Eingriffsnormen in der Rom I-Verordnung 9783161521317, 9783161520631

Paul Hauser untersucht mit dem Eingriffsrecht eine klassische Fragestellung des Internationalen Privatrechts, die sich d

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German Pages 184 [185] Year 2012

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einführung
§ 1 Gegenstand der Arbeit
§ 2 Gang der Darstellung
Kapitel 1: Begriff der Eingriffsnorm
§ 1 Die Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO
A. Internationaler Geltungsanspruch
B. Überindividuelle Zielrichtung
I. Sonderprivatrecht als Eingriffsnormen?
II. Auffassungen in den Mitgliedstaaten unter Geltung des EVÜ
III. Konsequenzen für Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO
§ 2 Auslegungskompetenz und Kontrollmaßstab
A. Auslegungskompetenz
B. Kontrollmaßstab
I. Grundfreiheitenmaßstab
II. Missbrauchskontrolle
III. Stellungnahme
C. Kriterien zur Konkretisierung der Missbrauchskontrolle
I. Widerspruch zwischen Anwendung der lex causae und Regelung der Eingriffsnorm
II. Begründetes und nachgewiesenes Gemeinwohlinteresse
1. Rechtsvergleichender Ansatz
2. Gemeinwohlbegriff anhand nationaler Standards
3. Europäischer Gemeinwohlbegriff
III. Mindestkontakt zur fraglichen Rechtsordnung
IV. Zweifelsregelung und Zusammenfassung
§ 3 Verhältnis zu anderen zwingenden Vorschriften
A. Binnen- und Binnenmarktsachverhalte
I. Binnensachverhalte (Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO)
II. Zwingende Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts (Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO)
III. Exkurs: Zwingende Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in der Rom II-Verordnung (Art. 14 Abs. 4 Rom II-VO)
B. Verbraucher- und Arbeitnehmerschutzvorschriften (Art. 6 und 8 Rom I-VO)
I. Meinungsstand
II. Stellungnahme
C. Richtlinienkollisionsrecht (Art. 23 Rom I-VO)
I. Problemumriss
II. Lösungsansätze und die Regelung des Art. 23 Rom I-VO
III. Konsequenzen für das Eingriffsrecht
D. Zwingende Formvorschriften bei Grundstücksverträgen (Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO)
§ 4 Verhältnis zum Ordre public (Art. 21 Rom I-VO)
Kapitel 2: Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex fori nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO
§ 1 Anwendung deutscher Eingriffsnormen
A. Voraussetzungen für die Anwendung inländischen Eingriffsrechts
I. Allgemeine Anwendungsvoraussetzungen
II. Richtliniennormen als inländisches Recht?
B. Rechtsfolgenseite
C. Beispielsfall
§ 2 Exkurs: Eingriffsnormen der lex fori in der Rom II-Verordnung
A. Bisherige gesetzliche Regelungen in Deutschland und anderen Staaten
B. Begriff der Eingriffsnorm in der Rom II-Verordnung
C. Kollisionsrechtliche Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex fori
D. Anwendungsfälle
I. Verkehrs- und Sicherheitsregeln
II. Schutz des Schwächeren
Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
§ 1 Gründe für die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts
A. Statutistischer Ansatz
B. Eigeninteresse des Forumstaates
C. Stellungnahme
§ 2 Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
A. Vom Ausgangsentwurf zur endgültigen Regelung
B. Die englischen Bedenken und ihr Einfluss auf die endgültige Fassung der Vorschrift
I. Verzögerung und höhere Kosten durch Anwendung ausländischen Eingriffsrechts
II. Einschränkung der Parteiautonomie
III. Wettbewerbsnachteile des Finanzplatzes London
IV. Furcht vor Einflussnahme der USA
V. Die Regel aus der Ralli-Entscheidung und Art. 9 Abs. 3 VO
§ 3 Grundstruktur des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
A. Verhältnis von Absatz 3 Satz 1 zu Satz 2
I. Zweistufige Prüfung?
II. Berücksichtigung des Satz 2 auf Rechtsfolgenseite
B. Zusammenfassung
§ 4 Tatbestandsseite des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
A. Vorliegen einer Eingriffsnorm
B. Das Unrechtmäßigkeitskriterium
I. „Illegality“ im englischen Recht
1. Begriff
2. Rechtsfolgen der illegality
3. Nicht erfasste Konstellationen
4. Schlussfolgerungen für Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
II. Unrechtmäßigkeit (Unlawfulness) im Sinne von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
1. Kreis der umfassten Verbotsnormen
2. Behandlung modifizierender Verbotsnormen
a) Verstöße gegen Höchst- oder Mindestvergütungs-vorschriften
b) Verstöße gegen andere modifizierende Normen
3. Beschränkung auf nachträglich erlassene Eingriffsnormen?
III. Zusammenfassung
C. Beschränkung auf Eingriffsnormen des Erfüllungsorts
I. Der Erfüllungsort nach Art. 5 Brüssel I-VO
1. Der Erfüllungsort nach Art. 5 Nr. 1 lit. a Brüssel I-VO
2. Der Erfüllungsort nach Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-VO
II. Der Erfüllungsort nach der Ralli-Doktrin
III. Rückschlüsse für die Bestimmung des Erfüllungsortes nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
1. Anwendbares Recht bei der Bestimmung des eingriffsrechtlichen Erfüllungsortes
a) Bestimmung nach der lex fori
b) Bestimmung nach der lex causae
c) Unionsrechtlich autonome Bestimmung
d) Stellungnahme
2. Rechtlicher oder faktischer Erfüllungsort?
IV. Zusammenfassung und Bewertung
§ 5 Rechtsfolgenseite des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
A. Bisherige Anknüpfungsmodelle zu Art. 7 Abs. 1 EVÜ / Art. 34 EGBGB
I. Schuldstatutstheorie und Abwandlungen
1. Datumstheorie
2. Machttheorie
3. Territorialitätsprinzip
II. Materiellrechtliche Berücksichtigung
III. Kollisionsrechtliche Sonderanknüpfung
IV. Kumulationstheorie
B. Wirkungsverleihung in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
I. Absage an die Schuldstatutstheorie und das Territorialitätsprinzip
II. Bedenken gegen die Datums- und die Machttheorie
III. Sonderanknüpfung ausländischer Eingriffsnormen unter den besonderen Voraussetzungen des Tatbestands von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
C. Sperrwirkung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO?
I. Enge Auslegung des Absatz 3 mit der Konsequenz absoluter Sperrwirkung
II. Weite Auslegung des Absatz 3
III. Zweistufige Lösung
IV. Stellungnahme
D. Das Ermessen in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
I. Art und Zweck der Eingriffsnorm
II. Folgen der Anwendung und Nichtanwendung
1. Faktische Durchsetzungsmacht
2. Anerkennungsfähigkeit des Urteils
3. Äquivalenzprüfung
4. Zusammenfassung
§ 6 Eingriffsnormen der lex causae und Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO
A. Privilegierung von Eingriffsnormen der lex causae?
B. Anwendung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO auf Eingriffsnormen der lex causae und drittstaatliche Eingriffsnormen gleichermaßen
C. Stellungnahme
I. Praktische Relevanz
II. Indizien für eine Privilegierung von Eingriffsnormen der lex causae
1. Englische Rechtstradition
2. Drohende „Zerstückelung“ der Verweisung
III. Gründe für die Anwendung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO auf Eingriffsnormen der lex causae
1. „Zerstückelte“ Anwendung einer Rechtsordnung als kollisionsrechtlicher Regelfall
2. Formulierung im Kommissionsentwurf von 2005
3. Erwägungsgrund 37 und Dogmatik des Eingriffsrechts
IV. Zwischenergebnis
§ 7 Zusammenfassung und Bewertung
A. Zusammenfassung
B. Bewertung
§ 8 Exkurs: Ausländische Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung
A. Entstehungsgeschichte
B. Konsequenzen des Streichens der Regelung über ausländische Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung
I. Praktische Relevanz
II. Meinungsstand
III. Stellungnahme
C. Anwendungsbeispiel
Kapitel 4: Primärrechtliche Vorgaben bei der Anwendung von Art. 9 Rom I-VO
§ 1 Primärrechtliche Einschränkungen bei der Anwendung mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen
§ 2 Primärrechtliche Anwendungspflicht unionsrechtlicher Eingriffsnormen?
A. Eingriffsnormen des Unionsrechts
B. Eingriffsnormen anderer EU-Mitgliedstaaten
I. Hintergrund
II. Grundlagen der Anwendungspflicht
1. Art. 4 Abs. 3 EU-Vertrag (ex-Art. 10 EG-Vertrag)
2. Prozessrechtliche Zuständigkeits- und Verfahrenskonzentration
3. Rechtstechnische Umsetzung der Anwendungspflicht
III. Stellungnahme
Kapitel 5: Zusammenfassung, abschließende Würdigung und Normvorschlag
§ 1 Zusammenfassung in Thesen
A. Begriff der Eingriffsnorm
B. Eingriffsnormen der lex fori
C. Ausländische Eingriffsnormen
D. Primärrechtliche Vorgaben bei der Anwendung von Art. 9 Rom I-VO
§ 2 Abschließende Würdigung
§ 3 Normvorschlag
Literaturverzeichnis
Materialien
Sachregister
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Eingriffsnormen in der Rom I-Verordnung
 9783161521317, 9783161520631

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Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 278 Herausgegeben vom

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:

Jürgen Basedow, Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann

Paul Hauser

Eingriffsnormen in der Rom I-Verordnung

Mohr Siebeck

Paul Hauser, geboren 1983; Studium der Rechtswissenschaft, Bucerius Law School Hamburg, Monash University, Melbourne sowie King’s College London (LL.M.); seit 2011 Referendar am OLG Frankfurt am Main, Stammdienststelle Landgericht Darmstadt.

e-ISBN 978-3-16-152131-7 ISBN 978-3-16-152063-1 ISSN 0720-1141 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb. dnb.de abrufbar. © 2012 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit hat im Wintersemester 2010/2011 der Bucerius Law School Hamburg als Dissertation vorgelegen. Die mündliche Prüfung fand am 29. Februar 2012 in Hamburg statt. Danken möchte ich zuvorderst meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Karsten Thorn, LL.M. (Georgetown), der auch das Thema der Arbeit anregte. Ich habe die Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Promotionsstudent an seinem Lehrstuhl an der Bucerius Law School als sehr bereichernd empfunden und bin dankbar für die umfassende Unterstützung und Förderung, die ich von ihm erfahren durfte. Frau Professor Dr. Anne Röthel danke ich für das zügige Erstellen des Zweitgutachtens, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Jürgen Basedow, LL.M. (Harvard) für die Aufnahme in diese Schriftenreihe. Herrn Felix Dörfelt, LL.M. (Pepperdine), Herrn Dr. Philipp Egler, LL.M. (Miami) und Herrn Mathäus Mogendorf danke ich für wertvolle Anregungen und Diskussionen, Frau Sarah Nietner und Herrn Philipp Koch für das Lesen der Korrekturen, Herrn Martin Kilgus für die technische Unterstützung. Danken möchte ich schließlich meinen Eltern. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Frankfurt am Main, im Mai 2012

Paul Hauser

Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................. VII Abkürzungsverzeichnis ........................................................................... XV

Einführung .................................................................................. 1 § 1 Gegenstand der Arbeit ......................................................................... 1 § 2 Gang der Darstellung .......................................................................... 2

Kapitel 1: Begriff der Eingriffsnorm ................................................. 5 § 1 Die Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO ................................... 7 A. Internationaler Geltungsanspruch .......................................................... 8 B. Überindividuelle Zielrichtung ............................................................... 8 I. Sonderprivatrecht als Eingriffsnormen? .......................................... 9 II. Auffassungen in den Mitgliedstaaten unter Geltung des EVÜ ........ 9 III. Konsequenzen für Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO .................................. 11 § 2 Auslegungskompetenz und Kontrollmaßstab ...................................... 13 A. Auslegungskompetenz ......................................................................... 13 B. Kontrollmaßstab .................................................................................. 15 I. Grundfreiheitenmaßstab ................................................................ 15 II. Missbrauchskontrolle .................................................................... 16 III. Stellungnahme .............................................................................. 17 C. Kriterien zur Konkretisierung der Missbrauchskontrolle ..................... 21 I. Widerspruch zwischen Anwendung der lex causae und Regelung der Eingriffsnorm .......................................................... 22 II. Begründetes und nachgewiesenes Gemeinwohlinteresse............... 22 1. Rechtsvergleichender Ansatz .................................................... 23 2. Gemeinwohlbegriff anhand nationaler Standards ...................... 23 3. Europäischer Gemeinwohlbegriff .............................................. 23

X

Inhaltsverzeichnis

III. Mindestkontakt zur fraglichen Rechtsordnung .............................. 26 IV. Zweifelsregelung und Zusammenfassung ..................................... 28 § 3 Verhältnis zu anderen zwingenden Vorschriften ................................ 29 A. Binnen- und Binnenmarktsachverhalte ................................................ 29 I. Binnensachverhalte (Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO) ............................. 29 II. Zwingende Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts (Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO) ........................................................................ 30 III. Exkurs: Zwingende Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in der Rom II-Verordnung (Art. 14 Abs. 4 Rom II-VO) .................... 32 B. Verbraucher- und Arbeitnehmerschutzvorschriften (Art. 6 und 8 Rom I-VO) .......................................................................................... 33 I. Meinungsstand .............................................................................. 33 II. Stellungnahme .............................................................................. 35 C. Richtlinienkollisionsrecht (Art. 23 Rom I-VO) ................................... 37 I. Problemumriss .............................................................................. 37 II. Lösungsansätze und die Regelung des Art. 23 Rom I-VO............. 38 III. Konsequenzen für das Eingriffsrecht ............................................ 41 D. Zwingende Formvorschriften bei Grundstücksverträgen (Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO) ............................................................................... 41 § 4 Verhältnis zum Ordre public (Art. 21 Rom I-VO) ............................... 42

Kapitel 2: Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex fori nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO ........................................................... 43 § 1 Anwendung deutscher Eingriffsnormen .............................................. 43 A. Voraussetzungen für die Anwendung inländischen Eingriffsrechts ..... 43 I. Allgemeine Anwendungsvoraussetzungen .................................... 43 II. Richtliniennormen als inländisches Recht? ................................... 44 B. Rechtsfolgenseite ................................................................................ 45 C. Beispielsfall ......................................................................................... 46 § 2 Exkurs: Eingriffsnormen der lex fori in der Rom II-Verordnung ........ 47 A. Bisherige gesetzliche Regelungen in Deutschland und anderen Staaten ................................................................................................. 47 B. Begriff der Eingriffsnorm in der Rom II-Verordnung .......................... 48 C. Kollisionsrechtliche Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex fori .... 49 D. Anwendungsfälle ................................................................................. 49 I. Verkehrs- und Sicherheitsregeln ................................................... 50

Inhaltsverzeichnis

XI

II. Schutz des Schwächeren ............................................................... 50

Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO..................................................................... 52 § 1 Gründe für die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts ................. 53 A. Statutistischer Ansatz .......................................................................... 53 B. Eigeninteresse des Forumstaates ......................................................... 54 C. Stellungnahme ..................................................................................... 55 § 2 Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ............................ 57 A. Vom Ausgangsentwurf zur endgültigen Regelung ............................... 58 B. Die englischen Bedenken und ihr Einfluss auf die endgültige Fassung der Vorschrift .............................................................................. 61 I. Verzögerung und höhere Kosten durch Anwendung ausländischen Eingriffsrechts ....................................................... 62 II. Einschränkung der Parteiautonomie .............................................. 62 III. Wettbewerbsnachteile des Finanzplatzes London ......................... 63 IV. Furcht vor Einflussnahme der USA .............................................. 64 V. Die Regel aus der Ralli-Entscheidung und Art. 9 Abs. 3 VO ........................................................................... 65 § 3 Grundstruktur des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ......................................... 67 A. Verhältnis von Absatz 3 Satz 1 zu Satz 2 ............................................ 67 I. Zweistufige Prüfung? .................................................................... 67 II. Berücksichtigung des Satz 2 auf Rechtsfolgenseite....................... 68 B. Zusammenfassung ............................................................................... 70 § 4 Tatbestandsseite des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ..................................... 70 A. Vorliegen einer Eingriffsnorm ............................................................. 70 B. Das Unrechtmäßigkeitskriterium ......................................................... 71 I. „Illegality“ im englischen Recht ................................................... 71 1. Begriff ....................................................................................... 71 2. Rechtsfolgen der illegality ........................................................ 72 3. Nicht erfasste Konstellationen ................................................... 72 4. Schlussfolgerungen für Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ....................... 73 II. Unrechtmäßigkeit (Unlawfulness) im Sinne von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ................................................................ 73 1. Kreis der umfassten Verbotsnormen .......................................... 74

XII

Inhaltsverzeichnis

2. Behandlung modifizierender Verbotsnormen ............................ 76 a) Verstöße gegen Höchst- oder Mindestvergütungsvorschriften .......................................................................... 77 b) Verstöße gegen andere modifizierende Normen ................... 78 3. Beschränkung auf nachträglich erlassene Eingriffsnormen? ...... 79 III. Zusammenfassung ........................................................................ 80 C. Beschränkung auf Eingriffsnormen des Erfüllungsorts ........................ 80 I. Der Erfüllungsort nach Art. 5 Brüssel I-VO .................................. 82 1. Der Erfüllungsort nach Art. 5 Nr. 1 lit. a Brüssel I-VO ............. 83 2. Der Erfüllungsort nach Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-VO ............. 84 II. Der Erfüllungsort nach der Ralli-Doktrin ...................................... 86 III. Rückschlüsse für die Bestimmung des Erfüllungsortes nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ....................................................... 87 1. Anwendbares Recht bei der Bestimmung des eingriffsrechtlichen Erfüllungsortes .......................................... 87 a) Bestimmung nach der lex fori............................................... 87 b) Bestimmung nach der lex causae .......................................... 88 c) Unionsrechtlich autonome Bestimmung ............................... 89 d) Stellungnahme ...................................................................... 89 2. Rechtlicher oder faktischer Erfüllungsort? ................................ 93 IV. Zusammenfassung und Bewertung ................................................ 94 § 5 Rechtsfolgenseite des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO .................................... 94 A. Bisherige Anknüpfungsmodelle zu Art. 7 Abs. 1 EVÜ / Art. 34 EGBGB ............................................................................................... 95 I. Schuldstatutstheorie und Abwandlungen ...................................... 96 1. Datumstheorie ........................................................................... 97 2. Machttheorie ............................................................................. 98 3. Territorialitätsprinzip ................................................................ 99 II. Materiellrechtliche Berücksichtigung ......................................... 100 III. Kollisionsrechtliche Sonderanknüpfung...................................... 102 IV. Kumulationstheorie ..................................................................... 104 B. Wirkungsverleihung in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ............................... 105 I. Absage an die Schuldstatutstheorie und das Territorialitätsprinzip .................................................................. 105 II. Bedenken gegen die Datums- und die Machttheorie ................... 106 III. Sonderanknüpfung ausländischer Eingriffsnormen unter den besonderen Voraussetzungen des Tatbestands von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO .............................................................. 109 C. Sperrwirkung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO? ...................................... 111 I. Enge Auslegung des Absatz 3 mit der Konsequenz absoluter Sperrwirkung .............................................................................. 112

Inhaltsverzeichnis

XIII

II. Weite Auslegung des Absatz 3.................................................... 113 III. Zweistufige Lösung .................................................................... 113 IV. Stellungnahme ............................................................................ 114 D. Das Ermessen in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ......................................... 117 I. Art und Zweck der Eingriffsnorm ............................................... 117 II. Folgen der Anwendung und Nichtanwendung............................. 120 1. Faktische Durchsetzungsmacht ............................................... 120 2. Anerkennungsfähigkeit des Urteils .......................................... 121 3. Äquivalenzprüfung .................................................................. 121 4. Zusammenfassung ................................................................... 122 § 6 Eingriffsnormen der lex causae und Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ........... 123 A. Privilegierung von Eingriffsnormen der lex causae? ......................... 123 B. Anwendung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO auf Eingriffsnormen der lex causae und drittstaatliche Eingriffsnormen gleichermaßen .......... 124 C. Stellungnahme ................................................................................... 124 I. Praktische Relevanz .................................................................... 124 II. Indizien für eine Privilegierung von Eingriffsnormen der lex causae ............................................................................. 125 1. Englische Rechtstradition ........................................................ 125 2. Drohende „Zerstückelung“ der Verweisung ............................ 125 III. Gründe für die Anwendung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO auf Eingriffsnormen der lex causae ................................................... 126 1. „Zerstückelte“ Anwendung einer Rechtsordnung als kollisionsrechtlicher Regelfall ................................................. 126 2. Formulierung im Kommissionsentwurf von 2005.................... 126 3. Erwägungsgrund 37 und Dogmatik des Eingriffsrechts ........... 127 IV. Zwischenergebnis ....................................................................... 128 § 7 Zusammenfassung und Bewertung ................................................... 129 A. Zusammenfassung ............................................................................. 129 B. Bewertung ......................................................................................... 130 § 8 Exkurs: Ausländische Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung .. 131 A. Entstehungsgeschichte ....................................................................... 131 B. Konsequenzen des Streichens der Regelung über ausländische Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung ...................................... 133 I. Praktische Relevanz .................................................................... 133 II. Meinungsstand ............................................................................ 135 III. Stellungnahme ............................................................................ 135 C. Anwendungsbeispiel .......................................................................... 136

XIV

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4: Primärrechtliche Vorgaben bei der Anwendung von Art. 9 Rom I-VO ........................................................................ 138 § 1 Primärrechtliche Einschränkungen bei der Anwendung mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen....................................................... 138 § 2 Primärrechtliche Anwendungspflicht unionsrechtlicher Eingriffsnormen? ................................................................................... 139 A. Eingriffsnormen des Unionsrechts ..................................................... 140 B. Eingriffsnormen anderer EU-Mitgliedstaaten .................................... 140 I. Hintergrund ................................................................................ 141 II. Grundlagen der Anwendungspflicht............................................ 142 1. Art. 4 Abs. 3 EU-Vertrag (ex-Art. 10 EG-Vertrag) ................. 142 2. Prozessrechtliche Zuständigkeits- und Verfahrenskonzentration........................................................................... 143 3. Rechtstechnische Umsetzung der Anwendungspflicht ............. 143 III. Stellungnahme ............................................................................ 144

Kapitel 5: Zusammenfassung, abschließende Würdigung und Normvorschlag ........................................................................... 146 § 1 Zusammenfassung in Thesen ............................................................ 146 A. Begriff der Eingriffsnorm .................................................................. 146 B. Eingriffsnormen der lex fori .............................................................. 147 C. Ausländische Eingriffsnormen .......................................................... 147 D. Primärrechtliche Vorgaben bei der Anwendung von Art. 9 Rom I-VO ............................................................................... 148 § 2 Abschließende Würdigung ................................................................ 148 § 3 Normvorschlag ................................................................................. 150

Literaturverzeichnis ............................................................................... 151 Materialien ............................................................................................. 163 Sachregister ........................................................................................... 165

Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. ABl. EG ABl. EU Abs. AEntG

AEUV

AnwBl. Art. Aufl. BAG BAnz. Bd. BGB BGH BGHZ

anderer Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft (1958 ff.; 1952-1957: Gemeinschaft für Kohle und Stahl) Amtblatt der Europäischen Union (2003 ff.) Absatz Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer vom 26. Februar 1996, BGBl. I S. 227 ff. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung der Bekanntmachung vom 9.4.2008, ABl. EU 2008 Nr. C 115 S. 47 ff. Anwaltsblatt (1926–33, 1951 ff.) Artikel Auflage

bzw.

Bundesarbeitsgericht Bundesanzeiger Band Bürgerliches Gesetzbuch vom 19.8.1896 (RGBl. S. 195 ff.). Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen (1951 ff.) Drucksachen des Deutschen Bundesrates (1949 ff.) Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 2001 Nr. L 12 vom 16.01.2001, S. 1 ff. Drucksachen des Deutschen Bundestages (1949 ff.) Bulletin des Arrêts de la Cour de Cassation. Chambres Civiles, (1803 ff.) beziehungsweise

ComMLRev

Common Market Law Review: CMLR, Den Haag (1963 ff.)

d.h. DZWiR

das heißt Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht (1999 ff.)

BRDrucks. Brüssel I-VO

BTDrucks. Bull arr Cass civ

XVI EG EGV

Abkürzungsverzeichnis

EWG EWiR

Europäische Gemeinschaft(en) Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 7.2.1992 (BGBl. II S. 1253, 1256) in der Fassung vom 2.10.1997 (BGBl. II S. 287) Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts Erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivilund Handelssachen vom 27.9.1968 (BGBl. 1972 II S. 774 ff.) Europa-Recht und andere internationale Verträge (1957 ff.) The European Legal Forum, deutsche Ausgabe (1. 2000/2001 ff.) Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (1. 1990 ff.) Römisches EWG-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 19.6.1980 (BGBl. 1986 II S. 810) Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht (1985 ff.)

f. ff. Fn. FS

folgende/r folgende Fußnote Festschrift

GewArch

Gewerbearchiv – Zeitschrift für Wirtschaftsverwaltungsrecht (1955 ff.) Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht (2003 ff.) Gedächtnisschrift Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 27.7.1957 (BGBl. I S. 1081)

EU EuGH EuGHE EuGVÜ

EUR EurLForum (D) EuZW EVÜ

GPR GS GWB

h.L. h.M. HOAI Hrsg. Hs. ICLQ i.d.R. i.V.m. IHR IPR IPRax IPRG

herrschende Lehre herrschende Meinung Honorarordnung für Architekten und Ingenieure vom 17.9.1976 (BGBl. I S. 2805) Herausgeber Halbsatz

IZVR

The International and Comparative Law Quarterly (1952 ff.) in der Regel in Verbindung mit Internationales Handelsrecht (1999 ff.) Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts (1981 ff.) Schweizerisches Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht vom 1.1.1989 (AS 1988, S. 1776 ff.) Internationales Zivilverfahrensrecht

JBl.

Juristiaxhw Blätter (1872 ff.)

Abkürzungsverzeichnis JZ JIBFL

XVII

JprivIntL

Juristenzeitung (1951 ff.) Butterworths Journal of International Banking and Financial Law (1986 ff.) Journal of Private International Law (2005 ff.)

LG lit.

Landgericht litera

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

Ned int privR NJW Nr.

Nederlands internationaal privaatrecht, (1983 ff.) Neue Juristische Wochenschrift (1947/48 ff.) Nummer

o. OGH

oben Österreichischer Oberster Gerichtshof

RabelsZ

Rs.

Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (1927 ff.) Recueil des cours de l’academie de Droit International (1925 ff.) Revue critique de droit international privé (1934 ff.) Revue de droit commercial belge (1983 ff.) Recht der internationalen Wirtschaft, Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters (21. 1975 ff., vorher AWD) Richtlinie Randnummer Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. EG Nr. L 177, S. 6 ff. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnis anzuwendende Recht (Rom I) vom 15.12.2005, KOM (2005) 650 endgültig Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht ( Rom II ), Bbl. Nr. L 199, S. 40 ff. Vorschlag für eine Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), 22.7.2003, KOM (2003) 427 endgültig Geänderter Vorschlag für eine Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), 21.2.2006, KOM (2006) 427 endgültig Rechtssache

S. s. s.o. s.u.

Seite siehe siehe oben siehe unten

Rec cours Rev crit dr int priv Rev dr comm belge RIW RL Rn. Rom I-VO

Rom I-VO-E

Rom II-VO

Rom II-VO-E 2003

Rom II-VO-E 2006

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

u.a. UrhG

unter anderem Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte vom 9.9.1965 (BGBl. I, S. 1273)

v. VersR vgl. VO

versus Versicherungsrecht. Juristische Rundschau für die Individualversicherung (1950 ff.) vergleiche Verordnung

WM

Wertpapiermitteilungen (1947 ff.)

YbPrivIntL

Yearbook of Private International Law, Den Haag (1999 ff.)

z.B. ZEuP ZfRV

zum Beispiel Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (1993 ff.) Zeitschrift für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Europarecht (191 ff.) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (1878 ff.)

ZvglRW

Einführung § 1 Gegenstand der Arbeit Gegenstand der Arbeit

Der Umfang staatlicher Eingriffe in die rechtlichen Verhältnisse Privater hat seit Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich zugenommen. Diese Eingriffe erfolgen aus unterschiedlichen Motiven. Klassisch greift der Staat vorzugsweise im Bereich der Wirtschafts- und Sozialordnung regulierend ein, in jüngerer Zeit jedoch auch zunehmend in Politikfeldern wie etwa dem Schutz der Umwelt, der öffentlichen Sicherheit oder des nationalen Kulturgutes. In diesen und anderen Bereichen Vorschriften zu erlassen ist ein Trend, der weltweit um sich greift. All diesen Vorschriften ist zweierlei gemein: Erstens dienen sie nicht oder zumindest nicht ausschließlich dem privaten Interessenausgleich, sondern in erster Linie dem Staats- oder Allgemeinwohl. Sie sind ordnungsrelevant.1 Zweitens ist in den Grenzen des Völkerrechts und im europäischen Binnenmarkt innerhalb der Grenzen des Europäischen Unionsrechts jeder Staat frei, solche Normen für international zwingend zu erklären.2 Man nennt diese Vorschriften dann „Eingriffsnormen“.3 Sie erheben Anwendungsanspruch unabhängig vom an sich anwendbaren Recht, gleich, ob dieses durch Rechtswahl der Parteien oder durch objektive Anknüpfung bestimmt wird. Wann eine Eingriffsnorm vorliegt und unter welchen Voraussetzungen sie zur Anwendung kommen kann, ist freilich seit jeher höchst umstritten,4 berührt das Eingriffsrecht damit doch die Leitprinzipien des Internationalen Privatrechts: Dieses geht grundsätzlich von der Gleichwertigkeit aller Rechtsordnungen aus und erhebt den Anspruch, unter Betrachtung des in Frage stehenden Lebenssachverhalts das Recht des Staates zu berufen, das am sachnächsten ist.5 Das Eingriffsrecht steht diesem Grundprinzip gewissermaßen diametral entgegen, indem es bestimmte Sachnormen für so gewichtig erklärt, dass sie entgegen den Grundregeln 1

Rehbinder, JZ 1973, 151 (156). Kropholler, IPR, § 52 IX, S. 497; Magnus/Mankowski, ZvglRW 103 (2004), 131 (175). 3 Zwischenzeitlich war auch versucht worden, das Phänomen mit dem Terminus „Wirtschaftskollisionsrecht“ zu umschreiben, vgl. etwa Habermeier, S. 128 ff. 4 Freitag, IPRax 2009, 109 (109) m.w.N. 5 Hierzu von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. VIII. 2

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Einführung

zur Anwendung kommen können. Sonnenberger hat deshalb den anschaulichen Begriff vom Eingriffsrecht als „trojanischem Pferd im IPR“ geprägt.6 Die bisherige Regelung in den EU-Mitgliedstaaten betreffend zwingende Vorschriften im Rahmen vertraglicher Schuldverhältnisse in Art. 7 des Römischen EWG-Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht (EVÜ) vom 19.6.1980,7 das in Deutschland in Art. 27 bis 37 in das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) inkorporiert worden war (vgl. Art. 34 EGBG)8, ist mit Inkrafttreten der Rom I-Verordnung9 von deren Art. 9 abgelöst worden. Die Erörterung dieser Vorschrift steht im Zentrum dieser Arbeit. Im Bereich der außervertraglichen Schuldverhältnisse findet sich eine Parallelvorschrift in Art. 16 Rom II-Verordnung.10 Hierauf wird in Exkursen an passender Stelle eingegangen werden.

§ 2 Gang der Darstellung Gang der Darstellung

Der Aufbau dieser Arbeit orientiert sich an der Normstruktur des Art. 9 Rom I-VO und gliedert sich demnach – ebenso wie diese in drei Absätze unterteilte Vorschrift – im Wesentlichen in die folgenden drei Teile: Zunächst wird in Kapitel 1 der Begriff der Eingriffsnorm anhand der Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO erläutert und konkretisiert. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Frage, anhand welchen Maßstabes nationale Gesetzgeber beim Erlass von Eingriffsnormen durch den EuGH kontrolliert werden sollen. Sodann erfolgt eine Abgrenzung zu Regelungen betreffend anderer zwingender Vorschriften in der Rom I-Verordnung sowie zum Ordre public. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Anknüpfung von Eingriffsnormen des Forumstaates und der hierfür maßgeblichen Regelung des Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO. An die entsprechenden Ausführungen schließt sich ein

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Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (104). BGBl. 1986 II, S. 810 ff. 8 Allerdings hatte Deutschland einen Vorbehalt gemäß Art. 22 lit. a EVÜ gegen Art. 7 Abs. 1 EVÜ eingelegt, so dass nur Art. 7 Abs. 2 EVÜ dem Art. 34 EGBGB entsprach, näher unter 0., S. 50. 9 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), Abl. Nr. L 177, S. 6 ff. Berichtigung in ABl. EU 2009, Nr. L 309, S. 87 ff. 10 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. Nr. L 199, S. 40. 7

Gang der Darstellung

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Exkurs zur Parallelregelung in der Rom II-Verordnung (Art. 16 Rom IIVO) an. Das dritte Kapitel befasst sich mit der umstrittensten Regelung des Art. 9 Rom I-VO, dem Absatz 3, der die Anknüpfung ausländischen Eingriffsrechts zum Gegenstand hat. Eingangs des Kapitels 3 wird zunächst der Frage nachgegangen, weshalb überhaupt eine Notwendigkeit für die Anwendung von Eingriffsnormen besteht, die weder dem Recht des Forumstaates noch dem Vertragsstatut entstammen. Es folgen Ausführungen zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift und zum rechtshistorischen Hintergrund, die für die Auslegung der Norm unerlässlich sind. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Betrachtung der englischen Methode für die Behandlung von Eingriffsnormen, da sich das englische eingriffsrechtliche Konzept insbesondere in Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-VO sehr deutlich wiederfindet. In der Folge werden zunächst die einzelnen Tatbestandsmerkmale des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO eingehend erörtert, ehe sich die Darstellung der zentralen Frage nach der Rechtsfolgenanordnung der Vorschrift zuwendet. Hierfür werden die wichtigsten herkömmlich vertretenen Anknüpfungsmodelle vorgestellt und sodann auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO untersucht. Im Anschluss daran wird zu dem Spezialproblem der Anwendung von Eingriffsnormen des Vertragsstatuts Stellung genommen. Die Arbeit schließt mit einem Exkurs zur Behandlung ausländischer Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung, mit einer knappen Übersicht der wichtigsten Vorgaben des europäischen Primärrechts für Eingriffsnormen sowie einer Zusammenfassung in Thesen und einer abschließenden Wertung, die zugleich einen Vorschlag für die Überarbeitung des Art. 9 Rom I-VO enthält.

Kapitel 1

Begriff der Eingriffsnorm Um der Fragestellung nachzugehen, unter welchen Voraussetzungen Eingriffsnormen beachtlich sind und das an sich anwendbare Recht verdrängen, bedarf es zunächst einer Begriffsklärung. Der Ausdruck „Eingriffsnorm“ entstammt ursprünglich weder dem deutschen Gesetzesrecht noch dem EVÜ, er ist vielmehr in der Literatur entstanden und wohl von Karl Neumeyer im international-verwaltungsrechtlichen Kontext begründet worden, der in den 1930er Jahren vom „eingreifenden Rechtssatz“ als Gegenbegriff zum bloß abwehrenden ordre public Vorbehalt sprach.1 Diese Begrifflichkeit wurde knapp 25 Jahre später für das Kollisionsrecht von Karl Neumayer übernommen2 und verbreitete sich in der Folgezeit in der Literatur,3 ohne jedoch in der deutschen oder europäischen Gesetzesterminologie aufzutauchen. Ein Begriff des Gesetzesrechts ist der Terminus „Eingriffsnormen“ erstmals in Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO geworden.4 Im EGBGB und der deutschen Fassung des EVÜ fand sich bislang stattdessen der Ausdruck „zwingende Normen“ in Art. 34 EGBGB bzw. Art. 7 EVÜ.5 Ganz allgemein versteht man unter „zwingenden Normen“ solche Vorschriften, die nicht der Parteidisposition unterliegen.6 Die Banalität dieser Aussage verflüchtigt sich auf internationaler Ebene, wo die Parteien durch Rechtswahl7 eine Rechtsordnung berufen oder abwählen können und mit ihr ihre zwingenden Bestimmungen.8 1

Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht Band 4, S. 228; weitere Nachweise zur Entstehungsgeschichte und Begriffsbildung bei Siehr, RabelsZ 52 (1988), 41 (41); Neuhaus, § 4 II; MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 37. 2 Neumayer, RabelsZ 25 (1960), S. 649 ff. 3 Siehr, RabelsZ 52 (1988), 41 (41). 4 Näher unter § 1; S. 5. 5 Der Begriff findet sich im EGBGB ferner in Art. 27 Abs. 3 S. 1, 29 Abs. 1, 29a und 30 Abs. 1. Im französischen Recht spricht man von „lois d’ordre public international“, „lois de police“ oder „dispositions impératives“, in Italien von „disposizioni imperative“ oder „norme di applicazione necessaria“, im englischen Sprachraum ist der Begriff „mandatory rules“ üblich. Vgl. auch den Überblick über die unterschiedlichen Sprachfassungen des EVÜ bei Siehr, RabelsZ 52 (1988), 41 (42). 6 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 10. 7 Vgl. Art. 3 Rom I-VO-E, bisher Art. 27 EGBGB, Art. 3 EVÜ. 8 Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217 (221).

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Kapitel 1: Begriff der Eingriffsnorm

Unterschieden werden muss somit zunächst zwischen einfach zwingenden und international zwingenden Normen. Beiden ist gemein, dass sie im Erlassstaat nicht dispositiv sind. Während die Vertragsparteien die Anwendung der einfach zwingenden Normen aber mittels der Wahl einer anderen Rechtsordnung – in den Grenzen des Art. 3 Abs. 3 und 4 Rom I-VO – verhindern können,9 setzen sich letztere auch gegen eine Rechtswahl oder objektive Anknüpfung durch.10 Nur solch international zwingende Normen werden als Eingriffsnormen bezeichnet.11 Von einer Eingriffsnorm kann also nur dann ausgegangen werden, wenn die Vorschrift den Sachverhalt unabhängig von dem nach den allgemeinen Regeln auf den Vertrag anzuwendenden Recht regeln möchte. Eine weitere Differenzierung des Begriffs „Eingriffsnormen“ kann anhand zweier unterschiedlicher Ansätze vorgenommen werden, die beide nach der Herkunft der jeweiligen Eingriffsnorm fragen: Herkömmlich wird eine Untergliederung in drei Arten von Eingriffsnormen vorgenommen. Eingriffsnormen können demnach dem auf den Vertrag anwendbaren Recht entstammen (der lex causae), sei es durch Rechtswahl oder durch objektive Anknüpfung bestimmt. Man spricht auch von „statutseigenen Eingriffsnormen“.12 Bestimmt sich ein Vertrag also nach niederländischem Recht, dann gelten auch die zwingenden Vorschriften der Niederlande. Zweitens kann es sich um Eingriffsnormen des Gerichtsstaates handeln (der lex fori), die sich gegen die Anwendung eines fremden Rechts durchsetzen. Wendet etwa ein deutsches Gericht französisches Recht an, so können hiernach dennoch deutsche Eingriffsnormen zu Anwendung kommen. Darüber hinaus können aber auch drittstaatliche Eingriffsnormen Geltungsanspruch beanspruchen, die weder der lex causae noch der lex fori angehören.13 Alternativ kann auch nur eine Untergliederung in zwei Kategorien erfolgen, es wird dann nur zwischen inländischen (womit solche der lex fori gemeint sind) und ausländischen (statutszughörigen oder drittstaatlichen) Eingriffsnormen unterschieden.14 Welcher der beiden Ansätze vorzugswürdig ist, bestimmt sich danach, wie die Eingriffsnormen der lex causae zu behandeln sind, was an späterer Stelle erörtert wird.15

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MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 7; Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 491. 10 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 8. 11 Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 172; Schnyder, Zwingendes Recht, S. 90. 12 Anderegg, S. 5. 13 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 1. 14 Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217 (244 ff.); von Hoffmann/Thorn, § 10 Rn. 92. 15 Vgl. unter § 6; S. 118.

§ 1 Die Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO

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§ 1 Die Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO Die Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO

Im Grünbuch zur Rom I-Verordnung vom 14.1.200316 hatte die Europäische Kommission unter anderem die Frage aufgeworfen, ob die Bedeutung des Begriffs „zwingende Bestimmungen“ bzw. „zwingende Vorschriften“ im Rahmen eines sog. Restatement des Art. 7 EVÜ der Präzisierung bedürfe.17 Dies war in den hierzu ergangenen Stellungnahmen überwiegend bejaht worden.18 In der Folge trägt Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO, anders als Art. 7 Abs. 1 EVÜ, erstmals den Begriff „Eingriffsnormen“ in Normtext und Überschrift – was die Literatur überwiegend begrüßt19 – und formuliert folgende Legaldefinition20: „Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen.“

Konstitutiv ist damit zweierlei: Vorliegen muss erstens eine Norm mit internationalem Geltungsanspruch („ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts“), die zweitens eine überindividuelle Zielrichtung aufweist („entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation“).

16 Grünbuch über die Umwandlung des Übereinkommens von Rom aus dem Jahr 1980 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht in ein Gemeinschaftsinstrument sowie über seine Aktualisierung, KOM (2002) 654 endgültig. 17 Vgl. Fn. 16. 18 Magnus/Mankowski, ZvglRW 103 (2004), 131 (175); MPI, RabelsZ 68 (2004), 1 (53); Deutscher Rat für IPR, Stellungnahme Rom I, 8; dagegen: Regierung der Bundesrepublik Deutschland, Stellungnahme Rom I, 10. 19 Magnus, IPRax 2010, 27 (44); Freitag, IPRax 2009, 109 (112); Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 1; Mankowski, IPRax 2006, 101 (109); Mauer/Stadtler, RIW 2008, 544 (547); Auch der Titel der englischen Sprachfassung, der in den Vorentwürfen noch „mandatory rules“ lautete, wurde nach Einwänden der Literatur, die u.a. den Titel „international mandatory rules“ vorgeschlagen hatte, siehe MPI, RabelsZ 2007, 225 (315), ergänzt und lautet nunmehr „overriding mandatory provisions“; vgl. auch Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 294; Bonomi, YbPrivIntL 10 (2008), 285 (287). Jayme hingegen hält den Begriff „Eingriffsnormen“ nach der Ingmar-Entscheidung (vgl. Fn. 55) für „überholt“, vgl. Jayme, Die Vergemeinschaftung, S. 3 (10). Dickinson befand die Defintition für „halbherzig und geeignet, für noch mehr Verwirrung zu sorgen“, JPrivIntL Vol. 3 No. 2 (2007), 53 (67). 20 Ausführlich zur Definition Kunda, GPR 2007, 210 ff.

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Kapitel 1: Begriff der Eingriffsnorm

A. Internationaler Geltungsanspruch Erste Voraussetzung ist also, ebenso wie schon nach der Regelung des Art. 7 EVÜ21, zu der insofern kein Unterschied besteht22, der internationale und nicht nur der intern zwingende Geltungsanspruch.23 Diesen Anwendungsanspruch einer Norm kann jeder nationale Gesetzgeber dem Grunde nach frei festlegen,24 mangels ausdrücklicher Anordnung ist er durch Auslegung zu ermitteln.25 Er liegt dann vor, wenn die Norm ohne Rücksicht auf das ansonsten anzuwendende Recht sachlich und räumlich Geltung beansprucht, mithin Anwendungswillen besitzt.26 Mitunter wird auch von Anwendungsinteresse, Geltungswille oder -interesse gesprochen.27 Ausdrücklich ergibt sich der internationale Geltungsanspruch beispielsweise aus dem Wortlaut des § 130 Abs. 2 GWB28, der das GWB auch bei Sachverhalten mit Auslandsbezug für anwendbar erklärt,29 oder aus dem des § 32b Nr. 1 UrhG30, der eine angemessene Vergütung in urheberrechtlichen Nutzungsverträgen festsetzt.31 Bei § 244 BGB sowie bei § 89b HGB hingegen ergibt er sich nicht aus der Norm selbst, sondern erst aus dem Zusammenspiel mit einer besonderen Kollisionsregel.32 B. Überindividuelle Zielrichtung Eine Neuerung gegenüber Art. 7 EVÜ sieht die Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO dergestalt vor, den Anwendungsbereich auf Vorschriften zu beschränken, die der Wahrung der „politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation“ dienen. Die gewählte Formulierung ist an die Arblade-Entscheidung des EuGH angelehnt,33 die allerdings nicht in erster 21

Art. 7 Abs. 1 S. 1 EVÜ: „[…] soweit diese Bestimmungen nach dem Recht des letztgenannten Staates ohne Rücksicht darauf anzuwenden sind, welchem Recht der Vertrag unterliegt.“ 22 Thorn, Eingriffsnormen, S. 129 (131). 23 Bitterich, GPR 2006, 161 (164); zur bisherigen deutschen Regelung in Art. 34 EGBGB siehe Begründung BTDrucks 10/504, 83; Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 51; Junker, IPRax 2000, 65 (70); Wiese, S. 181 f. 24 Martiny, FS Heldrich, S. 913. 25 Kropholler, IPR, § 52 IX, S. 498; Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (109). 26 Wengler, ZvglRW 54 (1941), 169 (181 ff.); Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 288 ff. 27 Näher zur Terminologie Coester, ZvglRW 82 (1983), 1 (9). 28 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 27.7.1957, BGBl. I S. 1081. 29 Näher Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 610. 30 Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte vom 9.9.1965, BGBl. I, S. 1273. 31 Näher Wandtke/Bullinger/von Welser, UrhR, § 32b UrhG Rn. 1 ff. 32 Vgl. zu § 89b HGB als international zwingendes Recht Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 601. 33 EuGH, 23.11.1999, Rs. C-369/96 und C-374/96 – „Arblade“, EuGHE 1999 I, 8453 = RIW 2000, 137, Erwägungsgrund 30: „Was die zweite Frage in beiden Rechtssachen

§ 1 Die Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO

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Linie die Definition des Begriffs „Eingriffsnormen“, sondern vielmehr die Grenzen einer gemeinschaftsrechtlichen Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht zum Inhalt hat.34 Es handelte sich zudem um keinen eigenen Definitionsversuch des EuGH,35 sondern um eine bereits 1966 von Francescakis geprägte Formulierung,36 die der EuGH und in der Folge der europäische Gesetzgeber schlicht wortgleich übernahm.37 I. Sonderprivatrecht als Eingriffsnormen? Worin die überindividuelle Zielrichtung bestehen soll, ist indes nicht ganz eindeutig, es verbleibt ein gewisser Auslegungsspielraum: Der Wortlaut der Definition könnte so verstanden werden, dass nur öffentlichrechtliche Vorschriften erfasst sein sollen, nicht jedoch solche des Privatrechts.38 Dies würde für das Eingriffsrecht eine echte Dichotomie zwischen öffentlichrechtlichen Vorschriften einerseits und privatrechtlichen Vorschriften anderseits bedeuten, wie sie seit Jahren vereinzelt in der Literatur gefordert wird.39 Insbesondere Vorschriften des Sonderprivatrechts wären bei einem solchen Normverständnis nicht erfasst. Im deutschen Recht werden dem Sonderprivatrecht herkömmlich Normen des Verbraucherschutzes, des Wohnungsmietrechts sowie des Arbeitsrechts zugeordnet, in jüngerer Zeit aber auch unter anderem Vorschriften des Urheberrechts, des Werkvertragsrechts40 oder des Rechts zum Schutz des Handelsvertreters41. II. Auffassungen in den Mitgliedstaaten unter Geltung des EVÜ Unter Geltung des Art. 7 EVÜ wurde in Deutschland bislang für die Klassifizierung als Eingriffsnorm zumeist gefordert, dass die Vorschrift vorrangig im öffentlichen Interesse liegen muss und nicht nur den individuelbezüglich der im belgischen Recht vorgenommenen Qualifizierung der streitigen Vorschriften als Polizei- und Sicherheitsgesetze betrifft, so sind unter diesem Begriff nationale Vorschriften zu verstehen, deren Einhaltung als so entscheidend für die Wahrung der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation des betreffenden Mitgliedstaats angesehen wird, dass ihre Beachtung für alle Personen, die sich im nationalen Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befinden, und für jedes dort lokalisierte Rechtsverhältnis vorgeschrieben ist.“ Die irreführende Bezeichnung „Polizei- und Sicherheitsgesetze“ ist eine misslungene Übersetzung des französischen Terminus für Eingriffsnormen „lois de police“. 34 Bitterich, GPR 2006, 161 (164); Plender/Wilderspin, Rn. 12-005: „Arblade (…) had little or nothing to do with the conflict of laws“. 35 Mankowski, IHR 2008, 133 (147). 36 Francescakis, Rép dr int, Nr. 136 f., 174 ff. 37 jurisPK-BGB/Ringe, Art. 9 Rom I-VO Rn. 11. 38 Thorn, Eingriffsnormen, S. 129 (131). 39 Von Bar/Mankowski, § 4 Rn. 93. 40 Zuletzt viel diskutiert: § 4 HAOI, vgl. etwa BGH, 27.2.2003, NJW 2003, 2020 ff. 41 Vgl. § 89b HGB, hierzu Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 601.

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Kapitel 1: Begriff der Eingriffsnorm

len Interessen der Vertragsparteien dient.42 Ob die Vorschrift dem privaten oder dem öffentlichen Recht entstammt, galt als unbeachtlich.43 Im deutschen Recht umfasste Art. 34 EGBGB nach herrschender Auffassung und ständiger Rechtsprechung auch Sonderprivatrecht,44 sofern es nicht nur Individual- sondern auch öffentlichen Interessen diente.45 Auch in Italien46 und Frankreich47 wurde überwiegend angenommen, dass individualschützende Vorschriften als zwingende Bestimmungen im Sinne des Art. 7 Abs. 2 EVÜ eingeordnet werden können. In den Niederlanden48 und in Schweden49 war das Bild uneinheitlich, teils wurde Sonderprivatrecht, insbesondere verbraucher- und arbeitnehmerschützende Vorschriften, als von Art. 7 Abs. 2 EVÜ erfasst angesehen, teils wurde dies abgelehnt.50 In England herrscht seit jeher das Verständnis vor, dass die statutes selbst Auskunft darüber geben müssen, in welchen Umfang ihnen ein Overriding Effect zukommen soll.51 Sofern die Anwendungsbefehle ausreichend sind, sollen auch privatschützende Vorschriften nach Art. 7 Abs. 2 EVÜ Vorrang vor ausländischem Recht haben,52 sodass auch hier keine ausschließliche Begrenzung auf öffentlichrechtliche Vorschriften vorgenommen wurde. Eine grobe und überblicksartige Betrachtung einzelner mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen gibt zwar kein vollständig einheitliches Bild ab. Es überwiegt jedoch eindeutig die Ansicht, dass Sonderprivatrecht von Art. 7 EVÜ erfasst sein soll. Eine strenge Beschränkung auf öffentliche Interessen lässt sich der rechtsvergleichenden Betrachtung jedenfalls nicht entnehmen.53 Dies unterstreichen auch die Materialien zum EVÜ. Der Bericht von Giuliano/Lagarde nannte als Beispiele für Eingriffsnormen Vorschriften

42

In diesem Sinne die Leitentscheidung BAG, 24.8.1989, IPRax 1991, 407 (411). So ausdrücklich die deutsche Gesetzesbegründung zu Art. 34 EGBGB, BTDrucks 10/504, 83; ferner BAG IPRax 1994, 123 (128); Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 50. 44 Von Hoffmann, IPRax 1989, 261 ff. 45 Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (106). 46 Mosconi, S. 174 ff. 47 Mayer/Heuzé, S. 83 Rn. 123. 48 De Boer, RabelsZ 54 (1990), 24 (60). 49 Palsson, S. 114 sowie 116. 50 Vgl. hierzu die Nachweise bei de Boer, RabelsZ 54 (1990), 24 (60) für die Niederlande und Palsson, S. 114 sowie 116 für Schweden. 51 Vgl. etwa Section 27 (2) Unfair Contract Terms Act 1977, hierzu Mann, ICLQ, Vol. 27, No. 3 (1978), S. 661-664. 52 Cheshire/North, S. 132. 53 Zum selben Ergebnis kommt Müller, S. 51. 43

§ 1 Die Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO

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des Kartell- und Wettbewerbsrechts, des Verbraucherschutzrechts und des Beförderungsrechts, also gerade Bereiche des Sonderprivatrechts.54 Schließlich nahm auch der EuGH in seinem Urteil Ingmar/Eaton Leonard Technologies55 an, dass Sonderprivatrecht – namentlich gemeinschaftsrechtliche Handelsvertreterschutzvorschiften – Gegenstand des Eingriffsrechts sein können. Französische56 und niederländische57 Gerichte hatten in früheren Entscheidungen eben diese Vorschriften als nur intern zwingend betrachtet. Der EuGH hingegen führte in Erwägungsgrund 2558 der Entscheidung aus: „Daher ist es für die gemeinschaftliche Rechtsordnung von grundlegender Bedeutung, dass ein Unternehmer (…) diese Bestimmungen nicht schlicht durch eine Rechtswahlklausel umgehen kann.“ Dass sich grundsätzlich auch Sonderprivatrecht als Eingriffsnorm eignet, darf somit in der für die Auslegung des EVÜ maßgeblichen Rechtspraxis des EuGH als anerkannt gelten.59 III. Konsequenzen für Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO Insbesondere im Lichte der Ingmar-Entscheidung dürfte auch für Art. 9 Rom I-VO ungeachtet seines missverständlichen Wortlauts gelten, dass Vorschriften des Sonderprivatrechts weiterhin als Eingriffsnormen eingeordnet werden können.60 Mit Blick auf die gesetzgeberische Intention könnte hiergegen zwar Erwägungsgrund 37 der Verordnung sprechen, der betont, dass der Begriff „Eingriffsnormen“ von den Bestimmungen, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann, unterschieden werden muss und eine engere Auslegung zu erfolgen hat. Für eine Einbeziehung des Sonderprivatrechts spricht aber insbesondere, dass die strikte Zweiteilung zwischen privatem und öffentlichem Recht nur scheinbar für Klarheit sorgt61: Nicht nur öffentlichrechtliche, sondern auch privatrechtliche Vorschriften sind zur Verfolgung staatlicher Allgemeininteressen geeignet und vielfach sogar austauschbar.62 Jede Vorschrift des Privatrechts 54

BTDrucks. 10/503, Anmerkungen zu Art. 7 EVÜ, Absatz 4, S. 60. EuGH, 9.11.2000, Rs. C-381/98 – „Ingmar“, EuGHE 2000 I, 9305 = IPRax 2001, 225; Anmerkungen zur Ingmar-Entscheidung bei Schnyder, Zwingendes Recht, S. 91; Schurig, FS Jayme, S. 837 ff; Kühne, FS Heldrich, 815 (821). 56 Cour de Cassation, 28.11.2000, Bull arr Cass civ, IV No. 183, 160. 57 Rb. Arnheim, 11.7.1991, Ned int privR 1992, 151, Nr. 100. 58 Vgl. oben Fn. 55, IPRax 2001, 225 (227). 59 Thorn, Eingriffsnormen, S. 133; MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 39 ff. 60 Roth, FS Immenga, S. 331 (340). 61 MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 36. 62 Fetsch, S. 135. Ausführlich hierzu die Beiträge in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen; MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 12. 55

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Kapitel 1: Begriff der Eingriffsnorm

ist ein Gestaltungsakt des Gesetzgebers und bringt als solche auch eine Wertung zum Ausdruck.63 Nicht jede Privatrechtsnorm ist aber eine Eingriffsnorm. Hinzu kommt, dass die Konzeption der Begriffe öffentliches Recht und Privatrecht von Staat zu Staat variiert,64 was die vermeintliche Klarheit dieser Abgrenzung endgültig beseitigt. Man mag sich fragen, ob es sich in Anbetracht dessen bei Art. 9 Abs. I Rom I-VO insofern letztlich nur um eine Hinweisvorschrift65 auf den Rahmen der Grundfreiheiten oder gar um eine „Leerformel“66 handelt, die der Gesetzgeber beliebig weit auszudehnen vermag. Eine gewisse Einschränkung ergibt sich immerhin daraus, dass die Vorschrift ausweislich des Wortlauts entscheidend für die Wahrung der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation sein muss.67 Das überindividuelle Interesse muss also qualifizierter Art sein. Dabei könnte sich das „so entscheidend“ auf den zu schützenden Gemeinwohlbelang selbst und/oder auf den Beitrag, den die entsprechende Norm zum Schutz desselben zu leisten vermag, beziehen. Man könnte es aber auch so verstehen, dass – vorbehaltlich einer Grundfreiheitenkontrolle – allein nach Maßgabe des einzelstaatlichen Rechts zu fragen sein könnte, welche Norm „gewichtig genug“ ist, um Eingriffsnorm zu sein.68 Letztere Auslegung dürfte sich allerdings kaum mit der Intention der Vorschrift und insbesondere dem Vereinheitlichungsbestreben der Rom IVerordnung vereinbaren lassen. Gesteht man Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO einen eigenen Regelungsgehalt zu, so erscheint es sinnvoller, in dieser Formulierung eine Eingriffsschwelle zu sehen, die ein gewisses Gemeininteresse voraussetzt und zu einer Plausibilitätskontrolle mahnt.69 Welche Vorschriften es tatsächlich sind, die für die Wahrung der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Interessen entscheidend sein sollen, vermag die Definition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO angesichts ihrer generalklauselartig weiten Formulierung freilich nicht trennscharf festzulegen.70 Es bleibt auch weiterhin dabei, dass der Anwendungswille der in Frage stehenden Norm im Einzelfall anhand ihres Zwecks71 durch Auslegung zu ermitteln ist.72

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Mankowski, IPRax 2006, 101 (110); Pfeiffer, IPRax 2006, 238 (240); Wiese, S. 182. Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (105). 65 Bitterich, GPR 2006, 161 (164). 66 Thorn, Eingriffsnormen, S. 133. 67 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 13. 68 Bitterich, GPR 2006, 161 (165). 69 Bitterich, GPR 2006, 161 (165). 70 Thorn, Eingriffsnormen, S. 135; Bitterich, GPR 2006, 161 (165). 71 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 18. 72 Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 296. 64

§ 2 Auslegungskompetenz und Kontrollmaßstab

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§ 2 Auslegungskompetenz und Kontrollmaßstab Auslegungskompetenz und Kontrollmaßstab

Nicht ganz eindeutig ist, wem die Auslegungskompetenz, wann eine Vorschrift als Eingriffsnorm im Rahmen des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO berücksichtigt werden kann, zusteht. Fraglich ist insoweit, ob die Auslegung unionsrechtlich autonom durch den EuGH oder anhand eines staatlichen Rechts zu erfolgen hat.73 Dass der EuGH die Auslegungskompetenz hinsichtlich der Eingriffsnormen des Unionsrechts innehat, versteht sich von selbst: Ob beispielsweise die Vorschriften der sog. Dual-Use-Verordnung74 international zwingende Geltung beanspruchen, fällt in den Kompetenzbereich des Europäischen Gerichtshofs. Weitaus häufiger sind jedoch die Fälle, in denen einzelne Mitgliedstaaten nationale Standards auch gegen das Vertragsstatut durchgesetzt wissen möchten. Ob und in welchem Umfang der EuGH auch bei diesen Vorschriften berufen ist zu entscheiden, ob es sich um Eingriffsrecht handelt, ist klärungsbedürftig. Im Anschluss an die Frage nach der Auslegungskompetenz ist weiter zu fragen, anhand welchen Maßstabs diese Auslegung zu erfolgen hat. A. Auslegungskompetenz Was die Auslegungskompetenz anbelangt, so könnte man vom Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO her zunächst denken, dass die Perspektive der Mitgliedstaaten maßgeblich sein müsse,75 denn dort ist von „zwingenden Vorschriften, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses angesehen wird“ die Rede.76 Noch deutlicher kommt dies in der englischen („which is regarded crucial by a country“)77 und der französische Sprachfassung („jugé crucial par un pays“) zum Ausdruck.78 Diese Auffassung bereitet jedoch Unbehagen. Zieht man zum Vergleich die Auslegung des ordre public Maßstabs heran, so zeigt sich, dass dort dem EuGH die Aufgabe zukommt, den unionsrechtlichen Rahmen zu stecken, den die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Definitionsmacht zu beachten haben.79 Dies belegt die Krombach-Rechtsprechung des EuGH

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Kropholler, Auslegung, S. 582 (589); Thorn, Eingriffsnormen, S. 135. Verordnung (EG) Nr. 428/2009 des Rates vom 5.5.2009 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, ABl. EG Nr. L 134, S. 1 ff. 75 So etwa Kindler, S. 65. 76 Bitterich, GPR 2006, 161 (164). 77 Cheshire, North and Fawcett, S. 652. 78 Hervorhebungen durch den Verfasser. 79 Pfeiffer, EuZW 2008, 622 (628). 74

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zur orde public-Vorschrift des Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ80, in dessen Erwägungsgrund 23 es heißt: „Auch wenn es demnach nicht Sache des Gerichtshofes ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Vertragsstaats zu definieren, hat er doch über die Grenzen zu wachen, innerhalb deren sich das Gericht eines Vertragsstaats auf diesen Begriff stützen darf, um der Entscheidung eines Gerichts eines anderen Vertragsstaats die Anerkennung zu versagen.“81 Die Definitionsmacht liegt damit beim Ordre public zwar grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten, letztlich kann der EuGH den nationalen Gesetzgebern aber hierbei doch Schranken setzen, sofern der Begriff zu weit ausgedehnt wird. Eingriffsnormen eignen sich indes in viel stärkerem Maße dazu, das künftige Unionskollisionsrecht zu unterminieren als der Vorbehalt des Ordre public:82 Während der Ordre public nur eine kassatorische Funktion hat, indem er die Anwendung fremden Rechts verhindert, erheben Eingriffsnormen positiven Anwendungsanspruch und stellen dadurch einen wesentlich gravierenderen „Störfaktor“ des Anknüpfungssystems der Rom I-Verordnung dar. Eine Kontrolle durch den EuGH muss somit hier erst recht möglich sein.83 Übertragen auf Art. 9 Rom I-VO hieße das, dass auch im Eingriffsrecht dieselbe differenzierte Betrachtung opportun ist, die der EuGH in Krombach entwickelt hat: Grundsätzlich sind die Mitgliedstaaten befugt, international zwingende Bestimmungen zu erlassen. Ihre Grenzen findet diese Befugnis aber in der durch autonome Begriffsauslegung zu konkretisierenden Definition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO.84 Deren Einhaltung zu überwachen, muss wiederum Aufgabe des EuGH sein.85 Auch hier gilt also: Die Definitionsmacht liegt beim jeweiligen Mitgliedstaat. Jeder einzelstaatliche Gesetzgeber kann grundsätzlich zur Wahrung seiner fundamentalen staatlichen Interessen Eingriffsnormen erlassen. Die Reichweite dieser Definitionsmacht darf aber nicht unbegrenzt sein, denn ausuferndes Eingriffsrecht zerstört das Gesamtkonzept der Rom I-Verordnung deren Bestreben es ist, das sachnächste Recht zu berufen. Deshalb ist es unerläss80

Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.9.1968, BGBl. 1972 II, S. 774. 81 EuGH, 28.3.2000, Rs. C-7/98 –“Krombach“, EuGHE 2000, Nr. I, S.1935, Erwägungsgrund 23. 82 Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 175; Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (106). 83 Magnus, IPRax 2010, 27 (41); Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 294 f. 84 Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 176. 85 So auch Bitterich, GPR 2006, 161 (164).

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lich, dass der EuGH als Kontrollinstanz diejenigen Fälle ausfiltern kann, in denen ein nationaler Gesetzgeber zu weit gegangen ist. B. Kontrollmaßstab Gesteht man dem Gerichtshof zu, die Entscheidung eines nationalen Gesetzgebers, Eingriffsrecht zu schaffen, zu überprüfen, so stellt sich die Anschlussfrage, anhand welchen Maßstabs diese Kontrolle stattzufinden hat. Die Frage wird je nach Einzelfall unterschiedlich zu beantworten sein. Um aber zumindest ein gewisses Maß an Rechtssicherheit zu gewährleisten, sollten bestimmte einheitliche Strukturen und Kriterien vorhanden sein, die der Gerichtshof bei seinen Entscheidungen zu Grunde zu legen hat. I. Grundfreiheitenmaßstab Von einigen Autoren ist vorgeschlagen worden, dass die Kontrolle nationalstaatlichen Eingriffsrechts durch den EuGH anhand des Maßstabes der Grundfreiheiten86 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union87 (AEUV, ehemals EG-Vertrag) vorzunehmen sein solle.88 Beschränkungen der Grundfreiheiten im europäischen Binnenmarkt sind bekanntlich nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich.89 Dieselben Kriterien könnten nach dieser Ansicht auch bei der Frage herangezogen werden, ob eine nationale Vorschrift eine Eingriffsnorm im Sinne der Legaldefinition sein kann. Konkret würde die Anwendung des Grundfreiheitenmaßstabs bedeuten, dass der Anwendungsbefehl eines mitgliedstaatlichen Gesetzgebers nur insoweit respektiert würde, als das in der jeweiligen Eingriffsnorm betroffene einzelstaatliche Interesse primärrechtlich anerkannt und die Eingriffsnorm selbst notwendig, angemessen und verhältnismäßig wäre. 90 Die86

Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, vormals EGVertrag) nennt die folgenden vier Grundfreiheiten: Warenverkehrsfreiheit (Art. 34-37 AEUV, ex-Art. 28-31 EGV), Personenverkehrsfreiheit, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45-48 AEUV, ex-Art. 39-41 EGV) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 49-54 AEUV, ex-Art. 43-48 EGV) umfasst, Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (Art. 56-62 AEUV, ex-Art. 49-55 EGV) sowie die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63-66 AEUV, exArt. 56-60 EGV). 87 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung der Bekanntmachung vom 9.4.2008, ABl. EU 2008 Nr. C 115 S. 47 ff. 88 Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 176; Bitterich, GPR 2006, 161 (165); Staudinger, IPRax 2005, 129 (134); MPI, RabelsZ 68 (2004), 1 (75); im Ergebnis so auch Roth, IPRax 2006, 338 (341); Martiny, FS Heldrich, S. 909 (909). 89 Überblick hierüber bei Scheidler, GewArch 2010, 1 ff. 90 EuGH in ständiger Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten, vgl. im Hinblick auf die Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit etwa EuGH, 22.1.2003, Rs. C-390/99 –

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ser Maßstab habe sich über viele Jahrzehnte in zahlreichen Urteilen als stabile dogmatische Figur im europäischen Rechtsraum etabliert.91 Die Begründung für die Anwendung dieses Maßstabes fällt freilich reichlich dünn aus: Es wird behauptet, dass sich bei der Bestimmung der Grenzen des Art. 9 Rom I-VO im Grunde „die gleichen Fragen“ wie bei der Grundfreiheitenprüfung stellen würden.92 Darüber hinaus verfüge der Gerichtshof in diesem Bereich über hinreichende Erfahrung, die für Rechtssicherheit bürge, wie nicht zuletzt die zahlreichen Judikate zur Arbeitnehmerentsendung zeigen würden.93 Letzteres ist zwar zutreffend, aber kein sachlich tragendes Argument für die Anwendung dieses Maßstabes. Ersteres ist eine bloße Behauptung, die ohne weitere Belege nicht viel taugt: Welche Fragen es tatsächlich sind, die sich in beiden Konstellationen angeblich gleichermaßen stellen, und ob sich die Konstellation der Grundfreiheitenprüfung und die Frage, ob ein legitimes Interesse am Erlass einer Eingriffsnorm steht, wirklich so sehr ähneln, dass sich der Maßstab eins zu eins auf die jeweils andere Konstellation übertragen lässt, ist bislang von den Vertretern dieser Auffassung nicht fundiert nachgewiesen worden. II. Missbrauchskontrolle Thorn hält das Grundfreiheiten-Kriterium als Kontrollmaßstab für den EuGH für zu eng,94 obgleich auch er keine Zweifel daran lässt, dass eine restriktive Handhabe beim Erlass von Eingriffsnormen angebracht ist, um den Vereinheitlichungsgedanken der Verordnung nicht zu gefährden.95 Gerade das Arblade-Urteil96 zeige aber, dass die Frage nach der Vereinbarkeit der betreffenden Normen mit den Grundfreiheiten strikt getrennt von der Frage zu behandeln sei, ob eine Vorschrift eine Eingriffsnorm darstellt.97 Die betreffenden belgischen Normen seien zwar als Eingriffsnormen qualifiziert, aber als mit der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV, ex-Art. 49 EGV) unvereinbar angesehen worden. Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in Grundfreiheiten seien wesentlich enger als die Vorausset-

„Canal Satélite Digital2“, EuGHE 2002 I, S. 607; im Hinblick auf die Kapitalverkehrsfreiheit vgl. etwa EuGH,13.5.2003, Rs. C-463/00, EuGHE 2003 I; S. 4581. 91 Vgl. hierzu Ruffert, JuS 2009, 97 ff. 92 Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 176. 93 EuGH, 3.2.1982, Rs. C-62/81 – „Seco“, EuGHE 1982 I, S. 223; EuGH, 27.3.1990, Rs. C-113/89 – „Rush Portuguesa”, EuGHE 1990 I, S. 1417; EuGH, 25.10.2001, Rs. C49/98 – „Finalarte Sociedade de Construcoeo Civil Lda et al”, EuGHE 2001 I, S. 7831. 94 Thorn, Eingriffsnormen, S. 136 ff. 95 Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 5. 96 Siehe oben Fn. 33. 97 Ebenso Mankowski, IPRax 2006, 101 (109).

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zungen zur Schaffung von Eingriffsnormen. Insbesondere seien überragende Gründe des Allgemeinwohls hierfür nicht zwingend erforderlich.98 Begründet wird diese Auffassung ferner mit der Ingmar-Entscheidung. In ihr wurde der Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters als international zwingend eingestuft, weil die Anwendung der Regelungen für die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit sowie der Wettbewerbsfreiheit unerlässlich sei.99 Es war jedoch gerade nicht von überragenden Gründen des Allgemeinwohls die Rede, insofern seien diese nicht konstitutiv.100 Den Grundfreiheitenmaßstab anzulegen würde zu einer disproportionalen Kompetenzverteilung zulasten der Mitgliedstaaten führen, denn dadurch könnten unionsrechtliche Eingriffsnormen unter weniger strengen Voraussetzungen erlassen werden als mitgliedstaatliche. Vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 EUV, ex-Art. 5 Abs. 2 EGV)101 stelle dies eine unnötige Einschränkung der Mitgliedstaaten dar. Der EuGH solle sich demnach darauf beschränken, dem einzelstaatlichen Gesetzgeber einen Rahmen für die Schaffung von Eingriffsnormen vorzugeben. Die Überprüfung dürfe nicht über eine Missbrauchskontrolle hinausgehen.102 Dies betreffe neben den Gemeinwohlinteressen auch die Mindestkontakte zur fraglichen Rechtsordnung, für deren Vorliegen gewöhnlicher Aufenthalt beziehungsweise Sitz sowie Erfüllungsort ausreichend seien. III. Stellungnahme Ob sich bei der Grundfreiheitenprüfung und der Schaffung von Eingriffsrecht tatsächlich dieselben Fragen stellen, erscheint ausgesprochen fragwürdig. Dass insbesondere der EuGH die Frage, ob eine Eingriffsnorm vorliegt, unabhängig von der, ob diese Eingriffsnorm die Grundfreiheiten einschränkt, beantwortet, lässt sich der Ingmar- und der ArbladeRechtsprechung, wie soeben gezeigt und bereits von Thorn ausführlich dargelegt,103 ohne Zweifel entnehmen. Der praktische Unterschied zwischen den beiden Fragestellungen zeigt sich vor allem in Konstellationen, in denen der Sachverhalt keinerlei Bezug zur Europäischen Union, sondern ausschließlich zu Drittstaaten aufweist. Beispielhaft herangezogen sei die EuGH-Rechtsprechung zur Vereinbarkeit des italienischen anwaltlichen Gebührenrechts mit der Dienst-

98 Thorn, Eingriffsnormen, S. 137; a.A. Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 176. 99 Vgl. EuGH „Ingmar“ (Fn. 55), Erwägungsgrund 24 , IPRax 2001, 225 (227). 100 Thorn, Eingriffsnormen, S. 137. 101 Vgl. hierzu umfassend Grabitz/Hilf/von Bogdandy/Bast, Art. 5 EGV. 102 Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 5; ders., Eingriffsnormen, S. 138. 103 Thorn, Eingriffsnormen, S. 135 ff; Niggemann, IPRax 2009, 444 (451).

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leistungsfreiheit nach Art. 56 AUEV (ex-Art. 49 EGV):104 In der Rechtssache Cipolla105 wurde entschieden, dass das Verbot, von festgesetzten anwaltlichen Mindesthonoraren abzuweichen, grundsätzlich eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt, weil das entsprechende italienische Gesetz Anwälten anderer Mitgliedstaaten den Zugang zum italienischen Markt für anwaltliche Dienstleistungen erschwere.106 Diesen sei es unmöglich, den Konkurrenzvorteil der italienischen Anwälte vor Ort durch geringere Honorarforderungen auszugleichen.107 Die aus der Mindestgebühr folgende Beschränkung könne nur gerechtfertigt sein, sofern zwingende Gründe des Allgemeinwohls dies erforderten, sie geeignet sei, die Verwirklichung der verfolgten Ziele zu gewährleisten, und nicht über das dazu erforderliche Maß hinausgehe.108 Ob dies der Fall sei, sei von der Gerichtsbarkeit im jeweiligen Mitgliedstaat anhand der Umstände des Einzelfalls zu prüfen.109 Dass Mindesthonorare nicht unbedingt einen höheren Qualitätsstandard der anwaltlichen Beratung garantieren, hat der Gerichtshof zwar nicht ausdrücklich entschieden, wohl aber erhebliche Zweifel zu erkennen gegeben, dass es möglicherweise geeignetere Mittel gibt, das verfolgte Ziel – nämlich den Schutz der Verbraucher und die geordnete Rechtspflege – zu erreichen. Ausdrücklich genannt wurden in diesem Zusammenhang die für Anwälte geltenden Berufsregeln, insbesondere die Vorschriften über die Organisation, die Qualifikation, das Standesrecht, die Kontrolle und die Haftung.110 Ein nationaler Gesetzgeber kann somit zwar grundsätzlich entsprechende Gebührengesetze verabschieden, steht aber unter erheblichem Rechtfertigungsdruck infolge des strengen Grundfreiheitenmaßstabs. Im europarechtlichen Kontext, also in Fallkonstellationen, die einen Bezug zum Binnenmarkt aufweisen, ist das auch richtig und konsequent.111 Warum dieser strenge Maßstab aber auch auf Fälle angewendet werden soll, die ausschließlich einen Bezug zu Drittstaaten aufweisen, erschließt sich nicht. Warum soll es dem nationalen Gesetzgeber nicht möglich sein, in einer Fallkonstellation wie in der Rechtssache Cipolla Wettbewerbern aus Drittstaaten den Zugang zu einem nationalen Markt zu erschweren? Ob protektionistische Maßnahmen, die mittels des Eingriffsrechts gerne zur Geltung 104 Vgl. zum rechtsanwaltlichen Gewerberecht als Eingriffsrecht Reithmann/Martiny/ Freitag Rn. 570 ff. 105 EuGH, 5.12.2006, Rs. C-94/04 und C-202/04 – „Cipolla“, EuGHE 2006 I, S. 1421 = NJW 2007, 281 m. Anm. Mailänder, NJW 2007, 883. 106 EuGH – „Cipolla“ (vgl. Fn. 105), Erwägungsgrund 58. 107 EuGH – „Cipolla“ (vgl. Fn. 105), Erwägungsgrund 59. 108 EuGH – „Cipolla“ (vgl. Fn. 105), Erwägungsgrund 61. 109 EuGH – „Cipolla“ (vgl. Fn. 105), Erwägungsgrund 65. 110 EuGH – „Cipolla“ (vgl. Fn. 105), Erwägungsgrund 69. 111 So auch Mailänder, NJW 2007, 883 (883).

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gebracht werden, gegenüber Drittstaaten wünschenswert sind, mag man je nach Einzelfall unterschiedlich einschätzen. Es ist aber sicher nicht Aufgabe des EuGH darüber zu wachen, ob Vertragsparteien aus Drittstaaten durch solche Maßnahmen benachteiligt werden. Auch aus anderen Regelungsbereichen lassen sich vergleichbare Beispiele heranziehen: Im Arzneimittelhandel ist es gängige Geschäftspraxis, durch Medikamenten-Reimporte die Möglichkeit zu erzielen, ein pharmazeutisches Produkt günstiger auf einem nationalen Markt anzubieten als es sonst möglich wäre. Innerhalb der Europäischen Union ist dieses Vorgehen infolge der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 AEUV (ex-Art. 28 EGV) in der Regel zulässig.112 Angenommen aber, ein US-amerikanischer Pharmakonzern drängte mit dieser Methode mit Medikamenten zu Dumpingpreisen auf den europäischen Markt. Der streitige Sachverhalt würde vor einem deutschen Gericht entschieden, etwa weil dort ein Vermögensgerichtsstand (§ 23 ZPO)113 bestünde. Warum sollte in einer solchen Konstellation der nationale deutsche Gesetzgeber gehindert sein, ein Mindestpreise festschreibendes Preisrecht selbst dann anzuwenden, wenn es der strengen Prüfung der Warenverkehrsfreiheit nicht standhält? Würde der USamerikanische Gesetzgeber nicht umgekehrt ebenso versuchen, durch protektionistische Maßnahmen den heimischen Markt vor ausländischen Billigwettbewerbern zu schützen? Die Anwendung des Grundfreiheitenmaßstabs auf Fälle mit ausschließlichem Drittstaatenbezug schränkt den nationalen Gesetzgeber unnötig ein, ohne dass er auf der anderen Seite irgendeinen Vorteil hierdurch erlangte. Sinnvolle Gründe für diese selbstauferlegte Einschränkung sind nicht ersichtlich. Als einzig valide Begründung für den Grundfreiheitenmaßstab verbleibt somit das Argument der Rechtssicherheit. Zweifelsohne stellt der Grundfreiheitenmaßstab ein klares Kriterium dar. Die Voraussetzungen, die eine Eingriffsnorm erfüllen muss, wären eindeutig umrissen. Dass das Kriterium einer „Missbrauchskontrolle“ (noch) etwas vage und konkretisierungsbedürftig ist, ist nicht von der Hand zu weisen: Soll ein Missbrauch nur dann vorliegen, wenn der nationale Gesetzgeber eine Norm einzig mit der Intention erlässt, das Europäische Unionsrecht zu unterwandern? Wo ist die Grenze zu ziehen zwischen legitimem sozialpolitischem Interesse und Missbrauch? Ohne nähere Konkretisierung des Begriffs „Missbrauchskontrolle“ könnte der EuGH zwar flexibel von Fall zu Fall entscheiden, ob die nationale Eingriffsnorm Anwendung findet oder nicht. Kehrseite dieser Flexibilität wäre aber in der Tat eine große Rechtsunsicherheit. Selbst anwaltlich beratene Parteien tun sich bereits jetzt mitunter schwer festzustel112

Vgl. zum gesamten Themenkomplex den Tagungsband Schwarze, Unverfälschter Wettbewerb für Arzneimittel im europäischen Binnenmarkt. 113 Vgl. hierzu insbesondere im Zusammenhang mit der internationalen Zuständigkeit Musielak/Heinrich, § 23 ZPO, Rn. 18 ff.

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Kapitel 1: Begriff der Eingriffsnorm

len, ob nicht doch irgendwelche Eingriffsnormen ihren Vertrag beeinflussen oder gar für unwirksam erklären könnten.114 Durch ein zu vages Kriterium würde diese Unsicherheit noch weiter verstärkt. Im Rahmen der Anwendung des Grundfreiheitenmaßstabs hingegen hat der EuGH über mehrere Jahrzehnte stabile dogmatische Figuren zur Bewältigung von Grundfreiheitenprüfungen entwickelt.115 Entsprechende Maßstäbe und Figuren fehlen bei der vorgeschlagenen Missbrauchskontrolle noch. Es ist aber durchaus möglich – und auch notwendig – entsprechende Kriterien zu entwickeln, die auch auf diese Konstellation passen. Die Befürworter des Grundfreiheitenmaßstabes befürchten weiter, dass ein unscharfes Kriterium wie das der Missbrauchskontrolle die nationalen Gesetzgeber dazu verleiten könnte, leichtfertig Rechtsnormen mit internationalem Geltungsanspruch zu versehen. Das Anknüpfungssystem des Internationalen Privatrechts würde dadurch ausgehöhlt. Ein trennschärferes und strikteres Kriterium würde hingegen im Idealfall das Gegenteil bewirken und könnte nationale Gesetzgeber davon abhalten, allzu leichtfertig Eingriffsnormen zu erlassen. Die Rechtswahl der Parteien oder die objektive Anknüpfung müssen das maßgebliche Kriterium dafür sein, welches Recht auf den Vertrag Anwendung findet, Eingriffsnormen hingegen die Ausnahme.116 Ob der strenge Grundfreiheitenmaßstab tatsächlich geeignet ist, dies zu gewährleisten, darf indes bezweifelt werden. Insbesondere ist es durchaus hinterfragenswert, ob dieser Maßstab schon mit der simplen Begründung herangezogen werden darf, dass das Eingriffsrecht ein Ausnahmephänomen darstelle, das einer ausgesprochen restriktiven Auslegung unterliegen sollte.117 . Dass Rechtsunsicherheit droht und dieser Gefahr auf irgendeine Art begegnet werden muss, steht außer Frage. Die Konsequenz, dieser drohenden Rechtsunsicherheit dadurch zu begegnen, sich auf ein scheinbar sicheres Terrain – den Grundfreiheitenmaßstab – zurückzuziehen, mag er auch eigentlich nicht so recht passen, ist indes unbefriedigend. Viel naheliegender ist es, den von Thorn vorgeschlagenen Ansatz der Missbrauchskontrolle weiterzudenken und durch handfeste Kriterien mit Leben zu füllen, die auf das Phänomen des Eingriffsrechts tatsächlich passen, zugleich aber eine hinreichende Rechtssicherheit gewährleisten. Es kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, dass der EuGH als judikatives Organ der Europäischen Union nicht über die Kompetenz verfügt, den Parlamenten der Mitgliedstaaten ihre Gesetzgebung vorzuschreiben. Die Definitionsmacht der nationalen Gesetzgeber – die gerade die 114

Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 171. Ausführlich hierzu Schütz/Bruha/König, § 11. 116 MPI, RabelsZ 68 (2004), 1 (75). 117 Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 508. So bereits ausdrücklich zum EVÜ BGH, 13.12.2005, BGHZ 165, 248 (257 f.). 115

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Schaffung von Eingriffsrecht umfasst – ist kein stumpfes Schwert, sondern ein wichtiges Steuerungsinstrument. Es darf aber nur dort eingesetzt werden, wo wirklich elementare wirtschafts- und ordnungspolitische Staatsinteressen in Rede stehen. Nicht jede Bagatellregelung darf zwingend sein und – noch wichtiger – das Ziel, ein einheitliches europäisches Kollisionsrecht zu schaffen, darf durch das Ausnahmephänomen des Eingriffsrechts nicht konterkariert werden. Hat man dies im Auge, so zeigt sich, dass die Grundfreiheitenprüfung und die Kontrolle mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen zwei gänzlich unterschiedliche Dinge sind: Die freie Zirkulation von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräften ist ein erklärtes Ziel der Europäischen Union. Nur in strengen Ausnahmefällen sind Maßnahmen erlaubt, die die Verwirklichung dieses Zieles einschränken. Beim Eingriffsrecht verleiht Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO hingegen dem nationalen Gesetzgeber unmissverständlich die Kompetenz zum Erlass von Maßnahmen zur Wahrung seines öffentlichen Interesses. Die Aufgabe und Kompetenz des EuGH beschränkt sich darauf, darüber zu wachen, dass diese Definitionshoheit des nationalen Gesetzgebers nicht missbräuchlich verwendet wird. Der Grundfreiheitenmaßstab schränkt den nationalen Gesetzgeber hierbei indes über Gebühr ein. Es gilt, einen passenden Test zu entwickeln, den der EuGH als Schema anlegen kann. C. Kriterien zur Konkretisierung der Missbrauchskontrolle Im Folgenden wird ein erster Versuch unternommen, Kriterien zu entwickeln, die zur Konkretisierung einer vom EuGH durchzuführenden Missbrauchskontrolle von Eingriffsnormen nationaler Gesetzgeber herangezogen werden könnten. Als Anhaltspunkt für die Konkretisierung der Missbrauchskontrolle bietet es sich an, auf Methoden zurückzugreifen, die zur Konkretisierung des Ordre public entwickelt wurden, wobei im Einzelfall zu prüfen ist, ob die jeweiligen Methoden tatsächlich auch für das Eingriffsrecht passend sind. So ist beispielsweise eine Analyse der bereits mehrfach erwähnten Krombach-Rechtsprechung nicht unbedingt zielführend, da der Ordre public hier nur insofern konkretisiert wurde, als dass ein Justizgrundrecht wie der Anspruch auf einen fairen Prozess einen unionsrechtlichen Grundsatz darstellt, der Gegenstand des Ordre public sein kann.118 Rückschlüsse für das Eingriffsrecht lässt dieser Befund nicht zu. Hilfreicher ist es hingegen, die allgemeine Methodenlehre zur Konkretisierung des Ordre public auf Kriterien zu überprüfen, der sich durchaus einige Elemente entnehmen lassen.119 118

EuGH – „Krombach“ (vgl. Fn. 81), Erwägungsgrund 27. Vgl. hierzu umfassend Jayme, Methoden der Konkretisierung des ordre public im Internationalen Privatrecht. 119

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Kapitel 1: Begriff der Eingriffsnorm

Im Einzelnen wären die folgenden Kriterien denkbar, bei deren Vorliegen kein Missbrauch der gesetzgeberischen Definitionsmacht zur Schaffung von Eingriffsrecht vorläge. I. Widerspruch zwischen Anwendung der lex causae und Regelung der Eingriffsnorm Als Ausgangspunkt für die Missbrauchskontrolle drängt sich zunächst eine Vergleichsbetrachtung zwischen der Anwendung und der Nichtanwendung der in Frage stehenden Eingriffsnorm auf.120 Es ist also zu prognostizieren, welche Ergebnisse erzielt würden, wenn die jeweilige Eingriffsnorm nicht angewendet würde, sondern die anhand der allgemeinen Regeln berufene lex causae. Nur wenn dieser Vergleich einen Widerspruch zwischen der Anwendung und der Nichtanwendung ergäbe, bestünde überhaupt eine hinreichende Notwendigkeit, der in Frage stehenden Eingriffsnorm Wirkung zukommen zu lassen. Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen dieses Kriterium weniger banal ist, als es zunächst den Anschein haben mag: Eindeutig sind sicherlich Konstellationen, in denen beispielsweise die Anwendung der Eingriffsnorm zur Nichtigkeit des Vertrages führt. Dass ein krasser Unterschied zwischen der Gültigkeit oder der Nichtigkeit eines Vertrages besteht, ist offenkundig. Anders mag es hingegen bei Vorschriften sein, die die Wirksamkeit des Vertrages als solchem nicht in Zweifel ziehen, seinen Inhalt aber modifizieren. Dies ist etwa bei preisrechtlichen Regelungen der Fall, wo die Abweichung im Einzelfall möglicherweise nur marginal gering ausfällt oder auch überhaupt keine Abweichung vorliegt. In diesen Fällen müsste festgestellt werden, ob die Anwendung der Eingriffsnorm im Vergleich zu ihrer Nichtanwendung tatsächlich zu einem unterschiedlichen Ergebnis führt. Denn wenn auch die Anwendung des Schuldstatuts zu dem Ergebnis führt, das mit der jeweiligen Eingriffsnorm erzielt werden soll, so besteht kein Anlass, Ausnahmen von der Regelanknüpfung zuzulassen. II. Begründetes und nachgewiesenes Gemeinwohlinteresse Als zweiten Prüfungsschritt gilt es zu erörtern, ob die Norm zur Verfolgung eines bedeutenden Gemeinwohlinteresses von dem jeweiligen nationalen Gesetzgeber erlassen worden ist. Nur dann wäre sie als Eingriffsnorm berücksichtigungsfähig. Dass die überindividuelle Zielrichtung konstitutive Voraussetzung für das Vorliegen einer Eingriffsnorm ist, wurde bereits eingangs erwähnt121 und ergibt sich auch unzweifelhaft aus Erwägungsgrund 37 der Rom I-Verordnung („Gründe des öffentlichen Interes120 121

So bereits zum Ordre public Neuhaus, S. 363. Vgl. oben unter § 1B. , S. 7.

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ses“). Ebenso wurde gezeigt, dass die Frage, ob eine Eingriffsnorm dem öffentlichen Recht oder dem Privatrecht entstammt, kein geeignetes Abgrenzungskriterium dafür ist, ob es sich um eine gemeinwohlorientierte Vorschrift handelt oder um eine, die dem privaten Interessenausgleich dient. Es gilt somit, Kriterien zu ermitteln um die Wesentlichkeit des in Frage stehenden nationalen Rechtssatzes zu ermitteln und dabei insbesondere den unbestimmten Rechtsbegriff des „Gemeinwohls“ zu konkretisieren. 1. Rechtsvergleichender Ansatz Was die Wesentlichkeit des Rechtssatzes anbelangt, könnte man möglicherweise einen rechtsvergleichender Ansatz in Betracht ziehen:122 Hier wäre zu untersuchen, ob auch andere Mitgliedstaaten eine Norm mit vergleichbarem Regelungsgehalt für international zwingend erachten oder ob es sich um einen nationalen Sonderweg handelt. Mehr als einen ersten Anhaltspunkt kann indes auch das rechtsvergleichende Vorgehen nicht bieten, sind doch die wirtschaftliche Verfassung, Gesellschaftsstruktur oder auch Historie der einzelnen Mitgliedstaaten hierfür viel zu unterschiedlich: Was für das Gemeinwohl des einen Staates elementar sein mag, spielt in einem anderen vielleicht überhaupt keine oder nur eine untergeordnete Rolle. 2. Gemeinwohlbegriff anhand nationaler Standards Im Hinblick auf die Definitionsmacht der einzelnen Mitgliedstaaten könnte man daran denken, dass die jeweilige Eingriffsnorm zumindest mit den wesentlichen Werten der Rechtsordnung, der sie entstammt, übereinstimmen müssten. Der EuGH könnte insofern eine Kontrolle vornehmen. Letztlich ist dies aber aus zwei Gründen wenig praktikabel: Erstens müssten vom EuGH in jedem Einzelfall aufwendige Recherchen des jeweiligen nationalen Rechts vorgenommen werden, was im Zweifel nur durch teure Gutachten möglich wäre. Noch entscheidender wäre aber, dass auf diesem Weg der Begriff „Eingriffsnorm“ nicht verordnungseinheitlich ausgelegt würde. Dies widerspricht aber dem Harmonisierungsgedanken der Rom IVerordnung. 3. Europäischer Gemeinwohlbegriff Insofern erscheint es als einzig sinnvolles Vorgehen, den Begriff des „Gemeinwohls“ mit Leben zu füllen, indem man untersucht, inwieweit sich 122

So auch allerdings zur Konkretisierung des Ordre public Jayme, Methoden der Konkretisierung, S. 44 ff.

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bereits ein europäischer Gemeinwohlbegriff anhand der Auslegung des Primärrechts gebildet hat. Erste Anhaltspunkte für diesen europäischen Gemeinwohlbegriff könnte Art. 3 EUV (ex-Art. 2 EGV)123 liefern, der die „Ziele der Union“ bestimmt.124 Eine nähere Betrachtung seines Wortlautes zeigt jedoch, dass diese Vorschrift zwar Ziele nennt, die durch den EU-Vertrag verwirklicht werden sollen, etliche dieser Ziele jedoch ihrerseits höchst konkretisierungsbedürftig sind (so etwa das Ziel eines „ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität“), andere hingegen zwar elementar für einen gemeinsamen europäischen Rechts- und Wirtschaftsraum sein mögen, für die ordnungspolitischen Interessen eines einzelstaatlichen Gesetzgebers aber eher irrelevant sind: So sind etwa die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion zweifelsohne elementare Unionsziele, aber keine originäre Angelegenheit eines einzelstaatlichen Gesetzgebers. Hilfreicher für die Konkretisierung des Gemeinwohlbegriffs ist insofern der Katalog des Art. 36 AUEV (ex-Art. 30 EGV).125 Art. 36 AEUV (ex123

Art. 3 EUV: (1) Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. (2) Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist. (3) Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Sie wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas. (4) Die Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist. (5) In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen. (6) Die Union verfolgt ihre Ziele mit geeigneten Mitteln entsprechend den Zuständigkeiten, die ihr in den Verträgen übertragen sind. 124 Vgl. hierzu Grabitz/Hilf/von Bogdandy, Art. 2 EGV. 125 Art. 36 AEUV: „Die Bestimmungen der Artikel 34 und 35 stehen Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegen, die aus Gründen der

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Art. 30 EGV) erlaubt den Mitgliedstaaten aus den dort aufgeführten Gründen Abweichungen von den Verboten der Art. 34 AEUV (ex-Art. 28 EGV) und Art. 35 AEUV (ex-Art. 29 EGV)126 und nennt somit Kriterien, bei deren Vorliegen eine Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit vorgenommen werden kann. Die Zuhilfenahme der Rechtfertigungsgründe des 36 AUEV (ex-Art. 30 EGV) bedeutet dabei keinesfalls, dass nun doch durch die Hintertür der Grundfreiheitenmaßstab maßgeblich sein soll. Die entscheidende Kritik an diesem Maßstab ist nämlich, dass die bei der Grundfreiheitenprüfung im Anschluss an das Feststellen eines Rechtfertigungsgrundes folgende Verhältnismäßigkeitsprüfung – und insbesondere das Erfordernis „überragender Gründe des Allgemeinwohls“ – für die Anerkennung von Eingriffsrecht zu eng ist. Dies heißt aber nicht, dass für den Teilaspekt der Definition des Begriffs „Gemeinwohl“ nicht auf den Katalog des Art. 36 AEUV (ex-Art. 30 EGV) zurückgegriffen werden kann. Es erfolgt also gerade keine vollständige Grundfreiheitenprüfung, sondern es wird lediglich untersucht, ob eine Konkretisierung des Begriffs Gemeinwohl anhand des Art. 36 AEUV (ex-Art. 30 EGV) möglich ist. Demnach wären die folgenden fünf Interessen anerkannte Gründe, die ein Gemeinwohlinteresse des nationalen Gesetzgebers darstellen: Die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die Gesundheit und das Leben von Menschen, der Schutz von Tieren und Pflanzen, des nationalen Kulturguts sowie der des gewerblichen und kommerziellen Eigentums. Die Schwierigkeit, dass diese Begriffe ihrerseits auslegungsbedürftig sind, wird wesentlich dadurch entschärft, dass sie schon vielfach vom EuGH ausgelegt und hierdurch konkretisiert worden sind.127 So könnten beispielsweise grundstücksbezogene Regelungen – zumindest sofern sie eigentumsschützend sind – unter den Schutz des kommerziellen Eigentums gefasst werden, da der EuGH hierunter alle durch einen Mitgliedstaat verliehenen Ausschließlichkeitsrechte versteht.128 Auch Kulturgüterschutz – ein weiterer klassischer Anwendungsbereich – wäre umfasst. Was weitere herkömmlich anerkannte Anwendungsfälle des Eingriffsrechts wie z.B. das Außenwirtschaftsrecht oder das Währungs- und Devisenrecht anbelangt, wäre zu erörtern, ob sie sich unter den Schutz der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind. Diese Verbote oder Beschränkungen dürfen jedoch weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen.“ 126 Dazu umfassend Grabitz/Hilf/Leible, Art. 30 EGV. 127 Vgl. hierzu nur Grabitz/Hilf/Leible, Art. 30 EGV Rn. 12 ff. 128 EuGH, 14.9.1983, Rs. C-144/81 – „Keurkoop BV vs. Nancy Kean Gifts BV”, EUGHE I, 2853, Erwägungsgrund 14.

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öffentlichen Sicherheit und Ordnung subsumieren lassen. Für den häufigen Anwendungsfall des Waffen- und Munitionshandels ist dies allgemein anerkannt.129 Ob das auch für Bereiche wie das Bank- und Kapitalmarktrecht, für Transportverträge und insbesondere für das Gewerberecht gelten würde, wäre hingegen zweifelhaft. Im Interesse einer restriktiven Auslegung der Vorschrift erscheint es aber hinnehmbar, wenn entschieden würde, dass diese Regelungsbereiche nicht mehr international zwingendes Recht darstellten. Denn ob der Schutz deutscher Auftraggeber eines Transportvertrages130 tatsächlich entscheidend für die Wahrung des öffentlichen Interesses des Bundesrepublik, insbesondere ihre politische, soziale oder wirtschaftliche Organisation ist, wie es der Wortlaut des Art. 9 Rom I-VO fordert, mag man mit Fug und Recht bezweifeln dürfen. Entscheidend bei der Auslegung dieser Fallgruppen, in denen ein Gemeinwohlinteresse angenommen würde, ist, dass es sich bei der jeweiligen Norm um eine Vorschrift handelt, die elementare Interessen der Allgemeinheit schützt und nicht nur dem privaten Interessenausgleich dient. Individualschützende Vorschriften – wie sie sich insbesondere im Bereich des Sonderprivatrechts finden – wären demnach nicht per se von der Definition als „Eingriffsnorm“ ausgeschlossen. Es müsste sich aber zweifelsfrei aus der fraglichen Rechtsordnung des normsetzenden Mitgliedstaates erschließen lassen, dass über das bloße Individualinteresse des von der Eingriffsnorm geschützten Personenkreises hinaus ein gesamtgesellschaftliches Interesse der Allgemeinheit an dem Schutz eben dieser Personengruppe besteht.131 Jedenfalls zu verneinen wäre ein begründetes Gemeinwohlinteresse immer dann, wenn nachgewiesen werden könnte, dass die jeweilige Vorschrift einzig mit dem Zweck erlassen wurde, die durch die Rom IVerordnung erreichte Harmonisierung des Internationalen Privatrechts zu unterwandern. Dies wird freilich nur sehr selten der Fall sein oder wäre zumindest im Einzelfall sehr schwer nachzuweisen. Was von dem jeweiligen nationalen Gesetzgeber aber jedenfalls zu fordern ist, wäre eine hinreichende Begründung der Eingriffsnorm und eine Erläuterung des zugrunde liegenden Gemeinwohlbelangs. Der EuGH könnte sodann anhand dieser Begründung entscheiden, ob es sich um ein anerkennenswertes Interesse handelt oder nicht. III. Mindestkontakt zur fraglichen Rechtsordnung Neben dem anerkennenswerten Gemeinwohlinteresse sollte der EuGH des Weiteren prüfen, ob ein gewisser Mindestkontakt zur fraglichen Rechts129

Grabitz/Hilf/Leible, Art. 30 EGV Rn. 15. Vgl. §§ 449 Abs. 3, 451h Abs. 3 sowie § 446 Abs. 4 HGB. 131 Roth, FS Kühne, S. 859 (867). 130

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ordnung – in anderen Worten – ob eine hinreichende Inlandsbeziehung der jeweiligen Eingriffsnorm zum streitigen Sachverhalt besteht. Dieses Erfordernis, das auch bei der Beachtung des Ordre public anerkannt ist,132 geht zwar aus dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO ebenso wenig ausdrücklich hervor wie aus dem des Art. 34 EGBGB / Art. 7 Absatz 2 EVÜ. Anhaltspunkte dafür, dass diesem Schweigen eine andere Bedeutung beigemessen werden könnte als in der Vorgängervorschrift, sind jedoch nicht ersichtlich.133 Der „hinreichende Inlandsbezug“ ist schon aus völkerrechtlichen Gründen ungeschriebene Voraussetzung134 und für eine sinnvolle Eingrenzung der Anwendung von Eingriffsnormen und die Vorhersehbarkeit des Rechts unabweislich.135 Darüber hinaus ist dieses Kriterium von elementarer Bedeutung, weil Eingriffsnormen der lex fori (Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO) im Inland für einheitliche Rechtsverhältnisse sorgen wollen und im Falle drittstaatlicher Eingriffsnormen (Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO) kein Grund ersichtlich ist, warum sie ohne Bezug zum Inland angewendet werden sollten. Das heißt freilich nicht, dass im Umkehrschluss eine starke Inlandsbeziehung allein eine Norm zur Eingriffsnorm macht. 136 Somit verbleibt die Frage, von welcher Art dieser Inlandsbezug sein muss. Vereinzelt ist vorgeschlagen worden, den Inlandsbezug einheitlich festzulegen: Er sei nur dann gegeben, wenn im Rahmen der Vertragsdurchführung Handlungen auf dem Gebiet des eingreifenden Staates erfolgen sollen, die dort verboten seien.137 Für klassische Anwendungsbereiche des Eingriffsrechts wie z.B. Ein- und Ausfuhrkontrollen mag dieses Kriterium tragfähig sein. Es versagt aber, wenn der Ort der Handlung nicht ohne Weiteres lokalisierbar ist.138 In solchen Fällen gilt es, andere Kriterien heranzuziehen. Um diesen Kriterien zumindest eine gemeinsame Struktur zu verleihen, ist es sinnvoll, auf leistungsbezogene Parameter abzustellen. Es ist also zu fragen, welche Beziehung die Leistung, zu welcher der Schuldner verpflichtet ist, zum normsetzenden Staat aufweist.139 Diese Kriterien können nicht nur räumlicher Natur sein, sondern auch funktionaler oder persönlicher. Das Vertragsstatut und die Staatsangehörigkeit dürften dabei ungeeignet sein: Das Vertragsstatut deshalb, weil der Parteiwille die Anwendung der Eingriffs132

MünchKommBGB/Sonnenberger, Art. 6 EGBGB Rn. 82 m.w.N. Bitterich, GPR 2006, 161 (165). 134 Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 5; Kindler, S. 66 f.; Magnus, IPRax 2010, 27 (41); so bereits zu Art. 7 Abs. 2 EVÜ Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217 (234), Czernich/Heiss, Art. 7 EVÜ Rn. 7. 135 Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 508. So auch schon die h.M. zum alten Recht, vgl. etwa Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217 (234); Erman/Hohloch Art. 34 EGBGB Rn. 13. 136 Kropholler, IPR, § 52 IX, S. 498. 137 R. Lehmann, S. 223. 138 Bamberger/Roth/Spickhoff Art. 34 EGBGB Rn. 17. 139 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 122. 133

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norm gerade nicht begründen können soll,140 die Staatsangehörigkeit, weil es im Internationalen Vertragsrecht zumeist um Schuldverhältnisse geht, die nicht an Personen gebunden sind.141 Eine generelle Regel hierzu lässt sich kaum aufstellen, für die Konkretisierung ist von der Natur der jeweiligen Vorschrift auszugehen. Je nach Fallgruppe bieten sich folgende Anknüpfungspunkte an: Bei grundstücksbezogenen Regelungen – wie etwa § 1149 BGB, der teils für international zwingend gehalten wird,142 – drängt sich die Belegenheit der Sache auf. Auch im Hinblick auf Forderungen ist die Belegenheit ein taugliches Kriterium, liegt doch nach ständiger Rechtsprechung der Belegenheitsort einer Forderung dort, wo der Schuldner seinen gewöhnlichen Aufenthalt bzw. seine Niederlassung hat, weil dort der Vermögenswert am ehesten lokalisiert werden kann.143 Bei Eingriffsnormen, die mit der Berufsausübung oder der Erwerbstätigkeit zu tun haben, wäre ein Tätigwerden im Inland zu fordern. Sofern keine der genannten Fallgruppen einschlägig ist, bedarf es einer Auffangregel: Der Inlandsbezug bestünde danach zumindest dann, wenn die von der jeweiligen Eingriffsnorm geschützte Partei ihren gewöhnlichen Aufenthalt bzw. ihren Sitz im Inland hat.144 IV. Zweifelsregelung und Zusammenfassung Die genannten Kriterien vermögen zwar zu einem gewissen Grad für Klarheit sorgen, dennoch wird es stets zweifelhafte Fälle geben, in denen man sich streiten mag, ob eine Vorschrift nun international zwingend ist oder nicht. Im Zweifel muss gelten, dass mit Blick auf den Erwägungsgrund 37 der Rom I-Verordnung, der den Grundsatz der restriktiven Auslegung des Eingriffsrechts vorgibt, eher davon ausgegangen werden müsste, dass die jeweilige Vorschrift keine Eingriffsnorm darstellt: Das Erfordernis „außergewöhnlichen Umstände“, das dort für die Rechtfertigung der Anwendung von Eingriffsnormen erforderlich ist, ist durchaus ernst zu nehmen. Käme man jedoch zu dem Ergebnis, dass die genannten Kriterien erfüllt sind, die Nichtanwendung der Eingriffsnorm also einen krassen Unterschied im Vergleich zur Anwendung machte, ein hinreichend fundiertes und begründetes Gemeinwohlinteresse sowie der nötige Inlandsbezug bestünde, so wäre zu konstatieren, dass ein Missbrauch des Art. 9 Rom I-VO durch einen nationalen Gesetzgeber in diesen Fällen nicht vorläge und der 140

MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 137. MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 658. 142 Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 567. 143 BGH, 11.02.1953, BGHZ 9, 34 (39) = NJW 1953, 542; BGH, 19.04.1962, WM 1962, 601. 144 So schon zum alten Recht Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 82. 141

§ 3 Verhältnis zu anderen zwingenden Vorschriften

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Anerkennung der jeweiligen Vorschrift im Sinne der Definition des Absatz 1 nichts im Wege stünde.

§ 3 Verhältnis zu anderen zwingenden Vorschriften Verhältnis zu anderen zwingenden Vorschriften

Die Abgrenzung der Anknüpfung von Eingriffsnormen zur Anknüpfung anderer zwingender Bestimmungen war im EVÜ weitgehend unklar und Gegenstand kontroverser Diskussionen. Insbesondere das Verhältnis von Art. 7 EVÜ zu zwingenden Vorschriften in Verbraucher- (Art. 5 EVÜ/ Art. 29 EGBGB) und Arbeitsverträgen (Art. 6 EVÜ / Art. 30 EGBGB) war in Deutschland Gegenstand einer umfangreichen Debatte.145 Auch aus der Definition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO geht nicht eindeutig hervor, ob solche Vorschriften zu den international zwingenden Bestimmungen zählen oder nicht.146 Somit stellt sich auch unter Geltung der Rom I-VO unverändert die Frage, wie sich Art. 9 Rom I-VO zu diesen und anderen zwingenden Vorschriften der Rom I-Verordnung verhält.147 A. Binnen- und Binnenmarktsachverhalte I. Binnensachverhalte (Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO) Die Kommission hat die Problematik erkannt148 und sich ihrer zumindest teilweise erfolgreich angenommen. Dies zeigt etwa die Abgrenzung zu zwingenden Bestimmungen bei Binnensachverhalten in Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO: Die Normüberschrift und die Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO stellen unmissverständlich klar, dass im Rahmen dieser Vorschrift tatsächlich „Eingriffsnormen“ und damit international zwingende Vorschriften gemeint sind, im Rahmen des Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO hingegen lediglich einfach zwingende Normen.149 Die Vorgängervorschriften im EVÜ, Art. 3 Abs. 3 EVÜ und Art. 7 EVÜ, verwendeten beide den Ausdruck „zwingende Vorschriften“, ohne dasselbe zu meinen.150 Obgleich dennoch in der Rechtspraxis überwiegend Einigkeit über das richtige Verständnis der Begrifflichkeiten bestanden hatte, ist es doch begrüßenswert, dass terminologisch Klarheit geschaffen wurde und Missverständnisse fortan ausgeschlossen sind. Erfreulich ist auch, dass diese terminologische Klarstellung nunmehr auch, anders als 145

Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 30 m.w.N. Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 177. 147 PWW/Remien, Art. 9 Rom I-VO Rn. 3. 148 Siehe Grünbuch, Frage 13, S. 41, vgl. oben Fn. 16. 149 Begründung der Kommission zum Rom I-Vorschlag, KOM (2005) 650 endgültig, S. 6. 150 Mankowski, IPRax 2006, 101 (109). 146

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noch in Art. 8 des Vorentwurfs zur Rom I VO,151 Einzug in die englische Sprachfassung der Rom I-Verordnung gehalten hat: War der Entwurf von 2005 noch mit Mandatory Provisions überschrieben,152 werden Eingriffsnormen nunmehr im Englischen als Overriding Mandatory Provisions bezeichnet (wobei die Formulierung Internationally Mandatory Provisions noch eindeutiger gewesen wäre). Und auch in der französischen Sprachfassung ist nun nicht mehr von Dispositions Impératives, sondern richtigerweise von Lois de Police die Rede. Jedwede terminologische Unklarheit dürfte damit an dieser Stelle beseitigt sein. Inhaltlich hat sich indes im Vergleich zur Rechtslage unter dem EVÜ nichts geändert: Art. 3 Absatz 3 Rom I-VO verhindert wie seine Vorgängervorschrift (Art. 3 Abs. 3 EVÜ / Art. 27 Abs. 3 EGBGB), dass die Parteien bei reinen Binnensachverhalten durch Rechtswahl die zwingenden Bestimmungen des Staates umgehen können, zu denen der Sachverhalt ausschließlich Bezüge aufweist.153 Haben also beispielsweise beide Parteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland und treffen eine Rechtswahl zugunsten englischen Rechts, obgleich der Vertrag abgesehen von dieser Rechtswahl ausschließlich Bezüge zu Deutschland hat, so sind die intern zwingenden Vorschriften deutschen Rechts trotzdem anzuwenden, im Übrigen unterliegt der Vertrag hingegen englischem Recht. Für das Verhältnis des Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO zu Art. 9 Rom I-VO bedeutet das, dass die Vorschriften kumulativ angewandt werden, wobei freilich kaum Fälle denkbar sein werden, in denen neben dem Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO noch eine Notwendigkeit für die Anwendung von Art. 9 Rom IVO besteht: Soweit eine privatrechtliche Norm des objektiven Vertragsstatuts gleichzeitig als Eingriffsnorm im Sinne von Art. 9 Rom I-VO berücksichtigungsfähig ist, setzt sie sich bereits gem. Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO gegenüber der Wahl eines drittstaatlichen Rechts, zu dem der Sachverhalt keinerlei Bezüge aufweist, durch. Den Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 oder 3 Rom I-VO bedarf es also in diesen Fällen überhaupt nicht. So gesehen geht Art. 3 Abs. 3 Rom-VO denklogisch dem Art. 9 Rom I-VO vor.154 II. Zwingende Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts (Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO) Abzugrenzen von Eingriffsnormen im Sinne von Art. 9 Rom I-VO sind ferner zwingende Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts im Sinne der 151

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnis anzuwendende Recht (Rom I) vom 15.12.2005, KOM (2005) 650 endgültig. 152 Kritisch seinerzeit hierzu: MPI, RabelsZ 71 (2007), 225 (245, 315). 153 Palandt/Thorn, Rom I Art. 3 Rn. 5; R. Wagner, IPRax 2008, 377 (380). 154 Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 521.

§ 3 Verhältnis zu anderen zwingenden Vorschriften

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Binnenmarktklausel des Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO. Während das EVÜ – wie soeben dargestellt – in Art. 3 Abs. 3 EVÜ / Art. 27 Abs. 3 EGBGB lediglich eine Regelung für Binnensachverhalte vorsah, derzufolge die Parteien in reinen Inlandsfällen zwingendes Inlandsrecht nicht dadurch umgehen konnten, dass sie ausländisches Recht wählten, regelt die Rom IVerordnung nunmehr nicht nur dieses Phänomen (Art. 3 Abs. 3 Rom IVO),155 sondern erstreckt den Gedanken in Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO auf das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes:156 Bestehen im Zeitpunkt der Rechtswahl ausschließlich Bezüge zu einem oder mehreren Mitgliedstaaten, so lässt die Rechtswahl der Parteien zugunsten eines drittstaatlichen Rechts die (einfach) zwingenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts unberührt. Regelungszweck des Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO ist es somit, den Ausschluss zwingender Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zu verhindern, wenn ausschließlich Bezüge zum Binnenmarkt bestehen.157 Eine Parallelvorschrift für das Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse findet sich in Art. 14 Abs. 3 Rom II-VO.158 Die Harmonisierung des Privatrechts in der Gemeinschaft hat in einigen Bereichen durch europäisches Sekundärrecht einen gewissen Standard an Gemeinsamkeiten hervorgebracht, einige sehen darin bereits ein europäisches Schuldrecht.159 Dies führt dazu, dass vermehrt Fallkonstellationen auftreten, die den in Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO geregelten Binnensachverhalten entsprechen, nur dass eben nicht ausschließlich Berührungspunkte zu einem einzigen Staat vorliegen, sondern zu mehreren Staaten innerhalb der Gemeinschaft. Fehlt jeglicher Bezug zu einem Drittstaat außerhalb der Gemeinschaft, soll über Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO den beteiligten Parteien die Möglichkeit genommen werden, durch die Wahl drittstaatlichen Rechts von den gemeinsamen europäischen Mindeststandards abweichen zu können. Mit Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO allein kann dieses Regelungsziel nicht erreicht werden, denn sein Anwendungsbereich ist ausweislich des Wortlauts auf echte Binnensachverhalte beschränkt. Handelt es sich aber nicht nur um einen Binnen-, sondern einen Binnenmarktsachverhalt, kann Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO ebenso wenig wie die Vorgängervorschrift Art. 3 Abs. 3 EVÜ das Ausschalten der zwingenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts verhindern. War für das EVÜ, das wie gesagt keine dem Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO entsprechende Regelung enthielt, noch vorgeschlagen worden, diese Lücke durch eine analoge Anwendung des Art. 3 Abs. 3 EVÜ zu schließen,160 155

Vgl. MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 3 Rn. 98 ff. Magnus, IPRax 2010, 27 (33). 157 MPI, RabelsZ 71 (2007), 225 (246). 158 Vgl. hierzu Palandt/Thorn, Rom II Art. 14 Rn. 14; G. Wagner, IPRax 2008, 1 (14). 159 MPI, RabelsZ 71 (2007), 225 (247); Michaels/Kamann, JZ 1997, 601 (602). 160 Lando, ComMLRev 24 (1987), 159 (181); Michaels/Kamann, JZ 1997, 601 (604). 156

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was in der Literatur überwiegend abgelehnt wurde,161 hat der europäische Gesetzgeber nun die seit langem geforderte162 gesetzliche Regelung dieses Komplexes in die Rom I-Verordnung implementiert. Für das Verhältnis von Art. 9 Rom I-VO zur Binnenmarktklausel des Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO gilt dasselbe wie für das Verhältnis zu zwingenden Normen bei einem Inlandsachverhalt nach Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO163: Die Anwendung von Eingriffsnormen dürfte auch im Anwendungsbereich der Binnenmarktklausel weitgehend ausgeschlossen sein.164 Ist ein zwingender gemeinschaftsrechtlicher Standard nach Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO zu beachten, ist eine Abweichung hiervon unter den Voraussetzungen des Art. 9 Rom I-VO nur insoweit zulässig, als das Gemeinschaftsrecht Abweichungen überhaupt zulässt. III. Exkurs: Zwingende Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in der Rom II-Verordnung (Art. 14 Abs. 4 Rom II-VO) Eine Vorschrift über die Anwendung zwingender Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts findet sich in Art. 14 Abs. 4 Rom II-VO.165 Die Wahl des Rechts eines Drittstaates durch die Parteien berührt dieser Vorschrift zufolge nicht die Anwendung zwingender Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, wenn alle Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt des schadensbegründenden Ereignisses in einem oder mehreren Mitgliedstaaten belegen sind.166 Nach einem viel diskutierten und kritisierten Hin und Her im Entstehungsprozess167 ist letztlich eine klare Regelung entstanden, die eine inhaltliche Parallele zur Regelung in der Rom I-Verordnung darstellt. Obgleich es nicht ganz von der Hand zu weisen ist, dass es möglicherweise übersichtlicher und systematisch „richtiger“ gewesen wäre, diesen Regelungskomplex in die Regelung zum Eingriffsrecht (Art. 16 Rom IIVO) zu integrieren,168 ist doch davon auszugehen dass die nun getroffene Regelung hinreichend praktikabel sein wird. 161 Vgl. zur Rechtslage unter Geltung des EVÜ MünchKommBGB/Martiny, 4. Auflage, Art. 27 EGBGB Rn. 93. 162 Basedow, Materielle Rechtsangleichung, S. 34. 163 Vgl. oben unter § 3A. I., S. 27. 164 Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 523. 165 Vgl hierzu Palandt/Thorn, Rom II Art. 14 Rn. 14. 166 Siehe hierzu auch Kreuzer, Rom II, S. 13 (55), der die Vorschrift für gänzlich überflüssig hält. 167 Der Vorschlag von 2003 sah für gemeinschaftsrechtliche Eingriffsnormen noch die Sondervorschrift des Art. 23 Abs. 1, 2. Spiegelstrich vor. 168 Sonnentag, ZvglRW 105 (2006), 256 (310), allerdings noch zum damaligen Art. 3 lit. b Rom II-VO-E 2006; von Hein, ZvglRW 102 (2003), 528 (551), noch zum damaligen Art. 23 Abs. 1, 2. Spiegelstrich Rom II-VO-E 2003; MPI, RabelsZ 67 (2003), 1 (54), ebenfalls noch zu den entsprechenden Vorschriften des Rom II-VO-E 2003.

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B. Verbraucher- und Arbeitnehmerschutzvorschriften (Art. 6 und 8 Rom I-VO) Aus der Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO geht nicht eindeutig hervor, ob Verbraucher- und Arbeitnehmerschutzvorschriften zu den international zwingenden Bestimmungen im Sinne der Vorschriften zählen können, in welchem Verhältnis also Art. 9 Rom I-VO zu den Spezialvorschriften für Verbraucherverträge (Art. 6 Rom I-VO) und Arbeitsverträge (Art. 8 Rom I-VO) steht. Nicht zuletzt weil der Giuliano/Lagarde-Bericht seinerzeit den Verbraucherschutz als ein Beispiel für international zwingende Normen anführte,169 wurde dieser Streit bereits zu Zeiten des EVÜ geführt170 und setzt sich auch unter Geltung der Rom I-Verordnung fort.171 Auch wenn gerade Art. 5 EVÜ in den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union nur selten Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war,172 traten in Deutschland doch immer wieder Konstellationen auf, in denen über eine Sonderanknüpfung nach dieser Vorschrift (bzw. Art. 29 EGBGB) zu urteilen war.173 I. Meinungsstand Teils wird versucht, die Rangfrage durch strikte Abgrenzung der Regelungsbereiche zu lösen. Unter Art. 6 und 8 Rom I-VO sollen alle verbraucher- oder arbeitnehmerschützenden Vorschriften fallen, unter Art. 9 Rom I-VO hingegen nur staatspolitisch motivierte Normen bzw. nur solche, die bestimmte Arbeitnehmergruppen wie etwa Schwerbehinderte schützen.174 Andere gehen von einer Überschneidung aus, sehen aber Art. 6 und 8 Rom I-VO gegenüber Art. 9 Rom I-VO als leges speciales.175 Zum EVÜ wurde teilweise vertreten, dass der damalige Art. 34 EGBGB gegenüber den Kollisionsregeln für Verbraucher- und Arbeitsverträge absoluten Vorrang genieße.176 Mittlerweile wird teils auch von einem relativen Vorrang des Art. 9 Rom I-VO ausgegangen: Die Vorschrift sei zwar 169

Giuliano/Lagarde, ABl. EG 1980 Nr. C 282/1 (282/28). Ausführliche Darstellung des Meinungsstands zum alten Recht bei Mäsch, S. 126 ff. 171 Streitstand in Bezug auf Verbraucherschutzvorschriften bei Reithmann/Martiny/ Freitag Rn. 515 ff.; in Bezug auf Arbeitnehmerschutzvorschriften siehe Stoll, S. 190 ff. 172 Zu den Gründen für dieses Phänomen siehe Basedow, FS Jayme, S. 3 (5). 173 In jüngerer Zeit etwa bzgl. Gewinnmitteilungen, vgl. Mankowski, RIW 2005, 561 (562) m.w.N., oder bzgl. des „klassischen“ Teppichkaufs in der Türkei, siehe LG Tübingen, 30.3.2005, NJW 2005, 1513. 174 Einsele, WM 2009, 289 (295); jeweils zum Parallelstreit im EVÜ: Mankowski, DZWir 1996, 273 ff.; Soergel/von Hoffmann, Art. 30 Rn. 18, 22 f. 175 So auch schon die deutsche Gesetzesbegründung zum alten Art. 34 EGBGB, BTDrucks. 10/504, S. 83. 176 Palandt/Heldrich, 66. Auflage 2007, Art. 34 EGBGB Rn. 3. 170

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grundsätzlich vorrangig anzuwenden, es komme aber auch auf eine Abwägung der beteiligten Regelungsinteressen an. Das von Art. 6 und 8 Rom IVO berufene Vertragsstatut komme dann zur Anwendung, wenn es im Einzelfall für den Verbraucher oder Arbeitnehmer günstiger sei und keine Gründe vorlägen, dem geschützten Personenkreis die Begünstigung vorzuenthalten.177 In Deutschland hatte sich die höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Fragestellung lange nicht eindeutig geäußert.178 Lange Zeit schienen der Bundesgerichtshof und das Bundesarbeitsgericht durchaus unterschiedliche Vorstellungen von der Frage zu haben: Während der BGH den möglicherweise über Art. 34 EGBGB durchzusetzenden zwingenden Vorschriften die Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 29 EGBGB vorschaltete179 und damit Art. 34 EGBGB eher als eine Art Auffangnorm zu sehen schien, fuhr das BAG die dogmatisch klarere Linie und sah nur solche Vorschriften als international zwingend an, deren Zweck sich nicht im Ausgleich widerstreitender Interessen erschöpfte,180 sodass etwa Normen des allgemeinen Kündigungsschutzes (§§ 1–14 KSchG)181 oder des Übergangs von Arbeitsverhältnissen bei Betriebsübergang (§ 613a Abs. 1 S. 1 BGB)182 nicht als Eingriffsnormen im Art. 34 EGBGB berücksichtigt wurden. Schwierig wurde es für das BAG freilich bei doppelfunktionalen Vorschriften,183 in denen Gemeinwohlinteressen mit Individualschutz verwoben waren, wie beispielsweise beim Mutterschutz.184 Mittlerweile scheint allerdings auch der BGH eher davon auszugehen, dass Arbeitnehmer- und Verbraucherschutz gegenüber dem Eingriffsrecht als abschließende Regelungen zu sehen sind und versteht den Begriff der Eingriffsnorm restriktiv.185

177 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 34. Weitere Nachweise bei MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 8 Rn. 34 (zum Arbeitsrecht); Erman/Hohloch Art. 34 EGBGB Rn. 8. 178 Offen gelassen etwa von BGH, 26.10.1993, BGHZ 123, 380 (390). 179 Zum Haustürgeschäft BGH, 26.10.1993, BGHZ 123, 380 (390 f.), IPRax 1994, 449 m. Anm. Lorenz, IPRax 1994, 429; Zu Timesharingverträgen BGH, 19.3.1997, BGHZ 135, 124 (135 f.). 180 Martiny, FS Heldrich, S. 915. 181 BAG, 24.8.1989, IPRax 1991, 407 m. Anm. Magnus (IPRax 1991, 382). 182 BAG, 29.10.1992, IPRax 1994, 123, m. Anm. Mankowski (IPRax 1994, 88). 183 Siehe hierzu bereits oben unter § 1B. ., S. 7. 184 Zum Anspruch auf den Arbeitgeberzuschuss zum Mutterschaftsgeld nach dem Mutterschutzgesetz (§ 14 Abs. 1 MuSchG), den das BAG als zwingende Norm i.S.v. Art. 34 EGBGB einstufte vgl. BAG, 12.12.2001, NZA 2002, 734 m. Anm. Juncker, IPRax 2003, 258; zustimmend Kropholler, IPR, § 52 IX, S. 495; Kegel/Schurig, S. 691. 185 BGH, 13.12.2005, RIW 2006, 389-392; dazu Mankowski, RIW 2006, 321 (325).

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II. Stellungnahme Für das Verständnis dieses Abgrenzungsproblems lohnt es, sich die Grundkonzeption des Art. 7 EVÜ bzw. seiner Nachfolgevorschrift, des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO, zu vergegenwärtigen: Während Kollisionsnormen wie Art. 3 bis 8 Rom I-VO (bzw. Art. 3 bis 6 EVÜ) vom Sachverhalt her fragen, welches Recht zur Anwendung kommen soll, ermöglicht eine Vorschrift betreffend Eingriffsnormen wie Art. 9 Rom I-VO, die Rechtsanwendungsfrage vom Gesetz her186 zu beantworten. Die Norm fungiert also zumindest als „Öffnungsklausel“, wenn nicht gar als Ermächtigungsnorm. Einer solchen bedarf es im Internationalen Vertragsrecht, ruht es doch auf diesen zwei Säulen: dem „reinen Rechtsgebiet“ und dem „anomalischen Recht“ im Savignyschen Sinne.187 Innerhalb des Eingriffsrechts ist der Anwendungsbereich der materiellen Norm aus ihr selbst und ihren Regelungszwecken zu bestimmen.188 Während Art. 6 und 8 Rom I-VO im Anknüpfungssystem des herkömmlichen Kollisionsrechts verbleiben und besondere Anknüpfungen gegenüber den allgemeinen Regeln der Art. 3 und 4 Rom I-VO statuieren, verhilft die Vorschrift des Art. 9 Rom I-VO der Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen zum Durchbruch.189 Obgleich nicht von der Hand zu weisen ist, dass Verbraucherschutzrecht aufgrund sozialpolitischer Absichten erlassen wird, dient es doch primär dem Schutz von Parteiinteressen und nicht denjenigen des Staates. Es ist also sachgerecht, dem Vertragsstatut die geeignete Anknüpfung zu entnehmen und das Eingriffsrecht unberücksichtigt zu lassen. Art. 9 Rom I-VO kann nicht dazu dienen, Lücken zu schließen, die ein unvollkommenes verbraucherschützendes Kollisionsrecht hinterlässt,190 obgleich sogar die Kommission die Vorgängervorschrift Art. 7 EVÜ für ein „Sicherheitsventil“ zu halten scheint, das eingreift, falls die Voraussetzungen der Art. 5 und 6 EVÜ nicht vorliegen.191 Zutreffend ist indes das Gegenteil: Die Einbeziehung vertragsrechtlicher Normen, die der Gewährleistung von Verhandlungsgleichheit und Austauschgerechtigkeit dienen, darf nicht zu einer schleichenden Ausweitung des Eingriffsrechts und seiner kollisionsrechtlichen Sonderstellung führen.192 Funktionsbedingung eines auf allseitiger Anknüpfung beruhenden Kollisionsrechts ist es zudem, die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller 186

Neuhaus, S. 32. Junker, IPRax 2000, 65 (70); Sonnenberger, FS Fikentscher, S. 283 (285); Pfeiffer, FS Geimer, S. 821 (825). 188 Basedow, RabelsZ 52 (1988), 8 (9). 189 Von Hoffmann, IPRax 1989, 261 (263). 190 Junker, IPRax 2000, 65 (70); Kropholler, IPR, § 52 IX, S. 500; a.A. Kühne, FS Heldrich, S. 815 (828). 191 Grünbuch (vgl. oben Fn. 17), S. 41. 192 Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (108). 187

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Rechtsordnungen anzuerkennen. Das schließt zu einem gewissen Grad auch ein unterschiedliches Schutzniveau der Arbeitnehmer oder Verbraucher ein.193 Unerträgliche Folgen der Anwendung fremden Rechts können über den Vorbehalt des Ordre public in ihrem Ergebnis korrigiert werden (Art. 21 Rom I-VO). Würde privates Verbraucher- und Arbeitnehmerschutzrecht in den Anwendungsbereich der international zwingenden Normen mit einbezogen, wäre eine einheitliche Anwendung des Internationalen Vertragsrechts in den Mitgliedstaaten nicht mehr gewährleistet.194 Denn dann könnten diese über den Umweg des Art. 9 Rom I-VO die speziellen Kollisionsnormen des Arbeitnehmer- und Verbraucherschutzes umgehen.195 Angesichts dessen, dass der Anwendungsbereich des Art. 6 Rom I-VO zum Verbraucherschutz gegenüber der Vorgängervorschrift des Art. 5 EVÜ erheblich ausgeweitet wurde,196 vermag auch das Argument, dass nach der hier vertretenen Lösung kein umfassender Verbraucherschutz gewährleistet werde, nicht zu überzeugen.197 Die zwingenden Vorschriften des Verbraucherrechts (Art. 6 Rom I-VO) und des Arbeitsrechts (Art. 8 Rom I-VO) müssen somit im Sinne systematischer Klarheit und Rechtseinheit als abschließende Regelungen gegenüber Art. 9 Rom I-VO gesehen werden.198 Gerne übersehen wird in diesem Zusammenhang im Übrigen, dass in bestimmten Fällen nicht nur Verbraucher und Arbeitnehmer, sondern auch Unternehmer strukturell unterlegen sein können und ihre Interessen durch die Schaffung von Eingriffsnormen geschützt werden könnten und mitunter auch werden:199 so etwa in der Ingmar-Entscheidung200 zugunsten des Handelsvertreters oder in einer neueren Entscheidung der französischen Cour de Cassation zum Schutz der Ansprüche eines im Rahmen eines Bauvorhabens tätigen Subunternehmers, dem nach französischem Recht201 ein Direktanspruch gegen den Besteller des Werkes gewährt wird, sofern der Generalunternehmer mit der Zahlung des Werklohns in Verzug ist und

193

Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 178. Paefgen, ZEuP 2003, 266 (287). 195 Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 179. 196 Magnus, IPRax 2010, 27 (38); Bitterich, RIW 2005, 262 (265); Basedow, FS Jayme, S. 3 (7 ff.). 197 Ebenso MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 88. 198 Thorn, Eingriffsnormen, S. 140; Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 273; MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 88; Mankowski, ZeuP 2008, 846 (862 f.). 199 Vgl. hierzu ausführlich Thorn, FS K. Schmidt, S. 1561 (1576 ff.). 200 Vgl. oben Fn. 55. 201 Art. 11 ff. des Loi no. 75-1334 du 31 décembre 1975, Relative à la sous-traitance. 194

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der Besteller noch nicht geleistet hat.202 Beide Regelungen wurden vom jeweils entscheidenden Gericht für international zwingend erklärt. Um ein kohärentes und vor allem einheitliches europäisches kollisionsrechtliches System zu gewährleisten wäre es wünschenswert gewesen, der europäische Gesetzgeber hätte auch für diese Fälle strukturellen Ungleichgewichts besondere Kollisionsnormen – gleich der Art. 6 und 8 Rom I-VO – geschaffen.203 Da er dies jedoch (bislang) unterlassen hat, blieb dem EuGH und der Cour de Cassation für diese Fälle nur der unbefriedigende Weg der Anknüpfung der Vorschriften über Art. 9 Rom I-VO. Dieser Weg ist aber dogmatisch fragwürdig und rechtspolitisch falsch. Denn ebenso wenig wie Art. 9 Rom I-VO ein Einfallstor für Verbraucherschutzrecht sein darf, das nicht von Art. 6 Rom I-VO erfasst wird, sollten auch andere Vorschriften, die primär, wenn nicht gar ausschließlich, dem privaten Interessenausgleich und eben nicht dem Gemeinwohl dienen, mittels Art. 9 Rom I-VO zur Anwendung kommen. Die beiden genannten Entscheidungen sind somit als bedenklich, wenn nicht gar als falsch einzuordnen. Konsequenterweise wäre dem Handelsvertreter und dem französischen Subunternehmer de lege lata ihr jeweiliger Zahlungsanspruch zu verweigern gewesen. De lege ferenda wäre an dieser Stelle eine Kodifikation durch den europäischen Gesetzgeber wünschenswert. C. Richtlinienkollisionsrecht (Art. 23 Rom I-VO) I. Problemumriss Ein zentrales Regelungsproblem bei der Schaffung der Rom I-Verordnung, das auch Auswirkungen auf das Phänomen des Eingriffsrechts zeitigt, stellte das sog. Richtlinienkollisionsrecht dar.204 Schon zu Zeiten des EVÜ herrschte ein seit langem heftig kritisiertes205 Nebeneinander von den Kollisionsnormen des EVÜ und sektorspezifischen Regelungen in diversen Richtlinien. Ziel dieses Richtlinienkollisionsrechts ist es, den hierin formulierten Schutzstandard „rechtswahlfest“ zu machen, sofern der betroffene Vertrag einen „engen Zusammenhang“ mit dem Gebiet der EG aufweist.206 So lautet beispielsweise Art. 6 Abs. 2 der Klauselrichtlinie: „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit der Verbraucher den durch diese Richtlinie gewährten Schutz nicht verliert, wenn das Recht eines Drittlandes als das auf den Vertrag anwendbare Recht gewählt wurde und der Vertrag einen engen Zusammenhang mit dem Gebiet der Mitglied202

Cour de Cassation, 30.11.2007 – 06.-14.006 ; vgl. hierzu Niggemann, IPRax 2009, 444 ff. 203 So auch Thorn, FS K. Schmidt, S. 1561 (1579). 204 Magnus, IPRax 2010, 27 (32). 205 Bitterich, GPR 2006, 161 ff. mw.N. 206 Bitterich, RIW 2006, 262 (262).

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staaten aufweist.“ Vergleichbare Regelungen finden sich in der Arbeitnehmerentsenderichtlinie207 und vor allen Dingen in der sog. „zweiten Generation“ der Verbraucherschutzrichtlinien ab 1993208 in Verbindung mit den entsprechenden nationalen Umsetzungsvorschriften.209 II. Lösungsansätze und die Regelung des Art. 23 Rom I-VO Bereits 1994 hatten Jayme und Kohler die Tendenz, Richtlinien mit Kollisionsnormen zu versehen, als „unheilvoll“ bezeichnet.210 Die überwiegend vage formulierten und terminologisch inkonsistenten Vorgaben dieser Richtlinien in Verbindung mit ihrem notwendigerweise sektorspezifischen Ansatz haben zu einer Zersplitterung des eigentlich bereits durch das EVÜ harmonisierten europäischen Kollisionsrechts geführt.211 Die Kommission hatte der Problematik deshalb im Grünbuch einen eigenen Abschnitt gewidmet.212 Zur Lösung dieses Missstandes wurden in der die Entstehung der Verordnung begleitenden Diskussion mehrere Vorschläge unterbreitet. Auf den ersten Blick wäre es am einfachsten gewesen, die entsprechenden Kollisionsnormen in den Richtlinien einfach zu streichen und sie dadurch ihres Anwendungsbereiches zu berauben. Rechtstechnisch wäre das möglich gewesen, indem man in der Rom I-Verordnung klargestellt hätte, dass diese Verordnung ein abschließendes Regelungswerk darstellen soll und insbesondere einen absoluten Anwendungsvorrang vor Kollisionsnormen in Richtlinien genießt.213 Problematisch an dieser Lösung wäre freilich gewesen, dass die Rom I-Verordnung nicht in Dänemark gilt, da Dänemark sich nicht an den Maßnahmen zur justiziellen Zusammenarbeit 207

Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. EG 1997 Nr. L, S. 18/1). 208 RL 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. EG Nr. L 95/29); RL 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien (ABl. EG Nr. L 280/83); RL 97/7 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsschlüssen im Fernabsatz (ABl. EG Nr. L 144/19); RL 99/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter (ABl. EG Nr. L 171/12); RL 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.9.2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der RL 90/619/EWG des Rates und der RL 97/7/EG und 98/27/EG (ABl. EG Nr. L 271/16). 209 Kohler, FS Jayme, S. 445 (447). 210 Jayme/Kohler, IPRax 1994, 405 (407). 211 Bitterich, RIW 2006, 262 (262). 212 Grünbuch (siehe Fn. 17), S. 20 ff. 213 Grünbuch (siehe Fn. 17), S. 22, Punkt 3.1.1.2 (iii).

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beteiligt und somit kein Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung ist.214 Ungeachtet dessen wollte der europäische Gesetzgeber zunächst tatsächlich zum großen Wurf ausholen und die unübersichtliche Gemengelage in seinem Entwurf einer Rom I-Verordnung von 2005 dadurch beenden, dass er in Art. 22 lit. a Rom I-VO-E215 nur vier wenig bedeutsamen Richtlinien den Vorrang beließ.216 Wäre es so gekommen, so wären ausschließlich die Kollisionsnormen dieser vier Richtlinien vorrangig anzuwenden und das gesamte übrige Richtlinienkollisionsrecht damit obsolet gewesen. Bedauerlicherweise ist es hierzu nicht gekommen.217 Das im Verordnungsentwurf vorgesehene Enumerationsprinzip218 wurde in der endgültigen Fassung der Verordnung verworfen. Stattdessen gehen nun nach Art. 23 Rom I-VO „die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die in besonderen Bereichen Kollisionsnormen für außervertragliche Schuldverhältnisse enthalten“ der Verordnung vor. Beispielhaft werden in der Art. 23 Rom I-VO zugehörigen Fußnote eben jene vier Richtlinien genannt, deren Aufzählung nach der Regelung des Entwurfes von 2005 abschließend gewesen wäre: die Kulturgüterschutzrichtlinie219, die Arbeitnehmerentsenderichtlinie220, die Zweite Schadensversicherungsrichtlinie221 214 Vgl. Art. 1 und 2 des Protokolls über die Position Dänemarks im Anhang zum Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Das Vereinigte Königreich und Irland können für eine Beteiligung an der Rom I-VO optieren, vgl. Erwägungsgrund 45 zur Rom I-VO. 215 Artikel 22 lit. a Rom I VO-E – Verhältnis zu anderen Gemeinschaftsrechtsakten: „Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung oder den Erlass von Rechtsakten durch Organe der Europäischen Gemeinschaften, die (a) in besonderen Bereichen Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse enthalten; Anhang I enthält ein Verzeichnis solcher derzeit geltenden Rechtsakte.“ 216 Anhang I zum Rom I-VO-E: Verzeichnis der Rechtsakte gemäß Artikel 22 lit. a: Richtlinie 93/7/EWG des Rates vom 15.3.1993 über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbrachten Kulturgütern; Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen; Zweite Richtlinie „Schadenversicherung“ (Richtlinie 88/357/EWG vom 22.6.1988, geändert und ergänzt durch die Richtlinien 92/49/EWG und 2002/13/EG); Zweite Richtlinie „Lebensversicherung“ (Richtlinie 90/619/EWG vom 8.1.1990, geändert und ergänzt durch die Richtlinien 92/96/EWG und 2002/12/EG). 217 Kritisch u.a. auch Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 526; Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2009, 1 (7, 21); Magnus, IPRax 2010, 27 (32). 218 Hierzu Bitterich, RIW 2006, 262 (264 f.); Mankowski, IPRax 2006, 101 (112). 219 Richtlinie 93/7/EWG des Rates vom 15.3.1993 über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates verbrachten Kulturgütern (ABl. EG 1993 Nr. L 74, S.74 ff.). 220 Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. EG 1997 Nr. L 18, S.1).

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sowie Lebensversicherungsrichtlinie.222 Eine abschließende Aufzählung stellt dies in der endgültigen Fassung indes nicht mehr dar.223 Wie sich nämlich aus Erwägungsgrund 40 Abs. 2 S. 2 zur Rom I-Verordnung ergibt, sind auch die E-Commerce-Richtlinie224 und die oben erwähnten verbraucherschützenden Richtlinien225 vorrangig. Sowohl diese Richtlinien als auch die in der Fußnote aufgezählten sind nur als Beispiele für Richtlinienkollisionsrecht zu verstehen. Es ist somit sogar für die Zukunft möglich, noch weiteres Richtlinienkollisionsrecht zu erlassen. Dass der europäische Gesetzgeber willens ist, dies zu tun, zeigt Art. 12 der neu gefassten Timesharing-Richtlinie226, der eine explizit verbraucherschützende Norm enthält und nach der Rom I-Verordnung entstand. Weshalb der Verordnungsgeber letztlich doch vom Enumerationsprinzip abgewichen ist, erschließt sich leider weder aus den Erwägungsgründen noch aus den Materialien. Festzuhalten bleibt, dass der unbefriedigende Zustand der Rechtszersplitterung durch die Rom I-Verordnung nicht beseitigt worden ist, obgleich der europäische Gesetzgeber die Problematik durch die Binnenmarktklausel des Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO (hierzu sogleich) und der deutsche Gesetzgeber durch die Zusammenfassung des Richtlinienkollisionsrechts im neuen Art. 46b EGBGB (ehemals Art. 29a EGBGB) zumindest ein wenig gemildert haben. Hoffnung, dass dieser gravierende Schwachpunkt der Rom I-Verordnung eines Tages doch noch eine befriedigendere Lösung erfahren wird, macht die Überprüfungsklausel des Art. 27 Rom I-VO, ausweislich dessen Litera b die „Kohärenz des Gemeinschaftsrechts im Bereich des Verbraucherschutzes“ überprüft und bewertet werden soll.

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Zweite Richtlinie „Schadensversicherung“ (Richtlinie 88/357/EWG vom 22.6.1988 ABl. EG 1988 Nr. 172, S.1, geändert und ergänzt durch die Richtlinien 92/49 EWG vom 18.6.1992, ABl. EG 1992 Nr. L 228, S.1 und 2002/13/EG vom 20.3.2002, ABl. EG 2002 Nr. L 77, S. 17, sowie 2005/14/EG, ABl. EU 2005 Nr. L 149, S. 14). 222 Zweite Richtlinie „Lebensversicherung“ (Richtlinie 90/619 EWG vom 8.1.1990, ABl. EG 1992 Nr. L 360, S.1 und 2002/12/EG vom 9.12.2002, ABl. EG 2003 Nr. L 9, S. 3). 223 Ebenso Palandt/Thorn, Rom I Art. 23 Rn. 1 ff.; Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 527. 224 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“), ABl. EU Nr. L 178, S. 1. 225 Vgl. oben Fn. 208. 226 Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen, ABl. EU 2009 Nr. L 33, S. 10 ff.

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III. Konsequenzen für das Eingriffsrecht Für das Eingriffsrecht bedeutet das unbefriedigende Nebeneinander von Verordnung und Richtlinienkollisionsrecht zweierlei: Erstens ist mitgliedstaatliches Richtlinienkollisionsrecht – soweit es vom europäischen Gesetzgeber entsprechend rechtswahlfest ausgestattet ist – auch entgegen einer Rechtswahl der Parteien nach Art. 4 Rom I-VO anwendbar, ohne dass die Voraussetzungen des Art. 9 Rom I-VO vorliegen müssen.227 Dies ist bedauerlich, weil es zu einer unübersichtlicheren Rechtslage führt und damit zur Rechtsunsicherheit beiträgt. Art. 9 Rom I-VO unternimmt den Versuch, die Anwendung des Ausnahmephänomens Eingriffsrecht einigermaßen vorhersehbar zu gestalten. Mit dem Richtlinienkollisionsrecht besteht nun aber weiterhin ein Einfallstor, mittels dessen Eingriffsrecht auch ohne die hohe Hürde des Art. 9 Rom I-VO nehmen zu müssen angewendet werden kann. Dies widerspricht nicht nur den ausdrücklichen Verordnungszielen, Rechtssicherheit und -vorhersehbarkeit zu schaffen,228 sondern konterkariert in diesem Bereich geradezu den Versuch, ein dogmatisch überzeugendes Konzept zur Bestimmung des anwendbaren Rechts in der Rom IVerordnung herzustellen. Zweitens dürfen umgekehrt die Verbraucherschutzstandards der einschlägigen Richtlinien aber auch nicht über Art. 9 Rom I-VO durchgesetzt werden, sofern der betroffene Vertrag nicht subjektiv infolge einer Rechtswahl, sondern objektiv angeknüpft wird.229 Denn es ist ausschließlich Aufgabe des Art. 6 Rom I-VO, verbraucherschützende Normen zur Anwendung zu bringen. Abweichungen sind zwar in den Spezialfällen möglich, die die einschlägigen Richtlinien ausdrücklich regeln. Diese Richtlinien schützen den Verbraucher aber nur im Fall der subjektiven Anknüpfung, wenn also durch Rechtswahl zulasten des Verbrauchers vom Richtlinienstandard abgewichen werden soll.230 Bei objektiver Anknüpfung kann folglich der Schutz dieser Richtlinien nicht über Art. 9 Rom I-VO gewährt werden. Art. 6 Rom I-VO ist in diesen Fällen abschließend. D. Zwingende Formvorschriften bei Grundstücksverträgen (Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO) Für Schuldverträge über ein dingliches Recht an einem Grundstück oder ein Recht zur Nutzung eines Grundstücks gelten nach Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO die zwingenden Formvorschriften des Staates der belegenen Sache, sofern sie ungeachtet des Abschlussorts und des maßgeblichen Ge227

Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 529. Vgl. die Erwägungsgründe 6 und 16 in der Präambel zur Rom I-Verordnung. 229 Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 530. 230 Palandt/Thorn, EGBGB Art. 46b Rn. 4. 228

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Kapitel 1: Begriff der Eingriffsnorm

schäftsstatuts Anwendungsanspruch erheben.231 Ob die lex rei sitae diesen Anspruch erhebt, ist durch Auslegung des fremden Rechts zu ermitteln, das deutsche Recht erhebt ihn nicht.232 Die Vorschrift ist gegenüber Art. 9 Rom I-VO lex specialis und damit vorrangig anzuwenden. Beansprucht das ausländische Recht also Anwendung, so ist die betreffend Norm schon nach Art. 11 Abs. 5 Rom I-VO anzuwenden, ohne dass die Voraussetzungen des Art. 9 Rom I-VO geprüft werden müssen.233

§ 4 Verhältnis zum Ordre public (Art. 21 Rom I-VO) Verhältnis zum Ordre public (Art. 21 Rom I-VO)

Obgleich es sowohl Aufgabe des Eingriffsrechts als auch des Ordre public Vorbehalts ist, das Ergebnis der Anwendung des nach der Rom IVerordnung anwendbaren Rechts zur Gewährleistung elementarer staatlicher Ordnungsinteressen zu „korrigieren“,234 bereitet die Abgrenzung von Art. 9 Rom I-VO zu Art. 21 Rom I-VO in der Regel keine großen Schwierigkeiten, da die Wirkungsweisen genau entgegengesetzt sind: Während über Art. 9 Rom I-VO Vorschriften zur Anwendung kommen, die nach dem Willen der Parteien oder gemäß objektiver Anwendung eigentlich nicht berufen wären, führt umgekehrt Art. 21 Rom I-VO zur Nichtanwendung ausländischen Rechts zum Schutze der öffentlichen Ordnung (Ordre public). Käme es doch einmal zu einer Kollision mit Art. 9 Rom I-VO, so ginge dieser dem Art. 21 Rom I-VO als lex specialis vor.235 In der deutschen Gerichtspraxis wurde mittels des Ordre public Vorbehalts beispielsweise die Vereinbarung eines Erfolgshonorars mit einem ausländischen Rechtsanwalt236 ebenso verhindert wie ein umfangreicheres Selbstkontrahierungsrecht als nach § 181 BGB.237 Anders als das Eingriffsrecht hat sich die Ordre public Klausel im Vergleich zum EVÜ inhaltlich nicht verändert.238 Eine Parallelvorschrift für außervertragliche Schuldverhältnisse findet sich in Art. 26 Rom II-VO.239

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Vgl. etwa OLG Brandenburg, 22.2.1996, RIW 1997, 424. Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 10/504, S. 49; kritisch Reithmann FS Ferid, S. 363 (371); Lichtenberger FS Hagen, S. 145 (153). 233 Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 520. 234 Vgl. Magnus, IPRax 2010, 27 (41) sowie Erwägungsgrund 37 zur Rom IVerordnung. 235 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 21 Rn. 2 und 7. 236 BGH, 4.6.1992, NJW 1992, 3096 (3101). 237 Vgl. insbesondere die Anwendungsbeispiele und Rechtsprechungsnachweise bei Palandt/Thorn, Rom I Art. 21 Rn. 3. 238 Magnus, IPRax 2010, 27 (42). 239 Vgl. hierzu Palandt/Thorn, Rom II Art. 26. 232

Kapitel 2

Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex fori nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO § 1 Anwendung deutscher Eingriffsnormen Anwendung deutscher Eingriffsnormen

Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO regelt die Anknüpfung der Eingriffsnormen der lex fori und ist somit die Nachfolgevorschrift von Art. 7 II EVÜ bzw. Art. 34 EGBGB. Ist Deutschland Forumstaat, so werden auf diesem Wege ausschließlich deutsche Eingriffsnormen zur Anwendung gebracht, die sodann unabhängig vom an sich nach den Art. 3 ff. Rom I-VO bestimmten Vertragsstatut gelten.1 Ratio legis des Absatz 2 ist, dass kein Richter sich über die den überragenden Interessen des eigenen Staates dienenden Vorschriften hinwegsetzen können soll.2 Der Wortlaut des Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO bringt diesen Gedanken wie folgt zum Ausdruck: „Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der Eingriffsnormen des Rechts des angerufenen Gerichts.“ A. Voraussetzungen für die Anwendung inländischen Eingriffsrechts I. Allgemeine Anwendungsvoraussetzungen Voraussetzung für die Anwendung einer inländischen Eingriffsnorm nach Absatz 2 ist zunächst, dass eine Eingriffsnorm im Sinne der Definition des Absatz 1 vorliegt: Es ist also sowohl der internationale Geltungswille als auch der in Frage stehende Gemeinwohlbelang zu ermitteln.3 Diese statutsfremden Normen werden sodann auch gegen das Schuldstatut angewendet, wobei freilich innerhalb der Europäischen Union die Grundfreiheiten4 nicht beeinträchtigt werden dürfen.5 Hat es der Gesetzgeber unterlassen, einseitige Kollisionsnormen zu erlassen, welche die Anwendbarkeit des inländischen Eingriffsrechts begründen, so ist es Aufgabe des Richters, insbesondere das in Frage stehen1

Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 6. MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 104. 3 MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 51. 4 EuGH, Rs. C-374/96 – „Arblade“, EuGHE 1999 I, S. 8453 = RIW 2000, 137 ff. 5 Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (113); Bonomi, YbPrivIntL 10 (2008), 285 (290 f.); schon zu Art. 34 EGBGB Reich, NJW 1994, 2128 (2131). 2

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Kapitel 2: Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex fori

de Gemeininteresse zu ermitteln. Bei dieser richterrechtlichen Entwicklung eingriffsrechtlicher Anknüpfungen handelt es sich um Rechtsfortbildung, die modo legislatoris zu erfolgen hat:6 Anders als bei der Anwendung des Ordre public Vorbehalts nach Art. 21 Rom I-VO geht es nicht um die ausnahmsweise Nichtanwendung der an sich berufenen ausländischen lex causae, sondern um die Entwicklung einer Regelanknüpfung und nicht nur um bloße Ergebniskorrektur. II. Richtliniennormen als inländisches Recht? Dass Eingriffsnormen des Rechts der Europäischen Union inländische Eingriffsnormen darstellen können, mag auf den ersten Blick nahe liegen. Uneingeschränkt gilt dies freilich nicht, es ist vielmehr eine differenzierte Betrachtung geboten: Eingriffsnormen, die einer unmittelbar geltenden Verordnung entstammen, sind zugleich Teil der innerstaatlichen Ordnung eines jeden Mitgliedstaates.7 Konsequenterweise können (bzw. müssen) sie als inländische Eingriffsnormen nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO zur Anwendung gebracht werden.8 So hat der europäische Gesetzgeber beispielsweise von seiner ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz9 im Bereich des Außenwirtschaftsrechts gemäß Art. 207 AEUV (ex-Art. 133 EGV) reichlich Gebrauch gemacht und etliche handelspolitische Maßnahmen im Bereich der Ein- und Ausfuhr10 oder des Zollrechts11 in Verordnungsform erlassen. Im Unterschied dazu sind Eingriffsnormen, die Richtliniennormen der EG entstammen, keine inländischen Bestimmungen im Sinne der Vorschrift und damit nicht nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO berücksichtigungsfähig, es sei denn, sie wurden in nationales Recht umgesetzt.12 Im letztgenannten Fall kann die auf der EG-Richtlinie beruhende nationale Norm als Eingriffsnorm nach Absatz 2 Anwendung finden, nicht aber die zugrunde liegende Richtliniennorm selbst. Ist keine Umsetzung erfolgt, so kann auch über Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO keine unmittelbare horizontale Wirkung der nicht umgesetzten Richtlinie im Verhältnis zwischen Privatparteien erfolgen, da ansonsten die hierzu ergangene Rechtsprechung des EuGH13 um6

MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 52. Vgl. zur Wirkung von EG-Verordnungen Oppermann/Classen/Nettesheim, S. 178 ff. 8 Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 536. 9 Zur Ausschließlichkeit dieser Kompetenz EuGH, 15.12.1876, Rs. 41/76 – „Donckerwolke“, EuGHE I, S. 1921. 10 Verordnung (EWG) Nr. 288/82 des Rates vom 5.2.1982 betreffend die gemeinsame Einfuhrregelung, ABl EG Nr. L 1982 35, S.1 ff. 11 Verordnung (EWG) Nr. 950/68 des Rates vom 28.6.1968 über den Gemeinsamen Zolltarif, ABl. EG Nr. L 172, S. 1 ff. 12 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 30. 13 EuGH, 14.07.1994 – Rs. C-91/92 – „Paola Faccini Dori/Recreb Srl”, EuGHE I, 3325 = NJW 1994, 2473. 7

§ 1 Anwendung deutscher Eingriffsnormen

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gangen würde und es zudem den Grundsätzen über die Wirkung von Richtlinien widerspräche.14 Auch eine mittelbare horizontale Wirkung einer nicht umgesetzten Richtlinie – wie sie früher von deutschen Gerichten bei Haustürgeschäften in Erwägung gezogen wurde15 – muss über Art. 9 Rom I-VO ausscheiden. Ist beispielsweise eine verbraucherschützende Richtlinie zwar in Deutschland umgesetzt worden, nicht aber in Spanien, so können sich deutsche Verbraucher, die in Spanien mit dortigen Anbietern Verträge schließen, nicht über Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO auf den Schutzstandard der betroffenenen Richtlinie berufen.16 Der betroffenen Partei bleibt insofern nur der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch wegen nicht oder nicht korrekt erfolgter Umsetzung der Richtlinie in das nationale Recht.17 B. Rechtsfolgenseite Das in der jeweiligen Eingriffsnorm geregelte zwingende Recht wird nicht unmittelbar auf Grundlage des Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO angewandt, sondern aufgrund seines eigenen Anwendungsbefehls. Die Vorschrift dient somit lediglich als „Öffnungsklausel“18 für Eingriffsnormen, sofern deren Anwendungsbefehl respektiert wird. Der inländischen Eingriffsnorm wird damit die Anwendung entgegen dem Vertragsstatut eröffnet. Dies lässt sich der Formulierung entnehmen, dass die Rom I-Verordnung „die Anwendung der Eingriffsnormen des angerufenen Gerichts“ nicht berühre. Enthält auch die jeweilige Eingriffsnorm keine ausdrückliche Anknüpfungsregelung – wie es beispielsweise in der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI)19 der Fall ist – so ist seitens des Richters eine Kollisionsnorm hinsichtlich der gegeben Fallkonstellation zu entwickeln, die gewährleistet, dass die mit der jeweiligen Eingriffsnorm verfolgten Ziele erreichbar und durchsetzbar sind.20 Die jeweilige Eingriffsnorm wird also im Einklang mit den Vorgaben des nationalen Gesetzgebers befolgt.21 Da der Anwendungsbefehl in diesem Fall von derselben Legislativinstanz ausgesprochen wird, die auch für 14

MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 215. Vgl. OLG Frankfurt/Main, 9.2.1988, VuR 1989, 162; OLG Frankfurt/Main, 1.6.1989. RIW 1989, 646. Weitere Beispiele bei Lüderitz, IPRax 1989, 25 ff. 16 So bereits zu Art. 34 EGBGB OLG Hamm, 1.2.1988, IPRax 1990, 242 ff. m. Anmerkung Jayme, IPRax 1990, 220 ff. 17 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 43. 18 Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 561; Roth, RIW 1994, 275 (277); Zeppenfeld, S. 136; Mäsch, S. 160. 19 Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) vom 17.9.1976, BGBl. I S. 2805. 20 BGH, 27.2.2003, BGHZ 154, 110 (116). 21 So schon zum alten Recht Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 182. 15

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Kapitel 2: Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex fori

das entscheidende Gericht zuständig ist, ist diese Rechtsfolge ebenso selbstverständlich wie unproblematisch.22 Anders verhält es sich bei der Anwendung ausländischer Eingriffsnormen nach Absatz 3, wo nicht von „Anwendung“, sondern von „Wirkung verleihen“ die Rede ist.23 Aus der indikativischen Formulierung „berührt nicht“ folgt, dass bei der Anwendung inländischen Eingriffsrechts kein richterliches Ermessen besteht. Auch hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zur Anwendung ausländischer Eingriffsnormen nach Absatz 3, wonach der jeweiligen Norm nur „Wirkung verliehen“ werden kann. Liegen hingegen die Voraussetzungen des Absatz 2 vor, so ist die inländische Eingriffsnorm zwingend so anzuwenden, wie die Norm selbst es vorsieht. Als vorrangige Sonderregel setzt sie sich damit auch gegen zwingendes fremdes Recht durch, das unter Umständen über Art. 9 Absatz 3 Geltungsanspruch erhebt.24 C. Beispielsfall Die klassischen Anwendungsfälle von Eingriffsnormen der lex fori spielen sich im Bereich des Außenwirtschaftsrechts ab.25 Dieses geht zwar grundsätzlich von der Freiheit des Außenhandels aus, soweit aber im Außenwirtschaftsgesetz (AWG)26, der Außenwirtschaftsverordnung (AWV)27 oder im Kriegswaffenkontrollgesetz28 Beschränkungen der Ein- und Ausfuhr von Waren, Dienstleistungen oder Kapital vorgesehen sind, so müssen diese auch bei einem ausländischen Schuldstatut angewendet werden. Zur Veranschaulichung sei hier der folgende vom BGH entschiedene Beispielsfall geschildert:29 Der deutsche Bauunternehmer K wollte auf seinen in Deutschland belegenen Grundstücken Eigentumswohnungen errichten, zu deren Finanzierung er mit der Schweizer Bank B mehrere Darlehensverträge schloss. In den Darlehensurkunden vereinbarten die Parteien „für allfällige Streitigkeiten“ die Anwendung schweizerischen Rechts. Ferner unterwarf sich K 22

Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 565. Hierzu sogleich unter § 5B. , S. 101. 24 Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 6; dagegen Magnus, IPRax 1990, 141 (145). 25 Eine ausführliche Übersicht der wichtigsten Eingriffsnormen des deutschen Rechts sortiert nach Fallgruppen findet sich bei Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 566-622. 26 Gesetz vom 28.4.1961, zuletzt geändert durch Neubekanntmachung vom 27.5.2009, BGBl. I, S. 1150. 27 Außenwirtschaftsverordnung vom 18.12.1986, zuletzt geändert durch Neubekanntmachung vom 22.11.1993, BGBl. I S. 1934. 28 Ausführungsgesetz zu Art. 26 Abs. 2 GG (Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen) vom 20.4.1961, Neubekanntmachung vom 22.11.1990, BGBl. I, S. 2506, zuletzt geändert durch Art. 2 G vom 6.6.2009, BGBl. II S. 502 f. 29 BGH, 23.10.1980, RIW 1981, 194 f. = IPRax 1982, 116 (Leitsatz m. Anm. von Hoffmann. Der Sachverhalt wird an dieser Stelle etwas vereinfacht wiedergegeben). 23

§ 2 Exkurs: Eingriffsnormen der lex fori in der Rom II-Verordnung

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gegenüber B der sofortigen Zwangsvollstreckung. Nachdem K seinen Zahlungspflichten nicht mehr nachgekommen war, betrieb B aus der notariellen Urkunde die Zwangsvollstreckung. K erstrebte klageweise die Unzulässigerklärung der Zwangsvollstreckung mit der Behauptung, dass die Darlehensverträge unwirksam seien, weil für sie nicht die erforderlichen außenwirtschaftsrechtlichen Genehmigungen eingeholt worden seien. Der BGH gab der Klage statt. Zwar wurde die Rechtswahl der Parteien zugunsten schweizerischen Rechts anerkannt, der Darlehensvertrag jedoch für nichtig befunden, weil § 52 Abs. 1 Nr. 3 AWV für die Aufnahme von Darlehen durch Gebietsansässige bei Gebietsfremden die Genehmigung der Deutschen Bundesbank vorschrieb. Die entsprechenden Bestimmungen seien zwingendes deutsches öffentliches Recht. Bis zur Genehmigungserteilung sei der Vertrag schwebend unwirksam.

§ 2 Exkurs: Eingriffsnormen der lex fori in der Rom II-Verordnung Exkurs: Eingriffsnormen der lex fori in der Rom II-Verordnung

Anders als im Internationalen Vertragsrecht sind Eingriffsnormen im Internationalen Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse bislang kaum erörtert worden.30 Mit Art. 16 Rom II-Verordnung31 findet sich nun erstmals eine gesetzliche Vorschrift für Eingriffsnormen in außervertraglichen Schuldverhältnissen auf europäischer Ebene.32 A. Bisherige gesetzliche Regelungen in Deutschland und anderen Staaten In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union existieren bislang kaum Kollisionsnormen für die Anwendung des Eingriffsrechts der außervertraglichen Schuldverhältnisse. Mangels einer entsprechenden kollisionsrechtlichen Regel im bisherigen nationalen deutschen Recht wurde für die Anknüpfung von Eingriffsnormen im Deliktsrecht eine materiellrechtliche Lösung vorgeschlagen, beispielsweise über die Sittenwidrigkeit des berufenen Sachrechts.33 Auch in den anderen Mitgliedstaaten fehlt es an entsprechenden Regelungen, einzig in England existiert mit Section 14 (4) Private International

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Staudinger/von Hoffmann, Vorbem. zu Art. 40 EGBGB Rn. 72. Einzig Wengler hat sich vor längerer Zeit der Problematik vertieft gewidmet, vgl. BGB-RGRK/Wengler, § 15, S. 416 ff. 31 Vgl. oben Fn. 10. 32 Fuchs, GPR 2004, 100 (104). 33 Huber/Bach, IPRax 2005, 73 (82).

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Kapitel 2: Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex fori

Law (Miscellaneous Provisions) Act 199534 eine Vorschrift, die eine Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen im internationalen Deliktsrecht ermöglicht. Zu beachten ist, dass diese Norm keine Differenzierung zwischen Sonderanknüpfungen von Normen des Forums und solchen dritter Staaten vornimmt, sodass unklar bleibt, ob sie nur die Berücksichtigung inländischer oder auch ausländischer Eingriffsnormen ermöglicht.35 Außerhalb der Europäischen Union gibt es in der Schweiz die Vorschrift des Art. 18 IPRG,36 der schweizerische Eingriffsnormen zum Gegenstand hat, sowie Art. 19 IPRG,37 der die Sonderanknüpfung ausländischer Eingriffsnormen regelt. Diese Vorschriften sind als Normen des Allgemeinen Teils des schweizerischen IPRG nicht auf eine Anwendung im Bereich des Internationalen Vertragsrechts beschränkt und finden somit auch auf das Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse Anwendung.38 B. Begriff der Eingriffsnorm in der Rom II-Verordnung Im Unterschied zur Rom I-Verordnung und entgegen der Forderung Einzelner39 wurde in der Rom II-Verordnung auf eine Definition des Begriffs der Eingriffsnormen verzichtet. Angesichts dessen, dass Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO sich an der Arblade-Entscheidung orientiert40 und diese wiederum in der Kommissionsbegründung der Rom I-VO ausdrücklich als Vorbild für Art. 16 Rom II-VO genannt wird,41 liegt es nahe, die Vorschrift an dieser Stelle analog anzuwenden.42 Die planwidrige Regelungslücke kann darin gesehen werden, dass der europäische Gesetzgeber in Anbetracht des geringen praktischen Anwendungsbereichs keine eigene Definition für erforderlich erachtete.43 Die vergleichbare Interessenlage ergibt sich daraus, dass offenkundig beide Vorschriften das Phänomen Eingriffsrecht regeln wollen, was sich bereits aus den identischen amtlichen Normüber34 Section 14 (4): „This Part has effect without prejudice to the operation of any rule of law which either has effect notwithstanding the rules of private international law applicable in the particular circumstances or modifies the rules of private international law that would otherwise be so applicable.“ 35 Wohl eher ablehnend Cheshire/North, S. 652 m.w.N. 36 Zu Art. 18 IPRG vgl. ZürchKomm-IPRG/Vischer, Art. 18. 37 Zu Art. 18 IPRG vgl. ZürchKomm-IPRG/Vischer, Art. 19. 38 Schramm, S. 1, ZürchKomm-IPRG/Vischer, Art. 19 Rn. 9. 39 Bundesverband deutscher Banken, Comment Rome II, S. 3. 40 Vgl. oben unter § 1., S. 5. 41 KOM(2003) 427 endgültig, S. 27. 42 Schramm, S. 23; Wagner, IPRax 2006, 372 (388); Huber/Bach, IPRax 2005, 73 (82); Sonnentag, ZvglRW 105 (2006), 256 (309); Posch, YbPrivIntL 6 (2004), 129 (151); Deutscher Rat für IPR, Stellungnahme Rom II, S. 50; Leible/Engels, EuZW 2004, 7 (16); von Hein, ZvglRW 102 (2003), 528 (550). 43 MünchKommBGB/Juncker, Rom II-VO Art. 16 Rn. 13.

§ 2 Exkurs: Eingriffsnormen der lex fori in der Rom II-Verordnung

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schriften ergibt. Erwägungsgrund 7 zur Rom II-VO kann zudem das Gebot einheitlicher Auslegung der beiden Vorschriften entnommen werden, sodass die Dogmatik des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO analog auf Art. 16 Rom IIVO angewendet werden kann.44 C. Kollisionsrechtliche Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex fori Art. 16 Rom II-VO entspricht fast wortgleich (unter Berücksichtigung der in der Sache gebotenen Modifikationen)45 Art. 7 II EVÜ. Geregelt wird somit parallel zu Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO die Anwendung der Eingriffsnormen des Forumstaates. Rechtstechnisch erfolgt diese nach Art. 16 Rom II-VO ebenso wie in Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO im Wege einer kollisionsrechtlichen Sonderanknüpfung, da Eingriffsnormen ihren Anwendungsbereich unilateral vom Gesetz her bestimmen.46 D. Anwendungsfälle Eingriffsnormen im Internationalen Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse sind in Deutschland wie auch den anderen Mitgliedstaaten äußerst rar. Abgesehen vom Kartellrecht, das eine Spezialmaterie darstellt, die hier nicht näher erörtert werden soll,47 kommt im Bereich der außervertraglichen Schuldverhältnisse als Anwendungsfall wohl einzig das Recht der unerlaubten Handlungen in Betracht. Dort gibt es einerseits Vorschriften, die der Begründung eines deliktischen Anspruchs dienen und deren Berücksichtigung für den Geschädigten vorteilhaft ist (haftungsbegründend wirkende Vorschriften), wie beispielsweise Ge- und Verbotsnormen, aber auch Regelungen, die direkt einen deliktischen Schadensersatzanspruch ermöglichen.48 Es gibt darüber hinaus aber auch Eingriffsnormen, die einen deliktischen Anspruch ausschließen und deren Berücksichtigung somit für den Schädiger vorteilhaft ist (haftungsausschließende Normen).49 Deutsche Rechtsprechung, die in einem Haftpflichtprozess explizit inländischen Eingriffsnormend den Vorrang eingeräumt hätte, ist nicht ersichtlich.50 Die von der Literatur bislang in Erwägung gezogenen Anwen-

44 Palandt/Thorn, Rom II Art. 16 Rn. 1; MünchKommBGB/Juncker, Rom II-VO Art. 16 Rn. 13; Juncker, RIW 2010, 257 (268); Bamberger/Roth/Spickhoff, Anhang Art. 42 EGBGB Rn. 114. Allgemein und umfassend zur verordnungsübergreifenden Auslegung Bitter, IPRax 2008, 96-101. 45 Fricke, VersR 2005, 726 (738). 46 MünchKommBGB/Juncker, Rom II-VO Art. 16 Rn. 18 f. 47 Vgl. hierzu Mankowski, RIW 2008, 177 (181). 48 Schramm, S. 11. 49 Schramm, a.a.O, dazu sogleich unter § 2D. II, S. 48. 50 MünchKommBGB/Juncker, Rom II-VO Art. 16 Rn. 14.

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Kapitel 2: Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex fori

dungsfälle – nicht nur aus dem deutschen Recht – lassen sich im Wesentlichen in die folgenden beiden Gruppen teilen. I. Verkehrs- und Sicherheitsregeln Als Anwendungsbereich ausländischer Eingriffsnormen des Deliktsrechts ist früher häufig an die Beachtung ausländischer Verkehrs- und Sicherheitsvorschriften gedacht worden. Ereignet sich beispielsweise in Großbritannien ein Verkehrsunfall, bei dem beide Beteiligten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben, so ist gemäß Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO deutsches Recht Deliktstatut. Dennoch ist auch vor deutschen Gerichten das englische Linksfahrgebot zu beachten. Dies als Sonderanknüpfung der Eingriffsnormen des ausländischen Tatorts vor dem Deliktsstatut zu sehen, wurde jedoch bereits vor Veröffentlichung eines Rom II-Verordnungsvorschlages überwiegend abgelehnt, da es unnötig kompliziert sei.51 Das Deliktstatut verweise vielmehr zur Konkretisierung der von ihm aufgestellten Erfordernisse auf örtliche Standards, gleich ob in- oder ausländisch.52 Die ausländischen Normen hätten lediglich Tatbestandswirkung, würden aber nicht als Rechtsnormen angewendet.53 Diese Auffassung wird nunmehr durch die Vorschrift des Art. 17 Rom II-VO bestätigt, der eine Sondervorschrift für ausländische Verkehrsund Verhaltensregeln statuiert. Der Vorschrift zufolge sind die Verhaltensund Sicherheitsvorschriften, die am Ort und zum Zeitpunkt des haftungsbegründenden Ereignisses in Kraft sind, „faktisch und soweit angemessen“ zu berücksichtigen. Die Ansicht, diese Vorschriften unterlägen als ausländische Eingriffsnormen einer Sonderanknüpfung, ist somit überholt. Verhaltens- und Sicherheitsvorschriften sind unter Geltung der Rom IIVerordnung nicht Gegenstand einer Sonderanknüpfung im internationalen Deliktsrecht.54 II. Schutz des Schwächeren Nicht nur im Vertragsrecht, sondern auch im Deliktsrecht gibt es Regelungen, durch welche die allgemeinen Anknüpfungsmomente mitunter korrigiert werden, um der schwächeren Partei den Schutz einer ihr nahe stehenden Rechtsordnung zu gewähren.55 Im haftungsbegründenden Bereich ist

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Von Hoffmann, FS Henrich, S. 283 (289). Von Hoffmann, a.a.O. 53 Staudinger/von Hoffmann, Vorbem. zu Art. 40 EGBGB Rn. 57. 54 Palandt/Thorn, Rom II Art. 17 Rn. 2. 55 Von Hoffmann, FS Henrich, S. 283 (291). 52

§ 2 Exkurs: Eingriffsnormen der lex fori in der Rom II-Verordnung

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an die verschuldensunabhängige Haftung zu denken, wie sie sich etwa im Straßenverkehrsrecht56 oder im Produkthaftungsrecht findet. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang vielfach die arzneimittelhaftungsrechtliche Vorschrift des § 84 AMG, die einen Spezialfall der Produkthaftung darstellt,57 als international zwingend erachtet.58 Weitere Anwendungsbereiche im deutschen Recht, die in jüngerer Zeit diskutiert wurden, sind die Regeln über die Prospekthaftung (§ 47 Abs. 1 Börsengesetz).59 Ein klassischer Anwendungsfall auch im Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse sind die (hier nicht näher zu behandelnden) Vorschriften des Währungs- und Devisenrechts,60 die Rechtsverhältnisse aller Art beeinflussen können: Ist beispielsweise ein Schädiger, dessen gewöhnlicher Aufenthalt in einem vom Tatort abweichenden Staat liegt, infolge eines Verkehrsunfalls zur Zahlung einer Geldrente verpflichtet, so können devisenrechtliche Beschränkungen seines Wohnsitzstaates zu berücksichtigen sein.61 Zusammenfassend betrachtet zeigt sich angesichts dieser eher überschaubaren Anwendungsfälle, dass die praktische Relevanz des Art. 16 Rom II-VO ausgesprochen begrenzt ist und wohl auch bleiben wird.62

56 Siehe etwa die französische Entscheidungen Cour de Cassation, 6.6.1990 und 22.1.1991, Rev crit dr int priv 80 (1991), 354. 57 Rehmann, Art. 84 AMG Rn. 1. 58 Palandt/Thorn, Rom II Art. 16 Rn. 5. 59 MünchKommBGB/Juncker, Rom II-VO Art. 16 Rn. 15. 60 Deutscher Rat für IPR, Stellungnahme Rom II, S. 50. 61 Ausführlich insbesondere auch zum ausländischen Devisenrecht siehe Staudinger/Ebke, Anhang zu Art. 34 EGBGB. 62 Palandt/Thorn, Rom II Art. 16 Rn. 5; Bamberger/Roth/Spickhoff Anhang Art. 42 EGBGB Rn. 116.

Kapitel 3

Anwendung ausländischer Eingriffsnormen nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO regelt als Nachfolgevorschrift von Art. 7 I EVÜ die Anwendung ausländischer Eingriffsnormen. Ausländische Eingriffsnormen meint hier im Unterschied zur Regelung des Art. 9 Abs. 2 Rom IVO forumsfremde Eingriffsnormen. Die Vorschrift ermöglicht es also dem zuständigen Gericht, nicht nur die über die Öffnungsklausel des Absatz 2 anwendbaren „eigenen“ Eingriffsnormen der lex fori zur Anwendung zu bringen, sondern auch solche dritter Rechtsordnungen. Sind lex fori und lex causae identisch (beispielsweise wenn ein deutsches Gericht deutsches Recht anwendet) ist es allerdings missverständlich, von „drittstaatlichen“ Eingriffsnormen zu sprechen, weist der Vertrag doch nur Bezüge zu zwei Rechtsordnungen auf.1 Diese Konstellation wird deshalb mitunter als „unechter“ Drittstaatenfall bezeichnet.2 Die Vorschrift ist rechtspolitisch die vielleicht umstrittenste Regelung der Rom I-Verordnung überhaupt.3 Die politische Brisanz des Absatz 3 zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Ursprungsversion der Regelung im Vorentwurf zur Rom I-VO4 (Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO-E) der Grund dafür war, dass das Vereinigte Königreich zunächst von seinem Recht aus Art. 69 EG-Vertrag in Verbindung mit Art. 3 des Protokolls zum Amsterdamer Vertrag über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands5 Gebrauch gemacht hatte, sich nicht an der Rom I Verordnung zu beteiligen6 und erst nach einer umfassenden Revision des Normtextes von seinem Recht zum Opt-in im Sommer 2008 Gebrauch machte.7 Die britische Skepsis hat die endgültige Fassung nicht unerheblich beeinflusst, da eine Nicht1

Kuckein, S. 13. Beulker, S. 58. 3 Leible, Neue Perspektiven im Europäischen Kollisionsrecht, S. 64. Reithmann/ Martiny/Freitag, Rn. 500. 4 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnis anzuwendende Recht (Rom I) vom 15.12.2005, KOM (2005) 650 endgültig. 5 BTDrucks. 13/9339, S. 52; (Titel III a EG-Vertrag ist mittlerweile Titel IV). 6 Wagner, EuZW 2006, 424 (425). 7 Entscheidung der Europäischen Kommission zum opt in des Vereinigten Königreichs, ABl. EU Nr. L 10, S 22. 2

§ 1 Gründe für die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts

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beteiligung als ein großer Rückschritt auf dem Wege zur Rechtsvereinheitlichung im europäischen IPR empfunden worden wäre.8

§ 1 Gründe für die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts Gründe für die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts

Vergegenwärtigt man sich die rechtspolitische Brisanz der Vorschrift, so mag man sich fragen, warum überhaupt ein Bedürfnis nach der Anwendung ausländischen Eingriffsrechts besteht. Warum sollte man neben Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO, durch den bereits die Eingriffsnormen der lex fori systemwidrig auf einen Vertrag einwirken, mit dem Absatz 3 ein weiteres Einfallstor für fremdes Recht schaffen?9 Im Regelfall wendet ein Richter nur „eigenes“ Recht an. Die Nichtanwendung der lex fori oder des anhand der grundsätzlichen Anknüpfungsregeln des IPR berufenen Rechts und stattdessen die Anwendung fremder Vorschriften bedarf also einer besonderen Rechtfertigung.10 Die Problematik verschärft sich noch, wenn man sich vor Augen führt, dass die Menge an Auseinandersetzungen zu dieser Fragestellung in der Literatur in einem krassen Widerspruch zu der geringen Anzahl hierzu ergangener Entscheidungen steht.11 So stellte nicht zuletzt die Kommission im Grünbuch zur Rom I-VO fest, dass es zur Konstellation des Art. 7 I EVÜ praktisch keine Rechtsprechung gäbe, und zwar weder aus den Staaten, in denen die Vorschrift galt, noch aus denen, die einen Vorbehalt hiergegen nach Art. 22 Abs. 1 lit. a EVÜ eingelegt hatten.12 Als Begründung für die Anwendungen ausländischen Eingriffsrechts werden im Wesentlichen die folgenden Ansätze vertreten. A. Statutistischer Ansatz Der statutistische Ansatz geht vom savigny’schen Gedanken der „völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten“ aus.13 Einst von Wengler14 begründet und von Zweigert15 fortentwickelt, beruht er auf der comitas-Idee, also der Verpflichtung zu zwischenstaatlicher Rücksichtnahme auf die Interessen anderer sowie dem Bemühen um internationalen Entscheidungsein8 Thorn, Eingriffsnormen, S. 149. Näheres zur Entstehungsgeschichte und dem Einfluss des Vereinigten Königreiches auf die endgültige Fassung der Vorschrift unter § 2 9 Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 186. 10 Schubert, RIW 1987, 729 (738). 11 Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 492. 12 Grünbuch zu Rom I (vgl. oben Fn. 17), S. 45; ebenso Magnus/Mankowski, ZvglRW 103 (2004), 130 (179). Hierzu sogleich. 13 Von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. VIII, S. 27. 14 Wengler, ZvglRW 54 (1941), 168 ff. 15 Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283 ff.

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

klang.16 In einer Zeit, in der immer mehr internationaler Handel betrieben werde, seien die Staaten zusehends voneinander abhängig und auf gegenseitige Solidarität angewiesen.17 Somit müsse der Richter des Forumstaates den Anwendungswillen des fremden Eingriffsrechts beachten, sofern die Durchsetzbarkeit im Erlassstaat und die Legitimität des Machtanspruchs gegeben seien. Letztere sei dann zu bejahen, wenn Eingriffs- und Ordnungsnormen in Rede stünden, die im Zuge wirtschaftspolitischer oder sozialer Erwägungen „von internationaler Verbreitung und Billigung liegen“, nicht hingegen, wenn es sich um Normen handele, die sich von der Werteskala des Forumstaates her als „artfremde“ Ordnungsversuche oder gar „gezielte politische Kampfmaßnahmen gegen dritte Staaten“ darstellten.18 In der Literatur ist der statutistische Ansatz bis in die Gegenwart immer wieder neu belebt worden.19 B. Eigeninteresse des Forumstaates Die Gegenauffassung hält dem statutistischen Ansatz entgegen, dass der Forumstaat dem Grunde nach keinen Anlass habe, Gemeininteressen eines anderen Staates wahrzunehmen.20 Die Annahme, dass ausländische Eingriffsnormen in selbem Maße ihren Anwendungsbereich begründen würden wie inländische sei zwar nicht falsch, aber unvollkommen: Die Anweisung richte sich nur an die Organe des betroffenen ausländischen normsetzenden Staates.21 Dies führe jedoch nicht zu einer grundsätzlichen Unanwendbarkeit fremden Eingriffsrechts. Über völker- und europarechtliche Verpflichtungen zur Anwendung ausländischen Eingriffsrechts22 hinaus erfolge eine Anknüpfung primär aus Eigeninteresse des Forumstaates. Ein solches Inlandinteresse sei erforderlicher und ausreichender Legitimationsgrund.23 Kreuzer hat hierfür den anschaulichen Begriff der „Nostrifizierung“ der ausländischen Eingriffsnormen geprägt:24 An sich habe der inländische Staat keine Veranlassung, ausländische Gemeininteressen durchzusetzen, es sei denn, er habe hierfür besondere Gründe. 25 Solche können 16

Chong, JprivIntL Vol. 2 (2006), 27 (34 f.). Lando/Nielsen, ComMLRev 45 (2008), 1687 (1720). 18 Zweigert, FS Kiel, S. 124 (131). 19 Schubert, RIW 1987, 729 (738 ff.); in jüngerer Zeit auch Zeppenfeld, S. 111, 137, 157. 20 MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 53; Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 301. 21 Gamillscheg, S. 195. 22 Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, S. 75 ff. Einzelheiten sind Fragen des Internationalen Öffentlichen Rechts, denen hier nicht näher nachgegangen werden soll. 23 Fetsch, S. 75. 24 Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, S. 91. 25 MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 53. 17

§ 1 Gründe für die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts

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beispielsweise Interessen an zwischenstaatlicher Kooperation, Gegenseitigkeitserwartungen oder der Vollzug internationaler Zielsetzungen sein, die sich der inländische Staat selbst zu eigen gemacht hat oder denen er zumindest neutral gegenübersteht.26 Bei entgegenstehenden inländischen Gemeininteressen sei sodann eine Interessenabwägung nötig. Das inländische Interesse an der Anwendung ausländischen Eingriffsrechts ist somit nach dieser Auffassung kein Anknüpfungsmoment neben anderen, sondern eine durchgehende Grundvoraussetzung, die jeder einzelnen auch für Eingriffsrecht notwendigen räumlichen Anknüpfung vorausgeht.27 C. Stellungnahme Der statutistische Ansatz hat auf den ersten Blick vieles für sich: Er zeichnet sich durch gegenseitigen Altruismus zwischen unterschiedlichen Staaten und Völkerrechtsfreundlichkeit aus und erweist sich damit als eine tolerante, weltoffene und über den innerstaatlichen Tellerrand hinausblickende Auffassung. Hierdurch trägt er zur Verwirklichung eines Fundamentalprinzips im Internationalen Privatrecht bei, dem internationalen Entscheidungseinklang: Grundvoraussetzung für diesen ist nämlich eben die Gleichstellung ausländischen Rechts mit inländischem28 oder um es mit Savigny zu sagen: Internationaler Entscheidungseinklang wird nur dann verwirklicht, wenn „die Rechtverhältnisse, in Fällen einer Kollision der Gesetze, dieselbe Beurteilung zu erwarten haben, ohne Unterschied, ob in diesem oder jenem Staate das Urteil gesprochen wird“.29 Bei näherer und vor allem pragmatischer Betrachtung erweist sich der statutistische Ansatz jedoch als reichlich realitätsfern: Nähme man diesen Ansatz ernst und würde ihn in letzter Konsequenz verfolgen, so würde nationalstaatlichem Rechtsmissbrauch Tür und Tor geöffnet: Jeder nationale Gesetzgeber könnte nach Belieben auch rechtspolitisch fragwürdigste Vorschriften mit einem internationalen Anwendungsbefehl versehen und ein statutistischer Ansatz in Reinform müsste diesem Anwendungswillen auch Folge leisten. Dieser Gefahr sind sich allerdings auch die Vertreter des statutistischen Ansatzes bewusst, weswegen Einigkeit besteht, dass dem fremden Anwendungsbefehl nicht uneingeschränkt Folge zu leisten ist, sondern nur dann, wenn die Norm weitere Voraussetzungen erfüllt, die vom Gericht der lex fori zu prüfen sind. Vorgeschlagen worden sind beispielsweise die Voraussetzungen, dass der ausländische Staat die Macht haben müsse, die Norm durchzusetzen, dass der Normzweck von der inter26

Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 301. Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, S. 91. 28 Von Hoffmann/Thorn, § 1 Rn. 13. 29 Von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. VIII, S. 27. 27

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

nationalen Rechtsgemeinschaft getragen werde und insbesondere dass der Normzweck mit den Zwecken des deutschen Gesetzgebers übereinstimmen müsse.30 Insbesondere dieses letztere Kriterium zeigt jedoch, dass sich auch die Vertreter des statutistischen Ansatzes eingestehen müssen, dass letztlich doch die Werte und Interessen des Forumstaates über die Anwendung bestimmen. So banal die Erkenntnis sein mag, wird doch bei einem pragmatischen Blick auf die Frage offenbar: Die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts findet in der Realität vorwiegend aus Eigeninteresse des Forumstaates und nicht aus Altruismus statt.31 Und dies ist im Übrigen noch nicht einmal beklagenswert, es wäre vielmehr geradezu verfehlt, hierin einen Rückfall in überholte staatliche Autarkie zu sehen, denn auch Eigeninteresse kann in einer modernen Staatengemeinschaft altruistisch geprägt sein. Altruismus und Egoismus, Souveränität und Interessenverknüpfung der Staaten sind nicht zwingend Gegensätze, sondern idealerweise komplementäre Leitbegriffe.32 In Anbetracht der Komplexität und Vielschichtigkeit gerade internationaler Rechtsverhältnisse kann kein Gesetzgeber, weder der europäische noch ein nationaler, sämtliche Situationen antizipieren, in denen die Anwendung von Eingriffsrecht angebracht wäre. Hat hingegen der Gesetzgeber eines anderen Nationalstaates eine sachgerechte Norm erlassen, so ist es vollkommen legitim, diese aus purem Eigeninteresse anzuwenden. Als Beispiel hierzu mag die bekannte BGH-Entscheidung „Nigerianische Masken“33 dienen. Im zugrunde liegenden Rechtsstreit war fraglich, ob ein nigerianisches Ausfuhrverbot zum Schutz des nationalen Kulturgutes zur Nichtigkeit eines Versicherungsvertrages führte. Das Gericht führte hierzu aus, dass auch ein ausländisches Gesetz für die Beachtung der Wirksamkeit eines Vertrages zu beachten sei. Es lehnte die Nichtigkeit des Vertrages jedoch ab, weil es sich nicht um ein Ausfuhrverbot handele, „durch das mittelbar auch deutsche Interessen geschützt würden, (…) sondern um ein Verbot, das die Erhaltung des künstlerischen Erbes im Ursprungsland“ bezwecke. Es erkannte nationalen Kulturgüterschutz zwar als schützenswert an, befand den Vertrag aber ausdrücklich deshalb nicht als nichtig, weil kein deutsches Gemeininteresse am nigerianischen Kulturgüterschutz festzustellen war.34 Es zeigt sich, dass ein über diesen Pragmatismus hinausgehender Lösungsansatz wie der statutistische Ansatz von hehren Zielen geprägt sein und vielleicht als Begründungsansatz taugen mag, warum man ausländi30

Von Hoffmann/Thorn, § 10 Rn. 99. So auch Remien, RabelsZ 54 (1990), 431 (446); Fetsch, S. 75 ff. 32 Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (114). 33 BGH, 22.6.1972, NJW 1972, 1575 (1576). 34 Vgl. hierzu auch Wiese, S. 191 f. 31

§ 2 Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

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sches Eingriffsrecht anwenden sollte. Ob solche Erwägungen sachdienlich oder gar notwendig sind, sei dahingestellt.35 Die Gegenansicht vermag indes zu erklären, warum ausländisches Eingriffsrecht in der Praxis angewandt wird. Somit stehen sich die beiden Auffassungen letztlich gar nicht so diametral gegenüber, wie es zunächst scheint, sondern betrachten die Frage eher aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Eine echte Gefahr des statutistischen Ansatzes liegt allerdings darin, dass die rechtspolitische Entscheidung der (Nicht-)Anwendung ausländischen Eingriffsrechts aus der Hand gegeben wird, ohne im Umkehrschluss einen zählbaren Nutzen zu erhalten.36 Der Anwendungswille einer fremden Norm ist zwar selbstredend zur Kenntnis zu nehmen. Entscheidend muss aber die Überlegung sein, warum die Anwendung der Norm gerade aus der Sicht des Forumstaates sinnvoll ist. Um hierbei nicht in nationalstaatliche Engstirnigkeit zu verfallen, bietet eine Regelung in einem unionsrechtlichen Instrument wie der Rom I-Verordnung die Chance, durch ein einheitliches Anknüpfungsmodell das Ziel des internationalen Entscheidungseinklangs nicht aus den Augen zu verlieren.

§ 2 Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

Die Rom I-Verordnung enthält keinen dem Art. 22 Abs. lit. a EVÜ entsprechenden Vorbehalt, der es den Mitgliedstaaten ermöglicht, eine gesetzliche Regelung zur Anwendung ausländischen Eingriffsrecht im eigenen Staat zu verhindern. Somit stellt sich im Folgenden nicht nur die Frage nach dem Regelungsgehalt von Tatbestand- und Rechtsfolgenseite der neuen Vorschrift, sondern auch, ob und inwieweit sich die bislang von Rechtsprechung und Literatur gefundenen Lösungsansätze zur Anerkennung ausländischer Eingriffsnormen auf Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO übertragen lassen. Zur Beantwortung dieser Fragen ist indes eine nähere Betrachtung der Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO unumgänglich.37

35 So auch Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 274. 36 Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217 (237). 37 Vgl. zur Entstehungsgeschichte auch Schacherreiter, Eingriffsnormen in der Rom I-VO, S. 78 ff. sowie Freitag, IPRax 2009, 109 (110). Eine Zusammenstellung aller vom europäischen Gesetzgeber veröffentlichten Materialien findet sich unter http://euzpr.eu/ eudocs/03kollisionsr/10romivo/romivo.html.

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

A. Vom Ausgangsentwurf zur endgültigen Regelung Während im Gesetzgebungsverfahren zu einer unionsrechtlichen Regelung der außervertraglichen Schuldverhältnisse – der Rom II-Verordnung38 – bei der Schaffung der Parallelvorschrift des Art. 9 Rom I-VO, dem Art. 16 Rom II-Verordnung, keine Regelung zur Berücksichtigung ausländischen Eingriffsrechts getroffen wurde,39 versuchte sich der europäische Gesetzgeber in der Rom I-Verordnung trotz der zu erwartenden Schwierigkeiten40 an einer gesetzlichen Lösung für die Anwendung ausländischer Eingriffsnormen in vertraglichen Schuldverhältnissen, was überraschend und begrüßenswert zugleich war.41 Im Jahr 2005 legte die Kommission einen ersten vollständigen Entwurf der Rom I-Verordnung42 vor, dessen Art. 8 nicht nur in den Absätzen 1 und 2 beinahe wortgleich die Regelungen enthielt, die sich nun auch in den entsprechenden Absätzen des endgültigen Art. 9 Rom I-VO finden, sondern auch folgende – stark an Art. 7 I EVÜ43 angelehnte Regelung – zur Anwendung ausländischen Eingriffsrechts: „Weist der Sachverhalt eine enge Verbindung zu einem anderen Staat auf, kann den Eingriffsnormen dieses Staates ebenfalls Wirkung verliehen werden. Bei der Entscheidung, ob diesen Normen Wirkung zu verleihen ist, berücksichtigt das Gericht Art und Zweck dieser Normen nach Maßgabe der Begriffsbestimmung in Absatz 1 sowie die Folgen, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung für das mit der betreffenden Eingriffsnorm verfolgte Ziel sowie für die Parteien ergeben würden.“

38 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. EG Nr. L 199, S. 40. 39 Art. 16 Rom II-VO hält nur eine Art. 9 II Rom I-VO entsprechende Regelung zur Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex fori bereit: „Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der nach dem Recht des Staates des angerufenen Gerichts geltenden Vorschriften, die ohne Rücksicht auf das für das außervertragliche Schuldverhältnis maßgebende Recht den Sachverhalt zwingend regeln.“ Siehe hierzu auch den Exkurs unter § 8), S. 127. 40 Vgl. hierzu etwa Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 186 ff.; Mankowski, ZEuP 2003, 483 (488). 41 Leible, Neue Perspektiven im Europäischen Kollisionsrecht, S. 63. 42 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnis anzuwendende Recht (Rom I) vom 15.12.2005, KOM (2005) 650 endgültig. 43 Art. 7 Abs. 1 EVÜ lautete: „Bei Anwendung des Rechts eines bestimmten Staates auf Grund dieses Übereinkommens kann den zwingenden Bestimmungen des Rechts eines anderen Staates, mit dem der Sachverhalt eine enge Verbindung aufweist, Wirkung verliehen werden, soweit diese Bestimmungen nach dem Recht des letztgenannten Staates ohne Rücksicht darauf anzuwenden sind, welchem Recht der Vertrag unterliegt. Bei der Entscheidung, ob diesen zwingenden Bestimmungen Wirkung zu verleihen ist, sind ihre Natur und ihr Gegenstand sowie die Folgen zu berücksichtigen, die sich aus ihrer Anwendung oder ihrer Nichtanwendung ergeben würden.“

§ 2 Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

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Die Kommission ging ausweislich der Begründung zum Entwurf davon aus, dass eine entsprechende Regelung für einen echten europäischen Rechtsraum wesentlich sei.44 Sie leitete dies zum einen aus den Stellungnahmen zum Grünbuch ab, in denen Urteile genannt worden waren, in denen auf ausländische Eingriffsnormen zurückgegriffen wurde und zwar auch aus Mitgliedstaaten wie Deutschland45 und Großbritannien,46 die einen Vorbehalt gegen Art. 7 I EVÜ eingelegt hatten. Zum anderen wurde die Notwendigkeit einer Regel zur Anwendung ausländischen Eingriffsrechts damit begründet, dass die Brüssel I-Verordnung47 mitunter alternative Zuständigkeiten vorsehe.48 Ganz wortgleich wurde der weite Art. 7 I EVÜ freilich nicht übernommen: Neu war, dass die ausländische Eingriffsnorm eine „enge Verbindung zu einem anderen Staat“ aufweisen müsse, was immerhin eine kleine Einschränkung des weiten richterlichen Ermessensspielraums bedeutete.49 Inwiefern dies die Gerichte bei ihrer Abwägung tatsächlich beeinflusst hätte, kann indes nicht seriös beantwortet werden. Unabhängig davon war die Annahme der Kommission, ihre Überzeugung von der Notwendigkeit des Art. 8 Rom I-VO-E stoße auf breite Zustimmung, reichlich blauäugig: Dies zeigte bereits die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vom Sommer 2006, der skeptisch feststellte, dass die Anwendung der Vorschrift zeitaufwendig und rechtstechnisch kompliziert sei und somit die Rechtsunsicherheit befördere. Einzig in Anbetracht des Standes der Angleichung der nationalen Rechte sah der Ausschuss keine Möglichkeit, hiervon grundsätzlich abzusehen, zumal auch die Wissenschaft eine entsprechende Regelung befürworte.50

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Vgl. Begründung zu Art. 8 Rom I-VO-E, KOM (2005), endg., S. 8. Vgl. etwa BGH, 21.12.1960, BGHZ 34, 169 (177) – „Borax“; BGH, 24.5.1962, NJW 1962, 1436 (1437) – „Borsäure“; BGH, 22.6.1972, BGHZ 59, 82 (85) – „nigerianische Masken“. 46 Vgl. z.B. Ralli Bros v. Compañia Naviera Sota y Aznar, [1920] 2 K.B. 287, (291, 300) [C.A.]; Foster v Driscoll, [1929] 1 K.B. 470 (520) [C.A.]; Ragazzoni v. Sethia [A.C.] 301. 47 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 2001 Nr. L 12 S. 1-23. 48 Begründung der Kommission, a.a.O. (vgl. Fn. 44). 49 Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 272. 50 Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), KOM(2005) 650 endg. – 2005/0261 (COD), ABl. EG Nr. C 318 vom 23.12.2006, S. 56–61. 45

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

Der große Aufschrei kam erwartungsgemäß aus Großbritannien,51 vor allem von Vertretern des Finanzplatzes der Londoner City,52 wo man vor allem Nachteile gegenüber dem Standort New York befürchtete.53 Die britische Politik nahm den Ball auf und entschied sich ausdrücklich, wegen des Absatz 3 nicht von seinem Recht zum Opt-in Gebrauch zu machen. Das nun folgende Handeln des europäischen Gesetzgebers wie auch die Stimmen aus der Literatur waren von dem Bemühen geprägt, eine Nichtbeteiligung des Vereinigten Königreichs unbedingt zu verhindern:54 Der Kompromissvorschlag, den der Rat im Frühling 2007 vorlegte,55 strich Absatz 3 gänzlich, der Ausschuss des Rates für Zivilrecht (Rom I)56 – eine gemeinschaftliche Initiative der portugiesischen und der deutschen Ratspräsidentschaft 2007 – schlug immerhin eine in Klammern gesetzte Regelung mit mehreren Formulierungsvarianten57 vor, wenn auch ohne nähere Begründung, in der sich bereits der Kompromiss andeutete, auf den es letztlich in der endgültigen Fassung hinauslief. Zunächst blieben freilich alle Vermittlungsversuche einzelner Mitgliedstaaten erfolglos. Um ein Haar wäre es somit tatsächlich zur vollständigen Streichung des Absatz 3 gekommen,58 wie aus dem Bericht des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments hervorgeht, die der Berichterstatter Dumitrescu damit zu rechtfertigen versuchte, dass durch den Verzicht auf eine gesetzliche Regelung Rom I und Rom II „in Einklang gebracht wür-

51

Insbesondere Dickinson, JprivIntL Vol. 3 No. 2 (2007), 53 ff.; Dutson, JIBFL Vol. 7 (2006), 300 (301 f.). Nicht verschwiegen werden darf indes, dass auch aus Großbritannien vereinzelt positive Resonanz zu vernehmen war etwa von Chong, JprivIntL Vol. 2 (2006), 27 ff. 52 Das britische Justizministerium konstatierte „widespread concern in commercial circles, particularly in the City of London“, vgl. Ministry of Justice v. 2.4.2008, Should the UK opt in?, abzurufen unter http://www.justice.gov.uk/docs/cp0508.pdf 53 Ausführlich zu den britischen Bedenken und ihren Konsequenzen sogleich unter § 2B. , S. 58. 54 So etwa Thorn, Eingriffsnormen, S. 149, der ein Streichen des Abs. 3 als weniger schlimm empfunden hätte als eine britische Nichtbeteiligung. 55 Ratsdokument 8022/07 ADD 1 REV 1 vom 13.4.2007 (endgültige Fassung). 56 Ratsdokument 11150/07 vom 25.6.2007. 57 “Den Eingriffsnormen des Staates, in dem der Vertrag (die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen) erfüllt werden soll (sollen) oder erfüllt worden ist (sind), (oder des Staates, in dem die Parteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,) kann Wirkung verliehen werden, soweit diese Eingriffsnormen den Vertrag (die Erfüllung des Vertrags) unrechtmäßig werden lassen. Bei der Entscheidung, ob diesen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, werden Art und Zweck dieser Normen (…) sowie die Folgen berücksichtigt, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung (…) ergeben würden.“ 58 Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 291.

§ 2 Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

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den“.59 Dies mutet insbesondere deshalb geradezu grotesk an, weil das Gesetzgebungsverfahren zu beiden Verordnungen zeigt, dass der Gesetzgeber eine Regelung kodifizieren wollte, in der Rom II-Verordnung jedoch vor dem (britischen) Widerstand kapitulierte und somit hinter der Streichung keinesfalls ein rechtspolitisch durchdachter Plan stand, was Dumitrescu wohl zu kaschieren versuchte. Reichlich überraschend und ohne nähere Begründung oder Einzelheiten des Gesetzgebungsverfahrens beschloss das Europäische Parlament nur wenige Tage später, am 29.11.2007, den nunmehr endgültigen Verordnungswortlaut des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO: „Den Eingriffsnormen des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, kann Wirkung verliehen werden, soweit diese Eingriffsnormen die Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig werden lassen. Bei der Entscheidung, ob diesen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, werden Art und Zweck dieser Normen sowie die Folgen berücksichtigt, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben würden.

B. Die englischen Bedenken und ihr Einfluss auf die endgültige Fassung der Vorschrift Nicht zuletzt die Beschränkung auf Eingriffsnormen des Erfüllungsorts legen die Annahme nahe, dass die Vorschrift maßgeblich von englischen Vorstellungen des Kollisionsrechts geprägt ist, 60 eine These61, der in der Folge nachzugehen sein wird. Schon Art. 7 I EVÜ wurde in der englischen Literatur als eine „Rezeptur für Verwirrung, Rechtsunsicherheit, Kostenaufwand und Verzögerungen“ bezeichnet.62 Zwar gestand sogar Dickinson – seines Zeichens einer der schärfsten Kritiker der Vorschrift – zu, dass eine historische Abneigung gegen Art. 7 EVÜ fünfundzwanzig Jahre später als Argument gegen eine Nachfolgeregelung auf Unionsebene nicht ausreiche.63 Gegen den Entwurf in Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO-E wurden von ihm und anderen dennoch im Ergebnis mehr oder weniger dieselben Bedenken wie gegen Art. 7 EVÜ vorgetragen:64 59

Bericht über den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), KOM/2005)0650, 2005/0261 (COD), S. 36. 60 Freitag, IPRax 2009, 109 (110), Mankowski, IHR 2008, 133 (148). 61 So auch Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 501 und 503; Magnus, IPRax 2010, 27 (41). 62 North, Contract conflicts, S. 3 (19 f.). 63 Dickinson, JprivIntL Vol. 3 No. 2 (2007), 53 (55). 64 Dutson, JIBFL Vol. 7 (2006), 300 (301 ff.); Dickinson, JPrivIntL Vol. 3 No. 2 (2007), 53 ff.; Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 271 ff.

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

I. Verzögerung und höhere Kosten durch Anwendung ausländischen Eingriffsrechts Es wurde zunächst argumentiert, dass die Vorschrift zwar für Einzelfallgerechtigkeit sorgen könne und möglicherweise forum shopping verhindere, es in der Sache aber ausgesprochen schwierig sowie sehr zeit- und kostenintensiv sei, ausländisches Eingriffsrecht als solches zu bestimmen und sodann anzuwenden.65 Dies mag zwar in vielen Fällen zutreffen, ist aber keine spezielle Problematik des Eingriffsrechts: Bei der Anwendung ausländischen Rechts fallen immer höhere Transaktionskosten an als bei der Anwendung der lex fori. Dies gilt aber auch dann, wenn das ausländische Recht nach dem allgemeinen Anknüpfungssystem der Art. 3 ff. Rom I-VO berufen wird. Eben diese Kosten sind der Preis für ein Konzept des Internationalen Privatrechts, das die sachnächste Rechtsordnung anwenden möchte. Dieser Preis kann – je nachdem wie exotisch das berufene fremde Recht ist – tatsächlich hoch und die Anwendung des fremden Rechts aufwendig sein. Aber diese Tatsache im einen Fall – beim allgemeinen Anknüpfungssystem – hinzunehmen, im anderen Fall – dem Eingriffsrecht – aber als Kritik anzuführen, ist inkonsequent. II. Einschränkung der Parteiautonomie Weiter wurde betont, eine Vorschrift zur Anwendung ausländischen Eingriffsrechts schränke die Parteiautonomie unangemessen ein. Diese sei aber ein wichtiges Grundprinzip der Rom I-Verordnung.66 Dass die Parteiautonomie und insbesondere der Grundsatz der freien Rechtswahl, der in Art. 3 Rom I-VO verwirklicht ist, ein Leitprinzip des in der Rom I-Verordnung kodifizierten Internationalen Privatrechts ist, ist ohne Zweifel zutreffend. Gleichwohl taugt die Feststellung dieser Selbstverständlichkeit nicht als grundsätzlicher Einwand gegen die Anwendung von Eingriffsnormen: Dass die Berücksichtigung von Eingriffsrecht einen Störfaktor in einem ausdifferenzierten Anknüpfungssystem wie dem der Rom I-Verordnung darstellt, das insbesondere auch eine Rechtswahlmöglichkeit beinhaltet, stellt niemand in Frage. Es muss aber dennoch möglich sein, dass ein Staat in bestimmten Bereichen, die für das Gemeinwohl von überragender Bedeutung sind, über rechtliche Handhabe verfügt, die ihm die Durchsetzung der entsprechenden Interessen ermöglicht. Erfolgt dies im gebotenen restriktiven Rahmen, ist jede Befürchtung einer Einschränkung der Parteiautonomie ein Ausdruck übertriebener Skepsis gegenüber staatlichem Handeln und damit unbegründet. Wichtig ist freilich, dass das 65 66

Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 273. Dickinson, JprivIntL Vol. 3 No. 2 (2007), 53 (59).

§ 2 Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

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geltende Recht dafür Sorge trägt, dass dieser restriktive Rahmen nicht gesprengt wird. Ob Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO hierzu taugt, wird vor allem seine Anwendung in der Praxis – nicht zuletzt seine Auslegung durch den EuGH – zeigen. Im Übrigen ist zu betonen, dass das Argument der eingeschränkten Parteiautonomie besonders stark von rechtspolitischen Wertungen abhängt, weil sich kulturell bedingt unterschiedliche Vorstellungen darüber bemerkbar machen, wie viel Einfluss der Staat auf rechtliche Verhältnisse Privater haben soll. Angelsächsisch geprägte Staaten fürchten diesen Einfluss traditionell in höherem Maße als die meisten Kontinentaleuropäer. Ob ein zu starker Einfluss der ersteren in einem Rechtsakt der Europäischen Union besonders sinnvoll ist, erscheint zumindest zweifelhaft. III. Wettbewerbsnachteile des Finanzplatzes London Die größten britischen Bedenken gegen eine Vorschrift zur Anwendung ausländischen Eingriffsrechts rühren jedoch aus Befürchtungen mit Blick auf die Vereinigten Staaten her, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde und wird befürchtet, dass eine Regelung zur Anwendung ausländischen Eingriffsrechts dem Finanzplatz der Londoner City erhebliche Wettbewerbsnachteile einbringen könnte, insbesondere gegenüber der Wall Street in New York City.67 Zwar existiert auch im US-Bundesstaat New York mit Section 187(2)(b) des Restatement (Second) of the Conflict of Laws68 eine Art. 9 Rom I-VO vergleichbare Vorschrift, wenn auch mit engeren Anwendungsvoraussetzungen und absehbareren Rechtsfolgen.69 Bei Verträgen mit einem großem finanziellen Volumen erweist sich die Vorschrift jedoch als ein stumpfes Schwert: Gemäß Section 5-1401 des New York General Obligations Law70 ist es nämlich möglich, dass die Par67

Dickinson, JprivIntL Vol. 3 No. 2 (2007), 53 (71); Dutson, JIBFL Vol. 7 (2006), 300 (301); Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 281; Roth, FS Kühne, S. 850 (877). 68 Section 187(2)(b) Restatement (Second) of the Conflict of Laws: The law of the state chosen by the parties to govern their contractual rights and duties will be applied, even if the particular issue is one which the parties could not have resolved by an explicit provision in their agreement directed to that issue, unless … (b) application of the law of the chosen state would be contrary to a fundamental policy of a state which has a materially greater interest than the chosen state in the determination of the particular issue and which, under the rule of s 188, would be the state of the applicable law in the absence of an effective choice of law by the parties. 69 Vgl. ausführlich hierzu auch Chong, JprivIntL Vol. 2 (2006), 27 (48 f.). 70 Section 5-1401 New York General Obligations Law: „Choice of law. 1. The parties to any contract, agreement or undertaking, contingent or otherwise, in consideration of, or relating to any obligation arising out of a transaction covering in the aggregate not less than two hundred fifty thousand dollars, including a transaction otherwise covered by subsection one of section 1-105 of the uniform commercial code, may agree that the law

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

teien das Recht des Staates New York auch ohne den Overriding Effect der Section 187(2)(b) wählen können, sofern es sich um eine Transaktion mit einem Volumen von mehr als 250.000 US-Dollar handelt. Dass eine solche Vorschrift geradezu eine Einladung für Banken und Finanzdienstleister darstellt, ihre Geschäfte nach New Yorker Recht abzuwickeln, liegt auf der Hand. Gerade bei Bankgeschäften und Finanztransaktionen – so englische Kollisionsrechtler – sei Rechtssicherheit in Bezug auf eine Rechtswahl zugunsten englischen Rechts von überragender Bedeutung. Weil die Wahl englischen Rechts und Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten englischer Gerichte bislang ausschließlich zur Anwendung englischen Rechts geführt habe, sei es im internationalen Handel mit Finanzprodukten in der Vergangenheit sehr häufig von den Parteien solcher Geschäft gewählt worden.71 Mit einer weiten, Ermessen gewährenden Vorschrift sei diese Sicherheit nicht mehr gewährleistet, was den Finanzplatz London erheblich gefährde und zu einer Abwanderung der Geschäfte nach New York führe.72 Interessanterweise wurden diese Bedenken gegen eine weitere Ermessensvorschrift, wie sie Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO-E dargestellt hätte, vom englischen Justizministerium nicht geteilt, wohl aber von der britischen Regierung, die – so wird kolportiert73 – von Lobbyisten der City of London überredet wurde, ihr Veto gegen diese Vorschrift einzulegen.74 IV. Furcht vor Einflussnahme der USA Die Tatsache, dass es in den Vereinigten Staaten keine dem Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO-E oder Art. 7 Abs. 1 EVÜ entsprechende Vorschrift gibt, ließ die englische Literatur des Weiteren befürchten, dass die Vereinigten Staaten mittels Vorschriften, die der dortige Gesetzgeber für international zwingend erklärt, Einfluss auf Rechtsverhältnisse in Europa nehmen könnten. Als abschreckendes Beispiel wurden Fälle wie die Entscheidung Cie of this state shall govern their rights and duties in whole or in part, whether or not such contract, agreement or undertaking bears a reasonable relation to this state. This section shall not apply to any contract, agreement or undertaking (a) for labor or personal services, (b) relating to any transaction for personal, family or household services, or (c) to the extent provided to the contrary in subsection two of section 1-105 of the uniform commercial code. 2. Nothing contained in this section shall be construed to limit or deny the enforcement of any provision respecting choice of law in any other contract, agreement or undertaking.” 71 Dutson, JIBFL Vol. 7 (2006), 300 (302). 72 Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 281. 73 Plender/Wilderspin, Rn. 12-021. 74 Vgl. das Consultation Paper CP05/08 des britischen Ministry of Justice, „Rome I – Should the UK opt in?“, 2.4.2008, S. 31 Rn. 77 und 78, online abrufbar unter http://www.justice.gov.uk/docs/cp0508.pdf.

§ 2 Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

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Européenne des Petroles SA vs. Senor Nederland BV75 der niederländischen Rechtbank in Den Haag herangezogen: In diesem Fall hatte das niederländische Unternehmen Sensor B.V., ein Tochterunternehmen des USamerikanischen Konzerns Geosource Inc., sich verpflichtet, dem französischen Unternehmen CEP S.A. Messgeräte für den Bau der transsibirischen Pipeline zu liefern. Im Juni 1982 – nach dem Vertragsschluss – erließ die US-Regierung ein Embargo,76 das es US-amerikanischen Unternehmen inklusive ihrer europäischen Niederlassungen untersagte, Materialien für den Bau der transsibirischen Pipeline zu liefern. Die Sanktionen bei Verstoß waren überaus hart: Es drohten Geldbußen von bis zu 100.000 USDollar, Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren sowie der Entzug weiterer Exportgenehmigungen. Hiervon eingeschüchtert verweigerte Sensor die Lieferung, CEP klagte auf Erfüllung. Das niederländische Gericht entschied, dass auf den Vertrag niederländisches Recht anwendbar sei. Das USamerikanische Embargo wurde grundsätzlich als Eingriffsnorm nach Art. 7 I EVÜ für berücksichtigungsfähig angesehen. Die Anwendung wurde im konkreten Fall im Ergebnis jedoch wegen „Völkerrechtswidrigkeit“ und mangels hinreichender Nähebeziehung zum US-amerikanischen Recht verweigert, freilich ohne nähere Erklärung, welcher Art eine solche Nähebeziehung sein müsse.77 Bereits die Tatsache, dass die Prüfung einer USamerikanischen Vorschrift auch nur in Erwägung gezogen worden war, obgleich der Erfüllungsort des Vertrags nicht in den USA lokalisiert war, rief in der englischen Literatur geradezu Entsetzen hervor. V. Die Regel aus der Ralli-Entscheidung und Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Dieses Entsetzen ist dadurch zu erklären, dass es seit der RalliEntscheidung78 des Court of Appeal im englischen Kollisionsrecht anerkannt ist, dass ausländisches Eingriffsrecht allenfalls dann angewandt werden kann, wenn es dem Recht des Erfüllungsort entstammte.79 75

Präsident der Rechtbank Den Haag, Compagnie Européenne des Pétrioles (CEP) S.A. vs. Sensor Nederland B.V., Az. 82/716, Urteil vom 17.9.1982, ILM Vol. 22 (1983), S. 66 ff. = RabelsZ 47 (1983) m. Anm. Basedow; Hierzu auch de Boer/Koetting, IPRax 1984, 108 ff. 76 § 385.2 (c) subsection 2 Export Administration Regulations, Änderung vom 22.6.1982. 77 Kritisch zur potenziellen Berücksichtigung des Embargos über Art. 7 EVÜ de Boer/Koetting, IPRax 1984, 108 (112). 78 Ralli Bros v. Compañia Naviera Sota y Aznar, [1920] 2 K.B. 287 ff. 79 Vgl. etwa die Entscheidungen Libyan Arab Foreign Bank v Bankers Trust Co [1989] QB 728 und Libyan Arab Foreign Bank v Manufacturers Hanover Trust Co (No 2) [1989] 1 Loyd’s Rep 608 in denen englische Gerichte entschieden hatten, dass USamerikanische Sanktionen, die verhindern sollten, dass Bankknoten von Libyern in England gesperrt werden, nach englischen Recht nicht anwendbar waren, da sie keine Erfüllung in den USA vorsahen.

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

Der Ralli-Entscheidung lag ein Chartervertrag zwischen der englischen Gesellschaft Ralli Brothers und dem spanischen Unternehmen Compana Naviera Sota y Aznar zugrunde, demzufolge eine bestimmte Menge Jute von Kalkutta nach Barcelona transportiert werden sollte. Die Parteien hatten englisches Recht gewählt, 50 Prozent des Kaufpreises sollten bei Fahrtantritt in London zahlbar sein, der Rest bei Ankunft in Barcelona. Nach Vertragsschluss erließ die spanische Regierung ein Gesetz, das Höchstpreise für Seefrachten vorsah, um den Preis für essentielle Wirtschaftsgüter in Spanien gering zu halten. Zuwiderhandlungen – die Zahlung oder Annahme höherer Summen für Jute – waren nach spanischem Recht illegal und strafbewehrt. Der vereinbarte Preis der Parteien lag über dem Höchstwert. Als sich die Abnehmer der Jute unter Berufung auf das neue Gesetz bei Ankunft der Ware in Barcelona weigerten, mehr als den Höchstpreis zu bezahlen, verklagte Compana Naviera Ralli Brothers in London auf Zahlung des Differenzbetrags. Die Klage wurde abgewiesen, da Ralli Brothers andernfalls eine Leistung hätte erbringen müssen, die nach spanischen Recht – dem Recht des für die Zahlung vereinbarten Erfüllungsortes – illegal gewesen wäre. Die Richter des Court of Appeal hatten ihrerseits die Regel einem Lehrbuch von Dicey aus dem Jahre 1908 entnommen.80 Seit der Ralli-Entscheidung ist in England anerkannt, dass englische Gerichte Verbotsgesetze eines drittstaatlichen Erfüllungsortes anwenden, was in der Folge auch in einigen weiteren Fällen geschah.81 Sowohl die alleinige Maßgeblichkeit der Eingriffsnormen des Erfüllungsortes als auch das Unrechtmäßigkeitskriterium haben sich wohl infolge des englischen Widerstandes auch in der Kompromissformulierung des endgültigen Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO niedergeschlagen.82 Wirft man einen Blick auf die Entstehungsgeschichte des EVÜ, so erstaunt dieser Befund: Der Giuliano/Lagarde-Bericht leitete das Prinzip, dass es Konstellationen gebe, in denen ausländisches Recht berücksichtigungsbedürftig sei, u.a. aus der niederländischen Alnati-Entscheidung83 des Hooge Rad her, verwies zugleich aber darauf, dass sich in der Ralli-Entscheidung und der ihr nachfolgenden englischen Rechtsprechung „kein deutlicher Hinweis zugunsten des fraglichen Prinzips“ abzeichne.84 Vor diesem Hintergrund 80 Dicey, S. 553: „A contract (whether lawful by its proper law or nor not) is, in general invalid in so far as (…) the performcance of it is unlawful by the law of the country where the contract is to be performed (…).” 81 De Beéche v South American Stores Ltd., [1935] A.C. 148 (H.L.); St. Pierre v. South American Stores (Gath & Chaves) Ltd., [1937] 3 Akk E.R. 349. 82 Vgl. das Consultation Paper CP05/08 des britischen Ministry of Justice, „Rome I – Should the UK opt in?“, 2.4.2008, S. 31 Rn. 77 und 78, online abrufbar unter http://www.justice.gov.uk/docs/cp0508.pdf. 83 Hoge Raad, 13.5.1966, Rev. crit. 56 (1967), 522 ff. (dazu Struycken ebenda). 84 Giuliano/Lagarde, ABl. EG 1980 Nr. C 282, S. 1 (25).

§ 3 Grundstruktur des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

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stellt es einen erstaunlichen Paradigmenwechsel dar, dass der europäische Gesetzgeber nunmehr die zentrale Aussage der Ralli-Entscheidung nahezu wortgleich in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO übernommen hat. Bei der Betrachtung der einzelnen Merkmale des Absatz 3 wird in der Folge somit das englische Verständnis der Begriffe herangezogen werden müssen, wobei keinesfalls aus dem Blick geraten darf, dass die Rom I-Verordnung ungeachtet dessen ein Unionsrechtsakt bleibt, bei dessen Auslegung und Anwendung nicht primär die Grundsätze eines einzelnen Mitgliedstaates, sondern die des europäischen Rechts heranzuziehen sind.85

§ 3 Grundstruktur des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Grundstruktur des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO untergliedert sich in eine Tatbestands- und eine Rechtsfolgenseite, wie sich Satz 1 der Vorschrift entnehmen lässt: Sofern tatbestandlich eine Eingriffsnorm vorliegt, welche die Erfüllung des Vertrages unrechtmäßig werden lässt, kann auf Rechtsfolgenseite dieser Eingriffsnorm Wirkung verliehen werden. Was im Einzelnen unter diesen Tatbestandsvoraussetzungen zu verstehen ist und wie die „Wirkungsverleihung“ auf Rechtsfolgenseite zu erfolgen hat, soll im Folgenden untersucht werden. A. Verhältnis von Absatz 3 Satz 1 zu Satz 2 Die soeben genannten Voraussetzungen entstammen dem Satz 1 des Art. 9 Rom I-VO. In welchem Verhältnis die Kriterien des Satz 2 hierzu stehen, ist nicht ganz eindeutig. Problematisch ist vor allem, dass die Formulierung „kann Wirkung verlieren werden“ in Satz 1 im Widerspruch zu Satz 2 zu stehen scheint, wo es heißt, dass „bei der Entscheidung, ob diesen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist“, Art und Zweck dieser Normen sowie die Folgen ihrer Anwendung oder Nichtanwendung zu berücksichtigen seien. Während Satz 1 dem entscheidenden Gericht ein Ermessen bezüglich der Frage der Anwendung ausländische Eingriffsnormen zu gewähren scheint, könnte Satz 2 hingegen so zu verstehen sein, dass eine Anwendungspflicht ausländischen Eingriffsrechts besteht. Da sich diese beiden Möglichkeiten aber denklogisch ausschließen, ist zu fragen, in welchem Verhältnis die Sätze zueinander stehen. I. Zweistufige Prüfung? Freitag geht von einem „zweistufigen Regelungsprogramm“ aus: Bereits bei der Frage, ob eine ausländische Eingriffsnorm für die Anwendung in 85

Freitag, IPRax 2009, 109 (111).

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

Betracht komme, seien auf Tatbestandsseite die Kriterien des Absatz 3 Satz 2 zu berücksichtigen.86 Dies stelle den ersten Schritt der zweistufigen Prüfung dar, auf der zunächst „über das ‚Ob‘ der Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen“ zu entscheiden sei. Auf der zweiten Stufe verfüge das Gericht sodann – nachdem es seiner Verpflichtung der zwingenden Berücksichtigung der Kriterien des Satz 2 auf der ersten Stufe pflichtgemäß nachgekommen sei – über ein rechtsfolgenseitiges Ermessen betreffend die Frage nach der Verträglichkeit der ausländischen Eingriffsnorm mit den inländischen Wertungen (das „Wie“ der Anwendung der ausländischen Eingriffsnorm).87 Nur so sei der (scheinbare) Widerspruch zwischen der „kann“-Formulierung des Satz 1 und der „ist“-Formulierung des Satz 2 aufzulösen. Letztlich geht Freitag somit wohl davon aus, dass sich im Zusammenspiel von Satz 1 und 2 die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Folgen der Eingriffsnorm widerspiegele. II. Berücksichtigung des Satz 2 auf Rechtsfolgenseite Dieses Verständnis des Zusammenspiels der beiden Sätze wirkt freilich etwas konstruiert und ist nicht unbedingt in der Norm angelegt. Entstehungsgeschichtlich ist zunächst einmal festzuhalten, dass Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-VO wie soeben gezeigt schlichtweg der Ralli-Entscheidung entnommen wurde, Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO hingegen den Wortlaut des Art. 7 I EVÜ wiedergibt. Wie schon die Erörterungen im Giuliano/Lagarde-Bericht zum EVÜ zeigen,88 sind das Ralli-Prinzip und das kontinentaleuropäische Eingriffsrechtskonzept, das in Art. 7 I EVÜ kodifiziert wurde, nur bedingt kompatibel. Gleichwohl hat sie der europäische Gesetzgeber einfach aneinandergereiht. Ohne dieses legislative Werk gering schätzen zu wollen, drängt sich der Eindruck auf, dass an dieser Stelle auf unbedingt ein Kompromiss gesucht wurde, anstatt ein ineinandergreifendes Konzept zwischen den beiden Sätzen des Absatz 3 zu entwickeln. Versucht man gleichwohl, im Zusammenspiel der beiden Sätze des Absatz 3 ein Gesamtkonzept zu ergründen, so scheinen die „kann-Vorschrift“ in Satz 1 und die „ist-Vorschrift“ in Satz 2 tatsächlich auf einen Widerspruch hinzudeuten, zumal sich beide Sätze auf das Merkmal „Wirkungsverleihung“ beziehen. Eben dies legt jedoch vom Wortlaut her betrachtet eher die Annahme nahe, dass Satz 2 nicht bereits auf tatbestandlicher Seite, wie es das zweistufige Regelungsprogramm anzunehmen scheint, sondern erst auf Rechtsfolgenseite eine Rolle spielen soll.89 86

Freitag, IPRax 2009, 109 (111). So jedenfalls ausdrücklich Kindler, S. 69. 88 Giuliano/Lagarde, ABl. EG 1980 Nr. C 282, S. 1 (25). 89 So wohl auch Mauer/Stadtler, RIW 2008, 544 (547). 87

§ 3 Grundstruktur des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

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Hierfür spricht zum einen die Systematik der Norm: In Freitags zweistufigem Regelungsprogramm geht die Prüfung der Kriterien des Satz 2 der Ermessensentscheidung des Satz 1 voraus. Hierfür besteht aber weder ein triftiger Grund noch gibt es einen Hinweis des Gesetzgebers, in dieser Reihenfolge vorzugehen. Nahe liegender ist es, die Merkmale in der Reihenfolge zu prüfen, in der sie im Gesetz stehen, nämlich Satz 1 vor Satz 2. Dies allein wäre noch nicht überzeugend. Darüber hinaus aber sorgt in diesem Modell die Prüfung der ersten Stufe dafür, dass nicht jede Eingriffsnorm, die der Definition des Satzes 1 entspricht, überhaupt nur die tatbestandliche Hürde des Absatz 3 zu überspringen vermag. Die Verwendung des Terminus „Eingriffsnormen“ in Absatz 3 legt aber gerade nahe, dass auf die Legaldefinition des Absatz 1, und eben nur hierauf, Bezug genommen werden soll. Anhaltspunkte dafür, dass der europäische Gesetzgeber ausländische Eingriffsnormen anders als inländische bereits auf Tatbestandsseite mit weiteren Einschränkungen behaften und damit von vornherein von der Anwendung ausnehmen wollte, sind nicht ersichtlich. Abgesehen davon ist eine derartige weitere Einschränkung gerade dann weder zweckmäßig noch notwendig, wenn man mit der oben vertretenen Auffassung Eingriffsnormen am Grundfreiheitenmaßstab misst.90 Das bedeutet, dass die Prüfung, ob eine bestimmte Vorschrift als Eingriffsnorm einzustufen und damit im Rahmen des Art. 9 Rom I-VO berücksichtigungsfähig ist, immer nur anhand des Maßstabes des Absatz 1 erfolgt, gleich ob es eine in- oder ausländische Eingriffsnorm ist. Die Tatsache, dass sowohl in Absatz 3 S. 1 als auch Absatz 3 Satz 2 von „Wirkungsverleihung“ die Rede ist, spricht, wie bereits gesehen, eher dafür, dass beide Sätze auf derselben „Stufe“ anzuwenden sind, nämlich erst auf der Rechtsfolgenseite. Dort besteht nach Absatz 3 Satz 1 ein Ermessen des Richters darüber, ob und wie eine ausländische Eingriffsnorm angewandt wird („kann berücksichtigen“). Satz 2 gibt im Rahmen dieser Ermessensentscheidung – nicht jedoch bereits vorab – Parameter vor, die aufgrund der Formulierung „ist“ zwingend zu beachten sind.91 Es handelt sich also insoweit um ein eingeschränktes und nicht um ein echtes diskretionäres Ermessen. Dass zwischen dem „Ob“ der Berücksichtigung und der konkreten Berücksichtigungsform eine unübersehbare Interdependenz besteht, weil bei der Entscheidung, ob eine Berücksichtigung in Frage kommt, bereits auch die jeweiligen Folgen mit erwogen werden sollten, ist bereits für Art. 7 I EVÜ konstatiert worden.92 Die Aufteilung in ein zweistufiges Regelungsprogramm ist somit auch aus diesem Grunde einigermaßen willkürlich. Versteht man das Zusammenspiel von Absatz 3 Satz 1 und 90

Vgl. hierzu oben unter § 2B. , S. 13. So auch Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 324. 92 Coester, ZvglRW 82 (1983), 1 (21). 91

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

2 im soeben dargelegten Sinne als einen einheitlichen Vorgang der Ermessensausübung, kann der zunächst einmal bestehende Widerspruch zwischen den Formulierungen „kann“ aus Satz 1 und „ist“ aus Satz 2 aufgelöst werden. B. Zusammenfassung Die Prüfung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO hat demnach so zu erfolgen, dass auf Tatbestandsseite nur die drei oben genannten Voraussetzungen zu prüfen sind, nämlich erstens das Vorliegen einer Eingriffsnorm (ausschließlich anhand der Definition des Absatz 1), die zweitens den Vertrag unrechtmäßig werden lässt und drittens dem Recht des Erfüllungsortes entstammt. Sind alle drei Voraussetzungen erfüllt, trifft der Richter eine Ermessensentscheidung darüber, ob die Norm zur Anwendung gelangen kann oder nicht (Satz 1). Dieses Ermessen ist aber kein gänzlich freies, sondern unterliegt den Einschränkungen des Satz 2, die zwingend zu berücksichtigen sind. Die Annahme, dass Satz 2 alleine vorweg über das „Ob“ der Anwendung entscheide, im Rahmen des Satz 1 hingegen nur eine Bewertung der Verträglichkeit der ausländischen Eingriffsnorm mit inländischen Wertungen vorgenommen wird,93 ist so im Gesetz nicht angelegt.

§ 4 Tatbestandsseite des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Tatbestandsseite des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

A. Vorliegen einer Eingriffsnorm Erste Voraussetzung des Tatbestandes von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ist, dass begrifflich eine Eingriffsnorm im Sinne der Definition des Absatz 1 vorliegt. Welche Voraussetzungen hierfür erfüllt sein müssen, wurde eingangs dargestellt.94 Darüber hinaus muss es sich um eine Eingriffsnorm handeln, die nicht der Rechtsordnung des Forumstaates entstammt, denn in diesem Fall wäre Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO einschlägig.95 Ob indes die Eingriffsnormen des Schuldstatuts auch nach Art. 9 Absatz 3 Rom I-VO angeknüpft werden oder bereits vom „normalen“ Verweisungssystem erfasst werden, ist ein noch ungeklärtes Sonderproblem,96 dem an späterer Stelle nachgegangen wird.97 93

Freitag, IPRax 2009, 109 (111). Vgl. hierzu oben unter § 1., S. 5. 95 Vgl. oben unter 0, S. 41. 96 Leible/Lehmann, RIW 2008, 528 (543); Einsele, WM 2009, 289 (296). Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 15; Leible, Neue Perspektiven im Europäischen Kollisionsrecht, S. 65. 97 Vgl. hierzu unter § 6, S. 118. 94

§ 4 Tatbestandsseite des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

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B. Das Unrechtmäßigkeitskriterium Weitere Voraussetzung nach Absatz 3 Satz 1 ist, dass die in Frage stehende Eingriffsnorm „die Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig werden“ lässt.98 Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO-E sah eine solche Einschränkung nicht vor. Klärungsbedürftig ist demnach die Frage, was unter diesem Unrechtmäßigkeitskriterium zu verstehen ist. Da die Regelung des Art. 9 Absatz 3 Rom I-VO wie oben erörtert an die Ralli-Entscheidung angelehnt ist,99 bietet es sich an, für den ersten Zugriff zu erörtern, wie der Begriff der unlawfulness bzw. der illegality im englischen Kollisions- und Sachrecht verstanden wird. In einem zweiten Schritt wird untersucht, ob und inwiefern sich die dort gefundenen Ergebnisse auf eine unionsrechtliche Regelung wie die Rom I-Verordnung übertragen lassen. I. „Illegality“ im englischen Recht 1. Begriff Der Begriff unlawful, den die englische Sprachfassung des Absatz 3 Satz 1 verwendet, taucht in der Ralli-Entscheidung nicht auf. Stattdessen ist von illegality die Rede. Dieser Terminus wiederum wird im englischen Recht vom Institut der public policy abgegrenzt. Beide Ausdrücke entstammen ursprünglich nicht dem Kollisions-, sondern dem Sachrecht, sodass für die Begriffsbestimmung hierauf zurückgegriffen werden kann.100 Da beide auch ähnliche Regelungsbereiche betreffen, ist die Abgrenzung nicht immer ganz trennscharf möglich.101 In der englischen Rechtsprechung wird wohl von einem Exklusivitätsverhältnis ausgegangen: Illegality liege demnach nur vor, wenn ein Vertrag im Widerspruch zum „positiven Recht“ stehe, während eine Verletzung der public policy dann vorläge, wenn zwar nicht gegen das positive law verstoßen wird, aber dennoch eine zu missbilligende Handlung in Rede steht.102 In der englischen Literatur wird hingegen überwiegend von einem Inklusivitätsverhältnis ausgegangen, wobei die einen illegality, die anderen public policy für den Oberbegriff halten.103 In ihren Einzelheiten ist diese Begriffsstreitigkeit für das Eingriffsrecht im Ergebnis irrelevant, da jedenfalls Einigkeit darüber besteht, dass sich der Begriff illegality im englischen Recht ausschließlich auf echte Verbotsgesetze bezieht. Dabei ist es unerheblich, ob der Vertrag schon bei 98

In der englischen Sprachfassung heißt es: mandatory provisions (which) render the contract unlawful“. Die französischen Fassung lautet: „lois de police qui rendent l’exécution du contrat illégale.“ 99 Vgl. oben unter § 2B. V, S. 62. 100 Hartley, Rec cours Vol. 266 (1997), 337 (385 ff). 101 Chitty, Rn. 30–168. 102 Hartley, Rec cours Vol. 266 (1997), 337 (385). 103 Ausführliche Darstellung der Meinungen bei Kuckein, S. 233 m.w.N.

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

seinem Abschluss verbotswidrig ist (initial illegality) oder es erst nachträglich wird (supervening oder subsequent illegality). Letztere Konstellation lag in der Ralli-Entscheidung vor.104 2. Rechtsfolgen der illegality Die Rechtsfolgen der illegality im englischen Recht sind uneinheitlich – die Spannbreite reicht von verboten und nichtig (illegal and void) über nichtig (void) bzw. unwirksam (invalid) hin zu nicht einklagbar bzw. nicht durchsetzbar (unenforcable).105 Enforcement meint dabei die Verurteilung zur Erbringung entweder der Primär- oder der Sekundärleistung.106 3. Nicht erfasste Konstellationen Dass Verstöße gegen Verbotsgesetze zur illegality führen, ist recht naheliegend. Spannender ist die Frage, welche Konstellationen nicht erfasst werden. Nach englischem Verständnis sind ausschließlich Vorschriften umfasst, die auf den Inhalt der vertraglichen Pflicht einwirken (Substance of the obligation), nicht hingegen solche, die nur die Art und Weise der Erfüllung (Mode of performance, method of performance, manner of performance) regeln.107 Beispielhaft für solch eine nicht erfasste Konstellation sei die Entscheidung Mount Albert Borough Council v. Australasian Temperance and General Mutual Life Assurance Society108 des Privy Council dargestellt: Eine neuseeländische Kommune hatte eine Schuldverschreibung ausgegeben, deren Betrag nebst Zinsen im australischen Bundesstaat Victoria zurückgezahlt werden sollte. Die Schuldverschreibung unterlag neuseeländischem Recht und wurde auch durch dort belegene Hypotheken gesichert. Fraglich war nun, ob ein aus finanzpolitischen Gründen erlassenes Gesetz des Staates Victoria anwendbar sein sollte, das eine Herabsetzung der vom Schuldner zu zahlenden Zinsen vorsah. Das Gericht lehnte dies ab, weil das Gesetz keinen Verbotscharakter hatte und entschied wörtlich: „There is no question of illegality here.“109 Diese Rechtsprechung ist in einer Reihe vergleichbarer Entscheidungen bestätigt worden.110 104

Vgl. oben unter § 2B. V. Vgl. den Überblick bei Peel, Rn. 19-047. 106 Näher hierzu Kuckein, S. 235 f m.w.N. 107 Dicey/Morris, Vol. 2 Rn. 32–194 ff. 108 Privy Council – Mount Albert Borough Council v. Australasian Temperance and General Mutual Life Assurance Society, [1938] A.C. 224. 109 Privy Council – Mount Albert Borough Council v. Australasian Temperance and General Mutual Life Assurance Society, [1938] A.C. 224 (241), Lord Wright. 110 X AG v. A Bank [1983] 2 Akk E.R. 464; International Trustee for the Protection of Bondholders Akt v. Rex [1936] 3 All E.R. 407; Lemanda Trading Co. Ltd. v. African 105

§ 4 Tatbestandsseite des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

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4. Schlussfolgerungen für Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Um die Erkenntnisse aus dem englischen Verständnis für Artikel 9 Abs. 3 Rom I-VO fruchtbar machen zu können, ist zu klären, ob und inwieweit sich der Begriff der illegality mit dem der unlawfulness, den Abs. 3 S. 1 verwendet, deckt.111 Ganz unbefangen betrachtet könnte man denken, dass unlawful und illegal synonym verwendet werden können, lassen sich doch beide mit „ungesetzlich“, „widerrechtlich“ oder „unzulässig“ übersetzen. Geht man von einer Deckungsgleichheit aus, stellt sich allerdings die Frage, warum der europäische Gesetzgeber, wenn er schon das Ralli-Prinzip in Absatz 3 anwandte, gerade an dieser Stelle eine andere Terminologie verwendete als in der englischen Ausgangsentscheidung. Es ließe sich entweder mit einer gewissen Ungenauigkeit und damit einem Redaktionsversehen erklären, man könnte aber auch annehmen, dass ein weiterer Begriff als der der engen illegality gewählt werden sollte. Letztlich spricht mehr für das letztere Verständnis: Im Verlauf der Entstehungsgeschichte war von Dickinson eine Neuformulierung des Absatz 3 vorgeschlagen worden, die explizit besagte, dass nur eine ausländische Eingriffsnorm berücksichtigt werden könne „which renders performance (…) illegal,112 and not merely unenforcable“.113 Ungeachtet dieses Vorschlages hat sich der Verordnungsgeber aber gegen den Terminus „illegal“ und stattdessen für „unlawful“ entschieden, obgleich es naheliegender gewesen wäre, die Formulierung aus der Ralli-Entscheidung einfach zu übernehmen. Dass dies gerade nicht erfolgte, legt nahe, dass ein anderes Merkmal gewollt war als das der illegality. Damit steht fest, dass auf das englische Verständnis der illegality keinesfalls abschließend zurückgegriffen werden kann, sondern allenfalls einen Teil des Unrechtmäßigkeitskriteriums abdeckt. II. Unrechtmäßigkeit (Unlawfulness) im Sinne von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Nachdem festgestellt wurde, dass der Terminus unlawful in Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-VO bzw. – um zur deutschen Fassung zurückzukehren – „unrechtmäßig“ nicht synonym mit dem der englischen illegality ist, stellt sich die Anschlussfrage, wie der Begriff stattdessen zu verstehen ist. Diese Middle East Petroleum Co. Ltd. [1988] 1 Q.B. 448; Apple Corps. Ltd. v. Apple Computer Inc. [1992] F.S.R. 431. 111 Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 321. 112 Hervorhebung durch den Verfasser. 113 “In assessing the validity, enforceability or discharge of a contractual obligation, account shall be taken, as a matter of fact and in so far as appropriate in the circumstances, of any rule in force in any country in which that obligation is or was to be or was performed which renders performance in that country illegal, and not merely unenforceable“, Dickinson, JprivIntL Vol. 3 No. 2 (2007), 53 (88).

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

Frage untergliedert sich in drei Teilaspekte: Erstens ist zu untersuchen, wie weit der Kreis der vom Unrechtmäßigkeitskriterium umfassten Verbotsnormen zu ziehen ist. Zweitens fragt sich, ob vom Unrechtmäßigkeitskriterium nur echte Verbotsnormen erfasst sind oder auch Normen, die den Inhalt des Vertrags lediglich modifizieren. Drittens ist zu erörtern, ob es für die Unrechtmäßigkeit wie bei der englischen illegality unerheblich ist, ob die Eingriffsnorm vor oder nach Vertragsschluss erlassen wurde oder ob sich aus Absatz 3 Satz 1 ableiten lässt, dass nur nach Vertragsschluss erlassene Eingriffsnormen berücksichtigungsfähig sind. 1. Kreis der umfassten Verbotsnormen Dass von den Eingriffsnormen, die „die Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig werden lassen“, jedenfalls irgendwie geartete Verbotsnormen umfasst sein müssen, ist naheliegend.114 Weniger eindeutig ist, welche Arten von Verbotsnormen erfasst werden sollen bzw. wie weit der Kreis dieser Normen zu ziehen ist. Je nachdem wie man den Begriff auffasst, sind mindestens die folgenden drei Ansätze denkbar.115 Unter „Eingriffsnormen, die die Erfüllung des Vertrages unrechtmäßig werden lassen“, könnte man zunächst strafrechtliche Verbotsnormen verstehen, zumal Zuwiderhandlungen gegen Eingriffsnormen nicht selten auch strafrechtlich sanktioniert sein werden.116 Ebenso denkbar wäre es, dass Normen gemeint sind, deren Verletzung zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Möglich wäre aber auch solche Normen für berücksichtigungsfähig zu halten, deren Verletzung den Vertrag nichtig, unwirksam, rechtswidrig oder zumindest nicht durchsetzbar macht. Dass das Unrechtmäßigkeitskriterium ausschließlich auf strafbewehrte Verbotsgesetze abzielt, erscheint wenig überzeugend: Zwar mögen viele Verbotsnormen, die als Eingriffsnormen berücksichtigt werden, auch strafrechtlich relevant sein.117 Dennoch wäre das Kriterium bei einem solchen Verständnis ausgesprochen eng,118 sodass auch viele Bereiche, die herkömmlich dem Eingriffsrecht zugerechnet werden, – wie beispielsweise kulturgüterschutzrechtliche Veräußerungsverbote119 – nicht umfasst wären, da diese Vorschriften meist nicht strafbewehrt sind. Dagegen spricht weiter, dass viele Strafnormen zwar Verbote aussprechen, als Rechtsfolgen aber unmittelbar nur Individualstrafen des Täters nach sich ziehen, ohne 114

Freitag, IPRax 2009, 109 (112). Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 321. 116 MPI, RabelsZ 68 (2004), 1 (82). 117 Martiny, FS Heldrich, S. 916. 118 Ebenso Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 322. 119 Vgl. einmal mehr die BGH-Entscheidung „Nigerianische Masken“, s. Fn. 33. 115

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zugleich direkte Folgen auf etwaige vertragliche Verhältnisse zu haben.120 Als Einfallstore ins Privatrecht dienen bei diesen Vorschriften vielmehr zivilrechtliche Normen wie etwa im deutschen Recht § 823 Abs. 2 BGB 121, eine Vorschrift, mittels der beispielsweise Opfer von Straftaten zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gegen den Täter geltend machen können oder auch § 134 BGB122, der zur Nichtigkeit des Vertrags bei einem Verstoß gegen ein Verbotsgesetz führt. Entsprechende Normen des ausländischen Rechts wären von einer Verweisung auf ein strafrechtliches Verbotsgesetz als Eingriffsnorm nicht erfasst, weil es Aufgabe des Vertragsstatuts ist, zu bestimmen, welche (mittelbaren) privatrechtlichen Folgen im Einzelnen eintreten.123 Der ausländischen Eingriffsnorm ist als „primäre Rechtsfolge“ nur das Verbot als solches zu entnehmen, nicht aber die zivilrechtlichen Folgen. Eine als Eingriffsnorm berücksichtigungsfähige ausländische Strafnorm hat also keinen unmittelbaren Bezug zum zivilrechtlichen Vertrag. Eben diesen fordert aber der Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO, demzufolge Eingriffsnormen Wirkung verliehen werden kann, die die Erfüllung des Vertrages unrechtmäßig werden lassen. Diese Wirkung kommt Strafnormen unmittelbar jedoch nicht zu.124 Unter das Kriterium „unrechtmäßig“ des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO fallen somit zumindest nicht ausschließlich strafbewehrte Vorschriften oder besser gesagt: Ob eine Vorschrift strafbewehrt ist oder nicht, ist kein taugliches Abgrenzungskriterium bei der Frage, ob die Norm unter das Unrechtmäßigkeitskriterium des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO fällt.125 Gleiches gilt für Verbotsnormen, deren Verletzung zivilrechtliche Schadensersatzansprüche nach sich zieht. Darüber hinaus sollte man sich klar machen, dass der Grundgedanke des dem Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO zugrunde liegenden Ralli-Prinzips ist, dass die Parteiautonomie dann eingeschränkt werden soll, wenn die Ausübung des Vertrages dazu führt, dass die Erfüllung für die leistende Partei deshalb unmöglich wird, weil die zur Erfüllung erforderliche Handlung am Erfüllungsort verboten ist. Ob die Rechtsfolge dieses Verbotes ein Schadensersatzanspruch ist oder nicht, ist dabei unerheblich. Entscheidend ist vielmehr, dass der zur Leistung verpflichteten Partei ein unüberwindbares rechtliches Hindernis im Wege 120

Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 322. Zur Berücksichtigung von Strafnormen im Rahmen von § 823 Abs. 2 BGB: Bamberger/Roth/Spindler, § 823 BGB Rn. 175 ff. 122 Zur Berücksichtigung von Strafnormen im Rahmen von § 134 BGB: Bamberger/Roth/Wendtland, § 134 BGB Rn. 7. 123 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 54; so schon zum alten Recht Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283 (300 f.); Czernich/Heiss, Art. 7 EVÜ Rn. 9, 44. 124 So auch Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 322. 125 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 21. 121

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steht, für das sich der Staat des Erfüllungsorts verantwortlich zeigt. Daraus folgt, dass die dritte Auffassung vorzugswürdig ist: Vom Unrechtmäßigkeitskriterium umfasst sind alle Verbotsnormen, die der Erfüllung des Vertrages im Zeitpunkt, zu der dieselbe geschuldet ist, in irgendeiner Form im Wege stehen. Dies gilt für Vorschriften, die zur Nichtigkeit des Vertrages führen im gleiche Maße wie für solche, die den Vertrag zu diesem Zeitpunkt nicht durchsetzbar machen. Harris geht dieses Verständnis zu weit. „Unrechtmäßig“ meine mehr als „nichtig“, „unwirksam“ oder „nicht klagbar“.126 Die Durchführung des Vertrages müsse am Erfüllungsort ausdrücklich verboten sein. Eine Beschränkung auf zivilrechtliche Schadensersatzansprüche oder gar strafrechtliche Vorschriften ist Harris indes auch zu eng, es gebe jedoch über solche Vorschriften hinaus auch seltene Fälle, in denen eine Verbotsnorm mit keiner speziellen Sanktionierung versehen sei.127 Wo stattdessen die Grenze zu der dritten oben dargestellten Auffassung gezogen werden soll, bleibt indes im Dunkeln. 2. Behandlung modifizierender Verbotsnormen Weitaus mehr Fragen werfen diejenigen Verbotsnormen auf, die den Inhalt des Vertrags lediglich modifizieren, ohne den ganzen Vertrag unrechtmäßig werden zu lassen. Virulent wird dies vor allem bei gewerbe-, berufsund preisrechtlichen Vorschriften,128 die Beschäftigungsverbote, Höchstarbeitszeitregelungen oder Mindest- bzw. Höchstvergütungen vorsehen, wie sie sich beispielsweise im Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG)129 oder in der HOAI130 finden. Es ist zu differenzieren: Unterfallen die Vorschriften bereits als Verbraucherschutzrecht dem Art. 6 Rom I-VO oder – praktisch wohl relevanter – dem Art. 8 Rom I-VO, so sind diese Vorschriften gegenüber Art. 9 Rom I-VO leges speciales.131 Bei allen verbleibenden in Frage kommenden Normen ist danach zu unterscheiden, ob eine Partei zur Erbringung einer anderen, einer geringeren oder einer höheren Leistung verpflichtet wird als im Vertrag festgelegt.132 126

Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 322. Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 322. 128 Ausführlich hierzu Martiny, FS Heldrich, S. 907 ff. 129 Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer (AEntG) vom 26.2.1996, BGBl. I S. 227 ff. (letzte Neufassung: 20.4.2009, BGBl. I S. 799 ff.). 130 Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) vom 17.9.1976, BGBl. I, S. 2805 ff. 131 Vgl. oben unter § 3B. , S. 30. 132 Freitag, IPRax 2009, 109 (112). 127

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a) Verstöße gegen Höchst- oder Mindestvergütungsvorschriften Eindeutig sind die Fälle, in denen die betreffende Eingriffsnorm eine Partei zu einer geringeren Leistung verpflichtet als im Vertrag festgelegt, also beispielsweise bei preisrechtlichen Vorschriften. Eben diese Konstellation lag der Ralli-Entscheidung133 zugrunde: Die spanische Preisvorschrift legte einen bestimmten Höchstpreis für Jute fest. Die von den Parteien vereinbarte Summe überstieg diesen Höchstpreis aber. Eine Zahlung eines höheren Betrages hätte somit gegen die Preisvorschrift verstoßen und damit die Erfüllung des Vertrages unrechtmäßig werden lassen. Heikel hingegen sind die umgekehrten Fälle, in denen eine Mindestvergütung festgelegt ist. Dies ist beispielsweise bei Mindestlöhnen der Fall, wie sie in Deutschland immer häufiger in Tarifverträgen zu finden sind, so etwa im Baugewerbe134 aber auch in anderen Branchen.135 In 20 der 27 Mitgliedstaaten gibt es sogar entsprechende nationale gesetzliche Regelungen, die branchenübergreifend gelten.136 Aber auch im deutschen Handelsrecht existieren Mindestvergütungsvorschriften wie der auf der Handelsvertreterrichtlinie137 beruhende Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters nach § 89b HGB.138 Problematisch hierbei ist, dass bei der Unterschreitung einer Mindestvergütung die Vornahme der Zahlung nicht unrechtmäßig ist. Der Vorwurf ist nicht die Zahlung des (freilich zu geringen Betrages), sondern das Unterlassen der Zahlung des Differenzbetrages zu dem Mindestbetrag. Hieraus abzuleiten, das Unterschreiten einer Mindestvorschrift sei nicht unrechtmäßig, das Überschreiten einer Höchstvorschrift hingegen schon, würde einen unerträglichen Wertungswiderspruch bedeuten.139 Denn gerade die Parteien, die von Lohnuntergrenzen profitieren, sind in der Regel besonders schützenswert.

133

Vgl. oben Fn. 78. Vgl. § 1 der Siebten Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Baugewerbe (BauArbbV 7) vom 24.8.2009, BAnz. 2009 Nr. 128, S. 2996 ff., i.V.m. den Rechtsnormen des Tarifvertrages zur Regelung der Mindestlöhne im Baugewerbe im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (TV Mindestlohn) vom 23.5.2009. 135 Vgl. hierzu den Überblick des Statistischen Bundesamtes unter https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/VerdiensteArbeitskosten/Mindestloehne/Mindestloehne.html 136 Vgl. hierzu die ausführliche Statistik des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaften EUROSTAT aus dem Jahr 2009 unter http://epp.eurostat.ec.europa.eu/ cache/ITY_OFFPUB/KS-QA-09-029/EN/KS-QA-09-029-EN.PDF. 137 Richtlinie zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter vom 18.12.1986, ABl. EG Nr. L 382, S. 17 ff. 138 Baumbach/Hopt/Hopt, Art. 89b HGB; Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 514, 601. 139 So auch Freitag, IPRax 2009, 109 (112). 134

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Nichts anderes als für Leistungsuntergrenzen kann für Eingriffsrecht gelten, das einen vertraglichen Anspruch überhaupt erst begründet.140 Dies zeigt schon die Ingmar-Rechtsprechung des EuGH,141 die den eben erwähnten Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters nach der Handelsvertreterrichtlinie zum Gegenstand hatte: In dem Fall war ein Vertrag zwischen einem in England niedergelassenen Handelsvertreter zu beurteilen, der für ein kalifornisches Unternehmen im Vereinigten Königreich und in Irland tätig war. Obgleich die Parteien den Vertrag kalifornischem Recht unterstellt hatten, gestand der EuGH dem Handelsvertreter den Ausgleichsanspruch nach der Richtlinie aufgrund seiner Schutzbedürftigkeit, der Wettbewerbsgleichheit im Binnenmarkt und des „starken Gemeinschaftsbezuges“ zu. Dass mit der Rom I-Verordnung von der Ingmar-Rechtsprechung abgewichen werden soll, erscheint wenig wahrscheinlich. Naheliegender ist es, dass bei der Schaffung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO vom europäischen Gesetzgeber ein wenig vorschnell die Ralli-Doktrin übernommen wurde, ohne hinreichend zu bedenken, ob tatsächlich alle relevanten Konstellationen von dieser Regel umfasst werden.142 Folglich ist Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom IVO an dieser Stelle dergestalt teleologisch zu erweitern,143 dass nicht nur die Über-, sondern auch die Unterschreitung von Mindestvergütungsvorschriften eine Unrechtmäßigkeit im Sinne der Vorschrift bedeutet. b) Verstöße gegen andere modifizierende Normen Unklar ist weiter, wie mit Eingriffsnormen zu verfahren ist, die überhaupt nichts mit der Erfüllung zu tun haben, sondern andere Verhaltensanordnungen treffen bzw. sonstige Fragen betreffen wie beispielsweise vorvertragliche Informationspflichten oder vertragliche Widerrufsrechte.144 Auch hier gilt wiederum, dass sich die Problematik im Rahmen von Art. 9 Rom I-VO nicht stellt, sofern es sich um Verbraucherschutzvorschriften handelt, was häufig der Fall sein wird. Art. 6 Rom I-VO ist dann lex specialis.145 Unterfällt eine Norm weder Art. 6 noch Art. 8 Rom I-VO, sodass sie grundsätzlich nach Art. 9 Rom I-VO berücksichtigt werden könnte, so könnte man davon ausgehen, dass diese Vorschrift, da sie nicht zur „Unwirksamkeit“ des Vertrages führt, aus dem Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ausscheiden muss.146 140 141

Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 637. EuGH, 9.11.2000, Rs. C-381/98 – „Ingmar“, EuGHE 2000 I, 9305, IPRax 2001,

225. 142

Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 637. So auch Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 637. 144 MünchKommBGBMartiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 117. 145 Vgl. oben unter § 3B. , S. 30. 146 Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 635. 143

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Zutreffend ist, dass eine kollisionsrechtliche Berücksichtigung dieser modifizierenden Normen nach dem Wortlaut wohl nicht in Betracht kommen dürfte. Gleichwohl darf es als wahrscheinlich erachtet werden, dass nationale Gerichte im Einzelfall versuchen werden, diese Vorschriften weiterhin materiellrechtlich zu berücksichtigen, wenn sie es für angebracht halten. Ob ein nationaler Richter tatsächlich frei entscheiden kann, ob die Verletzung ausländischen Eingriffsrechts beispielsweise im deutschen Recht zur Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB führt,147 erscheint indes ausgesprochen zweifelhaft, da dies letztlich eine Umgehung des vereinheitlichten Kollisionsrechts der Rom I-Verordnung bedeuten würde. Für endgültige Klarheit in dieser Frage würde jedoch letztlich erst ein entsprechendes Urteil des EuGH sorgen.148 Ob der Gerichtshof mit dieser Argumentation tatsächlich die Kompetenz innehat, den nationalen Richter bei dieser Frage in seine Schranken zu verweisen, wird indes an späterer Stelle erörtert.149 3. Beschränkung auf nachträglich erlassene Eingriffsnormen? Aus der Formulierung „soweit diese Eingriffsnormen die Erfüllung des Vertrages unrechtmäßig werden lassen“, könnte man schließen, dass nur solche Verbotsgesetze erfasst sein sollen, die nach Vertragsschluss erlassen wurden, wie es in der Ralli-Konstellation der Fall war, in der die spanische Preisvorschrift bei Vertragsschluss noch nicht existierte, sondern erst nachträglich entstand.150 Dass die Unterscheidung im englischen Recht so nicht gemacht wird,151 ist für sich genommen zwar noch kein Argument gegen diese Auffassung, da für die Auslegung eines Rechtsaktes der Europäischen Union nicht die Auslegungspraxis eines einzelnen Mitgliedstaates maßgeblich sein kann152 und darüber hinaus wie gesehen das Unrechtmäßigkeitskriterium nicht eins zu eins der englischen „illegality“ entspricht.153 Gleichwohl kommt dem englischen Verständnis in dieser Konstellation zumindest Indizwirkung zu.154 Entscheidend ist jedoch, dass auch teleologisch betrachtet kein sinnvoller Grund für die Unterscheidung nach dem Erlasszeitpunkt ersichtlich ist. Im Gegenteil: Gerade Verbotsnormen, die schon vor Vertragsschluss erlassen waren, hätten die Parteien zumindest potenziell kennen können. Wa147

So auch MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 117; Einsele, WM 2009, 289 (296). 148 Vgl. oben unter § 2A. , S. 11. 149 Vgl. hierzu unter § 5A. II, S. 96. 150 Vgl. oben unter § 2B. V, S. 62. 151 Ausführlich hierzu Kuckein, S. 233 ff. m.w.N. 152 Freitag, IPRax 2009, 109 (111). 153 Vgl. oben unter § 4B. I.4, S. 70. 154 Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 503.

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rum sollten also gerade diese Normen, die ebenso zur Unrechtmäßigkeit führen wie nachträglich erlassene, nicht nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO berücksichtigungsfähig sein? Freitag kommt zum selben Ergebnis, allerdings scheint seine Annahme, dass insbesondere andere Sprachfassungen155 der Rom I-Verordnung diesen Befund belegen,156 zweifelhaft: Auch dem englischen Verb render bzw. dem französischen rendre, die in diesen beiden Sprachfassungen verwendet werden, wohnt ein gewisser Zukunftsbezug inne, mag er auch nicht ganz so stark ausgeprägt sein wie der des deutschen „werden lassen“. Hierauf kommt es jedoch bei der vorliegenden Frage nicht an. Denn „werden lassen“ bezieht sich auf die Erfüllung des Vertrages und diese liegt zwingend nach dem Vertragsschluss, sodass sich der Zukunftsbezug einzig hieraus ergibt. Die anderen Sprachfassungen, in denen sich render auf die performance und rendre auf die exécution beziehen, bestätigen dies. Einen Rückschluss auf den Erlasszeitpunkt der jeweiligen Eingriffsnorm lassen somit die anderen Sprachfassungen ebenso wenig zu wie die deutsche.157 Dass es aber auf den Erlasszeitpunkt der Eingriffsnorm nicht ankommen kann,158 ergibt sich wie gezeigt aus dem Telos der Norm. III. Zusammenfassung Das Unrechtmäßigkeitskriterium in Art. 9 Absatz 3 Satz 1 Rom I-VO ist grundsätzlich weiter zu verstehen als der Begriff der „illegality“ im englischen Recht. Es sind nicht nur echte Verbotsgesetze umfasst, sondern alle Vorschriften, die der Erfüllung des Vertrages im Wege stehen. Insbesondere was den Vertrag modifizierende Normen anbelangt, sind auch solche Normen berücksichtigungsfähig, die eine Vergütungsmindestgrenze statuieren, wenn weniger als die dort festgelegte Summe gezahlt wird. Ob die in Frage stehende Eingriffsnorm vor oder nach Vertragsschluss erlassen wurde, ist hingegen ohne Belang. C. Beschränkung auf Eingriffsnormen des Erfüllungsorts Neben dem Unrechtmäßigkeitskriterium ist nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO für die Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen Voraussetzung, dass es sich um „Eingriffsnormen des Staates“ handelt, „in dem die durch den 155

In der englischen Sprachfassung: „(…)in so far as those overriding mandatory provisions render the performance of the contract unlawful”; in der französischen Sprachfassung: „(…) dans la mesure où lesdites lois de police rendent l'exécution du contrat illégale“. 156 Freitag, IPRax 2009, 109 (113). 157 Vgl. allgemein zur Auslegung mehrsprachiger Gemeinschaftsrechtsakte SchübelPfister, S. 122 ff. 158 So auch MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 25.

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Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind“. So schwierig es im Einzelfall auch sein mag, diesen Erfüllungsort zu bestimmen,159 evident ist eines: Im Vergleich zu Art. 7 I EVÜ, der lediglich auf eine „enge Verbindung“ abstellte, bedeutet diese Neuerung eine erhebliche Restriktion.160 Die Formulierung wirft zwei grundsätzliche Fragen auf: Erstens lässt der Wortlaut der Vorschrift offen, wie der Begriff des Erfüllungsortes zu bestimmen ist: Denkbar wäre eine Bestimmung nach der lex fori, nach der lex causae oder aber eine autonom unionsrechtliche. Untrennbar verbunden mit dieser Frage ist, ob angesichts der Formulierung „Eingriffsnormen des Staates“ tatsächlich nur die Eingriffsnormen eines Staates maßgeblich sein können. Es gilt also zu klären, ob Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO die Konzentration auf einen einzigen Erfüllungsort erfordert oder ob es auch denkbar ist, dass im Falle multipler Erfüllungsorte die Eingriffsnormen mehrerer Staaten über Absatz 3 berücksichtigungsfähig sind. Zweitens ist zu unklar, was unter dem Ort zu verstehen ist, an dem die „durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind“. Der Wortlaut der Vorschrift stellt sowohl auf den rechtlichen („erfüllt werden sollen“) als auch auf den faktischen Erfüllungsort („erfüllt worden sind“) ab. Aus dem diese beiden Varianten verbindenden „oder“ lässt sich schließen, dass beide Varianten alternativ herangezogen werden sollen. Offen ist aber, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen: Sind sie gleichrangig, oder ist auf die eine oder die andere Variante vorrangig abzustellen? Um sich diesen beiden Fragen anzunähern, bieten sich zwei Ausgangspunkte an: Zum einen ist die Beschränkung auf den Erfüllungsort – ebenso wie das Unrechtmäßigkeitskriterium – der bereits mehrfach erwähnten Ralli-Doktrin des englischen Kollisionsrechts entnommen.161 Zum anderen ist der Streit um die Bestimmung des Erfüllungsort auch im Europäischen Zivilverfahrensrecht im Rahmen des fakultativen Vertragsgerichtsstands nach Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO ein Dauerbrenner.162 Im Folgenden wird zunächst untersucht, was es mit dem Erfüllungsort in der RalliEntscheidung und in Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO auf sich hat – wobei insbesondere letzteres, um den Rahmen nicht zu sprengen, in der gebotenen Kürze zu erfolgen hat und für Vertiefungen auf die einschlägige Spezialli-

159

Leible, Neue Perspektiven im Europäischen Kollisionsrecht, S. 65. Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 12; MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 116; Roth, FS Kühne, 859 (874); MünchKommVVG/Looschelders, Internationales Versicherungsvertragsrecht, Rn. 151. 161 Vgl. oben unter § 2B. V, S. 62. 162 Vgl. für einen aktuellen Überblick Rauscher, NJW 2010, 2251 ff. 160

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teratur zu verwiesen wird.163 Sodann wird untersucht, welche Rückschlüsse hieraus für das Eingriffsrecht zu ziehen sind. I. Der Erfüllungsort nach Art. 5 Brüssel I-VO Der Gerichtsstand des Erfüllungsortes nach Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO ist rechtspraktisch wohl der bedeutsamste im Europäischen Zivilverfahrensrecht.164 Der Erfüllungsort hat sich im IZVR vor allem aus zwei Gründen als besonders praktikabler Anknüpfungspunkt für die Bestimmung der Internationalen Zuständigkeit erwiesen: Erstens bürgt er dadurch für Rechtssicherheit, dass er nur schwer zu manipulieren ist, denn das forum contractus ist unwandelbar.165 Zweitens gilt er als verhältnismäßig einfach zu lokalisieren, da jede Leistung in der Regel nur einen Erfüllungsort hat,166 zumindest sofern nicht entweder ein Unterlassen oder die Erfüllung an mehreren Orten geschuldet ist. Dass es sich jedoch in der Praxis um alles andere als ein banales und einfach zu handhabendes Kriterium handelt, sondern zusehends um ein „immer größeres Rätsel“167, zeigt nicht zuletzt die große Menge zu Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO bzw. schon zur Vorgängervorschrift (Art. 5 EuGVÜ)168 ergangenen Rechtsprechung.169 Was unter dem Erfüllungsort nach Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO zu verstehen ist, kann schon allein deshalb nicht ohne Weiteres beantwortet werden, da die Vorschrift selbst eine differenzierende Betrachtung abhängig vom streitigen Vertragstyp vornimmt: Für Kauf- und Dienstverträge besteht eine eigene Regelung nach Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-VO, während für alle anderen Verträge sowie für Kauf- und Dienstverträge, deren Erfüllungsort nicht in einem Mitgliedstaat liegt (vgl. Art. 1 Abs. 3 Brüssel IVO), gemäß litera c die Auffangregel der litera a gilt. Obgleich kein sachlicher Grund für dieses gespaltene Konzept ersichtlich ist,170 muss diese legislative Entscheidung respektiert werden, sodass in der Folge beide Va163

Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 5 Brüssel I-VO; Kropholler, EuZPR, Art. 5 Brüssel I-VO; Magnus/Mankowski/Mankowski,, Brussels I Regulation, Art. 5; Schlosser, EUGVVO, Art. 5; Geimer/Schütze/Auer, Art. 5 Brüssel I-VO; Nagel/Gottwald, IZPR, S. 87 ff. 164 Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 6; Mankowski, IHR 2009, 46 (46). 165 Schack, Der Erfüllungsort im deutschen, ausländischen und internationalen Privatund Zivilprozessrecht, Rn. 145 ff. 166 Rauscher/Leible, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 8. 167 Mankowski, IHR 2009, 46 ff. 168 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.9.1968, ABl. EG Nr. C 27, S. 1-27. 169 Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Mankowski, IHR 2009, 46 ff. 170 Rauscher/Leible, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 33; Kropholler, EuZPR, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 31.

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rianten vorgestellt werden um sodann zu untersuchen, welcher Erfüllungsortsbegriff besser für das Eingriffsrecht passt. 1. Der Erfüllungsort nach Art. 5 Nr. 1 lit. a Brüssel I-VO Die Grundregel des Art. 5 Nr. 1 lit. a Brüssel I-VO entspricht der Vorgängernorm des EuGVÜ, sodass auch die hierzu ergangene EuGHRechtsprechung weiterhin fortgilt171: Nach der Tessili-Entscheidung des Gerichtshofes wird der Erfüllungsort nicht autonom, sondern nach der lex causae bestimmt,172 also nach dem Recht, das nach dem IPR des Forums für das Vertragsverhältnis maßgebend ist. Abzustellen ist nach der De Bloos-Rechtsprechung nicht etwa auf die vertragscharakteristische Leistung, sondern auf die konkret streitige Verpflichtung bzw. bei Schadensersatzforderungen die vertragliche Verpflichtung, deren Nichterfüllung geltend gemacht wird.173 Bei mehreren Verpflichtungen gibt grundsätzlich die Hauptverpflichtung das Maß,174 Nebenpflichten bleiben unberücksichtigt, da sie möglicherweise einen anderen Erfüllungsort haben können, was zu einer unerwünschten Gerichtsstandsvervielfältigung führen würde.175 Im Falle mehrerer gleichrangiger Verpflichtungen ist jedes Gericht nur für die Verpflichtung zuständig, die am Gerichtsort erfüllt werden muss.176 Der Erfüllungsort muss in diesen Fällen somit für jeden Anspruch selbständig festgestellt werden. Besteht die vertragliche Pflicht in einem Unterlassen, so kann zumindest dann kein Erfüllungsort bestimmt werden, wenn die Unterlassenspflicht geographisch unbegrenzt besteht.177 Die Bestimmung des Erfüllungsorts nach der lex causae wird entgegen aller kritischen Stimmen178 zum einen damit begründet, dass die Unterschiede zwischen den nationalen Regeln des Vertragsrechts nach wie vor zu groß und eine autonome Bestimmung deshalb unmöglich sei.179 Zum anderen könne nur so sichergestellt werden, dass der Erfüllungsort materiell und prozessual nach dem selben Recht ermittelt werde.180 171

Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 29. EuGH, 6.10.1976, Rs. 12/76 – „Tessili/Dunlop“, EuGHE I, S. 1473, Rn. 13 ff. 173 EuGH, 6.10.1976, Rs. 14/76 – „De Bloos“, EuGHE I, S. 1497, Rn. 9, 12. 174 EuGH, 15.1.1987, Rs. 266/85 – „Shenavai/Kreischer“, EuGHE I, S. 239, Rn. 19. 175 Geimer/Schütze/Auer, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 108. 176 EuGH, 5.10.1999, Rs. C-420/97 – „Leathertex/Bodetex“, EuGHE I, S. 6747, Rn. 42. 177 EuGH, 19.2.2002, Rs. C-256/00 – „Besix/Kretzschmar“, EuGHE I, S. 1699, Rn. 55. 178 Rauscher/Leible, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 40 ff. m.w.N. 179 EuGH, 29.6.1994, Rs. C-288/92 – „Custom made commercial/Stawa Metallbau“, EuGHE I, S. 2913, Rn. 14. 180 Geimer/Schütze/Geimer, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 17. 172

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Ob nach Art. 5 Nr. 1 litera a Brüssel I-VO der rechtliche oder der faktische Erfüllungsort maßgeblich ist, ist streitig: Während eine Mindermeinung von einem Klägerwahlrecht ausgeht,181 nimmt die herrschende Ansicht eine zeitgebundene Reihenfolge an. Solange noch nicht erfüllt worden ist, sei nur der rechtliche Erfüllungsort maßgeblich, also der Ort, an dem laut Vertrag oder Gesetz zu erfüllen wäre.182 Ist hingegen erfüllt worden und weicht der faktische vom rechtlichen Erfüllungsort ab, so soll nur ersterer maßgeblich sein, sofern dort die Leistung als vertragsgemäß angenommen wurde.183 2. Der Erfüllungsort nach Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-VO Im Unterschied zur Regelung des Art. 5 Nr. 1 lit. a Brüssel I-VO wird der Erfüllungsort für die beiden wichtigsten Vertragstypen – den Kauf und den Dienstvertrag – nach litera b verordnungsautonom, also ohne Rückgriff auf ein nationales Recht, vertragseinheitlich bestimmt.184 Ein Rückgriff auf die lex causae gem. Litera a erfolgt via litera c nur, wenn der Erfüllungsort in keinem Mitgliedstaat der Brüssel I-Verordnung liegt. Ein Kaufvertrag im Sinne der Vorschrift liegt vor, sofern sich die eine Vertragspartei zur Lieferung und Übereignung einer beweglichen Sache, die andere zur Zahlung eines Kaufpreises verpflichtet.185 Bei gemischten Verträgen kommt es darauf an, welche Leistung im Vordergrund steht, dem Vertrag ihr Gepräge gibt und dadurch als vertragscharakteristisch anzusehen ist.186 Auch der Dienstleistungsbegriff wird durch autonome Auslegung ermittelt. Ging man allerdings bislang davon aus, dass hierfür die Dienstleistungsdefinition des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union maßgeblich sei (vgl. Art. 57 AEUV, ex-Art. 50 EGV), derzufolge alle entgeltlichen Leistungen eine Dienstleistung darstellen, die im Rahmen einer gewerblichen, kaufmännischen, handwerklichen oder freiberuflichen Tätigkeit erbracht werden und nicht unter die Vorschriften zum freien Waren- oder Kapitalverkehr fallen,187 hat nunmehr der EuGH in der Entscheidung Falco Privatstiftung188 entschieden, dass der Dienstleistungsbegriff im Sinne von Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-VO enger zu verstehen sei: Letzterer setzt laut EuGH einen Vertrag voraus, durch den sich eine Partei ver181

Geimer/Schütze/Geimer, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 133. Rauscher/Leible, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 42. 183 Kropholler, EuZPR, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 34. 184 Rauscher/Leible, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 45a. 185 Kropholler, EuZPR, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 39. 186 OLG Köln, 14.3.2005, RIW 2005, 779. 187 Vgl. etwa von der Groebn/Schwarze/Tiedje/Troberg, Art. 50 EGV Rn. 1 ff. 188 EuGH, 23.4.2009, Rs. C-533/07 – „Falco Privatstiftung, Rabitsch v. WellerWindhorst“, IPRax 2009, 509 ff. 182

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pflichtet, eine bestimmte Tätigkeit zu entfalten. Im konkreten Fall erfüllte dieses Kriterium ein Lizenzvertrag nicht, weil sich die bloße Gewährung der Lizenz darin erschöpfe, einer Nutzung nicht zu widersprechen. Der nach Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-VO maßgebliche Erfüllungsort bestimmt sich nicht nach der streitigen Verpflichtung, sondern nach der vertragscharakteristischen Leistung, sofern diese in einem Mitgliedstaat (vgl. Art. 1 Abs. 3 Brüssel I-VO) zu erbringen ist.189 Wurde die Leistung als vertragsgemäß angenommen, ist ebenso wie nach litera a der Ort der tatsächlichen Leistungserbringung stets maßgeblich, mag auch zuvor eine andere vertragliche Regelung getroffen worden sein.190 Bei Kaufverträgen kommt es darauf an, an welchem Ort der Käufer die Verfügungsgewalt über die Sache erlangt hat, bei Dienstverträgen auf den Ort, an dem die den Gegenstand des Vertrages bildende Leistung erbracht wurde.191 Der Ort, an dem die Dienstleistung Erfolge zeitigen soll, ist zuständigkeitsrechtlich hingegen irrelevant.192 Ist der Erfüllungsort weder im Vertrag bestimmt noch nach den genannten Kriterien bestimmbar, so soll stattdessen der Ort maßgeblich sein, an dem der Schuldner zur Zeit des Vertragsschlusses seine Niederlassung bzw. seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.193 Umstritten ist, wie der Erfüllungsort ermittelt werden soll, wenn der Vertrag in mehreren Staaten zu erfüllen ist, eine Ware beispielsweise zur Weiterverarbeitung in mehrere Staaten versendet werden soll.194 Teils wird in diesen Fällen auf die vom EuGH zu Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ entwickelte „Mosaiktheorie“ zurückgegriffen, derzufolge an jedem in Betracht kommenden Erfüllungsort geklagt werden kann, jedoch nur, soweit an diesem Ort zu erfüllen wäre.195 So könnte etwa ein geschuldetes Entgelt nur in dem Staat eingeklagt werden, in dem auch die hierfür geschuldete Gegenleistung erbracht wurde. Nachteil dieser Lösung ist indes wiederum die unerwünschte Vervielfältigung der Gerichtstände.196 Soll es bei der Konzentrationswirkung auf nur einen Erfüllungsort bleiben, so kommt im Ergebnis ausschließlich eine Schwerpunktbestimmung in Betracht,197 ein Ansatz, der freilich der Rechtssicherheit nicht unbedingt zuträglich ist. 189

Rauscher/Leible, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 51. BGH, 2.3.2006, NJW 2006, 1806. 191 Rauscher/Leible, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 51. 192 OGH, 17.2.2005, ÖJZ 2005, 709 (711). 193 Rauscher/Leible, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 54. 194 Weitere Beispiele und ausführliche Diskussion aller Lösungsansätze bei Kropholler, EuZPR, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 50. 195 EuGH, 7.3.1995, Rs. C-68/83 – „Shevill/Press Alliance“, EuGHE 1995 I, S. 415, Rn. 33. 196 Rauscher/Leible, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 55. 197 So auch BGH, 2.3.2006, NJW 2006, 1807 zur Schwerpunktbestimmung beim internationalen Anwaltsvertrag. 190

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II. Der Erfüllungsort nach der Ralli-Doktrin Den Erfüllungsort nach der Ralli-Regel im englischen Recht zu bestimmen, ist nicht ganz unproblematisch, da diese Entscheidung aus den 1920er Jahren in der Folge durch zahlreiche (teils etwas widersprüchliche) obiter dicta fortentwickelt wurde.198 Ausgehend von der Ursprungsentscheidung lässt sich dennoch eine gewisse Struktur ausmachen. Der Wortlaut der Ralli-Entscheidung zur Bestimmung des Erfüllungsortes besagt zunächst einmal Folgendes: „(a) contract (…) is (…) invalid in so far as (…) the performance of it is unlawful by the law of the country where the contract is to be performed“.199 Demnach ist hier auf den Erfüllungsort im rechtlichen und gerade nicht im faktischen Sinne abzustellen (is to be performed). Maßgeblich ist nicht die vertragscharakteristische Leistung, sondern die konkret streitige Primärpflicht (in so far as).200 Eine auffällige Abweichung im Vergleich zur Bestimmung des Erfüllungsortes nach der Brüssel I-Verordnung ist, dass der Erfüllungsort im englischen Kollisionsrecht lege fori bestimmt wird: Auch wenn ausländisches Sachrecht zur Anwendung kommt, richtet sich die Bestimmung des Erfüllungsortes stets nach englischem Sachrecht.201 Hiernach ist primär maßgeblich, ob der Erfüllungsort vertraglich ausdrücklich vereinbart wurde, hilfsweise wird versucht, den hypothetischen Parteiwillen zu ermitteln.202 Ist dies nicht möglich und besteht auch keine spezialgesetzliche Regelung, so gilt der Grundsatz, dass der Schuldner den Gläubiger aufzusuchen hat (the debtor must seek out his creditor).203 Eine Unterscheidung danach, wo die Leistungshandlung erfolgte oder der Leistungserfolgt eintrat, erfolgt im englischen Recht nicht.204 Es gibt stets nur einen einheitlichen place of performance.205

198

Vgl. die umfassenden Rechtsprechungsnachweise bei Kuckein, S. 241. Ralli Bros v. Compañia Naviera Sota y Aznar, [1920] 2 K.B. 287 (291, 295) [C.A.]. 200 Dicey, S. 553. 201 Schack, Der Erfüllungsort im deutschen, ausländischen und internationalen Privatund Zivilprozessrecht, Rn. 289. 202 Dicey/Morris, Vol. 1, Rn. 11-203. 203 Schack, Der Erfüllungsort im deutschen, ausländischen und internationalen Privatund Zivilprozessrecht, Rn. 287. 204 Kuckein, S. 243. 205 Chitty, Rn. 21-005. 199

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III. Rückschlüsse für die Bestimmung des Erfüllungsortes nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO 1. Anwendbares Recht bei der Bestimmung des eingriffsrechtlichen Erfüllungsortes Was die Frage anbelangt, nach welchem Recht der Begriff des Erfüllungsortes bestimmt werden soll, so bieten die Ralli-Regel und der Rückgriff auf Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO wie gesehen drei Möglichkeiten, die prinzipiell auch im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO in Frage kommen: eine Bestimmung des Erfüllungsortes nach der lex fori (so die Ralli-Doktrin), nach der lex causae (so Art. 5 Nr. 1 lit. a Brüssel I-VO gemäß der TessiliFormel), oder aber unionsrechtlich autonom (so Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-VO).206 a) Bestimmung nach der lex fori Den Erfüllungsort lege fori zu bestimmen, wird bislang in der aktuellen Diskussion um Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO – soweit ersichtlich – nicht vertreten. Gleichwohl ist es dem Grunde nach denkbar, erfolgt doch die Qualifikation kollisionsrechtlicher Anknüpfungsmomente in Deutschland, aber auch vielen anderen Ländern,207 grundsätzlich gerade nach der lex fori,208 zumindest sofern nicht vorrangig eine autonome Auslegung in Betracht kommt. Verfolgte man diesen Einsatz auch für das Eingriffsrecht weiter, so wäre weiter zu fragen, wie diese Begriffsbestimmung lege fori konkret zu erfolgen hätte. Im englischen Recht macht man sich diese Frage der RalliDoktrin zufolge recht einfach, indem dort auf den materiellrechtlichen Erfüllungsortsbegriff des englischen Sachrechts zurückgegriffen wird.209 Dieses Vorgehen ist indes nicht zwingend – im Gegenteil: Im deutschen Schrifttum wird seit langem vorwiegend vertreten, dass der Begriff des Leistungsorts – jedenfalls im deutschen materiellen Recht – so komplex und verformt sei, dass er nicht unbesehen in das Kollisionsrecht übernommen werden könne.210 Ansätze, einen eigenen kollisionsrechtlichen Erfüllungsortsbegriff herauszuarbeiten, wurden indes nicht weiter verfolgt, da sich im Internationalen Schuldvertragsrecht das Prinzip des (hypothetischen) Parteiwillens sowie das der charakteristischen Leistung – die sich auch in den Art. 3 ff. Rom I-VO wieder finden – als Anknüpfungsmomente 206

jurisPK-BGB/Ringe, Art. 9 Rom I-VO Rn. 26. Nachweise bei Siehr, S. 430 f. 208 Von Hoffmann/Thorn, § 6 Rn. 12. 209 Kuckein, S. 242 m.w.N. 210 Schack, Der Erfüllungsort im deutschen, ausländischen und internationalen Privatund Zivilprozessrecht, Rn. 127 m.w.N. 207

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gegenüber dem Erfüllungsort durchgesetzt haben und der Begriff des Erfüllungsortes lange Zeit nur im Internationalen Zivilverfahrensrecht von Bedeutung war. b) Bestimmung nach der lex causae Im Unterschied zur lex fori Lösung finden sich etliche prominente Stimmen, die für eine Bestimmung des Erfüllungsortes nach der lex causae plädieren. Die Argumentation erfolgt in weiten Teilen in Abgrenzung zu einer unionsrechtlich autonomen Lösung: Gegen eben diesen Ansatz wird von den Vertretern der lex causae Lösung vorgebracht, dass eine Anlehnung an Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-VO bereits deshalb ausscheiden müsse, weil Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO keine Definition oder sonstige konkretisierende Vorgabe für die Bestimmung des Erfüllungsortes bereithalte.211 Insofern müsse der EuGH, der ohnehin nur von letztinstanzlichen Gerichten angerufen werden könne, gewissermaßen aus dem Nichts einen Erfüllungsortsbegriff für die Zwecke des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO erfinden, und zwar für alle denkbaren vertraglichen Ansprüche.212 Die damit einhergehende Rechtsunsicherheit sei inakzeptabel. Darüber hinaus wird argumentiert, die hinter Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-VO stehenden Wertungen seien nicht auf Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO übertragbar, weil dort gerade deshalb die autonome Auslegung des Begriffs gewählt worden wäre, um die einheitlichen Zuständigkeitsregeln der Brüssel I-Verordnung von dem zum Zeitpunkt ihrer Einführung im Jahr 2002 nur unzureichend harmonisierten Kollisionsrecht der Mitgliedstaaten zu entkoppeln. Eben dieses damals fehlende einheitliche Anknüpfungssystem bestehe nunmehr aber in Form der Rom I-Verordnung. Die Verordnung sehe in Art. 12 Abs. 1 lit. b Rom I-VO ausdrücklich vor, dass der Erfüllungsort für jede vertragliche Verpflichtung der lex causae zu entnehmen sei.213 Somit solle es besser keinen einheitlichen Erfüllungsort nach dem Prinzip der charakteristischen Leistung geben.214 Vielmehr müsse der Erfüllungsort für jede einzelne Verpflichtung anhand der lex causae getrennt ermittelt werden,215 was freilich zu einer Vervielfältigung der anwendbaren Eingriffsnormen führe.216

211

Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 640. Freitag, IPRax 2009, 109 (113). 213 Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 640. 214 Mankowski, IHR 2008, 133 (148). 215 Leible/Lehmann, RIW 2008, 528 (543). 216 Mankowski, IHR 2008, 133 (148); Leible, Neue Perspektiven im Europäischen Kollisionsrecht, S. 66. 212

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c) Unionsrechtlich autonome Bestimmung Die Gegenansicht verweist demgegenüber darauf, dass Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO gerade nicht ausdrücklich anordnet, dass der Erfüllungsort nach dem Vertragsstatut zu bestimmten sei. Zwar sei es in der Tat unzweckmäßig, den anderen Zwecken dienenden Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO heranzuziehen.217 Dennoch sei eine verordnungsautonome Auslegung des Erfüllungsortsbegriffs vorzunehmen.218 Würde man das Vertragsstatut nach den Art. 3 ff. i.V.m. Art. 12 Abs. 1 lit. b Rom I-VO für maßgeblich erklären, so überließe man dadurch die Frage, wann Eingriffsrecht zur Anwendung komme, zumindest teilweise der Parteiautonomie. Dies mache nur dann Sinn, wenn man die Vertragserfüllung in den Vordergrund stelle und mögliche Eingriffe auf ein Minimum reduzieren wolle.219 Sei man hingegen einer Sonderanknüpfung gegenüber aufgeschlossen, so läge es nahe, den Erfüllungsort nach anderen Kriterien zu bestimmen. Man könne es dem Eingriffsrecht nicht selbst überlassen, was es als Erfüllungsort ansähe, denn hierdurch werde dem Interventionismus Tür und Tor geöffnet. Dies zwinge zur Entwicklung eines europäischen Erfüllungsortsbegriffs.220 Zwar liefere Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO keine Definition, mit der Nennung des rechtlichen und des faktischen Erfüllungsortes aber immerhin Anhaltspunkte. d) Stellungnahme Den Erfüllungsort lege fori zu bestimmen, mag auf den ersten Blick am naheliegendsten erscheinen, zumal dies im Vergleich zu den beiden weiteren Varianten mit verhältnismäßig wenig Aufwand möglich wäre:221 Bei einer Bestimmung nach der lex causae müsste das anwendbare Sachrecht vorab ermittelt werden, eine verordnungsautonome Bestimmung ist nicht ohne Weiteres möglich, solange es keine verordnungseigene Definition des Begriffs gibt. So mag es vergleichsweise einfach erscheinen, unter Rückgriff auf das Sachrecht des Forums, den materiellrechtlichen Begriff des Erfüllungsortes ins Kollisionsrecht zu übertragen. Dass dies bei genauer Betrachtung zu nicht unerheblichen Schwierigkeiten und Ungereimtheiten führen kann, insbesondere in den Fällen, in denen die Rechtsprechung einen Renvoi des am Erfüllungsort geltenden Rechts zulässt, ist von Schack

217 218

Bonomi, YbPrivIntL 10 (2008), 285 (297 f.). MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 116; Pfeiffer, EuZW 2008, 622

(628). 219

So auch Mankowski, IHR 2008, 133 (148). MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 116. 221 Pauknerova, ERA Forum 2010, 29 (40). 220

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bereits vor längerem ausführlich nachgewiesen worden.222 Hinzu kommt, dass der lex fori Ansatz die einheitliche Auslegung der Rom I-Verordnung alles andere als fördern würde, wenn die Auslegung des Erfüllungsortsbegriffs von Forumstaat zu Forumstaat unterschiedlich wäre.223 Entscheidend gegen die Bestimmung lege fori gerade im Eingriffsrecht spricht aber auch gerade dessen besondere Charakteristik: In der weit überwiegenden Zahl der Fälle besteht nach den Regeln des Internationalen Zivilverfahrensrecht nicht nur ein singulärer Gerichtsstand, sondern mehrere. Zieht man beispielsweise die Brüssel I-Verordnung heran, so besteht stets der allgemeine Gerichtsstand nach Art. 2 Brüssel I-VO, häufig aber auch fakultative Gerichtstände nach den Art. 5 ff. Brüssel-I-VO. In diesen Fällen hat der Kläger ein Wahlrecht zwischen allen nicht ausschließlichen Gerichtständen. Ausschließliche Zuständigkeiten bestimmt die Verordnung in Art. 22 Brüssel I-VO in einer enumerativen Aufzählung. Ein entsprechendes Klägerwahlrecht findet sich im Übrigen auch im deutschen Zivilprozessrecht ausdrücklich in § 35 ZPO.224 Das bedeutet für die vorliegende Konstellation, dass der Kläger bei einer Bestimmung des Erfüllungsorts lege fori durch die Ausübung seines Klägerwahlrechts einseitig bestimmen könnte, nach dem Recht welchen Staates der Erfüllungsort bestimmt wird. Mit anderen Worten: Dem Kläger wird forum shopping ermöglicht. Dies würde jedoch in der vorliegenden Konstellation nicht nur den Beklagten unbillig benachteiligen, sondern zugleich dem Sinn und Zweck des Eingriffsrechts zuwiderlaufen: Eingriffsnormen sollen ja der Parteiautonomie gerade entzogen sein und dienen der Wahrung staatlicher Interessen. Wäre es den Parteien möglich, Eingriffsrecht nach ihren Interessen zu wählen oder von der Anwendung auszuschließen, so stünde dies den Zielen, die mit der Schaffung von Eingriffsnormen verfolgt werden sollen, geradezu diametral entgegen. Die Bestimmung des Erfüllungsorts nach der lex fori ist deshalb abzulehnen. Durch die Bestimmung des Erfüllungsorts nach der lex causae kann zumindest die unbillige Benachteiligung des Beklagten vermieden werden. Denn das anwendbare Recht kann nicht einseitig ermittelt werden, setzt eine entsprechende Rechtswahl doch einen übereinstimmenden Willen beider Parteien voraus.225 Dadurch ist es zwar ausgeschlossen, dass eine Partei einseitig bestimmen kann, nach dem Recht welchen Staates der Erfüllungsort im jeweiligen Einzelfall bestimmt wird. Übereinstimmend können dies die Parteien aber sehr wohl tun. Und damit verfängt auch gegenüber der lex causae-Lösung das zweite gegen die lex fori-Lösung vorgetragene 222 Schack, Der Erfüllungsort im deutschen, ausländischen und internationalen Privatund Zivilprozessrecht, Rn. 127 ff. mit umfangreichen Nachweisen. 223 Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 315. 224 MünchKommZPO/Patzina, ZPO § 35 Rn. 8. 225 Palandt/Thorn, Rom I Art. 3 Rn. 4.

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Argument: Die Anwendung von Eingriffsrecht darf unter keinen Umständen vom Parteiwillen abhängen. Denn es geht hierbei ausschließlich um die Möglichkeit staatlicher Interessenwahrung. Können die Parteien aber bei einer entsprechenden Rechtswahl festlegen, das Recht welchen Staates den Erfüllungsort bestimmt, so wird dadurch diese Frage den Parteien zumindest teilweise in die Hände gelegt und dadurch dem Staate entzogen. Somit ist auch eine Bestimmung des Erfüllungsorts nach der lex causae abzulehnen. Nach alledem ist es vorzugswürdig, den Begriff des Erfüllungsorts autonom unionsrechtlich zu bestimmen. Einzig auf diesem Wege kann eine einheitliche Anwendung und Auslegung der Vorschrift gewährleistet werden, was der Rechtssicherheit dient. Dass mit der Einführung des verordnungsautonomen Erfüllungsortsbegriffs in der Brüssel I-Verordnung unter anderem die Entkoppelung der einheitlichen Zuständigkeitsregeln von dem bei Erlass der Verordnung im Jahr 2002 noch nicht harmonisierten Kollisionsrecht in der Europäischen Union erreicht werden sollte,226 ist zwar zutreffend, aber kein Argument gegen eine verordnungsautonome Auslegung des Erfüllungsortsbegriffs in der Rom I-Verordnung. Und auch die Behauptung, das Fehlen einer Legaldefinition in der Rom I-Verordnung verhindere eben diese Rechtsicherheit,227 ist nicht besonders tragfähig: Erstens bietet der Normtext durchaus Anhaltspunkte für einen Definitionsansatz,228 und zweitens wird spätestens ein entsprechendes Verdikt des EuGH für endgültige Rechtsklarheit sorgen. Die zu Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO ergangene Rechtsprechung lässt befürchten, dass die verordnungsautonome Auslegung in bestimmen Konstellationen auf erhebliche Probleme stoßen wird, insbesondere in Fällen, in denen durch die Verpflichtung zur Erbringung von Teilleistungen in unterschiedlichen Staaten plurale Erfüllungsorte vorliegen.229 Es geht in diesen Fällen um die bereits angedeutete Frage, ob die unionsrechtlich autonome Auslegung des Erfüllungsortsbegriffs es erfordert, in diesen Konstellationen eine Konzentration auf nur einen Ort vorzunehmen. Hierfür scheint zunächst einmal der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 zu sprechen, wo von „den Eingriffsnormen des Staates“ die Rede ist. Die Verwendung des Singulars legt nahe, dass der Vorschrift eine Konzentrationswirkung auf nur einen Erfüllungsort zukommen soll. Bei mehreren in Betracht kommenden Erfüllungsorten müsste mittels einer Schwerpunktbetrachtung festgelegt werden, welcher der Erfüllungsorte maßgeblich sein soll. So verfuhr der EuGH in der Entscheidung Color Drack, die allerdings nur die Frage der 226

Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 5 Brüssel I-VO Rn. 31 ff. Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 640. 228 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 116. 229 Vgl. etwa EuGH, 3.5.2007, Rs. C-386/05 – „Color Drack GmbH”, EuGHE I, S. 3699 = IPRax 2007, 444 m. Anm. Mankowski, IPRax 2007, 404. 227

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örtlichen Zuständigkeit bei mehreren Erfüllungsorten im selben Staat betraf. Ob diese Schwerpunktsuche auch auf die internationale Zuständigkeit übertragen werden kann, ließ das Gericht ausdrücklich offen.230 Ob die Anwendung der Color Drack Rechtsprechung zu Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-Verordnung auf das Eingriffsrecht sachgerecht ist, mag man bezweifeln. Zwar „sollten“ nach Erwägungsgrund 7 zur Rom I-Verordnung die Bestimmungen der Verordnung insbesondere auch mit Brüssel I „in Einklang stehen“. Gleichwohl bedarf die Frage, ob man Rechtsprechung, die zum Internationalen Verfahrensrecht ergangen ist, ohne Weiteres auf das Internationales Privatrecht übertragen kann, stets einer gründlichen Prüfung: Die Leitprinzipien des IZVR, namentlich Beweisnähe, Vorhersehbarkeit, Manipulationssicherheit sowie Zuständigkeitskonzentration, decken sich nicht unbedingt mit denen des IPR, wo das Ideal der engsten Verbindung und der Internationale Entscheidungseinklang im Vordergrund stehen. Im Hinblick auf das Eingriffsrecht ist aber wiederum ein anderer Aspekt entscheidend: Erstens zeigt gerade die Color Drack Rechtsprechung, dass die Kriterien und Gewichtung bei der Schwerpunktsuche ein gravierendes Problem darstellen, dessen der EuGH sich dadurch zu entziehen versucht, dass er die Aufgabe an das jeweils angerufene Gericht delegiert,231 ohne selbst einen Maßstab oder auch nur Hinweise hierauf zu liefern.232 Die eigentlich angestrebte Rechtssicherheit lässt sich so nicht erzielen. Mit Blick auf das Ideal der engsten Verbindung ist auch nicht ersichtlich, wie ein Schwerpunkt bei mehreren gleichrangigen Erfüllungsorten ermittelt werden soll. Dies gesteht auch der EuGH ein, der dem Kläger in diesen Fällen ein Wahlrecht zugesteht.233 Hinzu kommt: Die Neukonzeption des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO mit der Beschränkung auf den Erfüllungsort und das Unrechtmäßigkeitskriterium bedeutet eine erhebliche Restriktion. Eine Konzentrationswirkung auf nur einen Erfüllungsort vorzunehmen, würde eine noch weitergehende Einschränkung vornehmen und einen noch größeren Normenkreis von einer kollisionsrechtlichen Sonderanknüpfung ausschließen. Aus diesem Grund sowie infolge dessen, dass die Schwerpunktbestimmungen häufig kaum praktikabel sein werden dürfte es nicht zu vermeiden sein, in diesen Konstellationen mehrere Erfüllungsorte anzunehmen.234 230 EuGH, a.a.O., Rn. 16. Zur Übetragbarkeit auf die internationale Zuständigkeit Mankowski, IPRax 2007, 404 (411 f.). 231 EuGH, a.a.O., Rn. 41. 232 Mankowski, IPRax 2007, 404 (409). 233 EuGH, a.a.O., Rn. 42. 234 So auch Leible/Lehmann, RIW 2008, 528 (543) sowie MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 116.

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Lässt sich überhaupt kein Erfüllungsort lokalisieren, so kommt auch keine Sonderanknüpfung nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO in Betracht. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen die Leistung online zu erbringen ist: Da die Vertragsparteien in diesen Fällen oft nicht erkennen können, wo sich die andere Partei befindet und dies auch oft zufällig ist, käme einzig der Serverstandort als verlässlich lokalisierbare Größe in Betracht. Dieser weist indes seinerseits keinen Bezug zur Erfüllung der Leistung auf und stellt deshalb kein taugliches Anknüpfungskriterium dar. 2. Rechtlicher oder faktischer Erfüllungsort? Klärungsbedürftig ist weiter die Frage, in welchem Verhältnis der rechtliche und der faktische Erfüllungsort zueinander stehen. Der Verordnungstext rekurriert auf beide („erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind“235). Zieht man die Ralli-Doktrin des englischen Rechts als Leitbild heran, so müsste der rechtliche Erfüllungsort maßgeblich sein.236 Dies ist jedoch aus folgenden Gründen wenig überzeugend: Wäre der rechtliche Erfüllungsort maßgeblich, so könnten die Parteien einmal mehr das anwendbare Eingriffsrecht manipulieren. Das gilt es zu verhindern. Zum anderen fällt auf, dass die Formulierung in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO fast wortgleich der in Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-VO entspricht.237 Im Hinblick auf Erwägungsgrund 7 zur Rom I-Verordnung, der den Grundsatz der einheitlichen Auslegung zum Ziel erklärt, spricht an dieser Stelle tatsächlich nichts dagegen, das verfahrensrechtliche Konzept238 auf das Eingriffsrecht zu übertragen. Es ist also zu differenzieren: Ist eine Erfüllung erfolgt, so ist auch das Eingriffsrecht dieses faktischen Erfüllungsorts berücksichtigungsfähig. Ist hingegen noch nicht erfüllt worden, so ist subsidiär auf den rechtlichen Erfüllungsort abzustellen.239 Im Hinblick auf letzteren ist freilich zu beachten, dass sog. „abstrakte Erfüllungsortsvereinbarungen“, die nur mit dem Ziel vereinbart werden, durch die Vereinbarung unliebsames Eingriffsrecht zu umgehen, ebenso wie im Rahmen von Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I-VO unwirksam sind.240

235

Hervorhebungen jeweils durch den Verfasser. Vgl. die entsprechenden Nachweise bei Kuckein, S. 240 ff. (m.w.N.). 237 Freitag, IPRax 2009, 109 (114). 238 Vgl. hierzu ausführlich Mankowski, IHR 2009, 46 ff. 239 Pfeiffer, EuZW 2008, 622 (628); Kindler, S. 69; Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 645; MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 116; Pauknerova, ERA Forum 2010, 29 (40). 240 Vgl. hierzu Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 57 sowie EuGH, 20.2.1997, Rs. C-106/95 – „Les Graviéres Rhénanes », EuGHE I 1997, S. 911, Rn. 35. 236

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IV. Zusammenfassung und Bewertung Die Bestimmung des Erfüllungsorts im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 Rom IVO sollte unionsrechtlich autonom erfolgen. Ist die geschuldete Leistung bereits erfüllt worden, so ist dieser tatsächliche Ort der Leistungserfüllung maßgeblich. Sofern noch nicht erfüllt worden ist, so ist subsidiär auf den rechtlichen Erfüllungsort abzustellen. Maßgeblich ist damit regelmäßig der Ort, an dem der Leistungserfolg eintritt und nicht der, an dem die Leistungshandlung vorgenommen wird. Die Bewertung des Erfüllungsortskonzepts fällt eher zwiespältig aus. Zwar gibt es durchaus Konstellationen, in denen auf diesem Weg brauchbare Ergebnisse erzielt werden. So wird es teilweise für Importkonstellationen als tauglich, für Exportfälle hingegen als verfehlt angesehen.241 Ob auf der anderen Seite Mankowskis vernichtendes Urteil, das Konzept sei ein „Rückschritt gleichsam in die Steinzeit des IPR“, weil hinter Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO der Gedanke stehe, dass man das (aber auch nur das) zu akzeptieren bereit sei, was man ohnehin nicht verhindern könne und so ein Rückfall zur sog. „Machttheorie“ drohe,242 nicht zu hart ausfällt, lässt sich erst abschließend beurteilen, wenn man die Rechtsfolgenseite der Vorschrift in Gänze beleuchtet hat. Ungeachtet dessen erscheint es indes eher zweifelhaft, ob ein derart restriktiver Ansatz ein taugliches Kriterium darstellt, um Ordnungspolitik zum Durchbruch zu verhelfen.243

§ 5 Rechtsfolgenseite des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Rechtsfolgenseite des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

Auf Rechtsfolgenseite ordnet Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO an, dass den tatbestandlich berücksichtigungsfähigen Eingriffsnormen „Wirkung verliehen werden kann“. Näher konkretisiert wird diese Rechtsfolge nicht. Der Wortlaut lässt somit offen, was unter diesem untechnischen Terminus der „Wirkungsverleihung“ zu verstehen ist und ob die Formulierung „kann“ tatsächlich ein echtes richterliches Ermessen ermöglicht. Dass insbesondere letzteres zumindest nicht uneingeschränkt der Fall sein kann, sondern die Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO herangezogen werden müssen, wurde bereits erörtert.244 Im Folgenden werden zunächst die wichtigsten bislang zu Art. 7 EVÜ / Art. 34 EGBGB vertretenen Anknüpfungsmodelle in der gebotenen Knappheit sowie die gegen sie vorgebrachten Einwände vorgestellt. Eine 241

Einsele, WM 2009, 289 (296). Mankowski, IHR 2008, 133 (148). 243 Kritisch auch Leible/Lehmann, RIW 2008, 528 (543). 244 Vgl. oben unter § 3A. II, S. 65. 242

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umfassende Darstellung der kaum noch überschaubaren Anknüpfungsmodelle kann und soll hier nicht erfolgen.245 Vielmehr wird der Fokus auf die Frage gelegt, ob und inwieweit die bisherigen Modelle auch im Rahmen der Wirkungsverleihung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO herangezogen werden können. Daran anschließend werden die das richterliche Ermessen konkretisierenden Vorgaben des Satz 2 näher beleuchtet. A. Bisherige Anknüpfungsmodelle zu Art. 7 Abs. 1 EVÜ / Art. 34 EGBGB Der früher herrschende Grundsatz, dass kein Staat dem Recht eines anderen zur Anwendung verhelfe, gilt zwar bereits seit längerem als überwunden,246 da nicht die unmittelbare Durchsetzung des ausländischen Eingriffsrechts mit hoheitlichem Zwang in Rede steht, sondern lediglich die privatrechtlichen Reflexwirkungen dieses Gesetzes bei der Prüfung eines zivilrechtlichen Anspruchs.247 Umstritten ist jedoch seit jeher, unter welchen Voraussetzungen ausländische Eingriffsnormen zur Anwendung kommen können.248 Schurig sieht in diesem Problem das „eigentliche Schlachtfeld der Meinungen.“249 Unter Geltung der Vorgängervorschrift des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO, dem Art. 7 Abs. 1 EVÜ, wurden im deutschen Internationalen Privatrecht sehr unterschiedliche Anknüpfungsmodelle für ausländische Eingriffsnormen entwickelt. Das EVÜ ermöglichte in Art. 22 Abs. 1 lit. a EVÜ, einen Vorbehalt gegen Art. 7 I EVÜ einzulegen, so dass diese Bestimmung vom Vorbehaltsstaat nicht angewendet zu werden brauchte. Von diesem Vorbehalt hatte neben dem Vereinigten Königreich, Irland, Luxemburg und Portugal auch Deutschland Gebrauch gemacht. Tragender Einwand des Bundesrates gegen die Vorschrift war seinerzeit die befürchtete Rechtsunsicherheit infolge des weiten richterlichen Entscheidungsspielraums.250 Ähnlich lauteten die Erwägungsgründe der britischen Regierung, die zudem noch hohe Kosten für die Beweiserbringung zwingender ausländischer Vorschriften sowie 245

Dies ist bereits in der Vergangenheit mehrfach geschehen. Eine ausführliche Darstellung aller relevanten Theorien fand sich zuletzt u.a. bei Zeppenfeld, S. 36 ff. 246 Von Hoffmann/Thorn, § 10 Rn. 97. 247 Kropholler, IPR, § 52 X, S. 503. 248 Alleine monographisch dazu in jüngerer Zeit: Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts (2005); Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag (2002); Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen im Internationalen Wirtschaftsrecht (2002); Stoll, Eingriffsnormen im Privatrecht (2002); Benzenberg, Die Behandlung ausländischer Eingriffsnormen im Internationalen Privatrecht (2008); Kuckein, Die „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen im deutschen und englischen internationalen Vertragsrecht (2008). 249 Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217 (234). 250 BRat-Drucks. 224/83, S. 2, BTDrucks. 10/503, S. 83. Die Bundesregierung stimmte dem Vorbehalt zwar zu, jedoch ohne sich die Bedenken des Bundesrates zu eigen zu machen, vgl. BTDrucks. 10/503, S. 84.

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die Gefahr von Verfahrensverzögerungen hervorhob.251 Luxemburg befürchtete, dass über Art. 7 EVÜ die allgemeinen Regeln des Übereinkommens unterlaufen werden könnten.252 In den Staaten, die den Vorbehalt des Art. 22 Abs. 1 lit. a EVÜ eingelegt hatten, war die Anwendung ausländischer Eingriffsnormen jedoch keinesfalls unmöglich oder gar untersagt.253 Vielmehr waren dort Rechtsprechung und Lehre dort ausdrücklich aufgerufen, die infolge des Vorbehalts entstandene Lücke im Wege der Rechtsfortbildung zu schließen.254 I. Schuldstatutstheorie und Abwandlungen Der sog. Schuldstatutstheorie zufolge – die bis Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland als herrschend galt – sind Eingriffsnormen von der vertragsrechtlichen Verweisung mit erfasst, gleich ob privat- oder öffentlichrechtlich (sog. Einheitsanknüpfung).255 Die im Einzelfall mitunter schwierige Abgrenzung zwischen privat- und öffentlichrechtlichen Vorschriften wird so vermieden. Voraussetzung für die Beachtung der in Frage stehenden Eingriffsnorm ist neben der Zugehörigkeit zur lex causae nur, dass sie nicht gegen Eingriffsnormen des Forumstaates oder dessen Ordre public verstößt. Zwingende drittstaatliche Normen können als solche keine Berücksichtigung finden, sondern nur im Rahmen des materiellen Rechts faktisch berücksichtigt werden.256 Befürworter der Schuldstatutstheorie argumentierten vorwiegend mit der durch sie erzielten Einheitlichkeit des Rechtsverhältnisses sowie mit Praktikabilitätserwägungen.257 Gegen diese Lehre ist jedoch eingewandt worden, dass die an Parteiinteressen ausgerichteten Kollisionsnormen nur bedingt tauglich seien, über die Anwendung von Normen zu entscheiden, die überwiegend im staatlichen Interesse liegen.258 Hierdurch würde die vertragsrechtliche Verweisung überfrachtet und beeinflussbar, ein Parteiwille unter Umständen sogar fingiert. Die Anknüpfungsregeln des IPR waren jedoch schon nach dem EVÜ und sind es auch weiter nach den Art. 3 ff. Rom I-VO am Parteiwillen ausgerichtet und sollten insofern nicht über die Anwendung von Nor251

North, Contract conflicts, S. 3 (19 f.). Jayme/Kohler, IPRax 1985, 65 (69) m.w.N. 253 Fetsch, S. 58; Kropholler,IPR, § 52 X, S. 508; von Hoffmann/Thorn, § 10 Rn. 98. 254 Siehe zur Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, den Vorbehalt gegen Art. 7 Abs. 1 EVÜ einzulegen BRDrucks. 224/83, S. 1-3; Reithmann/Martiny/Freitag Rn. 495 ff. m.w.N.; dagegen: Bamberger/Roth/Spickhoff, Art. 34 EGBGB Rn. 24. 255 Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, S. 55. 256 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 130. 257 Nachweise bei MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 37. 258 Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (107). 252

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men entscheiden, die primär im öffentlichen Interesse liegen.259 Ausländische öffentliche Interessen durchzusetzen, ohne zu prüfen, ob ihre Beachtung überhaupt gerechtfertigt ist, erschiene geradezu fahrlässig.260 Es ist ferner darauf hingewiesen worden, dass die schematische Anwendung aller Eingriffsnormen der lex causae, dem Grundsatz nach aber auch nur dieser, der heutigen Globalisierung und Liberalisierung des internationalen Wirtschaftsverkehrs nicht mehr gerecht werde.261 Als entscheidende Schwäche der Schuldstatutstheorie gilt, dass sie Eingriffsnormen der lex causae, der lex fori und drittstaatliche Eingriffsnormen dadurch willkürlich ungleich behandelt, dass sie die Interessen des Staates, dessen Rechtsordnung das Vertragsstatut stellt, von vornherein gegenüber den Regelungsansprüchen aller anderen Staaten privilegiert, zu denen das Rechtsverhältnis ebenfalls Bezüge aufweist. Dadurch können die Parteien durch Rechtswahl die Eingriffsnormen bestimmen, denen sie unterworfen sein wollen. Dies läuft der dogmatischen Konzeption und dem Regelungszweck von Eingriffsnormen, nämlich öffentliche Interessen zu gewährleisten, von Grund auf zuwider. Infolgedessen gilt die Schuldstatutstheorie heute als nicht mehr zeitgemäß.262 Auch der (freilich von Deutschland bekanntlich aufgrund des Anwendungsvorbehalts des Art. 22 Abs. 1 lit. a EVÜ nicht ins EGBGB eingefügte) Art. 7 I EVÜ erteilte der reinen Schuldstatutstheorie nach überwiegender Auffassung eine „deutliche Absage“.263 Ungeachtet dessen haben sich diverse Ableger der Schuldstatutstheorie entwickelt, insbesondere in Form der im Folgenden vorzustellenden Datumstheorie, der Machttheorie sowie der Lehre vom Territorialitätsprinzip. 1. Datumstheorie Die ursprünglich auf Currie264 und Ehrenzweig265 zurückgehende Datumstheorie geht (wie die reine Schuldstatutstheorie) zunächst von der maßgeblichen lex causae aus, berücksichtigt aber deren Eingriffsnormen als lokales und tatsächliches Faktum – als sog. „Datum“ – bei der Anwendung von Generalklauseln des materiellen Rechts.266 Sie weist damit zugleich eine

259

Kropholler, IPR, § 52 X 1, S. 504. Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (107). 261 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 131. 262 Gottschalk, IPRax 2006, 509 (512). 263 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 131. 264 Currie, Selected Essays on the Conflict of Laws, S. 66 ff. 265 Ehrenzweig, Buffalo Law Review 16 (1966), 55 ff. 266 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Ansätzen von Currie und Ehrgenzweig findet sich bei Jayme, GS Ehrenzweig, S. 37 (39 ff.). 260

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gewisse Nähe zur Theorie der materiellrechtlichen Berücksichtigung auf, wie ihn auch die deutsche Rechtsprechung verfolgt.267 Die Datumstheorie hat an den Stellen ihre Berechtigung, an denen es innerhalb des Vertragsstatuts zu bestimmen gilt, Tatsachen zu bewerten, wie etwa die Ausländereigenschaft einer Partei oder ihren Wissensstand. So entschied etwa der BGH, dass ein Kreditinstitut einen ausländischen Bürgen vor oder bei Vertragsschluss grundsätzlich nicht über das verbürgte Risiko aufzuklären brauche, es sei denn, dass das Kreditinstitut wegen besonderer Umstände des Einzelfalles davon ausgehen musste, dass der ausländische Bürge über sein Vertragsrisiko nicht hinreichend unterrichtet war und die Verhältnisse nicht durchschaute.268 Im Arbeitsrecht kann sich die Frage stellen, ob und welche Mitarbeiter im Ausland für die Mindestbeschäftigtenzahl eines Betriebes mitgezählt werden, damit Kündigungsschutzvorschriften oder das Betriebsverfassungsrecht greifen.269 Obgleich die Datumstheorie, sofern man sie auf solch tatsächliche Umstände beschränkt, geeignet sein mag, angemessene Aufmerksamkeit auf den Auslandsbezug zu lenken,270 gilt sie als Anknüpfungsmodell hauptsächlich deshalb als ungeeignet, weil sie gänzlich offen lässt, wann und nach welchen Kriterien ausländisches Recht als Datum beachtlich ist.271 Ihre Ergebnisse sind insofern kaum vorhersehbar, sodass eine erhebliche Rechtsunsicherheit droht. 2. Machttheorie Nach der sog. Machttheorie, deren Grundgedanken erstmals von Kegel entwickelt wurden,272 können sowohl Eingriffsnormen einer fremden lex causae als auch dritter Staaten berücksichtigt werden, sofern der rechtsetzende Staat die Macht besitzt, die in Frage stehenden Eingriffsnormen auch durchzusetzen.273 Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das in Frage stehende Rechtsverhältnis der Gesetzgebungs- und Zwangsgewalt des ausländischen Staates unterliegt, beispielsweise weil der Schuldner dort Vermögen besitzt oder die streitige Sache dort belegen ist.274 Die Berücksichtigung erfolgt auch hier auf der materiellrechtlichen Ebene, als Korrektiv soll der Ordre public des Forumstaates herangezogen werden.275 Doch in Einzelfällen soll auch außerhalb der Grenzen des Ordre public 267

Vgl. hierzu unten unter § 5A. II, S. 96. BGH, 15.4.1997, NJW 1997, 3230-3233. 269 BAG, 9.10.1997, NJW 1998, 1661-1662. 270 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 134. 271 Siehr, RabelsZ 52 (1988), 41 (80 f.). 272 Kegel, FS Lewald, S. 145 ff. 273 Soergel/Kegel, vor Art. 7 EGBGB Rn. 396. 274 Von Hoffmann/Thorn, § 10 Rn. 99. 275 Soergel/Kegel, vor Art. 7 EGBGB Rn. 399. 268

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eine Berücksichtigung möglich sein, sofern die politischen und wirtschaftlichen Ziele der fraglichen Eingriffsnorm mit denen des Forumstaates kompatibel sind.276 Der Ansatz der Machttheorie ist ein durchaus gewichtiger Gesichtspunkt bei der Berücksichtigung ausländischen Eingriffsrechts, denn die Frage der praktischen Durchsetzbarkeit kann nicht vollkommen außer Acht gelassen werden. Als Gesamtkonzept hat dieser Ansatz dennoch kaum Anhänger gefunden, weil solche Eingriffsnormen nicht beachtet werden, die der Erlassstaat aus tatsächlichen oder sonstigen Gründen nicht durchzusetzen vermag.277 Denkt man hierbei beispielsweise an Schmuggel- oder Bestechungsverbote, erscheint die Nichtanwendung solcher Vorschriften geradezu unerträglich. Weder Tragweite noch Durchsetzung des ausländischen Eingriffs lassen sich stets aus der Rechtswirklichkeit ablesen. Hinzu kommt, dass es in der Praxis schwierig feststellbar sein kann, ob tatsächlich eine Durchsetzungsmöglichkeit besteht. Somit wird auch das Machtkriterium letztlich entweder als zu unbestimmt oder als zu eng empfunden.278 3. Territorialitätsprinzip Das Territorialitätsprinzip begrenzt Vorschriften des öffentlichen Rechts auf das Gebiet des Erlassstaats. Zugrunde liegt der Gedanke der völkerrechtlichen Souveränität, demzufolge jeder Staat hoheitliche Äußerungen eines anderen Staates zu respektieren hat,279 seinerseits aber die eigenen Hoheitsbefugnisse auch nicht über das staatseigene Territorium hinaus ausübt oder auszuüben versucht. Man unterscheidet zwischen positiver und negativer Wirkung des Territorialitätsprinzips: Die positive Wirkung führt zur Beachtung ausländischer Normen, sofern und insoweit sie in diesem Staat belegene Sachen und Rechte betreffen oder Handlungen, die dort zu vollziehen sind, z.B. Verbotsnormen und Leistungshindernisse, die nicht dem ordre public widersprechen.280 Welche privatrechtlichen Folgen sich aus ihrer (Nicht-)Beachtung ergeben, beantwortet wiederum das Schuldstatut. Unter der negativen Wirkung versteht man die Abwehr extraterritorialer Geltungsansprüche. Nur letztere erkennt der BGH an und hat hieraus die Unanwendbarkeit ausländischen öffentlichen Rechts abgeleitet. 281 Es bleibt bei der Geltung 276

MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 39. Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 133. 278 Soergel/von Hoffmann, Art. 34 EGBGB Rn. 84. 279 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 136. 280 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 38. 281 Vgl. BGH, 11.2.1953, BGHZ 9, 34; BGH, 22.11.1953, BGHZ 12, 79; BGH, 17.12.1959, BGHZ 31, 367 (371); BGH, 27.4.1970, WM 1970, 785 (786); BGH, 16.4.1975, BGHZ 64, 183; BGH, 4.6.2002, NJW 2002, 2389 (2390). 277

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des Schuldstatuts, ausländisches Recht kann nur materiellrechtlich berücksichtigt werden, sofern der Erlassstaat eine Durchsetzungsmöglichkeit besitzt.282 Gegenüber dem Territorialitätsgedanken des öffentlichen oder privaten Rechts wurde kritisch geäußert, dass er zwar im Rahmen des Völkerrechts wertvoll sein könne, im internationalen Privatrecht jedoch weder relevant noch nützlich sei.283 Ausgangspunkt müsse vielmehr die Kollisionsnorm des Gerichtsstaats sein, nicht der Charakter des ausländischen Rechts. Der Geltungsbereich fremden öffentlichen Rechts und seine Anwendung seien zwei grundlegend verschiedene Dinge, die streng auseinander gehalten werden sollten.284 Insofern sei es zwar begrüßenswert, dass mittels des Territorialitätsprinzips unangemessene Geltungsansprüche fremder Staaten abgewehrt werden können. Das Dogma, dass deutsche Gerichte ausländisches öffentliches Recht nicht anwenden dürfen, gilt jedoch mittlerweile als überholt,285 ganz abgesehen davon, dass bereits der Begriff der Territorialität mit Unklarheiten behaftet ist.286 II. Materiellrechtliche Berücksichtigung Mangels Geltung des Art. 7 I EVÜ in der Bundesrepublik verfolgte die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung einen materiellrechtlichen Ansatz:287 Den ausländischen Eingriffsnormen wurde und wird über Einfallstore wie insbesondere Generalklauseln zur Anwendung verholfen. Dabei lagen Fälle zugrunde, in denen deutsches Recht Vertragsstatut war und die Berücksichtigung drittstaatlicher Eingriffsnormen in Frage stand.288 Zu der Frage, ob und wie solche drittstaatlichen Eingriffsnormen auch bei ausländischem Vertragsstatut angewendet würden, gibt es keinerlei Rechtsprechung. In den meisten der bislang ergangenen Entscheidungen zur Wirkungsverleihung ausländischer Eingriffsnormen erfolgte eine Berücksichtigung im Rahmen der Generalklausel des § 138 BGB289. Zumeist lagen Sachverhalte vor, in denen ausländische Embargo-Bestimmungen umgangen wurden und der BGH deshalb einen Verstoß gegen die guten Sitten annahm. § 138 BGB wird in diesen Fällen als einschlägig angesehen, sofern die entsprechende Eingriffsnorm gemeinsamen supranationalen Interessen 282

Hierzu sogleich unter § 5A. II, S. 96. Mann, FS Wahl, S. 145. 284 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 136. 285 Kropholler, IPR, § 52 IX, S. 503; Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 492. 286 MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 420 ff. m.w.N. 287 Siehe die oben in Fn. 45 zitierten BGH-Entscheidungen. 288 Siehe etwa die Übersicht bei Zimmer, IPRax 1993, 65 ff. 289 Vgl. die oben zitierten Entscheidungen „Borax“ und „Nigerianische Masken“, vgl. Fn. 45. 283

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dient.290 Des Weiteren prüft der BGH, ob der fremde Staat in der Lage ist, seine Eingriffsnormen durchzusetzen.291 Voraussetzung ist ferner, dass die in Frage stehende Eingriffsnorm im Wesentlichen und unter Beachtung des Auslandsbezugs deutschen Wertvorstellungen entspricht oder mit diesen vergleichbar ist.292 In anderen (selteneren) Fällen wurde der Weg über § 826 BGB293, den Wegfall bzw. die Störung der Geschäftsgrundlage 294 oder die Unmöglichkeitsregeln295 gewählt. Ein Verstoß gegen § 134 BGB kann in der Verletzung ausländischer Eingriffsnormen hingegen nach herrschender Auffassung nicht gesehen werden, weil diese Normen im Inland unmittelbar keine Verbindlichkeit besitzen.296 Die materiellrechtliche Berücksichtigung hat – wie häufig bei richterlicher Rechtsfortbildung – den Vorteil größtmöglicher Flexibilität. Es kann jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig gemacht werden, ob die ausländische Eingriffsnorm zur Anwendung gebracht wird oder nicht. Umgekehrt ist jedoch kritisiert worden, dass dieser Ansatz keine praktisch handhabbaren abstrakten Kriterien aufzustellen vermag, anhand derer man einen allgemeinen Grundsatz ableiten könnte, wann ausländische Eingriffsnormen berücksichtigt werden sollen.297 Die Ergebnisse des materiellrechtlichen Ansatzes sind deswegen kaum vorhersehbar und bringen der Theorie deshalb zu Recht den Vorwurf der Rechtsunsicherheit ein. Aufgrund der großen Unterschiede zwischen den nationalen Sachrechten ist sie auch dem internationalen Entscheidungseinklang alles andere als zuträglich. Darüber hinaus ist kritisch darauf verwiesen worden, dass die Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen von der Billigung durch das Vertragsstatut abhängig gemacht wird, wohingegen die Entscheidung über eine Berücksichtigung eigentlich dem Kollisionsrecht des Forumstaates obliegt.298 Dies ließe sich zwar mit der Überlegung rechtfertigen, dass der Grund für die Berufung des Vertragsstatuts in den Rechtsanwendungsinteressen der Parteien liegt, die bei der Bewertung nicht vollkommen ausgeblendet werden dürfen. Jedoch bleibt zu beachten, dass die Parteien bei 290

BGH, 8.5.1985, NJW 1985, 2405 (2406); BGH, 17.11.1994, IPRax 1996, 342

(345). 291

BGH, 17.12.1959, NJW 1960, 1101 (1102). Bamberger/Roth/Spickhoff Art. 34 EGBGB Rn. 29 m.w.N. 293 BGH, 20.11.1990, NJW 1991, 634. 294 BGH, 8.2.1984, RabelsZ 53 (1989), 146. 295 BGH, 11.3.1982, BGHZ 83, 197 (201). 296 BGH, 29.9.1977, BGHZ 69, 295 (296); statt vieler Fikentscher/Waibl, IPRax 1987, 86 (86); a.A. Wiese, S. 194. 297 Staudinger/Magnus, Art. 34 Rn. 140; a.A. und für die Anwendung der materiellrechtlichen Berücksichtigung Schäfer, FS Sandrock, S. 37 (52). 298 Soergel/von Hoffmann, Art. 34 EGBGB Rn. 81. 292

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einem materiellrechtlichen Ansatz unliebsame Eingriffsnormen umgehen können, indem sie mittels Rechtswahl die Geltung einer Rechtsordnung vereinbaren, die eben diese Eingriffsnormen ignoriert. Ein weiterer Einwand, den man gegen den materiellrechtlichen Ansatz vorbringen kann, ist, dass Vorschriften wie § 138 BGB oder § 826 BGB von ihrem Regelungszweck her primär dem privatrechtlichen Interessenausgleich verpflichtet sind. Darüber hinausgehende Wertungen enthalten diese Vorschriften nicht – insbesondere sind sie nicht dazu da, öffentliche Interessen zu gewährleisten. Die eingriffsrechtliche Fragestellung von der kollisions- auf die sachrechtliche Ebene zu verlagern, entlastet somit erstere nicht. Im Gegenteil: Eine kollisionsrechtliche Frage auf sachrechtlicher Ebene zu lösen, macht die Problematik als solche in keiner Hinsicht einfacher, überfrachtet dabei aber die sachrechtliche Prüfung. III. Kollisionsrechtliche Sonderanknüpfung Das deutsche299 und auch das westeuropäische Schrifttum300 vertreten seit längerem überwiegend einen kollisionsrechtlichen Ansatz, der eine Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen vorsieht.301 Von richterlicher Seite hingegen hat in Deutschland der Bundesgerichtshof einer kollisionsrechtlichen Lösung mit dem Satz, dass deutsche Gerichte ausländisches öffentliches Recht grundsätzlich nicht anzuwenden hätten, einen Riegel vorgeschoben.302 Im Einzelnen sind die verschiedenen Varianten des Sonderanknüpfungsmodells sehr unterschiedlich,303 so dass eigentlich nicht von einer Sonderanknüpfungslehre gesprochen werden kann.304 Es lassen sich aber wesentliche Grundzüge und Strukturen ausmachen, die im Folgenden nachzuzeichnen versucht werden. Lässt man Unterschiede in Detailfragen außer Betracht, so besteht unter den Vertretern der verschiedenen Sonderanknüpfungsmodelle Einigkeit, dass zumindest folgende Kriterien für die Anwendung einer ausländischen Eingriffsnorm erfüllt sein müssen: Die in Frage stehende Norm muss zunächst einmal als Eingriffsnorm zu qualifizieren sein, insbesondere also 299

Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 21 m.w.N. Vgl. etwa für die unterschiedlichen französischen Konzeptionen die Übersicht mit umfangreichen Nachweisen bei Kösters, S. 81 ff. 301 Begründet von Wengler, ZvglRW 54 (1941), 168 (185); fortgeführt und präzisiert von Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283 ff.; so auch Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 141; MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 41 ff.; Erman/Hohloch, Art. 34 EGBGB Rn. 24. 302 BGH, 17.12.1959, BGHZ 31, 367 (371). 303 Übersicht über die einzelnen Varianten bei Fetsch, S. 21 ff. 304 Zeppenfeld, S. 92; eine Übersicht über die unterschiedlichen Spielarten findet sich auch bei W. Lorenz, FS Jayme, S. 549 (557). 300

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einen entsprechenden Anwendungswillen aufweisen.305 Der streitige Sachverhalt muss weiter eine enge Beziehung zum Erlassstaat der Eingriffsnorm aufweisen. Dieses Kriterium ist freilich von den Vertretern des Ansatzes sehr unterschiedlich mit Leben gefüllt worden: Wengler, der als Begründer der Theorie gilt, ließ die Frage gänzlich offen.306 Überwiegend wird auf Kriterien abgestellt, die auf den Leistungsaustausch307 bezogen sind wie etwa der Erfüllungsort,308 der gewöhnliche Aufenthalt309 bzw. Geschäftssitz einer beteiligten Partei oder die Belegenheit von Vermögen,310 insbesondere bei Immobilien. Schließlich muss eine Interessenwertung seitens des Forumstaates dazu führen, dass die Anwendung der jeweiligen Eingriffsnorm in diesem Staat inhaltlich akzeptabel ist. Ob eine Eingriffsnorm dem letztgenannten Kriterium nur genügt, wenn sie die Interessen des Forumstaates „fördert“311 oder ob eine schlichte Legitimitätsprüfung312 ausreicht, wird uneinheitlich beantwortet. Auch auf Rechtsfolgenseite sind die Sonderanknüpfungsmodelle ausgesprochen heterogen: Während manche die Rechtsfolgen der Eingriffsnorm selbst anwenden,313 plädieren andere dafür, die zivilrechtlichen Rechtsfolgen der lex causae zu entnehmen.314 Ersteres dürfte dabei nur dann praktikabel sein, wenn die Eingriffsnorm die zivilrechtlichen Folgen selbst regelt. Zudem garantiert nur die zweite Lösung die Einheit der Rechtsordnung in Fällen, in denen Eingriffsnormen mehrerer Staaten zur Anwendung kommen.315 Die Vertreter der Sonderanknüpfungslehre verweisen darauf, dass ihr Ansatz dem internationalen Entscheidungseinklang diene und insbesondere die Parteien vor sich widersprechenden Normen schütze.316 Ferner wird darauf verwiesen, dass einzig eine Sonderanknüpfung den comitasGedanken verwirkliche.317 Von all den vertretenen Theorien gilt der kolli305

MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 115. Wengler, ZvglRW 54 (1942), 168 (185 f.). 307 Thorn, Eingriffsnormen, S. 146. 308 So insbesondere im englischen Recht, vgl. Schwander, S. 357 ff.; W. Lorenz, S. 154 ff.; North, IPRax 1988, 257 (258). 309 Soergel/von Hoffmann, Art. 34 EGBGB Rn. 95; MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 126. 310 Soergel/von Hoffmann, Art. 34 EGBGB Rn. 95; MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 127. 311 So Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, S. 92 ff. 312 So Schnyder, Wirtschaftskollisionsrecht, Rn. 232 ff., 283 ff. 313 Wengler, ZvglRW 54 (1941), 168 (205, 212). 314 Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283 300 f. 315 Zeppenfeld, S. 94. 316 Vgl. dazu ferner Drobnig, Comments on Art. 7, S. 82 (83); a.A. Mann, FS Wahl, S. 157 ff.; ders., FS Beitzke, S. 620 f. 317 Wengler, ZvglRW 54 (1941), 168 (181 f.) 306

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sionsrechtliche Weg der Sonderanknüpfung gemeinhin als der dogmatisch überzeugendste Ansatz.318 Als Theorie, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Mitgliedstaaten verfolgt wird, kann man die Sonderanknüpfungslehre fast als europäische Lösung319 bezeichnen. Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass in Zeiten zunehmender Wirtschaftsintegration einzig ein solcher Ansatz einen Kompromiss zwischen internationalem Entgegenkommen und nationaler Interessenwahrung bieten könne.320 Obgleich ihre Vertreter darauf beharren, die Sonderanknüpfungslehre habe noch nie zu unangemessenen Ergebnissen geführt,321 wenden Kritiker hiergegen ein, dass sie in besonderem Maße Rechtsunsicherheit befördere: Neben dem auslegungsbedürftigen Begriff der Eingriffsnorm – um dessen Definition die übrigen Theorien auch nicht herumkommen – beinhaltet die Sonderanknüpfungslehre mit dem zentralen Merkmal der „engen Verbindung“ ein weiteres Kriterium, das mit vielerlei Unwägbarkeiten behaftet ist. Ferner lässt sich mithilfe der Sonderanknüpfungslehre internationaler Entscheidungseinklang nur im Verhältnis zum Erlassstaat der Eingriffsnorm erreichen und auch dort nur, solange die Verfolgung von Unionsinteressen nicht harmonisiert ist – wenn das überhaupt möglich ist.322 Die Gefahr des Sonderanknüpfungsmodells besteht außerdem darin, dass Rechtsordnungen für ihre Interventionsfreudigkeit belohnt werden können: Je mehr Normen eine Rechtsordnung mit einem internationalen Anwendungsbefehl versieht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine so geschaffene Eingriffsnorm von einem fremden Forum berücksichtigt wird. Dies schafft Anreize zu stärkerer nationaler Regulierung und widerstrebt damit insbesondere dem europäischen Integrationsprozess.323 IV. Kumulationstheorie Obwohl Schuldstatutstheorie und Sonderanknüpfungslehre einander eigentlich zu widersprechen scheinen, hat sich eine Kombination aus beiden entwickelt, die deshalb als Kombinationslehre oder Kumulationstheorie bezeichnet wird.324 Dieser Auffassung zufolge erfolgt die Berufung von Eingriffsrecht der lex causae aufgrund der allgemein-vertragsrechtlichen Verweisungsnorm, also gemäß der Schuldstatutstheorie. Die Anwendung der Eingriffsnorm erfolgt nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur lex causae, 318

Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 136 ff. m.w.N. Gottschalk, IPRax 2006, 509 (512). Vgl. ferner die Entstehungsgeschichte und Rechsprechungsnachweise bei Plender/Wilderspin, Rn. 12-020 ff. 320 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 47. 321 Gottschalk, IPRax 2006, 509 (512). 322 Von Bar/Mankowski, § 4 Rn. 110 m.w.N. 323 Von Bar/Mankowski, Rn. 110. 324 Siehr, RabelsZ 52 (1988), 41 (96 f.). 319

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ohne dass weitere Vorrausetzungen vorliegen müssen. Drittstaatliche Eingriffsnormen sowie solche der lex fori hingegen werden nach den Grundsätzen der Sonderanknüpfungslehre zur Anwendung gebracht,325 das heißt also, es müssen noch weitere Voraussetzungen erfüllt sein wie etwa eine enge Verbindung des Sachverhalts zum Erlassstaat der Eingriffsnorm. Gegen die Kombinationslehre ist zutreffenderweise angeführt worden, dass sie die an der Schuldstatuts- und Sonderanknüpfungstheorie erkannten Defizite nicht löst, sondern schlimmer noch kumuliere: Bei doppelfunktionalen Eingriffsnormen, die zugleich öffentlichen und privaten Interessen dienen, stößt sie auf dieselben Abgrenzungsschwierigkeiten wie die Sonderanknüpfungslehre.326 Die bereits erörterten grundsätzlichen Einwände gegen die Schuldstatutstheorie vermag auch sie nicht zu beseitigen:327 Eine Erklärung, warum die Anknüpfungsmomente des Vertragsstatuts zur Erfassung von Eingriffsrecht taugen sollen, bleibt sie schuldig. Ihre Vertreter verkennen, dass sich Einheits- und Sonderanknüpfung vom Grundgedanken her unüberwindbar ausschließen:328 Eine Eingriffsnorm einzig deshalb anzuwenden, weil sie der lex causae entstammt, daneben aber auch vom Vertragsstatut losgelöste Anknüpfungspunkte für erforderlich zu halten, ist inkonsequent.329 Auch sind die methodischen Ansätze beider Theorien grundverschieden. Während die Schuldstatutstheorie streng allseitig die Rechtsanwendungsfrage vom Lebenssachverhalt her stellt, knüpft die unilateralistische Sonderanknüpfungstheorie vom Gesetz her an. Somit schließen sich die hier kumulierten Ansätze auch methodisch aus.330 B. Wirkungsverleihung in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO In Anbetracht des offenen Wortlautes wird im Folgenden erörtert, ob die Wirkungsverleihung, von der in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO die Rede ist, einem der herkömmlichen Anknüpfungskonzepte für ausländische Eingriffsnormen zumindest in Teilen folgt oder ob die Vorschrift ein gänzlich neues Anknüpfungsmodell vorsieht. I. Absage an die Schuldstatutstheorie und das Territorialitätsprinzip So ambivalent die Formulierung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO auch sein mag, so deutlich schließt der Wortlaut der Vorschrift eine Anknüpfung zumindest nach der reinen Schuldstatutstheorie aus. Abgesehen von den 325

Siehr, 41 (96 f.). Fetsch, S. 36. 327 Zeppenfeld, S. 100; vgl. zu den Einwänden gegen die Schuldstatutsheorie oben unter § 5A. I, S. 92. 328 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 43; Fetsch, S. 36. 329 Schubert, RIW 1987, 729 (736). 330 Zeppenfeld, S. 101. 326

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grundsätzlichen Bedenken, die gegen diesen Ansatz vorgebracht worden sind,331 rekurriert der Normtext des Absatz 3 gerade nicht auf das Vertragsstatut, sondern stellt Kriterien auf, bei deren Vorliegen ausländisches Eingriffsrecht berücksichtigungsfähig ist. Dies macht deutlich, dass der europäische Gesetzgeber endgültig die Zweispurigkeit des Kollisionsrechts anerkennt: Neben dem an Parteiinteressen orientierten allgemeinen Anknüpfungssystem der Art. 3 ff. Rom I-VO besteht eine zweite an ordnungspolitischen Interessen orientierte Schiene – eben das Eingriffsrecht.332 Indem die reine Schuldstatutstheorie nur Eingriffsnormen der lex causae für beachtlich erklärt, negiert sie eben diese zweite Schiene. Da auch Art. 7 Abs. 1 EVÜ Anknüpfungskriterien für ausländisches Eingriffsrecht normierte, konnte die reine Schuldstatutstheorie in Deutschland schon seit der IPR-Reform von 1986 nur infolge dessen noch vertreten werden, dass Deutschland den Vorbehalt nach Art. 22 Abs. 1 lit. a EVÜ eingelegt hatte und sich der Regelungsgehalt des Art. 34 EGBGB (Art. 7 Abs. 2 EVÜ) auf die Eingriffsnormen der lex fori beschränkte. Da die Rom I-Verordnung keine solche Vorbehaltsmöglichkeit mehr vorsieht, ist die reine Schuldstatutstheorie mit Inkrafttreten der Rom I-Verordnung endgültig obsolet geworden. Ebenso überholt ist unter Geltung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO das Territorialitätsprinzip, liegt ihm doch der überholte Ausgangsgedanke der Unanwendbarkeit ausländischen öffentlichen Rechts vor deutschen Gerichten zugrunde.333 Darüber hinaus ist die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht für die Frage der Anwendbarkeit einer Eingriffsnorm wie bereits erörtert334 kein taugliches Kriterium, zumal eine solche Qualifikation für manche Rechtsätze kaum möglich ist, in anderen Fällen einheitliche Lebenssachverhältnisse willkürlich zerschneidet – so etwa im Arbeitsrecht.335 II. Bedenken gegen die Datums- und die Machttheorie Weniger eindeutig ist indes, ob auch die beiden weiteren Spielarten der Schuldstatutstheorie, namentlich die Datums- und die Machttheorie, nunmehr verworfen werden können. Der Begriff „Wirkungsverleihung“ ist ein untechnischer und ausgesprochen weiter Ausdruck, der offen lässt, ob es sich bei den ausländischen Eingriffsnormen, deren Wirkungsverleihung in Rede steht, um Rechtswirkungen handelt, oder ob sie lediglich als fakti331

Vgl. hierzu unter § 5A. I, S. 92. Roth, FS Kühne, S. 850 (860, 879). 333 Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 11. Ebenso schon zu Art. 34 EGBGB Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 138. 334 Vgl. oben unter § 1B. II, S. 8. 335 Vgl. Zeppenfeld, S. 40. 332

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scher Umstand auf sachrechtlicher Ebene berücksichtigt werden können.336 Letzteres würde der Datumstheorie durchaus nahe kommen. Unabhängig davon wie man diese Frage beantwortet,337 sprechen aber gegen die Datumstheorie als Anknüpfungsmodell dieselben Einwände, die gegen die Schuldstatutstheorie vorgebracht werden: Der Ansatz, ausschließlich Eingriffsnormen der lex causae für berücksichtigungsfähig zu halten, ist im heutigen internationalen Wirtschaftsverkehr, dem das Konzept des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Rechnung trägt, nicht mehr tragbar. Somit lässt sich auch der Ansatz der Datumstheorie nicht mit dem Konzept der Wirkungsverleihung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO vereinbaren, ganz unabhängig davon, dass auch dieses Modell kein schlüssiges Gesamtkonzept darstellt, da es keinerlei vorhersehbare Kriterien aufstellt, bei deren Vorliegen ausländisches Eingriffsrecht berücksichtigungsfähig ist und dadurch mit erheblicher Rechtsunsicherheit belastet ist.338 In der Literatur ist in ersten Stellungnahmen und Kommentaren zur Rom I-Verordnung wiederholt behauptet worden, Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO folge der Machttheorie. 339 Ob diese Aussage tatsächlich zutreffend ist, erscheint einigermaßen zweifelhaft, sie dürfte jedoch zumindest missverständlich sein, da die Machttheorie in durchaus unterschiedlichen Varianten vertreten wird und kein einheitliches Konzept zu liefern vermag: Versteht man die Machttheorie von ihrem Ausgangspunkt her als eine Spielart der Schuldstatutstheorie,340 so würde das bedeuten, dass lediglich Eingriffsnormen des auf den Vertrag anwendbaren Rechts berücksichtigungsfähig sind und zwar nur unter der Voraussetzung, dass der ausländische Staat, der sie erlassen hat, die Macht besitzt, sie durchzusetzen. Im Ergebnis bedeutet die Machttheorie nach diesem Verständnis also nichts anderes als eine Restriktion der Schuldstatutslehre. Dass dieser Ansatz aber überholt ist, wurde soeben dargelegt.341 Wenn überhaupt, so ist die Machttheorie nur unter der Voraussetzung vertretbar, dass man unter diesem Ansatz ein Modell versteht, das vom Gedanken der Schuldstatutstheorie losgelöst verstanden werden kann. Die Machttheorie wäre nach einem solchen Verständnis eher eine Variante der Sonderanknüpfungslehre und das Kriterium der „Macht“ würde darüber entscheiden, ob das ausländische Eingriffsrecht angewendet werden kann. Dann aber stellt sich die Frage, was unter diesem reichlich vagen Begriff 336

Pfeiffer, EuZW 2008, 622 (628); Kindler, S. 69; Einsele, WM 2009, 289 (296). Hierzu sogleich unter § 5B. III, S. 105. 338 Vgl. hierzu unter § 5A. I.1, S. 93 sowie Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 135. 339 Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 12; Mankowski, IHR 2008, 133 (147); Freitag, IPRax 2009, 109 (116). 340 Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 132. 341 Vgl. unter § 5B. I, S. 101. 337

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der „Macht“ zu verstehen ist. Es sind zwei Ansätze denkbar: Man könnte lediglich auf die Eingriffsnormen rekurrieren, die der ausländische Staat durchgesetzt hat oder mit Gewissheit durchsetzen wird. Setzt nun aber der normsetzende Staat seine Eingriffsnormen aus faktischen oder sonstigen Gründen nicht durch – man denke etwa an die bereits in diesem Zusammenhang angesprochenen Schmuggel- oder Bestechungsverbote342 –, so sind die entsprechenden Vorschriften nach diesem Verständnis nicht berücksichtigungsfähig, obgleich ihre Anwendung durchaus geboten wäre.343 Infolgedessen kommt allenfalls ein Verständnis der Machttheorie in Betracht, das darauf abstellt, dass der Erlassstaat die Hoheitsrechte im Geltungsbereich der Norm innehat und insbesondere die Legislativ- und Zwangsvollstreckungsmacht innehat. In diesem Sinne spiegelt sich in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ein der Machttheorie innewohnender Gedanke wider, dass nach der neuen Vorschrift lediglich das ausländische Eingriffsrecht – und auch nur dieses – zur Anwendung kommen soll, dessen Einfluss auf den Vertrag ohnehin nicht zu verhindern ist. Hierin kommt einmal mehr die englische Handschrift deutlich zum Vorschein.344 Die Aussage, Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO folge der Machttheorie, ist in Anbetracht der Vielschichtigkeit dieses Ansatzes dennoch zumindest missverständlich, ganz abgesehen davon, dass machttheoretische Überlegungen nicht unbedingt ein kollisionsrechtlich berücksichtigungswürdiges Kriterium darstellen:345 Die eigentliche kollisionsrechtliche Frage, nämlich die nach der Gültigkeit der Eingriffsnorm außerhalb des normsetzenden Staates, lässt die Machttheorie gerade offen.346 Damit beraubt sich zugleich der Forumstaat einer eigenen entsprechenden kollisionsrechtlichen Wertung, indem er die Entscheidung über die Anwendbarkeit der jeweiligen Eingriffsnorm vom Erlassstaat abhängig macht.347 Dadurch aber, dass Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO dem Gericht des Forumstaates ausdrücklich die Aufgabe zuweist, die Folgen der Anwendung oder Nichtanwendung des ausländischen Rechtsatzes vorzunehmen, wird deutlich, dass diese Frage gerade nicht in die Hände des Erlassstaates gelegt werden kann. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Struktur und das hinter Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO stehende Wertungsbild eine gewisse Nähe zum Grundgedanken der Machttheorie aufweist. Eine umfassende sachgerechte Behandlung des Phänomens der Anwendung ausländischen Eingriffsrechts vermag dieser Ansatz jedoch weder zu liefern noch stimmt das Konzept 342

Vgl. oben unter § 5A. I.2, S. 94. Staudinger/Magnus, Art. 34 EGBGB Rn. 133. 344 Mankowski, IHR 2008, 133 (148). 345 So im Ergebnis auch Wiese, S. 190. 346 Zeppenfeld, S. 87. 347 Sonnenberger, FS Rebmann, S. 819 (831). 343

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des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO als solches mit der Machttheorie – in welcher Spielart auch immer – überein. III. Sonderanknüpfung ausländischer Eingriffsnormen unter den besonderen Voraussetzungen des Tatbestands von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO In Anbetracht dessen, dass Art. 9 Rom I-VO wie gesehen weder der reinen Schuldstatutstheorie noch einer ihrer Abwandlungen folgt, verbleiben von den herkömmlichen Anknüpfungsmodellen lediglich noch die Sonderanknüpfungslehren sowie die Theorie der materiellrechtlichen Berücksichtigung. Es gilt also nochmals der bereits aufgeworfenen Frage nachzugehen, ob mit der Wirkungsverleihung, von der in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO die Rede ist, echte Rechtswirkungen der Eingriffsnormen gemeint sind (so der Sonderanknüpfungsgedanke) oder ob das ausländische Eingriffsrecht nur als Tatsache auf faktischer Ebene im Rahmen der Anwendung des Vertragsstatuts berücksichtigt werden kann (so der materiellrechtliche Ansatz). Der praktische Unterschied zwischen beiden Modellen besteht insbesondere in Folgendem: Wird die ausländische Eingriffsnorm nur als faktischer Umstand auf sachrechtlicher Ebene berücksichtigt, so sind insbesondere die Rechtsfolgen nicht dem ausländischen Eingriffsrecht selbst, sondern eben dem jeweils angewandten Sachrecht zu entnehmen. Nimmt man beispielsweise im deutschen Recht an, ein Vertrag sei nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig, weil eine ausländische Eingriffsnorm die Ausfuhr eines Kulturgutes verbietet,348 so ordnet § 138 Abs. 1 BGB auch die Rechtsfolge an, nämlich die Nichtigkeit des Vertrages. Man spricht im englischsprachigen Rechtskreis in diesem Fall durchaus plastisch von einer indirect application der ausländischen Eingriffsnorm.349 Nimmt man hingegen an, es handle sich bei der „Wirkungsverleihung“ nach Absatz 3 um echte Rechtswirkungen, so wird die ausländische Eingriffsnorm so angewandt, wie man sie vorfindet bzw. wie es der ausländische Richter tun würde, man entnimmt ihr also auch die Rechtsfolge und es erfolgt eine sog. direct application. Ist die vom ausländischen Eingriffsrecht vorgesehene Rechtsfolge nicht mit der lex causae kompatibel, ist eine Anpassungslösung350 unumgänglich. Indem Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO nun aber den Begriff der Wirkungsverleihung erstmals einführt, wird die Frage, ob hierunter eine Anwendung oder aber nur eine Berücksichtigung zu verstehen sein soll, gerade offen gelassen. Dass der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO zumindest auch – wenn auch nicht ausschließlich – eine direct application ermöglicht, sondern vielmehr beide Wege mit dem Wortlaut vereinbar 348

So die Konstellation im Nigerianischen Maskenfall, vgl. oben Fn. 33. Ausführlich Chong, JprivIntL Vol. 2 (2006), 27 (40 ff.). 350 Vgl. hierzu von Hoffmann/Thorn, § 6 Rn. 31-37. 349

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sind,351 folgt aus Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO: Hier wird die „Wirkungsverleihung“ nämlich unmittelbar mit den „Folgen …(der) Anwendung oder Nichtanwendung“ in Zusammenhang gesetzt. Die Anordnung, dass der entscheidende Richter eben diese Folgen bei der Anwendung ausländischen Eingriffsrechts berücksichtigen muss, zeigt, dass die Vorschrift eine kollisionsrechtliche Lösung zumindest unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht.352 Denn eine Vorschrift „anzuwenden“ meint mehr als die bloße Berücksichtigung auf sachrechtlicher Ebene353 – es geht nämlich gerade um eine normative Wahrnehmung des fremden Rechtssatzes und nicht nur um die Bewertung tatsächlicher Verhältnisse.354 Obgleich es wie gesehen denkbar ist, den Terminus der Wirkungsverleihung so zu verstehen, dass eine Anwendung der Norm im oben beschriebenen Sinne – und damit eine kollisionsrechtliche Sonderanknüpfung – erfolgen kann, darf nicht außer Acht bleiben, dass die bewusst offene Formulierung eine Berücksichtigung – und damit eine materiellrechtliche Lösung – zumindest nicht ausschließt. Sinn und Zweck dieser vorsichtigen Formulierung dürfte sein, dass der Richter nicht zwingend die Rechtsfolgen der ausländischen Eingriffsnorm übernehmen muss, sondern ihrem Regelungsgehalt notfalls auch auf anderem Wege Rechnung tragen können soll. Dogmatisch überzeugender ist indes zweifelsohne der kollisionsrechtliche Weg der Sonderanknüpfung. Er ist rechtspolitisch sinnvoll, denn nur so wird die ausländische Eingriffsnorm unmittelbar und ohne Substitution zur Geltung gebracht.355 Ein vergleichbares Vorgehen findet im Übrigen auch im Internationalen Zivilverfahrensrecht im Rahmen der Anerkennung ausländischer Urteile im Inland statt (vgl. Art. 33 Brüssel I-VO): Nach der herrschenden und auch vom EuGH356 vertretenen sog. Theorie der Wirkungserstreckung kommen der anzuerkennenden ausländischen Entscheidung – vorbehaltlich einer Ordre public Kontrolle – die gleichen Wirkungen zu wie im Urteilsstaat.357 Hieraus lässt sich ableiten, dass eine vergleichbare Vorgehensweise auch bei der Anwendung ausländischen Eingriffsrechts durchaus möglich ist.358

351 So auch Freitag, IPRax 2009, 109 (114); a.A MünchKommBGB/Martiny, Rom IVO Art. 9 Rn. 118 sowie MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 54. 352 So auch Pfeiffer, EuZW 2008, 622 (628). 353 Kegel/Schurig, S. 156. 354 Wiese, S. 193. 355 Freitag, IPRax 2009, 109 (114). 356 EuGH, 4.2.1988, Rs. C 145/86 – „Hoffmann/Krieg“, EuGHE 1988, S. 645 Rn. 11. 357 Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 33 Brüssel I-VO Rn. 3; Geimer/Schütze/Geimer, Art. 33 Brüssel I-VO Rn. 1; Kropholler, EuZPR, Vor Art. 33 Brüssel I-VO Rn. 9. 358 In diesem Sinne Freitag, IPRax 2009, 109 (114).

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Entscheidend für die Sonderanknüpfung spricht letztlich das bereits oben erwähnte Argument,359 dass einzig dieser Ansatz das kollisionsrechtliche Problem der Anwendung ausländischen Eingriffsrechts auch kollisionsrechtlich löst, die Theorie der materiellrechtlichen Berücksichtigung hingegen die Frage auf die sachrechtliche Ebene verlagert, wo sie methodisch nicht passt. Damit steht fest: Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ermöglicht eine echte kollisionsrechtliche Sonderanknüpfung. Mit den Kriterien, die sich als gemeinsamer roter Faden der herkömmlich vertretenen Sonderanknüpfungslehren herauskristallisiert hatten und die oben skizziert wurden,360 hat diese Sonderanknüpfung indes nicht mehr viel gemein. Die Sonderanknüpfung kann nämlich nur unter der Voraussetzung erfolgen, dass die oben dargestellten ausgesprochen restriktiven Voraussetzungen des Tatbestandes von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO erfüllt sind. Wendet man dieses Anknüpfungsmodell auf klassische Bereiche des Eingriffsrechts wie das Außenwirtschaftsrecht oder den Kulturgüterschutz an, so zeigt sich, dass unter Geltung der Rom I-VO weder das US-amerikanische Exportverbot in der Borax-Entscheidung noch das nigerianische Ausfuhrverbot im Maskenfall einer Sonderanknüpfung zugänglich wäre: Im Borax-Fall lag der Erfüllungsort nämlich in Dänemark, das kein entsprechendes Verbot erlassen hatte. Im Maskenfall, in dem bekanntlich nicht über den Kaufvertrag über die Masken, sondern über einen ihren Seetransport versichernden Vertrag entschieden wurde, würde eine Sonderanknüpfung nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO schon daran scheitern, dass sich der Erfüllungsort bei einem Versicherungsvertrag nicht bestimmen lässt. Damit stellt sich die Anschlussfrage, ob die vom Wortlaut wie gesehen nicht ausgeschlossene, aber dogmatisch-methodisch fragwürdige materiellrechtliche Berücksichtigung weiterhin erfolgen kann. C. Sperrwirkung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO? In Anbetracht der engen Tatbestandsvoraussetzungen stellt sich somit die Frage, ob Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO eine Sperrwirkung dergestalt zukommt, dass eine Anknüpfung ausländischer Eingriffsnormen bei Nichtvorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des Absatz 3 in jedem Fall ausscheiden muss. Die Frage ist in hohem Maße umstritten.361 Es sind grundsätzlich drei Möglichkeiten denkbar: eine enge Auslegung des Art. 9 Abs. 3 Rom IVO, die zur absoluten Sperrwirkung führen würde, eine weite Auslegung

359

Vgl. oben unter § 5A. III, S. 98. Vgl. oben unter § 5A. III, S. 98. 361 Brödermann, NJW 2010, 807 (812); Leible, Neue Perspektiven im Europäischen Kollisionsrecht, S. 66; Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 310. 360

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sowie ein zweistufiges Modell, das den Sonderanknüpfungsansatz und den materiellrechtlichen Gedanken verbindet. I. Enge Auslegung des Absatz 3 mit der Konsequenz absoluter Sperrwirkung Die engste Auffassung geht von einer absoluten Sperrwirkung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO aus: Einer Sonderanknüpfung seien ausschließlich die Normen des Erfüllungsortsstaates zugänglich, die zur Nichtigkeit des Vertrages führen – und nur diese.362 Andere forumsfremde Eingriffsnormen könnten unter keinen Umständen zur Anwendung kommen, sei ihre Verbindung auch noch so eng. Dieses Ergebnis wird zwar im kontinentaleuropäischen Schrifttum für unbefriedigend gehalten – Mankowski spricht gar von einem „Rückschritt gleichsam in die Steinzeit des IPR“ – es wird aber als unliebsame Folge des Umstandes gesehen, dass sich mit dem englischen Verständnis die Vertreter einer möglichst unlimitierten Parteiautonomie durchgesetzt hätten. Nimmt man eine solch absolute Sperrwirkung an, so beantwortet sich die Frage, ob und auf welche Art und in welchem Umfang die fehlende Eignung ausländischer Eingriffsnormen zur „Wirkungsverleihung“ ihre sonstige Beachtung hindert363 gewissermaßen von alleine: Eine materiellrechtliche Berücksichtigung ausländischen Eingriffsrechts wie von deutschen Gerichten seit jeher praktiziert wäre nicht mehr möglich. Bei der Bestimmung der Frage, ob das deutsche Sittenverständnis die Nichtigkeit eines Vertrags erfordert, dürfte somit die Wertung einer ausländischen Eingriffsnorm nicht mehr einfließen, denn eben dies würde eine solche „Wirkungsverleihung“ i.S.v. Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO bedeuten und die Voraussetzungen der Norm damit unterlaufen. Nach diesem (englisch geprägten) Verständnis dient ausländisches Eingriffsrecht in anderen Worten nur dazu, dass die Parteien einen Vertrag nicht erfüllen müssen, wenn dessen Durchführung am Erfüllungsort illegal wäre.364 Es überrascht wenig, dass diese restriktive Sicht insbesondere von englischen Autoren geteilt wird mit dem Argument, dass der Vertrag schlussendlich primär der maßgeblichen lex causae unterliege und möglicherweise ohnehin schon über den Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO statutsfremdes Recht systemwidrig auf das Vertragsverhältnis einwirke.365 Insofern sei jede darüber hinausgehende Einwirkung – wie sie Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ermögliche – so klein wie möglich zu halten. 362

Mankowski, IHR 2008, 133 (148). Freitag, IPRax 2009, 109 (115). 364 Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 294. 365 Plender/Wilderspin, Rn. 12-032. 363

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Führt man sich die Konsequenzen dieser Auslegung für die typischen Anwendungsbereiche vor Augen, so zeigt sich, dass zumindest Eingriffsrecht in Form von Importverboten sowie die Fälle „sozialer Eingriffsnormen“ (Mindestvergütungsvorschriften, Preisrecht etc.) anknüpfungsfähig sind.366 Die klassischen Eingriffsnormen in Form von Ausfuhrverboten wie im Borax- und im Maskenfall hingegen könnten nach dieser Ansicht nicht mehr beachtet werden. II. Weite Auslegung des Absatz 3 Um auch die klassischen Anwendungsbereiche des ausländischen Eingriffsrechts kollisionsrechtlich berücksichtigen zu können, ist im Schrifttum in Erwägung gezogen worden, den Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 Rom IVO nicht all zu eng auszulegen, sondern gewissermaßen als den „politischen Mindestkonsens“367 zu verstehen.368 Nach diesem Verständnis wäre die Berücksichtigung von Eingriffsnormen des Erfüllungsorts, die zur Unrechtmäßigkeit des Vertrages führen, nur als „aktuelles Beispiel“ zu verstehen, dem jedoch nicht die Wirkung eines echten Tatbestandsmerkmales zukäme. Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO würde demnach nur Anhaltspunkte für die Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen liefern, im Einzelfall könnten aber auch Vorschriften, die sich nicht unter die Vorschrift subsumieren lassen, unter anderen – noch zu entwickelnden Kriterien – angeknüpft werden. Gewonnen wäre nach dieser Sichtweise durch den neu eingeführten Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO nicht viel: Rechtsprechung und Lehre wären demnach weiterhin aufgerufen, Kriterien zu entwickeln, bei deren Vorliegen eine ausländische Eingriffsnorm angewendet werden könnte.369 III. Zweistufige Lösung Eine zwischen diesen beiden Extrempositionen vermittelnde Auffassung, der das deutsche Schrifttum zuzuneigen scheint,370 geht von einer zweistufigen Lösung aus: Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO entfaltet zwar eine Sperrwirkung im Sinne der erstgenannten Ansicht, die eine enge Auslegung vorsieht. Einer kollisionsrechtlichen Sonderanknüpfung sind demnach tatsächlich nur Eingriffsnormen des Erfüllungsortes zugänglich (erste Stufe). Erfülle eine Vorschrift den Tatbestand jedoch nicht, so bleibe auf einer zwei366

Einsele, WM 2009, 289 (296). Vgl. Freitag, IPRax 2009, 109 (115), der allerdings im Ergebnis für die vorgenannte Ansicht und damit die absolute Sperrwirkung plädiert. 368 So etwa Heiss/Loacker, JBl. 2007, 613 (644). 369 Vgl. hierzu oben unter § 5A. III, S. 98. 370 Freitag, IPRax 2009, 109 (115); Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 651; Einsele, WM 2009, 289 (296); wohl auch MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 118 ff.; a.A. hingegen Staudinger, AnwBl. 2008, 8 (12). 367

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ten Stufe eine materiellrechtliche Berücksichtigung – wie sie vom BGH vorgenommen wird – ohne Weiteres möglich. Zumindest in den Fällen, in denen die faktische Wirkung einer ausländischen Eingriffsnorm die tatsächliche Durchsetzung oder auch nur deren Androhung die Vertragserfüllung unmöglich oder unzumutbar mache (vgl. im deutschen Recht insbesondere die §§ 275 und 313 BGB), dürfe das ausländische Eingriffsrecht nicht nur, sondern müsse sogar angewendet werden.371 Unter welchen Voraussetzungen das jeweilige nationale Schuldrecht eine Leistung als sittenwidrig oder unmöglich ansehe, dürfe die Rom I-VO weder regeln noch wolle sie es.372 Es wird ferner darauf verwiesen, dass sich der Begriff „Wirkungsverleihung“ bereits in Art. 7 I EVÜ (sowie in einigen weiteren Staatsverträgen)373 fand und der Guiliano/Lagarde-Bericht hierzu bemerkte, dass „die Worte ,Wirkung verleihen’ den Richter vor die sehr schwierige Aufgabe stellen, die zwingenden Bestimmungen mit dem Recht in Einklang zu bringen, das bei dem gegebenen Sachverhalt normalerweise auf den Vertrag anwendbar ist“.374 Hieraus wurde geschlossen, dass zumindest für Folgefragen wie die etwaige Nichtigkeit und die Vertragsabwicklung die lex causae heranzuziehen sei, der Eingriffsnorm sei nur die sog. „primäre“ Rechtsfolge – z.B. ein Verbot – zu entnehmen.375 Diese Wertung sei auf Art. 9 Rom I-VO zu übertragen, da der Begriff Wirkungsverleihung wortgleich aus dem EVÜ übernommen worden sei. Die Vertreter dieser vermittelnden Auffassung versuchen somit letztlich, die offene und unscharfe Formulierung der „Wirkungsverleihung“ ergebnisorientiert für ihre Zwecke zu nutzen: Wann immer möglich und sinnvoll soll die methodisch vorzugswürdige Sonderanknüpfung verwirklicht werden. Lassen sich auf diesem Wege in Anbetracht der Restriktionen des Wortlauts von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO die gewünschten Ergebnisse nicht erzielen, so wird der Weg durch die materiellrechtliche Hintertür bemüht. IV. Stellungnahme Der Streit darüber, welches der vorgestellten Anknüpfungsmodelle sich mit Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO vereinbaren lässt, ist sehr von ergebnisorientiertem Denken dergestalt geprägt, dass die jeweiligen Vertreter der bisherigen Ansichten versuchen, die nicht eindeutig festgelegte Rechtsfolge des 371

Freitag, IPRax 2009, 109 (115). Einsele, WM 2009, 289 (296). 373 Vgl. Art. 18 Haager StellvertrÜbk. von 1978; Art. 16 Abs. 1 Haager Trust-Übk. von 1985. 374 Giuliano/Lagarde, ABl. EG 1980 Nr. C 282, S. 1 (26). 375 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 121; Lando/Nielsen, ComMLRev 45 (2008), 1687 (1716 f.); Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 312. 372

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Absatz 3 im Sinne ihres jeweiligen althergebrachten Anknüpfungsmodells zu deuten: Das englische Schrifttum376 und auch die britische Politik377 sind davon überzeugt, dass die herkömmliche englische Doktrin der RalliEntscheidung und der nachfolgend ergangenen Rechtsprechung in Art. 9 Abs. 3 konsequent fortgeführt, wenn nicht gar verbessert worden sei. Schließlich werde so einerseits das bewährte Ralli-Prinzip übernommen und durch das Entfallen der Vorbehaltsklausel, die gegen Art. 7 I EVÜ eingelegt werden konnte, sei an Rechtssicherheit dazugewonnen worden.378 In Anbetracht dessen wird Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO als eine gelungene und ausgewogene Lösung betrachtet und die restriktive Auslegungsvariante auch nicht ernsthaft in Frage stellt. Schließlich sei Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ein „satisfactory outcome to the negotiations on this provisions“.379 Konträr hierzu ist das Stimmungsbild im von Deutschland und Frankreich geprägten kontinentaleuropäischen Schrifttum. Dort herrscht vielmehr die Ansicht vor, Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO schränke die Möglichkeit, forumsfremden Eingriffsnormen im Inland Wirkung zu verleihen, ganz erheblich und in rechtspolitisch inakzeptablem Umfang ein.380 Demzufolge sind die beiden Ansätze, Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO weit auszulegen oder den engen Wortlaut durch die zweistufige Lösung zu weiten, erkennbar von dem kontinentaleuropäischen Bestreben geprägt, trotz des als unbefriedigend empfundenen Wortlautes zu den gewünschten Ergebnissen zu gelangen. Dabei erweist sich freilich der Ansatz, Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO weit auszulegen, als schlichtweg nicht gangbar: Es finden sich keinerlei Anhaltspunkte im Wortlaut der Vorschrift, die darauf hindeuten, dass die dort entwickelten Kriterien nicht als absolut verbindlich zu verstehen sein könnten. Somit ignoriert diese Auffassung bewusst und gewollt eine eindeutige legislative Entscheidung des europäischen Gesetzgebers. Eine Kollisionsnorm, die dem entscheidenden Richter ein echtes diskretionäres Ermessen und zugleich eine Sonderanknüpfung des ausländischen Eingriffsrechts ermöglicht, mag methodisch sinnvoll und rechtspolitisch wünschenswert sein, de lege lata erfolgt eine entsprechende Auslegung jedoch zweifelsohne contra legem. 376

Plender/Wilderspin, Rn. 12-031. Vgl. das Consultation Paper CP05/08 des britischen Ministry of Justice, „Rome I – Should the UK opt in?“, 2.4.2008, S. 31 Rn. 80, online abrufbar unter http://www.justice.gov.uk/docs/cp0508.pdf. 378 Dicey/Morris, S. 228. 379 Consultation Paper CP05/08 des britischen Ministry of Justice, „Rome I – Should the UK opt in?“, 2.4.2008, S. 31 Rn. 80, online abrufbar unter http://www.justice.gov.uk/ docs/cp0508.pdf. 380 Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 505; Mankowski, IHR 2008, 133 (148 f.); d’Avout, D. 2008, 2165 (2167). 377

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Etwas weniger plump erfolgt das Vorgehen der Vertreter einer zweistufigen Lösung. Dieser Ansatz macht sich den Umstand zunutze, dass der weite Begriff „Wirkungsverleihung“ sowohl eine Sonderanknüpfung als auch eine materiellrechtliche Berücksichtigung zulässt. Eine Verbindung der beiden Ansätze ist zwar dogmatisch alles andere als überzeugend, dies wird aber pragmatisch und ergebnisorientiert als gerechtfertigt angesehen, um der als unerwünscht erachteten engen Auslegungsvariante zu entgehen. Dieser Auffassung ist zuzugestehen, dass der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO die materiellrechtliche Berücksichtigung tatsächlich nicht ausschließt, vielleicht sogar bewusst diese Möglichkeit offen lassen möchte. Die Anknüpfungskriterien der Norm aber nur im Fall der kollisionsrechtlichen Sonderanknüpfung als verbindlich zu erachten, dem mitgliedstaatlichen Richter aber auf der zweiten Stufe bei der Auslegung seiner nationalen lex causae auch für die Frage der Berücksichtigung ausländischen Eingriffsrechts freie Hand zu lassen, ignoriert die eindeutigen vom europäischen Gesetzgeber aufgestellten Kriterien in gleichem Maße wie die soeben abgelehnte weite Auslegungsvariante und ist somit gleichermaßen contra legem. Denn konsequenterweise dürfte eine „Wirkungsverleihung“ auf materiellrechtlichem Wege auch nur dann erfolgen, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. Diesen Umstand ignorieren die Vertreter der zweistufigen Lösung. Wenn die materiellrechtliche Berücksichtigung somit nur unter denselben engen Voraussetzungen wie die Sonderanknüpfung erfolgen darf, so verliert die methodisch ohnehin fragwürdige zweite Stufe dieses Lösungsansatzes ihren Sinn. Indem u.a. Freitag den EuGH auffordert, die materiellrechtliche Berücksichtigung auch bei Nichtvorliegen der Tatbestandsmerkmale von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO zu tolerieren mit der Argumentation, der Gerichtshof sei für die korrekte Anwendung der lex causae nicht zuständig, im selben Satz aber zugesteht, dass eben diese Begründung „an sich unhaltbar“ sei, zeigt sich geradezu, welche Kunstgriffe nötig sind, um diese Auffassung aufrecht zu erhalten. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass de lege lata ausschließlich die enge Auslegung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO mit dem Wortlaut der Vorschrift vereinbar und zugleich dogmatisch überzeugend ist. Die beiden anderen Ansätze mögen rechtspolitisch bedenkenswert sein und für eine etwaige Modifikation der Verordnung in der Zukunft in Frage kommen, nach derzeitigem Stand handelt es sich jedoch um Umgehungstatbestände, die die Wortlautgrenze schlichtweg sprengen. Führt man sich einmal mehr die Entstehungsgeschichte381 der Vorschrift vor Augen, so ist dieser ernüchternde Befund mehr als unbefriedigend. Das Konzept des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ist nämlich keineswegs ein durchdachtes und gemeineu381

Vgl. oben unter § 2., S. 55.

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ropäisches, sondern ein nationaler (englischer) Sonderweg. Letztlich wurde durch das Einfügen des Absatz 3 in letzter Sekunde und ohne die weitreichenden Konsequenzen zu bedenken der Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Rom I-Verordnung „erkauft“. Dieser Umstand mag erklären, wie das misslungene Anknüpfungskonzept zustande kam, überzeugender wird es dadurch nicht. Gleichwohl sind de lege lata dem Rechtsanwender die Hände gebunden, sodass man sich unter dem geltenden Verordnungstext mit der absoluten Sperrwirkung wird abfinden müssen. Welche Konsequenzen hieraus möglicherweise de lege ferenda zu ziehen sind, ist eine davon unabhängige Frage, der an späterer Stelle nachgegangen wird. D. Das Ermessen in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Anders als bei der Anwendung von Eingriffsnormen der lex fori nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO erfolgt die Sonderanknüpfung ausländischen Eingriffsrechts nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO nicht automatisch,382 sondern stellt die Rechtsanwendungsfrage der jeweiligen Norm in das Ermessen der nationalen Gerichte („kann Wirkung verliehen werden“). Wie bereits erörtert,383 handelt es sich hierbei jedoch nicht um ein vollkommen freies Ermessen, da Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO Kriterien vorgibt, die bei der Ermessenausübung zwingend zu beachten sind: Ausweislich des Wortlauts der Vorschrift sind „Art und Zweck“ der Eingriffsnormen sowie die Folgen, „die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben würden“ zu berücksichtigen. Diese Kriterien werden im Folgenden näher beleuchtet. I. Art und Zweck der Eingriffsnorm Dass Art und Zweck der ausländischen Eingriffsnormen bei der Ermessensentscheidung über die Anwendung oder Nichtanwendung zu berücksichtigen sind, sah bereits der Wortlaut des Art. 7 I EVÜ vor, obgleich hier von „Natur und Gegenstand“ der Eingriffsnorm die Rede war. Daraus, dass in den jeweiligen englischen bzw. französischen Sprachfassungen sowohl des Art. 7 I EVÜ als auch des Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO jeweils die Termini „nature and purpose“ bzw. „nature et objet“ verwendet wurden bzw. werden, lässt sich jedoch schließen, dass mit der neuen deutschen Sprachfassung keine inhaltliche Modifikation im Vergleich zum EVÜ verbunden sein soll, sondern lediglich eine gelungenere deutsche Übersetzung gefunden werden konnte. Für die Auslegung der Kriterien „Art und

382 383

Vgl. hierzu oben unter 0, S. 41. Vgl. oben unter § 3, S. 64.

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Zweck“ kann damit auf den Bericht von Giuliano/Lagarde384 und die sonstige Literatur zum EVÜ zurückgegriffen werden. Die Berücksichtigung von „Art und Zweck“ der anwendungswilligen Eingriffsnormen bedeutet zunächst einmal, dass sich der entscheidende Richter zumindest zu einem gewissen Grad mit der rechtlichen und sozialen Organisation des normsetzenden ausländischen Staates auseinandersetzen muss, um ergründen zu können, weshalb an dieser Stelle die entsprechende Vorschrift erlassen wurde und um was für eine Vorschrift es sich handelt.385 Der Hintergrund dieser Kontrollmaßnahme ist, dass der Anwendungswille der Eingriffsnorm allein für die Anwendung der jeweiligen Vorschrift nicht entscheidend sein darf.386 Anders als bei der Anwendung forumseigener Eingriffsnormen nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO gilt es bei der Auseinandersetzung mit ausländischem Eingriffsrecht Vorkehrungen gegen exzessive Geltungsansprüche fremder Staaten zu treffen.387 Offen lässt die weitgehend substanzlose Formulierung „Art und Zweck“ aber, was letztlich in concreto kontrolliert werden soll. Es sind grundsätzlich zwei Ansätze denkbar: Es wäre erstens möglich, als Anknüpfungspunkt die Werte und Interessen des normsetzenden ausländischen Staates für maßgeblich zu erklären. Diese sog. governmental interests wären zunächst zu ermitteln und sodann zu bewerten, ob sie den Geltungswillen der Eingriffsnorm auch wirklich zu tragen geeignet sind.388 Es würde also eine individuelle Betrachtung der Eingriffsnorm und der Rechtsordnung, der sie entstammt, vorgenommen. Zwischen den mit der Eingriffsnorm verfolgten Zwecken und den Werten des Forumstaates müsste sodann entweder idealerweise Interessengleichheit bestehen – zumindest dürfte der Forumstaat die mit der Norm verfolgten Ziele nicht ablehnen.389 Die andere Möglichkeit könnte sein, anstatt dieser individuellsubjektiven Betrachtung eine objektive Klassifizierung von Eingriffsnormen zu entwickeln. Hierfür wären international anerkannte Kriterien zu benennen, bei deren Vorliegen die Beachtung ausländischen Eingriffsrechts gerechtfertigt wäre.390 Diese Möglichkeit war, wie dem Giuliano/Lagarde-Bericht zu entnehmen ist, auch schon für Art. 7 I EVÜ in Erwägung gezogen, aber – „ohne den Gedanken an sich zu verwerfen“391 – nicht in den Übereinkommenstext überführt worden. 384

Vgl. oben Fn. 169. Dickinson, JPrivIntL Vol. 3 No. 2 (2007), 53 (57). 386 Coester, ZvglRW 82 (1983), 1 (22). 387 von Hoffmann, RabelsZ 38 (1974), 396 (413). 388 Coester, ZvglRW 82 (1983), 1 (22). 389 Dickinson, JprivIntL Vol. 3 No. 2 (2007), 53 (57); Freitag, IPRax 2009, 109 (111). 390 MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 119. 391 Giuliano/Lagarde, ABl. EG 1980 Nr. C 282, S. 1 (27). 385

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Neben dem wünschenswerten Harmonisierungseffekt spricht für diese Lösung auch, dass ein Gericht sich sicherlich leichter tun wird, ausländisches Eingriffsrecht anzuwenden, wenn es von der internationalen Gemeinschaft getragene Werte verwirklicht als wenn es sich um einen singulären Rechtsakt eines Einzelstaates handelt, dessen Wertungen von anderen Staaten nicht geteilt werden. Eine Antwort auf die Frage, ob im Sinne der ersten Variante auf rein nationale Maßstäbe zu rekurrieren ist oder ein objektiver Maßstab – bei einem europäischen Rechtsakt wie der Rom I-Verordnung in Form einer gemeineuropäischen Wertung – gefunden werden kann, lässt sich dem Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO nicht entnehmen. Während aber Art. 7 I EVÜ noch für eine „Leerformel“, in die man „alles hineinlesen“ könne, gehalten werden konnte,392 ist bei der Auslegung der Rom I-Verordnung zu berücksichtigen, dass der europäische Integrationsprozess seit dem Abschluss der Arbeiten am EVÜ im Jahr 1980 und dem Inkrafttreten der Rom IVerordnung Ende 2009 erheblich voran geschritten ist, weswegen die Annahme, es gebe schlichtweg keine entsprechenden internationalen Standards, so nicht mehr zutreffend ist. Die vom europäischen Gesetzgeber getroffenen Wertentscheidungen – man denke nur an das Außenhandelsrecht393 – sind Bestandteil der inneren Ordnungen der Mitgliedstaaten und somit nicht nur die zugrunde liegenden Rechtsnormen als forumseigenes Eingriffsrecht nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO zu berücksichtigen, sondern auch im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO zumindest dergestalt zu beachten, dass drittstaatlichen Eingriffsnormen, die diesen Wertungen widersprechen, im Binnenmarkt die Wirkung zu versagen ist.394 In Rechts- und Politikbereichen, in denen es (noch) an entsprechenden europäischen Standards fehlt, bleibt dem Gericht indes mangels Alternative keine andere Möglichkeit, als auf nationalstaatliche Wertungen zurückzugreifen. Auch in diesen Fällen ist jedoch vom mitgliedstaatlichen Richter zu fordern, den Regelungszweck des anwendungswilligen ausländischen Rechtssatzes zu erforschen und sodann valide darzulegen, weshalb er mit den forumseigenen Werten und Interessen übereinstimmt oder ihnen widerspricht. 392

So das Urteil von Coester, ZvglRW 82 (1983), 1 (25). Vgl. nur etwa die Dual-Use-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 428/2009 des Rates vom 5.5.2009 über eine Gemeinschaftsregelung fur die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, ABl. EG Nr. L 13, S. 1 ff. sowie die Übersicht der derzeitigen (Stand: 1.5.2010) länderbezogenen Embargos der Europäischen Union, veröffentlicht vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), abzurufen online unter http://www.ausfuhrkontrolle.info/ausfuhrkontrolle/de/embargos/uebersicht/ uebersicht_laender_bezogene_embargos.pdf. 394 Freitag, IPRax 2009, 109 (111). 393

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Ob die Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO anwendenden und auslegenden Gerichte noch viel Spielraum bei der Einschätzung von Art und Zweck der ausländischen Eingriffsnorm haben werden, darf man in Anbetracht der Wertung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-VO indes bezweifeln, dem bekanntlich die Regelung innewohnt, dass die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts ausschließlich die Funktion zukommt, die Parteien des Vertrages davor zu bewahren, Leistungen erbringen zu müssen, deren Vornahme am Erfüllungsort unrechtmäßig ist.395 Ist dieses Kriterium nämlich nicht erfüllt, so scheitert die Anwendung der ausländischen Eingriffsnorm schon am Tatbestand des Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-VO. Ist es hingegen erfüllt, so sind kaum Fälle denkbar, in denen die Vertragsdurchführung am Erfüllungsort zwar unrechtmäßig ist, das Gericht aber wegen der Art der Eingriffsnorm, oder wichtiger wohl infolge eines missbilligten Zwecks von ihrer Anwendung absieht. Es zeigt sich also auch an dieser Stelle, dass Satz 1 und Satz 2 des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO nicht recht zusammen passen. II. Folgen der Anwendung und Nichtanwendung Neben „Art und Zweck“ gibt Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO dem Richter weiter vor, die Folgen seiner (positiven oder negativen) Berücksichtigungsentscheidung zu bedenken. Auch diese Formulierung entstammt Art. 7 Abs. 1 S. 2 EVÜ. In Anbetracht dessen, dass die Folgenberücksichtigung einer Entscheidung für jeden Richter eine bare Selbstverständlichkeit darstellen sollte, ist nicht recht nachvollziehbar, weshalb der Giuliano/Lagarde-Bericht zu dieser Anordnung bemerkte, sie mache die Vorschrift „genauer, deutlicher und strenger“.396 Die Feststellung, dass dem Gericht „(…) insbesondere dann eine Ermessensbefugnis zuerkannt werden (muss), wenn einander widersprechende zwingende Bestimmungen zweier verschiedener Länder gleichzeitig auf denselben Sachverhalt anwendbar sind und zwangsläufig zwischen ihnen entschieden werden muss“,397 ist zwar zutreffend, stellt aber keinerlei Konkretisierung dieser Folgenberücksichtigung dar. Somit ist klärungsbedürftig, was hierunter zu verstehen ist. 1. Faktische Durchsetzungsmacht Man könnte für die Frage, was mit Folgenberücksichtigung gemeint ist, an die faktische Durchsetzungsmacht des Drittstaats anknüpfen, der die Eingriffsnorm erlassen hat. Denn sofern diese Durchsetzungsmacht besteht 395

Harris, Mandatory Rules and Public Policy under the Rome I Regulation, S. 328. Giuliano/Lagarde, ABl. EG 1980 Nr. C 282, S. 1 (27). 397 Giuliano/Lagarde, ABl. EG 1980 Nr. C 282, S. 1 (27). 396

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und auch davon ausgegangen werden darf, dass hiervon Gebrauch gemacht wird – die Folge der Nichtanwendung also wäre, dass die Norm unabhängig von der Entscheidung des Gerichts im Forumstaat ohnehin auf den Sachverhalt Einfluss nimmt – wäre die Nichtberücksichtigung dieser Realie geradezu fahrlässig. Nach diesem Verständnis würde im Rahmen der Folgenberücksichtigungsentscheidung des Gerichts einmal mehr der Gedanke der oben vorgestellten Machttheorie398 zur Geltung gebracht. Angesichts dessen, dass sich zumindest gewisse Elemente der Machttheorie bereits in Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-VO auf Tatbestandsseite dergestalt wiederfinden, dass die Berücksichtigung fremden Eingriffsrechts auf Eingriffsnormen des Erfüllungsortes beschränkt wird, ist nicht recht einzusehen, weshalb dieselbe Überlegung auch bei der Anwendung des Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO auf Rechtsfolgenseite nochmals angestellt werden sollte. Es erscheint wenig sinnvoll, in Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO ein Kriterium zu prüfen, das bereits bei der Prüfung des Satz 1 eine Rolle gespielt hat. 2. Anerkennungsfähigkeit des Urteils Eine andere Möglichkeit, die schon vor längerer Zeit zur Konkretisierung der „Folgenberücksichtigung“ vorgebracht worden ist, ist auf die Anerkennungsfähigkeit des Urteils in den beteiligten Staaten abzustellen.399 Demzufolge sollte bei der Frage nach der Anwendung einer ausländischen Eingriffsnorm berücksichtigt werden, ob das entsprechende Urteil in diesen Staaten anerkannt würde. Auf diesen Gesichtspunkt abzustellen ist vor allem deshalb sinnvoll, weil so das Ziel, internationalen Entscheidungseinklang zu erzielen, verwirklicht werden kann. 3. Äquivalenzprüfung Eine dritte Variante, die auf Steindorff400 zurückgeht, versteht unter dem Merkmal „Folgen“ eine generelle Äquivalenzprüfung zwischen den einschlägigen Schutznormen der lex causae, der lex fori sowie denen dritter Staaten. Sofern all diese ein äquivalentes Schutzniveau vorsehen, seien einzig die Schutznormen – hier: die Eingriffsnormen der lex causae – einschlägig, um den drohenden Anwendungspluralismus durch den Geltungsanspruch von Eingriffsnormen verschiedener Rechte einzudämmen. Darüber hinaus kann die Folgenberücksichtigung auch so gemeint sein, dass der Richter gehalten sein soll, die etwaige Vereinbarkeit des ausländi398

Vgl. oben unter § 5A. I.2, S. 94. Coester, ZvglRW 82 (1983), 1 (26); Vgl. zu diesem Gedanken auch bereits Wengler, ZvglRW 54 (1941), 168 (181); von Hoffmann, RabelsZ 38 (1974), 396 (413). 400 Vgl. Steindorff, EUR 16 (1981), 426 (440). 399

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schen Eingriffsrechts mit der lex causae zu überprüfen.401 Diese Prüfung ist zweifelsohne nicht nur sinnvoll, sondern sogar zwingend erforderlich. Ob aber – wie vielfach vorgeschlagen402 – der ausländischen Eingriffsnorm nur die primäre Rechtsfolge, die Folgefragen wie Nichtigkeit und Vertragsabwicklung stets der lex causae zu entnehmen sind, mag man hinterfragen. Ein entsprechender Vorrang der lex causae ergibt sich weder aus der Folgenberücksichtigung des Satz 2 noch an anderer Stelle in Art. 9 Rom I-VO. Da die Frage offen bleibt, erscheint es letztlich sinnvoller, die Folgefragen nur in den Fällen durch das Vertragsstatut regeln zu lassen, in denen die Rechtsfolgen der ausländischen Eingriffsnorm so unbekannt sind, dass auch eine Anpassungslösung nicht zu praktikablen Ergebnissen führt. Hierfür spricht, dass eine kollisionsrechtliche Sonderanknüpfung als dogmatisch überzeugendste Lösung nur dann umfassend zur Geltung kommt, wenn die ausländische Eingriffsnorm so authentisch wie möglich zur Anwendung gebracht wird. Ein Vorrang der lex causae hingegen rückt den Anknüpfungsvorgang nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO bedenklich in die Nähe der Theorie der materiellrechtlichen Berücksichtigung. In Anbetracht dessen, dass auch Art. 10 Rom I-VO das Vertragsstatut für die Frage der Nichtigkeit eines Vertrages aufgrund der Anwendung international zwingenden Rechts nach Art. 9 Rom I-VO nicht für maßgeblich erklärt,403 ist es letztlich sinnvoller, die ausländische Eingriffsnorm so authentisch wie möglich anzuwenden, sofern dies denn praktisch durchführbar ist. 4. Zusammenfassung Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Folgenberücksichtigung auch in Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO eine Handlungsanweisung bleibt, in die vieles hineingelesen werden kann. Auf die faktische Durchsetzbarkeit durch den Drittstaat abzustellen, die wie soeben erörtert bereits auf Tatbestandsebene eine prominente Rolle spielt, ist aus eben diesem Grund als Konkretisierung der Folgenberücksichtigung nicht geeignet, während es je nach den Umständen des Einzelfalls durchaus sinnvoll sein dürfte, auf die Anerkennungsfähigkeit des Urteils oder die Vereinbarkeit mit der lex causae abzustellen bzw. eine Äquivalenzprüfung im Sinne Steindorffs vorzunehmen. Um diese Überlegungen anzustellen, hätte es der Folgenberücksichtigungsanordnung, die sie Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO vorsieht, freilich nicht bedurft, sodass das Ziel, hierdurch mehr Rechtssicherheit zu erzielen, wohl als verfehlt betrachtet werden muss.

401

MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 120. MünchKommBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 9 Rn. 121. 403 Lando/Nielsen, ComMLRev 45 (2008), 1687 (1716). 402

§ 6 Eingriffsnormen der lex causae und Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

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§ 6 Eingriffsnormen der lex causae und Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Eingriffsnormen der lex causae und Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO

Eine seit jeher ebenso streitige wie ungeklärte Frage, die auch die Neuregelung des Art. 9 Rom I-VO offen lässt, ist die nach der Behandlung von Eingriffsnormen der lex causae.404 Weder dem Wortlaut des Art. 9 Rom IVO noch dem des Art. 12 Abs. 1 Rom I-VO, der den Geltungsbereich des Schuldstatuts näher umschreibt, lässt sich eine Aussage entnehmen, ob die jeweiligen international zwingenden Normen von der Verweisung auf die lex causae mit erfasst sein sollen oder ob sie von dessen Geltungsbereich ausgeschlossen sind.405 Ebenso wenig hat eine eigene Regelung für Eingriffsnormen des Schuldstatuts, wie sie beispielsweise in der Stellungnahme des MaxPlanck-Instituts zum Grünbuch zur Rom I-Verordnung vorgeschlagen worden war,406 Aufnahme in den Verordnungswortlaut gefunden. Da sich in den wenigen vorhandenen Gesetzgebungsmaterialien zur Verordnung aber weder eine ablehnende Begründung zu diesem Vorschlag noch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Problematik findet, lässt dieses Schweigen des Verordnungstexts keine zwingenden Schlüsse zu, sondern kann vielmehr auf verschiedene Arten interpretiert werden. Problematisch sind bei dieser Frage die Fälle, in denen das Gericht des Forumstaates eine forumsfremde Rechtsordnung auf den streitigen Sachverhalt anwendet. In diesen Fällen werden jedenfalls die eigenen Eingriffsnormen des Forumstaates nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO sonderangeknüpft. Unklar ist aber, wie mit den Eingriffsnormen des fremden Schuldstatuts zu verfahren ist. A. Privilegierung von Eingriffsnormen der lex causae? Nach einer Auffassung407 ist das Schweigen des europäischen Gesetzgebers zu der Frage der Anwendung von Eingriffsnormen der lex causae als ein beredtes zu verstehen und somit als eine bewusste Entscheidung dafür, dass diese Normen in der genannten Konstellation keiner Sonderanknüpfung bedürfen. Demnach sind Eingriffsnormen des Schuldstatuts nicht etwa nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO gesondert anzuknüpfen, sondern bereits vom „normalen“ Verweisungssystem erfasst. Schließlich beziehe sich die Verweisung auf eine nationale Rechtsordnung stets auf diese in ihrer Gesamtheit, was selbstverständlich auch alle international zwingenden Vor404

Leible, Neue Perspektiven im Europäischen Kollisionsrecht, S. 65. Roth, FS Kühne, S. 859 (870). 406 MPI, RabelsZ 68 (2004), 1 (71, 108). 407 Lando/Nielsen, ComMLRev 45 (2008), 1687 (1719); Mann, FS Wahl, S. 139 (145). 405

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schriften mit einschließe.408 Somit sei eine eigene Regelung für Eingriffsnormen der lex causae schlichtweg überflüssig. Das bedeutet konsequenterweise, dass nach dieser Ansicht für die Anwendung der Eingriffsnormen des Vertragsstatuts nicht die engen Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO vorliegen müssen, sondern ihre Anwendung bereits dadurch begründet ist, dass sie als Bestandteil des Vertragsstatuts aufgrund einer Rechtswahl oder objektiven Anknüpfung zur Anwendung kommen. Im Ergebnis führt dies also zu einer Privilegierung von Eingriffsnormen des Schuldstatus gegenüber Eingriffsnormen dritter Staaten, auch wenn die letztgenannten möglicherweise im Einzelfall einen engeren Bezug zum Sachverhalt aufweisen. B. Anwendung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO auf Eingriffsnormen der lex causae und drittstaatliche Eingriffsnormen gleichermaßen Nach der Gegenansicht409 gilt Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO nicht nur für drittstaatliche Eingriffsnormen, sondern auch für alle Eingriffsnormen der lex causae. Demnach stehen sämtliche Eingriffsnormen gänzlich außerhalb des normalen Anknüpfungssystems, sodass sie stets nur im Wege einer Sonderanknüpfung berücksichtigt werden können: Für Eingriffsnormen der lex fori erfolgt diese Sonderanknüpfung nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO, für drittstaatliche Eingriffsnormen wie auch für Eingriffsnormen eines (aus Sicht des Forumstaates) ausländischen Vertragsstatuts hingegen nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO. Einer bevorzugten Sonderbehandlung unterliegt damit nur das Eingriffsrecht des Forumstaates, während sich die Eingriffsnormen des Schuldstatuts sowie diejenigen von Drittstaaten gleichermaßen an den Kriterien des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO messen lassen müssen, um zur Anwendung kommen zu können. C. Stellungnahme I. Praktische Relevanz Ehe eine Stellungnahme zu der Frage der Behandlung von Eingriffsnormen des Schuldstatuts erfolgt, sollte man sich vor Augen führen, dass die praktischen Ergebnisunterschiede zwischen den Ansichten gering sind. Relevant wird die Unterscheidung letztlich nur in den folgenden beiden Konstellationen: Zum einen in Fällen, in denen die pauschale Anwendung von Eingriffsrecht des Schuldstatuts dazu führt, dass Vorschriften angewendet werden (sollen), die im Einzelfall, aus welchen Gründen auch immer, überhaupt nicht anwendungswillig sind – ein Umstand, der vor allem dann 408

Lando/Nielsen, ComMLRev 45 (2008), 1687 (1719). Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 15; Thorn, Eingriffsnormen, S. 145; Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 646; Mankowski, IPRax 2006, 101 (110); Fetsch, S. 14 ff. 409

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auftreten könnte, wenn das anwendbare Recht durch eine Rechtswahl der Parteien und nicht durch objektive Anknüpfung bestimmt wird.410 Die zweite Konstellation betrifft Fälle, in denen das angerufene Gericht der ausländischen Eingriffsnorm trotz Anwendungswillens keine Wirkung verleiht, beispielsweise weil die von ihr geschützten Interessen mit den Wertvorstellungen des Forumstaates nicht übereinstimmen – in diesen Fällen müsste das unerwünschte Ergebnis der Eingriffsnorm wiederum hinterher durch den ordre public des Forumstaates korrigiert werden. II. Indizien für eine Privilegierung von Eingriffsnormen der lex causae 1. Englische Rechtstradition Zugunsten der erstgenannten Auffassung, die Eingriffsnormen des Schuldstatuts von der allgemeinen Verweisung erfasst sieht, lässt sich einmal mehr die englische Rechtstradition heranziehen, auf deren Grundlagen Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO wie bereits erörtert in nicht unerheblichem Maße fußt.411 Denn ausländische Eingriffsnormen werden von englischen Gerichten dem Grundsatz nach immer dann pauschal angewandt, wenn sie Teil des Vertragsstatuts sind.412 Dieser Grundsatz ist in etlichen Urteilen immer wieder bestätigt worden413 und wird auch in der englischen Literatur nicht ernsthaft in Frage gestellt.414 Einmal mehr kann diesem doch recht eindeutigen Befund für die Auslegung eines europäischen Rechtsaktes jedoch bestenfalls Indizwirkung zugestanden werden, zumal sich Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-VO zwar stark an der Ralli-Entscheidung orientiert, im dort entschiedenen Fall jedoch gerade keine der hier problematischen Konstellationen vorlag: Im Ralli-Fall war nämlich das anwendbare Sachrecht englisches Recht, zur Nichtigkeit des Vertrags führte aber eine spanische Eingriffsnorm. Die englische Rechtstradition hilft somit bei der Lösung dieses Problems zumindest mit Blick auf die Ralli-Doktrin nicht unbedingt weiter. 2. Drohende „Zerstückelung“ der Verweisung Für eine pauschale Anwendung des Eingriffsrechts der lex causae könnte jedoch sprechen, dass Eingriffsnormen ein gewöhnlicher Bestandteil der Rechtsordnung sind, auf die von den Anknüpfungsregeln des Kollisions410

Thorn, Eingriffsnormen, S. 145. Vgl. oben unter § 2B. V, S. 62. 412 Kuckein, S. 217 ff. mit umfassenden Nachweisen. 413 Rex v. International Trustee for the Protection of Bondholders Akt. [1937] 2 All E.R. 164; St. Pierre v. South American Stores (Gath & Chavels Ltd.) [1937] 3 All E.R. 407, 422 (C.A.); Kahler v. Midland Bank Ltd. [1950] A.C. 24. 414 Dicey/Morris, Vol. 2 Rn. 32-139. 411

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rechts verwiesen wird. Kommt die Rechtsordnung eines Staates zur Anwendung, so erscheint es naheliegend, dass diese Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit zur Anwendung kommt, die Verweisung also für alle der Rechtsordnung entstammenden Vorschriften gilt. Gesteht man den Parteien die Wahl eines bestimmten Rechtes zu (wie es Art. 3 Rom I-VO – wenn auch mit Einschränkungen – tut) oder gelangt man zur Anwendung dieser Rechtsordnung im Wege objektiver Anknüpfung, so spricht zunächst einmal einiges dafür, diese Rechtsordnung auch in ihrer Gesamtheit anzuwenden und nicht einzelne Vorschriften einer weiteren Anwendungsprüfung zu unterziehen. Einzelne Normen von der Anwendung auszunehmen bzw. ihre Anwendung nur unter weiteren (strengen) Kriterien zuzulassen, würde so gewissermaßen zu einer „Zerstückelung“ der Verweisung führen. III. Gründe für die Anwendung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO auf Eingriffsnormen der lex causae Im Folgenden werden die maßgeblichen Gründe angeführt, die dafür sprechen, Eingriffsnormen der lex causae nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO anzuknüpfen und sie somit keiner bevorzugten Behandlung zu unterziehen. 1. „Zerstückelte“ Anwendung einer Rechtsordnung als kollisionsrechtlicher Regelfall Gegen das „Zerstückelungsargument“ der kollisionsrechtlichen Verweisung lässt sich anführen, dass dieses Phänomen bei genauer Betrachtung keine Ausnahme darstellt, sondern vielmehr durchaus den Regelfall. Es gibt im modernen Internationalen Privatrecht etliche andere Konstellationen, in denen zwar grundsätzlich auf eine einzelne Rechtsordnung verwiesen wird, diese jedoch gerade nicht in ihrer Gesamtheit zur Anwendung kommt. Man denke nur an die Regelung von Teil-, Vor- und Erstfragen415 oder auch an den Vorbehalt des Ordre public (Art. 21 Rom I-VO), der die Anwendung einer bestimmten Rechtsordnung im Grundsatz unberührt lässt, aber zur Nichtanwendung einzelner Vorschriften führen kann. Die Annahme, eine bestimmte Rechtsordnung könne nur in ihrer Gesamtheit zur Anwendung kommen, ist somit kollisionsrechtlich betrachtet alles andere als zwingend, sodass dieses Argument nicht besonders stark zu gewichten ist. 2. Formulierung im Kommissionsentwurf von 2005 Argumente zugunsten der zweiten Auffassung, die Eingriffsnormen einer ausländischen lex causae nicht pauschal anwenden möchte, sondern nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO, lassen 415

Vgl. hierzu von Hoffmann/Thorn, § 6 Rn. 42-72.

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sich auch der Entstehungsgeschichte der Rom I-Verordnung entnehmen: Im Kommissionsentwurf von 2005416 hieß es in Art. 8 Abs. 3 S. 1 Rom IVO-E: „Weist der Sachverhalt eine enge Verbindung zu einem anderen Staat auf, kann den Eingriffsnormen dieses Staates ebenfalls Wirkung verliehen werden“. Aus dem Zusammenspiel mit Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO-E, der Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO entspricht und die Eingriffsnormen der lex fori behandelte, und noch deutlicher aus der französischen Sprachfassung, die von „lois police d’un autre pays que celui du for“ sprach,417 konnte man ableiten, dass in Absatz 3 eine Regelung für alle Eingriffsnormen mit Ausnahme der des Forums getroffen werden sollte418 – also sowohl für drittstaatliche Eingriffsnormen als auch solche der lex causae. Eine Privilegierung der Eingriffsnormen des Schuldstatuts war demnach gerade nicht vorgesehen. Mit Hinblick darauf, dass dieser Satz des Kommissionsentwurfs nicht in die endgültige Fassung der Verordnung übernommen wurde, mag es zwar auf den ersten Blick etwas zweifelhaft erscheinen, ihn als Auslegungshilfe heranzuziehen. Führt man sich aber nochmals vor Augen, dass das Einfügen des endgültigen Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-VO eine eilige politische Entscheidung in Form eines hastig zusammengebastelten Kompromissvorschlags war, um das Vereinigte Königreich zum Opt-in zu bewegen, darf man durchaus mit einer gewissen Sicherheit davon ausgehen, dass hiermit kein durchdachter Paradigmenwechsel für das Verständnis von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO vollzogen werden sollte. Es ist somit ausgesprochen unwahrscheinlich, dass der europäische Gesetzgeber in letzter Sekunde bewusst keine Regelung für Eingriffsnormen der lex causae mehr treffen wollte, sondern die klarstellende Formulierung des Kommissionsentwurfs dem Ringen um einen Kompromiss mit den britischen Vertretern zum Opfer fiel. 3. Erwägungsgrund 37 und Dogmatik des Eingriffsrechts Gegen die generelle Anwendbarkeit von Eingriffsnormen des Schuldstatuts lässt sich schließlich Erwägungsgrund 37 zur Rom I-Verordnung ins Feld führen, der nicht nur festlegt, dass die Anwendung von Eingriffsnormen nur in Ausnahmefällen erfolgen darf und gerade nicht pauschal, sondern auch darauf hinweist, dass der Begriff „Eingriffsnormen“ streng unterschieden werden muss von „Bestimmungen, von denen nicht durch Ver416

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnis anzuwendende Recht (Rom I) vom 15.12.2005, KOM (2005) 650 endgültig. 417 Il pourra également être donné effet aux lois de police d’un autre pays que celui du for, avec lequel la situation présente un lien étroit. 418 Mankowski, IPRax 2006, 101 (110).

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

einbarung abgewichen werden kann“ (Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO): Ersterer ist nämlich wesentlich enger auszulegen. Aus dieser Unterscheidung und dem Ausnahmecharakter lässt sich einmal mehr die Dogmatik des zweispurigen Kollisionsrechts entnehmen: Eingriffsnormen sind ein Sonderphänomen, das aus anderen Gründen und mit anderen – ordnungspolitisch motivierten – Zielen erlassen wird als das sonstige, „gewöhnliche“ Recht, das primär dem privaten Interessenausgleich dient.419 Eine pauschale Anwendung von Eingriffsnormen des Schuldstatuts würde somit letztlich einen Rückfall zu der überholten Schuldstatutstheorie oder zumindest zu der gleichsam abzulehnenden Kumulationstheorie bedeuten. Somit würde dies auch zu dem systemwidrigen und insofern unerwünschten Ergebnis führen, dass mittels der Wahl des Vertragsstatuts parteiautonom über die Anwendung von Eingriffsrecht entschieden werden könnte. Dies soll jedoch gerade verhindert werden.420 Darüber hinaus erscheint es auch geradezu widersinnig, wenn bei der Wahl einer neutralen Rechtsordnung ohne jeden Bezug zum Sachverhalt – die nach Art. 3 Rom I-VO möglich ist – die Eingriffsnormen dieser Rechtsordnung gegenüber drittstaatlichen Eingriffsnormen privilegiert werden, selbst wenn die letztgenannten möglicherweise im Einzelfall einen weitaus engeren Bezug zum streitigen Sachverhalt aufweisen. Es kann dadurch sogar zur Anwendung von Eingriffsnormen kommen, die für den konkreten Sachverhalt überhaupt keinen Geltungsanspruch aufweisen.421 Es würden also besondere – staatliche Interessen verfolgende Vorschriften – angewandt, obwohl das intendierte staatliche Interesse im Einzelfall überhaupt nicht besteht.422 Unliebsame „Zufallstreffer“423 müssten im Nachhinein korrigiert werden – ein wenig überzeugendes Ergebnis. IV. Zwischenergebnis Letztlich sprechen die überzeugenderen Argumente dafür, dem Schuldstatut entstammende Eingriffsnormen als nicht von der kollisionsrechtlichen Verweisung erfasst zu sehen, sodass sie somit auch nicht pauschal angewendet und dadurch gegenüber drittstaatlichem Eingriffsrecht privilegiert werden. Sie sind vielmehr ebenso zu behandeln wie jene drittstaatlichen Eingriffsnormen und können nur dann zur Anwendung kommen, wenn die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO es zulassen. Dogmatisch und vom Sinn und Zweck des Eingriffsrechts her betrachtet ist zwar einzig dieses Ergebnis überzeugend, mit Blick auf die (zu) engen Voraussetzun419

Einsele, WM 2009, 289 (297). Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 183. 421 Palandt/Thorn, Rom I Art. 9 Rn. 15; Thorn, Eingriffsnormen, S. 146. 422 Fetsch, S. 15. 423 Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217 (245). 420

§ 7 Zusammenfassung und Bewertung

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gen des Absatz 3 jedoch in der praktischen Rechtsanwendung letztlich auch unbefriedigend. Während de lege lata keine andere Lösungsmöglichkeit verbleibt, sollte de lege ferenda der bereits angesprochene424 Vorschlag des Max-Planck-Instituts aus dem Jahr 2004 aufgegriffen werden, der das Einfügen eines weiteren Absatzes in Art. 9 Rom I-VO vorsieht,425 in welchem die Eingriffsnormen der lex causae geregelt werden. Eine leicht modifizierte Fassung dieses Vorschlags könnte wie folgt lauten: „Die Eingriffsnormen des Vertragstatuts werden auf den Vertrag angewendet, sofern sie einen entsprechenden Anwendungswillen in Bezug auf den jeweiligen Sachverhalt aufweisen.“

§ 7 Zusammenfassung und Bewertung Zusammenfassung und Bewertung

A. Zusammenfassung 1. Auf Tatbestandsebene greift Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO für alle Eingriffsnormen im Sinne der Definition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO mit Ausnahme der Eingriffsnormen des Forumstaates, die bereits nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO sonderangeknüpft werden. 2. Das Unrechtmäßigkeitskriterium in Art. 9 Absatz 3 Satz 1 Rom I-VO umfasst nicht nur echte Verbotsgesetze, sondern alle Vorschriften, die den Vertrag möglicherweise nur modifizieren, der Vertragserfüllung jedoch im Wege stehen. Ob die jeweilige Eingriffsnorm vor oder nach Vertragsschluss erlassen wurde, ist unerheblich. 3. Bei der Auslegung des Begriffs „Erfüllungsort“ ist ein unionsrechtlich autonomes Verständnis angebracht. Ist die geschuldete Leistung bereits erfüllt worden, so ist dieser tatsächliche Ort der Leistungserfüllung maßgeblich. Sofern noch nicht erfüllt worden ist, so ist subsidiär auf den rechtlichen Erfüllungsort abzustellen. Maßgeblich ist in der Regel der Ort, an dem der Leistungserfolg eintritt und nicht der, an dem die Leistungshandlung vorgenommen wird. 4. Auf Rechtsfolgenseite ist das Kriterium „Wirkungsverleihung“ in dem Sinne zu verstehen, dass eine kollisionsrechtliche Sonderanknüpfung des ausländischen Eingriffsrechtssatzes ausschließlich dann erfolgen kann, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO vorliegen. Eine materiellrechtliche Berücksichtigung daneben darf nicht vorgenommen werden (absolute Sperrwirkung). Ob der ausländische Eingriffsrechtssatz angewendet wird, steht im Ermessen des angerufenen Gerichts, 424 425

Vgl. oben unter § 6, S. 118. MPI, RabelsZ 68 (2004), 1 (108).

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

dem in Art. 9 Abs. 3 S. 2 Kriterien zur Ausübung des Ermessens vorgegeben werden. 5. Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO findet auch auf Eingriffsnormen des Schuldstatuts Anwendung. Diese sind somit nicht pauschal von der kollisionsrechtlichen Verweisung mit erfasst, sondern müssen die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO erfüllen, um zur Anwendung kommen zu können. B. Bewertung Was die abschließende Bewertung des Absatz 3 anbelangt, so ist in positiver Hinsicht einzig zu vermerken, dass sich der europäische Gesetzgeber überhaupt an einer Regelung zur Anwendung ausländischen Eingriffsrechts versucht hat. Das Ergebnis dieses Unterfangens ist indes ernüchternd: Bereits auf tatbestandlicher Ebene sind die Begriffe „Unrechtmäßigkeit“ und „Erfüllungsort“ mit vielerlei Unklarheiten behaftet, die der Rechtssicherheit alles andere als zuträglich sind. Auf Rechtsfolgenseite hat es der europäische Gesetzgeber versäumt, Farbe zu bekennen indem er – anstatt die Sonderanknüpfungslehre eindeutig zu kodifizieren – mit dem Kriterium der „Wirkungsverleihung“ einen vieldeutigen Terminus wählte, der das dogmatisch fragwürdige Konzept der materiellrechtlichen Berücksichtigung nicht eindeutig verwirft. Schlussendlich bilden die Sätze 1 und 2 des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO kein zusammenhängendes dogmatisches Konzept, sondern sind eine bloße Aneinanderreihung zweier unterschiedlicher Ansätze – während Satz 1 das englische Ralli-Konzept verkörpert, spiegelt Satz 2 das kontinentaleuropäische Verständnis der Anknüpfung von Eingriffsnormen wider, wie es das EVÜ vorsah. Beide Ansätze zu einem homogenen Zusammenspiel zu vereinen, erscheint ausgesprochen schwierig, zumal die Kriterien des Satz 2 nichts Substanzielles zur Konkretisierung des richterlichen Ermessens beitragen und damit geradezu als ein Fall gesetzgeberischer Regelungsverweigerung angesehen werden müssen. Eine Regelung für das Sonderproblem der vertragstatutseigenen Eingriffsnormen ist versäumt worden, obgleich die Thematik – inklusive eines praktikablen Formulierungsvorschlags seitens des Max-Planck-Instituts – im Entstehungsprozess seitens der Literatur klar benannt war. De lege lata bleibt dem Rechtsanwender nichts anderes übrig, als sich mit einer rundum misslungenen Vorschrift zu arrangieren. De lege ferenda sollte die Überprüfungsklausel des Art. 27 Absatz 1 Rom I-VO dringend genutzt werden, um eine Neuformulierung des Art. 9 Absatz 3 Rom I-VO vorzunehmen. Dabei sollte – den englischen Bedenken zum Trotz – ein Konzept verfolgt werden, dessen Tatbestand weiter gefasst ist als der des Art. 9 Abs. 3

§ 8 Exkurs: Ausländische Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung

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Rom I-VO. Es ist zwar richtig, dem Ausnahmecharakter der Anknüpfung von Eingriffsnormen durch eine restriktive Handhabe zu begegnen – das vorliegende Konzept tut dies jedoch auf eine willkürliche und unbefriedigende Weise. Folgt man dem hier vertretenen Ansatz einer sehr engen, auf originär hoheitliche Angelegenheiten beschränkenden Auslegung der Definition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO, so erscheint es hinnehmbar, für die Sonderanknüpfung ausländischen Eingriffsrechts nach Absatz 3 eine etwas weitere Ermessensvorschrift einzuführen, die jedoch zugleich dafür Sorge trägt, dass keine Eingriffsnormen zur Anwendung kommen, die keinerlei Bezug zum Sachverhalt aufweisen. Das früher im EVÜ herangezogene Kriterium der „engen Verbindung“ ist indes zu Recht als zu weit kritisiert worden. Ein solches Merkmal bedarf der Konkretisierung, um die Balance zwischen richterlichem Ermessen und Rechtssicherheit für die Parteien zu wahren. Die in der derzeit gültigen Fassung des Art. 9 Abs. 3 vorgeschlagenen Kriterien sind jedoch nicht nur zu eng, sondern behandeln auch wie gesehen vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich, sodass die Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen oft vom Zufall abhängt. Sinnvoll wäre deshalb, zwar leistungsbezogene Kriterien heranzuziehen, die jedoch anders als der Tatbestand des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO alle relevanten Konstellationen zu erfassen vermögen. Hierbei wäre zum einen an die Vornahme von Leistungshandlungen in dem Gebiet des normsetzenden Staat zu denken, zum anderen an Handlungen, die sich auf das Gebiet dieses Staates auswirken. Auf diesem Wege wären zumindest Vorschriften ausgeschlossen, die keinerlei Bezug zum Sachverhalt aufweisen, die Kriterien wären jedoch zugleich konkret genug, als dass Parteien antizipieren könnten, welches Recht auf ihren Sachverhalt zur Anwendung kommt. Ein entsprechender vermittelnder Formulierungsvorschlag, der nicht ganz so weit geraten wäre wie Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO-E, zugleich aber nicht so eng wie Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO und der diese Vorschrift ablösen würde, könnte wie folgt formuliert werden: „Eingriffsnormen, die weder dem Recht des angerufenen Gerichts noch dem Vertragsstatut entstammen, können auf den Vertrag angewendet werden, sofern sie der Rechtsordnung eines Staates entstammen, auf dessen Staatsgebiet Leistungshandlungen vorzunehmen oder zu unterlassen sind oder auf dessen Gebiet sich solche Handlungen auswirken.“

§ 8 Exkurs: Ausländische Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung Exkurs: Ausländische Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung

A. Entstehungsgeschichte Art. 16 Rom II-VO (vgl. hierzu oben unter § 2) enthält keine dem Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO entsprechende Vorschrift zur Anwendung ausländischer

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

Eingriffsnormen, sondern ermöglicht nur die Anwendung der Eingriffsnormen der lex fori.426 Den Regelungsgehalt der Vorschrift hierauf zu beschränken war bereits im Vorentwurf der Kommission zur Rom II-Verordnung vom 3.5.2002427 so vorgesehen, in dem die entsprechende Vorschrift (dort Art. 12) noch unter der Überschrift „Zwingende Vorschriften“ geführt wurde. In einem nicht veröffentlichten Grünbuch zur Rom II-Verordnung wurde in der Folge die Frage nach der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung für die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts zwar aufgeworfen, ein entsprechendes Bedürfnis aber eher verneint.428 Im Rahmen der hierzu veröffentlichten Konsultationen sprachen sich jedoch etliche Stimmen429 für die Einfügung einer Regelung über die Anwendung ausländischer Eingriffsnormen aus. Am Vorentwurf wurde insbesondere kritisiert, dass angesichts der internationalen Vernetzung der Rechtssysteme nicht nur das dispositive Privatrecht, sondern auch bestimmte zwingende Bestimmungen anderer Rechtssysteme berücksichtigt werden müssten.430 Nur wenige431 hielten eine solche Regelung vor dem Hintergrund der unionsrechtlichen Harmonisierung für überflüssig. Grundsätzliche Ablehnung einer Vorschrift sowohl zur Anwendung von Eingriffsnormen der lex fori als auch drittstaatlicher fand sich einzig in der englischen Literatur.432 Nach Erörterung der Beiträge des Konsultationsverfahrens fand eine entsprechende Regelung in Art. 12 Abs. 1 des Kommissionsentwurfs vom 22.7.2003 Berücksichtigung.433 Die neue Vorschrift trug nun auch erstmals – wie die Schwestervorschrift des Art. 9 Rom I-VO – die Überschrift „Eingriffsnormen“. Der nach Einwänden des Parlaments geänderte Entwurf vom 6.7.2005434 enthielt – was die Eingriffsnormenvorschrift anbelangt – keine inhaltliche Veränderung. Absatz 1 und Absatz 2 der (nun426

Palandt/Thorn, Rom II Art. 16 Rn. 1. Vorentwurf eines Vorschlags für eine Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, Art. 12; online abrufbar unter http://iprserv. jura.uni-leipzig.de/eudocs/03kollisionsr/20romiivo/romiivo-01-kom-vorentwurf.htm; im Folgenden: Rom II-VO-E 2002. 428 Livre vert sur la loi applicable aux obligations non contractuelles, 16.1.2001 (unveröffentlicht, dem Verfasser vorliegend), 2.5.1 (Lois de police) 429 Deutscher Rat für IPR, Stellungnahme Rom II, S. 50; MPI, RabelsZ 67 (2003), 1 (46); Universität Heidelberg, Stellungnahme Rom II, S. 14. 430 MPI, RabelsZ 67 (2003), 1 (46); Siems, RIW 2004, 662 (665). 431 Universitäten Barcelona, Commentaire Rome II, S. 16. 432 Stone, EuLF (D) 2004, 213 (224). 433 Vorschlag für eine Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), 22.7.2003, KOM (2003) 427 endgültig; im Folgenden: Rom II-VO-E 2003. 434 Geänderter Vorschlag für eine Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), 21.2.2006, KOM (2006) 427 endgültig; im Folgenden: Rom II-VO-E 2006. 427

§ 8 Exkurs: Ausländische Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung

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mehr unter Art. 13 Rom II-VO-E 2006 geführten) Vorschrift tauschten lediglich aus „Gründen der Logik“435 die Plätze. In der inzwischen endgültigen Version der Rom II-Verordnung vom 22.6.2007 ist Art. 13 Abs. 2 Rom II-VO-E 2006 jedoch ersatzlos gestrichen worden. Der Wortlaut des nunmehr endgültigen Art. 16 Rom II-VO entspricht damit im Wesentlichen der des ersten Vorentwurfes in Art. 12 Rom I-VO-E 2002:436 Eine Regelung für die Anwendung ausländischen Eingriffsrecht ist nach vielem Hin und Her in der Rom II-Verordnung somit nicht mehr enthalten. Eine inhaltliche Begründung für das Streichen einer entsprechenden Regelung lässt sich den Materialien zur endgültigen Fassung nicht entnehmen. Die unterschiedlichen Entwürfe zur Rom II-Verordnung zeigen aber, dass die Einführung einer dem Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO entsprechenden Vorschrift offensichtlich ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. Somit fragt sich, welche Konsequenzen aus dieser gesetzgeberischen Entscheidung zu ziehen sind. B. Konsequenzen des Streichens der Regelung über ausländische Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung I. Praktische Relevanz Zunächst einmal ist festzustellen, dass das Problem der Sonderanknüpfung im internationalen Deliktsrecht in der Praxis nur in den seltensten Fällen eine Rolle spielen wird.437 Das liegt daran, dass die Sonderanknüpfung ausländischer Eingriffsnormen nur in Ausnahmekonstellationen in Betracht kommt, in denen die folgenden Prämissen erfüllt sind. Zum einen muss das streitbefangene Verhalten vom Deliktsstatut in dem Sinne anders gewertet werden als von einer ausländischen Rechtsordnung, dass nach der einen Rechtsordnung die Haftung begründet wird (oder entfällt), nach der anderen hingegen nicht. Je mehr das materielle Recht aneinander angeglichen wird, desto seltener wird das der Fall sein. Zweitens muss die in Frage stehende Norm überhaupt als Eingriffsnorm zu qualifizieren sein. Die Mehrzahl der Eingriffsnormen im Deliktsrecht dürfte sich im Bereich der haftungsbegründenden Vorschriften finden, die noch am ehesten praxisrelevanten Fälle hingegen entstammen dem Bereich haftungsfreistellender Normen.438 Drittens müssen das Anknüpfungsmoment der Eingriffsnorm und der einschlägigen Deliktskollisionsnormen auseinander fallen. Stimmen sie 435 Europäisches Parlament, Bericht Rom II, 27.6.2005, S. 33; Posch, YbPrivIntL 6 (2004), 129 (151). 436 Vgl. oben Fn. 427. 437 Schramm, S. 273. 438 Vgl. etwa die Entscheidung in Fn. 452.

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

überein, stellt sich die Problematik von vornherein nicht, eine Sonderanknüpfung ist dann überflüssig. Alle drei Voraussetzungen dürften selten gleichzeitig erfüllt sein. Ungeachtet des noch wesentlich geringeren Anwendungsbereich im Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse gegenüber dem Vertragsrecht ist dennoch nicht ersichtlich, warum nur die Rom I-Verordnung in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO eine entsprechende Regelung enthält, die Rom IIVerordnung hingegen nicht. Denn grundsätzlich sprechen für die Berücksichtigung zwingender drittstaatlicher Normen im Bereich außervertraglicher Schuldverhältnisse zunächst einmal die gleichen Gründe wie im Internationalen Vertragsrecht.439 Das Fehlen einer entsprechenden Regelung in der Rom II-Verordnung wirft daher mehr Fragen auf als es beantwortet. Es bleibt unklar, auf welchem Wege ausländisches Eingriffsrecht im Bereich der außervertraglichen Schuldverhältnisse zur Anwendung kommen kann. Insofern dient das Streichen des Art. 12 Abs. 1 Rom II-VO-E 2006 wohl kaum der Rechtssicherheit, der Vorhersehbarkeit440 von Rechtsstreitigkeiten und dem internationalen Entscheidungseinklang, die als tragende Gründe für den Erlass der Rom II-Verordnung genannt werden.441 In Anbetracht dessen, dass kaum gesetzliche Regelungen in den Mitgliedstaaten existieren, auf die mangels einer Regelung in der Rom IIVerordnung zurückgegriffen werden könnte, ist der Rückgriff auf nationales Kollisionsrecht nicht praktikabel.442 Das Argument, eine Vorschrift für die Anwendung ausländischer Eingriffsnormen berge die Gefahr der Rechtsunsicherheit, was insbesondere britische Stimmen443 immer wieder betonen, überzeugt nicht. Denn ebenso wie in der Rom I-Verordnung hätte es sich um eine Ermessensvorschrift und nicht um eine gebundene gehandelt, so dass im jeweiligen Einzelfall eine richterliche Entscheidung über die Anwendung zu treffen gewesen wäre.444 Die Kommission selbst hielt noch 2003 einen dem Art. 22 Abs. 1 lit. a EVÜ vergleichbaren Vorbehalt für unnötig, da in der Vergangenheit nur „sehr selten von fremden Eingriffsnormen Gebrauch gemacht worden“ sei.445 Umso mehr erstaunt es, dass die Vorschrift letztlich gestrichen wurde. Somit wird die Tatsache, dass an dieser Stelle zwischen dem Entwurf zur Rom I-Verordnung und

439

Deutscher Rat für IPR, Stellungnahme Rom II, S. 50. Präambel zur Rom II-Verordnung, Erwägungsgrund 6. 441 Präambel zur Rom II-Verordnung, Erwägungsgrund 14. 442 Vgl. oben unter § 2A. , S. 45. 443 Stone, EuLF (D) 2004, 213 (224). 444 Huber/Bach, IPRax 2005, 73 (82). 445 Begründung zum Rom II Vorschlag KOM (2003) 427 endgültig, S. 27. 440

§ 8 Exkurs: Ausländische Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung

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zur Rom II-Verordnung kein Gleichlauf besteht, überwiegend mit Unverständnis aufgenommen und kritisiert.446 II. Meinungsstand Umstritten bleibt weiter, welche Schlussfolgerungen aus der soeben dargestellten Entstehungsgeschichte, die mit der Streichung einer Vorschrift für die Behandlung ausländischer Eingriffsnormen endete, zu ziehen sind. Eindeutig ist nur, dass eine analoge Anwendung des Art. 16 Rom II-VO auf ausländische Eingriffsnormen ausscheiden muss, da ja ein entsprechender Vorschlag in Erwägung gezogen, letztlich aber verworfen wurde und somit keine planwidrige Regelungslücke vorliegt.447 Es stehen sich zwei konträre Positionen gegenüber. Manche gehen davon aus, die bewusste Streichung der Vorschrift könne – so bedauerlich es sei – nur so verstanden werden, dass eine Sonderanknüpfung ausländischen Eingriffsrechts im Internationalen Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse nunmehr nicht mehr zulässig sei.448 Die Einführung einer Regelung in Erwägung zu ziehen, letztlich jedoch zu verwerfen, könne nicht anders interpretiert werden als eine bewusste Entscheidung dagegen. Die Gegenansicht deutet die Streichung hingegen so, dass der europäische Gesetzgeber die Mitgliedstaaten lediglich zur maßvollen, zurückhaltenden Anwendung ausländischen Eingriffsrechts mahnen wolle. Ob die Anwendung erfolge, bleibe angesichts des Streichens eine Frage, über die das jeweilige nationale Recht selbst entscheiden müsse.449 III. Stellungnahme Die erstgenannte Auffassung, die dem Schweigen des Verordnungstextes die Bedeutung beimisst, ausländische Eingriffsnormen dürften im Internationalen Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse nicht angewendet werden, ist letztlich zu rigoros. Zieht man einen Vergleich zur Rechtslage im Internationalen Vertragsrecht unter Geltung des EVÜ, so war es auch dort so, dass in den Staaten, die einen Vorbehalt gegen Art. 7 I EVÜ eingelegt hatten, keine Vorschrift zur Anwendung ausländischen Eingriffsrechts zur Verfügung stand. So regelte in Deutschland Art. 34 EGBGB nur die Anwendung der Eingriffsnormen der lex fori. Aus dem Schweigen des 446

Deutscher Rat für IPR, Stellungnahme Rom II, S. 51; MPI, RabelsZ 67 (2003), 1

(46). 447

MünchKommBGB/Juncker, Rom II-VO Art. 16 Rn. 23. Bamberger/Roth/Spickhoff, Anhang Art. 42 EGBGB Rn. 117; G. Wagner, IPRax 2008, 1 (15); Ofner, ZfRV 2008, 13 (23). 449 Von Hein, VersR 2007, 440 (446); Heiss/Loacker, JBl. 2007, 613 (644); Leible/Lehmann, RIW 2008, 528 (563); MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 49. 448

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Kapitel 3: Anwendung ausländischer Eingriffsnormen

deutschen Gesetzgebers, das auch aus einer bewussten Entscheidung – dem Einlegen des Vorbehalts – erfolgte, leitete indes niemand den Schluss ab, die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts sei verboten. Die Rechtslage in der Rom II-Verordnung ist hiermit durchaus vergleichbar.450 Hinzu kommt, dass ein großer Teil der Mitgliedstaaten im Entstehungsprozess der Rom II-Verordnung keine Probleme mit einer Regelung zur Beachtung ausländischen Eingriffsrechts hatten. Im Hinblick darauf, dass der europäische Gesetzgeber unter dem Druck weniger Mitgliedstaaten von dieser Regelung Abstand nehmen musste, scheint ein umfassendes Anwendungsverbot an alle Mitgliedstaaten doch zu weit gehend.451 Der Hinweis, dass angesichts eines Fehlens einer Regelung in der Rom II-Verordnung das nationale Recht über die Anwendung ausländischer Eingriffsnormen entscheiden müsse, ist freilich in den Mitgliedstaaten problematisch, in denen es keine entsprechende gesetzliche Regelung gibt, wie etwa in Deutschland. Eine materiellrechtliche Berücksichtigung muss ausscheiden, denn dieser Weg ist unpraktikabel für die Lösung einer kollisionsrechtlichen Frage wie der vorliegenden, gangbar jedoch bei einer Anwendung lokaler Daten im Rahmen des Art. 17 Rom II-VO. Eine analoge Anwendung von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ist schwierig, da Eingriffsnormen des Deliktsrechts wohl kaum einen Erfüllungsort haben werden und so den Tatbestand der Vorschrift nicht erfüllen können. Letztlich wird man das Schweigen des Verordnungstextes wohl sinnvollerweise als eine Aufforderung an die Rechtsprechung zur Entwicklung eigener Anknüpfungskriterien verstehen müssen, was im Ergebnis auf eine freihändige Angemessenheitsprüfung hinausläuft. Der Rechtssicherheit ist ein solches Vorgehen zwar nicht zuträglich, in Anbetracht der verschwindend geringen praktischen Relevanz der Thematik im Bereich der außervertraglichen Schuldverhältnisse dürfte dies jedoch zu keinen Schwierigkeiten führen. C. Anwendungsbeispiel Ein anschauliches Beispiel, in der die Anwendung ausländischen Eingriffsrecht in außervertraglichen Schuldverhältnissen zumindest in Erwägung gezogen werden könnte, sind die Vorschriften über den Ausschluss und die Kanalisierung der Außenhaftung abhängig Beschäftigter wie etwa Arbeitnehmer oder Beschäftigter im öffentlichen Dienst.452 Solche Haftungsvergünstigungen zugunsten von Arbeitnehmern, die diese vor Inanspruch450

So auch von Hein, RabelsZ 73 (2009), 463 (506). MünchKommBGB/Juncker, Rom II-VO Art. 16 Rn. 25. 452 Vgl. hierzu die Entscheidung EuGH, 21.4.1993, Rs. C 172/91 – „Sonntag/Weidmann“, EuGHE 1993 I, S. 1963 ff. 451

§ 8 Exkurs: Ausländische Eingriffsnormen in der Rom II-Verordnung

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nahme durch Dritte schützen, gibt es freilich nur in wenigen Mitgliedstaaten,453 namentlich in Belgien sowie in den skandinavischen Rechtsordnungen.454 Art. 18 des belgischen Arbeitsgesetzbuches455 gewährt in Fällen eines „Augenblickversagens“ keine persönliche Haftung des Arbeitnehmers, sondern lässt in einem solchen Fall nur den Arbeitgeber haften. Beispielhaft dargestellt sei folgender Fall, in dem ein belgisches Unternehmen durch einen Angestellten Waren nach Deutschland liefern lässt. Der Angestellte verursacht in der Innenstadt einer deutschen Stadt leicht fahrlässig einen Verkehrsunfall und fährt mit seinem Wagen gegen die Mauer des städtischen Freibades, die inklusive der Umkleidehäuschen zerstört wird, sodass ein erheblicher Sachschaden entsteht. Nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ist deutsches Recht Deliktsstatut. Die deutsche Gemeinde hat als Eigentümerin des Schwimmbads einen Schadensersatzanspruch gegen den Angestellten aus § 823 Abs. 1 BGB. Eine Außenhaftungsbeschränkung des Arbeitnehmers gibt es im deutschen Recht nicht, sodass der Angestellte des belgischen Unternehmens gegenüber der Stadt in vollem Umfang haften würde und somit darauf verwiesen wäre, möglicherweise bei seinem Arbeitgeber Regress zu nehmen. Hierbei trüge er freilich dessen Insolvenzrisiko. Würde man hingegen Art. 18 des belgischen Arbeitsgesetzbuches als international zwingend ansehen, so könnte der Fahrer von seiner Außenhaftung freigestellt werden oder zumindest nur in der Höhe haften, in der er gegenüber seinem Arbeitgeber im Innenverhältnis verpflichtet wäre. Letztlich erscheint dieses Ergebnis jedoch unbillig, führt es doch zu einer Verlagerung auf des Insolvenzrisikos auf den Geschädigten, im Beispielsfall also die deutsche Gemeinde als Betreiberin des Bades. Ein hinreichender Schutz des belgischen Arbeitnehmers ist wohl eher auf arbeitsvertraglicher Seite mit einem belgischen Arbeitgeber vorzunehmen.

453

Vgl. die Nachweise bei von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, § 2 Rn. 193, insbesondere Fn. 1143. 454 Vgl. §§ 19 Abs. 3 und 23 Abs. 2 dänisches Schadensersatzgesetz; 4. Kap., § 1 finnisches Schadensersatzgesetz § 2-3 Abs. 2 norwegisches Schadensersatzgesetz; 4. Kap. § 1 schwedisches Schadensersatzgesetz. 455 “En cas de dommages causés par le travailleur à l’employeur ou à des tiers dans l’exécution de son contrat, le travailleur ne répond de sa faute légère que si celle-ci présente dans son chef un caractère habituel plutôt qu’accidentiel.“

Kapitel 4

Primärrechtliche Vorgaben bei der Anwendung von Art. 9 Rom I-VO Während unionsrechtliche Implikationen in der Diskussion um das Eingriffsrecht lange Zeit keine nennenswerte Rolle gespielt haben, hat sich dies in den letzten Jahren geändert. Angesichts dessen, dass dieses vielfältige Themenfeld bereits monografisch umfassend aufgearbeitet ist,1 sollen an dieser Stelle lediglich die beiden wichtigsten Punkte in Grundzügen dargestellt werden: Zum einen wird kurz dargelegt, inwiefern das europäische Primärrecht die Mitgliedstaaten beim Erlass und der Anwendung von Eingriffsnormen einschränkt.2 Zum zweiten wird der Frage nachgegangen, ob dem europäischen Primärrecht eine Anwendungspflicht unionsrechtlicher Eingriffsnormen zu entnehmen ist.3

§ 1 Primärrechtliche Einschränkungen bei der Anwendung mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen Primärrechtliche Einschränkungen

Die Befugnis der EU-Mitgliedstaaten, Eingriffsrecht zu erlassen, unterliegt zunächst einmal den Einschränkungen, die sich aus den Grundfreiheiten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)4 ergeben. Dies betrifft indes ausschließlich Binnenmarktsachverhalte, also Konstellationen, in denen Parteien aus unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten beteiligt sind. Gegenüber Drittstaaten, die nicht am europäischen Binnenmarkt teilhaben, werden die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber durch das europäische Primärrecht nicht eingeschränkt. Dies ist – wie bereits erörtert – einer der Gründe, warum die Grundfreiheitenkontrolle als umfassender Kontrollmaßstab für den Erlass von Eingriffsnormen ungeeignet ist.5

1

Fetsch, Eingriffsnormen und EG Vertrag. Vgl. hierzu unter § 1, S. 134. 3 Vgl. hierzu unter § 2, S. 135. 4 Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom 9.5.2008, ABl. EU 2008, Nr. C 115, S. 47 ff. 5 Vgl. hierzu oben unter § 2B. III, S. 10. 2

§ 2 Primärrechtliche Anwendungspflicht

139

Die Maßgeblichkeit der Grundfreiheiten als Schranke in Binnenmarktsachverhalten bleibt auch davon unberührt, dass die Rom I-Verordnung als später ergangener EU-Rechtsakt die Anwendung von Eingriffsrecht ausdrücklich ermöglicht. Dies führt jedoch keinesfalls dazu, dass das Verordnungsrecht als lex posterior das zuvor ergangene Primärrecht verdrängt, denn innerhalb der europarechtlichen Normenhierarchie ist der Sekundärrechtsgeber an das Primärrecht gebunden: Die Organe der Europäischen Union werden erst durch den AEUV ermächtigt, Rechtshandlungen vorzunehmen und damit Sekundärrecht zu schaffen. Derartiges Recht muss somit aber notwendig nachrangig gegenüber der primärrechtlichen Ermächtigungsnorm sein.6 Dies bedeutet somit, dass bei Binnenmarktsachverhalten nur insoweit auf Art. 9 Rom I-VO zurückgegriffen werden darf, als das Ergebnis der Anwendung der jeweiligen Eingriffsnorm im zwingenden Interesse des Gemeinwohls des jeweils normsetzenden Mitgliedstaates liegt.7 Anders gesagt: Soweit eine aus Forumssicht ausländische Eingriffsnorm nach ihrem sachlichen Gehalt oder ihrer kollisionsrechtlichen Reichweite unionsrechtswidrig ist, darf sie nicht angewendet werden, gleich, ob sie mit der Policy des Forumstaates kompatibel ist oder nicht.8 Für Einzelheiten hierzu sei auf die einschlägige Spezialliteratur verwiesen.9

§ 2 Primärrechtliche Anwendungspflicht unionsrechtlicher Eingriffsnormen? Primärrechtliche Anwendungspflicht

Ob sich aus dem europäischen Primärrecht eine Anwendungspflicht in Bezug auf bestimmte Eingriffsnormen ergibt, ist eine sehr weitreichende Frage, die erst in jüngerer Zeit aufgekommen ist. Es ist hierbei zwischen den beiden folgenden Konstellationen je nach der Normherkunft des fraglichen Eingriffsrechtsatzes zu differenzieren: Die erste – weitgehend unproblematische – Konstellation betrifft Eingriffsnormen des Rechts der Europäischen Union. Der zweite – schwierigere, da weitreichendere Fall – betrifft eine etwaige Anwendungspflicht im Hinblick auf Eingriffsnormen, die von vom Forumstaat abweichenden mitgliedstaatlichen Gesetzgebern erlassen worden sind.

6

Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 249 EGV Rn. 5. Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 534. 8 Fetsch, S. 240. 9 Umfassend und allgemein Bruinier, Der Einfluss der Grundfreiheiten auf das Internationale Privatrecht (2002); speziell für das Eingriffsrecht Fetsch, S. 126 ff. 7

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Kapitel 4: Primärrechtliche Vorgaben

A. Eingriffsnormen des Unionsrechts In Bezug auf Eingriffsnormen, die vom europäischen Gesetzgeber erlassen worden sind, ist zu differenzieren: Ist die Eingriffsnorm in Form einer EUVerordnung erlassen worden, so gilt diese bekanntlich unmittelbar in allen Mitgliedstaaten10 und ist somit als Teil der innerstaatlicher Ordnung des jeweiligen Mitgliedstaates automatisch über Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO anzuwenden. Damit werden unabhängig davon, welcher Mitgliedstaat im jeweiligen Einzelfall der Forumsstaat ist, international zwingende Regelungen – wie beispielsweise die Verordnung betreffend die gemeinsamen Einfuhrregelungen,11 die sog. „Anti-Dumping-Verordnung“12 oder die sog. „Dual-UseVerordnung“13 – stets über Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO als unmittelbar geltendes nationales Recht des jeweiligen Forums-Mitgliedstaates zur Anwendung gebracht. Denn all diese europäischen Rechtsakte gelten in jedem der Mitgliedstaaten in einheitlicher Form gleichermaßen. Anders ist es bei Eingriffsnormen, die in EU-Richtlinien enthalten sind: Ist die Richtlinie ordnungsgemäß ins nationale Recht umgesetzt worden, so kommen auch die jeweiligen Eingriffsnormen als Eingriffsrecht des Forumstaates entweder über Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO – oder aber je nach Konstellation auch als ausländische Eingriffsnorm über Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO – zur Anwendung. Ist hingegen nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden, so scheidet die Berücksichtigung von Richtlinienrecht sowohl über Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO14 als auch über Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO aus, da dies im Ergebnis zu einer systemwidrigen horizontalen Wirkung der jeweiligen Richtlinie führen würde. Die betroffenen Parteien sind in diesen Fällen auf staatshaftungsrechtliche Ansprüche zu verweisen. B. Eingriffsnormen anderer EU-Mitgliedstaaten Seit Anfang der 1980er Jahre ist die Frage aufgeworfen worden, ob Eingriffsnormen anderer EU-Mitgliedstaaten eine Sonderrolle zukommt.15 Es 10

Callies/Ruffert/Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 42. Verordnung (EWG) Nr. 288/82 des Rates vom 5.2.1982 betreffend die gemeinsame Einfuhrregelung, ABl. EG Nr. L 35, S. 1-44. 12 Verordnung (EWG) Nr. 2423/88 des Rates vom 11.7.1988 über den Schutz gegen gedumpte oder subventionierte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gehörenden Ländern, ABl. EG Nr. L 209, S. 1-17. 13 Verordnung (EG) Nr. 1334/2000 des Rates vom 22.6.2000 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr von Gütern und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck, ABl. EG L 159, S. 1-215. 14 Vgl. hierzu bereits oben unter § 1A. II. 15 Vgl. etwa Steindorff, EUR 16 (1981), 426 (428); Bonomi, YbPrivIntL 1999, 215 (240); Fetsch, S. 319 ff. 11

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geht um Konstellationen, in denen der die Eingriffsnorm erlassende Mitgliedstaat weder der Forumstaat ist, noch seine Rechtsordnung das anwendbare Sachrecht stellt, der Sache nach also eine Konstellation des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO vorliegt. I. Hintergrund Die bislang zu Art. 7 EVÜ wie auch zu Art. 9 Rom I-VO vertretenen Anknüpfungsmodelle zur Anwendung ausländischen Eingriffsrechts bewegen sich außerhalb eines spezifisch europarechtlichen Kontextes. Angesichts der Vielfalt an Staaten und ihrer mit Eingriffsrecht intendierten Zielsetzungen ist die richterliche Legitimitätskontrolle integraler Bestandteil aller dieser Modelle: Die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts steht auch in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO im Ermessen des angerufenen Gerichts. Diese richterliche Kontrolle bringt freilich ein staatliches Souveränitätsverständnis zum Ausdruck, dessen primäres Ziel es ist, die eigenen nationalen Interessen zu wahren.16 Der Preis für diesen Souveränitätsvorbehalt ist jedoch ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit, da die Parteien nur schwer vorhersehen können, welche Eingriffsnormen ihren Sachverhalt beeinflussen können. Ferner droht die Gefahr des forum shopping, so dass der internationale Wirtschaftsverkehr mit erhöhten Risiken und Transaktionskosten belastet wird.17 Hieraus ist in der Literatur die Folgerung gezogen worden, eine Differenzierung zwischen den Eingriffsnormen der EU-Mitgliedstaaten und solchen dritter Staaten vorzunehmen:18 Letztere seien ebenso wie die Eingriffsnormen des Forumstaates stets und verpflichtend anzuwenden, ein entsprechendes richterliches Ermessen über die Anwendung und Nichtanwendung bestehe nur bei drittstaatlichen im Sinne von nichtmitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entstammenden Eingriffsnormen. Im Hinblick auf Eingriffsnormen anderer EU-Staaten sei hingegen der nationale Kontrollmaßstab durch die Wertungen des Unionsrechts zu ersetzen. Dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO lässt sich indes weder eine entsprechende Differenzierungsvorgabe geschweige denn eine konkrete Anwendungspflicht entnehmen.

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Fetsch, S. 237. Fetsch, S. 238. 18 Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 184; Sonnenberger, IPRax 2006, 104 (113); Roth, FS Immenga, S. 331 (347); Fetsch, S. 237 ff. 17

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Kapitel 4: Primärrechtliche Vorgaben

II. Grundlagen der Anwendungspflicht 1. Art. 4 Abs. 3 EU-Vertrag (ex-Art. 10 EG-Vertrag) Als Grundlage dieser Anwendungspflicht wird das Prinzip der Unionstreue, das sich nunmehr nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon19 in Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 EG-Vertrag) findet, genannt.20 Die Errichtung des Binnenmarktes als gemeinsames, supranationales Ziel verbinde die Mitgliedstaaten in besonderer Weise und erlege ihnen, wie sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 EGV) ergebe, nicht nur auf, Maßnahmen zu unterlassen, welche die Vertragsziele gefährden, sondern beinhaltet auch Handlungspflichten. Grundlage für eine gegenseitige Pflicht zur Anwendung der betreffenden Eingriffsnormen sei letztlich die Festlegung unionsrechtlicher Politikfelder, EU-rechtliche Zuweisungen von Regelungskompetenzen an die Mitgliedstaaten und in Verbindung damit das aus dem Subsidiaritätsprinzip resultierende Verbot der Europäischen Union, selbst tätig zu werden.21 Die gegen die Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen vorgebrachten Einwände griffen innerhalb der Europäischen Union von vornherein nicht, denn eine inhaltliche Überprüfung der mitgliedstaatlichen Eingriffsnormen durch die lex fori sei nicht notwendig. Zwar könne man aus Art. 4 Abs. 3 EUV konkrete Pflichten nur dann ableiten, wenn sie zur Absicherung eines hinreichend konkreten Zieles der Europäischen Union erforderlich seien (sog. „akzessorische Funktionssicherung“).22 Dies sei jedoch dadurch gewährleistet, dass alle Mitgliedstaaten bei der Schaffung zwingender Bestimmungen den Vorgaben der Rom I-Verordnung und insoweit der Kontrolle durch den EuGH und die Grundfreiheiten unterlägen.23 Mit zunehmendem Fortschreiten der europäischen Integration sei diese Anwendungspflicht gewissermaßen ein zwingender Schritt, der den internationale Entscheidungseinklang im Binnenmarkt maßgeblich fördere.24 Denn je vereinheitlichter das Recht in der Europäischen Union sei sowie in Anbetracht dessen, dass das Primärrecht eingriffsrechtliche Exzesse im Binnenmarkt ohnehin verhüte, desto weniger bedrohlich sei auch die Anwendung ausländischen Eingriffsrechts in diesen Fällen, sodass die allgemeine Anwendungspflicht die Rechtssicherheit letztlich sogar fördere und damit Transaktionskosten senke. 19

Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13.12.2007, ABl. EU 2007 Nr. C 306, S. 1 ff. 20 Fetsch, S. 321. 21 Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (114). 22 Fetsch, S. 323. 23 Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 185. 24 Freitag, Einfach und international zwingende Normen, S. 185.

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2. Prozessrechtliche Zuständigkeits- und Verfahrenskonzentration Ergänzend zu der allgemeinen Anwendungspflicht mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen aus Art. 3 Abs. 4 EUV wird argumentiert, dass zudem die durch die Brüssel I-Verordnung bewirkte Zuständigkeits- und Verfahrenskonzentration die Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Anwendung ihrer Eingriffsnormen verpflichte.25 Diese Argumentation beruht auf dem Gedanken, dass die Zuständigkeits- und Verfahrenskonzentration nicht auf Kosten notwendiger und legitimier Allgemeininteressen gehen dürfe. Der Verzicht auf eigene Durchsetzungskompetenzen sei notwendig verbunden mit einer Pflicht zur Durchsetzung fremder Allgemeininteressen. Gerade diese Pflicht kompensiere den Souveränitätsverlust.26 Der Souveränitätsverzicht liege hier in der Zustimmung der Mitgliedstaaten zur Brüssel IVerordnung, deren liberales Zuständigkeitsregime die freie Prorogation mitgliedstaatlicher Gerichte ohne Rücksicht auf die Wahrung staatlicher Interessen erlaube. Infolgedessen seien die mitgliedstaatlichen Gerichte zur Anwendung international zwingender Normen anderer Mitgliedstaaten verpflichtet, da bereits bei Erlass einer Entscheidung mögliche Gründe der Anerkennungsverweigerung ausgeschaltet werden müssten.27 Somit diene die Anwendungspflicht mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen gewissermaßen der „Funktionssicherung“ der Brüssel I-Verordnung.28 3. Rechtstechnische Umsetzung der Anwendungspflicht Die rechtstechnische Umsetzung der Anwendungspflicht mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen sollte nach Ansicht der Vertreter dieser Auffassung durch eine „gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung“29 des damaligen Art. 7 EVÜ erfolgen: Zum einen sei im Wege der „teleologischen Modifikation“30 die „kann“-Bestimmung des Art. 7 I EVÜ als „muss“Bestimmung zu lesen,31 ferner sei das Abwägungsinteresse des Art. 7 Abs. 1 S. 2 EVÜ auf Null reduziert.32 Übertragen auf die nunmehr in Kraft getretene Rom I-Verordnung hieße dies, dass die teleologische Modifikation des richterlichen Ermessens im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-VO vorzunehmen wäre, die Ermes25

Fetsch, S. 343 ff. Fetsch, S. 368 ff. 27 Im Ergebnis ähnlich Bonomi, YbPrivIntL 1999, 215 (240). 28 Vgl. hierzu ausführlich die Ausführungen und Nachweise bei Fetsch, S. 342 ff. 29 Fetsch, S. 379 ff. 30 In Anbetracht des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift kann weder ein zu eng noch ein zu weit geratener Tatbestand reduziert oder extensiv ausgelegt werden, sodass einzig diese Formulierung vertretbar ist. 31 Fetsch, S. 381 f. 32 Fetsch, S. 382 ff. 26

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Kapitel 4: Primärrechtliche Vorgaben

sensreduzierung auf Null ergäbe sich nunmehr bei der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO, der Art. 7 Abs. 1 S. 2 nahezu wortgleich entspricht.33 III. Stellungnahme Dass das in Art. 4 Abs. 3 EUV verwirklichte Prinzip der Unionstreue nicht nur vertikale Pflichten der einzelnen Mitgliedstaaten im Verhältnis zur Europäischen Union, sondern auch horizontale im Verhältnis untereinander entfaltet,34 ist zwar zutreffend. Dass aber gerade eine Anwendungspflicht der Eingriffsnormen anderer Mitgliedstaaten die Verwirklichung der Ziele der Europäischen Union fördert und wie von den Vertretern dieser Auffassung behauptet zur Harmonisierung beitragen soll, erscheint indes reichlich zweifelhaft. Mit der Rom I-Verordnung ist erstmals ein in allen Mitgliedstaaten einheitliches und unmittelbares geltendes europäisches Kollisionsrecht der Schuldverträge entstanden, dessen allgemeine Regeln in großem Maße zur Rechtssicherheit und -vorhersehbarkeit beitragen. Wie bereits an anderer Stelle mehrfach gezeigt, „stört“ die Anwendung von Eingriffsrecht – ebenso wie der Vorbehalt des Ordre public, dieses System. Es gibt zweifelsohne Einzelfälle, in denen diese Störung im ordnungspolitischen Interesse notwendig und unabdingbar ist. Hierfür sind aber insbesondere die Vorschrift des Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO zur Anwendung der Eingriffsnormen der lex fori wie auch Absatz 3 zur Anwendung forumfremden Eingriffsrechts vollkommen ausreichend. Jede darüber hinausgehende Erweiterung dieses Einfallstores führt dazu, dass die angestrebte Harmonisierung im Bereich des Kollisionsrechts unterwandert wird. Dass gerade der Grundsatz der Unionstreue nach Art. 4 Abs. 3 EUV hierzu verpflichten soll, erscheint geradezu widersinnig.35 Was die Ausführungen zu der kollisionsrechtlichen „Funktionssicherung“ der Brüssel I-Verordnung anbelangt, so ist der Befund zwar zutreffend, dass die Mitgliedstaaten durch das einheitliche Zuständigkeits- und Anerkennungssystem der Möglichkeit beraubt werden, einen Gleichlauf zwischen ihren eigenen Eingriffsnormen und der internationalen Zuständigkeit ihrer Gerichte zu gewährleisten. Dieser Umstand wird jedoch vom europäischen Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen, da es im Europäischen Zivilprozessrecht politisch gewollt ist, einen Zustand weitgehend unbedingter Anerkennung mitgliedstaatlicher Urteile herzustellen.36 Dies führt somit zwingend dazu, dass mit einer gewissen Regelmäßigkeit aus33

Vgl. bereits oben unter § 5D. , S. 112. Vgl. etwa EuGH, 10.6.1980, Rs. C 32/79 – „Kommission/Vereinigtes Königreich“, EuGHE 1980, S. 2403 Rn. 46. 35 So im Ergebnis auch Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 539. 36 Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 540. 34

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ländische Urteile, in denen möglicherweise Eingriffsnormen des Forumstaates berücksichtigt wurden, im Inland anerkannt und auch vollstreckt werden. Rechtsakte wie die EuVTVO37, die EuBagatellVO38 und die EuMahnVO39 verstärken diesen Trend noch. 40 Mit Blick auf die Konstellationen des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO kommt hinzu, dass dieser anders als Art. 7 I EVÜ keine freien richterlichen Ermessensentscheidungen ermöglicht, sondern die Anknüpfung ausländischen Eingriffsrechts wie gesehen vom Vorliegen sehr restriktiver Tatbestandsmerkmale abhängig macht. Dies führt im Hinblick auf die rechtstechnische Umsetzung der Anwendungspflicht zu großen Schwierigkeiten: Eine Anwendungspflicht mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen, die den Tatbestand des Absatz 3 nicht erfüllen, würde die Wortlautgrenze der Vorschrift sprengen, sodass eine entsprechende teleologische Modifikation hier nicht vorgenommen werden könnte, ohne den ausdrücklichen Willen des europäischen Gesetzgebers zu ignorieren. Schlussendlich kommt hinzu, dass Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO letztlich ebenso wie Art 7 Abs. 1 EVÜ eine „kann“- und keine „muss“-Vorschrift darstellt. Hier hinein eine Anwendungspflicht zu lesen, erscheint doch reichlich gewagt. Betrachtet man die im Entstehungsprozess der Verordnung veröffentlichten Materialien und Stellungnahmen, so zeigt sich, dass eine ausdrückliche Regelung für die Anerkennung mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen zwar in Erwägung gezogen worden war,41 letztlich jedoch keinen Einzug in den Verordnungstext gefunden hat. Diese gesetzgeberische Entscheidung ist zu respektieren. Somit ist im Ergebnis eine Anwendungspflicht mitgliedstaatlichen Eingriffsrechts abzulehnen.42

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Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen vom 21.4.2004, ABl. EU 2004 Nr. L 143, S. 15 ff. 38 Verordnung (EG) Nr. 861/2007 vom 11.07.2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (Europäische Bagatellverordnung), ABl. EU 2007, L 199 S. 1 ff. 39 Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 vom 12.12.2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens (Europäische Mahnverordnung), ABl. EU 2006 Nr. L 399 S. 1 ff. 40 Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 540. 41 Siehe etwa den Beitrag des MPI, RabelsZ 68 (2004), 1 (77). 42 So mittlerweile auch Reithmann/Martiny/Freitag, Rn. 538.

Kapitel 5

Zusammenfassung, abschließende Würdigung und Normvorschlag § 1 Zusammenfassung in Thesen Zusammenfassung in Thesen

Als Ergebnis der vorangegangenen Untersuchung kann Folgendes in Thesenform festgehalten werden: A. Begriff der Eingriffsnorm 1. Die Legaldefinition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO grenzt erstmals trennscharf einfache und international zwingende Normen voneinander ab. 2. Die Definition vermag aus sich heraus nicht trennscharf festzulegen, welche Vorschriften als Eingriffsnormen qualifiziert werden können. Konstitutiv sind jedenfalls ein internationaler Geltungsanspruch sowie eine überindividuelle Zielrichtung. 3. Sonderprivatrecht ist nicht per se von der Legaldefinition des Absatz 1 ausgenommen. Die in Betracht kommenden Vorschriften müssen aber ein Regelungsziel verfolgen, das über den bloßen Ausgleich von Individualinteressen hinausgeht. 4. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind grundsätzlich beim Erlass von Eingriffsrecht frei, unterliegen hierbei jedoch der Kontrolle durch den EuGH. 5. Der Maßstab der Grundfreiheiten ist als Kontrollmaßstab für den Erlass von Eingriffsnormen ungeeignet, da er die Mitgliedstaaten insbesondere in Drittstaatenfällen über Gebühr einschränkt. Die Kontrolle der mitgliedstaatlichen Gesetzgeber durch den EuGH ist vielmehr auf eine Missbrauchskontrolle zu beschränken. 6. Der Erlass einer Eingriffsnorm ist dann nicht missbräuchlich, wenn sie ein begründetes und nachgewiesenes Gemeinwohlinteresse verfolgt. Bei der Auslegung des Begriffs „Gemeinwohl“ ist ein autonom europarechtliches Verständnis zugrunde zu legen. Dem Gemeinwohlerfordernis ist Genüge getan, sofern mit der Eingriffsnorm einer der Gründe des Art. 36 AEUV verfolgt wird. 7. Kumulativ zum Gemeinwohlerfordernis muss die Eingriffsnorm einen gewissen Mindestkontakt zur fraglichen Rechtsordnung – in anderen

§ 1 Zusammenfassung in Thesen

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Worten einen gewissen Inlandsbezug – aufweisen. Je nach Fallgruppe sind hieran unterschiedliche Anforderungen zu stellen. In Zweifelsfällen ist eine Einordnung als Eingriffsnorm eher abzulehnen (Grundsatz der restriktiven Auslegung). 8. Das Sonderkollisionsrecht der Artikel 5 bis 8 Rom I-VO – insbesondere die Vorschriften betreffend das Internationale Verbraucher- und Arbeitnehmerschutzrecht – sind gegenüber Art. 9 Rom I-VO als abschließend anzusehen. Art. 9 Rom I-VO scheidet als Auffangtatbestand für Vorschriften, die diesen Bereichen sachlich zuzuordnen sind, aus. B. Eingriffsnormen der lex fori 9. Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO ermöglicht eine Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen des Forumstaates. 10. Nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzte EU-Richtlinien können nicht nach dieser Vorschrift angewendet werden. C. Ausländische Eingriffsnormen 11. Der Grund für die Anwendung besteht nicht in der Verpflichtung zu zwischenstaatlicher Rücksichtnahme (comitas-Gedanke), sondern im Eigeninteresse des Forumstaates. 12. Die Regelung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-VO ist an die sog. RalliDoktrin des englischen Rechts angelehnt. Insofern stellt das englische Verständnis des Eingriffsrechts einen wichtigen Auslegungsfaktor dar. 13. Auf Tatbestandsebene muss es sich um eine Eingriffsnorm des Erfüllungsortes handeln, die zur Unrechtmäßigkeit des Vertrages führt. 14. Das Unrechtmäßigkeitskriterium ist in einem weiten Sinne zu verstehen: Es sind nicht nur echte Verbotsgesetze umfasst, sondern auch lediglich den Vertrag modifizierende Vorschriften, solange sie der Vertragserfüllung im Wege stehen. Ob die jeweilige Eingriffsnorm vor oder nach Vertragsschluss erlassen wurde, ist irrelevant. 15. Die Bestimmung des Erfüllungsortes hat unionsrechtlich autonom zu erfolgen. Sofern die geschuldete Leistung schon erbracht worden ist, ist der faktische Erfüllungsort maßgeblich, andernfalls der rechtliche. 16. Auf Rechtsfolgenseite stellt Art. 9 Abs. 3 eine neue Variante der sogenannten kollisionsrechtlichen Sonderanknüpfungslehre dar. Die Schuldstatutstheorie in all ihren Spielarten, die Theorie der materiellrechtlichen Berücksichtigung sowie die Kumulationstheorie sind abzulehnen. 17. Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO entfaltet Sperrwirkung. Eingriffsnormen, die nicht dem Tatbestand unterfallen, sind nicht anknüpfungsfähig.

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Kapitel 5: Zusammenfassung, Würdigung und Normvorschlag

18. Die Folgenberücksichtigungsanweisung des Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO ist eine weitgehend substanzlose Leerformel, die Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-VO lediglich deklaratorisch ergänzt. 19. Eingriffsnormen der lex causae sind nicht von der allgemeinen kollisionsrechtlichen Verweisung mit erfasst, sodass sie auch nicht pauschal angewendet und dadurch gegenüber drittstaatlichem Eingriffsrecht privilegiert werden. Sie sind vielmehr ebenso zu behandeln wie jene drittstaatlichen Eingriffsnormen und können nur dann zur Anwendung kommen, wenn die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO vorliegen. D. Primärrechtliche Vorgaben bei der Anwendung von Art. 9 Rom I-VO 20. Die Anwendung von Eingriffsnormen in Binnenmarktfällen wird durch das europäische Primärrecht, insbesondere durch die Grundfreiheiten, beschränkt. 21. Eine umfassende und pauschale Anwendungspflicht von Eingriffsnormen, die von anderen EU-Mitgliedstaaten erlassen wurden, besteht nicht.

§ 2 Abschließende Würdigung Abschließende Würdigung

Abschließend betrachtet stellt die Regelung des Art. 9 Rom I-VO eine wenig überzeugende gesetzliche Regelung für das Phänomen der Eingriffsnormen dar. Eine Legaldefinition zu formulieren, wie Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO es tut, ist zwar ein begrüßenswerter Ansatz, führt man sich vor Augen, dass die Frage, ob eine Vorschrift als Eingriffsnorm in Betracht kommt, von zentraler Bedeutung ist. Der Umstand, dass hierfür jedoch schlicht die Formulierung der Arblade-Entscheidung des EuGH abgeschrieben worden ist, zeigt bereits, dass die Bereitschaft, eine überzeugende neue Formulierung zu entwerfen, seitens des europäischen Gesetzgebers nicht vorhanden war. Auch in der Sache ist die Definition nur bedingt zielführend, da sie alle wesentlichen Auslegungsfragen offen lässt und so letztlich eine verpasste Chance darstellt. Dennoch ermöglicht die Weite der gewählten Formulierung eine sinnvolle Auslegung. Entscheidend hierbei ist, dass ein Ansatz gewählt werden sollte, der solche Vorschriften ausschließt, die einzig der Wahrung von Individualinteressen dienen. Individualschützendes Sonderkollisionsrecht ist zwar nicht als solches abzulehnen; Schließlich finden sich für dessen Anknüpfung in Teilbereichen sinnvolle Regelungen in den Artikeln 5 bis 8 Rom I-VO. Sollen aber über diese Vorschriften hinaus einzelne Personengruppen kollisionsrechtlich geschützt werden – seien dies Handelsvertreter, Subunternehmer oder Franchisenehmer – so müsste

§ 2 Abschließende Würdigung

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der europäische Gesetzgeber erneut tätig werden und entsprechende Sonderkollisionsnormen erlassen. Für welche Personengruppen dies sinnvoll ist und wie der Schutz konkret aussehen könnte, kann und soll hier nicht erörtert werden. Klar jedoch ist, dass eine restriktiv auszulegende Ausnahmevorschrift wie Art. 9 Rom I-VO als Auffangtatbestand ungeeignet ist. Die Regelung des 9 Abs. 2 Rom I-VO ist nicht zu beanstanden. Der Regelungsgehalt des bewährten Art. 34 EGBGB / Art. 7 Abs. 2 EVÜ wurde sinnvollerweise auch in der Rom I-Verordnung übernommen. Im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ist ebenso positiv wie überraschend festzuhalten, dass der europäische Gesetzgeber überhaupt den Mut bewiesen hat, sich an einer Regelung für die Anknüpfung ausländischen Eingriffsrechts zu versuchen. Dass der politische Wille für eine entsprechende Neufassung vorhanden sein würde, durfte man lange Zeit mit Fug und Recht bezweifeln. Die praktische Umsetzung indes ist ein wenig überzeugender Kompromiss, an dessen Wortlaut unschwer die erfolgreiche Lobbyarbeit der Londoner City zu erkennen ist: Satz 1 und 2 der Vorschrift sind eine schlichte Aneinanderreihung zweier vollkommen unterschiedlicher dogmatischer Konzepte. Satz 1 ist der englischen RalliEntscheidung entnommen, Satz 2 hingegen entstammt sinngemäß dem alten Art. 7 EVÜ. Infolgedessen ist es nahezu zwingend, dass die beiden Sätze nicht recht zueinander passen und die Vorschrift deshalb in sich nicht schlüssig ist. Die Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 9 Absatz 3 S. 1 Rom I-VO sind nicht nur zu eng geraten, sondern privilegieren auch willkürlich bestimmte Konstellationen vor anderen. Auf Rechtsfolgenseite ist das Merkmal der Wirkungsverleihung geradezu eine gesetzgeberische Regelungsverweigerung, in alles und nichts hineingelesen werden kann. Wünschenswert wäre ein klares Bekenntnis zur kollisionsrechtlichen Sonderanknüpfungslehre gewesen. Eine Regelung für die Anknüpfung von Eingriffsnormen der lex causae ist versäumt worden. Auch dies ist eine verpasste Chance. Die Defizite des Art. 34 Abs. 1 S. 2 EVÜ waren seit Jahren hinlänglich bekannt. Ungeachtet dessen wurde eine nahezu identische Regelung als Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO in den Verordnungstext übernommen, deren Sinn und Zweck sich nicht recht erschließt. Das Bestreben, das Vereinigte Königreich zum Opt-in bewegen zu wollen ist zweifelsohne verständlich und begrüßenswert. In Anbetracht der vielfältigen Defizite, die Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO aufweist, mag man sich dennoch fragen, ob es unter diesen Umständen nicht besser gewesen wäre, überhaupt keine Regelung zu treffen und die Frage der Anknüpfung ausländischen Eingriffsrechts Rechtsprechung und Lehre zu überlassen. Der Status quo ist jedenfalls unbefriedigend.

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Kapitel 5: Zusammenfassung, Würdigung und Normvorschlag

§ 3 Normvorschlag Normvorschlag

Infolgedessen erscheint es sinnvoll, wenn der europäische Gesetzgeber zeitnah mittels der Überprüfungsklausel des Art. 27 Rom I-VO die Vorschrift des Art. 9 Absatz 3 Rom I-VO von Grund auf überarbeiten und zudem einen Absatz 4 einfügen würde, der die Behandlung von Eingriffsnormen der lex causae regelt. Ein entsprechend überarbeiteter Text des Art. 9 Rom I-VO könnte wie folgt formuliert werden: (1) Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. (2) Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der Eingriffsnormen des Rechts des angerufenen Gerichts. (3) Eingriffsnormen, die weder dem Recht des angerufenen Gerichts noch dem Vertragsstatut entstammen, können auf den Vertrag angewendet werden, sofern sie der Rechtsordnung eines Staates entstammen, auf dessen Staatsgebiet Leistungshandlungen vorzunehmen oder zu unterlassen sind oder auf dessen Gebiet sich solche Handlungen auswirken. (4) Die Eingriffsnormen des Vertragsstatuts werden auf den Vertrag angewendet, sofern sie einen entsprechenden Anwendungswillen in Bezug auf den jeweiligen Sachverhalt aufweisen.

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Materialien

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Sachregister Die Zahlen beziehen sich auf die Seitenzahlen. Seitenzahl ist kursiv gedruckt, wenn sich das Stichwort in einer Fußnote befindet.

Äquivalenzprüfung 121 Alnati-Entscheidung 66 Anerkennung 121 Arbeitnehmerentsenderichtlinie 39 Arbeitnehmerschutzvorschriften 33 Arblade-Entscheidung 8 Außenwirtschaftsrecht - Außenwirtschaftsgesetz 46 - Außenwirtschaftsverördnung 46 Auslegungskompetenz 13 Betriebsübergang 34 Binnensmarktsachverhalt 31 Binnensachverhalt 29 Brüssel I-Verordnung 80 Cipolla-Entscheidung 18 Comitas-Gedanke 53 Color-Drack-Entscheidung 91 Datumtheorie 97 Direct Application 109 Dual-Use-Verordnung 119 E-Commerce-Richtlinie 40 Enumerationsprinzip 39 Eingriffsnorm - Begriff 7 ff. - ausländische 70 ff. - inländische 43 ff. Erfüllungsort 80 ff. - faktischer 93 - rechtlicher 93 - unionsrechtlich 89 Ermessen 117 ff. EuGVVO, siehe Brüssel I-Verordnung

EVÜ 2 Forum shopping 62 Fracht 66 Geltungsanspruch, internationaler 8 Gemeinschaftsrecht 138 ff. Gemeinwohl 22 Grundstücksverträge 41 Grundfreiheiten 15 Haftpflicht 49 Handelsvertreter 77 Höchstvergütungsvorschriften 76 Illegality 71 IPRG (Schweiz) 48 Ingmar-Entscheidung Kartellrecht 47 Kontrollmaßstab 15 Kriegswaffenkontrollgesetz 46 Krombach-Rechtsprechung 14 Kündigungsschutz 34 Kulturgüterschutzrichtlinie 39 Legaldefinition 7 Lex causae 123 ff. Lex fori 43, 49 Lois de police 6, 30 Machttheorie98 Mandatory Rules 6, 30 Maskenentscheidung 56 Mindesvergütungsvorschriften 76 Missbrauchskontrolle 16

166 Öffnungsklausel 35 Ordnungsrelevanz 1 Ordre public 42 Parteiautonomie 62 Primärrecht 138 ff. Produkthafung 51 Ralli-Entscheidung 65 Rechtsfortbildung 44 Rechtssicherheit 20 Richtlinienkollisionsrecht 37 Rom II-Verordnung 47 ff. Schuldstatutstheorie 96 Sicherheitsregeln 50 Sittenwidrigkeit 100 Sonderanknüpfung 102, 106

Sachregister Sonderprivatrecht 33 ff. Sperrwirkung 111 Strafgesetze 74 Straßenverkehrsrecht 51 Territorialitätsprinzip 99 Transaktionskosten 62 Unlawfulness 73 Unrechtmäßigkeit 71 Verbotsvorschriften 74 Verbraucherschutzvorschriften 33 Verkehrsregeln 50 Vermögensgerichtstand 23 Widerrufsrecht 78 Wirkungsverleihung 69