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German Pages [153] Year 2011
Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal
Oliver Müller
Einführung in die Lyrik-Analyse
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-18454-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-71095-9 eBook (epub): 978-3-534-71096-6
Inhalt I. Einleitung
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II. Forschung zur Lyrik . . . . . . . . . 1. Einführungen in die Lyrik-Analyse 2. Geschichtsschreibung der Lyrik . 3. Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . 4. Anthologien . . . . . . . . . . .
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation . . . 1. Wortbedeutungen und übertragene Wortbedeutungen 2. Lyrische Bildformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Textstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Sprecher und die Angesprochenen . . . . . . . . 5. Text und Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Form mit semantischen Effekten: der Vers . . . . . . . 7. Klangmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Lyriktheorien . . . . . . . . 1. Ältere Lyriktheorien . . 2. Gattungstheorie um 1800 3. Verstheorien . . . . . . 4. Das lyrische Gedicht . .
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik 1. Das 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . 2. Aufklärung und Empfindsamkeit . . . . . . 3. Sturm und Drang und Göttinger Hain . . . . 4. Klassik und Romantik . . . . . . . . . . . . 5. Vom Biedermeier zum Realismus . . . . . . 6. Die klassische Moderne der Lyrik . . . . . . 7. Von 1918 bis 1970 . . . . . . . . . . . . . . 8. Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Exemplarische Einzelanalysen . . . . . . . . 1. Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Er sahe sie über feld gehen . . . . . . . . . 2. Johann Wolfgang Goethe: Der Erlkönig . . 3. Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens . . . 4. Eduard Mörike: Auf eine Lampe . . . . . . 5. Rainer Maria Rilke: Der Leser . . . . . . .
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Inhalt
6. Jakob van Hoddis: Kinematograph . . . . . . . . . . . . . . 7. Thomas Kling: Zwanxeinweisun . . . . . . . . . . . . . . . .
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Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung DAS SONETT Sich in erneutem Kunstgebrauch zu üben, Ist heil‘ge Pflicht, die wir dir auferlegen: Du kannst dich auch, wie wir, bestimmt bewegen Nach Tritt und Schritt, wie es dir vorgeschrieben. Denn eben die Beschränkung läßt sich lieben, Wenn sich die Geister gar gewaltig regen; Und wie sie sich denn auch gebärden mögen, Das Werk zuletzt ist doch vollendet blieben. So möchte‘ ich selbst in künstlichen Sonetten, In sprachgewandter Maße kühnem Stolze, Das Beste, was Gefühl mir gäbe, reimen; Nur weiß ich hier mich nicht bequem zu betten, Ich schneide sonst so gern aus ganzem Holze, Und müßte nun doch auch mitunter leimen. (Goethe [1], 245)
Der Witz von Goethes abwägender Sonettkritik besteht darin, dass sie selbst die Form eines Sonetts hat, d. h. eines gereimten Gedichts aus 14 Versen mit festem Reimschema. Die Form ist vorgegeben, weshalb sich in sie jeglicher Inhalt gießen lässt, doch, wie das Gedicht zu sagen scheint, keiner in angemessener Weise (,aus ganzem Holz schneiden‘ vs. ,leimen‘, V.13/14). Sieht man genauer hin, dann lässt sich dieser Befund noch präzisieren. Goethe – oder sagen wir besser: der Sprecher des Gedichts, der sich als sein ,Macher‘ ausgibt – unterwirft sich der fixen Form, um die Dürftigkeit anzuprangern, die sie seinem Gefühlsausdruck auferlegt; und er schreibt ein perfektes Sonett, das freilich kein Gefühl ausdrückt, sondern einen formkritischen Gedanken formuliert: die formale Perfektion und der karge Gedanke der Sonettkritik sind eben nicht „das Beste“, „was Gefühl“ ihm gibt (V.11). Sich „bequem zu betten“ (V.12), kann nicht gelingen, weil sozusagen das Laken immer zu kurz ist: entweder treten Gefühl und Gedanke auseinander, oder Inhalt und Form. Darüber hinaus ist Goethes Spiel mit Form und Inhalt für uns instruktiv. Es macht uns darauf aufmerksam, dass Gedichte Texte sind, deren Gattungszugehörigkeit allein durch ihre äußere Form bestimmt sein kann. Um beispielsweise Komödien von Trauerspielen unterscheiden zu können, muss man den Inhalt verstehen – man muss wissen, ob die Handlung lustig oder traurig, der Ausgang glücklich oder schrecklich ist. Beim Sonett dagegen zählt man die Verse, überprüft das Reimschema und weiß Bescheid. So schematisch ist dieses Verfahren, dass es sogar dann funktioniert, wenn das Gedicht in einer unbekannten Sprache geschrieben ist. Nun sind zwar nicht alle lyrischen Untergattungen formal definiert; so spielen Inhaltsfragen eine Rolle, wenn man wissen will, ob ein Gedicht eine Ballade oder ein Lied ist. Doch das bloße Vorhandensein reiner Form-Gattungen macht die Entwicklung eines Begriffsapparats erforderlich, der zu ihrer Beschreibung benutzt
Goethes ,Sonett‘
Form
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I. Einleitung
Inhalt
Form und Inhalt
Strukturanalyse
Lyriktheorie
werden kann. Die Lyrik-Analyse hält dazu die Begriffe des Reims, des Metrums, des Verses und der Strophe bereit. Daher wird eine Teilaufgabe der vorliegenden Einführung darin bestehen, mit diesen Begriffen und ihren anhängenden Unterbegriffen bekannt zu machen. Da Gedichte zugleich, wie alle anderen literarischen Texte, interpretiert werden können, besteht eine zweite Teilaufgabe der Einführung darin, die Methoden der Inhaltsanalyse darzustellen: die Analyse von Aufbaustrukturen, sprachlichen Bildern, Erzählsituationen bzw. Sprecherpositionen etc. Damit aber ist es nicht getan. Denn solange die formale und die inhaltliche Analyse nicht verbunden werden, drohen Textuntersuchungen in zwei Teile auseinander zu brechen – eine bloße Formbeschreibung einerseits, eine Inhaltsinterpretation andererseits. Die dritte Teilaufgabe wird also darin bestehen, Konzepte vorzustellen, die Form und Inhalt sinnvoll aufeinander zu beziehen erlauben. Als Mittel dazu eignet sich der Begriff der Struktur. Er soll in einem möglichst alltäglichen Sinne verstanden werden. Strukturen kommen überall in der Welt dadurch zustande, dass Dinge Eigenschaften aufweisen, die auch andere Dinge aufweisen, weshalb zwischen den Dingen eine bestimmbare Relation besteht. Die Gesamtheit von Eigenschaften und Relationen lässt sich dann als Struktur bezeichnen. Dasselbe gilt für Wörter und ihre Bedeutungen. In den ersten acht Versen des ,Sonetts‘ treten zwei ,Ideen‘ (d. h. zwei Bedeutungskomplexe) in eine Oppositionsbeziehung: die Gefahr der sich regenden Geister und die Möglichkeit ihrer Bannung durch Formstrenge. Sich jener auszusetzen und diese zu nutzen, wird mit dem Etikett der Heiligkeit versehen, d. h. mit einem Wertprädikat höchster Güte ausgezeichnet. In den letzten sechs Versen ist davon keine Rede mehr. Hier geht es um den Stolz versus die Bequemlichkeit des Vers-Handwerkers. Sobald man diese inhaltlichen Komplexe isoliert hat, erkennt man, dass die Kritik am Schluss auf die Vorschläge des Anfangs gar nicht antwortet. Die Ergebnisse der strukturellen Inhaltsanalyse korrelieren zugleich mit dem formalen Aufbau des Gedichts, der durch das Reimschema vorgegebenen Zweiteilung des Textes nach dem achten Vers. Strukturell gesehen, steht die herausgearbeitete inkomplette Argumentation des Gedichts in einer Oppositionsbeziehung zur Form, die Vollständigkeit suggeriert. Die Form verweist darauf, dass die Vollständigkeit des Arguments nicht in seinen manifesten Sätzen, sondern in einem latenten Sinn liegt, der erst vom Leser zu rekonstruieren ist. Daraus folgt, dass die Interpretationsaufgabe nicht darin besteht, den Sinn der Worte des Gedichts solange zu biegen, bis am Ende ein formal gültiges Argument herauskommt, sondern nach dem Nicht-Ausgesprochenen zu suchen, das einleitend als Paradoxon von Gefühl und Gedanke, Inhalt und Form charakterisiert wurde. – Da jedoch die Lage bei vielen anderen Gedichten nicht so einfach wie hier ist, wird die vorliegende Einführung sich eingehend mit komplexeren Strukturbeschreibungen und Interpretationen befassen. Kapitel III, in dem die Begriffe eingeführt werden, die man bei der Analyse und Interpretation lyrischer Texte in Schule und Universität benötigt, versteht sich daher primär als Propädeutikum für die praktische Lyrikinterpretation. Doch zur Arbeit mit Lyrik gehört noch mehr. Jede Methode knüpft über ihre Begriffe an Theorien an, die sich mit der Beschaffenheit der untersuch-
I. Einleitung
ten Gegenstände auseinandersetzen. Ein Kernbereich der lyriktheoretischen Diskussionen ist die Frage, wie Metrum, Rhythmus und Vers zu definieren sind; sie wird die ersten Kapitel der Einführung begleiten. In Beziehung dazu stehen die vielfältigen Versuche, Lyrik als Gattung zu definieren; ihre historische Entwicklung wird im vierten Kapitel skizziert. Kleinere Streifzüge durch die allgemeine Literaturtheorie erfolgen in mehreren Kapiteln nach Bedarf; man muss schon etwas Theoriegeschichte kennen, um zu verstehen, weshalb Goethe die Übung in „erneutem Kunstgebrauch“ als „heil‘ge Pflicht“ gilt (V.1/2) – als Menschenpflicht des Genies. Die Erarbeitung des theoretischen Hintergrundwissens ist ein erster Ansatz, auf den Unterschied zwischen einer modernen Literaturauffassung und der des Barock und der Aufklärung hinzuweisen. Diese Auffassungen spiegeln sich nicht einfach in den Gedichten der verschiedenen Epochen; sie müssen vielmehr aktiv in die Interpretation einbezogen werden, um historisch fragwürdige Textdeutungen zu verhindern, die eine isolierte Textanalyse in manchen Fällen vielleicht zulässt. Die Fähigkeit, Gedichte in ihre historischen Kontexte einordnen zu können, ist bei der Entwicklung fundierter wissenschaftlicher Fragestellungen unerlässlich. Der notgedrungen knappe Abriss einer Geschichte der Lyrik in Kapitel V soll eine grobe Orientierung im Dickicht der Stile und Strömungen, der Ideen und ihrer sozialen Umwelt vermitteln. Wie man dann – auch unter Berücksichtigung geschichtlicher Zusammenhänge – einzelne Gedichte interpretiert, werden die abschließenden sieben exemplarischen Untersuchungen in Kapitel VI zu zeigen versuchen. Abschließend sei noch auf ein grundsätzliches Problem hingewiesen, das im Verhältnis von Einführungen zu ihren jeweiligen Wissenschaften liegt. Die Aufgabe, zentrale wissenschaftliche Begriffe vorzustellen, bereitet solange kein Kopfzerbrechen, wie es um relativ langweilige, kaum umstrittene und zählebige Kategorien wie den Versfuß oder das Reimschema geht. Doch schon die Frage, welches Prinzip bei der Bestimmung der Versfüße angewendet werden soll, berührt eine kontroverse wissenschaftliche Diskussion, und als echte theoretische Hot Spots erweisen sich die Definitionen der literarischen Bildformen des Symbols oder der Metapher. Hier prallen, einstweilen ohne Aussicht auf einen Konsens, die verschiedensten Auffassungen aufeinander. Um überhaupt zum Verständnis solcher Begriffe anleiten zu können, müssen Einführungen daher die Bewegungen der Diskussionen zur Ruhe bringen und sich damit die Schuld aufladen, einen falschen Eindruck von Wissenschaftlichkeit zu vermitteln. Denn gerade dort, wo die Lage der Dinge am wenigsten geklärt ist, sind Wissenschaften am lebendigsten. Um das Vergehen, ein verzerrtes Wissenschaftsverständnis zu vermitteln, etwas zu mildern, können Einführungen nur zweierlei tun. Sie können erstens auf weiterführende Forschungsliteratur verweisen, also beispielsweise für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Bildformen die von Gerhard Kurz vorgelegte Untersuchung Metapher, Allegorie und Symbol und den von Anselm Haverkamp herausgegebenen Sammelband Theorie der Metapher empfehlen. Zweitens können sie auf den problematischen Sachverhalt selbst hinweisen, was hiermit geschehen ist.
Geschichte der Lyrik
Exemplarische Analysen
Einführung und Wissenschaft
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II. Forschung zur Lyrik Sinn des Forschungsüberblicks
Jede umfangreiche wissenschaftliche Arbeit beginnt mit einem Forschungsüberblick, der dem Nachweis dient, dass die nachfolgende Untersuchung eine bestehende Forschungslücke schließt. Da Einführungen jedoch summa summarum nicht die Aufgabe haben, neue Forschungsergebnisse zu liefern, verschiebt sich in ihrem Fall der Zweck des Forschungsberichts. Hier muss es hauptsächlich darum gehen, Leserinnen und Lesern, die an einer vertieften Beschäftigung mit dem Thema interessiert sind, die Orientierung im Wust der Publikationen zu erleichtern. Daher wird der folgende Überblick nicht das gesamte Feld der Lyrikforschung aufarbeiten, sondern vornehmlich die wichtigsten Einführungen in die Lyrik-Analyse und Studien zur Geschichte der Lyrik behandeln. Außerdem widmet er einen ganzen Abschnitt den zahlreichen Anthologien lyrischer Gedichte, die für Leser, die sich einen ersten Einblick verschaffen wollen, aber auch für Lehrerinnen und Lehrer als Archive unterrichtstauglicher Texte von Nutzen sind. Um Redundanzen zu vermeiden, wird auf die Vorstellung von Untersuchungen verzichtet, die an anderer Stelle ausführlich behandelt werden. Da bei der Besprechung einiger Arbeiten die Verwendung von Fachterminologie nicht zu vermeiden war, sei Leserinnen und Lesern, die sich zum ersten Mal mit Lyrik befassen, empfohlen, zunächst das dritte bis fünfte Kapitel zu lesen und dann zum Forschungsbericht zurückzukehren.
1. Einführungen in die Lyrik-Analyse
Gerhard Müller-Schwefe Bernhard Asmuth
Dass es wissenschaftliche Einführungen gibt, ist nicht selbstverständlich. Bis in die 1960er Jahre hinein erfüllten vornehmlich theoretische Studien zugleich die Funktion, in den wissenschaftlichen Umgang mit literarischen Texten einzuführen. Die Entwicklung neuer Methoden und der merkliche Bedarf an deren transparenter Darstellung bewirkten dann eine Ausdifferenzierung der literaturwissenschaftlichen Genres. Schule gemacht haben zunächst drei erzähltheoretische Arbeiten aus den 1950er und 1960er Jahren, Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens, Franz K. Stanzels Typische Erzählsituationen im Roman und Käte Hamburgers Logik der Dichtung. Sie stehen in der Mitte zwischen Theorieentwurf, Methodenhandbuch und genuiner Einführung. Seit den siebziger Jahren entstanden dann zahlreiche Arbeiten, die dezidiert als themenorientierte Einführungen auftraten, darunter nun auch solche zur Lyrik. Ihre nun folgende Besprechung soll die Eigenheiten und Unterschiede der verschiedenen Arbeiten bewusst machen, in denen sich verschiedene mögliche Fragehaltungen gegenüber Gedichten spiegeln. Nachdem der Anglist Gerhard Müller-Schwefe 1969 mit seiner Einführung in die Gedichtinterpretation den Anfang gemacht hatte, legte 1972 Bernhard Asmuth mit Aspekte der Lyrik die erste germanistische, seitdem oft
1. Einführungen in die Lyrik-Analyse
neu aufgelegte Einführung in die Gedichtanalyse vor. Die erste Hälfte des Buches entwickelt eine Verslehre, wobei viel Wert auf die genaue Typisierung der herausgearbeiteten Merkmale gelegt wird. Interpretiert wird hingegen nur wenig. Der zweite Teil des Buchs skizziert zunächst die Geschichte der Lyriktheorie und mündet schließlich in der Formulierung eines eigenen Ansatzes. Asmuths Identifikation der Lyrik mit dem geselligen Lied führt, was er selbst nicht leugnet, zu einer negativen Bewertung der ungeselligen modernen Poesie. Obwohl diese Definition wegen ihres Wertungsaspekts kaum konsensfähig ist, kann sie für Interpretationen insofern aufschlussreich sein, als sie einen Extrempol markiert, an dem sich Lyriker und Lyriktheoretiker, auch der Moderne, abarbeiten. Das von Hans-Werner Ludwig verfasste Arbeitsbuch Lyrikanalyse (1979) teilt den Interpretationsskeptizismus der Einführung Asmuths. Es setzt zwei Schwerpunkte. Zum einen diskutiert Ludwig verständlich und kritisch bedeutende Theorien von Quintilian bis Harald Weinrich und Theodor W. Adorno, zum anderen führt er eine große Zahl analytischer Begriffe unter ihrem traditionellen wie auch modernen Namen ein. Für hohe Anschaulichkeit sorgen viele Textbeispiele aus der deutschen, englischen und französischen Literatur und Originalzitate aus theoretischen Schriften. Recht kurz gerät dagegen die Anleitung zum eigenständigen Umgang mit lyrischen Gedichten. Was zu tun ist, findet man auch im letzten Kapitel, das die Praxis der Interpretation kritisch unter die Lupe nimmt, nicht erläutert. Ein Kapitel zur Geschichte der Lyrik gibt es nicht. Einen anderen Weg als Asmuth und Ludwig schlägt Horst Joachim Frank in Wie interpretiere ich ein Gedicht? ein. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der interpretationswillige Gedichtleser, nicht der Text. In elf Kapiteln werden zahlreiche Leitfragen formuliert, deren Beantwortung ein Gedicht erschließen soll. Dass die Fragen zwar nützlich, aber kaum memorierbar sind, begrenzt die Effizienz der Frankschen Methode. Um zu vermeiden, dass die Einzelbeobachtungen ohne Zusammenhang bleiben, stellt Frank abschließend Synthesegrundsätze auf, die allerdings recht abstrakt bleiben und für Leser einer Einführung an wenigstens einer Musterinterpretation hätten veranschaulicht werden müssen. Alwin Binder und Heinrich Richartz setzen sich in Lyrikanalyse (1984) ein ähnliches Ziel wie Frank. Um zu zeigen, wie man eine Gedichtinterpretation anfertigt, stellen die Autoren nicht nur die dafür erforderlichen Begriffe bereit, sondern erläutern auch die erforderlichen Arbeitsschritte. Der erste Teil des Buches hat Einleitungscharakter; in drei weiteren Teilen werden je ein Gedicht von Benjamin Schmolck, Frank Wedekind und Günter Eich nach dem Schema der Anleitung ausführlich untersucht. Der Geschichte der Lyrik ist kein eigenes Kapitel reserviert, dafür aber wird historisches Kontextwissen in die Untersuchungen einbezogen. Das kleinschrittige und transparente Vorgehen dieser Einführung vermittelt Anfängern einen hohen Grad an Orientierung. Zu weit geht allerdings die Suggestion der Verfasser, nur ihre Art und Weise des Umgangs mit Gedichten könne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Die ,Standpunktgebundenheit‘ des Ansatzes und damit auch der Interpretationen wird dagegen in Christoph Bodes Einführung in die Lyrikanalyse (2001) betont. Bode wählt als Anglist seine Beispiele aus der englischsprachigen Literatur, was aber Germanisten nicht davon abhalten sollte, sein lo-
Hans-Werner Ludwig
Horst Joachim Frank
Binder / Richartz
Christoph Bode
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II. Forschung zur Lyrik Hans-Dieter Gelfert
Stefan Elit
Bernhard Sorg
Dieter Burdorf
Felsner / Helbig / Manz
cker geschriebenes und anregendes Buch zur Hand zu nehmen. Wie Bode, so geht auch Hans-Dieter Gelfert vom Problem der besonderen Sperrigkeit lyrischer Texte aus. Er stellt fast die gleiche Titelfrage wie Frank, Wie interpretiert man ein Gedicht? (1990), wählt dann aber ein deutlich anderes Verfahren. Sein Ausgangspunkt ist die Frage nach dem Sinn von Interpretationen, die er weniger skeptisch beantwortet als Ludwig. Der Verlust der unbefangenen Freude, die man bei der ersten Begegnung mit einem Gedicht erlebe, werde, so Gelfert, mehr als wettgemacht durch das Vergnügen, das ein differenzierter Umgang mit dem Text bereite. In einem allgemeinen Teil werden die Kategorien der Lyrik-Analyse vorgestellt, in einem praktischen Teil Textinterpretationen entwickelt, die von wissenschaftlich anschlussfähigen Fragestellungen ausgehen. Gelfert berücksichtigt neben deutscher auch fremdsprachige Literatur, was, wie schon bei Ludwig, den Vorteil hat, dass Lyrik als ein übernationales Kulturphänomen wahrnehmbar wird. Stefan Elits Band Lyrik. Formen – Analysetechniken – Gattungsgeschichte (2008) diskutiert in drei einleitenden Kapiteln die Grundlagen der Gattung, der Metrik und der Analyse, und stellt dann in weiteren sechs Kapiteln die Geschichte der deutschsprachigen Lyrik dar. Viele Analysebegriffe werden en passent eingeführt. Zusammenhänge zwischen Interpretation und Formanalyse werden selten aufgezeigt; Letztere stellt die Grundlage für die Stilgeschichte dar, die das Buch nachzeichnet. Alle Epochenkapitel schließen mit einer sorgfältigen Gedichtanalyse, Literaturangaben und einem Übungsteil. Ähnlich wie Elits Einführung ist auch Bernhard Sorgs Lyrik interpretieren (1999) aufgebaut; einer knappen Einführung in die Grundbegriffe folgt eine umfangreiche Lyrikgeschichte. Anders als bei Elit wird diese Geschichte jedoch nicht erzählt, sondern anhand von Einzelinterpretationen entwickelt, denen in jedem Kapitel eine kurze Epochencharakteristik vorangestellt ist. Übungsaufgaben gibt es nicht, doch die Interpretationen sind lehrreich, solange man nicht vergisst, dass formale Aspekte auch stärker hätten einbezogen werden können. Dieter Burdorfs Einführung in die Gedichtanalyse ist als Kompendium und „Werkzeugkoffer“ angelegt (Burdorf 1997, IX). Während Bodes einleitende Beschäftigung mit der Theorie der Lyrik eher flapsig-knapp ausfällt, widmet ihr Burdorf eingehendere Überlegungen. Anschließend behandelt er das Gedicht hinsichtlich seines Ortes in der Sprache, seiner Form, seiner Textstrukturen, seines Wirklichkeitsbezugs und seiner Perspektive sowie seiner Beziehungen zur Geschichte. Von größtem Nutzen sind Burdorfs knapp kommentierte Zusammenstellungen der wichtigsten Titel zum jeweiligen Themenfeld. Sein Ansatz ist bewusst offen für diverse Techniken, Methoden und Theorien, die differenziert und nachvollziehbar dargestellt werden. Gedicht und Lyrik werden minimalistisch definiert, der Vers und seine semantischen Effekte eingehend beschrieben. Zugunsten der umfangreichen Darstellung nahezu sämtlicher Vers- und Strophenformen fällt leider die Erörterung der lyrischen Bildsprache etwas knapp aus. Die Geschichte der Lyrik wird in den einzelnen Kapiteln mitgeliefert; umfangreiche exemplarische Einzelinterpretationen finden sich nicht. – Von Kristin Felsner, Holger Helbig und Therese Manz stammt das Arbeitsbuch Lyrik, das wie Burdorfs Einführung Kompendienqualitäten besitzt, aber noch umfassender analytische, rhetorische und gattungstypologische Begriffe definiert. Das Arbeitsbuch
2. Geschichtsschreibung der Lyrik
lässt sich wie ein Nachschlagewerk nutzen; seine Definitionen sind verständlich formuliert und durch Textbeispiele konkretisiert. Auf die Verbindung von Analyse und Interpretation wurde allenthalben geachtet; zudem schließt jedes Kapitel mit einer exemplarischen Untersuchung, die ein Gedicht unter dem jeweils erörterten Aspekt interpretiert. Eine gesonderte Geschichte der Lyrik ist nicht enthalten, dafür aber eine Fülle historischer Hintergrundinformationen, wo sie am Platze sind. Während einige Einführungen gar keine Übungsaufgaben enthalten, andere sie zur Überprüfung des ,Lernerfolgs‘ mitlaufen lassen, erhebt Günter Waldmanns Produktiver Umgang mit Lyrik die Übung zum zentralen Anliegen. Ihm geht es um die Entwicklung kreativ-verstehender Ansätze zur Lyrikvermittlung vornehmlich in der Schule, weshalb sein Buch für Lehrer eine unersetzliche Ergänzung jeder wissenschaftlich ausgerichteten Lyrikeinführung ist. Die von Waldmann vertretene handlungs- und produktionsorientierte Lyrikdidaktik will die Kluft zwischen analytischer Beobachtung und Textverständnis schließen, indem sie Schülerinnen und Schüler selbst Texte produzieren und dabei Erfahrungen mit lyrischen Strukturen machen lässt. Deren Effekte sollen nicht auswendig gelernt, sondern zunächst ,erlebt‘, dann analytisch nachvollzogen und das so erworbene Wissen besser als durch ,sture‘ Analyse gesichert werden. Waldmann liefert viele anregende Vorschläge für Arbeitsaufträge, die zu Unterrichtsentwürfen ausgebaut werden können. Das dargebotene Fachwissen entspricht akademischen Ansprüchen; störend wirkt die zuweilen mäandernde Gedankenführung. Der Abriss vorliegender Lyrikeinführungen lässt keinen Zweifel an deren Vielfalt bzw. Heterogenität zu. Offenbar gibt es den einen richtigen Weg, aus Lernern ,Könner‘ zu machen, so wenig wie die eine richtige Interpretation eines Gedichts. Doch bei aller methodischen Konzilianz sollten wir uns über Eines nicht täuschen: Obwohl alle Einführungen die wissenschaftliche Lesekompetenz zum Ziel haben, ist doch das, was sich als Kompetenz abzeichnet, nicht immer dasselbe. Das Wissen, das vermittelt wird, stellt Gedichte und Autoren, deren Werk und seine Kontexte in jeweils andere Verhältnisse zur Aufgabe, daraus Fragestellungen für die eigene Arbeit zu entwickeln. Auch die Rolle des Analytikers und Interpreten wird unterschiedlich aufgefasst. Während z. B. Binder und Richartz eifrig bemüht sind, die Subjektivität des Lesers so weit wie möglich zu eliminieren, geht Gelfert gerade vom subjektiven Lesevergnügen aus, das er erhalten möchte – ohne aber deshalb ein ,anything goes‘ zu proklamieren. Daher empfiehlt es sich, mehr als eine Einführung zu konsultieren und zu prüfen, welche Ansätze überzeugen können und welche nicht. Die vergleichende Lektüre präzisiert zugleich die Vorstellungen, die man sich vom Methodenund Theorienpluralismus macht, den Literaturwissenschaftler sonst oft eher vage beschwören.
Günter Waldmann
Fazit
2. Geschichtsschreibung der Lyrik Eine aktuelle, umfassende Geschichte der deutschen Lyrik von einem einzelnen Verfasser liegt nicht vor. Eine kurze Gesamtdarstellung hat Dirk von Petersdorff unter dem Titel Geschichte der deutschen Lyrik vorgelegt. Sie
Gesamtdarstellungen
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II. Forschung zur Lyrik
Zwei Gruppen von Lyrikgeschichten Hans-Georg Kemper
Gerhard Kaiser
Einzelne Epochen
nennt die wichtigsten Autoren und Epochen und liefert zahlreiche Stichworte, die einer weiteren Beschäftigung mit dem Thema als Anhaltspunkte dienen können. Veraltet in mancher Hinsicht ist Johannes Kleins voluminöse Geschichte der deutschen Lyrik aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Viele ihrer Einzelergebnisse müssen inzwischen als überholt gelten; ihr ,einfühlender‘ Ansatz, der erkennbar von der werkimmanenten Interpretation geprägt ist, genügt den aktuellen wissenschaftlichen Standards nicht mehr. Eine Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart bietet ein von Walter Hinderer herausgegebener Sammelband, dessen 20 Aufsätze in chronologischer Reihenfolge Epochenüberblicke leisten. Deutlich verschieden setzen die Verfasser ihre Schwerpunkte, was dem Band, je nach Blickwinkel des Betrachters, Abwechslungsreichtum, Methodenvielfalt oder Uneinheitlichkeit beschert. Konsultieren wird man Hinderers Aufsatzsammlung vor allem, um sich einen ersten Eindruck von einer der vorgestellten Epochen zu machen. Empfehlenswert ist die Geschichte der deutschen Lyrik eines Autorenteams, das aus den Literaturwissenschaftlern Franz-Josef Holznagel, Hans-Georg Kemper, Hermann Korte, Mathias Mayer, Ralf Schnell, Bernhard Sorg besteht. Ihre einbändige Geschichte der deutschsprachigen Lyrik vom Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart (so der Untertitel) setzt mit dem Sachverstand der ausgewiesenen Experten plausible Schwerpunkte und bietet anschauliche Analysen. Doch wie Hinderers Band leistet sie keine konzeptuell geschlossene Darstellung der Lyrik und ihrer Entwicklung. Alle anderen Untersuchungen können in zwei Gruppen eingeteilt werden: erstens Studien zur Lyrik einzelner Epochen und Strömungen, zweitens Untersuchungen zur historischen Entwicklung bestimmter Aspekte der Lyrik (wie Vers, Metrum, Rhythmus) und einzelner Gattungen. Unter den Epochen- und Strömungsdarstellungen sticht Hans-Georg Kempers Buchreihe zur Deutschen Lyrik der frühen Neuzeit hervor. In zehn Bänden, erschienen zwischen 1987 und 2006, legen sie die Geschichte der Lyrik von der Reformationszeit bis zum Sturm und Drang dar. Kemper folgt keiner übergeordneten Geschichtstheorie, sondern gliedert sein Material teils nach Epochenbegriffen wie Barock, Aufklärung und Empfindsamkeit, teils nach problemgeschichtlichen Kriterien. Kempers Großprojekt kann gewissermaßen als Ergänzung zu Gerhard Kaisers Geschichte der deutschen Lyrik betrachtet werden, die in zwei Teilen die Zeit von Goethe bis Heine und von Heine bis zur Gegenwart behandelt. Sie setzt damit genau an der historischen Schnittstelle ein, an der Kemper seine Untersuchungsreihe beendet. Kaiser gliedert seinen Aufriss nach verschiedenen Komplexen (Sprechweisen, Gattungen, Themen, ,Selbstreflexion‘ des Gedichts etc.), die das Kernthema: das Ich, seine Subjektivität und Individuation, umkreisen, dessen Entwicklung in vielen genauen Einzel- und Vergleichsinterpretationen verfolgt wird. Der Anspruch einer geschlossenen Geschichtsschreibung treibt zur thematischen Konzentration, und zugleich verhindert der werkästhetische Ansatz eine Fokussierung einzelner Autoren und ihrer Programme, die sonst oft dafür verantwortlich ist, dass Literaturgeschichten zu Collagen notdürftig zusammengeleimter Kleinstaufsätze geraten. Zu einigen Epochen der Lyrik liegen ebenfalls Monographien vor, die nicht selten Einführungscharakter besitzen. Hierzu gehören Urs Herzogs
3. Hilfsmittel
Deutsche Barocklyrik, Thomas Gräffs Lyrik von der Romantik bis zur Jahrhundertwende, Hermann Kortes Lyrik des 20. Jahrhunderts (1900 – 1945) und Lyrik nach 1945 und Dieter Hoffmanns Arbeitsbücher zur Deutschsprachigen Lyrik. Daneben enthalten die meisten Epochendarstellungen, die alle Gattungen übergreifen, Kapitel zur Lyrik. Auch zu einzelnen Gattungen liegen monographische Studien vor. Zu nennen sind etwa die Arbeiten zum Epigramm von Peter Hess (1989), Das Gelegenheitsgedicht von Wulf Segebrecht (1977), Das europäische Sonett von Friedhelm Kemp (2002), Das Lehrgedicht der Aufklärung von Christoph Siegrist (1974) und Beatus Ille von Anke Lohmeier (1981). Dass die Gattungsgeschichten vornehmlich die früh-neuzeitliche Lyrik behandeln, ist kein Zufall, denn die Bedeutung der Gattungsdifferenzierung hat nach 1800 merklich nachgelassen. Viele Einführungen in die Lyrik-Analyse versuchen in einzelnen Abschnitten, die Form- an die Inhaltsanalyse zu koppeln. Kaum jemand unternimmt hingegen den Versuch, auf dieser Kopplung eine monographische Studie aufzubauen. Stattdessen scheint sich wie von selbst die Analyse der Formen an die Geschichtsschreibung der Lyrik zu binden, erstens wohl, weil sie hier ihr Belegmaterial sammelt, und zweitens, weil sie mit der Ordnung der geschichtlichen Verhältnisse eine Aufgabe erhält, die reichhaltigere Resultate hervorbringt als jede andere Anwendung. Die Arbeiten dieser Sparte sollen hier nicht besprochen werden, weil auf ihre theoriegeschichtlichen und systematischen Überlegungen im vierten Kapitel ohnehin eingegangen wird. Wenigstens erwähnt werden müssen an dieser Stelle jedoch Sammlungen von Gedichtinterpretationen, die zwar im engeren Sinn nicht als Literaturgeschichtsschreibung gelten können, aber für erste Annäherungen an eine Epoche nützlich sind, wie z. B. die mehrbändige Reclamreihe Gedichte und Interpretationen.
Geschichte einzelner Gattungen
Geschichten der Prosodie, des Metrums und des Verses
Interpretationssammlungen
3. Hilfsmittel Ein unschätzbares Hilfsmittel für den Umgang mit Gedichten ist Horst Joachim Franks Handbuch der deutschen Strophenformen. Frank unterscheidet Strophen nach (a) der Anzahl ihrer Verse, (b) der Zahl der Hebungen pro Vers, (c) den verwendeten Versfüßen und (d) dem Reimschema. Der immense Wert seiner Arbeit liegt darin, dass er mehr als 34.000 Gedichte nach Strophenformen geordnet und dann die Häufigkeit ihres Vorkommens in sechs literaturhistorischen Perioden ermittelt hat. Jeder Form ist ein eigener Abschnitt gewidmet, der mit der Notation des metrischen Schemas beginnt, dann ein Beispiel bringt und daran anschließend in einem kurzen Text Fragen der Herkunft und der Ursachen für die variierende Popularität einer Strophenform bespricht. Oft zeichnen sich regelrechte ,Strophenmoden‘ ab, die heutigen Lyriklesern befremdlich erscheinen – so sehr sind wir gewohnt, gerade die Höhenkammlyrik gar nicht mehr von ihrer äußeren Form her zu betrachten. Schlagender als eine Handvoll Einzelanalysen legen Franks Verteilungsmuster dar, was literarischer Geschmack ist bzw. war. Neben Franks Handbuch benötigt man zur Analyse und Interpretation weitere Hilfsmittel. Von Nutzen ist ein Symbollexikon wie das Wörterbuch der Symbolik von Manfred Lurker. Unter Symbolen sind hier Zeichen zu verste-
Handbuch der deutschen Strophenformen
Weitere Hilfsmittel
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II. Forschung zur Lyrik
hen, denen in verschiedenen Kulturen feste Bedeutungen beigelegt wurden. Man kann ein barockes Gedicht, in dem von einem Granatapfel die Rede ist, nicht historisch richtig auffassen, wenn man die Frucht nur strukturell analysiert; man muss wissen, dass sie ein konventionelles Zeichen der Auferstehung oder des überirdischen Segens ist. Um bei einem älteren Text nicht ,falschen Freunden‘ auf den Leim zu gehen oder um ausgestorbene und daher unverständlich gewordene Wörter zu klären, sollte man gelegentlich ein historisches Wörterbuch konsultieren. Zu empfehlen ist hier das Deutsche Wörterbuch (auch als ,Grimmsches Wörterbuch‘ bekannt), das online frei zur Verfügung steht. Fragen zur antiken Geschichte und Mythologie kann man im Kleinen Pauly. Lexikon der Antike nachschlagen; falls man es mit Lyrik der ,Goethezeit‘ zu tun hat, eignet sich aber das 1770 von Benjamin Hederich veröffentlichte Gründliche mythologische Lexikon besser, das auch von den Autoren des späten 18. Jahrhunderts verwendet wurde und in einem reprographischen Nachdruck vorliegt.
4. Anthologien
Gütekriterien
Gedichtsammlungen können sehr unterschiedlichen Prinzipien folgen, die nicht selten den Titeln abzulesen sind. Allgemeine thematische Schwerpunkte setzen z. B. Deutschland als Gedicht. Über berühmte und berüchtigte Deutschland-Gedichte aus fünf Jahrhunderten in fünfzehn Lektionen (hg. v. Jürgen Schroeder), Kindheit im Gedicht (hg. u. komm. v. Dieter Richter), oder Die liebenden Deutschen. 645 entflammte Gedichte aus 400 Jahren (hg. v. Steffen Jacobs). So viele Themen in Gedichten behandelt werden, so viele Anthologien lassen sich denken. Gesammelt werden kann nach Gattungsbegriffen wie im Fall der Gebete der Dichter (ausgew. von Alois Weimer) oder der Deutschen Lyrik-Parodien aus drei Jahrhunderten (hg. v. Theodor Verweyen); den Ausschlag geben können aber auch die Verfasser der Gedichte, etwa hinsichtlich ihres Geschlechts wie in Stechäpfel. Gedichte von Frauen aus drei Jahrtausenden (hg. v. Ulla Hahn). Unter den von Literaturwissenschaftlern verantworteten Anthologien dominieren solche zu bestimmten Epochen wie die Gedichte des Expressionismus (hg. v. Dietrich Bode), die Edition Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts (hg. v. Wilhelm Kühlmann) und der Band Zu den Sternen fliegen. Gedichte der Romantik (hg. v. Rüdiger Görner), wobei sich der Epochenschwerpunkt auch mit bestimmten Thematiken vermischen kann: Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914 – 1918 (hg. v. Thomas Anz u. Joseph Vogl) oder Der deutsche Faschismus in seiner Lyrik. Mit Materialien (hg. v. Harro Zimmermann). Nicht wenige Anthologien sind eher für den Liebhaber als für den schulischen oder akademischen Gebrauch bestimmt. Statt sie einzeln zu kommentieren, ist es sinnvoller, die wichtigsten Kriterien anzugeben, die bei ihrer Einschätzung heranzuziehen sind. Eine brauchbare Anthologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie in einem Vor- oder Nachwort über die Prinzipien der Textauswahl informiert und die Grundsätze der Textanordnung – nach Gattungen, Entstehungsjahr oder Erscheinungsjahr – erläutert und begründet. Gleichfalls unerlässlich ist ein Quellennachweis, der nicht nur den
4. Anthologien
bibliographischen Ort angibt, dem der Text entnommen wurde, sondern auch Jahr und Ort der Erstpublikation. Ein Abdruck, der es nicht ermöglicht, den Text gegebenenfalls bis zu seinem Ursprung (dem Manuskript des Autors oder dem Erstdruck) zurückzuverfolgen, entzieht sich unzulässig der Überprüfung seiner Korrektheit. Zwar bietet auch ein sorgfältig erscheinendes Quellenverzeichnis keine Garantie für Richtigkeit (denn Papier ist geduldig); aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ein Herausgeber, der seine Textfassungen ausweist, sich tunlichst hüten wird, Fehler zu machen. Eine Anpassung der Orthographie an die heute gültigen Regeln ist problematisch, eine Anpassung der Zeichensetzung inakzeptabel, denn hier kann jede Abweichung den Sinn des Textes verändern. – Verlage, die zahlreiche gute Anthologien im Programm haben, sind z. B. Reclam, Insel, Suhrkamp und der Deutsche Taschenbuch Verlag. Die bekannteste ältere Anthologie, Deutsche Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Auswahl für Schulen, wurde von Theodor Echtermeyer im 19. Jahrhundert begründet und von Benno von Wiese fortgeführt. 1990 erschien die 18. Auflage des ,Echtermeyer-von-Wiese‘, für die Elisabeth Paefgen die Abteilung zum 20. Jahrhundert durchgesehen und ergänzt hat. Gute Anthologien sind Walther Killys zehnbändige Sammlung Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart, die am Umfang gemessen preiswert und für Deutschlehrer und -lehrerinnen von großem Nutzen ist, die von Gerhard Hay und Sibylle von Steinsdorff zusammengestellte Kurzfassung des ,Killy‘, Deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart, und Das Buch der Gedichte. Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine Sammlung für die Schule, herausgegeben von Karl Otto Conrady. Weiterhin empfehlenswert sind Reclams großes Buch der deutschen Gedichte und Der ewige Brunnen, von Heinrich Detering und Ludwig Reiners herausgegeben, sowie Marcel Reich-Ranickis achtbändiger ,Lyrik-Kanon‘. Begleitet von warnenden Worten ist auch eine Empfehlung der Anthologie Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke vertretbar, die in der Digitalen Bibliothek der Directmedia GmbH herausgegeben wird. Im Umfang übertrifft sie jede andere Anthologie um ein Mehrfaches; sie enthält laut Vorwort rund 53.000 Gedichte von 207 Autoren. Hier hineinzulesen, lohnt sich; der Eindruck, den man sich von der Geschichte der Lyrik macht, ändert sich nachhaltig. Ein zweiter Vorzug der digitalisierten Texte ist deren Erschließbarkeit mit der Volltextsuche. Um alle Gedichtstellen zu finden, an denen ein bestimmtes Wort vorkommt, hätte ein Literaturwissenschaftler früher wochenlang recherchieren müssen; mit der digitalen Bibliothek erreicht man das gleiche Ziel in wenigen Stunden. Drittens besteht für die Lehre in Schule und Universität eine Erleichterung darin, dass die Gedichte in Dokumentdateien kopiert, bearbeitet und ausgedruckt werden können. Doch hier lauern zugleich die Probleme. Erstens nämlich sind die Texte alles andere als fehlerfrei, weshalb es sich verbietet, sie ohne Abgleich mit einer zuverlässigen Ausgabe zu benutzen. Es unterlaufen der Digitalen Bibliothek nicht nur Zeichensetzungs- und Orthographiefehler, es finden sich auch bisweilen Wörter, an deren Stelle im Original andere Wörter stehen. Zweitens spart das Kopieren zwar Zeit, schaltet aber auch das Abschreiben als Schritt der Texterschließung aus. Wer sich die Mühe macht, ein Gedicht abzuschreiben, wird feststellen, dass der allmähliche Neuaufbau des Textes
Gute Anthologien für den Hausgebrauch
Digitale Bibliothek
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II. Forschung zur Lyrik
Andere Anthologien
oft Aspekte in den Blick rückt, die eine erste Interpretationshypothese ermöglichen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Verbreitung von Lyrik spielen Anthologien eines anderen Typs, nämlich Sammlungen von Gedichten der Gegenwart, die dazu dienen, neue Tendenzen einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Einige von ihnen erlangten auch literaturgeschichtlich höchste Bedeutung, indem sie durch die Präsentation neuer Schreibweisen der Produktion von Gedichten neue Impulse gaben. Solche Anthologien sind die bis heute wohl berühmteste Gedichtsammlung des 20. Jahrhunderts, die von Kurt Pinthus 1919 herausgegebene Menschheitsdämmerung, oder Transit, das 1956 von Walter Höllerer zusammengestellte Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, dessen Gedichte bereits drei Jahre später in Wolfgang Kaysers Vorlesungen zur Geschichte des deutschen Verses als Exempel für ein neuartiges Versverständnis fungieren. Für die Lyrik der Gegenwart sind vor allem Jahrbücher, aber auch Sammlungen relevant, die im Rahmen von regelmäßig stattfindenden Wettbewerben die besten der eingereichten Texte zusammenstellen.
III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation In diesem Kapitel werden die wichtigsten Begriffe der Gedichtanalyse vorgestellt. Es geht darum, ein Instrumentarium der Analyse zu entwickeln, mit dem man Gedichte genau beschreiben und deuten kann. Die Abschnitte 1. bis 5. befassen sich mit Kategorien, die auch zur Analyse nicht-lyrischer Texte herangezogen werden, zugleich aber für die Lyrik-Analyse unerlässlich sind. Lyrikanalytische Begriffe im engeren Sinne werden dann in den Abschnitten 6. und 7. erläutert. Weitgehend vernachlässigt wird hier historisches Wissen; da es zur Interpretation unerlässlich ist, wird es in den beiden folgenden Kapiteln ausführlich behandelt.
1. Wortbedeutungen und übertragene Wortbedeutungen Im Alltag verwenden wir Sprache in einer bestimmten Weise. Wenn jemand den Ausdruck „Haus“ benutzt, dann beziehen wir ihn auf Häuser, sagt jemand „Liebe“, dann beziehen wir das Wort auf eine besonders intensive emotionale Relation zwischen mindestens zwei Menschen. Den Bezug ermöglichen uns Konzepte, die wir uns von ,Häuser‘ und ,Liebe‘ gebildet haben. Falls die Konzepte des Sprechers und seines Adressaten nicht übereinstimmen, kann es zu Missverständnissen kommen, die man durch Begriffsklärungen auszuräumen bestrebt ist. Meist aber funktioniert der Bezug so gut, dass darauf unsere Möglichkeit beruht, miteinander sprachlich zu kommunizieren. In der Sprache der Dichtung dagegen herrschen andere Regeln als in der normalen Sprache. Machen wir uns das zunächst an einem einfachen Fall klar. Er liegt vor, wenn den poetischen Ausdrücken bestimmte Bedeutungen stereotyp zugeordnet sind, die vom normalsprachlichen Sinn abweichen. Literaturwissenschaftlich lassen sich diese sprachlichen Sonderformen als topische Allegorien charakterisieren (auf die Terminologie wird weiter unten eingegangen). Sie erfreuten sich im Barock großer Beliebtheit, und einige sind bis heute in Gebrauch. „Die Rose“ bedeutet noch immer ,die Liebe‘ oder ,die Geliebte‘, „der Schwan“ bedeutet ,der Dichter‘ und „die Frau mit verbundenen Augen, die Schwert und Waage in den Händen hält“ bedeutet ,die Gerechtigkeit‘. Die topische Allegorie kann sprachlich, bildlich oder durch den normalsprachlich gemeinten Gegenstand selbst realisiert sein; ihre Zuordnung zu ihrer Bedeutung ist (beinahe) so konventionell wie die normale Bedeutungszuordnung. So kann eine Frau, die von einem Mann ein üppiges Rosenbukett geschenkt bekommt, mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er in sie verliebt ist. Trotz ihrer Konventionalität haben topische Allegorien die Menschen schon immer dazu gereizt, das Zustandekommen ihrer Bedeutungsrelationen zu erklären.
Poesie vs. Normalsprache
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
Markiertheit
In manchen Fällen bereitete dies wenig Mühe, so bei der Frau, die vorn lange Haare, aber einen kahlen Hinterkopf hat, in der man vor 350 Jahren als gebildeter Europäer konventionell die Gelegenheit erkennen und das Bild auch erklären konnte: Wenn die Gelegenheit vorübergeht, kann man sie nicht mehr ergreifen – wie man eine Frau, die vorbeigegangen ist, nicht mehr beim Schopf packen kann, wenn ihr Hinterkopf enthaart ist. Weniger klar ist hingegen, was Schwäne mit Dichtern oder Rosen mit der Liebe zu tun haben. Für die Rose ließe sich folgende Erklärung finden: Ihre zahllosen Blütenblätter, eins so schön wie die anderen, bedeuten die verschiedenen, allesamt lebenswerten Facetten der Liebe, und alle zusammen stellen die ganze Liebe dar. Die Bilder unterscheiden sich allerdings in einer Hinsicht, die für alle weiteren Überlegungen relevant ist. Während nämlich das Bild der Rose wenigstens in den meisten Verwendungskontexten völlig unauffällig ist und daher nur vom topisch versierten Rezipienten entschlüsselt wird, fordert das Bild der Frau mit der bizarren Frisur bereits für sich genommen zur Interpretation heraus, weil es in kaum einem Kontext als Wiedergabe eines natürlichen Objekts fungieren kann. Als Abweichung vom Erwartbaren ist es als Bild markiert. Das allerdings heißt nicht, dass die Interpretation im verhaltensbiologischen Sinne vom ungewöhnlichen Bild ,getriggert‘ würde; sie kommt vielmehr erst dann in Gang, wenn ein Erklärungsbedarf auf Seiten des Rezipienten entsteht. Diesen Bedarf empfindet nicht jeder, weshalb manche Rezipienten unauffälligere Bilder gar nicht bemerken und auffälligere Bilder als Unsinn abtun. Letztlich also kann kein Bild den Rezipienten zwingen, die übertragene Bedeutung zu suchen; ein gewisses Maß an ,Einlassung‘ ist erforderlich. Man muss im Hinterkopf behalten, dass Markiertheit für den einen Rezipienten nicht dasselbe ist wie für einen anderen.
2. Lyrische Bildformen Komponentenanalyse
An den beiden Beispielen lässt sich ein Verfahren studieren, das man als „Komponentenanalyse“ bezeichnen kann. Die Bilder der Rose und der halbkahlköpfigen Frau werden in ihre ,Einzelteile‘ bzw. Komponenten zerlegt, aus deren Zusammenspiel die jeweilige topische Bedeutung abgeleitet wird. Um diese Methode zu präzisieren, kann man auf Begriffe zurückgreifen, die auf die strukturalistische Sprachtheorie Ferdinand de Saussure zurückgehen (vgl. de Saussure 1967). Ihr zufolge ist das sprachliche Zeichen als die Einheit des Zeichenträgers bzw. Signifikanten und der Bedeutung bzw. Signifikats zu verstehen. Das Zeichen ,Rose‘ umfasst also das geschriebene oder gesprochene Wort „Rose“, den Signifikanten, und die Bedeutung von „Rose“, das Signifikat. Wie der Signifikant, das Wort „Rose“, aus unterscheidbaren Lauten, den Phonemen, besteht, so stellt man sich auch das Signifikat, unser Rosenkonzept, als zusammengesetzt aus Bedeutungskomponenten vor, den sogenannten Semen. ,Rose‘ enthält Seme wie ,organisch‘, ,Pflanze‘, ,vielblättrige Blüte‘. Meine Deutung der topischen Rose setzt also ein Sem, ,vielblättrige Blüte‘, dominant – man könnte auch sagen, sie fingiere eine tatsächlich nicht vorhandene Markierung – , um eine Hypothese
2. Lyrische Bildformen
zu entwickeln, wie es zu einer vorhandenen übertragenen Bedeutung kommen konnte. Meist allerdings stehen wir vor dem umgekehrten Problem, eine markierte Bildlichkeit entschlüsseln zu müssen, ohne die übertragene Bedeutung zu kennen. – Neben den Begriffen der Komponentenanalyse ist ein weiteres Begriffspaar für die Untersuchung literarischer Bilder erforderlich. Letztere bestehen immer aus einem Bildspender und einem Bildempfänger: dem eigentlich bedeutungstragenden Zeichen, z. B. der ,Rose‘, und seiner übertragenen Bedeutung, der ,Liebe‘. In Beziehung gesetzt werden die Signifikate der beiden Zeichen, wenn die Rosen-Komponente ,viele schöne Blütenblätter‘ auf die Liebes-Komponente ,viele schöne Facetten der Liebe‘ bezogen wird. So wie hier, besteht die Funktion literarischer Bilder oft darin, durch etwas Konkretes (Rose) ein Abstraktum (Liebe) auszudrücken. Dazu allerdings müssen Bildspender und Bildempfänger klar unterscheidbar sein. Es gibt jedoch auch Bilder, die eine solche klare Unterscheidung nicht erlauben. Demgemäß teilen sich die Bilder in zwei Großklassen, die wir als ,symbolische Bilder‘ mit klarer Unterscheidbarkeit von Spender und Empfänger einerseits und als ,metaphorische Bilder‘ ohne klare Unterscheidbarkeit von Spender und Empfänger andererseits bezeichnen wollen. Diese beiden Klassen sollen im Rest dieses Abschnitts eingehend untersucht werden. Die Grundform der symbolischen, nicht hingegen der metaphorischen Bilder ist, wie Günter Waldmann betont, der Vergleich (vgl. Waldmann, 187 f.). Um zwei Dinge sprachlich miteinander vergleichen zu können, benötigt man zunächst eine klare Beschreibung oder Benennung dieser Dinge (eine Bedingung, die im Fall der metaphorischen Bilder nicht erfüllt ist). Zweitens benötigt man einen Vergleichspunkt, ein Tertium Comparationis des Vergleichs. Ein vollständiger Vergleich wäre also in dem folgenden Satz ausgedrückt: „In puncto Genauigkeit war Immanuel Kant wie eine Uhr.“ Die drei Teile des Vergleichs sind im Beispielsatz „Uhr“ (Bildspender), „Immanuel Kant“ (Bildempfänger) und „Genauigkeit“ (Tertium Comparationis). Aus einem Vergleich wird ein symbolisches Bild, wenn einer der drei Bestandteile im Text nicht realisiert ist, die Grundstruktur des Vergleichs aber erkennbar bleibt. Kein Problem bereitet es, einen Satz wie „Kant war wie eine Uhr“ zu verstehen. Denn der Uhrenvergleich ist eine hochgradig konventionelle Angelegenheit; es gehört zum kulturellen Wissen, dass bei einem Vergleich mit einer Uhr allermeist Präzision, Unbestechlichkeit, Unbeirrbarkeit etc. gemeint sind. Vielen literarischen Autoren (und ganz besonders Lyrikern) geht es aber oft darum, neue Vergleiche zu finden, die eben keine bereits bekannte Entschlüsselung mit sich führen. Und um dem Leser Spielräume für eigenes Denken zu öffnen, fehlen dem literarischen Vergleich oft auf allen Seiten Komponenten, die eine eindeutige Lesart erzwingen würden: BERTOLT BRECHT: RUDERN, GESPRÄCHE
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Es ist Abend. Vorbei gleiten Zwei Faltboote, darinnen Zwei nackte junge Männer: Nebeneinander rudernd Sprechen sie. Sprechend Rudern sie nebeneinander. (Brecht, 1013)
Bildspender und Bildempfänger
Symbolische Bilder: Vergleiche
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
Symbol und Allegorie
Es erstaunt nicht, dass die Bukower Elegien Brechts, zu denen das zitierte Gedicht gehört, lange Zeit überhaupt nicht als literarische Bilder wahrgenommen wurden. Denn wenn ,Rudern, Gespräche‘ ein symbolisches Bild enthalten soll, dann wäre es eines, das über einen etwaigen Bildempfänger scheinbar nichts mitteilt. Doch wenigstens ein Detail macht den Leser stutzig, nämlich dass die Männer nackt sind. Da dies in unserer Kultur beim Rudern unüblich ist, kann an diesem Punkt die Symbolanalyse ansetzen. Wenn Nacktheit als ,Ursprünglichkeit‘ gelesen wird, dann formuliert Brecht in diesem Bild seine Basisanthropologie: in stetem Austausch miteinander („sprechend“) beinahe mühelos („gleiten“) vorwärts kommend durch Arbeit („rudern“) und, wie die Positionsvertauschung von finitem Verb und Partizip im letzten Satz andeutet, weder die Kommunikation über die Tätigkeit, noch die Tätigkeit über die Kommunikation stellend – so sieht Brecht den Menschen, wenn er auf das Wesentliche reduziert („nackt“) ist. Die Wechselseitigkeit von Kommunikation und Tätigkeit bildet das Tertium Comparationis, das die beiden Männer (Bildspender) und den Menschen an sich (Bildempfänger) verbindet. Obwohl hier der gestörte Wirklichkeitsbezug zum Ausgangspunkt der Deutung gemacht wurde, kann man genauso gut textimmanent argumentieren, indem man den Verstoß gegen das sprachliche Verbot auffälliger Redundanzen in den letzten zweieinhalb Versen als Hinweis auf eine zu entschlüsselnde Bedeutung versteht. Nur würde in diesem Fall die Argumentation etwas umständlicher ausfallen. Wichtig ist, dass in jedem Fall nach Anomalien gesucht wird, von deren Erläuterung die Interpretation ausgeht. Durch Auslassungen gekennzeichnete Vergleiche nennt man Allegorien oder Symbole. Diese beiden Begriffe zu definieren, ohne damit gegen irgendeinen historischen oder wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu verstoßen, ist unmöglich. Gewonnen wäre damit auch nicht viel, denn tatsächlich gibt es mehr als zwei Typen von defizitären Vergleichen, was sich leicht schon daraus folgern lässt, dass es drei Bildbereiche gibt und jeder fehlen kann. Außerdem ist oft, wie in Brechts Gedicht ,Rudern, Gespräche‘, jeder Bildbereich mehrteilig, woraus weitere Variationsmöglichkeiten folgen. Es scheint mir daher eher verwirrend zu sein, wenn man just einer Defizitvariante einen der beiden Termini Technici zuordnet. Man könnte mit Jürgen Link, der eine ganze Reihe von verschiedenen Bild-Typen mit großer Präzision herausarbeitet, in allen Fällen von nicht vollständig ausgeführten Vergleichen von „Symbolen“ sprechen, müsste dann aber immer klarmachen, dass man mit Links Symbolbegriff arbeitet (vgl. Link). Um nicht mit der in diesen Dingen uneinheitlichen Begrifflichkeit der Literaturwissenschaft zu kollidieren, habe ich einleitend vorgeschlagen, den Ausdruck „symbolische Bilder“ zu benutzen. Wer dennoch auf die beiden tradierten Begriffe nicht verzichten will, kann sich an die ,Faustformel‘ halten, dass Symbole den Bildempfänger eher nur andeuten, Allegorien ihn deutlicher benennen. Präzisierungen von „eher nur angedeutet“ und „deutlicher benannt“ können wir Links Untersuchungen entnehmen. Für uns wichtiger ist aber, überhaupt symbolische Bilder erkennen und analysieren zu können (den historisch einflussreichen, anders gelagerten Symbolbegriff Goethes werden wir in Kapitel VI kennen lernen). Während Brechts Gedicht ,Rudern, Gespräche‘ einen Eindruck vom Andeutungsverfahren des Symbols vermittelt, soll das
2. Lyrische Bildformen
folgende Gedicht von Friedrich Logau veranschaulichen, was mit der Deutlichkeit der Allegorie gemeint ist: FRIEDRICH LOGAU: DIE WELT
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Die Welt ist wie das Meer: ihr Leben ist gar bitter; Der Teuffel machet Sturm, die Sünden Ungewitter; Drauff ist die Kirch ein Schiff und Christus Steuer-Mann; Sein Segel ist die Reu, das Creutze seine Fahn; Der Wind ist Gottes Geist, der Ancker das Vertrauen, Dadurch man hier kann stehn und dort im Port sich schauen.
(Logau, 94)
Logau gibt uns in diesem Epigramm sogar das Tertium Comparationis an: die Bitterkeit, d. h. die Widrigkeit und Gefährlichkeit, die Welt und Meer gemeinsam ist. Im ersten Vers liegt somit ein Vergleich vor, dessen Vollständigkeit jedoch mit dem dritten Vers aufgegeben wird. Hier ist das (leicht) zu erratende Gemeinsame nämlich der Schutz, den Kirche und Schiff gewähren. Die nautische Welt als Bildspender und die religiös betrachtete Lebenswelt des Menschen als Bildempfänger werden aber bis zum Schluss des Gedichts in allen Teilen ausformuliert. Interessant ist der kleine ,Knacks‘, den die Allegorie dadurch erhält, dass mit dem Wind, der auf Gottes Geist verweist, nicht ein Teil des Schiffs, sondern der es umgebenden Natur zum Komplex der ,Schutzmächte‘ gerechnet wird: Auch in der von Gott geschaffenen Natur finden sich Zeichen seiner schirmenden Macht. Die Basisstruktur des Vergleichs hält Bildspender und -empfänger auf Abstand. Zugleich bewirkt sie, dass symbolische Bilder wahr sein können (ob sie tatsächlich wahr sind, ist eine andere Frage). Brechts Gedicht enthält nichts in sich Widersprüchliches, sondern nur ein Element, dessen Wahrscheinlichkeit gering genug veranschlagt werden kann, um eine Symbolanalyse zu veranlassen. Grundlegend anders sind die metaphorischen Bilder strukturiert. In ihnen findet eine Durchmischung oder Verschmelzung einander aufhebender Signifikate statt. Die häufig anzutreffende Definition der Metapher als ,Vergleich ohne „wie“‘ ist daher unzureichend. Eine Metapher wie „Der gläserne Mensch“ lässt es grundsätzlich offen, ob von einem in jeder Hinsicht durchschaubaren Menschen die Rede ist oder von einem gläsernen Modell eines Menschen, das zu anatomischen Studien verwendet wird. Anders gesagt: Es ist aus dem metaphorischen Ausdruck heraus nicht entscheidbar, ob das Glas oder der Mensch konkret und damit als Bildspender gemeint ist. Metaphorische Bilder kommen zustande, wenn erstens in irgendeiner Weise ein Zeichen auf ein anderes Zeichen bezogen wird und zweitens der Bezug eine Störung der Semordnung bewirkt. In dem angeführten Beispiel des gläsernen Menschen (eine attributive Metapher, die auch in der appositionellen Gestalt „der Mensch, der gläserne“ vorliegen könnte) wird die Semordnung dadurch gestört, dass eine Reihe von Mensch-Semen wie ,organischer Körper‘ und ,intransparent‘ mit Glas-Semen wie ,anorganischer Körper‘ und ,transparent‘ kollidiert. Einfacher gesagt: Es gibt keine gläsernen Menschen. Wie aber lässt sich die Wirkungsweise der Metapher näher charakterisieren? Die ursprüngliche Doppeldeutigkeit des Ausdrucks „gläserner Mensch“ bleibt auch dann virulent, wenn der Kontext eine Vereindeutigung ermög-
Wahrheitsfähigkeit
Metaphorische Bilder
Polyvalenz
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
Referenzen
Das Bild im Bild
licht. Angenommen, der Text, in dem die Metapher steht, würde hinreichend klar machen, dass vom Menschen und nicht von einem medizinischen Modell des Menschen die Rede ist. Es bleiben dann zunächst die Mensch-Seme ,organisch‘, ,beseelt‘ und ,vernunftbegabt‘ erhalten, aber ,intransparent‘ wird durch das Sem ,transparent‘ ersetzt, das zum Signifikat von „gläsern“ gehört, während zugleich Letzteres seine anorganische Natur, seine Unbeseeltheit etc. ablegen muss. Der Mensch verwandelt sich gewissermaßen in ein Wesen, das man vollständig kennen kann, weil alles an ihm, auch das, was er verborgen halten will, zutage liegt. Wichtig an diesem Vorgang ist, dass bei der metaphorischen Lesart des Ausdrucks „der gläserne Mensch“ die beiden Signifikate der Einzelausdrücke sich zu einem metaphorischen Signifikat verbinden und dies letztere in sich widersprüchlich ist und bleibt. Denn die ersetzten Seme bleiben solange virulent, wie die Wörter ihre ursprüngliche Bedeutung besitzen. Aufgrund ihrer unauflöslichen Widersprüchlichkeit kann die Metapher immer wieder anders interpretiert werden; sie ist, wie man sagt, polyvalent. Zwar werden Metaphern oft ,vereindeutigt‘, wenn ihre textuelle Umgebung die Interpretationsmöglichkeiten reduziert; in dem gerade entwickelten Beispiel hatte die von mir postulierte Textumgebung dafür gesorgt, dass der Ausdruck „der gläserne Mensch“ als Metapher für den Verlust von Privat- und Intimsphäre verstanden werden konnte. Doch die Polyvalenz bleibt als Assoziationsspielraum erhalten. Da der metaphorische Begriff widersprüchlich ist, spricht keine Logik dagegen, auch andere als die vom Text nahegelegten Sem-Ersetzungen zu assoziieren. Auf diese Weise entsteht ein semantisches Feld, dem die literaturwissenschaftliche Sprache oft mit Ausdrücken wie ,klingt an‘, ,lässt denken an‘, ,verweist auf‘ beizukommen versucht. Der Subjektivität des Interpreten werden hier durch die Sprache keine prinzipiellen Grenzen gesetzt. Nichts spricht also dagegen, wenn ich beim ,gläsernen Menschen‘ nicht nur an die wahrscheinlich gemeinte Durchdringung aller Lebensbereiche, sondern auch an die vom Glas übertragbare ,Zerbrechlichkeit‘ oder ,Willenlosigkeit‘ denke. Verlässt man den bisher gewählten strukturalistischen Erklärungsrahmen, dann kann, im Unterschied zum metaphorischen, das symbolische Bild als eines konzipiert werden, das auf etwas in einer fiktiven oder realen Wirklichkeit Vorhandenes referiert. Oder, literaturtheoretisch elaborierter formuliert: Bildspender, Bildempfänger oder beide zusammen konstituieren eine Wirklichkeit, die wir entweder als Realität oder als Fiktion identifizieren können. Ein symbolisches Bild schließt immer die Beschreibung eines Gegenstandes, die Schilderung eines Vorgangs oder die Erzählung einer Geschichte ein. Daher sind Symbole meistens Bilder, deren Entfaltung einen gewissen Textumfang in Anspruch nimmt – wiederum im Gegensatz zur Metapher, die in der Regel aus wenigen Wörtern, in einem Extremfall wie „Glasmensch“ nur aus einem Wort, nämlich einem Kompositum, besteht. Die unterschiedliche Grundstruktur der Bildformen hat zur Folge, dass metaphorische in symbolischen Bildern enthalten sein können. Eine solche Einschachtelung spielt vor allem dann eine Rolle für die Interpretation, wenn das Tertium Comparationis oder einer der beiden Bildbereiche im symbolischen Bild fehlen. Sie verweist dann zugleich auf die Möglichkeit und die Richtung einer Auslegung des Symbols. Diese Funktion können zwar auch Bildelemente übernehmen, die, wie im Fall der Brechtschen Ru-
2. Lyrische Bildformen
derer die Nacktheit, mit einer bestimmten Lesererwartung kollidieren; doch metaphorische Bilder üben sie mit weit größerem Nachdruck aus. Viele Literaturwissenschaftler halten es für wichtig, die Metapher von zwei nahen Verwandten, der Metonymie und der Synekdoche, zu unterscheiden. Ich schlage vor, die wenig ergiebige Binnendifferenzierung dieser Bildformen zu übergehen und sie unter dem Begriff der Metonymie zusammenzufassen. Ihre Abgrenzung von der echten Metapher ist auf rein analytischer Grundlage nicht zu haben; sie setzt Interpretation voraus. Die Unterscheidung stützt sich in der Regel auf eine einfache Ersetzungstheorie. Ihr zufolge wäre im Ausdruck „der gläserne Mensch“ das Attribut „gläsern“ als Ersatz für das ,eigentlich gemeinte‘ Attribut „privatsphärenlos“ aufzufassen. Dass hiermit eine Depotenzialisierung der Metapher vorgenommen wird, braucht kaum mehr gesagt zu werden. Es hat eine vereindeutigende Interpretation stattgefunden. Nehmen wir aber an, dass dieses Vorgehen rechtens sei, dann lässt sich die Unterscheidung von Metapher und Metonymie nun begründen. Sie beruht auf einem Vergleich der Semordnungen des benutzten und des gemeinten Ausdrucks. Zwischen den Semen von „gläsern“ und „privatsphärenlos“ besteht keinerlei Zusammenhang. Anders dagegen liegt der Fall bei vielen Beispielen, die üblicherweise als Metonymien gelten, wie „Wunden verschießen“, „im Schiller lesen“ etc. Zwischen den Wunden und den ,eigentlich‘ gemeinten Pfeilen besteht eine Verursachungsrelation, die zum Semkomplex von „Pfeil“ gehört. Ebenso verbindet Schiller und das von ihm hervorgebrachte Werk eine Urheberrelation. Auf der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, solche Relationen ausfindig zu machen, beruht also die Unterscheidung der beiden metaphorischen Bildtypen. Doch leider ist damit die Angelegenheit noch immer nicht abschließend behandelt. Denn es gibt einen Typ von Sprachverwendung, der herkömmlich zu den Metonymien gezählt wird, tatsächlich aber etwas ziemlich anderes ist: das Pars pro Toto. Es liegt beispielsweise vor, wenn „Dolch“ durch „Klinge“ ersetzt, also ein Teil von etwas (die Klinge) für das Ganze (den Dolch) eingesetzt wird. Der Unterschied zwischen echten Metonymien wie „Wunden verschießen“ und einem Pars pro Toto wie „seine Klinge ziehen“ besteht nun darin, dass die Metonymie (wie die Metapher) einen semantischen Widerspruch enthält, wogegen die Aussage „er zog seine Klinge“ widerspruchsfrei ist. Wenn jemand seinen Dolch gezogen hat, ist es richtig zu sagen: „Er zog seine Klinge“ – auch, wenn der Mann nicht nur die Klinge, sondern auch die anderen Teile des Dolchs gezogen hat. Trotz dieser Differenz besteht aber zwischen Metonymie und Pars pro Toto eine Gemeinsamkeit. Beide nämlich ersetzen (immer die oben angeführten Bedenken beiseite gelassen) den eigentlich gemeinten Ausdruck durch einen anderen, dessen Semordnung zu der des gemeinten Ausdrucks in einer Relation steht, die im Fall des Pars pro Toto sogar den Namen der sprachlichen Figur abgibt. Aufgrund seiner restlosen Auflösbarkeit kommt dem Pars pro Toto oft die Funktion zu, als unschön geltende Wortwiederholungen vermeiden zu helfen; es gehört zu den rhetorischen Verschönerungsmaßnahmen und nicht zu den erkenntnisleitenden Sprachregelverstößen. Des Weiteren lassen sich Metaphern nach den grammatischen Regeln klassifizieren, die ihre jeweilige sprachliche Gestalt bestimmen (metaphorisches Kompositum, appositionelle oder attributive Metapher etc.); es lassen
Metonymie und Synekdoche
Pars pro Toto
Metapher und Grammatik
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation Synästhesien
Die Analyse
Personifikation
sich aber auch Inhaltstypen unterscheiden. Der prominenteste Typ dieser Gruppe ist die Synästhesie; sie besteht aus der Kombination von Ausdrücken, deren Bedeutungen unterschiedlichen Sinnesbereichen angehören. Beispiele sind Brentanos Vers „Golden wehn die Töne nieder“ (Brentano, 54) oder alltagssprachliche Ausdrücke wie „kreischendbunt“ oder „dunkler Klang“. Wer von „sanften Tönen“ spricht, wird kaum noch bemerken, dass er ein metaphorisches Bild benutzt. Desto auffälliger sind dann neue Synästhesien in der Dichtung, die im Barock, in der Romantik und im Expressionismus geschätzt wurden. Man darf sich keine falschen Vorstellungen vom Wert der Termini Technici „Metapher“ und „Symbol“ machen. Es ist nicht so, dass man einen Text liest, dann ein Symbol diagnostiziert und anschließend zu dessen Analyse und Interpretation fortschreitet. Vielmehr erfolgt die endgültige Klassifizierung des Bildes nach der analytischen und interpretatorischen Arbeit. In der Untersuchung der Gedichte Brechts und Logaus war die Klassifizierung eigentlich nur ein Abfallprodukt; bei Brecht kam es darauf an, überhaupt einen Einstieg in den Hintersinn zu finden, bei Logau galt es, die kleine Inkonsistenz zu erkennen, die das Bild interessant macht. An einem dritten Beispiel soll nun gezeigt werden, dass dennoch die Bildklassifizierung eine Rolle bei der Interpretation spielen kann. Der Satz „So umgab sie nun der Winter mit gewalt‘gem Grimme“ enthält zweifellos ein sprachliches Bild. Der Winter erscheint als ein Akteur, der andere Akteure („sie“) mit etwas („gewalt‘gem Grimme“) umgibt. Da der Winter vom Rezipienten wie eine Person vorgestellt werden kann, spricht man hier von einer Personifikation. Dennoch hört das Wort „Winter“ nicht auf, den Zeitraum vom 22. Dezember bis zum 21. März zu bezeichnen; das abstrakte Konzept des Zeitraums und die Vorstellung eines konkreten, handelnden Etwas überlagern sich in einer Weise, die das metaphorische Bild kennzeichnet. Eine vollständige Analyse müsste nun weiterhin berücksichtigen, dass der Ausdruck „mit gewalt‘gem Grimme“ sowohl als adverbiale Bestimmung als auch als präpositionales Objekt des Prädikats „umgab“ verstanden werden kann (der Winter ist und handelt grimmig vs. der Winter hantiert mit Dingen, die metaphorisch als „gewaltiger Grimm“ bezeichnet werden). Diese Differenzierung kann aber übersprungen werden, weil es auf etwas anderes ankommt. Der Satz eröffnet nämlich ein Gedicht Goethes, dessen vollständiger Einleitungspassus so lautet: JOHANN WOLFGANG GOETHE: DER WINTER UND TIMUR
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So umgab sie nun der Winter Mit gewalt‘gem Grimme. Streuend Seinen Eishauch zwischen alle, Hetzt‘ er die verschiednen Winde Widerwärtig auf sie ein. Über sie gab er Gewaltkraft Seinen frostgespitzten Stürmen, Stieg in Timurs Rat hernieder, Schrie ihn drohend an und sprach so: […]
(Goethe [2], 60)
Das Gedicht findet sich in Goethes lyrischem Zyklus West-Östlicher Divan, in dem es das ,Timur Nameh – Buch Timur‘ einleitet. Sein historischer Hin-
3. Textstrukturen
tergrund ist der gescheiterte Winterfeldzug des Tartarenkhans Timur-i-lenk (in Europa bekannt als Timur oder Tamerlan) im Jahre 1401, sein Anspielungshorizont der gescheiterte Russlandfeldzug Napoleon Bonapartes von 1812. Der Clou des Gedichtanfangs besteht darin, dass der Winter zunächst eine Metapher sein könnte, sich dann aber in ein Symbol einer allerdings märchenhaften fiktionalen Welt verwandelt. Die Personifikation verdichtet sich zur Person. Die zunächst mögliche metaphorische Deutung des Ausdrucks „Winter“ verweist auf die Unterschätzung des Winters durch die Feldherren. Timur und der von Goethe bewunderte Napoleon haben in dem Moment ihre Befugnisse überschritten, in dem sie sich gegen die hier durch den Winter symbolisierte Natur stellten, statt sich mit ihr zu verbünden. Was das konkret heißen soll, sagt das Gedicht allerdings nicht.
3. Textstrukturen Sprachliche Äußerungen lassen sich in verschieden große textuelle Einheit gliedern: Wort, Satz, (Absatz,) Text. Zwischen den verschiedenen Elementen bestehen Zusammenhänge, die die Einheit des Textes ausmachen. So erwartet man von einem Text eine durchgängige Verwendung desselben Tempus oder zumindest, dass nicht sinnlos zwischen den Tempi hin und her gesprungen wird (während ein gelegentlicher Wechsel vom Präteritum zum Präsens zwecks Steigerung der Lebhaftigkeit zu den konventionellen Lizenzen literarischen Schreibens gehört). Weiterhin soll der Text eine gedankliche Einheitlichkeit aufweisen, die z. B. in der argumentativen Entwicklung eines Themas, im Durchspielen von Themenvariationen oder einfach im Erzählen einer Geschichte bestehen kann. Die Analyse von Textstrukturen hat dementsprechend eine doppelte Funktion: Zum einen dient sie der allgemeinen Charakterisierung eines Textes als z. B. argumentativ, assoziativ oder narrativ; zum anderen ermöglicht sie die Gliederung des Textes. Zunächst können Texte durch sogenannte Funktionswörter zusammengehalten werden. Im einfachsten Fall handelt es sich um Konjunktionen wie „denn“, „weil“ oder „obwohl“. Schwieriger ist die Verknüpfung durch Adverbien wie „währenddessen“, „abermals“, „dahinter“, denn sie verlangen eine höhere Interpretationsleistung als die Konjunktionen. Es muss aus dem Sinn des vorangehenden Satzes erschlossen werden, ,während welches Vorgangs‘ oder ,hinter welchem Objekt‘ etwas geschieht oder gelegen ist. Da sich die Beschreibung des Vorgangs oder Objekts über mehrere Sätze erstrecken kann, können Adverbien auch einen Satz mit einer ganzen Passage verbinden. Eine etwas andere Technik der Textherstellung liegt vor, wenn der Erzähler in einem narrativen Text sich kurz zu Wort meldet, um eine Verbindung zwischen zwei Passagen, etwa mit den Worten „Was dann geschah, war aber das Erstaunlichste. […]“, herzustellen. Deren Gliederungsfunktion könnte ebenso gut durch ein einfaches „(und) dann […]“ erfüllt werden, aber die Einschaltung der Erzählerstimme verleiht dem Text einen anderen Charakter als eine solche adverbiale Weiterleitung: das erzählte Geschehen wird auf Distanz gerückt. Für lyrische Gedichte (die zumeist nicht argumentieren oder erzählen) bedeutsamer sind allerdings die Kohärenzen und Bezüge, die zustande
Textelemente
Funktionswörter
Narrative Verknüpfungen
Isotopien
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
kommen, ohne dass bestimmte Funktionswörter diese Aufgabe erfüllen. Die hier einschlägigen Verfahren treten selbst dann auf, wenn zugleich Funktionswörter einen rudimentären Zusammenhang herstellen. Wie das geht, soll nun an den ersten beiden Strophen eines scheinbar schlichten Gedichts, Clemens Brentanos ,Der Spinnerin Nachtlied‘, genauer betrachtet werden: Es sang vor langen Jahren Wohl auch die Nachtigall, Das war wohl süßer Schall, Da wir zusammen waren 5
Opposition
Ich sing und kann nicht weinen, Und spinne so allein, Den Faden klar und rein So lang der Mond wird scheinen […]
(Brentano, 59)
Der auffälligste Bezug zwischen den Strophen entsteht dadurch, dass in beiden vom Singen die Rede ist. Solche über einen Text hinweg wiederholt auftauchenden Bedeutungskomplexe nennt man semantische Isotopien. Bei Brentano lenkt die Wiederholung des Verbs den Blick zugleich auf einen doppelten Unterschied, der darin besteht, dass es zuerst in der dritten Person Singular im Imperfekt, dann in der ersten Person Singular im Präsens verwendet wird. Innerhalb der Isotopie liegt also eine Oppositionsbeziehung vor. Das lyrische Ich hat in der Gegenwart als Aufgabe übernommen, was in der Vergangenheit ohne eigenes Zutun gegeben war. Das sich darin andeutende Thema eines gegenwärtigen Defizits bestätigt die Opposition von „zusammen“ (V.4) und „allein“ (V.6) als Charakterisierung der beiden Zeitstufen. Für eine weitere Isotopie sorgt die Verwendung der Wörter „Nachtigall“ und „Mond“, die beide Strophenhandlungen in die Zeit der Nacht verlegt. Es ist beim Lesen des Gedichts intuitiv klar, dass das gegenwärtige Unglück durch den Verlust der Person, mit der die Sprecherin in der Vergangenheit vereint war, bewirkt wird; die Analyse der Textbezüge hat die Funktion, diese Intuition zu begründen. Die Technik der Suche nach Isotopien wird noch relevanter, wenn ein untersuchter Text, anders als Brentanos Lied, auf Funktionswörter verzichtet oder sie dysfunktional einsetzt: GEORG TRAKL: IM WINTER Der Acker leuchtet weiß und kalt. Der Himmel ist einsam und ungeheuer. Dohlen kreisen über dem Weiher Und Jäger steigen nieder vom Wald. 5
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Ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt. Ein Feuerschein huscht aus den Hütten. Bisweilen schellt sehr fern ein Schlitten Und langsam steigt der graue Mond. Ein Wild verblutet sanft am Rain Und Raben plätschern in blutigen Gossen. Das Rohr bebt gelb und aufgeschossen. Frost, Rauch, ein Schritt im leeren Hain.
(Trakl, 25)
4. Der Sprecher und die Angesprochenen
Das Gedicht bietet eine gemäßigte Variante des expressionistischen Reihenstils, dessen Reinform darin besteht, scheinbar unzusammenhängende Einzelfeststellungen hintereinander zu schreiben. In Trakls Gedicht ist ein offenkundiger Zusammenhang zwar dadurch gegeben, dass alle Einzelaussagen sich auf ein und dieselbe Landschaft beziehen können; eine syntaktische Verknüpfung der Aussagen hingegen fehlt. Was also hält das Gedicht zusammen? Die Analyse der Isotopien kann eine Ordnung aufzeigen, die einer oberflächlichen Lektüre entginge. Es korrespondieren zunächst die „Dohlen“ (V.3) mit den „Raben“ (V.10) und in denselben Versen der „Weiher“ mit den „Gossen“; die Isotopien sind Vögel und Gewässer. Jeweils einen Vers in Richtung Gedichtmitte versetzt entsprechen die „Jäger“ (V.4) ihrem Opfer, dem „Wild“ (V.9); die Isotopie ist die Jagd. Zwischen den beiden nach außen flankierenden Versen (2 und 11) besteht dann eine pure Oppositionsbeziehung: der Himmel (V.2) ist breit, alles überdeckend und nicht fassbar, das Rohr (V.11) dagegen schmal und lang, es bedeckt nichts und ist fassbar; diese Opposition strukturiert den Text nur, weil sie sich der Klammerstruktur anschließt, die von der dreifachen Isotopie aus Vögeln, Gewässer und Jagd generiert wird. Die Klammer vervollständigen dann die Verse der zweiten Strophe, in denen „Wipfel“ (V.5) und „Mond“ (V.8) jeweils eine erhöhte, „Schlitten“ (V.6) und „Hütten“ (V.7) eine demgegenüber niedrigere Stellung im Raum auszeichnet. Bezieht man den ersten und letzten Vers in die Klammer ein, stellt sich die Frage, was „Acker“ (V.1) und „Hain“ (V.12) miteinander gemeinsam haben oder voneinander unterscheidet. Mit dieser Frage kann dann die eigentliche Interpretation beginnen. Neben den hier vorgestellten gibt es weitere textstrukturierende Mittel, die wir später kennen lernen werden. Manche dienen einfach der Markierung von Zäsuren und können zur Gliederung benutzt werden. Andere stellen echte Verbindungen zwischen rein grammatisch unverbundenen Textelementen her. Dazu zählen vor allem die Gleichklänge, die ein regelrechtes Klebemittel der lyrischen Sprache sind. Sie sollen jedoch nicht hier, sondern erst in Abschnitt III.7.2 behandelt werden, weil sie nur unter Einbezug der dort bereits eingeführten Begriffe der Versanalyse vollständig gewürdigt werden können.
Andere Kohärenzmittel
4. Der Sprecher und die Angesprochenen In der älteren Forschungsliteratur und bis heute im Deutschunterricht ist es üblich, den Sprecher eines Gedichts als „Lyrisches Ich“ zu bezeichnen. Doch diese Terminologie hat ihre Tücken. Wo beispielsweise steckt das lyrische Ich in folgendem kleinen Gedicht, ,Wünschelrute‘ von Joseph von Eichendorff? Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.
(Eichendorff [2], 32)
Selbstverständlich ist das Gedicht Aussprache eines Ichs. Aber der Sprecher spricht nicht über sich, er sagt nicht „Ich“. Wir erfahren nichts über ,ihn‘,
Sprecher und ,Lyrisches Ich‘
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
nicht sein Alter, sein Geschlecht, seine Lebenssituation. Aber auch in Gedichten, in denen das Personalpronomen „Ich“ vorkommt, liegt nicht automatisch ein ,lyrisches Ich‘ vor:
Textsubjekt vs. rhetorische Lizenzen
JOSEPH VON EICHENDORFF: SEHNSUCHT
HEINRICH HEINE: DIE HEIMKEHR (2)
Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. […] (Eichendorf [2], 80)
Ich weiß nicht was soll es bedeuten, Daß ich so traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. […] (Heine, 164)
Der Unterschied zwischen beiden Auszügen besteht darin, dass bei Eichendorff das Ich selbst Teil der beschriebenen Szenerie ist, bei Heine nicht. Heines ,Ich‘ beschreibt sich selbst in der gegenwärtigen Situation seines Sprechens, während Eichendorffs Sprecher von seiner Gegenwart nichts verrät, sondern von sich selbst in einer vergangenen Situation erzählt. In diesem Fall wird das Erzählte Ich vom Erzählenden Ich abgekoppelt, wobei Letzteres im ganzen Gedicht nicht auftritt. Der Sprecher berichtet von einem Erzählten Ich, bleibt aber als Erzählendes Ich konturlos. Dass die vollständige Deckung des Erzählten und Erzählenden Ich, wie sie in Heines Strophe vorliegt, außerhalb der Lyrik selten anzutreffen ist, könnte es rechtfertigen, zumindest bei dieser Konstellation von einem „Lyrischen Ich“ zu sprechen. Es ist aber keineswegs bloße Pedanterie, darauf zu bestehen, dass mit dem Ausdruck „Lyrisches Ich“ unbedingt behutsam umgegangen werden soll. Denn seine undifferenzierte Verwendung birgt die Gefahr, wichtige Unterschiede zu verdecken, die von den Termini „Sprecher“, „Erzähltes Ich“ und „Erzählendes Ich“ erfasst werden. Außerdem verleitet die Rede vom Lyrischen Ich oft zu einem Kurzschluss auf den Autor. Der Autor jedoch kommt im literarischen Text nicht vor; andernfalls müsste man Eichendorff als Lügner bezeichnen, wenn das beschriebene Ereignis sich in seinem Leben nie zugetragen hat. Das aber wäre Unsinn, uns interessiert eine solche Wahrheit überhaupt nicht. Dennoch muss man sich fragen, ob für einige Gedichte eine Instanz angenommen werden sollte, die irgendwo zwischen dem empirischen Autor und dem Sprecher angesiedelt ist. Sie spielte am deutlichsten dann eine Rolle, wenn ein echtes Lyrisches Ich im oben angegebenen Sinne auftritt. Denn zwischen diesem Ich und seinem Text kann ein mehr oder minder großer pragmatischer Abstand bestehen: Das Ich kann sich als eines profilieren, dem der Leser möglicherweise nicht abnimmt, einen Gedichttext zu produzieren. In narrativen Prosatexten erhält ein Ich-Erzähler immer ein Profil – mal als Chronist einer abgeschlossenen Ereignisreihe (z. B. in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose), mal als Tagebuch- oder Briefschreiber, der fortlaufend seine Erlebnisse notiert (z. B. in Christoph Martin Wielands Aristipp). Sobald nun eine Diskrepanz zwischen dem Stil des Textes und dem vom Ich-Erzähler erwarteten Stil auftritt, bestehen auf Seiten des Lesers die Möglichkeiten, entweder den Roman für schlecht geschrieben zu halten oder die Diskrepanz als Hinweis zu betrachten, dass der Ich-Erzähler über sich selbst keine zuverlässige und wahrhaftige Auskunft gibt. Bei lyri-
4. Der Sprecher und die Angesprochenen
schen Gedichten sieht die Sache anders aus. Denn die hochartifizielle Form (Verse, Metren, Reime etc.) ist per se poetische Sprache und verlangt pragmatisch vom Leser, den Sprecher als Dichter zu imaginieren. Nicht zuletzt hierin liegt wohl der gerade in Lyrikinterpretationen so häufig auftretende Fehler begründet, den Sprecher, vor allem, wenn er sich als Lyrisches Ich präsentiert, mit dem nachweislich dichterisch begabten Autor zu verwechseln. Wie aber verfährt man mit einem Gedicht wie Brentanos ,Der Spinnerin Nachtlied‘? Das Lyrische Ich ist als ,einfaches Mädchen‘ deutlich profiliert, und es wäre gar nicht im Sinne des Gedichts, wenn man seiner Sprecherin zuschriebe, den bei aller Schlichtheit der Sprache dennoch rhetorisch komplexen Aufbau zu verantworten zu haben. Die Sprecherin ist keine Dichterin, aber ihr Text ist ein Gedicht. Anders als bei ähnlich gelagerten stilistischen Diskrepanzen in narrativer Prosa postuliert man jedoch keineswegs eine Unzuverlässigkeit des Lyrischen Ichs, sondern erteilt dem Text die Lizenz, die Aussagen seines Ichs in eine komplexere und schönere Form zu bringen, als das Ich es vermöchte. Diese Lizenz scheint mir nicht, wie Burdorf annimmt, auf die Existenz eines zwischen Autor und Sprecher stehenden ,Textsubjekts‘ zu verweisen (vgl. Burdorf, 194 ff.), sondern auf eine rhetorische Konvention, auf die sich bezeichnender Weise die avancierte Lyrik des 20. Jahrhunderts in immer geringerem Maße verlässt. Auch die zweite grammatische Person kann im Gedicht in verschiedenen Rollen auftreten. Zunächst lassen sich Fälle, in denen das angesprochene „Du“ zur Fiktion des Textes gehört, von Fällen unterscheiden, in denen das „Du“ den Leser meint. Die erste Variante liegt in der Anfangsstrophe von Goethes ,An den Mond‘ vor: „Füllest wieder Busch und Tal / Still mit Nebelglanz, / Lösest endlich auch einmal / Meine Seele ganz“ (Goethe [1], 129). Da hier der Erdtrabant angesprochen wird, kann der Leser als Adressat ausgeschlossen werden. Komplizierter ist die Lage aber beispielsweise in Goethes ,Maifest‘, in dessen sechster Strophe es zu folgender Anrede kommt: „O Mädchen, Mädchen, / Wie lieb ich dich! / Wie blickt dein Auge! / Wie liebst du mich!“ (ebd., 31) Zwar lassen die anderen Strophen des Gedichts keinen Zweifel zu, dass die Adressatin zur selben Welt wie der Sprecher gehört, aber da der Sprecher (als Lyrisches Ich im oben definierten Sinn) durchweg im Präsens spricht, überlagern sich diese Welt und die Welt des Lesers (wie in Heines zweitem Gedicht aus dem ,Heimkehr‘-Zyklus). Zumindest Leserinnen können sich recht direkt angesprochen fühlen; ihr vielleicht vorhandener Wunsch, auch einmal realiter so angesprochen zu werden, kann in der Identifikation mit dem „Mädchen“ imaginär befriedigt werden. Auf solchen und ähnlichen Strukturen basiert zum Teil der Erfolg des Schlagers und der Pop-Musik. Nun kann aber auch bei Gedichten, die eindeutig zur zweiten Variante zählen, die Anrede des Du im Präsens erfolgen; ein berühmtes Beispiel sind die ersten vier Versen von Andreas Gryphius Sonett ,Es ist alles eitel‘, hier zunächst zitiert nach der Breslauer Ausgabe von 1663: DV sihst / wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden. Was diser heute baut / reist jener morgen ein: Wo itzund Städte stehn / wird eine Wisen seyn / Auff der ein Schäfers-Kind wird spilen mit den Herden: […]
(Gryphius [2], 5)
Die Angesprochenen
Anrede des Lesers
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
Da sich in der Welt des Textes keine Instanz findet, die dem angesprochenen „Du“ entspricht, muss der Leser die Anrede auf sich beziehen. Den Effekt einer solchen Leseradressierung kann man studieren, wenn man die Breslauer Fassung mit der 26 Jahre älteren Erstfassung in den sogenannten Lissaer Sonnete vergleicht, in der das Gedicht noch ,Vanitas; Vanitatum; et Omnia Vanitas‘ betitelt war und wie folgt anfing: ICh seh‘ wohin ich seh / nur Eitelkeit auff Erden / Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein / Wo jtzt die Städte stehn so herrlich / hoch vnd fein/ Da wird in kurtzem gehn ein Hirt mit seinen Herden: […]
Imperativ
Selbstanrede
Austauschbarkeit von Ich und Du
(Gryphius [1], 7/8)
Im Vergleich wird deutlich, dass das angesprochene „Du“ der späteren Fassung stark verallgemeinernd wirkt. Es könnte problemlos durch ein „Man sieht wohin man sieht […]“ ersetzt werden, wogegen die Lissaer Variante eine solche Substitution nicht zulässt. Aber nicht nur Tempus und Sprecherposition, sondern auch der Modus des Prädikats wirkt auf den Charakter der Anrede. Hier zwei Beispiele, in denen es im Imperativ steht: EINHEITSFRONTLIED
AN DIE DEUTSCHEN DICHTER
Drum links, zwei, drei! Drum links, zwei, drei! Wo dein Platz, Genosse, ist! Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront weil du auch ein Arbeiter bist! […] (Brecht, 652)
Seid stolz! es klingt kein Gold der Welt Wie eurer Saiten Gold; Es ist kein Fürst so hoch gestellt, Daß ihr ihm dienen sollt! […]
(Herwegh, 44)
Während bei Brecht Personen angesprochen sind, die sich einer bestimmten sozialen Klasse zugehörig fühlen, handelt es sich bei Herweghs Gegenüber um eine Gruppe, der der Sprecher selbst angehört: die Schriftsteller des Vormärz, die zur Unbestechlichkeit aufgefordert werden. Sofern der Sprecher sich selbst in diese Gruppe einschließt, enthält das Gedicht auch eine Selbstanrede. Auch in Texten, die den Indikativ verwenden, kann das „Du“ oft als Selbstanrede des Sprechers interpretiert werden – und in den allermeisten Fällen wird dann, wie bei Gryphius, die Aussage zugleich einen hohen Grad an Allgemeingültigkeit beanspruchen. In den folgenden Versen spielt Gottfried Benn, in dessen Gedichten sich alle Funktionen des „Du“ finden, mit der Austauschbarkeit von „Ich“ und „Du“ im Gedicht. Du liegst und schweigst und träumst der Stunde nach, der Süssigkeit, dem sanften Sein des Andern, keiner ist übermächtig oder schwach, du giebst und nimmst und giebst – die Kräfte wandern. […]
(Benn, 452)
Es ist irrelevant, ob „Du“ eine Selbstanrede oder die Anrede eines bzw. einer Anderen ist, weil ein vollkommener Ausgleich beider Instanzen in der Strophe beschrieben wird. Während bei Benn das Ich und das Du austauschbar sind, aber zwei verschiedene Personen bezeichnen, zeigt die erste Strophe aus Goethes ,Elegie‘, dass der Sprecher auch im selben Gedicht von sich in beiden grammatischen Personen sprechen kann:
4. Der Sprecher und die Angesprochenen
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Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen, Von dieses Tages noch geschloßner Blüte? Das Paradies, die Hölle steht dir offen; Wie wankelsinnig regt sich‘s im Gemüte! – Kein Zweifeln mehr! Sie tritt ans Himmelstor, Zu ihren Armen hebt sie dich empor. […] (Goethe [1], 381)
Historisch betrachtet, könnte die mehrfache Funktion des „Du“ – als Selbstanrede, Anrede eines Anderen und als Verallgemeinerungssignal – in der literarischen Tradition des Zwiegesprächs mit der eigenen Seele oder dem Herzen verwurzelt sein. Das Mittelalter füllte ganze Bände mit Streitgesprächen zwischen einem Sprecher und seinem Herzen, und noch Goethe schreibt ganz selbstverständlich „Herz, mein Herz, was soll das geben, / was bedränget dich so sehr?“ (Goethe [1], 96) Im Barock, als die Seele noch wichtiger war als das Herz, schrieb Daniel Czepko von Reigersfeld:
Du: Herz und Seele
DANIEL CZEPKO VON REIGERSFELD: SUCH IN DIR, DU KOMMST FÜR. AN DAS GEMÜTHE
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Auff Seel, auff, auff! was machst du in der Welt? Allhier ist dir noch Lust, noch Trost bestellt: Geh immer fort, biß du den Himmel funden, Brich durch die Zeit, in die du bist gebunden. Es eilt ja all‘s auff seinen RuhOrt zu: Der Mensch sucht selbst im Leben nichts als Ruh: In Gott ist Ruh und in der Ruh das Leben, Nach welchem wir voll Geist und Glauben streben. Du siehst ja selbst, sol Gott dein Leben seyn, Und lebst ohn ihn, bist du in Todes Pein […] (Czepko, 73)
In diesen frommen Versen ist der Übergang von der angesprochenen „Seel“ zu den verallgemeinernden Ausdrücken „Mensch[en]“ (V.6) und „wir“ und wieder zurück ohne Umstände möglich, weil sie alle dasselbe bedeuten. Ihr rascher Wechsel signalisiert einen hohen Allgemeingültigkeitsanspruch, indem er hervorhebt, dass der Sprecher das, was er ,in sich‘ erkannt hat, umstandslos auf ein „wir“ und alle „Menschen“ überträgt. Die Beachtung des Sprechertyps und der Funktionen des Angesprochenen spielt eine Rolle bei der Charakterisierung eines Gedichts. Die Analyse des Sprechers muss aber den gesamten Stil seines Sprechens berücksichtigen, seine Wortwahl, seinen Satzbau, seine Haltung gegenüber seinem Text. Zu den auffälligsten Stilmerkmalen gehört der grammatische Modus einer Rede, der besonders dann hervorsticht, wenn sie statt des ,üblichen‘ Indikativs den Imperativ oder, wie in dem folgenden Gedicht Johann Wilhelm Ludwig Gleims, den Konjunktiv verwendet: AN DORIS Könnt ich Holz, wie Menschen schnitzen, Lauter Nimfen wollt ich schnitzen; Könnt ich Marmorsäulen hauen, Lauter Nimfen wollt ich hauen;
Sprecher und Stil
Konjunktiv
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation 5
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Könnt ich nur Tapeten wirken, O! so wirkt‘ ich lauter Nimfen; Lauter zärtliche Blondinen, Lauter willige Brunetten, Und die zukkersüsse Schöne, Die mich ietzt so zärtlich küßte, Sollte mir zum Muster dienen.
(Gleim [1], 16)
,An Doris‘ präsentiert eine Männerphantasie, die als Phantasie durch den Konjunktiv Potentialis kenntlich gemacht wird. Um der Auffassung, er führe einen liederlichen Lebenswandel, vorzubeugen, erklärte Gleim in Vorworten zu seinen Gedichtausgaben, dass seine Person tunlichst mit den Sprechern seiner Gedichte nicht zu verwechseln sei. Das obige Gedicht führt eine solche Identifikation aber auch durch seine Machart ad absurdum. Setzt man den Dichter Gleim als Sprecher des Textes ein, so besteht dessen Witz darin, dass der Sprecher zwar weder Holzschnitzer oder Steinmetz noch Tapetenwirker ist, dafür aber ein Versifex, der das Pendant zu den geschnitzten, gemeißelten oder gewobenen „Nimfen“ (= Nymphen: antike Quellgöttinnen, überwiegend nackt vorzustellen) im Lied liefert. Dann aber ist zu diesen nicht aus Fleisch und Blut bestehenden Frauen auch das Modell in den letzten drei Versen zu rechnen. Gestützt wird diese Lesart durch die komplizierte grammatische Konstruktion der letzten beiden Verse. Denn das Prädikat „küßte“ kann sowohl ein Indikativ wie auch ein Konjunktiv sein; im ersten Fall handelte es sich um ein Imperfekt, im zweiten Fall um einen Irrealis. Wenn man „küsste“ als Konjunktiv auffasst, dann fehlt dem Satz von vornherein jeglicher Behauptungscharakter. Die andere Lösung, das Prädikat als Imperfekt aufzufassen, wird scheinbar durch das präsentische Zeitadverb „ietzt“ blockiert. Doch der Schein trügt; die Kombination eines Verbs im Präteritum und eines Zeitadverbs, das sich wie „heute“, „morgen“ oder „jetzt“ auf die Gegenwart des Sprechers bezieht, ist in einem Fall möglich und sprachlich korrekt, nämlich dann, wenn sie in einem fiktionalen Text auftritt (vgl. Hamburger, 64 ff.). Sie ist ein klares Fiktionalitätssignal. Die Analyse zeigt somit, dass in beiden Fällen – Irrealis und Imperfekt – der Satz selbst seinen Realitätsbezug bestreitet. Und dies gehört zu den Grundzügen der Gleimschen Anakreontik, dass sie jederzeit den Eindruck unterdrücken will, es mit der Erotik, von der sie allenthalben spricht, ernst zu meinen. Ob Gleim dies wusste? Zumindest wäre es ihm ein leichtes gewesen, das „küßte“ durch ein „küsset“ zu ersetzen.
5. Text und Kontexte Kontexte
Interpretation ohne Kontext
Zu den Kontexten eines Textes lässt sich alles zählen, was nicht dem Text selbst angehört, aber auf ihn beziehbar ist. Dazu gehören der Autor, sein Werk und vielleicht dessen Titel, seine Leser, die Werke anderer Autoren, der Ort der Publikation sowie das politische, wirtschaftliche und kulturelle Geschehen zur Zeit der Entstehung des Gedichts. Bisweilen lässt sich die Behauptung hören, ohne Kontexte sei ein Text nicht richtig zu verstehen. Das trifft nur eingeschränkt zu. In gewisser Weise ist eine konsistente Inter-
5. Text und Kontexte
pretation auch dann zu akzeptieren, wenn sie den historischen Tatsachen widerspricht. So kann beispielsweise die Analyse eines Barockgedichts ein Liebeskonzept zu Tage fördern, das es nach einhelliger Meinung aller Barockforscher in dieser Epoche noch nicht gab. Eine Überprüfung der Argumente könnte dann ergeben, dass einzelne Ausdrücke des Gedichts in einem dem Interpreten aus seinem Alltag geläufigen Sinn verstanden wurden, den sie aber zur Entstehungszeit des Gedichts noch nicht hatten. Der Einwand greift also auf ein sprachhistorisches Wissen zurück, das mit beträchtlichem Aufwand in manchmal jahrzehntelangen Forschungen entwickelt wurde – und sich, worüber ein Blick in die Geschichte der Sprachwissenschaft belehrt, kontinuierlich weiterentwickelt. Der Rückgriff auf ein so unsicheres Wissen ist nicht zulässig, um eine Interpretation im strengen Sinne als falsch zu bezeichnen. Theoretisch noch unzulänglicher ist der Hinweis auf etwaige Selbstdeutungen des Autors. Denn selbst, wenn er irgendwo erklärt hätte, wie sein Gedicht zu verstehen sei – warum sollten wir ihm glauben? Autoren erzählen so manches, wenn sie im Rückblick über ihre Texte sprechen, und manche lügen sogar bewusst, um Leser, die nicht selbst denken wollen, auf ,falsche‘ Fährten zu locken, die wiederum, weil auch Autoren fehlbar sind, sich am Ende als richtige Fährten entpuppen könnten. Unstrittig ist aber, dass Kontextwissen zumindest eine wichtige Hilfsfunktion bei der Interpretation zukommt. Es hilft, konsistente Interpretationen zu entwickeln, die oft gerade nicht zustande kommen können, wenn man einen Text auslegen will, als stamme er von einem Autor der eigenen Zeit. Letzten Endes ist die entscheidende Frage, was wir von einer Interpretation erwarten. Die Relation von Text und Kontext ist eine Erklärungsrelation; es geht darum, entweder einen Text aus dem Kontext zu erklären oder den Kontext aus Texten zu rekonstruieren. Die erste Erklärungsrichtung findet man häufig in literaturwissenschaftlichen, die zweite in geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen. Während eine kontextlose, konsistente Interpretation als literaturwissenschaftliche Fingerübung akzeptabel erscheint, ist sie wissenschaftlich gesehen eine ziemlich sterile Angelegenheit. Sie beantwortet die Frage, wie ein Text verstanden werden kann, aber nicht die Fragen, wie er verstanden wurde und warum er so ist, wie er ist, und nicht anders. Dass über die Modellierung der Text-Kontext-Relation und über die resultierenden Einzelerklärungen von Texten kein Konsens zu erzielen ist, spricht nicht gegen die Fragen. Denn so sind die Verhältnisse in allen Wissenschaften, deren Arbeit noch nicht beendet ist. An den Modellen der Kontextualisierung wirken konkurrierende Literaturtheorien mit, deren Komplexität den Versuch von vornherein ausschließt, sie kurz und knapp vorzustellen. Ein überschaubares Sonderproblem der Kontextualisierung soll jedoch wenigstens gestreift werden, weil es für die Interpretation von Gedichten von Belang ist. Es ist nämlich theoretisch strittig, ob Gedichttitel zum Text oder zum Kontext zählen. Meines Erachtens lässt sich die Frage nicht pauschal beantworten. Rein formal betrachtet, sind Titel Teil des Kontexts bei allen Gedichten, die ein Reimschema und ein Metrum aufweisen, aus denen die Titel herausfallen. Dass selbst ,Formalisten‘ daraus keinen Grundsatz ableiten können, liegt vor allem an einer Unzahl nicht gereimter und nicht metrisch regulierter Gedichte. Andererseits übernimmt der Titel oft die Aufgabe, wie eine Autorenaussage die Polyvalenz des Textes einzuschrän-
Der Autor als Kontext
Heuristische Annahmen Kontexte in der Interpretation
Der Titel
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
ken. Titel dieses Typs lassen sich für heuristische Annahmen nutzen und gehören streng genommen zum Kontext. Wenn z. B. Gottfried Benn ein Gedicht, dessen zwei Strophen mit den Worten „Welle der Nacht“ beginnt, ,Welle der Nacht‘ betitelt, dann will er uns wohl sagen, dass dieser Ausdruck im Zentrum unserer Interpretation stehen sollte. Benns Hinweis im Titel ist aber einerseits wegen der doppelten exponierten Nennung des Ausdrucks redundant, andererseits verpflichtet er uns nicht, ihm unter allen Umständen zu folgen. Zuletzt jedoch gibt es auch Titel, die dergestalt in ein Wechselspiel mit dem Text treten, dass sich ihre Zurechnung zum Kontext verbietet. In den zwölf Versen von Rilkes Gedicht ,Der Panther – Im Jardin des Plantes, Paris‘ ist von einem Tier nicht die Rede (vgl. Rilke, 451). Die Unterbringung der Sachinformationen in Titel und Untertitel ermöglicht eine starke Anthropomorphisierung des Eingesperrten. Die Interpretation würde fehlgehen, wenn sie nicht sowohl beachtete, dass der Text von einem Panter handelt (von einem gefährlichen, nicht gebändigten, sondern eingesperrten und mürbe gemachten Raubtier), als auch berücksichtigte, dass die Anthropomorphisierung auf ein implizites Menschenbild schließen lässt.
6. Form mit semantischen Effekten: der Vers Vers: vorläufige Definition
Die bisher vorgestellten Analyseverfahren haben den wesentlichen Eigenschaften lyrischer Gedichte keine Rechnung getragen. Sie vorzustellen war dennoch unerlässlich, weil ohne sie eine komplexe Untersuchung von Gedichten nicht möglich ist. In den folgenden Abschnitten sollen nun Verfahren eingeführt werden, die sich auf das Hauptmerkmal der Lyrik, ihre Versschreibung, beziehen. Unter einem Vers wird hier pragmatisch (und mögliche Einwände nicht berücksichtigend) jeder Teil eines Textes verstanden, der nicht die ganze Breite einer Buchseite oder eines Schreibblattes in Anspruch nimmt. Ob diese Definition zulänglich ist, wird im Theoriekapitel zu erörtern sein; als Basis für die Einführung der analytischen Verfahren genügt sie. Ein Verstext, und das heißt, ein Gedicht, ist in diesem Sinne auch dieser Text: Ein Verstext, und das heißt, ein Gedicht, ist in diesem Sinne auch dieser Text.
Verscharakteristika
Das ist zweifellos weder ein gutes noch ein bedeutendes Gedicht, aber es ist ein Gedicht. Im Unterschied zu der Prosafassung darüber sind die Zeilen des Verstextes gebrochen. Dass sie verschieden lang sind, ist kein notwendiges Kennzeichen von Versen, macht aber sinnfällig, dass sie als eigenständige sprachliche Einheiten neben den syntaktischen Einheiten aufzufassen sind. Ein Verstext besitzt somit, wie man sagt, eine doppelte fundamentale Ordnung. Um sich diese Tatsache zu verdeutlichen, empfiehlt es sich, Gedichte laut zu lesen und dabei am Ende des Verses eine merkliche Pause einzulegen. Verse zeichnet aus, dass sie einen Anfang und ein Ende haben und darüber hinaus ein Ganzes bilden. Alle drei Merkmale sind interpretationsre-
6. Form mit semantischen Effekten: der Vers
levant. Die beiden Außenpositionen des Verses sind exponierte Stellen, an denen bevorzugt wichtige Wörter platziert werden. Besonders bei reimlosen Gedichten erhält das Schlusswort des Verses Gewicht, weil prinzipiell auch jedes andere Wort diese Position einnehmen könnte. Das können wir uns an einigen Versen aus Hölderlins Hymne ,Der Mutter Erde‘ (links) und einer von mir zu Testzwecken erstellten Variante (rechts) deutlich machen: […] Aber freudig ernster neigt Bald über die Harfe Der Meister das Haupt und die Töne Bereiten sich ihm, […] (Hölderlin, 138)
[…] Aber freudig ernster Neigt bald über die Harfe der Meister Das Haupt Und die Töne bereiten sich ihm, […]
Der Unterschied wird im zweiten Vers sehr deutlich. Das Musikinstrument, das in der Originalfassung seine Selbstständigkeit wahrt, hat der Meister in der Variante voll im Griff. Zumal, da das Satzglied „das Haupt“ in den nächsten Vers verbannt ist, evoziert die Variante den Eindruck einer die Harfe dominierenden Körperbewegung des Meisters. An dem Beispiel lässt sich des Weiteren nachvollziehen, dass die Versenden nicht nur die wichtigeren Wörter bringen, sondern diese Wörter auch miteinander durch deren gemeinsame Position verbinden und damit den Gesamtcharakter einer Versgruppe prägen. An die Stelle des demütigen Sich-Neigens und der musikalischen Isotopie (Harfe, Töne) im Original treten in der Variante Begriffe, die Dominanz signalisieren, der ernste Meister und das Haupt. Der Charakter der Verse hat sich grundlegend verändert. Da Versenden Isotopien exponieren können, empfiehlt sich für eine erste Annäherung an ein Gedicht als Test, die Schlusswörter der Verse einmal in einer Reihe zu notieren und sich über deren Beschaffenheit Gedanken zu machen. Dass derartige Effekte bisweilen auch in gereimten Gedichten auftreten können, zeigt eine Notierung der Versschlusswörter aus Brentanos ,Der Spinnerin Nachtlied‘ (s. o.): Jahren / Nachtigall / Schall / waren. // weinen / allein / rein / scheinen. // waren / Nachtigall / Schall / gefahren. // scheinen / allein / rein / vereinen. // gefahren / Nachtigall / Schall / waren. // vereinen / allein / rein / weinen.
Die monotone Wiederholung derselben Reime bildet mimetisch das Umlaufen des Spinnrades und die Unfähigkeit der Sprecherin ab, das Kreiseln ihrer Gedanken zu durchbrechen. Exponiert werden die mehrfach genannten Wörter „Schall“ (3x), „Nachtigall“ (3x), „waren“ (3x), „allein“ (3x), „rein“ (3x) und „weinen“ (2x), „gefahren“ (2x), „scheinen“ (2x), „vereinen“ (2x), die das thematische Grundgerüst angeben, um das die Gedanken der Sprecherin kreisen. – Wieder etwas anders gelagert ist die Nutzung der Versenden in den beiden Schlussversen der zweiten Strophe des Gedichts ,Getrennte Liebe‘ von Achim von Arnim: Der Winter bauet Brücken, Sie beide hat vereint, Und jedes mit frohem Entzücken Die Brücke nun ewig meint; Diesseit und jenseit am Wasserfall Wohnten die Ältern getrennt im Thal. […]
(Arnim, 131)
Das Versende
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Der Versanfang
Anapher
Während die Verse eigentlich sagen, dass die beiden liebenden Kinder mit ihren Eltern am Fuß des Wasserfalls wohnen, konnotiert die Reihenfolge von „Wasserfall“ und „Thal“ zugleich eine Abwärtsbewegung im Raum, die auf das spätere Schicksal des Liebespaares – Tod im Wasser – vorausdeutet. Versanfänge dienen seltener als Versenden der Exponierung semantisch tragender Ausdrücke. Denn erstens ist es im Deutschen schwerer als in artikellosen Sprachen (wie dem Lateinischen), einen Satz oder einen syntaktisch zusammenhängenden Satzabschnitt – ein sogenanntes Syntagma – mit einem semantisch schwergewichtigen Substantiv zu beginnen. Damit ein Vers mit einem Substantiv beginnen kann, müsste der Artikel das Schlusswort des vorangehenden Verses bilden und dadurch ein Gewicht erhalten, das ihm der Autor in vielen Fällen wohl nicht geben will. Und zweitens folgt die Aufmerksamkeit beim Lesen einem Schema, dem zufolge mit dem Bekannten und daher weniger Wichtigen begonnen und zum unbekannten Wichtigen fortgeschritten wird: Dem Thema folgt das Rhema der Aussage. Häufiger als zur Hervorhebung eines einzelnen Wortes wird der Versanfang daher zu einem anderen Zweck genutzt. Sätze oder Syntagmen, aber eben auch Verse, können mit ein und demselben Wort oder derselben Wortkette beginnen; in diesen Fällen spricht man von Anaphern. Die Wiederkehr desselben Wortes am Versende (Epipher genannt) ist schon deshalb ein seltenerer Fall, weil sie in gereimten Gedichten als unschön gilt. Anaphern gehören wie die Isotopien zu den Textstrukturen (und wurden oben nur deshalb nicht behandelt, weil sie erst als Versanaphern ihre volle Wirksamkeit entfalten). Anders als semantische Isotopien haben sie jedoch keine primär-inhaltliche, sondern eine textgliedernde Funktion. Sie ordnen bestimmte Aussagen einander zu und grenzen die so gebildeten Gruppen gegen andere Gruppen ab. Die anaphorische Struktur von Trakls Wintergedicht ist oben nicht eigens herausgearbeitet worden, kann aber leicht nachvollzogen werden: Die Verse beginnen mit den Worten „Der“, „Der“, x „Und“ / „Ein“, „Ein“, x, „Und“ / „Ein“, „Und“, „Das“, x (wobei „x“ für Versanfänge ohne anaphorischen Bezug steht). Die Struktur ,Anapher, x, „und“‘ macht die erste und zweite Strophe als gegeneinander abgesetzte Einheiten kenntlich. An sich wäre der Befund nicht spektakulär, dass zwei durch Reimordnung und Typographie ohnehin abgegrenzte Strophen noch zusätzlich durch Anaphern als Einheiten markiert werden. Interessant ist die anaphorische Struktur aber aus zwei anderen Gründen. Erstens legt die Wiederholung des „Und“ nahe, nach einer Gemeinsamkeit des vierten, achten und zehnten Verses zu suchen; diese Verkettung wäre in einem Prosatext kaum wahrnehmbar. Erst die Versschreibung in Kombination mit der Sensibilisierung des Lesers durch die hervorstechenden Anaphern der ersten beiden Strophen macht das dreifache „Und“ sinnfällig. Zweitens lässt die Analyse der Anaphern ein Thema erkennen, das als ,Auflösung der bestehenden Ordnung‘ bezeichnet werden könnte und auf keiner anderen sprachlichen Ebene so klar hervortritt. Bestehende Ordnungen werden dreifach aufgelöst: (a) Im Gegensatz zu den ersten beiden enthält die dritte Strophe keine internen Anaphern; (b) die Position des strophenübergreifenden anaphorischen „Und“ hat sich in der dritten Strophe vom vierten auf den zweiten Vers verschoben; (c) der Artikel „Das“ kann nur
6. Form mit semantischen Effekten: der Vers
noch mit erhöhtem Erklärungsaufwand in die anaphorische Ordnung einbezogen werden, wenn man ihn als Ausdruck beschreibt, der aufgrund seiner Zugehörigkeit zur selben Wortklasse zu der Anapher der ersten beiden Verse des Gedichts („Der – Der“) eine enge Beziehung unterhält. Diese ,Auflösung bestehender Ordnungen‘, die sich der oben analysierten Klammerstruktur widersetzt, müsste eine umfassende Interpretation des Gedichts auswerten. Nach den Außenpositionen des Verses sind nun die Effekte zu untersuchen, die sich ergeben, wenn man einen Vers als ein Ganzes betrachtet. Oftmals nehmen Verse einen Satz oder ein geschlossenes Syntagma in sich auf und verstärken dann nur den Eindruck eines auch ohne Versschreibung bestehenden Zusammenhangs. Wenn eine solche Vers-Satz-Kongruenz vorliegt, spricht man vom Zeilenstil. Diese Technik erfreute sich, wie man an den bereits behandelten Gedichten von Gryphius und Czepko von Reigersfeld sehen kann, im Barock großer Beliebtheit; hier noch ein extremes Beispiel:
Der Vers als semantische Einheit
Zeilenstil
DANIEL CZEPKO VON REIGERSFELD: EIN SCHLECHTER UNTERSCHEID. DER WELT KINDERSPIEL Die Kinder reiten her auff Stecken: Wir auff Pferden! Die Kinder schlagen aus den Ball: Wir die Beschwerden! Die Kinder treiben umb das Hörnlein: Uns der Wahn: Die Kinder gehn auffs Eyß: Wir auff der Wollust Bahn! […]
(Czepko, 74)
Technisch interessanter sind aber Verse, deren Grenzen nicht mit denen der Syntagmen übereinstimmen. Wenn ein Syntagma auf mehr als einen Vers verteilt ist, spricht man von einem Enjambement. Es findet sich beispielsweise in den Eingangszeilen von Gottfried Benns Gedicht ,Ein Wort‘:
Enjambement
Ein Wort, ein Satz – : aus Chiffern steigen erkanntes Leben, jäher Sinn […] (Benn, 198)
Der erste Vers spricht von bedeutungstragenden Zeichen, dem „Wort“, dem „Satz“ und den „Chiffern“, der zweite Vers von deren Bedeutung, dem „Leben“ und dem „Sinn“. Das Enjambement betont deren Gegenüberstellung und exponiert durch die Versendstellung zugleich das Verb „steigen“, das einen vom Sprecher nicht beeinflussten Vorgang bezeichnet. Die Verteilung von Wort und Sinn auf zwei Verse und die Unwillkürlichkeit ihrer Verbindung lassen hier bereits ahnen, was sich am Ende des Gedichts bestätigt: es kommt zu keiner dauerhaften Verknüpfung von Zeichen und Bedeutung. Neben dem Enjambement lässt sich an den beiden Versen ein weiteres Stilmittel aufweisen. Die normale Satzordnung ist aufgehoben; in sie überführt, würde der Satz lauten: „Erkanntes Leben [und] jäher Sinn steigen aus Chiffern“ (Subjekt, Prädikat, Präpositionalobjekt). Eine solche Vertauschung der Wörter, Inversion genannt, kann in der Lyrik viele Funktionen erfüllen; sie kann die Platzierung eines Reimwortes ermöglichen, sie kann aber auch zwei Wörter mit dem Effekt einer Steigerung der Deutungsmöglichkeiten zusammenrücken, was besonders dann geschieht, wenn die Inversion durch ein Enjambement verstärkt wird:
Inversion
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation FRIEDRICH HÖLDERLIN: HÄLFTE DES LEBENS Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, […]
Vers contra Satz
(Hölderlin, 134)
In diesen Versen tritt das Verb ,hängen‘ durch Inversion in die unmittelbare Nähe der „Birnen“, deren Hängen an den Bäumen der Sprecher zu assoziieren scheint, wenn er es auf das „Land“ überträgt. Das Enjambement ist in diesem Fall von der aufgezeigten Inversion nicht abhängig, weil das Prädikat „hänget“ auch am Ende des zweiten Verses stehen könnte. Abhängig ist es allerdings von der insgesamt inversiven Satzstruktur insofern, als eigentlich dem Subjekt „Das Land“ das Prädikat „hänget“ folgen müsste, woran sich die adverbialen Bestimmungen „mit gelben Birnen und voll mit wilden Rosen“ und „in den See“ anschließen müssten. Das Enjambement aber befreit die grammatisch nicht vollständige Wortgruppe „Das Land in den See“ vom zugehörigen Verb und lässt damit die semantische Opposition des Festen und Flüssigen sowie deren Durchdringung als zugrunde liegende Relation deutlich hervortreten. In den zitierten Versen Benns und Hölderlins werden durch Enjambement und Inversion die Gesamtaussagen modifiziert oder mit weiteren Themenaspekten angereichert. Darüber hinaus kann das Enjambement aber auch Syntagmen so brechen, dass im Vers eine Aussage zurückbleibt, die der Satzaussage widerspricht oder zumindest nicht mit ihr identisch ist. Am deutlichsten zeigt sich dies dort, wo der Satz Negationspartikeln wie „nichts“, „niemand“, „nirgends“, „nie“ oder schlicht „nicht“ enthält, die von ihren Bezugswörtern durch die Versschreibung getrennt werden: Vorwärts aber und rückwärts wollen wir Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie Auf schwankem Kahne der See. […] (Hölderlin, 201)
In dieser Passage aus der dritten Fassung von Hölderlins Hymne ,Mnemosyne‘ wendet sich die Behauptung eines Vor- und Rückwärts-Wollens im ersten zitierten Vers gegen den erst durch Hinzuziehen des nachfolgenden Verses erkennbaren Unwillen, in die bezeichneten Richtungen zu blicken. In Prosa aufgelöst, müssten die Aussagen der beiden Verse also auf zwei Sätze verteilt werden, etwa: „Wir wollen vorwärts und rückwärts“ und „Vorwärts und rückwärts sehen wollen wir nicht“. Nun lässt sich fragen, ob die Versfassung mit Enjambement bloß eine kürzere und ökonomischere Art und Weise ist, dasselbe zu sagen wie mit den beiden Prosasätzen, oder ob sie darüber hinausgehende Effekte hat und eventuell mit den Prosasätzen nicht hundertprozentig identisch ist. Letzteres scheint zuzutreffen. Denn zwei Sätze müssen auf irgendeine Art und Weise zueinander in Beziehung treten, und dieser Zusammenhang wird im doppeldeutigen Satz nicht mitgeliefert. Er könnte in einer einfachen Reihung bestehen, die durch Punkt, Komma oder die Konjunktion „und“ ausgedrückt würde; er könnte aber auch z. B. kausal (,weil wir nicht sehen wollen‘), final (,um zu vermeiden, dass wir sehen wollen‘) oder konzessiv (,obwohl wir nicht sehen wollen‘) zu konzipieren sein. Eine solche Polyvalenz eines Vers-Satz-Gefüges kann zu ihrer Auf-
6. Form mit semantischen Effekten: der Vers
lösung der sorgfältigen Analyse des gesamten Gedichts bedürfen. Möglich ist aber auch, dass selbst am Ende der Analyse zwei oder mehr Bedeutungen übrig bleiben, was für die Interpretation nicht unbedingt schädlich ist, solange man nicht glaubt, dass Gedichte dazu dienen, eine These zu formulieren, sondern zulässt, dass sie vielleicht im Gegenteil eine Frage vorlegen wollen. Häufiger als in ernsten findet die durch Versschreibung unterstützte Aussagenumkehrung in komischen Gedichten Verwendung, dann aber kaum in Kombination mit dem Enjambement, das traditionell der ,tiefsinnigen‘ Dichtung vorbehalten ist. Die Versschreibung dient in solchen Fällen dazu, die schon im Satz angelegte Pointe zu verstärken, wie im folgenden Gedicht Heinrich Heines:
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[I] Saphire sind die Augen dein, Die lieblichen, die süßen. O, dreimal glücklich ist der Mann, Den sie mit Liebe grüßen.
[III] Rubinen sind die Lippen dein, 10 Man kann nicht schönre sehen. O, dreimal glücklich ist der Mann, Dem sie die Liebe gestehen.
[II] Dein Herz, es ist ein Diamant, Der edle Lichter sprühet. O, dreimal glücklich ist der Mann, Für den es liebend glühet.
[IV] O, kennt ich nur den glücklichen Mann, O, daß ich ihn nur fände, 15 So recht allein im grünen Wald, Sein Glück hätt bald ein Ende.
Vers und Pointe
(Heine, 202/3)
In den ersten drei Strophen bedeutet „Mann“ in etwa das gleiche wie „derjenige“, bezeichnet also niemanden im Besonderen, sondern eine Position im Leben, die darin besteht, von der Frau geliebt zu werden, die auch der Sprecher liebt. Die Wendung zur Abschlusspointe leitet der erste Vers der letzten Strophe ein, indem er von einem konkreten Mann spricht. Zugleich hält das Gedicht aber noch über drei Verse hinweg den ,romantischen‘ Ton aufrecht durch das zweimalige „O“, durch Wendungen wie „recht allein“ und durch die romantischen Topoi des „grünen Wald[es]“ und der Sehnsucht, die sich im Wunsch ausdrückt, etwas zu finden, was anscheinend sehr selten ist. Bis dahin artikuliert der Sprecher das Verlangen, jemandem zu begegnen, an dessen Glück er partizipieren, von dem er vielleicht auch das Glücklichsein lernen will. Erst der letzte Vers macht klar, dass die Begegnung aus einem anderen Grund „allein im grünen Wald“ stattfinden soll, nämlich um den Nebenbuhler dort ungestört aus dem Weg räumen zu können. Der Witz des Gedichts besteht also darin, die Inkompatibilität zweier Ideen aufzuweisen, der Liebe zu einer Person und der allgemeinen Menschenliebe, deren höchstes Glück darin besteht, andere Menschen im Glück zu sehen. Abschließend sind nun noch zwei strukturelle Tropen zu betrachten, die teils ohne Versschreibung zustande kommen können, teils aber erst durch Versschreibung zustande kommen oder aber durch sie gebrochen werden. Wenn zwei aufeinander folgende Sätze oder Syntagmen dieselbe syntaktische Struktur aufweisen, spricht man von einem Parallelismus. Ein Beispiel
Parallelismus
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
wäre: „Er ging ins Kino, sie ging ins Theater.“ Der Parallelismus ist in diesem Fall durch die Wiederholung des Prädikats „ging“ markiert, das in der Normalform des Satzes unterdrückt würde. Das jedoch ist keine notwendige Bedingung eines Parallelismus‘, den auch eine Ersetzung des „ging“ durch ein „begab sich“ nicht aufheben würde. Wie man sieht, müssen Parallelismen keineswegs grundsätzlich analoge Inhalte ausdrücken, sondern können auch Gegensätze formulieren, wobei sie dann aber stets auf einen Konvergenzpunkt hinweisen. Im Beispielsatz besteht dieser Punkt im Freizeitverhalten der beiden Personen, das durch den Parallelismus als bedeutender Aspekt ihrer Lebensführung gekennzeichnet ist, der Gegensatz aber in der unterschiedlichen Freizeitgestaltung, die eher Ungutes für die Beständigkeit ihrer Paarbeziehung ahnen lässt. Zerbricht man den Satz jedoch in drei Verse, dann können sich zusätzliche semantische Effekte einstellen: Er ging ins Kino, sie ging ins Theater
Da sich der mittlere Vers als Inversion des Satzes „Sie ging ins Kino“ lesen lässt, deutet die Versfassung eine mögliche Konzilianz der Frau an; wenn jemand bereit ist, um des Beziehungsfriedens willen seine Bedürfnisse zurückzustellen, dann ist sie es, nicht er. Darauf deutet in der Prosafassung nichts hin. In älterer Dichtung, die mit starken Enjambements eher sparsam umgeht, finden sich häufiger Versschreibweisen, die vorhandene syntaktische Parallelismen verstärken wie im folgenden Beispiel: FRIEDRICH SCHILLER: SPRÜCHE DES KONFUZIUS Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, Ewig still steht die Vergangenheit. […]
(Schiller [1], 226)
Das intuitive Gefühl, es mit Parallelismen zu tun zu haben, kann so stark sein, dass man zuerst nicht bemerkt, dass der letzte dieser Verse streng genommen den vorangehenden beiden, die einen echten Parallelismus enthalten, nicht syntaktisch parallel gebaut ist; die Intensität des Eindrucks wird sicherlich durch die Vers-Satz-Kongruenz dieser Versgruppe bewirkt. – Unauffälliger sind Parallelismen, die keiner offenkundigen semantischen Ordnung (wie Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit) folgen: RAINER MARIA RILKE: ERANNA AN SAPPHO
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O du wilde weite Werferin: Wie ein Speer bei andern Dingen lag ich bei den Meinen. Dein Erklingen warf mich weit. Ich weiß nicht wo ich bin. Mich kann keiner wiederbringen. […] (Rilke, 429)
Erst das Enjambement erzeugt den Parallelismus von „lag ich bei den Meinen“ und „warf mich weit“ (Verb, Pronomen, adverbiale Bestimmung), der
6. Form mit semantischen Effekten: der Vers
in einer Prosafassung gar nicht vorhanden wäre. Die Opposition von Liegen und Werfen tritt klarer hervor als im Prosasatz, die doppelte Passivität des sprechenden Ichs wird deutlicher. Solche versabhängigen Parallelismen sind in der deutschen Lyrik allerdings selten. Das Pendant zum Parallelismus ist der Chiasmus, bei dem die korrespondierenden Satzglieder nicht in gleicher Reihenfolge, sondern vertauscht stehen. Chiasmen werden gern gebraucht, wo Gegensätze ausgedrückt werden sollen, können aber auch zur Hervorhebung von Gleichartigkeit verwendet werden. Auch hier finden sich wieder Beispiele bei Schiller:
Chiasmus
DER EPISCHE HEXAMETER Schwindelnd trägt er dich fort auf rastlos strömenden Wogen, Hinter dir siehst du, du siehst vor dir nur Himmel und Meer. (Schiller [1], 251)
Oder: TUGEND DES WEIBES Tugenden brauchet der Mann, er stürzet sich wagend ins Leben, Tritt mit dem stärkeren Glück in den bedenklichen Kampf. Eine Tugend genüget dem Weib, sie ist da, sie erscheinet, Lieblich dem Herzen, dem Aug lieblich erscheine sie stets. (Schiller [1], 253)
Während das Gedicht über den epischen Hexameter den Chiasmus komplett im zweiten Vers realisiert, ist die Konstruktion im zweiten Gedicht komplexer und interessanter. Sie erstreckt sich auf das ganze Syntagma von „sie erscheinet“ (V.3) bis „erscheine sie“ (V.4). Dadurch, dass das erste Prädikat ans Versende tritt, wird das ,Erscheinen‘ hervorgehoben, was die Aufmerksamkeit erstens auf die unterschiedlichen Verbformen lenkt – zuerst ein Indikativ Präsens, dann ein Konjunktiv, der vermutlich eine Aufforderung ausdrückt – , zweitens im Kontext von „Herzen“ und „Aug“ (V.4) schnell zu der Frage führt, ob überhaupt in beiden Teilsätzen „erscheinen“ im selben Sinne gebraucht ist. Die Andeutung einer Bedeutungsverschiedenheit wird durch den Chiasmus verstärkt. Ob sie aber tatsächlich vorliegt, müsste eine Interpretation des eingeschobenen Satzes „sie ist da“ ergeben (V.3). Während hier der Chiasmus also zu einem Interpretationsproblem hinführt, hat er dagegen im Hexametergedicht die bescheidenere Funktion, einen Teilaspekt des Bildes, die Verschiedenheit der Blickrichtungen, zu verdeutlichen und dadurch die Gleichartigkeit dessen, was man erblickt, zu betonen. Die beiden Beispiele sollten gezeigt haben, dass vom Vorliegen einer strukturellen Trope wie dem Chiasmus nicht mechanisch auf eine bestimmte Funktion geschlossen werden darf, sondern die Funktion im Zusammenhang mit anderen Merkmalen des Satzes und der Verse ermittelt werden muss. Da Sätze im Deutschen mehr als ein Objekt enthalten können, sind auch Verse und Sätze möglich, die einen Parallelismus mit einem Chiasmus kombinieren. Diese Mischform findet sich z. B. oft im Cherubinischen Wandersmann des Barockdichters Angelus Silesius, dessen lyrisches Werk zum größten Teil aus kurzen, über das Verhältnis von Mensch, Welt und Gott reflektierenden, spruchartigen Gedichten, sogenannten Epigrammen, besteht:
Tropenkombination
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation MAN WEIß NICHT, WAS MAN IST [A B C A D A D C A B] Ich weiß nicht, was ich bin; ich bin nicht, was ich weiß; Ein Ding und nit ein Ding, ein Stüpfchen und ein Kreis. (Angelus Silesius, 1)
Einen Parallelismus konstituiert die Wiederholung der Struktur ,A x C A x‘, während die Füllung der hier mit x bezeichneten Leerstellen durch die Glieder ,B D‘ und ,D B‘ eine chiastische Struktur besitzt. Bei Angelus Silesius hat die Tropenkombination vor allem eine mimetische Funktion; sie soll die gleichzeitige Einheit und Verschiedenheit des Dargestellten ausdrücken: ICH BIN WIE GOTT UND GOTT WIE ICH Ich bin so groß wie Gott, er ist als ich so klein; Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.
(Angelus Silesius, 1)
Die rational nicht fassbare Einheit von Gott und Ich, die Unio Mystica, spielte nicht nur in der geistlichen Dichtung seit dem Mittelalter eine bedeutende Rolle, sondern hat auch als theologisch antiorthodoxes Konzept die moderne Idee eines seine Welt selbst erschaffenden Individuums vorbereitet, die allerdings keinen jenseitigen Gott mitdenkt, sondern versucht, die Transzendentalität des Individuums rational zu begründen – wovon wiederum der barocke Mystiker Angelus Silesius nichts weiß. Bei ihm sind die beiden Instanzen immer rational getrennt und können nur in einer nicht erklärlichen, aber doch durch syntaktische Konstruktionen evozierbaren Gottes- und Selbsterfahrung, einer meditativen Versenkung, als Einheit erlebt werden.
7. Klangmuster Lyrische Klangmuster unterscheiden sich von den bisher behandelten Strukturen dadurch, dass sie sich unabhängig vom Inhalt der Texte bestimmen lassen. Um sie erkennen zu können, müsste man kein Deutsch verstehen, sondern nur wissen, wie die Schriftzeichen auszusprechen sind. Zu ihrer Bezeichnung steht der Literaturwissenschaft eine ziemlich ausgefeilte und weitgehend einheitliche Terminologie zur Verfügung. Alle Klangmuster entstehen durch Wiederholungen gleicher Elemente auf der Analyseebene der Silben. Sie gehören zwei verschiedenen Typen an, einerseits der tonalen Auszeichnung von Silben gegenüber nicht ausgezeichneten Silben in ihrer Umgebung, andererseits der vokalischen und / oder konsonantischen Übereinstimmung von zwei oder mehr Silben. Muster kommen zustande, wenn die tonalen Auszeichnungen und die Übereinstimmungen in einer erkennbar geregelten Weise wiederkehren. Im ersten Fall spricht man von Metren, in zweiten Fall von Gleichklängen (wozu die Reime gehören).
7. Klangmuster
Metrum und Rhythmus Das Metrum deutschsprachiger Lyrik seit dem Barock beruht auf dem Phänomen der natürlichen Betonung von Wörtern im Deutschen. Wer Deutsch lernt, lernt zugleich, dass in den Wörtern manche Silben mit Nachdruck, andere Silben ohne Nachdruck auszusprechen sind. So heißt es z. B. „Tasse“ und nicht „Tasse“, „Franziska“ und nicht „Franziska“, aber „Franziskaner“ und nicht „Franziskaner“ usw. Nicht in allen Wörtern des Deutschen wechseln betonte und unbetonte Silben einander ab; z. B. nicht in „Steuerberater“ (statt „Steuerberater“). Die oberste Regel zur Bestimmung eines Metrums lautet daher:
Regeln
(1) Stelle fest, welche Wörter eine natürliche Wortbetonung aufweisen und lege diese Betonungen als Basis allen weiteren Analysen zugrunde.
Neben Wörtern mit natürlicher Betonung gibt es eine große Zahl einsilbiger Wörter, die im Satz betont oder unbetont gesprochen werden können. Um über ihre Betonung zu entscheiden, kann man sich auf vier weitere Regeln stützen: (2) Gehe davon aus, dass zwischen zwei betonten Silben maximal zwei unbetonte Silben liegen. (3) Gehe davon aus, dass zwischen zwei betonten Silben mindestens eine unbetonte Silbe liegt. (4) Gehe davon aus, dass eher sinntragende Wörter als Funktionswörter betont werden. (5) Stelle fest, ob es ein Muster der Wiederholung von betonten und unbetonten Silben gibt.
Zu den Regeln (2), (3) und (4) gibt es Ausnahmen, das Wiederholungsmuster aus Regel (5) kann schlicht nicht vorhanden sein. Sehen wir uns dennoch an, wie weit man mit den Regeln kommt. Die Verse „Gelassen stieg die Nacht ans Land, / Lehnt träumend an der Berge Wand“ (Mörike, 71) lassen sich mit ihrer Hilfe metrisch analysieren. Die natürliche Betonung des dreisilbigen Wortes „gelassen“ auf der zweiten Silbe steht fest; gemäß Regel (2) muss sie im Vers auf jeden Fall betont werden. Da erstens nach dieser Regel maximal zwei Silben unbetont bleiben dürfen, und da zweitens die Betonung von „ans“ im ersten Vers nach Regel (5) die unnatürliche Betonung der zweiten Silbe von „Berge“ im zweiten Vers nach sich zöge, bleiben nur zwei mögliche Betonungsmuster übrig: (a) Ge lassen stieg die Nacht ans Land, / Lehnt träumend an der Berge Wand (b) Gelassen stieg die Nacht ans Land, / Lehnt träumend an der Berge Wand
Das zweite der beiden Muster aber wird durch Regel (4) ausgeschaltet, weil es ohne Not Funktionswörter betont, wo man, in Übereinstimmung mit allen anderen Regeln, sinntragende Wörter betonen kann. Genau dies tut Muster (a), das deshalb die korrekte metrische Analyse enthält. Natürlich muss man so pedantisch-akribisch nicht vorgehen, wenn man ein sicheres Gefühl für Betonungen besitzt; das Regelverfahren soll in Zweifelsfällen helfen und in Aufsätzen und Hausarbeiten keinesfalls ausfor-
Sprachgefühl
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
Versfüße
muliert werden. Doch die Regeln (2), (3) und (5) sind zugleich geeignet, ein Phänomen zu erklären, das für die metrische Analyse von größter Bedeutung ist. Die Wiederkehr von Betonungsmustern und das Gebot, zwischen zwei betonten Silben mindestens eine und höchstens zwei unbetonte Silben zu setzen, konstituieren die sogenannten Versfüße. Versfüße sind die kleinsten metrischen Einheiten eines Verses; ihr Kern ist immer eine betonte Silbe, zu der eine oder zwei unbetonte Silben gehören. Die Anzahl der betonten Silben in einem Vers ist daher mit der Anzahl der Versfüße identisch. Das gilt natürlich nur, falls überhaupt Versfüße vorliegen. Denn wenn in der Betonungsfolge keinerlei Muster zu erkennen ist, macht es keinen Sinn, von Versfüßen oder einem Metrum zu sprechen. Versfüße unterscheiden sich nach der Position ihrer betonten und unbetonten Silben. Die betonte Silbe kann am Anfang, am Ende oder, bei dreisilbigen Versfüßen, in der Mitte des Versfußes stehen. Daraus ergeben sich fünf Verteilungsmöglichkeiten: (a) (b) (c) (d) (e)
Auftakt
Skansion
Hebungen, Senkungen
der Trochäus mit einer betonten und einer folgenden unbetonten Silbe (XX) der Jambus mit einer unbetonten und einer folgenden betonten Silbe (XX) der Daktylus mit einer betonten vor zwei folgenden unbetonten Silben (XXX) der Amphibrachus mit einer betonten zwischen zwei unbetonten Silben (XXX) der Anapäst mit einer betonten Silbe nach zwei unbetonten Silben (XXX)
Aufgrund von Regel (2) ist die Menge der Versfüße auf diese fünf beschränkt. Mehr gibt es nicht. Dafür aber gibt es Vorschläge, wie ihre Zahl noch weiter reduziert werden könnte. Sie machen Gebrauch vom Begriff des Auftaktes. Auftakte bestehen aus einer oder zwei Silben am Versanfang, die der ersten betonten Silbe vorangehen. Man kann daher den Amphibrachus als Daktylus mit einfachem, den Anapäst als Daktylus mit doppeltem Auftakt lesen. So gesehen gibt es dann nur noch Daktylen mit unterschiedlich vielen (0, 1 oder 2) Auftakten. Zu bedenken ist aber, dass der Begriff des Auftakts, der wie der weiter unten benutzte Begriff der Kadenz heute weite Verbreitung gefunden hat, ursprünglich nicht Bestandteil des antiken Versfuß-Systems war. An dieser Stelle müssen wir kurz den Status unserer bisherigen Begriffe überdenken. Dass Regel (1) die natürliche Wortbetonung zum Kriterium der metrischen Analyse erhebt, heißt nicht, dass es so etwas wie eine natürliche Betonung des Verses gibt. Verse können, z. B. von Rezitatoren, verschieden betont vorgetragen werden – wie, warum und mit welchen Folgen, werden wir später erörtern. Die streng metrische Betonung ist nur eine von mehreren Optionen. Die Metriker nennen sie Skansion: die gleichwertige Betonung aller betonten und gleichwertige Nicht-Betonung aller unbetonten Silben. Wenn man nun als „Betonung“ die tatsächliche Versbetonung im Vortrag bezeichnet, dann kann damit nicht zugleich die skandierende Betonung gemeint sein. Es hat sich daher eingebürgert, die Silben, die bei skandierendem Vortrag betont gesprochen werden, als Hebungen, die anderen Silben dagegen als Senkungen zu bezeichnen. Ein Trochäus besteht also aus einer Hebung, gefolgt von einer Senkung, ein Daktylus aus einer Hebung, der zwei Senkungen folgen usw. Diese Terminologie übernehmen wir.
7. Klangmuster
Die herausragende Bedeutung des Versendes hat sich bereits bei der semantischen Analyse erwiesen, und auch die Metriker legen aus guten Gründen Wert auf ihre genaue Beschreibung. In den folgenden Versen Johann Wilhelm Ludwig Gleims liegen zwei Varianten von Versenden vor: DER ZUFRIEDENE
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Meine Wünsche sind gestillt! Ehre hab ich mir erworben; Meine Frau ist mir gestorben; Meine Kasten sind gefüllt; Meine Wünsche sind gestillt.
(Gleim [2], 57)
Es handelt sich durchweg um vierfüßige trochäische Verse, aber nur im zweiten und dritten Vers sind die Versfüße vollständig, wogegen in den anderen drei Versen der letzte Fuß irgendwie ,abgeschnitten‘ wirkt. In Fällen wie diesen spricht man von katalektischen, im anderen Fall hingegen von akatalektischen Versen bzw. Versfüßen. Zur begrifflichen Erfassung der Versenden hat sich aber vor allem eine andere Redeweise eingebürgert, die auf den Versfuß keine Rücksicht nimmt, sondern allein darauf sieht, ob die letzte Silbe des Verses eine Hebung ist oder nicht. Man nennt die Versenden Kadenzen (von lat. cadere, cado: fallen) und spricht bei Senkungen von weiblichen (klingenden), bei Hebungen von männlichen (stumpfen) Kadenzen. Die vier Varianten können an den folgenden Beispielen aus der Abteilung ,Zeitgedichte‘ in den Neuen Gedichten von Heinrich Heine verdeutlicht werden: „Wir seufzen nicht, das Aug‘ ist trocken,“ „Solche Bücher läßt du drucken! (,Geheimnis‘) Teurer Freund, du bist verloren!“ (,Warnung‘) katalektisch und weiblich: vier vollständige Jamben und ein unvollständiger Fuß mit Senkung der letzten Silbe
akatalektisch und weiblich: vier vollständige Trochäen mit Senkung der letzten Silbe
„Bis der letzte Dränger flieht – “ „Du schicktest mit dem Flammen schwert“ (,Die Tendenz‘) (,Adam der Erste‘) katalektisch und männlich: akatalektisch und männlich: drei vollständige Trochäen und ein vier vollständige Jamben mit Hebung unvollständiger Fuß mit Hebung der der letzten Silbe letzten Silbe
Der besseren Übersichtlichkeit halber noch einmal nur das Schema in einer Tabelle: katalektisch weiblich
I. [ – [ – [ – [ – [
männlich
III. – [ – [ – [ –
akatalektisch Jambus II. – [ – [ – [ – [
Trochäus
Trochäus IV. [ – [ – [ – [ –
Jambus
Versenden
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
,Prallen‘ und ,Gleiten‘
Man sieht jetzt auf einen Blick, dass ein weiblich endender Jambenvers katalektisch, ein männlich endender Jambenvers akatalektisch sein muss usw. Und man sieht auch, dass sich dieses Schema nicht auf dreisilbige Versfüße ausweiten lässt, da bei ihnen nicht mehr von weiblichen und männlichen Kadenzen gesprochen werden kann. Bei Daktylen sprechen wir daher immer von katalektischen ( – [ [ / – [ oder – [ [ / – ) und akatalektischen ( – [ [ / – [ [) Versenden. In diesem Zusammenhang erscheint der Hinweis auf einen Effekt von größter Wichtigkeit, der sich aus den Kombinationsmöglichkeiten von Auftakten, Versfüßen und Kadenzen ergibt. Er tritt deutlich hervor, wenn man Verse bestimmten Typs zu vierzeiligen Strophen kombiniert: (I und IV) [ [ [ [
– – – –
[ [ [ [
– – – –
[ [ [ [
(II und III) – – – –
[ [ [ [
–[ – –[ –
– – – –
[ [ [ [
– – – –
[ [ [ [
– – – –
[–[ [– [–[ [–
In der linken Spalte prallen beim Übergang vom ersten zum zweiten Vers zwei Senkungen aufeinander; in der rechten Spalte trifft an derselben Stelle eine Senkung auf eine Hebung. Während der Zusammenprall eine Stockung des metrisch alternierenden Lesens bewirkt, kann sich das Metrum in der rechten Spalte ungehindert über den Zeilenwechsel hinweg fortsetzen. Links wird die Eigenständigkeit der Verse beim Lesen tendenziell stärker wahrgenommen als rechts. Beim Übergang vom zweiten zum dritten Vers liegt der Fall fast genau umgekehrt: an dieser Stelle prallen rechts zwei Hebungen aufeinander, wogegen sich links an eine Hebung eine Senkung anschließt. Daraus ergibt sich, dass die linke Strophe metrisch dreigeteilt, die rechte in der Mitte zweigeteilt ist. Diese Gliederung kann eine inhaltliche Gliederung verstärken, sie kann ihr aber auch entgegentreten und inhaltlich Zusammengehöriges trennen, Getrenntes zusammenfügen. Betrachten wir dies anhand zweier Anfangsstrophen aus dem Gedichtszyklus Die Winterreise von Wilhelm Müller: DER GREISE KOPF
DIE KRÄHE
Der Reif hatt einen weißen Schein Mir übers Haar gestreuet. Da meint ich schon ein Greis zu sein, Und hab mich sehr gefreuet.
Eine Krähe war mit mir Aus der Stadt gezogen, Ist bis heute für und für Um mein Haupt geflogen.
(Müller, 51)
(Müller, 52)
In der Strophe des ,Greisen Kopfes‘ fallen der Zusammenprall zweier Senkungen (gestreuet / Da meint‘ ich schon) und die semantische Grenze zwischen abgeschlossener Beobachtung und einsetzender Beobachtungsauswertung zusammen. Die Strophe ist klar zweigeteilt, der Bruch im alternierenden Metrum bestätigt und verstärkt die inhaltliche Gliederung. Im Gegensatz dazu prallen in der Krähen-Strophe zwei Hebungen an den Übergängen vom ersten zum zweiten und vom dritten zum vierten Vers aufeinander, während die
7. Klangmuster
Strophenmitte keine metrische Markierung erhält (gezogen / Ist bis heute). Subjekt des zweiten Teilsatzes ist noch immer „Eine Krähe“ aus dem ersten Teilsatz. Die Strophe wirkt daher sowohl einheitlicher als die Strophe aus dem ,Greisen Kopf‘, weil ihre durch Reimschema und Zeitstruktur („war“ vs. „heute“) vorgegebenen Mittelzäsur durch Metrum und Syntax abgeschwächt wird, als auch dissonanter, weil die metrischen Zäsuren semantisch nicht gedeckt sind: jeder Vers steht für sich. Inhaltlich spiegelt sich dieser Unterschied in der verschiedenen Behandlung eines Grundthemas der Winterreise, der Frage nach Wahrheit und Täuschung: DER GREISE KOPF (FORTS.)
DIE KRÄHE (FORTS.)
Doch bald ist er hinweggetaut, Hab wieder schwarze Haare, Daß mir‘s vor meiner Jugend graut – Wie weit noch bis zur Bahre!
Krähe, wunderliches Tier, Willst mich nicht verlassen? Meinst wohl bald als Beute hier Meinen Leib zu fassen?
Vom Abendrot zum Morgenlicht Ward mancher Kopf zum Greise. Wer glaubt‘s? Und meiner ward es nicht Auf dieser ganzen Reise!
Nun, es wird nicht weit mehr gehn An dem Wanderstabe. Krähe, laß mich endlich sehn Treue bis zum Grabe!
Während sich in ,Der greise Kopf‘ die Täuschung buchstäblich in Enttäuschung auflöst und die Ausdeutung der Beobachtung als falsch erkannt wird, fährt der Sprecher im Krähen-Gedicht fort, sich in seine semi-paranoide Privatwelt einzuspinnen, in der ein sich natürlich verhaltender Aasfresser zum Gegenbild jener untreuen Geliebten umfunktioniert wird, die durch ihren Treuebruch die fluchtartige Reise erst veranlasst hat. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Rezitatoren Gedichte nicht skandierend vortragen, sondern einige Hebungen stärker, andere schwächer betonen. Im Vortrag beschleunigen sie das Tempo und unterdrücken damit Betonungen, und vielleicht entscheiden sie sich sogar, gegen das metrische Schema zu betonen. Solche Freiheiten des Vortrags sind dadurch gerechtfertigt, dass eine bestimmte rhythmische Realisierung eine bestimmte Interpretation hervorbringt, eine andere Realisierung eine andere Interpretation. Deshalb ist es zumindest möglich, wenn nicht sogar erforderlich, zwischen Haupt- und Nebenbetonungen zu unterscheiden. Die beiden Anfangsverse des ersten Sonetts aus August von Platens Gedichtsammlung von 1834 lauten (mit zwei verschiedenen Betonungsmustern und gleichem HebungsSenkungs-Muster): Entled‘ge dich von jenen Ketten allen, Die gutgemutet du bisher getragen, […]
Entled‘ge dichvonjenenKetten allen, Die gutgemutet du bisher getragen,
(Platen, 369)
Es geht ums Dichten, wie Vers 8 unmissverständlich sagt: „Drum laß die frischen Lieder nur erschallen!“ Die besondere Betonung des Wortes „getragen“ in der zweiten Variante könnte befremdlich wirken, weil es sich dabei
Interpretation und Rezitation
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
um ein Füllwort zu handeln scheint: was sonst, außer tragen, sollte man wohl mit Ketten tun? Die Hervorhebung des zeitlichen Gegensatzes in der ersten Variante scheint weit sinnvoller zu sein. Diese Einschätzung ändert sich aber, wenn man die Schlusszeilen liest: Du aber schüttelst ab des Tags Gemeinheit, Wenn dich der heil‘ge Rhythmus trägt nach oben.
Rhythmus
Knittelverse
(ebd.)
Die Ketten können nun als metaphorisches Gegenteil des Rhythmus’ erkannt werden, der vom angesprochenen „Du“ nicht getragen wird, sondern es trägt. Während die erste Variante also den Neuanfang, zu dem das Gedicht aufruft, in den Vordergrund stellt, hebt die zweite Variante seine poetologische Dimension hervor. In den bisherigen Beispielen tangierte die stärkere oder schwächere Betonung mancher Hebungen das metrische Muster der Verse nicht. Doch es gibt Phänomene, die uns zwingen, den sicheren Boden der Metrik zeitweilig zu verlassen. Oben wurde bereits auf Ausnahmen von Regel (2) (nicht mehr als zwei unbetonte Silben) hingewiesen; solche Ausnahmen kommen auf zweierlei Weise zustande: durch feststehende Wortbetonungen und durch bestimmte Verstypen. So lässt sich etwa das Wort „wohlhabender“ (beispielsweise in „wohlhabender Unternehmer“) weder alternierend noch daktylisch betonen. Selbst mit einer Nebenbetonung findet sich das Sprachgefühl kaum ab. Dass ich in der digitalen Bibliothek kein einziges Beispiel einer Verwendung dieses Wortes in einem Gedicht gefunden habe, spricht dann wieder dafür, dass Lyriker Wörter meiden, die gegen die oben aufgestellten Regeln verstoßen. Andererseits gibt es aber auch regelwidrige Verse, nämlich die sogenannten Knittelverse: Verse mit vier Hebungen und einer prinzipiell nicht vorgeschriebenen Anzahl von Senkungen. Selbst, wenn man den zweiten Vers des Verspaares Kauft ihrer, so wenig oder so viel, Als man für einen Dreier geben will, […]
(Goethe [1], 267)
mit einem Auftakt liest, sind die drei Silben „für einen“ Senkungen. Aus diesem Grund haben es einige Metriker für sinnvoll gehalten, neben der Betonung von Silben auch deren Dauer in die Analyse einzubeziehen. Denn die drei unbetonten Silben werden, wenn man sich an die Regel der Vierhebigkeit des Knittelverses hält, wesentlich schneller gesprochen als die Hebungen in ihrer Umgebung. Zwar haben die Knittelverse in der deutschen Lyrik seit dem Barock eine Ausnahmestellung; es gibt keinen anderen Verstyp mit eigner Bezeichnung, bei dem die Zahl der Hebungen feststeht, ohne dass zugleich auch das Metrum entweder auf Daktylen, Trochäen oder Jamben (oder eine Kombination aus zweien dieser drei Versfüße) festgelegt wäre. Aber ganz anders sieht es aus, wenn man die mittelalterliche Versdichtung in die Überlegungen einbezieht. Die Regeln des Knittelverses gelten dort allgemein. Ein Beispiel: Im Parzival Wolframs von Eschenbach finden sich in enger Nachbarschaft die Verse „Condwîr âmûrs, hie lît dîn schîn“ und „Condwîr âmûrs“, die beide mit vier Hebungen zu sprechen sind (Wolfram, 128). Der zweite Vers verstößt klar gegen Regel (3). Daher ziehen es man-
7. Klangmuster
che Mediävisten vor, mit analytischen Methoden zu arbeiten, die Betonung und Silbendauer zusammen als metrischen Rhythmus untersuchen. In Wolframs „Condwîr âmûrs“ muss dann jede Silbe eine Hebung sein, was nur möglich ist, wenn man den Vers gedehnt spricht, während in „Condwîr âmûrs, hie lît dîn schîn“ die langen Vokale nicht alle betont werden dürfen, wenn der Vers nicht mehr als vier Hebungen erhalten soll. Soweit ich sehe, hat der Streit zwischen rhythmischen Metrikern und Skansionsmetrikern allerdings kaum praktische Auswirkungen. Knittelverse jedenfalls erkennt man daran, dass sie um vier Hebungen herum eine ungeregelte Anzahl von Senkungen, aber nur sehr selten mehr als zwei, gruppieren, und dass sie immer gereimt sind. Selbst den Goetheschen Vers vom Dreier kann man nur als Knittel identifizieren, weil ihn Verse umgeben, deren Vierhebigkeit außer Frage steht. Knittelverse einerseits, streng metrische Verse andererseits sind die extremen Pole im Bereich der Verse mit fester Hebungszahl. Von der dazwischen liegenden Fülle von Möglichkeiten sollen nun einige vorgestellt werden. In Eichendorffs siebtem Gedicht aus dem Zyklus ,Der verliebte Reisende‘ trifft der Sprecher in einem Städtchen ein, das wohl sein Heimatort ist, und wird von niemandem erkannt. Bis Vers 15 liegt ein alternierendes Metrum vor, dann erfolgt eine Wende:
15
Da hört‘ ich geigen, pfeifen, Die Fenster glänzten weit, Dazwischen drehn und schleifen Viel‘ fremde, fröhliche Leut‘.
Und Herz und Sinne mir brannten, Mich trieb‘s in die weite Welt, Es spielten die Musikanten, 20 Da fiel ich hin im Feld.
(Eichendorff [1], 129)
Der Einschub von Daktylen in den Versen 16 bis 19 („fröhliche“, „Sinne mir“, „trieb‘s in die“, „spielten die“) spiegelt die Auflösung der bisher gültigen Ordnung. Anders liegen die Dinge in den ersten Versen von Goethes Sturm und Drang-Gedicht ,Es schlug mein Herz‘: Es schlug mein Herz. Geschwind, zu Pferde! Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht. Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht. […] (Goethe [1], 27)
Im zweiten Vers wäre eine metrische Betonung zwar möglich, würde aber beim Vortrag wahrscheinlich nicht realisiert, weil sie dem Sinn des Textes nicht entspricht: das aussagekräftigere „wild“ verdrängt das blasse „wie“ von der Betonungsstelle. Die ,wilde‘ Haltung des Sprechers, der alle Regeln zu überschreiten bereit ist, wird durch die gegenmetrische Betonung zugleich gespiegelt und exponiert. Eine dritte Variante besteht darin, dass ein Gedicht mit zahlreichen Abweichungen vom Regelmetrum durchsetzt ist, ohne dass die Wahrnehmung eines Grundmetrums ganz verunmöglicht würde. Solche Texte nähern sich dem ,Metrum‘ des Knittelverses stark an, unterscheiden sich von ihm aber dadurch, dass sie nur zwei- und dreisilbige Versfüße verwenden und dass sie nicht notwendig vier Hebungen haben, wie in Goethes ,König von Thule‘:
Metrische Variationen
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation Es war ein König in Thule, Ein‘ goldnen Becher er hätt Empfangen von seiner Buhle Auf ihrem Todesbett.
Den Becher hätt er lieber, Trank draus bei jedem Schmaus. Die Augen gingen ihm über, So oft er trank daraus. […] (Goethe [1], 79)
Vieren der acht Verse liegt ein alternierendes Metrum zugrunde (4, 5, 6, 8), in die anderen vier Verse (1, 2, 3, 7) ist je ein Daktylus eingeschoben. Dieses Verfahren dient nicht zuletzt dazu, den Duktus des Gedichts lebhafter zu machen (Volkslied-Ton). Interpretationsrelevant kann der auf diese Weise den Texten verliehene volkstümliche Charakter sein, während die relativ hohe Zahl der Abweichungen es unwahrscheinlich (allerdings nicht unmöglich) macht, dass die abweichenden Stellen einen Schlüssel für die Deutung bieten. Gleichklänge Wörter können sich in klanglicher Hinsicht mehr oder weniger ähneln, d. h. Silben oder Buchstaben, die im Wort eine bestimmte Position einnehmen, können identisch, andere nicht identisch sein. Bei weitem nicht alle, aber eine ganze Menge möglicher Klanggleichheiten werden von Muttersprachlern des Deutschen als auffällig empfunden. Solche Gleichklänge können in zwei Hinsichten unterschieden werden: bezüglich ihrer akustischen Qualität und bezüglich ihrer Position im Wort und im Gedichttext. Unter Berücksichtigung dieser Hinsichten sollen nun die wichtigsten Klangtypen und einige zugehörige Begriffe definiert werden. Am Ende des Unterabschnitts wird auf die semantischen Effekte der Klänge eingegangen und ihr Nutzen für die Interpretation dargestellt. (A) Reim (Definition): Zwei Wörter reimen sich genau dann, wenn sie ab dem Vokal ihrer letzten betonten Silbe in Vokalen und Konsonanten übereinstimmen. Der letzten betonten Silbe können ein oder zwei unbetonte Silben folgen.
Endreim
Der Reim ist in deutschsprachigen Gedichten die am leichtesten zu bemerkende und zugleich am häufigsten genutzte Form des Gleichklangs. Er soll nun zunächst unter dem Aspekt seiner Position im Gedichttext betrachtet werden: 1. Ein Endreim liegt vor, wenn die reimenden Wörter am Ende zweier Verse stehen. Endreime können in verschiedenen Anordnungen vorliegen, und zwar entweder so, dass sie einander direkt folgen, oder so, dass sie durch einen oder mehrere Verse getrennt sind. Daraus ergeben sich drei mögliche Reimschemata: (a) Paarreim: Die Enden zweier unmittelbar aufeinander folgender Verse sind durch Reim verbunden. Das Schema ist: a, a, b, b. (b) Kreuzreim: Die Reime stehen am Ende von Versen, die durch einen weiteren Vers voneinander getrennt sind; dieser Vers reimt seinerseits mit einem Vers, von dem er durch einen der ersten beiden Verse getrennt ist. Das Schema ist: a, b, a, b. (c) Umarmender Reim: Zwei reimende Verse werden durch einen Paarreim voneinander getrennt. Das Schema ist: a, b, b, a.
7. Klangmuster
Alle anderen Kombinationsmöglichkeiten können als Variationen eines dieser drei Schemata beschrieben werden. So kann man beispielsweise bei der Reimfolge a, a, b, b, a entweder von einem erweiterten umarmenden Reim (a, a, b, b, a) oder auch einer Kombination aus zwei Paarreimen und einem umarmenden Reim (a, a, b, b, a) sprechen. 2. Von Binnenreimen spricht man, wenn eines der reimenden Wörter nicht am Versende steht; ob das zweite oder weitere Reimwörter am Versende oder im Versinnern stehen, ist gleichgültig. Zwar unterscheidet man beim Binnenreim keine Schemata, aber man differenziert, wie bei den Endreimschemata, verschiedene Untertypen, die sich hinsichtlich der Position des Reims im Vers unterscheiden, nämlich den Schlagreim, den Inreim, den Mittenreim und den Mittelreim. Burdorf bemerkt dazu mit Recht: „Wenn selbst Fachleute einen Reim nicht aus dem Kopf als Mittel- oder Mittenreim zuzuordnen wissen, sondern deren jeweilige Definition nachschlagen müssen […], ist die Terminologie nicht mehr hilfreich, sondern hinderlich.“ (Burdorf, 34/35) Falls ein Gedicht allerdings nicht nur einen oder zwei Binnenreime aufweist, sondern Binnenreime ebenso regelmäßig verteilt wie Endreime, empfiehlt sich das Nachschlagen, wenn man das Phänomen mit einem Namen versehen will, der es, für andere nachvollzieh- bzw. -schlagbar, identifiziert. Ein Beispiel für einen Binnenreim:
Binnenreim
RAINER MARIA RILKE: SAPPHO AN ERANNA Unruh will ich über dich bringen, schwingen will ich dich, umrankter Stab. Wie das Sterben will ich dich durchdringen und dich weitergeben wie das Grab an das Alles: allen diesen Dingen. (Rilke, 429)
3. Ein Anfangsreim liegt vor, wenn die beiden reimenden Wörter am Beginn der Verszeile stehen. Anders als Binnen- und vor allem Endreime sind Anfangsreime nicht sonderlich auffällig; man muss bei der Analyse besonders aufpassen, dass sie einem nicht durch die Lappen gehen. Außer der Position im Text spielt bei der Unterscheidung von Reimen deren Klangtypus eine Rolle. Hier trifft man auf eine Reihe kleinerer oder größerer Abweichungen von der Standarddefinition, die unter (A) gegeben wurde. 4. Der reiche Reim: Gleichklang der letzten drei Silben eines Verses: „Verderbliche“, „sterbliche“, „erbliche“ immer „-erb-li-che“. Hier handelt es sich einfach um Reime, die sich aus dem Gleichklang von Wörtern ergeben, deren natürliche Wortbetonung daktylisch ist ( – [ [). Es geht auch „gefräßige“ und „mäßige“ oder „entfachende“, „lachende“, „krachende“. 5. Ein rührender Reim (franz.: rime riche) liegt vor, wenn die beiden Reimwörter nicht erst ab dem letzten betonten Vokal, sondern bereits ab dem vorangehenden Konsonanten übereinstimmen. „Zeigen“ und „erzeigen“ (Wilpert), „rührend“ und „verrührend“, „Dekadenz“ und „Evidenz“ (meine Beispiele), während auf „zeigen“ auch „neigen“, auf „rührend“ auch „gebührend“ und auf „Dekadenz“ auch „Lenz“ reimen – jeweils ohne Übereinstimmung der oder des Konsonanten vor dem Vokal der letzten betonten Silbe. Opitz empfand den rührenden Reim als unschön, im Französischen gilt er dagegen als besonders schön.
Anfangsreim
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
Assonanz
6. Als Doppelreime bezeichnet man drei- oder viersilbige Endreime, die zwei Hebungen oder zwei miteinander reimende Wortpaare enthalten. Sie sind gewissermaßen ausgedehnte rührende Reime. Wilpert gibt als Beispiel „Klanggeister“ und „Sangmeister“, bei dem drei Silben mit zwei Hebungen vorliegen. Die Übereinstimmung betrifft, wie man sieht, nicht die Konsonanten der jeweils letzten betonten Silbe, sondern die Silben ab den beiden letzten betonten Vokalen: „-ang“ und „-eister“. Auch „Klagegeister“ und „Waagemeister“ wären möglich (mit einer unbetonten Silbe „ge“ zwischen den beiden betonten Vokalen „a“ und „ei“). Eine Variante des Doppelreims ist der sogenannte 7. vokalischer Halbreim, der z. B. bei „licht war“ und „sichtbar“ vorliegt. Die letzten, normalsprachlich auch unbetont realisierbaren Silben („war“ und „bar“) sind hier betont und stimmen ab dem Vokal überein wie die beiden vorangehenden betonten Silben, wogegen die beiden anlautenden Konsonanten der Schlusssilbe verschieden sind. 8. Der unreine Reim: Während bei den bisher erörterten Varianten die Reimwörter immer ab einem bestimmten Vokal identisch sind (und darüber hinaus noch andere Identitäten aufweisen), liegt beim unreinen Reim eine nur ungefähre Übereinstimmung der Vokale vor. Beispiele wären „reimen“ und „säumen“, „Lügen“ und „Ziegen“. Da das Deutsche nicht eben mit Reimwörtern gesegnet ist, greifen Lyriker auf den unsauberen Reim oft als Notbehelf zurück. Er kann aber vom Leser auch als ,Auflockerung‘ wahrgenommen oder als ,Volkstümlichkeit‘ interpretiert werden, Letzteres, weil er in ,echten‘ Volksliedern gleichfalls häufig ist. Der unreine Reim kommt dem nächsten Klangtypus nahe, der systematisch jedoch gar nicht mehr zu den Reimen gezählt wird, nämlich der (B) Assonanz (Definition): Übereinstimmung der auslautenden Vokale zweier Wörter ab der letzten betonten Silbe.
Alliteration
Ein Beispiel für eine Assonanz wäre „Blume“ und „Kuchen“, aber auch „alles“ und „aber“. Fraglich könnte erscheinen, ob bei „Gabel“ und „schnappen“ eine Assonanz vorliegt, denn wenn man genau hinhört, dann bemerkt man, dass die beiden A-Laute nicht identisch sind: in „Gabel“ lang, in „schnappen“ kurz. Zwischen dem unreinen Reim und der Assonanz besteht in ein spiegelbildliches Verhältnis: Die Assonanz kombiniert Identität der Vokale mit Nicht-Identität der Konsonanten, der unreine Reim Nicht-Identität der Vokale mit Identität der Konsonanten. Wie die Vokale, so können auch die Konsonanten zweier Wörter übereinstimmen, ohne dass ein Reim vorliegt. Hier interessiert vor allem der Fall der Konsonantengleichheit am Wortanfang, den man als Alliteration bezeichnet: (C) Alliteration (Definition): Übereinstimmung der anlautenden Konsonanten zweier auf der ersten Silbe betonten Wörter.
7. Klangmuster
Kein Klangmittel kommt dem Reim an Bedeutung näher als die Alliteration. Konstitutiv für den Versbau sind sie in der althochdeutschen Stabreimdichtung, die keinen Endreim kennt; die Verse weisen je drei alliterierende Wörter auf. Alliterationen sind ein Mittel, das die wichtigen Wörter eines Textes exponiert. Sie erhöhen die Einprägsamkeit eines Textes und sind deshalb auch in der Alltagssprache in nicht wenigen Komposita anzutreffen, wie z. B. in „widerwärtig“, „Leselust“, „Liebesleid“, „Zick-Zack“, „Düsseldorf“ oder „Konsonantenklingelei“. Manche Lyriker schätzen die Alliteration auch als Mittel, Textabschnitte miteinander zu verbinden und voneinander abzugrenzen. In Trakls Gedicht ,Im Winter‘ finden sich zwei Alliterationsreihen, die eine klare Gliederungsfunktion besitzen: (1) „weiß“ (V.1), „Weiher“ (V.3), „Wald“ (V.4), „Wipfel“ (V.5), „Wild“ (V.9) (2) „Rain“ (V.9), „Raben“ (V.10), „Rohr“ (V.11) „Rauch“ (V.12)
Komplett in den Bereich der ersten Reihe fällt eine dritte, wodurch die Zweiteilung des Gedichts durch Alliterationen noch untermauert wird: (3)„Schweigen“, „schwarzen“ (V.5), „schellt“, „Schlitten“ (V.7)
Die verschiedenen Klangvarianten können als Möglichkeiten betrachtet werden, mit dem sprachlichen Material zu spielen. Sie wirken meistens überraschend und dienen dem Dichter nicht selten dazu, Eindruck beim Leser zu machen. Darüber hinaus haben sie historische Bedeutung als Regelverstöße (so der rührende Reim als Verletzung des von Opitz dekretierten guten Geschmacks) oder als ,soziales Signal‘ (Volksliedhaftigkeit des unreinen Reims und der Assonanz). Daher empfiehlt es sich, auch wenn man die Definitionen nicht auswendig lernen mag, die Wahrnehmung von Klangvarianten zu trainieren; die Bezeichnungen kann man dann nachschlagen: Reimtyp
Schema
Beispiele
reiner Reim:
(k)V(k) – (k)(v)(k)
reiner : kleiner : einer Falter: Halter
rührender Reim:
(k)kV(k) – (k)(v)(k)
rührend : verrührend
reicher Reim:
(k)V(k) – (k)v(k) – (k)v(k)
reicherer : bleicherer
Doppelreim:
(k)V(k) – (k)(v)(k) – (k)V(k) – Doppelreim : Koppel (k)(v)(k) heim
vokal. Halbreim:
(k)V(k) – (k)V(k)
Halbreim : Kalb heim
unreiner Reim:
(k)V(k) – (k)(v)(k)
reimen : säumen
Assonanz:
(k)V(k) – (k)(v)(k)
Blume : Kuchen
„k“ = Konsonant oder Konsonantengruppe innerhalb einer Silbe; „V“ = betonter Vokal; „v“ = unbetonter Vokal, „ – “ = Silbengrenze; fett + unterlegt = Identität; „( )“ = kann fehlen
Klangfunktionen
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation Reimbedeutungen
Der Endreim war vom Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert der treue Begleiter des deutschen Verses. Dass er auch von der gegen ihn gerichteten Kritik, mit dem wir uns in Kapitel V befassen werden, nicht beseitigt wurde und bis zum frühen 20. Jahrhundert ein lyrischer Standard blieb, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass viele Autoren in Reimen eine tiefere Wahrheit ausgedrückt sahen. Sie hielten den Reim für eine nicht-zufällige Übereinstimmung und glaubten, dass das, was durch Reimwörter bezeichnet wird, irgendwie enger zusammengehöre als andere Dinge. Der Sprache liegt demnach eine Weisheit zugrunde, die im Gedicht aufscheint. Dem kommt unser Vokabular insofern entgegen, als man im Deutschen etwas Absurdes als „ungereimt“ bezeichnen kann. So reimte im 17. Jahrhundert Friedrich Logau: UNTREUER KRIEG Was sich reimt, das schickt sich auch, Spricht der frische Landes-Brauch. Drum so schickt sich liegen, triegen Auch so fein zu unserm kriegen. (Logau, 22)
Und im 20. Jahrhundert äußerte sich Karl Kraus reimend über den Reim wie folgt: Er ist das Ufer, wo sie landen, sind zwei Gedanken einverstanden.
(Kraus, 94)
Man muss diese Auffassungen nicht teilen, sollte sie aber zur Kenntnis nehmen, weil sie erklären können, weshalb Kraus seine (von Kafka mit Recht bespöttelten) Gedichte höher schätzte als seine stilistisch brillanten Prosasatiren (die Leser von Wittgenstein bis Adorno beeindruckten). Wollte man Logaus Epigramm ernst nehmen, müsste man entweder behaupten, dass unsere Sprache, seitdem sie „liegen“ und „triegen“ durch „lügen“ und „(be)trügen“ ersetzt hat, unehrlicher geworden sei, oder umgekehrt, dass ,unsere‘ Kriege ehrlich geworden sind. Obwohl man gegenüber solcher Sprachmetaphysik heute eher skeptisch eingestellt ist, bleiben bestimmte Effekte der Reimschreibung nachvollziehbar. So wird man z. B. einem Autoren, der „Gott“ auf „Schrott“ oder „Schafott“ reimt, kaum eine religiöse Haltung attestieren, und, wenn Günther Eich im Gedicht ,Latrine‘ „Hölderlin“ auf „Urin“ reimt, verstehen, dass der Dichterkollege hier nicht Gegenstand der Verehrung ist. Ein Blick in die Rezeptionsgeschichte der Werke Hölderlins zeigt, dass dessen Texte oft von nationalistischen und martialischen Ideologien vereinnahmt wurden, gegen die Eichs Polemik gerichtet ist.
Verstypen
Vers- und Strophentypen Die meisten Versmuster, die sich aus den Verteilungsmöglichkeiten der Versfüße ergeben, sind ohne Namen geblieben. Einige aber hat man praktischerweise benannt. Das gleiche gilt für Strophenformen. Die folgende Liste bietet zunächst eine Übersicht über die Verse:
7. Klangmuster Alexandriner Vers commun Blankvers Hexameter Pentameter
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(mit Endreim) (mit Endreim) (ohne Endreim) (ohne Endreim) (ohne Endreim)
Der Alexandriner und der Vers commun stammen aus den romanischen, der Blankvers aus der englischen und der Hexameter und Pentameter aus der griechischen Literatur. Sie wurden zu unterschiedlichen Zeiten und Zwecken in die deutsche Literatur eingeführt. Während die beiden romanischen Verse im 17. Jahrhundert übernommen wurden, um eine strengere Regulierung der Verssprache herbeizuführen, installierten Wieland und Lessing den Blankvers als Standardvers des deutschsprachigen Versdramas, um dessen Autoren größere Gestaltungsspielräume zu eröffnen; in lyrischen Gedichten findet sich der Blankvers seltener. Die beiden griechischen (auch von römischen Autoren verwendeten) antiken Versmaße wurden ebenfalls in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts übernommen und blieben insbesondere für lyrische Gedichte und epische Verstexte reserviert. Die Kombination eines Hexameters und eines Pentameters, das sogenannte Distichon, ist eine Strophenform, die durch die Xenien von Schiller und Goethe berühmt wurde. Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert bezeichnete man aus einem oder einigen wenigen Distichen bestehende, inhaltlich pointierte Gedichte als „Epigramme“, längere, zahlenmäßig nicht festgelegte Folgen von Distichen als „Elegien“. Diese Terminologie war jedoch weder einheitlich noch eindeutig. Während im 16. und 17. Jahrhundert lateinische Epigramme in Distichen verfasst waren, verwendeten deutschsprachige Epigramme derselben Zeit Reime und ,deutsche‘ Versmaße. Erst die Epigrammatik der Klassiker und ihrer Zeitgenossen (Goethes und Schillers ,Xenien‘, Hölderlins Distichen) importierten die antike Form ins Deutsche. Als „Elegien“ und „elegisch“ wiederum bezeichnet man bis heute zugleich Gedichte, die irgendwie ,wehmutsvoll‘, ,traurig‘ oder ,schwermütig‘ klingen, wobei sich die Mengen der beiden Elegientypen natürlich überschneiden. Das Distichon ist eine Möglichkeit, die kleinste, nämlich aus zwei Versen bestehende, Einheit einer wiederkehrenden metrischen Struktur zu gestalten. Solche Wiederholungen gleicher Strukturen in Gedichten – metrischer Strukturen oder auch Reimschemata – bezeichnet man als Strophe. Nicht von „Strophen“, sondern besser von „Versgruppen“ spricht man, wenn Verse nur optisch zusammengefasst werden, also den Gruppen keine einheitliche klangliche Struktur zugrunde liegt. In systematischer Hinsicht sind Strophen nicht sonderlich interessant. Man kann alles, was über die Analyse von Versen gesagt wurde, auf die Analyse von Strophen übertragen, nur dass sie größere Gliederungseinheiten darstellen, weshalb z. B. die Überschreitung einer Strophengrenze durch einen Satz noch auffälliger wirkt als die Überschreitung einer Versgrenze. Doch abgesehen davon, dass dieser Fall noch seltener und noch sinnfälliger ist – im Prinzip unterscheidet er sich von seinem Vers-Pendant nicht. Wie einige Versmaße, so sind auch einige Strophenformen besonders ausgezeichnet worden, indem man ihnen einen Namen gegeben hat. Auch hier ist eine Übersicht hilfreich:
Distichon Epigramm und Elegie
Die Strophe
Strophenformen
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation Chavy-Chase-Strophe [ [ [ [
– – – –
[ [ [ [
– – – –
[ [ [ [
– [ – (a) oder (x) – (b) (a) – [ – (a) (x) – (b) (a)
Vagantenstrophe [ [ [ [
– – – –
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– – – –
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Ballade Antike Formen
Die Terzine
– – – – –
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Sapphische Odenstrophe [ – (a) oder (x) [ (b) (a) [ – (a) (x) [ (b) (a)
Lindenschmidtstrophe [ [ [ [ [
Alkäische Odenstrophe
[ – (a) [ – (a) [ (b) [ – (a) oder (x) [ (b)
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Dritte asklepiadeische Odenstrophe – – – –
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In der linken Spalte finden sich Strophenformen, die der Volkslieddichtung entnommen sind und, wie dort, so auch in der Kunstdichtung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert häufig mit nicht streng alternierenden Metren, sondern mit gelegentlichen Doppelsenkungen zwischen zwei Hebungen ausgeführt werden. Während die Chevy-Chase-Strophe durch ihre durchweg akatalektischen Jamben ein ununterbrochenes Fließen der Sprache erzeugt, hat die Vagantenstrophe nach dem zweiten, die Lindenschmidtstrophe nach dem dritten Vers eine merkliche Zäsur, wenn auf die weibliche Kadenz im nächsten Vers ein Auftakt folgt. Alle drei Strophenformen wurden oft in Balladen genutzt, relativ kurzen Gedichten, die eine Handlung erzählen und meistens Wechselreden der auftretenden Figuren enthalten. Die drei antiken Odenstrophen wurden, wie der Hexameter, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die deutsche Literatur eingeführt. Neben der angegebenen dritten asklepiadeischen Odenstrophe gibt es eine Reihe weiterer Strophen, die auf den griechischen Dichter Asklepiades zurückgeführt werden und daher dessen Namen tragen; sie spielen aber eine weit geringere Rolle in der deutschsprachigen Lyrik als die Strophe in der sogenannten dritten Form (vgl. Frank [2], 338). Wenn ein strophisches Gedicht, das durch Reimlosigkeit und ungewöhnliche Metren auffällt, also in der Regel eine Ode sein wird, durch keines der obigen Schemata beschrieben wird, empfiehlt es sich, die einschlägige Fachliteratur zu konsultieren, um eine genaue Bestimmung vornehmen zu können (Frank [2]; Wagenknecht, 49 ff., wo auch noch weitere Reimstrophen schematisiert werden). Wenn nicht, wie oft bei Klopstock, eine für eigene Zwecke neu erfundene Odenstrophe vorliegt, dann sind Oden entweder alkäisch, sapphisch oder asklepiadeisch; andere Schemata gibt es nicht. Eine Sonderform strophischer Ordnung stellt die Terzine dar, bei der nicht innerhalb einer Strophe, sondern strophenübergreifend ein festgelegtes Reimschema durchgeführt wird. Es reimt sich jeweils der mittlere von drei Versen einer Strophe mit dem Anfangs- und dem Endvers der folgenden Strophe; ein einzelner Vers, der sich auf den Mittelvers der letzten komplet-
7. Klangmuster
ten Strophe reimt, beendet das Gedicht (dieser Vers kann im Druck von der Strophe abgesetzt oder an sie angeschlossen wiedergegeben werden). Der Versfuß der Terzine ist in der Regel ein katalektischer oder akalektischer fünfhebiger Jambus. Die Zahl der Strophen ist nicht festgelegt: Terzine: a b a – b c b – c d c – d e d – … – x y x – y z y – z
Die Terzine stammt aus der italienischen Dichtung des ausgehenden Mittelalters (Dante, Divina Commedia) und wurde von den Romantikern für die deutsche Literatur entdeckt. Außer den bisher behandelten Verstypen und Strophenformen gibt es auch Gedichtformen, bei denen nicht nur der Bau der Strophen festgelegt ist, sondern der Aufbau des ganzen Gedichttextes von der ersten bis zur letzten Zeile. In diese Sparte gehören das japanische Haiku, die Rondeaus und Rondelle des Barock und verschiedene verspielte Formen, die häufig im Schulunterricht verwendet werden. Die mit Abstand populärste und bedeutendste dieser Formen aber ist das Sonett. Es liegt in zwei Grundmustern vor, einer aus Italien stammenden, technisch anspruchsvolleren Variante, und einer aus der englischen Literatur übernommenen Form, die dem Reimmangel in germanischen Sprachen stärker entgegenkommt und trotzdem in der deutschen Literatur weit seltener anzutreffen ist als das italienische Sonett. Das italienische Sonett besteht immer aus zwei Quartetten (vierzeiligen Strophen) und zwei Terzetten (dreizeiligen Strophen). Die acht Verse der Quartette enthalten nur zwei, allermeist umarmende, Reime, die sechs Verse der Terzette hingegen drei weitere Reime in mehr oder weniger beliebiger Anordnung. Die Standardverse des Sonetts sind der fünfhebige Jambus und, besonders im Barock, der Alexandriner; aber auch kürzere Verse und trochäische oder daktylische Versefüße sind möglich; seltener, doch ebenfalls anzutreffen, ist die Verwendung von Versen mit unterschiedlicher Hebungszahl. In der deutschsprachigen Lyrik findet sich nicht selten die Variante eines Reimpaarwechsels vom ersten zum zweiten Quartett. Auch kann der umarmende Reim durch einen Kreuzreim, seltener durch Paarreime ersetzt sein. Im englischen Sonett dagegen stehen drei Quartette mit je eigenen Reimen einem abschließenden ,Couplet‘ (= Verspaar) gegenüber; so ergeben sich z. B.: Mögliche Reimschemata von Sonetten Italienisches Sonett (a) Italienisches Sonett (b) Italienisches Sonett (c) ,Deutsch-Italienisches‘ Sonett (a) ,Deutsch-Italienisches‘ Sonett (b) Englisches Sonett
abba abba abba abba abba abba
abba abba abba cddc cddc cddc
cde cdd ccd efg eff effe
cde cee eed efg egg gg
Deutlich erkennbar ist der Übergang vom italienischen Sonett in der (b)-Variante über die (b)-Variante des deutsch-italienischen Sonetts zum englischen Sonett; dem typographischen Unterschied der beiden letzteren entsprechen oft die Inhaltsstrukturen. Doch die Idee des italienischen Sonetts, nicht aber des englischen, besteht darin, einen Gedanken in drei Schritten
Sonderfall Sonett
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III. Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation
Sonettspiele
zu entwickeln: Das erste Quartett formuliert eine Art Ausgangsüberlegung, die das zweite Quartett erweitert oder problematisiert, woraufhin die beiden Terzette (dreizeilige Strophen) eine Lösung oder Harmonisierung vortragen. Da die Problematisierung im zweiten Quartett oft aus nicht mehr als einer leichten Modifikation der Ausgangsüberlegung besteht, sollte man nicht dem Sprachgebrauch mancher Lehrbücher folgen, welche die drei Schritte als „These“, „Antithese“ und „Synthese“ bezeichnen und damit einen streng logischen Gegensatz zwischen den Quartetten suggerieren, der oft nicht vorliegt. Diese irreführende Terminologie hat ihren Ursprung wohl im eher intellektuellen als emotionalen Charakter vieler Sonette. Wie keine andere Gedichtart hat das Sonett dazu herausgefordert, mit seiner komplizierten Form zu spielen oder sie zu thematisieren. Es gibt nicht wenige Sonette, die, wie Goethes ,Sonett‘ (Goethe [1], 245) oder Robert Gernhardts ,Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs‘ (Gernhardt, 164), die Sonettform selbst zu ihrem Gegenstand machen. Nicht selten sind auch exotische Formvariationen, für die sich ein extremes Beispiel in der angloamerikanischen Literatur findet: das Sonett ,The Cambridge Ladys‘ von E. E. Cummings mit dem spiegelbildlichen Reimschema ,abcd dcba efg gfe‘ (wobei einige Reime alles andere als rein sind). Als besonders schwierige Übung gilt die Anfertigung eines sogenannten Sonettenkranzes, bei dem sich aus je einem, am besten dem ersten Vers von 14 Sonetten ein fünfzehntes Sonett zusammensetzt. Ein Beispiel hierfür ist ,Lillis Sonettenkranz‘ von Arno Schmidt (Schmidt, 161 ff.).
IV. Lyriktheorien Die Interpretation ist nicht die einzige Weise, über Gedichte nachzudenken. Man kann sich auch fragen, was ein Gedicht überhaupt ist, d. h., man kann Lyriktheorie betreiben. Der folgende Überblick dient vornehmlich dazu, mit der historischen Entwicklung dieser Sparte bekannt zu machen. Denn theoretische Reflexionen haben seit jeher die literarische Produktion begleitet und damit zugleich das Literaturverständnis der zeitgenössischen Leser und Autoren geprägt; sie verraten, wie zu verschiedenen Zeiten Lyrik gelesen wurde. Doch außer zur historischen Seite hin müsste die Theorie der Lyrik auch mit systematischem Interesse verfolgt werden, falls es die Literaturwissenschaft damit ernst meint, ihren Gegenstand nach wie vor in die drei Hauptgattungen Drama, ,Epopoe‘ und Lyrik zu unterteilen. Mit diesem Ernst ist es freilich eine besondere Sache. Einerseits produzieren Literaturwissenschaftler in beachtlicher Zahl Einführungswerke, deren Aufgabenteilung der Gattungstrias genau entspricht; andererseits aber überlässt die wissenschaftliche Literaturtheorie eben diesen Einführungen weitestgehend die Arbeit an den Gattungsbegriffen, während sie sich selbst anderswo tummelt. Wenn es zutrifft, dass die Literaturtheoretiker sich hinter dem Rücken ihres Problembewusstseins darauf geeinigt haben, Gattungstheorien als eine obsolete Angelegenheit zu betrachten, dann korrespondiert dieser Haltung zugleich der Zustand der Gegenwartsliteratur, die kaum noch Untergattungen zu kennen scheint und einen nachgerade sportlichen Ehrgeiz an den Tag legt, die literarischen Hauptgattungen kräftig zu mischen. Man war lange Zeit der Auffassung, dass sich Gedichte von Nicht-Gedichten durch die Verwendung des Verses unterscheiden, und entsprechend hatte die vorwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gedicht, von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, gerade auf dessen formale, seinen ästhetischen Vorrang legitimierende Eigenschaften ein scharfes Auge gerichtet. Wohl deshalb ist das formale Vokabular der Gedichtanalyse so gut ausgearbeitet, und wohl deshalb passt es so genau auf jene Gedichte, die zwischen dem Barock und dem 19. Jahrhundert entstanden. Doch vor gut 200 Jahren begann eine Reihe von Veränderungen auf nahezu allen relevanten Ebenen der Poesie, aus denen ,unsere‘ moderne Literaturauffassung hervorging. Aus diesen Gründen kann hier weder eine schlüssige, einheitliche und konsensfähige Gattungsdefinition der Lyrik noch ein Überblick über eine lebendige Forschungsdiskussion vorgelegt werden; allein möglich sind Referate und eine vorsichtige Kritik der wenigen systematischen Arbeiten, die, wie sich zeigen wird, vornehmlich um den Begriff des Verses kreisen.
Ziele des Kapitels
1. Ältere Lyriktheorien Die Ästhetik als philosophische Disziplin, die sich mit den Künsten sowie dem Schönen im Allgemeinen befasst, entstand erst in der Mitte des 18.
Ästhetik, Poetiken
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IV. Lyriktheorien
Gattungspoetik
Aristoteles
Scaliger
Jahrhunderts. Als ihren wissenschaftlichen Ableger kann man die moderne Literaturtheorie bezeichnen, wenn sie ihre Aufgabe darin sieht, „die letztlich nicht aufhebbare Differenz zwischen Literatur und Wissen zu reflektieren“. (Geisenhanslüke, 8) So definiert, verortet sich die Literaturtheorie insofern zwischen Philosophie und Literaturwissenschaft, als ihre Leitdifferenz sich dem allgemeineren philosophischen Gegensatz des Schönen und der Erkenntnis unterordnet. Bevor jedoch diese spezifisch moderne Konstellation entstand, wurden die Künste separat diskutiert und in entsprechenden Theoriewerken behandelt, welche man, wenn sie sich mit der ,schönen Literatur‘ bzw. der ,Dichtung‘ befassen, als Gattungspoetiken bezeichnet. Stark vereinfacht gesprochen, sind Poetiken die Vorgänger der Literaturtheorien. Doch obwohl sie keineswegs philosophieabstinent waren, zogen sie aus einer noch grundlegend anderen Philosophie ganz andere Schlüsse hinsichtlich ihrer Aufgaben und der Aufgaben der Poesie. Die älteste poetologische Abhandlung, die Poetik des Aristoteles‘, ist eine kleine Schrift von ungefähr 50 Seiten, die nach der Einschätzung des Aristotelesherausgebers Manfred Fuhrmann um 335 v. Chr. entstand (vgl. Aristoteles, 154). Die Schrift ist der erhalten gebliebene Teil umfangreicherer Literaturuntersuchungen des Philosophen. Außerdem ist sie unvollständig überliefert; die Darstellung der Komödie, die der Verfasser am Anfang des sechsten Kapitels ankündigt, ist verloren gegangen. Erhalten geblieben sind dagegen die eingehenden Erörterungen der Tragödie und des Epos‘, während die kürzeren Formen, unter denen sich auch solche befinden, die für uns zur Lyrik zählen, nur am Rande gestreift werden. Letzteres liegt nicht nur am episch-dramatischen Interessenschwerpunkt des Philosophen. Vielmehr klammert Aristoteles lyrische Gedichte, wie Fuhrmann vermutet, aus seiner Erörterung weitgehend aus, weil sie sich seiner Definition der Dichtung als Nachahmung (Mimesis) menschlicher Handlungen widersetzt. Fuhrmann meint damit, dass nach älterer Auffassung in einem lyrischen Gedicht der Dichter seine Gefühle und Ansichten ausdrückt, aber nicht, wie im Epos, eine Geschichte erzählt oder von Schauspielern aufführen lässt wie beim Drama. Für uns ist dieser Zusammenhang aus zwei Gründen wichtig. Erstens werden ab dem späten 18. Jahrhundert das Konzept der Dichtung als Mimesis menschlicher Handlungen und die immer bedeutender werdende lyrische Dichtung gegeneinander ausgespielt. Man verknüpft Lyrik nun systematisch mit der Vorstellung einer Selbstaussprache des Dichters. Die gesamte Gattungssystematik ändert sich für die Dauer von etwa 150 Jahren, nur noch drei Großgattungen, das Drama, das Epos und die Lyrik, werden anerkannt und das Mimesisprinzip verabschiedet. Zweitens ist der Zusammenhang für uns bedeutsam, weil wir heute die Lyrikkonzeption, die Aristoteles laut Fuhrmann zur Vernachlässigung lyrischer Gedichte trieb, nicht ohne weiteres teilen. Denn wenn nach heutiger Auffassung der Sprecher eines Gedichts, wie in III.4 erörtert, nicht mit dem Verfasser gleichgesetzt werden kann, sondern als eine vom Autor erfundene ,Figur‘ zu verstehen ist, so könnte sich dahinter eine Applikation der Mimesistheorie auf die Lyrik abzeichnen. Nach einer langen Zeit der Vernachlässigung, während der die Poetik, wie Fuhrmann schreibt, „das Dasein eines Mauerblümchens fristete“ (Aristoteles, 146), griffen im 16. Jahrhundert Dichtungstheoretiker verstärkt auf Aristoteles zurück. Vornehmlich italienische Renaissancehumanisten bau-
1. Ältere Lyriktheorien
ten dessen Gattungssystematik nun zu umfangreichen Theorieansätzen aus. Den größten Einfluss erlangten die Poetices libri septem (Sieben Bücher über die Dichtkunst) von Julius Cäsar Scaliger. Was sie behandeln, sind samt und sonders Verstexte; Prosa zählte bis ins 18. Jahrhundert nicht zur Dichtung. In Scaligers voluminösen Sieben Büchern werden Dutzende von Gattungen dargestellt, unter denen sich, wie man als heutiger Leser mit Verblüffung feststellt, neben den Satiren, Palinodien, Parodien, Dithyramben, Idyllen und Liedern auch die ,lyrischen Gedichte‘ befinden. Was Scaliger als Lyrik bezeichnet, scheint weniger als das zu sein, was wir darunter verstehen, denn für uns zählen Idyllen, Lieder und Hymnen fraglos zur lyrischen Gattung. Der Humanist und seine Zeitgenossen jedoch reservieren den Begriff ausschließlich für Gedichte, die man „nicht ohne Gesang und Leier vor[trägt], woher auch die Bezeichnung lyrische (zur Leier gesungene) Dichtung stammt.“ (Scaliger, 381) Scaliger unterscheidet Gedichte nach der Art des jeweiligen Versmaßes, der behandelten Gegenstände, der Vortragssituation und der damit korrespondierenden Stillage. Steffan Trappen hat in seiner Untersuchung zur Geschichte der Gattungspoetik gezeigt (vgl. Trappen [1]), dass Scaliger damit Kriterien anwendet, die unter die als Diaphora bezeichneten Kategorisierungsrubriken ,versus‘ (Vers), ,res‘ (Sache, Gegenstand) und ,modus‘ (Redeweise) fallen. Während Scaliger bei der Behandlung von Tragödie und Epos direkt an die Poetik des Aristoteles anschließen konnte, musste er bei der Herleitung der Diaphora auf die aristotelische Logik zurückgreifen. Hier fand er die Prinzipien, die eine klare Ordnung aller Dinge und damit auch der poetischen Gegenstände gestatten. Um die Eigenart der lyrischen Gedichte zu bestimmen, genügte ihm ein Diaphoron, das der Vortragssituation und Redeweise: Lyrik wird, wie er sagt, immer zur Musik vorgetragen. Während die anderen beiden Diaphora nicht herangezogen werden können, um lyrische Gedichte von anderen Gattungen abzugrenzen, dient eines der beiden, die Sache (,res‘), dazu, verschiedene Lyriktypen zu unterscheiden, so z. B. die Hymnen, die Päane und die Epinikien, in denen Götter, siegreiche Feldherren und Sportchampions gepriesen wurden. Auf die Identifizierung der Lyrik mit dem Lied trifft man gelegentlich noch heute; unserem Lyrikbegriff entspricht sie aber nicht. In Deutschland setzte eine einzelne Poetik aus dem Jahr 1624 Scaligers Konzeption durch: das Buch von der Deutschen Poeterey des Schlesischen Gelehrten und Dichters Martin Opitz von Boberfeld (vgl. Trappen [2], 88 – 90). Opitz‘ kleines Buch ist ein einzigartig einflussreiches Regelwerk geworden, dessen Geltung ungefähr 150 Jahre lang unbestritten blieb (vgl. Meid, 116). Wie erklärt sich diese Wirkung? Zunächst daraus, dass Opitz kaum Neues erfand, sondern sich an die Spitze von seinerzeit ohnehin vorhandenen Entwicklungstendenzen setzte, die er theoretisch auf den Punkt brachte (vgl. Wagenknecht, 53). Des Weiteren behandelte Opitz‘ Poetik erstmals exklusiv die Probleme der deutschsprachigen Dichtung, und sie war, ebenfalls ein Novum, in deutscher Sprache verfasst. Damit war sie nicht nur den Dichtern selbst verständlich, die als ,gelehrte Männer‘ Latein verstanden und sich an die ausführlichere lateinische Poetik von Scaliger halten konnten, sondern auch den weniger gebildeten Lesern. Die Deutsche Poeterey verband also Produzenten und Rezipienten von Literatur, indem sie ihnen Regeln des niveauvollen Schreibens bzw. Bewertens von Dichtung an die
Martin Opitz
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IV. Lyriktheorien
Lesarten der Deutschen Poeterey
Hand gab. Diese Regeln waren außerdem zahlenmäßig gut überschaubar und leicht memorierbar. Z. B. sollte ein deutscher Vers nach Opitz immer entweder mit männlicher oder weiblicher Kadenz enden (Opitz, 51) und entweder ein „iambicus oder trochaicus“ nach Maßgabe des natürlichen Wortakzents sein (ebd., 52). Eine andere Regel besagte, dass ein auslautendes „e“ vor Konsonanten elidiert, vor Vokalen nicht elidiert werden soll (nicht: „das stellte ich mir vor“, sondern: „das stellt‘ ich mir vor“). Dass solche Regeln nach dem Entweder-Oder-Prinzip funktionieren, erleichterte ihre Vermittlung und entsprach zugleich dem rationalistischen Denken des 17. Jahrhunderts. Für Opitz und seine Zeitgenossen gehören zur Poesie nur Texte, die in gereimten Versen verfasst sind; der Rest ist Prosa und fällt ins Aufgabengebiet der Rhetorik, nicht der Poetik. Relativ unausgearbeitet erscheinen in der Deutsche Poeterey die Kriterien, die zwischen den einzelnen poetischen Gattungen zu unterscheiden erlauben. Nur in der Erörterung von Tragödie und Epos zieht Opitz, im Rückgriff auf die Poetik des Aristoteles, scharfe Grenzen; die anderen Gattungen heißen z. B. „Satyra“, „Epigramma“, „Eclogen oder Hirtenlieder“, „Elegien“, „Hymni oder Lobgesänge“ und zuletzt „Lyrica oder getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen kan“ (ebd., 30 – 33). Die Lyrik erscheint als eine Art Restekategorie, die eine bunte Mischung von verschiedenen Gegenständen präsentieren kann: „buhlerey / täntze / banckete / schöne Menscher / Gärte / Weinberge / lob der mässigkeit / nichtigkeit des todes / etc.“, oder, auf den Punkt gebracht, „alles was in ein kurtz geticht kan gebracht werden“ (ebd., 33). Wie man sieht, verwendet Opitz den Ausdruck „Lyrik“, aber nicht in der heute geläufigen Bedeutung. Sein Lyrikbegriff scheint enger zu sein als unserer; seine Kategorien wirken wenig trennscharf; besonders unplausibel erscheint die Abgrenzung der Lyrik, denn man kann natürlich Hirtenlieder oder Lobgesänge ebenfalls „zur Music […] gebrauchen“. Spätestens an diesem Punkt melden sich allerdings Zweifel an einer Lesart an, die Opitz‘ Werk in ein so schlechtes Licht stellt. Stefan Trappen hat dagegen den Vorschlag gemacht, Opitz von Scaliger her zu verstehen (Trappen [2]). Das Verfahren, die Dinge mit Hilfe von Diaphora zu kategorisieren, bringt es nämlich mit sich, dass ein und derselbe Gegenstand, wie z. B. ein bestimmtes Gedicht, unter mehr als einen Gattungsbegriff gebracht werden kann. Hinsichtlich ihrer Sangbarkeit oder Nicht-Sangbarkeit sind Gedichte der Lyrik zuzuschlagen oder nicht, hinsichtlich ihrer Gegenstände als Hirtenlieder oder Lobgesänge zu klassifizieren. Der Umfang des Lyrikbegriffs ist daher nicht notwendig kleiner als der heutige, denn Lyrik endet nicht dort, wo Lobgesänge, „Epigramma“ und „Eclogen“ anfangen. Ganz im Sinne des Diaphora-Systems entwickelt Opitz dann auch im siebenten Kapitel der Poeterey eine Ordnung nach Versarten, die er in keiner Weise an die Ordnung nach ,res‘ und ,modus‘ aus den vorangehenden Kapiteln knüpft. Er muss es nicht, weil er die Diaphora getrennt voneinander abhandeln kann. Nur von einem theoretischen Standpunkt aus, der neben dem Drama und dem Epos eine weitere poetische Großgattung verlangt, kann es als Defizit erscheinen, wenn Opitz für das Sammelsurium von Dichtungsarten jenseits dieser beiden weder einen Namen noch einen Begriff vorschlägt. Demgegenüber verleiht die von Trappen entwickelte Lesart der Opitzschen Poeterey Konsistenz und Folgerichtigkeit und passt besser zu der Wertschätzung,
2. Gattungstheorie um 1800
die dem Werk des Barockautors in den anderthalb Jahrhunderten nach seinem Erscheinen gezollt wurde. In diesem Zeitraum änderten sich die Prinzipien der Gattungspoetik nicht wesentlich. Hundert Jahre nach Opitz wollte der Leipziger Dichter und Literaturkritiker Johann Christoph Gottsched seine Poetik, den Versuch einer kritischen Dichtkunst, als Versuch anlegen, alle Gesetze und Regeln der Poesie aus einem einzigen, rational begründbaren Prinzip, das dem Wesen der Dichtung entsprechen sollte, abzuleiten, und nicht mehr aus dem Herkommen oder dem gebildeten Geschmack. Diese ,Natur der Poesie‘ findet er (wie Aristoteles) im Prinzip der Mimesis: Dichtung ahme die Wirklichkeit nach. Bereits den Zeitgenossen entging nicht, dass Gottscheds Versuch fehlgeschlagen war. Immer wieder sah er sich gezwungen, dem Geschmack und dem Herkommen Tribut zu zollen und sein ,Prinzip‘ zu unterwandern. Auch an der Abhängigkeit vom aristotelischen Systematisierungsverfahren nach res, modus und versus rüttelte nicht Gottscheds Poetik, sondern erst die Anfangsgründe einer Theorie der Dichtarten von Johann Jakob Engel (1783) (Trappen [1], 160 ff.). Der Nachahmungsbegriff hingegen geriet fast zeitgleich gerade dort in die Kritik, wo die Theoretiker es mit Textsorten zu tun hatten, die kurz darauf unter dem Gattungsnamen der „Lyrik“ zusammengefasst werden sollten. Johann Adolf Schlegel, Theologe und Übersetzer der für Gottsched maßgeblichen französischen Poetik von Charles Batteux, beanstandete dessen Nachahmungsdogma unter Verweis auf das Dichten von „Psalmen und geistlichen Liedern“ in „frommer Andacht“, bei dem keine nachgeahmten, sondern „authentische, wahrhafte“ Empfindungen zum Ausdruck gelangen würden, was auf andere Typen lyrischen Dichtens übertragbar sei (Kemper [2], 68). Hier zeichnet sich bereits ein Umschwung in der Gattungsauffassung ab, an dessen Gestaltung die beiden Söhne des Kirchenmannes, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, bedeutenden Anteil haben sollten.
Gottsched
Engel
Schlegel
2. Gattungstheorie um 1800 Ende des 18. Jahrhunderts setzte eine beispiellose Umwertung literarischer Texte und Gattungen ein. Es begann der Aufstieg des ,Prosaepos‘, des Romans, und der kurzen Versdichtung, der Lyrik. Während der Roman die Prosa als Dichtungssprache etablierte und die alte Aufgabenverteilung von Rhetorik (Prosa) und Poetik (Versdichtung) unterhöhlte, avancierte die Lyrik zur dritten literarischen Hauptgattung neben Epos und Drama. Stefan Trappen hat die Entwicklung der berühmten Gattungstrias aus Drama, Epos und Lyrik in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts als Koproduktion eines Jenaer-Weimarer Freundeskreises beschrieben, der aus Goethe, Schiller, Wilhelm v. Humboldt, Körner und den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel bestand (Trappen [1], 198 ff.). Ihr Ziel war die Bestimmung des literarischen Schreibens ohne Rückgriff auf ,äußerliche‘ Begriffe wie den des Verses. Es muss, könnte man ihre Basisprämisse paraphrasieren, etwas im Wesen der Dichtung liegen, was sie von anderen Redetypen grundlegend unterscheidet. Obwohl die neue Gattungstheorie drei Hauptformen der Poesie postulierte, standen Drama und Epos zunächst im Mittelpunkt ih-
Schiller und einige Zeitgenossen
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IV. Lyriktheorien
19. Jahrhundert
Goethe
res Interesses. Auch dem Epos liege nicht die Nachahmung, sondern, wie Humboldt mit Blick auf Goethes Hermann und Dorothea schreibt, ein Seelenzustand des Dichters zugrunde, der „in der Verbindung mit der ,dichterischen Einbildungskraft‘“ – die sowohl nachahmend und erfindend, als auch wirklich Erlebtes abbildend verfahren kann – „,nicht anders kann‘, als mit dem Epos ,eine entsprechende Form zu schaffen‘“ (zit. n. Trappen [1], 215). „Ein solcher Gattungsbegriff liegt wenigstens seinem Anspruch nach jedem Gedicht voraus“ (ebd., 215/16), und dies, ließe sich ergänzen, in solchem Maße, dass sogar Texte, die wir als Tatsachenberichte klassifizieren würden, vom ,Wesen‘ des Dichterischen affiziert sein könnten. Doch gegen eine solche Ausweitung des Literaturbegriffs sicherte sich die klassische Konzeption durch das Postulat, dass die neuere Literatur die wesentliche Idealität kaum in Reinform verwirkliche, welches Verdienst hingegen der antiken Literatur zuzuerkennen sei, und zwar vor allem der griechischen und weniger der römischen (vgl. ebd., 207). Je älter ein Text, desto näher komme er dem Ideal. Deshalb sah sich der Goetheverehrer Humboldt zum Nachweis veranlasst, dass es sich bei Goethes Hermann und Dorothea um ein (reines) Epos und nicht um ein (aus Lyrik und Epos gemischtes) Idyll handle, gerade so, als sei letzteres ein Vorwurf. Goethe wird in Humboldts Sicht zu einem quasiantiken Autor. Keiner ihrer Entwickler hat die Thüringische Poetik allzu nachdrücklich propagiert, was dazu beitrug, dass die Lehrbücher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei der basalen Aufteilung alles Geschriebenen in Vers- und Prosatexte blieben (vgl. Sengle, 1 – 26). In der philosophischen Ästhetik hingegen fand die Lehre von der Dreieinigkeit der Poesie rasch Anerkennung, vor allem, weil sie gut zur Hegelianischen Trias des Subjektiven, des Objektiven und des vermittelten Subjektiv-Objektiven passte (vgl. Trappen [1], 256 ff.). Subjektiv sei die Lyrik, objektiv das Epos, und die Vermittlung, d. h. die Aufhebung zu einer ,höheren Einheit‘, gelinge im Drama. Dass sich die Trias im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts durchsetzte, dürfte aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass sie eine merkliche Vereinfachung der Gattungsbestimmung mit sich brachte und damit einem Publikum, das zwar Bildung, aber nicht mehr Gelehrsamkeit für sich in Anspruch nahm, bequemere Orientierung versprach als die alte Gattungsordnung von Scaliger und Opitz. Allerdings scheint die Hauptursache für den Sieg der Trias eine ihrer Begrifflichkeit inhärente Unklarheit zu sein. Denn im Gerangel um Anerkennung siegen nicht immer die präzisesten Theorien, sondern bisweilen gerade diejenigen Ansätze, die Deutungsspielräume offen lassen und damit die Fortsetzung der Debatten ermöglichen. Recht deutlich zeigt sich das Begriffsproblem in der ,nach-klassischen‘ Formulierung des triadischen Konzepts, die Goethe 1819 in den ,Noten und Abhandlungen‘ zum West-Östlichen Divan im Kapitel ,Naturformen der Dichtung‘ anbietet. „Es gibt“, schreibt Goethe dort nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswertesten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. Im älteren
2. Gattungstheorie um 1800 griechischen Trauerspiel sehen wir sie gleichfalls alle drei verbunden, und erst in einer gewissen Zeitfolge sondern sie sich. Solange der Chor die Hauptperson spielt, zeigt sich Lyrik obenan; wie der Chor mehr Zuschauer wird, treten die andern hervor, und zuletzt, wo die Handlung sich persönlich und häuslich zusammenzieht, findet man den Chor unbequem und lästig. (Goethe [2], 187/88)
Goethe sondert die „Naturformen“ als ewige und wesentliche Gestalten von der Erscheinung ab, die sie in jeweiligen historischen Kontexten annehmen können. Trappens Beobachtung, dass das Ideal der Mustersuche vorausgeht, findet hier nochmals Bestätigung. Goethe spricht auch, ähnlich einem heutigen Literaturwissenschaftler, nicht mehr wie Humboldt über ,Seelenzustände des Dichters‘, sondern über Eigenschaften von Texten (erzählend, aufgeregt oder persönlich handelnd zu sein). Das Ziel seiner Überlegungen wird deutlich, wenn er kurz darauf fordert, daß man die drei Hauptelemente in einem Kreis gegeneinander über stellt und sich Musterstücke sucht, wo jedes Element einzeln obwaltet. Alsdann sammle man Beispiele, die sich nach der einen oder nach der andern Seite hinneigen, bis endlich die Vereinigung von allen dreien erscheint und somit der ganze Kreis in sich geschlossen ist. (ebd., 188)
In trauter systematischer Runde scheinen sich alle Formen zu sammeln, die reinen wie die gemischten. Es zeigt sich die Weite des Goetheschen Literaturkonzepts, dem es auf eine deskriptive Erfassung aller Poesie ankommt, der eine weltliterarisch orientierte und systematisch ordnende Basiskonzeption zugrunde gelegt wird. Die Problematik dieser Konzeption wird deutlich, wenn man sie mit Humboldts Entwurf vergleicht. Im expliziten Widerspruch zu Humboldt, der die reine Form für wertvoller hält als die gemischte und sie an das Alter der jeweiligen Dichtung koppelt (Goethe ist für ihn nur eine Ausnahme unter den Modernen!), findet Goethe gerade im „älteren griechischen Trauerspiel“ eine Formenmischung, die sich erst im Verlauf der Gattungsentwicklung entwirrt. Das ältere griechische Trauerspiel steht der Ballade näher als dem ,Ideal‘. Dass diese Abkopplung des Alters von der ,Formenreinheit‘ bei Humboldt nicht vorgesehen ist, hat freilich wieder einen guten Grund. Denn das Alter verbürgt für Humboldt zugleich die Nähe zum Ursprung und zur Natur. Die geschichtsphilosophische Spekulation fundiert das normative poetologische Konzept. Die Definitionen der ,Noten und Abhandlungen‘ aber sind von dieser Grundidee gleichfalls nicht frei. Wenn Goethe nämlich von „Naturformen“ spricht, dann schließt er sich terminologisch an die Naturkonzeption seiner Zeitgenossen an. Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt, der Natürlichkeit die Künstlichkeit, dem Ursprung das Epigonale und dem Wertvolleren das Wertlosere gegenüberzustellen. Goethe macht ihn nicht, aber er ist in seiner Theorie angelegt. Fasst man Goethes Konzepte normativ auf, dann erscheint, was nicht ,enthusiastisch aufgeregt‘ daherkommt, zugleich nicht mehr als ,echt‘ lyrisch und damit als nicht ,echt‘. Während das Schema des Formenkreises eine Mischung der Formen legitimiert, zieht das Konzept der Naturform die Mischungserlaubnis wieder zurück. Einerseits flexibilisierte die Erlaubnis zu ,mischen‘ die Arbeit der Autoren, die nicht mehr darauf festgelegt waren, einen Text von Anfang bis Ende nach den strengen Regeln einer Gattung zu entwerfen; andererseits brachte das Naturkonzept sie in Gefahr, sich den
Ein Problem
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IV. Lyriktheorien
Emil Staiger
Vorwurf der Unnatürlichkeit einzuhandeln. Lyrik wurde im 19. Jahrhundert vielfach mit der „enthusiastisch aufgeregte[n]“ Erlebnis- und Stimmungslyrik gleichgesetzt und deren ,Natürlichkeit‘ gegen die espritvolle Poesie des Spätbarock, die kühle Gedankendichtung der Aufklärer, die politische Dichtung des Vormärz und die ab 1890 zu datierenden Versproduktionen der Klassischen Moderne ausgespielt. Der Züricher Germanist Emil Staiger war der letzte bedeutende Theoretiker, der die Gattungstrias klassisch zu fundieren versuchte. Er ließ den Goetheschen Grundgedanken eines Gattungskreises fallen und fasste in seiner zuerst 1946 erschienenen Untersuchung Grundbegriffe der Poetik die Großgattungen als Wesensformen auf, die er mit den Begriffen des Epischen, Dramatischen und Lyrischen bezeichnete. Die Frage nach der Berechtigung der Dreizahl hält Staiger für beantwortet, wenn sie sich als „Arbeitshypothese“ im Verlauf der Untersuchung bewährt habe (Staiger [1], 10). Staiger lenkt den Blick auf die Machart. Da diese aber für ihn das Wesen eines menschlichen Daseinszustandes, nämlich, im Fall der Lyrik, der Erinnerung, ausdrückt, müssen alle Mischformen, die eine Untersuchung der Macharten zu einem Formenkreis zusammenschließen könnte, als Verunreinigungen des Wesentlichen ausgeschieden werden. Aus dem Erinnerungs-Wesen der Lyrik leitet Staiger ab, dass „[a]lle echte Lyrik“ von „beschränktem Umfang“ sein dürfte (ebd., 23), denn der „lyrische Dichter“ unterliege einer „Ein-gebung“, die als „Stimmung“ das „,punctuelle Zünden der Welt im lyrischen Subjekt‘“ bewirke (ebd., 23/24): Sobald die erste Äußerung der Stimmung vollzogen sei, ende das Gedicht, und wenn der Dichter dennoch weiterschreibe, so verstoße er gegen das Wesen des Lyrischen. Alle weiteren Merkmale, die Staiger sammelt und zusammenfassend auflistet – „Einheit der Musik der Worte und ihrer Bedeutung“, „Gefahr des Zerfließens, gebannt durch den Kehrreim und Wiederholungen aller Art“, „Verzicht auf grammatischen, logischen und anschaulichen Zusammenhang“ und „Dichtung der Einsamkeit, welche nur von einzelnen Gleichgestimmten erhört wird“ (ebd., 51) – , sind daher vom vorab bereits bekannten Begriff des Lyrischen bestimmt. Sie laufen auf eine Ästhetik hinaus, welche die Aufhebung von Subjekt und Objekt im lyrischen Gedicht postuliert: Das Gegenüber fällt weg, gewiß! Nicht aber deshalb, wie Vischer sagt, weil das Subjekt in sich hineinsinkt. Es wäre ebenso richtig und falsch, zu sagen, es sinkt in die Außenwelt. Denn ,ich‘ bin im Lyrischen nicht ein ,moi‘, das sich seiner Identität bewußt bleibt, sondern ein ,je‘, das sich nicht bewahrt, das in jedem Moment des Daseins aufgeht. (ebd., 61)
Das Gegenüber fällt weg, denn Lyrik hebe, wie die „Musik“, „den Raum auf“ (ebd., 52). Alle Abstände fallen hin, sowohl der „zwischen Dichtung und Hörer“, als auch der „zwischen dem Dichter und dem, wovon er spricht“ (ebd., 54). Denn wie der Dichter, so empfange auch der Rezipient das lyrische Gedicht als eine Eingebung: „Das Lyrische wird eingeflößt“ (ebd., 48) – und das, wovon der lyrische Dichter spricht, ist ohnehin nur er selbst. Allerdings spricht er von sich nicht wie ein Autobiograph oder ein Tagebuchschreiber; Letzterer nämlich „befreit sich von jedem Tag, indem er Abstand nimmt und das Gewesene überdenkt. Gelingt ihm das nicht, spricht er unmittelbar, so fällt sein Tagebuch lyrisch aus.“ (ebd., 55) Staiger
3. Verstheorien
unterscheidet deshalb zwischen dem „Gedächtnis“, der quasi-epischen Imagination, in der sich ein Subjekt seine Vergangenheit vergegenwärtigt, und der „Erinnerung“, dem „lyrischen Ineinander“ von Vergangenheit und Gegenwart (ebd., 62). Dass Staiger die Begriffe des Lyrischen und der Lyrik synonym verwendet, macht deutlich, dass er mit seiner Theorie des Lyrischen zugleich eine Gattungstheorie aufstellen will. Was an der Theorie und ihrem Erinnerungsbegriff dran ist, ließe sich durchaus ernsthaft erörtern. Ebenso sicher aber handelt es sich nicht um eine akzeptable Theorie der Lyrik, die weit mehr Texte umfasst als die von Staiger fokussierten kurzen Lieder. Vor allem macht die Bemerkung zum plötzlich lyrisch werdenden Tagebuch eines deutlich: Der Vers ist in dieser Theorie eine Zugabe, die das Lyrische allenfalls steigert, aber nicht zu seiner Definition erforderlich ist. Auch in diesem Punkt wirken noch Goethes prominente Definitionen nach, die ebenfalls keinen Hinweis auf den Vers als lyrisches Gattungskriterium enthalten. Wenngleich die zur Veranschaulichung gewählten Beispiele indizieren, dass Goethe in erster Linie an Versdichtungen denkt, wenn er von „der Poesie“ spricht, ist in seinen Überlegungen die Gebundenheit der Rede für die Poesie nicht mehr wesentlich. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte seine Vernachlässigung des Verses insofern eine fortschrittliche Funktion, als sie die Gleichwertigkeit des Versepos‘ und der ,bürgerlichen Epopoe‘, d. h. des Romans, begründen half. Doch bereits am Jahrhundertende hatten sich die historischen Konstellationen gründlich geändert, und als Staiger seine Poetik verfasste, hatten längst andere Lyriktheoretiker eine intensive Debatte über den Vers begonnen.
Das Lyrische ist keine Gattung
Vernachlässigung des Verses
3. Verstheorien Angesichts der von Goethe bis Staiger reichenden Vernachlässigung des Verskriteriums in der Gattungstheorie ist es nicht verwunderlich, dass das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert eine Blüte der Mischgattungen erlebte. So bezeichnete man z. B. als „Prosagedichte“ kürzere Prosatexte, die eine ,lyrische Stimmung‘ aufweisen, also keine Geschichten erzählten oder dramatisch darstellten, sondern Ich-Ausdruck ihres Sprechers sind. Fachterminologisch haben sich diese Bezeichnungen nicht durchgesetzt; uns machen sie aber den seinerzeitigen Verfall des Verskriteriums deutlich. Doch vom Standpunkt des Systematikers aus betrachtet, bot gerade der Vers eine Chance, wieder Ordnung in die zunehmend unübersichtlicher werdenden Gattungsverhältnisse zu bringen. Dass sich zur selben Zeit die Autoren von Verstexten endgültig vom Zwang des Reims und des Metrums befreiten, dürfte für die Theoretiker ein zweiter Grund gewesen sein, sich verstärkt der Frage zuzuwenden, was Verse eigentlich sind. Wenn nämlich bis dahin Reim und Metrum klar erkennbar die Grenzen eines Verses markierten, dann kann dieser sogar identifiziert werden, wenn er, wie z. B. im Mittelalter üblich, nicht graphisch durch den Zeilenumbruch gekennzeichnet ist (vgl. Breuer, 24). Daher mochte eine theoretische Erörterung des Versbegriffs lange überflüssig erscheinen. Erst der Wegfall jeglicher formaler Schematismen führt unmittelbar zur Frage, was unter diesen Umständen über-
Warum Verstheorie?
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IV. Lyriktheorien
Jakob Minor
Andreas Heusler
Heuslers Germanophilie
haupt (noch) einen Vers ausmacht. Die an diese Frage anknüpfende Auseinandersetzung hat Dieter Breuer den „Methodenstreit der deutschen Metriker“ genannt (Breuer, 71). Zu den ältesten Arbeiten, die in den Streit verwickelt sind, gehört Jakob Minors Neuhochdeutsche Metrik (1893, dann überarbeitet 1902). Minor knüpft an die Versuche älterer Poetologen an, die Prosodie des Deutschen zu bestimmen. Als „Prosodie“ bezeichnet man sprachliche Eigenschaften wie Intonation, Sprechpausen, Akzent und Quantität der Silben (vgl. Bussmann, 618). Im Kontext der Lyrikanalyse interessieren vor allem die beiden letztgenannten. Den „Akzent“ haben wir im dritten Kapitel als Betonung (Hebung) kennengelernt. Unter der Quantität einer Silbe versteht man ihre Länge, oder, anders gesagt, die Dauer, die ihre Aussprache benötigt. Die Metriker des späten 18. Jahrhunderts hatten versucht, die Quantitätsregeln der antiken Sprachen (Latein und Griechisch) auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Minor will daran anschließen. Er beruft sich auf Karl Philipp Moritz, dem er z. B. darin beipflichtet, dass „ánmuth nur in Verbindung mit einer vokalisch anlautenden Kürze als Daktylus gelten“ könne, „also ánmuth und, aber nicht ánmuth zu“ (Minor 1902, 133); denn das „u“ in „zu“ ist ein langer Vokal. In dieser Weise eine doppelte prosodische Ordnung (Akzent und Quantität) der deutschen Metrik zu unterlegen, ist heute unüblich; wir halten uns an den Akzent (Betonung, Hebung). Explizit gegen Minor und andere ältere Metriker richtete sich zuerst der Schweizer Germanist Andreas Heusler in seiner dreibändigen Deutschen Versgeschichte (1925 – 29; 2. Auflage 1956). Seine geniale Idee bestand darin, die alte Definition der Lyrik als musikalische Dichtung auf den Vers anzuwenden. Heusler ersetzt die Versfüße durch Takte: Einheiten, die erst dann vollständig sind, wenn die Reihe ihrer Elemente eine ganze Zahl ergibt (Takt = Zeitspanne, ebd., 48). So ist ein 4/4Takt abgeschlossen, wenn z. B. vier Viertelnoten oder acht Achtelnoten zusammenkommen. Wie bei Moritz, Minor und in der antiken Metrik werden Silbenlängen registriert, und als Hauptsilbe eines Taktes gilt diejenige, die die Hauptbetonung, den Iktus, trägt. Die Silbenlängen ergeben sich jedoch, und das ist wichtig, nicht aus der natürlichen Aussprache der Wörter, sondern aus den Erfordernissen des jeweiligen Verses. Deshalb können Prosasätze wie auch Verse unterschiedlich metrisch realisiert werden (ebd., 72 f.) – unterschiedlich, aber nicht beliebig, denn auch nach Heusler können natürliche Silbenlänge und Positionslänge im Vers kollidieren: So rügt er unter anderem einen Hexameter von Johann Heinrich Voss, der mit dem Wort „Mit“ anfängt, weil dieses Wort unmöglich als lange Silbe auffassbar sei: „Unsre Sprache bedankt sich für solches Quantitieren!“ (ebd., 79) Im Gegensatz zu Minor trennt Heusler also Prosodie und Versmetrik nicht vollständig, sondern räumt dem Vers eine Art begrenztes Mitspracherecht bei der Bestimmung der Silbenlänge ein. Dieses Verfahren hat eine Reihe von Konsequenzen. Es gehört zu seinen Stärken, dass es nicht nur die neuere, sondern auch die mittelalterliche Verskunst zu beschreiben gestattet (vgl. Heusler, 1, 31 ff.). Heuslers Leitidee besteht darin, die Einheit der germanischen Verssprachen zu erweisen, weshalb er auch alt- und mittelhochdeutsche sowie gotische und altisländische Beispiele erörtert. Fachgeschichtlich betrachtet, richtet sich sein Einheitspostulat gegen die Ausdifferenzierung der Germanistik in Spezialdisziplinen
3. Verstheorien
wie Mediävistik und Nordistik; wenn schon die untersuchten Sprachen verschieden sind, so soll doch ihre Prosodie und Metrik die gleiche sein. Dass hinter dieser Vorstellung nationalkonservative bis rassistische Konzepte stehen, ist offensichtlich. Denn Heusler stigmatisiert Verse, die nach seinen Regeln übel gebaut sind, nicht einfach als misslungen, sondern führt in seiner Versgeschichte die beobachteten ,Regelverletzungen‘ stets darauf zurück, dass ,fremde Elemente‘, d. h. Versbauprinzipien antiker oder romanischer Herkunft, in die deutsch-germanische Dichtung eingedrungen seien, weshalb er die fraglichen Verse, als wären sie einer Infektion zum Opfer gefallen, als ,krank‘ bezeichnet im Gegensatz zum althochdeutschen Stabreimvers, den er als ein Muster an Gesundheit preist. Dass zum Denken und Jargon der Nazis nur noch fehlt, den Schritt von „krank“ zu „entartet“ zu machen, hat zur Diskreditierung Heuslers nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen. Mit der politischen Kritik musste sich aber zugleich eine systematische verbinden. Denn nicht nur die Wertungskriterien Heuslers sind ein Problem, sondern auch die Tatsache, dass er überhaupt Werturteile fällt. Seine Theorie als unwissenschaftlich abzuqualifizieren (vgl. Breuer, 74), wäre allerdings schwerer gefallen, wenn diese Urteile nicht letztlich subjektiv begründet wären. Für Heusler nämlich ergibt sich die richtige Versfüllung durch die korrekte Abschätzung der „Stärke und Dauer einer Silbe“, die „im Zusammenhang des ausdrucksvoll gesprochenen Satzes“ zu ermitteln sei (Heusler, 54). Wer soll, so muss man fragen, darüber entscheiden, ob ein Satz ausdrucksvoll gesprochen wird? Das fordert ein Geschmacksurteil oder auch ein Urteil, in das die Interpretation des Satzes einfließt. Die Ergebnisoffenheit bzw. die Bindung der Ergebnisse an das individuelle Sprachgefühl verhindert eine schulgerechte Überprüfbarkeit der Analyseurteile. Das System, den Wechsel der Betonungen zu registrieren, hat demgegenüber den Vorzug größerer Transparenz. Sein Nachteil jedoch besteht darin, dass es die Kluft zwischen dem Analysieren und dem Interpretieren vertieft und dass das infolgedessen isolierte metrische Analysieren von Lernern wie Lehrern in der Regel als buchstäblich sinnlos empfunden wird. Den gesamten ,Streit der deutschen Metriker‘ nachzuzeichnen, kann nicht Ziel eines kurzen Überblicks sein. Nur verwiesen sei auf Erwin Arndts Deutsche Verslehre. Ein Abriss (1959), Fritz Lockemanns Untersuchung Der Rhythmus des deutschen Verses (1960) sowie Dieter Breuers Vermittlungsversuch zwischen den Lagern im Band Deutsche Metrik und Versgeschichte (1999). Zur Kritik an Heusler greift Wolfgang Kayser in seiner als Buch veröffentlichten Vorlesung Geschichte des deutschen Verses (1991; zuerst 1960) auf die politische Anrüchigkeit seines Schweizer Kollegen zurück, den er zunächst mit den Worten zitiert, man könne sich den „Vortrag von Versen, die wirklich erklingen wollen“, nicht „unwägend, also undeutsch denken“, um dann zu kommentieren, „[v]ielleicht“ steige seinen Zuhörern „bei dieser Art der Argumentation schon ein gewisser Zweifel auf.“ (Kayser, 24) Kayser vermeidet den Eindruck, in Heuslers allgermanischen Fußstapfen zu wandeln, schon dadurch, dass er seinen historischen Überblick im 16. Jahrhundert, also in der Zeit des frühen Neuhochdeutschen, beginnen lässt (kein Gotisch, Altnordisch etc.). Doch auf ein neues metrisches Grundprinzip stellt erst Christian Wagenknechts Deutsche Metrik (1981) um. Informiert von der strukturalistischen Linguistik, unterscheidet Wagenknecht
Heuslers ,Subjektivität‘
Erwin Arndt; Fritz Lockemann; Dieter Breuer Wolfgang Kayser
Christian Wagenknecht
71
72
IV. Lyriktheorien
Alfred Behrmann
Verse ohne Maße
grundsätzlich zwischen dem Vortrag (,parole‘) und der Sprache (,langue‘) des Verses, ordnet jenem den Rhythmus und dieser das Metrum zu und unterteilt die Metrik weiter in Prosodie (Gesamtheit der Regeln der natürlichen Wortbetonung) und Versifikation (Verteilung der natürlichen Wortakzente auf Positionen im Vers). Trotz ihrer anspruchsvollen theoretischen Herleitung sind Wagenknechts Begriffe klar und in der analytischen Anwendung außerordentlich griffig; alle relevanten Grundbegriffe der Metrik finden sich hier diskutiert und definiert. Wagenknecht zufolge hat Heuslers Verslehre mit Metrik nichts zu tun. Denn erstens gehört der bei Heusler fundamentale Vortrag des Gedichts überhaupt nicht in die Metrik, und zweitens liegt der Prosodie nur der Akzent, nicht die Silbenlänge zugrunde. Ohne auf Wagenknechts differenzierte Begrifflichkeit einzugehen, war Kapitel III dieser Einführung an seiner Untersuchung orientiert. Der von Alfred Behrmann in der Einführung in den neueren deutschen Vers (1989) vertretene Ansatz kommt ebenfalls ohne Heuslers Taktbegriff aus. Behrmann macht im Geschichtsteil seiner Arbeit den bedenkenswerten Vorschlag, in die metrischen Analysen historisch-genealogische Aspekte einzubeziehen. So liege den Versen „Es war ein König in Thule / Gar treu bis an das Grab“ (Goethe), die rein systematisch als Dreiheber zu beschreiben sind ([ – [ – [ [ – [ / [ – [ – [ – ), ein Schema zugrunde, das aus dem mittelalterlichen Nibelungenlangvers auf dem Weg über das Volkslied zu Goethe gelangt sei. Der Nibelungenvers aber trug eine Nebenbetonung auf der letzten Silbe des ersten Halbverses ([ – [ – [ [ ‘ – ` – / […]), der dem ersten Vers des Goethegedichts entspreche. Falls das theoretische Interesse am Vers in der Zeit zwischen dem späten 19. und dem mittleren 20. Jahrhundert durch die Hoffnung motiviert war, durch das Angebot komplexer und liberaler Versbauregeln die Autoren lyrischer Gedichte zu bewegen, den metrisch geregelten Vers nicht zugunsten des freien Rhythmus aufzugeben, dann muss dieser Versuch wohl als gescheitert bezeichnet werden. Seit den fünfziger Jahren wurde der freie Vers zum Standard. Die letzten älteren Theoretiker verweigerten ihm die Anerkennung als Vers, so z. B. Kayser, wenn er in der von Walter Höllerer herausgegebenen Sammlung Transit „überwiegend freie Rhythmen […], die zum Teil ganz nah an die Prosa herankommen, fast schon Prosa sind“ (Kayser, 151), findet und dann seine Zuhörer, unter Verweis auf die eigene Befangenheit, auffordert, die Gedichte selbst daraufhin zu überprüfen, „ob das vielleicht neue Klänge, neue Rhythmen, neue Möglichkeiten des Verses sind“ (ebd., 152); denn erst im gebührenden Abstand von der Prosa weist sich ihm die Dichtung aus. Angesichts freirhythmischer Gedichte kommt es entweder zu einem rigiden normativen Ausschluss oder zu einer verzweifelten Suche nach metrischem Rhythmus auch dort, wo beileibe keiner zu finden ist. Wagenknecht dagegen hat kein Problem mit dem freien Rhythmus, weil er keine Verstheorie, sondern eine Theorie des Metrums schreibt, die dort, wo kein Metrum zu finden ist, schlicht keine Aussagen machen kann. Dieter Breuer wiederum versucht, den Rhythmus als Grundlage des Verses zu retten, indem er die Grenze zwischen gebundener und ungebundener Rede relativiert. Er behauptet nur noch, dass der Vers auf dem Rhythmus aufbaue, nicht aber, dass dieser ihn konstituiere. „Versliteratur ist gebundenere Rede, hinsichtlich der Tonstellenverteilung geregelter als die Prosa.“
4. Das lyrische Gedicht
(Breuer, 23) Das mag so sein, erklärt aber nicht, weshalb beispielsweise der Anfang von Günter Kunerts Gedicht ,Gottgleich‘ ein Verstext sein soll:
5
In der Kindheit habe ich das Universum erkannt. Es war außerordentlich klein und bewegte sich in einem Lichtstrahl, den die Gardine ins Zimmer ließ.
(Elm, 39)
Denn von einer geregelten Tonstellenverteilung kann hier schwerlich die Rede sein. Will man aber deshalb darauf verzichten, das Enjambement „außerordentlich / klein“ zu analysieren? Der Effekt ist da, und die Frage bleibt, wie man ihn als Verseffekt erklärt.
4. Das lyrische Gedicht Eine plausible Lösung des Problems schlägt Dieter Lamping in seiner 1989 (2. Aufl. 1993) erschienenen Untersuchung Das lyrische Gedicht vor. Er definiert den Vers als eine Sprachverwendung, die „durch ihre besondere Art der Segmentierung rhythmisch von normalsprachlicher Rede abweicht“. (Lamping, 24) Rhythmus ist hier nicht mehr eine Ursache des Verses, sondern eine Folge von etwas, was Lamping eine „Art der Segmentierung“ nennt. „Rhythmisierung“ meint das Setzen von ,Pausen‘, die den Redefluss unterbrechen und, wie Lampings Beispiele zeigen, auch durch grafische (visuelle) Maßnahmen – nämlich durch Versschreibung – zustande kommen können (vgl. ebd., 27/28). Noch Kayser hatte befunden, dass „das Druckbild […] erst eine spätere optische Anweisung für ein ursprünglich akustisches Phänomen“ sei (Kayser, 12), wogegen der Rhythmus nach Lampings Einsicht nicht komplett in der Sprache liegt, sondern ihr teilweise übergestülpt wird (so auch Kemper [2], 71).
Der Vers
Der Vers ist eine künstliche Lese-, Analyse- und Vortragsanweisung, die sowohl durch akustische als auch durch visuelle Mittel zum Ausdruck gebracht werden kann, in jedem Fall aber durch Mittel der einen oder der anderen Art zum Ausdruck gebracht werden muss.
Denn wäre der Vers ein rein akustisches Phänomen, dann hätten freirhythmische Verse keine Enjambements und der Begriff des Binnenreims wäre sinnlos. Ein Problem dieser Definition könnte darin gesehen werden, dass sie sogenannte graphische Gedichte (deren Geschichte vom Mittelalter bis zur Konkreten Poesie reicht) aus der Lyrik ausschließt; gegen diesen Einwand kann man aber geltend machen, dass es sich bei solchen Textgebilden tatsächlich um Kunstwerke von fundamental anderer Art handelt, die mit den ,normalen‘ Mitteln der Lyrikanalysen kaum adäquat zu erfassen sind. Und nochmals: Es gereicht einem Text nicht zur Unehre, wenn er nicht zur Lyrik gezählt wird. Lampings Studie ist der bislang letzte Versuch, eine systematische und historisch adäquate Gattungsdefinition zu entwickeln. Wo Verse sind, da sei man, so Lamping, berechtigt, von einem „Gedicht“ zu sprechen. Allenfalls metaphorisch könne daher ein Roman als Gedicht bezeichnet werden,
Vom Vers zum Gedicht
73
IV. Lyriktheorien
Das Gattungssystem
um damit auf seine besondere Qualität hinzuweisen – etwa so, ließe sich ergänzen, wie man auch eine köstliche Mahlzeit „ein Gedicht“ nennt, um den Koch zu loben. Damit sind zwar alle ungebundenen Texte aus dem Bereich der Lyrik ausgeschlossen, nicht aber diverse Versgattungen wie das Epos, die Verserzählung oder das Blankversdrama. Lamping benötigt folglich ein zweites Abgrenzungskriterium. Er findet es, indem er Literatur als Rede und das lyrische Gedicht als „Einzelrede in Versen“ definiert (Lamping, 63). Neben der Einzelrede liegt in vielen Gedichten dialogische Wechselrede oder vermittelnde Rede vor. In diesen Fällen handelt es sich Lamping zufolge nicht um Lyrik. Als „Wechselreden“ bezeichnet Lamping Reden, die aus „mindestens zwei verschiedenen Äußerungen in ein und derselben Situation“ bestehen, während die vermittelnde Rede die Wechsel- und die Einzelrede kombiniert (ebd., 89). Daraus ließe sich folgende Gattungssystematik ableiten: Formal
Strukturell
74
Problematisierung
Trennschärfe der Begriffe
Gebundene Rede (Verse)
Ungebundene Rede (Prosa)
Einzelrede (Lyrisch)
Lyrik
Prosagedicht
Wechselrede (Dramatisch)
Versdrama (Torquato Tasso, Iphigenie, Nathan der Weise etc.)
Prosadrama (Götz von Berlichingen, Minna von Barnhelm, Maria Magdalena etc.)
Vermittelnde Rede Epos, Epopoe, Ballade (Episch) (Ilias, Paradise Lost, Messias, Oberon, Musarion, Der Erlkönig)
Roman, Novelle, Erzählung, Kurzgeschichte
Diese Tabelle soll veranschaulichen, wie nach Lamping eine Gattungssystematik aussehen könnte. Es ist nun möglich, das sogenannte Prosagedicht als eine lyrische Gattung zu bezeichnen, streng genommen aber nicht als Gedicht. Andererseits können alle Verstexte, die nicht dem Kriterium der Einzelrede genügen, aus der Lyrik ausgeschlossen werden. Bei allen Vorzügen aber wirft auch Lampings System kritische Fragen auf, die erörtert werden müssen, um seine Leistungsgrenzen zu bestimmen. Lamping legt eine präzise Definition vor, die sich in drei Hinsichten zu bewähren hat. Es muss sich erstens zeigen lassen, dass die Begriffe tatsächlich trennscharf sind; zweitens muss es wenigstens Indizien dafür geben, dass keine andere, vielleicht einfachere Theorie denselben Zweck erfüllt; und drittens sollten die Gattungsextensionen (die Gesamtheit der Dinge, die unter die Gattungsbegriffe fallen) ungefähr mit dem übereinstimmen, was man landläufig unter den jeweiligen Gattungen versteht (so Lamping selbst, vgl. ebd., 63, 86). Hinsichtlich der Trennschärfe ist Lampings Redekriterium etwas lax ausgearbeitet. Da die vermittelnde Rede nur die Kombination der Dialog- und der Einzelrede meint, beschränkt sich Lampings Erörterung mit Recht auf diese beiden Redetypen. Die Einzelrede wird durch drei Definitionsaspekte näher bestimmt, und zwar als:
4. Das lyrische Gedicht – monologische Rede im Unterschied vor allem zur dialogischen Rede; – absolute Rede im Unterschied zu situationsgebundener Rede; – strukturell einfache Rede im Unterschied zu strukturell komplexer Rede. (vgl. ebd., 63)
Monologisch sei eine Rede, wenn sie aus nicht mehr als einer Äußerung bestehe, absolut, wenn sie in keinen „umfassenden Redezusammenhang integriert“ sei (ebd., 64). Lamping denkt hier an die Gegentypen des dramatischen Dialogs (mehrere Äußerungen) und des dramatischen Monologs (umfassender Redekontext). Ausgeschlossen ist mit dem ersten Aspekt nicht, dass in der lyrischen Rede ein Gegenüber angeredet wird, sondern nur, dass es antwortet. Wo z. B. durch Anführungszeichen markierte Dialoge vorliegen, ist zu prüfen, ob es sich dabei um echte Dialoge gleichberechtigter Gesprächspartner handelt oder aber um Antizipationen möglicher Redebeiträge eines de facto stumm bleibenden Gegenübers durch den allein redenden Sprecher bzw. um Varianten eines „inneren Dialogs“ (ebd., 65), den ein Sprecher mit sich selbst (oder seinem Herzen, seiner Seele) führt. Beim zweiten Definitionsaspekt geht es um die Abgrenzung der Lyrik vom dramatischen Monolog, weshalb das Ausbleiben einer Antwort hier keine Rolle spielen kann. Der Begriff des „umfassenden Redezusammenhangs“, den Lamping als Negativkriterium benutzt, ist allerdings recht verschwommen. Dass es sich bei den Gedichten ,November 3‘ von Richard Brautigan und ,This is just to say‘ von William Carlos Williams (vgl. ebd., 67), deren Sprecher sich aus recht konkreten Situationen heraus äußern, dennoch um lyrische Gedichte handelt, macht Lamping zum einen am Ausbleiben von Antworten und zum anderen an der recht dunklen Behauptung fest, die Äußerungen seien an die Äußerungssituationen „nicht wesentlich gebunden“ (ebd., 68). Was damit gemeint sein könnte, erschließt sich mir nicht. Wäre nicht eine wesentliche Bindung an die Situation und ein umfassender Zusammenhang gegeben, wenn der Titel eines Gedichts ,Der Panther. Im Jardin des Plantes, Paris‘ (Rilke), ,Nachdem er durch Metzingen gegangen war‘ (Gernhardt) oder ,Er sahe sie über Feld gehen‘ (Hoffmannswaldau) lautet? Da Lamping kaum bestreiten dürfte, dass es sich um lyrische Gedichte handelt, müsste er die Definition des zweiten Aspekts präziser ausarbeiten. In der knappen Explikation des dritten Aspekts, der strukturellen Einfachheit, erläutert Lamping schließlich, die lyrische Einzelrede stehe nicht nur für sich, sondern sei „grundsätzlich auch für sich zu verstehen“ (ebd., 68). Was er unter „verstehen“ versteht, erläutert Lamping aber nicht. Man kann jede aus dem Zusammenhang gerissene Rede verstehen, aber selten so, wie sie im Zusammenhang verstanden werden würde. Da der erste Definitionsaspekt nur den dramatischen Dialog in Versen aus der Lyrik ausgrenzt, müssten die anderen beiden Aspekte, vielleicht mit Hilfe von erzähltheoretischen Kategorien, noch weiter präzisiert werden. Potenziell sind unendlich viele Alternativvorschläge für Kriterien der ,Lyrizität‘ vorstellbar; hier soll nur einer erörtert werden, mit dem Lamping sich selbst auseinandersetzt. Gegen diesen Konkurrenten des Redekriteriums, die Kürze, führt Lamping drei Argumente an: 1. die „Unschärfe des Begriffs“, 2. seine „Äußerlichkeit“, infolge deren er von den meisten Theoretikern (von Hegel bis Staiger) als „abgeleitetes“, nicht wesentliches Kriterium
Ein Konkurrent: Kürze
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IV. Lyriktheorien
Problemfälle
Die Ballade
Das Sonett
behandelt werde, und 3. den Umstand, dass auch einigermaßen lange Gedichte oft der Lyrik zugeschlagen werden (ebd., 87). Zunächst lässt sich fragen, ob das erste und das dritte Argument überhaupt miteinander vereinbar sind. Denn wie kann Lamping im dritten Argument von manchen ,langen Gedichten‘ sagen, dass auch sie üblicherweise als lyrisch kategorisiert würden, wenn er nicht einen Begriff von Kürze und Länge hätte, und zwar einen, von dem er annehmen zu dürfen glaubt, dass ihn die meisten Leserinnen und Leser teilen, die wie er einige „Episteln des Horaz, viele Oden Klopstocks oder zahlreiche Cantos Ezra Pounds“ zur Lyrik zählen, obwohl sie „vergleichsweise umfangreich sind“ (ebd.)? Schwieriger allerdings als die Kritik dieses immanenten Widerspruchs ist eine Verteidigung gegen das erste Argument. Zwar ließen sich, hypothetisch, Gedichte denken, die mehrere tausend Verse umfassen und zugleich Einzelrede in Versen sind, und man könnte sich fragen, ob man in solchen Fällen noch von lyrischen Gedichten sprechen würde. Doch problematisch bleibt das Umfangskriterium am anderen Ende der Skala, weil sich schlichtweg nicht vernünftig begründen lässt, weshalb ein Text ab einer bestimmten Verszahl als lang, darunter als kurz gelten soll. Tatsächlich ist Länge ein subjektives Kriterium. Lampings Redekriterium dagegen hätte, wenn es theoretisch ausgearbeitet wäre, das Potenzial, klare Entscheidungen zu ermöglichen. Die klaren Entscheidungen könnten freilich auch kontraintuitiv ausfallen. Das dürfte aber eigentlich nicht passieren, wenn Lamping als dritten Einwand gegen die Kürze anführt, dass auch lange Gedichte zur Lyrik gezählt würden und somit Wert legt auf das, was üblich ist. Die Extension seines Lyrikbegriffs müsste mit dem deckungsgleich sein, was sonst als Lyrik gilt. Dass dies für ältere Lyrikauffassungen zutrifft, ist angesichts der Definitionsvielfalt der letzten 400 Jahre kaum wahrscheinlich. Aber wie sieht es heute aus? Wir wollen hier nur zwei Grenzfällen unsere Aufmerksamkeit widmen. Nach Lampings System gehören die allermeisten Balladen zur vermittelnden Rede, müssten also den Epen zugeordnet werden, wogegen sie nach ,normalem‘ Empfinden durchaus zur Lyrik gehören. Ohne Bedenken werden sie z. B. von Gerhard Hay und Sibylle von Steinsdorff in die Anthologie Deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart aufgenommen. Zwar nehmen Balladen keinen Schaden, wenn man sie nicht zur Lyrik rechnet (dieser Begriff ist schließlich kein Gütesiegel), aber ihr Ausschluss widerspricht dem Lyrikverständnis der wohl meisten Leserinnen und Leser, was vielleicht damit zusammenhängt, dass Balladen kurze Verstexte sind. Misslich ist weiterhin, dass zwar die meisten Balladen zur vermittelnden Rede gehören, einige aber als versifizierte Einzelrede zu charakterisieren wären. Oder sollte es sich z. B. bei Julius Otto Bierbaums ,Ballade vom Tod und dem Zecher‘ nicht um eine Ballade handeln (vgl. Bierbaum, 397 ff.)? Der Verfasser scheint anderer Ansicht gewesen zu sein. Dasselbe gilt auch, nur in umgekehrtem Mengenverhältnis, für Sonette, die zwar überwiegend Einzelreden, zu einem kleinen Teil aber vermittelnde Reden sind. Die rein formale Definition des Sonetts ist gegen jede inhaltliche Charakterisierung unempfindlich. Das Redekriterium hat also die nachteilige Eigenschaft, durch zwei anerkannte Untergattungen einen Schnitt zu machen. Das doppelte Problem der Theorie Lampings besteht darin, erstens einige Texte, die zahlreiche Leserinnen und Leser als lyrische Gedichte zu bezeichnen geneigt sind, nicht
4. Das lyrische Gedicht
länger unter diesen Begriff fallen zu lassen, und zweitens darin, dass Texte, die wir zur selben Untergattung zählen, verschiedenen Hauptgattungen angehören müssten. Diese Beobachtung muss man indes nicht für einen schwerwiegenden Einwand halten – falls Lamping nämlich eine ähnliche Struktur im Sinn haben sollte wie Scaliger. Dann könnten Gedichte, die nach einem Kriterium zur selben Gattung gehören, nach einem anderen Kriterium zwei verschiedenen Gattungen angehören. Man muss sich allerdings klar machen, dass diese Struktur sich von der Typenkreisidee Goethes grundlegend unterscheidet. Doch in jedem Fall kommt Lampings Arbeit das Verdienst zu, die eingangs angesprochene Kluft zwischen der allgemeinen Literaturtheorie und den ,spontanen‘ Gattungssystemen von Einführungen, Schulbüchern und Anthologien bewusst zu machen. Deren Textauswahl schwankt beträchtlich zwischen einer Orientierung an Definitionen à la Lamping und literaturgeschichtlichen Vollständigkeits- und Veranschaulichungsansprüchen. Wie weit dies gehen kann, soll abschließend an einem Beispiel gezeigt werden. Nach Lampings Definition gehören die um 1800 beliebten Rollengedichte nicht in die Lyrik. Nur Hay und Steinsdorff drucken in der Anthologie Deutsche Lyrik (contra Lamping) mehrere Gedichte dieses Typs ab, u. a. Clemens Brentanos ,Hör, es klagt die Flöte‘: Fabiola. Hör‘, es klagt die Flöte wieder, Und die kühlen Brunnen rauschen. Piast. Golden weh‘n die Töne nieder, Stille, stille, laß uns lauschen! (angemeßnes Solo der Flöte) Fabiola. Holdes Bitten, mild Verlangen, Wie es süß zum Herzen spricht! Piast. Durch die Nacht, die mich umfangen, Blickt zu mir der Töne Licht. Ramiro. (nähert sich und giebt Fabiola seinen Mantel.) […]
(Hay u. Steinsdorff, 127)
Auch Schulbuchmacher und andere Herausgeber möchten auf diese Verse nur ungern verzichten, weil sich an ihnen vorzüglich Brentanos Technik der Synästhesie als romantische Schreibweise darstellen lässt. Das Schulbuch Texte, Themen und Strukturen (Oberstufe) bringt daher Piasts letzten Doppelvers (ohne Quellenangabe) zur Illustration der Synästhesie (Biermann u. Schurf, 142). In Literatur, einem weiteren Oberstufenlehrbuch, muss das komplette Gedicht als Beispiel für das Thema ,Farbe im Gedicht‘ herhalten, und zwar in Form zweier Kreuzreimstrophen und ohne Rollennamen, dafür aber mit dem Titel ,Abendständchen‘ versehen (Stein, 103). In dieser Gestalt und mit demselben Titel begegnet es auch in den auflagestarken Lyriksammlungen Buch der Gedichte (Hochhuth, 423) und Deutsche Gedichte (Ech-
Theorie und Geschichte
Kanon
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IV. Lyriktheorien
termeyer u. Wiese, 343). Der Brentanoforscher Hartwig Schulz hat zwar auch, um den Text zu lyrifizieren, in seiner Reclam-Ausgabe der Gedichte die Rollennamen weggelassen (vgl. Brentano, 54/55), weist dafür aber in den Anmerkungen darauf hin, dass die acht Verse Brentanos Singspiel Die lustigen Musikanten entnommen sind, wo sie von Fabiola und Piast als Duett vorgetragen werden (ebd., 214). Aus diesem Umstand erklären sich die Nebentexte (,Regieanweisungen‘) in der oben wiedergegebenen Textfassung der Deutschen Lyrik, wo das Gedicht, von mehreren Rollentexten Ludwig Tiecks und Johann Heinrich Wackenroders flankiert, als das erscheint, was es ist: Lyrik, die im Rahmen anderer Gattungen dramatische Form annimmt und dem romantischen Programmpunkt entspricht, fixe Gattungsgrenzen einzureißen. Nur Hay und Steinsdorff wagen es, ein Bündel von Fragen aufkommen zu lassen, das weiter in die Geschichte der Literatur hineinführt.
V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik Literatur- oder Gattungsgeschichten zu schreiben, ist eine Tätigkeit, die selbst ihre Geschichte hat. Zu verschiedenen Zeiten haben Literaturhistoriker unterschiedliche Aspekte der Literatur betont. Es entstand ein heterogenes Konglomerat von Epochenbegriffen, von denen sich die Literaturgeschichtsschreibung bislang nicht getrennt hat. Wir charakterisieren Epochen mal stilgeschichtlich (z. B. Barock), mal geistes- bzw. sozialgeschichtlich (z. B. Aufklärung), eine dritte Epoche benamsen wir nach einem Autor (z. B. Goethezeit), eine vierte nach einem politischen Ereignis (z. B. Vormärz). Je näher wir der Gegenwart kommen, desto gehaltloser werden unsere Epochenbegriffe (Nachkrieg, Postmoderne), weshalb es geraten erscheint, sie zugunsten einer Beschreibung literarischer Strömungen aufzugeben. Obwohl die verschiedenen Epochen- und Strömungsbegriffe kein einheitliches Bild ergeben, hat die Literaturhistoriographie mit Recht an ihnen festgehalten. Denn die Literatur selbst entwickelt sich nicht nur auf einer Ebene. Die Setzung unterschiedlicher Beobachtungsschwerpunkte entspricht oft den realen Gegebenheiten. Mal stagniert der Stil, mal das politische Bewusstsein der Autoren, mal richten alle ihren Blick auf ein reformatorisches Sozialprogramm, mal auf einen Kollegen, in dem sie ein extraordinäres Exemplar ihrer Art sehen. Daher versucht auch der nachfolgende Überblick, die verschiedenen Ebenen zu berücksichtigen und stil-, geistes-, sozial- und politikgeschichtliche Beschreibungsverfahren so gut es geht zu kombinieren.
1. Das 17. Jahrhundert Die Geschichte der neueren deutschen Dichtung beginnt nicht mit einem literarischen Werk, sondern mit Martin Opitz‘ Buch von der Deutschen Poeterey von 1624, dessen Gattungssystematik im letzten Kapitel behandelt wurde. Man könnte die Geschichte der Lyrik geradezu als ein schrittweises Zurückdrängen seiner Dichtungsregeln schreiben, die bis ins 18. Jahrhundert in fast vollem Umfang akzeptiert waren. Wirkungsmächtig war vor allem Opitz‘ Versreform. Ihr Prinzip besteht in der Verkopplung von Metrum und natürlicher Wortbetonung. Opitz kombinierte das in lateinischer Dichtung geltende Prinzip der metrischen Regulierung mit dem in der deutschen Sprache herrschenden Prinzip der Silbenbetonung. Bis zu dieser Reform waren die Betonungen in deutschen Versen frei verteilt; nur die Silbenzahl war nach französischem Vorbild festgelegt. Opitz‘ zusätzliches Dekret, das Metrum solle stets alternierend sein, wurde jedoch schon bald aufgegeben; den Daktylus als dritten Fuß führte 1663 die Poetik des Wittenberger Philologen August Buchner in die deutsche Verssprache ein (vgl. Kemper [2], 72, 91, 323); dennoch blieb er bis 1750 eine, wenngleich
Das Buch von der deutschen Poeterey
Metrik und Prosodie
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik Rhetorik: Form und Inhalt
Dreißigjähriger Krieg
Andreas Gryphius
nicht allzu seltene, Ausnahme. Die seit der Antike gültige, von Opitz übernommene Arbeitsteilung von Rhetorik und Poetik bedeutet nicht, dass die Rhetorik für die Poesie irrelevant gewesen wäre. Auch der barocke Poet geht zunächst einmal rhetorisch vor, d. h., er erfindet und ordnet seine Sachen, bevor er ihnen eine sprachliche Form gibt. Und der Konnex zwischen diesen drei Arbeitsschritten – der Inventio, Dispositio und Elucutio – ist nicht beliebig: So folgt aus der Inventio eines heroischen Themas laut Opitz „stracks“ die dispositorische Entscheidung, das Gedicht mit „seinem innhalte vnd der Proposition anheben“ zu lassen (Opitz, 26). Auch die nächsten Schritte sind geregelt. So sollen in „Comedien und Hirtengesprechen“ auftretende „schlechte vnd gemeine leute“ auch „einfaltige vnnd schlechte reden“ halten (Opitz, 43) und onomatopoetische Effekte vom Poeten beachtet werden (Opitz, 41). Damit ist im Wesentlichen der Rahmen beschrieben, den die Dichter des Barock und später des Rokoko für die Herstellung und die Machart ihrer Gedichte akzeptierten. Worum aber ging es inhaltlich? Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts prägte der Dreißigjährige Krieg, der 1618 mit dem Prager Fenstersturz begann und Deutschland, bis er 1648 durch den Westfälischen Frieden beendet wurde, durch die Kampfhandlungen und ihre Begleiterscheinungen (Seuchen, Misswirtschaft, Hunger, Verelendung etc.) ungefähr 40 % seiner Bevölkerung kostete. Die Wirtschaft lag am Boden; die politische Einheit des deutschen Kaiserreichs war faktisch beseitigt, es begann die Epoche der souveränen Kleinstaaten, unter denen das Kurfürstentum Brandenburg (seit 1701: Königreich Preußen) zunehmend hegemoniale Stellung errang. In vielen literarischen Texten des Barock ,spiegelt‘ sich der Krieg; die Lebenserfahrungen mehrerer Generationen sind wesentlich geprägt durch Schlachten, Belagerungen, Hungersnöte, Hexenwahn und Seuchen. Das bekannteste Kriegs-Gedicht der Zeit ist das Sonett ,Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes‘ bzw. ,Tränen des Vaterlands‘ aus der Feder des schlesischen Lyrikers Andreas Gryphius:
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WIr sind doch numehr gantz / ja mehr alß gantz vertorben. Der frechen Völcker schar / die rasende Posaun / Daß vom Blutt feiste Schwerd / die donnernde Carthaun / Hat alles diß hinweg / was mancher sawr erworben / Die alte Redligkeit vnnd Tugend ist gestorben; Die Kirchen sind vorheert / die Starcken vmbgehawn / Die Jungfrawn sind geschänd; vnd wo wir hin nur schawn / Ist Fewr / Pest / Mord vnd Todt / hier zwischen Schantz vñ Korbe˜ Dort zwischen Mawr vñ Stad / rint allzeit frisches Blutt Dreymal sind schon sechs Jahr als vnser Ströme Flutt Von so viel Leichen schwer / sich langsam fortgedrungen. Ich schweige noch von dehm / was stärcker als der Todt / (Du Straßburg weist es wol) der grimmen Hungersnoth / Vnd daß der Seelen=Schatz gar vielen abgezwungen. (Gryphius [1], 19)
Unter fast gänzlicher Ausblendung der Ursachen thematisiert das Gedicht die Folgen des Krieges in einer additiven Zustandsbeschreibung. Es dominieren kurze Sätze im Präsens, die zur Hälfte aus der Kopula („ist“ in V.5, 8; „sind“
1. Das 17. Jahrhundert
V.6, 7, 9) und einem Prädikatsnomen (wie „gestorben“, „vorheert“, V.5, 6) bestehen. Selbst dort, wo mit Schanzen, Körben, Mauer und Stadt auf die Kampfhandlungen selbst angespielt wird, fokussiert der Text mit dem „allzeit“ rinnenden Blut ein verbindendes Element, das dem Kampf zeitlich nachgeordnet ist. Der Krieg erscheint als kollektives Leidenserlebnis, dessen Darstellung mit einem zusammenfassenden „Wir“ (V.1) eingeleitet wird. Während die Kriegsursachen zu Beginn mit zwei metaphorischen Attribuierungen als Wahnsinn und Gier erahnbar werden (die Posaune ,rast‘ (V.2) und das Schwert hat sich ,fett gefressen‘ (V.3)), lenkt der Schluss das Augenmerk auf die schlimmste aller Folgen, die Tatsache, dass der Krieg die Seelen verdorben hat. Gemeint sind damit nicht die psychischen Verletzungen der Kombattanten und Zivilisten, sondern der Verlust des ewigen Seelenheils durch nicht abbüßbare Sünden. Viele Kriegsgedichte des Barock sind Klagen über Gräuel und Verwüstungen – an keinen menschlichen Adressaten, aber nicht selten an Gott gerichtet. Sie schlagen, Reflex der akzeptierten Ohnmacht des Sprechers, bisweilen ins Gebet um. Wie bei Gryphius ersetzt die Zustandsbeschreibung den Blick auf die Ursachen; Analysen finden nur ausnahmsweise statt. Wo Könige und Feldherren ins Spiel kommen, da verwandeln sie sich sogleich in Beispiele (Exempla), wie in Johann Rists Gedicht ,Als der Herzog von Friedland zu Eger war ermordet‘, das nach einer Exposition (1. Strophe) vom Aufstieg (2. Strophe) und Fall Wallensteins (3. Strophe) berichtet, um dann in der vierten zu schlussfolgern:
Andere Kriegsgedichte
So tummlet sich das Glück, so läuft es hin und wieder: Den einen macht es groß, den andren drückt es nieder; Sein End‘ ist oft der Tod. O, selig ist der Mann, Der sich der Eitelkeit des Glücks entschlagen kan. (Rist, 158)
Das Barocktypische dieses Gedichts liegt in der Eindeutigkeit des Resultats und der besonderen Funktion des Glücksbegriffs. Es lotet nicht einen empirischen Erfahrungsraum aus, um dann eine mögliche Verallgemeinerung anzudeuten, sondern richtet die Darstellung des realen Falls so ein, dass er sich als Beispiel für eine allgemeine Wahrheit eignet. Mit der Erwähnung des „Glücks“ wird der Topos vom ,Rad der Fortuna‘ angesprochen. Als „Topoi“ bezeichnet man feststehende Redewendungen, erwartbare Strukturelemente und allgemeinverständliche ,Bilder‘; sie werden nicht vom Dichter erfunden, sondern sind vorgegeben und sichern das richtige Verständnis des Einzelfalls. Der Dichter, der Topoi verwendet, will keine Anstöße zu einer ungewohnten Sicht der Dinge geben oder ,ungebildete‘ Zeitgenossen belehren, sondern sinnig Bekanntes reformulieren und niveauvoll mit Männern von Verstand, Sitte und gutem Geschmack kommunizieren. Sein rhetorisches Ingenium besteht in der Rekombination bekannter Elemente. Topoi sind per se unoriginelle Bilder, die primär die Kommunikativität der Texte sichern. Das ,Rad der Fortuna‘ versinnbildlicht das Konzept vom Verlauf nicht tugendbasierter Karrieren: Wer von ihm zuerst erhoben wird, wird unweigerlich wieder erniedrigt, sobald er den Scheitelpunkt passiert hat, während ein anderer vom Rad bereits erhoben wird etc. Dieser Topos ist im 17. Jahrhundert so bekannt, dass Rist vom Rad gar nicht zu sprechen braucht. Neben dem Glück zählen zu den beliebten Topoi der Barock-
Topoi
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik Vanitas, Memento Mori, Carpe Diem
Dichtung als Spiegel des Krieges?
was in ein kurtz geticht kan gebracht werden
Galanterie
Liebe – Individualität? Subjektivität?
lyrik der Vanitas-, der Memento Mori- und der Carpe Diem-Topos. Die „Vanitas“ ist die ,Eitelkeit‘ und ,Vergeblichkeit‘ alles irdischen Seins und Bemühens, das „Memento Mori“ die Erinnerung daran, dass wir alle sterben werden, und das „Carpe Diem“ die daraus ableitbare Aufforderung, jeden einzelnen Tag zu nutzen – mit den beiden Varianten: ,um ein gottgefälliges Leben zu führen‘ und ,jeden Moment in vollen Zügen genießen‘. Obwohl der große Krieg im 17. Jahrhundert seltener explizit thematisiert wird, als die kanonisierten Gedichte nahe legen, greifen indirekt viele thematische Topoi der Barocklyrik Kriegserfahrungen auf, indem sie immer wieder die Vergänglichkeit und Nichtigkeit alles irdischen Strebens predigen. Der Dreißigjährige Krieg war mit einer besonderen ideologischen Frontstellung verknüpft. Er war ein großer Konfessionskrieg zwischen dem kaiserlich-katholischen und dem protestantischen Lager. Letzteres kämpfte für die Freiheit seines religiösen Bekenntnisses („Freiheit“ bedeutet in Barocktexten fast immer die Abwesenheit eines religiös-politischen Zwangs). Die Literatur der Zeit folgte einer christlichen Weltanschauung, die das aktive Handeln als Mangel an christlicher Demut anprangerte und Passivität prämierte. Die große Zahl von Leidensdarstellungen erklärt sich daher nicht allein aus realen Erfahrungen, sondern auch aus deren spezifisch christlicher Verarbeitung. Da sich diese ideologische Konstellation auch nach dem Ende des Krieges nicht änderte, blieben die Leidens-Topoi virulent. Daneben entstanden aber auch in großer Zahl Gedichte, die, ganz im Sinne der Opitzschen Lyrikdefinition (Opitz, 33), wieder und wieder die Liebe, frohe Feste und schöne Frauen besangen – oft unter Anspielung auf die Carpe Diem-Formel in der Variante, die den Lebensgenuss in vollen Zügen meinte. Als Jahrzehnte nach dem Krieg das Land sich von den Verwüstungen erholte, als vor allem die Städte wieder aufblühten, schlug auch in der Dichtung die sich verbreitende Lebenslust durch. Die Literatur des Spätbarock richtete sich am Vorbild der französischen und britischen Adelskultur aus. Bevor sich im 18. Jahrhundert eine neue Frontstellung von Adel und Bürgertum herausbildete, testeten die bürgerlichen Literaten die Chancen einer Orientierung an adligen Idealen. Im Zentrum ihres Interesses stand das Konzept der Galanterie. Galant zu sein bedeutet, sich witzig, scharfsinnig, einfallsreich, klug, weltmännisch und charmant zu zeigen, ohne aber diese Eigenschaften aufdringlich auszustellen. Besonders gegenüber Frauen ist Galanterie angezeigt; sie regelt das Verhältnis der Geschlechter außerhalb der Ehe. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts ist eine Zeit raffinierter Liebesdichtungen, die von der Feier blanker Sinnlichkeit bis zur religiös (und auch esoterisch-unorthodox) tingierten Liebesmystik ein weites Spektrum möglicher Liebeskonstellationen abschreiten. Vielen Literaturhistorikern erscheint es sinnvoll, die Epoche des Barock im engeren Sinne um 1680 enden zu lassen und die folgenden fünf Jahrzehnte als ,Galante Zeit‘ zu bezeichnen. Liebe erscheint heute als emotional intensivste und in das Leben eines Individuums am umfangreichsten eingreifende Intimbeziehung, die eine stabile Basis für die Ehe oder ,eheähnliche Beziehungen‘ abgeben soll. Individualität und Subjektivität haben in der Lyrik besonders gute Gestaltungschancen, denn hier kann der Sprecher zu verstehen geben: ,Ich meine dich und nur dich und nie und nimmer eine(n) andere(n)‘, und er kann
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diese Einstellung durch sprachliche Emphase als zwanghafte Leidenschaftlichkeit darstellen. Im Barock hingegen galt die Liebe als mit der Ehe inkompatibel, sie fand nur außerhalb von Ehebeziehungen statt (vgl. Luhmann, 60 f.). Es haftete ihr daher etwas Illegitimes an, das Maskierungen erforderlich machte. Die Ehebrechern drohenden drakonischen Strafen sind der lebensweltliche Hintergrund der von der galanten Theorie geforderten Diskretion (vgl. Kemper [3], 31). Das Unkenntlichmachen der Geliebten zeichnet de facto die ganze Liebeslyrik von Opitz bis zur Anakreontik aus. Thomasius kommentiert: „Discret seyn ist ein nothwendiges Stücke der galanterie […]“ (zit. n. Wiedemann, 3). Immer fehlt es der fingierten Adressatin an Individualität. Die Liebeslyrik maskiert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts die begehrte Person und raffiniert das Begehren selbst, wozu nicht nur ein beachtliches Arsenal witziger, geistreicher Formen des Andeutens und Anspielens zur Verfügung steht, sondern auch ein bis ins frühe 18. Jahrhundert genutzter Topos, den man als „Lob der Körperteile“ bezeichnen könnte. Vielfach variiert, wird das weibliche Schönheitsideal der besungenen ,Frau‘ übergestülpt: ,ihre‘ Schultern sind weiß wie Schnee, ,ihre‘ Lippen rot wie Korallen, die Zähne gleichen Perlen, die Brüste Äpfeln etc. Obwohl sich die barocke Liebeslyrik am Witz, an der Pointe, an der Anmutigkeit orientierte, kann ihr eine gewisse Emphase nicht abgesprochen werden, die aber meist so formuliert ist, als sollte man sie dem Sprecher nicht abnehmen. Erst als sich das 18. Jahrhundert entscheidet, das Liebeskonzept mit dem Konzept der empfindsamen Freundschaft zu amalgamieren, kann die Geliebte beim Namen genannt werden. Der Preis, den man dafür zahlt, besteht darin, dass man nun die sexuelle Zielsetzung maskieren bzw. verdrängen muss. Die barocken Autoren kennen neben der Maskierung eine zweite Art der Selbstzensur, die darin besteht, Texte, die unverblümt sexuelles Begehren thematisieren, nicht zu veröffentlichen. Das Bild vom sinnenfreudigen Barock kommt durch eine Überblendung der damals beliebten üppigen Aktmalerei mit Texten von Dichtern zustande, die sich sehr wohl hüteten, dergleichen zu Lebzeiten drucken zu lassen. Die berühmten erotischen Gedichte Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus, der 1679 starb, las man erstmals in der Lyrikanthologie Benjamin Neukirchs von 1695, in der sie in großer Zahl enthalten waren. Dennoch prägten andere Autoren der Neukirchschen Sammlung die weitere Lyrikentwicklung stärker. Sowohl die prächtige Metaphorik und Symbolik Hoffmannswaldaus und Lohensteins, als auch ihre verspielte Erotik gerieten in den ersten Jahrzehnten des folgenden Jahrhunderts mehr und mehr in Misskredit. In der Liebe zeigt sich der Mensch ungezwungen und natürlich. Unter Natürlichkeit verstanden die galanten Autoren vernünftige und moderate Verhaltensweisen, die sich in einem entsprechenden Sprachstil niederschlagen sollten. Hier kündigt sich die Aufklärung an, die maßvolle, tendenziell entsexualisierte Liebe als naturhaft legitimiert. Das (bis heute virulente) Konkurrenzkonzept ist älter: die Legitimation der Sexualität durch Natürlichkeit. Die beiden Konzepte und der stilistische Unterschied zwischen spätbarocker und galanter Poesie werden in der Gegenüberstellung der letzten Strophe eines Gedichts von Daniel Casper von Lohenstein und eines Gedichts von Hans Aßmann Freiherr von Abschatz deutlich:
Sinnenfreudiger Barock?
Liebe und Natur
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik DANIEL CASPER VON LOHENSTEIN: LOBGESANG DER NATUR AUF DIE LIEBE
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Der Himmel blickt wie Argus an Mit hundert Augen Meer und Erde. Sie putzet sich mit Tulipan, Daß sie von ihm geschwängert werde. Weil nun nichts in der Welt ist von der Liebe frei, Geht sonder Opferung nichts sein Altar vorbei. (Haufe [2], 245) HANS ASSMANN VON ABSCHATZ: SIE SEUFFZEN BEYDE
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Gelehrsamkeit
Johann Christian Günther
Du pflegest dich gantz laut / ich heimlich zu beklagen / Die Seuffzer sind gemein bey dir und mir / mein Kind: Ich weiß / daß meine nur auff dich gerichtet sind / Von deinen weiß ich nichts zu sagen. Ein Ander mag uns Neyd um unsre Seuffzer tragen: Ich weiß / daß meine nur auff dich gerichtet sind. Wohin die deinen gehen / mein allerliebstes Kind / Da weiß ich nichts / und will nichts sagen. (Abschatz, 264)
Nachdem Lohenstein in 20 Strophen das Liebestreiben in der Natur behandelt hat, anthropomorphisiert er in der Abschlussstrophe die Natur (Himmel und Erde, V.1, 2) durch einen Mythenbezug (den hundertäugigen Riesen Argus, V.1) und ein Weiblichkeitsstereotyp (sich putzen = schön machen, V.3), um dann die der antiken Mythologie entnommene Vermählung des Himmels (Uranos) und der Erde (Gaia) als Geschlechtsverkehr (Schwängern, V.4) zu deuten. Lohensteins Gedicht exponiert jene Gelehrsamkeit, die zum Selbstbild der Dichter seiner Zeit gehörte. Noch weit entfernt vom späteren Ideal des Volksdichters, schrieben Barockautoren für ein relativ kleines Publikum, das den Anspielungsreichtum ihrer Texte goutieren konnte. Sie verstanden sich als ,Männer der Wissenschaft‘ und stellten ihre Kenntnisse in allen Wissenssparten zur Schau. Doch obwohl auch Abschatz noch dieser Epoche angehört, schlägt das zitierte Gedicht einen anderen Ton an. Es imitiert die natürliche Sprache intimer Liebessituationen – woran auch der alte Topos von den Neidern, die jedes glückliche Paar plagen (V.5), nichts ändert. Dass aber das lyrische Ich von der Einsicht, den Adressaten der Seufzer seiner Liebsten nicht zu kennen, nicht zu größerer als der bekundeten sprachlichen Emphase getrieben wird, lässt seine Verliebtheit recht schlaff wirken. Mit demonstrativer Innigkeit jedoch spiegelt der Sprecher seinen eigenen resignativen Seelenzustand in der Rede an die Geliebte. Das Gedicht lotet eine Möglichkeit des lyrischen Selbstentwurfs aus. Als Vorbereiter einer neuen, auf die innerseelische Verarbeitung realer Erlebnisse gerichteten Dichtungsauffassung gilt der schlesische Lyriker Johann Christian Günther. In mancher Hinsicht ähneln seine Liebesgedichte den zeitgleichen Gedichten des galanten Stils, doch sie zeigen erste Ansätze, das barocke Maskenspiel aufzulösen. Der Verfasser nennt sich selbst beim ,richtigen‘ Namen, „Günther“ (Günther, 67), und gibt seiner Geliebten den Alltagsnamen „Leonore“; selbst, wenn man nicht weiß, dass damit Magdalene Eleonore Jachmann gemeint ist, bricht Günthers Namensverwendung mit der galanten Praxis der Namensmaskerade, wie sie ein gewisser „Lean-
2. Aufklärung und Empfindsamkeit
der“ (alias Gottlieb Stolle) im ,Abriß seines Liebes-Kummers‘ praktiziert, dessen Sprecher sich zwischen „Leonilde“, „Rosilde“ und „Morinde“ nicht entscheiden kann und daher seine Freunde „Clorinto“, „Dametas“, „Linco“ und „Daphnis“ um Rat bittet (zit. n. Wiedemann, 56). Die galante Forderung eines ungezwungenen, prosanahen Stils nimmt Günther so ernst, dass er immer wieder Alltagselemente in poetische Bilder und Situationsbeschreibungen einmischt. Mal muss die Geliebte, weil ein Abschied bevorsteht, „bittre Mandeln essen“ (Günther, 42), mal wünscht der Sprecher dem „großen Aberwitz“, der „Junggesellenzucht“, es „möchte doch ein Strick ihn bei der Gurgel fassen“ (Günther [2], 66). Die Beispiele ließen sich vermehren. Auch widerspricht Günther dem galanten Ratschlag, dem geliebten Mädchen keine ewige Liebe und Treue zu schwören; im Gegenteil, er tut das, was laut Benjamin Neukirch vielen jungen Männern, die sich damit gegen die Pläne ihrer Eltern auflehnen, zum Verhängnis wurde: er beteuert, dass er „sie mit hindansetzung aller […] zeitlichen glückseligkeit heyrathen“ wolle (zit. n. Wiedemann, 31). Jenseits der Liebeslyrik besteht Günthers Leistung darin, auch peinigenden Seelenzuständen demonstrativ einen größeren Raum zu geben, als bis dahin üblich war. In seinem Gedicht ,Als er durch innerlichen Trost bey der Ungedult gestärcket wurde‘ steigert er die gegen seinen hartherzigen Vater erhobenen Anklagen, bis er in der sechsten Strophe erklärt: Was wird mir nun davor? Ein Leben voller Not. O daß doch nicht mein Zeug aus Rabenfleisch entsprossen, O daß doch dort kein Fluch des Vaters Lust verbot, O wär doch seine Kraft auf kaltes Tuch geflossen! O daß doch nicht das Ei, in dem mein Bildnüs hing, Durch Fäulung oder Brand der Mutter Schoß entging, Bevor mein armer Geist dies Angsthaus eingenommen! Jetzt läg ich in der Ruh bei denen, die nicht sind, Ich dürft, ich ärmster Mensch und größtes Elendskind, Nicht stets bei jeder Not vor größrer Furcht umkommen. (Günther [1], 223)
Zwar folgt in der siebten und letzten Strophe die Hinwendung zu Jesus als Erlöser, doch selbst, wenn man alles Vorangehende deshalb als Inszenierung eines Lutherischen Verzweiflungszustandes liest („Aus tieffer not schrey ich zu dyr, / Herr Gott erhor meyn ruffen. / Deyn gnedig oren ker zu myr / und meyner bitt sei offen.“, Luther, 4), geht doch der Fluch der sechsten Strophe weit über alles Schickliche und sittlich Erlaubte hinaus. Wer so wenig Wert darauf legt zu gefallen, der verweist auf die Not, so sprechen zu müssen. Die bei Abschatz so sanfte und bei Günther so emphatische Qual wird zum Geburtshelfer lyrischer Authentizität, die sich als ideale Identität von Sprecher und Verfasser präsentiert.
2. Aufklärung und Empfindsamkeit Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert entstanden innovative Ansätze in der Rechts-, Staats- und Moralphilosophie sowie den Naturwissenschaften, die darauf hinausliefen, dass sich der bürgerliche Stand nicht länger an tra-
Lehrgedichte: Poetologie und Inhalte
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
Barthold Hinrich Brockes
dierten ständischen Normen orientieren, sondern jenseits derselben in der Natur der Dinge allgemeingültige Werte finden wollte, nach denen sich das Leben richten sollte. Der Aufschwung der Wissenschaften beflügelte das Bedürfnis, das neue Naturbild einem breiten Publikum zu vermitteln. Es bildete sich eine frühe Form der literarischen Öffentlichkeit heraus; nicht nur die Gelehrten, sondern idealiter alle Menschen galten als involviert. Nach 1730 wurden in großer Zahl sogenannte Lehrgedichte geschrieben, die sich praktisch mit allen für relevant gehaltenen moralischen, philosophischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Fragen befassten. Sie setzen sich zusammen aus Beschreibungen, Exempla, thesenartigen Sentenzen und (Pseudo-)Argumenten; starke Gefühle hingegen und geschlossene Erzählungen sucht man vergebens. Der rhetorische Schmuck sollte, wie immer wieder gefordert wurde, maßvoll eingesetzt werden, der Stil jedoch gehoben bis hoch sein. Während wissenschaftliche Fachliteratur durch Nüchternheit und Schwierigkeit den durchschnittlichen Leser abstoße, sollten Lehrgedichte erfreuen und nutzen (,delectare et prodesse‘): ihren Lesern schwereingängiges Wissen schmackhaft machen, sie zu seiner Aneignung veranlassen und damit zu ,nützlicheren‘ Menschen umbilden. Hier zeigt sich das wirkungsästhetische Programm der Aufklärung. Lehrdichtung soll die Verbindung zwischen den Wissenschaften und einem wachsenden, bildungsbedürftigen Lesepublikum herstellen. Der erste Lehrdichter des 18. Jahrhunderts war der Hamburger Frühaufklärer Barthold Hinrich Brockes, dessen neun Bücher vom Irdischen Vergnügen in Gott die Einrichtung der Welt als Widerspiegelung der Vollkommenheit ihres Schöpfers preisen. Die Vielschichtigkeit der Natur lässt den Beobachter immer Neues entdecken, und es stecken sogar im selben Phänomen mehrere Lehren, wie Brockes in der Auswertung seiner Betrachtung der unansehnlichen, aber wohlriechenden ,Muscat=Hyazinthe‘ vor Augen führt:
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[…] Du dienest mir, zu Gottes Preise, Zum unumstößlichen Beweise Der nicht zu zählenden Verändrung der Figuren In seinen schönen Creaturen, Und dieß vermehrt des Schöpfers Ehre. Im Weltlichen giebst du mir diese Lehre:
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Man lasse sich den äusserlichen Schein Doch keinen Fallstrick seyn! Denn ein geflicktes Kleid und schmutz‘ger Mantel decket Gar oft ein Herz, in welchem Weisheit stecket. (Brockes [1], 48)
In der „weltlichen“ Lehre (V.16 – 20) fungiert Natur nur als Bildspender einer Allegorie des rechten Lebens, doch die ,physicotheologische‘ erste Auslegung (V.11 – 15) verweist auf die Idee von der großen Kette der Wesen, der unendlichen Vielfalt der Natur, die, als ,Buch der Welt‘ gelesen, die Vollkommenheit des Schöpfers spiegelt. Dass Brockes fortwährend Menschen beklagt, welche die Natur nicht zu lesen verstehen und eben deshalb desorientiert und unglücklich durchs Leben gehen, lässt die geof-
2. Aufklärung und Empfindsamkeit
fenbarte Wahrheit der Bibel als prinzipiell ergänzungsbedürftig erscheinen. Diesen naturreligiösen Optimismus teilen allerdings nicht alle Aufklärer, und insbesondere vom berühmtesten Lehrdichter des Jahrhunderts, Albrecht Haller, wird ein anderer Zusammenhang von Mensch und Natur entworfen. Der junge Arzt und Biologe Haller hatte 1729 eine Tour ins Berner Oberland unternommen und 1732 deren poetische Auswertung unter dem Titel Die Alpen veröffentlicht. Haller beschreibt in 490 Versen Landschaft und Bewohner. Die Beschaffenheit des Gebirges stellt den Menschen einen Lebensraum bereit, in dem ihre Geselligkeit und ihr Glück sich in natürlich-vernünftiger Weise entfalten können. Fast unendlich vielfältig ist die Bergwelt und zeigt sich nur dort segensreich karg, wo die Vielfalt in schädlichen Überfluss umschlagen würde. Die vernünftige Natur gebiert die natürliche Vernunft; die beiden Anteile des Menschen, der vernünftige und der tierische, können in einen harmonischen Einklang gebracht werden. Doch zugleich verrät Haller nicht, wie der Rest der Menschheit dieselbe Seligkeit wie die Berner Oberländer erlangen könnte. Da hilft nur eine Orientierung an den Werten, die von den Naturkindern der Hochalpen vorgelebt werden, wozu eine beobachtende und lernende Grundhaltung eingenommen werden muss – eine Haltung, die in Hallers Gedicht der Sprecher vorbildet. Dennoch waren die Literaturtheoretiker der Aufklärung mit der Lehrdichtung unzufrieden. Johann Christoph Gottsched monierte deren Verstöße gegen das Mimesisprinzip (es fehle die Fabel (= Geschichte), welche die Wirklichkeit nachahme (Mimesis); die Wirklichkeitsdarstellung der Lehrgedichte sei per se unpoetisch). Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing sahen in den langen Beschreibungen der didaktischen Poeme das von ihnen für grundlegend gehaltene poetische Prinzip der Sukzession verletzt. Beide Angriffe zeigen, dass die Beobachtungshaltung der Lehrdichter auf Dauer zwar der Aufklärungsphilosophie, nicht aber der Poesie genügen konnte. Letztlich aber dürfte den Niedergang des Lehrgedichts bedingt haben, dass es als vorübergehende Lösung eines Problems ausgedient hatte, das nun anders gelöst werden konnte. Das Lehrgedicht war nämlich neben der Tragödie die einzige Gattung, die in der ersten Jahrhunderthälfte den hohen Stil benutzte und dennoch den nun verpönten rhetorischen Bombast des barocken Geschmacks vermied. Seit etwa 1750 übernahm diese Funktion die Ode, wie sie von Pyra, Lange und Klopstock entwickelt wurde. Die Ode konnte zugleich den Mimesis- und Sukzessionsforderungen Genüge tun und auch das Konzept des natürlichen, einfachen Stils verändern, indem sie Natürlichkeit nicht mehr als sprachliche Einfachheit, sondern als seelische Innerlichkeit zu fassen erlaubte. Diese ,neue Subjektivität‘ und ihre Durchsetzung beim Lesepublikum machten Lehrgedichte ,unlesbar‘. Parallel zur Ode (auf die wir später zurückkommen) entwickelte sich ein Genre des einfachen Stils, das einige Ähnlichkeiten mit der galanten Poesie besaß. Seine Dichter beriefen sich auf den griechischen Lyriker Anakreon, von dem ihre Poesie den Namen übernahm. Die Anakreontik beherrschte zwischen 1740 und 1775 vor allem die weltliche Lieddichtung. Ihre Themen sind Liebe, Freundschaft und die Freude, die ein wohleingerichtetes Leben in meist ländlicher Umgebung gewährt. Liebe liegt im Wesentlichen in zwei Varianten vor:
Albrecht Haller: Die Alpen
Gegner des Lehrgedichts: Gottsched und Lessing
Anakreontik
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik JOHANN WILHELM LUDWIG GLEIM: AMOR AUF DER JAGD
NICOLAUS GÖTZ: BITTE AN DIE GÖTTER
Amor winkt mir, soll ich folgen? Seht! wie schalkhaft kann er lächeln. Seht ihn doch! den kleinen Jäger. Dort im Busche sieht er Mädchens; Seht! er zeigt sie mit dem Bogen. Seht! nun schleicht er an der Seite; Seht ihr nicht? er winkt schon wieder. Brüder, laßt uns nicht mehr trinken, Wollt ihr mit? ich muß ihm folgen. Kommt, er soll die Nimfen schiessen Seht! er schießt schon. Laßt mich laufen. (Gleim [1], 38)
Sie liebet mich, um die ich mich bemühte! – Groß ist mein Glück, und, wie der Himmel, hoch. Noch eine Huld, ihr Götter voller Güte, Gewähret mir: ach! diese Eine noch. Soll mich einst Aurora haßen, Die anitzt für Liebe girrt: Ach! so laßet mich erblaßen, Einen Tag zuvor erblaßen, Ehe sie mich haßen wird! (Götz, 64)
Es gibt kaum Liebesgedichte, die eigene Erfahrungen so wenig abzuspiegeln vorgeben wie die Gleimschen; es geht nie um eine Frau, sondern immerzu um „Mädchens“ oder „Nimfen“ (im Plural); auffällig ist auch die häufige Verwendung des Konjunktivs (vgl. Killy, 129 ff.). In den Vorreden zu seinen Gedichtausgaben verwahrte sich Gleim zudem gegen den Schluss vom Inhalt seiner Lieder auf die Lebensführung ihres Verfassers. Dennoch erzeugt die Imitation situativer Rede Lebendigkeit. Auf dieses Mittel verzichtet Götz und setzt inhaltlich an die Stelle der Gleimschen Wollust das Fernziel der Liebesehe. Dieses Konzept sind die Anakreontiker durchaus ins Ernste hinüberzuspielen geneigt: Ausformuliert, wenngleich in ein fabelhaftes Tierreich verschoben, wird das neue Ehe-Ideal in Götz‘ ,Die wahre Liebe‘ (Götz, 44/45), und dementsprechend kann Götz, obschon halb scherzhaft, Konventionalehen in Frage stellen wie im Gedicht ,Als Timoleon zu heyrathen gezwungen ward‘ (Götz, 65). Das beständige Changieren der Anakreontiker zwischen Ernst und Unernst, Aufrichtigkeit und Maskerade, Liebe, Sex und Ehe wird dadurch ermöglicht, dass ein Moment der Verharmlosung jederzeit präsent ist. Dieses Moment haben die Anakreontiker auf den Begriff des Vergnügens gebracht, von wo aus sich die triebhafte Liebe auf den Kuss reduziert und unter die idyllischen Betätigungen eingereiht werden kann: FRIEDRICH VON HAGEDORN: AUFMUNTERUNG ZUM VERGNÜGEN
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Erlernt von muntern Herzen Die Kunst beglückt zu scherzen, Die Kunst vergnügt zu seyn. Versucht es. Laßt uns singen, Das Alter zu verjüngen, Die Jugend zu erfreun. Macht neue Freundschaftsschlüsse! Ihr Kinder, gebt Euch Küsse! Ihr Väter, gebt Euch Wein! (Hagedorn, Teil 3, 65)
Ganz ähnlich meint Götz in ,Das Vergnügen‘, dieses bewege die „weite Welt“ und rege sich „auch im Würmgen“; „gut und mild“ erfülle es „[u]nsre ganze Seele“: „Das Vergnügen folget nur / Sanften Trieben der Natur.“
2. Aufklärung und Empfindsamkeit
(Götz, 52) Harmlos ist dies, aber realisierbar. Wie bei Lohenstein der Geschlechtsakt, so kann bei den Anakreontikern das Vergnügen als natürlich legitimiert werden. Zukunftsträchtig ist das in dem Gedicht ebenfalls angesprochene Ideal der Freundschaft, das auch außerhalb der Anakreontik aufgegriffen wurde. Da Freundschaft den Ausschluss von Sexualität impliziert, können hier Gefühle ungehemmt entwickelt und neue Formen zu ihrer Darstellung erprobt werden. Und auch den Ort, an dem dies stattfinden kann, bezeichnen die Anakreontiker bereits: die freie Natur. In ihr findet Hagedorn, wie er in ,Die Landlust‘ schreibt, „des Unmuths Gegengift“; sowohl „Geschäfte, Zwang und Grillen“ als auch die „Schwätzer, die ich meide“ beschwört er: „Verfehlt den Sitz der Freude, / Verfehlt der Felder Grün.“ Natur ist hier zugleich als Abwesenheit gesellschaftlicher Zwänge und positiv als Ort konzipiert, an dem „im Stillen“ neue Kräfte gesammelt werden können. Dies entspricht ganz der verharmlosenden Tendenz der Anakreontik, die in der Natur nichts Raues und Gefährliches sehen mochte, sondern eine Idylle, die wie geschaffen ist zum Ausleben des angestrebten Vergnügens. „In meines Vaters Bibliothek hatte ich bisher nur die früheren, besonders die zu seiner Zeit nach und nach heraufgekommenen und gerühmten Dichter gefunden. Alle diese hatten gereimt, und mein Vater hielt den Reim für poetische Werke unerlässlich.“ (Goethe [3], 80) Im Gegensatz zu seinem Vater habe, so Goethe, ein Freund der Familie, Johann Caspar Schneider, Klopstocks reimloses Epos Der Messias hochgehalten, worüber die Freundschaft der beiden Männer nur deswegen nicht zerbrochen sei, weil sie stillschweigend übereinkamen, das Thema fallen zu lassen. Doch der Reim war allgemein in Verruf geraten. Kritisiert wurde er, weil er die freie Selbstäußerung des Dichters hemme und die Formulierung von Wahrheit und Weisheit erschwere. Während das im niederen Stil gehaltene anakreontische Lied reimlose Verse problemlos nutzen konnte, stellte sich für die im mittleren bis hohen Stil gehaltenen Lehrgedichte die Frage, ob sich nicht ohne Reim, aber durchaus unter Aufwendung anderer poetischer Mittel, klarer und deutlicher die Wahrheit sagen ließe. So klagt Carl Friedrich Drollinger in seinem Lehrgedicht ,Uber die Tyranney der deutschen Dichtkunst‘: „Uns plagt ja schon mit seinem Schellenklang / Der Feind von Geist und Witz, der Reim, zu lang“ und fordert die „Musen“ auf: „helft! Der Verse Tyranney / Ist allzu schwär. O macht uns endlich frey!“ Der Schellenklang gehört zur Narrenkappe, die eine um Ernsthaftigkeit bemühte Dichtung abzulegen bestrebt sein musste. Der Reim erscheint vorübergehend als eine so würdelose Angelegenheit, dass Nicolaus Götz im Motto seiner Ausgewählten Gedichte die Forderung „Kein Reim entweih dies dir geweihte Lied. Damon“ erheben kann. ,Damon‘ ist der Sprecher in Samuel Gotthold Langes ,Damons Thränen über des Thirsis Tod‘, worin sich eben dieser Satz findet, der anscheinend den Eingeweihten so bekannt war, dass Götz Lange nicht einmal beim Namen zu nennen brauchte. Ende der vierziger Jahre experimentierten Lange und Friedrich Gottlieb Klopstock mit weder alternierenden noch rein-daktylischen Metren und mit reimlosen Versen. Den Verlust des Reims kompensierten sie durch eine Steigerung der metrischen Komplexität. Dazu eigneten sich die deutschen Metren der Opitzschen Tradition nicht, weil sie auch in den gereimten Gedichten realisiert waren. Die erforderliche metrische Komplexitätssteige-
Für und wider den Reim
Antike Maße
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
Friedrich Gottlieb Klopstock
rung bewirkte erst die Übertragung antiker Maße auf die deutsche Verssprache. Es handelte sich dabei im Wesentlichen um den Hexameter (später auch den Pentameter) sowie die sogenannten Odenmaße (vgl. Kapitel III). Besondere Schwierigkeiten bereitete das in der griechischen und lateinischen Poesie geltenden quantifizierende Prinzip, d. h. die Festlegung von Hebungen und Senkungen nicht durch den Silbenakzent wie im Deutschen, sondern durch Silbenlängen. Denn während z. B. für die von der sapphischen Strophe geforderte unmittelbare Folge dreier langer Silben genügend Wörter mit einer entsprechenden Struktur vorliegen, ist andererseits die Zahl der deutschen Wörter gering, die zwei aufeinander folgende betonte Silben (wie in „Augapfel“) aufweisen und mit einer weiteren Silbe aus einem anderen Wort tatsächlich eine natürliche dreifache Betonung zustande bringen würde. Da zugleich sich das ,normale‘ Sprachgefühl gegen eine Übernahme des Längenprinzips wehrt, schwankt der deutsch-antike Vers zwischen dem Akzent- und dem Längenprinzip hin und her: Puristen wie Johann Heinrich Voss und August von Platen versuchten, das antike Prinzip umzusetzen, während Klopstock und Goethe sich am Akzent orientierten. Klopstock, literaturgeschichtlich bedeutender als Lange, erfand zunächst eigene prosodische Strukturen, ging aber bald dazu über, die griechischen Odenstrophen zu adaptieren. Doch er importierte nicht nur Metren, er modifizierte auch die lyrische Sprechweise signifikant und steigerte so zugleich die inhaltliche Seriosität. Nicht Anakreon, sondern der enthusiastische Hymnendichter Pindar ist Klopstocks Vorbild unter den Griechen. Diese Orientierung kommt einem Paradigmenwechsel gleich, der für die gesamte weitere Entwicklung der Lyrik Folgen hatte. Denn die Pindarische Hymne steigert den Ausdruck, indem sie die Verständlichkeit reduziert. Sie imitiert nicht mehr die einigermaßen kontrollierte Rede von alltäglichen Sprechern, sondern den Überschwang der Begeisterung. Hypotaktische Satzkonstruktionen, das Abbrechen von Gedanken und assoziative Sprünge, rasante Ortswechsel sowie die Referenz auf nur private Wissensbestände werden möglich, wobei jedoch Klopstock alle diese Möglichkeiten noch mit Zurückhaltung verwirklicht: FRIEDRICH G. KLOPSTOCK: DER ZÜRCHERSEE Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch Einmal denkt. 5
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Von des schimmernden Sees Traubengestaden her, Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf, Kom in röthendem Strale Auf dem Flügel der Abendluft, Kom, und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn, Süße Freude, wie du! gleich dem beseelteren Schnellen Jauchzen des Jünglings, Sanft, der fühlenden Fanny gleich. […] (Klopstock, 45)
Die folgenden Strophen dieser wohl bekanntesten Ode Klopstocks (im 4. asklepiadeischen Odenmaß) beschreiben ein Tagesgeschehen, dessen
3. Sturm und Drang und Göttinger Hain
Nachwirken im Sprecher die zitierte Exposition darstellt. Gleich zu Beginn wird die subjektive Sprechhaltung des Gedichts fixiert. Nicht eine Muse, sondern die Freude, die aus dem, was die Ode im Hauptteil darstellt, unmittelbar resultiert, inspiriert den Dichter (als der sich der Sprecher durch die Wendung „mein Lied“ zu erkennen gibt). Ihre Anrufung beginnt erst in den Versen 5/6, wo die adverbiale Ortsbestimmung zunächst verschleiert, dass der Satzmodus der Imperativ sein wird. Das Subjekt, die Freude, wird auch in den folgenden Versen (7 – 9) noch nicht genannt. Dafür wird zunächst der Imperativ kenntlich („kom“, V.7), aber die Benennung seines Adressaten erneut aufgeschoben. Dem zweiten „kom“ (V.9) folgt dann eine Begründung des Wunsches, und erst Vers 10 bringt schließlich die Bezeichnung derjenigen, die da kommen möge. Dieses Aufschubverfahren, das Enthusiasmus meint, wird von Klopstock keineswegs ausgereizt; in extremerer Form findet es sich später in den Hymnen Friedrich Hölderlins. Aber die Möglichkeit, den hohen Stil im Gedicht durch Imitation des griechisch-lateinischen Satzbaus herzustellen, ist ein für allemal konstituiert. Mit Klopstocks Oden, ihrem Enthusiasmus und dem strengen antiken Strophenbau, bietet sich im Bereich des hohen Stils eine Alternative zum Lehrgedicht wie auch zum älteren Barockgedicht im ,Lohensteinischen Geschmack‘. Die neue Dichtung veränderte auch die Stellung des Literaturrezipienten. Es musste den Autoren nun nicht mehr allein um etwas so außerliterarisches wie die moralische Besserung des Lesers gehen, sondern ebenso um die Schaffung neuer Lesekompetenzen. Das Publikum musste lernen, Metrum und Rhythmus als poesie-, und das heißt: als versschaffende Größen wahrzunehmen. Die nunmehr intensiv geführten Diskussionen über prosodische Prinzipien und Versmaße dürften eine erhebliche Verfeinerung des Gefühls für rhythmische Nuancen mitbedingt haben, die auch den gereimten, aber nur unterbrochen-alternierenden Versen des ,Volksliedton‘ zugute kam.
Die Leser antikisierender Dichtung
3. Sturm und Drang und Göttinger Hain Um 1770 konnte die deutsche Literatur auf die Leistungen von Haller, Lessing, Gellert, Wieland, Klopstock etc. pochen und sie der französischstämmigen, höfisch-aristokratischen Regelpoetik entgegenhalten. Während Gottscheds Versuch, mit rationalem Impetus die Poesieregeln aus einem Prinzip abzuleiten, als gescheitert galt, behielt die Orientierung an Vorbildern ihr Ansehen bei. Doch man suchte nach ihnen nun weniger unter den Franzosen als unter Griechen, Lateinern und den ,eignen‘ Schriftstellern; dazu Gotthold Ephraim Lessing im 19. der ,Briefe, die neueste Literatur betreffend‘: Veränderungen und Verbesserungen aber, die ein Dichter, wie Klopstock, in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt, sondern mit allem Fleiße studieret zu werden. Man studieret in ihnen die feinsten Regeln der Kunst; denn was die Meister der Kunst zu beobachten für gut befinden, das sind Regeln. (Lessing, 79)
Der Ursprung der Regeln hatte sich deutlich in Richtung Gegenwart verschoben.
Neue Vorbilder
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik Sturm und Drang
Goethe
Freie Rhythmen, Hymnen
Zu Beginn der siebziger Jahre trat mit den Autoren des Sturm und Drang eine Gruppe junger Schriftsteller auf, die sich einerseits auf Klopstock beriefen, andererseits aber auch selbst als Regelsetzer in seine Fußstapfen treten wollten. Die Stürmer und Dränger waren die erste Autorengeneration, die nicht die Schwächen der Vorgänger überwinden, sondern ihre Stärken übertreffen musste. Gegenüber seinen Sturm und Drang-,Kollegen‘ – Jakob Michael Reinhold Lenz, Friedrich Maximilian Klinger und Johann Gottfried Herder – ist zweifellos Johann Wolfgang Goethe der bedeutendste Lyriker. Er stellte zwei Gedichtgattungen, die Hymne und das Lied, auf einen neuen Grund. Für die Hymne hatte Klopstock 1747 in der Ode ,Auf meine Freunde‘ zwar mit der Frage „Willst du zu Strophen werden, o Lied, oder / Ununterwürfig Pindars Gesängen gleich, / […] Frei aus der schaffenden Seele taumeln?“ das Programm formuliert, aber dort nicht durchgeführt; die Verse sammeln sich zu alkäischen Strophen. Erst 1759 verfasste er mit der Hymne ,Das Landleben‘ (später verstechnisch modifiziert und neu betitelt: ,Die Frühlingsfeier‘) das Gedicht, das für Goethe vorbildlich war. Stilgeschichtlich bedeutsam ist, dass bereits Klopstocks Gedicht weder Reime oder Metren noch Strophen enthält (vgl. III.7.3). Die von ihm geschaffenen Möglichkeiten wurden von Goethe in einer Reihe von vornehmlich in der ersten Hälfte der 1770er Jahre geschriebenen freirhythmischen Hymnen weiter radikalisiert. Vergleichen wir die Anfänge von Klopstocks ,Das Landleben‘ und Goethes Hymne ,Harzreise im Winter‘ (wohl 1777 oder 1778 entstanden): Das LANDLEBEN
HARZREISE IM WINTER
Nicht in den Ozean Der Welten alle Will ich mich stürzen! Nicht schweben, wo die ersten Erschafnen, Wo die Jubelchöre der Söhne des Lichts Anbeten, tief anbeten, Und in Entzückung vergehn!
Dem Geier gleich, Der auf schweren Morgenwolken Mit sanftem Fittich ruhend Nach Beute schaut, Schwebe mein Lied.
Nur um den Tropfen am Eimer, Um die Erde nur, will ich schweben, Und anbeten! Halleluja! Halleluja! Auch der Tropfen am Eimer Rann aus der Hand des Allmächtigen! Da aus der Hand des Allmächtigen Die grössern Erden quollen, Da die Ströme des Lichts Rauschten, und Orionen wurden; Da rann der Tropfen Aus der Hand des Allmächtigen! Wer sind die tausendmal tausend, Die myriadenmal hundert tausend, Die den Tropfen bewohnen? (Klopstock, 58/60)
Denn ein Gott hat Jedem seine Bahn Vorgezeichnet, Die der Glückliche Rasch zum freudigen Ziele rennt; Wem aber Unglück Das Herz zusammenzog, Er sträubt vergebens Sich gegen die Schranken Des ehernen Fadens, Den die doch bittre Schere Nur einmal löst. In Dickichtsschauer Drängt sich das rauhe Wild, Und mit den Sperlingen Haben längst die Reichen In ihre Sümpfe sich gesenkt. (Goethe [1], 50)
3. Sturm und Drang und Göttinger Hain
Klopstocks Sprecher ,denkt den großen Gedanken der Schöpfung noch einmal‘ und gerät darüber in eine enthusiastische Aufregung, die allerdings dem theologisch halbwegs Versierten keine Verständnisschwierigkeiten bereitet. Beide Gedichte drücken emotionale Anteilnahme durch Sperrstellungen aus, beide enthalten nicht syntagmenkonforme Enjambements („die Ströme des Lichts / rauschten“; „zum freudigen / Ziele rennt“). In dieser Verwendung des Verses drückt sich ein neuer Autonomieanspruch der Dichtung aus. Keine normalsprachliche Eigenschaft des Textes, sondern allein die graphische Notation macht die Verse als Einheiten kenntlich. Die Verse befinden sich nicht ,in der Sprache‘, sondern auf dem Papier. Prosodie und Versbau sind radikal entkoppelt; wer die Gedichte vortragen will, kann sich auf sein Sprachgefühl allein nicht mehr verlassen. Die Kunstsprache der Dichtung betont ihre Eigengesetzlichkeit – ein Autonomieanspruch, den der Sturm und Drang für die Kunst insgesamt erhebt. Eine Welt für sich soll das vollendete Kunstwerk sein. Der schaffende Künstler tritt an die Stelle des schaffenden Gottes, er wird, wie der Titan Prometheus in Goethes gleichnamiger Hymne, zum Weltenschöpfer. Goethe hat sich über diese Fragen auch theoretisch geäußert, u. a. in seinem berühmten Aufsatz ,Von Deutscher Baukunst‘, in dem er sich mit dem von Erwin von Steinbach konzipierten Straßburger Münster befasst. Der Aufsatz beginnt mit der Feststellung, dass in der Stadt kein Denkmal des großen Baumeisters zu finden sei und stellt dann fest:
Autonomiepostulat
Was braucht‘s dir Denkmal! Du hast dir das herrlichste errichtet; und kümmert die Ameisen, die drum krabbeln, dein Name nichts, hast du gleiches Schicksal mit dem Baumeister, der Berge auftürmte in die Wolken. / Wenigen ward es gegeben, einen Babelgedanken in der Seele zu zeugen, ganz, groß, und bis in den kleinsten Teil notwendig schön, wie Bäume Gottes […]. (Goethe [4], 7)
Wer „Babelgedanken“ denkt, ist, im Gegensatz zu Klopstocks „fühlende[r] Fanny“, kein Nach-Denker großer Schöpfungsgedanken, sondern ein Aufrührer. Er ,schöpft‘ aus der eigenen Tiefe und bekümmert sich demonstrativ nicht um das Leserverständnis. Goethes Hymne unterscheidet von Klopstocks, dass in ihr keine unmittelbar und leicht zugängliche Sinnebene konstituiert wird. Es ist nicht so, dass sich der Text nach einem ersten, problemlosen Verstehen, sobald man also ,genauer hinguckt‘, als hintersinnig erwiese (indem er vielleicht ein verborgenes theologisches Problem erkennen ließe); vielmehr zwingt er den Rezipienten, sofern dieser nicht seine scheinbare Unsinnigkeit hinnehmen will, unmittelbar zur Interpretation. Der Grund dafür liegt darin, dass der Text seinen Zusammenhang nicht auf der Ebene des manifesten Sinns – der Erzählfiktion – herstellt, sondern im Bereich seiner Bildlichkeit. Die um 1770 jungen Autoren sind die ersten, die nicht ihr technisches oder erfinderisches Geschick, sondern die Einzigartigkeit ihrer Person zum Legitimationsgrund ihrer Poesie machen. Diese Person bezeichnete man als Genie, womit man nicht mehr, wie zuvor, eine besondere Begabung zum Umgang mit Sprache und Imaginationen, sondern einen privilegierten Zugang zur Natur-in-einem-selbst meinte. Das Genie begründet die Verbindlichkeit der ,Sonderregeln‘ seines nach konventionellen Maßstäben regelwidrigen Sprechens durch das Postulat, dass in ihm die Natur selbst spre-
Das Genie
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik Neue Naturlyrik im Lied
che, die bei Andern unter Konventionen verschüttet sei. Eine Möglichkeit, diese innere Natürlichkeit zu inszenieren, bestand darin, die äußere Natur als ihren Spiegel aufzufassen. Im nun entstehenden Naturgedicht ist die Landschaft zugleich Seelenlandschaft; sie muss tief empfunden werden, weil sie nur so die tiefe Empfindung des Sprechers ausdrücken kann; hier die ersten vier Strophen des Goethegedichts ,An den Mond‘ in der ersten Fassung von 1776/78: (i) Füllest wieder‘s liebe Tal Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz.
5
(iii) 10
Das du so beweglich kennst, Dieses Herz im Brand, Haltet ihr wie ein Gespenst An den Fluß gebannt,
(ii)
(iv)
Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick Wie der Liebsten Auge, mild Über mein Geschick.
Wenn in öder Winternacht Er vom Tode schwillt Und bei Frühlingslebens Pracht An den Knospen quillt. […]
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(Goethe [1], 128)
Der Göttinger Hain
Nach der empfindsam einleitenden Anrede des Mondes in der ersten Strophe wird in der zweiten Strophe der Angeredete mit dem Auge der Geliebten verglichen. In der dritten Strophe geschieht dann das Erstaunliche: Der Bildspender (Mond) und der Bildempfänger (Geliebte) üben gemeinsam („Haltet ihr“ (V.11)) auf das Ich eine Wirkung aus; die Natur ist gleichzeitig Verursacherin der Seelenregungen und ihr Abbild. Als eigentlich abwesendes Auge der Geliebten ist sie im Innern des Sprechers präsent, als Mond erhält sie in der Außenwelt eine Kraft zu rühren, die ihr ohne die Überblendung des Inneren und des Äußeren nicht zukommen könnte. Der Fluss wird in der vierten Strophe zum Bild für die wechselvollen Seelenzustände des Ichs. Überblickt man freilich die gesamte Lyrikproduktion der siebziger Jahre, so zeigt sich, dass Goethes Überblendungsschema keineswegs dominiert. Natur wird oft noch in anakreontischer Weise als idyllischer Schutzraum der Betriebsamkeit der Zivilisation entgegengesetzt oder empfindsam als Quell des eignen Seelenzustandes dargestellt. Selbst die von Brockes her bekannte physicotheologische Deutung der Natur als Schöpfung Gottes und Zeichen seiner Allmacht kommt noch vor. Ein lesenswertes Beispiel für eine Goethe nahekommende Schreibweise ist Ludwig Christoph Heinrich Höltys Gedicht ,Der Gärtner an den Garten im Winter. Eine Idylle‘, in dem zuerst die Seelenabbildlandschaft und dann, ganz zum Schluss, die in Aussicht gestellte Wirkung auf die Seele dargestellt werden. Hölty gehörte einem zweiten bedeutenden Dichterkreis der siebziger Jahre an, dem sogenannten „Göttinger Hainbund“. Zu diesem wohl von Heinrich Christian Boie initiierten Bund gehörten weiterhin Gottfried August Bürger, Christian Graf zu Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg und Johann Heinrich Voss. Das seltsame Bild, das der Hain abgibt, rührt unter anderem daher, dass ausgerechnet Friedrich Leopold Stolberg sich in eini-
3. Sturm und Drang und Göttinger Hain
gen Hymnen dem Goetheschen Geniegestus am deutlichsten annähert, zugleich aber qualitativ kaum an Hölty, Voss und Bürger heranreicht. Auch der Hainbund knüpfte an Klopstock an, überschritt aber die Grenze zur freirhythmischen Lyrik insgesamt selten. Seine Gedichte haben am ehesten den Charakter einer Bestandssicherung; was bereits geleistet war im Bereich des Liedes, der Ode oder der Idylle, wurde in Variationen wiederholt und dem Publikum im verkaufsstarken Göttinger Musenalmanach (hg. v. Boie) zugänglich gemacht. In vielen Gedichten reden sich die Bündler gegenseitig beim Namen an; hier soll, anders als in Gleims Anakreontik, vom lyrischen auf das schreibende Ich geschlossen werden. Diese Autorposition, verbunden mit dem an sich nicht neuen Anspruch des Dichtersprechers auf charakterliche Integrität, koppeln die Hainbündler an ein Konzept nationaler Identität. Zu deren Konstitution greifen sie tief in die deutsche Geschichte. So versucht Hölty beispielsweise in vielen Gedichten, den Ton mittelalterlicher Minnedichtung zu treffen. Lyrikgeschichtlich blieb aber der „Ahi, Herr Mai, Ahi!“-Mummenschanz des Hains ein Zwischenspiel, doch konzeptgeschichtlich etablierte sich damals die historisch unterfütterte Gleichung „Deutsch = aufrechter Charakter = authentischer Sprecher = Natur“. Wie Goethes Baukunst-Aufsatz, der bereits die nationale Authentizität des vermeintlich deutsch-gotischen Architekturstils betont hatte, betrieben die Hainbündler die Wiederaneignung des deutschen Mittelalters, münzten sie aber zu einer dreifachen Anti-Haltung aus, die Goethe fern lag. In ihren politischen Gedichten amalgamierten sie den bürgerlich-antiklerikalen und -antiaristokratischen Standpunkt mit nationalistisch-antifranzösischen Affekten; ihre Identifikation des heimischen Adels mit der französischen Kultur verleiht ihrer (symbolischen) Revolte eine nationalchauvinistische Note. Nach Höltys frühem Tod mit 27 Jahren und dem Auseinandergehen der Freunde zeigten sich allerdings Unterschiede. Während Voss sich nun als aufgeklärter Republikaner erwies, der die französische Revolution begrüßte, behielten die Stolbergs ihre antifranzösische Haltung bei, gaben aber den bürgerlich-republikanischen Standpunkt auf. Am Ende des 18. Jahrhunderts begann das deutsche Bürgertum, sich nach Konzepten umzusehen, die eine nicht ständisch organisierte deutsche Nation legitimieren können. In diesem Prozess wandelt sich ab etwa 1770 auch das Verhältnis der Schriftsteller zum ,Volk‘, in dem noch Kästner, Klopstock oder Wieland primär einen unaufgeklärten „großen Haufe“ gesehen hatten. Nun aber wurde das Volk mit dem Attribut der Ursprünglichkeit ausgestattet, das zuvor den antiken Griechen reserviert gewesen war. Wie zwei Jahrzehnte früher die griechischen Versmaße, so versuchte man jetzt, Schreibweisen und Maße der Volkslieder oder der Minnedichtung in die Kunstliteratur zu importieren. Das neue Interesse an Volk und Mittelalter blieb nicht auf den Sturm und Drang und den Göttinger Hain beschränkt, sondern trieb z. B. auch Gleim dazu, den 1766 erschienenen Liedern nach dem Anakreon 1772 einen Band mit Liedern für das Volk, ein Jahr später eine Sammlung von übersetzten Gedichten nach den Minnesingern und schließlich 1779 seine Gedichte nach Walter von der Vogelweide folgen zu lassen. Für die nachfolgenden Generationen bedeutender waren allerdings die beiden Bände mit gesammelten Volksliedern von Herder, die 1778/79 erschienen. Ihre erneute Herausgabe unter dem Titel Stimmen der Völker in
Politische Lyrik
Popularität I: Das Volk und der Dichter
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
Popularität II: Bürger und Ballade
Liedern im Jahr 1807 kann wohl als Reaktion auf die Veröffentlichung der populärsten aller Volksliedsammlungen gelten, deren erster Band 1806 unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens Brentano veröffentlicht wurde. Doch der Ausdruck „Popularität“ hatte im ausgehenden 18. Jahrhundert auch bereits die noch heute geläufige Bedeutung von ,allgemeiner Beliebtheit‘. Populär war und ist, wer nicht nur bestimmte Adressatengruppen, sondern alle Menschen eines Volkes anspricht. Gottfried August Bürger erhob diese Art von Popularität nachgerade zum „Siegel der Vollkommenheit“ eines poetischen Erzeugnisses (Bürger, 86). Er selbst setzte, um seinem Dichten dieses Güteprädikat zu sichern, auf eine in der Volksdichtung häufige, in der damaligen Kunstdichtung aber junge Gattung, die Ballade. Seine erklärte Absicht war es, sich wie ein „Dschinkis-Chan der Ballade“ (ebd.) alle Konkurrenten zu unterwerfen, die seinem unerreichbaren Vorbild huldigen sollten. Bürgers Balladen über ,Des Pfarrers Tochter von Taubenhain‘, den ,Wilden Jäger‘ oder den ,Raubgrafen‘, vor allem aber seine berühmte ,Lenore‘ hätten es verdient, in diesem Sinne in die Literaturgeschichte einzugehen. Doch es kam anders.
4. Klassik und Romantik Popularität III: Schiller rezensiert Bürger
Friedrich Schiller
Zwei Jahre nach der erfolgreichen Neuausgabe der Bürgerschen Gedichte von 1789 erschien eine anonyme Rezension, die Bürger als Mensch und Dichter massiv attackierte. Ihr Verfasser, als der sich später Friedrich Schiller entpuppte, akzeptierte Bürgers Diktum von der Popularität als „Siegel der Vollkommenheit“ (Schiller [2], 975), bestritt aber Bürgers Recht auf dieses Abzeichen. Schiller unterscheidet zwischen einer Popularität, die durch die Anpassung an die „Fassungskraft des großen Haufens“ sich in Verkaufsbilanzen niederschlägt (ebd., 973), und einer Popularität, die aus der Fähigkeit eines Dichters folgt, als „Wortführer der Volksgefühle“ vor Augen zu führen, „was im Menschen bloß menschlich ist, gleichsam den verlornen Zustand der Natur zurückrufen“ (ebd., 974). Schillers Populardichter schreibt so, dass das ,einfache Volk‘ ihn lesen will und, ohne es zu merken, durch die Lektüre menschlich veredelt wird. Nicht zuletzt dürfte Schiller der offene politische Impetus Bürgers gestört haben, seine Kritik an machtpolitisch motivierten Kriegen in ,Lenore‘ und an der bürgerlichen Sexualmoral in ,Des Pfarrers Tochter von Taubenhain‘. Dergleichen brüskiert die Vertreter dieser Moral und jener Politik, was sich mit Schillers klassischem Programm eines ,Dichtens für die Menschheit‘ nicht verträgt. Der Angriff auf Bürger erweist sich als Abrechnung mit der progressiven, letztlich nur für ihre Parteigänger geschriebenen Dichtung des Sturm und Drang, dem Schiller selbst zunächst als Nachzügler angehört hatte. Die Gefahr solcher ,Einseitigkeit‘ vermied Schiller, indem er nach Kabale und Liebe kein Drama in seiner Gegenwart spielen ließ und auch für seine Lyrik antike Situierungen bevorzugte. Schillers Balladen – darunter so berühmte Gedichte wie ,Die Bürgschaft‘, ,Die Kraniche des Ibykus‘ und ,Der Ring des Polykrates‘ – , fallen allerdings recht plakativ aus; man versteht immer gleich, welche allgemeinmenschliche Wahrheit ausgedrückt werden soll. Diesen Grundzug teilen sie mit der Gedankenlyrik Schillers, in der er seine philosophischen
4. Klassik und Romantik
Überzeugungen formuliert. Ihr stehen die gemeinsam mit Goethe 1796 verfassten ,Xenien‘ nahe, eine Sammlung von Distichen, in denen die Freunde sich mit zum Teil ätzender Kritik der gesamten literarischen und philosophischen Zeitgenossenschaft annehmen. Zu Schillers bedeutenden Liedern aus der klassischen Phase gehört das ,Lied von der Glocke‘, und auch Goethe setzte seine Liedproduktion mit Gedichten wie ,Meeresstille‘, ,Glückliche Fahrt‘, ,Die Nähe des Geliebten‘ oder ,Dauer im Wechsel‘ fort. Goethes Balladen aus der Zeit der Klassik sind ,Der Schatzgräber‘, ,Der Zauberlehrling‘, ,Die Braut von Korinth‘ und ,Der Gott und die Bajadere‘. Beide Autoren streben in diesen Gedichten Klassizität nicht durch einen Rückgriff auf antike Formen an, sondern nutzen zahlreiche, meist einfache, überwiegend reimende Formen. Gewollt war, durch die Sichtbarmachung des Ideals im Gedicht den Bereich des Allgemeinmenschlichen aufscheinen zu lassen und auf diese Weise den Konnex zum Wesenskern des klassischen Dichtens der Griechen herzustellen. Uneins sind sich die Literaturhistoriker hinsichtlich der Interpretation des Werks Friedrich Hölderlins, des bedeutendsten jüngeren Lyrikers der neunziger Jahre. Seine Gedichte sind, vom Frühwerk abgesehen, zum größten Teil antikisierende Oden und Elegien oder freirhythmische Hymnen. In letzteren steigert Hölderlin die schon bei Goethe zu beobachtende Verschiebung der Sinnkonstitution vom Mimetischen zum Assoziativen noch weiter: WIE WENN AM FEIERTAGE …
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Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn, Ein Landmann geht, des Morgens, wenn Aus heißer Nacht die kühlenden Blitze fielen Die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner, In sein Gestade wieder tritt der Strom, Und frisch der Boden grünt Und von des Himmels erfreuendem Regen Der Weinstock trauft und glänzend In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines:
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So stehn sie unter günstiger Witterung, […]
(Hölderlin, 135)
In diesen Versen treten, noch extremer als bei Goethe und Klopstock, im ersten Satz die Bezugswörter auseinander. Es handelt sich um einen weitgespannten Vergleich, der einen mit „Wie“ (V.1) eingeleiteten Teilsatz auf das „sie“ hinter dem „So“ bezieht (V.10). Wer gemeint ist, wird in Vers 16 gesagt: die „Dichter“. Ihrer Nennung geht eine Charakterisierung voraus: „Sie, die kein Meister allein, die wunderbar / Allgegenwärtig erzieht in leichtem Umfangen / Die mächtige, die göttlichschöne Natur.“ (V.11 – 13) Diese Beschreibung und die Doppelverwendung des Verbs ,stehen‘ (V.9/10) wecken Zweifel, ob tatsächlich der ganze Teilsatz nach dem „Wie“ das Vergleichsobjekt beschreibt, oder ob die Dichter nicht einfach nur den „Bäume[n] des Hains“ (V.9) verglichen werden. Solche Fragen provozieren alle Hymnen Hölderlins in Hülle und Fülle. Und so polyvalent ihre Schreibart ist, so weit gehen die Deutungen der Gedichte auseinander. Manche Forscher sehen in den Naturbildern eine Symbolik der Revolution, andere führen sie auf protestantisch-theologisches Gedankengut zurück, aus dem eine Art Ge-
Johann Wolfgang Goethe
Friedrich Hölderlin
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
Die Jenaer Frühromantik
schichtsmetaphysik zu rekonstruieren sei. Auch die zweite Position kann Anspielungen auf aktuelle französische Zustände bemerken, betrachtet sie aber nur als Zwischenergebnisse; sie will bei Hölderlin die große Idealkonstruktion einer geschichtlichen Gesetzmäßigkeit finden. Die Streitfrage zwischen den beiden Ansätzen lautet daher, ob Hölderlin ein letztlich auf das politische Tagesgeschehen zielender oder ein geschichtsidealistischer Dichter sei. Während die Weimarer Klassik kaum mehr umfasst als eine Schaffensperiode Goethes und Schillers, ist die von der Literaturgeschichtsschreibung als Romantik bezeichnete Strömung ein Langzeitphänomen mit mehreren Phasen. Man unterscheidet eine Jenaer Frühromantik (1795 – 1805), eine Heidelberger und Berliner Hochromantik (1800 – 1820) und eine teils mit Tübingen (Ludwig Uhland und die ,schwäbische Schule‘), teils mit gar keinem Ort assoziierte Spätromantik, deren zeitliches Ende auch deshalb kaum bestimmt werden kann, weil ihre Version der Erlebnis- und Stimmungslyrik bis zum Naturalismus in verschiedenen Variationen immer wieder durchgespielt wurde. Die in der Universitätsstadt Jena sich ab 1795 formierende Gruppe um August Wilhelm und seinen Bruder Friedrich Schlegel, sonst hauptsächlich bestehend aus Ludwig Tieck, Dorothea Veit und Friedrich von Hardenberg (Novalis), übernahm vor allem von den Klassikern das Postulat der Kunstautonomie. Doch anders als Schiller, verstanden die Frühromantiker die Eigengesetzlichkeit der Kunst nicht als Startrampe für Höhenflüge zum Ideal, sondern als Legitimation der Phantasie. Während Schillers Ideal im Leben nicht zu erreichen, aber im Kunstgenuss zu erleben ist, und während der Rezipient nach diesem Genuss moralisch gebessert in die Alltagswelt zurückkehrt, profilieren die Romantiker erstmals die Phantasie als bewusstseins- und erkenntniserweiternden Realitätsbereich eigener Ordnung. Schiller koppelt auf gewundenen Pfaden die Kunst wieder an die Moral, die Romantiker hingegen an die Erkenntnis(theorie). Um ihre Amoralität zu demonstrieren, verfassen sie gezielt Texte, die ihre Zeitgenossen brüskieren. Was aber im Reich der Phantasie gesehen oder erlebt werden kann, kann nie klar und deutlich gesehen werden; man sieht es mehr oder weniger schemenhaft vorüberziehen. Die daraus resultierende Unsicherheit überträgt sich auf das Wirklichkeitserleben; die Grenzen verschwimmen, Phantasie durchsetzt und unterwandert die Wirklichkeit. Wenn einem Menschen, der es gewohnt ist, diese beiden Reiche auseinander zu halten, die Fähigkeit dazu abhanden kommt, bricht Wahnsinn aus, der deshalb von den Romantikern immer wieder gestaltet wird. Tiecks Technik der Bereichsmischung lässt sich an der ersten Strophe seiner Romanze ,Die Zeichen im Walde‘ studieren: O mein Sohn, wie gräßlich heulend Klagt herauf vom Moor die Unke! Hörst du wohl die Raben krächzen? Die Gespenster in dem Sturme? – […]
(Tieck, 349)
Während Unke und Raben der uns vertrauten Realität entstammen, sind die ebenfalls akustisch vernehmlichen Gespenster dem Bereiche der Phantasie zuzuordnen. Auch die Zuordnung der akustischen Signale geht durcheinander: Unken pflegen zu quaken, was mit etwas Phantasie als ein Klagen aufgenommen werden kann, aber „grässlich heulend“ (V.1) stellt man sich
4. Klassik und Romantik
wohl eher die Gespenster vor. Auf solche ,Unstimmigkeiten‘ ist bei romantischen Gedichten zu achten; sie sind kein Versehen, sondern Absicht. Die Romantik ist, stilistisch betrachtet, eine Schule der Übertretungen. Zu deren sprachlichen Mitteln gehören ferner die romantischen Synästhesien, die Vermengung von unterschiedlichen Wahrnehmungsfeldern in Ausdrücken wie „Golden wehn die Töne nieder“ (Brentano, 54): eine besonders anschauliche Art, semantische Grenzen zu überschreiten. Die Abkopplung der Kunst von Moral und Alltagswirklichkeit ermöglichte, dass sich ein wahres Sammelsurium an Weltanschauungen unter dem Dach der Romantik versammelte. Mehrheitlich konservativ und nationalistisch (hieß damals: antifranzösisch) eingestellt, finden sich zumal unter den späten Romantikern auch Autoren wie Heinrich Heine, ein skeptischer Parteigänger der Revolution, der Freiheitspoet Wilhelm Müller, der sich für den Aufstand der Griechen gegen die türkische Besatzung begeisterte, und der solide Demokrat Ludwig Uhland. Auf Konservatismus und Nationalismus trifft man bereits beim Jenaer Kreis. Der auf Fernziele eingestellte Blick der Romantiker fand die Länder seiner Sehnsucht im Mittelalter, das überwiegend als deutsche Epoche konzipiert wurde. Herders Entdeckung des im Mittelalter wurzelnden Volksliedes hatte den Romantikern vorgearbeitet; die romantischen Jungautoren Achim von Arnim und Clemens Brentano waren durch Deutschland gewandert, hatten notiert, was man ihnen vortrug und schließlich die Texte der Volkslieder unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn publiziert. Doch während Herder die Volkspoesien als Beiträge zur Dichtung der Menschheit verstand und daher nach den Gemeinsamkeiten suchte, fokussierten die Romantiker die Unterschiede. Die Arbeit an der Vergangenheit wurde zur Arbeit am nationalen Selbstbild. Wenn von Hardenberg die mittelalterliche Einheit des Christentums idealisierte, dann waren damit alle nicht-christlichen Kulturen ausgeschlossen, auch die ,unchristliche‘ französische Revolutionskultur. Obwohl mit der Romantik nicht zu Unrecht die Gattung des Liedes assoziiert wird, charakterisiert diese Verbindung stärker die mittlere und späte als die Frühromantik. Die Meister des romantischen Liedes sind Joseph von Eichendorff, Wilhelm Müller, Clemens Brentano, Justinus Kerner und Heinrich Heine. Ihre Liedtexte entstanden zum allergrößten Teil erst nach 1810, zu einer Zeit also, als der ,König der Romantik‘, Ludwig Tieck, seine Lyrikproduktion weitgehend eingestellt hatte. Die in Jena versammelten Autoren folgten einem anderen Programm, das darauf abzielte, die Kunstfertigkeit des Schreibens zu exponieren. Doch trotz ihrer Wendung gegen die Normalsprache, die von der Anakreontik über Goethes Lieder bis zu den Balladen Bürgers den Ton angegeben hatte, setzten die Frühromantiker nur selten auf das Gegenteil, den hohen pathetischen Ton der Hymnen Klopstocks oder Goethes und die damit verbundenen erhabenen Gedanken und edlen Gegenstände. Allerdings vermieden sie dergleichen auch nicht konsequent, sondern vermischten es mit anderen Tönen und Themen. Typisch sind eine Reihe von Gedichten Tiecks, die elastisch von einer Strophenform zur anderen überwechseln, dabei aber, anders als Goethes Hymnen, nie das Strophenprinzip ganz aufgeben (was unter anderem an der Beibehaltung des Reims liegt). Auch stilistisch findet die romantische Lieddichtung ihren Höhe- und Schlusspunkt in der Lyrik Joseph von Eichendorffs. Politisch kon-
Romantische Ideologien
Gattungen, Formen
Joseph von Eichendorff
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
servativ und katholisch-religiös, verweisen bei ihm die beseligenden oder beängstigenden Verwirrungen der Seele, der Wahrnehmung und des Lebens stets auf ein besseres Jenseits. Sie sind das Material, an dem sich die Sehnsucht nach dem christlichen Himmel entzündet: Ich kann wohl manchmal singen, Als ob ich fröhlich sei, Doch heimlich Tränen dringen, Da wird das Herz mir frei. 5
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So lassen Nachtigallen, Spielt draußen Frühlingsluft, Der Sehnsucht Lied erschallen, Aus ihres Käfigts Gruft. Da lauschen alle Herzen, Und alles ist erfreut, Doch keiner fühlt die Schmerzen, Im Lied das tiefe Leid. (Eichendorff [2], 15)
Die Fröhlichkeit ist Ausdruck einer Sehnsucht, die der Schmerz produziert. Im Käfig seines Körpers eingesperrt, fühlt der Sänger im fröhlichsten Lied die Schmerzen der Gefangenschaft, von denen nur die melancholische Freude an der Fähigkeit, sie zu empfinden, befreit. Dass Eichendorff tatsächlich den platonischen Topos vom Körper als Kerker der Seele meint, legt ein anderes seiner Gedichte nahe: JOSEPH VON EICHENDORFF: GEDENK Es ist kein Vöglein so gemein, Es spürt geheime Schauer, Wenn draußen streift der Sonnenschein Vergoldend seinen Bauer.
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Und du hast es vergessen fast In deines Kerkers Spangen, O Menschlein, daß du Flügel hast Und daß du hier gefangen.
(Eichendorf [2], 44)
Freiheit ist eben nicht immer ein politischer Begriff.
5. Vom Biedermeier zum Realismus Biedermeier, Restauration, Vormärz, Realismus
Rekurrenz und Vorwegnahme
Nach 1820 stagnierte die Literaturentwicklung in mehr als einer Hinsicht. Symptome dafür sind das von Sengle beobachtete Aufleben der Rhetoriken und Gattungspoetiken des 18. Jahrhunderts und das lange Festhalten an romantischen Schreibweisen insbesondere in der Lyrik. Den literarisch hoch gebildeten Autoren und Autorinnen lagen aus fast einem ganzen literaturgeschichtlichen Jahrhundert mustergültige Produkte vor, deren Formen und Inhalte sie aufnahmen, variierten und rekombinierten. Für starke Individualstile einzelner Autoren blieb Raum, aber dahinter erscheint kein neues ästhetisches Programm. Die Beschreibung der Zeitspanne von 1820 bis 1890 fällt schwer, weil kaum zu entscheiden ist, ob sie als Nachtrag zu Aufklärung, Klassik und Romantik, oder als Vorwegnahme späterer Strömungen aufgefasst werden soll. Die Lyrik dieser Phase kennt viele Beispiele für den Versuch, der klassisch-romantischen Erlebnis- oder Stimmungslyrik zu entkom-
5. Vom Biedermeier zum Realismus
men. Ob sich aber z. B. in August von Platens und Friedrich Rückerts Formexperimenten ein ,Rückfall‘ auf rhetorische Positionen des 18. Jahrhunderts oder eine Vorwegnahme von Ästhetizismus und Formalismus zeigt, wird sich wohl nie ,aus der Sache‘ entscheiden lassen, sondern von den ästhetischen Vorannahmen des Literarhistorikers abhängig bleiben. Den Autoren dieser Jahre war der hohe Grad ihrer Abhängigkeit von Vorbildern ein Problem. Leicht vereinfacht kann man sagen, dass zwei divergente Strategien zu seiner Bewältigung den Gesamtzeitraum in zwei Phasen zu gliedern ermöglichen. Während in Biedermeier, Restauration und Vormärz (1820 – 1850) eine trotzige, auf Überbietung setzende Haltung zu beobachten ist, verlegten sich die Realisten (1850 – 1890) auf einen resignativen, ihre Epigonalität bescheiden anerkennenden Gestus. Einige Biedermeierlyriker verhalten sich auch so, als gäbe es gar kein Epigonalitätsproblem, so z. B. Annette von Droste-Hülshoff. Sie und August von Platen sehen sich in ununterbrochenen kulturellen Traditionen stehen. Wer eine geschichtsphilosophische Position einnahm und z. B. an Hegels Diktum vom Ende der Kunst glaubte, musste seine eigene Kunst als etwas betrachten, was außerhalb der Zeit und der historischen Ordnung der Dinge steht. Heines Widerrede, nicht die Kunst, sondern die Kunstperiode sei an ihr Ende gekommen, die Zeit einer nicht selbstbezüglichen, sondern politisch engagierten Literatur hingegen angebrochen, enthielt eine doppelte Lösung für die Probleme der ästhetischen Epigonalität und der politischen Kaltstellung des Volkes durch die herrschenden Obrigkeiten. Viele Lyriker jedoch zogen es vor, sich in der aus der Welt gefallenen Kunst einzurichten und ihre Distanz zu Geschichte und Gegenwart als Weltschmerz zu verarbeiten. So stößt in Nikolaus Lenaus bekanntem Gedicht von den ,Drei Zigeunern‘ der Sprecher als Kutscher eines im Sand sich vorwärtsquälenden Fuhrwerks in Mitten des Nicht-Orts einer „sandigen Heide“ auf die drei Titelgestalten, die ihm die Nichtigkeit alles irdischen Strebens vor Augen führen. Heines Ausweg aus der Misere rückt die thematische Orientierung auf Politik in den Mittelpunkt, die auch aus anderen Gründen auf der Tagesordnung stand. Das Bürgertum wurde nach dem 1815 errungenen Sieg über Napoleon durch obrigkeitliche Restriktionen politisch marginalisiert. Der Fortschritt, der sich nicht einstellen wollte, hätte in der Gründung eines konstitutionellen deutschen Staates mit Meinungs- und Pressefreiheit und Mitbestimmungsrechten des Volks bestanden. Die Autoren dieser Zeit fühlten sich dem Bürgertum zugehörig; wenn sie immer wieder dessen Anpassung an bestehende Verhältnisse und mangelnde Radikalität attakkierten, dann aus dem Selbstverständnis heraus, die besseren Citoyens zu sein. Bereits die Erhebung gegen Napoleon 1813 wurde von einer emsigen politischen Liedproduktion begleitet. Die meisten der damals gedruckten Gedichte sind heute vergessen; einige Lieder Theodor Körners finden sich, als historische Dokumente, in manchen Anthologien. In den Jahren zwischen der französischen Julirevolution (1830) und der deutschen Märzrevolution (1848) entstand erstmals eine engagierte Lyrik mit langer Wirkung. Sie lässt sich nach Haltung und Gegenstand in zwei Gruppen einteilen. Auf der einen Seite stehen Satiren auf deutsche Zustände, auf der anderen Seite Beschwörungen des politischen Potenzials des deutschen Volkes. Als engagierte bewegt sich die politische Lyrik im-
Epigonalität
Politische Lyrik
Von den Freiheitskriegen zum Vormärz
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
Heine und Chamisso
Ästhetisches Potenzial des Politischen
mer zwischen den Polen der satirischen Verspottung der Gegner oder der ,Schwächlinge‘ im eignen Lager und der Beschwörung eigener Kraft. Scharf ironisch attackiert z. B. Heine in ,Bei des Nachtwächters Ankunft in Paris‘ die Schwächen der bürgerlichen Revolutionäre, während Adelbert von Chamisso in ,Der Invalid im Irrenhaus‘ ein drastisches Bild der Fürstenwillkür zeichnet. Chamissos Gedicht ist vielleicht noch ,ätzender‘, aber nur Heine macht nicht allein die despotischen Obrigkeiten, sondern auch den Untertanengeist der Beherrschten für die Misere verantwortlich. Wer die Emanzipationsfähigkeit des deutschen Volks höher einschätzte als Heine, konnte, wie Hoffmann von Fallersleben im ,Lied der Deutschen‘, deren Zusammenhalt beschwören oder aber den Fürsten den Kampf ansagen wie Robert Prutz im Lied ,Wo sind die Lerchen hingeflogen‘. Heines Nachtwächtergedicht ist aber noch in anderer Hinsicht interessant. Es enthält Wortspiele, in denen sich ein Potenzial zeigt, das von der Lyrik bald immer stärker entfaltet wurde, z. B. in der zweiten Strophe: 5
Annette von Droste-Hülshoff
Historische Einordnungsprobleme
Vortrefflich geht es, der stille Segen, Er wuchert im sittlich gehüteten Haus, Und ruhig und sicher, auf friedlichen Wegen, Entwickelt sich Deutschland von innen heraus.
(Heine, 436)
Der ,wuchernde‘ Segen müsste eigentlich ,walten‘; dadurch, dass er zum Unkraut wird, verkehrt er sich in sein Gegenteil: Unheil. Heine will damit nicht sagen, dass der Segen schlecht und sein Gegenteil gut wäre, sondern zu verstehen geben, dass es eine allgemein übliche Verwendung des Ausdrucks „Segen“ gibt, die unheilvoll ist. Ähnliches gilt für das nachfolgende Wortspiel mit dem Partizip „gehütet“ (wie man auch ein Bett ,hütet‘, wenn man krank ist). Heines Wortspiele sind keine geistreichen und witzigen Fixierungen zufälliger Klangähnlichkeiten, sondern sie verbinden Konzepte, die nur scheinbar nicht zusammengehören, dem politisch gespitzten Leser aber eine überraschende Verwandtschaft offenbaren. Im Wortspiel, und wohl nicht zufällig im politisch motivierten, konkretisiert sich die Idee, dass die Sprache unsere Weltwahrnehmung konstituiert. Wie bei Heine, so trifft man auch im lyrischen Werk Annette von Droste-Hülshoffs auf die Markierung der sprachlichen Gestalt, die zugleich den Texten ein individuelles Gepräge gibt. Verwendung finden anspruchsvolle Metaphern (z. B. „deiner Augen Nebelballen“ (Droste-Hülshoff, 147)), die Mischung gehobenen Stils mit der Umgangssprache (z. B. „lass mich rösten in der Sonnen“ (ebd., 115); „Liebchen, pfiffig war ich nie“ (ebd., 124)) oder eigenwillige Charakterisierungen (z. B. einer „Bank“ als „schattenreichste nicht von allen“ (ebd., 115)). Forcierter noch wirkt eine wiederkehrende idiosynkratische Wortverknappung: statt von „glühend“ ist immer wieder von „glüh“ die Rede (ebd., 90, 127, 303, 329). Dem ,Glühen‘ wird zugleich die Endung und das „end“ genommen, es wird doppelt zu einem ,end‘losen Glühen. Bei Droste fällt wie bei Heine die literaturgeschichtliche Einordnung schwer. Genügt es, dass beide über die ,Romantik‘ spotten (vgl. Droste-Hülshoff, 81) bzw. sie als ideologische Verblendung kritisieren (vgl. Heine, Romantische Schule)? Heines Buch der Lieder lässt sich der Romantik zurechnen, wenn man seine Mischung aus Sehn-
5. Vom Biedermeier zum Realismus
sucht und deren Ironisierung als romantische Technik der Steigerung von Deutungsoffenheit anerkennt. Nachdem Heine 1831 ins Exil nach Paris gegangen war, schrieb er jedoch kaum ein Gedicht, das sich nicht einer solchen Einordnung widersetzte. Seine Ironie trifft nun nicht mehr eine unspezifische Sehnsucht, die der Verfasser zugleich teilt, sondern die politischen Verhältnisse in seiner Heimat. Droste-Hülshoff wiederum, deren religiöse Bindungen sie den Spätromantikern annähert, trennt von der Romantik ihre konkrete Schreibweise, ihre Fixierung auf den komplex ausgestalteten Einzelfall. Vergleichbares gilt wohl für Eduard Mörike, den man ebenso gut als Spätromantiker wie als Spätklassiker bezeichnen könnte; auf ihn sei hier nur knapp hingewiesen, weil sein poetologisches Programm und seine Schreibweise an einem Textbeispiel im nächsten Kapitel näher beleuchtet werden. Bei Heine und Droste-Hülshoff findet sich eine vermeintlich gesteigerte Subjektivität, die in Wahrheit eine vergrößerte ,Präsenz‘ des empirischen Verfassers ,im‘ Gedicht ist. Ohne Exil und Matratzengruft, ohne Münsterländer Heide und Merseburg versteht man nicht, wovon gesprochen wird. Das ist gewollt. Eine bewusste Mischung aus Erhellung und Mystifikation macht das dichtende Individuum interessant, und das geweckte und antizipierte Interesse des Publikums dient zugleich dem Aufbau des individuellen Selbstwertgefühls. Es zeichnet sich eine neue, zugleich ökonomische und emotionale Abhängigkeit des Dichters vom Publikum ab. Sie destabilisiert tendenziell die Autorenpsyche, was insofern bedenklich ist, als der Abstand zwischen Autoren und Publikum im Verlaufe des 19. Jahrhunderts rasch zunimmt. In den neunziger Jahren treten dann Lyriker auf, deren Ich-Sprecher entweder ganz in der empirischen Wahrnehmung aufgelöst erscheinen oder sich hinter eine symbolische Persona, eine mystisch-mythische Maske, zurückziehen: Arno Holz und Stefan George. Neben allen ästhetischen Gründen hat dieses Verschwinden des Ichs auch eine emotionale Schutzfunktion für diese beiden radikal anti- oder unbürgerlichen Schriftsteller. Mit ihnen verbindet die Lyriker des Biedermeier eine Schroffheit, die sich merklich von der Maßhaltung der Aufklärer und Klassiker abhebt. Bei Platen, Heine, Lenau, Müller, DrosteHülshoff und Rückert sind Melancholie oder Aggression entweder herrschend oder sie werden problematisiert. Die demonstrative Kaltblütigkeit, mit der Heine in ,Vitzliputzli‘, Droste-Hülshoff in ,Der Barmekiden Untergang‘ oder Freiligrath in ,Schahingirai‘ Grausamkeiten schildern, knüpft an romantische Balladen wie Tiecks ,Weland‘ an, nicht an die klassische Ballade, die eine emotionale Bewegung des Rezipienten durch ,bewegende‘, Mitleid nicht ausschließende Schilderungen hervorbringen will (Schillers ,Kraniche des Ibykus‘ oder Goethes ,Erlkönig‘). Die jungen Biedermeierautoren weisen die Goethesche Altersabgeklärtheit zurück; auf der Suche nach schrillen Sujets konstruieren sie einen Poesie-Orient, der zugleich als Projektionsfläche für den Wunsch nach klaren Verhältnissen herhalten muss: Hier ist der Stolz echter Stolz, die Wollust blanke Wollust, der Despotismus reiner Despotismus. Mit vielem von dem war nach 1850 erst einmal Schluss. In den Jahrzehnten nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution entwickelten sich die Literaturen der westeuropäischen Kulturen sehr unterschiedlich. In Frankreich bemühte sich Charles Baudelaire darum, die Konfliktstellung von
Empirisches Ich und Subjektivität
Aggressionsabfuhr
Die Bürgerlichen Realisten
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
Theodor Fontane
Conrad Ferdinand Meyer
Künstler und restlicher Menschheit zu verschärfen, wogegen in Deutschland genau der entgegengesetzte Weg beschritten wurde. Hier mussten die Autoren von nun an ihre Artistik verstecken und bevorzugten daher die Prosa. In der Lyrik knüpften die Autoren der realistischen Schule vielfach an die Dichtung der Klassik und Romantik an. Man kann sich diesen Rückgriff zum einen daraus erklären, dass nunmehr erstmals das individualistische Potenzial der klassisch-romantischen Lyrik gewürdigt wurde, zum anderen daraus, dass die sogenannte Gründerzeit die erste Epoche mit echter konservatorischer Tendenz war. Theodor Storms scheinbar schlichte, tatsächlich raffinierte Gedichte und Kellers Gedankenlyrik sind Teil einer privaten Selbstverständigung der Autoren, die nochmals viele bekannte Kniffe der lyrischen Redeweise, freilich unter Vermeidung jeglicher Exaltiertheit, anwenden. Theodor Fontanes und Conrad Ferdinand Meyers Lyrik dagegen weist an einigen Stellen stilistisch innovative Züge auf. Als Experiment hervorstechend ist Fontanes Übertragung des narrativen Verfahrens der polyperspektivischen Erzählerrede auf die Gattung der Ballade und ihre Kombination mit der balladentypischen Figurenrede in ,Die Brück‘ am Tay‘ (Fontane, 45 – 47); Schule gemacht hat diese Balladenform nicht. Meyer wiederum gilt als echter Vorarbeiter sowohl der naturalistischen als auch der symbolistischen Schule. Das Zurücktreten des lyrischen Ichs in einigen seiner Gedichte lässt sich als Vorbote naturalistischer Objektivitätsansprüche werten. Obgleich dies nicht auf seine Lyrik insgesamt zutrifft, belegen doch einige seiner Texte in eindrucksvoller Weise eine Veränderung im lyrischen Empfinden, die eine Modernisierung der deutschen Lyrik durch Verabschiedung des Erlebniskonzepts ankündigt: CONRAD FERDINAND MEYER: ZWEI SEGEL (I)
(II)
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Zwei Segel erhellend Die tiefblaue Bucht! Zwei Segel sich schwellend Zu ruhiger Flucht!
Wie eins in den Winden Sich wölbt und bewegt, Wird auch das Empfinden Des andern erregt.
Begehrt eins zu hasten, Das andre geht schnell, Verlangt eins zu rasten, Ruht auch sein Gesell.
(Meyer, 196)
In ,Zwei Segel‘ begegnet tatsächlich ein reines Bild; hier gestaltet ein Sprecher, der sich selbst nicht thematisiert. Meyer gehört zu den ersten Lyrikern, die nach langer Dominanz des Erlebnisgedichts ohne ein erlebendes Ich auskommen. Das lyrische Bild ist eine Allegorie: Zwar deutet sich der Bildempfänger nur in Ausdrücken an, die als Metaphern das Dinggeschehen ohne Störung des Verständnisses beschreiben können (Flucht, Empfinden, Begehren und Verlangen), aber er deutet sich eben doch in der Häufung von Ausdrücken, die einen und nur einen Empfänger konnotieren, sehr deutlich an: Es handelt sich um ein Bild für ein harmonisch in seiner Umwelt agierendes menschliches Paar. Man kann die beiden Segel durch Ähnliches ersetzen (Kraniche im Wind, Korken auf den Wellen etc.) und wird dabei wohl Veränderungen im Bereich des Bildempfängers bewirken (die Kraniche sind dem Wind weniger, die Korken den Wellen noch stärker ausgesetzt als die Segel dem Wind), doch die
5. Vom Biedermeier zum Realismus
Grundstruktur ,Zusammenspiel zweier Dinge bedeutet Zusammenspiel zweier Menschen‘ bleibt erhalten. Die Frühnaturalisten der späten achtziger Jahre bewegten sich noch innerhalb eines weitgehend realistischen Programms, weshalb auch in ihren Essays die Selbstbeschreibung als „Realisten“ zunächst dominiert. Ihre Schreibweise ist aber nicht mit der der bürgerlichen Realisten zu verwechseln. Wieder beginnt eine neue Strömung damit, dass nicht ein neues ästhetisches Konzept, sondern neue Gegenstände aufgesucht werden. Großstadt, Technik, Arbeiterelend und Sexualität werden lyrisch gestaltbar. Zunächst scheint man solchen Innovationen noch misstraut zu haben; immer wieder werden die Gedichte mit traditionellem Bildungsgut beladen, das für Niveau sorgen und Akzeptanz herstellen soll. Neben konventionellen Formen stehen Gedichte in freien Rhythmen (,Chicago II: Nach dem Morde‘; Schutte, 196 – 98) und Odenstrophen (,Wohin du horchst …‘, ebd., 107); neben strophisch gegliederten Gedichten solche von sehr ungleichlangen Versgruppen (,Die Selbstfindung‘, ebd., 187 – 91). Außer einer Tendenz zur ,langen Zeile‘, zum Vers mit vielen Füßen, der signalisiert, dass der Wohlklang des Reims von der Fülle des zu Sagenden zurückgedrängt wird (,Augensprache‘; ebd., 236/37), demonstrieren auch bewusste Vulgarismen, Reimlosigkeit, Madrigal- (,Im Café‘, ebd., 141 – 43) und Knittelverse den Bedeutsamkeitsanspruch des Inhalts. Im Gegensatz zur Lyrik der bürgerlichen Realisten pflegen viele frühe Naturalisten das Pathos, nicht die Anmut. Alles in allem bewegen sie sich noch im Rahmen einer konventionellen Rhetorik und erfinden keine eigene Gedichtsprache, aber sie schaffen sich doch die Möglichkeit, über bislang unsagbare Dinge – Arbeiter, Großstadt, moderne Lebensverhältnisse, Sexualität – zu sprechen. So entwirft Julius Hart in seinem Gedicht ,Berlin‘ das Szenario einer Stadt, in der nur die ,Besten‘ und ,Stärksten‘ den Kampf ums Dasein bestehen (ebd., 44 – 46); Berlin wird imaginiert als endloser „Ozean“ (V.1), dessen zerstörerische Gewalt die „Schiffer Tag und Nacht“ (V.24) zu spüren bekommen, denn 25
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[…] ewig tost die Schlacht In deinen Tiefen: trümmerübersät Von bleichen Knochen starrt ringsum dein dunkler Grund. Schäum auf, du wilde Flut und tose an! Die du zerreißend hinfegst und mit gier‘gem Maule Zehntausende verschlingst; ein Schrei und dann In dunklen Wirbeln schwemmst du alles Faule Und Schwache tief hinab in deinen Abgrund … Dich rührt kein Weinen und kein heiß Gebet, Der Klagenden Geschrei lautlos und stumm verweht In deiner Brandung Donnern, aber sanft Und weich umschmeichelst zärtlich du des Starken Fuß.
Naturalistische Tastversuche
Formen im Frühnaturalismus
(Schutte, 45)
Wird hier gegen das Bürgerliche (seine Behäbigkeit etc.) Opposition gemacht, oder glorifiziert das Gedicht vielmehr im Gegenteil die Konkurrenzverhältnisse des bürgerlichen Hochkapitalismus, indem es sie zum Programm einer letztlich immer siegenden und immer gewalttätigen Natur erklärt? Wenn die überwiegend aus dem Bürgertum stammenden Jungautoren ihre Klasse wirklich hinter sich lassen wollten, boten sich ihnen zwei Optionen. Die eine bestand im Schulterschluss mit dem Proletariat, die an-
Bürgerliche, proletarische und ästhetizistische Autorposition
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
dere im Rückzug in die ,reine Kunst‘, den Ästhetizismus. Es entstehen in dieser Zeit drei Autor-Positionen, die bis in die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg intakt blieben, die des bürgerlichen, des geistesaristokratischästhetizistischen und des proletarischen Schriftstellers.
6. Die klassische Moderne der Lyrik Impressionismus
Arno Holz
Am Übergang zwischen dem frühen und dem entwickelten Naturalismus befinden sich die Lyriker des Impressionismus, Detlev von Liliencron, Richard Dehmel und Max Dauthendey. Aspekte ihrer ,Eindruckskunst‘ arbeitete Arno Holz weiter aus, der mit Stefan George und Rainer Maria Rilke zu den ersten herausragenden Lyrikern der literarischen Moderne zu zählen ist. Holz gehörte bereits der frühnaturalistischen Strömung an, erlangte aber seine Bedeutung als Lyriker erst durch den Gedichtband Phantasus von 1898/99. Das Hauptthema aller 100 Gedichte darin ist die Wahrnehmung. Es prägt den Band bis ins Layout: In einen brennenden Abendhimmel, aus Staub und Dunkel, steigt der Dom. Die Glocken läuten. Die kleinen Linden stehen schwarz, vor ihren Thüren sitzen alte Leute. Feierabend! Die Gassen schweigen. Die Gluth erlischt, am Himmel leise ziehn die ewigen Sterne auf. (Holz, 22)
Die Mittelachsenzentrierung aller Gedichte des Phantasus exponiert das Wahrnehmensthema durch den Bruch mit der typographischen Konvention; der Leser merkt, dass er sieht, indem er merkt, dass er nicht sieht, was er zu sehen gewohnt ist. Das lyrische Bild des Gedichts gliedert sich in drei Ebenen: den irdischen Bereich der Gassen, alten Leute, schwarzen Linden; den himmlischen des Feuers und der Sterne und den Zwischenbereich aus Glocken und steigendem Dom. Semantisch solidarisch sind die obere und untere Ebene durch die dort herrschende Stille, zu der das Glockenläuten des Zwischenbereichs akustisch in Opposition steht. In zeitlicher Hinsicht sind das vergängliche Himmelsbrennen und die himmelstürmerischen Bemühungen des Doms einander zugeordnet und den still aufziehenden, ewigen Sternen am Schluss des Gedichts entgegengesetzt. Der durch den Dom symbolisierte Versuch, sich Zugang zum Himmel zu verschaffen, scheitert; eine Offenbarung der Geheimnisse der Welt kann nicht stattfinden. Das Gedicht inszeniert das Misslingen eines intellektuellen Brückenschlags von der unteren zur oberen Ebene; gleichzeitig vereint es die beiden Bereiche auf
6. Die klassische Moderne der Lyrik
der Seins-Ebene des Schweigens. Diese Deutung des Gedichts, die sich auf raumsemantische und oppositionsstrukturelle Kategorien stützt, wäre den Zeitgenossen Holz‘ schwer gefallen, obwohl sie die Schreibtechnik des (fast) reinen, keine Hinweise zur Auslegung enthaltenden Symbols von Goethe kannten. Warum? Wahrscheinlich deshalb, weil bei Goethe alles ,irgendwie‘ bedeutend klingt, bei Holz aber banal. Es war Holz‘ erklärte Absicht, äußere und innere Vorgänge möglichst präzise und minutiös darzustellen; den Zeitgenossen (unangenehm) aufgefallen ist aber vor allem die sprachliche Banalität der Gedichte (ihre Alltagsmetaphern, ihre Umgangssprache, ihre schnodderigen Formulierungen, ihre dialektalen Einsprengsel), die zur Folge hat, dass die Gedichtaussage in der Strukturierung der gestalteten Wahrnehmung alltäglicher Vorgänge verborgen wird. Es wird keine ,objektive‘ Wahrnehmung gestaltet, sondern die Formung der Wahrnehmung durch ,versteckte‘ Ideen. Damit der Rezipient nicht ganz chancenlos ist, hinter die Technik und das Thema zu kommen, verstößt Holz sogar einmal gegen sein Programm, wenn er mit dem ,steigenden Dom‘ eine traditionell anschlussfähige, kühne Metapher bringt, die auf die Subjektivität der Wahrnehmungsdarstellung verweist und zugleich den Schlüssel zur Deutung des Gedichts exponiert. Die Lyrik der Jahrhundertwende ist endlich keine Liebeslyrik mehr. Auch das in Holz‘ Gedichten bisweilen noch anklingende Motiv vom Verlust der Jugend hat bei seinem symbolistischen Gegenspieler Stefan George ausgespielt. Die Esoterik seiner Gedichte will auf keine persönliche, subjektive Geschichte verweisen, sondern auf ein Gesetz. Wie ist dieser Anspruch gerechtfertigt? Goethes Vertrauen darauf, als Individuum in hinreichendem Maße die Menschheit zu repräsentieren, überzeugte um 1900 nur noch das Publikum von Sonntagsreden. George dagegen drängt seine eigene Person in den Hintergrund und exponiert das Symbol. Diesem dunklen, komplexen und vielschichtigen Zeichen wird höchste Objektivität im Sinne einer nur dem Dichter vergönnten Weltschau zugeschrieben. Dass die Dichtung, die schon lange als Form der Erkenntnis galt, die Verbindung zu wissenschaftlichen Erkenntnisformen mit Recht abkappen dürfe, wäre den Naturalisten nicht in den Sinn gekommen. Es ist eine anti-naturalistische Position par excellence. Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme · Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut. 5
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Von kohle die stämme von kohle die äste Und düstere felder am düsteren rain · Der früchte nimmer gebrochene läste Glänzen wie lava im pinien-hain. Ein grauer schein aus verborgener höhle Verrät nicht wann morgen wann abend naht Und staubige dünste der mandel-öle Schweben auf beeten und anger und saat. Wie zeug ich dich aber im heiligtume – So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass In kühnen gespinsten der sorge vergass – Dunkle grosse schwarze blume? (George, 47)
Stefan George, Symbolismus
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
Krise der Wissenschaft, Krise der Kunst
Rainer Maria Rilke
Den Garten kennzeichnet Zeitlosigkeit (kein Wechsel der Jahreszeiten, V.4, kein Wechsel der Tageszeiten, V.10) und Bewegungslosigkeit (V.3, V.7); seine dominante Farbe ist eine Art Anthrazit (Kohle, V.5, Lava, V.8, Staub, V.11). Dieser unwirtliche Ort, den der Sprecher sich selbst geschaffen zu haben behauptet, ist ihm zwar ,heilig‘ (V.13), aber nicht das Reich der Kunst, sondern bloß ein künstliches Paradies. Denn obwohl es kühn war, ihn zu schaffen, weil damit eine Zurückstellung der eigenen empirischen Person impliziert ist (Sorgen vergessen, V.15), steht die Bewältigung einer letzten großen Aufgabe – durch Änderung von Reimschema und Metrum hervorgehoben – noch aus: die Zeugung der Schwarzen Blume (V.16). In ihrem Bild wird die Farbigkeit (oder Farblosigkeit) der Gartenwelt gesteigert (von Anthrazit zu Schwarz); sie steht als Blüte phylogenetisch zwischen Saat (V.12) und Frucht (V.7). Diese zu schließende Lücke scheint das eigentliche Thema des Gedichts zu sein. Es geht darum, in die starre, kalte Welt des künstlichen Paradieses mit einem Akt einzugreifen, der nicht mehr rein konstruktiv aufgefasst wird (erbauen, V.2), sondern zugleich natürlich ist (zeugen, V.13). Die schwarze Blume, die alle Farben enthält und keine Farbe preisgibt, ist das Symbol einer hermetischen Kunst, die im geschlossenen Garten des künstlichen Paradieses natürlich entsteht. Sowohl Georges als auch Holz‘ Schreibweisen lassen sich als Reaktionen auf eine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie auffassen, die zur Jahrhundertwende populär wurde. Der sogenannte Empiriokritizismus verstand sich als ,moderne‘ Weiterentwicklung des transzendentalen Kritizismus Kants, der das als Bedingung aller Erkenntnismöglichkeiten postulierte Ideal-Subjekt zum Resultat von physiologischen Vorgängen machte (vgl. Kimmich u. Wilke, 40 ff.). Das Subjekt wird zu einer unzuverlässigen Basis für gesicherte Erkenntnis, weil es selbst aus physiologischen Wahrnehmungsprodezuren hervorgeht. Holz und George reagieren auf diese Verunsicherung der Wissenschaft, indem sie nun der Kunst den höchsten Wahrheitsanspruch zuspielen. Holz‘ Wahrheit besteht nicht in der Aussage, dass eine intellektuelle Erkenntnis der Welt unmöglich ist, sondern in der strukturell gestalteten Abhängigkeit von Wahrnehmung und Auslegung. Georges Wahrheit ist die des Symbols; in Reaktion auf die Erkenntniskrise der Wissenschaft wird die Kunst als geschlossenes Sprachsystem aufgebaut. Nach religiös und symbolistisch geprägten Anfängen veröffentlichte Rainer Maria Rilke 1907/08 die beiden Teile seiner Sammlung ,Neue Gedichte‘, die mit Recht als erster Höhepunkt der modernen deutschen Lyrik gelten. Rilke zielt darauf, den empirischen Dingen ihre Serialität zu nehmen. Wo der wissenschaftliche Blick von einer Raubkatze, einem Springbrunnen oder einem Blumenstrauß nur das wahrnimmt, was diese Individuen mit ihren Artverwandten gemeinsam haben, soll der poetische Blick aufdecken, was das eine konkrete Individuum im Moment seiner Wahrnehmung wesentlich ausmacht. Dazu werden neue Schreibverfahren benötigt. An erster Stelle steht der Aufbau von metapherngeladenen Symbolen, deren prägnanteste durch absichtliche ,Kategorienfehler‘ entstehen: Tiere und Dinge werden vermenschlicht, Abstrakta konkretisiert, Empfindungen verdinglicht etc.:
6. Die klassische Moderne der Lyrik RAINER MARIA RILKE: ÜBUNG AM KLAVIER Der Sommer summt. Der Nachmittag macht müde; sie atmete verwirrt ihr frisches Kleid und legte in die triftige Etüde die Ungeduld nach einer Wirklichkeit, 5
die kommen konnte: morgen, heute abend – , die vielleicht da war, die man nur verbarg; […]
(Rilke, 567)
Neben den Metaphern fällt vor allem das Abgleiten des zunächst distanzierten Sprechers in die subjektive Wahrnehmungsperspektive des beschriebenen Mädchens auf. Der Sprecher stellt nicht mehr seine eigenen, aber auch nicht fremde Seelenzustände als fremde dar, sondern lässt die fremden Zustände als eigene erscheinen. Zur ersehnten Wirklichkeit, in der alles Einzelne als solches Geltung besäße, steht das „man“ (V.6) in Opposition, eine uniforme Macht, die das Individuelle nur als analysierbare Gestalt der Gattung wahrnehmen will. Das Gedicht versucht der Individualität der Klavierspielerin nahe zu kommen, indem es in ihrer Perspektive die Sprecherperspektive aufgehen lässt. Auffällig ist, dass Rilke, und nicht nur in diesem Gedicht, den Reim noch einmal zu voller Geltung bringt. Arno Holz hatte, als er die Phantasus-Lyrik entwickelte, in einem Essay geschrieben: „Brauche ich den selben Reim, den vor mir schon ein anderer gebraucht hat, so streife ich in neun Fällen von zehn den selben Gedanken.“ (Holz, 142) Zu Rilkes artistischem Programm gehört es, mit seinen Reimen in dem einen Fall zu sein, in dem nicht ein bereits bekannter Gedanke gestreift wird. Oft reimt er bedeutungslose Funktionswörter (die – sie, der – wer etc.) oder sucht nach entlegenen, unverbrauchten und neuartigen Reimen („Hure“ – „pure“ (Rilke, 526), „müde“ – „Etüde“ (ebd., 567) etc.). Gerade weil Reime zum abgedroschenen Stereotyp neigen, eignen sie sich, wenn sie neu sind, dazu, Innovativität zur Schau zu stellen. Rilkes Verfahren hat Schule gemacht; wo in moderner Lyrik, wie bei Benn oder Rühmkorf, Reime Verwendung finden, handelt es sich oft um solche extravaganten Wortkombinationen. Um 1910 bildeten sich mehrere Kreise einiger bald als Expressionisten bekannter junger Autoren, die nochmals einen radikalen Traditionsbruch inszenierten. Erste Opfer der ,Neutöner‘ waren Sinn und Verständlichkeit. Wenn bereits viele Gedichte der Symbolisten, besonders Georges und Rilkes, ihren Lesern bei der Rekonstruktion ihres Sinns nicht eben entgegenkamen, so zeichneten sich expressionistische Gedichte eines bestimmten Typs dadurch aus, dass sie geradezu die Unmöglichkeit der Rekonstruktion von Sinn zum Erkenntnisziel des Lesers machten – freilich eines zeitgenössischen Lesers, der an der Lyrik des 19. Jahrhunderts geschult ist; heute kann jeder gut unterrichtete Oberstufenschüler die meisten expressionistischen Gedichte auslegen. Die Techniken dazu aber waren vor 100 Jahren nicht entwickelt. JAKOB vAN HODDIS: WELTENDE Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei, Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Reime
Der Expressionismus
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. (Vietta, 93)
Hätte Jakob van Hoddis sich darauf beschränkt, puren Nonsens zu schreiben, dann wäre sein Gedicht kein Skandal. Skandalös ist es, weil es den Topos vom Ende aller Dinge aufruft und mit einer Reihe von Einzelbildern illustriert, die nicht nur untereinander kaum einen Zusammenhang aufweisen, sondern auch aus heterogenen semantischen Feldern stammen, Triviales (Hut, Schnupfen, V.1, 7) mit Naturgewalten (Sturm, Flut, wilde Meere, V.4, 5) und Technikkatastrophen (Eisenbahnen / Brücken, V.8) kombinieren und erkennbar um semantische Brechungen („Dachdecker“, die sich nicht ,das Genick brechen‘, sondern „entzwei [gehen]“ (V.3); „wilde Meere“, die nicht an Land ,stürmen‘, sondern „hupfen“ wie kleine Kinder (V.5/6)) bemüht sind. Die Entwicklung dieser Schreibtechnik, des expressionistischen Reihenstils, erklärt Silvio Vietta überzeugend mit dem Anspruch, die Zusammenhanglosigkeit der modernen Wirklichkeitswahrnehmung darzustellen (vgl. Kemper u. Vietta). Hatte Holz noch die Syntheseleistung des Wahrnehmungssubjekts gestaltet, so boten die Expressionisten das ,reale‘ Nebeneinander des einander Unzugehörigen als rohes Datenmaterial. Ordnung schaffen dabei aber natürlich die Themen, die immer wieder behandelt werden: Einsamkeit, Einförmigkeit, Bedrohung, Trägheit des Herzens, Sexualität, Tod. Die Holzsche Banalität der Alltagsszenen schlägt nun ins gewollt Hässliche um, vor allem, wo organischer Verfall beschrieben wird: Heyms Wasserleiche ,Ophelia‘, die Toten in Gottfried Benns ,Morgue‘-Gedichten und die fast ubiquitäre Verwesung bei Georg Trakl. Ein Kontrapunkt solcher Verfallsthematik ist der pathetisch beschworene Aufbruch in eine neue Zeit, eine neue Gesellschaft, der die Gedichte Franz Werfels und Johannes R. Bechers prägt, ebenso wie Else Lasker-Schülers Errichtung hermetischer Phantasiewelten. Bezieht man diese beiden Komplexe aufeinander, dann liegt es nahe, den vielfach gestalteten Tod als Meta-Symbol für die Ausweglosigkeit der gegenwärtigen Kultur aufzufassen. Die Vorstellung, dass man sich nicht etwa kulturell in die falsche Richtung bewegt (die bereits bei den Realisten anzutreffen ist), sondern dass es vielmehr gar nicht mehr weitergeht und etwas ganz Neues hermuss, kann als Signatur der Epoche gelten. Allerdings darf man über einer solchen ,kulturwissenschaftlichen‘ Auslegung nicht vergessen, dass sie weder den Aussageintentionen aller Autoren noch jedem ihrer Texte gerecht wird; was im Einzelfall Tod, Verfall und Verwesung bedeuten, muss unabhängig ermittelt werden.
7. Von 1918 bis 1970 Dada
Tatsächlich war um 1918 weniger die europäische Kultur als vielmehr die Literatur selbst an ein Ende gekommen. Denn wenn es zu den Grundzügen der europäischen Literaturen seit der Aufklärung gehört, dass Nachfolger Vorgänger überbieten müssen, dann darf man sagen, dass zumindest hinsichtlich der Ver- und Zerstörung von Sinn als Überbietungstechnik nach
7. Von 1918 bis 1970
den Texten der Dada-Bewegung (Hugo Ball, Tristan Tzara, Kurt Schwitters u. a.) keine Steigerung mehr möglich war. Der Anfang von Hugo Balls Gedicht ,Zug der Elefanten‘ macht deutlich, was mit der dadaistischen Destruktion von Sinn gemeint ist: jolifanto bambla o falli bambla grossiga m‘pfa habla horem egiga goramen higo bloiko russula huju hollaka hollala anlogo bung blago bung blago bung […]
(Ball, 68)
Es ließe sich allerdings fragen, ob hier tatsächlich Sinn zerstört wird. ,Zug der Elefanten‘ ist möglicherweise sinnlos, aber nicht alles, was keinen Sinn hat, zerstört Sinn. Dazu müsste Sinn erst einmal irgendwo vorhanden sein. Tatsächlich ist aber Balls Text nicht gänzlich sinnfrei; das „Jolifanto“ lässt sich als onomatopoetisches Portmanteauwort auffassen, das sich aus „Johlen“ und „Elefant“ zusammensetzt. Ebenso ließe sich mit anderen Wörtern verfahren. Wie oft in der Literaturgeschichte, so lässt sich auch hier mit heutigen Mitteln ein Sinn rekonstruieren, der den Zeitgenossen jeweils verschlossen bleiben musste. Der Sinn, der entstehen kann (eine lärmende Elefantenkarawane im Dschungel), befindet sich aber nicht im Text, sondern kommt durch eine Sinnstiftungsleistung des Lesers zustande, und hinsichtlich der Verlagerung dieser Leistung vom Text zum Leser stellt der Dadaismus tatsächlich ein nicht mehr überbietbares Extrem dar. Dadalyrik war nicht fürs stille Lesen, sondern für die Aufführung bestimmt. Dasselbe gilt für zahlreiche Gedichte der zwanziger Jahre, die im weiteren Sinne zur Neuen Sachlichkeit gerechnet werden können. Vorgetragen wurden sie in den zahlreichen Kabaretts und Varietees der Metropolen, vor allem Berlins, teils von den Autoren selbst, teils mit Musikbegleitung von seinerzeit berühmten Diseusen. Die Gedichte zeichnen sich durch Alltagssprachlichkeit, die Einhaltung des Strophen- und Reimprinzips und die Modernität der Themen aus. Während zu Beginn des Jahrzehnts politische Agitation gegen die Verursacher des Weltkriegs (,Drei Minuten Gehör‘: „Wir alle wollen – heute und morgen – / Für Frieden – für ewigen Frieden sorgen! / Das sei unser Kampf. Das sei unser Sieg. / Ich rufe für Euch: ,Nie wieder Krieg!‘“, Tucholsky, 481/82) oder die kapitalistische Ausbeutung dominierte, zeigte sich ab der Mitte des Jahrzehnts vermehrt eine kühle, ironische Distanz vor allem dann, wenn es um das traditionelle lyrische Ressort der innigen Gefühle geht wie in der ,Sachlichen Romanze‘ Erich Kästners (Kästner, 111). Kästner verteidigt die Errungenschaften seiner Gegenwart – das moderne Großstadtleben und die Demokratie – gegen restaurative Ideologien, misst sie aber zugleich an ihren eigenen Idealen, deren Verfallsform er satirisch attackiert, ohne sie im Prinzip aufzugeben. Um seine Gedanken zu transportieren, entwickelte er eine eingängige Schreibweise; seinem Selbstverständnis als Berufsschriftsteller entsprach, ,Gebrauchslyrik‘ für den unmittelbaren ,Verbrauch‘ durch ihre Rezipienten zu produzieren. Viele von Kästners Zeitgenossen nahmen nach französischem Vorbild die Haltung des kritischen Intellektuellen ein, der eine
Neue Sachlichkeit
Erich Kästner
Intellektuelle
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
Gegenströmungen
Bertolt Brecht
Gottfried Benn
Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen und in tagesaktuelle politische Prozesse einzugreifen hat. Oft verstanden sich die sozial engagierten Literaten jedoch nicht als Sachwalter der Demokratie, sondern als Avantgarde des Proletariats und seiner Interessen. Neben den Antidemokraten des linken Flügels gab es zahlreiche Lyriker, die entweder unpolitisch waren oder restaurativen, autoritären Ideologien zuneigten. Doch wenn es auch stimmt, dass die Weimarer Republik unter ihren Intellektuellen und Dichtern kaum echte Verteidiger fand, so darf man deren Rolle beim Untergang der Demokratie nicht überschätzen. Meinungsbildend waren die zahllosen Zeitungsjournalisten, die kleinen Essayisten und großen Parteipropagandisten, die der Diktatur Hitlers den Weg bahnten. Der Neuen Sachlichkeit nahe steht die Lyrik Bertolt Brechts aus den zwanziger Jahren. Die oft balladesken Gedichte in Bertolt Brechts Hauspostille nehmen ihre Themen scheinbar aus dem Alltag der Underdogs; tatsächlich konstruieren sie eine eigentümliche Parallelwelt, die von Angehörigen missachteter ,Berufsgruppen‘ – Seeleuten, Piraten, Soldaten, Huren etc. – und Verbrechern bevölkert ist. In der Tradition des Bänkelsangs verwenden sie Umgangssprache, die aber immer wieder in eine bizarre Metaphorik umschlägt. Naive Gedanken werden mal ernsthaft, mal ironisch gebrochen vorgetragen. Die Figuren zeichnen sich durch eine Trotzhaltung aus, die manchmal heroisch, manchmal borniert und nutzlos erscheint. Wenn die Zuhörer oder Leser angesprochen werden, dann als Mitglieder einer sozialen Gruppe, um so anzudeuten, wie die Gedichtaussagen zu verallgemeinern sind; es geht Brecht um den historisch einmaligen Gesellschaftszustand, nicht ums Allgemeinmenschliche. Als großer Antipode Bertolt Brechts gilt Gottfried Benn. In seinen expressionistischen Gedichten vor 1920 Spezialist für die emotionslose Schilderung von Zerfall, Gebrechen, Makeln und Tod, entwickelte Benn seitdem eine naturwissenschaftlich gestützte Theorie eines kollektiven Unbewussten, das sich in phylogenetischen Prozeduren den Tiefenschichten des menschlichen Hirns eingegraben habe. Es stelle die Formen des Rituals, des Mythos etc. bereit; deren Wiedererweckung sei Aufgabe der Dichtung. Benns Interesse für mythisch-exotische Vorweltreiche in seinen Gedichten der zwanziger Jahre ist daher nicht mit Georges Evokation von Phantasiewelten gleichzusetzen. Ein später entstandenes, aber dem gleichen Programm verpflichtetes Gedicht ist ,Welle der Nacht‘: Welle der Nacht – Meerwidder und Delphine mit Hyakinthos leichtbewegter Last, die Lorbeerrosen und die Travertine wehn um den leeren istrischen Palast, 5
Welle der Nacht – zwei Muscheln miterkoren, die Fluten strömen sie, die Felsen her, dann Diadem und Purpur mitverloren, die weiße Perle rollt zurück ins Meer. (Benn, 188)
,Welle der Nacht‘ gilt manchen Interpreten als ein Beispiel deutscher Poesie pure, reiner, in sich selbst geschlossener, referenzielle Bezüge verweigernder moderner Dichtung (vgl. Friedrich, 103 f.). Aber trifft diese Beschreibung zu? Das evozierte Bild verquickt geographische Angaben wie „istrisch“ mit
7. Von 1918 bis 1970
Phantasiewörtern wie „Meerwidder“ und merkwürdigen, nur symbolisch verstehbaren Vorgangsbeschreibungen wie dem Mit-Verlust von „Diadem und Purpur“ und dem Zurückrollen der Perle ins Meer. Es wirkt zutiefst bedeutsam, enthält aber zugleich so viele Leerstellen, dass jede Vereindeutigung als unangemessene Komplexitätsreduktion erscheinen muss. Benn will Deutungen zugleich provozieren und verunmöglichen. Rein (pure) im obigen Sinne scheint sein Gedicht aber gerade nicht zu sein, wenn es die Auslöschung referenzieller Bezüge so betont inkonsequent betreibt und das Leserbedürfnis, den Text zu verstehen, nicht nur zurückweist, sondern auch nährt. Dunkel und hermetisch ist es jedoch allemal. Sowohl der ästhetizistischen als auch der politisch avantgardistischen Richtung der Lyrik machte die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 ein Ende. Es begann eine Verfolgung politisch Andersdenkender, deren Ausmaß und Brutalität in der deutschen Geschichte ohne Beispiel ist. Viele Künstler und Wissenschaftler flohen; wer verhaftet wurde, hatte mit Folter und Ermordung zu rechnen. Kurt Tucholsky lebte bereits in Schweden, Hermann Hesse in der Schweiz; Bert Brecht und Ernst Toller konnten fliehen; Erich Mühsam wurde 1934 im KZ Oranienburg ermordet. Das Exil bedeutete für viele Schriftsteller intellektuelle Isolation, mangelnde Betätigungsmöglichkeiten und materielle Armut; Tucholsky beging 1935, Toller 1939, Stefan Zweig 1942 Suizid. Wer im Land blieb, hatte mit Repressionen verschiedener Härte zu rechnen. Erich Kästner erhielt Schreibverbot, schaffte es aber, unter Pseudonymen weiter zu publizieren. Gottfried Benn verlegte sich, nachdem er anfangs den Nationalsozialismus begrüßt hatte, aufs Schweigen; er lebte von seinem Hauptberuf als Arzt. Neben den freiwillig Verstummten und den zum Schweigen Verurteilten gab es eine Klasse von konservativen, meistens antidemokratischen Schriftstellern, die sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren verstanden, ohne selbst Nazis zu sein, und eine vierte Klasse, deren Mitglieder genau dies waren. Sieht man von den Propagandagedichten und -liedern der zuletzt Genannten ab, dann bleiben als in Deutschland publizierbare Lyrik der dreißiger und vierziger Jahre die Gedichte der dritten Gruppe übrig, die sich nach dem Krieg den doppeldeutigen Namen der Inneren Emigration zulegte. Die Natur als Sujet, von den Lyrikern der Zeitschrift Die Kolonne bereits in den späten zwanziger Jahren entdeckt, konstituierte die bis zum Ende der fünfziger Jahre einflussreiche Strömung der Naturlyrik, die auch im NS publizierbar war. Die ersten Jahre nach dem Krieg waren geprägt von Konflikten zwischen heimkehrenden Exilanten und den Autoren der Inneren Emigration. Zugleich aber trat eine neue Generation auf den Plan, welche die Literatur bis zu Beginn der sechziger Jahre prägte. Ihr erster Schritt bestand in der Ausrufung einer ,Stunde Null‘, eines geistigen Neubeginns in Deutschland. Sie forderten eine einfache, von den ideologischen Phrasen des NS bereinigte Sprache, die den Ansprüchen der Realität ohne Beschönigungen Rechnung tragen sollte. Man wollte sich von jeder Verstellung frei machen, nichts verschweigen, aufrichtig sein. Zunächst politisch motiviert und gegen die obsoleten, auf Schreibweisen des 19. Jahrhunderts zurückgreifenden Produktionen der NS-Lyriker gerichtet, leitet dieses Programm zum Minimalismus der fünfziger Jahre über. Mit minimalen Mitteln – einfachen Bildern, redu-
Nationalsozialismus
Nachkriegsliteratur, Trümmerlyrik, Stunde Null
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
Konkrete Poesie
Brecht in der DDR
ziertem Vokabular, schlichter Syntax – sollen maximale Bedeutungseffekte erzielt werden. Ebenfalls in die fünfziger Jahre fällt der Beginn der Konkreten Poesie; Eugen Gomringer, Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner, Hans C. Artmann und Ernst Jandl schufen graphische Gedichte, die zu den wichtigen künstlerischen Experimenten ihrer Zeit gehören. Wie bereits erläutert (Kap. IV, 4), übersteigt die Beschreibung ihrer Werke weitgehend die Möglichkeiten der vorliegenden Untersuchung; zu würdigen sind sie hier als Regelbrecher, deren oft verspielte Bild-Text-Formen einer globalen Strömung zugehören, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg neue Wahrnehmungsweisen durch die konsequente Überschreitung der Gattungsgrenzen des Kunstsystems zu etablieren suchte. Das minimalistische Programm wurde von Bertolt Brecht, der nach dem Krieg in der DDR ansässig geworden war, aufgegriffen. Es konnte ihm nicht entgehen, dass der offizielle DDR-Jargon eine nicht weniger geistlose Phrasensprache war als die Sprache des ,Dritten Reiches‘. Sie bot keinen Anknüpfungspunkt für eine kritische Lyrik, die Brecht als seinen Beitrag zum Sozialismus verstand. Auch hätte Brecht seine Kritik am DDR-Sozialismus nicht direkt formulieren können, ohne sich Repressionen zuzuziehen. Später, aber noch kunstvoller als die Trümmerlyriker Westdeutschlands, als z. B. Günther Eich mit seinem Nachkriegsgedicht ,Inventur‘, wurde Brecht zum Minimalisten in seiner letzten Gedichtsammlung, den Bukower Elegien: BERTOLT BRECHT: DIE KELLE
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Gruppe 47
Paul Celan
Im Traum stand ich auf einem Bau. Ich war Ein Maurer. In der Hand Hielt ich eine Kelle. Aber als ich mich bückte Nach dem Mörtel, fiel ein Schuß Der riß mir von meiner Kelle Das halbe Eisen. (Brecht, 1015)
Auf der Ebene des Wortsinns ist an diesem Gedicht nichts rätselhaft. Die Frage, die es dennoch unmittelbar provoziert, ist die nach dem Schützen. Er ist offenbar weniger ein Feind des Arbeiters als seiner Arbeit, denn sein Schuss gilt dem Werkzeug, nicht dem Menschen, und er fällt, als die Arbeit beginnen soll. Ein realsozialistischer Interpret könnte im Schützen die kapitalistische Reaktion (den westlichen Imperialismus) gesehen haben, der das Aufbauwerk des Volks im Moment seines Beginns behindert. Das Gedicht würde dann im Bild etwas ausdrücken, was jedem Aufbausozialisten der frühen DDR klar war. In einer anderen Lesart wäre der Schütze hingegen die Staatsführung der DDR, die im Entstehungsjahr der Bukower Elegien, am 17. Juni 1953, den Aufstand ostdeutscher Arbeiter blutig niedergeschlagen hat. Die ,Obrigkeit‘ belauert das ,Volk‘ wie ehedem und schießt, sobald es sich rührt. Der Witz des Gedichts besteht in seiner Doppeldeutigkeit, die keine Behauptung, sondern die Frage nach der Austauschbarkeit von kapitalistischer ,Reaktion‘ und sozialistischer Staatsräson formuliert. Der im Literaturbetrieb der frühen BRD maßgeblichen Gruppe 47, benannt nach ihrem Gründungsjahr, gehörten neben den Autoren der Stunde Null (Eich, Weyrauch, Schnurre etc.) Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Hans-Magnus Enzensberger an. Celans Gedichtsprache setzt auf Verschlüs-
7. Von 1918 bis 1970
selung und Verrätselung – nicht, um Komplexität und Mehrdeutigkeit zu erhöhen, sondern um eine leichte Konsumierbarkeit zu verhindern. Wer sich auf seine Gedichte einlässt, muss ihre dunklen Chiffren, Idiosynkrasien, historischen und literarischen Anspielungen entschlüsseln, um hinter ihren Sinn zu kommen. Er folgt dem jüdischen Dichter in die Welt seiner Herkunft, der multinationalen und -kulturellen rumänischen Bukowina, und in die Geschichte des Völkermordes an den europäischen Juden in den Konzentrationslagern der SS. Celan will nicht eigene Erfahrungen verarbeiten, sondern seine Leser veranlassen, diese Erfahrungen zu verstehen. Der polyglotte Dichter wählte die Sprache seiner Feinde, weil es ihrer Verantwortung entsprach, das Ausmaß der Vernichtung, des Verlustes und der Trauer zu imaginieren, die verursacht zu haben ihre Schuld war. Während sein berühmtestes Gedicht, die ,Todesfuge‘ von 1945, den Antagonismus der Mörder und ihrer Opfer im KZ aus Sicht letzterer noch klar darstellt und nur in einzelnen Metaphern wie „Schwarze Milch der Frühe“ dem Leser Interpretationsleistungen abverlangt, wurde Celans Lyrik allmählich immer hermetischer. – Zeitgleich kritisierten andere Lyriker in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren die neue Wohlstandsgesellschaft und prangerten deren Gegenwartsfixiertheit an, indem sie die Ideenlosigkeit ihrer Zukunftsentwürfe und ihre Verdrängung der Vergangenheit ausstellten. Kritik dieser Art formulierte Hans-Magnus Enzensberger in Gedichten wie ,Middle Class Blues‘ oder ,Fernsprechteilnehmer‘. Wie die BRD in den fünfziger Jahren im Zeichen des ,Wirtschaftswunders‘, so stand die DDR im Zeichen des ,Sozialistischen Aufbaus‘. Beide Lesarten von Brechts Gedicht ,Die Kelle‘ sind von der Aufbaumetapher her zu verstehen. Anders als in der BRD, wo sich in einem langwierigen Prozess die Vorstellung durchsetzte, dass Kritik an den bestehenden Verhältnissen Fortschritt ermöglicht, stellt sich der ideologische Rahmen der Lyrik in der DDR dar. Hier galt den offiziellen Stellen Kritik am real existierenden Sozialismus als Defätismus, welcher der Reaktion (dem Klassenfeind) in die Hände spiele. Um den ,Aufbau‘ vor den Kräften der Reaktion zu schützen, wurde ein ausgeklügeltes Zensursystem errichtet, das die Publikation missliebiger Literatur wirksam unterband. Hieraus ergibt sich eine Variante der zweiten Deutung des Brechtschen Gedichts: das Werkzeug im Traum stünde für die Schreibinstrumente des wachenden Autors, und der Schuss, der es trifft, entspräche dem Eingriff der Zensur, der den sozialistischen Aufbauliteraten (den ,Literatur-Maurer‘) reglementiert statt ihn seine Arbeit machen zu lassen. Mit Ausnahme Brechts blieben die Lyriker der DDR jedoch bis in die sechziger Jahre weitgehend staatskonform, auch wenn z. B. der Naturlyriker Peter Huchel kaum propagandistisch verwertbare Texte schrieb. Erst eine zweite Generation von Autoren, die einerseits den Eindruck gewann, dass ihr etwas vorenthalten wurde, und andererseits das System zu durchschauen lernte, bezog eine kritische Position. Die DDR kannte zwei Hauptfeinde: die Kritik an ihrer Realität und den Individualismus ihrer Bürger. Dagegen trugen die Autoren der sogenannten ,Sächsischen Dichterschule‘ die Forderung vor, dass der Sozialismus für die Menschen und nicht diese für ihn existieren sollen. Wolf Biermann, der Sächsischen Dichterschule nahestehend, stellt die Menschen sinnlos verbrauchende Maschinerie des Staatssozialismus 1968 in seinem Gedicht ,Portrait eines alten Mannes‘ an den Pranger:
Hans-Magnus Enzensberger
Lyrik der DDR
Politische Lyrik der 1960er Jahre
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik Seht, Genossen, diesen Weltveränderer: Die Welt Er hat sie verändert, nicht aber sich selbst Seine Werke, sie sind am Ziel, er aber ist am Ende 5
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Ist dieser nicht wie der Ochse im Joch des chinesischen Rades? Die Wasser hat er geschöpft. Die Felder hat er gesättigt. Der Reis grünt. Also schreitet dieser voran im Kreis und sieht auch vor sich nichts, als abertausendmal eigene Spur im Lehm Jahr für Jahr wähnt er also, der Einsame den Weg zu gehen der Massen. Und er läuft doch sich selbst nur nach. Sich selber nur trifft er und findet sich nicht und bleibt sich selber immer der Fernste Seht, Genossen, diesen Weltveränderer: Die Welt Er hat sie verändert, nicht aber sich selbst Seine Werke, sie sind am Ziel, er aber ist am Ende
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Das seht, Genossen. Und zittert!
(Biermann, 15)
Das Gedicht bedarf kaum der Erläuterung. Der Aufbau ist gelungen, aber auf Kosten der Emanzipation des Subjekts, die er eigentlich bewirken sollte. So offen wie Biermann, der in Reaktion auf solche Texte 1976 aus der DDR ausgebürgert wurde, gingen andere Lyriker nicht vor. Sie entwickelten Techniken der indirekten Kritik und verschlüsselten ihre politischen Aussagen, die informierte Leser jedoch decodieren konnten. Obwohl sich tendenziell jedes Gedicht, das nicht den Sozialismus als Fortschrittsmacht pries, dem Verdacht reaktionärer Gesinnung aussetzte, konnten Dissidenten zeitweise Positionen beziehen, die von der bloßen Zustimmungsverweigerung bis zur unverstellten Kritik reichten. Der Terror des DDR-Regimes bestand weniger in der blutigen Unterdrückung, sondern darin, dass die nonkonformistischen Intellektuellen nie wissen konnten, wann die Staatsorgane gegen sie vorgehen und welche Mittel (Ausbürgerung – Publikationsverbot – Haftstrafen) sie anwenden würden.
8. Gegenwart Postmoderne I
Es gibt triftige Gründe, die letzte literaturgeschichtliche Zäsur in den sechziger Jahren zu verorten und die folgende Epoche als Postmoderne zu bezeichnen. Diesen Begriff bekommt man vielleicht am Besten mit Jean-François Lyotards Formel vom „Ende der großen Erzählungen“ zu fassen (Lyotard, 13 – 17). So hat auf literarischem Gebiet, trotz gelegentlicher Revitalisierungsversuche, das Geniekonzept deutlich abgewirtschaftet. Selbst nobelpreisgekrönte Autoren kann man nur noch bei Gefahr der Lächerlichkeit als „Genies“ bezeichnen. Schriftsteller sind Spezialisten für Sprache und Geschichten, die ihren Lesern zuweilen neuartige Sichtweisen vermitteln. Wer aber einem von ihnen gläubig an den Lippen hinge, müsste dumm sein. Zugleich änderte sich die gesellschaftliche Stellung des lyrischen Ge-
8. Gegenwart
dichts gleich zweimal in diesem Zeitraum. In den sechziger und siebziger Jahren wurde die Lyrik zu einem Massenphänomen, seit den achtziger Jahren ist sie aus der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend verschwunden. Während Schauspiele und Romane sich noch heute ungebrochener Beliebtheit beim Publikum erfreuen, erhalten selbst bedeutende Lyriker wie Enzensberger oder Peter Rühmkorf nicht annähernd die Aufmerksamkeit wie Brecht und Benn in den fünfziger Jahren. Die zunehmende Bedeutung politischer Lyrik in den sechziger Jahren äußerte sich etwa im Aufstieg des politischen Intellektuellen Enzensberger zum bedeutendsten Lyriker seiner Zeit. Die ,Zirkel Schreibender Arbeiter‘ der DDR fest im skeptischen Seitenblick, formierte sich in Westdeutschland die ,Gruppe 61‘, ein Verbund schreibender Bergleute, dessen Vertreter (der wichtigste: Max von der Grün), obwohl politisch ,links‘ stehend, unter Berufung auf Brechts Poetologie eine Instrumentalisierung ihrer Kunst für den Klassenkampf ablehnten. Die Gedichte, die der Gruppe eingesandt wurden, veröffentlichte man nicht als Kunstwerke, sondern als Dokumente – nicht zuletzt, um der geringen künstlerischen Qualität vieler Texte Rechnung zu tragen (vgl. Hoffmann, 114). Die auch jenseits der Arbeiterliteratur und der Lyrik zu beobachtende poetologische Aufwertung des Dokumentenbegriffs hat die Literaturhistoriker veranlasst, die sechziger Jahre insgesamt als ein Jahrzehnt der „Entdeckung der Wirklichkeit“ zu bezeichnen (vgl. Korte, 72 ff.). Ein Steckenpferd der politisch engagierten Lyrik seit den sechziger Jahren war die ideologiekritische Fahndung nach Spuren ,falschen Denkens‘ in Redewendungen, erstarrten Metaphern und Idiomen. Wie richtig zu denken sei, sollten Theorien, vor allem marxistischer Provenienz, erklären. Falsches Denken wurde durch sprachliche Gegenmaßnahmen dekuvriert und Lyrik als Instrument der politischen Aufklärung im Medium der Sprachkritik verstanden. Ihr Ziel war nicht eine Reinigung der Sprache von faschistischen Residuen, sondern eine Schärfung des Bewusstseins für autoritär-bürgerliche, kapitalistisch-imperialistische Denkweisen. Anders als in der DDR waren der politischen Lyrik in der BRD kaum Grenzen gezogen. Da das mangelnde Interesse des Staates an lyrischer Gesellschaftskritik die Frage nach deren Wirksamkeit provozierte, verlegte man sich bald darauf, das Politische zu ,verinnerlichen‘, d. h., die Formen des Zusammenlebens, den Umgang mit Sexualität, die Haltung zur Konsumsphäre etc. – kurz gesagt: den Alltag – politisch zu problematisieren. Deshalb sind die nun einer feministischen Kritik unterzogenen Geschlechterverhältnisse ein prominentes Thema dieser Lyrik. Einen anderen Weg schlug Rolf Dieter Brinkmann ein, dessen Gedichte betont unpolitisch und scheinbar kritikabstinent das Lebensgefühl seiner Generation festhalten. Mit ihren banalen, alltäglichen Sujets, die in angemessen einfacher Sprache geschildert werden, setzt sich seine Lyrik nur durch ihre starken Enjambements von trivialer Alltagsprosa ab. Im Gegensatz zu seinem Vorfahren Arno Holz, der die poetische Geste des Weltenordners, des lyrischen Ichs im Gedicht, nicht aufgibt, nimmt sich Brinkmann völlig zurück. Seine Autorposition ist verhalten beobachtend, aber nicht kühl, sondern voller unterdrückter Sympathie. Wenn er im Vorwort zu seinem letzten Gedichtband, Westwärts 1 & 2 (1974), schreibt, er hätte „gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen […]“ (Brinkmann, 7), dann ist der Wunsch zwar wört-
Politische Lyrik
Ideologiekritik
Rolf Dieter Brinkmann
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
Neue Subjektivität
Prenzlauer Berg
Achtziger Jahre
lich zu nehmen, der Verweis auf die Komplexität der Gedichte aber im Bescheidenheitstopos unüberhörbar: die fehlende Musik muss durch die Überstrukturiertheit der Texte kompensiert werden. Brinkmanns zwischen 1962 und 1974 veröffentlichte Gedichte sind ohne politische Stoßrichtung oder Absicht geschrieben; hinsichtlich ihrer individualistischen Grundhaltung, der subjektivistischen Perspektivität ihres Stils und ihrer Alltagssprachlichkeit bereiten sie eine Lyrik vor, die den siebziger Jahren ihren Stempel aufgedrückt hat. Man hat sie unter dem Begriff der Neuen Subjektivität zusammengefasst. Im Zeichen der Politisierung des Privaten können die neusubjektiven Gedichte zwar eine ideologiekritische Haltung einnehmen; wesentlich aber ist, dass sie dies nicht müssen. In den siebziger Jahren wurde eine Lyrikauffassung wieder belebt, die im Gedicht ein Gefäß für die Stimmungen und Gefühle des Autors sieht. In großer Zahl entstanden Texte, deren Wert vornehmlich darin besteht, die Befindlichkeiten ihrer Verfasser publik zu machen. Es gehört zur Verfallsgeschichte der Gattung, dass diese Gedichte, die kaum mehr als in Zeilen zerhackte Banalitäten bieten, von jedem geschrieben werden konnten, aber von niemandem gelesen werden mussten. Denn da den rätsellosen Texten die ,Message‘ meistens auf Anhieb zu entnehmen ist, hört das Lesen auf, ein kreativer Akt zu sein (im Gegensatz dazu verlangt selbst die banalste Prosanarration vom Leser die Rekonstruktion einer fiktionalen Welt). Allerdings erschöpfte sich die mal kritische, mal resignative Auseinandersetzung mit dem eigenen Innenleben nicht im Dilettantismus; neben Brinkmann kann man Ursula Krechel als neusubjektive Lyrikerin nennen, die in ihren besten Gedichten zu einer intensiven Sprache und dichten Bildlichkeit gelangt. Im Verlauf der siebziger und achtziger Jahre entwickelte sich in der DDR eine Lyrik der ,dritten Generation‘, deren Stellung im Literaturbetrieb eine deutlich andere war als die der Aufbaulyriker und der ,Sächsischen Dichterschule‘. Kritisch wie ihre Vorgänger, vermieden die Autoren, von denen viele im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg lebten, die literarische Öffentlichkeit. Ihre Gedichte machten sie in selbstverlegten Journalen und auf inoffiziellen Lesungen einer kleinen intellektuellen Öffentlichkeit zugänglich; sie tricksten die Zensur aus, indem sie sie umgingen. Dass gerade die Lyriker unter den Autoren des Prenzlauer Bergs eine bemerkenswerte Produktivität entwickelten, dürfte mit dem inoffiziellen Charakter dieser Literatur eng zusammenhängen; kurze, pointierte Texte lassen sich mit geringerem Aufwand verbreiten als dickleibige Romane oder gar auf die Bühne angewiesene Dramen. Einer der Autoren dieser dritten Generation, Wolfgang Hilbig, der seit 1985 in der BRD lebte, trat erst im Jahr des Mauerfalls als Romanautor, in seiner Zeit in DDR nur als Lyriker auf. Zum engeren Kreis des Prenzlauer Bergs gehörten u. a. Durs Grünbein, Uwe Kolbe, Barbara Köhler, Bert Papenfuß-Gorek und Andreas Koziol. In Westdeutschland endet in den achtziger Jahren die ideologiekritische Dichtung bzw. schlägt um in das, was Hermann Korte „Betroffenheitslyrik“ nennt (Korte [2], 103 f.). Betroffen machen die nach wie vor mit geringem formalem Anspruch dichtenden Lyriker „Waldsterben, Meeresverschmutzung, Atommüll, Wettrüsten, männliche[r] Chauvinismus, […] Herpes und Ozonlöcher“ (ebd., 103); stilistisch herausragend sind unter den Gedichten der ,Öko-Lyriker‘ gleichwohl die Naturgedichte Sarah Kirschs. Obwohl die
8. Gegenwart
Friedens- und die Anti-Atomkraftbewegung Jahr für Jahr hunderttausende Demonstranten auf die Straßen bringt, wirkt sich der Mangel eines Gesamtkonzepts dieser politischen Opposition im Entwurf düsterer Zukunftsbilder und in individueller Mutlosigkeit aus. Die ,große Erzählung‘ der marxistischen Geschichtstheorie bekommt die neuen Probleme nicht zu fassen. Zugleich verschwindet auch ihre Methode der Wirklichkeitserfassung, die ideologiekritische Durchleuchtung des falschen Bewusstseins. Auf der anderen Seite stellt sich in der Lyrik erst verzögert ein, was in anderen Gattungen bereits zu beobachten ist. Im Roman wird eine neue, als „postmodern“ bezeichnete Schreibweise entwickelt. Unterhalb konventioneller Textoberflächen entstehen Geflechte aus intertextuellen Anspielungen, Selbstreferenzialität, verletzter pragmatischer Fiktion und ironischer Sprecherposition; spannende Geschichten und mehrschichtige Textur machen Romane wie Umberto Ecos Der Name der Rose oder Patrik Süßkinds Das Parfüm für ein breites Publikum genauso attraktiv wie für die Lesespezialisten aus der Literaturkritik, der Geschichts- und der Literaturwissenschaft. Obwohl die Lyrik an dieser Schreibweise der Postmoderne kaum partizipieren kann, findet auch sie nach dem Zusammenbruch der DDR 1989 und der deutschen Wiedervereinigung 1990 zu einer komplexen Sprache zurück. Sie gibt das Betroffenheitspathos der achtziger Jahre auf und revitalisiert den Alltag als Sujet. Postmodern ist sie in zwei Hinsichten. Erstens greift sie auf alle brauchbaren Schreibtechniken zurück, die von der Lyrik der Moderne entwickelt worden sind: assoziative Sprünge, dunkle Metaphern, harte Enjambements, verzichtet aber zugleich auf die Entwicklung einer neuen Formensprache. Sie ist ungeheuer gelehrt, ihre Vertreter sind, wie sich an Durs Grünbein studieren lässt, Experten für die Lyrik der Moderne – und weiten, sobald sie sich etabliert haben, den Radius ihrer Gelehrsamkeit potenziell auf die gesamte Menschheitsdichtung aus. Wenn die moderne ,Großerzählung‘ einer sinnvollen und zielgerichteten Menschheitsgeschichte impliziert, dass der Fortschritt unumkehrbar und daher jedweder Rückgriff als Rückfall zu stigmatisieren ist, dann darf das ungenierte Plündern des formalen Fundus der Moderne als postmoderner Zug charakterisiert werden. Zweitens verzichtet die Lyrik seit der Wende zwar nicht auf Sprach-, aber doch auf Ideologiekritik. Es gibt keinen sicheren Punkt mehr, von dem aus ein Bewusstsein als ,falsches‘ überführbar wäre, sondern allein ein Denken, das mit sich selbst nicht eins ist. Nun lässt sich nochmals fragen, wann die Postmoderne in der Lyrik begonnen hat. Hoffmann verortet die Zäsur in den sechziger Jahren und zitiert in diesem Zusammenhang Arnold Gehlen, der 1965 mit Blick auf die Geschichte der bildenden Künste bemerkte: „Von jetzt an gibt es keine Entwicklung mehr! […] was nun kommt, ist bereits vorhanden: der Synkretismus des Durcheinanders aller Stile und Möglichkeiten, das Posthistoire.“ (zit. n. Hoffmann, 169) Die Proklamationen der sechziger bis achtziger Jahre, die dem Dokument, der Alltagsdarstellung, der Ideologiekritik oder dem Protest Kunstförmigkeit zuschreiben, wären dann nur die letzten Leugnungen einer Stagnation, die von der postmodernen Lyrik mit Verspätung anerkannt wurde. Doch auch dieses antiteleologische Geschichtsbild enthält einen teleologischen Aspekt. Nur dass es an die Stelle eines Endzustandes der universellen Menschheitsbeglückung (z. B. im Kommunismus) den finalen Erschöpfungszustand einer Kultur setzt. Dass
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Postmoderne II
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V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik
die von Gehlen kulturkritisch als Entropie beschriebene Posthistoire in den neunziger Jahren als Befreiung der Kunst von politisch-moralischer Verantwortung und als Wiederentdeckung des Spiels begrüßt und gefeiert wurde, müsste dann freilich als neues Verleugnungssyndrom verstanden werden. Fraglich ist aber, ob die Diagnose überhaupt zutrifft. Am Ende war die Kultur – die europäische, die deutsche, die lyrische – auch schon im Jahr, als Goethe starb, in den Jahrzehnten der Gründerzeit oder nach dem ersten Weltkrieg. Und immer wieder entstanden Kunstwerke, deren Möglichkeit zuvor nicht gesehen wurde. Man sollte sich daher mit Prognosen zurückhalten.
VI. Exemplarische Einzelanalysen Die Analysen dieses Kapitels sollen verdeutlichen, wie methodisches und historisches Wissen sich im Umgang mit Gedichten verbinden lassen. Die ausgewählten Texte decken verschiedene Phasen der Lyrikgeschichte ab, weshalb ihre Untersuchung die historische Skizze des letzten Kapitels ergänzt. Da von Gedicht zu Gedicht ein je anderes Verhältnis zwischen dem offensichtlichen Textsinn und der ,verborgenen Bedeutung‘ vorliegt, können unterschiedliche Zugangsweisen erprobt werden. Ein allgemeines Schema für die Analyse und Interpretation von Gedichten gibt es ohnehin nicht, sondern nur Analysebegriffe einerseits und die gebotene Entwicklung einer Fragestellung andererseits.
1. Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Er sahe sie über feld gehen Liebeslyrik ist seit dem späten 18. Jahrhundert autobiographische Dichtung par excellence. Der Sprecher muss signalisieren, dass er mit dem Autor identisch ist, damit das Gedicht als Liebesgedicht legitimiert ist. Die Liebe darf sich nur auf eine nicht austauschbare Person richten, sich also letztlich an keiner besonderen Eigenschaft festmachen (die auch bei anderen Personen zu finden wäre), und sie muss als eine Macht auftreten, die den Sprecher ganz und gar beherrscht. Da es sich bei Hoffmannswaldaus Sonett ,Er sahe sie über feld gehen‘ augenscheinlich um ein Liebesgedicht handelt, lässt sich fragen, welche der Eigenschaften späterer Liebeslyrik hier bereits vorhanden sind und welche fehlen. ER SAHE SIE ÜBER FELD GEHEN
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ES gieng die Lesbia in einem schäfer-kleide Als Hirtin / wie es schien / der seelen / über feld / Es schaute sie mit lust das auge dieser welt / Es neigte sich vor ihr das trächtige getraide; Es kriegte meine lust auch wieder neue weyde Von wegen dieser brust / da Venus wache hält; Der schultern / wo sich zeigt der lieblichkeit behält; Und dann der schönen schoos / des hafens aller freude. Ich sprach: ach Lesbia! wie zierlich geht dein fuß / Daß Juno / wie mich deucht / sich selbst entfärben muß / Und Phöbus dich zu sehn verjüngt die alte kertze; Nicht glaube Lesbia / daß du den boden rührst / Und den geschwinden fuß auf graß und blumen führst / Es geht ein ieder tritt auf mein verwundtes hertze. (Hofmannswaldau, 4/5)
Wir nehmen an, dass der Sprecher männlich ist, weil dem zeitgenössischen Publikum die Vorstellung homoerotischer Liebe zwischen Frauen fernlag.
Maske, Sprecher und Autor
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VI. Exemplarische Einzelanalysen
Lesbia als Pastor und Göttin
Das Gedicht führt gleich zu Beginn in eine Welt des Scheins ein. Schon der Name seiner Schönen, Lesbia, ist kein im 17. Jahrhundert geläufiger deutscher Frauenname, sondern antike Maskerade. Doch damit nicht genug, ist der maskierende Name zugleich der Deckname einer verheirateten Römerin namens Clodia, einer Geliebten des römischen Dichters Catull, die dieser nur unter einem Namensschleier in seiner Lyrik auftreten lassen konnte. Catull war als Mitglied des Dichterkreises der Neoteriker Anhänger der Poeta Doctus-Doktrin und als Poet für einige recht unverblümt erotische ,Carmina‘ bekannt; schon bei ihm spielt der gewählte Deckname seiner Geliebten auf die griechische Insel Lesbos und die dort (angeblich) von der Dichterin Sappho praktizierte freie Liebe an. Aus dieser Konstellation folgt zweierlei. Erstens verschmilzt Hoffmannswaldaus Sprecher mit dem Autor, er wird ein ,Dichtersprecher‘, der sich in die Tradition eines römischen Lyrikers stellt, der dieselbe Verschleierungstechnik wie er selbst anwendet. Zweitens exponiert der Aufwand, den der Text mit der Verkleidung seines Personals treibt, die Verschleierungsbemühungen und weist so indirekt darauf hin, dass es etwas gibt, was zu verschleiern ist. Der Sprecher will, dass man das Catull-Modell der Maskierung durchschaut, das hier wie dort als ein Mittel erkannt werden soll, brennende Leidenschaft aussprechen zu können. Dieser Doppelbefund wird durch eine weitere Beobachtung bestätigt. Die Lesbia des Gedichts ist kein Mädchen vom Lande, sondern sie trägt ein „Schäferkleid“ und geht „als Hirtin / wie es schien“ (also verkleidet) übers Feld (V.1, 2). Das bukolische Gewand erfreute sich im Barock höchster Beliebtheit; es gehörte zu den höfischen Lustbarkeiten des Adels, sich als einfache Landleute zu verkleiden. Man meinte damit natürlich nicht den zeitgenössischen dritten Stand, sondern die Bauern und Hirten der goldenen Frühzeit, von der die antiken Dichter erzählen. Von dieser höfischen Praxis aus öffnet sich das Gedicht einer referenziellen Lesart: der Sprecher begegnet seiner Geliebten, die sich als Landfrau verkleidet hat, und berichtet von diesem Ereignis. Auf eine, allerdings bemerkenswert artifizielle, Weise konstituiert der Text die Einheit des Sprechers mit dem Autor und behauptet den Erlebnischarakter des dargestellten Geschehens. Das Bild der Schäferin wird aber noch weiter entfaltet. Der zweite Vers, in dem Lesbia scheinbar zur Seelenhirtin wird, sticht aus einer Reihe von anaphorischen Versen hervor, die mit „Es + [Prädikat]“ beginnen (V.1, 3, 4, 5). Lesbias verstechnisch hervorgehobene Gleichsetzung mit einem geistlichen Seelenhirten, einem ,Pastor‘, verwandelt erstens metaphorisch die ihr folgenden ,Seelen‘ in Schafe, d. h., in harmlose Tiere, die von ihrer Fürsorge abhängig sind. Zweitens schreibt sie Lesbia eine quasi-religiöse Funktion zu, die darin besteht, den ,Gottesdienst der Liebe‘ zu zelebrieren. Dies zeigen die beiden folgenden Verse (3, 4). Das Auge der Welt ist eine bis heute geläufige Allegorie Gottes; sein lustvoller Blick auf die schöne Frau beglaubigt deren Amt als pastorale Führerin sanfter Seelen und legitimiert zugleich das Moment der Lust, als deren Priesterin Lesbia eingesetzt wird. Während der Blick der entzückten Gottheit vertikal von oben nach unten auf Lesbia ,fällt‘, lässt ein semantischer Trick das reife Getreide von der Vertikalen in die Horizontale wechseln, wenn es sich vor Lesbia neigt. Normalerweise fungiert das Bewegungsverb ,neigen‘ gerade im Zusammenhang mit dem Getreide als Zustandsverb, doch hier wird es wieder in seiner ursprüngli-
Hoffmannswaldau: Er sahe sie über feld gehen
chen dynamischen Bedeutung verwendet und bezeichnet die Demutsgeste, die Untergebene einer Fürstin oder Gläubige einer Göttin bezeigen. Das Getreide selbst ist unschwer als topisches Attribut der Demeter auszumachen, der griechischen Göttin der Fruchtbarkeit, und um keinen Zweifel an dieser Bedeutung aufkommen zu lassen, wird es durch die eigentlich aus dem Tierreich stammende ,Trächtigkeit‘ näher charakterisiert. Lesbia ist nicht nur göttlich legitimierte Priesterin der Liebe, sondern auch göttliche Herrscherin im Reich der Fruchtbarkeit. Im nächsten Vers tritt das lyrische Ich nicht nur erstmals auf, sondern gleich auch an die Stelle Gottes: zumindest in einem gemeinsamen Attribut, dem der Lust (V.3, 5). Lesbia wiederum verwandelt sich semantisch von der Hirtin in die Weide, womit die offene Erotisierung ihres Körpers im zweiten Quartett eingeleitet ist. Der Sprecher, der die Gefolgschaft der ,Pastorin‘ Lesbia als Schafherde imaginiert hatte, metaphorisiert den Körper der Frau nun als Ort der Nahrungsaufnahme. Er verschränkt also gleich beim ersten Auftritt Göttlichkeit (Auge und Lust) und Kreatürlichkeit (weidendes Schaf) in der eigenen Person. Zugleich leitet er das Lob der physischen Attraktivität Lesbias, das die folgenden Verse (6, 7, 8) bringen, durch die Anspielung auf die geläufige Redewendung von der ,Augenweide‘ ein, deren Movens der Rückbezug auf das „Auge“ des ersten Quartetts ist, an dessen Stelle der Sprecher tritt, indem er sich wie ihm Lust zuschreibt. Das Schönheitslob hebt mit der Preisung der auf „Lust“ binnenreimenden Brust an (V.5, 6), steigt dann auf zu den Schultern und anschließend abwärts zum Schoß. Diese Reihenfolge bietet sich an, weil sie die beiden wichtigeren Körperteile exponiert und die erotisch weniger bedeutenden Schultern in die Mitte nimmt. Brust, Schultern und Schoß werden jeweils beim Namen genannt und im zweiten Teil des jeweiligen Verses näher charakterisiert. Dass Venus, die römische Liebesgöttin, martialisch einen Wachtposten bezogen hat, ist eine nicht ganz leicht aufzulösende Paradoxie. Ihre Beschirmung der Brüste Lesbias verträgt sich zwar mit der Funktion einer Liebesgöttin recht gut; fraglich bleibt aber, weshalb die Brüste eines solchen Schutzes bedürfen. Zwei mit einander verträgliche Lösungen bieten sich an. Da kaum etwas die barocke männliche Lebenslust so empfindlich abkühlen konnte wie eine ,welke Brust‘, mag Venus hier als Feindin der Zeit und des körperlichen Verfalls ihren Posten bezogen haben. Dafür spricht, dass die Zeit-Semantik noch an anderen Stellen eine Rolle spielt, erstens bei der Verkehrung von Alterung in Verjüngung, die in V.11 an Phöbus‘ Kerze das Motiv der Hinfälligkeit alles Irdischen ex negativo durchspielt, zweitens bei der ausdrücklichen Erwähnung der Trächtigkeit des Getreides in V.4, die in Anspielung auf das beliebte Jahreszeitenmotiv eine Semantik von Jugend, Reife und Verfall anklingen lässt. Die zweite Lösung geht von der Funktion eines Wachpostens aus. Seine Aufgabe besteht darin, Unbefugten den Zutritt zu verwehren, und wo Venus die Brust bewacht, da bekommt nur die Liebe einen Passierschein zum Herzen. Die Bezeichnung der Schultern als „der Lieblichkeit Behält“ (V.7) bedeutet, dass die Schultern ein Gefäß sind, in dem sich ein ,liebreiches Wesen‘ befindet, also ein liebenswürdiges Herz. Wenn in Vers 8 der Schoß als „hafen[..] aller freude“ bezeichnet wird, so ist dies erstens eine Metaphorisierung des Geschlechtsverkehrs im mitgemeinten Bild der ein- und auslaufenden Schiffe und zweitens eine Anspielung auf
Gott und Pastor, Schaf und Weide
Lesbias köstlicher Körper
Wachtposten Venus
Sex und Heimat
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VI. Exemplarische Einzelanalysen
Die Terzette
Juno
Phöbus Apollon
Fuß und Wunde
die im Barock stereotype Symbolisierung des Lebenswegs als Reise, die von gelegentlichen Aufenthalten an sicheren und behaglichen Orten unterbrochen wird. Beachtlich aber, dass sich durch die Textumgebung des erotischen Gedichts Libido und Realitätssinn in einem Bild vereinen. Wie es sich für ein ordentliches Sonett gehört, tritt mit Beginn der Terzette eine deutliche Wendung ein. In ihnen liegt eine grundlegend andere Redesituation vor als in den Quartetten; nun spricht das Ich Lesbia an, die Erzählerrede wird von der Personenrede des Sprechers abgelöst. Das Tempus wechselt vom Präteritum zum Präsens. Nach Brüsten, Schultern und Schoß des zweitens Quartetts rückt jetzt Lesbias Fuß ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das erste Terzett richtet das zuvor etablierte Lob der Schönheit auf den neu eingeführten Körperteil, das zweite Terzett entfaltet die abschließende Allegorie, mit der sich das lyrische Ich selbst in eine Beziehung zur angebeteten Frau und ihrem Fuß versetzt. Einleitend werden in den Versen 10 und 11 zwei weitere antike Gottheiten genannt. Juno, als Gemahlin Jupiters die oberste weibliche Göttin des römischen Pantheon, steht nicht unbedingt für herausragenden Liebreiz, aber doch für eine Art fürstlicher Schönheit. Dass Lesbias „zierlich“ gehender Fuß (V.9) den Neid der Götterfürstin erweckt, kann nur heißen, dass in dieser Zierlichkeit die höchste Macht, eine höhere Macht als in der Gewalt der ehrfurchtgebietenden Gestalt Junos liegt. Hier siegt Demeter-Venus über Juno, triumphieren Fruchtbarkeit und Liebreiz über die unnahbare Schönheit. Entsprechend begeistert fällt auch die Reaktion des zweiten antiken Gottes aus, der auf Lesbias zierliche Gangart anspringt (V.11). Der Sonnengott Phöbus Apollon leuchtet heller, wobei die Verjüngung der unzweifelhaft phallischen Kerze auch schlicht als Erektion verstanden werden kann, die ja quasi der Jugendzustand des männlichen Geschlechtsorgans ist. Im zweiten Terzett erfährt die Fuß-Semantik noch einmal eine Wendung. Dass Lesbias Füße den Boden nicht etwa ,nicht berühren‘, sondern ,nicht rühren‘, leitet die abschließende Pointe ein. Jeder ihrer Schritte, so der Sprecher, trete auf sein verwundetes Herz. Von wem aber verwundet? Nimmt man die Metapher zunächst wörtlich, dann wohl nicht von der zierlich auftretenden Seelenhirtin Lesbia, sondern von der einzigen Instanz, die im Gedicht martialisch konnotiert ist, nämlich von der wachehaltenden Venus (V.6). Deren Verteidigung der Brüste Lesbias kann nun vereindeutigt werden. Dass der Sprecher bei dem Versuch, sich einen Zugang zum Herzen Lesbias zu verschaffen, als nicht berechtigter Bittsteller zurückgewiesen und verwundet wird, erscheint nicht länger glaubhaft. Sinn macht hingegen, dass Venus als Hüterin der Schönheit die Brüste Lesbias bewacht, wenn man die nachweisliche sexuelle Motivierung des Sprechers zugrunde legt. Denn nach damaliger Auffassung bewirkt die nach vollzogenem Geschlechtsakt unvermeidbare Schwangerschaft einen rapiden Verfall der Schönheit, insbesondere der weiblichen Brust, welche durch Anschwellen und Säugen schlaff wird. So erhält der Sprecher seine Verwundung, die metaphorisch als unerfülltes Liebesbegehren, hier: erotisches Begehren, zu verstehen ist. Damit schließt sich der Kreis: Im übertragenen Sinne verwunden die zierlich gesetzten Füße Lesbias, als Pars pro Toto ihres Liebreizes, das Herz des Sprechers, und zugleich ist die Wunde als Metapher des unerfüllten sexuellen Begehrens zu lesen.
2. Johann Wolfgang Goethe: Der Erlkönig
Mit Blick auf die eingangs festgelegten Merkmale der Liebeslyrik ist zu konstatieren, dass Hoffmannswaldaus Sonett zwar einen Konnex zwischen Sprecher und Autor herstellt, aber doch kaum die Bedingung erfüllt, die geliebte Person als unaustauschbar darzustellen. Wer sich hinter der Maske der Lesbia verbirgt, ist vergleichsweise irrelevant; Thema des Gedichts ist das körperliche Begehren, das die Frau auslöst. Um dies beides zu belegen, muss man nicht die These bemühen, dass Liebesdichtung im modernen Sinne sich demonstrativ weigert, die Liebe an einzelnen Eigenschaften des Liebesobjekts festzumachen. Es genügt, einen Blick auf die Charakteristik der Rede im Gedicht zu werfen. Auffällig ist, dass der Stil mit Beginn der Terzette einfacher wird, die Bilder sind weniger komplex verschraubt, die Anspielungen mit Hilfe des zeitgenössischen Bildungswissens leichter zu entschlüsseln. Die Simplifizierung geht aber nicht soweit, dem Duktus des Sprechens eine wie auch immer geartete emotionale Bewegtheit des Sprechers einzuschreiben. Er sagt seinen schlüpfrigen Text so artig auf, dass sogar beinahe die Behauptung sexuellen Begehrens zweifelhaft wird. Die Legitimation des Gedichts durch den autobiographischen Konnex hat daher eine ganz andere Funktion als einhundert Jahre später. Sie beglaubigt, dass das, was dargestellt wird, auch in Wirklichkeit gelingt – nämlich die Fundierung eines Lobs weiblicher Schönheit in der Auslösung eines sexuellen Begehrens, das zugleich, damit die Frau das Lob annehmen kann, in einem komplexen Gefüge von Metaphern, Allegorien und Anspielungen verborgen werden muss. Von den Terzetten her gedeutet, kann das Sonett somit als eine Art barocker Flirt-Ratgeber gelesen werden, der junge Männer belehrt, wie sich galant einer Frau zu nähern ist. Bleibt man hingegen bei den Quartetten, dann äußert sich darin zugleich ein Begehren, das teilweise durch die Arbeit an der vertrackten Bildlichkeit sublimiert, teilweise aber in ihr ausgedrückt werden muss.
2. Johann Wolfgang Goethe: Der Erlkönig DER ERLKÖNIG Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. – 5
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Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? – Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron‘ und Schweif? – Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. – „Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel‘ ich mit dir; Manch‘ bunte Blumen sind an dem Strand; Meine Mutter hat manch‘ gülden Gewand.“ Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? – Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind! In dürren Blättern säuselt der Wind. –
Liebeslyrik
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VI. Exemplarische Einzelanalysen
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„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? – Mein Sohn, mein Sohn, ich seh‘ es genau; Es scheinen die alten Weiden so grau. –
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Inhaltsangabe
Fragestellung
Ein zweites Thema
„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt.“ – Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! – Dem Vater grauset‘s, er reitet geschwind, Er hält in den Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. (Goethe [1], 154/55)
Goethes ,Erlkönig‘, eine der bekanntesten Balladen der deutschen Literatur, erzählt die Geschichte vom nächtlichen Ritt, den ein Vater und sein Sohn gemeinsam unternehmen. Der Sohn erlebt bedrohliche Annäherungen eines Waldgeists, den er den „Erl[en]könig“ nennt (V.6, 7, 14, 22, 28); der Vater kann weder den Geist wahrnehmen noch seinen Sohn vor ihm beschützen; schließlich erreichen die beiden ihr Heim, doch der Sohn ist tot, scheinbar vom Erlkönig ermordet. Einen Hinweis, warum die schaurige Geschichte erzählt wird, enthält der Text so wenig wie ein Fazit, in dem seine Lehre oder Moral auf den Punkt gebracht würde. Klar ist aber, dass in Vater und Sohn zwei Typen von Weltdeutung aufeinander treffen: die ,phantastische‘ des Sohnes und die rationale des Vaters. Von der Frage, wer Recht hat, leiten sich zwei gegensätzliche Lesarten des Gedichts ab (vgl. Sorg, 72 ff.). Wenn die Erscheinung des Erlkönigs nur das Produkt einer panischen kindlichen Phantasie ist, dann ist das rationale Weltbild des Vaters bestätigt; zugleich aber verweist der Tod des Sohnes auf ein Problem, das für die Rationalität des 18. Jahrhunderts ein tiefes Rätsel war, nämlich auf den unerklärlichen Konnex der geistigen und der materiellen Substanz, auf das LeibSeele-Problem: wie kann es sein, dass ein Körper von seinem ihm innewohnenden Geist affiziert wird, wenn beide substanziell verschieden sind? Das Problem wäre gelöst, wenn man annähme, dass der Sohn an einem Fieber leidet, das sowohl seine Halluzinationen (Seele) als auch seinen Tod (Körper) erklären würde. Dafür aber liefert der Text keine Anhaltspunkte. In der zweiten Lesart dagegen existiert der Erlkönig in der fiktionalen Welt der Ballade tatsächlich; das Gedicht erzählt dann von der Hellsichtigkeit der kindlichen Wahrnehmung und der Beschränktheit erwachsener Rationalität. Aber welche der beiden Deutungen trifft zu? Die Entscheidung über diese Frage sei zunächst zurückgestellt. Denn die Realitätsproblematik ist nicht das einzige Thema des Gedichts; ein zweites ergibt sich daraus, dass die Annäherung des Erlkönigs an den Sohn deutlich sexuell motiviert ist. Sie kulminiert in einer Liebeserklärung, die ausdrücklich mit der „schöne[n] Gestalt“ (V.25) des „feine[n] Knabe[n]“ (V.17) begründet wird, und der Ankündigung, den Willen des Sohnes mit „Gewalt“
2. Johann Wolfgang Goethe: Der Erlkönig
zu brechen (V.26), ihn also zu vergewaltigen, was der Erlkönig dann auch zu tun scheint („hat mir ein Leids getan“, V.28). Diese Bedeutungsschicht ist bereits beim ersten Auftreten des Waldgeistes präsent, wenn auch bis einschließlich Strophe 5 in Doppeldeutigkeiten. Der zunächst harmlose, allerdings auch unerklärliche „Schweif“ des Erlkönigs (V.7) kann sowohl die Rückgradsverlängerung bei Tieren als auch, vom Ende her verstanden, vulgärsprachlich das männliche Geschlechtsorgan bezeichnen. Doppeldeutig ist auch die Anrede „Du liebes Kind“ (V.9), die wörtlich genommen eine korrekte Bezeichnung der ontogenetischen Entwicklungsstufe des Angeredeten, im 18. Jahrhundert aber auch als verliebte Anrede junger Frauen gebräuchlich ist. Auch unter „schöne[n] Spiele[n]“ (V.10) lässt sich Erotisches verstehen. In der fünften Strophe anerkennt der Erlkönig den Sohn nun als „Knaben“ (V.17), d. h. als nicht mehr Kind, und versucht ihn durch die Schilderung seiner Töchter zu locken. Im letzten Vers erscheinen noch einmal die vergangene und die zukünftige Altersstufe des Sohnes, wenn zuerst von „wiegen“ (Kindesalter), dann von „tanzen“ (Adoleszenz) und schließlich von „singen“ die Rede ist, das als musikalische Begleitung das Wiegen und Tanzen verbindet (V.20). Neben Wahrnehmung und Realitätserfahrung thematisiert ,Der Erlkönig‘ also die erwachende Sexualität eines Jungen zwischen Kindheit und Adoleszenz oder die naturhaft-grausame Sexualität eines ,Waldgeistes‘, der zum Zweck der Triebbefriedigung über Leichen geht. In der ersten Lesart, die von nun an weiter entwickelt werden soll, hat die Phantasie vom Erlkönig für den Jungen eine klare psychische Funktion. Sie verschiebt die sexuelle Problematik vom Ich auf einen Anderen. Da dieser Andere bedrohlich erscheint, kann als Motiv für die Verschiebung angenommen werden, dass Sexualität selbst vom Jungen als bedrohlich wahrgenommen wird. Warum dies so ist, lässt sich zeigen, wenn man die Figuren und ihre Konstellationen genauer betrachtet. Es fällt auf, dass die beiden ,Familien‘ des Gedichts defizitär sind; es fehlen die Ehefrauen. Der „Vater“ besitzt zwar einen Hof, aber davon, dass zu diesem Besitz auch eine Frau gehört, die als kollabierende Mutter effektvoll am Schluss hätte ins Spiel gebracht werden können, ist keine Rede (V.31/32). Die Familie des Erlkönigs umfasst mit seiner Mutter (V.12), ihm selbst als Sohn und seinen Töchtern (V.18, 19, 22) drei Generationen; aber wieder fehlt die Frau. Die beiden Kontrahenten im Kampf um den Jungen – Erlkönig und Vater – gleichen sich also in dem für die sexuelle Thematik wesentlichen Punkt, frauenlos zu sein. Der Junge ahnt, dass sein Vater, wie er, sexuelle Regungen empfindet. Da er mutterlos ist, fehlt ihm ein Modell, das ihm eine eindeutige heterosexuelle Orientierung seiner Triebwünsche gestattet. Diese Orientierungslosigkeit projiziert er auf seinen Vater, als dessen Sexualobjekt er sich infolgedessen imaginiert. Die Bedrohung, die davon ausgeht, vom Subjekt zum Objekt gemacht zu werden, ist so enorm, dass die imaginierte Triebhaftigkeit des Vaters auf eine Phantasie verschoben werden muss. In dieser Phantasie ist sogar die ursprüngliche Konstellation der frauenlosen Familie redupliziert, was zusätzlich für ihren Projektionscharakter spricht. Damit ist das Problem der Bedrohung aber nicht gelöst; im Gegenteil, die psychische Operation erweist sich letztlich als tödlich. Dass der Vater keine Chance hat, seinen Sohn zu retten, geht aus der Wiederholung des Wortes „faßt“ hervor (V.4, 27). Erst bezeichnet es das si-
Psychodynamische Erklärung
Paradoxie des Fassens
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VI. Exemplarische Einzelanalysen
Goethes Balladenkonzept
chere Fassen des Sohnes durch den Vater, beim zweiten Mal das Fassen des Erlkönigs nach dem Sohn als Auftakt des Leidantuns (also wohl der Vergewaltigung). Dass Vater wie Erlkönig den Sohn fassen, ist eine weitere Parallelität der Figuren; sie suggeriert, dass der Sohn das Gefasstwerden vom Vater als Angefasstwerden durch den Erlkönig wahrnimmt. Je fester der Vater sichernd fasst, desto schlimmer wird die Lage des Sohnes. In dem der Ballade eingeschriebenen kleinen Drama des Vaters erscheint dieser als tragische, schuldlos schuldige Figur. In der psychischen Krise des Sohnes wiederum ist das Angefasstwerden der Konvergenzpunkt, an dem Realität und Halluzination in eins fallen. Zunächst fragt der Sohn den Vater, ob er den Erlkönig nicht sehe (V.6), dann, ob er nicht dessen Versprechungen ,höre‘ (V.13), und schließlich, ob er nicht seine Töchter ,sehe‘ (V.21/22). Der Vater eskamotiert die Halluzinationen, indem er auf einen „Nebelstreif“ (V.8), das Säuseln von „dürren Blättern“ (V. 16) und „die alten Weiden so grau“ (V.24) verweist. Diese noch durch die Regelmäßigkeit der Achtversschritte in ihrer Fähigkeit, geordnete Antworten zu finden, bestätigte Kontrolliertheit des Vaters geht verloren, als der Erlkönig final zufasst: der Vater bleibt stumm. Dass er seinen Sohn mit dem ersten Auftreten des Erlkönigs verliert, macht das Gedicht durch die Reim- und Redestruktur der Strophen 2, 4 und 6 deutlich (überall liegt das Reimschema a a b b vor). In der zweiten Strophe nämlich umfasst Frage und Antwort des Vaters noch die Rede des Sohns (wie sein Arm ihn umfasst), beide Reden tragen gemeinsam zum Aufbau der Endreime bei. In den Strophen 4 und 6 hingegen stehen sich die Reden von Sohn und Vater en bloc gegenüber, hier reimt nun jeder nur noch für sich. Dann schweigt der Vater. Um nun auch die Frage nach dem Realitätsstatus des Erlkönigs zu beantworten, hilft ein Blick in Goethes poetologische Überlegungen. In einem Aufsatz, der hauptsächlich der Erläuterung einer seiner Balladen, deren Titel der Gattungsname ,Ballade‘ ist, erläutert Goethe: Die Ballade hat etwas Mysterioses, ohne mystisch zu sein; diese letzte Eigenschaft eines Gedichts liegt im Stoff, jene in der Behandlung. Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Taten und Bewegung so tief im Sinne, daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern will. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. (Goethe [1], 400)
Die balladeske Behandlung eines Stoffs lässt demnach der Gestaltung große Spielräume beim Mischen der „klar erzählende[n]“ (epischen), der „enthusiastisch aufgeregte[n] (lyrischen) und der „persönlich handelnde[n]“ (dramatischen) Elemente (Goethe: Divan, Noten und Abhandlungen). Gerade weil der „Sänger“ vom Stoff, seinem „prägnanten Gegenstand“, ausgeht und nichts davon wegnehmen kann und will, kann die Darstellung des Stoffs nur gelingen, wenn die Freiheit besteht, die ,Naturformen‘ zu mixen. Der Mix fällt ,mysterios‘ aus, so verstehe ich Goethe, weil keine epische Erklärungsbreite, keine dramatische Dialogslogik und keine lyrische Empfindungstiefe dem Text Klarheit verleihen. Im ,Erlkönig‘ könnte nur eine Erläu-
3. Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens
terung nach Art einer epischen Erzählerdigression unsere Informationslücke füllen. Würde das Gedicht dann aber den Erlkönig als eine reale Entität darstellen, dann wäre es wirklich mystisch, nicht ,mysterios‘. So aber erhält der Text eine (in Goethes Sinne) lyrische Dimension, weil seine Unentschiedenheit hinsichtlich der Frage nach Phantasie oder Wirklichkeit die emotionale Distanz zwischen dem Leser und dem Jungen einreißt. Dass in dessen Erleben, wie gezeigt, die Vertauschung der Subjekt- und Objektposition zentral ist, wird vom Text formal als Unmöglichkeit reflektiert, aus der radikalen Position des Subjekts heraus, in die der Leser versetzt wird, Objektivität herzustellen.
3. Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens In der folgenden Analyse soll die Meinung eines anderen Forschers produktiv genutzt werden. Statt jedoch an seiner These zu zeigen, wie man sie aufgreift und entweder stützt oder widerlegt, werde ich darzustellen versuchen, wie man sie, ausgehend von ihren konkreten Formulierungen, als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer parallelen Lesart nutzen kann. Zunächst das Gedicht: HÄLFTE DES LEBENS
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Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. (Hölderlin, 134/35)
Der Hölderlinforscher Jochen Schmidt schreibt zu Beginn seines Artikels ,sobria ebrietas‘ über ,Hälfte des Lebens‘: „Wider den Anschein jedoch erfordern diese beiden Strophen mehr als eine paraphrasierende Verdeutlichung des auch ohne genauere Analyse in seinen Grundzügen Erkennbaren. Denn die Bilderwelt des Gedichts birgt noch eine esoterische Schicht, die bislang unerkannt blieb.“ (Schmidt, 257) Ausgehend von der Topik des Gedichts (vgl. III.1) schlägt Schmidt eine poetologische Lesart vor. Der Schwan sei ein traditionelles poetisches Sinnbild des Dichters (ebd., 262), und ebenso habe Hölderlin der literarischen Überlieferung den Topos der Opposition von „heilignüchtern“ und „trunken“ entnehmen können, der „sobria ebrietas“, die als gleichzeitige „Begeisterung und Besonnenheit“, als Kombination von „ingenium und ars“, in vielen Poetologien den Zustand beschreibt, in dem Dichtung geschaffen wird (ebd., 260). Die ganze erste
Jochen Schmidt: poetologische Lesart
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VI. Exemplarische Einzelanalysen
Schmidts erste Schicht
Der Titel
Fragestellung
Erste Strophe
Topographie: Kultur und Natur
Strophe drücke demnach ein „Gefühl der Liebesinnigkeit, der rauschhaften Verbundenheit mit allem Dasein“ aus, das als Bedingung der Möglichkeit zu dichten dargestellt sei (ebd., 263). Demgegenüber formuliere dann die Winterstrophe ein Bild des gänzlichen Inspirationsmangels. Schmidt kann sich auf eine lange, Hölderlin bekannte Tradition der herausgearbeiteten Dichtungsauffassung stützen. Zusätzlich könnte man ins Feld führen, dass die Anwendung topologischer Inventare auf Hölderlins Gedicht gerechtfertigt erscheint, weil Gedichttitel und Text gleichfalls auf einen topischen Standard rekurrieren, die Abbildung des Lebenslaufs auf den Zyklus der Jahreszeiten. Indem Schmidt von einer zweiten „Schicht“ spricht, deutet er zugleich an, dass seine Interpretation mit Lesarten konvergieren kann, die paraphrasierend auf eine erste Bedeutungsschicht zielen. Fraglich scheint aber, ob das „Erkennbare“ tatsächlich nach einer Paraphrase „ohne genauere Analyse“ erkannt würde. Was zunächst ins Auge springt, ist der Umstand, dass der Titel ,Hälfte des Lebens‘ keine direkte Entsprechung im Text findet, der in der ersten Strophe eine Landschaftsszene schildert und in der zweiten Strophe die emotionale Reaktion seines Sprechers auf den Eindruck der Landschaft gestaltet. Entweder, man konstatiert die Diskrepanz von Titel und Text und leitet daraus einen vom Gedicht selbst vorgegebenen Erklärungsbedarf ab; oder man weiß, dass es in der Dichtung üblich ist, das menschliche Leben durch den Jahreszeitenzyklus zu allegorisieren, und stellt aus diesem Grund das literarische Bild seiner zu ermittelnden Bedeutung gegenüber. Im ersten Fall reagiert man auf eine Irritation durch das Gedicht, im zweiten Fall auf das eigene Vorwissen. In beiden Fällen aber stellt sich die Aufgabe, die spezifische Gestaltung der Jahreszeiten auf ihre Bedeutung für das Konzept des menschlichen Lebens hin auszulegen. Aus der ohne „Aufwand und Pathos, ohne erkennbare formale Virtuosität“ (Schmidt, 257) auskommenden Sprache der ersten Strophe stechen gleichwohl drei sprachliche Absonderlichkeiten hervor: zunächst die Metaphern des in den See hängenden Landes und der küssend-geküssten Schwäne, dann das Kompositum „heilignüchtern“. Am unspektakulärsten erscheint die erste Metapher, denn sie lässt sich in die Beschreibung eines Wahrnehmungseindrucks auflösen – der freilich ausbuchstabiert sein will. Es findet eine Deutungsübertragung von den schwer unter der Last ihrer reifen („gelben“, V.1) Birnen herabhängenden Ästen der Bäume auf den Träger der Bäume, das Land selbst, statt. Dass durch Inversion und Enjambement die Wörter „Birnen“ und „hänget“ (V.1) unmittelbar nebeneinander gestellt werden, befördert diese assoziative Verknüpfung. Damit überträgt sich zugleich das Attribut der Reife auf das Land und umfasst nun auch die „wilden Rosen“, von denen der zweite Vers spricht. Diese Verbindung wiederum erscheint paradox, weil die offenbar blühenden Rosen nicht Reife, sondern Jugend konnotieren. Früchte (Birnen) und zur Befruchtung bereite Blüten (Rosen) verbinden sich in einem Bild, dessen gemeinsame Basis buchstäblich das ,reife Land‘ ist. Darüber hinaus bringt das die Rosen näher bestimmende Attribut „wilde[..]“ (V.2) die Dichotomie von Natur und Kultur insofern ins Spiel, als Birnen in Europa meist keine Wild-, sondern Kulturpflanzen sind. Deswegen können die Birnen auch nicht durch Kirschen, Brombeeren etc. ersetzt werden. Birnen und nicht z. B. Äpfel (gleichfalls Kulturpflanzen)
3. Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens
müssen es sein, weil Äpfel, anders als die leichtverderblichen Birnen, auch über Winter eingelagert werden können und so das Bild des Verlusts, das die Winterstrophe zeichnet, stören würden. Außerdem lässt der Apfel an den biblischen Mythos des Sündenfalls denken, mithin an den Ursprung der Entzweiung von Mensch und Natur, was eklatant gegen die Harmoniesemantik der Strophe verstieße. Tatsächlich werden all diese Gegensätze nämlich ohne das geringste Anzeichen von Irritation vorgetragen und verschmelzen so zu einem harmonischen Bild. Die bisherige Deutung gründete darauf, dass Hölderlin zur Beschreibung des sanft zum See hin abfallenden Landes das Verb ,hängen‘ benutzt (V.1). Das Verfahren, die von abweichender Sprachverwendung bewirkten Sinnstörungen durch zusätzlichen Interpretationsaufwand wettzumachen, lässt sich weiterhin gewinnbringend einsetzen. Die zweite Metapher der ersten Strophe entsteht durch die syntaktische Verknüpfung der Schwäne mit Küssen und Trunkenheit. Sie bewirkt eine Anthropomorphisierung der Schwäne, die assoziativ mit küssenden Lippen, Liebesverlangen und einem durch das unablässige Wechseln von Begehren und Befriedigung verursachten Rauschzustand ausgestattet werden. Ausgehend von dieser Metapher, die sich im Gegensatz zur ersten nicht mehr in eine Wahrnehmungsdeutung auflösen lässt, kann als Thema des Gedichts die Liebe bestimmt werden. Diese Themenbestimmung erlaubt, die beiden metaphorischen Bildelemente aneinander anzuschließen und die Gleichzeitigkeit von Blüte und Frucht als Bild für die Selbstzweckhaftigkeit der Liebe auszulegen. Zugleich aber kommt die Liebe nicht ohne eine höhere Legitimation aus. Ihre ,hitzige‘ Trunkenheit bedarf des ständigen Wärmetausches im ,nüchternen‘ Wasser. Doch das heiligend-nüchterne – keineswegs ,ernüchternde‘ – Wasser nimmt den Schwänen nichts von ihrer Trunkenheit, es gleicht sie nur dahin aus, dass sie erträglich bleibt, auch wenn sie auf Dauer gestellt ist. Als topisches Symbol für die Taufe schließt das Tunken ins heilige Wasser mehrere Interpretationszirkel ab. Es versieht die Liebe mit höheren Weihen, indem es den Bund mit dem Göttlichen besiegelt. Zweitens verweist es erneut auf die Einigkeit von Jugend (dem Alter der Taufe) und Reife (dem Alter des Liebens). Und drittens besiegelt es die Möglichkeit, Kultur (Taufe) in Vereinigung mit Natur (dem See) zu konzipieren. Die Verbindung der ersten und der zweiten Strophe sichert eine topologische Gemeinsamkeit des „Land[es]“ (V.3) und der „Schatten der Erde“ (V.11). Beide sind dem Diagonalen zugeordnet. Das Land kann nicht senkrecht herabhängen und die Schatten verschwinden, wenn das Licht senkrecht fällt (was in der zweiten Strophe befürchtet wird). Neben der Funktion, als Isotopie dem Text Kohärenz zu verleihen, fungiert die Diagonalität zudem als ein weiteres, nun höchst abstraktes Zeichen für den Ausgleich der Extreme. An die Stelle des einzigen Repräsentanten der Waagerechten in der ersten Strophe, des Sees, tritt in der zweiten Strophe die Erde. Der Wechsel der Elemente kündigt den Übergang zu Verfestigung und Erstarrung an. Bereits in die durch eine klagende Exklamation („Weh mir“, V.8) eingeleitete Frage, die wohl noch in der Situation des Sommers formuliert wird, bricht die Angst vor der Kälte des Winters ein. So, wie nun ein ,Ich‘ sich nennt und damit der Welt gegenüber tritt, so brechen nun imaginär auch im Bild von Sonnenschein und Schatten – noch im semantischen Be-
Küsse und Trunkenheit
Taufe
Zweite Strophe
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VI. Exemplarische Einzelanalysen
Erotische und poetologische Interpretation
Politische Interpretation
zugsfeld des Diagonalen – Erzeuger und Erzeugnis auseinander. Die folgende Evokation des Winters vernichtet dann jegliche Hoffnung, das Getrennte wieder vereinigen zu können. Die Mauern (V.12) bilden als vertikale Fläche, als künstlicher Gegenstand, als Symbol der Trennung und als festes Gebilde einen schroffen Gegensatz zum horizontalen, natürlichen, flexiblen und durchdringbaren See. Nur überragt werden sie von den wohl an ihren Masten bewegten Fahnen. Die von der Natur, dem Wind, gebeutelte Kultur, die Fahne, hat jede Autonomie eingebüßt; Kultur und Natur treten einander feindselig gegenüber. Erstarrung, Spaltung und Heteronomie verbinden sich zu einem Winterbild, in dem für die alles umschließende Liebe der ersten Strophe kein Platz mehr ist. Der im Gedicht sich aussprechenden „Lebenskrise“ (Schmidt, 257) verleiht die Konkretisierung zur Krise des drohenden Liebesverlusts eine universelle Tragweite und die Symbolisierung durch den Jahreszeitenzyklus zugleich Unausweichlichkeit. Möglich wäre, dass Hölderlin eine bildhafte Kritik am überzogenen Liebeskonzept seiner Zeit übt, das als nicht zugleich kontinuierbar und realisierbar dargestellt wird. Man kann aber auch eine andere Richtung einschlagen und das Gedicht weder in dieser Weise erotisch noch mit Schmidt poetologisch, sondern politisch lesen. In diese Richtung sind in der Hölderlinforschung Pierre Bertaux und Jürgen Link gegangen. Das Thema Liebe, das durch die erste Strophe vorgegeben ist, würde sich bei isolierter Lektüre der zweiten Strophe keineswegs ergeben. Mauern, Fahnen und Wind verweisen auf einen ganz anderen menschlichen Erfahrungsbereich, den des Krieges. Konnotativ verknüpft sind Wind und Krieg durch den Sturm, der als konventionelle Metapher den Angriff bezeichnet (Sturm auf die Bastille, Erstürmung, Sturmangriff). Das „[K]lirren“ (V.14) ordnet sich als Geräusch den zu Hölderlins Zeiten noch üblichen Hieb- und Stichwaffen zu. Sprachlosigkeit als Totalverlust der Kommunikationsmöglichkeit zeichnet Kampfhandlungen ebenso aus, wie Flaggen und Mauern zur Erstürmung von Festungen gehören. Es ist wohl kein Zufall, dass die Fahnen, unter denen sich zwei feindliche Heere – Extremfall menschlicher Entzweiung – versammeln, bei Hölderlin erstarrt sind und das Geräusch der Waffen abgeben, mit denen die Soldaten aufeinander losschlagen. Wie Schmidts poetologische kann sich auch diese Lesart auf einen Topos berufen, nämlich auf die antike Geschichtskonzeption einer Zeitalterstufung der Menschheitsentwicklung, die mit dem goldenen Zeitalter des Friedens begonnen habe und mit dem eisernen Zeitalter des Krieges ende. Zwar widerspricht der politische Fatalismus, der in der Überblendung von Jahreszeitenzyklus und Menschheitsgeschichte liegt, dem Versuch Hölderlins, in seinen etwa gleichzeitig geschriebenen späten Hymnen Aussichten auf eine bessere Zukunft zu entwickeln; doch niemand zwingt uns, von einem Gedicht aufs andere schließen, so, als hätte der Autor immer dieselbe Idee gestalten wollen. ,Hälfte des Lebens‘ wäre dann der Entwurf eines Problems, dessen Lösung die Hymnen in Angriff nähmen: die Entwicklung eines Geschichtskonzepts, das nicht dem ,ewigen‘ oder dem wiederkehrenden Winter Naturnotwendigkeit zuschreibt. Der Konvergenzpunkt aller Interpretationen liegt darin, dass sie das Gedicht als Ausdruck einer Entwicklungskrise – des Individuums (Liebe und Alter), des Dichters (poetologische Lesart) oder der Menschheit (politische Lesart) – auffassen. Die über dieser Krisenthematik sich aufbauenden
4. Eduard Mörike: Auf eine Lampe
Bilder sind auf seine verschiedenen Spezifikationen rückbeziehbar; sie funktionieren wie Relais, an denen von einem Thema auf ein anderes umgeschaltet werden kann.
4. Eduard Mörike: Auf eine Lampe Beim nächsten Gedicht, Eduard Mörikes ,Auf eine Lampe‘, drängt sich eine poetologische Lesart geradezu auf. Es gilt aber, genau hinzusehen, um herauszufinden, welche Poesiekonzepte sich in ihm artikulieren – und wie sie es tun. AUF EINE LAMPE
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Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht, Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form – Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
(Mörike, 61)
Das 1846 geschriebene Gedicht besteht aus zehn Versen, die metrisch völlig gleichmäßig gebaut sind. Es handelt sich um nicht-reimende, jambisch alternierende Sechsfüßer mit stumpfer Kadenz. Da stets die betonte letzte Verssilbe auf eine unbetonte erste Silbe des folgenden Verses trifft, wird auch an der Versgrenze das fortlaufend alternierende Metrum nicht irritiert. Diese glatte Folie bietet keine Anhaltpunkte für eine Gliederung des Gedichts. Inhaltlich gliedert es sich in vier Sinnabschnitte: die Verse 1 – 3, 4 – 6, 7/8 und 9/10. Im ersten Abschnitt wird der Gegenstand benannt, um den es geht, und der Ort beschrieben, an dem er sich befindet. Im zweiten Abschnitt erfolgt dann eine Beschreibung der Lampe. Der dritte Abschnitt beginnt mit dem Ausruf des Sprechers, dem sich eine Auswertung der Beschreibung anschließt, die zugleich als Begründung des im Ausruf behaupteten reizenden Charakters fungiert. Den letzten Abschnitt bilden die Verse 9 und 10, in denen die Auswertung eine Verallgemeinerung erfährt – die Lampe ist ein echtes Kunstwerk – und eine vorderhand merkwürdige Frage und ihre Beantwortung sich anschließen, die wir als eine nähere Bestimmung des Begriffs des echten Kunstwerks auffassen sollen. Dass die Verse 7 bis 10 stärker ineinander geschlungen erscheinen als die beiden Sinnabschnitte zuvor, liegt daran, dass die Auswertung erst in der begründeten Verallgemeinerung des zehnten Verses abschließend auf den Punkt gebracht wird. Wie und warum gelangt der Sprecher am Ende zu seiner Aussage, dass die Lampe ein „Kunstgebild der echten Art“ sei? Die Antwort findet sich, wie gleich deutlich wird, nicht allein im Gedicht, fußt aber auf dessen Beschreibung. Weder der erste noch der zweite Sinnabschnitt verraten etwas darüber, ob die Lampe brennt oder nicht. Ihre wichtigste Funktion bleibt
Metrische Form
Gliederung
Fragestellung
Zustand der Lampe
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VI. Exemplarische Einzelanalysen
ausgeblendet. Dass das Lustgemach ein „fast vergessne[s]“ ist (V.3), macht es wahrscheinlich, dass die Lampe nicht brennt. In zahlreichen älteren Gedichten, in denen Lampen vorkommen, darf die Lampe leuchten, um allegorisch stellvertretend für das ,Licht der Vernunft‘ oder ,das Licht des Glaubens‘ zu stehen. Man kann daher annehmen, dass Mörikes nicht-brennende Lampe eine Lesererwartung enttäuscht, nämlich die Erwartung einer Allegorie: Mörikes Lampe will nicht für etwas anderes stehen, sondern für sich selbst. Die Differenz von Allegorie und Symbol war Mörike und seinen Zeitgenossen an ,klassischer‘ Stelle erläutert worden: Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie, sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät. / Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen. (Goethe [4], 471) Das Symbol
Das „lebendig“ ,gefasste‘ „Besondere[..]“, bei dem nicht „ans Allgemeine“ gedacht wird, obwohl Letzteres in ihm auf eine geheimnisvolle Weise enthalten ist: das ist es, was Goethe unter einem Symbol versteht. Die Symboldarstellung muss so ausfallen, dass Rezipienten zunächst das Allgemeine nicht bemerken, auf das sie hindeutet. Außerdem muss sie einen gewissen Umfang haben, ohne den es schwer möglich wäre, in der Beschreibung das Allgemeine so anzudeuten, dass man es, wenn auch erst spät, gewahr werden kann. Mörikes Gedicht nun skizziert eine kleine, fragmentarische epische Szene mit einem Sprecher-Erzähler, der sich der Symbolkraft des Gegenstandes bewusst wird, den er betrachtet. Das Gedicht inszeniert die späte Bewusstwerdung des Allgemeinen im symbolischen Gegenstand, also just das, wovon Goethe in seiner Reflexion spricht. Welche Symbolik aber hat er erkannt? Die Kinderschar und der Efeukranz können für Anfang und Unvergänglichkeit stehen, aber beide symbolischen Repräsentationen ergeben sich nicht zwangsläufig, sondern erst, nachdem das ganze Bild, das die Lampe darbietet, im Rezipienten, dem Sprecher des Gedichts, zu wirken begonnen hat. Der „sanfte[..] Geist / Des Ernstes“ (V.7/8) kommt eben deswegen ins Spiel, weil die Szene aus Kinderscharenringelreihen und Efeukranz einen Bedeutungsüberschuss produziert: man kann wissen, dass der Efeu als immergrüne Pflanze ein traditionelles, topisches Unvergänglichkeitssymbol ist und durch die runde Anordnung zu einem Kranz noch mit einem Unendlichkeitssymbol, nämlich dem Kreis, kombiniert wird. Kinder stehen für Beginn und Unschuld. Die Kombination dieser beiden Bildteile bewirkt dann die symbolische Bedeutung eines ewigen Anfangs oder einer ewigen Jugend. Mörikes Sprecher geht aber noch einen Schritt weiter. In dem Moment, in dem er die Lampe als symbolisches Kunstwerk erkennt, wird sie selbst für ihn zu einem Symbol der Kunst, so dass er sie als ein „Kunstgebild der echten Art“ bezeichnet (V.9). Denn nur symbolische Kunstwerke sind authentische Kunstwerke, nur sie entsprechen, wie Goethe sagt, der „Natur der Poesie“ (ebd.).
4. Eduard Mörike: Auf eine Lampe
Noch bleiben die letzten anderthalb Verse zu erklären. Die rhetorische Frage „Wer achtet sein?“ (V.9) leitet über zum allgemeinsten Spruch des Gedichts: einer Aussage über das Schöne (vgl. dazu auch die berühmte Kontroverse zwischen Emil Staiger und Martin Heidegger; Staiger [2]). Dieser letzte Satz lautet auffälligerweise nicht: ,Was aber schön ist, selig ist es in sich selbst‘. Das „scheint“ (V.10), das das ,ist‘ ersetzt, ist doppeldeutig: es kann im Sinne von „kommt mir so vor“ oder im Sinne von „leuchten“ verstanden werden. Die erste Deutung ist alltagssprachlich näher liegend, weil die zweite Deutung nur metaphorisch Sinn macht: man kann nicht buchstäblich ,selig leuchten‘, sondern nur, wenn das Leuchten als eine geistige Erleuchtung aufgefasst wird. Sinnvoll sind aber beide Deutungen. Die Lesart „Es kommt mir so vor, als sei das Schöne in sich selbst selig“ wird durch die kleine Geschichte von der Bewusstwerdung des Symbolcharakters der Lampe vorbereitet, in der die Subjektivität des Sprechers thematisiert wird, die sich im „Es kommt mir so vor, als“ zu Wort meldet. Wenn man hingegen liest: „Es leuchtet das Schöne vor lauter Seligkeit“, dann versteht man den Schlusssatz als Resümee über das objektiv Schöne, das wegen seiner inneren Harmonie und Ausgeglichenheit selig ist und keiner weiteren Bestätigung bedarf. Wenn wir gesagt haben, dass die Lampe höchstwahrscheinlich nicht brennt, dann können wir jetzt ergänzen, dass die Funktion des Leuchtens verinnerlicht wird. Die Lampe ,leuchtet‘ nicht für andere, sondern für sich selbst. – In Fällen, in denen man zwei Deutungsoptionen zur Hand hat, die beide gleich gut durch Textbelege gestützt sind, sind verschiedene Reaktionen möglich. Man kann z. B. versuchen, durch weiteres Nachgrübeln gute Gründe zu finden, weshalb eine der beiden Optionen nicht korrekt ist. Andererseits kann man behaupten, dass Gedicht sei schlicht mehrdeutig, in unserem Fall: es lege sich nicht fest darauf, ob es sich über die Objektivität der Schönheit oder ihre Abhängigkeit von subjektiver Wahrnehmung äußert. Drittens kann man nachsehen, ob die beiden Optionen nicht doch in einem Punkt konvergieren. Ein solcher Konvergenzpunkt ist im vorliegenden Fall mit dem klassischen Konzept der schönen Seele gegeben. Die Kombination der Wörter „schön“ und „selig“ in einem Vers (10) legt es nahe, dieses von Goethe und Schiller mitentwickelte Konzept schlagartig zu assoziieren. Was eine schöne Seele ist, beschreibt Schiller in seiner Abhandlung Über Anmut und Würde: Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es. (Schiller [3], 111)
Bei einer schönen Seele fallen das konkrete Begehren und die allgemeine moralische Pflicht in eins. Die innere Harmonie der schönen Seele wird von keiner Anfechtung erschüttert, sie ist es, die die schöne Seele schön macht. Seinerseits kann das symbolische Kunstwerk zu einem Symbol der schönen Seele werden, denn in ihm wird der konkrete Gegenstand mit der allgemeinen Bedeutung vollendet vermittelt, insofern die lebendig-augen-
Der Schluss des Gedichts
Auflösung von Doppeldeutigkeiten
Die schöne Seele
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VI. Exemplarische Einzelanalysen
Dreifach-Symbol
blickliche Offenbarung des Unerforschlichen, des Allgemeinen, sich im Hier und Jetzt, im konkreten Gegenstand ereignet. Das gilt auch für die Lampe unseres Gedichts, so, wie sie vom Text in Szene gesetzt ist. Dass sie äußerlich nicht leuchtet, macht ihr inneres seliges Leuchten desto strahlender; die Lampe als Symbol der schönen Seele erfüllt somit die Interpretation des Schlusssatzes „Es leuchtet das Schöne vor lauter Seligkeit“. Doch auch Schiller weiß, dass die meisten Menschen keine schönen Seelen sind; es liegt bei ihnen das sinnliche Begehren ständig mit dem Pflichtbewusstsein im Streit. Abhilfe schaffe da die Kunst: sie bilde den Menschen, sie übe ihn darin, wenigstens vorübergehend wie eine schöne Seele zu funktionieren. Wenn der Sprecher des Gedichts ab Vers 7 von der Schönheit der Lampe getroffen wird, dann ist dies just die Inszenierung eines Kunsterlebnisses, bei dem die Harmonie des schönen Kunstgebildes auf den Rezipienten überspringt. Diese Rekonstruktion rechtfertigt nun die subjektivistische Lesart des Schlusssatzes als „Es kommt mir so vor“. Der Sprecher selbst ist keine schöne Seele, sondern berichtet von einem Bildungserlebnis, das ihn vorübergehend in diesen Gnadenzustand versetzt. Das Gedicht schildert symbolisch die beseligende Wirkung der Kunst. Die Konvergenz-Lesart gestattet, ein ausgeklügeltes dreifaches Symbol zu entziffern. Ein symbolisierendes Kunstwerk ist erstens die beschriebene Lampe. Als solches steht sie, zweitens, ihrerseits symbolisch für die harmonische Anmut der Kunst und die schöne Seele. Drittens erhebt das Gedicht den Vorgang im Beobachter der Lampe zu einem Symbol der Teilhabe an Kunst als Annäherung an den Zustand der schönen Seele.
5. Rainer Maria Rilke: Der Leser Wie Mörike, so widmet sich auch Rainer Maria Rilke in seinem folgenden Gedicht den Bedingungen und Folgen der Kunstrezeption, kommt aber zu deutlich anderen Ergebnissen. DER LESER Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten, das nur das schnelle Wenden voller Seiten manchmal gewaltsam unterbricht? 5
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Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß, ob er es ist, der da mit seinem Schatten Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten, was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis er mühsam aufsah: alles auf sich hebend, was unten in dem Buche sich verhielt, mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend anstießen an die fertig-volle Welt: wie stille Kinder, die allein gespielt, auf einmal das Vorhandene erfahren; doch seine Züge, die geordnet waren, blieben für immer umgestellt. (Rilke, 582/83)
5. Rainer Maria Rilke: Der Leser
Eine männliche Person, der Leser, liest in einem Buch, sieht dann auf und findet sich in der Realität, der „fertig-volle[n] Welt“ (V.12), nicht zurecht: er stößt an, nimmt Anstoß. Das Leseerlebnis hat ihn „für immer“ verändert (V.16). Soweit ist alles klar; als Loblied auf die Macht der Literatur steht das Gedicht stellvertretend für die Bemühungen vieler Autoren der Jahrhundertwende, die marginalisierte Dichtung aufzuwerten. Diese erste Lesart werden wir vertiefen können, wenn wir das Gedicht eingehender analysieren. Dazu gehen wir von der anfangs gestellten Frage aus, „Wer kennt ihn […]?“ (V.1), die erst einmal nur ex negativo beantwortet wird: Die Mutter als vertrauteste Außenbeobachterin ist offenbar zu keiner Antwort fähig (V.5/6). Aber wenn es auch die Personengruppe, der der Sprecher angehört („wir“, V.7), nicht kann, dann sollten wir fragen, warum dies so ist und was daraus folgt. Um die Fragen zu beantworten, gehen wir den Text durch. Das weggesenkte Gesicht (V.1) kann man wörtlich verstehen als eines, das dem Buch zugewandt ist. Warum aber ,weggesenkt‘? Die Metapher macht zugleich von der wörtlichen Bedeutung des Ausdrucks „wegsenken“ als auch von seiner bereits metaphorischen Verwendung im Idiom „sich in ein Buch versenken“ Gebrauch, wobei das Präfix „weg-“ die Abwendung von etwas anderem meint, das dem „ver-“ in „versenken“ fehlte. Wörtlich bezeichnet das Wegsenken den Vorgang eines Eintauchens in ein anderes Element, nämlich ins Wasser, das in Ermanglung atembaren Sauerstoffs lebensfeindlich ist. In ihm verschwindet das Gesicht, d. h. die Körperregion, die mit den wichtigsten Sinnespforten ausgestattet ist. Der metaphorische Sinn des Wegsenkens ist die geistige Verschmelzung des denkenden Subjekts mit dem Gedachten des Buches. Die Metapher des weggesenkten Gesichts bezeichnet also das völlige sinnliche und geistige Verschwinden des Subjekts in einer anderen Welt mit potenziell letalen Folgen. – In Vers 2 wird zunächst die imaginäre Welt des Buches der realen Welt gleichgeordnet, doch wenn es heißt, die Imagination werde durch das Seitenwenden unterbrochen (V.2/3), scheint ein klares Abhängigkeitsverhältnis behauptet zu werden. Der Realität wird keine gleichmächtige, sondern eine von ihr segmentierbare und damit beeinflussbare Welt der Phantasie gegenübergestellt. Der Sprecher bedenkt den Vorgang des Lesens also nicht, um quasi-romantisch die Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Einbildung zu postulieren. – Was hat es mit dem Schatten des Lesers auf sich, mit dem das Gelesene getränkt wird (V.6/7)? Dass der Leser das Gelesene und nicht das Buch mit seinem Schatten tränkt, verbaut die Möglichkeit, den Ausdruck „Schatten“ wörtlich zu verstehen; der junge Mann sitzt sich nicht selbst im Licht. Zur Erklärung der Stelle kann man auf die griechische Mythologie zurückgreifen, in der als „Schatten“ das unsterbliche Überbleibsel eines Menschen, seine leidenschaftslose ,Seele‘, bezeichnet wird. Das Gelesene verwandelt sich in einen Jenseitsort, eine Unterwelt, die für den ,ganzen‘ Menschen ebenso ,lebensfeindlich‘ ist wie das Wasser, mit dem das Gelesene in der ersten Strophe metaphorisch verbunden ist. Die Mutter als Lebensgeberin wird zum Kontrapunkt des Jenseitsortes im selben Satz. – Der Leser, aufblickend, hebt auf sich, was sich im Buch verhielt (V.9/ 10): Der Unten-Oben-Gegensatz dieser Verse korrespondiert nochmals mit den Gegensätzen ,Hades vs. Oberwelt‘ und ,Wasser vs. Luft‘ und verstärkt ihre Wahrnehmbarkeit für den Rezipienten. Der Leser im Gedicht blickt vom Buch auf, beladen mit der gegenständlichen Masse der imaginären Realität,
Inhaltsangabe
Fragestellung
Stellenanalyse
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VI. Exemplarische Einzelanalysen
Interpretation
deren ,Gewicht‘ sich erklären lässt, wenn man „sich verhalten“ als einen Neologismus auffasst, der analog zu „sich verbeißen“, „sich verkeilen“ gebildet ist: das Sich-Verhalten wäre Ausdruck der Hartnäckigkeit, mit der das Gelesene dem Gehobenwerden widerstrebt. – Dass die Augen des Lesers geben statt zu nehmen (V.11), lässt die im Geist geformte innere Welt des Buches als Besitz der Augen erscheinen, den sie nun nach Außen weiterleiten und dabei an die „fertig-volle Welt“ anstoßen können (V.12). Indem dieser Konflikt die Verschiedenheit von innerer und äußerer Welt voraussetzt, widerspricht auch er der oben referierten Idee, Einbildung und Wirklichkeit seien letztlich ununterscheidbar. Im exakten Gegensatz zum Seitenumblättern, in dem sich während des Lesens die Hegemonie der realen Welt manifestiert, bezeichnet das Geben und Anstoßen der Augen nach dem Lesen die Veränderbarkeit der realen durch die imaginäre Welt. Doch zur Veränderung der Welt kommt es nicht. Der Zusammenstoß hat für die Realität nur eine im Text benannte Veränderung zur Folge: die unumkehrbare Umstellung der „Züge“ des Lesers (V.15/16). Damit sind, vorbereitet durch „Gesicht“ (V.1) und „Augen“ (V.11), seine Gesichtszüge gemeint, die sein individuelles Gesicht von anderen zu unterscheiden erlauben. Da im ursprünglichen Wortsinne nur konkrete Gegenstände umgestellt werden können, verdinglicht die Metapher die Züge und verleiht damit der Behauptung Nachdruck, dass die lektürebedingte Veränderung dieses Individuums nicht rückgängig zu machen ist. Das Gedicht schließt nicht mit dem Konflikt von Realität und Imagination in den Versen 11 und 12, sondern mit einem Fazit, das den Konflikt auflöst (V.13 – 16). Der Sprecher präsentiert ein Objektivität beanspruchendes Wissen: Er weiß, dass die Züge nicht nur hier und heute, sondern „für immer“ verändert sind (V.16). Dass dieses Wissen selbst von den Zügen abgelesen wird, verleiht auch dem Titel eine weitere Bedeutungsnuance. Nicht allein der Leser, auch der Sprecher des Gedichts liest, wenn er seinen Augen-Blick auf den Leser über alles konkret Gegebene hinaus deutet. Dennoch bleibt dem Sprecher unzugänglich, wie sich der Leser verwandelt hat; das Gedicht endet mit der bloßen Feststellung der Wandlung, nicht mit der Angabe, worin sie besteht. Während sich die Welt durch den buchinduzierten Anstoß des Lesers an sie nicht verändert, sondern nur der Leser selbst, bleibt zugleich der Leser für den Beobachter opak, wogegen die Phantasiewelt des Buches für den Leser völlig transparent ist. Darauf also laufen Poetologie und Anthropologie des Gedichts hinaus: (a) Literatur verändert nicht die Welt, sondern unter den Bedingungen der intensiven Lektüre Individuen; (b) die Persönlichkeitsveränderungen sind unumkehrbar und, wie die Wasser- und Hadesmetaphern sowie der Anstoß an die fertige Welt verdeutlichen, als lebensgefährlich einzustufen; (c) nur die Phantasmen der Bücher kann man kennen, nicht aber die Innenwelt eines menschlichen Gegenübers – denn würde man sie kennen können, wäre es kein Individuum mehr.
6. Jakob van Hoddis: Kinematograph Fragestellung
Meistens behandeln Literaturhistoriker Gedichte als Rätsel, deren Lösungen als Puzzlestücke in die Geschichte der Literatur eingefügt werden können. Dass es auch anders geht, soll die folgende Modellanalyse zeigen. Das Ge-
6. Jakob van Hoddis: Kinematograph
dicht ,Kinematograph‘ des Expressionisten Jakob van Hoddis wirft kein Rätsel auf, sondern löst eines. KINEMATOGRAPH Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die Schnellen Der Ganga, Palmen, Tempel auch der Brahma, Ein lautlos tobendes Familiendrama Mit Lebemännern dann und Maskenbällen. 5
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Man zückt Revolver. Eifersucht wird rege, Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf. Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit Kropf Die Älplerin auf mächtig steilem Wege. Es zieht ihr Pfad sich bald durch Lärchenwälder, Bald krümmt er sich und dräuend steigt die schiefe Felswand empor. Die Aussicht in der Tiefe Beleben Kühe und Kartoffelfelder. Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht – Flirrt das hinein, entsetzlich! nach der Reihe! Die Bogenlampe zischt zum Schluss nach Licht – Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie. (Vietta, 58/59)
Der Expressionismus als literaturgeschichtliche Epoche und Strömung hat die Geschichtsschreibung des Öfteren vor viele Fragen gestellt. Irgendwie scheinen zahlreiche Gedichte, Dramen und Erzählungen der Jahre zwischen 1910 und 1920 zusammen zu gehören – aber was verbindet sie? Ausgehend von der Beobachtung, dass mehrere Gruppen von Autoren, die sich auch selbst zuweilen als Expressionisten bezeichnet haben, in diesem Zeitraum vornehmlich in einigen wenigen Zeitschriften, Herwarth Waldens Der Sturm und Franz Pfemferts Die Aktion, ihre Texte publiziert haben, lässt sich ein innerer Kreis des Expressionismus bestimmen. Über dessen Texte stellen Hans-Georg Kemper und Silvio Vietta in ihrer bis heute einschlägigen Expressionismusstudie folgende These auf: „,Typisch expressionistisch‘ […] ist die Radikalisierung der Ichdissoziation, ihre Verknüpfung mit der Frage nach dem Wesen der modernen Produktions-, Wahrnehmungs- und Denkformen, sowie deren innere Verknüpfung mit radikalen Erneuerungsvorstellungen.“ (Vietta u. Kemper, 29) Letztere können die Form von radikalen apokalyptischen Visionen von Zerstörung und Vernichtung des Überkommenen (z. B. bei Georg Heym) oder von radikalen messianischen Wiederaufbauphantasien annehmen (z. B. bei Franz Werfel und Johannes R. Becher). Kemper und Vietta aber sehen mit Recht im messianischen und apokalyptischen Expressionismus nur eine Folge dessen, was sie als „Radikalisierung der Ichdissoziation“ bezeichnen. Dieser Grundzug expressionistischen Schreibens findet sich z. B. in der ersten Strophe von Alfred Lichtensteins Gedicht ,Die Dämmerung‘: Ein dicker Junge spielt mit einem Teich. Der Wind hat sich in einem Baum gefangen. Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich, Als wäre ihm die Schminke ausgegangen. (Vietta, 209)
Definition des Expressionismus
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VI. Exemplarische Einzelanalysen
Kino als Modell der Ichdissoziation
In diesen Versen ist der Beobachter der Szenen nur in seinen Beobachtungen und Assoziationen präsent, nicht aber als Instanz, die die Szenen in eine Ordnung bringen könnte. Alles, was ihm gelingt, ist die relativ banale Assoziation im vierten Vers. Und das bleibt auch so bis zum Ende des Gedichts. Das auffällige Fehlen einer Ordnungsinstanz für das Wahrgenommene deuten Kemper und Vietta als Ausdruck der Ichdissoziation, d. h. der Zerlegung des Ichs in seine Elemente, die sich nicht wieder assoziieren, nicht zu einer ,Gesellschaft der Ich-Elemente‘ erneut zusammenschließen. Was die Expressionisten auf diese Weise gestalten, ist die durch kein überkommenes Schema zu bändigende Vielfalt der Sinneseindrücke, die moderne, großstädtische Lebensverhältnisse mit sich bringen. Jakob van Hoddis‘ Gedicht über den ,Kinematograph‘ präsentiert ein reales Modell solcher dissoziierter Wahrnehmung, das frühe Jahrmarktskino und die Seherlebnisse, die es seinen Besuchern bescherte. Dass es um die Chaotisierung von Wahrnehmungen geht, ist auf den ersten Blick ersichtlich. Der Text führt nicht nur vor, wie im Kino, unverbunden, eine Bildsequenz nach der anderen „ins Gesicht / flirrt“ (V.13/14), sondern liefert mit dem Syntagma „nach der Reihe“ (V.14) auch das Stichwort, das dem hier wie in Lichtensteins Gedicht vorliegenden Reihenstil den Namen gegeben hat. Seit den ersten Filmtheoretikern ist oft wiederholt worden, dass die Darstellungstechniken des Films das literarische Schreiben beeinflusst hätten. Bei Jakob van Hoddis aber geht es um etwas anderes. Ihn interessieren Blickwinkel und Einstellungsgrößen, nicht aber die von David Wark Griffith in ,Birth of a Nation‘ (1915) und ,Intolerance‘ (1916) erstmals eingesetzten, ,sinnstiftenden‘ Schnitt- und Montagetechniken des abendfüllenden Spielfilms. Das frühe Kino, von dem Jakob van Hoddis spricht, ist das Buden- und Jahrmarktskino der Zeit zwischen 1895 und 1915, in dem kurze Filmstreifen mit unterschiedlichsten Themen, teils fiktive, teils dokumentarische Sequenzen, in verschiedenen Filmstilen aufgenommen, ohne Zusammenhang hintereinander geschnitten vorgeführt wurden. Die Wahrnehmung des Zuschauers in diesem Kino liefert ein Strukturmodell für den expressionistischen Schreibstil.
7. Thomas Kling: Zwanxeinweisun Um Wahrnehmung geht es auch in Thomas Klings Gedicht ,Zwanxeinweisun‘ aus dem 1989 veröffentlichten Band geschmacksverstärker. ZWANXEINWEISUN
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p. wurde gegriffn als; breit aktnkundig, drehtürgemangel, alter kunde; gibt sich als ,flugschreib‘ aus auch ,verläßlich rundfunzel‘, sowie ,gutes reisfleisch‘, ,-begleit‘ u. ,letzter schrei‘ (unleserlich: schreberkopp?); p. gibt an, NICHT! von allen gutn gei stern verlassn zu sein (!); behockte gei erschulter, ausgemergeltes gebiß; ver ausgabt sich spricht von sich unablä ssich als ,guter-onkel-alfred‘, b
7. Thomas Kling: Zwanxeinweisun
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zeichnet seinen ruck als sein ,sackinstitut‘; (erstmal valium 5 valium 10 oral, sodann intravenös haldolhaldolhaldol) spielt u. bespricht sich mit seiner brill (haldol), konfabuliert (haldol) beigeheftet: konfabulierter zettelkastn ASSERVAT EINS, scheckige reservate, 1 abgenutzter gei gerzähler; ergenzun: p. schwärmt für ,russischbrot‘ (unleserlich: grüne grenzen?); also „wort“ dudem aufegriffel (Kling, 61)
Von allen bisher analysierten Gedichten ist dieses wohl das unzugänglichste. Es verletzt alle Gebräuche des traditionellen lyrischen Sprechens, verwendet weder ein Reimschema, noch Metrum oder Strophen; die Enjambements scheinen willkürlich an irgendwelchen Stellen die Verse zu trennen, manchmal mitten im Wort. An die Stelle einer korrekten Dudenorthographie tritt eine Art phonologische Transkription der Umgangssprache. Viele Sätze sind Ellipsen. Vor allem fragt man sich, wer in diesem Gedicht spricht. Zwar lassen der Titel, die zahlreichen Versatzstücke im Stil ärztlicher Aufnahmeberichte und die verfügte Verabreichung von Valium (einem Tranquilizer) und Haldol (einem Neuroleptikum mit erheblichen Nebenwirkungen) auf einen Psychiater als Sprecher schließen, aber spätestens der Ausdruck „haldolhaldolhaldol“ (V.14) widerspricht der Annahme, dass der Text tatsächlich einen Aufnahmebericht abbildet. Andererseits verweist das zweimalige „unleserlich“ (V.6, V.21) auf einen vorliegenden Bericht und zugleich auf die Existenz eines Sprechers, der vom Verfasser des Berichts zu unterscheiden ist. Eine Situation, die sich übereinstimmend mit diesen Befunden imaginieren lässt, könnte so aussehen: Ein behandelnder Psychiater befindet sich auf dem Weg zu einem neu eingewiesenen Patienten (kurz: „p.“, V.1, 6, 20) und liest währenddessen in Eile den Bericht, den ein Kollege bei der Aufnahme geschrieben hat; die zerstückelte Sprache des Gedichts bildet die Oberflächlichkeit des Lesevorgangs unter Zeitdruck ab. Aber ob man die Situation so oder etwas anders rekonstruiert, wichtig ist, dass man das Gedicht nicht als Abbildung des Aufnahmeberichts, sondern seiner Rezeption versteht. In dieser referenziellen Lesart konfrontiert das Gedicht die sich in Dingen und Worten objektivierenden innerseelischen Vorgänge des Patienten einerseits und die abgebildeten Seelenvorgänge des Psychiaters andererseits. Da beide reichlich verwirrt wirken, scheint es, als werde hier das Klischee vom ,irren Irrenarzt‘ neu gestaltet. Wie aber, so lässt sich fragen, ist der Zusammenhang zwischen den beiden Verwirrtheitszuständen näher bestimmt? Zunächst müssen wir die Figurencharakterisierungen genauer analysieren. Der eingewiesene Mann („alter kunde“, V.2), der namenlos bleibt, wird hinsichtlich seiner Äußerungen (V.3 – 8, 10 – 13), seines Aussehens (V.8/9) und seines Verhaltens (V.9/10, 15) beschrieben. In fast allen wörtlich zitierten Äußerungen kreist er um sich selbst. Dass er kein wirklichkeitsadäquates Selbstbild hat, liegt auf der Hand. Doch so inkonsistent, wie es auf den ersten Blick scheint, sind seine Beschreibungen nicht. Zunächst geht es um den ei-
Verständnisprobleme
Pragmatische Fiktion
Der Zwangseingewiesene
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VI. Exemplarische Einzelanalysen Thema 1: Residualzustand
Thema 2: Wahrnehmungsverstärker
Thema 3: Sprache
Der Psychiater
genen Residualzustand des Eingewiesenen. Der Patient hält sich für einen „,flugschreib‘“ (V.3) und den „,letzte[n] / schrei‘“ (V.5/6). Ein Flugschreiber zeichnet nicht zuletzt die Pilotengespräche im Cockpit auf, registriert also den ,letzten Schrei‘, den sie vor dem Absturz von sich geben und konserviert ihn für das Wiederabspielen durch die Unfallbeauftragten. In gar nicht übermäßig verschlüsselter Sprache macht der Wahnsinnige darauf aufmerksam, dass er als Zeuge seiner Katastrophe ernst genommen werden will und sich als unzerstörbaren Rest begreift, der von einem einstmals bestehenden Ganzen und seiner Zerstörung Rechenschaft ablegen kann. Passend dazu verweist der „schreberkopp“ (V.6) auf den schizophrenen Juristen Daniel Paul Schreber, der nach seiner Entmündigung eine Aufhebung dieser Maßnahme trotz unveränderter Symptomlage vor Gericht erstritt. Mit einem Kopf („[..]kopp“, V.6), wie Schreber ihn hatte, fürs Ernstgenommenwerden streiten zu können, wäre ein Wunsch des Patienten, der demgemäß auch darauf insistiert, „NICHT! von allen gutn gei / stern verlassn zu sein“ (V.7/8). Ein zweites Themenfeld sind Maßnahmen zur Verstärkung der natürlichen Sinneswahrnehmung. Der Patient besitzt einen Geigerzähler, der zu den Asservaten genommen wird (V.19/20), er pflegt eine intensive Beziehung zu seiner Brille (V.15), mit der er nicht nur spielt, sondern sogar Gespräche zu führen scheint, und er charakterisiert sich selbst als eine „,verläßlich rundfunzel‘“ (V.4), also eine Lampe, die zwar schwach (umg. ,Funzel‘), dafür aber zuverlässig in die Runde leuchtet (wie ein Radar). Die oft bei psychisch Kranken anzutreffenden Wahnideen über Strahlungen (die mit dem Geigerzähler gemessen werden) erhalten durch die Verknüpfung mit anderen Konzepten der Wahrnehmungssteigerung eine originelle Wendung; der Patient scheint darauf zu bestehen, dass eine Verbesserung der ,natürlichen‘ und konventionellen Wahrnehmung erforderlich ist. Dies lässt sich als Forderung deuten, ihn und seine Lage genauer zu untersuchen, als es mit alltäglichen Mitteln möglich ist – mit anderen Worten: ihm sein Recht widerfahren zu lassen. Mit seinem Schwärmen für „,russisch- / brot‘“ (V.20/21) bringt der Patient schließlich das Thema Sprache ins Spiel. Die gebackenen Buchstaben sind zerrissener Sinn, nämlich Fetzen von Wörtern, die sich zu Nahrungszwecken einverleiben lassen. Beim Russischen Brot besteht also die Möglichkeit, aus ,sinnlosen‘ Einzelteilen Sinn aufzubauen. Es sich einverleiben zu wollen, kann die Hoffnung bezeichnen, doch noch eines Sinnes teilhaftig zu werden. Im Gegensatz dazu hält sich der Patient selbst nur für „,gutes / reisfleisch‘“ (V.4/5), einen Eintopf ununterscheidbarer Bestandteile ohne Sinnstiftungspotenzial. Die Fixierung auf die enge Verbindung von Nahrungsaufnahme und Sinnkonstitution vorausgesetzt, formuliert diese Selbstdarstellung einen Appell, ihn, den Patienten, nicht zu ,fressen‘ – weil damit nichts gewonnen wäre. Wahrnehmung und Sprache sind auch beim Psychiater thematisch. Bereits die erste Zeile des Gedichts enthält, als Folge unkonzentrierten Lesens, eine Informationslücke; man erfährt nicht, weshalb der Patient zwangseingewiesen wurde. Für eine sorgfältige Behandlung wäre dieses Wissen eigentlich von größter Wichtigkeit; doch der Arzt hat ohnehin auf alles dieselbe Antwort parat: „valium“ und „haldolhaldolhaldol“ (V.14). In seinem Lesen nähert sich die Sprache einer Fragmentierung an, wie sie durch das Russische Brot symbolisiert ist. Ein auffälliges Mittel zur Darstellung dieses Sprachzerfalls sind die häufigen worttrennenden Enjambements. Wenn
7. Thomas Kling: Zwanxeinweisun
dreimal die Silbe „gei“ vom Restwort abgeschnitten wird, dann exponiert dies nicht einmal ein sinntragendes Präfix wie „ver“ (V.9), sondern schlicht die erste Silbe der nicht sinnverwandten Wörter ,Geister‘ (V.7/8), ,Geierschulter‘ (V.8/9) und ,Geigerzähler‘ (V.19/20). Wer sich erlauben kann, mit Wörtern derart nachlässig umzugehen, muss viel Vertrauen in seine eingefahrene Wirklichkeitswahrnehmung setzen können. Doch spätestens, wenn der „konfabulierte[]“, also imaginierte, „zettelkastn“ zum „ASSERVAT EINS“, also einem konkreten Gegenstand, avanciert, springt die Derealisation des Patienten auf den Arzt über. In dieselbe Richtung weisen drei eingeschobene Formulierungen, die weder als Zitate des Eingewiesenen markiert noch als Verfasserkommentare im Aufnahmebericht zu verstehen sind: „drehtürgemangel“ (V.2), „behockte gei / erschulter (V.8/9) und „scheckige reservate“ (V.19). Bei allen dreien muss es sich um assoziative Gedankensprünge des lesenden Arztes handeln, die in solcher Häufung freilich auf ein wenig gefestigtes Ich schließen lassen. Wenn dieses Ich dennoch stabil bleibt, dann nur deshalb, weil es in routinemäßige Abläufe integriert ist, an deren Ende immer und unzweifelhaft die Verabreichung von Psychopharmaka steht. Die Institution regelt nicht nur die Rollenverteilung, sondern konstituiert auch eine Grundsätzlichkeit des Unterschieds von Verrückten und Normalen, die den realen Gegebenheiten nicht entspricht. Klings Gedicht evoziert eine Situation, in der sich der psychische Apparat von Patient und Arzt als nicht prinzipiell verschieden erweisen. So erklärt sich auch, dass der Psychiater in der Lage ist, ein eigentlich unleserliches Wort als „schreberkopp“ zu interpretieren. Er hat qua Assoziation einen Zugang zur Gedankenwelt seines Patienten, dessen Äußerungen er im Sinne eines Wunsches nach Unabhängigkeit und menschenwürdiger Behandlung richtig deutet. Nur dass er diese Einsichtsfähigkeit weder bemerkt noch nutzt. Vor dem Hintergrund der bisherigen Befunde lässt sich auch der rätselhafte Schlusssatz des Gedichts erklären, dessen Wörter im Lexikon der deutschen Sprache nicht anzutreffen sind: „dudem aufegriffel“ (V.23). Zwei Übersetzungen sind möglich. Erstens kann das erste Wort in „Du“ und „dem“, das zweite in „aufe“ und „Griffel“ zerlegt werden. Wenn man weiß, dass im Rhein-Ruhr-Dialekt „aufe“ die nachlässige Kontraktion von „auf die“ und „Griffel“ ein Slangwort für „Finger“ ist, dann liest man den Schlusssatz als „Du, dem auf die Finger!“ Zweitens kann „dudem“ eine Verhunzung des Wortes „Duden“ sein und der Satz als „Duden auf die Griffel!“ gelesen werden – was sich als Wunsch nach einem ordnungsgemäßen Umgang mit Sprache interpretieren ließe. Der Wunsch nach Ordnung (Duden) und Macht (auf die Finger sehen / klopfen) drückt sich in einem Satz aus, der gegen die sprachliche Ordnung verstößt und damit Mehrdeutigkeit und Interpretierbarkeit gewinnt, die die Sprache des Patienten bereits besitzt. Seiner phonetischen Struktur nach weist er eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem ersten Satz des Gedichts auf: w
u
d
u
r
de de
m
g
egriff
auf
egriff
n e
l
Letzte Schritte der Analyse
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VI. Exemplarische Einzelanalysen
Die Phonemfolgen binden den letzten Satz an den ersten zurück, der die therapeutisch scheinbar entscheidende Information verweigert, bei welcher Gelegenheit der Patient so auffällig geworden ist, dass man ihn ,greifen‘ musste. Die Machart des Textes deutet an, dass die Aufgreifsituation irrelevant, die Fähigkeit aber, aus scheinbar Sinnlosem wie Phonemen oder dem Gerede des Patienten Sinn zu rekonstruieren, zentrale Bedeutung für die Therapie hätte. Zugleich macht der Schlusssatz deutlich, dass der Arzt, in dessen inneren Monolog diese Erkenntnis eingeschrieben ist, sie nicht erfassen wird. Und das, obwohl ihm der Patient den Schlüssel zur Lösung des Problems mit seinem Faible für das phonologische Gebäck, das Russische Brot, eigentlich schon offenbar macht. Doch die Fragmentierung der Sprache enthält nur für den Patienten das Versprechen eines Aufstiegs zum Sinn, für den Psychiater dagegen die Drohung eines Abstiegs ins Chaos, der er widersteht, indem er sich der Ordnungsmacht versichert, die ihm durch seine institutionelle Position zuwächst.
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Personenregister Abschatz, Hans Aßmann von 83 ff. Achleitner, Friedrich 114 Adorno, Theodor W. 11, 56 Anakreon 87, 90, 95 Angelus Silesius (eigentlich Johannes Scheffler) 43 f. Anz, Thomas 16 Aristoteles 62 ff. Arndt, Erwin 71 Arnim, Achim von 37, 96, 99 Artmann, Hans C. 114 Asklepiades 58 Asmuth, Bernhard 10 f. Bachmann, Ingeborg 114 Ball, Hugo 111 Batteux, Charles 65 Baudelaire, Charles 103 Becher, Johannes R. 110, 139 Behrmann, Alfred 72 Benn, Gottfried 32, 36, 39 f., 109 f., 112 f., 117 Bertaux, Pierre 132 Bierbaum, Julius Otto 76 Biermann, Heinrich 77 Biermann, Wolf 115 f. Binder, Alwin 11, 13 Bode, Christoph 11 f. Bode, Dietrich 16 Boie, Heinrich Christian 94 f. Brautigan, Richard 75 Brecht, Bertolt 21 ff., 26, 32, 112 ff., 117 Brentano, Clemens 26, 28, 31, 37, 77 f., 96, 99 Breuer, Dieter 69 ff. Brinkmann, Rolf Dieter 117 f. Brockes, Barthold Hinrich 86, 94 Buchner, August 79 Burdorf, Dieter 12, 31, 53 Bürger, Gottfried August 94 ff., 99 Bussmann, Hadumod 70 Catull (Gaius Valerius Catullus) 122 Celan, Paul (eigentlich Paul Antschel) 114 f. Chamisso, Adelbert von 102 Conrady, Carl Otto 17 Cummings, Edward Estlin 60 Czepko von Reigersfeld, Daniel 33, 39 Dante Alighieri 59 Dauthendey, Max 106
Dehmel, Richard 106 Detering, Heinrich 17 Drollinger, Carl Friedrich 89 Droste-Hülshoff, Annette von 101 ff. Echtermeyer, Theodor 17, 77 f. Eco, Umberto 30, 119 Eich, Günter 11, 56, 114 Eichendorff, Joseph von 29 f., 51, 99 f. Elit, Stefan 12 Elm, Theodor 73 Engel, Johann Jakob 65 Enzensberger, Hans-Magnus 114 f., 117 Erwin von Steinbach 93 Felsner, Kristin 12 Fontane, Theodor 104 Frank, Horst Joachim 11 f., 15, 58 Freiligrath, Ferdinand 103 Fuhrmann, Manfred 62 Gehlen, Arnold 119 f. Geisenhanslüke, Achim 62 Gelfert, Hans-Dieter 12 f. Gellert, Christian Fürchtegott 91 George, Stefan 103, 106 ff., 112 Gernhardt, Robert 60, 75 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 33 f., 47, 88, 95 Goethe, Johann Wolfgang 7, 14, 22, 26 f., 31 ff., 50 ff., 57, 60, 65 ff., 72, 77, 79, 89 f., 92 ff., 97 ff., 103, 107, 120, 125 f., 128 f., 134 f. Gommringer, Eugen 114 Görner, Rüdiger 16 Gottsched, Johann Christoph 65, 87, 91 Götz, Nicolaus 88 f. Gräff, Thomas 15 Griffith, David Wark 140 Grünbein, Durs 118 f. Gryphius, Andreas 31f., 39, 80 f. Günther, Johann Christian 84 f. Hagedorn, Friedrich von 88 f. Hahn, Ulla 16 Haller, Albrecht 87, 91 Hamburger, Käte 10, 34 Hardenberg, Friedrich von (Novalis) 98 f. Hart, Julius 105 Haverkamp, Anselm 8
Personenregister Hay, Gerhard 17, 76 ff. Hederich, Benjamin 16 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 66, 75, 101 Heidegger, Martin 135 Heine, Heinrich 14, 30 f., 41, 47, 99, 101 ff. Helbig, Holger 12 Herder, Johann Gottfried 92, 95, 99 Herwegh, Georg 32 Herzog, Urs 14 Hess, Peter 15 Hesse, Hermann 113 Heusler, Andreas 70 ff. Heym, Georg 110, 139 Hilbig, Wolfgang 118 Hinderer, Walter 14 Hitler, Adolf 112 Hoffmann von Fallersleben, Heinrich (eigentlich August Heinrich Hoffmann) 102 Hoffmann, Dieter 15, 117, 119 Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von 75, 83, 121 f., 125 Hölderlin, Friedrich 37, 40, 56 f., 91, 97 f., 129 ff. Höllerer, Walter 18, 72 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 94 f. Holz, Arno 103, 10 ff., 117 Holznagel, Franz-Joseph 14 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 76 Huchel, Peter 115 Humboldt, Wilhelm von 65 ff. Jachmann, Magdalene Eleonore 84 Jacobs, Steffen 16 Jakob van Hoddis (eigentlich Hans Davidson) 109 f., 138 ff. Jandl, Ernst 114 Jesus von Nazareth 85 Kafka, Franz 56 Kaiser, Gerhard 14 Kant, Immanuel 21 Kästner, Abraham Gotthelf 95 Kästner, Erich 111, 113 Kayser, Wolfgang 18, 71 ff. Keller, Gottfried 104 Kemp, Friedhelm 15 Kemper, Hans-Georg 14, 65, 73, 79, 83, 110, 139 f. Kerner, Justinus 99 Killy, Walther 17, 88 Kimmich, Dorothee 108 Kirsch, Sarah 118 Klein, Johannes 14 Kling, Thomas 140, 143 Klinger, Friedrich Maximilian 92 Klopstock, Friedrich Gottlieb 58, 76, 87, 89 ff., 95, 97, 99
Köhler, Barbara 118 Kolbe, Uwe 118 Körner, Christian Gottfried 65 Körner, Theodor 101 Korte, Hermann 14 f., 117 f. Koziol, Andreas 118 Kraus, Karl 56 Krechel, Ursula 118 Kühlmann, Wilhelm 16 Kunert, Günter 73 Kurz, Gerhard 8 Lämmert, Eberhard 10 Lamping, Dieter 73 ff. Lange, Samuel Gotthold 87, 89 Lasker-Schüler, Else 110 Lenau, Nikolaus 101, 103 Lenz, Jakob Michael Reinhold 92 Lessing, Gotthold Ephraim 57, 87, 91 Lichtenstein, Alfred 139 f. Liliencron, Detlev von 106 Link, Jürgen 22, 132 Lockemann, Fritz 71 Logau, Friedrich 23, 26, 56 Lohenstein, Daniel Casper von 83 f., 89, 91 Lohmeier, Anke 15 Ludwig, Hans-Werner 11 f. Luhmann, Niklas 83 Lurker, Manfred 15 Luther, Martin 17, 85 Lyotard, Jean-François 116 Manz, Therese 12 Max von der Grün 117 Mayer, Mathias 14 Meid, Volker 63 Mendelssohn, Moses 87 Meyer, Conrad Ferdinand 104 Minor, Jakob 70 Mörike, Eduard 45, 103, 133 f., 136 Moritz, Karl Philipp 70 Mühsam, Erich 113 Müller, Wilhelm 48, 99, 103 Müller-Schwefe, Gerhard 10 Napoleon I. 27, 101 Neukirch, Benjamin 83, 85 Opitz, Martin 53, 55, 63 ff., 79 f., 82 f., 89 Paefgen, Elisabeth 17 Papenfuß-Gorek, Bert 118 Petersdorff, Dirk von 13 Pfemfert, Franz 139 Pindar 90
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Personenregister Pinthus, Kurt 18 Platen, August von 49, 90, 101, 103 Pound, Ezra 76 Prutz, Robert 102 Pyra, Jacob Immanuel 87
Steinsdorff, Sibylle von 17, 76 ff. Stolberg, Christian von 94 f. Stolberg, Friedrich Leopold von 94 f. Stolle, Gottlieb 85 Storm, Theodor 104 Süßkind, Patrik 119
Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 11 Reich-Ranicki, Marcel 17 Reiners, Ludwig 17 Richartz, Heinrich 11, 13 Richter, Dieter 16 Rilke, Rainer Maria 17, 36, 42, 53, 75, 106, 108 f., 136 Rist, Johann 81 Rückert, Friedrich 101, 103 Rühm, Gerhard 114 Rühmkorf, Peter 109, 117 Sappho 122 Saussure de, Ferdinand 20 Scaliger, Julius Cäsar 63 f., 66, 77 Schiller, Friedrich 25, 42 f., 57, 65, 96 ff., 103, 135 f. Schlegel, August Wilhelm 65, 98 Schlegel, Friedrich 65, 98 Schlegel, Johann Adolf 65 Schmidt, Arno 60 Schmidt, Jochen 129 f., 132 Schmolck, Benjamin 11 Schneider, Johann Caspar 89 Schnell, Ralf 14 Schnurre, Wolfdietrich 114 Schreber, Daniel Paul 142 Schroeder, Jürgen 16 Schulz, Hartwig 78 Schurf, Bernd 77 Schutte, Jürgen 105 Schwitters, Kurt 111 Segebrecht, Wulf 15 Sengle, Friedrich 66 Siegrist, Christoph 15 Sorg, Bernhard 12, 14, 126 Staiger, Emil 68 f., 75, 135 Stanzel, Franz K. 10 Stein, Oswald 77
Thomasius, Christian 83 Tieck, Ludwig 78, 98 f., 103 Timur-i-lenk (Tamerlan) 26 f. Toller, Ernst 113 Trakl, Georg 28 f., 38, 55, 110 Trappen, Stefan 63 ff. Tucholsky, Kurt 111, 113 Tzara, Tristan 111 Uhland, Ludwig 99 Veit, Dorothea 98 Verweyen, Theodor 16 Vietta, Silvio 110, 139 f. Vogl, Joseph 16 Voss, Johann Heinrich 70, 90, 94 f. Wackenroder, Johann Heinrich 78 Wagenknecht, Christian 58, 63, 71 f. Walden, Herwarth 139 Waldmann, Günter 13, 21 Wallenstein, Albrecht von 81 Walter von der Vogelweide 95 Wedekind, Frank 11 Weimer, Alois 16 Weinrich, Harald 11 Werfel, Franz 110, 139 Weyrauch, Wolfgang 114 Wiedemann, Conrad 85 Wieland, Christoph Martin 30, 57, 91, 95 Wiese, Benno von 17, 78 Wilke, Tobias 108 William, Williams Carlos 75 Wilpert, Gero von 53, 54 Wittgenstein, Ludwig 56 Wolfram von Eschenbach 50 f. Zimmermann, Harro 16 Zweig, Stefan 113