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German Pages 64 [65] Year 2009
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Karl Böhmer Händel in Rom
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Händel in Rom von
Karl Böhmer
VERLAG PHILIPP VON ZABERN · MAINZ AM RHEIN
63 Seiten mit 9 Farb- und 8 Schwarzweißabbildungen
Für die unkenntlich gemachten Abbildungen besitzt der Verlag keine elektronischen Rechte.
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© 2009 by Verlag Philipp von Zabern, Mainz am Rhein ISBN: 978-3-8053-4066-3 Gestaltung: Ragnar Schön, Verlag Philipp von Zabern, Mainz Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten. Printed in Germany by Philipp von Zabern Printed on fade resistant and archival quality paper (PH 7 neutral) · tcf
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INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
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VORGESCHICHTE IN HALLE UND HAMBURG
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ANKUNFT IN ROM Piazza del Popolo Römische Straßen Einzug im Palazzo Im Dienst eines Padrone Römische Weihnachten
13 13 15 17 18 19
EIN GENIE WIRD ENTDECKT Der verzauberte Dreispitz Orgelkonzert im Lateran Die Akademien der Mäzene Der Lebensstil der Kardinäle
21 21 21 23 27
RÖMISCHE KANTATEN Kantaten für Kastraten Delirio amoroso Lucrezia und andere Römerinnen Ein Erdbeben und die Folgen Jagdkantate
30 30 31 33 36 37
KATHOLISCHE MUSIK Ein monumentaler Psalm Das erste Oratorium Pfingsten auf dem Land Psalmen für die Karmeliter
39 39 40 43 45
DAS ZWEITE JAHR Ostern in Rom Liebesduelle in Arkadien Abschied von Rom
49 49 53 55
NACHSPIEL IN LONDON
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ANHANG Anmerkungen Literatur Bildnachweis
59 59 61 63
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VORWORT
Ende 1706 kam Georg Friedrich Händel nach Rom – ein junges Genie von 21 Jahren. Als er die Ewige Stadt Ende 1708 wieder verließ, war er ein gefeierter Maestro, der alle Gattungen des italienischen Stils beherrschte: Cantata und Concerto, Oper und Oratorium. Im Gepäck hatte er einen Fundus von rund hundert Werken und Hunderte von Melodien, aus denen er sein Leben lang schöpfen konnte. Rom hinterließ Spuren – bei Händel wie bei jedem Romreisenden vor oder nach ihm. Die Ewige Stadt hat sein Stilgefühl geprägt, als Musiker wie als Mensch. In seinen Concerti blieb er zeitlebens Arcangelo Corelli verpflichtet, in seinen Oratorien eiferte er den sakralen Dramen Alessandro Scarlattis nach und verband sie mit tief bewegenden Chören im Stil eines Giacomo Carissimi. In seinen Opern leuchten Einfälle aus den römischen Jahren in immer neuen Varianten auf. An den Ufern des Tibers entwickelte er kompromisslose Ansprüche, was die Qualität des Musizierens und seine gesellschaftliche Stellung als Komponist betraf. Im katholischen Umfeld blieb er zwar Lutheraner, lernte aber eine weltoffene Gläubigkeit kennen. Ebenso reiften seine Vorstellungen von der eigenen Karriere. Alles in allem rief die Ewige Stadt in ihm künstlerische Visionen wach, die sich erst viel später, in seinen Londoner Oratorien und Concerti grossi, erfüllen sollten. Auch Händel hinterließ in Rom Spuren: Die wichtigsten Musikmäzene der päpstlichen Hauptstadt erkannten sofort das Genie des jungen Deutschen, den sie, italienischen Gepflogenheiten gemäß, „Sassone“ nannten, „Sachse“. Sie förderten sein Genie nach Kräften, öffneten ihm Kirchen und Palazzi und erteilten ihm die lukrativsten Kompositionsaufträge, die in den Jahren 1707 und 1708 am Tiber zu vergeben waren. Seine römischen Werke wurden auch nach seiner Abreise kopiert und aufgeführt. In der Musik seiner römischen Kollegen spiegelt sich die Bewunderung für sein Genie wider. All dies in einer kleinen Schrift zum Händeljahr 2009 zusammenzufassen, ist umso reizvoller, als kein Abschnitt von Händels Leben und Schaffen in den letzten Jahren so intensiv er6
forscht wurde wie die italienischen Lehr- und Wanderjahre. Ursula Kirkendale begann in den Sechziger Jahren, anhand von Dokumenten aus dem Fondo Ruspoli eine Chronologie der römischen Jugendwerke aufzustellen. Seitdem hat sie durch immer neue Dokumentenfunde das Bild des italienischen Händel stetig weiter erhellt und dabei auch seinen wichtigsten römischen Gönner, den Marchese Francesco Maria Ruspoli, ins rechte Licht gerückt1. Zu diesem neuen Bild des italienischen Händel haben viele Forscherinnen und Forscher beigetragen: Hans-Joachim Marx und Reinhard Strohm, Donald Burrows, Ellen Harris, Juliane Riepe, Carlo Vitali und viele andere2. Es ist ihren Forschungen zuzuschreiben, wenn wir heute ungleich mehr über Händel in Rom wissen, als es etwa seinem ersten Biographen John Mainwaring oder seinen Jugendfreund Johann Mattheson vergönnt war. Die meisten Biographien, die zum Händeljahr erschienen sind, haben diese neueren und neuesten Erkenntnisse schon verarbeitet3, obwohl noch immer Irrtümer von früher verbreitet werden. Daher lohnt sich eine Bestandsaufnahme dessen, was wir zurzeit über Händel in Rom wissen. Ohne Zweifel wird dieser Wissensstand schon bald erweitert und in Teilen überholt sein, denn längst noch nicht alle Reiseberichte jener Zeit wurden ausgewertet, nicht alle Zahlungsbelege, Musikerlisten und sonstigen Dokumente erfasst, in denen unbekannte Schreiber vor 300 Jahren in Rom den Namen des „Sassone“ oder des „Monsù Hendel“ eintrugen4. Unser Wissen über sein Wirken und seine Wege in Rom ist lückenhaft und wird es bleiben. Deshalb kann es auch nicht das Ziel dieses Buches sein, die Lücken zu schließen oder durch neue Hypothesen zu einer rege erwachten Forschungsdiskussion beizutragen. Eher schon soll dem mageren Bestand an Dokumenten das Leben eines historischen Panoramas eingehaucht werden, in dem das Einmalige des Augenblicks sichtbar wird: die Begegnung zwischen einem der größten musikalischen Genies des Barock und dem barocken Rom auf dem Höhepunkt seiner Prachtentfaltung.
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Deshalb handelt es sich auch um ein Lesebuch für Romreisende und Romliebhaber. Obwohl in der italienischen Hauptstadt mehr authentische Händelstätten erhalten sind als in jeder anderen Lebensstation des Komponisten, sei es in London oder Hannover, Halle oder Hamburg, Venedig oder Florenz, gemahnt doch bislang nur ein einziges Erinnerungsschild an diesen berühmten Rombesucher5. Und obwohl Händel die Ewige Stadt früher, länger und in weitaus jüngeren Jahren besucht hat als Goethe, die Bedeutung Roms für seine künstlerische Entwicklung also ungleich größer war, ist ihm doch keine „Casa di Händel“ gewidmet. Seine Erinnerungsspuren in der Ewigen Stadt muss man sich vielmehr mühevoll zusammensuchen. Dabei möchte dieses Büchlein helfen. Noch ein Letztes sei erwähnt: die erstaunliche Renaissance, die Händels römische Werke im Laufe des letzten Jahrzehnts erlebt haben. Noch Mitte der Neunziger Jahre gab es nicht einmal von allen großen römischen Kantaten Aufnahmen – von Aufführungen im Konzertsaal ganz zu schweigen. Seine beiden römi-
schen Oratorien galten als „Geheimtipp“, sein Dixit Dominus und seine sogenannte „Karmelitervesper“ als monumentale Raritäten. Dies alles hat sich gründlich gewandelt und trägt zu einem tieferen Verständnis des jungen Händel und seiner römischen Erfahrungen bei. Allen römischen Werken gemeinsam ist ihre jugendfrische Aura, ihre vor Einfällen geradezu strotzende Originalität. Es sind Zeugnisse einer glücklichen Zeit, denn Rom gewährte Händel Jahre ungestörten Schaffens, wie er sie später, als umtriebiger Musikunternehmer in der Weltstadt London, nie mehr erleben sollte.„In Wahrheit gäbe es nichts Höheres als die Verbindung des tätigen Lebens mit den ruhigen Genüssen der durch dieses schöne römische Klima erzeugten Seelenharmonie“, so schrieb Stendhal am 29. August 1817 in sein römisches Tagebuch6. Die Verbindung aus „tätigem Leben“ und „Seelenharmonie“, wie sie dem Franzosen im trägen Rom der Restaurationszeit als Utopie erscheinen musste, hat Händel 110 Jahre früher in die Tat umgesetzt.
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Abb. 1 Stich der Teutschen Academie Joachim von Sandrarts d. Ä. aus dem Jahr 1677: „Der Statt Rom Grundris und Vorstellung, wie der Zeit alle alte Ruinen, samt neuen Gebeuen, Kirchen und Palatien, aufs herrlichst erhoben und gezieret, unter iezigem Pabst Innoc: XI. anzusehen sein.“
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VORGESCHICHTE IN HALLE UND HAMBURG
Warum ging Händel nach Italien? Der Sohn des kurfürstlich brandenburgischen Leibchirurgen Georg Händel und seiner Gattin Dorothea, geborene Taust, hätte die engeren Kreise der Heimat im Grunde ebenso wenig verlassen müssen wie sein Jugendfreund Georg Philipp Telemann. Das Vermögen und die gesellschaftliche Stellung der Händels in Halle bildeten für die Ausbildung des Jungen eine verlässliche Grundlage,7 auch wenn der Vater, der bei der Geburt des Sohnes schon 62 Jahre alt war, erst davon überzeugt werden musste, dass sein Filius in der Musik besser aufgehoben sei als in einem bürgerlichen Beruf. Denn um eine alteingesessene Sippe von Musikern handelte es sich bei den Händels – im Gegensatz zu den Bachs – beileibe nicht. Georg Händel war der Sohn eines schlesischen Kupferschmieds aus Breslau, der nach Halle gezogen war, und hatte in seinem Leben auch selbst die Fremde kennengelernt: Als jungen Feldscher hatte es ihn im Dreißigjährigen Krieg bis nach Portugal verschlagen, bevor er sich 1642 oder 1643 endgültig in Halle niederließ. Die Sehnsucht nach der Fremde war dem kleinen Georg Friedrich also gewissermaßen in die Wiege gelegt worden. Seine privilegierte Stellung als Leibchirurg des Kurfürsten von Brandenburg verdankte Georg Händel waghalsigen chirurgischen Eingriffen8. Auch diesen Wagemut könnte Georg Friedrich vom Vater geerbt haben, während die dreißig Jahre jüngere Mutter für die religiöse Erziehung und die Entfaltung der musischen Neigungen zuständig war. Georg Händel starb 1697 im stattlichen Alter von 74 Jahren – wenige Tage vor dem 12. Geburtstag seines Sohnes. Damit wurde Georg Friedrich zum einzigen Mann in der Familie, der entsprechend zielstrebig seine Karriere als Musiker vorantreiben musste, um die Seinen zu ernähren. Die rührende Sorgfalt für seine Angehörigen, vor allem für seine Mutter, hat ihn lebenslang begleitet. Freilich war es ihm vergönnt, auch nach dem Tod des Vaters mit der Mutter und seinen beiden jüngeren Schwestern Dorothea Sophia und Johanna Christiana im Familienanwesen an der großen Nikolai10
straße zu wohnen. Das stattliche Haus „Zum Gelben Hirschen“, das sein Vater 1666 erworben hatte, umfasste neben Arztpraxis und Wohnung auch Stallungen, einen Brunnen und Lagerräume9. Als „Händelhaus Halle“ vermittelt es noch heute etwas von der Atmosphäre eines Treffpunkts für Besucher von nah und fern. Unweit des großen Marktes konnte der junge Händel hier städtisches Leben schnuppern und von der weltoffenen Atmosphäre seiner Heimatstadt zehren, der er bis 1703 als blutjunger Domorganist diente. Anders als Bach, den es mit zehn Jahren von dem kleinen Eisenach ins noch kleinere Ohrdruf verschlug, wuchs Händel in einer der größten Städte Mitteldeutschlands auf. Von Halle mit seinen 12.000 Einwohnern führte ihn sein Lebensweg letztlich in immer größere Städte: über Hamburg, mit 50.000 Einwohnern damals die größte Stadt Deutschlands, und Rom mit seinen rund 150.000 Bewohnern schließlich in die Weltstadt London, die mit 580.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Europas nach Paris. So zielstrebig diese Karriere eines „Stadtmenschen“ auch scheinen mag, letztlich ausschlaggebend für Händels italienische Wanderjahre war sein Wunsch, Opernkomponist zu werden, wozu ihm die Verhältnisse am Hamburger Opernhaus bald zu eng wurden. Nach seiner zweiten deutschen Oper Nero war er 1705 an einem Scheideweg seiner Karriere angelangt: Deutschland oder Italien? Kirchendienst, deutsche Oper und die Enge der deutschen Städte und Höfe oder das polyglotte Milieu der italienischen Oper, die sich damals gerade anschickte, ganz Europa zu erobern? Händel folgte dem ehernen Gesetz jeder Karriere eines angehenden Opernkomponisten im 18. Jahrhundert:„Er soll gehen, nach Italien reisen, sich berühmt machen!“ So sagte es noch 70 Jahre später der bayerische Kurfürst Max III. Joseph dem jungen Mozart10. In seiner Generation war Händel der früheste und berühmteste Italienreisende aus Deutschland. Dadurch blieb ihm letztlich das Schicksal erspart, als Opernkomponist an deutsche Bühnen und deutsche Höfe gebunden zu
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sein, wie es seinen Hamburger Kollegen Johann Mattheson und Reinhard Keiser, aber auch Gottfried Heinrich Stölzel oder Christoph Graupner erging. Alle Opernkomponisten aus Deutschland, die im 18. Jahrhundert international Karriere machten, reisten zum Studium nach Italien: Johann Adolf Hasse, Johann Christian Bach, Joseph Schuster, Johann Gottlieb Naumann, Wolfgang Amadeus Mozart. Händel war der Vorreiter dieser Gruppe. Warum aber ging er ausgerechnet nach Rom? Diese Frage ist schwieriger zu beantworten. Zwar galt Rom seit dem frühen 17. Jahrhundert als das wichtigste Reiseziel für alle künstlerisch Interessierten aus dem Norden, in erster Linie aber für Bildende Künstler, weniger für Musiker. Peter Paul Rubens und Adam Elsheimer, Nicolas Poussin und Claude Lorrain, Simon Vouet und Valentin de Boulogne, Gerrit van Honthorst und Hendrick Terbrugghen hatten hier studiert und sich für kürzere oder längere Zeit am Tiber niedergelassen. Die deutschen Musiker des Frühbarock zog es dagegen eher nach Venedig wie Heinrich Schütz, Hans Leo Hassler oder Johann Rosenmüller. Bei diesen protestantischen Komponisten mag die religiöse Toleranz Venedigs im Vergleich zum päpstlichen Hof der Gegenreformation den Ausschlag gegeben haben, ferner der Nimbus der großen Namen Giovanni Gabrieli und Claudio Monteverdi. Dem hatte Rom erst viel später Gleichwertiges entgegenzusetzen, Komponisten wie Luigi Rossi, Giacomo Carissimi oder Alessandro Stradella. Zugleich setzte sich im Umgang mit den Protestanten eine wohltuende Toleranz durch, je länger die Epoche der Glaubenskriege zurücklag. Nicht zufällig gewann die Ewige Stadt ab 1648 immer mehr an Anziehungskraft auf junge Musiker aus dem Norden, besonders Organisten. Der Wiener Hoforganist Johann Kaspar Kerll und sein weit gereister, aus Stuttgart stammender Kollege Johann Jacob Froberger machten 1648/49 den Anfang. Der in München aufgewachsene Agostino Steffani folgte 1672, der spätere Weißenfelser Hofkapellmeister Johann Philipp Krieger 1673, der Salzburger Domorganist Georg Muffat 1681. Spätestens 1680 konnte Rom mit den berühmtesten Musikernamen Italiens aufwarten: Der Geiger Arcangelo Corelli, der Organist Bernardo Pasquini und der Opernmaestro Ales-
sandro Scarlatti bildeten das Dreigestirn des römischen Musiklebens. Als Scarlatti 1703 für fünf Jahre von Neapel nach Rom zurückkehrte, verlieh er zusammen mit seinen Söhnen, mit Corelli und dessen Schülern, mit Maestri wie Carlo Cesarini oder Pierpaolo Bencini, Quirino Colombani oder Giuseppe Valentini dem römischen Musikleben einen Glanz, mit dem im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts keine italienische Metropole konkurrieren konnte. Zwar war die Oper am Tiber durch päpstliches Dekret verboten, doch hatte Rom der Opernmetropole Venedig seine reiche Kirchenmusik, die Kunst seiner Kastraten und ein vielfältiges Konzertleben entgegenzusetzen, in dem Kantate und Oratorium die zentralen Gattungen bildeten. All dies wusste Händel, als er nach Rom aufbrach, hatte ihn doch schon sein Lehrer Friedrich Wilhelm Zachow in Halle mit dem italienischen Stil vertraut gemacht. Zwei Reisen nach Berlin, die er wohl 1696 und 1702 unternahm, offenbarten ihm die kurze Glanzzeit der italienischen Musik unter Königin Sophie Charlotte von Preußen, an deren Hof seine späteren Londoner Konkurrenten Giovanni Bononcini und Attilio Ariosti wirkten. Als er Halle 1703 Richtung Hamburg verließ, war er längst ein bedeutender, im italienischen Stil versierter Musiker, wie sein Jugendfreund Telemann bezeugt hat. In Hamburg freundete er sich mit Johann Mattheson an, von dessen umfassender Kenntnis der italienischen Musik er profitieren konnte. In den Hamburger Opern des genialen Reinhard Keiser lernte er nicht nur eine Fülle von Themen kennen, die er später effektvoll in seine italienischen Werke einbauen sollte, sondern auch einen durch und durch italienischen Arienstil, der ihn nachhaltig fasziniert haben muss. Dies alles, verbunden mit den zunehmend instabilen politischen Verhältnissen in der Hansestadt Hamburg, ließ in ihm den Entschluss reifen, selbst nach Italien zu gehen, um den italienischen Stil an der Quelle zu studieren. Den unmittelbaren Ausschlag gab, wie sein erster Biograph Mainwaring bezeugt, die Einladung des Prinzen Gian Gastone de’ Medici, der das triste Eheleben mit seiner böhmischen Gattin regelmäßig gegen das bunte Treiben der Opernmetropole Hamburg eintauschte. Will man Mainwaring Glauben schenken, so kam es nach der Uraufführung von Händels erster Oper 11
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Almira zwischen dem Komponisten und dem Prinzen zu einer Auseinandersetzung um die Vorzüge und Schwächen des italienischen Stils. Daraufhin soll der Prinz eine formelle Einladung an Händel ausgesprochen haben, ihn nach Italien zu begleiten11. Tatsächlich ist der junge Hallenser dann aber selbständig gereist, und zwar mit einem gewissen Herrn von Binitz, sicher aber ausgestattet mit Empfehlungsschreiben für Gian Gastones Bruder, Ferdinando de’ Medici, den Musik liebenden Granprincipe di Toscana12. Händel reiste also nicht ins Ungewisse, sondern mit klaren Zielen in den Süden: zuerst die toskanische Hauptstadt Florenz, dann Rom, die Hauptstadt des Kirchenstaats. Viele Wege führen nach Rom, auch auf der Reiseroute, die der junge Händel in Norditalien einschlug. Leider können wir sie heute nicht mehr rekonstruieren, da sich bislang kein Dokument gefunden hat, das seine Anwesenheit in Italien vor Ende 1706 bezeugt. Verschiedentlich wurde vermutet, er habe vor Florenz und Rom bereits Venedig besucht, weil er einige seiner frühesten römischen Werke auf venezianischem Notenpapier begonnen und auf römischem vollendet hat13. Doch setzt dies nicht zwingend einen Aufenthalt in der Lagunenstadt voraus: Venezianisches Papier wurde auch in Rom gerne gekauft und verwendet, ebenso florentinisches14. Man darf zwar annehmen, dass Händel auf der üblichen Route über den Brenner nach Norditalien kam und sich schon
allein deshalb weit östlich hielt, weil der Spanische Erbfolgekrieg den Westen Norditaliens erreicht hatte: In Savoyen tobte 1706 der Kampf zwischen Franzosen und Kaiserlichen. Doch mochte er sich gerade deshalb beeilt haben, über Bologna und den Apennin möglichst rasch nach Florenz zu gelangen. Auf diesen nicht mehr zu greifenden Reisestationen erwarb sich der blutjunge „Sassone“ den Ruf eines ausgezeichneten Cembalisten und Komponisten, der ihm nach Rom vorauseilte. Einige vielleicht schon in Florenz komponierte Kantaten legen davon Zeugnis ab. In das Reich der Legende darf man dagegen eine seltsame Behauptung seines ersten Biographen John Mainwaring verweisen, wonach er seine beiden Opern Rodrigo und Agrippina für Florenz und Venedig schon geschrieben haben soll, bevor er in Rom eintraf15. Auch wenn Ursula Kirkendale diese Theorie 2004 noch einmal zur Diskussion stellte16, spricht in den Quellen alles dagegen. Mit Dorothea Schröder darf man vielmehr annehmen, dass er 1706 zunächst die Gelegenheit wahrnahm, in der üblichen HerbstStagione der italienischen Bühnen erste Operneindrücke zu sammeln, und zwar in Pratolino bei Florenz, dem Sommersitz des Ferdinano de’ Medici17. Der Granprincipe ließ dort 1706 und in den Folgejahren insgesamt fünf Opern aufführen, deren Libretti Händel später in London neu vertonen sollte, also vermutlich in Pratolino kennenlernte.
Abb. 2 Giambattista Piranesi: Piazza del Popolo (Stich aus: Vedute di Roma, Rom ca. 1747). Für Händel wie für jeden Romreisenden aus dem Norden der erste Anblick der Ewigen Stadt.
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ANKUNFT IN ROM
Der 13. Januar 1707 ist das erste Datum, zu dem Händels Anwesenheit in Rom sicher verbürgt ist. Ebenfalls Mitte Januar berichtete der Chronist Valesio, er sei vor kurzem in Rom eingetroffen. Man darf annehmen, dass dies im Dezember 1706 geschah, denn einen Band mit Kammerduetten von Agostino Steffani und Carlo Grua, den er damals eigenhändig kopierte, signierte er mit „G. F. Hendel Roma 1706“18. Wir kennen also nicht genau den Tag, an dem Händel wie jeder Reisende aus dem Norden die Porta del Popolo in der aurelianischen Mauer passierte, um auf der Piazza del Popolo die üblichen Zollformalitäten zu erledigen. Den überwältigenden Eindruck, den dieser Platz auf den jungen Musiker aus Deutschland machte, kann man sich jedoch auch heute noch leicht ausmalen.
Piazza del Popolo An die engen Gassen seiner Heimatstadt Halle und die hohen Backsteinhäuser der Hansestadt Hamburg gewöhnt, muss Händel von der Weite des Platzes, vom Grün des Pincio-Hügels und vom leuchtenden Travertin der Kirchenfassaden wie geblendet gewesen sein. Auch Florenz hatte ihm keinen solchen Anblick geboten. Allenfalls mochte er zurückdenken an den Marktplatz in Halle mit seinem großartigen Panorama, dem roten Turm und der Liebfrauenkirche. Doch Halle war eine Stadt der Türme wie Hamburg, Rom dagegen eine Stadt der Kuppelkirchen und des Travertins, der antiken Säulen, Obelisken und Monumente, der langen, geraden Straßen und spektakulären Sichtachsen.
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Abb. 3 Der Tridente, der „Dreizack“ der römischen Hauptstraßen, die von der Piazza del Popolo ausgehen (Detail aus dem Stich Abb. 1).
Die Piazza del Popolo (Abb. 2) griff damals noch nicht im Oval zum Pincio und zum Tiberufer aus, sondern wurde von geraden Klostermauern gesäumt. Umso eindrucksvoller, da perspektivisch überhöht, wirkte der Anblick der beiden Zwillingskirchen S. Maria di Montesanto zur Linken und S. Maria dei Miracoli zur Rechten. Nach dem Willen des großen Barockpapstes Alexander VII., dem wir auch die Kolonnaden des Petersplatzes verdanken, sollten die Zwillingskirchen ein „Teatro“ bilden, eine Theaterkulisse, in der sich Größe und Pracht der Ewigen Stadt dem Ankömmling aus dem Norden auf einen Blick darboten. Die antiken Zitate, die Carlo Rainaldi in die beiden Kirchen eingebaut hatte – ihre vom Pantheon geborgten flachen Kuppeln und der doppelte Portikus –, verwiesen auf die Schätze der Antike, die sich für den
Abb. 4 Porto della Ripetta (Aquarell, anonym, ca. 1750). Der unter Papst Clemens XI. ausgebaute Tiberhafen mit der Kirche S. Girolamo de’ Schiavoni im Zentrum und dem Palazzo Borghese rechts. Ein Stück weiter flussabwärts lag das Collegio Clementino, in dem im Mai 1707 wahrscheinlich Händels Trionfo del Tempo uraufgeführt wurde.
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Fremden zunächst noch hinter einem Gewirr von Häusern verbargen. Über Händels „Romerlebnis“ angesichts solcher Architektur können wir nur spekulieren – wie bei allen berühmten Plätzen, Kirchen und Palazzi der Stadt, die er im Laufe der nächsten zwei Jahre besuchte. Die meisten Barockgebäude waren nach Jahrzehnten rastlosen Bauens und Dekorierens um 1700 gerade erst fertig geworden. Die bewegten Formen ihrer Fassaden, die vielfarbigen Marmorinkrustationen im Innern, die dramatischen Deckenfresken und das Chiaroscuro auf den Gemälden der Seitenkapellen und Altäre müssen auf Händel überwältigend gewirkt haben. Freilich lag ihm nichts ferner, als über solche künstlerischen Eindrücke lange Briefe an seine Familie zu verfassen, wie dies 120 Jahre später der junge Felix Mendelssohn tat. Dem Zeitgeist des frühen 18. Jahrhunderts hätte solcher Überschwang romantischer Reisebriefe nicht entsprochen, schon gar nicht Händels nüchternem Charakter. Er war Musiker,
kein Maler oder Dichter und auch kein Bildungsreisender im Sinne Mendelssohns. Ihn interessierten die musikalischen Möglichkeiten, die sich für ihn im „Tridente“, dem „Dreizack“ des römischen Straßensystems, auftaten.
Römische Straßen Drei berühmte Straßen führen von der Piazza del Popolo ins Stadtzentrum (Abb. 3), alle drei sollten Händel zu Höhepunkten seiner römischen Karriere geleiten. Linker Hand gelangt man über die Via del Babuino zur Piazza di Spagna, die damals noch nicht von der sogenannten„Spanischen Treppe“ beherrscht wurde, die eigentlich ein französisches Bauwerk ist, und im Bannkreis der spanischen Botschaft lag – daher ihr Name. Dass Händel dem damals residierenden Botschafter Pacheco Tellez, Herzog d’Uçeda, zumindest vorgestellt wurde, belegt seine in Rom geschriebene
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spanische Kantate Nò, se emenderà jamas. Der diplomatische Status des Botschafters verwandelte die Piazza samt Via del Babuino nicht nur in einen politischen Asylbereich, sondern auch in einen illegalen Markt für zollfreie Waren19. Rechter Hand führt die Via di Ripetta zum gleichnamigen Tiberhafen (Abb. 4). Im Gegensatz zur weiter flussabwärts gelegenen „Ripa grande“ hieß dieser stadtnahe Hafen das „kleine Ufer“, denn hier wurden nur kleinere Waren und Lebensmittel, Holz und Wein verladen. Papst Clemens XI. hatte die Ripetta gerade erst durch eine prachtvolle doppelläufige Treppenanlage zum Fluss hin pittoresk ausbauen lassen. Damit setzte er sich und seiner Familie, den Albani, ein Denkmal, erleichterte die Anlieferung der Waren ins Stadtzentrum und nahm ein dringendes Problem der römischen Stadtplanung in Angriff: die Befestigung der Ufer. An den sumpfigen Gestaden des Tibers wütete nämlich – allen idyllischen Schilderungen in Händels römischen Kantaten zum Trotz – zwischen Mai und Oktober das Fieber, das nur durch eine Befestigung der Ufer dauerhaft hätte eingedämmt werden können. Es war gerade diese Anlage des heutigen Lungotevere im 19. Jahrhundert, der die Ripetta Clemens’ XI. zum Opfer fiel. Heute zeugt von ihrer Herrlichkeit nur noch ein spärlicher Rest: jener Brunnen mit der Wappen-Impresa des Papstes – der Alba, dem Morgenstern –, der zu Händels Zeit noch im Zentrum der Brunnenanlage stand, während ihn heute mitten im tosenden Verkehrslärm niemand mehr beachtet. Im Mai 1707 sollte Händel an diesem Brunnen häufig vorbeikommen, denn im Collegio Clementino, dem Priesterseminar nebenan, studierte er sein erstes Oratorium Il Trionfo del Tempo ein. Nicht zufällig enthält dieses Werk ein Duett, das den strahlenden Morgenstern preist – jene „Alba“ oder „Aurora“, die mitten in der Hafenanlage unweit des Collegio den Ruhm des regierenden Papstes aus dem Hause Albani verkündete. An der Via del Corso, der zentralen der drei Verkehrsachsen, die von der Piazza del Popolo ausgehen, sollte Händel die größten Triumphe seiner römischen Jahre feiern: In der Kirche S. Maria di Montesanto gleich links am Eingang zum Corso führte er im Juli 1707 seine Vespermusik für die Karmeliter auf. Im heutigen Palazzo Doria Pamphilj am unteren Ende der 16
schnurgeraden Straße erlebte im Februar 1707 seine erste große Kantate Delirio amoroso ihre Uraufführung. Unweit der Piazza Venezia, in die der Corso mündet, fanden sich im April 1708 mehr als 1500 Römer ein, um im Palazzo Bonelli die glanzvollen Aufführungen seines Osteroratoriums La Resurrezione zu erleben. Schon damals war der Corso Roms Lebensader und Flaniermeile, obwohl von Flanieren im heutigen Sinne nicht die Rede sein konnte: Auf der staubigen Straße gingen vornehme Römer nur dann zu Fuß, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Ansonsten benutzten sie die Kutsche oder die Sänfte. Auf dem Corso herrschte der „Corso“ der Pferdekutschen, das Auf und Ab der Zwei-, Vier- oder Sechsspänner, deren Kutscher mitunter nicht weniger waghalsige Wendemanöver präsentierten als die römischen Autofahrer heute. Um fünf Uhr nachmittags setzte sich der Tross der Karossen in Richtung Piazza Venezia in Bewegung und absolvierte den täglichen Rundkurs über die Piazza SS. Apostoli und die Fontana di Trevi zurück zur Piazza del Popolo20. Händel konnte dieses Schauspiel nicht nur vom Palast seines Padrone aus verfolgen, sondern selbst mittun, denn er verfügte über eine eigene Kutsche und einen Diener. Damit erfüllte er die Grundanforderungen des vornehmen Lebens am Tiber, die bereits der Hl. Karl Borromäus auf eine einfache Formel brachte: Um in Rom Erfolg zu haben, brauche man nur zwei Dinge: Gottesliebe und eine Kutsche21. Noch eines war um 1700 auf dem Corso anders als heute: Das aktuelle Straßenbild mit seinen einheitlichen hohen Fassaden stammt aus dem 19. Jahrhundert. Zu Händels Zeit grenzten hier noch die hohen, prachtvollen Travertinfassaden der Kirchen und Palazzi unmittelbar an niedrige, ärmliche Hauswände. Der Kontrast in Lebensstil und Bauweise war schreiend: „Dieses Disparate ist ein weit verbreiteter Fehler: hier Palazzi, dort Bruchbuden! Ein erhabenes Gebäude umgeben von hundert hässlichen Häusern“, bemerkte 1740 der Franzose Charles de Brosses22. Um 1700 zählte man in der Stadt mehrere Hundert Palazzi. Dort residierten die Kardinäle, Prälaten und Adelsfamilien in höchstem Luxus, während sich der Großteil der Bevölkerung mit den engen, staubigen Mietshäusern begnügen musste. Die Palazzi waren so verschwenderisch
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gebaut und sparsam bewohnt, dass man ganze Raumfluchten durchqueren konnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Nebenan drängten sich die ärmeren Römerinnen und Römer auf engstem Raum zusammen. Am härtesten hatte es die Juden getroffen, die im Ghetto zusammengepfercht waren. Ihr Stadtviertel, jene notorisch von Überschwemmungen heimgesuchte Senke zwischen Marcellustheater und Tiberinsel, wurde des Nachts zugesperrt. Nur tagsüber durften sie ihren Geschäften mit der christlichen Bevölkerung nachgehen. Dazu gehörte auch das einträgliche Möblieren der Palazzi. Da die meisten Räume dieser barocken Wohnburgen für gewöhnlich leer standen, ließ man sie nur dann möblieren, wenn ein Gast zu beherbergen war. So schlief auch Händel von Februar bis Mai 1708 im Palazzo Bonelli in einem Bett, das bei einem jüdischen Händler gemietet worden war.
Einzug im Palazzo Der Zahlungsausgang für die Monatsmiete jenes „letto per Monsu Endel“23 ist wie viele andere Details zum täglichen Leben des Komponisten in den Rechnungsbüchern des Marchese Francesco Maria Ruspoli vermerkt, in den „Libri delle Giustificazioni“ des „Fondo Ruspoli“. Dort wurden sie erstmals vor nahezu einem halben Jahrhundert von Ursula Kirkendale entdeckt und für die Forschung erschlossen24. Neben reizvollen Einblicken in den römischen Alltag machte dieser Dokumentenfund vor allem eines deutlich: Wie jeder große Künstler im barocken Rom lebte auch Händel in der „familia“ eines Padrone, eines adligen Gönners und Auftraggebers, der ihm Kost und Logis, standesgemäßes Leben und seinen Schutz gewährte. Dafür musste ihm der junge Künstler seine Schaffenskraft als Komponist und seine Virtuosität als Cembalist zur Verfügung stellen. Bis vor wenigen Jahren glaubte man noch, Händel sei zunächst in den Dienst des Kardinals Benedetto Pamphilj getreten und erst im Laufe des Jahres 1707 in die „familia“ des Marchese Ruspoli übergewechselt. Seit Ursula Kirkendale 2003 eine Reihe neuer Dokumente aus den Archiven des Vatikans veröffentlichte, steht fest, dass Händel gleich bei seiner Ankunft in Rom
vom Marchese Ruspoli in seinem Haus untergebracht wurde, und zwar offenbar im heutigen Palazzo Pecci Blunt am Fuße des Kapitols, damals der alte Familienpalast der Familie Marescotti-Ruspoli25. Francesco Maria, Händels Gönner, war 1672 als Sohn des Grafen Alessandro Capizuchi zur Welt gekommen, der ursprünglich Marescotti geheißen hatte26. Dieser Name hatte in Rom um 1700 vor allem deshalb einen guten Klang, weil Francescos Onkel, Kardinal Galeazzo Marescotti, zu den mächtigsten Männern der Kurie zählte und im Konklave zweimal als „papabile“ gegolten hatte, als Kandidat für den Heiligen Stuhl (1670 und 1700). Sein Neffe lebte mit Ehefrau und Kindern seit 1688 im Palazzo des Onkels unweit der Kirche S. Lorenzo in Lucina, bevor er 1706 einen eigenen Haushalt begründete. Denn am 22. September 1705 wurde ihm nach einem langen, Aufsehen erregenden Erbschaftsprozess das Vermögen seines Großonkels Bartolomeo Ruspoli zugesprochen. Er konnte es allerdings nur unter der Bedingung antreten, dass er den Namen „Ruspoli“ annahm. So wurde Francesco Maria Ruspoli zum Begründer einer der vornehmsten römischen Familien. Noch heute sind sie unter ihrem von Francesco Maria erworbenen Titel der Fürsten von Cerveteri eine feste Größe im öffentlichen Leben Italiens. Bevor Francesco Maria 1713 von den Caetani den großen Palast am Corso kaufte, der heute „Palazzo Ruspoli“ heißt, mietete er für sich und seine Familie den Palazzo Bonelli an der Piazza SS. Apostoli, direkt gegenüber dem Palazzo Colonna gelegen. Der kantige, einen ganzen Block umfassende Palast aus dem späten 16.Jahrhundert ist heute Sitz der Prefettura von Rom. Den alten Familienpalast zu Füßen des Kapitols, den einst sein Erbgroßonkel Bartolomeo Ruspoli bewohnt hatte, nutzte er dagegen, um Gäste unterzubringen. Dort wohnte offenbar auch Händel in seinem ersten römischen Jahr, während er 1708 im Palazzo Bonelli residierte, wie man u. a. aus der besagten Zahlung an den jüdischen Möbelverleiher weiß. Dass Händel bei seiner Ankunft in Rom zuerst im alten Familienpalast am Kapitol wohnte, geht wiederum aus Zahlungen an einen Handwerker hervor: Ein Maler und Vergolder wurde mit seinen Gesellen dafür bezahlt, dass er vor Weihnachten 1706 nicht nur Zeich17
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nungen für eine Krippe in diesen Palazzo lieferte, drei Sänften und ein großes Buffet bemalte, sondern auch ein Cembalo in die Reihe brachte27. Wer anders als der junge Händel könnte an ihm Platz genommen haben? In den Monaten vor Händels Ankunft hatte der junge Marchese in fieberhafter Eile eine standesgemäße Hofhaltung aufgebaut, die seinem neuen Status und Vermögen entsprach. Dazu gehörte einerseits die umfassende Renovierung des Palazzo Bonelli, andererseits die Aufstockung seiner Musiker zu einer kleinen Hofkapelle. Spätestens 1704 hatte er den Geiger Pietro Castrucci in seinen Dienst genommen, einen der besten Schüler Corellis, der zudem der Sohn von Ruspolis Cameriere war28. Einige Zeit später kam ein weiterer Corellischüler hinzu: Silvestrino Rotondi. Für diese beiden Musiker schrieb Händel die meisten der virtuosen Geigenstimmen in seinen römischen Kantaten. Obwohl Ruspoli also schon vor Händels Ankunft über virtuose Streicher verfügte, fehlten ihm doch an zwei Positionen noch „Virtuosi“, die seinen Ansprüchen genügten: am Cembalo und im Gesang. Aus diesem Grunde verpflichtete er zum Jahresende 1706 die junge Sopranistin Margarita Durastante und den jungen Händel.
Im Dienst eines Padrone Es war letztlich ein Zufall, dass sich für Händel in Rom so schnell und an so zentraler Stelle eine angemessene Position auftat, denn bei den großen Musikmäzenen der Stadt waren alle entscheidenden Posten längst besetzt. Ruspoli aber brauchte just damals einen jungen Musiker vom Schlage Händels, der es ihm ermöglichte, mit den Musik liebenden Kardinälen in Konkurrenz zu treten. Die drei wichtigsten von ihnen – die Kardinäle Pietro Ottoboni, Benedetto Pamphilj und Carlo Colonna – zählten zu seinen engsten Freunden, nicht zuletzt seines neu erworbenen Reichtums wegen, von dem besonders Ottoboni via großzügiger Kredite profitierte. Zwischen den drei Kardinälen herrschte ein freundschaftlicher Wettstreit um den Vorrang im Musikleben Roms. Als Händel am Tiber eintraf, schickte sich Ruspoli gerade an, dieses Trio der Mäzene zum Quartett zu erweitern. 18
Cembalist und Komponist im kleinen Hausorchester des Marchese zu sein, hatte für Händel gleich mehrere Vorteile: Er diente einem Padrone, der als gesellschaftlicher Aufsteiger sein gewaltiges Vermögen vehement zur Hebung seines Prestiges einsetzte, wozu im päpstlichen Rom um 1700 die Musik das wirkungsvollste Mittel war. Er konnte beim Aufbau einer exklusiven Hofkapelle mitwirken und hatte dort alle Musiker an der Hand, die er brauchte, um ungestört im italienischen Stil komponieren und experimentieren zu können. Und er fand sich mitten im Zentrum eines mäzenatischen Netzwerks wieder, das nicht nur die Musik der Metropole beherrschte, sondern auch über Verbindungen zu den besten Literaten und bildenden Künstlern verfügte, die man brauchte, um Vokalmusik zu schaffen und sie im großen Stil aufzuführen. Alle drei Aspekte wiederholten sich 1713 in London, als Händel in den Palast des Earl of Burlington einzog, und noch einmal 1717, als er in den Dienst des Earl of Carnarvon, James Brydges, trat, des späteren Duke of Chandos. Beide waren wie der Marchese Ruspoli junge, ehrgeizige Adlige in exponierter Stellung, bei beiden blieb Händel für zwei bis drei Jahre Hausgast in einem Dienstverhältnis ohne feste Verpflichtungen. Auf allen drei Positionen konnte Händel, ohne als „Hofkapellmeister“ an den eng umgrenzten Dienst einer deutschen Hofkapelle gebunden zu sein, vom hohen gesellschaftlichen Rang seiner Auftraggeber und ihrem mäzenatischen Ehrgeiz profitieren. Um Musiker von höchster Qualität brauchte er sich ebenso wenig zu sorgen wie um Aufführungsmöglichkeiten für seine Stücke. Die Freiheiten des Patronatssystems im Gegensatz zum deutschen Hofdienst, aber auch den Luxus des aristokratischen Lebens wusste er zu schätzen und hat beides als adäquat für seine Person betrachtet. Davon legten später in London nicht nur die stattlichen Porträts des Meisters und sein Haus in der Brook Street beredtes Zeugnis ab, sondern auch sein berühmt-berüchtigter lukullischer Lebensstil und seine ungezwungenen Umgangsformen mit seinen Londoner Auftraggebern. Für all dies musste Händel mit Musik bezahlen: Sein musikalischer Stil hatte dem Rang und dem Geschmack seiner Auftraggeber zu ent-
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sprechen. Er musste repräsentativ, festlich, groß und angenehm schreiben,„majestically sweet“, wie es der englische Adel später an seinen Werken so schätzte29, doch nicht zu kunstreich und kompliziert. Eine Musik für Kenner voll dichter Mittelstimmen und kontrapunktischer Künste zu schaffen, wie es Johann Sebastian Bach selbst an den Fürstenhöfen in Weimar und Köthen tat, hätte sich Händel nicht leisten können. Die dreifache rhetorische Aufgabe der Musik im Barock – das Movere, Docere und Delectare, das Bewegen, Belehren und Erfreuen – reduzierte sich für ihn schon in Rom weitgehend auf das Movere und Delectare. In all diesen Aspekten nahm das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Händel und seinen adligen Auftraggebern, wie es seine spätere Existenz in London bestimmen sollte, zuerst in Rom Gestalt an – im Dienst des Marchese Ruspoli und seiner Freunde. Schon im Januar und Februar 1707 konnte Händel, wie wir gleich sehen werden, von den Verbindungen seines Padrone profitieren. Zunächst aber nahm er an jenem kostbaren, vergoldeten Cembalo Platz, das römische Handwerker für ihn im Advent 1706 in Ordnung gebracht hatten. Vielleicht war es jenes „bellissimo cembalo a sette registri“, ein Instrument mit sieben Registern, das kein Geringerer als Ferdinando de’ Medici 1703 der Ehefrau des Marchese Ruspoli, Isabella Cesi, geschenkt hatte30. Es waren offenbar genau diese guten Beziehungen der Marchesa Ruspoli zum Granprincipe di Toscana, die Händel den Weg von Florenz nach Rom geebnet hatten.
Römische Weihnachten Bevor wir den jungen Händel auf seinen ersten dokumentarisch verbürgten Schritten im Musikleben der Ewigen Stadt begleiten, müssen wir eine Episode einschieben, für die es kein einziges römisches Dokument aus seiner Jugendzeit gibt, wohl aber einen Beleg aus seinem späteren Schaffen: Händels erstes römisches Weihnachtsfest. Jahrzehnte nach seiner Ankunft in Rom, 1741, schrieb er für seinen Messias die berühmte Pifa, jenes Orchesterstück, das die Zuhörer auf die Verkündigung an die Hirten einstimmen soll. Deutlich hat Händel mit dieser Hirtenmusik auf
die römische Weihnachtsmusik der „Pifferari“ bzw. „Zampognari“ angespielt. So nennt man bis heute die Hirtenmusiker aus den Abruzzen, die jedes Jahr zu Weihnachten nach Rom kommen, um in den Straßen zu musizieren, und zwar auf Zampogna und Piffero, Dudelsack und Schalmei. Händel muss ihre Musik gehört haben, sonst hätte er seine Pifa nie schreiben können, ja auch dieses Wort selbst geht auf die römische Weihnachtsmusik zurück, und zwar nicht auf den Piffero, sondern auf die Zampogna, die von den Römern auch„Piva“ genannt wird31. Eine der beliebtesten Weihnachtsweisen der Zampognari heißt bis heute „Piva, piva“32. Wenn also Händel dieses römische Wort und die Musik der „Pifferari“ so gut kannte, dass er sie im Messias aufgreifen konnte, muss er mindestens ein Weihnachtsfest in Rom erlebt haben. Zu Weihnachten 1706 war er, wie wir gesehen haben, sicher schon in der Stadt. Für Weihnachten 1707 ist dies eher unwahrscheinlich, für Weihnachten 1708 zumindest unsicher. Nach den historischen Beschreibungen, die wir zum Brauchtum der Zampognari besitzen, gehörte ihr Musizieren für rund sechs Wochen zum täglichen Leben in Rom33: Sie kamen zum Fest der Hl. Katharina, dem 25. November, in die Stadt und blieben bis Epiphanias am 6. Januar. Das eigentliche Ziel, zu dem sie nach Rom pilgerten, waren die „Madonelle“ oder „Madonnine“, Darstellungen der Madonna, wie man sie noch heute überall im Centro storico an Hauswänden und an Straßenecken sehen kann. Wer etwas auf sich hielt und als fromm gelten wollte, gab eine solche „Madonella“ in Auftrag. Sie erfüllte zugleich eine praktische Funktion: Straßenbeleuchtung gab es in Rom noch nicht, aber vor jeder Madonella brannte ein Licht, das den Römern in der Nacht den Weg wies34. Die gleichen Padroni, die sich eine Madonella leisteten, bezahlten im Dezember zwei Zampognari dafür, dass sie vor diesem Bildnis täglich musizierten. Der Marchese Ruspoli gehörte sicher dazu, befand sich doch im Hof seines Onkels, bei dem er fast 20 Jahre lang wohnte, die berühmte Madonnina di Santa Casa di Loreto, nach der man den gesamten Häuserblock benannte35. Da die Zahl der Madonelle in Rom bis 1850 auf mehr als 2700 anwuchs, von denen sich bis heute immerhin rund 600 erhalten haben, und die Zampognari ihren Dienst 19
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bereits in aller Frühe begannen, kann man den Stoßseufzer des französischen Romanciers Stendhal verstehen, der am 21. Dezember 1827 verärgert in sein römisches Tagebuch schrieb: „Seit zwei Wochen werden wir schon um vier Uhr früh von Pifferari oder Kornamusen-Spielern geweckt. Man könnte die Musik hassen lernen!“36 Ein ähnlich unmittelbares Zeugnis für Händels Reaktion auf die Zampognari hat sich nicht erhalten, wohl aber ein musikalisches: die Pifa im Messias. In ihr setzte er Motive aus mehreren gängigen Weisen der Zampognari zu einem neuen melodischen Bogen zusammen, der sich den urwüchsigen Charme dieser Musik, ihre „leirigen“ Motive und ihre Bordunklänge bewahrt hat, ohne ihren lärmenden Klang zu imitieren. So beruht auch die melodische Übereinstimmung mit einer Arie seines Londoner Konkurrenten Attilio Ariosti, auf die Graydon Beeks hingewiesen hat37, zweifellos auf dem gemeinsamen Vorbild: jener Volksweise, die sich mit dem Text „Venite tutti quanti voi pastori“ in San Donato val di Comino erhalten hat. Händel vermischte in der Pifa den Anfang dieser Melodie mit typischen Wendungen aus anderen Pifferari-Melodien. Diese unverkennbare „Dudelsackmusik“ hat er sicher auch deshalb an jener Stelle des Messias angebracht, weil er wusste, dass seine römischen Kollegen in ihren Kantaten und Konzerten für Heiligabend stets die Musik der Zam-
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pognari nachahmten. Der berühmteste Streichersatz dieser Art ist die Pastorale aus Corellis Concerto per la notte di Natale, op. 6 Nr. 8, das Händel sicher ebenso gut kannte wie diverse Arien aus den Weihnachtskantaten von Alessandro Scarlatti. Zwischen der Christvesper im Vatikan und der Christmette in S. Maria Maggiore pflegte der Heilige Vater im Apostolischen Palast mit den Kardinälen ein Festmahl zu sich zu nehmen, „una lautissima Cena“, und zuvor die „Eminentissimi“ mit einer „Cantata volgare sopra la Natività del Bambino Gesù“ zu unterhalten, einer Kantate in italienischer Sprache über die Geburt des Jesuskindes. Scarlatti erhielt zwischen 1695 und 1707 allein vier Mal den Auftrag, eine solche Weihnachtskantate zu schreiben, u. a. 1705. In diesem Stück sowie in der Cantata pastorale per la nascita di Nostro Signore „Oh, di Betlemme altera“ schuf er wunderbare Anspielungen auf die Musik der Zampognari. Händel hat ihre Musik im Messias gleich an zwei Stellen aufgegriffen: in der Pifa und in der Arie „He shall feed his flock like a shepherd“. Hier zitierte er eine besonders beliebte ZampognariWeise, auf die der Heilige Alfonso de’ Liguori im Jahre 1755 das Weihnachtslied „Quanno nascette ninno“ dichten sollte. Im Messias war es der Topos des guten Hirten, der Händel an dieser Stelle zum Sechsachteltakt und zu den melodischen Anklängen an jene Melodie der Zampognari greifen ließ.
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EIN GENIE WIRD ENTDECKT
Kaum war die Weihnachtsmusik der Zampognari in den Straßen Roms verklungen, musste Händel das heikle Unterfangen beginnen, sich gegen die einheimische Konkurrenz zu behaupten. Er hat es strategisch geschickt eingefädelt: mit einer Vorstellungsrunde bei den wichtigsten Musikern der Stadt und mit taktischem Understatement, seine Fähigkeiten auf dem Cembalo betreffend.
Der verzauberte Dreispitz Beides wissen wir nur dank eines hugenottischen Seidenhändlers aus Hanau mit dem Namen Denis Nolhac, der damals zufällig in Rom weilte und Händel traf. Am 13. Januar 1707 fand im Hause der beiden Kastraten Pasqualino Tiepoli und Pasqualino Betti eine musikalische Gesellschaft statt, auf der sich auch Händel einfand. Als Nolhac seine Reiseerinnerungen 1737 in Frankfurt am Main zum Druck beförderte, gab er seiner Schilderung dieses Abends den Titel „Histoire du Musicien Haindel“ („Geschichte vom Musiker Händel“)38: „Während dieses Aufenthaltes, den ich in Rom verbrachte, kam dort der berühmte Händel an, ein deutscher Musiker, dessen Ruf damals, um die Wahrheit zu gestehen, noch nicht so etabliert war, wie es seitdem der Fall ist; ich hatte die Gelegenheit, ihn im Hause der beiden berühmten Musiker des Papstes namens Pasqualino zu sehen; da sie lange Zeit in Paris gewesen waren, im Dienste des Herzogs von Orléans, waren sie bezaubert, wenn sie Franzosen trafen, erwiesen ihnen tausend Ehren und kamen sogar manchmal zu mir, um eine Suppe à la Française zu essen. Monsieur Händel stattete allen renommierten Musikern in Rom einen Besuch ab, also kam er auch zu den Beiden, die mich zu dieser Gelegenheit einluden. Ich fand mich ein und traf dort alles an, was es an fähigen Musikern in Rom gab, sowohl für Singstimmen als auch für Instrumente. Uns wurde mit Erfrischungen aufgewartet, mit ‚Rinfreschi‘, wie man sagt. Nach einer kleinen Konversation trat Händel an ein Cembalo heran
und spielte, den Hut noch unter dem Arm, in einer sehr unbequemen Haltung, dieses Instrument so kenntnisreich, dass Alle davon überrascht wurden. Und weil Monsieur Händel Sachse und folglich Lutheraner war, ließ sie dieser Umstand auf den Argwohn verfallen, dass sein Spiel übernatürlich sei. Ich hörte sogar einige sagen, dass er wohl nicht zufällig seinen Hut bei sich behalte. Ich lachte in mich hinein angesichts dieses amüsanten Einfalls. Und indem ich mich Monsieur Händel näherte, um ihn spielen zu sehen, erzählte ich ihm – und zwar auf Deutsch, damit sie mich nicht verstanden – von dem lächerlichen Verdacht dieser Signori Virtuosi. Einen Augenblick später ließ er wie zufällig seinen Hut fallen, setzte sich bequem hin und spielte viel besser als zuvor ... Was dem berühmten Monsieur Händel passiert ist, bestätigt mich in meiner Meinung, wie sehr doch die Italiener und besonders die Römer vom Aberglauben an die Macht des Teufels und der Zauberer besessen sind.“
Orgelkonzert im Lateran Nachdem Händel auf diese Weise die Musiker Roms zugleich eingeschüchtert und entwaffnet hatte, machte er sich am nächsten Tag daran, auch die Kardinäle und übrigen kirchlichen Würdenträger von seiner Virtuosität zu überzeugen. Dazu wählte er sich den denkbar vornehmsten Platz aus: die Basilika S. Giovanni in Laterano, die Bischofskirche des Papstes, „Mutter und Haupt aller Kirchen der Stadt und des Erdkreises“ („omnium urbis et orbis ecclesiarum mater et caput“). Die Konstantinische Basilika aus dem 4. Jahrhundert war zum Heiligen Jahr 1650 wegen akuter Baufälligkeit von Francesco Borromini auf geniale Weise barockisiert worden. Davon ausgenommen blieben die Apsis und das Querhaus mit seinen manieristischen Fresken. Auf diese Weise blieb dort auch die große Orgel aus dem späten 16. Jahrhundert erhalten. 1598–1601 von Luca Biagi aus Perugia erbaut, war sie erst 30 Jahre vor Händels Eintreffen restauriert worden. Ihr prachtvoller 21
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barocker Prospekt von Giovanni Battista Montano überspannt noch heute die gesamte Eingangswand des nördlichen Querhauses. Das Instrument übertraf damit schon in seiner Dimension jede andere Orgel im damaligen Rom (Abb. 5). Für den Marchese Ruspoli lag es nahe, den Erzpriester der Lateransbasilika, Kardinal Benedetto Pamphilj, um seine Erlaubnis zu bitten, dem jungen Lutheraner aus Sachsen ein Orgelkonzert an diesem eindrucksvollen Instrument zu gestatten. Natürlich konnte Pamphilj der Ver-
suchung nicht widerstehen, diesen neuen Stern am römischen Musikhimmel in „seiner“ Basilika vorzustellen. Er war von Händels Orgelspiel so hingerissen, dass er ihm später im Text zu seinem Oratorium Il Trionfo del Tempo auch dichterisch ein Denkmal setzte, und zwar in einer Arie des Vergnügens, Il Piacere: „Un leggiadro giovinetto / bel diletto / desta in suono lusinghier.“ („Ein leichtherziger Jüngling weckt süße Lust durch verführerischen Klang.“) Weitaus prosaischer kommentierte der römische Chronist Valesio Händels Orgelkonzert im
Abb. 5 Orgel der Basilika S. Giovanni in Laterano, erbaut von Luca Biagi 1598–1601, renoviert 1675 und zuletzt 1984. Hier gab Händel am 14. Januar 1707 ein Orgelkonzert.
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Lateran: „Freitag, 14. (Januar). Es ist in dieser Stadt ein Sachse angekommen, ein ausgezeichneter Cembalist und Komponist, der heute durch seine Virtuosität Aufsehen erregte, indem er die Orgel der Kirche S. Giovanni zum Erstaunen Aller spielte.“39 Dass mit dem sächsischen Organisten tatsächlich Händel gemeint war und vor welch erlauchter Gesellschaft er im Lateran spielte, hat glücklicherweise Nolhac festgehalten, und zwar im Anschluss an den eben zitierten Bericht über den Abend bei den beiden Pasqualini: „Am Tag danach war er (Händel) in S. Giovanni in Laterano, um einige Orgeln zu spielen, wo es einen außergewöhnlichen Auflauf von Kardinälen, Prälaten und Adligen gab.“40 Seine „virtù in sonare l’organo“ und sein „exzellentes“ Cembalospiel bahnten Händel den Weg zum Herzen der Römer. In den folgenden Monaten ist er immer wieder als Cembalist aufgetreten, während wir über weitere Orgelkonzerte in römischen Kirchen leider keine Dokumente besitzen. Spektakulärer Höhepunkt seiner römischen Auftritte auf beiden Instrumenten war der musikalische Wettstreit mit dem jungen Domenico Scarlatti, den Kardinal Ottoboni arrangierte, ohne dass wir dazu Näheres wüssten. Domenico Scarlatti siedelte erst im Jahre 1709 dauerhaft von Venedig nach Rom über, um dort seinen Dienst als Kapellmeister bei der polnischen Exilkönigin Maria Casimira anzutreten, der Witwe des Königs Johann III. Sobieski, des Siegers über die Türken bei Wien. Händel andererseits hielt sich damals, nach allem, was wir wissen, nicht mehr in Rom auf. Dennoch gab es zwei Gelegenheiten für den Wettstreit der beiden gleichaltrigen Virtuosen: Am 23. Januar und 8. September 1708 assistierte Domenico seinem Vater zweimal als Organist an der Basilika S. Maria Maggiore41. Der zweite Termin ist wohl der wahrscheinlichere für den berühmten Wettstreit. Kardinal Ottoboni war nicht nur als Mäzen der Familie Scarlatti der ideale Initiator eines solchen Musikerduells, sondern auch aus praktischen Gründen: Zu seinem Amtssitz, dem Palazzo della Cancelleria, gehört noch heute die Basilika S. Lorenzo in Damaso. Ihre von Bernini aufwendig gestaltete Apsis enthielt auf beiden Emporen große Orgeln42. Händel und der junge Scarlatti mussten also nach dem Cembalospiel
in Ottobonis Palast nur nebenan auf die Orgelemporen wechseln, um ihren Wettbewerb fortzusetzen. Für den ersten Teil der Veranstaltung hatten sie die Wahl zwischen den insgesamt 12 Cembali, die Ottoboni in seinem Palast untergebracht hatte43. Die einzige Quelle für diesen Wettbewerb, die sich erhalten hat, ist die früheste Händelbiographie von John Mainwaring, der sicher viele Details aus Händels Jugendjahren vom Komponisten selbst erfuhr, so auch den Ausgang des musikalischen Wettstreits: Auf dem Cembalo wurde „dem Scarlatti der Vorzug zuerkannt“, auf der Orgel trug Händel „den Preis davon“44. Dabei zeigte sich ein charakteristischer Unterschied im Stilistischen, den auch Händels Kompositionen im Vergleich zu den Werken seiner römischen Konkurrenten bald unter Beweis stellen sollten. Mainwaring schrieb dazu: „Die eigentliche Vortrefflichkeit des Scarlatti schien in einer gewissen Zierlichkeit zärtlicher Ausdrückungen zu bestehen. Dahingegen besaß Händel etwas Glänzendes und Funkelndes im Spielen, bey erstaunlicher Fertigkeit der Finger. Was ihn aber von allen anderen förmlich unterschied, war die entsetzliche Vollstimmigkeit und nachdrückliche Stärke, die er dabey bewies. Diese Anmerkung kann auch, bey Betrachtung seiner Komposition, ihre Gültigkeit haben, mit eben dem Rechte, als in Ansehung des Spielens.“45 In der Tat trifft der Ausdruck „entsetzliche Vollstimmigkeit“ genau den Charakter von Händels römischer Kirchenmusik und vieler Passagen in seinen beiden römischen Oratorien. Er erinnert nicht zufällig an die berühmt-berüchtigte „terribilità“ des Michelangelo, aber auch an die Reaktion der Römer auf den jungen Peter Paul Rubens: Bellori fasste die Kunst des Flamen 1672 in dem Begriff der „furia del pennello“ zusammen, dem „Wüten des Pinsels“46. Nicht minder entfesselt war die „furia“ der musikalischen Pinselstriche in den römischen Jugendwerken Händels.
Die Akademien der Mäzene „Ich höre sehr gute Musik und treffe mit äußerst gelehrten Leuten zusammen, die ausgezeich23
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net schlussfolgern ... Hier ist jeder mit allem vertraut, was mit Musik zusammenhängt.“47 So schilderte Stendhal 110 Jahre nach Händels römischem Aufenthalt die Atmosphäre der Konzerte am Tiber, die man 1817 wie 1707 „Accademia“ nannte, „Akademie“. Im Januar und Februar 1707 begann Händel, sich seinen Weg durch diese typisch römischen Veranstaltungen zu bahnen – ausgehend von den Konzerten seines Gönners Ruspoli über die Akademie der beiden Pasqualino bis hin zu den Akademien der Kardinäle. Die wichtigsten Musikmäzene hatten ihre Konzertabende in einem festen Turnus aufeinander abgestimmt: Kardinal Pietro Ottoboni, der Vizekanzler der römischen Kirche, veranstaltete mittwochs abends seine Akademien im Palazzo della Cancelleria, dem päpstlichen Kanzleipalast unweit des Campo de’ Fiori. An jedem Freitagabend lud Kardinal Benedetto Pamphilj in den riesigen Palazzo seiner Familie zwischen Corso und Collegio Romano ein, den heutigen Palazzo-Doria Pamphilj. Jeden Sonntag veranstaltete der Marchese Ruspoli im Palazzo Bonelli an der Piazza SS. Apostoli seine „Conversazione“. Diesem Palazzo gegenüber liegt noch heute der gigantische Komplex des Palazzo Colonna, Stammsitz einer der mächtigsten alten Adelsfamilien des Latiums. Auch dort veranstaltete Kardinal Carlo Colonna, der Haushofmeister des Papstes, regelmäßig Konzerte. Im Viereck dieser Palazzi, die zu den größten Barockbauten Roms zählen und kaum mehr als einige Hundert Meter voneinander entfernt liegen (Abb. 6), spielte sich die weltliche Seite von Händels römischer Karriere ab. Freilich war keiner dieser Palazzi damals einem Verkehrslärm ausgesetzt, der sich mit der heutigen Situation auf der Via IV Novembre oder dem Corso Vittorio Emmanuele vergleichen ließe. Die Piazza SS. Apostoli war von der Piazza Venezia durch enge Straßen abgetrennt und bildete einen in sich geschlossenen Bereich. Ebenso abgeschirmt lag die Piazza della Cancelleria hinter einer Wand von Häusern, den „Case de’ Galli“, die im 19. Jahrhundert komplett abgerissen wurden48. In den vier Konzertreihen pflegte Händel ständigen Umgang mit den höchsten Würdenträgern des päpstlichen Hofes. Sie begegneten ihm nicht nur als Gastgeber, sondern auch als Zuhörer mit ausgesuchter Hochachtung, denn 24
schon bald war der Ruhm des „Sassone“ in aller Munde. Wenige Monate, nachdem Valesio von seiner Ankunft berichtet hatte, war aus dem „Sachsen“ Händel schon der „berühmte Sachse“ geworden. So nannte ihn Annibale Merilini in einem Brief vom 24. September 1707 an den Granprincipe Ferdinando in Florenz, dem er die Künste eines erst dreizehnjährigen römischen Lautenisten anpries49. Merilini berichtete, der Knabe spiele bereits in den „ersten Akademien Roms“, zu denen er die wöchentlichen Konzerte des Kardinals Ottoboni und die täglichen des Kardinals Colonna zählte. Als Zeugen für die Virtuosität des Wunderkindes nannte er den „Sassone famoso che lo ha ben inteso in Casa Ottoboni, ed in Casa Colonna ha sonato seco e vi sona di continuo“. Der „berühmte Sachse“ Händel hatte also jenen jugendlichen Lautenisten im Palast Ottobonis gehört und im Palazzo Colonna mit ihm des Öfteren musiziert. Dies beweist, dass Händel in beiden Akademien ein gern gesehener Gast war50. Händels Anwesenheit in den wöchentlichen „conversazioni“ seines Gönners Ruspoli kann vorausgesetzt werden. Ursula Kirkendale ging davon aus, dass er dort jede Woche eine neue Cantata vorstellte, also eine Solokantate in italienischer Sprache. Nur einzelne dieser Aufführungen werden in den römischen Quellen ausdrücklich genannt, so etwa die Aufführungen einer „Cantata Con Stromenti di Monsù Hendel“ am 2. September 1708 und einer weiteren eine Woche später, jeweils in der sonntäglichen „Conversazione“ bei Ruspoli. Der Marchese hatte in diesem Fall die Zahlung besonderer Musikerhonorare für die beiden Aufführungen gegengezeichnet51. Während wir Händels Namen leider nur selten im Zusammenhang mit solchen Honorarzahlungen für konkrete Aufführungen finden, erwies sich eine andere Quellenart als überaus ergiebig: die Abrechnungen der Notenkopisten. In einer Stadt wie Rom mit ihren ständigen Uraufführungen neuer Musikstücke hatten die Kopisten alle Hände voll zu tun, um nach den Originalpartituren der Komponisten das Aufführungsmaterial und gut lesbare Partiturkopien herzustellen. Einer der meistgefragten Vertreter seines Fachs war Antonio Giuseppe Angelini, der auch unter seinem Spitznamen „Panstufato“ firmierte. Er kopierte Kantaten und Oratorien von
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Abb. 6 Die vier Palazzi, in denen Händel in Rom regelmäßig auftrat: Palazzo Bonelli und Palazzo Colonna an der Piazza SS. Apostoli, Palazzo Pamphilj an der Piazza del Collegio Romano und Palazzo della Cancelleria an der gleichnamigen Piazza unweit des Campo de’ Fiori (Detail aus dem Stich Abb. 1).
Alessandro Scarlatti für Kardinal Ottoboni, Werke aus den Pamphilj-Akademien für Kardinal Benedetto und etliche Werke Händels für den Marchese Ruspoli. Sobald er das Notenmaterial für eine anstehende Uraufführung hergestellt hatte, schrieb er eine Rechnung, auf der oft auch Parti-
turkopien anderer Kantaten aufgelistet waren. Einige Tage oder Wochen, nachdem er diese Rechnung beim Haushofmeister des Marchese eingereicht hatte, wurde der Zahlungsausgang im„Libro de’ Giustificazioni“ vermerkt. Manchmal wurden auch Musiker zur Beglaubigung der ein25
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gereichten Rechnung herangezogen, darunter Margarita Durastante und Händel. Für uns heute sind die Zahlungsausgänge an Angelini und seine Rechnungen die wichtigsten Dokumente, um die Chronologie von Händels römischen Kantaten und seine Auftritte in den Akademien zu rekonstruieren52. So vermerkte Ruspolis „Maestro di Casa“ etwa unter dem 16. Mai 170753 die Zahlung von 35 Scudi an Angelini für Partiturabschriften von Kantaten und für das Aufführungsmaterial eines offenbar neuen Werkes: Tu fedel, tu costante. Es handelt sich um eine von Händels längsten und schönsten Soprankantaten mit Streicherbegleitung. Dank der Zahlung an Angelini wissen wir, dass dieses Stück vor Mitte Mai 1707 in einer der Ruspoli-Akademien uraufgeführt worden sein muss. Von diesen eher prosaischen Umständen der Akademien – den Zahlungen an Musiker und Notenkopisten – wenden wir uns noch einmal der Atmosphäre jener glänzenden Abende zu. Unter den erlauchten Gästen standen die „Porporati“, die Kardinäle im Purpur, an erster Stelle, gefolgt von den Prälaten und den vornehmen Damen der römischen Gesellschaft. Um sie standesgemäß zu unterhalten, sparten Gönner wie Ruspoli und Ottoboni nicht an Luxus. In den Pausen der musikalischen Aufführungen wurden Speisen und Getränke gereicht, im Sommer besonders gern Gefrorenes, also Eis. „Ohngefähr in der helffte der musique machten sie eine paus, und da wurden liqueurs, gefrohrne sachen, confect, und caffé in quantität herumb getragen und jedermann presentirt.“54 Eine Zusammenstellung der „rinfreschi“, die sich Kardinal Pamphilj 1692 bei einer solchen Gelegenheit zubereiten ließ, verrät, wie verfeinert der Geschmack auch in dieser Hinsicht war: „Sorbet von Pinienkernen, Krüge mit Zitronenlimonade, Wassereis aus Granatäpfeln, Zedernsaft, Zitronen und kalabresischen Limoncelli, kandierte Früchte und Konfitüre“55. Händel hat sich auch dieser Seite des römischen „dolce vita“ mit Begeisterung zugewandt: Im Oktober 1708 stellte ein Eishändler namens Gianbattista Mattei dem Marchese Ruspoli 45 Pfund Eis in Rechnung, die an „Monsu Endel“ geliefert wurden56. Ebenso erlesen wie die leiblichen Genüsse in den Pausen der Akademien war die Einrichtung 26
der Konzertsäle, handelte es sich doch in der Regel um die Gemäldegalerien der Palazzi. Für Ruspolis „Conversazioni“ ist dieser Umstand durch den Frankfurter Patrizier Jacques-Armand von Uffenbach bezeugt, der 1715 ein Konzert in Ruspolis Palast besucht hat:„Abends aber nach des principe Ruspoli pallast umb das Sonntagliche ordinaire concert zu hören und der assemblé bey zu wohnen, es war das oratorium oder die musique an eben dem ort in der langen gallerie … der cardinal ottoboni, der imperiali, und andere mehr waren auch zugegen, und eine grosse anzahl standes persohnen, und frembde, nichts desto weniger aber war jedermann in solcher attention und entzückung, dass man auch eine fliege hätte fliegen hören so still hielt sich jedermann, die hitzigen italiener vertrehten zwar alle augenblick die augen und alle glieder vor admiration, klopfeten auch in die hände, wenn etwas zu ende ginge, doch auf dem dazwischen gelegten viel mahl doppelten mandel, damit man es nicht hörete, in dem solches gegen den respect wäre und nur in theatris erlaubt ist.“57 Was sich den erlauchten Gästen auf dem Podium darbot und was sie in dieser Art mit gedämpftem Klatschen quittierten, ist der Beschreibung eines verlorenen römischen Gemäldes von 1703 zu entnehmen. Der MarattaSchüler Nicola Morelli hatte auf diesem Bild – im Rahmen einer Serie von Bildern zu den sieben freien Künsten – einige der berühmtesten Musiker Roms dargestellt, wie sie gerade dabei waren, mit einer Akademie zu beginnen: die Sänger „in atto d’incominciare a cantare“, die Geiger beim Stimmen „per dar principio all’accademia di musica, e suono“: „Das Gemälde der Musik schließlich zeigt einen Galerieraum, in dessen Mitte sich ein Cembalo befindet, das von dem Florentiner Bernardo Pasquini gespielt wird. Neben ihm stehen zur Rechten Pasqualino Tiepoli aus Udine, links der Römer Francesco Besci, genannt der Neffe des Paoluccio, beides Soprane der päpstlichen Kapelle, die gerade im Begriff sind, mit dem Singen zu beginnen. Seitlich sitzt der Römer Filippo Amadei, genannt Pippo del Violoncello, der dieses Instrument spielt. Im Hintergrund stehen die Herren Francesco Bassetti aus Rom und Carlo Cesarini aus Viterbo, beides Komponisten, und Girolamo Bigelli aus Siena, genannt Mommo de’
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Rospigliosi, auch er ein Sänger der päpstlichen Kapelle, sowie der Altist Pasqualino Betti aus Lucca. Auf der anderen Seite sieht man den Bologneser Arcangelo Corelli mit Francesco Valentini aus Rom, professionelle Geiger, wie sie gerade dabei sind, ihre Instrumente auf das Cembalo einzustimmen, um mit der Akademie aus Gesang und Instrumentalmusik zu beginnen.“58 Das verlorene Gemälde führte anschaulich eine typische Akademie in einer fürstlichen Galerie vor Augen, wie sie Händel in den Palästen eines Ottoboni oder Pamphilj erleben konnte, und zwar genau mit jenen Musikern, die Morellis Gemälde zeigte. Die Programme der Akademien umfassten für gewöhnlich rein weltliche Musica da camera, die typische Musik der fürstlichen Kammer: Kantaten, Concerti und Sonaten. Nur in der Fastenzeit wandten sich die Akademien geistlichen Oratorien zu, im Sommer wurden sie zur Bühne für die ein oder andere Serenata, große Kantaten opernhaftes Zuschnitts und durchaus amourösen Inhalts.
Der Lebensstil der Kardinäle Dass in den Akademien der Kardinäle die weltliche Musik so sehr dominierte, mag uns heute befremden und wäre mit der Haltung der heutigen Kurie zu musikalischen Fragen kaum vereinbar. Nach den Vorstellungen des Barock aber waren Kardinäle amtliche Würdenträger eines weltlichen Herrschers, der als Gebieter über den Kirchenstaat einen Hof im barocken Sinne führte. Dabei beruhte die Macht im Kirchenstaat de facto auf einer Oligarchie der bedeutendsten Familien, die unter sich die wichtigsten Ämter und die wirtschaftlichen Ressourcen aufteilten. Ganz ähnlich wie bei der englischen Gentry hatte es Händel beim römischen Adel also mit einer „balance of power“ zwischen zahlreichen mächtigen Familien zu tun, keineswegs mit einem absolutistischen Hof im Stile Ludwigs XIV. oder der deutschen Duodezfürsten. Die römische Gesellschaft mit ihrer Vielzahl weltoffener, künstlerisch ambitionierter Mäzene prägte seine Vorstellungen von einer musikalisch fruchtbaren Gesellschaft entscheidend. In den Hofhaltungen der musikbegeisterten Kardinäle herrschte ein Lebensstil, der kaum
weniger hedonistisch war als an anderen Höfen des anbrechenden „galanten“ Zeitalters. Kardinal Ottoboni (Abb. 7) war in dieser Hinsicht regelrecht eine europäische Berühmtheit. Um diese weltliche Seite im Dasein eines Kardinals zu verstehen, muss man bedenken, dass es sich nicht notwendigerweise um einen geweihten Priester handelte: Kardinal Benedetto Pamphilj, immerhin der Großneffe von Papst Innozenz X., wurde am 1. September 1681 zum Kardinal ernannt, aber erst an Weihnachten 1684 zum Priester geweiht. Sein Freund Ottoboni ließ sich noch mehr Zeit: Am 20. Oktober 1689 empfing er den Kardinalshut und die niederen Weihen, zum Priester wurde er erst im Juli 1724 geweiht. Im Barock verdankten die Würdenträger der Kurie ihre Erhebung in die Kardinalswürde keineswegs ihren theologischen oder seelsorgerischen Fähigkeiten, sondern einer gründlichen juristischen Ausbildung und dem Absolvieren einer Ämterlaufbahn, die sie mit hohen Kosten für ihre eigene Familie durchliefen, um am Ende in die höchsten Ämter der Kurie aufzurücken und damit „papabile“ zu werden – ein möglicher Kandidat für den Heiligen Stuhl. Die Unsummen, die ihre Familie in ihre Karriere investiert hatte, sollten sich am Ende auszahlen – zunächst im weltlich-repräsentativen Lebensstil des Kardinals selbst, darüber hinaus aber auch in der Belehnung seiner engsten männlichen Verwandten, sobald er zum Papst gewählt worden war. Dann sollten die Investitionen als Einnahmen in Form von Immobilien, Pfründen, Ländereien, Kunstwerken und vor allem sozialem Prestige in die Schatztruhen der Familie zurückfließen59. Diese Aufgabe übernahm auch Kardinal Pietro Ottoboni, als ihn sein schon hoch betagter Großonkel Papst Alexander VIII. 1689 zum Kardinal berief. Im Gegensatz zu den berühmt-berüchtigten Beispielen des Nepotismus im früheren 17. Jahrhundert, den Borghese, Ludovisi, Barberini und Pamphilj, wählte der Papst aus der venezianischen Familie Ottoboni für seinen Großneffen einen weniger vergänglichen Weg zur Macht: Statt ihn zum Kardinalnepoten zu erheben und ihn damit nach dem Ende des Pontifikats unweigerlich dem Zorn seiner Widersacher und Neider auszusetzen, ernannte er den blutjungen Pietro zum Vizekanzler der Kirche. Dadurch wurde er zum unkündbaren Mitarbei27
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Abb. 7 Francesco Trevisani: Kardinal Pietro Ottoboni (Gemälde, Rom, ca. 1700; The Bowes Museum). Der Vizekanzler der römischen Kirche, Mäzen von Corelli und Scarlatti, förderte auch den jungen Händel.
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ter sämtlicher Päpste bis zu seinem eigenen Tod 1740. Zu den Schattenseiten dieses „Angestelltendaseins“ gehörte das überschaubare Gehalt, das Ottoboni allerdings durch Zuwendungen seitens der französischen Krone, des Marchese Ruspoli und diverser anderer Geldgeber aufstockte. Seinen extrem aufwendigen Lebensstil konnte er sich dennoch nicht leisten, so dass er am Ende seines Lebens seine ungeheuren Schulden durch Veräußerung seiner Kunstwerke tilgen musste. In erheblichem Maße war auch die Musik an dieser planmäßigen Verschuldung über Jahrzehnte hinweg beteiligt, denn kein anderer Kardinal gab soviel Geld für Aufführungen von Kantaten, Oratorien, Concerti, Kirchenmusik und ab 1711 von Opern aus wie Ottoboni. Kein Wunder, dass seine Akademie neben der Ruspolis als die glanzvollste galt: Monsieur de Blainville, einer der zahllosen Romreisenden jener Jahre, schrieb am 14. Mai 1707 in sein Tagebuch: „Seine Eminenz hat die besten Musiker und Interpreten Roms in seinen Diens-
ten, unter anderen den berühmten Arcangelo Corelli sowie den jungen Paolucci, dessen Stimme man zu den schönsten in Europa zählt. Jeden Mittwoch veranstaltet er ein ausgezeichnetes Konzert in seinem Palast, dem wir am heutigen Tag beiwohnten.“60 Wieder ist nicht vermerkt, ob auch Händel am besagten Abend in Ottobonis Akademie zu Gast war. Doch mit den beiden genannten Musikern, Arcangelo Corelli und dem Kastraten „Paolucci“, sollte er es in zwei großen Werken der nächsten Monate zu tun bekommen: in der Kantate Delirio amoroso und dem Oratorium Il Trionfo del Tempo. Für beide Werke hat Kardinal Benedetto Pamphilj den Text geschrieben, denn auch diese Seite gehörte selbstverständlich zur Musikförderung der Kardinäle: Sie dichteten höchstselbst Libretti für Opern und Oratorien und die Texte für Kantaten, die sie von ihren Hauskomponisten vertonen ließen. Es ist kaum verwunderlich, dass sich ein Mäzen wie Kardinal Pamphilj zu diesem Zweck 1707 des neuen Stars Händel bediente.
Abb. 8 Akademie in Anwesenheit eines Kardinals, Bologna 1706.
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RÖMISCHE KANTATEN
In den römischen Akademien setzte sich Händel zum ersten Mal intensiv mit der Gattung der Cantata auseinander, der italienischen weltlichen Solokantate. Für uns Deutsche, die wir unter „Kantate“ meist „die Bachkantate“ verstehen, also ein geistliches Werk mit deutschem Text „für Soli, Chor und Instrumente“, mag es zunächst befremdlich erscheinen, Händels italienische „Kantaten“ im gleichen Atemzug zu nennen. Freilich entstand die deutsche Kirchenkantate gerade aus der italienischen Cantata, indem Erdmann Neumeister die Struktur der letzteren aus Rezitativen und Arien auf das deutsche Kirchenstück übertrug61. Stilistisch gesehen war der„berühmte Sachse“ mit diesen Werken seinen deutschen Zeitgenossen weit voraus. Die Streicher agieren im modernsten Stil: rauschend-virtuos in den schnellen Arien, simpel-galant in den tänzerischen Stücken, in den langsamen Arien voll pathetischer Dissonanzen, in den Rezitativen dagegen oft im Furioso – eine für den jungen Händel typische Satzbezeichnung. Die Singstimme bewegt sich souverän zwischen gesanglichen Phrasen von schlichter Schönheit, virtuosen Koloraturen und den ausdrucksstarken Sprüngen des Händelschen Espressivo. In all diesen Momenten kann man den jungen Maestro in Rom Stück um Stück reifen sehen. Den glänzendsten Beweis dafür erbrachte er mit seiner venezianischen Oper Agrippina, die ihm den Weg nach Hannover und London ebnete. Sie besteht zu mehr als zwei Dritteln aus Arien, die er seinen römischen Kantaten entlehnte. Auch in seinen Londoner Opern griff Händel immer wieder auf einzelne melodische Wendungen oder ganze Arien aus seinen Jugendwerken zurück. Seine römischen Kantaten bilden die Gesellenwerkstatt, aus der die Meisterstücke seiner Londoner Opern hervorgingen. Die Sopranlage überwiegt in ihnen bei Weitem. Dies war typisch für das Genre als Ganzes, hing in Rom aber mit der Dominanz der Kastraten zusammen, die in Händels Kantaten in männliche wie weibliche „Rollen“ schlüpften.
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Kantaten für Kastraten Dass dem Komponisten im Haushalt des Marchese Ruspoli eine Sängerin zur Verfügung stand, war im päpstlichen Rom die absolute Ausnahme. Seit Papst Innozenz XI. jegliche Mitwirkung von Sängerinnen nicht nur in der Kirchenmusik, sondern auch in Oratorium und Oper strikt verboten hatte, gab es für Primadonnen am Tiber keine Auftrittsmöglichkeiten mehr. Nur in der fürstlichen „Musica da camera“ fanden sie eine Nische, sofern ein weltlicher Gönner Frauenstimmen den Kastraten vorzog, wie es offenbar Ruspoli tat. Außerhalb des Palazzo Bonelli aber musste Händel nicht nur die Sopranpartien seiner römischen Werke, sondern auch die Mezzosopran- und Altpartien durchweg den Kastraten der päpstlichen Kapelle auf den Leib schreiben. Zwei der einflussreichsten, den Mezzosopranisten Pasqualino Tiepoli und den Altisten Pasqualino Betti, lernte er ja bereits bei seinem „Antrittsbesuch“ am 13. Januar kennen. Er hat sie später mit herrlicher Musik bedacht, besonders Betti, der die Altpartie der Maria Cleofe in der Resurrezione sang. Sicher waren an jenem Januarabend auch die beiden Sopranisten anwesend, die Morelli auf seinem Gemälde einer römischen Akademie neben den beiden Pasqualino dargestellt hat: Francesco Besci und Girolamo Bigelli. Die Karikaturen, die der römische Maler Pier Leone Ghezzi von ihnen anfertigte, stellen sie zwar in lächerlicher und übertriebener Pose dar – nicht weniger drastisch als die berühmtesten Kastraten der Epoche wie Antonio Bernacchi oder Giovanni Carestini, mit denen Händel später in London arbeitete62. Doch beziehen sich diese Karikaturen nur auf ihre äußere Erscheinung, während ihr Gesang von allen Romreisenden bewundert wurde. Im Rom des Barock waren die päpstlichen Kastraten noch nicht „heilige Kapaune, die in einem verborgenen Käfig sangen“ und „lächerlich wirkten“, wie Stendhal es bezeugte63 und andere Romantiker bestätigten. Zu Händels Zeit gehörten die päpstlichen Sänger unbestritten zu den besten Stimmen Europas.
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In Deutschland hatte Händel keine Gelegenheit gehabt, mit Kastraten zu arbeiten, in seinen Londoner Opern aber bildeten sie die Stars jeder Produktion. Dass er später 30 Jahre lang, von 1711 bis 1741, das Londoner Publikum dadurch faszinierte, dass er den besten Kastraten seiner Zeit die schönsten Opernpartien auf den Leib schrieb – auch diese Kunst hat er zuerst in Rom erprobt, im durchaus heiklen Umgang mit den Kastratenstars der Ewigen Stadt. Instrumental bot das barocke Rom dem jungen Deutschen nicht weniger glänzende Ressourcen: Für die virtuosen Violinstimmen seiner Kantaten konnte er auf Corellis beste Schüler zurückgreifen. Den ersten Geiger von Ruspolis kleiner Hofkapelle, Pietro Castrucci, holte er später als Konzertmeister ins Londoner Opernorchester. Die römische Geigenschule prägte seine Vorstellungen vom Violinspiel lebenslang. Ebenso tief muss der Eindruck gewesen sein, den die römischen Cellisten auf ihn machten. Es
ist sicher keine Übertreibung zu behaupten, dass er am Tiber eine völlig neue Dimension des solistischen Cellospiels kennenlernte. In seinen Kantaten für eine Singstimme und Basso continuo hat Händel dieses ebenso kantable wie virtuose Spiel auf den klangvollen Celli eines David Tecchler und anderer Instrumentenbauer glänzend in Szene gesetzt. Hinzu kam seine eigene Kunst des Begleitens am Cembalo. Auch die ersten Anzeichen oboistischer Virtuosität, die damals in der päpstlichen Hauptstadt ihren Einzug hielt, hat er aufgegriffen.
Delirio amoroso Im Februar 1707 ergab sich die Gelegenheit, alle diese Trümpfe in einem einzigen Werk auszuspielen: in der Kantate Delirio amoroso. Eine Rechnung des Kopisten Alessandro Ginelli vom 12. Februar über die Aufführungsstimmen
Abb. 9 Barbault: Palazzo Pamphilj an der Piazza del Collegio Romano, der heutige Palazzo Doria-Pamphilj (Stich, Mitte 18. Jahrhundert). Hier führte Händel im Februar 1707 seine Kantate Delirio amoroso auf.
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nennt den Titel, Auftraggeber und Komponisten des Werkes: „Cantata intitolata Il Delirio amoroso p[er] servitio dell ... Cardinal Pamphilij Composta in musica dal S[igno]re Giorgio Hendel“64. Sie beweist, dass das Stück in einer von Pamphiljs Freitagsakademien jenes Monats aufgeführt worden sein muss, wahrscheinlich am 11. Februar. Es handelt sich damit um die erste sicher datierbare seiner weltlichen Kantaten in Rom und gleich um die längste und virtuoseste. Ein hoch und brillant geführter Solosopran konzertiert in drei langen Arien mit einer Solovioline, einer Solooboe, einem Solocello und einer solistischen Blockflöte. Zu diesem Concertino der Solostimmen gesellt sich in typisch römischer Manier das Concerto grosso der Streicher, gestützt vom Basso continuo. Den dramatischen Rezitativen und Arien der Kantate stellte Händel eine Introduzione für Oboe und Streicher voran – vermutlich das erste Oboenkonzert, das jemals in Rom aufgeführt wurde. Als Finale benutzte er ein Entrée des Orchesters im französischen Stil und ein Menuett, in das am Ende auch der Sopran einstimmt. Mit anderen Worten: Die Kantate geht zum Schluss in eine Art kleine Orchestersuite über. Dass Händel dieses hypertrophe Gebilde aus Oboenkonzert, Kantate und Suite so demonstrativ auf Farbenpracht und Virtuosität hin anlegte, ist nicht nur seiner jugendfrischen Klangfantasie zuzuschreiben, sondern auch jenem erlesenen Ensemble von Musikern, dass ihm der Auftraggeber der Kantate zur Verfügung stellte65. Das kleine Oboenkonzert zu Beginn war ganz auf einen gewissen „Signor Ignazio“ zugeschnitten. Es kann sich nur um Ignazio Rion gehandelt haben. Der erste Oboenvirtuose in der Geschichte Italiens war erst zwei Jahre zuvor aus Venedig nach Rom gekommen und hatte dort sofort für einen„Boom“ der Oboe in Oratorium und Kantate gesorgt66. Die erste Arie überrascht mit einem der längsten Geigensoli, die Händel geschrieben hat: Nach dem prägnanten Thema des Orchesters setzt der Geigensolist völlig unbegleitet wie in einer Kadenz zu einer Sequenz aus rauschenden Triolen an, die nicht weniger als elf Takte umfasst. Nicht zufällig erinnert diese Stelle an die Musik von Arcangelo Corelli, war es doch sein Meisterschüler Antonio Montanari, dem Händel hier einen sensationellen Auftritt 32
verschaffte. Montanari, damals gerade erst 30 Jahre alt, galt als „virtuosissimo suonatore di violino“, als höchst virtuoser Geiger, und verfügte zudem über die „Tugend eines engelshaften Gemüts“67. Insgesamt sechs Mal erklingt das für ihn geschriebene Geigensolo im Verlauf der langen Arie. Gleich bei seinem ersten Einsatz tut es der Sopranist dem Geiger nach und schwebt ohne jede Begleitung fünf Takte lang in der Höhe – wie im Flug. Vollendet hat Händel hier den Text umgesetzt, der beschreibt, wie ein Gedanke zum Himmel fliegt („un pensiero vole in cielo“). Für die virtuose Ausgestaltung dieses Bildes konnte er sich auf die exorbitanten Fähigkeiten eines jungen Kastraten verlassen. Es war ein Sänger namens „Checchino“, der in fast allen Freitagsakademien des Kardinals auftrat und in anderen Pamphilj-Dokumenten „Checchino di Paoluccio“ genannt wird. Sicher handelte es sich dabei um Francesco Besci, den wir schon aus der Beschreibung des „Akademie“-Gemäldes von Morelli kennen, wo er „der Neffe des Paoluccio“ genannt wird. Mit diesem Zusatz war sein Onkel Paolo Besci „detto Paoluccio“ gemeint, zwanzig Jahre früher der bedeutendste Kastrat Roms und Star in Alessandro Scarlattis ersten neapolitanischen Opern68, nun Kantor der Sixtinischen Kapelle und Mentor seines Neffen, der zum neuen Gesangsstar Roms aufstieg69. Wie viele junge Kastraten in Rom scheint sich auch Besci in Frauenrollen geübt zu haben, was angesichts des Opernverbots nur in Kantate und Oratorium möglich war. Im Delirio amoroso musste er sich in das Liebesleid einer jungen Frau hineinversetzen, die ihren verstorbenen Geliebten in der Unterwelt sucht und findet. Als sie seinem Schatten gegenübersteht, singt sie eine tieftraurige Sarabande in g-Moll, voller Fragen und Seufzer, sekundiert vom solistischen Cello. Händel hat hier dem Cellisten Giuseppe Perroni ein herzerweichendes Solo auf den Leib geschrieben – Vorläufer all jener langsamen, expressiven Arien mit Cello, die in seinen Londoner Opern die schönsten lyrischen Ruhepunkte bilden. Die Blockflöte reißt die Zuhörer in der nächsten Arie aus ihrer Melancholie. Sie wurde wieder von Ignazio Rion gespielt, der auf beiden Instrumenten – Oboe und Flauto dolce – gleichermaßen versiert war und für den Schluss der Kantate wieder zur Oboe griff.
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In der feinsinnigen Instrumentation dieser Kantate spiegelt sich genau die Besetzung von Pamphiljs Ensemble im Februar 1707 wider. Die Fülle an melodischen Schönheiten hat dagegen eine ganz andere, für Händel nicht minder typische Wurzel: seinen Hang zu „Borrowings“, zu Entlehnungen aus den Werken anderer Komponisten. Das so einprägsame, tänzerische Hauptthema der ersten Arie übernahm er aus einer Oper seines Jugendfreundes Telemann, das Thema der dritten Arie und des Entrée von seinem Hamburger Mentor Reinhard Keiser. Es ist also nicht alles Händelsches Gold, was hier glänzt, und doch verstand es der junge Komponist, eigene und fremde Einfälle in einen dramatischen Bogen einzuspannen, der dem Sujet der Kantate vollauf gerecht wird.
Lucrezia und andere Römerinnen Delirio amoroso ist der Prototyp der großen römischen Kantaten Händels. In den folgenden 20 Monaten sollte er eine ganze Serie solcher Meisterwerke schaffen: Monologe für einen Sopranisten und mehr oder weniger reiches Orchester, die sämtlich Opernszenen in nuce ohne Bühnenbild und Kostüm sind und von seinem dramatischen Genie beredtes Zeugnis ablegen. In Rom nannte man dieses Genre Cantata con Stromenti oder Cantata con Violini, da die Standardbesetzung im kleinen Orchester aus zwei Violinen und Basso continuo bestand. Ob die beiden Violinen rein solistisch besetzt waren oder durch Ripienisten verstärkt wurden, blieb den Ausführenden überlassen und hing mit der Größe des Raums zusammen. In Ruspolis Akademien standen Händel in der Regel vier Geiger zur Verfügung, doch konnte dieses Quartett bei Bedarf auch aufgestockt werden. Bei Ottoboni und Pamphilj war das Orchester reicher besetzt, auch mit Bläsern. In jedem seiner Sopranmonologe hat Händel die Fallhöhe zwischen Liebesglück und tiefster Verzweiflung in subtilen Nuancen nachgezeichnet und dafür alle musikalischen Topoi benutzt, die ihm zur Verfügung standen: Klagearien im Duktus einer Sarabande, einer Siciliana oder eines Lamento; zarte Liebesarien im Andante oder Larghetto; trotziges Allegro, wutschnaubendes Furioso und die mitreißenden
Tanzrhythmen eines Menuetts, einer Gavotte oder einer Giga. Die Themen sind so kraftvoll wie einprägsam, wenn auch in vielen Fällen nicht von Händel selbst erfunden, sondern geschickt aus Werken seiner Kollegen ausgeborgt, besonders von Keiser und Telemann. Deren melodischer Einfallsreichtum war buchstäblich unerschöpflich, ohne dass auch nur eine ihrer Noten in Italien bekannt gewesen wäre. Dies machte sich Händel zunutze und adelte in seinen römischen Kantaten und Oratorien die Einfälle seiner Kollegen, indem er sie in einen neuen Kontext stellte und musikalisch verfeinerte. Die Stoffe, die er in seinen Kantaten aufgriff, lassen sich drei verschiedenen Genres zuordnen: der arkadischen Welt der Schäfer, den Ritterepen der Renaissance und den klassischen Stoffen der Antike. Die weitaus größte Gruppe umfasst die arkadischen Schäferszenen. Sie sind oft ironisch gebrochen und erstaunlich nahe an der römischen Lebenswirklichkeit der Epoche angesiedelt. In der scheinbar so idyllischen Kantate Notte placida e cheta ersehnt ein verliebter Schäfer im Schlaf die Erfüllung aller seiner Träume, doch kurz vor dem Ziel wird er von einem römischen Ruhestörer unsanft geweckt. Die junge Heldin der Kantate Tu fedel, tu costante? hat genug von den Seitensprüngen ihres Freundes Fileno. Ihre eifersüchtige Wut kommt schon in der Sonata für zwei Violinen und Basso continuo zum Ausdruck, die Händel der Kantate vorangestellt hat: Knapp abgerissene Akkorde, gefolgt von einem Rausch aus wütenden Sechzehnteln, beschreiben hinreichend ihren Gemütszustand, belegen aber auch, wie schnell sich Händel das unverwechselbare Idiom der italienischen Streichermusik angeeignet hatte. Gleich im ersten Rezitativ überschüttet die Heldin ihren Fileno mit einer Schimpfkanonade im besten italienischen Stil, wobei Händel die sich steigernde Wut in den aufsteigenden Akkorden köstlich nachgezeichnet hat. Nachdem die junge Schäferin, die nichts anderes ist als eine junge Frau aus Roms Straßen, das Leid der Eifersucht in drei Rezitativen und drei Arien ausgekostet hat, gibt sie ihrem Filou alias Fileno den Laufpass in Form eines schnippischen Menuetts. Solche Leichtigkeit und ironische Brechung sucht man in der dritten Gruppe von Kantaten 33
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Abb. 10 Die Sala dei Veluti in der heutigen Galleria DoriaPamphilj. Zu Händels Zeit gehörte sie zu den Prunkräumen der Wohnung des Kardinals Benedetto Pamphilj, wo Händels Delirio amoroso zum ersten Mal erklang.
vergeblich. Es handelt sich um die antikischen Monologe, die uns Gestalten aus der Mythologie und der Geschichte des alten Rom in Extremsituationen vor Augen führen. In Lucrezia (ausnahmsweise eine große Monologkantate, die nur vom Basso continuo begleitet wird) kann die berühmte Römerin die Schmach ihrer Vergewaltigung durch den Königssohn Tarquinius nicht ertragen und gibt sich den Tod. In Agrippina condotta a morire werden wir Zeugen, wie sich die Kaiserin Agrippina vor dem Tod windet, den ihr eigener Sohn Nero ihr befohlen hat. In Ero e Leandro hören wir die Klage der Hero, die ihren Geliebten Leander nur noch tot am Ufer vorfindet. Mit diesen Monologen verzweifelter Frauen schuf Händel die unmittelbaren Vorläufer der tragischen Heldinnen in seinen Londoner Opern, der Rodelinda und Zenobia, der Asteria und Alcina. Von den Cantate con stromenti, die besondere Glanzpunkte in den römischen Akademien darstellten, sind die Cantate col Basso zu unterscheiden, die nur von Cello und Cembalo begleiteten Solokantaten. Sie waren sozusagen Händels tägliches Brot: Woche für Woche hatte er ein solches Werk zu komponieren, mit Margarita Durastante einzustudieren und aufzuführen. Dabei schlüpfte seine durchaus robuste Primadonna, die ein italienischer Kenner der Szene zehn Jahre später etwas unfein als „Elefant“ bezeichnete, gerne in männliche Rollen, denn die intimen Kammerkantaten hatten im Rahmen der gelehrten römischen Zirkel die Aufgabe, galante Botschaften zu transportieren, also von Liebesdingen zu berichten, mit denen sich auch Fürsten und Kardinäle als Liebhaber unmittelbar identifizieren konnten. Ellen Harris hat diesem Aspekt ihr Buch Handel as Orpheus gewidmet und eine Fülle möglicher Bedeutungsebenen in den Kantaten aufgezeigt70. Für den Hörer des 21. Jahrhunderts mag interessanter sein, wie sehr selbst diese intimen Kammerstücke theatralischen Charakter annehmen können. Die Helden sind wieder Schäferinnen 34
und Schäfer wie jener von der Liebe Enttäuschte, der in der Kantate Vedendo Amor dem Liebesgott abschwört. Um sich seiner Macht zu entziehen, flieht der Schäfer in den Wald, wo er freilich unvorsichtig genug ist, sich zur Ruhe zu betten. Amor schleicht sich an und schließt
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seine Pfeile ab. Der getroffene Liebhaber sitzt im Käfig und muss sich zu allem Überfluss auch noch den Spott einer Nymphe gefallen lassen. Auch dieses kleine Meisterwerk aus vier Rezitativen und drei Arien erzählt auf kleinstem Raum eine amouröse Geschichte.
Die intimste Botschaft, die Händel in seinen kleinen römischen Kantaten jemals zu vertonen hatte, war an ihn selbst gerichtet: die Kantate Hendel non può mia musa. Wieder war es der greise Kardinal Pamphilj, der dem jungen Deutschen mit seinen Versen schmeichelte. Er be35
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schreibt, wie seine eigene Muse – die Dichtung – mit Händels musikalischer Begabung zwar nicht Schritt halten könne, wie sehr aber die jugendliche Ausstrahlung des Genies in ihm verborgene Kräfte geweckt habe. Ob man diese Aussagen nun, wie es Ellen Harris tut, metaphorisch versteht und in dem Text das Liebesgeständnis eines alten Mannes an einen attraktiven Jüngling sieht oder ob man die Schmeichelei im rein künstlerischen Milieu belässt – peinlich war sie Händel allemal. Als er Jahrzehnte später im Gespräch mit Charles Jennens, dem Librettisten des Messias, Saul und Belshazzar, auf Kardinal Pamphilj zu sprechen kam, nannte er ihn einen „old fool“. Als Jennens erschreckt nachfragte, worauf sich dieses harte Urteil beziehe, antwortete Händel nur barsch: „Wenn Sie mir genauso geschmeichelt hätten wie er, würde ich Sie auch einen alten Narr nennen!“71
Ein Erdbeben und die Folgen Außer im Palast des Kardinals Pamphilj konnte sich Händels Genie im Februar 1707 noch an einem anderen prominenten Ort Roms bewähren: in der Kirche S. Maria in Aracoeli auf dem Kapitol (Abb. 11). Die monumentale Treppe, die zu ihr hinaufführt, lag genau gegenüber dem Eingang zum alten Palazzo Ruspoli, in dem Händel wohnte. Seit Februar 1704 wurde dort ein Jahrestag begangen, der die Römer an das düsterste Ereignis ihrer jüngsten Geschichte erinnerte: an das Erdbeben von 1703. Damals hatte am Abend des 14. Januar zum ersten Mal die Erde gebebt, zum zweiten Mal am Morgen des 2. Februar. Nur der Fürsprache der Madonna an ihrem Festtag Mariae Lichtmess schrieben es die Römer zu, dass ihre Stadt damals nicht in Schutt und Asche versunken war. Zum Dank an die Gottesmutter und zur Sühne für die Verfehlungen des allzu weltlichen Treibens in der Stadt verordnete Clemens XI. den Römern Buße und verbot für die nächsten fünf Jahre „zu jeder Zeit, auch im Karneval, Masken, Pferderennen, Feste, Bälle und Theateraufführungen, sowohl Komödien als auch Tragödien, selbst mit Musik, auch in den Kollegien, Seminaren, Klöstern und sonstigen geistlichen und profanen Orten“72. Die Römer mussten fortan nicht nur auf ihren ge36
liebten Karneval verzichten, sondern auch auf die Oper. Das bereits 1697 von Innozenz XII. erlassene Opernverbot wurde de jure erneuert – für mindestens fünf Jahre. Für Händels römische Karriere bedeutete dies eine erhebliche Einschränkung, aber auch die Chance, sich mit Genres zu beschäftigen, in denen er sich in Ruhe auf die Anforderungen der großen italienischen Oper vorbereiten konnte. Zu diesen gehörte die geistliche Kantate, die er für den Anniversario della liberazione di Roma dal terremoto schrieb, den Jahrestag der „Befreiung Roms vom Erdbeben“. Alljährlich wurde dieser Jahrestag vom römischen Senat am Sonntag nach Lichtmess mit einer Festmesse in S. Maria in Aracoeli gefeiert, der offiziellen „Aula“ der römischen Stadtregierung. Bei einem lateinischen Hochamt hatte eine italienische Kantate normalerweise keinen Platz, durchaus aber bei einer Dankfeier des Senats im kirchlichen Raum. In welchem Jahr Händel dieses höchst expressive Stück komponiert hat, ist nicht bekannt. Der altertümliche Stil der französischen Ouvertüre, mit der sie beginnt, und eine Übereinstimmung mit dem Dixit Dominus im Schlusschor scheinen auf sein erstes römisches Jahr hinzudeuten. Dann wäre die Kantate schon am 6. Februar 1707 aufgeführt worden73. Neben den drastischen Tonmalereien, die den Römern die Bedrohung des Erdbebens noch einmal ins Gedächtnis riefen, ist es besonders die eindringliche Bitte um Frieden im Schlusschor, die das Stück auszeichnet. In ihr schwingt die Angst vor einer Bedrohung mit, die 1707 weit konkreter war als das glimpflich überstandene Erdbeben: das Vordringen der kaiserlichen Truppen nach Mittelitalien. Papst Clemens XI. hatte sich im Spanischen Erbfolgekrieg nach langem Zögern auf die Seite Frankreichs und des bourbonischen Königs Philipps V. von Spanien gestellt, also gegen Kaiser Joseph I. und seinen Bruder, Karl III. von Spanien. Der junge Kaiser war daraufhin mit seinen Truppen in den Kirchenstaat eingefallen und bedrohte Rom. Diese zweite Bedrohung sollte Händels Anwesenheit am Tiber in ähnlicher Weise beeinflussen wie das Opernverbot, das die Folge des Erdbebens war.
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Abb. 11 G. B. Falda: Das Kapitol mit der Kirche S. Maria in Aracoeli (Stich, 1665). Diesen Ausblick hatte Händel 1707 vom alten Palazzo Ruspoli aus. In der Kirche, die dem römischen Senat als Aula diente, wurde seine Kantate Donna che in ciel aufgeführt.
Jagdkantate Dass sein Schützling Händel sich zunächst mit großen Kantaten für andere Auftraggeber einen Namen machte – mit dem Delirio amoroso für Kardinal Pamphilj und mit der Kantate zum Jahrestag des Erdbebens für den Senat der Stadt Rom –, war ganz im Sinne des Marchese Ruspoli. Denn schließlich konnte er seinen Konkurrenten auf dem kulturellen Parkett Roms nur dadurch beweisen, welch eminentes Genie er in seinen Dienst genommen hatte. Ende Februar aber nahm er seinen Hauskomponisten mit aufs Land: zur Hirschjagd nach Cerveteri. Es ist das Verdienst von Ursula Kirkendale, diesen Jagdausflug und die Geschichte von Händels „Jagdkantate“ erforscht zu haben74: Die Kantate Diana cacciatrice wurde am 23. Februar 1707, Händels 22. Geburtstag, im Palazzo Ruspoli zu Cerveteri aus der Taufe gehoben. Ihre Uraufführung erfolgte damit auf den Tag genau sechs Jahre vor der Premiere der Bachschen Jagdkantate „Was mir behagt, ist nur die muntere Jagd“ BWV 208. Letztere wurde bekanntlich für Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels geschrieben und als Festmusik zu seinem
Geburtstag am 23. Februar 1713 „nach gehaltenem Kampff-Jagen im Fürstlichen Jäger-Hofe bey einer Tafel-Music aufgeführet“, wie es im Textdruck heißt75. Es handelte sich um eine mythologisch überhöhte Festmusik, die in einem (heute zum Hotel ausgebauten) herzoglichen Gebäude in Weißenfels, dem „Jägerhof“, stattfand. In Bachs „Drama per musica“ treten, eingebettet in die Jagdfanfaren zweier Hörner und das prachtvolle Konzertieren von Oboen, Fagott, Streichern und Flöten, die Jagdgöttin Diana und drei ihrer mythologischen Mitstreiter auf: ihr Geliebter Endymion, der Waldgott Pan und die Hirtengöttin Pales. Fast alle Begleitumstände der Händelschen „Jagdkantate“ decken sich mit denen der Bachschen: Auch die Ruspolis hielten ihre großen Hirschjagden im Februar ab, auch hier wurde die Kantate nach der Jagd als abendliche Tafelmusik aufgeführt, auch hier trat die Jagdgöttin Diana singend in Erscheinung, umringt von einem kleinen Chor. Nur, dass Händels Diana cacciatrice als Solokantate für Margarita Durastante kein weiteres Götter-Personal beschäftigt und neben den Streichern nur eine Trompete vorsieht. Waldhörner fehlen, denn Virtuosen auf dem Naturhorn gab es damals in Rom noch 37
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nicht. Obwohl in der Besetzung also eher bescheiden, erreichte Händels Kantate im Umfang durchaus die Länge von Bachs „Jagdkantate“. Leider ist vom Autograph nur knapp ein Drittel erhalten, so dass das Werk heute ein Fragment ist. Was die Reiseroute der Jagdgesellschaft im Februar 1707 betrifft, sind wir durch Dokumente gut unterrichtet. Man fuhr auf der Via Aurelia, einer der alten Römerstraßen, Richtung Nordwesten. Am 22. Februar traf man in Cerveteri ein und reiste einen knappen Monat später weiter nach Civitavecchia, dem päpstlichen Galeerenhafen. Parallel zum Reisetross des Marchese, der sich zu Lande„mit 40 Pferden“ bewegte, fuhr auf dem Meer seine Brigantine nach Norden, ein neu gebautes Schiff, das er der päpstlichen Flotte zur Verfügung stellen wollte. Leider blieb es – wie es 1610 auch dem Maler Caravaggio auf einem Boot, von Neapel kommend, passiert war –,bei Regen und starkem Wind an der Landzunge beim Castello von Palo hängen76. Also traf der Marchese am 17. März vor seinem Schiff ein, stattete dem päpstlichen Marinekommandeur seinen Besuch ab und lud ihn für den nächsten Abend zu einem festlichen Bankett ein, das sicher wieder von Tafelmusik begleitet wurde. Am 19. März setzte sich der Tross wieder Richtung Rom in Bewegung – in Schneeregen und dem eisigen Wind der Tramontana. Bei deutlich schönerem Wetter war man am 3. April erneut auf dem Land, dieses Mal im Nordosten Roms und nur 20 km vom Stadtzentrum entfernt: In seinem „Casale“ zu Massa lud Ruspoli am vierten Fastensonntag zu einem festlichen Bankett für „Kardinäle, Damen, Fürsten und Ritter“ ein77. Er muss im Frühjahr häufiger Ausflüge dorthin unternommen haben, da Kardinal Pamphilj zwei Wochen später für ihn Kantaten kopieren und nach Massa senden ließ. Musik durfte also auch hier nicht fehlen. Im Gegensatz zu den großen römischen Familien ver-
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fügte Ruspoli nicht über eine stattliche Villa in der Nähe der Innenstadt – wie die Villa Pamphilj, Borghese, Aldobrandini oder Ludovisi. Das Landhaus in Massa, über die Via Flaminia in wenigen Stunden zu erreichen, dürfte diese Funktion erfüllt haben. Dagegen wurde der eigentliche Landsitz der Ruspolis in Vignanello, den Händel im Mai kennenlernen sollte, nur für ausgedehnte „Villegiature“ angesteuert. Er liegt deutlich weiter im Norden, zwischen zwei der berühmtesten Villen des Lazio, der Villa Lante in Bagnaja und dem Palazzo Farnese in Caprarola, unweit des Lago di Vico. In die illustren Namen dieser Villen und ihrer Besitzer wollte sich auch Marchese Ruspoli einreihen, wenn er mit seinem Komponisten Händel aufs Land fuhr. Interessant sind diese Ausflüge ins Lazio nicht nur aus musikalischen Gründen: Die Dokumente gewähren uns seltene Einblicke ins tägliche Leben des Komponisten78. Händel nahm zusammen mit Margarita Durastante stets am Tisch der Herrschaften Platz, während sein Diener, die restlichen Musiker und der Notenkopist Angelini mit dem„tinello“, der Schankstube, vorliebnehmen mussten. An der herrschaftlichen Tafel wurde fürstlich gespeist: In Cerveteri gab es Wildbret, in Civitavecchia Fisch und Austern, für die „Cantarina“ und den „Sassone“ zusätzlich Brot und Wein. In späteren Zahlungen ist von „vino et aceto per la tavola del Sassone“ die Rede. In Rom gingen alle zwei Monate hohe Summen aus dem Palazzo Bonelli an den „dispensatore“, den Lebensmittelhändler Francesco Maria de Golla, „per la tavola del S.r Giorgio Endel“. Bedenkt man, dass Romreisende damals für gewöhnlich mehr als 60 % ihres Budgets für Kost und Logis aufwenden mussten79, so wird deutlich, was Händel auf diese Weise sparte – von der Erlesenheit der Genüsse, die ihm dabei zuteil wurden, ganz zu schweigen.
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KATHOLISCHE MUSIK
Die langen Abstecher ins Latium hatten für Händel im Frühjahr 1707 eine unliebsame Konsequenz: Er versäumte den größten Teil der Fastenzeit, die in Rom die Oratorienspielzeit war. Was Kardinal Ottoboni in seinem Palast und der Chiesa Nuova 1707 an italienischen Oratorien aufführen ließ, welche lateinischen Stücke im Oratorio del SS. Crocifisso gegeben wurden, konnte er nur in Auszügen verfolgen. Schlimmer noch: Die Zeit reichte nicht aus, um ein eigenes Oratorium vorzustellen. Zumindest wirkte er am Ostersonntag, dem 24. April, als Cembalist in dem Osteroratorium Il giardino di rose mit, das Alessandro Scarlatti für Ruspoli geschrieben hatte80. In vielen Zügen nimmt dieses Werk Händels eigenes Osteroratorium aus dem Folgejahr vorweg – in der drastischen Basspartie des Windgottes Boreas, in den dramatischen Accompagnato-Rezitativen, in der reichen Instrumentierung und in dem Zug zur Schäferidylle, der sich aus dem Einfluss der Arkadier erklärt81. Neben dem Osteroratorium Scarlattis hörte Händel sicher auch schon dessen Passionsoratorium, das Kardinal Ottoboni 1707 und 1708 wiederholen ließ. Nach dem Zeugnis von Mainwaring wurde Händel mit Alessandro Scarlatti „bey dem Kardinal Ottoboni bekannt“, was sich kaum vor der Karwoche 1707 ereignet haben kann, da Scarlatti damals gerade erst von seiner misslungenen Mission in Venedig zurückkehrte, wo seine Oper Mitridate Eupatore mit Hohn und Spott überschüttet worden war82. Da er in der Lagunenstadt zu Beginn der Fastenzeit noch sein Oratorium Cain ovvero Il primo omicidio aufführte, kehrte er nach Rom erst Mitte April zurück, um die Aufführungen seines Passionsund Osteroratoriums vorzubereiten. Die beiden Meisterwerke seines 25 Jahre älteren Kollegen vermittelten Händel einen Vorgeschmack vom Reichtum der römischen Oratorien, deren vollen Glanz er erst im Folgejahr kennenlernen sollte. Zu mehr war vorerst keine Zeit, denn er musste im April 1707 einen monumentalen Psalm vollenden, der ohne Zweifel der großartigste Geniestreich seiner römischen Jahre ist: das Dixit Dominus.
Ein monumentaler Psalm Händels Vertonung des 109. Psalms (nach der Zählung der Vulgata) sprengte alle Grenzen barocker Vorstellungskraft im Rom des Jahres 1707. Es scheint, als habe sich der Chorkomponist Händel hier gleichsam auf einen Schlag selbst erfunden – im Alter von 22 Jahren! Das Dixit Dominus enthält in nuce alles, was die meisterhaften Chöre in seinen Anthems und Oratorien auszeichnet: die stürmischen Klangflächen der Streicher (Anfang); die majestätische Wirkung, die entsteht, wenn ein Cantus firmus sich von bewegten Unterstimmen abhebt und die „kinetische Energie“ von Chor und Orchester aufeinanderprallt („donec ponam inimicos tuos“); das stufenweise Aufsteigen des Soprans in höchste Höhen (wie später im berühmten Halleluja); der Kontrast zwischen mächtigen, blockhaften Akkorden („Juravit Dominus“) und hektisch auseinander strebenden Linien („et non poenitebit eius“); der Mut, einen ganzen Satz auf einer einzigen rastlosen Unisono-Figur der Streicher aufzubauen und ihn von zwei Solostimmen bis hin zur vollen Fünfstimmigkeit des Chores zu steigern („Dominus a dextris tuis“); der ätherische Gesang zweier Soprane über leise bebenden Streicherakkorden, zu denen unversehens ein Cantus firmus der Männerstimmen hinzutritt („de torrente in via bibet“); schließlich eine gewaltig proportionierte Schlussfuge über ein unmittelbar „zündendes“ Thema, das er von einem anderen Meister (Lotti) ausborgte – wie später so viele Fugenthemen in seinen Oratorien („Et in saecula saeculorum“). Dies alles würde schon ausreichen für ein Meisterwerk, doch hat Händel dem noch eine entscheidende Dimension hinzugefügt: eine Ausdeutung der Texte, wie sie drastischer kaum zu denken ist. In diesem Psalm ist vom Zorn Gottes die Rede und vom Wüten gegen seine Feinde, was in der Musik auf erschreckende Weise deutlich wird: Der Tag des Zorns gebiert peinigende Dissonanzen („in die irae suae“). Ruinen stürzen ein („implebit ruinas“), Köpfe werden abgeschlagen – in Akkorden, die so 39
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schneidend wirken wie das Beil des Henkers („conquassabit in terra capita multorum“). Nie hat Händel in seinen späteren Jahren die „furia del penello“ so maßlos wüten lassen wie hier. Als er den Eingangs- und Schlusschor 1733 in dem Oratorium Deborah wiederverwendete, milderte er die Details ab, desgleichen in den Anthems, in denen er das „conquassabit“ und „implebit ruinas“ aufgriff. Die Reaktion der Zuhörer auf dieses Werk kann man sich leicht ausmalen. Mainwaring hat sie in Bezug auf die Oper Agrippina folgendermaßen beschrieben: „Jedermann war durch die Größe und Hoheit seines Stils gleichsam vom Donner gerührt; denn man hatte nimmer vorher alle Kräfte der Harmonie und Melodie in ihrer Anordnung so nahe und so gewaltig miteinander verbunden gehört.“83 Der stürmische Beginn des Psalms passt zu einer anderen Äußerung Mainwarings: „In allen Zügen seiner Erfindungen, absonderlich im Eintritt, war ein solcher Grad von Feuer und Kraft, der sich nimmer mit der sanften Anmuth und gefälligen Zierlichkeit [der Italiener] vereinigen konnte.“84 Und an die exorbitanten Schwierigkeiten des Dixit Dominus gemahnt ein dritter Passus des ersten Händelbiographen: „Es könnte nicht geleugnet werden, dass die männlichen Schwünge des händelschen Triebes seine Feder oft zu einer solchen Melodie verleiteten, die sich zur Stimme übel schickte.“85 Die Chorsänger, die im Dixit bis an die Grenzen ihres Stimmumfangs geführt und durch einen Parcours halsbrecherischer Sechzehntel gejagt werden, können davon ein Lied singen. Leider wissen wir nicht, für welche Kirche Händel diesen Psalm ursprünglich geschrieben hat. Er muss ihn bereits 1706 begonnen haben, da er das Datum am Ende seiner Originalpartitur erst nachträglich zu 1707 korrigierte. Dabei fügte er den Monat April an, muss damit also vor Ostern fertig geworden sein, um in den folgenden Wochen genügend Zeit für Il Trionfo del Tempo zu haben86. Der Psalm könnte also durchaus in der Vesper des Ostersonntags aufgeführt worden sein, vielleicht in der Basilika SS. Apostoli neben dem Palazzo Colonna. Die Franziskanerkirche, Grablege der Apostel Philippus und Jakobus minor, wurde damals gerade neu gebaut – unter tätiger Anteilnahme der Familie Colonna. Der Rohbau der Kirche stand bereits, 40
als Giovanni Battista Gaulli, genannt „Baciccia“, am 25. Februar 1707 den Auftrag für das Deckenfresko des Langhauses erhielt87. Da sich eine Abschrift des Dixit in der „Casa Colonna“ befand, könnte man annehmen, dass Kardinal Carlo Colonna in der halb vollendeten Kirche unter den Klängen von Händels Psalm eine Ostervesper feierte – es sei denn, Kardinal Ottoboni hätte das Werk für seine Basilika S. Lorenzo in Damaso bestellt. Offensichtlich ließ sich Händel durch ein ähnlich monumentales Dixit Dominus seines venezianischen Kollegen Antonio Lotti inspirieren, dessen Schlussfuge er hier (wie auch später in der Amen-Fuge des Messias) zitiert hat. Der wichtigste Vermittler venezianischer Musik in Rom aber war der Venezianer Pietro Ottoboni.
Das erste Oratorium Die Tinte auf der Originalhandschrift seines Dixit Dominus war noch kaum getrocknet, als Händel schon sein nächstes großes Werk in Angriff nahm: sein erstes Oratorium. Kardinal Pamphilj hatte ihm einen eigenen Oratorientext anvertraut mit dem Titel La Bellezza raveduta nel Trionfo del Tempo e del Disinganno, zu deutsch: „Die Schönheit, im Triumph bekehrt von Zeit und Erkenntnis“. In der Londoner Fassung von 1737 hat Händel diesen umständlichen Titel auf das einfachere Il Trionfo del Tempo e della Verità verkürzt, in der englischen Bearbeitung aus seinen letzten Lebensjahren sogar auf The Triumph of Time and Truth. Es spricht also nichts dagegen, den Titel mit „Der Triumph von Zeit und Wahrheit“ zu übersetzen88. Das Thema ist ein ganz und gar römisches: Der Zahn der Zeit, der an den Monumenten der römischen Antike so deutlich seine Spuren hinterlassen hatte, nagt an der Schönheit und ihrem Gewissen. Dabei muss man sich Il Tempo genauso vorstellen, wie er auf den Fresken und Gemälden des römischen Barock dargestellt ist: als die geflügelte Gestalt des Kronos mit der Sense. Seine Mitstreiterin im Ringen um La Bellezza ist Il Disinganno, wörtlich die „Ent-Täuschung“. In drastischen Arien führen die beiden einer jugendlichen Schönen die Wirkungen der Vergänglichkeit vor Augen: In düsterem f-Moll ruft die Zeit den Urnen zu „Apritevi“, „Öffnet euch!“, und lässt uns die Skelette der Verstor-
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benen sehen. In einer zuckersüßen Pastorale für Blockflöten und Streicher entlarvt die Wahrheit die trügerische Ruhe, in der sich der Mensch wähnt. Über dem „Lamentobass“ verkündet sie die traurige Erkenntnis, dass alle Schönheit vergehen muss89. Gegenspieler der beiden ist das Vergnügen, Il Piacere. Ihm hat Händel die berühmteste Melodie des Werkes anvertraut: die pathetische Sarabande „Lascia la spina, cogli la rosa“, die unter einem anderen Text in der Oper Rinaldo unsterblich werden sollte: „Lascia ch’io pianga“. In ihrem ursprünglichen Kontext ist dieses hinreißende Stück der letzte Versuch, die Schönheit doch noch auf den Weg des Lasters zurückzuführen. Denn schon wankt ihre Bastion im Ansturm der Widersacher, wie das dramatische Quartett kurz zuvor deutlich gemacht hat. Am Ende ist die Schönheit bekehrt, sagt sich von allen Vergnügungen los und wendet sich in einem betörend schönen Adagio in E-Dur, zur zarten Begleitung einer Solovioline und der Streicher, dem Himmel zu. Wie in diesem verinnerlichten Schluss erweist sich Händel an vielen Stellen seines ersten Oratoriums als ein Meister der Tonmalerei und der Affekt-Kontraste. Die Gegensätze barocker Metaphorik prallen so heftig aufeinander, wie es wohl nur einem jungen Genie in einem Erstlingswerk möglich war, denn in den späteren Londoner Fassungen hat Händel diese Drastik abgemildert. Da rast die Zeit in atemberaubenden Sechzehnteln dahin, klagt die Schönheit mit einer in Halbtönen weinenden Oboe um die Wette, lockt das Vergnügen mit opulenten Koloraturen. Und über allem thront das junge Genie Händel, der bei der Aufführung auch als Solist in Erscheinung trat, nämlich in dem ersten Orgelkonzert seines Schaffens. Es ist jene einsätzige Sonata, die er einstreute, um die schmeichlerischen Verse des Kardinals Pamphilj zu unterstreichen, die sein Orgelspiel verherrlichten. So sehr der junge Lutheraner die Schmeicheleien des alten Kardinals auch verabscheute: Die Gelegenheit, sich selbst an der Orgel zu produzieren, ließ er nicht ungenutzt, und die barocke Vielfalt an Bildern in Pamphiljs Versen beflügelte seine Fantasie. Dass Händel sein Erstlingsoratorium auch später noch liebte und schätzte, kann man an den erwähnten Londoner Fassungen sehen.
Auch Kardinal Pamphilj ließ La Bellezza raveduta immer wieder aufführen – mit Änderungen seines Kapellmeisters Cesarini, die wohl hauptsächlich Anpassungen an neue Sänger und ihre Stimmen waren. In der Uraufführung sangen drei Kastraten und ein Tenor, darunter vielleicht wieder der junge „Checchino“ Besci in der Partie der Bellezza. Wenn er am Ende in ätherischen Tönen die Gedanken zum Himmel lenkt, war den Zöglingen des Collegio Clementino der Weg in ihr geistliches Dasein vorgezeichnet – wobei es Händel nicht versäumt hatte, auch die Verlockungen am Rande ihres Weges in schillernden Farben auszumalen. Aufgrund einer Rechnung des Kopisten Angelini über die Erstellung des Aufführungsmaterials vom 14. Mai 1707, die von Händel beglaubigt wurde90, wissen wir, dass das Oratorium um diese Zeit aufgeführt worden sein muss. Am 6. Juli erhielt Händel „auf Befehl seiner Eminenz Pamphilj, Padrone“ die stattliche Summe von 84 Scudi „per aver fatta una cantata di sua Eminenza“91. Es kann sich dabei nur um Il Trionfo del Tempo gehandelt haben, für den Händel mit einiger Verzögerung großzügig entlohnt wurde. Das Orchester wurde von Arcangelo Corelli geleitet. Berühmt wurde dieses Zusammentreffen zwischen dem alternden Geigerfürsten des römischen Barock und dem jungen Genie aus Deutschland vor allem wegen eines Streits während der Proben: Händel hatte ursprünglich eine Ouvertüre im französischen Stil geschrieben – ganz so, wie er es später für fast alle seine Opern und Oratorien in London tun sollte. Corelli aber konnte mit diesem Stil nichts anfangen. Als ihm Händel bei einer Probe die Geige aus der Hand riss, um ihm zu zeigen, mit welchem Nachdruck die betreffende Stelle eigentlich zu spielen sei, entschuldigte sich Corelli mit dem Satz: „Ma, caro Sassone, questa musica è nel Stylo Francese, di ch’io non m’intendo.“ („Aber, mein lieber Sachse, diese eure Musik ist nach dem französischen Stil eingerichtet, darauf ich mich gar nicht verstehe.“) Händel änderte daraufhin das Vorspiel und „machte eine Symphonie, die mehr nach dem italienischen Stil schmeckte“92. Händels erster Biograph Mainwaring hat diese Episode so glaubwürdig erzählt, dass man nicht an ihr zweifeln muss, zumal sich neben der endgültigen Sinfonia zum Trionfo del Tempo tatsächlich 41
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Abb. 12 Vignanello, Castello Ruspoli. Hier verbrachte Händel das Pfingstfest 1707 (Foto: Lars Jolig).
eine französische Ouvertüre über das gleiche Thema erhalten hat (HWV 336). Dass Händel trotz dieses Zwists von der Persönlichkeit Corellis und seiner Orchesterleitung nachhaltig beeindruckt war, zeigt sich an mehreren Umständen: Noch in seinen letzten Lebensjahren erzählte er seinen besten Freunden in London Geschichten vom Hof Ottobonis, darunter auch, wie Corelli jeden Orchestermusiker, der eine Verzierung willkürlich anbrachte, Strafe zahlen ließ. Dass Corelli über eine private Bildergalerie von 142 Gemälden verfügte, war 42
Händel sicher bekannt und dürfte seine spätere Leidenschaft für Gemälde ebenso gefördert haben wie die Gemäldegalerien in den Palazzi der Kardinäle Colonna und Pamphilj, die man noch heute besichtigen kann. Das schönste Denkmal aber, das er der Kunst Corellis setzte, waren seine Concerti grossi Opus 6, in denen er im Herbst 1739 den Concerti grossi des Geigers aus Fusignano ein ebenbürtiges Opus zur Seite stellte.
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Pfingsten auf dem Land Nachdem Händel am 14. Mai seine Unterschrift unter die Kopistenrechnung für den Trionfo del Tempo gesetzt und der Marchese Ruspoli zwei Tage später die Zahlung für die Notenkopien mehrerer Händelkantaten angewiesen hatte, begaben sich beide aufs Land: nach Vignanello unweit von Viterbo (Abb. 12). Das Dorf, 60 km nördlich von Rom in den Hügeln des Latiums gelegen, wird bis heute vom trutzigen Familienpalast der Ruspolis und seinem nach allen Seiten gut abgeschirmten „giardino secreto“ (Abb. 13) beherrscht. 1707 rüstete es sich nicht nur für den üblichen Pfingstbesuch seines Feudalherrn, sondern auch für eine aufwendige kirchliche Feierlichkeit: Auf den Pfingstmontag, den 13. Juni, fiel das Fest des Hl. Antonius von Padua. „Il Santo“, wie man ihn in Italien nennt, war am 13. Juni 1231 gestorben und bereits im folgenden Jahr heiliggesprochen worden. Dieses Ereignis jährte sich nun zum 475. Mal. Ruspoli hatte aus diesem Anlass bei seinem Hausmaler Michelangelo Cerutti ein neues Al-
Abb. 13
tarbild für die kleine Kirche S. Sebastiano in Auftrag gegeben, das feierlich geweiht werden sollte. Die Musik zu diesem höchst katholischen Anlass schrieb der Lutheraner Händel. Wir besitzen von einem späteren festlichen Ereignis in Vignanello, dem Besuch Papst Benedikts XIII. im Heiligen Jahr 1725, eine detaillierte Schilderung der Festlichkeiten, die damit verbunden waren: Spanferkelbraten und Altarweihe, feierliche Kirchenmusik und üppige Tafelfreuden, Festdekorationen und Segensspendungen des Papstes93. Wer den Heiligen Vater 1707 in Vignanello vertrat, ist nicht bekannt, fest steht jedoch, dass der Marchese Ruspoli Papst Clemens XI. auch mit dieser frommen Maßnahme imponieren wollte – immer das Ziel vor Augen, endlich gefürstet zu werden. Es war also nicht pure Frömmigkeit, wenn er seinen Hauskomponisten zu diesem Ereignis zwei lateinische Motetten und ein Salve Regina schreiben ließ. Händel und die erlesene Gruppe von Musikern, die ihren Marchese nach Vignanello begleiteten, hatten außerdem dafür zu sorgen, dass sich die illustre Festgesellschaft auch ver-
Vignanello, Garten des Castello Ruspoli (Foto: Lars Jolig).
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gnüglichen Geistesübungen hingeben konnte – im großen Saal des Castello Ruspoli. Noch heute strahlt der Palast nahezu unverändert die Atmosphäre jener festlichen Tage anno 1707 aus: Man betritt ihn über eine Zugbrücke und findet sich unter den massiven Gewölben eines Vestibüls wieder, das noch ganz von der strengen Architektur des 16. Jahrhunderts geprägt ist. Eine schmale Treppe führt zu den Prunkräumen hinauf, die mit Fresken und Möbeln aus dem 18. Jahrhundert geschmückt sind, während eine zweite Brücke hinüber in den Garten leitet. Mit seinen geometrischen Hecken, den Orangen- und Zitronenbäumen und dem herrlichen Ausblick über die Landschaft mildert er die Strenge des Castello. Hier begrüßte der Marchese Ruspoli im Juni 1707 erlauchte Gäste wie Kardinal Ottoboni, der auf der Reise nach Bologna am 6. Juni für eine Nacht Station machte94. Vor der Tafel wurde ihm zweifellos mit Musik aufgewartet: mit einer der beiden Händelkantaten, die Angelini in Vignanello kopierte und Margarita Durastante durch ihre Unterschrift beglaubigte. Sie war sicher auch die Solistin in Armida abbandonata und Un’alma innamorata. Händels Armida-Kantate ist eines der wenigen römischen Werke, die man schon zu seinen Lebzeiten auch in Deutschland kannte: Kein Geringerer als Johann Sebastian Bach hat sich eine Partitur beschafft und eigenhändig Stimmen ausgeschrieben, um das Werk in den 1730er Jahren mit seinem Collegium musicum in Leipzig aufzuführen. Man hat es mit einem der großen, tragischen Monologe des jungen Händel zu tun, in diesem Fall nach einer Episode aus dem Kreuzfahrer-Epos La Gerusalemme liberata („Das befreite Jerusalem“) von Torquato Tasso. Die Kantate berührt damit einen Stoffkreis, den Händel in seinen Londoner Opern immer wieder aufgreifen sollte: die Ritterepen und -romane der Renaissance. Neben Tassos Gerusalemme liberata waren es Ariosts Orlando furioso und der Roman Amadis de Gaule, die ihn zu Opern inspirierten, ohne dass wir wüssten, ob er diese Werke der Weltliteratur im Original gelesen hat. Fest steht, dass er des Italienischen mächtig war, doch wissen wir nichts über seine Neigungen, die italienische Dichtung betreffend. Es ist durchaus möglich, dass er sie nur aus den Libretti seiner Kantaten und Opern kannte. 44
Zumindest in dieser Form haben ihn die Ritterepen fasziniert, kreisen sie doch stets um die Gestalt einer mächtigen Zauberin, die sich in den Netzen einer unglücklichen Liebe verfängt und tragisch zugrunde geht. Die verlassene Armida ist die berühmteste dieser magischen Frauen. Bevor sie Händel in seiner ersten Londoner Oper Rinaldo in eine herrschsüchtige Matrone verwandelte, widmete er ihr in Vignanello das ungleich zärtlichere Porträt seiner Kantate. Armida hat sich in den Kreuzritter Rinaldo verliebt. Nachdem die beiden in Armidas Zaubergarten lange miteinander glücklich waren, verlässt er sie, um Jerusalem zu erobern. Sie bleibt verzweifelt und machtlos zurück. An diesem Punkt des Epos setzt Händels Kantate ein. Im Sechzehntelsturm der beiden Violinen irrt Armida umher, den Spuren des fliehenden Geliebten folgend. Plötzlich hält sie inne und mit ihr die Sechzehntel der Geigen. Sie lässt sich auf einem Stein nieder und singt ihre erste, tieftraurige Arie, eine von Händels wundervollen getragenen Melodien in zartem Dur. Erst in diesem Moment setzt der Basso continuo ein, den sich Händel für Armidas flehentliche Frage aufgespart hat: „Ah, crudele, e pur ten vai?“ („Ach, Grausamer, warum nur gehst du?“). Plötzlich bricht der Hass aus ihr heraus: In einem Furioso wünscht sie Rinaldo das Wüten des Meeres auf den Hals. Doch schon in der zweiten Arie nimmt sie ihren Fluch wieder zurück: „Fermate, venti, fermate“ („Haltet ein, ihr Winde“). Am Ende siegt die Liebe und mit ihr die Resignation in Form einer tieftraurigen Siciliana. Es war die erste Arie dieses Typus der weich schwingenden Liebesarien im Sechsachteloder Zwölfachteltakt mit melancholischer Streicherbegleitung, die Händel geschrieben hat. Die ausdrucksvollen Siciliane aus Alessandro Scarlattis römischen Oratorien dienten ihm zum Vorbild. Später in London sollte er für jede seiner großen Opern eine solche tief bewegende Siciliana schreiben, meist für den Höhepunkt der tragischen Verwicklungen im zweiten Akt. Im traurigen Schluss seiner Armida-Kantate hat diese Tradition ihren Ursprung. Man kann sich gut vorstellen, wie Margarita Durastante diese Arie an einem Juniabend des Jahres 1707 in Vignanello gesungen hat: Die trutzigen Mauern des Palazzo Ruspoli, fast eine Kreuzritterburg, ließen die Szenerie von Tassos Epos unmittelbar
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lebendig werden, der Garten gemahnte an den Zaubergarten der Armida, und die tiefe Melancholie von Händels Siciliana verlieh dem Abschiedsschmerz vollendeten Ausdruck. Festlicher muten die beiden lateinischen Motetten für Sopran, Streicher und Orgel an, die Händel für den Pfingstsonntag und den Festtag des Hl. Antonius geschrieben hat: die eine bildhaft anschaulich in dem Versuch, das Wehen des Heiligen Geistes zu beschreiben (O qualis de coelo sonus), die andere festlich-anmutig, um das kleine Vignanello (auf Lateinisch „Junianelle“) und „Il Santo“ zu preisen (Coelestis dum spirat aura). Beide schließen mit einem jubelnden Halleluja – wirbelnde Tanzsätze, die Koloraturen und Violinläufe wie an einer Perlenschnur aufreihen. Es waren die ersten Vertonungen des Osterrufs, die Händel geschaffen hat – 34 Jahre vor dem festlichen Halleluja aus dem Messias. Nach der Einweihung des neuen Altarbildes in S. Sebastiano feierte man auch den Trinitatissonntag noch in Vignanello. Ab diesem Sonntag bis zum 1. Advent wird in der Vesper üblicherweise das Salve Regina gesungen. So lässt sich zwanglos der Anlass für Händels Salve herleiten. Der Lutheraner aus Halle verlieh dem Text der marianischen Antiphon eine hoch expressive Deutung, wie sie kein katholischer Komponist eindringlicher hätte schreiben können: Zu Beginn wiederholen die beiden Violinen unablässig ein klagendes Motiv, das sich vor dem Bild der Madonna demütig zu verneigen scheint. Der Sopran tritt mit lang ausgehaltenen Salve-Rufen hinzu. Die Attribute der Jungfrau („mater misericordiae, spes nostra, vita dulcedo“) werden in kleinen Sekunden fast beschwörend wiederholt. Wir hören das flehentliche Gebet eines zerknirschten Sünders um Fürsprache. Das „Ad te clamamus“ des zweiten Satzes wird ganz im Sinne der musikalischen Rhetorik durch eine „exclamatio“ ausgedrückt, einen musikalischen Ausruf, der hier das ungewöhnliche Intervall einer kleinen None umspannt. Die vom Leiden gezeichnete Melodie löst sich alsbald in pure Seufzer auf: „ad te suspiramus gementes et flentes.“ Nur das Orgelsolo des „Eia ergo“ sorgt für einen Moment der Entspannung. Die Vertonung des Schlussverses ist wieder ganz Demut im Tempo Adagissimo: „O clemens, o pia, o dulcis Virgo Maria.“ Viele
Züge an der marianischen Frömmigkeit der römischen Katholiken dürften Händel befremdet haben. Doch die Schlussworte des Salve Regina, die angeblich dem Hl. Bernhard von Clairvaux am Weihnachtsabend des Jahres 1146 im Dom zu Speyer eingegeben wurden, vertonte er mit tiefster Inbrunst: ein Seufzer des Soprans, von den Geigen im Echo wiederholt, ein lang ausgehaltenes „Virgo“ über changierenden Dissonanzen, dann verschwindet die Musik im Aushauch des Gebets. Wenn Gianlorenzo Bernini in der Verzückung der Hl. Theresia und der Seligen Ludovica Albertoni die ekstatischen Seufzer verzückter Seelen in Marmor lebendig werden ließ, so schuf Händel mit seinem Salve Regina dazu das klingende Pendant. Es ist der verinnerlichte Höhepunkt in seinem zwar kleinen, aber umso großartigeren Corpus von katholischer Kirchenmusik, den er in Rom und Vignanello geschaffen hat. Das intime Salve Regina bildete den Auftakt für die großen Vesperpsalmen, die er im Juli 1707 für die Karmeliter schreiben sollte.
Psalmen für die Karmeliter Kaum war Händel am 22. Juni aus Vignanello zurückgekehrt, musste er sich dem bedeutendsten kirchenmusikalischen Auftrag zuwenden, den er in Rom erhielt: der Vespermusik für die Karmeliter an der Piazza del Popolo. Unter den vielen kirchlichen Festen, die den Jahreslauf des barocken Rom gliederten, nahm „la festa della Madonna del Carmine“, „das Fest der Mutter Gottes vom Berg Karmel“, einen besonderen Rang ein. Die Karmeliter feierten es alljährlich am 16. Juli und dem Vorabend in ihrer Kirche S. Maria di Montesanto (Abb. 14), der linken der beiden Zwillingskirchen an der Piazza del Popolo. Gefeiert wurde „a spese del cardinal Colonna“, auf Kosten des Kardinals Carlo Colonna, des „maggiordomo“ seiner Heiligkeit. Stets wurde in den Diarien ausführlich darüber berichtet, denn zu den Vergnügungen für das Volk gehörten „illuminazioni notturni“, ein Feuerwerk und ein Triumphbogen, den man eigens zu diesem Anlass am Eingang des Corso errichtete. Kein Wunder, dass dieses Ereignis stets Schaulustige und eine Unmenge von Kutschen anzog („un gran concorso e passeggi di carozze“)95. 45
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Abb. 14 S. Maria di Montesanto, die linke der beiden Zwillingskirchen an der Piazza del Popolo (nach Plänen von Carlo Rainaldi 1662–1678 erbaut). Für das jährliche Marienfest der Karmeliter schrieb Händel im Juli 1707 mehrere Psalmen, die auf Emporen zu beiden Seiten des Altars aufgeführt wurden.
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Musikalisch war das Fest besonders reich an Höhepunkten, denn sowohl im Hochamt als auch in der ersten und zweiten Vesper waren in jedem Jahr neue Kompositionen der bedeutendsten römischen Maestri zu hören, die von Kardinal Colonna in Auftrag gegeben wurden. Vom Fest des Jahres 1703 berichtete Valesio, die reich besetzte Musik sei vom „celebre maestro di cappella Scarlatti“ komponiert worden, also von Alessandro Scarlatti. Aus dem Brief eines Augenzeugen geht allerdings hervor, dass nur das Dixit Dominus der zweiten Vesper tatsächlich vom Vater Alessandro stammte, die übrigen Stücke dagegen von seinen Söhnen Pietro und Domenico. Dabei wurden keineswegs alle fünf Vesperpsalmen neu vertont, sondern in der Regel nur der erste und längste, das Dixit Dominus, und noch der ein oder andere Psalm sowie einige Antiphonen und mitunter das Magnificat. Der Augenzeuge Carlo Vinchioni berichtete, wie sehr die Menge der Besucher das ungestörte Zuhören erschwerte, während die Sänger durch die Julihitze geradezu „im Schweiß badeten“96. Auch 1706 priesen die „Avvisi di Roma“ die gute Musik, die von den ersten Sängern der Stadt und einer Fülle der verschiedensten Instrumente ausgeführt wurde („la buona musica de’ primi musici della Città, con Concerto di quantita di varij strumenti“). 1700 freilich war unter der Last der Ausführenden die„schlecht konstruierte Empore“ zusammengebrochen, die man über dem Eingang der Kirche errichtet hatte. Die Trümmer hatten einen Bassisten der päpstlichen Kapelle unter sich begraben. In den Folgejahren gab es deshalb immer wieder Diskussionen um die Empore. Schließlich wurde sie vom Papst verboten, da sie die Zuhörer dazu verleitet hatte, sich umzudrehen, um die Musiker sehen zu können. Dem Altar den Rücken zuzukehren, war für den Heiligen Vater ein Skandal97. Als im Juli 1707 die Reihe an Händel kam, das Karmeliterfest mit Musik auszustatten, musste er eine andere Aufstellung für die Musiker wählen. Leider hat sich ausgerechnet für dieses Jahr kein Bericht erhalten, dennoch darf man annehmen, dass zu beiden Seiten des Altars zwei Emporen errichtet wurden – dort, wo noch heute die wandfesten Balkone der Kirche eine allerdings nur klein besetzte Musik ermöglichen. Für Händels große Psalmen wurden sicher eigens hölzerne „Palchi“ errichtet98.
Dass auf zwei Emporen musiziert wurde, geht aus dem Psalm Nisi Dominus hervor, den Händel am 13. Juli 1707, nur drei Tage vor dem Fest, beendete. Er hat ihn auf zwei vierstimmige Chöre und ein doppeltes Streichorchester mit zwei Orgeln aufgeteilt, obwohl die Musik nur an einer Stelle tatsächlich doppelchörig ist: im prachtvollen Gloria. Zu Beginn spielen beide Orchester zusammen feierliche gebrochene Akkorde, über denen die Chorstimmen den Psalmton anstimmen – einer der Lieblingseffekte Händels in der Kirchenmusik, den er 1727 in seinem ersten Coronation Anthem für König Georg II. Zadock the priest ins Monumentale steigern sollte. Vier knappe Arien bilden die Mitte des Nisi Dominus. Wieder – wie schon im Dixit Dominus – hört man zart schwebende Streicherklänge neben einem cholerischen Ausbruch des „Stile concitato“, passend zu den Texten „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe“ und „Wie Pfeile in der Hand des Mächtigen“. Man spürt, dass Händel hier Kontraste und Klangpracht auf möglichst engem Raum zusammendrängen wollte. Offenbar wurde dieser Psalm zusammen mit besonders langen Stücken aufgeführt. Man kann davon ausgehen, dass sein Dixit Dominus dazu gehörte, obwohl es damals bereits drei Monate alt war. Aber der Umstand, dass die Familie Colonna diesen Psalm in einer Abschrift besaß und die Bedeutung der Dixit-Vertonungen bei früheren Karmeliterfesten lassen den Schluss zu, dass Händels Dixit bei dieser Gelegenheit wieder aufgeführt wurde. Als dritter Psalm kam das nicht minder umfangreiche Laudate pueri hinzu, das Händel für Sopransolo, Chor und Streichorchester mit Oboen setzte und am 8. Juli beendete. Auch hier beweist das Aufführungsmaterial, dass auf zwei Emporen musiziert wurde: Links standen der Sopransolist und ein Vokalquartett als erster Chor, begleitet vom Orchester mitsamt Celli, Kontrabass und erster Orgel, rechts das Tutti des Chores, von der zweiten Orgel begleitet99. Die von Händel neu komponierten Teile der Vesper waren also ähnlich umfangreich wie beim Karmeliterfest von 1703, als sich Scarlatti und seine Söhne das Dixit, Laudate, Magnificat und mehrere Antiphonen geteilt hatten100. Donald Burrows und andere Forscher haben die Verteilung von Händels Musik auf die beiden 47
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Vespern rekonstruiert101: Das Dixit Dominus und Nisi Dominus wurden sicher in der zweiten Vesper aufgeführt, das Laudate pueri entweder in der zweiten oder in der ersten. Sicher zur ersten Vesper gehörten die beiden Antiphonen Haec est Regina virginum und Te decus virgineum, die auf den erhaltenen Originalstimmen ausdrücklich als erste und zweite Antiphon „Per la madonna del Carmine“ ausgewiesen sind, und vermutlich die Motette Saeviat tellus inter rigores, deren Text und Titel an der Bestimmung keinen Zweifel lassen. Aus diesen Zusammenhängen geht hervor, dass es eine „Karmelitervesper“ von Händel nie gegeben hat, jedenfalls nicht im Sinne eines vollständigen Vesperzyklusses, wie wir ihn in Monteverdis „Marienvesper“ oder den Salzburger Vespern Mozarts besitzen. Die entsprechenden Notenausgaben und Einspielungen aus den Siebziger und Achtziger Jahren stellen lediglich reizvolle Hypothesen dar102. Den Römern kam es bei ihrem jährlichen Fest der Madonna del Carmine auch gar nicht auf Vollständigkeit an, sondern auf ein Maximum an Effekten in den einzelnen Werken. In diesem Sinne bot ihnen Händel im Juli 1707 ein wahres Feuer werk an Sensationen, das nicht weniger theatralisch gewirkt haben muss als das Feuerwerk bei der nächtlichen Illumination. Mit den beiden Antiphonen des Vorabends stimmte er die Zuhörer auf das festliche Ereignis ein – bei eher bescheidener Besetzung für Solostimme und Streicher und knapper Ausdehnung. Vielleicht diente an diesem Abend die Motette Saeviat tellus als das eigentliche Hauptwerk. Mit ihr schuf Händel ein Bravourstück für Koloratursopran, das nicht weniger mitreißend wirkt als Mozarts Exsultate, jubilate oder Bachs Jauchzet Gott in allen Landen und mit einem ebenso furiosen Halleluja schließt.
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Am folgenden Tag eröffnete das Dixit Dominus in g-Moll die Vesper auf denkbar dramatische Weise, fünfstimmig mit Streichorchester wie Alessandro Scarlattis Dixit aus der Karmelitervesper von 1703. Dem schloss sich das rauschende Laudate pueri in D-Dur an, ein weiteres Bravourstück für hohen Sopran, in diesem Fall aber im Dialog mit dem Chor. Als dritter Psalm folgte das majestätische Nisi Dominus in G-Dur, in dem sich der Klang zur Doppelchörigkeit weitete. Es wäre verfehlt, dem Lutheraner Händel die Bedenkenlosigkeit nachzutragen, mit der er hier lateinische Vesperpsalmen im reinsten römischen Stil vertont hat. Psalmvertonungen gehörten selbstverständlich auch in den lutherischen Gottesdienst, nicht nur solche in deutscher Sprache. Händel selbst entwickelte sein römisches Laudate aus einer frühen Hamburger Version dieses Psalms in lateinischer Sprache. Auch bei Dietrich Buxtehude und dem Dresdner Hofkapellmeister Johann David Heinichen findet man lateinische Psalmen. Trotz dieser lutherischen Beispiele darf man annehmen, dass sich Händel dem Faszinosum der so ganz anders gearteten Gläubigkeit, wie sie der römische Katholizismus um 1700 darstellte, nicht entziehen konnte. „Die Jesuiten mit ihrem weiten Gewissen, die Ablässe, die Religion, wie sie um 1650 in Italien war, sind für die Künste und das Glück viel wertvoller als der vernünftigste Protestantismus.“103 Dieser provozierende Satz, den Stendhal einem vom Protestantismus begeisterten Philosophiestudenten in Rom 1817 an den Kopf warf, vermittelt eine Ahnung von der „Weite des Gewissens“ im römischen Katholizismus des Barock. Einer der schönsten Belege dafür sind die lateinischen Psalmen, die der Lutheraner Händel 1707 für die Kirchen Roms geschaffen hat.
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DAS ZWEITE JAHR
Unmittelbar nach dem Karmeliterfest brach in Rom die Hitze des Hochsommers aus und damit jene Jahreszeit, die der Adel bevorzugt in seinen Villen und Gärten auf den Hügeln der Stadt oder am Albaner See verbrachte. Dort wurden Serenate aufgeführt, sommerliche Freiluftmusiken mythologisch-erotischen Inhalts. Auch Händel hat zu diesem Genre herrliche Werke beigetragen, die im Sommer 1708 ihren Höhepunkt erreichten. Mit einer solchen Serenata für drei Solisten und Orchester, Clori, Tirsi e Fileno, verabschiedete er sich im Oktober 1707 für einige Monate von der Ewigen Stadt104. So opernhaft sich seine Musik in diesem Schäferdialog auch gebärdet: Florenz und Venedig lockten mit echten Opern. Im Oktober hatte am florentinischen Teatro del Cocomero seine erste italienische Oper, Rodrigo, Premiere, deren eigentlicher Titel auf die Selbstüberwindung des Helden verweist: Vincer se stesso è la maggior gloria. Händel hatte es mit einer düsteren Intrigengeschichte aus Spanien zu tun105 – voller Anspielungen auf die politische Situation des Spanischen Erbfolgekriegs, die man am Hof der Medici ebenso wie in Rom mit den Augen der Bourbonen betrachtete, indem man die Habsburger in Barcelona und Wien zu Erzfeinden stempelte. Händel lieh diesem politisch durchaus brisanten Stück einige seiner schönsten römischen Arien, die er bis dahin geschaffen hatte, darunter die erste Arie aus dem Delirio amoroso als Glanzstück der gesamten Oper. Nach dem Ende der herbstlichen Opern-Stagione am Arno nutzte er die Gelegenheit, nach Venedig weiterzureisen und dort seinen ersten Karneval zu erleben106. Jeder deutsche Musiker und Mäzen, der in jenen Jahren während des Karnevals in die Lagunenstadt kam, war überwältigt von ihrem Opernleben: Fünf Opernhäuser spielten parallel, Abend für Abend vom 26. Dezember bis Aschermittwoch. Jedes von ihnen stellte pro Saison zwei neue Stücke vor. Abschriften der wichtigsten Arien aus S. Cassiano oder S. Giovanni Crisostomo mit nach Deutschland zu nehmen, gehörte zu den „Musts“ jedes jungen deutschen Fürsten jener
Generation. Händel lernte hier einen ganz anderen Stil kennen als in Rom: weitaus progressiver und eingängiger, geprägt von „Allegria“ und „Vivacità“, von Streichereffekten alla Vivaldi und von den einprägsamen Arienthemen eines Gasparini, Albinoni und Lotti. In seinen römischen Werken des Jahres 1708 sollte diese Erfahrung alsbald ihren Niederschlag finden.
Ostern in Rom Im Februar 1708 kehrte Händel nach Rom zurück. Wieder wohnte er bei Marchese Ruspoli, dieses Mal im Palazzo Bonelli und offenbar in Begleitung. Die Fastenzeit stand bevor, die erste, die er vollständig erleben sollte und gleich die glanzvollste des gesamten Jahrzehnts. Denn Ottoboni und sein Freund Ruspoli hatten eine komplette Serie von Oratorien verabredet, die sie auf ihre Mittwochs- und Sonntagsakademien verteilten107. Sie begann am 29. Februar mit der Uraufführung von Alessandro Scarlattis Oratorium Il martirio di S. Cecilia, basierend auf einem Text Ottobonis, und endete mit der glanzvollen Uraufführung des Osteroratoriums, das Ruspoli bei Händel in Auftrag gegeben hatte. Während der sieben Wochen dazwischen hatte Händel reichlich Gelegenheit, Anschauungsmaterial für geistliche Oratorien im neuesten italienischen Geschmack zu sammeln, und zwar nicht nur im römischen Stil. Ottoboni lud aus seiner venezianischen Heimat Carlo Pollarolo und Antonio Caldara ein, je ein Oratorium beizusteuern (Il convito di Baldassar, Il martirio di S. Caterina). Daneben beauftragte er die römischen Maestri Andrea Adami und Pierpaolo Bencini mit neuen Werken (Il sacrificio di Abramo, L’Abelle), während Ruspoli am Palmsonntag im Oratorio de’ Filippini, dem von Francesco Borromini neu erbauten Ursprungsort der Gattung Oratorium, den Figliol prodigo von Cesarini aufführen ließ. Händel musste bei dieser Aufführung ebenso mitwirken wie bei der Wiederaufnahme von Scarlattis Giardino di Rose und in einem weiteren Scarlatti-Oratorium zum Fest Mariae Verkündigung. 49
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Während Ottoboni einen ganzen Zyklus neuer Oratorien aus der Taufe hob, beschränkte sich Ruspoli auf Wiederaufnahmen, um die volle Aufmerksamkeit auf das Hauptereignis der ganzen Stagione zu lenken: die Uraufführung von Händels Resurrezione (Abb. 15). Diese Neuheit wurde mit dem größten Aufwand präsentiert: Im „gran salone“ des Palazzo Bonelli erstrahlte über dem reich besetzten Orchester der Titel des Werkes in raffiniert beleuchteten Buchstaben, während ein Monumentalgemälde der Auferstehung von Cerutti als Hintergrund für den Gesang des Solistenquintetts diente108. 1500 Libretti wurden gedruckt, die nicht nur für die beiden Aufführungen am Ostersonntag und Ostermontag, sondern auch für die öffentlichen Proben gedacht waren. Händels Auferstehungsoratorium stand also in einem monumentalen Kontext und wurde auch so „inszeniert“.
Es ist wohl keine Übertreibung, wenn man in dem römischen Oratorienzyklus von 1708 das entscheidende Vorbild für Händels Londoner Oratorienspielzeiten sieht. Zum einen deckten die römischen Werke, die er damals kennenlernte, alle drei Hauptgenres der Gattung ab, wie er sie später in London aufgreifen sollte: biblische Oratorien nach dem Alten und Neuen Testament (Abel, Abraham, Balthasar; Verkündigung und Auferstehung; Gleichnis vom verlorenen Sohn), allegorische Dialoge (Scarlattis Passionsoratorium) und Märtyrergeschichten (Hl. Caecilie, Hl. Katharina). Zum anderen konnte er hier erstmals die Idee eines regelrechten Oratorienspielplans in der Fastenzeit kennenlernen, die er später so erfolgreich auf London übertrug. Drittens waren diese Werke durchweg dramatisch gestaltet: als Dialoge unter handelnden und leidenden Personen, nicht als
Abb. 15 Rezitativ und Arie der Maria Magdalena „Ho un non so che nel cor” aus Händels Resurrezione. Mit dieser Arie reüssierte Margarita Durastante auch im Dezember 1709 in der Titelpartie der Oper Agrippina.
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„Historia“ im Sinne der Bachschen Passionen. Die Arien und Ensembles, die Rezitative und besonders die dramatischen Accompagnati lieferten Händel reiches Anschauungsmaterial für sein späteres Schaffen109. Was den italienischen Oratorien bei Ottoboni und Ruspoli an Chören fehlte, machten die lateinischen Oratorien im SS. Crocifisso wett, wo in der gleichen Fastenzeit fünf neue Werke von Giuseppe Facciolo, Francesco de Messi, Filippo Botari und Gregorio Cola gegeben wurden (über Stoffe wie Iudith Triumphans oder Bethsaba). Händels Erinnerungen an dieses überreiche römische Repertoire wurden 35 Jahre später in England durch einen glücklichen Zufall aufgefrischt: Bei der Versteigerung von Ottobonis Nachlass 1741 erwarb Charles Jennens, der Textdichter des Saul und Belshazzar, die Partituren der wichtigsten Oratorien von Scarlatti, darunter Il martirio di S. Cecilia von 1708 und Cain von 1707. Wie wir aus einem Brief von Jennens an seinen in Italien lebenden Freund Edward Holdsworth vom 17. Januar 1743 wissen, hat er diese Scarlatti-Partituren Händel geliehen, als dieser gerade an Samson, Joseph und anderen Werken arbeitete110. So gibt es gleich mehrere Verbindungen zwischen den römischen Oratorien von 1708 und Händels späteren Londoner Meisterwerken der Gattung. Krönender Abschluss jener römischen Fastenzeit war ein weiterer Wettbewerb, dem sich Händel stellen musste: Am Mittwoch der Karwoche ließ Ottoboni erneut – wie in den beiden Vorjahren – Scarlattis Passionsoratorium aufführen, dessen Text er selbst verfasst hatte. Am Ostersonntag folgte die Premiere von Händels Resurrezione, der einige gut besuchte Proben vorausgingen: Man war neugierig, wie sich der „Sachse“ gegen den „Sizilianer“, den ungekrönten König des römischen Oratoriums, schlagen würde. Es war ein Duell mit ungleichen Waffen: Das Passionsoratorium von Ottoboni und Scarlatti ist ein allegorischer Dialog zwischen Schuld, Reue und Gnade unter dem Kreuz111. In der Aufführung von 1708 fielen mitten im Orchestervorspiel die prächtigen Brokatvorhänge in Ottobonis Gran Sala zu Boden und gaben eine düstere schwarze Dekoration frei, in deren Mitte das beleuchtete Kreuz stand. Dieses Dekor, das Ottobonis neuer Hausarchitekt Filippo Juvarra
entworfen hatte, war dem Werk angemessen, ist es doch fast durchweg in melancholisch-düsteren Farben gehalten. Der erste Teil beruht auf den Lamentationes Jeremiae Prophetae, den Klageliedern des Propheten Jeremias, die Ottoboni ins Italienische übertrug und Scarlatti als kunstvolle Cantus-Firmus-Bearbeitungen vertonte. Im zweiten Teil ragen eine Weltgerichtsszene mit sechs sordinierten Trompeten und der Hymnus zur Kreuzverehrung als monumentaler Schlusschor aus der Abfolge melancholischer Arien hervor. Hört man dieses Werk im unmittelbaren Vergleich mit Händels Resurrezione, wie es bei den Händelfestspielen in Göttingen 1997 und in Halle 2008 möglich war, so könnte der Kontrast kaum größer sein: Scarlattis Passionsoratorium verharrt in den Trauertönen der Karwoche und ist stilistisch fast noch ein Werk des 17. Jahrhunderts, mit wenigen „modernen“ Siciliane untermischt, ohne dramatischen Zug, dagegen betrachtend, leidend, demütig oder – wie es ein Zeitgenosse beschrieb – „bewundernswert bei einem so melancholischen Stoff, der in demütige Lebhaftigkeit verwandelt wird“112. Händels Resurrezione dagegen trumpft auf – vom ersten Ton an. Sie ist ein brillantes Werk von höchster Theatralik, vielfarbig in der Orchestrierung, hypermodern im Stil der Arien, von höchster Virtuosität in der Führung der Singstimmen und von einer melodischen Eingängigkeit, der man sich nicht entziehen kann. Von den agilen Arien des Engels über die weichen, zärtlichen Kantilenen der Maria Magdalena und der Maria Cleofis bis hin zu den hoffnungsfrohen Gesängen des Johannes reiht sich eine schöne Melodie an die nächste. Die berühmteste von ihnen ist zugleich die simpelste: „Ho un non so che nel cor“, die Arie, in der Maria Magdalena die Auferstehung erahnt, ist eine Bourrée, die vom Sopran und den Violinen einstimmig ohne jede Begleitung vorgetragen wird. Händel wusste um den Effekt dieser Einfachheit:„Ho un non so che nel cor“ wurde zum Schlager, als er sie in Agrippina wiederverwendete. Es war auch seine erste Arie, die England erreichte: 1710, noch vor dem Komponisten! Sie ging als „The Famous Mock Song“, das „berühmte Spottlied“, in die englische Musikgeschichte ein113, obwohl sie zu Ostern 1708 in Rom die Freude über die Auferstehung verkündet hatte. 51
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Die unmittelbar zündende, theatralische Wirkung von Händels Resurrezione hat auch mit der Art und Weise zu tun, wie der Textdichter Sigismondo Capece die Geschichte der Auferstehung erzählt hat114: in Gesprächen der Glaubenszeugen am Grab Jesu und in einer Parallelhandlung zwischen Himmel und Hölle, die aus der biblischen Erzählung ein barockes Welttheater macht. Zu Beginn rast ein Engel im Sturzflug halsbrecherischer Koloraturen zur Hölle hinab: „Disseratevi, porte d’Averno“, „Öffnet euch, Pforten der Unterwelt!“,ruft er Luzifers Gefolgschaft zu, unterstützt von triumphalen Trompeten. Der Teufel will den Grund für den Jubel nicht verstehen, ist doch eben erst der Sohn Gottes am Kreuz gestorben. In grotesk verzerrten Läufen feiert der Höllenfürst seinen scheinbaren Sieg. Doch der Engel belehrt ihn, dass die Liebe Jesu über den Tod gesiegt habe. Es braucht noch zwei weitere Dialoge, bis Luzifer seine Niederlage begreift. Die gleißend hellen Farben des Engels und die aufgeblasenen Drohgebärden des Teufels stehen in scharfem Kontrast zur Dunkelheit, die zunächst die Frauen am Grab umgibt. In reichen Orchesterfarben lässt sie Händel die Passion noch einmal durchleben: Blockflöten und Sologambe, sordinierte Oboen und Streicher, eine Traversflöte zeichnen bewegende Bilder einer Nacht der Trauer. Die englische Sopranistin Emma Kirkby hat dies wunderbar beschrieben: „Die erste Arie dieser Szene hat eine sehr düstere, aber sehr reiche Textur. Es ist Magdalenas erste Arie, wenn der Ostermorgen graut. Zwei Tage lang war sie in tiefster Trauer versunken. Wenn die Sonne aufgeht, erinnert sie sich an ihre Sorgennacht. Die Instrumentation ist wundervoll. Händel liebte diesen Klang und war voller Ideen, wie er ihn einsetzen konnte.“115 Ähnlich charakteristisch wirkt der Orchesterklang in allen Szenen dieses Dramas, das sich im steten Wechsel zwischen Himmel, Erde und Hölle entfaltet. Dass Händel gerade dieses Oratorium so reich instrumentiert hat, lag an der üppigen Orchesterbesetzung, die ihm der Marchese Ruspoli zur Verfügung stellte: An 28 eigens geschnitzten und vergoldeten Notenständern, auf einem „teatro a scalinata“ aus drei ansteigenden Podien und mit einem Extra-Podium für den Konzertmeister Corelli musizierten nicht weni52
ger als 23 Geiger, 4 Bratscher, je 6 Cellisten und Kontrabassisten, 2 Trompeter, 4 Oboisten und je ein Posaunist und Gambist sowie Händel am Cembalo, alles in allem 48 Musiker. Händels Musik, in dieser Mammutbesetzung dargeboten, und die festliche Dekoration des Podiums hätten schon ausgereicht, um aus der Resurrezione die erhoffte Sensation zu machen. Doch zum Stadtgespräch wurde das Werk aus einem anderen Grund: Ruspoli besaß die Unverfrorenheit, Margarita Durastante singen zu lassen – eine Frau in der Rolle der schönen Sünderin Maria Magdalena am heiligsten Feiertag der katholischen Christenheit in dem Oratorium eines lutheranischen Komponisten. Selbst für einen Günstling des Papstes wie Ruspoli enthielt diese Konstellation zu viel Sprengstoff. Offenbar hatte der Marchese den eisernen Willen des Heiligen Vaters unterschätzt, das Frauenverbot in öffentlichen Aufführungen durchzusetzen. Postwendend erging ein Breve aus dem Vatikan, jeden weiteren Auftritt der weiblichen Magdalena zu unterbinden116. In der zweiten Aufführung am Ostermontag sang ein Kastrat die Rolle – entweder vom Blatt oder insgeheim schon vorbereitet, da man den Sturm vorausgesehen hatte. Clemens XI. ließ noch in einem anderen Punkt nicht mit sich spaßen: in der Frage des Opernverbots. Im Februar 1708 verbannte er den Marchese Maccarani aus Rom, weil er illegal eine „Opera profana“ in seinem Palazzo hatte aufführen lassen. Umgehend ließ der Heilige Vater „con santa, e giusta resoluzione“ sämtliche Zuschauer und Mitspieler ohne Rücksicht auf ihren Rang verhaften oder unter Hausarrest stellen117. Dass er alle Beteiligten später begnadigte und zu hohen Geldstrafen verurteilte, die in eine Silberlampe für die Cathedra Petri investiert wurden, tat der psychologischen Wirkung der Maßnahme keinen Abbruch: Die Oper ließ sich in Rom auf absehbare Zeit nicht durchsetzen. Für Händels Entscheidung, ob und wie lange er noch am Tiber bleiben wollte, spielte dieser Umstand eine entscheidende Rolle. Vor seinem Abschied von der Ewigen Stadt aber nutzte er die sommerlichen Serenaden, um sich weiter in der Dramaturgie der Oper zu schulen.
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Abb. 16 Die Via Lateransense, die heutige Via Merulana, zu Händels Zeit eine idyllische Parklandschaft. Hier hatte der Marchese Ruspoli seinen Garten, in dem er im Sommer 1708 Treffen der Arkadier abhielt, u. a. eine Aufführung der Kantate Aminta e Fillide von Händel (Detail aus dem Stich Abb. 1).
Liebesduelle in Arkadien Der Oper am nächsten kam Händel in Rom in seinen Kantaten für zwei oder drei Solisten und Orchester, Cantata a due oder Cantata a tre voci genannt. In diesen hoch stilisierten Schäferdialogen trat er in direkte Konkurrenz zu Alessandro Scarlatti, der in den Jahren zuvor die Ewige Stadt mit einer ganzen Serie solcher Werke unterhalten hatte. Die Titel dieser Stücke aus den Jahren 1705 und 1706 sprechen für sich: Endimione e Cintia, Clori e Zeffiro, Serenata a Filli oder auch Venere avendo perduto Amore lo ritrova fra le Ninfe, e Pastori delli Sette Colli („Venus, die Amor verloren hat, findet ihn unter den Nymphen und Schäfern der sieben Hügel wieder.“)118. Unter den „Nymphen und Schäfern der sieben Hügel“ spielen auch Händels große Schä-
ferkantaten. Mit ihnen krönte er seine römische Laufbahn im weltlichen Bereich, denn sie häuften sich auffällig im Sommer vor seinem Abschied von der Ewigen Stadt und finden ein Gegenstück in der großen neapolitanischen Serenata Aci, Galatea e Polifemo, die er während seines zweimonatigen Aufenthalts in Neapel im Juni und Juli 1708 geschrieben hat119. In diesen Schäferdialogen geht es stets um die Liebe, meist um das alte Thema des Liebesduells. Seit Bernini 1625 die Flucht der Nymphe Daphne vor dem Gott Apoll in Marmor gemeißelt hatte, gehörte das Thema der „bella Ostinata“ zu den Topoi des römischen Barock: Eine widerspenstige Schöne entzieht sich durch Flucht den Nachstellungen eines aufdringlichen Liebhabers. Händel hat diese Szene gleich mehrmals in Töne gefasst: zuerst in seinen römischen Kantaten Aminta e Fillide und Duello 53
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amoroso, dann 1710 in Apollo e Dafne, seiner längsten und am reichsten besetzten Duokantate, die er noch in Venedig begonnen, aber erst in Hannover vollendet hat. Als durchaus harmonischere Dreiecksgeschichte begegnet uns der amouröse Fall auch in der Serenata Clori, Tirsi e Fileno vom Oktober 1707. Alle diese Stücke stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit den ästhetischen Idealen der Accademia degli Arcadi. Seit eine Gruppe von Gelehrten und Dichtern 1690 zu Ehren der verstorbenen Exilkönigin Christina von Schweden diese Gesellschaft gegründet hatte, war das sagenhafte Schäferland der griechischen Antike am Tiber zu neuem Leben erwacht. Die Gründerväter um ihren ersten Präsidenten Crescimbeni konnten sich auf die Frühgeschichte Roms berufen, denn der Sage nach waren es Schäfer aus Arkadien, die sich als erste auf dem Palatin ansiedelten. Nicht zufällig fanden auf diesem Hügel Roms viele frühe Treffen der Arkadier statt. Bevor König Joao V. von Portugal der Akademie 1725 ein eigenes Gelände am Abhang des Gianicolo schenkte, um dort ihren Bosco Parrasio zu errichten, versammelten sich die Arkadier in den Gärten reicher Gönner: in den Orti Farnesiani, den Gärten der Farnese auf dem Palatin, in der Villa des Duca Paganica bei S. Pietro in Vincoli, im Park der verstorbenen Exilkönigin Christina von Schweden beim heutigen Palazzo Corsini in Trastevere und in anderen idyllischen Anlagen120. In den „Club-Meetings“ der Akademie trafen sich die wichtigsten Kardinäle und Adligen, Dichter, Denker und Künstler der Stadt, um unter griechischen Pseudonymen einem freien Gedankenaustausch ohne Standesschranken zu frönen und gemeinsam einem Thema nachzusinnen: der Liebe in all ihren Schattierungen. Dass auch die drei größten Musiker Roms, Pasquini, Corelli und Scarlatti, in die Arcadia aufgenommen wurden, zeugt von der großen Bedeutung der Musik für die Arkadier: Die „gentil foresta“ Roms sollte widerhallen von den „puri semplicetti amori“, den „reinen, simplen Lieben der Schäfer“121. In Aminta e Fillide hat Händel einer solchen „simplen Liebe“ wahrhaft genialen Widerhall verschafft, und wir wissen sogar, in welchem „freundlichen Wald“ Roms dieses Werk erklang: im Garten des Marchese Ruspoli an der Via Me54
rulana. Dank seiner römischen Gönner fand sich Händel schon bald nach seiner Ankunft am Tiber im Mittelpunkt der arkadischen Gesellschaft wieder122. Ruspoli wurde im Sommer 1708 der neue Padrone der Akademie. Zu ihrer ersten Zusammenkunft unter seiner Leitung ließ er am 14. Juli 1708 Händels Aminta e Fillide aufführen. Die Partie der Schäferin Phyllis besetzte er mit der Dura-stante, den Schäfer Amintas ebenfalls mit einer Sängerin, Anna Maria di Piedz, und nicht mit einem Kastraten, was zweifellos Aufsehen erregte. Doch Frauen nahmen in der Arcadia ohnehin einen privilegierten Platz ein. Dies führt uns zu einer düsteren Episode in der Geschichte der Gesellschaft, die beweist, wie tragisch aktuell das Thema männlicher Begierde und weiblicher Verweigerung damals war: Am Morgen des 29. März 1703 war Faustina Maratti, die Tochter des bei Weitem berühmtesten römischen Malers jener Zeit, Carlo Maratti, auf der Kreuzung der Quattro Fontane nur knapp einer Vergewaltigung entgangen. Der zügellose Adlige Giangiorgio Sforza Cesarini hatte ihr aufgelauert und versuchte, sie in seine Kutsche zu zerren. Nachdem sie sich befreit hatte, verletzte er sie auf der Flucht mit seinem Degen an der Stirn. Blutend und zutiefst erschüttert, konnte sie sich schließlich in ein nahes Kloster retten. Im Mai 1704 wurde Faustina Maratti in die Arcadia aufgenommen123. Vor diesem realen Hintergrund verlieren Liebesduelle wie der Duello amoroso oder Aminta e Fillide ihre Harmlosigkeit: Was unter den Arkadiern spielerisch überhöht wurde, konnte im wirklichen Leben grausam ausarten. Etwas von diesem bedrohlichen Hintergrund spürt man in der Ouvertüre des Aminta, die nach einem majestätischen langsamen Teil die Flucht der Phyllis in rasenden Läufen der Streicher schildert. Mitten hinein ins hektische Treiben ruft Amintas sein „Halt an!“ – „Arresta, arresta il passo!“ Händel hat diesen „Coup de Thêatre“ später in seiner Londoner Motette Silete venti wiederholt und übrigens den langsamen Teil der Ouvertüre für Rinaldo wiederverwendet. Überhaupt gehört Aminta e Fillide zu den am meisten ausgeschlachteten römischen Werken. Dies hängt mit der Fülle an verführerischen Melodien zusammen, die Händel hier angehäuft hat, um die Geschichte der beiden Schä-
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fer in teils erotischen, teils dramatischen Tönen zu erzählen. So droht Amintas dem allzu keuschen Mädchen in seiner ersten Arie an, sich umzubringen. Entsprechend düster setzen die Streicher ein, während die Singstimme das „Fermati“ aus Scarlattis Oratorium Sedecia von 1705 zitiert124. Phyllis antwortet in den koketten Tönen eines barocken Walzers: Ihre erste Arie „Fiamma bella“ muss ein solcher Hit gewesen sein, dass sie zum Synonym für die ganze Kantate wurde. Die hinreißende Tanzmelodie, mit der sie die „schöne Flamme“ ihrer den Göttern geweihten Keuschheit besingt, verherrlicht das Ideal der Vestalinnen, wie es die Dichterinnen im Kreis der Arcadia immer wieder in Verse brachten. Händel hat die Melodie von seinem Hamburger Kollegen Reinhard Keiser „ausgeborgt“. In Agrippina wurde daraus ein Schlager. Trotz der zarten Pastellfarben, in denen die meisten Nummern gehalten sind, entstehen zwischen den Arien wirkungsvolle Kontraste. Amintas malt in einem kämpferischen g-MollAllegro die tödliche Wirkung von Amors Pfeilen. Phyllis antwortet ungerührt. In Terzenseligkeit und koketter Melodik erteilt sie der Liebe neuerlich eine Absage: Das ganze Gerede von den Freuden der Liebe sei nur ein Scherz. Nur der könne „vergnüglich singend seiner Wege gehen“, der sich diese Kette nicht umlege. Zum Wendepunkt des kleinen Dramas wird die nächste Arie des Amintas, die schönste der Kantate: „Senza Cembalo“,mit gezupften Saiten begleiten die Streicher einen liedhaft schlichten Gesang im Rhythmus einer Siciliana und in fremdartigen exotischen Harmonien. Händel hat hier die villotta zitiert, ein volkstümliches venezianisches Tanzlied, das für gewöhnlich mit Zupfinstrumenten und Tamburin begleitet wurde125. Auf der Grundlage dieses VolksliedTypus zeigt seine Arie eine Familienähnlichkeit mit Pedrillos Romanze aus Mozarts Entführung aus dem Serail, doch auch mit einer Nummer aus Campras Les fêtes venitiennes und einer Arie aus Caldaras Maddalena-Oratorium. In all diesen Fällen griffen die Komponisten auf jene venezianische Melodie zurück und verwandelten sie in eine Serenade zu imaginärer „Gitarrenbegleitung“. Selbst Phyllis kann dem Zauber dieser Musik nicht widerstehen. In ihrer nächsten Arie, einem verliebten Amoroso, spürt sie schon die Wirkungen von Amors Liebespfeil. Nach ein
paar weiteren virtuosen Nummern werden die beiden ein Paar. Die letzte Serenata, die Händel für Rom geschrieben hat, war politischer Natur und zeugt von der nahen Bedrohung des Krieges. Am Horizont Arkadiens zogen dunkle Wolken auf. Am 9. September 1708 erklang im Palazzo Bonelli eine Serenata à trè Voci mit dem Titel Olinto pastore arcade alle glorie del Tebro126. Mit dem „arkadischen Schäfer“ Olinto, der hier den verschlafenen Tiber weckt, um ihn an die Ruhmestaten der Antike zu erinnern, war niemand anderer als Ruspoli selbst gemeint. Denn der militärische Eifer, zu dem der ehrwürdige Strom in Händels Tönen musikalisch angefeuert wurde, nahm vor den Toren von Ruspolis Palazzo am selben Tag sehr konkrete Formen an: Er stellte dem Papst zur Verteidigung des Kirchenstaats ein ganzes Regiment zur Verfügung. Dessen Aufmarsch vor der Basilika SS. Apostolli samt feierlichem Auftritt des Padrone am Fenster seines Palazzo ließ Ruspoli in einem Monumentalgemälde festhalten, das erstmals Ursula Kirkendale publiziert hat127. Es ist das lebendige Dokument für das Selbstverständnis eines Padrone, dem Händel beinahe zwei Jahre lang seine schöpferische Kraft zur Verfügung stellte, selbst in einem puren Propaganda-Stück wie dem Olinto pastore.
Abschied von Rom Mit dem Herannahen der kaiserlichen Truppen neigte sich für Händel die glückliche römische Zeit dem Ende zu. In seinen ersten beiden Jahren in Italien hatte ihm die päpstliche Hauptstadt eine verlässliche Basis für alle Unternehmungen geboten. Von hier aus hatte er seinen Opernauftrag für Florenz in die Wege geleitet, von hier aus war er nach Neapel aufgebrochen. Der Palazzo seines Padrone war nicht nur Heimstatt, sondern auch gleichsam Poststation – so, wie er es auch 1729 halten sollte, als er seine Verwandten bat, alle Briefe an ihn zum venezianischen Konsul Smith zu senden, während er in Italien unterwegs war128. In Rom hatte er seinen Diener, seine Kleidung, seine Kutsche, sein Bett, sein Cembalo und seine Notenmanuskripte. Hier schuf er die mit Abstand meisten und bedeutendsten Werke 55
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Abb. 17 Georg Friedrich Händel (Kopie nach Balthasar Denner): Eine italienische Kopie des frühesten authentischen Porträts von Händel, das der Nürnberger Maler Balthasar Denner um 1725 in London malte. Es zeigt Händel im Alter von rund 40 Jahren.
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seiner italienischen Jahre. Insofern darf man die Aufenthalte in Florenz im Oktober 1707, in Venedig im Winter 1708 und in Neapel im Sommer 1708 durchaus als „Abstecher“ bezeichnen. Anders steht es mit dem Jahr 1709: Die einzigen Dokumente, die wir darüber besitzen, belegen einen Aufenthalt in Florenz im Herbst und die sensationelle Aufführungsserie seiner Oper Agrippina ab dem 26. Dezember in Venedig. Florenz verließ er mit zwei Empfehlungsschreiben, die Ferdinando de’ Medici am 9. November an seinen Schwager, den Kurfürsten Jan Wellem von der Pfalz, und an dessen Cousin, den in Innsbruck residierenden Pfalzgrafen Carl Philipp, geschrieben hatte129. In Venedig knüpfte Händel Verbindungen sowohl nach England als auch zu Baron Kielmansegge, dem Haushofmeister des Kurfürsten von Hannover. Daran wird deutlich, dass er seine Rückkehr nach Deutschland von langer Hand vorbereitete. Rom lag hinter ihm, Venedig diente ihm als Sprungbrett in den Norden. Nur noch einmal sollte er in beide Städte zurückkehren: 1729, als er in Italien Sänger für seine zweite Londoner Opernkompanie anwarb. Bei diesem zweiten Aufenthalt schlug er seine Zelte in Venedig auf, nicht mehr in Rom, das er nur kurz besuchte. Warum dieser plötzliche und endgültige Abschied von Rom? Darüber ist viel spekuliert worden, doch sehen die Fakten eher nüchtern aus: Den letzten Eintrag „per la tavola del Sassone“ hat Ursula Kirkendale am 9. Dezember 1708 in den Haushaltsbüchern des Marchese Ruspoli gefunden130. Nichts deutet auf einen Bruch hin, war der Marchese doch auch in den Monaten zuvor regelmäßig für die Verpflegung seines Schützlings aufgekommen – im Turnus der üblichen Zweimonatszahlungen an den „dispensatore“. Händel dürfte sich also – ganz wie im Vorjahr, nur später – von Rom verabschiedet haben, um den Karneval in Venedig zu besuchen. Ob er die Absicht hatte, im Frühjahr wiederzukommen, wissen wir nicht. Bei Marchese Ruspoli wäre er dann freilich nicht mehr untergekommen, hatte sein Padrone doch zum neuen Jahr einen Italiener als Kapellmeister fest
angestellt: Antonio Caldara131. Händels Freund Domenico Scarlatti hatte den anderen lukrativen Posten besetzt, der damals in Rom vakant war: bei der polnischen Exilkönigin Maria Casimira. Vielleicht war es doch Händels lutherisches Bekenntnis, dem er allen Bekehrungsversuchen eifernder Kardinäle zum Trotz treu blieb132 und das ihm letztlich eine feste Anstellung in Rom, insbesondere im Haushalt eines Kardinals verwehrte. Vielleicht empfand er das Opernverbot und die anderen Besonderheiten des römischen Milieus – die esoterische Künstlichkeit vieler Kantaten, die erzkatholischen Stoffe der Oratorien, die schamlose Panegyrik mancher Serenata – als zu eng für sein Genie. Vielleicht spürte er, dass er mit der Resurrezione und den Serenate vom Sommer 1708 alles gesagt hatte, was er in diesem Milieu ausdrücken konnte. Vielleicht gab es doch ein Zerwürfnis zwischen ihm und Ruspoli, den er später nie mehr erwähnt hat – nicht gegenüber seinen Londoner Freunden und auch nicht gegenüber seinem Biographen Mainwaring. Warum er Rom „Addio“ sagte, wissen wir nicht. Aber wir können einschätzen, was er von dort mit über die Alpen nahm: unauslöschliche Eindrücke von der Hauptstadt des Barock und ihren Kunstschätzen; ein durch und durch professionelles Verständnis von seinem Metier; wertvolle Erfahrungen im heiklen Umgang mit der „Upper class“ und ihren künstlerischen Neigungen; und das obligatorische Rüstzeug für einen Komponisten, der mit Opern in italienischer Sprache die Welt erobern wollte. George Pratt hat dies jüngst so formuliert: „Händel verließ Italien 1710. Er erklärte später dem Historiker John Hawkins gegenüber, er habe nach Italien ‚ein wenig von Musik verstanden und ganz gut Orgel gespielt‘. In Wirklichkeit hatte er die fortschrittlichste Musik Europas in sich aufgesogen, hatte mit vielen führenden Interpreten und Komponisten Freundschaft geschlossen und ein Selbstvertrauen und eine Brillanz erlangt, besonders im Musiktheater, die er nie mehr übertreffen sollte.“133
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NACHSPIEL IN LONDON
Bereits an vielen Stellen dieses Buches ist deutlich geworden, wie sehr die römischen Erfahrungen Händels reife Werke und sein Künstlerdasein prägten, auch noch Jahrzehnte nach seinem Abschied von Rom. Dies sei hier abschließend in einigen Punkten zusammen gefasst: Die Idee des Oratoriums als eigene Gattung verpflanzte Händel vom Tiber an die Themse, indem er die dramatischen Formen und dramaturgischen Kunstgriffe eines Alessandro Scarlatti mit der englischen Chortradition und Reminiszenzen an seine römischen Psalmen verband. Auch der Chorkomponist Händel hatte in den prächtig besetzten Kirchenmusiken Roms eine Schule des Stils und des Hörens durchlaufen: „In der Art eines Malers erzielt Händel seine gewaltigsten Wirkungen durch die abstrakten Formen seiner chorischen Schreibweise, Fuge, Cantus firmus, Doppelchörigkeit und jene gigantischen Vorschlaghammer-Akkorde, die der Wucht massiger Chöre eine gottähnliche Autorität verleihen.“134 Diese Sätze von Jonathan Keates gelten gleichermaßen für das römische „Juravit Dominus“ im 109. Psalm wie für „He smote all the firstborn in Egypt“ aus dem Oratorium Israel in Egypt. In Rom reifte Händels Stil zu jener vollendeten Synthese aus deutscher „Gründlichkeit“ der Harmonie und italienischer „Anmut“ der Melodie, die in London sein Erfolgsgeheimnis bleiben sollte. Schon John Mainwaring wies mit Nachdruck darauf hin, „welche Vortheile er, durch die Bekanntschaft mit den italienischen Meistern, erhalten hat; indem er ihren zärtlichen und schönen Melodien in der That noch größere Züge des Ausdrucks hinzugefügt, da er zugleich dieselben mit der vollen starken Harmonie seines Vaterlandes zu vereinigen wusste.“135 In Worte unserer Zeit umgemünzt, hat Reinhard
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Goebel die gleiche Erkenntnis folgendermaßen formuliert: „Mit unglaublicher Schnelligkeit eignete Händel sich die dramatische Griffigkeit der scarlattischen Opern-Schreibweise an, lernte, Libretti auf ihren musikalisch-rhetorischen Gehalt hin zu prüfen, virtuose Fähigkeiten der Sänger auszuschöpfen, und übernahm von Corelli jenen ‚schönen Stil‘, der Anmut und Weichheit mit Würde und Sinn für grandiose Wirkungen verknüpfte. Diese ‚Ingredienzien‘ verbanden sich mit Händels künstlerischem Temperament und seiner protestantischen Ernsthaftigkeit – seiner Beharrlichkeit hinsichtlich des musikalischen Motivs – gleichermaßen.“136 Händel knüpfte am Tiber Freundschaften, die sein halbes Leben halten sollten. Margarita Durastante, seine Maria Magdalena und Armida aus römischen Tagen, verhalf ihm schon in Venedig als Agrippina zum Durchbruch auf der Opernbühne. Später in London sang sie den Radamisto, die Titelpartie in seiner ersten Oper für die Royal Academy of Music, danach so eindrucksvolle Partien wie den Sesto in Giulio Cesare. Neben Anna Strada war sie seine treueste Primadonna und eine Mezzosopranistin von vollendeter Gesangskunst, wie die Londoner immer wieder bezeugt haben. Pietro Castrucci, der erste Geiger aus dem kleinen Ensemble des Marchese Ruspoli, wurde später Konzertmeister in Händels großem Londoner Opernorchester. So wirkte sich die Geigenschule Arcangelo Corellis auch ganz unmittelbar auf London aus. Am römischsten in Händels späterem Schaffen sind all jene Momente, in denen Melodien aus den italienischen Frühwerken unversehens aufleuchten – wie schöne Erinnerungen. Vielleicht schätzte Händel sein erstes Oratorium Il Trionfo del Tempo deshalb so sehr: Weil er dem Triumph der Zeit in der Erinnerung an die schönen Tage von Rom trotzen konnte.
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Kirkendale, Ruspoli 1967; dies., Ruspoli 2004. Zu den Titeln im Einzelnen siehe Literaturverzeichnis. An erster Stelle zu nennen: Keates, Handel, eine wahrhaft brillant geschriebene Biographie, die leider noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, sowie als kompakte deutsche Biographie: Schröder, Händel. Während Ott als Romanautor einen eigenen Weg geht, übernimmt Messmer unkritisch zweifelhafte Hypothesen aus Kirkendale, Ruspoli 2004. Waczkat, Messias, S. 15, gibt zu Rom einen veralteten Forschungsstand wieder. Zur Bedeutung der Reiseberichte siehe Strohm, Händel und Italien, S. 15–18. In der Einfahrt zum Palazzo Bonelli alias Valentini, der heutigen Prefettura von Rom. Stendhal, Rom, S. 342. Vgl. dazu grundlegend: Schröder, Händel, S. 9–20. Vgl. zu einem besonders abenteuerlichen Eingriff Keates, Handel, S. 1 f. Schröder, Händel, S. 13. Mozarts Schilderung in seinem Brief an den Vater vom 29. September 1777, MBA II, S. 21. Mainwaring, Händel, S. 54. Vgl. Keates, Handel, S. 21 f. HHB 4, S. 25. Zu Herrn von Binitz ebd., S. 25 und 35. Marx, Händels Kirchenmusik, S. 115 f. mit weiteren Hinweisen zu dieser These. Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 347 f. Wie Burrows-Ronish, Autographs, S. XXIV–XXVI, feststellten, kann man aus den Papiersorten, die Händel in Italien verwendete, keine Rückschlüsse über Ort und Zeit der Entstehung des betreffenden Werkes ziehen. Mainwaring, Händel, S. 60–63. Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 352–355. Schröder, Händel, S. 33. HHB 4, S. 25. Zu diesem Problem der „franchigie“ vgl. Paita, Vita, S. 294 f. Ebd., S. 31. Ebd., S. 29. Ebd., S. 16. HHB 4, S. 35. Kirkendale, Ruspoli 1967, passim. Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 314 f. Zu Ruspolis Biographie und dem Erbschaftsprozess ausführlich ebd., S. 361–364. Ebd., S. 314. Ebd., S. 364, Anm. 236. Vgl. das Trauergedicht von John Langthorne nach Händels Tod, zitiert bei Keates, Handel, S. 360. Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 313. Perugini, Madonelle, S. 11. Abwegig erscheint der Hinweis bei Waczkat, Messias, S. 58, auf den gleichnamigen „raschen“ Volkstanz als
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Vorbild für Händels Orchestersatz. Wie die Musik der Zampogne und alle betreffenden Arien bei Scarlatti hat Händels Satz langsames Tempo! Vgl. ebd., S. 9, die historische Beschreibung von Costantino Maes. Vgl. die Beschreibung von Stendhal (1827), ebd., S. 7. Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 364. Auch Kardinal Ottoboni gab „Madonelle“ in Auftrag, vgl. Pericoli, Paione, S. 68 f. und Olszewski, Decorating the Palace, S. 106 f. Zitiert nach Perugini, Madonelle, S. 5. Beeks, Ariosti, S. 178–183. Zum Fragenkomplex der Zampognari-Musik ebd., S. 171–175. Entdeckt und im französischen Original veröffentlicht von Braun, Zauberhut, S. 75 f. Biographisches zu Nolhac ebd., S. 71 f. Brauns Übersetzung der „Histoire“ ist hier etwas abgeändert. Übersetzt nach dem italienischen Text in HHB 4, S. 26. Übersetzt nach dem französischen Text in Braun, Zauberhut, S. 76. Simi Bonini, Basilica Liberiana, S. 168 f. Pericoli, Parione, S. 113. Zur opulenten Ausstattung des Palazzo della Cancelleria unter Ottoboni vgl. Olszewski, Decorating the Palace, S. 95–103. Böhmer, Giuditta, S. 66. Mainwaring, Händel, S. 66 f. Ebd., S. 67 f. Bittner, Rubens, S. 65. Stendhal, Rom, S. 338. Pericoli, Parione, S. 79. Vollständiger Brieftext in HHB 4, S. 31. Zu Händel und Ottoboni grundsätzlich: Marx, Accademia Ottoboniana, S. 69–73. Ebd., S. 38. Die Daten der Angelini-Rechnungen und der Zahlungen an ihn sind jeweils nur Termini ante quem. Wie lange vorher ein betreffendes Werk entstanden war, kann man nicht mehr feststellen, auch nicht aufgrund von Papiersorten oder Händels Notenschrift. Deshalb weichen sämtliche Listen zur Chronologie der Kantaten, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, in vielen Punkten voneinander ab, mitunter sogar in ein und demselben Buch: Rampe, Händel, S. 72–74 und S. 354–356. Außer diesen beiden Listen von Marx und Rampe siehe auch Harris, Handel as Orpheus, S. 267–296 (Appendix I: Cantata Chronology) und Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 365–368. HHB 4, S. 28. Uffenbach, Reisen, zum 31. März 1715, zitiert nach Kirkendale, Caldara, S. 74. Paita, Vita, S. 267. HHB 4, S. 39. Uffenbach, Reisen, zum 7. April 1715, zitiert nach Kirkendale, Caldara, S. 74 f. Übersetzt nach Rostirolla, Mondo novo, S. 281. Dazu grundlegend: Karsten, Kardinal Spada, passim. HHB 4, S. 27.
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Schultze, Bach-Kantaten, S. 12. Vgl. die Abbildungen und Kommentare bei Rostirolla, Mondo novo, passim. Stendhal, Rom, S. 338. HHB 4, S. 26. Veröffentlicht zuerst von Marx, Händel in Rom, S. 114 f. Dort auch die Musikerliste zu den Pamphilj-Akademien sowie der Kommentar, S. 107–111. Marx’ Identifizierungen der Musiker und seine Rekonstruktion des Delirio-Ensembles decken sich nur teilweise mit den hier vorgeschlagenen. Bernardini, The Oboe, S. 378 f. Rostirolla, Mondo novo, S. 365. Pagano, Scarlatti, S. 68 f. Bislang wurde stets Pasqualino Tiepoli als mutmaßlicher Interpret des Delirio amoroso angesehen, den Angaben bei Marx, Händel in Rom, S. 109, folgend. In allen Stücken aber, in denen er neben Besci sang, wird deutlich, dass er nur ein Mezzosopran oder kurzer Sopran war, „Checchino“ dagegen ein hoher Sopran. Vgl. etwa Scarlattis Serenata Venere, Amore e Ragione. Griffin, Venere, passim. Außerdem wurde Tiepoli im Januar und Februar 1707 von Pamphilj nur für vier Konzerte und eine Probe bezahlt, Besci dagegen für sieben Konzerte und zwei Proben. Harris, Handel as Orpheus, passim. Originalwortlaut HHB 4, S. 37, vgl. den Kommentar bei Harris, Handel as Orpheus, S. 47 f.; Wersin, Händel S. 18 f. Übersetzt nach Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 320, Anm. 50. Ebd., Anm. 51 die Daten zum Erdbeben. Ebd., S. 319. Ebd., S. 320–324. Schultze, Bach-Kantaten, S. 660–662. Vgl. das Dokument bei Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 323, Anm. 68. Ebd., S. 327. Vgl. die Dokumente ebd., S. 323, 337 und S. 349 f., Anm. 174. Vgl. die Statistik bei Leibetseder, Kavalierstour, S. 219. Vgl. dazu Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 327. Kirkendales Vermutung, Scarlattis Oratorium sei bereits am 3. April 1707 in Massa in Form einer Probe aufgeführt worden, hat wenig für sich: Scarlatti war damals noch nicht wieder in Rom, und welchen Sinn hätte eine Generalprobe drei Wochen vor der Uraufführung in einem Casale auf dem Land gehabt? Ehrmann–Herfort, Mythos Arkadien, S. 101. Zur Darstellung dieser Reise, zu dem Spottgedicht von Bartolomeo Dotti und zu Scarlattis deprimiertem Brief aus Rom vom 18. April 1707 siehe Pagano, Scarlatti, S. 184–192. Mainwaring, Händel. S. 63. Ebd., S. 64. Ebd., S. 142. Zur Datierung vgl. Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 332. Problematisch die Hypothese, ebd. S. 333, der Psalm sei am 1. Mai 1707 in Frascati zu Ehren des spanischen Königs aufgeführt worden. Händel steckte damals mitten in der Arbeit am Trionfo del Tempo, der deshalb auch kaum am 2. Mai schon seine Premiere
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erlebt haben kann, wie ebd. S. 334 behauptet wird. Händel komponierte zwar schnell, doch brauchte er für ein Oratorium ohne Chöre wie den Trionfo sicher drei Wochen. Da er erst am 6. April aus Massa zurückgekehrt war und zunächst das Dixit Dominus beendet hat, ist eine so dichte Folge der beiden Uraufführungen nicht denkbar – von den nötigen Proben unter Händels Leitung einmal ganz abgesehen. Negro, Santi Apostoli, S. 20. Zu den beiden Londoner Fassungen siehe Marx, Oratorien, S. 248–255, zur römischen Erstfassung ebd., S. 243–247, dort auch der Hinweis auf das Collegio Clementino als Ort der Uraufführung und weiterführende Literatur. Zur „psychologischen“ Entwicklung in diesem Oratorium hat Smith, Psychological Realism, S. 227 f., ein interessantes Diagramm entworfen. Zum Handlungsmuster des „contrasto“ siehe auch Riepe, Oratorien, S. 73. HHB 4, S. 27. Ebd., S. 30. Beide Zitate Mainwaring, Händel, S. 65. Vignanello, Storia, S. 13–16. Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 339. Die zitierten Dokumente bei Marx, Händels Kirchenmusik, S. 143 f. Ebd., S. 143. Ebd., S. 144. Vgl. ebd., S. 133. Ebd., S. 132. Vgl. die Übersicht ebd., S. 128. Burrows, Antiphons, Table I, S. 39; Marx, Händels Kirchenmusik, Tabelle 3, S. 127; Dixon, Carmelites, S. 33–35. Vgl. dazu Burrows, Antiphons, S. 33–37, zu den Theorien von James Hall und der Edition von Howard R. Landon. Stendhal, Rom, S. 348. HHB 4, S. 31. Da auf die Oper hier nicht näher eingegangen werden kann, sei auf Keates, Handel, S. 35–37, verwiesen. Dort auch die Hinweise auf die Forschungen von Strohm und anderen, die zur Wiederherstellung der Partitur und zur Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Rodrigo beigetragen haben. Vgl. ebd., S. 37 f. Seltsamerweise nennt Keates Scarlattis Mitridate Eupatore unter den Opern, die Händel im Karneval 1708 in Venedig hören konnte, dabei wurde diese fünfaktige Musiktragödie bereits im Jahr zuvor aufgeführt und war ein totaler Misserfolg. Vgl. dazu Bianchi, Oratorio, S. 83 f. Vgl. zu den Details Hogwood, Händel, S. 35 f. Dies gilt insbesondere für Scarlattis Martirio di S. Cecilia, vgl. die Mainzer Edition von 2000 und die Einspielung bei CPO von 2008 mit einem Essay von Böhmer. HHB 4, S. 356. Riepe, Oratorien, S. 84–86. „... ammirabile, in materia si malinconia, ridotta in devota allegria.“ Zitiert nach Poensgen, Passion, S. 82. HHB 4, S. 47.
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Zum Aufbau des Textes, zu Fassungsfragen und der musikalischen Anlage vgl. Marx, Oratorien, S. 181– 187, und Riepe, Resurrezione, passim. BBC, Hallelujah, S. 36. HHB 4, S. 34. Griffin, Gazzetta, S. 40. Vgl. zu diesem Repertoire Griffin, Venere, S. XII (Table 1). Zur Entstehungsgeschichte und Anlage dieser längsten von Händels Serenaten vgl. Marx, Oratorien, S. 3–7; Wersin, Händel, S. 21–23. Lemme, Arcadia, S. 8 f. Ebd., S. 8. Ehrmann-Herfort, Mythos Arkadien, S. 97–101. Der genaue Tathergang bei Lemme, Arcadia, S. 17 f. Vgl. Scarlatti, Sedecia, S. 68 und 117. Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 318. Kirkendales Theorie, wonach Aminta e Fillide bereits als Weihnachtskantate am 25. Dezember 1706 uraufgeführt worden sein soll, bezieht sich auf die Kopistenrechnung zu einer nicht mehr identifizierbaren Kantate (ebd., S. 316 f.) und auf den Umstand, dass das „Bambin Gesù“, das Jesuskind, der Schutzpatron der Arkadier war, worauf im Text des Aminta tatsächlich ange-
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spielt wird. Freilich hätte Händel in einer Kantate zum Weihnachtsfest auf Musik im Stil der Zampognari nicht verzichten können. Sie kommt aber im Aminta nicht vor. Vielmehr handelt es sich um eine typische sommerliche Serenata. Ebd., S. 354. Ebd., S. 370–373 (Abb. 9a bis 9c). Vgl. den Brief an seinen Schwager vom 11. März 1729, HHB 4, S. 171. Ebd., S. 43. Kirkendale, Ruspoli 2004, S. 350, für Wein und Essig „zur Tafel des Sassone“. Ebd., S. 356 f. Vgl. den bekannten Bericht Mainwarings, wonach Händel den betreffenden Kardinälen entgegnete, er sei „festiglich entschlossen, als ein Glied derjenigen Gemeinde, darinn er geboren und erzogen, zu leben und zu sterben; die Glaubensartikel mögten nun wahr oder falsch seyn“. Mainwaring, Händel, S. 69. BBC, Hallelujah, S. 31. Ebd., S. 26. Mainwaring, Händel, S. 60. Goebel, Mariengesänge, S. 12.
Literatur BBC, Hallelujah: BBC (Hrsg.), Hallelujah for Handel. 250th Anniversary Special, in: BBC Music Magazine, Januar 2009, S. 22–39.
Burrows, Companion: Donald Burrows (Hrsg.), The Cambridge Companion to Handel, Cambridge 1997.
Beeks, Ariosti: Graydon Beeks, „There were shepherds abiding in the fields“: a possible borrowing from Attilio Ariosti in Handel’s Messiah, in: Händel-Jahrbuch 50 (2004), S. 171–184.
Burrows–Ronish, Autographs: Donald Burrows, Martha J. Ronish, A Catalogue of Handel’s Musical Autographs, Oxford 1994.
Bernardini, The Oboe: Alfredo Bernardini, The oboe in the Venetian Republic, 1692–1797, in: Early Music 16 (1988), S. 372–387. Bianchi, Oratorio: Lino Bianchi, Dall’oratorio di Alessandro Scarlatti all’oratorio di Händel, in: Händel e gli Scarlatti a Roma, Florenz 1987, S. 79–91. Böhmer, Giuditta: Karl Böhmer,„Un superbo Oratorio“. Alessandro Scarlattis Giuditta, in: La Giuditta. Die biblische Erzählung in ihrer kulturgeschichtlichen Rezeption (Musik im Kanon der Künste Bd. 4), Mainz 2008, S. 51–74. Braun, Zauberhut: Werner Braun, Händel und der „römische Zauberhut“ (1707), in: Göttinger Händelbeiträge 3 (1989), S. 71–86. Burrows, Antiphons: Donald Burrows, The „Carmelite“ Antiphons of Handel and Caldara, in: Händel-Jahrbuch 46 (2000), S. 33–47.
Büttner, Rubens: Nils Büttner, Rubens, München 2007. Dixon, Carmelites: Graham Dixon, Handel’s music for the Carmelites. A study in liturgy and some observations on performance, in: Early Music 15 (1987), S. 16–29. Ehrmann–Herfort, Mythos Arkadien: Sabine Ehrmann-Herfort, Mythos Arkadien. Die Accademia dell’Arcadia und ihr Einfluss auf Händels Sujets in römischer Zeit, in: Händel-Jahrbuch 54 (2008), S. 91–102. Franchi, Ruspoli: Saverio Franchi, Il principe Ruspoli. L’oratorio in Arcadia, in: Percorsi dell’oratorio romano, Rom 2002, S. 244–316. Goebel, Mariengesänge: Reinhard Goebel, Georg Friedrich Händel: Mariengesänge, in: Booklet zur Einspielung der Archiv Produktion, Hamburg 1994, S. 9–12.
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Bildnachweis 1, 3, 6, 16: Privatbesitz 2: bpk/Kupferstichkabinett, SMB/Volker-H. Schneider 4: akg-images/Pirozzi 5: Creative Commons Attribution License 2.5/Jastrow 7: The Bowes Museum, Barnard Castle 8: nach Ernst Brücken (Hrsg.), Handschrift der Musikwissenschaft, Potsdam 1931 9: Postkarte
10: Alinari Archives/CORBIS, George Tatge 11: nach Richard Krautheimer, The Rome of Alexander VII, Princeton 1985, Abb. 85 12, 13: Lars Jolig 14: GNU License 1.2/SteO153 15: akg-images 17: akg-images/Nimatallah
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Weitere Titel aus dem VERLAG PHILIPP VON ZABERN Mit CD
Unter den zahlreichen Reisen Mozarts in Europa ist Mainz eine eher unbekannte Station, für seine Lehrjahre war es aber von großer Bedeutung. Doch warum kam Mozart nach Mainz? Welche Rolle spielte das Mainzer Theater? Was wussten Mozarts über Land und Leute zu berichten? Manch amüsanter Reiseeindruck kommt hier zustande, aber auch die Bedeutung des Mainzer Theaters um 1790 ist Thema. Beigefügt ist eine CD mit der Sonate KV 526, die Mozart in Mainz spielte.
Karl Böhmer Mozart in Mainz ISBN 978-3-8053-3734-2 € 12,90 (D) / sFr 24,00 uvp Ehrenpreis der Europäischen Mozartwege
Das Forum Romanum: Zentrum eines antiken Imperiums Über 1500 Jahre römischer Geschichte haben ihre Spuren auf dem Forum Romanum hinterlassen. Gestalt und Ausstattung der Monumente dokumentieren noch heute, in welcher Weise die Menschen im alten Rom diesen Platz genutzt haben. Modernste Untersuchungsmethoden haben die Bauwerke und Denkmäler neu belebt. Zahlreiche eigens für diesen Band erstellte Fotos, Grundrisse und Zeichnungen helfen, der Frage nachzugehen, wie die Menschen auf dem Forum agiert und den Ort gestaltet haben.
Klaus Stefan Freyberger Das Forum Romanum ISBN 978-3-8053-3947-6 € 24,90 (D) / sFr 44,00 uvp
In jeder Buchhandlung und unter www.zabern.de