geiler versuchte auf seine Art zur Klärung beizutragen und kam in seinen Predigten des Öfteren auf die Hexerei zu sprechen41. Zum Schadenzauber von Hexen, der zur Deutung von Unglücksfällen aus dem Alltagsleben diente wie beispielsweise Unwetterkatastrophen, welche die Landwirtschaft existentiell bedrohten, oder Krankheiten beim Vieh und bei Menschen wie zum Beispiel sogenannter Hexenschuss, Impotenz, führte er Folgendes aus42: Da hat der teuffel ein pact gemacht mit etlichen menschen und inen wort geben und zeichen; wen sie die zeichen thunt und die wort brauchen, so will er tun, das sie begeren, und also thut es der tüffel durch irentwillen. Aber daz daz die hexen thunt, ist numen ein zeichen und nit die wirklich ursach. Nim das exempel, so verstost du es. Ein hexin, die wil ein wetter oder hagel machen, so nimpt sie ein besem und stot in ein bach und würft dan mit dem besem wasser uber den kopf hinder sich aus, und den so kumpt der hagel. Das wasser hinder sich werffen und die wort sprechen, das macht als kein hagel. Aber der teufel, wen er die zeichen sieht und hört, der macht da oben in den lüften und in den winden sein gefert und macht das wetter.

Argumentiert wird mit einer Differenzierung zwischen Ursache und Wirkung43: Nicht die Hexe, sondern der Teufel ist der eigentliche Verursacher der Schäden. Er nimmt das an sich harmlose, gleichwohl seltsame Hantieren mit Salben, Töpfen und Geräten der Hexen wahr und löst daraufhin das jeweilige Übel aus. Zugleich flößt er den Frauen die Illusion ein, dass sie es seien, die das betreffende Schadensereignis verursacht hätten. Wenn die Außenstehenden diesen fälschlichen Eindruck teilen, gehen sie also dem Teufel auf den Leim und davor muss man sich natürlich hüten.

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Mit der Hexenbulle „Summis desiderantes affectibus“ vom 5. Dezember 1484 bestätigte Papst Innonzenz VIII. (* 1492; † 1492) die Existenz der Hexerei und verwarf eine bisher gültige kirchliche Lehrmeinung. Eine deutsche Übersetzung des Wortlautes findet sich in der von Günter Jerouschek und Wolfgang Behringer kommentierten, 2000 erschienenen Neuübersetzung von Heinrich Kramers „Hexenhammer“ (S. 101 ff.). Zum Ganzen ausführlich Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 31 ff. mit weiteren Nachweisen. Zit. nach Brinkmann, a.a.O., S. 32 f. Brinkmann, a.a.O., S. 33.

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Einen Aspekt gilt es sich vor diesem Hintergrund zu verdeutlichen: Das Hexenwesen und der Hexenwahn waren zur Entstehungszeit von Baldungs Werken zumindest in Straßburg eher Gegenstand des gedanklichen Austausches über Wahrheit und „Fantasey“. Die Hexenverfolgung in Form von Folter, Hexenprozessen und -verbrennungen setzte sich zumindest in Baldungs Heimat erst viel später, ab etwa 1570 durch, dann allerdings fast epidemisch.

IV. Baldungs Auseinandersetzung mit dem Hexenthema Kommen wir nun zu der künstlerischen Auseinandersetzung Baldungs mit dem Hexenthema. Gegenstand einer näheren Betrachtung, die hier im Sinne einer Darstellung der bislang bekannten kunstgeschichtlichen Interpretation gemeint ist, werden drei Werke Baldungs sein: Ein Holzschnitt aus dem Jahre 1510 und zwei Handzeichnungen aus dem Jahre 151444. Beginnen wir mit Ersterem45: Als Betrachter möchte man meinen, man kann das „Sausen und Brausen“ des dargestellten nächtlichen Treibens förmlich hören. Umgeben von aufsteigenden, sich verdichtenden Rauchschwaden präsentieren sich im Vordergrund zwei junge nackte Hexen in Rücken- und Vorderansicht. Sie sitzen einander zugewandt auf dem Boden und scheinen miteinander zu kommunizieren, umgeben von typischen Hexenaccessoires wie dem sogenannten Schmierhafen – ein Topf, den die Hexen zum Hagel sieden nutzen –, tierische und menschliche Schädelknochen, Forken, ein Spiegel und eine Katze. In der Mitte streckt eine Vettel46 beiden Arme nach oben, mit den Händen hält sie ein Tuch und balanciert einen Teller mit kaum deutbarem Getier. Hinter ihr scheint eine weitere Vettel neue Rauchschwaden zu produzieren. Über beiden braust eine junge nackte Hexe mit gespreizten Beinen rücklings sitzend auf einem Ziegenbock durch die Lüfte. Sie hält ihre Forke mit einem Topf, aus dem Tierbeine ragen, in die Rauchschwaden. Durch diese fliegt im Hintergrund eine weitere Hexe. Unzweifelhaft dokumentiert dieser Holzschnitt Baldungs Kenntnis der den Hexen unterstellten magischen Praktiken (wie das Hagel sieden oder die Nachtfahrten auf dem Ziegenbock, der als Sinnbild für den Teufel steht). Und

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Siehe zu den Werken Baldungs im Zusammenhang mit der Hexenthematik im Ganzen ausführlich mit Abbildungen Brinkmann, a.a.O., S. 50 ff. Hans Baldung Grien, Hexensabbat (1510). Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett. Eine im 15. Jahrhundert entstandene Bezeichnung für alte Frau mit verdorbenen Charakter und hässlichem, hexenhaftem Aussehen.

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er lässt auch das Vorbild Dürers erkennen, dessen bereits einleitend erwähnte Kupferstich-Hexe aus dem Jahre 1500 hier rezipiert ist47. Baldungs Hexen haben jedoch kaum etwas mit den Illustrationen der zeitgenössischen Hexentraktate48 gemein49. Denn bei Baldungs Hexensabbat gewinnt der Raum durch die starken Hellund Dunkelkontraste an Tiefe und die Hexen wirken zum Greifen nah. Hier zeigt sich bereits eine erste Besonderheit: Es handelt sich bei dem Druck um einen der frühesten Clair-obscur-Holzschnitte, bei dem Farbflächen und Lichter von einem Holzstock – der Tonplatte, Konturen und Binnenzeichnung hingegen von einem zweiten Holzstock – der schwarz eingefärbten Linienplatte, gedruckt werden.

Die Licht-Wirkung entsteht, indem auf allen Druckstöcken durch Ausschneiden die entsprechenden beleuchteten Stellen frei gelassen sind. An diesen Stellen ist dann das Weiß der Papierfarbe zu sehen. Durch den entstandenen Hell-Dunkel-Kontrast erfahren Räumlichkeit, plastische Effekte und Ausdruck eine beeindruckende Steigerung … Die den Nachthimmel darstellende Schwarzfläche im Hintergrund ist für den Holzschnitt der damaligen Zeit absolut außergewöhnlich.50

Die erhaltenen Druckexemplare dieses Holzschnitts zeugen aber auch von Experimenten Baldungs mit unterschiedlichen Einfärbungen der Tonplatte51: Dadurch erhalten die Drucke

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Hinz, in: Gersmann / Moeller / Schmidt (Hrsg.), Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung. Dabei handelt es sich um eine gelehrte Abhandlung, in der es darum geht, die Hexenlehre oder einen Teil davon zu erklären, zu erörtern oder zu widerlegen. Siehe etwa Ulrich Molitor (* um 1442; † 1507), Hexenküche, Hexensud (um 1489), ein Holzschnitt aus „De lamiis et phitonicis mulieribus“, auf dem zwei Hexen einen Sud zur Erzeugung von Hagelunwetter kochen. Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 72; siehe hierzu auch Fischer: Hans Baldung Grien, S. 22, wonach Baldung mit diesem Werk „durch Beigabe einer Tonplatte einen der frühesten und wirkungsvollsten Claiobscurschnitte geschaffen [hat]. Die schaurige Gruppe der wilden Beschwörung wüster Weiber, die Bockreiterin in den Lüften, aufschießende Lohe und Schwefelgeruch vor der nächtigen Landschaft enthüllen zum erstenmal ein Sphäre pathetischer und derber Dämonie, die keiner wie Baldung gestaltet hat.“ Der niederländische Holzschneider Jost de Negker (* um 1485; † 1544) gilt als Erfinder der Methode des Clair-obscur-Holzschnittes, die er im Jahre 1507 erstmals anwandte. Vgl. etwa die Fassung von Baldungs „Hexensabbat“ von 1510 aus dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin mit der im Museum Schloss Friedenstein in Gotha.

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völlig verschiedene atmosphärische Qualitäten. Wirkt der Druck ohne Einfärbung klar, … [betont] die ockerfarbene den Charakter einer Walpurgisnacht durch einen schweflig gelben Widerschein52.

Die damit verbundenen ästhetischen Dimensionen unterscheiden Baldungs Hexendarstellung grundsätzlich von den rein illustrativen Bildnissen in den Hexentraktaten und distanzieren sie auch von Dürers Kupferstich53. Und es zeigt sich noch eine weitere Auffälligkeit im Vergleich zu den Hexentraktaten: Diese zeigen die Hexen überwiegend als unauffällige, gänzlich bekleidete Frauen und mit den typischen Attributen einer Hausfrau (Geldkatze und Schreibzeug) ausgestattet54. Bei Baldung werden indes junge nackte Hexen in einem lockeren MotivEnsemble mit unterschiedlichen weiblichen Konstitutionen, Körperhaltungen, Gesten und Lebensalter vereint. Diese spielerisch wirkende Zusammenstellung von Figuren hatte Dürer bereits in der früheren Zeichnung des „Frauenbades“55 oder des noch prominenteren Kupferstichs „Vier Hexen“56 exemplarisch vorexerziert57. Auch hier findet sich jeweils ein lockeres Akt-Ensemble mit ausnahmslos unkonventionellen Figurationen, das heißt, es sind keine eingeübten Posen – weder thematisch-ikonographisch vorgeprägt noch all’antica – verwendet. Dürer zeichnete vielmehr nach der Natur, sei es tatsächlich oder dem Eindrucke nach. Das Ergebnis waren Bildnisse, die keiner einschlägigen Bildtradition zuzurechnen sind und folglich auch keine Sehgewohnheiten bedienten. Im Gegenteil – sie boten ein völlig neues Seherlebnis58. Doch das Hinwegsetzen über bestehende Schranken war verbunden mit der Suche nach einem Weg, die jahrelangen Studien des weiblichen Aktes59 in die Öffentlichkeit zu brin52 53 54

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Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 72. Vgl. Brinkmann, a.a.O. In diesem Sinne auch Hinz, in: Gersmann / Moeller / Schmidt (Hrsg.), Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung. Ausführlich hierzu Brinkmann, a.a.O., S. 24 ff. Diese Art von Darstellung in den Traktaten korrespondiert mit der damaligen Vorstellung, dass die Hexen keine fremdartigen Wesen, sondern ganz „normale“ Menschen sind, deren schwarzmagisches Wesen nur sehr schwer zu identifizieren war (was zugleich die Tortur zur Herbeiführung eines Geständnisses rechtfertigte); in diesem Sinne Hinz, a.a.O. Albrecht Dürer, Frauenbad (1496). Bremen, Kunsthalle. Albrecht Dürer, Vier nackte Frauen (Die vier Hexen) (1497). Berlin, Staatliche Museen. Vgl. Hinz, in: Gersmann / Moeller / Schmidt (Hrsg.), Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung. Ausführlich hierzu Hinz, in: Brinkmann (Hrsg.), Hexenlust und Sündenfall, S. 222 ff. Ausführlich hierzu Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 74.

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gen. Als Beispiele für die ersten Versuche mögen hier die Kupferstiche Dürers vom träumenden Doktor60 und vom großen Glück61 dienen. Es bedurfte einer tragfähigen Thematik, mit der sich die pralle Nacktheit und das Betrachterempfinden einigermaßen ins Lot bringen ließen. Und was eignete sich dazu besser als die sich in dieser Zeit mehr und mehr ausbreitende Hexenthematik, die in ihrer diffusen Charakteristik die erforderliche Bildgelegenheit für ungewöhnlichste Inventionen eröffnete? War das Frauenbad Dürers noch als anonymer Holzschnitt in die Öffentlichkeit gelangt, so wurde der offizielle Weg für die „Vier Hexen“ dadurch frei, dass Dürer das Bildnis negativ besetzte und ihm einen satanistischen Hintergrund gab62. Er ist erkennbar an der Teufelsfratze links, dem Totenkopf zu Füßen der Mittleren und dem Menschenknochen zu Füßen der rechten Frauenfigur63. Baldung – während der Dauer seiner Nürnberger Anwesenheit Zeuge von Dürers Anstrengungen – verfuhr vermutlich auf ähnliche Weise64: Es spricht einiges dafür, dass Baldung auf diesem Wege zu seinem Hexenthema gefunden hatte, das ihm in ihrer zwar heiklen, doch exklusive Outriertheit die gewünschten Figurationen mit ihren gewagten An- und Zumutungen erlaubte.

Welche Richtungen Baldung dabei künstlerisch auslotete, offenbaren zwei HellDunkel-Zeichnungen auf Tonpapier aus dem Jahre 1514, „Neujahrsgruß mit drei Hexen65“ und „Nackte junge Hexe, einen fischgestaltigen Drachen neckend“66. Auf der erstgenannten Zeichnung tanzen drei nackte Hexen, zwei junge und eine Vettel, in gewagten, aufreizenden Beinstellungen um- und miteinander. Die vordere junge Hexe kniet sich dabei mit dem Rücken zum Betrachter nieder und betrachtet durch ihre geöffneten Beine die eigene Scham. Auf ihren Rücken stellt die andere junge Hexe ihr Bein auf und wird dabei von der Vettel gestützt. Mit der einen Hand bedeckt sie ihre Scham, mit der anderen streckt sie ein Gefäß in die Höhe, aus dem Feuer zu lodern scheint.

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Albrecht Dürer, Der Traum (des Doktors) (um 1497/98). Berlin, Staatliche Museen. Albrecht Dürer, Nemesis oder Das Große Glück (um 1501/02). Frankfurt/M., Städel Museum. Albrecht Dürer, Vier nackte Frauen (Die vier Hexen) (1497). Berlin, Staatliche Museen. Ausführlich Hinz, in: Brinkmann (Hrsg.), Hexenlust und Sündenfall, S. 226 ff. Hinz, a.a.O., S. 225 f. Hans Baldung Grien, Neujahrsgruß mit drei Hexen (1514). Wien, Albertina. Hans Baldung Grien, Nackte junge Hexe, einen fischgestaltigen Drachen neckend (1514). Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle.

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Auf der zweitgenannten Zeichnung begegnet dem Betrachter ein merkwürdig anmutendes Geschehen: Eine nackte junge Hexe in seitlicher Ansicht „neckt“ ein fabelartiges Drachenwesen mit einem Pflanzenstab (?) an dessen geöffneten Schwanzende, aus dem offenbar eine Rauchsäule emporsteigt. Dabei streckt sie dem zu ihren Füßen sich ringelndem Fabelwesen mit geöffnetem Maul ihren Hintern entgegen. Dieser ist mit dem Maul des Fabelwesens durch einen fast gerade wirkenden „Strahl“ verbunden, dessen Material noch Richtung sich nicht eindeutig feststellen lassen. Zwei kleine, spielerisch wirkende Putti vervollständigen das Ensemble. An beiden Zeichnungen ist zunächst auffällig, dass sie sich im Vergleich zum Holzschnitt aus dem Jahre 1510 nahezu völlig „entschlackt von allem magischen Beiwerk präsentieren“67: Bei den drei, um- und miteinander tanzenden nackten Frauen sind „lediglich ein emporgehaltener Topf, aus dem Flammen schlagen, und die wehenden Haare von der Ikonographie des Hexensabbats übriggeblieben“. Auf der anderen Zeichnung deuten allein die wehenden Haare und die Rauchsäule aus dem Schwanz des drachenähnlichen Fabeltieres darauf hin, dass dieses von einer Hexe „geneckt“ wird. Die Hexenthematik begegnet uns hier nur noch als äußerer Rahmen, in dessen Gewand Baldung offenbar andere künstlerische Gattungen kunstvoll einkleidete68. Mit dem tanzenden Ensemble wird beispielsweise kunstvoll die Dreizahl aufgegriffen, denn sowohl in der Grund- als auch Bildfläche schließt sich die Gruppe im Umriss zu einem Dreieck zusammen. Genau diese Kombination aus Geometrisierung, Zahlensymbolik und akrobatischer Gruppenbildung dürfte aber beim Betrachter die Erinnerung an eine beliebte Kunstform des späten Mittelalters hervorgerufen haben, nämlich an Figurenalphabete.69

Und auch das merkwürdig anmutende Ensemble von Hexe und Fabelwesen, das bereits zu den vielfältigsten Deutungen geführt hat70, erlaubt einen Vergleich mit einer bekannten Kunstgattung,

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Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 58; 60. Vgl. Brinkmann, a.a.O., S. 58. Brinkmann, a.a.O. Brinkmann, a.a.O., S. 61 (mit weiteren Nachweisen) fasst diese wie folgt zusammen: „Man hat vermutet, daß die Hexe in das Maul des Untiers ihr Wasser läßt; auch an Menstruationsblut ist gedacht worden. Eine andere Forscherin wollte in dem Gebilde die Zunge des Drachen sehen, mit der dieser die Frau sexuell stimuliere. … Schließlich hat Katharina Siefert jüngst an einen Feuerstrahl gedacht, der den Geschlechtsakt mit dem Teufel symbolisiere.“

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Dela-Madeleine Halecker die über die gotische Drolerie bis in die Romanik zurückzuverfolgen ist. Auf Blatträndern gotischer Handschriften, an den Kapitellen oder in den Figureninitialen der Romanik tummelten sich zu Baldungs Zeit seit Jahrhunderten Menschen und Fabelwesen in den merkwürdigsten Paarungen, oftmals Rätselhaftes oder Unsittliches unternehmend. Weit geöffnete Münder, Mäuler oder Schnäbel, aber auch Schwanzenden der Tiere wurden dabei von den Künstlern oft als Schnittstellen eingesetzt.

Die Art, wie Baldung sowohl Rachen als auch den seltsamen Schwanztrichter des Drachen zur Verknüpfung mit der Hexe einsetzt, erinnert unmittelbar an solche Traditionen der Buchmalerei, die gerade um 1500 eine letzte Blüte erlebten71. Baldung löste sie mit seiner Zeichnung „aus dem dekorativen Zusammenhang der Buchmalerei heraus und transferierte sie in den Kontext der bildmäßigen Wahrnehmung“72. Dass er dabei durchaus bedachtsam vorging, zeigt eine weitere Bildformel, derer er sich bedient und auf deren Geläufigkeit er sich verlassen konnte, betraf sie doch eine der populärsten Heiligengestalten des Spätmittelalters73. Die Art und Weise, wie die Hexe den langen Stengel oder Stamm nach unten führt, erinnert in der Haltung an die Pose des Erzengels Michael in einer Episode der Apokalypse74: Nach Apk. 12,7–9 streitet Michael im Himmel wider den teuflischen Drachen und wirft ihn auf die Erde nieder. Gegen das Untier zu seinen Füßen führt er die Lanze in ähnlicher Weise wie die Hexe den Stab.

Die Darstellung dieser Szene steht „archetypisch für eine breite Bildtradition“75. Welcher abschließende Gesamteindruck verbleibt nach dieser Reise in die kunstgeschichtliche Expertise im Zusammenhang mit der Hexenverfolgung? Baldungs Werk greift zwar dieses Thema auf, doch weniger im Sinne einer wertenden Betrachtung des zeitgenössischen Geschehens. Vielmehr nutzte Baldung die Hexenthematik, um den weiblichen Akt in verschiedenster Variation auszuloten. Dabei bediente er sich altbekannter Kunstformen, die er teilweise persifliert, aber auch aktualisiert, indem er sie zur Behandlung eines modernen Themas wählt, das die Gemüter erregt. Es erscheint mir deshalb überzeugend, Baldungs Hexen als Werke anzusehen, die sich in erster Linie mit Kunst auseinandersetzen und weniger damit, was die Zeitgenossen für die Umtriebe von Hexen hielten. Kürzlich habe ich gelesen, Baldung habe mit seinen Hexenbildnissen aus der eher inhumanen Zeitepoche des Hexen71 72 73 74 75

Brinkmann, a.a.O., S. 65 mit weiteren Nachweisen. Brinkmann, a.a.O., S. 66. Brinkmann, a.a.O. Brinkmann, a.a.O. Brinkmann, a.a.O.

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wahns und der Hexenverfolgung wertvolles Humankapital geschlagen76. Ein schöner Gedanke! Warum werfe ich dann die Frage nach einer berechtigten Zensur dieses Humankapitals im Museum auf?

V. Baldungs Hexenbilder – ein Fall für die Zensur? Früher wäre ich vermutlich nicht auf einen solchen Gedanken gekommen. Und dem Kunstkenner wird er sich vermutlich auch nicht aufdrängen. Aber als Gustav Hartlaub 1961 sein Werk: „Hans Baldung Grien: Hexenbilder“ in der Reihe „Werkmonographien zur bildenden Kunst“ bei Reclam veröffentlichte, glaubte der Verlag, die Zeichnung mit der jungen Hexe und dem Fabelwesen einem breiteren Publikum nicht zumuten zu können77: Da dieses Bändchen für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt ist, erschien es dem Verlag aus Gründen der Dezenz ratsam, von der Baldung-Zeichnung „Hexe mit Ungeheuer“ (Karlsruhe, Staatl. Kunsthalle) abzusehen – an sich eine der künstlerisch bedeutendsten Studien des Meisters.78

Ich kann mir gut vorstellen, dass sich heutzutage Museen ebenfalls die Frage stellen, ob aus „Gründen der Dezenz“ auf die Ausstellung des einen oder anderen möglicherweise „anstößigen“ Kunstwerkes wie die Hexenbilder von Baldung verzichtet werden sollte. Denn Vorfälle wie die Affäre des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Edathy um „verdächtige“ (Nackt-)Kinderfotos in seinem Besitz führen aktuell dazu, dass „Sittenwächter zum Gefecht wider die Kunst“ aufrufen79. Das wäre aber ein Thema für einen ganzen weiteren Vortrag. Aus kunsthistorischer Sicht ist aber, wie ich hoffe klar dargestellt zu haben, die Eingangsfrage einfach zu beantworten: Baldungs Hexen – ein Fall berechtigter Zensur im Museum? Eindeutig Nein!

Literatur BRINKMANN, BODO, Hexenlust und Sündenfall – Die seltsamen Phantasien des Hans Baldung Grien, Ausstellungskatalog, hrsg. von B. Brinkmann, 2007. 76 77 78 79

In diesem Sinne Hinz, in: Gersmann / Moeller / Schmidt (Hrsg.), Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung. Vgl. Erche, FAZ.net vom 23.02.2007. Zit. nach Brinkmann, Hexenlust und Sündenfall, S. 61. Ruthe, Berliner-Zeitung.de vom 28.02.2014.

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ERCHE, BETTINA, Wenn die Hexe den Drachen kitzelt“, FAZ.net vom 23.02.2007 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/kunst-wenn-die-hexeden-drachen-kitzelt-1411188.html). FISCHER, OTTO, Hans Baldung Grien, 2. Aufl. 1943. HEGELE, KARLHEINZ, Hans Baldung. Ein Maler in Zeiten des Umbruchs, 1999. HINZ, BERTHOLD, Baldung und Dürer: Nackte Figuren und ihre Bildgelegenheiten, in: B. Brinkmann (Hrsg.), Hexenlust und Sündenfall – Die seltsamen Phantasien des Hans Baldung Grien, Ausstellungskatalog, 2007, S. 203 ff. DERS., Hans Baldung Grien (1484–1545) oder: Der Versuch, Baldungs Hexenbilder verständlich zu machen, in: G. Gersmann / K. Moeller / J. M. Schmidt (Hrsg.), Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, Historicum.net (https://www.historicum.net/purl/45znf/). RADBRUCH, GUSTAV, Hans Baldungs Hexenbilder (1938), in: G. Spendel (Bearb.), Kulturphilosophische und kulturhistorische Schriften, Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 4, 2002, S. 261 ff. RUTHE, INGEBORG, Caravaggios anstößiger Amor, Berliner-Zeitung.de vom 28.02.2014 (http://www.berliner-zeitung.de/kultur/kunst-unter-paedophiliever dacht-caravaggios-anstoessiger-amor-3289464).

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Wenn die Muse das Recht (scheinbar) küsst …* I. Einleitung Wenn die künstlerische Muse das Recht „küsst“, kann dieser Umstand Folgendes nach sich ziehen: Das Recht fühlt sich inspiriert, auf diese Berührung zu reagieren. Damit sind wir bereits beim tragischen Teil der Geschichte angelangt – denn in der Regel sieht das Recht in der Berührung eine Bedrohung geschützter Interessen und verfällt in Panik. Ob dies nun richtig oder falsch ist, entscheiden letztendlich die Umstände des Einzelfalles. Manchmal wird der Kunst aber auch ein negatives Verhältnis zu den Rechten Dritter nachgesagt, das sich im Ergebnis als nicht haltbares Gerücht erweist. Hier wird die Kunst oft durch Umstände zum Feindbild erklärt, die sie selbst nicht zu verantworten hat und die folglich auch nicht geeignet sind, der Kunst Handschellen anzulegen. Wie wichtig es ist, dieses Trugbild zu erkennen und zu entlarven, zeigt ein Artikel in der „Berliner Zeitung“ aus dem Jahre 2014 mit dem Titel: „Kunst unter Pädophilie-Verdacht – Caravaggios anstößiger Amor“. Der Beitrag berichtete davon, dass der Berliner Gemäldegalerie Alte Meister ein offener Brief zugestellt wurde, der „allergrößte Bedenken“ gegen Caravaggios Werk „Amor als Sieger“ aus dem Jahre 16021 richtet. Ich zitiere aus dem Artikel2: *

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Bei dem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete und mit Fußnoten versehene Fassung eines Vortrages, den die Autorin am 19. Oktober 2017 auf der in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Strafrecht (prof. zw. dr hab. Emil W. Pływaczewski) der Universität Białystok veranstalteten internationalen Tagung „Darf die Kunst alles? Aktuelle Rechtsentwicklungen aus deutscher und polnischer Perspektive / Czy sztuce wolno wszystko? Aktualne kierunki rozwoju prawa z perspektywy polskiej i niemieckiej“ an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) gehalten hat. Der Beitrag ist auch als Aufsatz in dem von Emil W. Pływaczewski und Ewa M. GuzikMakaruk herausgegebenen Band 8 der Reihe „Current problems of the penal law and criminology / Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie“, 2019, S. 475 ff. erschienen. Michelangelo Merisi da Caravaggio (* 1571; † 1610), Amor vincit omnia (Amor als Sieger) (um 1601). Berlin, Gemäldegalerie Alte Meister. Ruthe, Berliner-Zeitung.de vom 28.02.2014.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-023

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Dela-Madeleine Halecker Das Bild soll nun, ginge es nach den Briefschreibern, wegen seiner „unnatürlichen und aufreizenden Position“ schleunigst von der Wand. Die „ausdrücklich obszöne Szene“ diene „zweifellos der Erregung des Betrachters“. Auch unter Rücksicht auf das Alter des „Modells“ sei dieses künstlerische Produkt höchst verwerflich. Es könnten Pädophile ihre perversen Neigungen darauf projizieren.

Keine Sorge, noch wurde das Bild nicht verhangen, aber der Brief hat dennoch Spuren hinterlassen – zumindest auf Werbeplakaten mit diesem Gemälde. Sie erscheinen nunmehr nur noch mit Balken … Und dieses Phänomen lässt sich über die Landesgrenzen hinaus beobachten, wie ein Werbeplakat des Wiener Leopoldmuseums zu der Ausstellung „Nackte Männer“ zeigt3, oder auch ein Fernsehbericht in den Vereinigten Staaten über den enormen Versteigerungserlös des Piccasso-Werkes „Die Frauen von Algier“ von wahrhaftig – umgerechnet – ca. 160 Millionen Euro4. Scheinbar aus „Gründen der Dezenz“ wird zunehmend das Wagnis gescheut, möglicherweise „anstößige“ Kunst der Öffentlichkeit zu präsentieren. Denn Vorfälle wie die Affäre des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Edathy um „verdächtige“ (Nackt-)Kinderfotos in seinem Besitz führen aktuell dazu, dass „Sittenwächter zum Gefecht wider die Kunst“5 aufrufen6. Es scheint, als würde sich die Geschichte wiederholen und die Moralvorstellung erneut aufleben: Was jedermann kennt, sollte jedoch nicht jedermann

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Das Werbeplakat des renommierten französischen Künstlerpaares Pierre et Gilles – dahinter verbergen sich der Fotograf Pierre Commoy (*1950) und der Maler Gilles Blanchard (* 1953) – für die Ausstellung „Nackte Männer von 1800 bis heute“ des Wiener Leopold Museums (vom 19.10.2012–28.01.2013, wohl verlängert bis 04.03.2013) sorgte für heftige Proteste. Das Original, auf dem drei multikulturelle Fußballer, nur mit geringelten Stutzen in den Farben der französischen Nationalflagge blau, weiß, rot bekleidet und in frontaler Ansicht fotografiert, zu sehen sind, wurde daraufhin mit einem rotem Balken zensiert; näher hierzu die Pressemeldungen „Nach Protesten: Reklame für Ausstellung ʻNackte Männerʼ wird zensuriert“ in DerStandard.at vom 12.10.2012 (http://derstandard.at/1348285862803/Nach-ProtestenReklame-fuer-Ausstellung-Nackte- Maenner-wird-zensuriert) und „Nackte erregen in Wien Ärger“ in NTV.de vom 18.10.2012 (https://www.n-tv.de/panorama/Nackteerregen-in-Wien-Arger-article750837 6.html). Siehe hierzu die Pressemeldung „US-Sender Fox zensiert Brüste“ in Tagesspiegel.de vom 14.05.2015, (http://www.tagesspiegel.de/medien/-picasso-bild-frauen-vonalgier-us-send er-fox-zensiert-brueste/11777548.html). Ruthe, a.a.O., Berliner-Zeitung.de vom 28.02.2014. Siehe in dem Zusammenhang auch die Pressemeldung „Rathaus entfernt Bilder, um ʻkeine Gefühle zu verletzenʼ“ in Welt.de vom 22.04.2016 (http://www.welt.de /politik/deutschland/article154664819/Rathaus-entfernt-Bilder-um-keine-Gefuehlezu-verletzen .html).

Wenn die Muse das Recht (scheinbar) küsst …

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sehen … Denn die künstlerische Darstellung „körperlicher Nacktheit“ vermag seit jeher die Gemüter in Aufruhr zu versetzen:

II. Zensur der „Nacktheit“ – ein Blick in die Geschichte Als am 31. Oktober 15417 das von Papst Clemens VII. (* 1478; † 1534) in Auftrag gegebene und unter Papst Paul III. (* 1468; † 1549) vollendete Werk8 „Das Jüngste Gericht“9 von Michelangelo10 in der Sixtinischen Kapelle enthüllt wurde, sorgte es für einen Skandal11. Für ihn stehen bekanntermaßen die Worte des päpstlichen Zeremonienmeisters Biagio Martinelli da Cesena (* 1463; † 1544), die er während einer Besichtigung des zu drei Vierteln fertiggestellten Freskos geäußert haben soll. Es sei wider alle Schicklichkeit, an einem heiligen Orte so viele nackte Gestalten zu malen, die aufs unanständigste ihre Blößen zeigten und daß das kein Werk für die Kapelle des Papstes, sondern für eine Badestube oder Kneipe sei12.

Vor dem Hintergrund, dass Michelangelos Werk in einer entscheidenden Phase der Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit den Protestanten um Luther entstand, ist zudem immer wieder vermutet worden, dass Michelangelo, der in engem Kontakt zu den aufgeschlossenen Kreisen der Kurie stand, möglicherweise mit seinem monumentalen Fresko selbst Stellung in dieser Diskussion bezog. Folglich stand die kontroverse Diskussion der neuartigen Komposition und Körperdarstellung nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der Gegenreforma7

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Das Jüngste Gericht wurde damit am Vorabend von Allerheiligen enthüllt, dem christlichen und von der westlichen Kirche am 1. November begangenen Fest, an dem aller Heiligen gedacht wird. Papst Paul III. „wünschte, dass er die … Arbeit fortsetzen möge, ohne an der Erfindung oder dem früheren Plane, der ihm vorgelegt worden, etwas zu ändern, da er die Kunst Michelagnolos [sic] hoch achtete und solche Liebe und Ehrfurcht für ihn empfand, daß er ihm nur zu gefallen trachtete“. (Vasari: Le Vite de’ più eccellenti pittori, hier zit. nach Jaffé, Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Maler, S. 382; siehe hierzu auch Condivi: Das Leben des Michelangelo Buonarroti, S. 64 ff. Michelangelo Buonarroti (* 1475; † 1564), Giudizio universale (1536/41). Vatikan, Sixtinische Kapelle. Michelangelo Buonarroti, italienischer Maler und Bildhauer, wird bekanntermaßen zu den bedeutendsten Künstlern der italienischen Hochrenaissance gezählt. Vgl. Baucheron / Routex, Skandalkunst, S. 18 ff. Vasari, Le Vite de’ più eccellenti pittori, hier zit. nach Jaffé, Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Maler, S. 383 f. Nach dessen Überlieferung soll Michelangelo darüber sehr verärgert gewesen sein, weshalb er sich zugleich daran machte, Biagio im Fresko als Höllenwächter Minos zu porträtieren, inmitten einer Schar von Teufeln, mit Eselsohren und einer, seine Beine umschlingenden großen Schlange, die ihm in seine Genitalien beißt, vgl. Vasari, a.a.O., S. 384.

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tion, nach der Aktdarstellungen im Kirchenraum als unmoralisch oder gar häretisch galten. Die anhaltende Kritik an der Blöße der Figuren, die sich bis zu der Forderung steigerte, das Fresko von der Wand zu schlagen, wurde schließlich durch das am 3. Dezember 1563 beschlossene Bilderdekret13 des Trienter Konzils besänftigt14. Es beinhaltete eine „Anweisung“ an die Bischöfe, die Gläubigen in der von alters überlieferten Lehre über die Fürbitte der Heiligen, ihre Anrufung, die Verehrung der Reliquien und den rechten Gebrauch der Bilder zu unterweisen.15

Jegliches Element des Aberglaubens, der Unzucht und des Profanen in den Bildern und im Bilderkult war dabei zu unterbinden16. Das Dekret, durch die Bulle Papst Pius IV. (* 1499; † 1565) vom 26. Januar 1564 bestätigt, bildet den „Beginn der sich von da an bis in die allerjüngste Gegenwart fortsetzende Zensur- und Gängelungsversuche der religiösen Kunst durch den Klerus“17. Noch unter dem Pontifikat Pius IV. und kurz nach dem Tode Michelangelos erhielt sein ehemaliger Schüler Daniele da Volterra (*1509; †1566) den Auftrag18, die 13 14

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Ausführlich zum Trienter Konzil siehe Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 1, 1949. Hintergrund für das Bilderdekret war der Umstand, dass in Frankreich „während des ersten Hugenottenkrieges eine Welle furchtbarer Bilderstürme über das Land hinweggegangen war, die der in Trient anwesende Theologe Claude de Sainctes in einer dem Kardinal Guise gewidmeten Streitschrift geschildert hatte: Beim Sturm auf StMédard in Paris hatten die Hugenotten ʻkein Bild zurückgelassen, ohne ihm den Kopf abzuschlagen wie einem lebendigen Heiligenʼ; ähnliche Bilderstürme waren in Orléans, Rouen, Lyon, in der Dauphiné und in der Gascogne erfolgt.“ (Jedin, a.a.O., Bd. 4, 2. Halbbd., 1975, S. 165). Feld, Der Ikonoklasmus des Westens, S. 196. Siehe hierzu auch Jedin, Die Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 4, 2. Halbbd., 1975, S. 183: „Im Sinne des Dekrets liefert die christliche Kunst mithin nicht nur Objekte der Frömmigkeit, sie ist auch Gehilfin der kirchlichen Verkündigung. Deshalb darf sie keine Irrtümer (falsa dogmata) enthalten und keine profanen oder gar unsittlichen Gegenstände darstellen; um allgemein verständlich zu bleiben, soll sie sich von ʻUngewohntemʼ enthalten.“ Feld, Der Ikonoklasmus des Westens, S. 199. Siehe jedoch Jedin, a.a.O., S. 184 – Hervorhebung von dort: „Hat das Trienter Konzil durch sein Bilderdekret das künstlerische Schaffen als solches in eine bestimmte Richtung lenken wollen? Diese Frage ist mit Sicherheit zu verneinen, jedoch nicht die weitere, ob die kirchliche Kunst in der Folgezeit tatsächlich durch Geist und Buchstaben des Dekrets beeinflusst worden ist. Diese Frage zu beantworten ist Sache der Kunstgeschichte. An dieser Stelle braucht nur herausgearbeitet zu werden, daß das Konzil auch in diesem Dekret sich auf seine eigentliche Aufgabe beschränkt, Zurückhaltung und Maß übt.“ Gemeinhin auch als Erlass „Pictura in Cappella Ap.[ostoli]ca coopriantur“ („Die Bilder der Apostolischen Kapelle sind einzukleiden“) bekannt, vgl. Widmann, FR.de vom 18.02.2014.

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anstößigen Stellen zu bedecken19. Er handelte sich dadurch den unrühmlichen Spitznahmen „Braghettone“ (Hosenmaler) ein20. Die Bekleidung „unanständiger“ Körperteile griff sodann wie ein „Lauffeuer“ um sich und setzte sich auch im 17./18. Jahrhundert fort: Auf diese Weise wurden Masaccios „Adam und Eva“21 in der Brancacci-Kapelle der Santa Maria Kirche in Florenz im Jahre 1674 mit Feigenblätter bedeckt und sogar antike Statuen im 18. Jahrhundert mit einem Schamschutz versehen. Letzteres, als sogenannte „Feigenlaub-Kampagne“ in die Geschichtsbücher eingegangen, kommentierte der Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (* 1717; † 1768) in einem Brief an seinen befreundeten Kunstsammler Baron Philipp von Stosch (* 1691; † 1757)22: Diese Woche wird man dem Apollo, dem Laocoon und den übrigen Statuen im Belvedere ein Blech vor den Schwanz hängen vermittelst eines Drahts um die Hüften: Vermuthlich wird es auch an die Statuen des Kapitols kommen. Eine eselsmäßige Regierung ist kaum in Rom gewesen wie die itzige ist.

Doch die Kunst hatte zwischenzeitlich einen anderen Weg gefunden, „Nacktheit“ gesellschaftsfähig zu präsentieren. Mit der Renaissance, die ihre Ideen aus der griechischen Mythologie schöpfte, entfalteten sich neue, zum Teil drastische Formen künstlerischer Darstellung von „Nacktheit“: Zeus, der sich in einen Schwan verwandelt, um Leda zu verführen23 oder Pan, der der Nymphe Syrinx unter Anwendung von Gewalt nachstellt24.

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Vgl. Feld, Der Ikonoklasmus des Westens, S. 199; Baucheron / Routex: Skandalkunst, S. 18. Im Rahmen einer 14 Jahre andauernden Restauration des Freskos, die 1994 ihren Abschluss fand, stellte sich heraus, dass „keineswegs jeder Schurz … von Daniele [stammt]. Spätere Generationen fanden ebenfalls noch viele Genitalien und Gesäße zu übermalen.“ (O.V., Der Spiegel 9/1994). Vgl. Feld, a.a.O.; Baucheron / Routex, a.a.O. Im Rahmen der Restaurationsarbeiten wurden die Übermalungen z.T. als historisches Zeitdokument belassen, andere entfernt. Teilweise war eine Wiederherstellung auch gar nicht möglich, weil das Fresko an dieser Stelle gänzlich abgeklopft gewesen ist. (Der Spiegel, a.a.O.). Tommaso di Giovanni, genannt Masaccio (* 1401; † 1428): La cacciata dal Paradiso (Die Vertreibung aus dem Paradies) (1427). Florenz, Cappella Brancacci della Chiesa di Santa Maria del Carmine. Dittmar, Welt.de vom 15.04.2015. Siehe etwa Antonio da Correggio (* 1490; † 1534), Leda e il cigno (Leda mit dem Schwan) (1531/32). Berlin, Gemäldegalerie. Siehe etwa Peter Paul Rubens (* 1577; † 1640), Pan en Syrinx (1617/19). Kassel, Schloss Wilhelmshöhe, Gemäldegalerie Alte Meister.

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Selten galten auch später diese Bildnisse von „kulturell oder zeitlich weit entfernten Szenarien“ als unanständig25. So findet man im 19. Jahrhundert Gefallen an traumverlorenen Haremsszenen oder angeketteten Sklavinnen, erträgt aber nicht die Darstellung einer Prostituierten von nebenan26: Als Édouard Manet (* 1832; † 1883) im Jahre 1863 sein im gleichen Jahre vollendetes Gemälde „Olympia“27 im Pariser Salon ausstellte, „verursacht es einen unglaublichen Aufruhr und wird für das anstößigste Werk der Kunstgeschichte gehalten“28. Ist es der direkte, herausfordernde Blick? Ist es das darin zum Ausdruck kommende mangelnde Gefühl für Scham oder Reue? Oder ist es der hingehaltene Blumenstrauß als Geschenk für einen erwiesenen, „delikaten“ Gefallen? Kein Zweifel, diese porträtierte Frau lässt sich nicht idealisieren, hier wird vielmehr „die kanonische Venus mit ihrem makellos rosigen Fleisch zu einer nüchternen, gewöhnlichen Prostituierten“29. Für Manets künstlerische Suche nach einer realistischen Sichtweise hatte weder die akademische Kunstwelt noch das gebildete Bürgertum des 19. Jahrhunderts Verständnis. In ihrer Welt war Nacktheit nur dann erlaubt, wenn sie dem Betrachter in glorifizierter Form im Rahmen einer mythologischen Szene begegnete. Dadurch wurde das Erotische zu jener Zeit bis zur Unendlichkeit sublimiert und sentimentalisiert. Ein krasser erotischer Realismus spielte in der offiziellen Kunst und für den Bildungsplan des Bürgertums keine Rolle. Dafür entstand eine neurotische Decadence-Kunst mit Surrogatcharakter (Bayros, Beardsley, Geiger, Rops und andere), die das erotische Interesse an der Kunst zum Ästhetizismus jener wenigen erstarren ließ, die stark oder auch nur privilegiert genug waren, um die Konventionen der Sittlichkeit und des öffentlichen Anstandes umgehen zu können. Erotische Kunst, wo sie nicht auf das Gebiet der Karikatur und des Witzes ausweichen konnte oder mochte, … verschwand in den Schubladen der Privatsammler und Museen oder blieb durch ihr exklusives Erscheinen in kostbaren Editionen und Mappenwerken kleiner Auflagen der kunstinteressierten Allgemeinheit unbekannt. Diese falsche Exklusivität hat ihr bis heute auch beim gebildeten Bürgertum den Rang des Verbotenen und Unzüchtigen bewahrt.30

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Baucheron / Routex, Skandalkunst, S. 90 f. Baucheron / Routex, a.a.O., S. 91. Édouard Manet, Olympia (1863). Paris, Musée dʼOrsay. Baucheron / Routex: Skandalkunst, S. 102. Baucheron / Routex, a.a.O. Leiss: Kunst im Konflikt, S. 79 f.

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Es ist mithin nicht verwunderlich, dass nach Aufkommen der Reproduktionsmöglichkeit von Kunstwerken der Malerei und Bildhauerei Mitte des 19. Jahrhunderts, insbesondere in Form von Kunstpostkarten, eine neue Zensurkampagne ausgelöst wurde. Denn nunmehr wurden die Kunstwerke und mit ihnen die künstlerische Darstellung von Nacktheit / Sexualität für Menschen sichtbar, die selbige niemals zu Gesicht bekamen: So manche Buchhändler waren findig und stellten diese Postkarten in den Schaufenstern ihrer Buchläden aus. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass sich die Leute davor die Nase plattdrückten – Kunstwerke und mit ihnen die künstlerische Darstellung von Nacktheit / Sexualität wurde nunmehr für Menschen sichtbar, die selbige niemals zu Gesicht bekamen. Einer „ebenso ungeahnten wie als gefährdend und daher gefährlich empfundenen Breitenwirkung solcher Werke“ galt es zu begegnen31. In der Geschichte wird dieses Unterfangen als „Lex Heinze“ apostrophiert, weil ein aufsehenerregender Mordprozess im Jahre 1891 gegen die Eheleute Heinze32 wegen Erschlagung eines Nachtwächters zu Bestrebungen des Gesetzgebers führte, den § 184 RStGB zu verschärfen. Dessen Straftatbestand lautete damals wie folgt: Wer unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen verkauft, vertheilt oder sonst verbreitet, oder an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt, wird … bestraft.

Verlagern wir also das Geschehen kurz zurück auf den 28. September 1891, dem ersten Verhandlungstag vor dem Berliner Schwurgericht …

III. „Lex Heinze“ Angeklagt waren wegen versuchten schweren Diebstahls und Mordes der 27 Jahre alte Töpfer Gotthilf Rudolf Hermann Heinze und seine 42jährige Ehefrau Anna Joanna Sophie Dorothea Heinze. Ihnen wurde Folgendes zur Last gelegt33: Am 27. September 1887 Morgens bald nach 6 Uhr betrat der Parkwächter Schulz, der dieses Gitter abends zu schließen und morgens zu öffnen hat, in Begleitung des Arbeiters Theodor Kumis die Parkanlagen [der Elisabethkirche]. Als Beide an die zur Sakristei führende Treppe gelangt waren, fanden sie eine Nachtwächtermütze, und als sich Schulz in Folge dessen umblickte, sah er die Leichte des ihm bekannten Nachtwächters Braun an einem Baume hängen. Der Nachtwächter Braun hatte 31 32 33

Leiss, a.a.O., S. 245. Zum Verfahren siehe ausführlich: o.V., Der Mord-Prozess Heinze. o.V.: Der Mord-Prozess Heinze, S. 6; 7; 14.

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Dela-Madeleine Halecker des Nachts den Park zu revidieren, da sich häufig Gesindel selbst aufhielt, und er besaß deshalb auch einen Schlüssel zu dem Gitter. Die Leiche hing etwa einen Fuß über der Erde, um den Hals war der lederne Schlüsselriemen des Wächters geschlungen. ... In der Nähe des Thatortes fand man menschliche Exkremente, [weshalb anzunehmen sei], daß die Verbrecher einem alten Aberglauben gehuldigt haben, der in jenen Kreisen allgemein verbreitet ist und vor Entdeckung schützen soll … Hiernach ist die Vermutung gerechtfertigt, daß von mehreren Thätern ein Einbruch in die Elisabethkirche geplant war, daß der Wächter die Thäter überraschte und sich nur ein kurzer Kampf entspann, der mit dem Tode des Wächters endigte.

Jedoch war nicht die Untat der Eheleute Heinze der Auslöser für die Empörung34. Vielmehr brachten die ersten vier Verhandlungstage ohne Ausschluss der Öffentlichkeit zutage, was lange Zeit unter der Oberfläche einer wohlsituierten Bürgerlichkeit verborgen geblieben war: Heinze ging keiner regelmäßigen Arbeit nach, sondern lebte von den Einkünften seiner Ehefrau, die diese als Prostituierte einnahm – sie war bereits wegen 44 Verstößen gegen die Sittengesetze vorbestraft35. Berlin und sein Milieu von Arbeitslosigkeit, Prostitution, Zuhälterei, Alkohol und miesen Kellerwohnungen – während des Prozesses trat es in allen Einzelheiten ans Tageslicht36. Als schließlich Kaiser Wilhelm II. durch die umfangreiche Berichterstattung in der Zeitungspresse von den sittlichen Missständen in der Reichshauptstadt erfuhr, schritt er zur Tat: Durch einen Erlass vom 22. Oktober 1891 beauftragte er das preußische Staatsministerium mit der Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfes, um auf das Gebiet der Sittlichkeit besser einwirken zu können37. Denn zu jener Zeit sah das Reichstrafgesetzbuch keinen Straftatbestand für Zuhälterei vor.

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Das Schwurgericht verurteilte schließlich Heinze am 02.07.1892 – der Prozess war am vierten Verhandlungstag wegen der erforderlichen Vernehmung eines Zeugen im Ausland unterbrochen und knapp neun Monate später am 27. Juni 1892 fortgesetzt worden – wegen versuchten Schweren Diebstahls und Körperverletzung mit Todesfolge zu 15 Jahren Zuchthaus, seine Ehefrau wegen Beihilfe zu diesen Taten zu 10 Jahren Zuchthaus. Beiden wurden zudem für 10 Jahre die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt, vgl. o.V., Der Mord-Prozess Heinze, S. 55 ff.; 73 ff. Siehe o.V., Der Mord-Prozess Heinze, S. 5. Vgl. Mast: Um Freiheit für Kunst und Wissenschaft, S. 139. Mast, a.a.O., S. 139 f. Siehe auch Roeren: Die Lex Heinze, S. 5, wonach der Erlass „eine ‘wirksame Abwehrʼ der öffentlichen Unsittlichkeit für notwendig erklärte, sich dabei auf die ʻöffentliche Meinungʼ berief und die Erwartung aussprach, daß bei den zu ergreifenden Maßregeln die ‘Unterstützung innerhalb der gesittenen Kreise der Bevölkerungʼ nicht fehlen würde“ – Hervorhebungen von dort.

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Das Gesetzgebungsverfahren setzte sich sodann erstmals mit einem Gesetzentwurf38 in Gang, der dem Reichstag am 22. November 1892 vorgelegt wurde. Der Entwurf befasste sich in erster Linie mit einer Reform der bisherigen Bestimmungen über Kuppelei und der Schaffung eines Straftatbestandes für die Zuhälterei im RStGB – was hier jedoch im Weiteren vernachlässigt werden soll39. In zweiter Linie suchte der Entwurf einen erhöhten Schutz der Sittlichkeit darüber zu erzielen, dass er den Straftatbestand des § 184 StGB unter anderem dahingehend erweiterte, dass auch strafbar sei40, wer an öffentlichen Straßen oder Plätzen Abbildungen oder Darstellungen ausstellt oder anschlägt, welche, ohne unzüchtig zu sein, durch gröbliche Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls Aergernis zu bereiten geeignet sind.

Nun drängt sich zunächst die Frage nach einem Zusammenhang der generellen Tatbestandserweiterung des § 184 StGB mit dem Mordfall Heinze auf. Denn dessen betrübliche Symptome Zuhälterei und Prostitution lagen nicht in der Verbreitung „unzüchtiger Schriften“ verwurzelt, sondern in den vorherrschenden sozialen Missständen der Reichshauptstadt41. Gleichwohl habe der Prozess Heinze einen erschreckenden Einblick in den Abgrund sittlicher Verkommenheit und in die durch die Verbreitung von Unsittlichkeit bewirkte moralische Verseuchung weiter Volksschichten gewährt42.

Es galt also den Kreis von Gefahren für einen sittlichen Niedergang, zu denen auch unzüchtige Schriften und dergleichen zählten, prophylaktisch einzuengen43. Die beabsichtigte Tatbestandserweiterung über das Unzüchtige hinaus44 beruhte zudem auf der bisherigen Auslegung des Begriffs „unzüchtig“ durch die Judikatur45:

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Dieser ging zurück auf eine Vorlage der Preußischen Regierung vom 12.01.1892 und einen Bundesratsbeschluss vom 02.02.1892, vgl. Mast, a.a.O., S. 140. Ausführlich hierzu Hartmann: Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei, S. 72 ff.; Müller: Die Lex Heinze, S. 19 ff. Mast: Um Freiheit für Kunst und Wissenschaft, S. 140. Vgl. Kramer, Der Spiegel 38/1966. Roeren: Die Lex Heinze, S. 5; vgl. Müller: Die Lex Heinze, S. 6 f.; Mast: Um Freiheit für Kunst und Wissenschaft, S. 140. Vgl. Müller, a.a.O., S. 6. Diese Erweiterung war „von der bayerischen Regierung veranlaßt worden; der der Vorlage zugrundeliegende Gesetzentwurf Preußens hatte eine solche Bestimmung nicht enthalten“. (Mast: Um Freiheit für Kunst und Wissenschaft, S. 140). Aus der Begründung zur Gesetzesvorlage, zit. nach Roeren, Die Lex Heinze, S. 14 – Hervorhebung von dort.

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Dela-Madeleine Halecker Nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts sind Schriften, Abbildungen und Darstellungen nur dann als „unzüchtig“ (im Sinne des § 184 St-G-B) anzusehen, wenn sie das Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung gröblich verletzen. Nun existieren aber zahlreiche Abbildungen und Darstellungen, welche als unzüchtig in dem angegebenen Sinne zwar nicht erachtet werden können, aber doch geeignet sind, durch Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls Aergernis zu erregen, wenn solche Abbildungen und Darstellungen in den Schaufenstern der Verkaufslokale, Zeitungsexpeditionen und dergleichen ausgelegt oder an den zur Anheftung von Veröffentlichungen dienenden Plätzen, Säulen und dergleichen angeschlagen werden. Dem Anblick derart ausgestellter Abbildungen und Darstellungen vermag sich das auf die Benutzung der öffentlichen Wege und Plätze angewiesene Publikum nicht zu entziehen. Es dürfte aber ein hervorragendes öffentliches Interesse dafür bestehen, daß jenem Teile des Publikums, welcher an solchen anstößigen Abbildungen und Darstellungen Aergernis nimmt, Schutz gewährt werde, und dies umsomehr als der Anblick solcher Bilder mit schweren sittlichen Gefahren für unerwachsene Personen verbunden ist.

In seiner Ersten Lesung beschloss der Reichstag, die Gesetzesvorlage einer Kommission zur Vorberatung zu übertragen. Die Verhandlungen über den ausgearbeiteten Kommissionsentwurf wurden jedoch in der Zweiten Lesung am 26. April 1898 im Hinblick auf die ablaufende Legislaturperiode ergebnislos abgebrochen46. Die konservative Zentrumspartei blieb aber an der Sache dran und brachte am 7. Dezember 1898 einen neuen Antrag ein, dem am 3. Februar 1899 ein Gesetzesentwurf der verbündeten Regierungen folgte47. Der Reichstag überwies in Erster Lesung am 9. März 1899 den Zentrums- und Regierungsentwurf an eine Kommission zur Vorberatung48. Deren Vorlage, die beide eingereichten Entwürfe miteinander verband, überzeugte sodann trotz kontrovers geführter Debatte die Mehrheit im Reichstag und wurde am Schluss der Zweiten Lesung am 8. Februar 1900 angenommen. Der Kommissionsentwurf beinhaltete die bereits aus dem ersten Gesetzesentwurf bekannte, jedoch nunmehr etwas entschärfte und in § 184a RStGB-E explizit geregelte Bestimmung (sogenannter Schaufensterparagraph), wonach derjenige bestraft wird49, wer Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, welche, ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzen, 1. zu geschäftlichen Zwecken an öffentlichen Straßen, Plätzen oder an anderen Orten, die dem öffentlichen Verkehr dienen, in ärgerniserregender Weise ausstellt oder anschlägt; 46 47 48 49

Vgl. Werner: Die lex Heinze, S. 20 – dort wird aber von Vertagung in Dritte Lesung gesprochen. Vgl. Werner, a.a.O., S. 20 f. Vgl. Werner, a.a.O., S. 22. Müller: Die Lex Heinze, S. 109.

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2. einer Person unter 16 Jahren gegen Entgelt überläßt oder anbietet.

Ergänzung fand diese Bestimmung durch einen sogenannten Theaterparagraphen (§ 184b RStGB-E), der wie folgt lautete50: Wer in öffentlichen Vorträgen von Gesangs- oder sonstigen Unterhaltungsstücken oder innerhalb öffentlicher Schaustellungen oder Aufführungen öffentlich ein Aergernis giebt durch eine Handlung, welche, ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzt, wird … bestraft.

Doch zwischenzeitlich hatte sich gegen die Kommissionsvorlage, insbesondere aufgrund des Schaufenster- und Theaterparagraphen, in der Öffentlichkeit eine starke Front gebildet, deren Schwerpunkte in Berlin und München lagen51. Es gab kaum einen Künstler des Bildes und Wortes, der sich nicht mehr oder minder tätig ihr angeschlossen und die mindestens vermeintlich bedrohte Freiheit der Kunst verteidigt hätte.52 An deren Spitze standen namhafte Vertreter wie der Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen, die Schriftsteller Hermann Sudermann, Max Halbe, Otto Falckenberg, der Dramatiker Franz Wedekind, die Maler Max Liebermann, Franz v. Lenbach und viele andere53. Auf einberufenden Versammlungen wurden beispielsweise Entschließungen folgender Art gefasst54: 50 51

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Müller, a.a.O., S. 110. Vgl. Werner: Die lex Heinze, S. 32 ff., wonach die Protestbewegung auch durch den Umstand begünstigt wurde, dass direkt im Anschluss an die Zweite Lesung der Lex Heinze die Beratungen zum sog. 2. Flottengesetz im Reichstag begonnen hatten und die Dritte Lesung sich somit zeitlich nach hinten verschob. Die sog. Flottengesetze (1. Flottengesetz vom 10. April 1898, RGBl. S. 165, und 2. Flottengesetz vom 14. Juni 1900, RGBl. S. 255) bezweckten den Aufbau einer schlagkräftigen deutschen Hochseeflotte. Sie führten jedoch zu einem Rüstungswettlauf zwischen der Kaiserlichen Marine und der britischen Royal Navy vor dem Ersten Weltkrieg und galten als einer seiner Ursachen. Leiss: Kunst im Konflikt, S. 83. Vgl. Werner, Die lex Heinze, S. 32, der aber auch darauf hinweist (S. 33 f.), dass die Front „unter den Literaten und Künstlern gegen die lex Heinze … durchaus nicht geschlossen“ war. „So meinte Adolf Bartels, einer der Stimmführer der nationalen Literaturkritik, über die lex Heinze, daß sie Abhilfe zu schaffen geeignet sei gegen den Schmutz und Schund, und daß auch die ernste Kunst gegenüber der sensationellen, der Geschäftskunst, heute einen schweren Stand habe.“ Siehe hierzu auch Mast: Um Freiheit für Kunst und Wissenschaft, S. 163 f., wonach der Schriftsteller Julius Hart in einem zeitgenössischem Beitrag kritisierte, das „Freunde und Feinde der lex Heinze sowie selbst Künstler davon sprachen, daß wahre Kunst, was immer man darunter verstand, nichts mit Unsittlichkeit zu tun haben könne. … Man tue so, ʻals wenn es gar keinen ernsthaften Geisteskampf zwischen Kunst und Moral gäbeʼ. Es handle sich aber nicht um den Unterschied zwischen ʻgöttlicherʼ Kunst und ganz unliterarischen Unzuchtsschriften; das ernste und große Problem, das in den Mittelpunkt der

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Dela-Madeleine Halecker Die vom Reichstag beschlossenen, äußerst dehnbaren und verschiedenster Auslegung fähigen, für ein großes Kulturvolk demütigenden Bestimmungen §§ 184 bis 184b lex Heinze, bedeuten eine schwere Gefahr für die Entwicklung der deutschen Kunst und Literatur. Die Versammlung erhebt dagegen entschiedenen Protest und erwartet, daß die deutsche Volksvertretung bei der Schlussberatung diese und ähnliche Bestimmungen zurückweist.

Im März 1900 wurde der „Goethebund zum Schutze freier Kunst und Wissenschaft“ ins Leben gerufen, „welcher den Zweck verfolgt, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft im Deutschen Reich gegen Angriffe jeder Art zu schützen“55. In vielen illustrierten Wochenschriften wie die „Jugend“ und führenden Satire-Journalen wie „Kladderadatsch“, „Ulk“ oder „Simplicissimus“ erhoben sich Proteststimmen in Form von Gedichten, Karikaturen und spöttischen Beiträgen56: … Lex Heinze heisst die leistungsfähige Firma. Gesellschaft mit beschränkter geistiger Haftung. Ihr Sitz: Ganz Deutschland. Ihr Zweck: Bekleidung des Nackten von vorn und von hinten. Die Venus kriegt Strümpfe angezogen, die Psyche ein Hemd, ein Korsett die Diana und der Herkules eine Hose mit Strupfen. Der liebe Herrgott aber kriegt’s mit der Angst. Nicht ganz mit Unrecht. Ihn werden sie nächstens belangen, weil er „ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzte, indem er den Adam im Paradiese ohne Windeln allen Kamelen und Affen öffentlich zur Schau stellte.“

Am Ende hatte die Protestbewegung mit Unterstützung der Sozialdemokraten im Reichstag Erfolg. Die in Dritter Lesung am 22. Mai 1900 verabschiedete Kompromisslösung beinhaltete einen Verzicht auf die sogenannten „Schaufenster- und Theaterparagraphen“57. Es verblieb nur eine Restbestimmung (§ 184a RStGB), die mit Strafe bedrohte, wer Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzen, einer Person unter sechszehn Jahren gegen Entgelt überlässt oder anbietet58.

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Erörterungen gehöre, bestehe darin, daß es Hervorbringungen gebe, ʻdie unzweifelhaft echte und bedeutende Kunstwerke sind, aber auch ebenso unzweifelhaft dem normal-moralischen Empfinden, den herrschenden Sittlichkeits-Anschauungen ins Gesicht schlagenʼ“. Werner, a.a.O., S. 33. § 1 der „Statuten des Münchner Goethebundes“; ausführlich hierzu und im Ganzen Hirth, in: Falckenberg (Hrsg.), Das Buch von der Lex Heinze, S. 63 ff. Josef Ruederer, Zur Lex Heinze, Jugend 12/1900, S. 216d. Vgl. Werner, Die lex Heinze, S. 31 ff. Müller, Die Lex Heinze, S. 112. Und auch § 184 RStGB, auf dessen Verschärfung das Augenmerk ursprünglich gerichtet war, erhielt inhaltlich keine wesentlichen Än-

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IV. Schlussbetrachtung Welchen wichtigen Aspekt soll uns nun dieses geschichtliche Ereignis vor Augen führen bzw. verdeutlichen? Die Antwort findet sich in einer Stellungnahme des bekannten deutschen Impressionisten Max Liebermann (* 1847; † 1935)59, die ich mir gern zu eigen machen möchte. Sie richtete sich gegen ein Art Neuauflage der „Lex Heinze“ aus dem Jahre 191460, mit dem die „schwere sittliche Gefährdung der Jugend durch literarischen und bildnerischen Schund“ nunmehr durch die Aufnahme eines Schaufensterparagraphen61 in der Gewerbeordnung bekämpft werden sollte. Die Stellungnahme von Liebermann eignet sich als Schlusswort gerade auch vor dem Hintergrund, dass Liebermann selbst durch sein Werk „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“ unfreiwillig einen Skandal hervorrief. Das 1879 vollendete und im gleichen Jahre im Münchener Glaspalast62 ausgestellte Gemälde veranlasste „den bayerischen Klerus zu hellen Zornausbrü-

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derungen, verblieb es doch auch weiterhin bei dem „Unzüchtigkeits“-Erfordernis. Die sog. „Lex Heinze“ wurde am 25.06.1900 im Reichsgesetzblatt veröffentlicht (RGBl. S. 301). Von 1920 bis 1932 Präsident, bis 1933 Ehrenpräsident der Königlichen Preußischen Akademie der Künste in Berlin. Entwurf eines Gesetzes gegen die Gefährdung der Jugend durch Zurschaustellung von Schriften, Abbildungen und Darstellungen, dem Reichstag am 14.02.1914 zur Beschlussfassung vorgelegt, vgl. Reichstagsprotokoll, 13. Legislaturperiode, 1912/14, 21, Nr. 1385, S. 2796. Mit folgendem Wortlaut: „Schriften, Abbildungen und Darstellungen dürfen in Schaufenstern, in Auslagen innerhalb der Verkaufsräume oder an öffentlichen Orten nicht derart zur Schau gestellt werden, daß die Zurschaustellung geeignet ist, Ärgernis wegen sittlicher Gefährdung der Jugend zu geben.“ Für den Fall der Zuwiderhandlung sah der Gesetzesentwurf eine Bestrafung mit „Haft oder Geldstrafe bis zu 300 Mark“ vor. Ursprünglich temporäres Ausstellungsgebäude für die Allgemeine Deutsche Industrieausstellung 1854, errichtet 1853/54 nach Plänen von August von Voit (* 1801; † 1870). Vorbild für die Glas-Eisen-Konstruktion am Alten Botanischen Garten war der Crystal Palace in London. In der Folgezeit spielte der Glaspalast als Ausstellungs- und Veranstaltungsort Münchens eine herausragende Rolle. Sowohl der Ruf Münchens als progressiver Wirtschafts- und Messestandort als auch seine Bedeutung als „Stadt der Kunst und der Künstler“ wurde durch den Bau wesentlich geprägt. In der Nacht zum 6. Juni 1931 brannte der Glaspalast vollständig aus. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 entstand als „Neuer Glaspalast“ das „Haus der Deutschen Kunst“ an der Prinzregentenstraße nach Plänen von Paul Ludwig Troost (* 1878; † 1934), vgl. Klaus Bäumler, Glaspalast, München, in: Historisches Lexikon Bayerns (https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Glaspalast,M %C3% BCnchen).

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chen, sogar im Bayerischen Landtag kam das Bild zur Besprechung.“63 Stein des Anstoßes war die ungewohnt naturalistische Malweise des Jesusknaben. Der Vorwurf lautete: Liebermann hätte als Jude niemals „ʻden erhabenen göttlichen Gegenstand … in einer so gemeinen und niedrigen Weiseʼ …, wegen seiner Häßlichkeit auch das künstlerische Empfinden beleidigenden … Art“64 darstellen dürfen. Der Skandal war so arg und ging so weit über München hinaus, daß Liebermanns bekümmerte Mutter in Berlin zu einer Freundin sagte, sie schäme sich, über die Straßen zu gehen.65 Liebermann, tief betroffen von der Entrüstung über sein Werk, übermalte daraufhin das Bild, indem er im Gegensatz zum Original den jungen Jesus mit längeren Haaren, einem längeren Gewand und mit Sandalen bekleidet neu gestaltete. Er mußte erkennen und erkannte, daß seinem Pinsel bei der Darstellung christlichen Heilgeschehens unüberschreitbare Grenzen gesetzt waren. Er hielt sich daran in seinem ganzen späteren künstlerischen Leben und ging davon auch nicht ab, als 1906 das Bild nach 25jähriger Verborgenheit ohne die geringsten Schwierigkeiten ausgestellt wurde.66 Es ist mithin nicht verwunderlich, dass er die sogenannte Neuauflage der „Lex Heinze“ zum Anlass nahm, seiner Sicht auf die Dinge Ausdruck zu verleihen. Wenn auch mittlerweile über hundert Jahre alt, so scheinen mir seine Gedanken ihre Aktualität nicht verloren zu haben67: Moral ist ein relativer Begriff. Die Griechen und Römer stellten ihre Götter und Göttinnen nackt dar. Dagegen erblickt der Schutzmann in der Darstellung des nackten Körpers etwas Unsittliches. Hat doch sogar vor kurzem ein Berliner Gerichtshof den Verleger von Postkarten bestraft, weil auf ihnen nackte Körper dargestellt waren, deren Anblick auf die Jugend schädlichen Einfluß haben könnte. Logische Konsequenz wäre, die Museen zu schließen, die Bibel, den Goethe zu konfiszieren, von neueren Künstlern ganz zu schweigen. Der Entwurf, wenn er – was der liebe Gott verhüten möge – Gesetz würde, täte nicht nur der Kunst, deren A und O die Darstellung des Nackten ist, unendlichen Abbruch, sondern ebenso der Moral. Denn im Volke den Gedanken zu züchten, daß das Nackte unsittlich sei, hieße geradezu die schlechten Instinkte anreizen, nach dem verbotenen und daher doppelt süßen Früchten zu haschen. Im Gegenteil müßte man das Kind an den Anblick der natürlichen Nacktheit gewöhnen und sein gesunder Instinkt wird in der Venus von Milo nichts Lüsternes gewahren. Wessen perverser Natur durch ihren Anblick sinnlich erregt wird, an dem ist nichts mehr zu verderben. Gesetze dürfen nicht gemacht werden, um die krankhaft veranlage kleine Minderheit zu schützen, sondern sie sollen die tausendfach größere Masse von

63 64 65 66 67

Leiss, Kunst im Konflikt, S. 97. Leiss, a.a.O., S. 99 Leiss, a.a.O., S. 96. Leiss, a.a.O., S. 100. Liebermann, DJZ 1914, Sp. 476.

Wenn die Muse das Recht (scheinbar) küsst …

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Menschen mit gesunden Instinkten schützen, in ihren Genüssen an Kunst und Literatur.

Mit diesen Worten komme ich zurück auf die anfangs erwähnten Sittenwächter, die zum Gefecht wider die Kunst aufrufen: Denn es gilt sich nicht nur, aber auch im Verhältnis von Kunst und Pornographie Folgendes in Erinnerung zu rufen: Seit 1971, durch die sogenannte „Mephisto“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts68, ist nahezu unbestritten anerkannt: Die Kunst ist gemäß Art. 5 Abs. 3 GG frei. Sie wird in ihrer Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit durch die Verfassung vorbehaltlos gewährleistet. Sie kann also weder durch die Vorschriften der allgemeinen Gesetze in Art. 5 Abs. 2 GG noch durch die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz in Art. 2 Abs. 1 GG eingeschränkt werden. Mag sich mithin der eine oder andere an der Darstellung des Nackten stören – in der Gesellschaft vorherrschende oder auch erneut aufkeimende Moralvorstellungen sind nicht dazu berechtigt, die Kunst in die Schranken zu weisen. Denn insofern küsst die Muse das Recht nur zum Schein …

Literatur BAUCHERON, ÉLÉA / ROUTEX, DIANE, Skandalkunst. Zensiert, verboten, geächtet, 2013. CONDIVI, ASCANIO, Das Leben des Michelangelo Buonarroti (1553), Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters, Bd. VI, 1874. DITTMAR, PETER, Mit Michelangelo begann die Pornografie-Debatte, Welt.de vom 15.04.2015 (http://www.welt.de/geschichte/article139547799/Mit-Michel angelo-begann-die-Pornografie-Debatte.html). FELD, HELMUT, Der Ikonoklasmus des Westens, 1990. HARTMANN, ILYA, Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, 2006. HIRTH, GEORG, Der Goethebund, in: O. Falckenberg (Hrsg.), Das Buch von der Lex Heinze. Ein Kulturdokument aus dem Anfange des 20. Jahrhunderts, 1900, S. 63 ff. JAFFÉ, ERNST, Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Architekten der Renaissance. Nach Dokumenten und mündlichen Berichten dargestellt von Giorgio Vasari, 1910.

68

BVerfGE 30, 173.

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Dela-Madeleine Halecker

JEDIN, HUBERT, Geschichte des Konzils in Trient, mehrere Bde., 1949–1975. KRAMER, GERHARD F., „… und die sogenannte Unzucht“, Der Spiegel 38/1966. LEISS, LUDWIG, Kunst im Konflikt, 1971. LIEBERMANN, MAX, Das Schaufenstergesetz, Deutsche Juristen-Zeitung 1914, Sp. 475 f. MAST, PETER, Um Freiheit für Kunst und Wissenschaft: der Streit im Deutschen Reich 1890–1901, 3. Aufl. 1994. MÜLLER, OTTO, Die Lex Heinze, Diss. iur. Freiburg/Brsg., 1900. O.V.,

Der Mord-Prozess Heinze (verhandelt vor dem Schwurgericht zu Berlin in den Jahren 1891 und 1892). Der unfreiwillige Taufpate der ‘Lex Heinzeʼ, 1900.

O.V.,

Tupfen im Himmelsblau, Der Spiegel 9/1994.

ROEREN, HERRMANN (angebl.), Die Lex Heinze und ihre Gefahr für Kunst, Litteratur und Sittlichkeit. Von einem Parlamentarier, 1900. RUEDERER, JOSEF, Zur Lex Heinze, Jugend 12/1900, S. 216d. RUTHE, INGEBORG, Caravaggios anstößiger Amor, Berliner-Zeitung.de vom 28.02.2014 (http://www.berliner-zeitung.de/kultur/kunst-unter-paedophiliever dacht-caravaggios-anstoessiger-amor-3289464). VASARI, GIORGIO, Le vite deʼ più eccellenti pittori, scultori e architettori, 2. Aufl. 1568. WERNER, CARL H., Die lex Heinze und ihre Geschichte, Diss. iur. Freiburg / Brsg. 1935. WIDMANN, ARNO, Michelangelo Buonarroti – Der Berserker, FR.de vom 18.02.2014 (https://www.fr.de/kultur/berserker-11074013.html).

Uwe Scheffler

Balthus, der Maler der „Gitarrenstunde“, und das neue deutsche Kinderpornographiestrafrecht* I‘ve never made anything pornographic ... Except perhaps “The Guitar Lesson”1

I. Zum Maler Balthus 1. Einiges zur Biographie Balthasar Kłossowski de Rola, genannt Balthus, am 29. Februar 1908 in Paris geboren, am 18. Februar 2001 in Rossinière in der Schweiz gestorben, viele Jahre (1961–1977) in Italien lebend, vorübergehend (1914–1917 und 1921– 1924) auch mal in Berlin, war ... Pole? Deutscher? Franzose? Schweizer? ... Nun, er war ein Europäer: Sein Vater entstammte einer alten polnischen Familie, die es im 19. Jahrhundert aus dem russisch okkupierten Teil Polens nach Ostpreußen verschlagen hatte, seine Mutter einer polnisch-russisch-jüdischen Familie, ansässig im damals preußisch-schlesischen Breslau, dem heutigen Wrocław. Sie hatten 1903 geheiratet und sich in Paris niedergelassen. Balthus’ Vater Erich Klossowski (Eryk Kłossowski) (* 1875; † 1949) war Kunsthistoriker und Maler. Seine Mutter Elizabeth Dorothea Klossowska geb. Spiro, genannt Baladine (Balladyna Kłossowska) (* 1886; † 1969), war ebenfalls Malerin. Beide hatten sich in Breslau über den Bruder Baladines, den später in München, Berlin, Paris und New York erfolgreichen Maler Eugen *

1

Diesen Text hat der Autor als Beitrag zu dem von Emil W. Pływaczewski und Ewa M. Guzik-Makaruk in Warschau herausgegebenen 7. Band von „Current problems of the penal law and criminology / Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie“, 2017, S. 211 ff. anlässlich der Ausstellung „Kunst und Strafrecht / Sztuka a prawo karne“ im Rahmen der Tagung „Sztuka – sprawcy i ofiary czynów zabronionych / Kunst – Täter und Opfer von Straftaten“ an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Białystok verfasst. Eine erweiterte, vor allem auch die zeit- und kunsthistorischen Zusammenhänge näher beleuchtende Darstellung des Lebens und des Schaffens Balthus’ ist auf der Website des Autors „www.kunstundstrafrecht.de“ unter Ausstellungstafeln – Ergänzung: „Kunst und Kinderpornographie“ – „Gitarrenstunde“-Fall eingestellt. Balthus im Gespräch mit Kimmelman, New York Times vom 25.08.1996.

https://doi.org/10.1515/9783110784992-024

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Spiro (* 1874; † 1972) kennengelernt. Die Familie vervollständigte Balthus’ drei Jahre älterer Bruder Pierre (* 1905; † 2001), der sich einen Namen als Schriftsteller, Übersetzer u.a. von Werken des Marquis de Sade machte – und später ebenfalls malte. Das Ehepaar Klossowski gehörte in Paris zur internationalen Gemeinde der Intellektuellen und Künstler. Was Maler betrifft, so bestanden Kontakte besonders zu den Fauvisten Henri Matisse, André Derain, Maurice Denis und Albert Marquet sowie zu dem Spätimpressionisten Pierre Bonnard. Baladine, erinnerte sich Balthus viele Jahre später, „besucht die Kurse von Bonnard, der regelmäßig zu uns nach Hause kommt“2. Was für ein Umfeld! Wenn ich es recht bedenke, glaube ich, dass mein Weg seit meiner Kindheit vorgezeichnet war. Meine Eltern trugen durch ihre Künstlerbekanntschaften dazu bei, durch die Maler, die sie zu sich einluden und die mich sozusagen zur Staffelei führten ...3

Die Klossowskis waren als deutsche Staatsbürger 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, gezwungen, Frankreich unter Zurücklassung aller ihrer Besitztümer zu verlassen. Sie ließen sich in Berlin nieder. Das Paar trennte sich jedoch 1917, der Vater verließ die Familie. Baladine ging mit ihren Söhnen in die Schweiz, erst nach Bern, dann nach Genf. Baladine lernte im Jahre 1919 Rainer Maria Rilke kennen, einen der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker des 20. Jahrhunderts. Die beiden hatten eine intensive, aber episodische Romanze, die bis zu Rilkes Tod im Jahr 1926 dauerte4. Rilke wurde für Balthus Ersatzvater und Freund. Er gab ihm den Kosenamen „Balthusz“, aus dem sich sein späterer Künstlername entwickelte. Der Dichter war begeistert von Zeichnungen des Elfjährigen, erkannte seine Begabung und förderte ihn fortan. Er initiierte, dass 1921 in Zürich ein Büchlein mit den 40 holzschnittartig wirkenden Tuschezeichnungen erschien, das den Titel „Mitsou“ trug und von Balthus’ streunender Katze handelte. Auf dem Titelblatt stand „Balthusz“. Rilke schrieb ein Vorwort in französischer Sprache.

2 3 4

Balthus, Erinnerungen, S. 137. Balthus, a.a.O., S. 86; siehe auch S. 95. Rilke nannte Baladine mit dem Kosenamen „Merline" in ihrer Korrespondenz (die nach seinem Tod veröffentlicht wurde: Rainer Maria Rilke: Lettres à Merline 1919– 1922, 1950; ders. / Merline: Correspondance 1920–1926, 1954).

Balthus, der Maler der „Gitarrenstunde“

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2. Einiges zur künstlerischen Entwicklung Nach einer längeren Zwischenstation in Berlin bei Eugen Spiro war Baladine mit ihrem Sohn Balthus ab 1924 wieder in Paris. Balthus besuchte dort einige Kurse an der Académie de la Grande Chaumière, der damals berühmtesten Kunstakademie in Paris. Wieder bestand Kontakt zu Bonnard, ein „großartiger Freund der Familie“, ein „wundervoller Mann“5: „Bonnard ließ mir große Unterstützung zuteil werden und schenkte mir seine Aufmerksamkeit“6; allerdings war er für Balthus „kein direkter Lehrer“7. Jedoch ist der Einfluss Bonnards bei Bildern, die Balthus 1925 im Jardin du Luxembourg malte, unübersehbar8. Bonnard riet ihm, sich mit Nicolas Poussin zu beschäftigen, dem großen französischen Maler des „klassizistischen“ Barock. Balthus kopierte daraufhin 1925/26 „ganze Tage“9 im Louvre Bilder Poussins. Rilke war im Herbst 1925 von einer (heute verschollenen) Kopie von „Narziss und Echo“10 so begeistert, dass er Balthus bat11: ... reise nicht ab, ohne mir vorher Deinen Poussin (meinen, sage ich mit Stolz) zu schicken. Man sollte glauben, meine Wände selbst hätten neue Kleider angelegt, um ihn würdig zu empfangen: er wird wahrscheinlich ihr einziger Schmuck sein ...

Im Sommer des Jahres 1926 reiste der achtzehnjährige Balthus nach Italien, ermöglicht durch die Großzügigkeit eines Freundes seines Vaters, der seit 1925 auch wieder in Paris ansässig war. Balthus begeisterte sich für die Fresken von Piero della Francesca (den schon sein Vater liebte), die er in der Toskana in Arezzo und in Sansepolcro sah und in kleinen Ölskizzen kopierte12 – besser gesagt, „he created his own versions of Piero’s scenes“13: 5 6 7 8

9 10 11 12

13

Siehe Kimmelman, New York Times vom 25.08.1996. Balthus, Erinnerungen, S. 51. Balthus, a.a.O., S. 229. Siehe etwa Enfants au Luxembourg, Privatbesitz; Premières communiantes au Luxembourg, Privatbesitz; man vergleiche etwa mit Bonnards Le grand jardin aus dem Pariser Musée dʼOrsay von 1894/95. Balthus, Erinnerungen, S. 53. Nicolas Poussin (* 1594; † 1665), Echo et Narcisse (1629/30), Paris, Musée du Louvre. Klossowski de Rola, Balthus, S. 21. Balthus studierte auf dieser Reise auch andere Größen der toskanischen Frührenaissance – „meine geliebten Toskaner“, wie er sie nannte (Balthus: Erinnerungen, S. 128): in Florenz Masaccio, Masolino und Fra Angelico sowie in Siena Simone Martini. Weber, Balthus: A Biography, S. 112.

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Uwe Scheffler So stand ich ganze Nachmittage vor Piero della Francescas Fresken ... Mit ihm allein zu sein war nahezu unwirklich, ich war im Herzen der Malerei versunken, die ich, wenn auch noch undeutlich, als die genialste Malerei erkannte.14

Piero della Francesca, sein Verständnis für Bildaufbau und Perspektive, wurde Balthus künstlerisch zum Vorbild, wie seine starren und monumentalen Figuren zeitlebens nicht verleugnen konnten. Von ihm und Poussin leitete Balthus die schemenhafte Körperlichkeit seiner Figuren, seinen ganz eigenen figurativen Malstil ab. Auffällig wie bei wenigen Malern des 20. Jahrhunderts ist bei Balthus, dass sich über die vielen Jahrzehnte seiner Malertätigkeit sein Stil relativ wenig veränderte. „Balthus hat bei Courbet angefangen und ist nie viel weiter gekommen“, soll Pablo Picasso einmal gesagt haben15. Der Satz hat einen richtigen Kern insofern, als dass Balthus malerischen Grundideen, die denen des großen französischen Realisten Gustave Courbet („den ich so sehr bewundere“16) nahestanden, zeitlebens treu blieb. In Balthus’ „Ahnengalerie“ dürften ganz sicher außerdem neben Piero, Poussin und Courbet auch noch die durch ihre Figuration und Bildkomposition hervorgetretenen Franzosen Georges de La Tour, Jean Siméon Chardin und Jacques-Louis David gehören; von seinen „langen Besuchen“ in den Pariser Museen „bei“ Paul Cézanne, den schon seine Eltern verehrten17, wird in Balthus’ „Erinnerungen“ gesprochen18 („Was man malen muss, sah ich wohl durch Bonnard und Cézanne ...“19). Vielleicht etwas überraschend bezeichnete er auch Eugène Delacroix „als einen meiner Lehrer“ vor allem wegen der „Wahl seiner Farben“20.

14 15 16 17 18 19 20

Balthus, Erinnerungen, S. 63. Frehner, NZZ.ch vom 14.09.2001. Balthus, Erinnerungen, S. 71. Balthus, a.a.O., S. 95; 228. Balthus, a.a.O., S. 128. Balthus, a.a.O., S. 86. Balthus, a.a.O., S. 56; siehe auch S. 28; 199. Das könnte damit zusammenhängen, dass Balthus’ Vater eine Abhandlung über den großen französischen Romantiker geschrieben hatte (Erich Klossowski: Eugène Delacroix, in: J. Meier-Graefe / E. Kolossowski (Hrsg.), La collection Cheramy, 1908, S. 17 ff.).

Balthus, der Maler der „Gitarrenstunde“

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3. Einiges zu seinen Ausstellungen a) Paris 1934 Balthus hatte sich nach Militär- und „Wander“-Jahren (vor allem in der Schweiz) 1933 in Paris im Quartier Saint-Germain-des-Prés ein erstes Maleratelier eingerichtet. Privat war er (zunächst unerwidert) „unsterblich“ in die Berner Großbürgertochter Antoinette de Watteville (* 1912; † 1997) verliebt, die Schwester eines Freundes, die er 1928 näher kennengelernt hatte, und mit der er, sie oft seine „petite sœur“ titulierend, bis zu ihrer gemeinsamen Heirat 1937 einen intensiven Briefwechsel führte21.

aa) Die Ausstellung in der Galerie Pierre 1934 fand dann in Paris, ebenfalls in Saint-Germain, in der Galerie des Kunsthändlers Pierre Loeb, dessen Interesse über den Freundeskreis von Balthus’ Vater geweckt worden war, eine erste private Werkschau Balthus’ statt. Diese Ausstellung ist die Geburtsstunde des „berühmt-berüchtigten“22 Malers Balthus23: Balthus ist einschlägig in die Kunstgeschichte des 20. Jahrhundert eingegangen. Er ist dort zuständig für die Mädchen und sehr jungen Frauen. Er ist der Maler fürs juvenile Perverse, der diensthabende Nympholept.

Die damals in Paris ausgestellten Werke waren allerdings noch weit entfernt von dieser Thematik. Die Gemälde zeigten eigentlich traditionelle Motive – eigentlich. Allerdings führte die provokante Erotik einiger der Darstellungen in Grenzbereiche einer aggressiven Sexualität, was Aufregung und Empörung hervorrief. In den ausnahmslos negativen Kritiken seiner Ausstellung wurde er als „leidenschaftlicher Anhänger der Nymphomanie“ verspottet, seine Werke als „morbide“, seine Maltechnik als „simpel“, seine Kompositionen als „gleichzeitig bemüht und grob, ja sogar naiv“ bezeichnet24. Kein einziges Bild wurde verkauft. Balthus fühlte sich blamiert, bloßgestellt und verletzt.

21 22 23 24

Siehe Balthus, Correspondance amoureuse avec Antoinette de Watteville 1928–1937. Auenhammer, Der Standard vom 14./15.12.2013. Gropp, Balthus in Paris, S. 7. Näher Rewald, Balthus: Cats and Girls, S. 4.

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Uwe Scheffler (A) Sieben Gemälde

Die Empörung betraf besonders ein Bild: Neben sechs weiteren Gemälden25 wurde das 1934 entstandene großformatige (161 x 138,5 cm) Bild „Die Gitarrenstunde“ („La leçon de guitare“) ausgestellt. Das Gemälde wurde nur hinter einem Vorhang gezeigt, so dass es allein ausgesuchte Kunden im Hinterzimmer der Galerie sehen konnten. Größere Aufregung lösten auch noch zwei weitere Gemälde Balthus’ auf dieser Ausstellung aus: Da ist zunächst einmal „La fenêtre“ (1933). Auf dem Bild droht ein Mädchen mit (gewaltsam?) geöffneter Bluse hinterrücks aus dem Fenster zu stürzen; es macht eine abwehrende Geste. Modell stand die 15 Jahre alte Elsa Henriquez, Tochter einer befreundeten Tänzerin. Balthus schrieb an seinen Vater, das Mädchen sei eine außergewöhnlich hässliche Peruanerin, aber von jener Hässlichkeit, die voll kindlicher Poesie ist ... Das Ganze ist sehr eigentümlich, die Atmosphäre diejenige einer de Sade-Erzählung ...26.

Elsa versicherte noch viele Jahre danach, Balthus habe sie zwar bewusst erschreckt, damit diese Pose entstehen konnte, ihre Bluse sei aber niemals offen gewesen27. In der Tat hat Balthus erst später das Bild entsprechend verändert; gleichzeitig wurde der ursprünglich noch schreckensstarrere Gesichtsausdruck des Mädchens abgemildert. Aufregung löste auch das mit Abstand größte Bild (195 x 240 cm) in der Ausstellung aus, „La rue“ – eine scheinbar harmlose Straßenszene, jedoch als Momentaufnahme erstarrt, eingefroren wie ein Standbild in einem Film wirkend, unwirklich wie ein Comic oder eine Stadtansicht der Pittura Metafisica, perspektivisch erinnernd an Piero della Francesca. Die vielen Deutungen der Szene – Anleihen bei „Struwwelpeter“, Anspielungen auf „Alice hinter den Spiegeln“28, versteckte Porträts von Antoinette de Watteville und Balthus 25

26 27 28

Portrait de jeune fille en costume dʼamazone (1932), Privatbesitz; Alice dans le miroir (1933), Paris, Centre Georges Pompidou, Musée National d’Art Moderne; La toilette de Cathy (1933), Paris, Centre Georges Pompidou, Musée National d’Art Moderne; La fenêtre (1933), Bloomington, Indiana University Art Museum; La rue (1933), New York, Museum of Modern Art; Portrait de Madame Pierre Loeb (1934), Privatbesitz. Balthus, Brief an Erich Klossowski vom 31.08.1934, zit. nach Gropp: Balthus in Paris, S. 68. Sabine Rewald, Balthus – Aufgehobene Zeit, S. 17. Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“ von 1845 und Lewis Carrolls „Alice hinter den Spiegeln“ (Original: „Through the Looking-Glass, and What Alice Found There“)

Balthus, der Maler der „Gitarrenstunde“

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selbst – mögen hier nicht interessieren. Hier soll es nur um eine Teilszene gehen, die Balthus in einem Brief an seine „petite sœur“ Antoinette de Watteville so umschrieb29: „Die erotische Gruppe in der linken Ecke ...: der Junge, der versucht, das kleine Mädchen zu vergewaltigen …“ Nun kann man diesen Satz nur richtig verstehen, wenn man die damalige Ursprungsfassung von „La rue“ im Gedächtnis hat: Da war die Hand des jungen Mannes, der das Mädchen von hinten bedrängt, fast unter dessen Rock, direkt auf dem Schritt30: „Die rüde Geste ... wurde von den Zeitgenossen als ... unerträglich empfunden.“ Der Skandal war offenbar durchaus gewollt. Balthus gab später freimütig zu, dass er, der junge, unbekannte Künstler, sich mit einer deftigen Provokation einen Namen habe machen wollen. Sein Ziel sei gewesen, „einen heftigen Gongschlag zu geben und die Gewissen etwas zu rütteln“31. (Einige Jahre zuvor, 1929, hatte er übrigens schon die fast gleiche Straßenszene gemalt; der Übergriff des Jungen auf das Mädchen an der linken Bildseite fehlte bezeichnenderweise; ein Vater mit zwei Kindern an der Hand war stattdessen dort zu sehen32.) Der US-amerikanische Sammler, Autor und Kurator James Trall Soby erwarb 1937 „La rue“. Er wollte es 1956 im Museum of Modern Art in New York ausstellen. Das Museum bestand drauf, dass diese Szene zu verändern sei. Tatsächlich fand sich Balthus dazu bereit. In einem Brief an Soby erklärte er, die Szene sei in einer jugendlichen Lust zu provozieren entstanden33: „Früher war es mir ein Vergnügen zu schockieren, aber heute langweilt mich das.“ Das Bild – der „Europäer“ Balthus ist nie in Amerika gewesen – wurde nach Europa geschickt und von Balthus in die heute bekannte Fassung modifiziert. Die Hand befindet sich nun weiter oben. Soby hinterließ das Bild dem Museum of Modern Art 1979, wo es bis heute beheimatet ist.

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von 1871 waren Bücher, die Balthus in seiner Jugend tief beeindruckten und inspirierten. Brief vom 18.01.1933, zit. nach Gropp: Balthus in Paris, S. 37. Tilmann, Tagesspiegel.de vom 09.08.2007. Rewald, Balthus: Cats and Girls, S. 4. La rue in der Fassung von 1929 befindet sich in Privatbesitz. Néret, Balthus, S. 14.

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Uwe Scheffler (B) La leçon de guitare

Zurück zur „Gitarrenstunde“, dem spektakulärsten und mit der größten Langzeitwirkung verbundenen Gemälde der 1934er Ausstellung. Der Schweizer Kunsthistoriker Matthias Frehner beschrieb das „atemberaubend verwirrende“ Bild34, als es 2001, im Todesjahr Balthus’, das erste und bislang einzige Mal wieder in Europa zu sehen war, so35: Eine junge Frau in einem blauen Rock mit Puffärmeln. Auf ihrem Schoss ein Mädchen, dessen Kleid bis zum Nabel zurückgeschlagen ist. Die Frau hält den nach unten hängenden Kopf des Kindes an einem Büschel Haar. Ihre spinnenartigen Finger greifen dem Kind zwischen die nackten Schenkel. Der eine Arm des Kindes liegt wie tot auf dem Boden auf. Mit der anderen Hand hat es Halt suchend die eine Brust der Peinigerin entblösst. Sadistische Lust spannt deren Körper zum quälenden Folterwerkzeug.

Im gleichen Jahr skizzierten Harald Fricke und Ulf Erdmann Ziegler Balthus’ Bild in der „Tageszeitung“ folgendermaßen36: Seine „Gitarrenstunde“ ... zeigt, fast in Lebensgröße, eine Musiklehrerin mit entblößter Brust auf einem höfischen Sessel; kunstvoll rücklings über ihr Knie gelegt eine schmale Gitarrenschülerin, deren zurückgerutschter Rock im Zentrum des Bildes sitzt wie der Schlund zur Hölle. Die eine Hand der Lehrerin, die ein Bein des Mädchens hält, ruht fast an seiner unbehaarten Scham, während die andere Hand in die Locken der hingegebenen Schülerin greift. Das Mädchen greift nach der Brust der Lehrerin: eine pädophil-lesbische Szene, wie man heute sagen würde. Die halb zugekniffenen Augen beider exakt zwischen Wollust und Tod.

Die „Gitarrenstunde“ gilt (eigentlich bis heute) als „Ikone des Anstoßes schlechthin“37 – einerseits. Andererseits wurde sie, etwa 1977 von dem Kunstkritiker Robert Hughes, als „one of the few masterpieces among erotic paintings by Western artists in the last fifty years” bezeichnet38. Genug Grund, uns den Hintergründen des Gemäldes ein wenig zu nähern. Zunächst: Das etwa 12-jährige Modell der Gitarrenschülerin war die Tochter einer Concierge aus einem Pariser Armenviertel, wie Balthus an Antoinette schrieb. („Sie schielt grässlich, zieht sich aber mit einer wunderbaren, kindlichen Schamlosigkeit aus“39.) Zumindest dreimal kam sie in Balthus’ Atelier 34 35 36 37 38 39

Gropp, Balthus in Paris, S. 10. Frehner, NZZ.ch vom 14.09.2001. Fricke / Ziegler, Die Tageszeitung vom 20.02.2001. Hughes, Time vom 28.11.1977, Gropp: Balthus in Paris, S. 95. Hughes, a.a.O. Balthus, Brief an Antoinette de Watteville vom 10.02.1934, zit. nach Gropp: Balthus in Paris, S. 102.

Balthus, der Maler der „Gitarrenstunde“

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zum Modellstehen, jeweils mit ihrer Mutter, die sich als Anstandsdame in eine Zimmerecke setzte und strickte. „Es gab also keine Verführung Minderjähriger“, meinte Balthus in dem Brief anmerken zu müssen40. Über die Ikonographie des Bildes ist viel spekuliert worden. Häufig wird angemerkt, dass Balthus der „Gitarrenstunde“ offenbar den Bildaufbau der um 1455 entstandenen Pietà de Villeneuve-lès-Avignon, gemalt von Enguerrand Charrenton, zugrunde gelegt habe. Das Werk wird zu den bedeutendsten Bildern des 15. Jahrhunderts in Frankreich und zu den frömmsten Werken im Louvre gerechnet – „die blasphemische Aneignung einer Pietà“41? Balthus hat dem heftig widersprochen42: „I absolutely never thought of that, never. I‘m Catholic.“ Des Öfteren wird auch auf die berühmte „lesbische“ Geste in dem ebenfalls im Louvre befindlichen und Balthus mit Sicherheit bekannten Gemälde „Gabrielle d’Estrées und einer ihrer Schwestern“ eines unbekannten Meisters aus der (zweiten) Schule von Fontainebleau von 1594 hingewiesen43. Oder auf sein Vorbild Courbet, der 1866 in „Der Schlaf“ zwei augenscheinlich lesbische Frauen gemalt hatte44. Ich selbst empfinde rein assoziativ die „Gitarrenstunde“ wie eine Art Kontrapunkt zur „Music lesson“ des Präraffaeliten Frederic Leighton45, mit dem Balthus die Begeisterung für die italienische (Früh-)Renaissance teilte. Dafür, dass Balthus seine „Gitarrenstunde“ als Gegenentwurf dazu konzipierte, dass er Leightons Bild auch nur kannte, habe ich allerdings keine Anhaltspunkte. 40 41 42

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Balthus, a.a.O. Gropp, Balthus in Paris, S. 97. Balthus im Gespräch mit Kimmelman, New York Times vom 25.08.1996. Balthus bezeichnete sich auch in seinen „Erinnerungen“ als „glühender Katholik“ (S. 17). Und: „Ich bin ... ein sehr anspruchsvoller, praktizierender Katholik. Die Heiligenbilder sind um mich, in meinem Zimmer, die Ikone von Czestochowa, die mir ein Kardinal geschenkt hat, hängt über meinem Bett. Sie bewacht, beschützt mich.“ (S. 25). „Ich beginne ein Bild immer mit einem Gebet, ein ritueller Akt, der mir die Kraft gibt hinüberzugelangen, aus mir selbst hinauszutreten. Ich bin überzeugt, dass die Malerei eine Art des Gebetes ist, ein Weg hin zu Gott.“ (S. 27). „Meine sehr enge Beziehung zum Christentum ist meiner Konzeption von Malerei nicht fremd, ohne dass ich mich jedoch als katholischer Maler bezeichnen würde.“ (S. 90). Beide Eltern Balthus’ waren übrigens nicht katholisch; die katholische Erziehung ihrer Söhne beruhte auf dem testamentarischen Willen eines Erbonkels (S. 192). Schule von Fontainebleau, Gabrielle d’Estrées et une de ses sœurs (1594). Paris, Musée du Louvre. Gustave Courbet (* 1819; † 1877), Le sommeil, Paris, Petit Palais. Frederic Leighton (* 1830; † 1896), Music lesson (1877), London, Guildhall Art Gallery.

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Besonders interessant dürfte etwas anderes sein: Die Gitarrenlehrerin scheint die Gesichtszüge von Baladine Klossowska, der Mutter Balthus’, zu tragen. Offenbar hat Balthus insoweit ein Gemälde seines Onkels Eugen Spiro als Vorlage genommen, auf dem Spiro 1902 seine Schwester porträtiert hatte46. Nicht nur die Physiognomie, sondern auch die Farbe des Kleides und – vor allem – die auffällig rot-grün gestreifte Tapete im Hintergrund weisen darauf hin. Dieser Umstand hat nun zu tiefenpsychologischen Interpretationen Anlass gegeben. Gerade zu jener Zeit, als der Surrealismus seinen Siegeszug in der Malerei angetreten hatte, bestand für solche Spekulationen Bereitschaft. Balthus wurde schon damals manchmal als „Freud der Malerei“ bezeichnet47. Erwogen wurde etwa ein ödipales Szenario, in dem Baladine ihrem Sohn ein Mädchen als Ersatz für sich selbst anbietet48. Eine andere Interpretation könnte daran ansetzen, dass Balthus ein Jahr vorher, als er Illustrationen zu dem Roman „Wuthering Heights“ der englischen Schriftstellerin Emily Brontë von 1847 schuf49, auf einer Zeichnung darstellte, wie eine sehr ähnlich aussehende Frau einen Jungen (genauso wie die Gitarrenschülerin) an den Haaren zieht – es ist die Romanfigur Heathcliff, mit der sich Balthus identifizierte und die auf jener Zeichnung seine eigenen Züge trägt. Der Umstand, dass das Gesicht der Lehrerin ebenfalls der Physiognomie von Balthus ähnelt, führte hingegen zu der Lesart, Balthus selbst habe sich in der Gestalt der Lehrerin gesehen und sich so der begehrten Antoinette nähern wollen50. Balthus hat sich zu solchen Interpretationen nie geäußert. Vielmehr hat er in einem Brief an Antoinette über die „Gitarrenstunde“ geschrieben51:

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Portrait der Schwester des Künstlers, Baladine Klossowska, Privatbesitz. Das Gemälde war unter dem Titel „Dame im Reformkleid“ am 18.03.1903 auf der Titelseite des Heftes 12 des 8. Jahrgangs der Kunst- und Literaturzeitschrift „Jugend“ (S. 197) abgebildet worden. Siehe Balthus, Brief an Antoinette de Watteville vom 19.04.1934, zit. nach Gropp: Balthus in Paris, S. 13. Siehe näher Gropp, Balthus in Paris, S. 103 f. Die Familiensaga (dt.: „Sturmhöhe“) ist neben „Alice hinter den Spiegeln“ und „Struwwelpeter“ ein weiteres Buch, das Balthus in seiner Jugend tief beeindruckte und inspirierte. Siehe näher Gropp, Balthus in Paris, S. 104 ff. Balthus, Brief an Antoinette de Watteville vom 01.12.1933, zit. nach Gropp, a.a.O., S. 100 f.

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Ich bereite ein neues Gemälde vor. Ein ziemlich gefährliches Gemälde. Kann ich es wagen, Dir davon zu erzählen? Aber wenn ich Dir nicht davon erzählen könnte – Es handelt sich um eine erotische Szene. Aber versteh mich recht, sie hat nichts Belustigendes, nichts von jenen üblichen kleinen, schmutzigen Gemeinheiten, die man sich heimlich zeigt und einander dabei verschwörerisch mit den Ellenbogen anstößt. Nein, ich will in aller Öffentlichkeit, mit Wahrhaftigkeit und Gefühl die gesamte packende Tragik der Dramen des Fleisches verkünden, ich will die unerschütterlichen Gesetze des Instinkts laut herausrufen. Und so der Kunst ihren leidenschaftlichen Gehalt wiedergeben. Tod den Scheinheiligen! Das Bild stellt eine Gitarrenstunde dar ..., eine junge Frau hat einem kleinen Mädchen eine Gitarrenstunde gegeben, und danach spielt sie weiter Gitarre auf dem Mädchen. Nachdem sie die Saiten des Instruments zum Erklingen gebracht hat, bringt sie einen Körper zum Erklingen ... Du siehst, dass ich mich echten Beschimpfungen aussetze.

Kurz vor seinem Tod sagte Balthus über die „Gitarrenstunde“ 52: „Ein einziges Mal wollte ich mit einem Bild provozieren.“ Und in der Tat: „Wahrscheinlich gib es kein anderes im 20. Jahrhundert entstandenes Kunstwerk, das vergleichbaren Aufruhr – und Rumor – verursacht hat.“53

bb) Langzeitwirkungen der Ausstellung Aufruhr und Rumor – fast noch untertrieben. Dem US-amerikanischen Kunstkritiker Jerry Saltz (* 1951) schien es noch 2013 so, „as if it were some metaphysical equivalent of the cursed videotape in The Ring54 that kills anyone who views it“55. „Die Gitarrenstunde“ wurde erst wieder in einer „intimen Schau“56 im November 1977 für einen Monat in der New Yorker Galerie von Pierre Matisse, dem Sohn von Henri Matisse, gezeigt. (Damit der amerikanische Zoll es bei der Einfuhr aus Europa nicht wegen pornographischer Vorbehalte beschlagnahmt, hatte man die Leinwand mit einem anderen Bild abgedeckt.) Dann vergingen nochmals über 30 Jahre; es war erst wieder im September 2001 zu sehen, als der Palazzo Grassi in Venedig Balthus mit einer Retrospektiv-Ausstellung ehrte, in der rund 250 Werke gezeigt wurden. Noch von den Balthus-Retrospektiven im Centre Georges Pompidou in Paris vom Novem52 53 54

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Balthus, Erinnerungen, S. 49. Gropp, Balthus in Paris, S. 95. „The Ring“ ist ein Roman des japanischen Schriftstellers Kōji Suzuki (* 1957) aus dem Jahr 1991. Es geht um ein mysteriöses Videoband, das jeden, der es gesehen hat, nach sieben Tagen tötet. Saltz, Vulture.com vom 22.9.2013. Gropp, Balthus in Paris, S. 95.

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ber 1983 bis zum Januar 1984 und anschließend vom Februar bis zum Mai 1984 im Metropolitan Museum of Art in New York war die „Gitarrenstunde“ ausgeschlossen gewesen. Dominique Bozo, Direktor des Centre Pompidou, schrieb damals im französischen Ausstellungskatalog57, das Bild fehle aus Gründen, die wir nicht in jeder Hinsicht teilen, die jedoch erneut zeigen, in welchem Maß Balthus’ Werk fünfzig Jahre nach seiner Erschaffung immer noch verstört und zutiefst irritiert.

Und: Dennoch scheint uns …, dass dieses so belastete, aber von einer außerordentlichen Bildqualität getragene Gemälde ohne Frage zu den großen Klassikern des zwanzigsten Jahrhunderts gehört. Mit großem Bedauern haben wir darauf verzichten müssen, es hier zu zeigen.

Die „Gitarrenstunde“ wurde sogar lange Zeit nicht einmal abgebildet. Lediglich in „Les larmes d’Éros“, einem zeitweise (aus anderen Gründen58) indizierten Buch des französischen Schriftstellers und Philosophen Georges Bataille, war sie 1961 zu sehen. Selbst als die „Gitarrenstunde“ 1977 in der Pierre Matisse Gallery gezeigt wurde, entschuldigte sich der renommierte Kunstjournalist Thomas B. Hess, langjähriger Herausgeber der „Art News“, im Magazin „New York“59, dass sie can’t be illustrated in the pages of „New York“, because the intensity of its image, locked in a classic pictorial structure, suggests the particular quality of Balthus’s art. It‘s seductive, intellectual, youthful, anxious, erotic, challenging, and, to use an old-fashioned word, “Byronic”.

Und nicht nur die Ausstellung und Abbildung, sondern auch die Inhaberschaft an diesem Bild ist viele Jahre, so scheint es, verpönt gewesen. „Die ʻGitarrenstundeʼ hat über lange Zeit hin Ähnlichkeit mit einer heißen Kartoffel, an der sich niemand die Finger verbrennen will“60: [Im Catalogue raisonné, also dem Werkverzeichnis Balthus’] firmieren elf verschiedene Besitzer – darunter als erster Balthus’ früher Förderer James Thrall Soby und in den achtziger Jahren der amerikanische Filmregisseur und Produzent Mike Nichols [„Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ / „Die Reifeprüfung“] ... Seit 1985

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Zit. nach Néret, Balthus, S. 19; 20. Das Buch enthielt schwer erträgliche Fotografien eines zu Tode gemarterten Chinesen; die „Gitarrenstunde“ war übrigens im räumlichen Kontext zu diesen Fotos abgebildet. Hess, New York vom 21.11.1977. Gropp, Balthus in Paris, S. 95 f.

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gehört sie ... der [griechischen] Reederfamilie Niarchos61, was ... jahrelang als Geheimnis gehandelt wurde ... Ein paar hübsche Umwege seien verzeichnet: Wenige Jahre nach unserer Ausstellung bei Pierre Loeb kaufte eben James Thrall Soby [dem seit 1937 schon La Rue gehörte] die Gitarrenstunde bei Balthus’ Pariser Händler Pierre Colle. ... Zweifelsohne deutlich gefährlicher als La Rue, zeigte Soby die Gitarrenstunde nie mit seiner Sammlung und schrieb auch nie über das Bild. Er tauschte es schließlich 1945 mit dem [surrealistischen] Maler Roberto Matta gegen eines von dessen eigenen Werken. Als Mattas Exfrau Patricia dann den Kunsthändler Pierre Matisse heiratet, wird La leçon de guitarre Teil seiner Galerie in New York. ... Pierre Matisse ... wollte das Bild ... [1978] dem Museum of Modern Art stiften, doch da hatte er nicht mit dem Wertehorizont von Mrs. John D. Rockefeller III gerechnet, der Vorsitzenden des Museumsbeirats. Ihr nämlich ist es zu verdanken, dass die Schenkung schließlich abgelehnt und die Gitarrenstunde 1982 aus dem Depot des Museums an Pierre Matisse zurückgegeben wurde. (Blanchette Rockefeller empfand das Werk, weil der Bildaufbau an eine Pietà erinnert, als „blasphemisch und obszön“62.)

Jedenfalls: Das Bild trug Balthus für den Rest seines langen Lebens den Ruf eines Außenseiters mit zumindest fragwürdigen Neigungen ein63: Mit „Leçon de Guitarre“ bricht er anlässlich seiner ersten Einzelausstellung 1934 in der Galerie Pierre die gängige Norm für Nacktheit im Bild und setzt eine lesbische Gitarrenlehrerin, die offensichtlich ihre Schülerin missbraucht, ins Zentrum allen Geschehens, ins Wohnzimmer. Die bewusste Provokation sollte wirken. Das Bild des Pornographen war geboren ... – es war nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Allerdings ist dieses Bild von Balthus als eines „Pornographen“ zumindest viel zu pauschal – und damit letztlich falsch. Balthus hinterließ ein – gemessen an seiner langen Schaffensperiode – zwar relativ schmales Werk von rund 350 Gemälden und 1.600 Zeichnungen; die sind jedoch vielfältigster Art, längst nicht nur auf „Pornographisches“ beschränkt. Von ihm gibt es etwa Landschaftsansichten und Stadtszenen, selbst Stillleben. Es finden sich zahlreiche Gruppenbilder und viele Einzelporträts, oft als – vollständig bekleidete – Ganzfigur.

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Bei dem 1996 verstorbenen Stavros Niarchos, der die „Gitarrenstunde“ erworben hatte, soll sie in einem „elaborately paneled bedroom, furnished like rooms at Versailles“ aufgehängt gewesen sein: „Like a piece of erotica, it is displayed alone on a wall so it can easily be viewed from the large bed canopied in stiff brocade. If one were on oneʼs back on that splendid bed, the painting would be to the right. On the opposite side, large windows – framed by heavy draperies, tasseled and fringed – look out on a spectacular urban vista.“ (Weber: Balthus, S. 216). Schürenberg, Welt.de vom 20.02.2001. Mittringer, DerStandard.at vom 20.02.2001.

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b) Deutschland: Köln und Essen Jedenfalls ist Fakt, dass Balthus bis heute ein Maler ist, dessen Werke trotz seiner unbestrittenen künstlerischen Reputation in Deutschland kaum öffentlich gezeigt werden. Nicht ein einziges deutsches Museum besitzt ein Balthus-Bild. Lediglich 2007, vom 18. August bis zum 4. November, veranstaltete das Kölner Museum Ludwig die erste und einzige große Einzelausstellung Balthus’ in Deutschland mit 25 Gemälden sowie rund 50 Zeichnungen, vorwiegend aus der Zeit zwischen 1932 und 1960. Die Schau umfasste auch „La rue“ und „La fenêtre“, aber nicht die „Gitarrenstunde“. Die Ausstellung wurde in der Tagespresse durchaus freundlich aufgenommen. Peter Kunitzky sprach in „Artmagazine“ zwar von Werken aus der „kunsthistorischen Schmuddelecke“, und es sei auch „ein merkliches Unbehagen, eine stille Verlegenheit vor den Bildern“ geblieben. Jedoch: Die Empörung hat sich ringsum gelegt – dafür hat der Sexus, auch der präadoleszente, unsere Kultur bereits viel zu sehr infiltriert und uns gegen solche Zumutungen überwiegend stumpf werden lassen64.

Diese Einschätzung mag allerdings voreilig gewesen sein. Keine sieben Jahre später, im Februar 2014, sagte das Museum Folkwang in Essen eine für April vorgesehene Ausstellung mit Fotografien von Balthus wieder ab: Geplant war, Polaroid-Aufnahmen zu zeigen, die in den 1990er Jahren der damals über 80-Jährige, dem es altersbedingt zunehmend schwerer gefallen war zu malen, von dem Mädchen Anna Wahli, der Tochter seines Arztes, gemacht hatte. (Seit Ende der 1980er Jahre malte Balthus nur noch nach Polaroids.) Die insgesamt 2.400 Polaroids waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen. Anna soll zu der Ausstellung ihre Zustimmung gegeben haben65. Anna war zu Beginn der Aufnahmen acht Jahre alt, am Ende war sie 16. Balthus hat sie bei seinen Fotosessions stets sorgsam arrangiert. Oft war sie halbnackt. Das Museum teilte mit, Vorgespräche mit verschiedenen Instanzen, unter anderem dem Essener Jugendamt, hätten ergeben, dass die geplante Schau „zu ungewollten juristischen Konsequenzen und einer Schließung der Ausstellung führen könnte“. Eine solche Entwicklung widerspreche dem Auftrag und der 64 65

Kunitzky, Artmagazine vom 21.10.2007. Rauterberg, Die Zeit 50/2013.

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Verantwortung des Hauses. Tobia Bezzola, Direktor des Museums Folkwang, ergänzte: „Einen Skandalerfolg wollten wir nicht suchen, das war nicht unsere Idee.“ Er habe vielmehr zeigen wollen, wie ein Maler, der in seinem hohen Alter nicht mehr zeichnen konnte, Fotografien als Skizzen für künftige Gemälde nutze. Ihm sei es „um das Verhältnis von Malerei und Fotografie“ gegangen. Dann habe sich aber herausgestellt, dass in der öffentlichen Diskussion das Thema Pädophilie das künstlerische Interesse völlig überlagere. „Die ganze Wahrnehmung der Ausstellung hätte sich nur noch darum gedreht.“66 Die Ankündigung der Balthus-Ausstellung hatte in der Tat im Vorfeld eine Debatte über Pädophilie in der Kunst ausgelöst. Auf den Gemälden Balthus’ hätten die für ihn typischen frühreifen Mädchen noch surreal entrückt gewirkt, hieß es in einem ungewöhnlich scharfen Artikel der „Zeit“ vom Dezember 201367, „hier aber, auf den Polaroids, wird die Lüsternheit unmittelbar. Sie erscheinen als Dokumente einer pädophilen Gier.“ Der Steidl-Verlag gab im Februar 2014 dennoch das Buch „The Last Studies“ mit Balthus’ Polaroid-Fotos von Anna in einer limitierten Auflage von 1.500 Exemplaren heraus. „Da kann schon der Verdacht aufkommen, dass sich ein Greis einfach aufgeilen wollte“, wurde Verleger Gerhard Steidl, der auch schon mit Größen wie Joseph Beuys und Günter Grass zusammengewirkt hatte, zitiert68. Dennoch habe er keine Sekunde gezögert, die Polaroids zu veröffentlichen. Ihn hätten die Farbvaleurs dieser Bilder begeistert, die man als „Stimmungsbilder für ein späteres Ölbild“ verstehen könne. „Ob es sich dabei um Kunst handelt, soll entscheiden, wer will.“

II. Zum Werk Balthus’ 1. Pädophilie und Künstler War Balthus nun aber wirklich pädophil oder zumindest hebephil (also auf – weibliche – Jugendliche, genauer gesagt Pubertierende ausgerichtet)? Die Diskussion ist müßig. Letztendlich mag angesichts vieler von Balthus’ Mädchenbildern kaum zu bezweifeln sein, dass ihn sehr junge Mädchen interessierten, und zu vermuten sein, dass er sie auch als geschlechtliche Wesen wahrnahm.

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Siehe zum Ganzen o.V., Welt.de vom 04.02.2014. Rauterberg, Die Zeit 50/2013. Rauterberg, a.a.O.

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Einige seiner jungen Modelle wurden sogar seine Geliebten: Mit Laurence Bataille, der Tochter des Schriftstellers Georges Bataille, war Balthus ab 1946 liiert, da war Laurence erst 16 Jahre alt. Frédérique Tison, Stieftochter seines Bruders Pierre, war von 1954 bis 1962 seine Gefährtin, anfänglich ebenfalls 16 Jahre alt. Seine zweite Frau Setsuko Ideta (* 1943), die er 1967 heiratete69, war 35 Jahre jünger als Balthus. Er lernte die 19-jährige Tokioter Kunststudentin 1962 als Dolmetscherin auf einer Reise nach Japan kennen, sie zog noch im gleichen Jahr zu ihm nach Rom. Seine erste Ehefrau, Antoinette de Watteville, war 16 Jahre alt, als sich der vier Jahre ältere Balthus in sie verliebte. Sie heirateten allerdings erst 1937. Es heißt, Antoinette habe Zeit ihres Lebens immer zehn Jahre jünger ausgesehen70. Jedenfalls wäre es alles andere als eine Ausnahme, dass ein Maler sich Modelle sucht oder aus der Phantasie heraus malt, die er erotisch findet. Kaum jemand wird ernsthaft bezweifeln, dass etwa Rubens oder Renoir den eher vollschlanken Frauentypus bevorzugten, den sie oft malten. Man könnte einen Schritt weitergehen: Solche Bilder wären überhaupt nicht denkbar, hätte der Künstler ein völlig distanziertes Verhältnis zu seinem Sujet. Keiner wird vermutlich auch in Frage stellen wollen, dass beispielsweise die bekannten Fotografen David Hamilton71 und Jock Sturges72, die über viele Jahre praktisch ausschließlich junge Mädchen fotografierten, sich von ihnen angezogen fühlten. Beide heirateten sogar eines ihrer Modelle (Mona Kristensen bzw. Maria Davis)73. Schon dem – von Balthus, wie erwähnt, sehr geschätzten – englischen Schriftsteller und Fotografen Lewis Carroll (* 1832; † 1898), der bereits in

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Balthus und Antoinette de Watteville lebten seit 1946 getrennt und ließen sich 1966 scheiden. Rewald, Balthus: Cats and Girls, S. 108. David Hamilton (* 1933; † 2016) war ein britischer Kunstfotograf und Filmemacher. Vor allem in Hamiltons frühen Jahren wurden seine Aktfotografien junger Mädchen nur selten kritisch aufgenommen. Später häuften sich Vorwürfe, seine weichgezeichneten Fotos seien nicht nur kitschig, sondern pornographisch. Der US-amerikanische Fotograf Jock Sturges (* 1947) wurde durch seine Aufnahmen an FKK-Stränden in Kalifornien, Spanien und vor allem in Frankreich bekannt. Seine Bilder stellen hauptsächlich nackte Mädchen und junge Frauen dar. 1990 wurde Sturges vom FBI der Kinderpornographie beschuldigt. Sturges soll zudem 1975 eine Affäre mit der damals 14-jährigen späteren Filmregisseurin Jennifer Montgomery gehabt haben.

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der Frühzeit dieser Technik zahlreiche weibliche Kinder nackt fotografierte, sind (nicht ausgelebte) pädophile Neigungen nachgesagt worden. Und 2013 wurde der langjährige englische Mädchenmaler und -fotograf Graham Ovenden (* 1943) wegen des sexuellen Missbrauchs mehrerer Modelle in den Jahren 1975 bis 1985 letztlich vom Berufungsgericht (Court of Appeal) zu 27 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt74. Balthus, der sich erst im hohen Alter Interviews öffnete, wird 1995 im „Spiegel“ zitiert75: Man behauptet, in meinen Bildern sei des öfteren Pornographie zu finden. Dabei sind es eher religiöse Bilder. Ja, ich male Engel. Schon bei Augustinus sind die Kinder Engel. Wegen ihrer Unschuld.

Und: „I really don‘t understand why people see the paintings of girls as Lolitas“, sagte er 1996 der „New York Times“76. Ähnlich wird er in seinen „Erinnerungen“ wiedergegeben, wo er ebenfalls von „Engeln, ... von der verwirrenden Anmut einiger meiner Mädchen“ spricht77: Es wird behauptet, meine unbekleideten jungen Mädchen seien erotisch. Ich habe sie nie in dieser Absicht gemalt, das hätte sie anekdotisch, geschwätzig erscheinen lassen. Ich wollte sie aber gerade mit einer Aureole des Schweigens und der Tiefe umgeben, gleichsam einen Taumel um sie erzeugen. Deshalb habe ich sie stets als Engel betrachtet. Wesen, die von anderswo gekommen sind, vom Himmel von einem idealen Ort, der sich plötzlich einen spaltweit geöffnet und die Zeit durchquert hat, in der er eine verzückte, verzauberte Spur zurücklässt oder einfach eine Ikone. [Ich] rege ... mich immer noch über die dummen Interpretationen auf, die behaupten, meine jungen Mädchen entsprängen einer erotischen Fantasie. Das zu behaupten heißt, sie nicht zu verstehen. Mich beschäftigt ihr langsamer Wandel vom Zustand des Engels zu dem des jungen Mädchens, ich will den Augenblick dessen erfassen, was man eine Passage, einen Übergang nennen könnte.

Immerhin ist bemerkenswert, dass Balthus 1924 auch den damals elf Jahre alten Bauernjungen Egon Grossniklaus, der der Malklasse des 16-jährigen Balthus als Modell diente, in einem Brief an seinen Bruder irgendwie „engelsgleich“ beschrieb78: Unter der groben Kleidung erahne ich bereits seinen Körper, doch ausgezogen wirkt er wie ein wertvoller Edelstein, der vom umgebenen Kalkstein befreit ist.

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Näher Menden, SZ.de vom 03.04.2013; o.V., Telegraph.co.uk vom 09.10.2013. v. Boehm, Der Spiegel 48/1995. Kimmelman, New York Times vom 25.08.1996. Balthus, Erinnerungen, S. 49; 75; 224. Zit. nach Rewald, Balthus: Cats and Girls, S. 17.

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Uwe Scheffler Sein Körper ist von vollkommener Harmonie und er bewegt sich mit außerordentlicher Grazie.

Da ansonsten homoerotisches Begehren von Balthus nicht überliefert ist, bietet sich – ergänzend – auch die in der Sexualforschung betonte Auffassung an, die in einer jüngeren Dissertation, passend zu unserer Fragestellung, so zusammengefasst worden ist79: Der jugendliche körperliche Entwicklungsstatus stellt kulturell übergreifend und zeitlich überdauernd das sexuell attraktivste Körperbild dar, was sich für den Europäischen Kulturkreis nicht nur als Schönheitsideal kunstgeschichtlich bis zur Klassischen Antike zurückverfolgen lässt, sondern was sich auch darin widerspiegelt, dass Jugendlichkeit bis heute einen zentralen Gegenstand von Kommerzialisierung in Medien, Marketing und Werbung darstellt. ... Bei der sexuellen Ansprechbarkeit durch [den] jugendlichen körperlichen Entwicklungs-status handelt es sich ... um eine sexualbiologisch erwartbare Reaktion, die folglich bisher auch … nicht als Störung der sexuellen Präferenz bzw. Paraphilie ... kategorisiert wird ...

2. Pornographie und Malerei Sei es drum. Relevant ist aus der nüchternen Sicht des (Straf-)Rechts nicht, ob Balthus (die Übergriffe auf seine Modelle, also Kindesmissbrauch, nie vorgeworfen wurden) pädophile Neigungen hatte, sondern lediglich, ob seine Bilder als strafbare Kinderpornographie in Betracht zu ziehen sind. Zunächst einmal zur Terminologie: § 184b StGB sprach bei seiner Entstehung 2004 von „pornographischen Schriften (§ 11 Abs. 3), die den sexuellen Mißbrauch von Kindern (§§ 176 bis 176b) zum Gegenstand haben (kinderpornographische Schriften)“80, genauso wie die Vorgängernorm § 184 Abs. 3 StGB von 1975. Weil seit 1973 § 176 StGB ausdrücklich das Kind als „Person unter vierzehn Jahren“ legaldefinierte, war also klar, dass es nicht um alle Minderjährigen ging. 2008 kam nun aber der ähnliche § 184c StGB, dessen amtliche Überschrift „Verbreitung, Erwerb und Besitz jugendpornographischer Schriften“ lautet, und der in Absatz 1 von „Personen von vierzehn bis achtzehn Jahren“81 spricht, hinzu. § 184c StGB wurde jedoch durch das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornografie vom 31. Oktober 2008 eingefügt82. Dieser Rahmenbeschluss 79 80 81 82

Ahlers, Paraphilie und Persönlichkeit, S. 19 f. Seit 2008: „... die sexuelle Handlungen von, an oder vor Kindern (§ 176 Abs. 1) zum Gegenstand haben ...“. ... und seit 2015 von einer „vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alten Person ...“. BGBl. I, 2149.

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2004/68/JI des Rates vom 22. Dezember 200383 definiert in Art. 1 lit. c – in Übereinstimmung mit Art. 1 der UN-Kinderrechtekonvention von 198984 und Art. 3 lit. a des Übereinkommens des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch von 2007 (LanzaroteKonvention)85 – unter „Begriffsbestimmungen“, dass „im Sinne dieses Rahmenbeschlusses“ der Ausdruck „ʻKindʼ jede Person unter achtzehn Jahren“ bezeichne86. Aus diesem Grund soll hier – sofern es auf die Unterschiede der in weiten Passagen ohnehin wortlautgleichen § 184b und § 184c StGB nicht ankommt – einheitlich von „Kindern“ und von „Kinderpornographie“ gesprochen werden.

a) Nacktaufnahmen, § 201a Abs. 3 StGB Vorweg: Viele (nicht alle) der Gemälde junger Mädchen von Balthus sind – bis auf die Tatsache der Nacktheit – ganz „normale“ Porträts, strafrechtlich unter dem Blickwinkel der Kinderpornographie von vornherein völlig irrelevant: Sie zeigen – man vergleiche § 184b Abs. 1 Nr. 1 StGB – weder „sexuelle Handlungen“, noch eine „unnatürlich geschlechtsbetonte Körperhaltung“, noch die „sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes“87. Seit dem Inkrafttreten des 49. Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht vom 21. Januar 201588 pönalisiert § 201a Abs. 3 StGB allerdings ganz allgemein Bildaufnahmen, „die die Nacktheit einer anderen Person unter achtzehn Jahren zum Gegenstand“ haben. Vom Begriff der „Bildaufnahme“ sind je83

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Abl. EU L 13 vom 19.01.2004, S. 44; ebenso die nachfolgende Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (ABl. EU L 335 vom 17.12.2011, S. 1) in Art. 2 lit. a. „Im Sinne dieses Übereinkommens ist ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt ...“. „Im Sinne dieses Übereinkommens ... bedeutet ʻKindʼ eine Person unter 18 Jahren ...“. Hörnle, NJW 2008, 3525: „... wenig durchdachte Gleichsetzung von Kindern und Jugendlichen im EU-Rahmenbeschluss ...“. Siehe etwa Jeune fille à sa toilette (1948); Privatbesitz; La toilette de Georgette (1949), New York, Elkon Gallery; Nu aux bras levés (1951), Privatbesitz; Nu de profil (1973/77), Privatbesitz; Nu au repos (1977), Privatbesitz; Nu au miroir (1981/83), Privatbesitz; Le drap bleu (1981/82), Privatbesitz. BGBl. I, 10.

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doch „Gemälde, Zeichnungen, Karikaturen und rein computergenerierte Bilder nicht erfasst“89; der Begriff ist „enger als derjenige der Abbildung“90 und schließt selbst „fotorealistische Gemälde, Zeichnungen oder Karikaturen“91 aus. Im Übrigen gilt nach Absatz 4 dieser Vorschrift Absatz 3 zudem nicht „für Handlungen, die in Wahrnehmung überwiegender berechtigter Interessen erfolgen, namentlich der Kunst ...“

b) Kinderpornographie, §§ 184b, 184c StGB Zurück zur Frage, ob Bilder von Balthus als strafbare Kinderpornographie in Betracht zu ziehen sind: Tatobjekt von §§ 184b, 184c StGB muss nach dem klaren, dennoch sprachlich etwas verunglückten Wortlaut eine „pornographische Schrift“ sein, die einen „kinderpornographischen“ (bzw. „jugendpornographischen“) Gegenstand hat92. Zunächst einmal: Auch Gemälde können „Schriften“ im Sinne der §§ 184b, 184c StGB sein. Nach der Definition in § 11 Abs. 3 StGB stehen den Schriften „Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen in denjenigen Vorschriften gleich, die auf diesen Absatz verweisen“. Unter die „Abbildungen“ fallen nach allgemeiner Ansicht „Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Dias usw.“93. Ob das so völlig unproblematisch ist, darauf wird zurückzukommen sein. Ob Gemälde von Balthus auch einen „kinderpornographischen“ (bzw. „jugendpornographischen“) Gegenstand haben, ist genauer zu untersuchen. Das ist seit Inkrafttreten des 49. Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht vom 21. Januar 201594 jedoch deutlich schwieriger zu prüfen. Bis dahin ging es (nur) um „pornographische Schriften ..., die sexuelle Handlungen von, an oder vor Kindern (§ 176 Abs. 1) zum Gegenstand haben“. Nunmehr geht der sachliche Anwendungsbereich weit darüber hinaus.

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Eisele in Schönke / Schröder, StGB, § 201a Rn. 6 mit weiteren Nachweisen. Bosch in Satzger / Schluckebier / Widmaier, StGB, § 201a Rn. 4. Hoyer in Systematischer Kommentar, StGB, § 201a Rn. 12. Vgl. Hörnle, NJW 2008, 3525: „Wäre der pornographische Charakter irrelevant, müsste dort statt ʻpornographische Schrift (§ 11 III)ʼ ʻSchrift (§ 11 III)ʼ stehen“. Radtke in Münchener Kommentar, StGB, § 11 Rn. 174. BGBl. I, 10.

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aa) „Unbekleidete Genitalien oder unbekleidetes Gesäß“ Seitdem ist außerdem schon die Wiedergabe der „unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes“ eines Kindes (nicht eines Jugendlichen!95) in § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. c StGB als kinderpornographisch erfasst, aber nur (das ist die entscheidende Einschränkung gegenüber der bloßen „Nacktheit“ in dem erwähnten § 201a Abs. 3 StGB), wenn sie „sexuell aufreizend“ ist. Buchstabe c wurde erst spät auf Initiative des Rechtsausschusses des Bundestages vom November 2014 in § 184b Abs. 1 Nr. 1 StGB eingefügt96. Bei dieser „merkwürdigen ‘Gesäßʼ-Variante“97, wie Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof und StGB-Kommentator, sie genannt hat, handelt es sich „um den Kern der ‘Lex Edathyʼ“98 – den strafrechtlichen Part der (was hier nicht interessieren soll) politisch weit umfassenderen „Edathy-Affäre“: Sebastian Edathy (* 1969) war von 1998 bis 2014 Abgeordneter der SPD im Deutschen Bundestag. Im Februar 2014 wurde bekannt, dass Edathy offenbar in den Jahren von 2005 bis 2010 beim kanadischen Online-Versandhändler „Azov Films“ (spezialisiert auf den Verkauf von zumeist in Osteuropa produziertem sogenanntem „FKK“-Bildmaterial mit minderjährigen Jungen) rund 30 Videos und Fotoreihen bestellt und auch erhalten hatte. Die Bilder, die nicht in die Öffentlichkeit gedrungen sind, sollen unbekleidete Jungen vermutlich im Alter von neun bis 14 Jahren in verschiedenen Posen zeigen, jedoch keine sexuellen Handlungen. Die Staatsanwaltschaft Hannover ließ deshalb am 10. Februar 2014 mehrere Wohnungen und Büros Edathys durchsuchen. Sie teilte vier Tage später mit, die aufgefundenen Videos und Fotoreihen bewegten sich im „Grenzbereich zu dem, was Justiz unter Kinderpornografie versteht“. Die Bilder zeigten 95

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Ein im September 2019 bekannt gewordener Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz „Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Modernisierung des Schriftenbegriffs und anderer Begriffe sowie Erweiterung der Strafbarkeit nach den §§ 86, 86a, 111 und 130 des Strafgesetzbuches bei Handlungen im Ausland“ will § 184c Abs. 1 Nr. 1 StGB um einen Buchstaben c erweitern, der, entsprechend zu § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit c StGB auch „die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes einer vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alten Person“ pönalisiert. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 12.11.2014, BT-DrS 18/3202 (neu), S. 13; 27 („Um sicherzugehen, dass die Richtlinie 2011/93/EU vollständig umgesetzt wird“). Fischer, StGB, § 184c Rn. 4. Fischer, a.a.O., 64. Aufl. 2017, § 184b Rn. 9a.

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Uwe Scheffler nackte Knaben, die toben, spielen, sich darstellen – alles mit Bezug zu den Genitalien ... Die Frage, ob es sich um Kinderpornos handelt, ist eine schwierige Bewertungsfrage99.

Sofort breitete sich in allen Medien helle Empörung aus. In den „Sozialen Netzwerken“ entbrannte ein „Shitstorm“, gipfelnd in Morddrohungen gegen Edathy. Schon am 17. Februar 2014 beschloss der Parteivorstand der SPD, die Mitgliedsrechte Edathys ruhen zu lassen. Es gab eine „ganz große Koalition“ (fast) aller Parteien, um unverzüglich die Strafvorschriften gegen Kinderpornographie auszuweiten. Bei „Wikipedia“ liest sich das in einem speziellen Artikel über die „EdathyAffäre“ so: Nach dem Bekanntwerden der Ermittlungen gegen Edathy forderte ... der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Johannes-Wilhelm Rörig eine weitere Verschärfung der Gesetzeslage. Nötig sei ein generelles Verbot der gewerblichen Verbreitung von Nacktfotos von Kindern. Ministerpräsidentin Annegret KrampKarrenbauer (CDU) forderte, über die „problematische Grauzone, dass käuflich erworbene Nacktfotos von Kindern strafrechtlich nicht relevant sind“ sei nun zu reden. Ähnlich äußerten sich die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD), CSULandesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt und Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter.

Gegen Zahlung einer Geldauflage von 5.000 Euro stellte das Landgericht Verden am 2. März 2015 das Strafverfahren gegen Edathy gemäß § 153a Abs. 2 StPO ein. (A) „Aufreizende“ Pose Wann mag nun aber ein Bild als „sexuell aufreizend“ eingestuft werden können? Der Begriff stammt aus Art. 1 lit. c Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates vom 22. Dezember 2003 zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornografie, wo vom „aufreizenden Zur-Schau-Stellen der Genitalien oder der Schamgegend von Kindern“ die Rede ist. Man kann zunächst vielleicht an die Posen gemalter Kinder bei Caravaggios „Amor als Sieger“100 oder Bouchers „Ruhendem Mädchen“101 99

So der ermittelnde Oberstaatsanwalt Jörg Fröhlich laut Spiegel online vom 14.02.2014 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fall-edathy-staatsanwaeltesehen-grenz bereich-zu-kinderpornografie-a-953482.html). 100 Michelangelo Merisi da Caravaggio (* 1571; † 1610), Amor vincit omnia (1603), Berlin, Staatliche Museen. 101 François Boucher (* 1703; † 1770), Jeune fille allongée (1751), Köln, WallrafRichartz-Museum. Eine weitere Fassung befindet sich in der Alten Pinakothek in München.

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denken102. Dort mögen Genitalien und Gesäß tatsächlich „aufreizend“ wiedergegeben sein, so dass sie „aufreizen“ können. Was wäre dann aber beispielsweise mit den Putten auf Peter Paul Rubens‘ „Früchtekranz“103 oder Rembrandts „Ganymed“104? Bei Rubens hat ein kleiner Putto ähnlich wie Caravaggios „Amor“ die Beine gespreizt, „Ganymed“ zeigt zentral seine Pobacken und zusätzlich seinen (urinierenden!) Penis. „Aufreizend“? Kommt es (auch?) auf die sexuelle Präferenz von Minderheiten an? Maßstab für die Beurteilung, ob die Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes sexuell aufreizender Art ist, ist die Beurteilung eines durchschnittlichen Betrachters,

erklärte allerdings der Rechtsausschuss des Bundestages105. Interessiert „einen durchschnittlichen Betrachter“ aber die nackte Unterkörperregion von Kindern, gar von Kleinkindern? Wie würde man danach Gustave Courbets „Ursprung der Welt“106, Jenny Savilles „Plan“107 oder Lucian Freuds Bilder von Sue Tilley108 einordnen (wo jeweils keine Kinderkörper abgebildet sind), alle mit ähnlicher Pose und Perspektive wie zahllose Pornobildchen? Alle „sexuell aufreizend“ nach der „Beurteilung eines durchschnittlichen Betrachters“? Oder soll der „Normaldenkende“109 über die unterschiedliche körperliche Attraktivität des gemalten Modells und damit über die Tatbestandsmäßigkeit entscheiden?

102 Das unbekannte Modell Caravaggios wird auf ein Alter von 12 Jahren geschätzt („Gestalt eines ohngefehr zwölffjährigen Jünglings“), v. Sandrart: Teutsche Academie, S. 190. Marie-Louise Murphy, das Modell Bouchers, wurde am 21.10.1737 geboren, war mithin 13 oder 14 Jahre alt, dem (heutigen) Schutzalter des § 184b StGB also möglicherweise gerade entwachsen. 103 Peter Paul Rubens (* 1577; † 1640) und Franz Snyders (* 1579; † 1657), De vruchtenkrans (1615/18), München, Alte Pinakothek. 104 Rembrandt Harmensz van Rijn (* 1606; † 1669): De ontvoering van Ganymedes (1635), Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister. 105 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) vom 12.11.2014, BT-DrS 18/3202 (neu), S. 27. Dazu Fischer (StGB, § 184c Rn. 9b): „Das ist insoweit erstaunlich, als der ʻaufreizendeʼ Charakter als objektives Merkmal beschrieben wird, obgleich doch – angeblich – der ʻgesundeʼ, durchschnittliche Erwachsene beim Betrachten unbekleideter kindlicher Körperteile überhaupt keinen sexuellen Reiz verspürt.“ 106 Gustave Courbet, Lʼorigine du monde (1866), Paris, Musée d’Orsay. 107 Jenny Saville (* 1970), Plan (1993), London, Saatchi Gallery. 108 Lucian Freud (* 1922; † 2011), Evening in the Studio (1993), Privatbesitz: Benefits Supervisor Resting (1994), Privatbesitz. 109 BGH, Urteil vom 21.04.1978 – 2 StR 739/77 (JurionRS 1978, 12314).

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„Aufreizend“. Ein solch vages, substanzloses, an subjektive Einschätzungen anknüpfendes Tatbestandsmerkmal, abhängig von der „Beurteilung eines durchschnittlichen Betrachters“, hat in einem modernen Strafgesetzbuch eigentlich nichts zu suchen. (B) „Aufreizende Wiedergabe“ Zurück zu Balthus: Er hat einige Bilder gemalt, auf denen Mädchen liegend zu sehen sind, mit bei leicht gespreizten Beinen präsentiertem Geschlechtsteil110 – in einer durchaus als „aufreizend“ zu verstehenden Pose. Folgt aber aus der „aufreizenden“ Pose auch eine „sexuell aufreizende Wiedergabe“ im Sinne von § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. c StGB? Dass man durchaus zweifeln kann, ob diese Bilder den vom Rechtsausschuss angeführten „durchschnittlichen Betrachter“ oder den Pädophilen „sexuell aufreizen“ dürften, liegt am Malstil von Balthus. Er malt nicht (foto-)realistisch. (Auch) sein Porträtstil ist eher vom Quattrocento, insbesondere den Fresken von Piero della Francesca geprägt. Oftmals wird gemeint, Balthus’ „altmodischer“ Stil entziehe sich einer Einordnung in die Strömungen der modernen Malerei, in die, wie sie Hans Arp und El Lissitzky so treffend bezeichnet haben111, „Kunstismen“. Er nehme eine „Sonderstellung“ ein. Bei genauerem Hinsehen könnte man aber auch die Auffassung vertreten, sein Werk fügt sich sehr wohl in die Malerei der Periode zwischen den zwei Weltkriegen, in die Kunst des zweiten Jahrzwanzigst des letzten Jahrhunderts ein: In den ersten 20 Jahren, in der eigentlichen Klassischen Moderne, hatte sich die „moderne“ Malerei, anknüpfend an die „Wegbereiter“-Generation (Paul Cézanne, Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Georges Seurat ...) explosionsartig in ganz Europa vielgestaltig entfaltet. Fauvismus, Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Konstruktivismus, Dadaismus usw. Die nächste Generation kam nun, von diesen verschiedenen „Ismen“ der Klassischen Moderne ausgehend, mehrheitlich wieder zu eher realistischen Stilen zurück: Es entwickelten sich zum einen der Surrealismus von Max Ernst, René Magritte und Salvador Dalí, zum anderen die Neue Sachlichkeit (Christian Schad und Georg Schrimpf), der Verismus von George Grosz und Otto Dix, die American Scene (Grant Wood, Edward Hopper). Selbst der Sozialistische Realismus 110 Siehe etwa Jeune fille au chat (1945) Philadelphia, Museum of Art; Le lever (um 1977), Privatbesitz; Le chat au miroir I (1977/80), Privatbesitz; Nu à la guitarre (1983/86), Privatbesitz. 111 Die Kunstismen, 1925.

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mexikanischer (Diego Rivera, José Clemente Orozco, David Alfaro Siqueiros) und sowjetischer Prägung gehört hierzu. Gemein ist allen diesen Stilen einerseits die erneute Bändigung der in der Klassischen Moderne entfesselten Farben und Formen, andererseits aber auch die verweigerte Rückkehr zur naturalistischen Darstellungsweise des Realismus des 19. Jahrhunderts. Geschaffen wurde vielmehr bei aller Unterschiedlichkeiten im Einzelnen immer eine unwirkliche Atmosphäre. Will man eine gemeinsame Bezeichnung, einen „Ismus“ für diese oft getrennt betrachteten Spielarten suchen, böte sich eigentlich der Ausdruck „Magischer Realismus“ an, würde der nicht schon für eine weitere Spielart (Franz Radziwill, Richard Oelze) dieses „Neo“-Realismus gebraucht112. Anders formuliert: (Naturalistischer113) Surrealismus und Neue Sachlichkeit können als zwei Pole einer einheitlich zu verstehenden Stilrichtung verstanden werden. Schon insoweit findet man gerade zu den Personenbildern von Balthus (auf die im Folgenden der Fokus zu legen ist) einige Verwandtschaften bei der Malerei der Zwischenkriegszeit – in der gedämpften Farbgebung, in der stilisierten Figuration, im Einfrieren der Szene114. Auch zum Aufbau vieler Szenen, zur Perspektive, zur Leere und Ruhe der Porträts von Balthus erkennt man überraschende Affinitäten115. Eine Verbindung findet sich schließlich – bei der Orientierung Balthus’ an Piero della Francesca und Poussin wenig überraschend – zu Malern, die eine weitere Variante des „Neo“-Realismus der Zwischenkriegszeit kreierten, nämlich den Neoklassizismus116. Mit Pablo Picasso als auch mit André Derain, zwei der wichtigsten Neoklassizisten, war Balthus lange Jahre befreundet. Kurzum: Versteht man die Kunst der Zwischenkriegszeit als einheitliche Stilepoche, als internationale Strömung des Realismus, genannt Nachex112 Siehe Franz Roh, Nach-Expressionismus: Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei, 1925. 113 Der davon zu unterscheidende „abstrakte“ oder „absolute“ Surrealismus (Joan Miró, André Masson) entzieht sich dieser vereinfachenden Einteilung. 114 Siehe etwa Georg Schrimpf (* 1889; † 1938), Zwei Mädchen am Fenster (1937), Berlin, Neue Nationalgalerie; Oskar Schlemmer (* 1888; † 1943): Bauhaustreppe (1932), New York, Museum of Modern Art. 115 Siehe etwa Edward Hopper (* 1882; † 1967), Hotel room (1931), Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza; Paul Delvaux (* 1897; † 1994): La visite (1939), Paris, Galerie Malingue. 116 Nicht zu verwechseln mit dem französischen „néo-classicisme“, der die Epoche zwischen Rokoko und Romantik umschreibt, die im deutschen Sprachgebrauch als „Klassizismus“ bezeichnet wird. Als „classicisme“ wird in Frankreich der klassizistische Barock Poussins bezeichnet.

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pressionismus oder Neo- oder Magischer Realismus, dann steht Balthus mittendrin! Freilich – „unverwechselbar eigenständig“117: Seine Werke sind eingefrorene Standbilder. Die Figurenbilder sind in den seltsamsten Stellungen erstarrt. Vieles erinnert an Puppenstubenszenen. In seinen Bildern gibt es kein elektrisches Licht, keine Autos, keine Maschinen, keinen Lärm118. Es stellt sich grundsätzlich die Frage, inwieweit Gemälde oder Zeichnungen, die von einer (foto-)realistischen Darstellungsweise abweichen, selbst dann, wenn sie Geschlechtsorgane oder Gesäße auffällig präsentieren, überhaupt geeignet sind, das Tatbestandsmerkmal der „sexuell aufreizenden Wiedergabe“ auszufüllen. Um das zu illustrieren: Im Zusammenhang mit den Ausstellungen „Fränzi, Modell und Ikone der ʻBrückeʼ-Künstler“ 2009 im Buchheim-Museum in Bernried am Starnberger See und – vor allem – „Der Blick auf Fränzi und Marcella“ 2010 im SprengelMuseum in Hannover entbrannte in der Öffentlichkeit die Diskussion um Mädchenbildnisse einiger „Brücke“-Maler. Hintergrund war, dass im Sommer 1909 unter nicht näher bekannten Umständen die im Oktober 1900 geborene Lina Franziska „Fränzi“ Fehrmann (* 1900; † 1950), das zwölfte (nach anderen Quellen fünfzehnte) Kind einer Dresdner Arbeiterfamilie, bei den „Brücke“-Malern in deren Ateliers in der Berliner Straße in Dresden-Friedrichstadt auftauchte und auch bei deren Mal-Ausflügen an die Moritzburger Teiche mit dabei war. Jedenfalls ist Fränzi bis 1911 (ähnlich wie die fünf Jahre ältere, also damals Jugendliche Marcella Sprentzel) auf zahlreichen Gemälden und Zeichnungen Ernst Ludwig Kirchners, Erich Heckels und Max Pechsteins zu finden; vor allem Kirchner stellt sie oftmals nackt posierend119, zumindest mit deutlich sichtbarem Genital, dar. „Sexuell aufreizend“ dürfte aber die in expressionistischer Manier gemalten Körper und Geschlechtsteile kaum jemand finden.

117 Frehner, NZZ.ch vom 14.09.2001. 118 Es gibt nur ein berühmtes Werk in der Malerei der Moderne, dass eine solche Stimmung ähnlich extrem zum Ausdruck gebracht hat: Un dimanche après-midi à l’Île de la Grande Jatte (1884/86, Chicago, Art Institute) von Georges Seurat (* 1859; † 1891). 119 Siehe etwa Sitzender weiblicher Akt auf einem Sofa (Fränzi) (1910). Bern, Sammlung E.W.K.

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Für dieses – bisher nicht diskutierte – Auslegungsproblem des Tatbestandsmerkmals der „sexuell aufreizenden Wiedergabe“ in § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. c StGB mag vielleicht eine Ungenauigkeit in der Übersetzung des Rahmenbeschlusses ursächlich sein. In dessen englischer Fassung ist die Rede von der „lascivious exhibition“ der Genitalien, ähnlich in der französischen von der „l‘exhibition lascive“. Die üblichen Übersetzungen mit „lasziv / lüstern / wollüstig / schlüpfrig“ weisen nun aber weniger als das aus dem Partizip Präsens gebildete Adjektiv „aufreizend“ auf die Wirkung auf den Betrachter, sondern eher auf eine Eigenschaft der betrachteten „Schrift“ hin: Balthus’ Gemälde unbekleideter Mädchen im Stile der Frührenaissance und – noch mehr – Kirchners expressionistische Darstellungen der nackten Fränzi mögen lasziv, „lascivous“ sein – „aufreizend“ sind sie eher nicht. Insofern wäre hier, ausgehend vom Wortlaut des deutschen Gesetzes – aber weniger von dem des umzusetzenden Rahmenbeschlusses – eine restriktive Auslegung denkbar, die wenigstens „moderne“ Malerei weitgehend dem Tatbestand des § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. c StGB entzöge.

bb) „Geschlechtsbetonte Körperhaltung“ Mit dem 49. Strafrechtsänderungsgesetz ist 2015 aber neben der „sexuell aufreizenden Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes“ außerdem die Wiedergabe einer „ganz oder teilweise unbekleideten“ noch nicht vierzehn bzw. achtzehn Jahre alten Person „in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ in § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. b und § 184c Abs. 1 Nr. 1 lit. b StGB ausdrücklich als kinder- bzw. jugendpornographisch gesetzlich erfasst worden120. Die Formulierung, schon länger bekannt

120 Ein im September 2019 bekannt gewordener Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz „Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Modernisierung des Schriftenbegriffs und anderer Begriffe sowie Erweiterung der Strafbarkeit nach den §§ 86, 86a, 111 und 130 des Strafgesetzbuches bei Handlungen im Ausland“ will den Begriff „unnatürlich“ in § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. b und § 184c Abs. 1 Nr. 1 lit. b StGB durch „aufreizend“ ersetzen, was „treffender“ sei: „Denn ein schlafendes Kind nimmt grundsätzlich keine ʻunnatürlicheʼ Körperhaltung ein, kann sich aber im Schlaf in einer sexuell aufreizenden Pose befinden und entsprechend abgebildet werden. Auch Aufnahmen, bei denen das Kind überraschend und ohne für den Betrachter zu posieren in einer geschlechtsbetonten Körperhaltung fotografiert wird, wird durch den Begriff ʻunnatürlichʼ nicht rechtssicher erfasst.“ (Begründung, S. 23). Für die uns hier interessierenden Konstellationen soll sich durch diesen Begriffstausch wohl nichts ändern; allerdings würden die dargestellten Probleme um das Adjektiv „aufreizend“ in § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. c StGB in die Buchstaben b der beiden Pornographievorschriften transmittiert.

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aus dem Jugendschutzrecht121, zeigt deutlich, dass es hier anstelle der (subjektiv) „sexuell aufreizenden Wiedergabe“ (objektiv) auf die Wiedergabe der „Körperhaltung“, das „Posing“ ankommen soll – selbst expressionistische Gemälde könnten dies durchaus wiedergeben. Gerichte gehen im Jugendschutzrecht mit diesem ohnehin äußerst unbestimmten Wortlaut122 teilweise ziemlich freizügig um123: Nicht erforderlich ist, dass die minderjährige Person nackt oder auch nur teilweise entkleidet dargestellt wird, wenn sich schon allein aus der Körperhaltung oder eingenommenen Pose die unnatürliche Geschlechtsbetontheit ergibt. Erfasst werden mit Blick auf den Schutzzweck unter Umständen auch Abbildungen von Kindern und Jugendlichen in Reizwäsche, übermäßiger Schminke oder sonstigen aufreizenden Bekleidungen ...

Marc Liesching ergänzte in seiner Kommentierung, eine Unnatürlichkeit der Körperhaltung liege vor, wenn das Verhalten der „Erwachsenenerotik zuzuordnen“ sei124. Darüber hinaus erwähnt Liesching ausdrücklich, schon allein aus der Körperhaltung oder eingenommenen Pose wie dem „Spreizen der Beine“ könne sich die „unnatürliche Geschlechtsbetontheit“ ergeben125. Nun gibt es von Balthus’ Porträts, die sehr junge Mädchen zwar nicht nackt zeigen, von der Pose her jedoch geeignet sind, den Betrachter zu irritieren, der nicht so genau weiß, ob sie als künstlerisch überhöht verstanden werden können, als Posen, die ins Allegorische oder Surreale entrückt sind – oder als das, was der Gesetzgeber mit „unnatürlicher Geschlechtsbetontheit“ („naturwidrig, aufgesetzt, gezwungen, gekünstelt“126) zu meinen scheint. Das gilt besonders für die Gemälde seines ersten Jungmädchenmodells, der 1925 geborenen Nachbarstochter Thérèse Blanchard, die Balthus bis 1939,

121 § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV); leicht abweichend § 15 Abs. 2 Nr. 4 Jugendschutzgesetz (JuSchG) („in unnatürlicher, geschlechtsbetonter Körperhaltung“). 122 Ziegler in BeckOK, StGB, § 184b Rn. 5; Fischer: StGB, 62. Aufl. 2015, Anhang, §§ 184a, 184b, 184c Anm. 3: „ʻGanz oder teilweise unbekleidetʼ ist nach dem Wortsinn jeder Mensch, der sich nicht in einen Ganzkörper-Schleier nach Taliban-Mode einhüllt.“ 123 OLG Celle, MMR 2007, 316 mit Anm. Liesching; zustimmend ders. in Erbs / Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 15 JuSchG Rn. 35. 124 Liesching, a.a.O., Rn. 36 („Dies kann im Einzelfall auch bei Formaten wie der ʻMiniPlayback-Showʼ der Fall sein, wenn Kinder aufreizende Choreographien aufführen.“). 125 Liesching, a.a.O., Rn. 35. 126 Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-DrS 18/2954, S. 11.

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als er Paris verließ, mehrere Jahre lang wiederholt (zehnmal), anfänglich erst zehn- oder elfjährig, malte, bevorzugt mit hochgerutschtem Rock127. Allerdings zeigt sich gerade hier bei zwei ähnlichen Porträts der Thérèse, bei der man ihr sogar bis zum Höschen gucken kann128, wie sehr bei dieser Pose neben „unnatürlicher Geschlechtsbetontheit“ künstlerischer Ausdruckswille relevant gewesen sein mag: Balthus zitiert hier ganz offensichtlich ein Gemälde des französischen Akademischen Realisten Émile Munier von dessen fünfjährigen Tochter Marie Louise129. Das Motiv findet offenbar das Interesse Kreativer: Die Bilder fanden sowohl Verwendung in einer Werbekampagne für die englische „Pears Soap“ von 1901 wie auch in einer Fotocollage von Man Ray von 1935 – ohne einen Aufschrei der Empörung wegen „unnatürlicher Geschlechtsbetontheit“. Von diversen, zum Teil international hochangesehenen (Fashion-)Fotografen wird vor allem das 1938er Bildnis der träumenden Thérèse zitiert, gar zur Vorlage von Hommagen an Balthus gemacht130. Die Pose wird also offenbar für künstlerisch besonders ausdrucksstark gehalten. Es genügt jedoch nicht, dass ein Kunstwerk, eine „Schrift“, einen „kinderpornographischen“ Gegenstand hat, sondern die Schrift muss zusätzlich noch „pornographisch“ sein131. Diese Einschränkung ist im November 2014 noch vom Rechtsausschuss gezielt wieder eingefügt worden, nachdem das Merkmal im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung begründungslos gestrichen worden war132; die Konsequenzen für die neuen Erweiterungen des Kin127 Siehe Thérèse (1938), New York, Metropolitan Museum of Art; Thérèse sur une banquette (1939), Los Angeles, Privatbesitz. 128 Jeune fille (Thérèse) au chat (1937), Chicago, Art Institute; Thérèse rêvant (1938), New York, Metropolitan Museum of Art. 129 Émile Munier (* 1840; † 1895), En pénitènce (1879). Privatbesitz. Siehe dazu Rewald, Metropolitan Museum Journal 33 (1998), 307; 313; dies.: Balthus: Cats and Girls, S. 79 f. 130 Eric Kroll (* 1946), Homage to Balthus (1988); Mark Squires (* 1971): Thérèse rêvant (tribute to Balthus) (2007). 131 Siehe BGHSt 59, 177 (180), „Der Wortlaut des § 184b Abs. 1 StGB ... bestimmt, dass nur eine ʻpornographischeʼ Schrift auch ʻkinderpornographischʼ i.S.v. § 184b Abs. 1 StGB sein kann“. 132 Siehe Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht, BT-DrS 18/3202 (neu), S. 27: „Der Ausschuss schlägt vor, in der Definition kinderpornographischer Schriften zur Vermeidung von Missverständnissen ausdrücklich hervorzuheben, dass es sich dabei um pornographische Schriften handeln muss“.

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derpornographietatbestandes, die nicht den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, sind dem Gesetzgeber aber möglicherweise nicht voll bewusst geworden133: Damit wird eigentlich die „kinderpornographische Schrift“ zu einem Unterfall der „pornographischen Schrift“ – neben die sie aber erweiternd treten sollte: Es genügt demzufolge nicht die Wiedergabe eines „ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ oder „die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes“

– die Darstellung muss außerdem noch „pornographisch“ sein. „Pornographisch“ ist nun aber nach der langjährig herrschenden Meinung zu § 184 StGB, dem allgemeinen Pornographie-Tatbestand, eine vergröbernde Darstellung sexuellen Verhaltens, die den Menschen unter weitgehender Ausklammerung emotional-individualisierter Bezüge zum bloßen – auswechselbaren – Objekt geschlechtlicher Begierde oder Betätigung macht134.

Ausführlich hat dies Jörg Eisele im „Schönke-Schröder“ beschrieben135: Als pornografisch ist eine Darstellung nach herrschender Meinung anzusehen, die unter Ausklammerung sonstiger menschlicher Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher ... Weise in den Vordergrund rückt und die in ihrer Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf sexuelle Stimulation angelegt ist, sowie dabei die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertevorstellungen gezogenen Grenzen eindeutig überschreitet ... Wesentlich ist danach zunächst inhaltlich die Verabsolutierung sexuellen Lustgewinns und die Entmenschlichung der Sexualität, mit anderen Worten, dass der Mensch durch die Vergröberung des Sexuellen „auf ein physiologisches Reiz-Reaktions-Wesen reduziert“ ... dass er „zum bloßen (auswechselbaren) Objekt geschlechtlicher Begierde“ degradiert wird ... Zum anderen kann formal die vergröbernde, aufdringliche, übersteigerte, „anreißerische“ oder jedenfalls plump-vordergründige – im Übrigen zu einer ästhetisch stilisierten – Art der Darstellung Indiz für den pornografischen Charakter sein ... Eine Darstellung kann nur als pornografisch gewertet werden, wenn sie die in Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstandes eindeutig überschreitet ...

Schließt man sich dem an, so gehen die neuen Erweiterungen der Kinderpornographievorschriften weitgehend ins Leere. Die Darstellung nackter Körper, das halbnackte Posieren lässt sich schon an jedem Zeitungskiosk beim Betrachten der Titelbilder diverser Zeitschriften unschwer finden. Es überschrei133 Siehe Schumann, ZIS 2015, 241: „Der Rechtsausschuss des Bundestags, auf dem diese Einfügung beruht, begründet sie ... nicht ... damit, dass auch Kinderpornographie die Elemente einfacher Pornographie aufweisen müsse ...“. 134 BGHSt 59, 177 (179). 135 Eisele in Schönke / Schröder, StGB, § 184 Rn. 8.

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tet nicht die „in Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstandes“. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs trat der Übernahme dieser bisher allgemeinen Pornographiedefinition für § 184b StGB schon 2014, also noch zur alten Rechtslage, entgegen136. Die gleichzeitige Verwendung des Begriffs in anderen Strafnormen, namentlich in den §§ 184, 184a StGB, gebietet nicht von vornherein eine gleichlautende Auslegung auch für § 184b StGB137: „Pornographie“ ist die Vermittlung sexueller Inhalte, die ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes beim Betrachter abzielt und dabei die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstandes überschreitet (so bereits Prot. des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform WP 6, S. 1932; vgl. Laufhütte / Roggenbuck in LK-StGB, 12. Aufl., § 184 Rn. 5). ... pornographisch ist demgemäß die Darstellung entpersönlichter sexueller Verhaltensweisen, die die geschlechtliche Betätigung von personalen und sozialen Sinnbezügen trennt und den Menschen zum bloßen – auswechselbaren – Objekt geschlechtlicher Begierde oder Betätigung macht (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 21. Juni 1990 – 1 StR 477/89, BGHSt 37, 55). Eine derartig degradierende Wirkung wohnt der Darstellung sexueller Handlungen von, an und vor Kindern jedoch in aller Regel inne. Von Fallgestaltungen abgesehen, in denen es der Darstellung am pornographischen Charakter schon deshalb fehlt, weil sie nicht überwiegend auf die Erregung sexueller Reize abzielt (so auch bereits Hörnle in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 184b Rn. 14) – z.B. bei der Abbildung der Genitalien hierzu „posierender“ Kinder in medizinischen Lehrbüchern –, sind realitiätsbezogene Darstellungen sexueller Handlungen von, an oder vor Kindern daher regelmäßig auch „pornographisch“ i.S.v. § 184b Abs. 1 StGB. Eines darüber hinausgehenden „vergröbernd-reißerischen“ Charakters der Darstellung bedarf es demgegenüber nicht.

Damit bleibt allerdings offen, ob der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs nunmehr nach der Erweiterung der Kinderpornographievorschriften ebenfalls die Wiedergabe eines Kindes „in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ (bzw. die „aufreizende“ Wiedergabe „der unbekleideten Genitalien oder 136 BGHSt 59, 177 (179 f.) mit Bespr.-Aufsatz Schumann, ZIS 2015, 234 sowie Anm. Eisele, StV 2014, 739. 137 Der 1. Strafsenat des BGH hat allerdings übersehen, dass sich der 2. Strafsenat schon 1978 mit der Frage der Relativierung des Pornographiebegriffs beschäftigt hatte – mit entgegengesetztem Ergebnis (BGH, Urteil vom 21.04.1978 – 2 StR 739/77 [JurionRS 1978, 12314 – zusammengefasst bei Holtz, MDR 1978, 804]): „Eine ... Verselbständigung des Begriffs des Pornographischen in Absatz 3 des § 184 StGB ist ... nicht gerechtfertigt. Hätte der Gesetzgeber dem Begriff in den einzelnen Absätzen der Vorschrift einen jeweils verschiedenen Sinn geben wollen, so hätte er sein ungewöhnliches Vorgehen im Gesetzeswortlaut zum Ausdruck bringen müssen“.

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des unbekleideten Gesäßes“ eines Kindes) ohne „darüber hinausgehenden ‘vergröbernd-reißerischenʼ Charakter der Darstellung“ als „regelmäßig auch ʻpornographischʼ“ einstufen wird. Darauf mag es aber hier letztlich nicht ankommen, weil der Bundesgerichtshof ohnehin diese Restriktion des Pornographiebegriffs bei Kinderpornographie auf „realitätsbezogene Darstellungen“ einschränkt. Aus einer anderen Entscheidung des gleichen (1.) Senats kann man entnehmen, dass es hierbei um einen Oberbegriff für die Wiedergabe von „tatsächlichem oder wirklichkeitsnahem Geschehen“ im Sinne von § 184 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 und Abs. 3, § 184c Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 StGB geht138. Dort sind jedoch „erkennbar künstliche Produkte wie Zeichnungen, Zeichentrickfilme und Comics“ ausgeschlossen139. Das bedeutet für Balthus: Verneint man bei seinen Gemälden mit nicht vollständig bekleideten Mädchen „in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ (wie seinen „Thérèse-Bildern“) einen „ʻvergröbernd-reißerischenʼ Charakter der Darstellung“, ist die Verwirklichung von § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. b oder § 184c Abs. 1 Nr. 1 lit. b StGB ausgeschlossen.

cc) „Sexuelle Handlungen“ Die eigentliche Kinderpornographie, wie sie vor der Erweiterung des Tatbestandes durch das 49. Strafrechtsänderungsgesetz von 2015 verstanden worden ist, regelt § 184b StGB (und entsprechend für Jugendliche § 184c StGB) in Abs. 1 Nr. 1 lit. a: „Sexuelle Handlungen von, an oder vor“ einem Kind, also „einer Person unter vierzehn Jahren“ (bzw. „einer vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alten Person“). Lassen wir die – heute in Anbetracht des neuen Buchstaben b der Vorschriften nicht mehr sehr fruchtbare – Diskussion außer Acht, inwieweit hierunter auch schon sämtliche bloßen „Posing“-Abbildungen fallen können140, so bleiben die 138 BGHSt 58, 197 (201 f.). 139 Ziegler in BeckOK StGB, § 184b Rn. 8; ähnlich BGHSt, a.a.O., S. 202; Fischer, StGB, § 184b Rn 20. 140 Siehe dazu Ziegler, a.a.O., Rn. 4 f.; vgl. auch Gercke, ZUM 2014, 643 f. Während des Gesetzgebungsverfahrens: „Wer nun aber vermutet, dass der Referentenentwurf [der § 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. c StGB noch nicht enthielt] damit zu einer Lex-Edathy geworden ist, irrt. Was hier in Gesetzesform gefasst werden soll, entspricht dem, was die höchstrichterliche Rechtsprechung bereits jetzt dem Bereich der Kinderpornografie zuordnet ..., was die Vermutung nahelegt, dass hier der breiten und intensiv geführten öffentlichen Diskussion im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen den Bundestagsabgeordneten Edathy insofern Rechnung getragen werden soll, als die ohnehin anstehende Umsetzung der EU-Vorgaben zu einer gesetzlichen Reform genutzt wird. Ein juristischer Mehrwert geht damit nicht einher ...“.

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Bilder in Balthus’ Œuvre, die hier näher in Betracht zu ziehen sind, überschaubar, vor allem, da er selten Personen malte, die körperlich miteinander agieren. Hauptbeispiel141 hierfür wäre nun aber endlich die „Gitarrenstunde“. Wie steht es denn nun um ihre strafrechtliche Relevanz? Dass auf der „Gitarrenstunde“ entsprechend § 184b (bzw. § 184c) Abs. 1 Nr. 1 lit. a StGB „sexuelle Handlungen“ zu sehen sind, die „an“ (Griff der Lehrerin zwischen die Beine der Schülerin) sowie „von“ einem Kind (Griff der Schülerin an die Brust der Lehrerin) vorgenommen werden, lässt sich kaum bezweifeln142. Zumindest der Griff der Lehrerin ist auch, was § 184h StGB143 für die strafrechtliche Relevanz voraussetzt, „von einiger Erheblichkeit“144 – also liegt tatbestandliche Kinderpornographie vor. Und selbst wenn man einen „ʻvergröbernd-reißerischenʼ Charakter der Darstellung“ fordert, ist auch das weitere Erfordernis einer „pornographischen“ Schrift gegeben.

3. Kunstfreiheit und Jugendschutz Nun ist heute nicht mehr zu bezweifeln, dass Balthus’ „Gitarrenstunde“ (wie auch alle anderen seiner Gemälde und Zeichnungen) als Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG anzusehen ist – das sagt schon der sogenannte formale Kunstbegriff, den das Bundesverfassungsgericht 1984 in seinem Beschluss zum „Anachronistischen Zug“145 angeführt hatte146. Danach ist Voraussetzung eines Kunstwerkes, 141 Daneben zu nennen wäre insbesondere die Ursprungsfassung von „La rue“, in der der junge Mann dem Mädchen noch von hinten an den Schritt fasst. 142 Vgl. Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 184h Rn. 10: „Bei einer Berührung an Stellen, die zu den Geschlechtsorganen im engeren Sinn oder den sonstigen geschlechtlichen ʻTabuzonenʼ (Gesäß und weibliche Brust) gehören, oder Stellen in ihrer unmittelbaren Nähe, liegt eine sexuelle Handlung an einem anderen vor ...“. 143 Dass die heute dort geregelten „Begriffsbestimmungen“ im StGB infolge permanenter Ausweitungen der Pornographietatbestände innerhalb von gut zehn Jahren auf den vierten Standort im Gesetz nach „hinten“ verschoben worden sind (bis 2004: § 184c StGB; bis 2008: § 184f StGB; bis 2015: § 184g StGB), sagt viel über den kaum akzeptabel unbeständigen Zustand des in ständiger Ausweitung begriffenen Sexualstrafrechts aus. 144 Vgl. Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 184h Rn. 27 mit weiteren Nachweisen: „Auch nur kurz andauernde Berührungen des bekleideten oder unbekleideten Geschlechtsteils sieht die Rspr. bei Kindern und Jugendlichen meist als erheblich an“. 145 Der „Anachronistische Zug“ bezeichnet ein 1980 in München aufgeführtes politisches Straßentheater, das auf dem 1947 entstandenen gleichnamigen Gedicht von Bertolt Brecht basierte und in dessen Rahmen der damalige Bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß beleidigt worden sein sollte. 146 BVerfGE 67, 213 (226 f.) – Anachronistischer Zug.

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„daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind“ – ein Kunstbegriff, der „an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft“. Die früher überwiegende Meinung im strafrechtlichen Schrifttum postulierte, dass sich Kunst und Pornographie ausschlössen147. Darstellungen, die ausschließlich oder überwiegend auf die Auslösung „lüsternen Interesses“ gerichtet seien, ließen die für den Begriff der Kunst zu fordernde Auseinandersetzung mit der Welt vermissen und seien, selbst wenn sie technisch perfekt hergestellt seien, grundsätzlich nicht Kunst148. Diese Auffassung glaubte sich in Übereinstimmung mit dem 1971 vom Bundesverfassungsgericht in der „Mephisto“-Entscheidung149 entwickelten materialen Kunstbegriff150: Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.

1990 zog der Bundesgerichtshof aus der Erweiterung des materialen Kunstbegriffs durch die Entscheidung zum „Anachronistischen Zug“ in seiner „Opus Pistorum“-Entscheidung151 die logische Konsequenz, dass auch Pornographie Kunst sein kann152: Handelt es sich ... schon um Kunst, wenn sich jemand einer Mediensprache bedient, die den herkömmlichen Gestaltungsformen der Kunst entspricht, dann ist für eine begriffliche Exklusivität von Kunst und Pornographie von vornherein kein Raum, da es allein auf die formgebundene Äußerung, nicht aber auf die Übermittlung irgendwelcher gedanklicher Inhalte ankommt.

147 Siehe näher BGHSt 37, 55 (57) – Opus Pistorum mit zahlreichen Nachweisen. 148 Näher Laufhütte / Roggenbuck in Leipziger Kommentar, StGB, § 184 Rn. 9. 149 In der Entscheidung ging es um den Roman „Mephisto“ des Schriftstellers Klaus Mann ( 1906; † 1949), in dem der verstorbene Schauspieler Gustav Gründgens herabgewürdigt worden sein sollte. 150 BVerfGE 30, 173 (188 f.) – Mephisto. 151 Das Werk „Opus Pistorum“ des US-amerikanischen Schriftstellers Henry Miller (* 1891; † 1980) entstand im Jahre 1942 aus erotischen Geschichten, die gesammelt erst nach dem Tode des Autors 1983 auf dem amerikanischen Buchmarkt und 1984 ins Deutsche übersetzt erschienen. 152 BGHSt 37, 55 (58) – Opus Pistorum.

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Noch im gleichen Jahr schloss sich das Bundesverfassungsgericht dieser Schlussfolgerung in seiner „Mutzenbacher“-Entscheidung153 ausdrücklich an154: Daß der Roman möglicherweise zugleich als Pornographie anzusehen ist, nimmt ihm nicht die Kunsteigenschaft. ... Kunst und Pornographie schließen sich – wie der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zu Henry Millers Opus Pistorum zutreffend erkannt hat ... – nicht aus. Die Kunsteigenschaft beurteilt sich vielmehr nach den in BVerfGE 67, 213 (226 f.) [Anachronistischer Zug] aufgeführten Kriterien.

Nichts anderes kann gelten, zieht man die vom Bundesverfassungsgericht daneben verwendeten Kunstbegriffe, den materialen und den offenen, heran. Wenn, wie erwähnt, Balthus „die Gitarrenstunde“ in einem Brief an Antoinette de Watteville damit erklärte155, er wolle „in aller Öffentlichkeit, mit Wahrhaftigkeit und Gefühl die gesamte packende Tragik der Dramen des Fleisches verkünden“, er wolle „die unerschütterlichen Gesetze des Instinkts laut herausrufen. Und so der Kunst ihren leidenschaftlichen Gehalt wiedergeben,“

so illustriert das treffend, was das Bundesverfassungsgericht im „Mephisto“Beschluss bei Umschreibung des materialen Kunstbegriffs unter künstlerischem Schaffen verstanden wissen will: „Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.“ Schließlich ist die Ausfüllung des dritten vom Bundesverfassungsgericht betonten Kunstbegriffs, des sogenannten offenen Kunstbegriffs – wenn man das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung darin sieht, daß es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so daß sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt156 –

153 Der Roman „Josefine Mutzenbacher – Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt“, dem österreichisch-ungarischen Schriftsteller Felix Salten (* 1869; † 1945) zugeschrieben – beinhaltet die vermutlich fiktiven erotischen Lebenserinnerungen einer Wiener Prostituierten, die von 1852 bis 1904 gelebt haben soll. Der Roman erschien erstmals 1906 in kleiner Auflage in Wien. In Deutschland seit 1965 erschienene Ausgaben waren von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften als schwer jugendgefährdend indiziert worden. 154 BVerfGE 83, 130 (138 f.) – Mutzenbacher. 155 Balthus, Brief an Antoinette de Watteville vom 01.12.1933, zit. nach Gropp: Balthus in Paris, S. 100 f. 156 BVerfGE 67, 213 (227) – Anachronistischer Zug.

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schon mit einem Hinweis auf die erwähnten zahlreichenden Deutungsversuche des Bildinhaltes der „Gitarrenstunde“ durch die Kunstwissenschaft belegt.

a) Kriterien der Abwägung Die Lehre, dass die Kunstfreiheit, die das Grundgesetz in Art. 5 Abs. 3 GG vorbehaltslos gewährt157, höchstens „konkurrierenden Rechtsgütern von Verfassungsrang“ zu weichen hat, hatte das Bundesverfassungsgericht schon 1971 im „Mephisto“-Beschluss entwickelt158: Die Kunst ist in ihrer Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos gewährleistet. Versuche, die Kunstfreiheitsgarantie durch wertende Einengung des Kunstbegriffes, durch erweiternde Auslegung oder Analogie aufgrund der Schrankenregelung anderer Verfassungsbestimmungen einzuschränken, müssen angesichts der klaren Vorschrift des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erfolglos bleiben. ... Andererseits ist das Freiheitsrecht nicht schrankenlos gewährt. ... Jedoch kommt der Vorbehaltlosigkeit des Grundrechts die Bedeutung zu, daß die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind. Da die Kunstfreiheit keinen Vorbehalt für den einfachen Gesetzgeber enthält, darf sie weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Klausel relativiert werden ... Vielmehr ist ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen.

Mit anderen Worten: Die Kunstfreiheit muss nur dann zurücktreten, wenn ein Gemälde einen Tatbestand des Pornographiestrafrechts verwirklicht und außerdem das hinter diesem Pornographieverbot stehende Verfassungsgut in einem Abwägungsprozess gegenüber der Kunstfreiheit obsiegt. Die Rechtsprechung lässt allerdings offen, unter welchen allgemeinen Voraussetzungen dies beim Umgang mit einem konkreten pornographischen Kunstwerk, das einen der Tatbestände der §§ 184 ff. StGB erfüllt, der Fall ist. „Die neuen Thesen klären also in der Sache gar nichts.“159 Der auf den ersten Blick naheliegendste Gedanke, dass die Kunstfreiheit in der Abwägung immer dann zurücktreten müsse, wenn es um die sogenannte „harte“ Pornographie geht – neben der Kinderpornographie (einschließlich § 184c StGB) zählt dazu die Gewalt- und Tierpornographie gemäß § 184a StGB – lässt sich schnell verwerfen. Das bedeutete ein Verbot von 157 Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. 158 BVerfGE 30, 173 (191 ff.) – Mephisto. 159 Wolters / Greco in Systematischer Kommentar, StGB, § 184 Rn. 17.

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Werken der Weltliteratur und -kunst wie etwa Romanen (nebst ihren alten Illustrationen) von Marquis de Sade oder Gemälden mit „Leda und dem Schwan“ von Malern wie Peter Paul Rubens160. Dem ist der Bundesgerichtshof im „Opus Pistorum“-Urteil auch ausdrücklich entgegengetreten161: „Die ... Vereinbarkeit von Kunst und Pornographie hat grundsätzlich auch für die ... sog. harte Pornographie zu gelten.“

aa) Kinderpornographiezentrierte Abwägung Im Bereich der Kinderpornographie geht die herrschende Meinung in der Literatur dennoch davon aus, dass die Kunstfreiheit „in der Regel“ zurückzutreten habe162. „Ausnahmen“ werden ausdrücklich nur bei „fiktionaler“, „fiktiver“ Kinderpornographie für „vorstellbar“, für „denkbar“ gehalten163 – bei „Zeichentrickfilmen, pornografischen Zeichnungen, Romanen, Gedichten, textlichen Berichten usw. ..., was sich damit begründen lässt, dass deren Entstehung regelmäßig nicht mit einer sexuellen Handlung von Kindern verbunden ist“164.

Was ist denn nun aber mit der „Gitarrenstunde“? Sie ist zwar ein Gemälde, aber kein „fiktionales“ Werk. Die Tochter der Pariser Concierge hat Balthus Modell gestanden – besser gesagt: gelegen. Das Mädchen ist „teilweise unbekleidet“ auch (durchaus „vergröbernd-reißerisch“, also „pornographisch“) in dieser „unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ (§ 184b Abs. 1 Nr. 1 lit. b StGB!) gezeichnet worden – allerdings, wie Skizzen vermuten lassen, allein, ohne Körperkontakt. Das Mädchen ist offenbar von keiner „Gitarrenlehrerin“ sexuell berührt worden; deren Abbild entstammt, wie erwähnt, vermutlich Eugen Spiros Gemälde seiner Mutter bzw. Balthus’ Phantasie. Insoweit ging es offenbar um „fiktionale“ Pornographie, also eine „denkbare Ausnahme“. Dennoch ist die Entstehung der „Gitarrenstunde“ auch „mit einer sexuellen Handlung von Kindern verbunden“ gewesen, sofern man (auch nach der Erweiterung des Tatbestandes um den eigentlich nach dem Wortlaut einschlägigeren Buchstaben b von §184b Abs. 1 Nr. 1 StGB) das sogenannte „Posing“

160 Peter Paul Rubens, Leda en de zwaan (nach Michelangelo) (1598/1600), Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister sowie New York, Stephen Mazoh Collection. 161 BGHSt 37, 55 (65) – Opus Pistorum. 162 Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 184b Rn. 51. 163 Hörnle, a.a.O.; Eisele in Schönke / Schröder, StGB, § 184 Rn.12; Laubenthal: Handbuch Sexualstraftaten, Rn. 932. 164 Eisele, a.a.O., § 184b Rn. 29; ähnlich Heger in Lackner / Kühl, StGB, § 184b Rn. 6.

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darunterfallen lässt: Eisele hatte das zur alten Rechtslage im „Schönke / Schröder“ so zusammengefasst165: Erfasst werden als sexuelle Handlung „von“ einem Kind ... auch Fälle, in denen es „sexuell aufreizend posiert“ ... Hierfür ist aber zumindest eine aktive Handlung des Kindes erforderlich, so dass auch bei Nacktaufnahmen bestimmte unnatürliche, sexualisierte Positionen eingenommen werden müssen ... Die bloße Ablichtung eines unbekleideten Kindes in natürlicher Position ist ebenso wenig tatbestandsmäßig ... wie Nahaufnahmen einzelner Körperteile, insb. von Geschlechtsorganen, soweit nicht im Einzelfall tatsächlich eine Handlungskomponente auf der Bildaufnahme erkennbar ist ... Ein Posieren liegt ... vor, wenn obszöne Stellungen – Spreizen der Beine – eingenommen werden ... oder der Oberkörper entblößt wird ... Dies kann auch bei statischen Fotoaufnahmen der Fall sein, so dass es keines „bewegten“ Filmes bedarf ...

bb) Kunstzentrierte Abwägung Heißt das, dass bei Strafandrohung die „Gitarrenstunde“ nicht mehr „verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich“ gemacht werden dürfte (§ 184b Abs. 1 Nr. 1 StGB)? Dass sie weiterhin besser überhaupt nicht (oder wieder wie 1934 nur hinter einem Vorhang) gezeigt, ohnehin nicht publiziert werden sollte? Der Schluss kommt voreilig. Die hier bislang nachvollzogene strafrechtliche Abwägungsdogmatik ist ausschließlich an den eigentlichen Pornographieerzeugnissen orientiert. Man beachte die soeben ausführlich wiedergegebene Kommentierung Eiseles zum Posing, in der offenbar mit automatischer Selbstverständlichkeit ausschließlich von „Nacktaufnahmen“, „Ablichtungen“, „Nahaufnahmen“, „Bildaufnahmen“, „Fotoaufnahmen“ und „Filmen“ gesprochen wird. Malen nach Modell kommt in ihr nicht vor. Es erscheint also erforderlich, davon abzusehen, Gemälde unter die offensichtlich auf „richtige“ pornographische Schriften („Ablichtungen“ / „Fotoaufnahmen“ / „Filme“) abzielenden Kriterien allgemein zu subsumieren, und stattdessen konkret die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung mit Blick auf Malerei von Grund auf vorzunehmen. Das heißt, dass bei den von § 184b und § 184c StGB verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern anzusetzen ist – und diese sind dann in Abwägung mit der Kunstfreiheit im konkreten Fall zu bringen.

165 Eisele, a.a.O., 29. Aufl. 2014, Rn. 3a.

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(A) Schutz der psychosexuellen Entwicklung vor Konfrontation mit pornographischen Schriften Während § 184 StGB, der allgemeinen Pornographievorschrift, nach herrschender Meinung vor allem der Jugendschutz dergestalt zugrunde liegt, dass eine Gefährdung der psychosexuellen Entwicklung bei einer einmaligen Konfrontation mit und gar bei wiederholtem Konsum von pornographischen Schriften durch weitgehende Restriktionen bei der Verbreitung aller pornographischen Schriften gegenüber Jugendlichen zumindest eingeschränkt werden soll166, wird bei den weitergehenden Verboten von § 184b und § 184c StGB anders argumentiert (denn eine nochmals gesteigerte Gefährdung Minderjähriger durch die Betrachtung Gleichaltriger ist kaum zu begründen): Hier soll es primär um den Schutz von Jugendlichen nicht als Konsumenten, sondern als „Darsteller“ kinderpornographischer Schriften gehen. Der Blick des „Darsteller“-Schutzes geht dabei in zweierlei Richtungen: Es soll zum einen die Verbreitung schon hergestellter kinderpornographischer Schriften, zum anderen die Herstellung neuer pornographischer Schriften zum Schutz potentieller zukünftiger „Darsteller“ „bekämpft“ werden. (B) Schutz von Persönlichkeitsrechten Der erste Aspekt dieses „Darsteller“-Schutzes, die Wahrung der Persönlichkeitsrechte des Kindes durch die Pönalisierung der (weiteren) Verbreitung schon existierender kinderpornographischer Schriften, würde natürlich keinen (erneuten) sexuellen Missbrauch betreffen, aber die Persönlichkeitsrechte des Kindes im Blick haben. Die können vor allem durch Fotos oder Filme tangiert werden. Es ist fraglich, inwieweit dieser Aspekt des „Darsteller“-Schutzes wirklich des § 184b StGB bedarf. Denn im Zusammenhang mit der Neufassung von § 184b und § 184c StGB wurde auch ein neuer, wohl speziellerer Absatz 3 in § 201a StGB eingefügt, der (freilich nur mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe) denjenigen bestraft, der eine Bildaufnahme, die die Nacktheit einer anderen Person unter achtzehn Jahren zum Gegenstand hat, ... herstellt oder anbietet, um sie einer dritten Person gegen Entgelt zu verschaffen, oder ... sich oder einer dritten Person gegen Entgelt verschafft.

166 Siehe näher Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 184 Rn. 2 f.

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Erklärter Zweck ist die Verhinderung der „Umgehung einer Strafbarkeit nach den §§ 184b, 184c StGB“167, soll also nur als Auffangtatbestand dienen. Zudem bezieht sich § 201a StGB nur auf Bildaufnahmen, nicht auch auf Gemälde und Zeichnungen, ist also nicht einschlägig. Allerdings passt der Aspekt des Verbreitungsverbots für Kinderpornographie als Schutz der Persönlichkeitsrechte der „Darsteller“ wenig auf die Bildende Kunst. (Er entfällt sogar völlig bei fiktionalen „Schriften“, also bei Gemälden und Zeichnungen, die ihre Vorbilder in der Phantasie des Künstlers haben oder zumindest reale Vorbilder völlig verfremden.) Das OLG Dresden führte anlässlich eines Gemäldes, das die damalige Dresdener Bürgermeisterin halbnackt zeigte, die infolge des gemalten Kopfes und durch den Bildtitel eindeutig identifizierbar war, aus168: [Die Herstellung eines Gemäldes stellt] auch bei naturalistischer Darstellung stets nur eine Interpretation der abgebildeten Person durch den Künstler dar ... Dies prägt auch die Erwartungshaltung des Betrachters ... Auch angesichts der flüchtigen und an Kulissenmalerei erinnernden Ausführung des Gemäldes wird er nicht annehmen können, dass der Körper ... in Wirklichkeit so aussieht, wie er auf dem ... Gemälde abgebildet ist.169

Auch die Gemälde und Zeichnungen Kirchners von „Fränzi“ waren aufgrund ihrer Maltechnik kaum geeignet, deren Persönlichkeitssphäre durch die Nacktheit zu beeinträchtigen, zumal die Titel bzw. Titelzusätze „Fränzi“ der Bilder nicht von Kirchner stammten, sondern später von anderen zugeordnet wurden170.

167 Begründung Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht vom 02.09.2014, BT-DrS 18/2601, S. 36. 168 OLG Dresden, ZUM 2010, 597. 169 Anderes könnte dann gelten, wenn ein Künstler wie der Pop-Artist Mel Ramos Prominente in einer wie ein Foto erscheinenden Malweise portraitiert. So musste der Hamburger Galerist Thomas Levy 1996 mehrere Farbserigraphien Ramos’ des „Topmodels“ Claudia Schiffer auf eine Einstweilige Verfügung des Landgerichts Hamburg (LG Hamburg, Beschluss vom 13.05.1996 – 324 O 225/96 [unveröffentlicht]) hin noch vor der Vernissage wieder abhängen. Auf einem Bild beispielsweise war Schiffer, die Nacktfotos von sich stets strikt ablehnte, scheinbar naturgetreu nackt gezeichnet u.a. auf einem Hot Dog liegend abgebildet. (Näher o.V., RheinZeitung.de vom 15.05.1996). 170 Fränzis Identität konnte erst 1995 über Eintragungen in Kirchners Skizzenbuch aufgedeckt werden – erst seitdem ist sie auch trotz der wenig naturalistischen Malweise Kirchners auf vielen Gemälden erkennbar.

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Bei Balthus „Gitarrenschülerin“ ist das Ergebnis insoweit eindeutig: Sie ist – bis heute, sie wäre hochbetagt – namentlich nicht bekannt, wir wissen von ihr nur wenig aus einem Brief Balthus’. Und ohnehin würde aufgrund der Maltechnik niemand annehmen, dass ihr Körper in Wirklichkeit so ausgesehen hatte, wie er auf dem Gemälde abgebildet ist. (C) Bekämpfung des Marktes zum Schutz zukünftiger „Darsteller“ Der zweite Aspekt, die „Bekämpfung“ der Verbreitung pornographischer Schriften zum Schutz potentieller zukünftiger „Darsteller“, folgt der Logik der Pönalisierung der Hehlerei: Man stiehlt nicht mehr, wenn man die Beute nicht versilbern kann; niemand stellt weitere kinderpornographische Fotos oder Filme her, wenn deren Verbreitung nicht möglich ist. Der „Markt für Kinderpornographie“171 soll deshalb ausgetrocknet werden: Stellen alle Abnehmer am Markt ihre Nachfrage nach dem Produkt ein, wird dieses nicht mehr (so) hergestellt172. Auch dieser Vorstellungen ökonomisch-rationalen Handelns entlehnte Aspekt passt wenig auf die Bildende Kunst. Ob man einen Maler dadurch, dass man den Wirkbereich seiner Kunst torpediert, hindern kann, weiter das zu malen, was er möchte, ist ungewiss. Im Allgemeinen wird sich der Künstler anders als der Pornoproduzent wenig bei seinem Tun am Markt orientieren. Er gleicht eher einem Dieb, der stiehlt, um genau diese Beute für sich zu behalten. Es gibt hierfür anekdotische Beispiele173. 171 Begründung Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Strafrechtsänderungsgesetzes – Kinderpornographie vom 03.07.1992, BT-DrS 12/3001, S. 6. 172 Näher dazu Scheffler, Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, S. 637 ff. 173 Adolph Menzel war nur nach außen der erfolgreiche Maler von Preußens Glanz und Gloria. Heute höher geschätzt sind seine „privaten Bilder“; das großartige Balkonzimmer (1845, Berlin, Alte Nationalgalerie) etwa, wurde das erste Mal nach seinem Tod 1905 öffentlich gezeigt. Weder um Geld noch um Anerkennung ging es ihm. Paul Cézanne, dessen Gesamtwerk fast 1.000 Bilder umfasst, stieß fast sein ganzes Malerleben lang nur auf Kritik, Unverständnis und Ablehnung. Selbst Édouard Manet soll ihn verspottet haben als „un maçon armé dʼune truelle“ (ins Deutsche meistens übersetzt mit: „ein Maurer, der mit der Kelle malt“). Bis in die 1890er Jahre verkaufte er kaum Bilder, viele Jahre lebte er in Armut (Erst 1897, Cézanne war fast 60 Jahre alt, wurde zum ersten Mal eines seiner Gemälde [Le moulin sur la Couleuvre à Pontoise von 1881] von einem Museum, der Berliner Nationalgalerie, angekauft.). Emil Nolde schuf in seinem Haus in Seebüll in Nordfriesland zwischen 1941 und 1945 trotz einer Art Berufsverbot heimlich mehr als 1.300 kleinformatige Aquarelle („ungemalte Bilder“), die er nicht ausstellen, geschweige denn verkaufen konnte. (Dass Noldes Stellung zum Nationalsozialismus zu hinterfragen ist, ändert an diesem Befund nichts).

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Entsprechend äußerte sich auch Balthus, der, so heißt es, überhaupt nicht wollte, dass seine „Gitarrenstunde“ in der Öffentlichkeit gezeigt oder reproduziert wurde174, in seinen „Erinnerungen“175: Malen hat nichts mit Geschäftssinn oder Mode zu tun, sondern mit einem persönlichen, anspruchsvollen und grausamen Abenteuer, das in unauslöschlicher Schönheit endet.

Schon vor der Ausstellung 1934 in der Galerie Pierre, in der er die „Gitarrenstunde“ zeigte, schrieb er an Antoinette de Watteville, dass „die Gefahr, was auch immer zu verkaufen, nicht besteht“176. Man könnte es auch so betrachten: Ein Maler malt um des Malens willen. Hierfür gibt es ebenfalls anekdotische Beispiele177. Balthus malte seine letzten Lebensjahre fast blind weiter – wegen des „Glücks der Malerei“178: Heute, da mich das fehlende Sehvermögen am Zeichnen hindert, bleibt mir noch das Glück der Malerei. Ich sehe die Farben, das ist etwas Geheimnisvolles. ... Ich weiß, wenn es nicht die richtige Farbe ist, die sie [Balthus’ zweite Frau Setsuko] mir gibt, es vollzieht sich eine Art Verklärung, ein alchimistisches Wunder. ... meine Augen sehen nicht mehr, und dennoch sehe ich die Komposition der Farben auf der Leinwand.

(D) Verhinderung von Nachahmungstaten Nun hat der Gesetzgeber neben dem „Darsteller“-Schutz immer auch den Schutz von Kindern vor Nachahmungstaten durch Anregungen mittels (Kinder-)Pornographie zum Kindesmissbrauch im Auge gehabt179:

174 Siehe Rewald, Balthus: Cats and Girls, S. 39. 175 Balthus, Erinnerungen, S. 215. 176 Balthus, Brief an Antoinette de Watteville vom 29.03.1934, zit. nach Gropp: Balthus in Paris, S. 46 Fn. 5. 177 Zwei Extrembeispiele wären die im Alter schwerkranken Maler Claude Monet und Alexej von Jawlensky: Der russisch-deutsche Expressionist Jawlensky litt seine letzten Lebensjahre unter schwerster rheumatoider Arthritis. Dennoch ließ er bis zu seiner endgültigen Bettlägerigkeit 1937/38 nicht davon ab, selbst mit an der Hand festgebundenem Pinsel seine strukturell (erzwungenermaßen) immer einfacher werdenden „Meditationen“ zu malen. Der Impressionist Monet, durch eine 1912 ausbrechende Augenkrankheit auf bis zu 20 % Sehleistung reduziert, malte weiter seine zwangsläufig immer abstrakter werdenden Bilder von seinem Garten in Giverny. 178 Balthus, Erinnerungen, S. 77. 179 Begründung Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Strafrechtsänderungsgesetzes – Kinderpornographie vom 03.07.1992, BT-DrS 12/3001, S. 6.

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Es soll der – zumindest nach dem bisherigen Erkenntnisstand nicht auszuschließenden – negativen Auswirkung auf Betrachter entgegengewirkt werden, die darin bestehen kann, daß der Betrachter kinderpornographischer Darstellungen zum Kindesmißbrauch angeregt wird.

Diese Befürchtungen sind, so heißt es, auch heute noch nach dem Stand der Wissenschaft ebenso wenig beweisbar wie die umgekehrte Annahme, die Benutzung von Kinderpornographie könne manchen Paedophilen eine Triebabfuhr verschaffen und damit die Gefährdung von Kindern herabsetzen180.

Allerdings ist die daraus resultierende Schlussfolgerung, schon diese (nur!) „möglichen Gefahren“ rechtfertigten „das Verbot der Kinderpornographie und auch (erweiternd) der Jugendpornographie“181, nicht unproblematisch. Der Hinweis darauf, dass sich der in der Strafrechtsreform der 1960er und 1970er Jahre befürwortete Grundsatz „in dubio pro libertate“, nach dem bei Zweifeln über die Strafwürdigkeit eines Verhaltens der Gesetzgeber die Straflosigkeit wählen müsse, nicht durchgesetzt hat, würde zu kurz greifen: Bei der Pornographie wird nicht nur entgegen diesem Grundsatz „vorsorglich“ zum Zwecke des Opferschutzes ein (vielleicht überflüssiges) strafrechtliches Verbot statuiert („in dubio pro securitate“), sondern es bleibt offen, ob dieses „vorsorgliche“ Verbot nicht gerade umgekehrt das Rechtsgut, das es schützen soll, gefährdet. Und diese Möglichkeit, salopp mit „Dampfkessel-Theorie“ umschreibbar, sollte man nicht zuletzt nach den zahlreichen Kindesmissbrauchsvorfällen um unter dem Druck von Zölibat und völliger sexueller Enthaltsamkeit stehende katholische Priester nicht vorschnell völlig von der Hand weisen. Nun ist aber auch unter diesem Gesichtspunkt wiederum mehr als zweifelhaft, inwieweit Gemälde und Zeichnungen strafwürdig sein können. Konkret: Steht wirklich, schon einmal grundsätzlich angenommen, dass Betrachter durch kinderpornographische Darstellungen „zum Kindesmissbrauch angeregt“ werden können, zu befürchten, dass hier anderes als einschlägige Fotos und Filme in Frage kommt182, an die, darauf wurde oben schon hingewiesen, auch immer in der Diskussion ausschließlich gedacht wird?

180 Laufhütte / Roggenbuck in Leipziger Kommentar, StGB, § 184 Rn. 2. 181 Laufhütte / Roggenbuck, a.a.O.; a.A. etwa Laubenthal: Handbuch Sexualstraftaten, Rn. 1062 mit weiteren Nachweisen „Nicht zureichend empirisch nachgewiesen ...“. 182 Anderes mag vielleicht gelten, wenn es sich nicht um Kunst mit (kinder-)pornographischem Sujet, sondern – gewissermaßen umgekehrt – um Pornographie in künstlerischer Darstellungsweise handelt. Zu denken wäre an japanische Hentai-Comics und Zeichentrickfilme, die oft sexuelle Darstellungen (fiktiver) minderjähriger Mädchen (Lolicon) oder Jungen (Shotacon) zum Gegenstand haben, oder Zeichnungen wie die des in Chile geborenen Zeichners Ferocius (Fred Harrison), dessen Comic „Alko-

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Wer wählt heute Caravaggios „Amor“ oder Bouchers „Ruhendes Mädchen“, um seine Sinne zu erregen? Animieren gar Gemälde wie Balthus’ „Gitarrenstunde“ wirklich zu sexuellen, gar lesbischen Übergriffen auf Kinder? Regen die Bilder Kirchners von Fränzi zum Kindesmissbrauch an? Wohl kaum.

b) Folgerungen aus der Abwägung Nach alledem wird bei gemalten oder gezeichneten Bildern mit kinderpornographischem Sujet in aller Regel in der Abwägung der Kunstfreiheit Vorrang vor den hinter den Pornographieverboten stehenden verfassungsrechtlichen Rechtsgütern einzuräumen sein – auch bei den Bildern Balthus’ einschließlich seiner „Gitarrenstunde“. Man wird allerdings das Gefühl nicht los, als gehe es bei Kinderpornographie eigentlich (auch) um etwas Anderes. Um das (nur) kurz zu illustrieren: Im Februar 2014, sofort nach dem Hochkochen der „Edathy-Affäre“, wurde von der Berliner Gemäldegalerie die Verhüllung von Caravaggios „Amor“ gefordert183: Die „ausdrücklich obszöne Szene“ diene „zweifellos der Erregung des Betrachters“. Und weiter: Es könnten Pädophile ihre perversen Neigungen darauf projizieren. Geht es letzten Endes vielleicht nicht (nur) um Kinder- und Jugendschutz, sondern vor allem darum, die Neigungen Pädophiler mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen? Offenbar sollen die „ihre perversen Neigungen“ auch nicht auf ein Stück über 500 Jahre alte Leinwand „projizieren“. Nicht Rechtsgüterschutz vor Pädophilen, sondern Rechtsgüterverletzung von Pädophilen184? Die Hatz auf den vermeintlich pädophilen Bundestagsabgeordneten Edathy erinnerte fatal an die Jagd auf Homosexuelle in der (bundesdeutschen) Adenauerrepublik der 1950er und 1960er Jahre – die unreflektierte Hatz einer

vengeheimnisse“ von 1994 (auch) wegen Kinderpornographie Gegenstand eines Urteils des Bundesgerichtshofs war (BGH, NStZ 2000, 307). 183 Näher Ruthe, Berliner-Zeitung.de vom 28.02.2014. 184 Es fällt auch schwer, anders das Verbreitungsverbot von sogenannter Scheinkinder(bzw. Scheinjugend-)Pornographie, also von Abbildungen, die Erwachsene zeigen, die nur aufgrund physiologischer Besonderheiten und/oder äußerlicher Aufmachung kindlich oder jugendlich aussehen und bei denen ein entsprechendes Spielalter vorgegeben wird (siehe BGHSt 47, 55 [62]), zu erklären: Volljährige bedürfen keines besonderen „Darsteller“-Schutzes, und für den auszutrocknenden Markt der „richtigen“ Kinderpornographie wären solche Darstellungen missliche Konkurrenz; es bleibt eigentlich nur die Spekulation, das Betrachten selbst scheinkinderpornographischer Darstellungen könnte weniger zur (kinderschützenden) Triebabfuhr dienen als zum Kindesmissbrauch anregen.

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Gesellschaft, die heute durchaus stolz darauf ist, bekennende Homosexuelle als Minister oder Bürgermeister zu akzeptieren, die vor (Selbst-)Zufriedenheit strotzt, wenn Transvestiten mit Vollbart und Frauenkleidern internationale Gesangspreise zuerkannt werden. Nun kann das hier nicht weiter vertieft werden. Es soll auch nicht hinterfragt werden, ob es zu legitimieren ist, Bilder zu tabuisieren, sofern sie nicht mit einer Rechtsgüterverletzung oder wenigstens -gefährdung verbunden sind. Das Problem wird im Zusammenhang mit der Tierpornographie näher diskutiert. Hörnle meint, eine „schlüssige, aber auch problematische Begründung“ könne „nur darauf verweisen, dass solche Darstellungen besonders widerwärtig und deshalb besonders anstößig sind“185. Allerdings: … mit dem Schauder sittlicher Empörung, der dem durchschnittlichen NichtPädophilen beim Thema Kinderpornografie über den Rücken läuft, lässt sich die Strafbarkeit nicht begründen – … das Strafrecht dient dem Rechtsgüterschutz, nicht aber dem Schutz der Sitten oder des sittlichen Empfindens.186

aa) Alte Meister als Pornographen? Es soll hier stattdessen abschließend noch etwas Anderes angesprochen werden: Inzwischen hat der vom Pornographiebegriff abgespaltene Kinderpornographiebegriff einen Regelungsgehalt, der auf die Kunst nicht mehr „passt“. Der Begriff ist bis auf die „sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes“ und die Wiedergabe in „unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ von kindlich bzw. jugendlich aussehenden Personen ausgedehnt. Das Bestreben, flächendeckend Abbildungen von Kindern und weitgehend auch von Jugendlichen, die irgendwie als sexuell anzüglich interpretiert werden können, zu verbieten, hat zu Gesetzestexten geführt, die geeignet sind, nicht nur die (Mädchen-)Aktfotografie ins Zwielicht zu stellen, sondern auch die Malerei insbesondere Alter Meister. Man nähert sich mit jeder Gesetzesausweitung weiter dem Zustand, in dem nicht mehr die Frage zu entscheiden ist, ob Pornographie ausnahmsweise Kunst sein kann, sondern es umgekehrt droht, große Teile der Kunst der Antike und des Abendlandes zu Pornographie zu erklären. Von Botticelli bis Bouguereau waren die „Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes“ und die Wiedergabe in „geschlechtsbetonter Körperhaltung“ Standard der Bildenden Kunst – auch und gerade die „sexuell aufreizende“ und „unnatürlich“ geschlechtsbetonte. Eine diesbezügliche „Altersgrenze“ 185 Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 184a Rn. 2. 186 Heinrich, NStZ 2005, 362.

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von 14 oder gar 18 Jahren war völlig fremd. Im Dunstkreis tatbestandlicher Kinderpornographie befinden sich inzwischen im Grunde auch schon unzählige Darstellungen der abendländischen Malerei beispielsweise mit der Wiedergabe der unbekleideten Genitalien des halbwüchsigen Gottes Amor / Eros / Cupido187 – und sogar des Jesuskindes188. Nun kann man versuchen, dieses Ergebnis durch restriktive Auslegung von unbestimmten Tatbestandsmerkmalen wie „unnatürlich geschlechtsbetont“ oder „sexuell aufreizend“ zu vermeiden. Man kann auch regelmäßig über das Grundrecht der Kunstfreiheit diese Kunst als zwar tatbestandliche, aber wenigstens gerechtfertigte Pornographie einordnen.

bb) Gemälde als Pornobildchen? Es sei aber noch ein ganz anderer Gedanke angeschnitten: Der antiquierte Begriff der „Schriften“ im Sinne von § 11 Abs. 3 StGB ist kein sinnvoller gemeinsamer Anknüpfungspunkt mehr für die heute extensiv verstandenen (Kinder-) Pornographie-„Schriften“ und gleichzeitig für andere „Schriften“, und zwar nicht nur für Werke der Bildenden Kunst. Sämtliche Diskussionen, alle Gesetzesänderungen in den §§ 184 ff. StGB sind fokussiert auf den Pornomarkt, also auf Heftchen, Videos, CDs und Dateien mit pornographischen Bildaufnahmen, hergestellt ausschließlich zur sexuellen Stimulanz, zumeist als Masturbationsvorlage. Insbesondere die 2015er Tatbestandserweiterungen in § 184b und § 184c StGB sind nur hierauf ausgerichtet, sie zielen auf gefilmte oder fotografierte Kinder in „unnatürlich geschlechtsbetonter“ oder „sexuell aufreizender“ Position – es geht um „Ablichtungen“, „Aufnahmen“, „Fotos“, „Filme“ – um die Kernbegriffe auch in Kommentierungen nochmals in Erinnerung zu rufen. Zumindest in ihren neuen, aktuellen Fassungen „passen“ die Modalitäten der § 184b und § 184c StGB wohl nur für (pornographische) „Bildaufnahmen“.

187 Siehe beispielsweise Lucas Cranach der Ältere (* 1472; † 1553), Venus mit Amor als Honigdieb (um 1531), Rom, Museo e Galleria Borghese; Guido Reni (* 1575; † 1642): Venere e Cupido (Liegende Venus mit Cupido) (um 1639), Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister; François Boucher: Venus réconforte Amor (1751), Washington, D.C., National Gallery of Art; William Adolphe Bouguereau (* 1825; † 1905): L’Amour et Psyche, enfants (1889), Privatbesitz. 188 Siehe beispielsweise Joos van Cleve (* 1485; † 1540), Heilige Familie (um 1520), Manchester (New Hampshire), Currier Museum; Antonio da Correggio (* 1489; † 1534): La Madonna della cesta (Maria mit Korb) (1525/26), London, National Gallery; Peter Paul Rubens: De Heilige Familie met St Anne (Die Heilige Familie mit der heiligen Anna) (um 1630), Madrid, Museo del Prado.

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Dass die Normen auch nicht mehr für „Schriften“ im eigentlichen Wortsinn „passen“, zeigt auch die neue Formulierung der „Wiedergabe“ des (unbekleideten) Kindes bzw. seiner Genitalien. Die Absätze 3 von § 184b und von § 184c StGB (die hier ansonsten nicht näher interessieren) nennen jeweils die Wiedergabe von „Schriften“ mit einem bestimmten sexuellen „Geschehen“. Ein „Geschehen“ kann nun auch durch „Schriften“ im eigentlichen Wortsinn, also durch die Schilderung mit Worten „wiedergegeben“ werden189. Die – schon sprachlich nicht sehr überzeugende – „Wiedergabe“ von Körpern oder Körperteilen, also eines mit Worten nicht beschreibbaren Vorganges, ist nur durch bildliche Darstellungen vorstellbar – oder soll der Satz in einem (fiktiven) Roman „Das Kind nahm halbbekleidet eine obszöne Pose ein“ so Kinderpornographie sein, als sei die Pose abgebildet? Für andere „Darstellungen“ im Sinne von § 11 Abs. 3 StGB als Bildaufnahmen – nicht nur der (Bildenden) Kunst – sollte der Gesetzgeber erwägen, entsprechend dem bis 2008 geltenden Gesetzesstand nur noch solche (pornographischen) Schriften, „die den sexuellen Missbrauch von Kindern (§§ 176 bis 176b) zum Gegenstand haben“, zu pönalisieren. Und er sollte (insoweit) auch auf Strafnormen für jugendpornographische Schriften verzichten, schon, um nicht noch Chuck Berry („Sweet Little Sixteen“) und Udo Jürgens („Siebzehn Jahr, blondes Haar“) in Verruf zu bringen.

III. Epilog Die öffentliche Erregung, überall, selbst in der Malerei, verfolgungswürdige Kinderpornographie zu sehen, muss mit Sorge betrachtet werden. Das kindliche Bild wird inzwischen längst in den Köpfen auch all derer mit Sexualität in Verbindung gebracht, die von selbst auf solche Gedanken nie gekommen wären. Es ist das bekannte Phänomen des „rosa Elefanten“: Wenn man nicht an ihn denken soll, denkt man an nichts anderes. Man beobachte sich einmal selbst beim Empfang des nächsten Fotos des Patenkindes als kleinen Nackedei. Die Unbefangenheit ist weg190. Von Balthus wissend, durchzuckt es mich, wenn ich dessen Gemälde seiner Malerfreunde Derain und Joan Miró in einem Kunstbuch zufällig aufschlage191: Kindesmissbrauch! Es dauert einen Moment, sich zu erinnern, dass 189 Siehe BGH, NStZ 2013, 642. 190 Man lese hierzu nachdenklich Wahba, Zeitmagazin 30/2015. 191 „André Derain“ (1936). New York, Museum of Modern Art; Joan Miró et sa fille Dolorès (1937/38). New York, Museum of Modern Art.

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Balthus Miró zusammen mit seiner siebenjährigen Tochter Dolores porträtiert hat, die, altersbedingt zappelig, vom Vater festgehalten (und nicht an den Brüsten befummelt) wird. Und auch das rätselhafte Portrait Derains, das vorschnell klischeehaft an einen dicken alten Mann im Morgenmantel (Balthus192: „Statur eines Menschenfressers“) denken lässt, der gerade zum Missbrauch des Mädchens im Hintergrund schreitet (oder schon geschritten ist), lässt übersehen, dass es sich beim „Tatort“ offenbar um ein Maleratelier nebst Modell handelt193. Es sollte keinen denkbaren Grund geben, ein Gemälde „zu verbieten“ – und allenfalls einen einzigen, es (wie die „Gitarrenstunde“ 1934) nur hinter einem Vorhang separat zu zeigen: Diesen Grund erkannte schon im 17. Jahrhundert der deutsche Barockmaler Joachim von Sandrart (* 1606; † 1688), der in Italien lebte und auf dessen „Einrathen“ hin damals der zusammen mit 120 anderen Exponaten gezeigte „kinderpornographische“ nackte „Amor“ Caravaggios „mit einem dunkelgrün seidenen Vorhang bedeket“ wurde194: ... weil es sonsten alle andere Raritäten unansehentlich gemacht, so daß es mit guten Fug eine Verfinsterung aller Gemälden mag genennet werden ...

Ob Balthus’ „Gitarrenstunde“ auch eine so alles überstrahlende „KunstVollkommenheit“ eigen ist, mag man vielleicht bezweifeln können. In den Kanon der großen Gemälde des 20. Jahrhunderts gehört dieses rätselhafte Werk ganz sicherlich.

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Uwe Scheffler

Antonio da Correggios „Leda mit dem Schwan“* – Das vielleicht schönste Gemälde der Renaissance und seine ereignisreiche Geschichte – Der Reiche, der Correggios Gemälde, seine Leda, seine badenden schönsten Nymphen besitzt, hat sie wirklich, sie blühen in seinem Palast in ewiger Jugend, der allerhöchste Reiz ist bei ihm einheimisch, wonach andre mit glühender Phantasie suchen, was Stumpfere mit ihren Sinnen sich nicht vorstellen können, lebt und webt bei ihm wirklich, ist seine Göttin, seine Geliebte, sie lächelt ihn an, sie ist gern in seiner Gegenwart. Ludwig Tieck (* 1773; † 1853): Franz Sternbalds Wanderungen, 17981

Lange habe ich überlegt, zu welchem Thema ich Ihnen heute hier zu diesem festlichen Anlass vortragen soll. Mit einem „richtigen“ juristischen Thema *

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Bei dem Beitrag handelt es sich um den um einen ausführlichen Fußnotenapparat ergänzten Festvortrag mit dem Titel „ʻLeda z łabędziemʼ Antonio da Correggio – Bodaj najpiękniejsze dzieło malarstwa renesansu i jego burzliwe dzieje“, den der Autor am 8. Oktober 2018 im Rahmen der feierlichen Eröffnung des Akademischen Jahres der Fakultät für Verwaltung und Recht sowie der Vernissage der Ausstellung „Kunst und Strafrecht / Sztuka a prawo karne“ an der Universität Opole in deutscher Sprache gehalten hat. 2. Teil, 2. Buch, 3. Kapitel. Der in Berlin aufgewachsene romantische Dichter Ludwig Tieck (der Correggios „Leda mit dem Schwan“ sicherlich aus der Bildergalerie in Sanssouci kannte), beginnt diesen Abschnitt mit einer allgemeinen Liebeserklärung an den „allerlieblichsten Antonio Allegri von Correggio“: „So ist mein Gemüt aufs heftigste von zwei neuen großen Meistern bewegt, vom venezianischen Tizian und von dem allerlieblichsten Antonio Allegri von Correggio. Ich habe, möcht ich sagen, alle übrige Kunst vergessen, indem diese edlen Künstler mein Gemüt erfüllen, doch hat der letztere auch beinahe den erstern verdrängt. Ich weiß mir in meinen Gedanken nichts Holdseligers vorzustellen, als er uns vor die Augen bringt, die Welt hat keine so liebliche, so vollreizende Gestalten, als er zu malen versteht. Es ist, als hätte der Gott der Liebe selber in seiner Behausung gearbeitet und ihm die Hand geführt. Wenigstens sollte sich nach ihm keiner unterfangen, Liebe und Wollust darzustellen, denn keinem andern Geiste hat sich so das Glorreiche der Sinnenwelt offenbart. Es ist etwas Köstliches, Unbezahlbares, Göttliches, daß ein Maler, was er in der Natur nur Reizendes findet, was seine Imagination nur veredeln und vollenden kann, uns nicht in Gleichnissen, in Tönen, in Erinnerungen oder Nachahmungen aufbewahrt, sondern es auf die kräftigste und fertigste Weise selber hinstellt und gibt. Darum ist auch in dieser Hinsicht die Malerei die erste und vollendetste Kunst, das Geheimnis der Farben ist anbetungswürdig“.

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wollte ich niemanden langweilen. Da „Kunst und Strafrecht“ eines meiner Arbeitsgebiete ist, bot sich deshalb ein mehr kunsthistorisches Thema an. Letztlich habe ich mich entschieden, etwas über ein Kunstwerk aus der Gemäldegalerie meiner Geburtsstadt Berlin zu erzählen, das ein strafrechtlich nicht ganz unproblematisches Motiv zeigt und dennoch für mich eines der schönsten Gemälde aller Zeiten ist: „Leda mit dem Schwan“ von Antonio Allegri, besser bekannt als Antonio da Correggio2. Die Geschichte dieses Bildes ist spannend und ereignisreich: als frivoler Wandschmuck einer Liebeslaube geschaffen, im religiösen Eifer verstümmelt, nach biedermeierlichem Zeitgeschmack raffaelisiert, von der wilhelminischen Justiz als „unzüchtig“ verfolgt und als „Nazi-Porno“3 von Adolf Hitler voyeuristisch beäugt – aber alles der Reihe nach.

I. Die „Leda“ und Federico II. Gonzaga – die Kreation Als Ausgangspunkt der Geschichte des Bildes muss hier kurz von Federico II. Gonzaga, dem Markgrafen und späteren Herzog von Mantua in der Lombardei4, erzählt werden. Ich will Sie nicht mit der abenteuerlichen Heiratspolitik ermüden, infolge der Federico eigentlich immer irgendwie verheiratet war – freilich immer nur „ein 2 3

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Antonio da Correggio (* 1489; † 1534), Leda e il cigno (Leda mit dem Schwan) (1531/32). Berlin, Gemäldegalerie. Grunenberg, Die Zeit 13/1979, bezeichnete Paul Mathias Paduas „Leda und der Schwan“ von 1936 – auf dieses von Hitler ebenfalls geschätzte Gemälde wird noch zurückzukommen sein – als „NS-Porno“. „Federico II of Gonzaga (May 17, 1500 – August 28, 1540) was the ruler of the Italian city of Mantua (first as Marquis, later as Duke) from 1519 until his death. He was also Marquis of Montferrat from 1536. … Frederick had signed a marriage contract with the heir to the Marquisate of Monteferrat, Maria Palaeologina, with the aim of acquiring that land; its marquess Boniface IV of Montferrat was in poor health. [Der damals siebzehnjährige Federico II. Gonzaga wurde 1517 mit Maria Palaiologos verlobt, als sie acht Jahre alt war; der Vollzug der Ehe wurde jedoch – im Hinblick auf das Alter der Braut – auf einen späteren Zeitpunkt verschoben – USch] But when Boniface seemed to recover, he set up an alleged plot on the part of Maria against Frederick’s mistress, Isabella Boschetti: this was sufficient to have the Pope cancel the nuptial contract. Frederick then signed another marriage contract with Charles Vʼs third cousin, Julia of Aragon. In lieu of this move, in 1530 he was granted the ducal title, whereby their dynasty became Dukes of Mantua. However, when Boniface died by a fall from horse on March 25 of that year, Frederick paid 50,000 ducats to Charles in exchange for the annulment of the contract, and pushed the pope for the restoration of his earlier marriage agreement. When Maria also died, he was able to marry her sister Margaret on November 16, 1531.“ ([Engl.] Wikipedia, Stichwort: Federico II Gonzaga, Duke of Mantua).

Antonio da Correggios „Leda mit dem Schwan“

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bisschen“. Seine ganze Liebe gehörte über Jahrzehnte vielmehr der schönen Isabella Boschetti5, einer italienischen Adligen, selbst lange Zeit „ein bisschen“ anderweitig verheiratet. Die beiden, in Kunstsinn und Erotik vereint, ließen sich, um der klatschsüchtigen Hofgesellschaft zu entfliehen, ab 1524 am Rande von Mantua von dem Raffael-Schüler Giulio Romano den Palazzo del Te als eine Art Lustschloss erbauen. Zur Ausgestaltung eines Raumes6, vermutlich für seine „bella Boschetta“, beauftragte Federico Antonio da Correggio7, eine Serie von Gemälden über die 5

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„Isabella Boschetti (* ca. 1502, † nach 1542), genannt la bella Boschetta (die schöne Boschetta), war eine italienische Adlige aus gräflichem Haus … Sie war die Muse und Geliebte von Federico II. Gonzaga …, des Markgrafen und späteren Herzogs von Mantua, … die … – unbeirrt von den wiederholten Versuchen seiner Familie ihn zu verheiraten und unbeirrt von seiner und ihrer eigenen Ehe – ihm bis zu seinem Ende in Liebe verbunden blieb. … Isabella wurde von ihren Eltern in jungen Jahren mit Francesco Cauzzi Conte (Graf) di Calvisano, einem Hofmann und Feldhauptmann der Markgrafen von Mantua vermählt. … [1519] erweckte die siebzehnjährige … Isabella Boschetti die Aufmerksamkeit des jungen Markgrafen. Es entwickelte sich daraus eine leidenschaftliche Beziehung, Diese war jedoch nicht ganz unproblematisch, da Isabella … verheiratet war. Angesichts der Größe der Leidenschaft – und der ungleichen Machtverhältnisse – ließ sich der Ehemann Isabellas ʻüberzeugenʼ, auf seine ehelichen Rechte zu verzichten und wurde dafür mit Gütern und mit der Gnade ʻentschädigtʼ, dass er dem eigenen Familiennamen, den der Herrscher von Mantua hinzufügen durfte und sich daher Cauzzi Gonzaga nennen konnte. … Diese störende Situation änderte sich, als Isabellas Ehemann … 1524 unter nicht ganz geklärten Umständen eines plötzlichen und gewaltsamen Todes verstarb. Da Federico kurz darauf Isabella Boschetti ganz offiziell zu seiner Geliebten erklärte und sie in seinen Hofstaat einführte, entstanden Gerüchte, dass zwischen diesen Ereignissen ein Zusammenhang bestehen könnte.“ (Wikipedia, Stichwort: Isabella Boschetti). „Sala di Ovidio“. Allerdings ist die These, dass der Zyklus von Federico II. Gonzaga bei Correggio für den Palazzio Te bestellt wurde (siehe dazu Verheyen, JWCI 29 [1966], S. 160 ff.) nicht unumstritten. Der Künstlerbiograph Giorgio Vasari (* 1511; † 1574) berichtete nämlich stattdessen, Federico habe zwei der Bilder bei Correggio als Geschenk an Karl V. in Auftrag gegeben: „Antonio verfertigte … in Mantua zwei Gemälde für den Herzog Friedrich II., welche dieser dem Kaiser schickte – ein Geschenk, solches Fürsten würdig. Giulio Romano, der sie sah, versicherte, er habe nie ein so zart verarbeitetes Kolorit gesehen. Das eine war die nackte Gestalt der Leda, das andere Venus [nach allgemeiner Ansicht gemeint: Danaë – USch], mit einer Weichheit gemalt und in den Schatten so schön, daß es nicht Farbe, sondern Fleisch zu sein schien. In dem einen Bilde war eine köstliche Landschaft, denn hierin wurde Correggio von keinem Lombarden übertroffen, auch malte er die Haare in schönster Färbung und einer Sauberkeit und Vollkommenheit, daß man es besser nicht sehen kann.“ (Vasari: Le Vite de’ più eccellenti pittori, S. 269 f.). „Die Biographie Correggios (* August 1489 in Correggio; † 5. März 1534 ebenda) ist nur lückenhaft bekannt. Er war hauptsächlich nur in seinem Heimatort Correggio (Reggio Emilia) sowie in Parma tätig, beides keine künstlerischen Zentren im 16. Jahrhundert. Selbst Vasari berichtete nur wenige Bruchstücke aus seinem Leben. Das mag sich daraus erklären, „da er in engen beschränkten Verhältnissen lebte und

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Liebesbeziehungen des Jupiter zu malen, so wie sie der römische Dichter Ovid in seinen „Metamorphosen“, dem damals bekanntesten Werk über die Mythologie der Antike, beschrieben hatte8. Der Zyklus „Amori di Giove“ wird als ein Höhepunkt erotisierender Malerei der Renaissance gesehen. „Alle diese Bilder gehören zu den wunderbarsten Schöpfungen des Pinsels“9. Die vier Werke aus dem Zyklus sind erhalten und können heute in europäischen Museen bewundert werden: das große Gemälde

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nicht, wie seine berühmten Zeitgenössen Rafael, Leonardo da Vinci, Michelangelo und Titian vom Glück begünstigt, in die höheren Gesellschaftskreise und in das öffentliche Leben hineingezogen wurde.“ (Piererʼs Universal-Lexikon, Bd. 4, 1858, Stichwort: Correggio [2]). Vasari: Le Vite de’ più eccellenti pittori, S. 267, umschrieb das so (wenngleich die neuere Forschung annimmt, dass Correggio vor 1519/21 Kontakt mit der Kunst Raffaels in Rom gehabt haben muss): „Hätte er seine Heimat überschritten und Rom gesehen, so würde er Wunder getan und denen viel Verdruß gemacht haben, welche zu seiner Zeit für groß galten.“. „Die Metamorphosen … des römischen Dichters Ovid [* 43 v. Chr.; † wohl 17 n. Chr.], geschrieben vermutlich ab dem Jahr 1 oder 3 n. Chr. bis um 8 n. Chr., sind ein in Hexametern verfasstes mythologisches Werk ... Sie bestehen aus 15 Büchern von je etwa 700 bis 900 Versen und beschreiben die Entstehung und Geschichte der Welt in den Begriffen der römischen und griechischen Mythologie. Dabei wurden etwa 250 Sagen verarbeitet.“ (Wikipedia, Stichwort: Metamorphosen [Ovid]). Es ist auch nicht genau bekannt, wie Correggio an diesen Auftrag kam. Federico II. kannte Correggio vermutlich von seinen (kurzen) Aufenthalten in Mantua 1506 und 1514. Correggio hatte wohl 1527 von Graf Nicola Maffei (* um 1487; † 1536), einem begeisterten Kunstsammler, den Auftrag zu zwei Gemälden erhalten, darunter „Jupiter und Antiope“ (um 1528 [heute wird es anders interpretiert und deshalb „Venus und Amor mit einem Satyr“ tituliert], Paris, Musée du Louvre), ebenfalls ein bei Ovid zu findendes Motiv für den Zyklus „Amori di Giove“ („Dann, wie Iupiter sich in der Hülle des Satyrs versteckend / Füllte mit doppelter Frucht die reizende Tochter des Nykteus …“ [Ovid: Metamorphosen VI, 110 f.]). Die Adelsfamilien Maffei und Gonzaga waren verbandelt; das Gemälde kam auch im Laufe des 16. Jahrhunderts in die Kunstsammlung der Gonzagas nach Mantua. – Bei dem Kunsthistoriker Johann Dominik Fiorillo (Geschichte der Zeichnenden Künste, Bd. 2, 1801, S. 279) kann man lesen, aus der Wahl Correggios durch Federico II. Gonzaga „schließt man mit Recht, daß der Künstler nicht so in der Dunkelheit gelebt haben könne, denn damals hielt sich am Hofe des Herzogs Giulio Romano auf, und Tizian stand in Diensten des Kaisers, und dennoch fiel die Wahl auf den Allegri“. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 4, 1906, Stichwort: Correggio (2). Und in der Tat: Correggio, der viele Jahre lang nur von Bestellungen der Kirche lebte, blühte auf, als er, zwischenzeitlich bekannt geworden, Aufträge zu Werken mit mythologischen Themen von weltlichen Fürsten erhielt und sich so „neuen, seinem Talent so eigentümlich angemessenen Stoffen“ zuwenden konnte: Man kann bemerken, „daß dieser Mann nicht geboren war, sein Leben lang nichts zu malen als Madonnen und Heilige, daß in ihm die Kraft lag, wie in kaum einem andern, die reizenden Fabeln der antiken Welt – ʻder heroischen Zeit, da Götter und Göttinnen liebtenʼ – zu frischem Leben zu erwecken“. (Gronau: Correggio, S. XXXVI).

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„Danaë und der Goldregen“10 in Rom, dann der „Raub des Ganymed“11 sowie „Jupiter und Io“12 in Wien, und schließlich „Leda mit dem Schwan“ in der Berliner Gemäldegalerie.

1. Das Motiv Der griechischen „Leda“-Sage nach verwandelte sich Zeus (den Ovid mit seiner römischen Entsprechung als Jupiter bezeichnete) in einen weißen Schwan, um Leda, die Frau des spartanischen Königs Tyndareos, zu verführen, so wie er sich in sexueller Absicht so vielen Frauen in Tiergestalten näherte. Als Vorwand inszenierte er eine Flucht vor einem Adler13 und suchte Schutz zwischen Ledas Beinen14, wo er „verstohlne Liebesfreuden haschte“, wie es bei dem griechischen Dramatiker Euripides heißt15, und sie schwängerte. Doch auch ihr Ehemann Tyndareos schlief in dieser Nacht mit ihr. Leda gebar alsdann zwei Eier mit vier Kindern16 – von Zeus die Halbgötter Helena und Polydeukes, von Tyndareos die Sterblichen Klytaimnestra und Kastor17. 10 11

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„Wie er zu Danaë kam als Gold …“ (Ovid: Metamorphosen VI, 113). „Ohne Verzug durchschießend die Luft mit erborgtem Gefieder / Raubt er den ilischen Spross, der jetzt noch immer die Becher / Mischt und Nektar reichet dem Iupiter, Iuno zum Trotze.“ (Ovid: Metamorphosen X, 159–161). „… Denn sie floh. Hinweg schon über die Weiden / Lernas war sie geeilt und Lyrkeias waldige Fluren / Da umhüllte der Gott mit bergendem Dunkel die Lande / Weit und breit und hemmte die Flucht und nahm ihr die Ehre“ (Ovid: Metamorphosen I, 597–600). Es heißt oft, Zeus habe dazu Aphrodite in einen Adler verwandelt. Was Christoph Martin Wieland [* 1733; † 1813) elegant formulierte: „… sich als Schwan um den Busen einer Leda schlingt …“ (Wieland: Göttergespräche, 1796, III. Jupiter, Olympius, Lycinus, ein Bildhauer, und Athenagoras). Euripides, Helena, 1, 20. Bei dem griechischen Dramatiker Euripides (* um 484/480; † 406 v. Chr.) findet sich die älteste Überlieferung der „Leda“-Sage in der Tragödie „Helena“ (412 v. Chr), wo Helena sagt (1, 17–21): „… Die Sage geht, / Daß Zeus in meiner Mutter Leda Schoß herab / Sich schwang, in Schwanenbildung umgewandelt, und / Verstohlne Liebesfreuden haschte, hergescheucht / Von einem Aar, wenn ja die Sage richtig ist“. In einigen Versionen ist es nur Helena, die aus einem Ei schlüpft, in anderen werden Kastor und Polydeukes aus demselben Ei geboren. Kastor und Polydeukes werden als Dioskuren (Söhne des Zeus) bezeichnet. Da sie in der gleichen Nacht empfangen wurden, waren sie Zwillinge und unzertrennlich, obwohl Polydeukes als Zeus’ Sohn ein Halbgott, Kastor aber ein Sterblicher war. Die wegen ihrer Schönheit berühmte Helena heiratete den spartanischen König Menelaos und wurde später von Paris nach Troja entführt; Klytaimnestra hingegen ehelichte dessen Bruder Agamemnon, König zu Mykene, der dann den Feldzug der Griechen gegen Troja anführte, um Helena wiederzugewinnen. Helena, „die schönste Frau der Poesie“ (Heinrich Heine Der Doktor Faust, 1847, 4. Akt), demzufolge die leibliche

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In Ovids „Metamorphosen“ ist die Sage nur recht kurz in die „Arachne“Erzählung eingebettet. In ihrem Wettstreit mit der Göttin Athene (bzw. Minerva) webt Arachne einen Teppich, auf dem die Götter und ihre Liebesbeziehungen gezeigt werden, unter anderen auch Jupiter mit Leda18: ... Leda bildet sie auch, wie der Schwan sie deckt mit den Flügeln ...

Das Sagenmotiv „Leda und Schwan“, schon in der Kunst der Antike weitverbreitet, war seit der (Früh-)Renaissance ein beliebtes Bildmotiv. Die Wiederentdeckung der Antike und ihrer Mythologie lieferte Künstlern an der Schwelle zur Neuzeit endlich einen Vorwand, nackte Frauen zu malen. Erinnert sei nur an Sandro Botticellis wunderschöne „Geburt der Venus“, den ersten fast lebensgroß gemalten Frauenakt seit der Antike19. Kurioserweise findet sich das „Leda“-Motiv erstmalig ausgerechnet am Petersdom im Vatikan wieder, und zwar als Relief des Florentiner Bildhauers Filarete an einem Bronzetor20. Die Beliebtheit des Motivs seit dem Quattrocento war offenbar dem Umstand geschuldet, dass es als mehr annehmbar betrachtet wurde, eine Frau in der Verbindung mit einem Schwan darzustellen als mit einem Mann. Gerade

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Tochter vom „Jupiter im Schwan“ (de Piles: Historie und Leben der berühmtesten europäischen Mahler, S. 264), wird auch mit einem „Hals wie ein weißer Schwan“ beschrieben. (Heine, a.a.O., Erläuterungen); Oscar Wilde spricht von der „schwanengleichen Tochter der Leda“ (Intentions [Fingerzeige] 1891 [dt. 1903], Kritik als Kunst, 1. Teil). Schon der griechische Satiriker Lukian von Samosata (* um 120 n. Chr.; † um 180) ließ in seinen „Göttergesprächen“ (XX. Das Urteil des Paris) Venus sagen, Helena siehe „so weiß aus, wie man erwarten kann, da sie einen Schwan zum Vater hat; zart wie eine Person, die aus einem Ei hervorgekrochen …“. Ovid, Metamorphosen VI, 109. „Sandro Botticelli (*1. März 1445 in Florenz; †… 17. Mai 1510 ebenda; auch Alessandro di Mariano Filipepi oder Sandro di Mariano di Vanni Filipepi, gen. Botticelli) war einer der bedeutendsten italienischer Maler und Zeichner der frühen Renaissance. Im Geist der Frührenaissance und des Humanismus malte Botticelli … Andachtsbilder, Altarbilder sowie Bilder aus dem Themenbereich der griechischen Mythologie und Allegorien mit Gegenwartsbezug. … Den engen Zusammenhang mit dem humanistischen Gedankengut der Zeit und die schöpferische Phantasie des Künstlers zeigen seine reiferen Meisterwerke nach 1475, insbesondere seine allegorischen Darstellungen ʻDer Frühlingʼ, auf dem das Erwachen der Natur durch blumenbekränzte Mädchen in einer paradiesischen Landschaft verkörpert wird, und ʻDie Geburt der Venusʼ [1484/85; Florenz, Galleria degli Uffizi – USch], auf dem die aus dem Meeresschaum geborene Liebesgöttin in einer Muschel zur Küste treibt.“ (Wikipedia, Stichwort: Sandro Botticelli). Filarete (* um 1400; † um 1569), Leda e il cigno (um 1439). Vatikanstadt, Basilica Sancti Petri, Porta del Filarete.

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die frühen Gemälde und Zeichnungen des „Leda“-Mythos zeigen viel explizitere Liebesszenen, als sie auf den Bildnissen menschlicher Paare von Künstlern in derselben Periode gemalt wurden21. In der Folge beschäftigten sich sogar die meisten der größten Maler der italienischen Hoch- und Spätrenaissance mit dem Motiv22. Michelangelo etwa, dessen Gemälde zwar verschollen ist23, das uns in all seiner drastischen Sexualität jedoch besonders durch Kopien von Peter Paul Rubens überliefert wird24. Auch Leonardo da Vincis „Leda“ ist verloren gegangen, allerdings sind wenigstens ein paar Skizzen erhalten geblieben sowie einige Kopien seiner Schüler, etwa von seinem Günstling Francesco Melzi25. Leonardo bildete 21

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Siehe etwa Marcantonio (* 1470/1482; † 1527/1534), Leda e il cigno (1500/05) oder Agostino Veneziano (zugeschrieben) (* ca. 1490; † nach 1536): Leda e il cigno (um 1510), beide im British Museum in London. Siehe etwa: Giorgione (* 1478; † 1510): Leda e il cigno (Ende 15. Jh.), Padua, Museo Civico; Jacopo da Pontormo (* 1494; † 1557): Leda e il cigno (1512/13), Florenz, Galleria degli Uffizi; Andrea del Sarto (* 1486; † 1530): Leda e il cigno (1515 oder 1518/19), Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts; (Werkstatt des) Jacopo Tintoretto (* 1518; † 1594): Leda e il cigno (1570), Florenz, Galleria degli Uffizi; Paolo Veronese (* 1528; † 1588): Leda e il cigno (etwa 1585), Ajaccio, Musée Fesch. Auch von Raffael kennen wir eine Studie zu dem Leda-Motiv (Raffael [* 1483; † 1520]: Leda e il cigno [nach Leonardo da Vinci] [1505/07]. London, Royal Collection, Windsor Castle). Das Gemälde befand sich ab 1533 in der Sammlung des französischen Königs Franz I. im Schloss Fontainebleau. Zwischen 1642 und 1643 sollte es dann aber unter Ludwig XIII., wahrscheinlich auf Betreiben von Königin Anna von Österreich, wegen seiner unmoralischen Darstellung an den Minister François Sublet, einen Vertrauten Kardinal Richeleus, zur Vernichtung übergeben werden. Ob dieser der Weisung nachkam oder das Bild für sich selbst behielt, als er sich im April 1643 nach dem Tode Richeleus vom französischen Hof zurückzog, ist unklar. Jedenfalls verlieren sich ab dann alle Spuren des Gemäldes. Manche spekulieren allerdings, dass es noch immer irgendwo existiert. Peter Paul Rubens (* 1577; † 1640): Leda en de zwaan (nach Michelangelo Buonarroti) (1598/1600). Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister sowie New York, Stephen Mazoh Collection. Francesco Melzi (zugeschrieben), Leda e il cigno (nach Leonardo da Vinci) (1508/15); Florenz, Galleria degli Uffizi. Das Bild wird gelegentlich auch Fernando Yanez zugeschrieben. „Francesco Melzi (* um 1491/92 in Mailand; † um 1570 in Vaprio d’Adda) war ein italienischer Maler der lombardischen Schule, Lieblingsschüler des Leonardo da Vinci und dessen Haupterbe. … Als Sohn der vornehmen Mailänder Patrizierfamilie Melzi nahm er bereits als Knabe Kontakt zu Leonardo da Vinci auf. Am 28. September 1513 brach er mit diesem zusammen nach Rom auf. Fortan blieb er ständig in Leonardos Nähe und begleitete ihn sogar 1517 nach Frankreich. … Als Leonardo am 2. Mai 1519 starb, erbte Melzi … den gesamten zeichnerischen und wissenschaftlichen Nachlass des Meisters.“ (Wikipedia, Stichwort: Francesco Melzi).

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Leda und den Schwan allerdings züchtig nebeneinanderstehend ab; die vier ausgeschlüpften Kinder in einer anachronistischen Simultandarstellung machen jedoch das Vorgefallene überdeutlich.

2. Das Gemälde Das in meinen Augen mit Abstand schönste Bild malte aber Correggio für die Liebeslaube des Herzogs von Mantua und seine Mätresse. Seine „Leda“ hebt ihn nicht nur auf Augenhöhe mit den ganz Großen der italienischen Hochrenaissance – Leonardo, Michelangelo, Raffael –, sondern macht ihn durch den stimmungsvollen und weichen Umgang mit Licht und Schatten sogar zu einem Vorboten des Barock26. Schauen wir uns das Gemälde kurz etwas genauer an: Am Ufer des Flusses Eurotas hat sich Jupiter Leda in Gestalt eines Schwans genähert27 und verführt sie28. Vor einer Baumgruppe sitzt die entkleidete Leda, zwischen ihren Schenkeln sieht man den Schwan genau so, wie die Worte Ovids es beschreiben29: Er „deckt sie mit den Flügeln“ – oder, wie Johann Wolfgang v. Goethe, der das Gemälde kannte30, seinen Faust in einem Dialog sagen ließ31: Sein Gefieder bläht sich schwellend, Welle selbst, auf Wogen wellend, Dringt er zu dem heiligen Ort.

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„Correggio pflege seine Bilder hell zu untermalen und dann in der Farbe noch höher zu stimmen, wobei er das reine weisse Licht, wie den Schatten vermied, Licht und Schatten in feinen Abstufungen ineinander verschmelzen liess, ihre Gegensätze aufhob, und so den seiner künstlerischen Stimmung entsprechenden, fast überirdischen Lichtschimmer erreichte.“ (Springer: Handbuch der Kunstgeschichte, S. 264). „… in Gestalt eines Schwans herabflog.“ (Lukian von Samosata: Göttergespräche, XX. Das Urteil des Paris [um 160 n. Chr.]). Er „wird bei Leda – Schwan“. (Christoph Martin Wieland: Gedichte an Olympia – Zweierlei Götterglück, 1777). Bei der (braunen) Haarfarbe „seiner“ Leda folgt Correggio allerdings nicht Ovid. In dessen „Amores“ heißt es: „… für ihr schwarzes Haar war eine Leda berühmt …“ (Amores 2, 4, 42). In der „Anthologia Palatina“ steht es übrigens noch anders: „… zur blonden Mutter der Helena dann flog er in Schwanengestalt …“ (Anth. Pal. 5, 65). Er hatte es vermutlich im Mai 1778 in Sanssouci gesehen. Und v. Goethe soll einen Kupferstich Etienne Desrochersʼ (* 1668; † 1751) von 1705 nach Correggios „Leda“ besessen haben. Johann Wolfgang v. Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, 1832, 2. Akt.

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Anders als nahezu alle Maler stellte Correggio die Szene inmitten einer größeren Figurengruppe dar32. Links erkennt man den knabenhaften Liebesgott Amor auf einer Lyra spielend und zwei Amoretten, die ihn auf Blasinstrumenten begleiten. Der rechte Bildteil zeigt in Simultandarstellungen weitere Szenen des Geschehens33: Ganz rechts schwimmt der um Leda zunächst balzende Schwan – mit den Worten Rainer Maria Rilkes34: 32

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Ein paar Ausnahmen (ohne Anspruch der Vollständigkeit) bei den „Leda“-Gemälden bekannter Maler (die jedoch nie den personellen Umfang des Correggio-Bildes erreichen): Giorgione zeigt in seiner erwähnten in Padua befindlichen „Leda“ links „eine Frauengestalt … mit Blick auf den Betrachter und einer Stange in den Händen, an deren Ende ein von Zweigen eingefasster Spiegel befestigt ist, dessen Reflexlichter das Weiß des Schwans aufnehmen. … die Standarte mit dem emblematischen Zeichen [konnte] bislang nicht gedeutet werden …, mithin [ist] die Szenerie kaum zu enträtseln …“ (Brucher: Geschichte der venezianischen Malerei, Bd. 3, 2013, S. 32). Links neben Tintorettos „Leda“ aus den Uffizien ist eine Dienerin Ledas groß abgebildet. Auf den Gemälden von Vincent Sellaer (* um 1490; † 1564; Valenciennes, Musée des Beaux-Arts) und Georg Pencz (* um 1500; † 1550; Madrid, Museo del Prado) aus der Mitte des 16. Jahrhunderts sieht man jeweils drei wuschelköpfige Jungen, offenbar (wie bei Correggio) Amor sowie zwei Amoretten. Auf der Nicolas Poussin (* 1594; † 1665) zugeschriebenen „Leda“ (Chantilly, Conde Museum) ist an der rechten Seite groß (nur) Amor zu sehen. Bei der Variante des Motivs schließlich, die François Boucher (* 1703; † 1770) 1741/42 gleich zweimal gemalt hat (New York, Stair Sainty Matthiesen Museum; Stockholm, Nationalmuseum), wird das Motiv durch die Hinzufügung einer zweiten Frau zu einer Szene mit lesbischer Andeutung ergänzt. Die meisten Ähnlichkeiten mit der Komposition Correggios weist ein in Privatbesitz befindliches Gemälde des weniger bekannten französischen Akademischen Realisten Emmanuel Benner (* 1836; † 1896) auf, der 1888 Leda ebenfalls am Fluss sitzend malte, während im Hintergrund drei weitere fast nackte Mädchen zu sehen sind, vor denen drei Schwäne schwimmen. Diese Deutung ist umstritten. Röske, in: Reinink / Stumpel (Hrsg.), Memory & Oblivion, S. 265, sieht „vier Mägde oder Gespielinnen“ (siehe aber auch S. 269); Schmalisch: Il Correggio – Leda mit dem Schwan, S. 6 f., beschreibt „vier weitere Mädchen“ (anders aber S. 12: „Zwillinghafte Ähnlichkeit“ / „Rolle der Leda … dreifach besetzt“). Auch v. Goethe (Faust. Der Tragödie zweiter Teil, 2. Akt) geht von mehreren Mädchen und Schwänen aus: „Wundersam! Auch Schwäne kommen / Aus den Buchten hergeschwommen, / Majestätisch rein bewegt. / Ruhig schwebend, zart gesellig, / Aber stolz und selbstgefällig, / Wie sich Haupt und Schnabel regt. / Einer aber scheint vor allen / Brüstend kühn sich zu gefallen, /… / Die andern schwimmen hin und wider / Mit ruhig glänzendem Gefieder, / Bald auch in regem prächtigen Streit, / Die scheuen Mädchen abzulenken, / Daß sie an ihren Dienst nicht denken, / Nur an die eigne Sicherheit.“ Siehe auch Verheyen, JWCI 29 (1966), S. 189. Rainer Maria Rilke, Leda, in: Neue Gedichte, Anderer Teil (1908). Vollständig: „Als ihn der Gott in seiner Not betrat, / erschrak er fast den Schwan so schön zu finden; / er ließ sich ganz verwirrt in ihm verschwinden. / Schon aber trug ihn sein Betrug zur Tat, / bevor er noch des unerprobten Seins / Gefühle prüfte. Und die Aufgetane / erkannte schon den Kommenden im Schwane / und wußte schon: er bat um Eins, / das sie, verwirrt in ihrem Widerstand, / nicht mehr verbergen konnte. Er kam nieder / und halsend durch die immer schwächre Hand / ließ sich der Gott in die Geliebte los.

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Uwe Scheffler … die Aufgetane erkannte schon den Kommenden im Schwane und wußte schon: er bat um Eins …

Oberhalb dieser Szene sind der später wegfliegende Schwan und die sich wieder ankleidende Leda abgebildet, der man aufgrund ihrer Mimik die Worte Lohengrins aus Richard Wagners Oper in den Mund legen könnte35: Nun sei bedankt, mein lieber Schwan! Zieh durch die weite Flut zurück …

Das Bild strahlt trotz des ungewöhnlichen Motivs eine heitere, harmonische Atmosphäre36 in einer perfekten künstlerischen Komposition37 aus. Im Berliner Museumskatalog wurde dann auch schöngeistig formuliert38: „Jupiter und Leda sind in himmlischer Liebe vereint“ – und es scheint ganz vergessen, dass es bei der „Leda“-Sage eigentlich um eine brutale Vergewaltigung geht39!

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/ Dann erst empfand er glücklich sein Gefieder / und wurde wirklich Schwan in ihrem Schoß“. Richard Wagner, Lohengrin (1850), 1. Aufzug, 3. Szene. Ludwig Tieck (Franz Sternbalds Wanderungen, 2. Teil, 2. Buch, 3. Kapitel) schwelgt, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, besonders auf Correggios „Leda“ bezogen: „Es herrscht in seinen Bildern nicht halbe Lüsternheit, die sich verstohlen und ungern zu erkennen gibt, die der Maler erraten läßt, der sich gleich darauf gern wieder zurückzöge, um viel zu verantworten zu haben, sich aber auch wirklich zu verantworten; es ist auch nicht gemeine Sinnlichkeit, die sich gegen den edlern Geist empört, um sich nur bloßzustellen, um in frecher Schande zu triumphieren, sondern die reinste und hellste Menschheit, die sich nicht schämt, weil sie sich nicht zu schämen braucht, die in sich selbst durchaus glückselig ist. Es ist, so möcht ich sagen, der Frühling, die Blüte der Menschheit: alles im vollen, schwelgenden Genuß, alle Schönheit emporgehoben in vollster Herrlichkeit, alle Kräfte spielend und sich übend im neuen Leben, im frischen Dasein. Herbst ist weitab, Winter ist vergessen, und unter den Blumen, unter den Düften und grünglänzenden Blättern wie ein Märchen, von Kindern erfunden“. Im Vollstä ndigen beschreibenden Katalog, mit Abbildungen sä mtlicher Gemä lde der Gemäldegalerie des Kaiser-Friedrich-Museums von 1909 kann man lesen: „Die Zartheit der ockergelblichen Körper, die im zerstreuten Licht mit silbergrauen Tönen modelliert und an den Extremitäten rötlich gefärbt sind, wird noch gesteigert durch den Kontrast kühlerer Töne: Weiß (Schwan, Tücher) und Grauviolett im Mantel. Auch das bläuliche Wasser, der ockergelbbraune Ton des Erdbodens und der Baumstämme ist von kühlem Grau durchsetzt. Die einzigen kräftigeren, doch auf den luftigen Gesamtton gestimmten Farben, Ziegelrot und Hellblau in den Gewändern der Dienerinnen, sind in den Hintergrund verlegt, um den Blick nachdrücklich in die Tiefe zu leiten. Zwischen dunkelgrünem, gelbbraunem und gelbgrünem Laubwerk schimmert grünlichblaue Ferne und hellblauer Himmel mit lichten Wolken.“ (S. 189 f.). Zit. nach Sello, Die Zeit 14/1978 im Anschluss an Verheyen, JWCI 29 (1966), S. 190. Wie gewaltsam Jupiter bereit war vorzugehen, erzählte Ovid in der Geschichte der Nymphe Kallisto, der sich Jupiter in Gestalt und Tracht der Diana nährte: „… und bedeckt sie mit Küssen / Nicht in züchtigem Maß und nicht nach Sitte der Jungfraun.

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II. Die „Leda“ und Louis I. von Orléans – die Zerstörung Die „Leda“ blieb nicht lange in Mantua. Sie gelangte wie auch die anderen „Jupiter“-Gemälde Correggios im Laufe des 16. Jahrhunderts zunächst an den Hof von Kaiser Karl V. nach Spanien40. Das Bild wanderte von dort weiter durch verschiedene Sammlungen und landete schließlich 1721 im Besitz des Regenten von Frankreich, Herzog Philippe II. von Orléans41, der es für seine Residenz, den Palais Royal in Paris, kaufte42. Dessen frommer Sohn43 und Nachfolger Louis I. von Orléans44 ertrug offenbar die ins Bild gebannte Erotik nicht und beschädigte in einem Anfall religiösen

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/ Wie sie beginnt, in welchem Gehölz sie gejagt, zu erzählen, / Hindert erʼs durch Umfangen, nicht ohne Vergehn sich verratend. / Zwar sie kämpft und ringt, so viel ein Mädchen vermögend / … / Zwar sie ringt; doch welch ein Weib, ja wer von den Göttern / Hielte vor Iupiter Stand? Siegreich kehrt wieder zum Aither / Iupiter. Ihr ist verhasst das Gebüsch und die wissende Waldung.“ (Ovid: Metamorphosen 2, 430–438). Der irische Dichter William Butler Yeats (* 1865; † 1939) stellte sich auch so ähnlich die Vergewaltigung der Leda vor: „A sudden blow: the great wings beating still / Above the staggering girl, her thighs caressed / By the dark webs, her nape caught in his bill, / He holds her helpless breast upon his breast. / How can those terrified vague fingers push / The feathered glory from her loosening thighs? / And how can body, laid in that white rush, / But feel the strange heart beating where it lies?“ (Leda and the Swan, 1924). Sofern die Gemälde nicht (wie in Anschluss an Vasari vermutet wird) schon 1530 anlässlich der Ernennung Federico II. Gonzaga zum Herzog durch Karl V. verschenkt wurden, vermutlich zur Hochzeit von dessen Sohn Philippe II. mit Maria von Portugal 1543. „Philippe II. de Bourbon, duc d’Orléans (* 2. August 1674 in Saint-Cloud; † 2. Dezember 1723 in Versailles), oft kurz auch nur Philippe II. d’Orléans genannt, war Titularherzog von Chartres (1674–1701), Herzog von Orléans, Valois, Nemours und Montpensier, Fürst von Joinville, Graf von Beaujolais und mehrfacher Pair von Frankreich. Von 1715 bis 1723 übte er in Frankreich im Namen des noch unmündigen Ludwig XV. die Regentschaft aus. … Unter Philippes Regentschaft kam es in kultureller Hinsicht zu einer Blüte des Früh-Rokoko …“ (Wikipedia, Stichwort: Philippe II. de Bourbon, duc d’Orléans). Correggios Werk gelangte als Geschenk der Gonzagas aus Mantua an den Hof Karl V. und von dort in die Sammlung Rudolf II. in Prag. Aus dieser wurde es 1648 beim „Prager Kunstraub“ von den schwedischen Truppen nach Stockholm gebracht, um danach von Königin Christina nach Rom mitgenommen zu werden. Von dort kaufte es Philippe II. für die Kollektion im Palais Royal in Paris. Philippe II. selbst war erklärter Atheist gewesen. Er soll während der Messe die in die Buchdeckel einer Bibel gebundenen satirischen Werke des Renaissance-Schriftstellers François Rabelais gelesen und gerne an religiösen Festtagen Orgien abgehalten haben. Keine Überraschung, dass ihn dann Correggios „Leda“ nicht störte. Auch die Vorbesitzerin des Gemäldes, die schwedische Königin Christina, die sich auch nach ihrer Abdankung und ihrem Ortswechsel nach Rom von dem Bild nicht trennte, hat „Prüderie nie gekannt“: „Auch die von bigotten Priestern angedrohte

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„Irrwahns“45 irgendwann zwischen 1726 und 173146 Correggios „Leda“47. Er zerschnitt das Bild in drei Teile, trennte Ledas Kopf heraus und verbrannte ihn. Die Bildmitte war damit komplett zerstört48. In diesem Zustand kam die „Leda“ in den Besitz des Rokoko-Malers CharlesAntoine Coypel, den Direktor der herzöglichen Sammlung49. Coypel bearbeite-

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ewige Höllenstrafe konnte die sinnenfrohe Königin nicht davon abbringen, ihre Kollektion ständig um erotische Kunstwerke zu erweitern. Den Erwerb von Correggios schwüler „Leda“ … feierte sie mit einem echt römischen Bacchanal.“ (O.V., Der Spiegel 32/1966). „Louis I. de Bourbon, duc d’Orléans (* 4. August 1703 in Versailles; † 4. Februar 1752 in Paris), auch kurz Louis d’Orléans genannt, … war der einzige legitime Sohn von Herzog Philipp II. de Bourbon, des Regenten von Frankreich (1715–1723) … Als frommer, wohltätiger und kultivierter Prinz nahm er wenig Anteil an der Politik seiner Zeit … Nach seinem Rückzug ins Privatleben beschäftigte er sich hauptsächlich mit der Übersetzung von Psalmen und Episteln Paulus’.“ (Wikipedia, Stichwort: Louis I. de Bourbon, duc d’Orléans). Waagen, Kunstwerke und Künstler in England und Paris, 1. Teil, S. 46. 1726 war das Jahr des frühen Todes von Louis’ Ehefrau Auguste Marie Johanna von Baden-Baden im Kindbett, 1531 das Jahr seines Rückzuges in die Abtei von St. Genevieve. Ähnliches geschah mit einer Kopie von Correggios Gemälde „Jupiter und Io“, damals ebenfalls im Palais Royal. „Durch Louis von Orleans, dem Sohn des Regenten, wurde der Gallerie ein unersetzlicher Verlust bereitet. In pietistischem Irrwahn schnitt er die Köpfe der Leda und der Io aus den Bildern des Correggio heraus und verbrannte sie. Das Gemälde der Leda wurde ausserdem in Stücke geschnitten und so wie das der Io ebenfalls zum Feuer verdammt.“ (Waagen: Kunstwerke und Künstler in England und Paris, 1. Teil, S. 46; siehe auch Röske, in: Reinink / Stumpel [Hrsg.], Memory & Oblivion, S. 266). Glaubt man Winckelmann (Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke, S. 54), so entging Correggios „Leda“ dem Schicksal der Enthauptung schon zuvor nur knapp bei der eher „sinnesfrohen“ schwedischen Königin Christina, als ihr durch den Prager Kunstraub 1618 die Sammlung Rudolph II., darunter die „Leda“, in die Hände gefallen war: Christina, „die zu derselben Zeit mehr Schulwissenschaft als Geschmack hatte, verfuhr mit diesen Schätzen, wie Kaiser Claudius mit einem Alexander von der Hand des Apelles, der den Kopf der Figur ausschneiden und an desselben Stelle des Augustus Kopf setzen ließ. Aus den schönsten Gemälden schnitt man in Schweden die Köpfe, Hände und Füße heraus, die man auf eine Tapete klebte; das übrige wurde dazugemalt. Dasjenige, was das Glück gehabt hat, der Verstümmelung zu entgehen, besonders die Stücke von Correggio, … kamen in den Besitz des Herzogs von Orleans …“ – wo die „Leda“ ihr Schicksal dann doch noch ereilte. „Charles-Antoine Coypel (* 11. Juli 1694 in Paris; † 14. Juni 1752 ebenda) war ein französischer Historienmaler und Dramatiker am Hofe Ludwigs XV. … Bereits 1722 war er Hauptmaler des Herzogs von Orléans geworden, der die Regentschaft für den noch minderjährigen König führte, und bezog Räumlichkeiten im Louvre. … Die Kunstkritik sieht ihn als den am wenigsten begabten Maler der Künstlerfamilie Coypel an, doch gelang ihm dank seines umtriebigen und energischen Wesens eine

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te das Bild und ergänzte fehlende Stellen50, wobei das neue Gesicht Ledas als wenig gelungen, als „schwarzer und gemeiner Kopf“ beschrieben wurde51. Aus dem Nachlass Coypels ging Correggios Gemälde durch verschiedene Hände und gelangte, zwischenzeitlich nochmals restauriert52, 1755 an Friedrich den Großen für dessen „Gallerie“ in Sanssouci53. Im Zuge der Napoleonischen Kriege kam Correggios Bild als Kunstraub vorübergehend nach Paris54, wo die „Leda“ dann 1808/09 ein weiteres Mal

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eindrucksvolle Karriere innerhalb der Kunstinstitutionen Frankreichs.“ (Wikipedia, Stichwort: Charles-Antoine Coypel). Man vermutet, dass Coypel das Bild nunmehr in drei eigenständige Gemälde verwandelte: Aus den gut erhaltenen seitlichen Teilen schuf er die hochformatigen Bilder „Amor mit den Putten“ und „Die badenden Gefährtinnen Ledas mit Schwan“. Im Mittelteil begradigte er die Bereiche um den herausgeschnittenen Kopf der Leda so, dass er das obere und untere Fragment zusammenschieben konnte. Den Kopf einer Dienerin behielt er über, hob ihn aber auf. Den Ledakopf musste er neu malen. (Stehr: Johann Jakob Schlesinger, S. 107). Waagen, Kunstwerke und Künstler in England und Paris, 1. Teil, S. 47. „Der nächste Besitzer, der ʻDepute du Commerce de Rouenʼ, Pasquier, ließ die Leinwandstücke von der Witwe des [Malers] Joseph Ferdinand Godefroid [MarieJacob Godefroid, * 1705; † 1775 – USch], welche zu jener Zeit als Restauratorin einen hohen Ruf hatte, wieder zusammensetzen und den Kopf und die Landschaft von dem Hofmaler Jacques Francois de Lyen [* 1684; † 1761] erneut restaurieren. Zwei Jahre später, 1755, erwarb der Herzog von Epinaille das so wiederhergestellte Bild für den Preußenkönig Friedrich den Großen.“ (Röske, in: Reinink / Stumpel [Hrsg.], Memory & Oblivion, S. 266). Friedrich II. bezahlte für das Gemälde gerade einmal 21.060 Livres, das entspricht, als vage Orientierung, etwa 100.000 bis 300.000 Euro – ein „Ankaufshit“ (Märkische Allgemeine Zeitung vom 09.05.2013). „Keiner der sittenstrengen preußischen Monarchen hätte ein derartig anstößiges und freizügiges Sujet erworben.“ (Sello, Die Zeit 14/1978). Friedrich wollte das Gemälde unbedingt; Ende November 1754 ließ er seinem Kunstagenten ausrichten, er müsse die „Leda“ „so wohlfeil kaufen, als er kann“ (Locker, in: Savoy [Hrsg.]: Tempel der Kunst, S. 227) – sie passte in die Sammlung: Friedrich wollte, so hatte er aufgetragen, „hübsche große Galeriegemälde aber keine hundsfoetischen Heiligen, die sie martern, sondern Stücke aus der Fabel oder Historie“. (Locker, a.a.O). Der russische Schriftsteller Anton Zailonow bemerkte das bei einem Besuch 1806 und fand eine Erklärung: „Es ist wirklich auffallend, daß man in der ganzen Gallerie, weder Bataillen, noch Martirgeschichten, noch sonst irgendein Sujet findet, daß eine trübe Erinnerung in uns hervorbringen könnte.“ (Zit. nach Wikipedia, Stichwort: Bildergalerie [Sanssouci]). Friedrich pflegte morgens gegen 11 Uhr für eine Stunde in seine „Gallerie“ zu gehen, „um im Anschaun der Kunst seine Regenten-Sorgen zu vergessen … nie kehrte er aus diesem Saale anders als mit heiterm Auge und einer wohlwollenden Miene zurück.“ (Zailonow, a.a.O.). Gibt es für so einen Umgang mit Kunst ein trefflicheres Bild als Correggios „Leda“? Von 1806 (nach anderen Quellen 1808) bis 1814; Correggios „Leda“ war hier zunächst im Louvre und dann in der Galerie des Musée Napoléon ausgestellt. (Locker, a.a.O., S. 229).

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von dem eigentlich sehr angesehenen Maler Pierre-Paul Proudʼhon55 mehr übermalt als restauriert wurde56.

III. Die „Leda“ und Friedrich II. – die Verfremdung Nach Rückgabe des Bildes nach Potsdam war man mit dem Aussehen des wiederum neu gestalteten Kopfes der Leda nicht zufrieden57. Dennoch wurde es 1830 auch im neu von Karl Friedrich Schinkel errichteten Königlichen Museum in Berlin58 „an zentraler Stelle“ ausgestellt59. Ab 1834 entfernte der Maler Jakob Schlesinger60, der „so gewissenhafte, als geschickte Restaurator 55

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„Pierre-Paul Prud’hon … Geboren am 4. April 1758 in Cluny, gestorben am 16. Februar 1823 in Paris. – Nach dem Studium in Paris und Dijon ging Prudʼhon 1784 mit einem Preis der dortigen Akademie nach Rom … Unter den älteren italienischen Meistern beeindruckte ihn Correggio am meisten. 1799 zurück in Paris, schloss er sich der Revolution an …; durch die zunehmenden offiziellen Aufträge, die teils mit Napoleon in Verbindung standen, vermehrte sich sein Ruhm.“ (Die Pinakotheken [https:// www.pinakothek.de /kunst/pierre-paul-prud-hon/die-weisheitund-die-wahrheit-steigen -zur-erde-nieder]). Grund der erneuten Restaurierung könnten Transportschäden gewesen sein. (Näher Stehr: Johann Jakob Schlesinger, S. 108). Proud’hon, auch als der „französische Correggio“ bezeichnet, war Maler, nicht Restaurator. Offenbar war den Franzosen die Instandsetzung der „Leda“ eine „Prestigeangelegenheit“, die sie nicht den Restauratoren des Louvre anvertrauen wollten, sondern „einem der angesehensten Maler der Zeit“ (Savoy: Kunstraub, S. 334) – ein Fehler? Das ungefähre Aussehen der „Leda“ nach dieser Überarbeitung kann man einem Kupferstich des Bildes von Henri-Charles Müller von 1815 entnehmen; der von Prud’hon gemalte Kopf kam offenbar dem ursprünglichen recht nahe. „Als Anlaß … darf man vermuten, daß der neue Kopf Proud’hons bei der Rückkehr des Bildes aus Paris befremdlich gewirkt haben muß und von früheren Sehgewohnheiten abwich. Maßgeblicher jedoch dürfte eine ʻvaterländischʼ nationale Denkrichtung in Preußen gewesen sein“, die zur Ablehnung (und schließlich zur Beseitigung) „des ʻfranzösischenʼ Ledakopfes führte“. (Stehr, a.a.O., S. 109). Die zunächst in der Bildergalerie im Park des Schlosses Sanssouci in Potsdam untergebrachte „Leda“ wechselte auf Anordnung Friedrich Wilhelms III. zusammen mit Dutzenden anderen Gemälden sogleich in das von 1825 bis 1830 errichtete Königliche Museum auf der Berliner Museumsinsel, dem heutigen Alten Museum. Dort blieb das Gemälde bis zur Eröffnung des Kaiser-Friedrich-Museums (des heutigen Bode-Museums) ebendort im Jahre 1904. Penzel, Der Betrachter ist im Text, S. 180; 183. „Jakob Schlesinger … (* 13. Januar 1792 in Worms; † 12. Mai 1855 in Berlin) war ein deutscher Maler und Restaurator. 1822 erhielt er eine Anstellung als Professor und Generalrestaurator an den königlichen Museen zu Berlin. … Jakob Schlesinger war nicht nur ein guter Maler, sondern auch ein ausgezeichneter Kopist mit einer Vorliebe für Werke aus dem 16. Jahrhundert. … Besonderes Talent entwickelte Schlesinger für das Restaurieren von Gemälden. Auf diesem Feld erwarb er sich einen bedeutenden Ruf …“ (Wikipedia, Stichwort: Jakob Schlesinger).

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des Museums“61, jedoch wieder weitgehend sämtliche Restaurierungen und malte den Kopf der Leda völlig neu62. In diesem Zustand kennen wir das Gemälde heute. Der von Schlesinger hergestellte neue Kopf weicht jedoch von dem ursprünglich von Correggio gemalten nicht unerheblich ab, insbesondere in seiner mehr seitlich geneigten Stellung, vor allem aber im Gesichtsausdruck Ledas63. Denn wie die „Original-Leda“ vor der Beschädigung und ihren ganzen Restaurierungen ausgesehen hatte64, ist dank einer präzisen Kopie des Gemäldes des spanischen Hofmalers Eugenio Caxés bekannt65. Caxés hatte die Kopie im Auftrag von Karl V. zur Erinnerung angefertigt, als der sich 1603 von dem Bild trennte. Das Gemälde zeigte demnach vor seiner Zerstörung eine Leda, die ihren Kopf sehr weit nach vorne streckt, sodass sich ihr Gesicht mehr dem Betrachter darbietet66: Ihre Augen sind nicht voller Scham niedergeschlagen, sondern leicht geöffnet. Außerdem ist ihr Lächeln deutlich vergnügter. Sie hält ihren Kopf, als würde sie gekitzelt, und ihre gesamte Kopfbewegung folgt viel deutlicher der Bewegung des Schwans. In Ledas Gesicht spiegeln sich Freude und Lust.

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Waagen, Kunstwerke und Künstler in England und Paris, 1. Teil, S. 46. Näher Röske, in: Reinink / Stumpel (Hrsg.), Memory & Oblivion, S. 270 ff. Schlesinger veränderte auch die Dienerin in dem blauen Gewand direkt neben Leda, die auch etwas bei der Zerstörung des Bildes durch Louis I. von Orléans abgekommen hatte und deren Kopf von Coypel zunächst ganz entfernt wurde, der bei den späteren Restaurierungen aber wohl wieder werkgetreu eingefügt worden war. Schlesinger korrigierte zum einen die ziemlich ungelenke Haltung des linken Arms; zum anderen verschob er den Kopf 4 cm nach oben und 3 cm nach rechts, denn die Köpfe der Leda und dieser Dienerin standen räumlich sehr dicht nebeneinander. Schlesinger korrigierte damit zwei Schwächen des Gemäldes Correggios. (Stehr: Johann Jakob Schlesinger, S. 110). Schlesinger soll sogar für das ursprüngliche Aussehen der Leda „Kartons [Vorzeichnungen in Originalgröße – USch], die noch aus Italien aufgetrieben werden konnten“, zur Verfügung gehabt haben. (Röske, in: Reinink / Stumpel [Hrsg.], Memory & Oblivion, S. 270). Eugenio Caxés (* 1577; † 1634), La fábula de Leda (Die Fabel von Leda) (1603); Madrid, Museo del Prado. Dieser Befund wird bestätigt durch den erhaltenen (seitenverkehrten) Kupferstich des französischen Graphikers Gaspard Duchange (* 1662; † 1757), einem der bedeutendsten Correggio-Interpreten in der Druckgraphik, der auf seinem Stich 1711 die Kopfhaltung und Mimik bei Correggios Leda genauso wie Caxés ansetzte. (Gaspard Duchange: Jupiter et Leda [1711]; Cambridge, Fogg Art Museum). Schmalisch, Il Correggio – Leda mit dem Schwan, S. 29 f.

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Betrachten wir lediglich Gesicht und Oberkörper der Leda, so wirkte sie ursprünglich bei Correggio mit ihren ausgestreckten Armen wie ein Mädchen, das sich selbstvergessen im Tanze dreht – das unschuldige Genießen einer den ganzen Körper durchströmenden Lustempfindung wird hier anschaulich67.

Man kann hierin deshalb durchaus die Erklärung dafür sehen, dass Louis von Orléans Ledas Gesicht unwiederbringlich zerstört hatte, jedoch „die eigentlich viel anzüglichere Darstellung der geschlechtlichen Vereinigung zwischen Mädchen und Schwan erhalten blieb“68. Dieser damals anscheinend als „gefährlich“ empfundenen Wirkung der vormals „lasziven“ Darstellung der Leda durch Correggio69 konnte sich offenbar auch der Restaurator Schlesinger nicht entziehen70: „Die ursprüngliche Komposition wurde … nicht wieder hergestellt. Ledas Gesicht ... hat mit dem Original nicht mehr viel gemeinsam.“ Vielmehr wurde „aus der freudig genußvollen Leda Correggios … ein schamvolles Mädchen mit niedergeschlagenem Blick und schüchternem Lächeln.“ Dieser dem damaligen Zeitgeschmack angepasste Gesichtsausdruck71 harmoniert auch nicht mehr so richtig zu dem skeptisch-neugierig-wissenden Blick Ledas „davor“ und dem zufrieden-dankbaren Blick Ledas „danach“ in den simultanen Darstellungen am rechten Rand des Gemäldes Correggios. Den Kopf hat Schlesinger offenbar seitenverkehrt von Raffaels „Madonna Colonna“72 übernommen73, die sich seit 1827 ebenfalls im Königlichen Muse67 68 69

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Röske, in: Reinink / Stumpel (Hrsg.), Memory & Oblivion, S. 269. Schmalisch, Il Correggio – Leda mit dem Schwan, S. 30. Siehe dazu Röske, in: Reinink / Stumpel (Hrsg.), Memory & Oblivion, S. 269 f.: „Daß es sich bei dem … Duc dʼOrleans, der den Kopf der Leda zerstören ließ, nicht bloß um einen irregeleiteten Einzelgänger handelte, belegt die Rechtfertigung der Tat durch Mariette 1753. In dem … Text der Nachlaßversteigerung Coypels [Mariette: Catalogue des tableaux, S. 2 – USch] heißt es über die ebenfalls verstümmelte Kopie des Correggio-Gemäldes ʻJupiter und Ioʼ: ‚Diejenigen, welche es in seinem ersten Zustand ʻgesehen haben, sind sich darin einig, daß das sehr laszive Motiv gefährlich sein konnteʼ und daß der Herzog ʻweise gehandelt habe, als er den Entschluß faßte, es zu zerstörenʼ.“ Schmalisch, Il Correggio – Leda mit dem Schwan, S. 30. Stehr (Johann Jakob Schlesinger, S. 110; 111) hat auf die damals, nicht zuletzt auch dem „königlichen Kunstsinn“ Friedrich Wilhelm III. entsprechende „Raffaelverehrung“ der damaligen Zeit hingewiesen (dazu noch sogleich). Raffael, Madonna Colonna (1507/08); Berlin, Gemäldegalerie. Das Bild befand sich bis 1827 in der Collezione Duchessa Maria Colonna Lante della Rovere, daher der Name.

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um in Berlin befand und im gleichen Jahr von Schlesinger restauriert und kopiert worden war74. Damit wurde der Leda jedoch „im Moment des Geschlechtsaktes ein Jungfrauengesicht gegeben“; ein Madonnengesicht, das Unschuld und innige Frömmigkeit ausdrückt, was „mit Sicherheit nicht im ursprünglichen Sinne Correggios“ gewesen sein kann75.

IV. Die „Leda“ und Wilhelm II. – die Verfolgung Die nächste Aufregung um Correggios „Leda“ ließ nur wenige Jahrzehnte auf sich warten: Nach dem Aufkommen von neuen, verbilligten Reproduktionstechniken in der Fotografie begann Ende des 19. Jahrhunderts der Siegeszug der Ansichtskarte. Viele Karten zeigten Abbildungen von Werken der Bildenden Kunst, schwarzweiß oder nachträglich koloriert. Im Deutschen Reich kamen alsbald findige Buch- und Kunsthändler auf die Idee, Ansichtskarten mit bekannten Kunstwerken, auf denen nackte Frauen gemalt oder modelliert waren, im Schaufenster auszustellen und so (männliche) Aufmerksamkeit auf ihr Ladengeschäft zu lenken. Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte wollten einschreiten, standen aber vor dem Dilemma, dass sie dann eigentlich auch die in den Museen gezeigten Vorlagen der Kunstpostkarten, also die (Original-)Werke 73 74

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Röske, in: Reinink / Stumpel (Hrsg.), Memory & Oblivion, S. 271 f.; Stehr: Johann Jakob Schlesinger, S. 110. Näher Stehr, a.a.O., S. 53 f. Schlesingers Kopie der „Madonna Colonna“ befindet sich seit 1857 in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Allerdings muss irritieren, dass sich in Coypels Werkverzeichnis die Abbildung einer immer im Familienbesitz verbliebenen undatierten Zeichnung (D. 110: „Tête de femme penchée vers la droite, yeux baissés“) „von bemerkenswerter Qualität“ findet, die „offensichtlich von der Art und Weise des Correggio inspiriert“ ist (Lefrançois: Charles Coypel, Peintre du roi, S. 466 f.). Sie zeigt genau diejenige Kopfhaltung – wie Raffaels „Madonna Colonna“ spiegelverkehrt –, die Schlesinger Correggios „Leda“ gab. Ist das ein bloßer Zufall, war Coypel vielleicht Raffaels Gemälde bekannt (sein Vater Antoine [* 1661; † 1722], ebenfalls Hofmaler, war als Junge von 1672 bis 1674 in Rom gewesen und hatte dort zahlreiche Werke Raffaels kopiert) – oder hatte doch schon Charles-Antoine Coypel der „Leda“ die Kopfstellung und jenen Gesichtsausdruck verliehen, den wir heute kennen, worauf Schlesinger dann im Zuge seine Restaurierung unter den Übermalungen gestoßen sein könnte? Schmalisch, Il Correggio – Leda mit dem Schwan, S. 30. Correggio malte zwar sehr wohl solche Gesichter mit niedergeschlagenem Blick – dann jedoch tatsächlich für die Jungfrau Maria wie beispielsweise bei der wenige Jahre vor der „Leda“ entstandenen „Maria mit dem Heiligen Hieronymus“ („Il giorno“, 1527/28; Parma, Galleria Nazionale). Der Blick gilt als Inbegriff weiblicher Keuschheit, da Maria ihren Sohn unbefleckt empfangen hat.

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berühmter Maler und Bildhauer als „unzüchtige Darstellungen“ im Sinne des damaligen Pornographieparagraphen76 hätten einordnen müssen. Unter Wilhelm II., ohnehin empört über „Schmutz und Schund“, wurde deshalb versucht, als Ausweg gesondert das zu geschäftlichen Zwecken erfolgende öffentliche Ausstellen von Abbildungen, „welche ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzen“, unter Strafe zu stellen – vergeblich77. Die Justiz unternahm es dennoch, das Auslegen zahlreicher Fotografien von Kunstwerken von Tizian, Rubens und vielen anderen Alten Meistern in Schaufenstern zu verfolgen. Obwohl Correggios „Leda“ nach den Anpassungen an den Zeitgeist durch Schlesingers Restaurierungen eigentlich ein seit der Biedermeierzeit gefälliges Frauenbild widerspiegelt, „erwischte“ es auch seine „Leda“: 1913 erklärte das Landgericht Berlin Postkarten mit Correggios Gemälde zu strafrechtlich verbotenen „unzüchtigen Abbildungen“, wenn sie außerhalb eines Museums verkauft werden78:

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§ 184 Abs. 1 RStGB i.d.F. von 1888 bis 1900: „Wer unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen verkauft, vertheilt oder sonst verbreitet, oder an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt, wird mit Geldstrafe bis zu dreihundert Mark oder mit Gefängniß bis zu sechs Monaten bestraft“. Vor dem Hintergrund eines Mordprozesses im Jahr 1891 in Berlin gegen einen Zuhälter namens Gotthilf Heinze und seine Frau Anna, eine Prostituierte, der ein enormes Echo in der Öffentlichkeit auslöste, gab Kaiser Wilhelm II. eine Proklamation heraus, in der die Regierung aufgefordert wurde, strengere Gesetze gegen Prostituierte und deren Umfeld auszuarbeiten. Ein erster Entwurf einer „Lex Heinze“ vom 29.02.1892 kam im Reichstag aus verschiedenen Gründen jedoch nicht einmal zur Ersten Lesung. Erst 1899 brachten die Reichsregierung sowie die Fraktion der Zentrumspartei zwei neue Entwürfe zu einer „Lex Heinze“ in den Reichstag ein, die dort miteinander verbunden wurden. Darin befand sich nun aber neben Vorschriften, die die strafrechtlichen Verbote im Bereich der Prostitutionsdelikte, insbesondere der Zuhälterei, ausweiten sollten, auch ein sogenannter Kunstparagraph. Durch diesen auch (und treffender) als „Schaufensterparagraph“ bezeichneten § 184a RStGB-E sollte es unter anderem bestraft werden können, „Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, welche, ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzen, … zu geschäftlichen Zwecken … in Ärgernis erregender Weise“ öffentlich (z.B. in Schaufenstern) auszustellen oder anzuschlagen. Der geplante Kunst- (und ein in die gleiche Richtung zielender „Theater“-)Paragraph löste vor allem in Intellektuellenkreisen starken Protest aus. Mit Unterstützung der Sozialdemokraten erreichte die Gegenwehr im Reichstag erhebliche Änderungen, so dass die Dritte Lesung der „Lex Heinze“ im Reichstag am 22.05.1900 zu einer weitgehenden Kompromissfassung führte: Die aus Zentrum und Konservativen gebildete Reichstagsmajorität verzichtete neben dem „Theaterparagraphen“ und auf den Kern des „Schaufensterparagraphen“. Siehe dazu auch Halecker: Wenn die Muse das Recht (scheinbar) küsst … (in diesem Band). LG Berlin, Urteil vom 21.06.1913, zit. nach Leiss, Kunst im Konflikt: S. 258 f. Und weiter: „Angeklagter kann sich auch nicht darauf berufen, daß die Postkarte, wie der

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Trotzdem es sich um die Wiedergabe eines anerkannten Kunstwerkes handelt, wirkt die Darstellung mit Rücksicht darauf, daß sie auf einer Postkarte im Schaufenster dem Straßenpublikum, von dem ein großer Teil den Künstler gar nicht kennt und gar nicht weiß, daß es sich um ein Kunstwerk handelt, zugänglich gemacht wird, wegen dieser Art der Darstellung schamverletzend. Die Postkarte ist daher objektiv unzüchtig.

Nun dürfte es aus heutiger Sicht kaum einem Zweifel unterliegen, dass das Gemälde Correggios den Tatbestand der Tierpornographie in § 184a Alt. 2 des deutschen Strafgesetzbuchs erfüllt, auch wenn es – genaugenommen – nicht um den dort pönalisierten Kontakt „von Menschen mit Tieren“, sondern von „Tier mit Mensch“ geht79. Es genügt, dass eine Handlung dargestellt wird, die, wäre sie zwischen Menschen vorgenommen, eine sexuelle Handlung im Sinne des Strafgesetzbuchs wäre. Freilich kann sich heute nicht nur der Direktor der Berliner Gemäldegalerie, der das Original zeigt, sondern jeder Verkäufer einer Correggio-Kunstpostkarte erfolgreich darauf berufen80, dass nach dem Grundge-

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Aufdruck ergibt, im Auftrage der Verwaltung der Königlichen Museen zu Berlin hergestellt ist, und im Kaiser-Friedrich-Museum, wo sich das Original befindet, verkauft wird. Im Lichte der vollen Öffentlichkeit wird manches als anstößig verpönt, was Sitte und Konversion in der mehr oder weniger beschränkten Öffentlichkeit eines Museums als unanstößig gestattet. Wenn die Karte im Museum ausgestellt wird, so wird sie dort mit Rücksicht auf das dort verkehrende Publikum und die Weihe des Ortes ihres unzüchtigen Charakters entkleidet und dient und wirkt nur als Kunstwerk. Dem in dem Museum verkehrenden kunstliebenden Publikum, das die Karte kauft, dient diese dazu und wird zu diesem Zwecke gekauft, eine bleibende Erinnerung an den gesamten Kunstgenuß zu haben, nicht aber zu dem Zwecke, um die Darstellung sinnlich auf sich wirken zu lassen.“ Genaueres zu dem Verfahren teilt Leiss nicht mit. Ferner berichtet Leiss, a.a.O., S. 259: „Am 8.7.[1913] erklärt die 12. Strafkammer des Landgerichts Berlin die Karte … ʻLeda mit dem Schwanʼ (… bunt) für unzüchtig, wie aus einem Bericht des Oberstaatsanwalts bei dem Königlichen Kammergericht an das Preußische Justizministerium vom 7.11.1913 hervorgeht. Die Gründe für die Erkenntnis sind in dem Bericht nicht enthalten“. § 184a Abs. 1 Alt. 2 StGB: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine pornographische Schrift (§ 11 Absatz 3), die … sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum Gegenstand hat, 1. verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht oder 2. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, bewirbt …“. Siehe BVerfGE 77, 240 (252) – Herrnburger Bericht: „Deutlich herausgestellt hat [das Bundesverfassungsgericht] … in seiner bisherigen Rechtsprechung, daß die Kunstfreiheit nicht nur die eigentliche künstlerische Betätigung, den ʻWerkbereichʼ des künstlerischen Schaffens, schützt. Sie umfaßt auch den ʻWirkbereichʼ, in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird, also seine Darbietung und Verbreitung (vgl. BVerfGE 30, 173 [189] [Mephisto]; 36, 321 [331] [Schallplatten]; 67, 213 [224] [Anachronistischer Zug]). Zu diesem Wirkbereich zählen auch die Medien, die durch Vervielfältigung, Verbreitung und Veröffentlichung eine unentbehrliche Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum ausüben (BVerfGE 36, a.a.O.)“.

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setz die „Kunst … frei“ ist81 – eine Einschränkung, die damals noch unbekannt war82.

V. Die „Leda“ und Adolf Hitler – die Cupid Eine gänzlich andere Geschichte weiß Correggios „Leda“ aus den 1920er Jahren zu erzählen. Ein früher Weggefährte Adolf Hitlers, der „skurrile“83 Ernst Hanfstaengl84, beschrieb in seinen „Erinnerungen“, wie er 1923 Hitler ins KaiserFriedrich-Museum85 begleitet hatte86. Hitler habe, hektisch vorweglaufend, versucht, ein Werk von Michelangelo zu finden87. Als Hanfstaengl ihn in einem Ne81 82

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Art. 5 Abs. 3 GG, „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ Erstmalig regelte Art. 142 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 die Kunstfreiheit neben der Freiheit von Wissenschaft und Lehre, erlaubte künstlerisches Schaffen aber „nur ... aufgrund und innerhalb der Schranken des Gesetzes“. (Näher Anschütz: Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung, Art. 142 Anm. 3 [S. 660]). Erst ab der „Mephisto“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1971 (BVerfGE 30, 173 [191 ff.]) war geklärt, „daß die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind“ und nicht schon von einzelnen (StGB-)Paragraphen. Vielmehr sei „ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen“ – bei einem tierpornographischen Bild wie der „Leda“ Correggios ist das Ergebnis pro Kunstfreiheit einer solchen Auslegung eindeutig vorherbestimmbar. O.V., Gestorben: Ernst Hanfstaengl, Der Spiegel 47/1975. „Ernst Franz Sedgwick Hanfstaengl (genannt ‘Putziʼ, * 2. Februar 1887 in München; † 6. November 1975 ebenda) war ein deutsch-amerikanischer Geschäftsmann, Kunsthändler, politischer Aktivist und Politiker. Er wurde vor allem als finanzieller Unterstützer und Freund Hitlers in den 1920er-, als Auslands-Pressechef der NSDAP in den 1930er-Jahren und später als Mitarbeiter Franklin D. Roosevelts bekannt … Im November 1923 war Hanfstaengl am Hitlerputsch beteiligt …“ (Wikipedia, Stichwort: Ernst Hanfstaengl). Die „Leda“ war 1904 bei Eröffnung des Kaiser-Friedrich-Museums, des heutigen Bode-Museums, vom Königlichen Museum innerhalb der Museumsinsel dorthin umgezogen. Hanfstaengl, Zwischen Weißem und Braunem Haus, S. 72 f. Offenbar verwechselte er Michelangelo (Buonarroti) (* 1475; † 1564) mit (Michelangelo Merisi da) Caravaggio (* 1561; † 1610), so Hanfstaengl, a.a.O., S. 73 f. („peinliche Szene“, „blind für … Maltechnik“, „blamable Besserwisserei“). Das Kaiser-Friedrich-Museum besaß damals überhaupt keinen Michelangelo, aber mehrere Caravaggios (neben dem berühmten „Amor als Sieger“ [1601/02] die im Flakbunker in Friedrichshain im Mai 1945 verbrannten Gemälde „Porträt einer Kurtisane [Fillide Melandroni]“ [1597/98], „Der Evangelist Matthäus mit dem Engel“ [1602] und „Christus am Ölberg“ [1603/05]).

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benkabinett fand, sei er „tief versunken“ vor Correggios Gemälde gewesen. „Wie ein ertappter Schulbub“ sei Hitler zusammengeschrocken. Er habe erklärt, wie sehr ihn an diesem Bild „das wundervolle Spiel des Lichts auf den Körpern der badenden Nymphen im Hintergrund“ fasziniere. Hanfstaengl spottete über Hitlers „krampfhaftes Bemühen, sein offensichtliches Voyeurvergnügen an dem … Vordergrundgeschehen hinter einer kindischen Ausrede zu verbergen“. Als ein Hochzeitsgeschenk für den kunstvernarrten und selbst ernannten „Renaissancemenschen“88 Hermann Göring ließ Hitler 1935 eine Kopie des Berliner Bildes von Correggios „Leda“ anfertigen89. Wie sehr Hitler von Correggios „Leda“ angezogen worden sein dürfte, zeigt sich vielleicht auch an einem Vorkommnis einige Jahre später: Hitler, über dessen Sexualität bis heute spekuliert wird, bestand 1937 darauf, dass ein von ihm höchstpersönlich ausgewähltes Gemälde des deutsch-österreichischen Malers Paul Mathias Padua90 auf der ersten Großen Deutschen Kunstausstellung im Haus der Deutschen Kunst in München, die doch eigentlich repräsentativ für die Kunst im Nationalsozialismus sein sollte, ausgestellt wurde. Padua, einer der bekanntesten Maler der deutschen NS-Propagandakunst, hatte ein Gemälde mit einem besonderen Motiv geschaffen: Leda mit einem Schwan, dargestellt als brutale Vergewaltigung. Bayerische NSDAP-Politiker, die die Ausstellung zu organisieren hatten, intervenierten vergeblich bei Hitler gegen das Bild91. Joseph Goebbels’ Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda sah sich letztlich

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Siehe Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches, S. 103. The German Art Mystery, Life vom 31.12.1945, S. 25. „Paul Mathias Padua (* 15. November 1903 in Salzburg; † 22. August 1981 in Rottach-Egern) war ein deutscher Maler. Er fühlte sich der Tradition des von Adolf Hitler sehr geschätzten Realisten Wilhelm Leibl verpflichtet und war in der Zeit des Nationalsozialismus als Künstler ausgesprochen erfolgreich. … Er wurde im Dritten Reich als Künstler anerkannt und war auf den Großen Deutschen Kunstausstellungen 1938–1944 im Haus der Deutschen Kunst zu München mit 23 Werken, darunter Stillleben und weibliche Akte, vertreten. Bis 1943 malte er einige der bekanntesten Bilder der deutschen NS-Propagandakunst, etwa ʻDer Führer sprichtʼ, in dem Adolf Hitler als Inbegriff der nationalsozialistischen Religionsauffassung propagiert wird. Das Gemälde ʻDer 10. Mai 1940ʼ, das den Beginn des Westfeldzuges heroisiert, orientiert sich stilgeschichtlich am Realismus des 19. Jahrhunderts …“ (Wikipedia, Stichwort: Paul Mathias Padua). Den NSDAP-Gauleiter von München und bayerische Kultusminister Adolf Wagner, den Organisator der Ausstellung, soll Hitler angeherrscht haben: „Halten Sie endlich den Mund!“ (Brügge, Der Spiegel 40/1965).

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gezwungen, den deutschen Zeitungen wenigstens zu verbieten, über das Bild zu berichten und erst recht, es abzubilden. Später erwarb Hitler Paduas „Leda“-Bild für 3.700 Reichsmark sogar privat für seinen Berghof auf dem Obersalzberg92.

VI. Die „Leda“ und ich – die Quintessenz Kommen wir zum Ende: Kann man ein Gemälde wie Correggios „Leda“, das Hitler so sehr gefiel, dass es als sein „Lieblingsbild“ bezeichnet worden ist93, wirklich als das „vielleicht schönste Gemälde der Renaissance“ bezeichnen? 92

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Brügge, a.a.O. An anderer Stelle wird Padua mit den Worten zitiert, Hitler habe das Gemälde „für nur 6000 Mark“ gekauft (Gailerfineartchiemsee.de [https://www.gailer fineartchiemsee.de/index.php/rueckblick/padua-paul-matthias]). Der Vollständigkeit halber: 1941 kaufte Hitler (nach anderen Quellen Hermann Göring) unter nicht näher bekannten Umständen in Italien von der Gräfin Margherita Gallotti-Spiridon für 1,3 Millionen RM die mittlerweile zumeist dem LeonardoSchüler Francesco Melzi zugeschriebene Kopie der Leda von Leonardo da Vinci („Spiridon-Leda“), die heute in den florentinischen Uffizien hängt (näher o.V., Der Spiegel 53/1949). Für das von Hitler geplante „Führermuseum“ in Linz wurde im Februar 1943 über Hitlers Kunsthändler Haberstock Paolo Veroneses „Leda e il cigno“ aus Frankreich für 127.0000 RM, obwohl Hitler den Maler nicht mochte, wegen des Sujets angekauft (siehe dazu Feliciano: Das verlorene Museum, S. 149). Ebenfalls für dieses Museum war eine „Leda mit dem Schwan“ des französischen Malers August Galimard (* 1813; † 1880) von 1855 vorgesehen (heute Linz, Schlossmuseum). Galimards Leda hatte übrigens 1855 anlässlich der Weltausstellung in Paris ausgestellt werden sollen, war aber von der Jury wegen Unschicklichkeit abgelehnt worden. Siehe dazu Feliciano, a.a.O., S. 30. Übrigens hat auch Michael Eissenhauer, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin und Direktor der Gemäldegalerie, das Bild als eines seiner „Lieblingsstücke“ bezeichnet. (Museum and the City vom 23.03.2018 [https://blog.smb.museum/lieblingsstuecke-des-generaldirektors-leda-mit-dem-schwan/]). Allerdings überrascht dann ein wenig, dass Correggios „Leda“ in der Berliner Gemäldegalerie nicht gerade auf einem besonderen Ehrenplatz hängt. Sie befindet sich im Raum XVI direkt neben einer Durchgangstür, umrahmt von Manieristen aus dem lombardischen Raum, bis auf den direkten Nachbarn Parmigianino (* 1503; † 1540: Il Battesimo di Cristo [DieTaufe Christi], um 1519) wenig namhaft (Luca Cambiaso [* 1527; † 1585]: Caritas, um 1570; Bernardino Fasolo [* 1489; † 1526/27]: Una Sacra Famiglia [Eine Heilige Familie, um 1518). Im Königlichen Museum hatte Correggios „Leda“ als „Mittelpunkt“, als das „wichtigste Gemälde aus den königlichen Schlössern“ gegolten (Vogtherr, JbBerlMus 47 [2005], S. 64). Es hing „im Zentrum des mittleren Saals“ und schuf so „beim Eintreten der Besucher einen ästhetisch erhebenden Auftakt“ (Penzel: Der Betrachter ist im Text, S. 180), die das Gemälde „vermutlich“ schon gleich nach dem Betreten des Museums von der Rotunde aus „durch die geöffnete Mitteltür“ sehen konnten (Skwirblies: Altitalienische Malerei als preußisches Kulturgut, S. 320).

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Ich meine durchaus. Hitler mochte auch Schäferhunde oder die Musik Richard Wagners – beides mögen viele von uns heute dennoch. Ohnehin hat Hitler sich offenbar weniger zu dem Renaissance-Gemälde an sich als zu dem sehr speziellen Motiv hingezogen gefühlt94. Meine gewissen Bedenken, Correggios „Leda“, so wie wir das Bild kennen, auf eine Stufe mit Leonardos „Abendmahl“, der „Sixtinischen Madonna“ Raffaels oder dem „Jüngsten Gericht“ Michelangelo zu stellen, löst jedoch das Gesicht Ledas aus. Das ist nicht das von Correggio gemalte, sondern letztlich ein von Raffael kopiertes Antlitz. Correggio kreierte ein anderes Bild, vielleicht schöner und harmonischer, jedenfalls aber mit einer ganz anderen Ästhetik95. Aber selbst wenn ich darüber hinwegsehe, muss sich in meinen Augen Correggios „Leda“ den Titel mit dem wohl schönsten Gemälde der Frührenaissance, Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ aus den Uffizien in Florenz, teilen! Doch von diesem Bild, glücklich den Scheiterhaufen im Gottesstaat des Bußpredigers Savonarola entgangen96, und von dem kurzen Leben von Botticellis 94

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Falls man Hanfstaengl (Zwischen Weißem und Braunem Haus, S. 73) glaubt, verging „in der Ära des Dritten Reiches … kaum ein Jahr, in dem nicht irgendeiner der konjunkturbeflissenen Aktmaler Hitler mit einer neuen Darstellungsvariante des Leda-Schwan-Motivs beglückte und dafür dann auch prompt mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde“. Wie gesagt, f a l l s man ihm glaubt: „Historiker greifen [auf Hanfstaengls Erinnerungen] gern als Quellen zurück, lesen sie allerdings mit besonders kritischen Augen. Als Zeitzeuge ist der fantasievolle Hanfstaengl so unzuverlässig und eitel, wie er es in der Zeit selbst war.“ (Kippenberger, Tagesspiegel.de vom 27.10.2013). Siehe dazu „radikal“ Röske, in: Reinink / Stumpel (Hrsg.), Memory & Oblivion, S. 272: „Es sollte meines Erachtens ernsthaft erwogen werden, diese ʻVerdrängungʼ eines Meisterwerkes durch ein Sittlichkeitsempfinden des frühen 19. Jahrhunderts aufzuheben mit Hilfe einer wirklichen Restaurierung zugunsten eines erhellenden Blicks in eine Zeit, deren Verhältnis zum menschlichen Körper wir … immer noch nicht begreifen.“ „Girolamo Maria Francesco Matteo Savonarola (lateinisch Hieronymus Savonarola; * 21. September 1452 in Ferrara; † 23. Mai 1498 in Florenz) war ein italienischer Dominikaner und Bußprediger. Er erregte Aufsehen mit seiner Kritik am Lebenswandel des herrschenden Adels und Klerus und war faktisch Herrscher über Florenz von 1494 bis kurz vor seiner Hinrichtung 1498. … 1497 ließ Savonarola große Scharen von Jugendlichen und Kindern (ʻFanciulliʼ) durch Florenz ziehen, die ʻim Namen Christiʼ alles beschlagnahmten, was als Symbol für die Verkommenheit der Menschen gedeutet werden konnte. Dazu zählten nicht nur heidnische Schriften … oder pornographische Bilder, sondern auch Gemälde, Schmuck, Kosmetika, Spiegel, weltliche Musikinstrumente und -noten, Spielkarten, aufwendig gefertigte Möbel oder teure Kleidungsstücke. Teilweise lieferten die Besitzer diese Dinge auch selbst ab,

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mutmaßlichem Venus-Modell Simonetta Vespucci97, dem „Pin-Up-Girl des Goldenen Zeitalters der Stadt Florenz“98, kann ich Ihnen leider heute nicht auch noch erzählen.

Literatur ANSCHÜTZ, GERHARD, Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung. 14. Auflage 1933. BRUCHER, GÜNTER, Geschichte der venezianischen Malerei, (bislang) 6 Bde., 2007–2019. BRÜGGE, PETER, Die eigene Tochter erkannte er nicht, Der Spiegel 40/1965. FELICIANO, HECTOR, Das verlorene Museum: Vom Kunstraub der Nazis, dt. 1998. FEST, JOACHIM, Das Gesicht des Dritten Reiches, München 1963. FIORILLO, JOHANN DOMINIK, Geschichte der Zeichnenden Künste von ihrer Wiederauflebung bis auf die neuesten Zeiten, 5. Bde., 1798–1808. GRONAU, GEORG, Correggio – Des Meisters Gemälde, 1907. GRUNENBERG, NINA, Im Paradies der warmen Gefühle, Die Zeit 13/1979. HANFSTAENGL, ERNST, Zwischen Weißem und Braunem Haus. Memoiren eines politischen Außenseiters, 1970.

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sei es aus tatsächlicher Reue oder aus Angst vor Repressalien. Am 7. Februar 1497 und am 17. Februar 1498 wurden all diese Gegenstände auf einem riesigen Scheiterhaufen auf der Piazza della Signoria verbrannt. Der Maler Sandro Botticelli warf einige seiner Bilder selbst in die Flammen.“ (Wikipedia, Stichwort: Girolamo Savonarola). „Simonetta Cattaneo Vespucci (* vermutlich am 28. Januar 1453 in Porto Venere oder Genua; † 26. April 1476 in Florenz) galt als die schönste Frau von Florenz und inspirierte mehrere Künstler der italienischen Renaissance. … Piero di Cosimo stellte sie als Kleopatra bzw. Proserpina mit blondem langem Haar dar. Sandro Botticelli soll sie – gemäß früheren ikonographischen Erläuterungen der Kunstgeschichte – in seinem Werk ‘Die Geburt der Venusʼ sowie in zahlreichen anderen allegorischen Madonnen- und Porträtdarstellungen verewigt haben. Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich verwarf diese Theorie. Durch neue vergleichende Gegenüberstellungen in einer Botticelli-Retrospektive im Frankfurter Städel Museum 2009/10 ist sie jedoch erneut ins Blickfeld gerückt.“ (Wikipedia, Stichwort: Simonetta Vespucci). O.V., Botticelli im Frankfurter Städel. Schönheit im Gemetzel, FR.de vom 12.11.2009 (https://www.fr.de/kultur/schoenheit-gemetzel-11527995.html).

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JAFFÉ, ERNST, Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Architekten der Renaissance. Nach Dokumenten und mündlichen Berichten dargestellt von Giorgio Vasari, 1910. KIPPENBERGER, SUSANNE, Hitlers Hofnarr, Tagesspiegel.de vom 27.10.2013 (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/drittes-reich-hitlers-hofnarr/8987486 .html). LEFRANÇOIS, THIERRY, Charles Coypel, Peintre du roi, 1994. LEISS, LUDWIG, Kunst im Konflikt, 1971. LOCKER, TOBIAS, Die Bildergalerie von Sanssouci bei Potsdam, in: B. Savoy (Hrsg.): Tempel der Kunst: Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701–1815, 2015, S. 217 ff. MARIETTE, PIERRE-JEAN, Catalogue des tableaux, desseins, marbres, bronzes, modeles, estampes, et planches gravées, ainsi que des bijoux, porcelaines, et autres curiosités de prix, du cabinet de feu M. Coypel, 1753. O.V.,

Königin Christina – Schätze im Konvoi, Der Spiegel 32/1966.

O.V.,

Verkaufte Leda, Der Spiegel 53/1949.

PENZEL, JOACHIM, Der Betrachter ist im Text: Konversations- und Lesekultur in deutschen Gemäldegalerien zwischen 1700 und 1914, 2007. PILES, ROGER DE, Historie und Leben der berühmtesten europäischen Mahler, 1710. RÖSKE, THOMAS, Correggios „Leda“ – ein verdrängtes Bild, in: W. Reinink / J. Stumpel (Hrsg.): Memory & Oblivion, Proceedings of the XXIXth International Congress of the History of Art held in Amsterdam, 1–7 September 1996, 1999, S. 265 ff. SAVOY, BÉNÉDICTE, Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen, dt. 2011. SCHMALISCH, JANA, Il Correggio – Leda mit dem Schwan, 2001. SELLO, GOTTFRIED, Das Museum in Dahlem braucht einen neuen Bau, Die Zeit 14/1978. SKWIRBLIES, ROBERT, Altitalienische Malerei als preußisches Kulturgut: Gemäldesammlungen, Kunsthandel und Museumspolitik 1797–1830, 2017. SPRINGER, ANTON HEINRICH, Handbuch der Kunstgeschichte. Zum Gebrauche für Künstler und Studirende und als Führer auf der Reise, 1855.

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STEHR, UTE, Johann Jakob Schlesinger (1792–1855). Künstler – Kopist – Restaurator (Jahrbuch Berliner Museen 53 [2011], Beiheft), 2012. VASARI, GIORGIO, Le vite deʼ più eccellenti pittori, scultori e architettori, 2. Aufl. 1568. VERHEYEN, EGON, Correggio’s Amori di Giove, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 29 (1966), S. 160 ff. VOGTHERR, CHRISTOPH MARTIN, Die Auswahl von Gemälden aus den preußischen Königsschlössern für die Berliner Gemäldegalerie im Jahr 1829, Jahrbuch der Berliner Museen 47 (2005), S. 63 ff. WAAGEN, GUSTAV FRIEDRICH, Kunstwerke und Künstler in England und Paris, 3 Teile, 1837–1839. WINCKELMANN, JOHANN JOACHIM, Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, 2. Aufl. 1756.

Autorenverzeichnis Bielecki‚ Alice Anna‚ Mgr.‚ LL.M., geb. 1987‚ war von 2013 bis 2016 Wissenschaftliche Hilfskraft sowie Akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht‚ Strafprozessrecht und Kriminologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Biesenthal‚ Yvonne‚ geb. 1972‚ war von 1993 bis 2018 Verwaltungsangestellte am Lehrstuhl für Strafrecht‚ Strafprozessrecht und Kriminologie der EuropaUniversität Viadrina Frankfurt (Oder). Franke‚ Robert‚ Ass. iur.‚ LL.M.‚ geb. 1987‚ war von 2010 bis 2014 Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht‚ Strafprozessrecht und Kriminologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Halecker‚ Dela-Madeleine‚ Dr. iur.‚ RA'in‚ geb. 1973‚ ist seit 2001 Akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht‚ Strafprozessrecht und Kriminologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Melz‚ Joanna‚ Dr. iur.‚ LL.M., geb. 1982‚ ist seit 2012 Akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht‚ Strafprozessrecht und Kriminologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Scheffler‚ Uwe (†)‚ Prof. Dr. iur. Dr. phil.‚ geb. 1956‚ ist seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht‚ Strafprozessrecht und Kriminologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Weyhrich‚ Lisa‚ geb. 1989‚ ist seit 2012 Studentische sowie Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht‚ Strafprozessrecht und Kriminologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Zielińska‚ Claudia‚ Mgr.‚ LL.M.‚ geb. 1986‚ war von 2013 bis 2020 Wissenschaftliche Hilfskraft sowie Akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht‚ Strafprozessrecht und Kriminologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).



Juristische Zeitgeschichte



Herausgeber: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Thomas Vormbaum, FernUniversität in Hagen



Abteilung 1: Allgemeine Reihe

  1 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Quellen aus der sozialdemokratischen Partei und Presse (1997)   2 Heiko Ahlbrecht: Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert (1999)   3 Dominik Westerkamp: Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz (1999)   4 Wolfgang Naucke: Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Gesammelte Aufsätze zur Straf­rechtsgeschichte (2000)   5 Jörg Ernst August Waldow: Der strafrechtliche Ehrenschutz in der NS-Zeit (2000)   6 Bernhard Diestelkamp: Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhun­derts (2001)  7 Michael Damnitz: Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am Bürger­lichen Gesetzbuch (2001)   8 Massimo Nobili: Die freie richterliche Überzeugungsbildung. Reformdiskus­sion und Gesetzgebung in Italien, Frankreich und Deutschland seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts (2001)   9 Diemut Majer: Nationalsozialismus im Lichte der Juristischen Zeitgeschichte (2002) 10 Bianca Vieregge: Die Gerichtsbarkeit einer „Elite“. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS- und Polizeigerichtsbarkeit (2002) 11 Norbert Berthold Wagner: Die deutschen Schutzgebiete (2002) 12 Milosˇ Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879–1933), (2002) 13 Christian Amann: Ordentliche Jugendgerichtsbarkeit und Justizalltag im OLGBezirk Hamm von 1939 bis 1945 (2003) 14 Günter Gribbohm: Das Reichskriegsgericht (2004) 15 Martin M. Arnold: Pressefreiheit und Zensur im Baden des Vormärz. Im Spannungsfeld zwischen Bundestreue und Liberalismus (2003) 16 Ettore Dezza: Beiträge zur Geschichte des modernen italienischen Strafrechts (2004) 17 Thomas Vormbaum (Hrsg.): „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962 (2005) 18 Kai Cornelius: Vom spurlosen Verschwindenlassen zur Benachrichtigungspflicht bei Festnahmen (2006) 19 Kristina Brümmer-Pauly: Desertion im Recht des Nationalsozialismus (2006) 20 Hanns-Jürgen Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte (2006) 21 Hans-Peter Marutschke (Hrsg.): Beiträge zur modernen japanischen Rechtsgeschichte (2006) 22 Katrin Stoll: Die Herstellung der Wahrheit (2011)

23 Thorsten Kurtz: Das Oberste Rückerstattungsgericht in Herford (2014) 24 Sebastian Schermaul: Die Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse an der Universität Leipzig 1819–1848 (2013) 25 Minoru Honda: Beiträge zur Geschichte des japanischen Strafrechts (2020) 26 Michael Seiters: Das strafrechtliche Schuldprinzip. Im Spannungsfeld zwischen philosophischem, theologischem und juridischem Verständnis von Schuld (2020)

Abteilung 2: Forum Juristische Zeitgeschichte   1 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeit­ geschichte (1) – Schwerpunktthema: Recht und Nationalsozialismus (1998)   2 Karl-Heinz Keldungs: Das Sondergericht Duisburg 1943–1945 (1998)   3 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeit­ geschichte (2) – Schwerpunktthema: Recht und Juristen in der Revolution von 1848/49 (1998)   4 Thomas Vormbaum: Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte (1999)   5 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum: Themen juristischer Zeitgeschichte (3), (1999)   6 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (4), (2000)   7 Frank Roeser: Das Sondergericht Essen 1942–1945 (2000)   8 Heinz Müller-Dietz: Recht und Nationalsozialismus – Gesammelte Beiträge (2000)   9 Franz-Josef Düwell (Hrsg.): Licht und Schatten. Der 9. November in der deutschen Geschichte und Rechtsge­ schichte – Symposium der Arnold-Frey­ muthGesellschaft, Hamm (2000) 10 Bernd-Rüdiger Kern / Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.): Eduard von Simson (1810– 1899). „Chorführer der Deutschen“ und erster Präsident des Reichs­gerichts (2001) 11 Norbert Haase / Bert Pampel (Hrsg.): Die Waldheimer „Prozesse“ – fünfzig Jahre danach. Dokumentation der Tagung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten am 28. und 29. September in Waldheim (2001) 12 Wolfgang Form (Hrsg.): Literatur- und Urteilsverzeichnis zum politischen NSStrafrecht (2001) 13 Sabine Hain: Die Individualverfassungsbeschwerde nach Bundesrecht (2002) 14 Gerhard Pauli / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Justiz und Nationalsozialismus – Kontinuität und Diskontinuität. Fachtagung in der Justizakademie des Landes NRW, Recklinghausen, am 19. und 20. November 2001 (2003) 15 Mario Da Passano (Hrsg.): Europäische Strafkolonien im 19. Jahrhundert. Internationaler Kongreß des Diparti­mento di Storia der Universität Sassari und des Parco nazionale di Asinara, Porto Torres, 25. Mai 2001 (2006) 16 Sylvia Kesper-Biermann / Petra Overath (Hrsg.): Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (1870–1930). Deutschland im Vergleich (2007) 17 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 16. bis 18. Sep­tember 2005 (2007) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und (bildende) Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 21. bis 23. September 2007 (2008) 19 Francisco Muñoz Conde / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Transformation von Diktaturen in Demokratien und Aufarbeitung der Vergangenheit (2010)



20 Kirsten Scheiwe / Johanna Krawietz (Hrsg.): (K)Eine Arbeit wie jede andere? Die Regulierung von Arbeit im Privathaushalt (2014) 21 Helmut Irmen: Das Sondergericht Aachen 1941–1945 (2018)

Abteilung 3: Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung. Materialien zu einem historischen Kommentar   1 Thomas Vormbaum / Jürgen Welp (Hrsg.): Das Strafgesetzbuch seit 1870. Sammlung der Änderungen und Neubekanntmachungen; fünf Textbände (1999–2017) und drei Supplementbände (2005, 2006)  2 Christian Müller: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpo­litik (1998)   3 Maria Meyer-Höger: Der Jugendarrest. Entstehung und Weiterentwicklung einer Sanktion (1998)  4 Kirsten Gieseler: Unterlassene Hilfeleistung – § 323c StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870. (1999)   5 Robert Weber: Die Entwicklung des Nebenstrafrechts 1871–1914 (1999)  6 Frank Nobis: Die Strafprozeßgesetzgebung der späten Weimarer Republik (2000)   7 Karsten Felske: Kriminelle und terroristische Vereinigungen – §§ 129, 129a StGB (2002)   8 Ralf Baumgarten: Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB (2003)   9 Felix Prinz: Diebstahl – §§ 242 ff. StGB (2003) 10 Werner Schubert / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Entstehung des Strafgesetzbuchs. Kommissionsprotokolle und Entwürfe. Band 1: 1869 (2002); Band 2: 1870 (2004) 11 Lars Bernhard: Falsche Verdächtigung (§§ 164, 165 StGB) und Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB), (2003) 12 Frank Korn: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskus­sion und Gesetzgebung von 1870 bis 1933 (2003) 13 Christian Gröning: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1933 (2004) 14 Sabine Putzke: Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit. Eine Analyse der Reformdiskussion und der Straftatbestände in den Reformentwürfen (1908–1931), (2003) 15 Eckard Voßiek: Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke (§ 353d Nr. 3 StGB). Gesetzgebung und Rechtsanwendung seit 1851 (2004) 16 Stefan Lindenberg: Brandstiftungsdelikte – §§ 306 ff. StGB. Reformdiskus­sion und Gesetzgebung seit 1870 (2004) 17 Ninette Barreneche†: Materialien zu einer Strafrechtsgeschichte der Münchener Räterepublik 1918/1919 (2004) 18 Carsten Thiel: Rechtsbeugung – § 339 StGB. Reformdiskussion und Gesetz­ gebung seit 1870 (2005) 19 Vera Große-Vehne: Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), „Euthanasie“ und Sterbehilfe. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 20 Thomas Vormbaum / Kathrin Rentrop (Hrsg.): Reform des Strafgesetzbuchs. Sammlung der Reformentwürfe. Band 1: 1909 bis 1919. Band 2: 1922 bis 1939. Band 3: 1959 bis 1996 (2008)

21 Dietmar Prechtel: Urkundendelikte (§§ 267 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 22 Ilya Hartmann: Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 23 Ralf Seemann: Strafbare Vereitelung von Gläubigerrechten (§§ 283 ff., 288 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 24 Andrea Hartmann: Majestätsbeleidigung (§§ 94 ff. StGB a.F.) und Verunglimpfung des Staatsoberhauptes (§ 90 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2006) 25 Christina Rampf: Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 26 Christian Schäfer: „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182, a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945 (2006) 27 Kathrin Rentrop: Untreue und Unterschlagung (§§ 266 und 246 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2007) 28 Martin Asholt: Straßenverkehrsstrafrecht. Reformdiskussion und Gesetz­gebung seit dem Ausgang des 19. Jahr­hunderts (2007) 29 Katharina Linka: Mord und Totschlag (§§ 211–213 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2008) 30 Juliane Sophia Dettmar: Legalität und Opportunität im Strafprozess. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1877 bis 1933 (2008) 31 Jürgen Durynek: Korruptionsdelikte (§§ 331 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahr­hundert (2008) 32 Judith Weber: Das sächsische Strafrecht im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2009) 33 Denis Matthies: Exemplifikationen und Regelbeispiele. Eine Untersuchung zum 100-jährigen Beitrag von Adolf Wach zur „Legislativen Technik“ (2009) 34 Benedikt Rohrßen: Von der „Anreizung zum Klassenkampf“ zur „Volksverhetzung“ (§ 130 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2009) 35 Friederike Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch) (2010) 36 Tarig Elobied: Die Entwicklung des Strafbefehlsverfahrens von 1846 bis in die Gegenwart (2010) 37 Christina Müting: Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB) (2010) 38 Nadeschda Wilkitzki: Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechts­hilfe in Strafsachen (IRG) (2010) 39 André Brambring: Kindestötung (§ 217 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2010) 40 Wilhelm Rettler: Der strafrechtliche Schutz des sozialistischen Eigentums in der DDR (2010) 41 Yvonne Hötzel: Debatten um die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1990 (2010) 42 Dagmar Kolbe: Strafbarkeit im Vorfeld und im Umfeld der Teilnahme (§§ 88a, 110, 111, 130a und 140 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2011) 43 Sami Bdeiwi: Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 StGB). Reform und Ge­setzgebung seit 1870 (2014)

44 Michaela Arnold: Verfall, Einziehung und Unbrauchbarmachung (§§ 73 bis 76a StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2015) 45 Andrea Schurig: „Republikflucht“ (§§ 213, 214 StGB/DDR). Gesetzgeberische Entwicklung, Einfluss des MfS und Gerichtspraxis am Beispiel von Sachsen (2016) 46 Sandra Knaudt: Das Strafrecht im Großherzogtum Hessen im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2017) 47 Michael Rudlof: Das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB nF.) (2018) 48 Karl Müller: Steuerhinterziehung (§§ 370, 371 AO). Gesetzgebung und Reformdiskussion seit dem 19. Jahrhundert (2018) 49 Katharina Kühne: Die Entwicklung des Internetstrafrechts unter besonderer Berücksichtigung der §§ 202a–202c StGB sowie § 303a und § 303b StGB (2018) 50 Benedikt Beßmann: Das Strafrecht des Herzogtums Braunschweig im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2019) 51 Josef Roth: Die Entwicklung des Weinstrafrechts seit 1871 (2020) 52 Arne Fischer: Die Legitimität des Sportwettbetrugs (§ 265c StGB). Unter besonderer Berücksichtigung des „Rechtsguts“ Integrität des Sports (2020) 53 Julius Hagen: Die Nebenklage im Gefüge strafprozessualer Verletztenbeteiligung. Der Weg in die viktimäre Gesellschaft. Gesetzgebung und Reformdiskurs seit 1870 (2021) 54 Teresa Frank: Die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten im Strafverfahren. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem Neunzehnten Jahrhundert (2022)

Abteilung 4: Leben und Werk. Biographien und Werkanalysen   1 Mario A. Cattaneo: Karl Grolmans strafrechtlicher Humanismus (1998)   2 Gerit Thulfaut: Kriminalpolitik und Strafrechtstheorie bei Edmund Mezger (2000)   3 Adolf Laufs: Persönlichkeit und Recht. Gesammelte Aufsätze (2001)   4 Hanno Durth: Der Kampf gegen das Unrecht. Gustav Radbruchs Theorie eines Kulturverfassungsrechts (2001)   5 Volker Tausch: Max Güde (1902–1984). Generalbundesanwalt und Rechtspolitiker (2002)   6 Bernd Schmalhausen: Josef Neuberger (1902–1977). Ein Leben für eine menschliche Justiz (2002)   7 Wolf Christian von Arnswald: Savigny als Strafrechtspraktiker. Ministerium für die Gesetzesrevision (1842–1848), (2003)   8 Thilo Ramm: Ferdinand Lassalle. Der Revolutionär und das Recht (2004)   9 Martin D. Klein: Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch (2007) 10 Francisco Muñoz Conde: Edmund Mezger – Beiträge zu einem Juristenleben (2007) 11 Whitney R. Harris: Tyrannen vor Gericht. Das Verfahren gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg 1945–1946 (2008) 12 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen (2010)



13 Tamara Cipolla: Friedrich Karl von Strombeck. Leben und Werk – Unter be­sonderer Berücksichtigung des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für ein Norddeutsches Staatsgebiet (2010) 14 Karoline Peters: J.D. H. Temme und das preußische Straf­verfahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts (2010) 15 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die ausländische Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen. Die internationale Rezeption des deutschen Strafrechts (2019) 16 Hannes Ludyga: Otto Kahn-Freund (1900–1979). Ein Arbeitsrechtler in der Weimarer Zeit (2016) 17 Rudolf Bastuck: Rudolf Wassermann. Vision und Umsetzung einer inneren Justizreform (2020) 18 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen II (2021)

Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen. Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive Mitherausgegeben von Gisela Friedrichsen („Der Spiegel“) und RA Prof. Dr. Franz Salditt   1 Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968. 3. Auflage (1999)  2 Jörg Arnold (Hrsg.): Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit am Beispiel der DDR (2000)  3 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Vichy vor Gericht: Der Papon-Prozeß (2000)   4 Heiko Ahlbrecht / Kai Ambos (Hrsg.): Der Fall Pinochet(s). Auslieferung wegen staatsverstärkter Kriminalität? (1999)   5 Oliver Franz: Ausgehverbot für Jugendliche („Juvenile Curfew“) in den USA. Reformdiskussion und Gesetz­gebung seit dem 19. Jahrhundert (2000)   6 Gabriele Zwiehoff (Hrsg.): „Großer Lauschangriff“. Die Entstehung des Gesetzes zur Änderung des Grund­gesetzes vom 26. März 1998 und des Ge­setzes zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 4. Mai 1998 in der Presseberichterstattung 1997/98 (2000)   7 Mario A. Cattaneo: Strafrechtstotalitarismus. Terrorismus und Willkür (2001)   8 Gisela Friedrichsen / Gerhard Mauz: Er oder sie? Der Strafprozeß Böttcher/ Weimar. Prozeßberichte 1987 bis 1999 (2001)   9 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2000 in der Süddeutschen Zeitung (2001) 10 Helmut Kreicker: Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002) 11 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2001 in der Süddeutschen Zeitung (2002) 12 Henning Floto: Der Rechtsstatus des Johanniterordens. Eine rechtsgeschicht­liche und rechtsdogmatische Untersuchung zum Rechtsstatus der Balley Brandenburg des ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem (2003) 13 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2002 in der Süddeutschen Zeitung (2003)

14 Kai Ambos / Jörg Arnold (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht (2004) 15 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2003 in der Süddeutschen Zeitung (2004) 16 Sascha Rolf Lüder: Völkerrechtliche Verantwortlichkeit bei Teilnahme an „Peacekeeping“-Missionen der Ver­einten Nationen (2004) 17 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2004 in der Süddeutschen Zeitung (2005) 18 Christian Haumann: Die „gewichtende Arbeitsweise“ der Finanzverwaltung. Eine Untersuchung über die Auf­gabenerfüllung der Finanzverwaltung bei der Festsetzung der Veranlagungssteuern (2008) 19 Asmerom Ogbamichael: Das neue deutsche Geldwäscherecht (2011) 20 Lars Chr. Barnewitz: Die Entschädigung der Freimaurerlogen nach 1945 und nach 1989 (2011) 21 Ralf Gnüchtel: Jugendschutztatbestände im 13. Abschnitt des StGB (2013) 22 Helmut Irmen: Stasi und DDR-Militärjustiz. Der Einfluss des MfS auf Militär­ justiz und Militärstrafvollzug in der DDR (2014) 23 Pascal Johann: Möglichkeiten und Grenzen des neuen Vermögenschabschöpfungsrechts. Eine Untersuchung zur vorläufigen Sicherstellung und der Einziehung von Vermögen unklarer Herkunft (2019) 24 Zekai Dag˘as¸an: Das Ansehen des Staates im türkischen und deutschen Strafrecht (2015) 25 Camilla Bertheau: Politisch unwürdig? Entschädigung von Kommunisten für nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen. Bundesdeutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung der 50er Jahre (2016) 26 Anja J. Weissbrodt: Etwas Besseres als den Tod – Aktuelle Regelung der Suizidbeihilfe und ihre Auswirkungen auf die Ärzteschaft (2021)

Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht Mitherausgegeben von Prof. Dr. Gunter Reiß und Prof. Dr. Anja Schiemann   1 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein. Gesammelte Aufsätze (1999)   2 Klaus Lüderssen (Hrsg.): »Die wahre Liberalität ist Anerkennung«. Goethe und die Juris prudenz (1999)   3 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928) / Dreigroschenroman (1934). Mit Kommentaren von Iring Fetscher und Bodo Plachta (2001)   4 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) / Die Vergeltung (1841). Mit Kommentaren von Heinz Holzhauer und Winfried Woesler (2000)   5 Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (1885). Mit Kommentaren von Hugo Aust und Klaus Lüderssen (2001)   6 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810). Mit Kommentaren von Wolfgang Naucke und Joachim Linder (2000)   7 Anja Sya: Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse. Joachim Maass’ Ro­man „Der Fall Gouffé“ und sein Verhältnis zu der historischen Vorlage (2001)

  8 Heiner Mückenberger: Theodor Storm – Dichter und Richter. Eine rechts­ geschichtliche Lebensbeschreibung (2001)   9 Hermann Weber (Hrsg.): Annäherung an das Thema „Recht und Literatur“. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (1), (2002) 10 Hermann Weber (Hrsg.): Juristen als Dichter. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (2), (2002) 11 Hermann Weber (Hrsg.): Prozesse und Rechtsstreitigkeiten um Recht, Literatur und Kunst. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (3), (2002) 12 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. 2., erweiterte Auflage (2002) 13 Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman (1929). Mit Kommentaren von Theo Rasehorn und Ernst Ribbat (2002) 14 Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Roman (1928). Mit Kommentaren von Thomas Vormbaum und Regina Schäfer (2003) 15 Hermann Weber (Hrsg.): Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (4), (2003) 16 Hermann Weber (Hrsg.): Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (5), (2003) 17 Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. (1908). Mit Kommentaren von Helmut Arntzen und Heinz Müller-Dietz (2004) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Dichter als Juristen. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochen­schrift (6), (2004) 19 Hermann Weber (Hrsg.): Recht und Juristen im Bild der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (7), (2005) 20 Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug. Ein Lustspiel (1811). Mit Kommentaren von Michael Walter und Regina Schäfer (2005) 21 Francisco Muñoz Conde / Marta Muñoz Aunión: „Das Urteil von Nürnberg“. Juristischer und filmwissen­schaftlicher Kommentar zum Film von Stanley Kramer (1961), (2006) 22 Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Dunja Brötz (2005) 23 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Anton Matthias Sprickmann. Dichter und Jurist. Mit Kommentaren von Walter Gödden, Jörg Löffler und Thomas Vormbaum (2006) 24 Friedrich Schiller: Verbrecher aus Infamie (1786). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Martin Huber (2006) 25 Franz Kafka: Der Proceß. Roman (1925). Mit Kommentaren von Detlef Kremer und Jörg Tenckhoff (2006) 26 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen. Geschrieben im Januar 1844. Mit Kommentaren von Win­fried Woesler und Thomas Vormbaum (2006) 27 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Recht, Rechtswissenschaft und Juristen im Werk Heinrich Heines (2006) 28 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität in literarischen Spiegelungen (2007) 29 Alexander Puschkin: Pique Dame (1834). Mit Kommentaren von Barbara Aufschnaiter/Dunja Brötz und Friedrich-Christian Schroeder (2007) 30 Georg Büchner: Danton’s Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schre­ ckensherrschaft. Mit Kommentaren von Sven Kramer und Bodo Pieroth (2007)

31 Daniel Halft: Die Szene wird zum Tribunal! Eine Studie zu den Beziehungen von Recht und Literatur am Bei­spiel des Schauspiels „Cyankali“ von Fried­rich Wolf (2007) 32 Erich Wulffen: Kriminalpsychologie und Psychopathologie in Schillers Räubern (1907). Herausgegeben von Jürgen Seul (2007) 33 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen: Recht in Literatur, Theater und Film. Band II (2007) 34 Albert Camus: Der Fall. Roman (1956). Mit Kommentaren von Brigitte Sändig und Sven Grotendiek (2008) 35 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Pest, Folter und Schandsäule. Der Mailänder Prozess wegen „Pestschmierereien“ in Rechtskritik und Literatur. Mit Kommentaren von Ezequiel Malarino und Helmut C. Jacobs (2008) 36 E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi – Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten (1819). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Marion Bönnighausen (2010) 37 Leonardo Sciascia: Der Tag der Eule. Mit Kommentaren von Gisela Schlüter und Daniele Negri (2010) 38 Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift. Novelle (1941). Mit Kommentaren von Matthias Pape und Wilhelm Brauneder (2011) 39 Thomas Mann: Das Gesetz. Novelle (1944). Mit Kommentaren von Volker Ladenthin und Thomas Vormbaum (2013) 40 Theodor Storm: Ein Doppelgänger. Novelle (1886) (2013) 41 Dorothea Peters: Der Kriminalrechtsfall ,Kaspar Hauser‘ und seine Rezep­tion in Jakob Wassermanns Caspar-Hauser-Roman (2014) 42 Jörg Schönert: Kriminalität erzählen (2015) 43 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. Recht im künstlerischen Kontext. Band 3 (2014) 44 Franz Kafka: In der Strafkolonie. Erzählung (1919) (2015) 45 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität in literarischen Brechungen (2016) 46 Hermann Weber (Hrsg.): Das Recht als Rahmen für Literatur und Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 4. bis 6. September 2015 (2017) 47 Walter Müller-Seidel: Rechtsdenken im literarischen Text. Deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik (2017) 48 Honoré de Balzac: Eine dunkle Geschichte. Roman (1841). Mit Kommentaren von Luigi Lacchè und Christian von Tschilschke (2018) 49 Anja Schiemann: Der Kriminalfall Woyzeck. Der historische Fall und Büchners Drama (2018) 50 E.T.A. Hoffmann: Meister Floh. Ein Mährchen in sieben Abentheuern zweier Freunde (1822). Mit Kommentaren von Michael Niehaus und Thomas Vormbaum (2018) 51 Bodo Pieroth: Deutsche Schriftsteller als angehende Juristen (2018) 52 Theodor Fontane: Grete Minde. Nach einer altmärkischen Chronik (1880). Mit Kommentaren von Anja Schiemann und Walter Zimorski (2018) 53 Britta Lange / Martin Roeber / Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Grenzüberschreitungen: Recht, Normen, Literatur und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 8. bis 10. September 2017 (2019) 54 Wolfgang Schild: Richard Wagner recht betrachtet (2020)

55 Uwe Scheffler u.a. (Hrsg.): Musik und Strafrecht. Ein Streifzug durch eine tönende Welt (2021) 56 Britta Lange / Martin Roeber / Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Verbrechen und Sprache. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 13. bis 15. September 2019 (2021) 57 Dirk Falkner: Straftheorie von Leo Tolstoi (2021) 58 Dela-Madeleine Halecker u.a. (Hrsg.): Kunst und Strafrecht. Eine Reise durch eine schillernde Welt (2022)

Abteilung 7: Beiträge zur Anwaltsgeschichte Mitherausgegeben von RA Dr. Dieter Finzel (†), RA Dr. Tilman Krach; RA Dr. Thomas Röth; RA Dr. Ulrich Wessels; Prof. Dr. Gabriele Zwiehoff  1 Babette Tondorf: Strafverteidigung in der Frühphase des reformierten Strafprozesses. Das Hochverratsverfah­ren gegen die badischen Aufständischen Gustav Struve und Karl Blind (1848/49), (2006)  2 Hinrich Rüping: Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus (2007)  3 Dieter Finzel: Geschichte der Rechtsanwaltskammer Hamm (2018)

Abteilung 8: Judaica   1 Hannes Ludyga: Philipp Auerbach (1906–1952). „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ (2005)   2 Thomas Vormbaum: Der Judeneid im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Preußen. Ein Beitrag zur juristischen Zeitgeschichte (2006)   3 Hannes Ludyga: Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhand­lungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags (2007)   4 Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung (2014)

Abteilung 9: Beiträge zur modernen Verfassungsgeschichte   1 Olaf Kroon: Die Verfassung von Cádiz (1812). Spaniens Sprung in die Moderne, gespiegelt an der Verfassung Kurhessens von 1831 (2019)