Einführung in die Literatur der Wiener Moderne 3534266285, 9783534266289

Eine der einflussreichsten Literaturbewegungen der Zeit um 1900 war die so genannte Wiener Moderne, die auch unter dem N

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German Pages [141] Year 2015

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Titel
Impressum
Inhalt
I. Epochenverortung
1. Politik und Gesellschaft in Österreich um 1900
2. Die Literatur der Wiener Moderne im Kontext der Literatur der Jahrhundertwende
3. Zum Begriff ,Wiener Moderne'
II. Forschungsbericht
1. Topografie und Soziologie der Wiener Moderne
2. Autoren, Diskurse und Schreibweisen
III. Historische und kulturelle Kontexte
1. Kulturelles Leben in Wien um 1900
2. Zur Entstehung von Jung-Wien
3. Gruppenbildung und Literaturpolitik
4. Sigmund Freud und die Literatur
IV. Aspekte und Geschichte der Literatur
1. Neue Psychologie: Die Programmatik Hermann Bahrs
2. Subjektentwürfe
3. Konzepte von Leben und Tod
4. Liebe – Sexualität – Geschlechterrollen
5. Gesellschaftskonflikte
V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
1. Skizzen, Splitter und Momentaufnahmen: Moderne Erzähl-, Darstellungs- und Wahrnehmungsformen in Peter Altenbergs Wie ich es sehe
2. „Vom Außen zum Innen": Leopold von Andrians Der Garten der Erkenntnis und Hugo von Hofmannsthals Reitergeschichte
3. Auf Leben und Tod: Arthur Schnitzlers Sterben und Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs
4. Vom Scheitern neuer Weiblichkeitskonzepte: Arthur Schnitzlers Frau Beate und ihr Sohn und Fräulein Else
5. Gesellschaftskonflikte in Schnitzlers Liebelei und Hofmannsthals Jedermann
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
Werkregister
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Einführung in die Literatur der Wiener Moderne
 3534266285, 9783534266289

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Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Ingo Irsigler/Dominik Orth

Einführung in die Literatur der Wiener Moderne

WBG� Wissen verbindet

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26628-9

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73951-6 eBook (epub): 978-3-534-73952-3

Inhalt I. Epochenverortung

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1. Politik undGeseiischaftinÖsterreich um 1900

........

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2. Die Literatur der Wiener Moderne im Kontext der Literatur der Jahrhundertwende

9

......

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3. Zum Begriff ,Wiener Moderne' 11. Forschungsbericht

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........

1. Topografie undSoziologie der Wiener Moderne

14

2. Autoren, Diskurse undSchreibweisen

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111. Historische und kulturelle Kontexte

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1. Kulturelles Leben in Wien um 1900

20

2. Zur Entstehung von Jung-Wien ...

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3.Gruppenbildung und Literaturpolitik

30

4.Sigmund Freud und die Literatur .

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IV. Aspekte undGeschichte der Literatur

43

1. Neue Psychologie: Die Programmatik Hermann Bahrs

43

2.Subjektentwürfe

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............

3. Konzepte von Leben und Tod

.....

57

4. Liebe-Sexualität-Geschlechterrollen

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5.Gesellschaftskonflikte

72

......

V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

79

1.Skizzen,Splitter und Momentaufnahmen: Moderne Erzähl-, Darstellungs- und Wahrnehmungsformen in Peter Altenbergs Wie ich es sehe . ........................

79

2. "Vom Außen zum Innen": Leopold von Andrians Der Garten der Erkenntnis und Hugo von Hofmannsthais Reitergeschichte

85

3. Auf Leben und Tod: ArthurSchnitzlers Sterben und Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs .......... .

95

4.VomScheitern neuer Weiblichkeitskonzepte: Arthur Schnitzlers Frau Beate und ihr Sohn und Fräulein Else

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5.Gesellschaftskonflikte inSchnitzlers Liebelei und Hofmannsthais Jedermann

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Literaturverzeichnis

127

Personenregister

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Sachregister Werkregister

..

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I. Epochenverortung 1.

Politik und Gesellschaft in Österreich um

1900

Die österreichische Literatur der Jahrhundertwende kann als besonders be­ deutsam für die Literatur der Moderne gelten. Trotz - oder gerade wegen zahlreicher politischer und gesellschaftlicher Krisen, gilt die Zeit um 1900 in Wien als eine Zeit der kulturellen Blüte, in der innovative Texte verfasst wurden, die inhaltlich und formal auf die Herausforderungen tiefgreifender Veränderungen reagierten. Um den spezifischen Entstehungskontext der Literatur dieser Zeit nach­ vollziehen zu können, ist ein Blick auf die allgemeine Krisensituation in Österreich um 1900 unabdingbar. Die Literatur dieser Zeit entsteht vor dem Hintergrund des Niedergangs der Habsburgermonarchie, die jahrhunderte­ lang an den Geschicken Europas beteiligt war. Bereits seit 1848 herrschte Kaiser Franz Joseph, dessen Regierungszeit erst mit seinem Tod im Jahre 1916 nach 68 zumeist krisenbehafteten Jahren endete. Nach der militäri­ schen Niederlage gegen Preußen 1866 sowie der daraus folgenden Auflö­ sung des Deutschen Bundes entstand 1867 die sogenannte ,kaiserliche und königliche' (k. u. k.) Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Franz Joseph ver­ knüpfte als doppeltes Staatsoberhaupt - er war zugleich Kaiser von Öster­ reich und König von Ungarn - die beiden größtenteils unabhängigen Staa­ ten. Eine besondere Herausforderung seiner Herrschaft bestand in den zahl­ reichen politischen und kulturellen Differenzen, die aufgrund der Vielzahl an Völkern, Sprachen und Religionen, welche die Donaumonarchie präg­ ten, zu berücksichtigen waren (vgl. Vocelka 2010; HauptlWürffel 2008a). Zur krisenhaften Gesamtstimmung in Österreich-Ungarn trugen zahlrei­ che politische Entwicklungen und historische Begebenheiten bei. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand in vielen Regionen des Herr­ schaftsgebiets der Wunsch nach einem eigenen Nationalstaat. Franz Joseph jedoch wollte sein Reich vergrößern, um seiner Monarchie wieder den Sta­ tus einer wahrhaftigen Großmacht zukommen zu lassen. Im Zuge einer Neuordnung des Balkans erhielt er 1878 von den europäischen Mächten die Verwaltungsmacht über die zum Osmanischen Reich gehörenden Re­ gionen Bosnien und Herzegowina zugesprochen, wodurch jedoch sowohl das Verhältnis zu Russland beeinträchtigt wurde, das sich diese Regionen einverleiben wollte, als auch zum prorussischen Serbien. Im Zuge von Re­ volutionswirren im Osmanischen Reich annektierte Franz Joseph im Jahr 1908 schließlich die von ihm verwalteten Provinzen, was von den europä­ ischen Mächten nicht goutiert wurde. Nur das Deutsche Reich stellte sich an die Seite Österreich-Ungarns. Als 1914 in Bosnien der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand dem Attentat eines Serben zum Opfer fiel, be-

Krise und Ende der Habsburger­ monarchie

8 I. Epochenverortung gann kurz darauf mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der Erste Weltkrieg, der schließlich das Ende der Habsburgermonarchie be­ deuten sollte. Nach Franz Josephs Tod übernahm 1916 sein Großneffe Karl die Regierungsgeschäfte. Er sollte nicht ahnen, dass er der letzte Kaiser von Österreich sein würde. Trotz seiner Friedensbemühungen konnte er den Un­ tergang der Monarchie nicht aufhalten. Österreich wurde nach der Nieder­ lage im Krieg und zahlreichen Abspaltungen zu einer kleinstaatlichen Re­ publik. Karl wurde ins Exil gezwungen, die Angehörigen des Habsburgerge­ schlechts, das über Jahrhunderte hinweg an der Macht beteiligt war, all ihrer Rechte und Titel enthoben. Antisemitismus

Neben diesem außenpolitischen Niedergang entwickelte sich auch innerhalb des Staates eine zunehmend feindliche Atmosphäre, die sich insbeson­ dere gegen den jüdischen Bevölkerungsanteil richtete (vgl. Beller 1989). Be­ günstigt durch eine kurze Phase liberaler Reformen in den 1860er Jahren hatten sich in der Donaumonarchie, und insbesondere in Wien, zahlreiche Juden angesiedelt, die das intellektuelle und kulturelle Leben der Stadt ent­ scheidend und nachhaltig bereicherten (vgl. Lohmann 2006, 2 f.): ,,[Olhne Juden", so der Historiker Peter Pulzer, "wäre die Wiener Kultur um und nach 1900 nicht denkbar". (Pulzer 1986, 35) Doch populistische Antisemi­ ten wie Georg von Schönerer und Karl Lueger hetzten große Teile der Be­ völkerung gegen die Juden auf. Bedingt durch das antisemitische Klima ent­ wickelte Theodor Herzl schließlich sein zionistisches Projekt eines eigenen Staates für die Juden (vgl. Schorske 1982, 111-168).

Metropole Wien

Insbesondere in Wien wurde der Antisemitismus salonfähig, was nicht zuletzt daran lag, dass Lueger zum Bürgermeister gewählt wurde. Die Hauptstadt des Kaisertums Österreich hatte sich innerhalb kürzester Zeit zu einer Metropole entwickelt. Lebten 1857 noch knapp unter 500.000 Men­ schen in Wien, zählte die Stadt 1910 bereits über 2 Millionen Einwohnerin­ nen und Einwohner (vgl. Janik 1986, 47). Wien hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitere einschneidende Veränderungen durchlebt: Mit den zwischen 1859 und 1872 in unterschiedlichen architektonischen Stilen errichteten Prachtbauten der Wiener Ringstraße hatte sich beispielsweise auch das Stadtbild umfassend gewandelt (vgl. Wunberg 1998, 9-11).

Kulturelle Blüte

"Sicherlich im Widerspruch zu den Verfallserscheinungen der Gesellschaft und des Staates in der Habsburgermonarchie um 1900 steht die kul­ turelle Blüte dieses Landes" urteilt der Historiker Karl Vocelka (2010, 78). Aufgrund verschiedener günstiger Faktoren herrschte im Wien der Jahrhun­ dertwende tatsächlich ein ausgeprägtes "kreatives Milieu" (Janik 1986): Wien war die größte Stadt des Reiches, Hauptstadt und Verwaltungssitz, verfügte über sehr gute Bildungsstätten, stand im ständigen Austausch mit anderen kulturellen Zentren und konnte in den Bereichen Medizin, Musik und Theater auf Traditionen aufbauen (vgl. ebd.). Darüber hinaus führte die politische Krisenzeit nicht nur zur Abwendung der Bürgerinnen und Bürger von der Politik, sondern zu einer gleichzeitigen Hinwendung zur Kultur: "Das Leben der Kunst wurde ein Surrogat für das Handeln." (Schorske 1982, 8) All diese Entwicklungen begünstigten die enorme kulturelle Viel-

2. Die Literatur der Wiener Moderne im Kontext der Literatur der Jahrhundertwende

falt in Wien um 1900 (vgl. Kap. 111.1) und führten in zahlreichen Bereichen zur Entstehung einer spezifischen Moderne, die insbesondere auf dem Ge­ biet der Literatur eine Charakteristik erreichte, die im Kontext der zahlrei­ chen Strömungen zur Zeit der Jahrhundertwende eine eigene Begrifflichkeit rechtfertigt: die Wiener Moderne.

2. Die Literatur der Wiener Moderne im Kontext

der Literatur der Jahrhundertwende Der Begriff ,Literatur der Jahrhundertwende' umfasst gemeinhin die Literatur im Zeitraum zwischen ca. 1885 und 1910 (vgl. KimmichlWilke 2011, 9) und subsumiert eine Vielfalt an literarischen Stilen, Strömungen und ästhetischen Programmen. Diese Vielfalt bildet sich prägnant im Modernen Mu­

sen-Almanach des Jahres 1893 ab. "Die starke Beteiligung von Begabungen aus allen Kreisen der modernen Kunst", so schreibt der Herausgeber Otto Julius Bierbaum einleitend, "ergab von selbst ein vollständiges Bild der in verschiedenen Richtungen lebendigen modernen Bewegung in Deutschland." (Bierbaum 1893, 3) Tatsächlich zeigt ein Blick in das Buch, dass ganz unterschiedliche Schriftsteller wie Detlev von Liliencron, Arno Holz, Frank Wedekind sowie die Wiener Autoren Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthai und Arthur Schnitzler unter dem Label ,moderne Literatur' versammelt sind (vgl. Fähnders 2010(90).

Bei allen Problemen, die im Musen-Almanach gedruckten Texte auf einen

Nenner zu bringen, lassen sich mindestens zwei Charakteristika dieser ,mo­ dernen Literatur' bestimmen: Sie reagiert erstens auf kulturhistorische Ver­ änderungen dieser Jahre - auf das Gefühl einer zunehmenden Komplexität sozialer, politischer und wirtschaftlicher Realitäten infolge des technisch­ wissenschaftlichen Fortschritts; auf die rasante Entwicklung der Großstädte, das Gefühl der fortschreitenden Denaturierung und Entwertung des Indivi­ duums sowie den Verlust sozialer Kompetenzen. Das Subjekt steht ange­ sichts der kollektiven Lebensform, so formuliert es der Soziologe Georg Simmel im Jahre 1903, vor dem Problem, seine "Persönlichkeit zur Geltung zu bringen" (Simmel 2009, 112). Zweitens ging diese Thematisierung einer krisenhaften Welt- und Selbstwahrnehmung mit dem Bestreben von literari­ schen Innovationen (vgl. Becker/Kiesel 2007, 10) einher, die sich freilich in einem weiten Spektrum zwischen Revolution und Reform in ganz unter­ schiedlichen Stilen bewegten. Diese Stilvielfalt findet Ausdruck in einem Begriffsreichtum uneinheitlich verwendeter, nur schwer voneinander ab­ grenzbarer Stil- und Strömungsbezeichnungen wie ,Ästhetizismus', ,Neuro­ mantik', ,Impressionismus', ,Jugendstil', ,Decadence', ,Symbolismus' oder ,Jung-Wien' (vgl. Kap. 1.3). Dass diese Kategorien nicht trennscharf sind, zeigt ein Blick auf die Autoren der Wiener Moderne: Insbesondere das Früh­ werk von Hugo von Hofmannsthai wurde etwa in der Forschung vielfach mit dem Begriff des Ästhetizismus gefasst (vgl. Streim 1996) oder aber in die "Nähe des französischen Symbolismus gerückt" (Winko 2003(243), teilwei-

Stilvielfalt

9

10 I. Epochenverortung se wurde den frühen Texten die Zugehörigkeit zur ,Moderne' gänzlich abge­ sprochen. Arthur Schnitzler - um noch ein weiteres Beispiel zu nennen wurde sowohl als typischer Vertreter der Decadence wie auch des Impres­ sionismus bezeichnet. Was die Stil- und Strömungsbezeichnungen angeht, lässt sich um die Jahrhundertwende lediglich der Naturalismus "als halb­ wegs eindeutiger Epochenbegriff [ . . ] handhaben" (Fähnders 2010, 90). .

Der Berliner

Um das I iterarische Territorium um 1900 wenigstens grob zu kartografie-

Naturalismus

ren, hilft ein Blick auf die verschiedenen Zentren der Moderne: Im literari­ schen Feld um 1900 kämpften verschiedene Strömungen und Gruppierun­ gen um die Vorherrschaft ihres jeweiligen Literaturkonzeptes; diese Gruppie­ rungen bildeten sich vor allem in den Großstädten München, Berlin oder Wien heraus. Zentrum des Naturalismus - der bis zur Jahrhundertwende das Gravitationszentrum für literaturpolitische Auseinandersetzungen bildete war Berlin. In den 1880er Jahren traten dort junge Autoren auf den Plan, die für die Überwindung des poetischen Realismus votierten; sie kündigten nichts Geringeres als eine Revolution der Literatur an. Ihr literaturpolitisches Hauptorgan war die Zeitschrift Freie Bühne, in der einflussreiche Schriftstel­ ler wie Wilhelm Bölsche die Ideen des Naturalismus verbreiteten. Die Pro­ grammatik orientierte sich grundsätzlich an naturwissenschaftlichen Metho­ den. In Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887) be­ schreibt Bölsche das naturalistische Verfahren folgendermaßen: "Der Dich­ ter [ . . ] ist in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei .

Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobachtet." (Böische 1976, 7) Obgleich Arno Holz den Begriff des Experiments ablehnt, stattdessen von ,Beobachtung' spricht (vgl. Schiewer 2004, 148), teilt er mit Bölsche das grundsätzliche Bestreben, Literatur zu verwissenschaftlichen. In

Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (1891) bringt er sein Kunstverständnis auf die mathematische Gleichung: "Kunst

=

Natur - x" (Holz 1973, 171), wo­

bei ,x' gleichermaßen für die "Reproduktionsbedingungen und deren Hand­ habung" (ebd., 174) steht. Diese Neuausrichtung der Literatur auf die künst­ lerische Vermittlung von Wirklichkeit führte zu innovativen Formen wie der Erfindung des Sekundenstils oder der sogenannten ,phonographischen Me­ thode' - gemeint ist eine möglichst getreue schriftliche Abbildung von Spra­ che und Geräuschen. Der angestrebte Wirklichkeitsbezug manifestierte sich zudem in einer Darstellung von sozialen Milieus jenseits der Bürgerlichkeit, die der Realismus weithin ausgeblendet hatte. Der Wiener

In den 1880er Jahren bestand auch bei den jungen Autoren Wiens das

Antinaturalismus

Bedürfnis nach einer anderen Literatur, weshalb das Wiener Kulturleben stark vom Einfluss des deutschen Naturalismus geprägt war (vgl. Lorenz 2007, 46ff.) Erst um 1890 profilierte sich ,Jung-Wien' verstärkt im Zeichen des Antinaturalismus: Chef-Programmatiker und "rühriger Manager" war Hermann Bahr, der in zahlreichen Essays (vgl. Kap. lV.l) die Forderung eines )nneren Naturalismus" stellte (Wunberg 2001, 188): Anstelle einer Darstellung der "Sachenstände" sollte die Vermittlung der "Seelenstände" im Zentrum der Literatur stehen (ebd.). Diese "Favorisierung der Innenwelt" (ebd.) bildete ein entscheidendes Merkmal der Jung-Wiener Literatur. Der

3. Zum Begriff ,Wiener Moderne'

Blick verlagerte sich vom "Sozialen zum Individuellen, vom Objekt ins Sub­ jekt, von Umwelt auf Innenwelt" (ebd.). Allerdings waren die Gegensätze zum Naturalismus nicht so groß wie sie literaturpolitisch inszeniert wurden. Schon Bahrs Begriff vom ,inneren Naturalismus' offenbart Ähnlichkeiten in der Methode. Der "Technik des genauen Hinsehens" wird lediglich ein an­ derer Gegenstand beigeordnet:

"das eigene Ich" (ebd., 189). Der möglichst

präzisen, quasi wissenschaftlich-mathematischen Erfassung der äußeren Welt entspricht die ebenso von wissenschaftlichem Denken geprägte Me­ thode der Erforschung menschlicher Bewusstseinszustände. Die literarische Beschreibung seelischer Prozesse brachte schließlich innovative Erzähltech­ niken wie die konsequente Einführung des inneren Monologs oder den

stream af cansciausness in der deutschsprachigen Literatur hervor. Ist für die Texte von Arthur Schnitzler oder Richard Beer-Hofmann eine präzise Abbildung von Bewusstseinsprozessen charakteristisch, neigten an­

Jung-Wien und der George-Kreis

dere Autoren Jung-Wiens zum Ästhetizismus, wie er auch im Künstlerkreis um Stefan George vertreten wurde. Im Falle von Hugo von Hofmannsthai gab es sogar einen direkten Kontakt zum George-Kreis, der es dem jungen

Blätter für die Kunst zu veröffentlichen. Allerdings bestand zwischen den Gruppierungen

Dichter ermöglichte, einige seiner frühen Texte in Georges

,Jung-Wien' und dem George-Kreis ein entscheidender Unterschied, was den jeweiligen Gruppen-Habitus anging. Während der zuletzt genannte Kreis Vertreter einer elitären

I'art paur I'art-Poetik war, die ganz auf die Per­

sönlichkeit ,Stefan George' abgestimmt war, gab sich Jung-Wien deutlich li­ beraler: Wiens Literaten bildeten ein loses Schriftstellerbündnis mit unter­ schiedlichen Zentren, die sich, anders als der George-Kreis, nicht herme­ tisch nach außen hin abschotteten, sondern den intellektuellen Austausch suchten (vgl. Kap. 111.3).

3. Zum Begriff ,Wiener Moderne' Bei der Auseinandersetzung mit der Kulturlandschaft in Wien um 1900 wer-

Begriffsvielfalt

den die verschiedensten Begriffe bemüht: So ist ganz allgemein von der ,Moderne' die Rede, vom Zeitalter des ,Fin de Siecle' oder eben von einer spezifischen ,Wiener Moderne'. In Bezug auf die Literatur liest man zudem noch von Begriffen wie ,Jung-Wien' respektive ,Junges Österreich', von ,Decadence' oder ,Impressionismus'. In welchen Zusammenhängen stehen diese zahlreichen literaturwissenschaftlichen Termini und was bezeichnen sie konkret? Neben den zahlreichen allgemeinen und je fachlichem Kontext spezifischen Bedeutungen des Begriffes ,Moderne' bezeichnet dieser Terminus innerhalb der deutschsprachigen Literaturwissenschaft - oftmals in der Verwendung ,klassische Moderne' - insbesondere die verschiedenen Strömungen und Stilrichtungen, die sich nach der Epoche des Realismus gegen Ende des

19. Jahrhunderts herausbi Ideten und bis in die 20er und 30er Jahre des

20. Jahrhunderts die Literatur maßgeblich unter dem Diktum des ,Neuen'

Moderne als literarische Epoche

11

12 I. Epochenverortung beeinflussten (vgl. Blamberger 2000). Forminnovationen und Stilpluralismus sowie allgemein der Bruch mit literarischen Traditionen zählen zu den ent­ scheidenden Kennzeichen der literarischen Moderne. Fin de Siede

Als ein Tei Ibereich der Moderne kann diejenige Literatur der Jahrhundertwende gelten, die sich explizit gegen den Naturalismus wendet und die oft­ mals europaweit unter dem Namen ,Fin de Siede' (frz. ,Jahrhundertende' ) subsumiert wurde: ,,Fin de siede kann daher auch als , gegennaturalistische Moderne um 1900' bestimmt werden; mit dem Bewußtsein der Auflösung eines ganzen Zeitalters verbindet sich das Bewußtsein des Neubeginns." (Viering 1997, 602) Kennzeichen der Zeit - und somit immer wieder auch der Literatur - waren "gesteigerte Sensitivität und Reflexivität des Ich, Ner­ vosität, Willensschwäche, drohender Identitätsverlust durch Vervielfälti­ gung des Ich" (ebd., 603).

Decadence

Mit dem nahenden Ende des 19. Jahrhunderts verknüpfte sich eine allgemeine Stimmung des Niedergangs, die im Sinne eines Krisenbewusstseins in mannigfaltiger Weise auf die Literatur der Zeit Einfluss nahm und oftmals mit dem Schlagwort ,Decadence' versehen wurde. Dieses Konzept bildete einen wichtigen Bezugspunkt für die Akteure Jung-Wiens. Einflüsse aus Eng­ land oder Frankreich hielten ,,für die Jung-Wiener [ . . ] jene ästhetischen .

Entwürfe und Denkfiguren bereit", die es in der IISphäre der Kunst" möglich machten, der IIAufsplitterung" des Lebens in IIzusammenhanglose Phäno­ mene" zu begegnen (Lorenz 2007, 64). Gerade die Forschung zu Hof­ mannsthai hat in diesem Zusammenhang immer wieder auf das (leise) IIUn­ behagen an der reinen Lehre des Ästhetizismus" hingewiesen (ebd., 65), das sich in Schriften wie Poesie und Leben (1896) dokumentiert findet (vgl. ebd. und Simonis 2000, 293). Wiener Moderne

Die ,Wiener Moderne' wiederum kann als spezifische österreichische Spielart der literarischen Moderne mit dem Zentrum Wien gelten, die in ihrer Entstehungszeit in den 1890er Jahren und der Frühphase vom Fin de Siede beeinflusst war. Sie lässt sich von anderen Spielarten wie beispiels­ weise der sogenannten ,Berliner Moderne' abgrenzen (vgl. Sprengel/Streim 1998). Darüber hinaus beansprucht der Begriff ,Wiener Moderne' nicht nur Gültigkeit für die Literatur, sondern ebenso für andere Künste wie die Bil­ dende Kunst, Musik oder Architektur (vgl. Kapitel 111.1). Die Literatur der Wiener Moderne kann daher weniger als Epoche, sondern vielmehr als spe­ zifische Strömung innerhalb der Epoche der Moderne gelten. Besonders prägend für die Texte war eine Stilrichtung, die sich als literarischer ,Impres­ sionismus' bezeichnen lässt, sofern man darunter die Hinwendung zum Subjektiven (vgl. Kap. 1V.2) oder die Konzentration auf IIdas Individuelle und Augenblickgebundene" sowie die literarische Darstellung von IIEin­ drücken und Stimmungen" versteht (Fick 2000, 137).

Jung-Wien

Die Bezeichnung ,Jung-Wien' wiederum (oder auch ,Junges Österreich') wird mitunter synonym für die Wiener Moderne verwendet. Es erscheint je­ doch aufgrund des Zusatzes ,Jung' sinnvoll, damit lediglich die Frühphase der Wiener Moderne und insbesondere die Entstehungszeit um 1890 zu be­ zeichnen, zumal die Protagonisten selbst Ende des 19. Jahrhunderts mit

3. Zum Begriff ,Wiener Moderne'

ähnlichen Begriffen hantierten, um den Kreis von Autoren zu benennen, der sich nach und nach in den Kaffeehäusern der Stadt bildete (vgl. Kap. 111.2). Der Literaturkritiker Hermann Bahr fungierte dabei nicht nur als Mitglied der Gruppe, sondern darüber hinaus als wirkungsmächtiger Propagandist der damaligen jungen Literatur (vgl. Kap. 111.3). Die Literatur der Wiener Moderne, also die Texte der bis heute berühmten Schriftsteller wie bei­ spielsweise Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthai, Felix Saiten, Ri­ chard Beer-Hofmann, Leopold von Andrian oder Peter Altenberg, prägte vereinzelt bis in die 20er und frühen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts die österreichische Literatur. Eine Verkürzung auf die Frühphase des ,jungen' Österreichs würde diesem nachhaltigen Wirken der Texte somit nicht ent­ sprechen. Schließlich weist die Wiener Moderne ein spezifisches Moderne-Konzept auf, das bereits frühzeitig programmatisch konturiert wurde, so etwa durch eben jenen Hermann Bahr, der unter anderem mit seinem Essay Oie Moder-

ne (1890) die Stoßrichtung der österreichischen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts formuliert hatte (vgl. Kap. 1Y.1): "Wir haben nichts als das Außen zum Innen zu machen." (Bahr KS JI2, 5)

Moderne-Konzept

13

11. Forschungsbericht 1. Topografie und Soziologie der Wiener Moderne Moderne-Forschung

Mit dem Begriff ,Moderne' wird in der Literaturwissenschaft gemeinhin die­ jenige kunstästhetische Epoche bezeichnet, die sich als Reaktion auf die zunehmende Komplexität sozialer, politischer und wirtschaftlicher Realitä­ ten um die Jahrhundertwende formierte (vgl. Kap. 1.3). Diese Epoche ,Mo­ derne' ist keineswegs homogen; vielmehr gibt es eine Vielzahl verschiede­ ner Moderne-Konzepte, was sich in besonderer Weise in den vielen kon­ kurrierenden Literaturströmungen um 1900 zeigt: Die Literatur reagierte höchst unterschiedlich auf die kulturell-technische Modernisierung der Jahrhundertwende, sie umfasst ein Spektrum, so Sabina Becker und Hel­ muth Kiesel, das sich "zwischen den Polen Provokation und Institution" spannt: "Provokation spezifiziert als Abweichung von der ästhetischen Norm, Institution verstanden als Rekurs auf Tradition und Traditionen [ . . ]. .

Die Literatur der Moderne changiert jedenfalls im Spannungsfeld einer pro­ vokanten Ästhetik [ . . ] auf der einen und literarischen Konventionen auf .

der anderen Seite; sie oszilliert zwischen Literaturrevolution und Tradi­ tion." (Becker/Kiesel 2007, 10) Ein Kennzeichen der literarischen Moderne ist somit ihre thematische und formal-ästhetische Diversität, die nicht nur für die Moderne als Makrostruktur, sondern auch für einzelne Strömungen wie die Wiener Moderne gilt: Die Forschung hat immer wieder auf "das Geflecht widersprüchlicher Tendenzen" (Lorenz 2007, 5 sowie Brix 1990) hingewiesen, das die Literatur der Wiener Jahrhundertwende charakteri­ siert. Wie die literarische Moderne insgesamt, reicht auch die Wiener Mo­ derne - so Dagmar Lorenz - von der avantgardistischen Innovationsleistung eines Arthur Schnitzlers bis hin zur konservativen Heimatliteratur Peter Roseggers (vgl. Lorenz 2007, 5). Ordnungsprinzip

Um die komplexe Struktur kultureller Milieus in ihren Wechselwirkungen

Topografie

und Widersprüchlichkeiten zu erfassen, hat die Moderne-Forschung die For­ mationsprozesse verschiedener Strömungen detailliert zu erfassen versucht, wobei ein wesentliches Ordnungsprinzip die kultursoziologische Beschrei­ bung der ,geistigen Zentren' der Moderne darstellte (vgl. HauptlWürffel 2008b). Dem Handbuch Fin de Siede (HauptlWürffel 2008a) beispielswei­ se liegt die Annahme zugrunde, dass sich die Moderne anhand ihrer urba­ nen Zentren Paris, Wien, Berlin, München, London, Prag und Petersburg er­ fassen lasse. Diese Fokussierung auf die Topografie der Moderne erlaubt eine genauso geistesgeschichtliche wie historisch-politische und (Iiteratur-) soziologische Erläuterung von lokalspezifischen Voraussetzungen, die die Genese literarischer Strömungen bedingen. Überdies lassen sich aus dieser Perspektive Wechselwirkungen zwischen den europäischen Zentren der

1. Topografie und Soziologie der Wiener Moderne 15

Moderne in den Blick nehmen. Der Band trägt insgesamt der Tatsache Rechnung, dass die Moderne ein transnationales, europäisches Phänomen darstellt (vgl. auch FrickJMölk 2003). Dieser grundlegenden Einsicht folgen viele Forschungsarbeiten, die sich mit den kulturell-intellektuellen Voraussetzungen für die Genese der Wie­ ner Moderne einerseits und den internationalen Verstrebungen der Strö­ mung andererseits beschäftigt haben (z. B. Brix/janik 1993). So legen die Sammelbände Oie Wiener jahrhundertwende (NautzNahrenkamp 1996) und Europäische jahrhundertwende. Wissenschaften, Literatur und Kunst um 1900 (Mölk 1999) die innovativen Prozesse in Philosophie und Wissen­ schaft, Sprache und Literatur, Kunst und Architektur, Musik sowie Gesell­ schaft und Politik und außerdem die Vernetzungen zwischen diesen Feldern dar. Mit den vielfältigen Formen transdisziplinärer Austauschprozesse be­ schäftigt sich auch Edward Timms (Timms 1996 und 2013), der detailliert die schöpferischen Interaktionen der verschiedenen Wiener Kreise rekon­ struiert hat. Timms zeigt dadurch, wie sich unter den spezifischen politisch­ historischen Bedingungen eine multimediale Kunstszene etabliert hat, deren Wahrnehmung als innovative Strömung der Moderne sich erst im Nachhi­ nein eingestellt hat. Mit den für die Strömung der Wiener Moderne prägen­ den Einflüssen und (teilweise konfliktreichen) Beziehungen zu anderen Kunstzentren der Moderne beschäftigt sich Helga Mitterbauer, die kulturelle Transfers sowie interkulturelle Wechselwirkungen zwischen Paris und Wien um 1900 aufzeigt (Mitterbauer/Scherke 2005 sowie Mitterbauer 2006, 155-173). Um die literarischen Einflüsse Frankreichs auf die Autoren jung­

Wiens geht es auch in der Monografie Wiener Moderne im Dialog mit Frankreich (Arend 2010), in der verdeutlicht wird, wie sich die Wiener Au­ toren produktiv mit I iterarischen Konzepten französischer Autoren ausein­ andergesetzt haben. Die Beziehung der Wiener zur Berliner Moderne re­ flektiert die umfangreiche Monografie Berliner und Wiener Moderne. Ver­ mittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, P ublizistik (Sprengel/

Streim 1998). Die Autoren zeigen, wie intensiv, produktiv und konfrontativ die kulturellen Beziehungen zwischen beiden Metropolen waren. In sol­ chen Forschungsarbeiten kommt eine Haupttendenz der aktuellen For­ schungsdiskussion zum Ausdruck, die Wien prinzipiell als "Bezugspunkt einer zentraleuropäischen Moderne" (Lorenz 2007, Vorwort) begreift. In diesem Zusammenhang sind auch die Gesamtdarstellungen zu erwäh­ nen, welche die Wiener Moderne im Kontext der anderen bedeutsamen und ,modernen' - Strömungen dieser Zeit betrachten. Neben der von Doro­ thee Kimmich und Tobias Wilke vorgelegten Einführung in die Literatur der jahrhundertwende (KimmichlWilke 2011) ist hier auch Philip Ajouris Mo­

nografie zur Literatur um 1900 (Ajouri 2009) und insbesondere Walter Fähnders umfassende Auseinandersetzung mit Avantgarde und Moderne 1890-1933 (Fähnders 2010) zu nennen. Die Autoren zeigen jeweils - mit unterschiedlichen Schwerpunkten - die Stellung der Literatur der Wiener Moderne in der Zeit des Übergangs vom 19. ins 20. jahrhundert auf.

Voraussetzungen und internationale Beziehungen

16

11. Forschungsbericht

Wien als Moderne-

Für den geistes-, kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext speziell in

Zentrum

Wien ist Carl E. Schorskes Monografie Wien: Geist und Gesellschaft im Fin de Siede (Schorske 1982) einschlägig. Er verknüpft in seiner Darstellung die

Bereiche Literatur, Architektur, Politik, Bildende Künste und Wissenschaft. Auf die enge Verzahnung dieser Bereiche gehen auch die Beiträge im Band Wien um 7900. Aufbruch in die Moderne (Berner/Brix/Mantl 1986) ein. Für

die Bedeutung dieser zahlreichen Einflüsse - die zum ,kreativen Milieu' in Wien (vgl. Janik 1986) beitrugen - hinsichtlich der Entstehung von ,Jung­ Wien' ist die Monografie von Jens Rieckmann mit dem Titel Aufbruch in die Moderne. Oie Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kri­ tik im Fin de Siede (Rieckmann 1985) aussagekräftig. Seine ausführliche

Darstellung über die Rolle Hermann Bahrs, die Genese von Jung-Wien um 1890, das Zeitschriftenwesen und die I iterarischen Erzeugnisse der zentra­ len Autoren vermittelt ein Bild von der Dynamik im Umfeld der literari­ schen Produktion dieser Zeit. Schließlich finden sich auch im Standardwerk Wiener Moderne (Lorenz 2007) umfassende Auseinandersetzungen mit den

kulturellen Hintergründen. Einen Überblick über die vielfältigen kulturellen Formen der Wiener Moderne, insbesondere der Bildenden Künste, bietet der reich bebilderte, von Christian Brandstätter herausgegebene Sammel­ band Wien 7900. Kunst und Kultur, in dem Wien als Fokus der europäi­ schen Moderne (Brandstätter 2005a) verstanden wird. Die darin enthaltenen

Beiträge beleuchten die Wiener Moderne als gesamtkulturelles Phänomen.

2. Autoren, Diskurse und Schreibweisen Sozialkulturelle

Spielt bei der Erforschung der Wiener Moderne als zentrale Strömung der

Vernetzung

literarischen Moderne schlechthin der Aspekt der sozialkulturellen Vernet­ zung eine zentrale Rolle, so gilt dies auch für Forschungsarbeiten, die sich dezidiert mit der Schriftsteller-Gruppe Jung-Wien und ihren Hauptakteuren beschäftigen. Symptomatisch ist hier Gotthart Wunbergs Aufsatz Wiener Perspektiven im Werk von Schnitz/er, H ofmannstha/ und Freud (Wunberg

2001, 168-175), der nicht nur den Einfluss des Wiener Kulturlebens auf die Texte der Autoren, sondern darüber hinaus die zahlreichen diskursiven Überschneidungen zwischen den unterschiedlichen Protagonisten der Wie­ ner Avantgarde erläutert: Die Textanalyse ist - so ließe sich aus der Vorge­ hensweise Wunbergs schlussfolgern - stets an das kreative Milieu gekop­ pelt, aus dem heraus der Text entstanden ist. Auch das jüngst erschienene Schnitz/er-Handbuch Uürgensen/Scheffel/ Lukas 2014) trägt dieser Einsicht prinzipiell Rechnung, denn einführend werden in einem umfassenden Kapitel ("Kontexte: Einflüsse, Kontakte, Dis­ kurse") die Beziehungen Schnitzlers zu seinen Schriftsteller-Kollegen Hof­ mannsthai, Beer-Hofmann, Bahr und Altenberg beschrieben sowie die Be­ einflussung des Schriftstellers durch psychologische, soziologische und an­ thropologische Diskurse herausgestellt, die das Wiener Kulturleben um 1900 insgesamt geprägt haben. Ganz ähnlich zeigt auch die Studie Richard

2. Autoren, Diskurse und Schreibweisen 17

Beer-Hofmann und die Wiener Moderne (Scherer 1993) die Relevanz der gesamten (nicht nur literarischen) Strömung für die Erschließung des Auto­ renwerks: Obgleich es der Studie primär um die Literatur Richard Beer­ Hofmanns geht und eine systematische Kontextualisierung erst im dritten Teil der Monografie erfolgt, verdeutlicht das Buch schon im Titel, dass die zentralen Diskurse bei Beer-Hofmann zeit-, orts- und gruppenspezifisch geprägt sind. In ihnen bildet sich, so zeigt Scherer, ein Krisenbewusstsein ab, wie es auch den politischen und philosophischen Diskurs im Wien der Jahrhundertwende bestimmt hat. Vergleichbar verfährt Jacques Le Rider in seiner Monografie Arthur Schnitz/er oder Oie Wiener Belle Epoque (Le Rider 2008).

Für die Forschung unerlässlich sind die zahlreichen Editionsprojekte, die zum Teil noch nicht abgeschlossen sind. In gründlich edierten Ausgaben wurden und werden die Primärtexte einiger zentraler Autoren zugänglich gemacht. So erscheint seit 1975 die kritische Ausgabe sämtlicher Schriften Hugo von Hofmannsthais (Hofmannsthai SW). In der umfassend kommentierten Edition sind verschiedene Textversionen und -varianten, Erläuterungen, Hinweise zur Entstehung und zu Quellen sowie Zeugnisse von Hofmannsthai und seinem Umfeld im Kontext der jeweiligen Werke zusam­ mengetragen. Komplizierter verhält sich die Zugänglichkeit zu zuverlässigen Textausgaben bei Arthur Schnitzler, dessen Werke erst seit wenigen Jahren in unterschiedlichen Editionsprojekten literaturwissenschaftlich adäquat erschlossen werden. So wird an der Universität Wien seit 2010 unter der Leitung von Konstanze Fliedl das Frühwerk Schnitzlers in einer historischkritischen Ausgabe herausgegeben. Einige Bände, etwa zu Liebe/ei, Sterben oder Leutnant Cust/ liegen bereits vor (Schnitzler HKA). Im Rahmen eines Kooperations-Projekts der Bergischen Universität Wuppertal und verschiedener Universitäten in Großbritannien (Cambridge, London, Bristol) wird unter der Federführung von Wolfgang Lukas, Michael Scheffel und Andrew Webber eine digitale historisch-kritische Edition der Werke von 1905 bis zu Schnitzlers Tod im Jahr 1931 erarbeitet. Im Falle Hermann Bahrs liegt eine kritische Ausgabe sowohl in Buchform (Bahr KS) als auch digital vor (http:// www.univie.ac.atlbahr/). Die digitale Plattform des von Claus Pias verantworteten Projekts bietet, neben den wichtigsten Schriften Bahrs, Informationen zu seinem Leben und zu Forschungsprojekten sowie ein umfassendes Verzeichnis der über 4000 Texte des Vermittlers der Wiener Moderne. Darüber hinaus sind einige Quellensammlungen verfügbar, für die Gotthart Wunberg als Herausgeber verantwortlich zeichnet (Wunberg 1976, Wunberg 1981, Wunberg/Dietrich 1998). In diesen Bänden sind vor allem theoretische, kulturkritische oder literaturpolitische Texte oft auszugsweise versammelt. Durch Kontextualisierungen und Kommentare gewähren diese Bände daher sowohl einen Einblick in die Publikationsvielfalt dieser Zeit als auch in die thematischen Schwerpunkte. Die ,Modernität' der Wiener Moderne wurde gemeinhin aus ihren The­ men beziehungsweise Diskursen sowie den innovativen Formen abgeleitet, die das spezifisch moderne Bewusstsein zur Abbildung bringen.

Primärtexte

18

11.

Forschungsbericht Krise des Subjekts

Die zentrale Kategorie für die Literatur der Wiener Moderne lässt sich aus der Forschung als diejenige des (krisenhaften) Subjekts identifizieren. In die­ ser Hinsicht einschlägig sind die Monografien Empiriokritizismus und Im­ pressionismus von Manfred Diersch (Diersch 1973) und Das Ende der Illu­ sion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität von Jacques Le Rider

(Le Rider 1990). Diersch beleuchtet den Einfl uss der Erkenntnistheorie des Philosophen Ernst Mach, der das Ich als "unrettbar" deklarierte und damit ein zentrales Schlagwort für die Krise des Subjekts im ausgehenden 19. Jahr­ hundert formulierte, auf die (kunst)philosophischen Überlegungen Her­ mann Bahrs und die literarische Produktion der Zeit, um schließlich die Selbstentfremdung als Lebenserfahrung zu skizzieren. Le Rider zeichnet zu­ nächst die allgemeinen Identitätskrisen nach, um daraufhin die Krisen männlicher, weiblicher und jüdischer Identität zu reflektieren. Am Beispiel Arthur Schnitzlers zeigt Wolfgang Lukas in seiner Dissertation Das Selbst und das Fremde die Auseinandersetzung in dessen Werk mit Epochale[n] Lebenskrisen und ihre[r] Lösung (Lukas 1996) auf. Ebenfalls auf das Werk

Schnitzlers beziehen sich Rolf-Peter Janz und Klaus Laermann, die anhand seiner Texte eine Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siede und dessen Krisen liefern (JanziLaermann 1977).

Psychoanalyse

Über die Verzahnung von auf die Darstellung von "Seelenstände[nl" (so der Untertitel von Bahrs Roman Die gute Schule) zielender Literatur und Freuds revolutionären Auseinandersetzungen mit dem Inneren des Men­ schen gibt Michael Worbs in seiner Dissertation über Nervenkunst. Litera­ tur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende (Worbs 1983) Auf­

schluss. Er setzt sich ausführlich mit der vermeintlichen gegenseitigen Be­ einflussung von Schnitzlers Werken und Freuds Theorien auseinander und zeigt dabei auf, dass es sich vielmehr um parallel verlaufende Entwicklun­ gen handelte. Darüber hinaus stellt Worbs die Bedeutung der Psychoana­ lyse für das Werk Hugo von Hofmannsthais heraus (vgl. dazu auch Urban 1978). In einem erweiterten literaturhistorischen Kontext setzt sich zudem Horst Thomes Habilitation Autonomes Ich und ,Inneres Ausland' mit Rea­ lismus,

Tiefenpsychologie

und

Psychiatrie

in

deutschen

Erzähltexten

(1848-1914) auseinander (vgl. Thome 1993). Ein von Thomas Anz verant­ wortetes Forschungsprojekt zum Thema "Psychoanalyse in der literari­ schen Moderne" hat ebenfalls wichtige Ergebnisse zu diesem Themen­ komplex beigesteuert (vgl. Anz 1997, Anzlpfohlmann 2006; vgl. auch Anz

Sexualität

1999). Ein weiteres zentrales Thema in der Literatur der Wiener Moderne ist die Sexualität und damit einhergehend die Tradierung und/oder Revision tradi­ tioneller Geschlechterkonzepte. Die Studie Lustvolles Verschweigen und Enthüllen. Eine Poetik der Darstellung sexuellen Handeins in der Literatur der Wiener Moderne (Schwarz 2012) setzt sich dabei mit unterschiedl ichen

Formen von Inszenierungen der Sexualität auseinander, nicht ohne auf die stereotypen Darstellungen (und deren Variationen) von Frauen als femme fatale oder femme fragile einzugehen. In diesem Kontext ist außerdem Aria­

ne Thomallas Studie Die ,femme fragile'. Ein literarischer Frauentypus der

2. Autoren, Diskurse und Schreibweisen

Jahrhundertwende (Thomalla 1972) zu nennen, in der unter anderem Texte von Peter Altenberg und Richard Beer-Hofmann gedeutet werden. Eine Ty­ pologie von Weiblichkeitsmodellen am Beispiel von Schnitzlers Werk hat Barbara Gutt mit ihrer Arbeit zu Emanzipation bei Arthur Schnitz/er (Gutt

1978) vorgelegt.

19

111. Historische und kulturelle Kontexte 1. Kulturelles Leben in Wien um 1900 Kulturelle Vielfalt

Nicht nur die Literatur erlebte in Wien um 1900 eine Zeit des Aufschwungs. Weitere Künste wie die Musik oder die Bildende Kunst, auch die Architek­ tur, die Philosophie und die Wissenschaften profitierten vom ,kreativen Mi­ lieu' (vgl. Janik 1986) der Zeit. Die Literatur der Wiener Moderne war dem­ nach eingebettet in ein Netz aus kreativen und wirkungsmächtigen kulturel­ len Entwicklungen, die zur Jahrhundertwende in der österreichischen Hauptstadt zusammentrafen und sich wechselseitig beeinflussten (vgl. Kapi­ telL1 ).

Bildende Kunst

Während ,Jung-Wien' eher ein loser Zusammenschluss aufstrebender Literaten war (vgl. Kap.

IIl.n formierte sich 1897 im Bereich der Bildenden

Kunst die Künstlervereinigung "Secession", die das konkrete Ziel verfolgte, sich von althergebrachten Traditionen zu lösen. Mit dem Austritt aus der Künstlergenossenschaft und der Gründung dieses neuen Verbundes strebten mehrere Künstler aus verschiedenen Gattungen unter der Führung von Gu­ stav Klimt eine moderne Kunst an. Die Wiener folgten damit einem Trend: Bereits wenige Jahre zuvor hatte sich in München eine Künstlergruppe vom traditionellen Kunstbetrieb abgespalten. Die Wiener Secession stellte also eine weitere kunsthistorisch bedeutsame Absonderung dar. Wie in den di­ versen literarischen Strömungen um 1900, die trotz ihrer Unterschiede die Gemeinsamkeit aufwiesen, die prägende Realismus-Tradition der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu überwinden (vgl. Kap. 1.2), so ging es auch den Bildenden Künstlern um ein Aufbegehren gegen Konventionen. Die Wiener Bewegung "manifestierte die verworrene Suche nach einer neuen Lebensorientierung in visueller Gestalt" (Schorske 1982, 197), ihnen ging es um die "Suche nach dem wahren Antlitz des modernen Menschen" (ebd., 200). "Wer malend oder zeichnend", so der Wortlaut in einer Selbstdarstel­ lung der Secessionisten, "das Geheimnis seiner Seele in Gestalten offenba­ ren will, ist schon bei der ;Yereinigung'." (Ver Sacrum 1898, H. 1, S. 10) Wiener Secession

Kurz nach der Gründung folgte 1898 die erste Ausstellung der Wiener Secession. Auf dem von Gustav Klimt gestalteten Plakat diente der Mythos von Theseus, der Minotaurus im Kampf besiegt hatte, als Symbol des Aufbe­ gehrens der jungen Künstler gegen die Vätergeneration. Hermann Bahr, der Literat und Kritiker, der für die Literatur der Wiener Moderne eine wichtige Rolle spielt (vgl. Kap. 111.2, 111.3 und 1v'1), zeigte sich in einem Artikel über dieses erste öffentliche Auftreten der Secession äußerst angetan: "So eine Ausstellung haben wir noch nicht gesehen. Eine Ausstellung, in der es kein schlechtes Bild gibt! Eine Ausstellung in Wien, die ein Resume der ganzen modernen Malerei ist!" (Bahr 1981, 509) Von den zahlreichen Ausstellun-

1. Kulturelles Leben in Wien um 1900

gen der Secessionisten erlangte vor allem die ,Beethovenausstellung' aus dem Jahr 1902 besonderes Aufsehen. In ihr griffen die Bereiche Malerei, Ar­ chitektur und Skulptur ineinander über und formierten ein ",Gesamtkunst­ werk' ästhetisierter Innerlichkeit" (Schorske 1982, 240). Eine Besonderheit der Wiener Secession war die Aufwertung des Kunst­ gewerbes. Nicht nur die Malerei, die insbesondere von Gustav Klimt ge­ prägt war, sondern auch Alltagsprodukte wie Vasen oder Bestecke, darüber hinaus Schmuck, sogar Kleidung und ganze Wohnungseinrichtungen soll­ ten Gegenstände der Bildenden Kunst sein. Der Architekt Josef Hoffmann sowie der Grafiker und Maler Kolo Moser, beide Mitglieder der Secession, hatten 1899 wichtige Posten innerhalb der Kunstgewerbeschule übernom­ men und gründeten 1903 die "Wiener Werkstätte" als Genossenschaft von Kunsthandwerkern (vgl. Brandstätter 2005b). Trotz der staatlichen Förderung der Secession in der Anfangszeit - bis Klimts Anstoß verursachende Darstellung von Frauenakten auch Politiker gegen die moderne Kunst aufbegehren ließ - und obwohl den Secessionis­ ten die Durchdringung verschiedener Lebensbereiche mit Kunst zu einem gewissen Teil gelang, spaltete sich 1905 nach vorangegangenen Auseinan­ dersetzungen zwischen ,Naturalisten' einerseits und ,Stilisten' andererseits eine Gruppe um den ,Stilisten' Klimt von der Secession ab. Gustav Klimt nimmt insofern eine besondere Rolle innerhalb der Wiener Secession ein, als er den Übergang in die moderne Kunst gewissermaßen auch mit seiner eigenen Biografie symbolisiert. Zudem sind viele seiner Bilder gerade in der Frühphase seines Schaffens von einer "Reise nach innen" (Schorske 1982, 195) geprägt, gelten als "Gedankenkunst" (Bisanz-Brakken 2005c, 93) und zeugen somit von einer Wendung zum Inneren des Menschen, die in den Künsten und den Wissenschaften in Wien um 1900 vielfältig zum Ausdruck kam; etwa bei Freud im Rahmen seiner Psychoanalyse (vgl. Kap. 111.4) oder eben bei den Literaten der Wiener Moderne in ihren Texten. Klimt begann als Auftragsmaler für Gebäude der Ringstraße, jenes pracht­ vollen, von zahlreichen Baustilen geprägten Stadtgebiets, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Umsetzung eines Bebauungsplans das Stadtbild Wiens entscheidend veränderte (vgl. Schorske 1982, 23-109). Obwohl er als Dekorationsmaler gefragt war, ja gar als "junger Meister der alten Schule" (ebd., 200) galt, bildete er die Hauptfigur bei der Gründung der Secession, die sich insbesondere gegen das richtete, was er selbst bisher vertreten hatte. Er verwarf den Realismus und entschloss sich, "die Kunst wieder triebhafter werden zu lassen" (ebd., 208). So wendete er sich insbesondere der Abbildung von Frauen zu und ver­ bildlichte im Rahmen allegorischer Darstellungen unter anderem die Vor­ stellungen von Weiblichkeitskonzepten (vgl. Bisanz-Prakken 2005b, 93), beispielsweise der femme fatale (vgl. Kap. IV.4). Frauen und Frauenakte spielten auch eine entscheidende Rolle bei den sogenannten Fakultätsbil­ dern, die er zunächst im Auftrag der Universität malen sollte. Es handelte sich um Deckengemälde der Themen Philosophie, Medizin und Jurispru-

Klimt

21

22 111. Historische und kulturelle Kontexte denz für die Aula der Universität, die jedoch aufgrund ihrer Rätselhaftigkeit auf Ablehnung stießen. Klimt zog die Bilder daraufhin enttäuscht zurück und entwarf einen neuen, ,goldenen Stil', als dessen Höhepunkt sein wohl berühmtestes Werk Der Kuss aus dem Jahr 1908 gilt. Inwiefern die verschiedenen Künste offensichtlich Teil einer gemeinsa­ men ,Moderne' waren, die auf gleiche und ähnliche Entwicklungen reagier­ ten, wird in einer Aussage des Literaten Peter Altenberg deutlich, der die Verbindung zwischen Malerei und Literatur in Wien um 1900 auf den Punkt brachte: "Gustav Klimt, als erschauernder Maler bist Du zugleich ein mo­ derner Philosoph, ein ganz moderner Dichter!" (zit. n. Schorske 1982, 213) "Ver Sacrum"

Eine besondere Verbindung verschiedener Künste im Zeichen der Secession stellte auch das Zeitschriftenprojekt Ver Sacrum (,heiliger Frühling') dar. Das selbsternannte "Organ der Vereinigung bildender Künstler Öster­ reichs" - so der Untertitel im ersten Jahr - erschien von 1898 bis 1903. Aus literarischer Sicht interessant sind die Illustrationen, etwa zu einem Gedicht von Rilke, der Abdruck von Buchschmuck oder grafische Ergänzungen zu Lyrik in Form von Linienkompositionen (vgl. für Beispiele Bisanz-Prakken 2005a). Von den Literaten der Wiener Moderne engagierte sich insbeson­ dere Hermann Bahr für die Publikation. Er war Mitglied des literarischen Beirats und steuerte hin und wieder einen Text bei. Doch auch Hugo von Hofmannsthai zählte im ersten Jahrgang mit seinem Gedicht Weltgeheimnis zu den Autoren, ebenso Felix Dörmann 1899 mit seinem Poem Der

Abenteurer. Neben solchen künstlerischen Texten fanden auch literarische ,Gebrauchstexte' Einzug in die Zeitschrift. Peter Altenberg beispielsweise verfasste 1902 zu einer Ausstellung entsprechende Katalog-Texte, deren Kunstansprüche jedoch unverkennbar waren. So schreibt der Dichter bei­ spielsweise zum Gemälde Nach dem Regen im Walde von Gustaf Fjaestad: "Der Wald, siehe, hat sich angesoffen mit Feuchtigkeiten, ist dumpf und triefend geworden von Regentrinken! Die braungraue Walderde hat sich angeschlampt mit Schlammwasser und zwischen den dicken Zweigen dunstet der Dunst." (Ver Sacrum 1902, H. 2, S. 32) Bildende Kunst und Literatur wirkten in der Publikation demnach auf vielfältige Art und Weise zusammen. Architektur

Vor dem Hintergrund, dass "die Kunst dem modernen Menschen einen Zufluchtsort vor dem Druck des modernen Lebens bieten" (Schorske 1982, 204) sollte, ist der Bau des Gebäudes zu sehen, das eigens der Wiener Se­ cession als Ausstellungsstätte dienen sollte. Die Errichtung des Secessions­ gebäudes mit der bezeichnenden Inschrift "Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit" verantwortete Joseph Maria Olbrich, der ebenso wie der Se­ cessionist Josef Hoffmann ein Schüler des bedeutenden Architekten Otto Wagner war. Adolf Loos, ein weiterer prägender Architekt der Zeit, kritisier­ te hingegen vehement die Anhänger der Secession mit ihrem Hang zu Or­ namenten und dem umgreifenden Anspruch, selbst Dinge des Alltags zu Gegenständen der Kunst zu erklären (vgl. Kurdiovsky 2005a/b).

Musik

Im Bereich der Musik zählten Gustav Mahler und Arnold Schönberg zu den einflussreichsten Künstlern der Wiener Moderne. Mahler, dessen Kom-

1. Kulturelles Leben in Wien um 1900

positionen geprägt waren "von Ironie und Melancholie, nervöser Empfind­ samkeit und Todesvisionen" (Springer 2005a, 346), wurde 1897 zunächst Chefdirigent und dann - bis 1907 - Direktor der Wiener Hofoper. Schön­ berg wiederum, "einer der wesentlichen Neuerer der musikalischen Moder­ ne" (ebd., 352), irritierte mit seinen die Tonalität verabschiedenden Kompo­ sitionen (vgl. Schorske 1982, 327) das Wiener Publikum und begründete Jahre später die Zwölftonmusik. Wie eng die kulturellen Sphären im Wien der Jahrhundertwende ineinandergriffen, charakterisiert der Kulturhistoriker Carl Emil Schorske am Beispiel von Schön bergs frühen Kompositionen: "In ihren Wogen flüssigen Klanges und rhythmischen Strömens haben Schön­ bergs frühe Werke den echten Fin de siede-Charakter und vermitteln das gleiche Gefühl kosmischer Gestaltlosigkeit, das man in Klimts ,Philosophie' oder in Schnitzlers von namenlosen Regungen des Triebes bewegten Gestal­ ten findet." (ebd., 329) Bereits kurz nach dem Beginn der Bebauung der Ringstraße wurde die

Theater

Wiener Hofoper (die heutige Wiener Staatsoper) 1869 eröffnet. 1888 bezog auch das Wiener Hofburgtheater die neuen Räumlichkeiten - das Decken­ gemälde stammte im Übrigen unter anderem vom damals noch als Deko­ rationsmaler tätigen Gustav Klimt - an der prachtvollen Ringstraße. Dieses öffentliche Theater galt zu dieser Zeit als "berühmteste[] Sprechbühne im deutschsprachigen Raum" (Springer 2005c, 309) und ermöglichte dem häu­ fig ins Theater strömenden Wiener Publikum ein reichhaltiges Repertoire. Mit bedeutsamen privaten Häusern, wie dem Deutschen Volkstheater oder dem Theater in der Josefstadt, standen dem Theaterbetrieb weitere Bühnen zur Verfügung. Das berühmte Burgtheater bot nicht nur ein breites Angebot von klassischen und zeitgenössischen, auch internationalen Stücken, son­ dern ermöglichte beispielsweise auch Arthur Schnitzler aus dem Kreis der Jung-Wiener Autoren, sich in der Wiener Theaterwelt einen Namen zu ma­ chen. Er konnte schon früh eine Uraufführung an ,der Burg' platzieren: Im Jahr 1895 feierte sein Schauspiel Liebelei an dem angesehenen Haus Pre­ miere (vgl. Kap. V.5). Wien um 1900 galt nicht nur als Zeit der kulturellen Blüte, sondern au­ ßerdem als "maßgebliche[rl Ort des intellektuellen Aufbruchs" (Springer

Philosophie und Wissenschaft

2005b, 363; vgl. allgemein auch Mölk 1999). Dies kam nicht zuletzt in den Theorien des Physikers und Philosophen Ernst Mach (vgl. Kap. 1V.2) und der Entwicklung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud (vgl. Kap. 111.4) zum Ausdruck. Auf jeweils unterschiedliche Art und Weise stand bei ihnen das Ich und das Subjekt im Vordergrund: Die Konzentration auf das Innere des Menschen lag demnach in der Luft, wurde von Philosophie und Medizin, von Kunst und Literatur mit ihren jeweils eigenen Mitteln fokussiert oder zur Darstellung gebracht und somit zu einem zentralen Thema in den zahl­ reichen Ausprägungen der Wiener Moderne. Die offenkundige Virulenz gewisser thematischer Komplexe im Wien der Jahrhundertwende verweist auf die Bedeutung sozialer Orte, an denen die Protagonisten aus den Künsten, der Philosophie und den Wissenschaften zusammenfanden und ihre Ideen, Theorien und Gedanken miteinander aus-

Orte des Austauschs

23

24 111. Historische und kulturelle Kontexte tauschen konnten. Als wichtige soziale Institutionen können Salons und Kaffeehäuser gelten. Für die Wiener Moderne besonders relevant war der Salon der gastgebenden Journalistin Berta Zuckerkand I, an dem Literaten wie Arthur Schnitzler und Hermann Bahr ebenso hin und wieder teilnah­ men wie Gustav Klimt oder Gustav Mahler (vgl. Lorenz 2007, 28ff.). Zu­ ckerkandl protegierte die neuen Entwicklungen in den Künsten und kämpfte vehement gegen den Antisemitismus (vgl. Meysels 1984, Ackerl 1996). Ähnlich wie der Salon verknüpfte auch das Kaffeehaus Privatheit mit Öffent­ lichkeit: "Während sich der Salon durch die Schaffung einer Sphäre privater Öffentlichkeit auszeichnet, generiert das Kaffeehaus eher einen Raum öf­ fentlicher Privatheit./I (Bunzel 2000, 288) Kaffeehäuser

Tatsächlich spielte das Kaffeehaus eine wichtige Rolle im kulturellen Leben der Wiener Jahrhundertwende. Neben dem Umstand, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts seine Bedeutung stetig zunahm - um 1900 existierten schließlich etwa 600 Kaffeehäuser in Wien (vgl. Springer 2005d, 337) -, zeichneten mehrere Faktoren die Kaffeehauskultur aus und trugen zu seiner besonderen Stellung bei (vgl. Bunzel 2000 und Binczek 2013): eine grund­ sätzliche gesellige Atmosphäre, die Verfügbarkeit von zahlreichen Zeitun­ gen und Zeitschriften, die Möglichkeit, gegen den Preis der einen oder an­ deren Tasse Kaffee diese Druckerzeugnisse zu rezipieren und mit anderen Besuchern darüber zu diskutieren. Das Kaffeehaus war demnach Informati­ onszentrum und Treffpunkt gleichermaßen.

Cafe Griensteidl

Besonders beliebt bei den Literaten der Wiener Moderne war das Cafe Griensteidl, das bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für verschiedene Zirkel zunehmend als gesellschaftliche Begegnungsstätte an Bedeutung ge­ wonnen hatte und schließlich in den 1890er Jahren zum präferierten Treff­ punkt von Schriftstellern wurde. Dort konnten sie sich über ihre Texte aus­ tauschen, aber auch mit Journalisten und Verlegern in Kontakt treten; das Kaffeehaus diente somit auch als ,Marktplatz' für den Literaturmarkt (vgl. Rössner 1999, 17 f.). Aufgrund des teilweise befremdlichen Auftretens der Autoren sprach man schon bald vom ,Cafe Größenwahn'. 1897 musste das Griensteidl schließen, weil das entsprechende Gebäude abgerissen wurde. Das Cafe Central war ein weiteres wichtiges literarisches Kaffeehaus. Peter Altenberg, der zwar als Autor der Wiener Moderne gilt, aber eher lose Kontakte zum engen Kreis der als ,Jung-Wien' geltenden Schriftsteller un­ terhielt, hielt sich dort besonders gerne auf und gab als Adresse gleich die Anschrift des Cafes in der Herrengasse in Wien an (vgl. GreveNolke 1974, 255). Obwohl offensichtlich viele Kulturschaffende die Atmosphäre eines Kaf­ feehauses zu schätzen wussten, regte diese spezifische Form der Gesellig­ keit auch zu Widerspruch an. Der Schriftsteller und Journalist Edmund Wengraf beispielsweise polemisierte in einem Text mit dem Titel Kaffeehaus

und Literatur (1891) heftig gegen diese Einrichtungen und sein Publikum. Der typische Kaffeehausbesucher hätte für die Teilhabe am kulturellen Le­ ben keine Zeit: "Hingegen fehlt es ihm durchaus nicht an Zeit, wenn es gilt, täglich zwei bis drei Stunden im Kaffeehause zuzubringen, dort zu gaffen,

1. Kulturelles Leben in Wien um 1900

zu schwatzen, zu gähnen [ . . ]." "Das Kaffeehaus", so seine These, "bedeu­ tet den geistigen Ruin der Wiener Gesellschaft. " (Wengraf 1981, 639) Als ein weiterer bissiger Kritiker in Wien um 1900 fungierte Karl Kraus, .

Kar! Kraus als Kritiker

der jedoch im Gegensatz zu Wengraf nicht das Kaffeehaus, sondern insbesondere die Literaten, die sich im Cafe Griensteidl trafen, ins V isier nahm. Zwar stand Kraus mit einigen der aufstrebenden Autoren in Kontakt, empfand gegenüber Hermann Bahr, der sich gerne als Sprachrohr der jungen Wiener Schriftsteller gerierte, jedoch stets eine ausgeprägte Antipathie. Kraus, der auch gerne gegen Klimt und Zuckerkand I wetterte, etablierte einen eigenen Kreis im Cafe Central, sodass zwischenzeitlich eine regelrechte Rivalität mit den beiden bedeutsamen Kaffeehäusern assoziiert wurde: "Im Cafe Central die Anhänger des Naturalismus, im Griensteidl die Exponenten von Ästhetizismus und Symbolismus. " (Bunzel 2000, 293) In satirischen Texten wie Zur Überwindung des Hermann Bahr (1893) - eine Anspielung auf Bahrs Text Oie Überwindung des Naturalismus (vgl. Kap. lV.l) - oder Oie demolirte Literatur (1896) kritisierte er die virulente ästhetizistische Grundhaltung (vgl. Lorenz 2007, 169-184). Innerhalb der Literaturwissenschaft wird diskutiert, ob im Kontext des Kaffeehauses als I iterarisch-sozialem Ort von einer spezifischen Gattung der Kaffeehausliteratur gesprochen werden kann (vgl. Rössner 1999; Porten­ kirchner 1999; Bunzel 2000; Binczek 2013). Zwar verfassten Autoren wie Peter Altenberg und Karl Kraus des Öfteren Texte im Kaffeehaus und auch Arthur Schnitzler vollendete dort (vgl. Nickl/Schnitzler 1964, 25) seine frü­ he Erzählung Sterben (vgl. Kap. V.3). Dennoch erscheint es schwierig, gat­ tungskonstituierende Elemente zu benennen, die spezifisch für eine Form von Kaffeehausliteratur Geltung beanspruchen können. So war das Kaffee­ haus zumindest auch ein Ort, an dem Literatur entstehen konnte, und es war außerdem ein Ort, der sich in den einen oder anderen Text eingeschrie­ ben hat (vgl. Schmidt-Dengler 1999), wie unter anderem dieser kurze Text des , Kaffeehausliteraten' Peter Altenberg verdeutlicht: "Du hast Sorgen, sei es diese, sei es jene - - - ins Kaffeehaus! Sie kann, aus irgendeinem, wenn auch noch so plausiblen Grunde, nicht zu dir kommen - - - ins Kaffeehaus! Du hast zerrissene Stiefel - - - Kaffeehaus! Du hast 400 Kronen Gehalt und gibst 500 aus - - - Kaffeehaus! Du bist korrekt sparsam und gönnst dir nichts - - - Kaffeehaus! Du bist Beamter und wärest gern Arzt geworden - - - Kaffeehaus! Du findest keine, die dir paßt - - - Kaffeehaus! Du stehst innerlich vor dem Selbstmord - - - Kaffeehaus! Du haßt und verachtest die Menschen und kannst sie dennoch nicht mis­ sen - - - Kaffeehaus! Man kreditiert dir nirgends mehr - - - Kaffeehaus!" (Altenberg 1918, 186)

Kaffeehausliteratur?

25

26

111. Historische und kulturelle Kontexte

2. Zur Entstehung von Jung-Wien Kaffeehaus-Literaten

"Das junge Oesterreich. Im Griensteidl." (Schnitzler TB, 26.2.1891) Was Arthur Schnitzler im Februar 1891 so knapp in seinem Tagebuch festhält, ist bezeichnend für das Selbstverständnis der jungen Wiener Schriftstellerge­ neration (vgl. zum Folgenden auch Orth 2014a). Die Formulierung zeugt ei­ nerseits vom Bewusstsein eines sich formierenden Verbundes von ,jungen' Schriftstellern und andererseits von dem Ort, an dem man vornehmlich zu­ sammenfand: dem Kaffeehaus (vgl. Kap. 111.1). Auch nach außen wurde die Gemeinschaft zunehmend als solche wahrgenommen und hielt schließlich als ,Jung-Wien' Einzug in die Literaturgeschichte. Die meisten von ihnen hatten sich bis zum Jahr 1890 kennengelernt, sodass die frühen 90er Jahre des 19. Jahrhunderts als Beginn der Wiener Moderne gelten können. Durch ihre Texte sollten sie nicht nur die Literatur ihrer Zeit, sondern auch die Lite­ ratur der Moderne insgesamt entscheidend prägen.

Loser Verbund statt

"Ich weiß nichts von einer Wiener Schule", erinnerte sich später Richard

programmatische

Beer-Hofmann, "ich weiß nur von einigen Menschen, die ich gern hatte,

Gruppe

die mich interessiert haben, und so hat mich auch das interessiert, was sie produziert haben. Von einer ,Schule' war nicht die Rede." (zit. n. Schnitzler 1962, 131f.) Er bringt damit zum Ausdruck, dass im Zusammenhang mit Jung-Wien von einer dezidierten Programmatik oder gar konkreten Organi­ sationsformen keine Rede sein kann. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit basierte auf ähnlichen Interessen der Autoren und auf einem stetigen Aus­ tausch über das Leben, die Kunst im Allgemeinen und die Literatur im Be­ sonderen. Neben dem Kaffeehaus fungierten auch die Wohnungen der Schriftsteller als Treffpunkte für die Gespräche, häufig unternahmen sie so­ gar gemeinsame Ausflüge. Ebenfalls wichtig als Ort der Zusammenkunft waren die redaktionellen Räume der Zeitschrift An der schönen blauen 00-

nau, in der hin und wieder Werke der aufstrebenden Autoren publiziert wurden. ,Jung-Wien' war also eher ein loser Verbund junger Schriftsteller mit gemeinsamen Vorstellungen darüber, was Literatur jenseits des Realis­ mus und Naturalismus zu leisten imstande sein könnte, als eine einge­ schworene ,Gruppe',die sich sklavisch an literaturprogrammatischen Kon­ zepten orientierte. Allerdings stand man auch in Konkurrenz zueinander, wodurch es immer wieder zu Spannungen zwischen den einzelnen Mitglie­ dern kam. Distanzierte Freund­

Als beispielhaft für die mitunter schwierigen Beziehungen innerhalb der

schaft: Schnitzler

Gruppe kann das Verhältnis zwischen den beiden wohl berühmtesten

und Hofmannsthai

Schriftstellern der Wiener Moderne gelten: Hugo von Hofmannsthai und Arthur Schnitzler lernten sich 1890 im Kaffeehaus kennen und es entstand dabei eine zeit ihres Lebens ambivalente Beziehung. Schnitzler zeigte sich nach den ersten Eindrücken von dem zwölf Jahre jüngeren Dichter äußerst angetan: "Bedeutendes Talent, ein 17j. Junge, Loris (v. Hofmannsthai). Wis­ sen, Klarheit und, wie es scheint, auch echte Künstlerschaft, es ist unerhört in dem Alter". (Schnitzler TB, 29.3.1891) Schon nach kurzer Zeit entwickel­ te sich ein andauernder Briefverkehr. Ein zunehmend vertrauter Tonfall

2. Zur Entstehung von Jung-Wien

zeugt von der gegenseitigen Wertschätzung, auch wenn das "Sie" als Anre­ deform stets die Distanz zwischen ihnen wahrte. Ein weiterer Tagebuchein­ trag Schnitzlers gibt Auskunft über die Art ihrer Beziehung: "Gespräch über uns. Charakteristik unsres Verkehrs: das rein intellectuelle, nie über persön­ liches." (Schnitzler T B, 23.10.1892) Aus den Erinnerungen von Schnitzlers damaliger Ehefrau Olga geht jedoch hervor, dass er gegenüber Hofmanns­ thai "eine tiefere Bindung, die sich fast in kleinen Anfällen von Eifersucht bemerkbar macht" (Schnitzler 1962, 51), verspürte. Entsprechende Tagebucheinträge verdeutlichen unbestreitbar die gele­ gentliche Anspannung in den zwischenmenschlichen Beziehungen und zeugen von der besonderen Gruppendynamik innerhalb Jung-Wiens. So empfindet Schnitzler, dass seine Beziehung zu Hofmannsthai durch dessen gutes Verhältnis zu Richard Beer-Hofmann einerseits und Hermann Bahr andererseits in Mitleidenschaft gezogen wird. Ein beispielhafter Tagebuch­ eintrag lautet: "Kann mich der Empfindung nicht verschließen, dass etwas zwischen uns getreten ist, und es ist mir, als wäre seine Hochschätzung, ge­ wiss aber seine Sympathie für mich gesunken.- Ich empfinde es unange­ nehm, daß er mit Richard [Beer-Hofmann] intimer ist als mit mir." (Schnitz­ ler T B, 28.8.1894) Schnitzler nimmt sogar eine regelrechte Belastung des Verhältnisses zu Hofmannsthai wahr: "Hugo ist dem Bahr zu nah; das läßt ihn offenbar mir gegenüber nicht wirklich und stetig warm werden; und trotz beiderseitigem gutem und bestem Willen, ist kein tieferes Verhältnis zwischen uns, wie es sein könnte und vielleicht müßte." (ebd., 21.12.1895) Haupt-Gegenstände der andauernden Kommunikation aller Jung-Wiener waren und blieben stets die literarischen Erzeugnisse: "Es scheint, daß kein Werk der Öffentlichkeit übergeben wurde, bevor es nicht im Freundeskreis vorgelesen, diskutiert und kritisiert war." (Rieckmann 1985, 95) Bei diesen Werk-Diskussionen bildete sich auch der gemeinsame Wunsch heraus, literarische Texte zu verfassen, die dem Anspruch genügen sollten, ,modern' zu sein. Hermann Bahr fasst diese Haltung in seinem literaturkritischen Text

Das junge Österreich (1893) zusammen: "Was will es? Die Jünglinge wissen es nicht zu sagen. Sie haben keine Formel. Sie haben kein Programm. Sie haben keine Aesthetik. Sie wiederholen nur immer, dass sie modern sein wollen." (Bahr KS IV2, 61) Moderne Literatur, das bedeutete für die JungWiener insbesondere der literarische Blick nach innen: "Wir haben kein anderes Gesetz als die Wahrheit, wie jeder sie empfindet" (Bahr KS 112, 7) formuliert Bahr in seinem Manifest Oie Moderne (vgl. KapitellV.l). Eine weitere Gemeinsamkeit der Jung-Wiener, die das Zusammengehörigkeitsgefühl beförderte, bestand in der Abgrenzung zur Literaturbewegung des Naturalismus. Die Naturalisten, die sich insbesondere in Berlin formierten, sahen sich ebenfalls als Protagonisten einer literarischen Moderne, hatten jedoch eine andere Vorstellung davon, was ,moderne' Texte auszuzeichnen hätte (vgl. Kap. 1.2). Sie orientierten sich an einer objektiven, möglichst detailgetreu abbildbaren Wirklichkeit, die literarisch wiedergegeben werden sollte, wie beispielsweise in den Dramen von Arno Holz, Johannes Schlaf und Gerhart Hauptmann. In diesem Zusammenhang ist auch die Selbst-Stilisie-

Moderne Literatur als Gemeinsamkeit

27

28 111. Historische und kulturelle Kontexte rung als ,junges Österreich' von Bedeutung; ein Terminus, der als Gegenbe­ griff zur geläufigen Wendung vom ,jungen' oder ,jüngsten' Deutschland als Bezeichnung für die deutschen Naturalisten etabliert wurde. Da die meisten Schriftsteller des ,jungen Österreich' in Wien lebten, entstand parallel dazu der Begriff Jung-Wien' (vgl. Rieckmann 1985,49). Die Zeitschrift

Von literaturhistorischer Bedeutung ist in diesem Kontext die Gründung

,Moderne Dichtung'

der Zeitschrift Moderne Dichtung (vgl. Kap. 111.3), die zudem als Sinnbild für die Ambivalenz innerhalb der österreichischen Literatur um 1890 dienen kann. Gegründet von Eduard Michael Kafka, erblickte die erste Ausgabe am 1. Januar 1890 das Licht der Welt und diente insbesondere nach außen als Signal für einen Aufbruch in der österreichischen Literatur. Allerdings sollte die Zeitschrift zunächst vor allem naturalistisch geprägten Texten ein Forum bieten, denn Kafka sah sich in erster Linie dem Naturalismus verpflichtet. Dennoch erschienen im Verlauf des Jahres - bereits Ende 1890 wurde die letzte Ausgabe publiziert - zunehmend Texte der zu Jung-Wien zählenden Autoren, zu denen im Übrigen neben den immer wieder genannten Haupt­ vertretern wie Schnitzler, Hofmannsthai, Beer-Hofmann, Saiten, Andrian, Altenberg etc. deutlich mehr Schriftsteller zählten (vgl. für eine Aufzählung bspw. Wunberg 1976, XXXIX). Die Zeitschrift darf also nicht als explizite Jung-Wiener Publikation gelten, bot den unter diesem Begriff subsumierten Autoren aber immer wieder die Möglichkeit, erste Arbeiten zu veröffentli­ chen. Nach der Einstellung des Organs im selben Jahr, lebte die Publikation ab April 1891 für einige Monate unter dem Namen Moderne Rundschau noch einmal auf. Wurde die Moderne Dichtung noch in Brünn herausgegeben, fungierte für die Moderne Rundschau Wien als Standort und bot den Jung­ Wienern ein umfassendes Forum. Doch auch diese Zeitschrift wurde bereits Ende 1891 wieder eingestellt.

Ibsen in Wien

Die Gründer der Modernen Rundschau, neben Eduard Michael Kafka zählten dazu auch Julius Kulka und Jacques Joachim, waren auch in anderer Hinsicht aktiv: Sie initiierten ein Festbankett zu Ehren des hoch angesehe­ nen norwegischen Schriftstellers Henrik Ibsen, der im Frühjahr 1891 im Rahmen der Aufführung seines Dramas Die Kronprätendenten am Burg­ theater in Wien weilte. Für die Konstitution einer in die Gesellschaft stre­ benden Gruppe moderner Literaten war die Berühmtheit Ibsens eine will­ kommene Gelegenheit, um sich im Rahmen einer Veranstaltung, an der ne­ ben Schriftstellern auch Professoren, Politiker und Schauspieler teilnahmen, ins öffentliche Bewusstsein einzuschreiben.

Verein ,Freie Bühne'

Motiviert durch dieses Ereignis folgte im Juli 1891 gar die Gründung eines "Vereins für moderne Literatur" mit dem Titel Freie Bühne, der das literari­ sche Leben Wiens - in Anlehnung an das gleichnamige Berliner Vorbild mit Vorträgen, Veranstaltungen, Publikationen und öffentlichen Einrichtun­ gen beleben wollte. Ibsen wurde als Ehrenmitglied geführt, was den Zusam­ menhang zur Ibsen-Veranstaltung verdeutlicht, die den jungen Literaten genug Selbstbewusstsein verlieh, um mit einem solchen Verein an die Öffentlichkeit zu treten. Ähnlich wie bei der Gründung der Modernen Dich-

2. Zur Entstehung von Jung-Wien

tung überwog zunächst die naturalistische Ausrichtung, die sich schlussend­ lich jedoch nicht durchsetzte. Friedrich Michael Fels selbst, der die Grün­ dung des Vereins angeregt hatte, relativierte die naturalistische Ausrichtung im Rahmen eines Vortrags im Oktober 1891 mit dem programmatischen Ti­ tel Oie Moderne, in dem er ein extrem erweitertes Verständnis des Begriffes Naturalismus aufwies, das mit der eigentlichen Stoßrichtung dieser Strö­ mung nicht mehr allzu viel Gemeinsamkeit hatte. Für Fels ist "das entschei­ dende Kennzeichen der Moderne, daß sie keine einseitige Einzelrichtung ist, daß in ihr die verschiedensten und entgegengesetztesten Anschauungen und Bestrebungen P latz finden" (Fels 1976, 281 f.). "Naturalist", so Fels wei­ ter, "ist schließlich jeder" und zwar explizit auch der, "wer sich in die In­ nenwelt versenkt und mit ängstlichem Bemühen jeder kleinsten Nüanzirung [siel] seines Seelenlebens nachspürt" (ebd., 282). Einem solchen - wie man ihn nennen könnte - ,Naturalismus der Seele' verschrieben sich dann auch die Literaten, die in den folgenden Jahrzehnten die Wiener Literatur prägen sollten. Der Verein Freie Bühne jedoch scheiterte ebenso wie die Zeitschrif­ ten bereits nach wenigen Monaten und wurde in einen "Verein für moder­ nes Leben" umgewandelt. Das Scheitern der diversen Gründungen - von der Modernen Dichtung über die Moderne Rundschau bis zum Verein Freie Bühne - kann im Nach­ hinein betrachtet als symptomatisch für den lediglich losen Verbund gelten, der Jung-Wien eigentlich war und der eine streng programmatische Gruppe lediglich suggerierte. Neben diesen Versuchen im Umfeld von Jung-Wien, im Zuge öffentlichkeitswirksamer Gründungen von Zeitschriften und Vereinen, eine ,moderne' österreichische Literatur nicht nur entstehen zu lassen, sondern auch bekannt zu machen, gilt es insbesondere, die Rolle Hermann Bahrs für Jung-Wien im Besonderen und die Wiener Moderne im Allgemeinen zu betonen. Bahr war zunächst - nach Aufenthalten unter anderem in Paris, wo er maßgeblich von der französischen zeitgenössischen Literatur beeinflusst wurde - für einige Zeit in Berlin im Dunstkreise der Naturalisten als Redakteur und Kritiker tätig gewesen. Schon bald jedoch kam es aufgrund seines spezifischen Verständnisses von ,moderner' Literatur zu Querelen und zu einer Abwendung seinerseits von der naturalistischen Literaturbewegung, die ihn später zum Verfassen von Oie Überwindung des Naturalismus führte (vgl. Kap. 1V.2). 1891 kehrte er nach Wien zurück und stieß dort auf den Kreis der Jung-Wiener Literaten, dem er sich alsbald anschloss. Bahr war auch als Autor literarischer Werke aktiv. Bereits sein Roman Oie gute Schule aus dem Jahr 1890 hatte in vielerlei Hinsicht die von ihm pro­ pagierte Akzentverlagerung zur Subjektivität umgesetzt (vgl. Kap. lV.l, IV.4 sowie Rieckmann 1985, 31-35). Insbesondere jedoch seine Arbeit als Lite­ raturkritiker verhalf den Jung-Wienern zu einer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, er kristallisierte sich zunehmend als Sprachrohr der Wiener Literaten heraus und erfüllte somit eine wichtige Rolle als Kommunikator und Literaturpolitiker für die sich formierende Wiener Moderne.

Hermann Bahr als Propagandist

29

30

111. Historische und kulturelle Kontexte

3. Gruppenbildung und Literaturpolitik Beinahe jede erfolgreiche Gruppe, Bewegung oder Strömung entwickelt eine Erzählung vom Anfang - einen Gründungsmythos, der selten ganz falsch und fast nie ganz wahr ist. Im Falle der jung-Wiener ist diese Erzäh­ lung sowohl von Hermann Bahr geschrieben als auch mit ihm als Hauptfi­

ihm mitbegründeten Wiener Wochenschrift Oie Zeit er sich im Artikel Zehn Jahre (1899) gleichsam selbst zum Grün­

gur besetzt. In der von gratuliert

dungs-jubiläum. ,,Es ist jetzt gerade zehn jahre her, daß ein junger Mann, wunderlich aufgeregten und heftigen Wesens, durch die Straßen von Paris lief und sich nicht fassen, nicht beschwichtigen konnte." Der Artikel ent­ wirft in der Folge die Narration eines aus der "alten Heimat vertrieben[en]", der suchend und strebend nach dem "Höchsten" plötzlich erleuchtet wird: "jetzt wußte er erst", so schreibt Bahr in religiös-pathetischem Ton über Bahr, "was sein unstetes Verlangen gewesen war, jetzt fing er sich erst selbst zu verstehen an. Und da begab es sich [ ...], daß er eines Tages von einem unbekannten Menschen [ ...] in einem stürmischen und aggressiven Brief aufgefordert wurde, sie sollten zusammen eine Literatur in Österreich be­ gründen." (Bahr KS VII, 130f.) Mythos vom Anfang

Bahrs

Erzählung vom Anfang eignet nicht nur jener Gestus der Verinnerli-

chung, der sein Konzept einer psychologischen Schreibweise, für die er zu Beginn der 1890er jahre in Essays wie

Oie Überwindung des Naturalismus

programmatisch eingetreten war, umsetzt; es zeigt sich hier, wie die P ro­ grammatik der , Seelenschau' Eingang in Bahrs Essayistik und Literaturkritik fand. Darüber hinaus geht sie auch äußerst kreativ mit der Wirklichkeit um: Zwar erreichte Bahr in Frankreich ein Angebot des Redakteurs Eduard Michael Kafka, an der

Modernen Dichtung (ab 1891: Moderne Rundschau)

mitzuarbeiten, und diese Zeitschrift gab sich auch revolutionär (vgl. Kap. 111.2): Ziel sei es, so die Herausgeber im jahre 1891, "das gesamte Leben der Zeit in seinen Zusammenhängen" zu erfassen und ein "getreues Bild [ ...] der gewaltigen Umwälzung [zu entrollen], welche der moderne Geist in unserer ganzen Anschauungswelt hervorgerufen" (Moderne Rundschau 1891, H. 1, S. 2 f.). Von dem Vorhaben eine "neue[] Literatur in unserem Lande" (Bahr KS VII, 131) - also eine spezifisch österreichische Moderne zu begründen, konnte aber keine Rede sein. Dem Zeitungsprojekt ging es nicht um eine Konfrontation mit der Berliner Moderne, sondern in zweierlei Hinsicht um den Anschluss der Wiener Autoren an die junge deutsche Lite­ raturszene. Zum einen galt es, dem Naturalismus in Österreich zum Durch­ bruch zu verhelfen, zum anderen die jungen, mit dem deutschen Naturalis­ mus sympathisierenden Autoren Wiens in Deutschland populär zu machen (vgl. Sprengel/Streim 1998, 82). jahrzehnte später rekapitulierte Bahr in seinem Tagebuch die Ereignisse um 1890. Im Zuge der Gründung der

Modernen Dichtung stand er damals

mit Eduard Michael Kafka in Kontakt. In besagtem Angebot hatte dieser ihn "dringend eingeladen, das , junge Wien' zu , gründen', das Material sei schon vorhanden: ein junger Arzt, Dr. Artur [sic!] Schnitzler, der durch die

3. Gruppenbildung und Literaturpolitik

Pracht seiner Krawatten schon stadtberühmte Dr. Richard Beer-Hofmann und ein Gymnasiast, der unter dem Namen Loris schrieb: Hugo v. Hof­ mannsthaI. Ich sah sie mir an,wagte die ,Gründung' " (Bahr 1925,15). Die­ se und andere Schriftsteller hatten sich allerdings bereits vor Bahrs Ankunft in Wien kennengelernt (vgl. Kap. IIl.n seine Stilisierung zum ,Gruppen­ gründer' kann demnach als Mythos bezeichnet werden (vgl. Sprengel/ Streim 1998, 81). Das Verdienst von Bahr war es, die von ihm vorgefundenen intellektuell­ geistigen Rahmenbedingungen zur publizistischen Begründung einer Wie­ ner Moderne optimal auszunutzen. Rhetorisch versiert schuf er Synthesen zwischen seinem bereits vor der Übersiedlung nach Wien grundgelegten Programm der Moderne und den Texten der Jung-Wiener (vgl. Kap. lV.l) und setzte zudem seine Fähigkeiten als Netzwerker ein,um für die notwen­ dige publizistische Resonanz zu sorgen. Ein nachhaltiges Interesse für die junge Wiener Literatur beförderte er etwa durch die Herausgabe diverser Zeitschriften: Die Moderne Dichtung war die Initialzündung. Hier publi­ zierte Bahr seine frühen programmatischen Entwürfe einer modernen Litera­ tur (Die Moderne, Die neue Psychologie oder Die Alten und die Jungen) und ermöglichte jungen Autoren wie Hugo von Hofmannsthai die Publika­ tion einiger Texte. Programm und Praxis wurden so miteinander verknüpft und die Voraussetzungen für die Wahrnehmung einer modernen Literatur überhaupt erst geschaffen. Die Strategie, der neuen Literatur Publikations­ möglichkeiten zu schaffen, führte zu einer Vielzahl von Zeitungs- und Zeit­ schriftengründungen (vgl. Lorenz 2007,106-108),die wichtigste dieser Zei­ tungen war wohl die von Bahr im Jahre 1894 mitbegründete, wöchentlich erscheinende Zeit, über die er, so empfanden es Autoren wie Peter Alten­ berg, einen Einfluss nahm, "der nicht hoch genug eingeschätzt werden konnte" (Lunzer/Lunzer-Talos 2004,235). Bahr selbst arbeitete ab 1893 unter anderem für die Deutsche Zeitung in Wien - eine etablierte Tageszeitung, die schon seit 1871 existierte. Auf die­ se Weise sollte die junge Literatur auch im bürgerlich-konservativen Lager verankert werden. Darüber hinaus nutzte Bahr seine alten Verlags- und Zeitungskontakte nach Berlin, um der Jung-Wiener Literatur auch in Deutschland zum

Durchbruch zu verhelfen.

Der umtriebige

Kritiker

schrieb dabei nicht nur über die Autoren und machte sie einer breiteren deutschen Öffentlichkeit bekannt, sondern empfahl überdies ihre Texte zum Druck. Im Falle von Leopold von Andrians Garten der Erkenntnis (vgl. Kap. V.2) ließ der ehemalige Redakteur der Freien Bühne (S. Fischer Verlag) seine Kontakte zu Samuel Fischer spielen: "Lieber Fischer! Gleichzeitig wird an Sie eine Novelle ,Der Garten der Erkenntnis' von Leopold Andrian gesendet, das beste Werk nach meinem Urteile, was bisher die europä­ ische Moderne hervorgebracht hat, unsäglich tief und schön." (zit. n. de Mendelssohn 1970, 210) Es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit Bahrs so­ wie der ,linanzhilfe des Autors" (Lunzer/Lunzer-Talos 2004,225), um den risikoscheuen Verleger zu überzeugen, die Erzählung zu drucken. Die Pu­ blikation bei S. Fischer entfaltete indes für Andrian und andere österreichi-

Die Literaturpolitik Hermann Bahrs

31

32 111. Historische und kulturelle Kontexte sche Autoren eine starke Resonanzkraft und brachte damit die notwendige Aufmerksamkeit. Die publizistische

Betrachtet man die publizistischen Arbeiten Bahrs inhaltlich, so lassen

Etablierung

sich bei der Positionierung Jung-Wiens zwei markante Abgrenzungsparadig­

Jung-Wiens

men beziehungsweise Profilierungsstrategien erkennen: alt gegen jung und Berlin gegen Wien. Bahrs Positionierungsbestrebungen werden bereits im Ar­

tikel Oie Alten und die Jungen (1890) deutlich, in dem er eine plakative Ge­ genüberstellung von ,Erneuerern' und , Besitzstandswahrern' vornimmt. Auch wenn Bahrs Ausführungen sich nicht explizit auf die Verhältnisse in Österreich beziehen, so bilden sie die dortige Konstellation im literarischen Feld um 1890 strukturell präzise ab. Der Kampf , alt' gegen ,jung' wurde zwi­ schen den Vertretern des bürgerlichen (poetischen) Realismus und den Modernisierern ausgefochten. Strategisch geschickt inszeniert Bahr gemäß dieser Frontstellung die Jungen als Opfer von Anfeindungen durch die etab­ lierten Schriftsteller: "Dieses wird den Jungen vorgeworfen [ ...], daß sie, un­ ehrerbietig gegen die Tradition, bilderstürmerisch im Pantheon der Künste, nihilistisch wie Barbaren, keinem anderen Gesetz als nur ihrem Größen­ wahn folgen." (Bahr KS 112(10) Im Folgenden schlägt Bahr zurück: ,,[D]ieser bürgerliche Idealismus der Epigonen", genannt sind Schriftsteller wie Paul Heyse, Gustav Freytag, oder Emanuel Geibel, sei "so entsetzlich langweilig", so "namenlos weit weg von uns ist das alles", so "gotisch lange her [ ...], seit all diese Empfindungen verstorben sind, und alte atavistische Instinkte muß ich erst in mir erwecken, um mich auf [Paul Heyse] zurückzukonstruieren." (ebd., 14) Bemängelt wird demnach die fehlende Lebensnähe der bürgerli­ chen Literatur, die sich vor allem in der unzeitgemäßen Darstellung mensch­ licher Empfindungen zeige. Der Langeweile des bürgerlichen Autors stehen junge Schriftsteller entgegen, die Bahr als "wirbelstürmisch" und genialisch bezeichnet, deren ästhetisches Gravitationszentrum, so postuliert Bahr mit kunstreligiösem Pathos, die Abbildung des Inneren bildet: "So offenbare dann jeder, was in seiner Seele geschieht, verkünde die Welt, welche er er­ lebt hat, beichte sich aus redlich erforschtem Gewissen. [ ...] Das ist [ ...] die einzige Theorie der Kunst, die nicht ganz albern ist." (ebd., 15 f.) Loris

Mit der Fokussierung auf das Innen hatte Bahr gleichzeitig sein Konzept der modernen Literatur antinaturalistisch grundiert - und damit die Voraus­ setzungen geschaffen, der Berliner Moderne eine Wiener Moderne entge­ genzustellen. Es fehlten nur noch die passenden Dichter, die diese Moderne in der Öffentlichkeit verkörpern könnten. Mit dem Dichter Loris (Hugo von Hofmannsthai) schien ein passender Protagonist gefunden zu sein. Ihn prä­ sentierte und inszenierte Bahr im Jahre 1892, strategisch geschickt wählte er hierfür die Freie Bühne, Organ des Berliner Naturalismus. Auch im Artikel Loris greift der Publizist auf das Mittel der persönlichen Erzählung zurück: "Bahrs Ankunft in Wien und seine [ ...] Annäherung an die Stadt werden darin mit der ,Entdeckung' eines neuen Dichters parallelisiert." (Sprengel/Streim 1998, 91) Damit war die Keimzelle der , Bewegung' etab­ liert - der Programmatiker Bahr hatte vermeintlich einen idealen Dichter gefunden. Wie geschickt Bahr zu Werke ging, zeigt sich daran, dass er

3. Gruppenbildung und Literaturpolitik

Schlüsselbegriffe seiner früheren Essays wörtlich aufnimmt. Die in Die neue

Psychologie geäußerte Forderung nach einer "neue[n] Methode" (Bahr KS 112, 88; vgl. Kap. 1V.1) wird hier genauso auf Hofmannsthai übertragen wie die Schlagworte der von Bahr proklamierten Wende nach ,Innen': ,Seele, Psychologie' und ,Nerven'. Auch der Verweis auf Paul Bourget, der bereits im Essay Die Überwindung des Naturalismus Pate für eine post-naturalisti­ sche Ästhetik stand, taucht in Loris wieder auf. Sind die markanten Schlüs­ selbegriffe und Traditionslinien der neuen Moderne damit genannt, so tritt der Literaturpolitiker Bahr am Ende des Textes offensiv aus der Deckung: Auf gleichsam gegnerischem Terrain kündigt er eine ,zweite' Moderne an und erklärt damit die erste Moderne, den Naturalismus, für veraltet: "Ich werde einen zuversichtlichen Instinct nicht los, dass mit ihm die zweite Periode der Moderne beginnt, die das Experimentiren überwinden und uns, an denen sich die erste entwickelt hat, ihrerseits nun als die ,Alten' behan­ deln wird." (Bahr KS IV2, 104) Diese Moderne wird in Österreich verortet: "Wir haben diesen Schlag in Oesterreich, wenn er sich freilich meist geflis­ sentlich versteckt." (ebd., 100) Ein Jahr später hatte Bahr deren Verstecke in Wien offensichtlich aufgespürt. Der Artikel Das junge Österreich, veröffentlicht in der Deutschen Zei-

tung (Wien), stellt der naturalistischen Bewegung des jungen Deutschland mit Zentrum Berlin, das Konzept des jungen Österreich mit Hauptsitz Wien entgegen. Bahr verfolgt also ähnliche Positionierungsabsichten wie in Loris, wendet sich diesmal aber nach innen, also an die Akteure des österreichischen Literaturmarkts: Interessant ist dabei die Kontur, die Bahr dem jungen Österreich verleiht. Nicht zu übersehen ist, dass Bahr im Unterschied zum Artikel Die Alten und die Jungen mit der älteren Schriftstellergeneration weniger hart ins Gericht geht, den revolutionären Anspruch der Jungen zurückfährt und stattdessen ihre Anschlussfähigkeit an die literarische Tradition Österreichs betont: "Das ,junge Österreich' ist nicht revolutionär." (Bahr KS IV2, 60) Es schließe vielmehr an das "Vaterländische" an: "Sie lieben [... ] nicht bloss wienerische Stoffe, sondern die wienerischen Formen, jene weiche, gerne etwas lässige und bequeme Weise, wie man hier ungebunden denkt und redet." (ebd., 61) Die Wiener Moderne wird hier kurzerhand zur Volkspoesie erklärt. Der Chef-Stratege Jung-Wiens betrieb also eine Doppelstrategie: Die Ab­ grenzung nach außen einerseits und die Integration nach innen anderer­ seits. Beides sorgte dafür, dass die jungen Wiener Schriftsteller als Gruppe sichtbar wurden. Deutlich erkennbar ist das Bestreben, dem Berliner Natu­ ralismus, der den radikalen Bruch mit den Literaturtraditionen der Vorgän­ gergeneration betonte, ei ne spezifisch ,wienerische Moderne' mit Traditi­ onsverständnis entgegenzusetzen. Allerdings gab es den von Bahr beschrie­ benen Schulterschluss zwischen Tradition und Moderne nur in der Theorie - und war von den Schriftstellern selbst mehrheitlich auch überhaupt nicht gewollt; stattdessen zeigt ein Blick auf das geistig-kulturelle Klima Wiens einen tiefen Riss, der sich nicht zuletzt in einer Reihe von Kunst-Skandalen abbildet.

Das junge Österreich

33

34 111. Historische und kulturelle Kontexte Wiener

Neben dem konservativ-bürgerlichen Wien gab es auch das andere, libe-

Skandalliteratur

rale und tolerante Wien. Diese Widersprüchlichkeit schlug sich in einer Re­ zeption der Texte nieder, die vielfach von extremen Gegensätzen geprägt war. Besonders Arthur Schnitzler polarisierte im Kulturbetrieb, was sich in zah I reichen Literaturskandalen dokumentiert, die seine schriftstellerische Laufbahn begleiteten. Der wohl größte Skandal begleitete die Publikations­ und Aufführungsgeschichte des Reigens (vgl. Kap. IV. 4 und 1V.5), den Schnitzler selbst und seine ,Verbündeten' Hofmannsthai und Beer-Hofmann vor der Veröffentlichung kommen sahen. Dies wird aus einem Brief der Freunde vom 15. Februar 1903 ersichtlich, der mit "lieber Pornograph" überschrieben ist und den bevorstehenden Skandal antizipiert. "Sie müssen soviel Geld bekommen (im Vorhinein, denn im Nachhinein wird es confis­ ciert) daß Sie sich jedenfalls darüber mehr freuen, als Sie sich später über das Schwätzen der Leute ärgern. Viele Leute werden es als ihr erectiefstes Werk bezeichnen. " (zit. n. Pfoser u. a. 1993, 214) Die Veröffentlichung des Buches führte tatsächlich zum erwarteten Skandal, der jene Mechanismen in Gang setzte, die seit jeher mit Skandalen verknüpft sind und die Felix Sai­ ten in der Zeit-Rezension vom 7. November 1903 wie folgt beschreibt: "Von den Büchern, die Arthur Schnitzler geschrieben hat, ist dem Reigen der größte Erfolg zuteil geworden. Der Reigen wird am meisten gelesen. In acht Monaten hat diese Dialogreihe zehn Auflagen erlebt. Man streitet über dieses Werk, was zur Folge hat, daß immer mehr und mehr Leute danach greifen. " (zit. n. ebd. , 215) Die aus aufmerksamkeitsökonomischer Sicht günstige Kontroverse verlief entlang der Frontlinie ,alt gegen jung'. Bündnis­ genossen - wie eben Felix Saiten - verteidigten Schnitzler, während die konservative Presse den Reigen als "ordinäres [ . . ], nichtssagendes und plat­ .

tes Buch" bezeichnet, "mit dem sich der Verfasser außerhalb des Schrift­ tums stellt in die Reihen der gewissenlosen Sudler, deren mephitische Er­ zeugnisse die Spalten der sogenannten Wiener ,Witz'-Blätter [ . . ] füllen" .

(zit. n. ebd. , 232). Schnitzler, so echauffiert sich der Rezensent Ottokar Stauf von der March in der Ostdeutschen Rundschau (Wien) vom 1 7. Mai 1903, "hat freilich von Anfang an starke Neigung zu diesem sauberen Handwerk besessen, für ihn existierte beinahe nichts als das Geschlechtliche, und zwar in seiner grobsinnlichen Erscheinungsform" (ebd.). Im Zentrum der Auseinandersetzung steht demnach der literarische Sexualitätsdiskurs, der die Liebe nunmehr zur Illusion erklärt, sie entweder als bloß biologisch-me­ chanische Triebbefriedigung zeigt oder zum Mittel des Gelderwerbs degra­ diert und damit literarisch-idealisierte Liebesentwürfe früherer Epochen un­ terläuft (vgl. Kap. IV. 4). Textinszenierung

Dass die Auseinandersetzung mit dem Körperlichen, vor allem gilt dies für den Bereich der Sexualität, um 1900 insgesamt stark tabuisiert ist (vgl. Larcati 2007, 111), zeigen nicht zuletzt die Anfeindungen und Diffamierun­ gen, die Sigmund Freud auszuhalten hatte. Im Fall des Reigens kommt aller­ dings etwas hinzu, was für viele Texte Schnitzlers bezeichnend ist. Sie stei­ len dar, wie sich gesellschaftliche Widersprüche im Inneren der Individuen abbilden; wie etwa Lustbefriedigung und internalisierte Sozialnormen in

4. Sigmund Freud und die Literatur

einem spannungsreichen Konflikt stehen - ohne dass die Texte eine mora­ lische Kommentierung vornehmen würden. Von dieser fehlenden morali­ schen Haltung im Text, so zeigen viele negative Rezensionen über Schnitz­ ler, wird auf ein moralisches Defizit des Verfassers geschlossen. Für Schnitz­ ler selbst mögen die Anfeindungen, so zeigt die Lektüre seiner Tagebücher, teilweise schmerzhaft gewesen sein; resonanzstrategisch haben sie seine Bedeutung wohl eher gesteigert und besonders gilt dies für die Kanonisie­ rung der Wiener Moderne insgesamt: Ein Markenkern der Strömung besteht gerade im experimentellen Tabubruch. Im Modus der Fiktion werden tra­ dierte Geschlechterrollenmodelle aufgelöst, tabuisierte Bereiche wie Sexua­ lität oder Tod zur Sprache gebracht und vor allem: moralische Vorstellungen zur Disposition gestellt (vgl. Kap. 1V.3, IV.4, 1V.5). Auch wenn es Jung-Wien als homogene Gruppe mit einem gemeinsamen Programm nicht gab, so wurden seine Autoren, nicht zuletzt aufgrund des literaturpolitischen Engagements Hermann Bahrs, doch überwiegend als eine solche wahrgenommen. Bahr wusste die strukturellen Voraussetzungen des Wiener Kulturlebens optimal für seine Zwecke zu nutzen. Gemeint ist jenes spezielle Klima der Wiener Kaffeehauskultur, das sich in Opposition zum bürgerlich-konservativen, elitären Kulturleben in den letzten Jahrzehn­ ten des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte (vgl. Kap. 111.1). Dieses Klima wur­ de vom Gedanken des geistigen Austauschs geprägt, das gemessen am kon­ servativen Mainstream ganz im Zeichen avantgardistischer Konzepte stand. Nicht zuletzt aus der "Dialektik von Konflikt nach außen (mit der bürgerli­ chen Umwelt) und Kooperationen nach innen (mit anderen originellen Gei­ stern) ergeben sich die erstaunlichen schöpferischen Energien der Wiener Moderne" (Timms 1996, 129). Der Geist kreativer Interaktion machte sich in vielfältigen künstlerisch-wissenschaftlichen Kooperationen bemerkbar (vgl. ebd., 130). So brachte der Architekt und Kulturpublizist Alfred Loos mit dem Schriftsteller Peter Altenberg die ersten Hefte der Zeitschrift Kunst.

Halbmonatsschrift für Kunst und alles andere heraus. Die geistig-kooperati­ ve Interaktion fand aber auch auf implizite Weise statt, die sich in einer Art ,Ideenzirkulation' manifestierte: Während Sigmund Freud etwa die Hypno­ se als Mittel der Heilung von Hysterien erforschte, thematisierte Schnitzler sie nahezu zeitgleich im A natol-Zyklus (1890). Hier ging es freilich weniger um die psychoanalytische Praxis, sondern vielmehr um die literarische Dar­ stellung eines erkenntnistheoretischen Zusammenhangs: "um Realität und Irrealität, um Wirklichkeit und Illusion, um Sein und Schein, um Wahrheit und Lüge, die auseinanderzuhalten dem Subjekt unmöglich geworden ist." (Wunberg 2001, 172)

4. Sigmund Freud und die Literatur Sigmund Freud (1856-1939), der als Begründer der Psychoanalyse und wichtiger Kulturtheoretiker in die Geschichte einging, war eine der prä­ gendsten Personen in Wien um 1900. Ebenso wie die Künste und die Litera-

Vernetzung und Ideenzirkulation

35

36 111. Historische und kulturelle Kontexte tur der Zeit interessierte sich Freud für das Subjektive des Menschen - aller­ dings aus medizinischer Sicht. Seine Forschungen zur Psychologie, zu Träu­ men und zum Unbewussten zeigen, dass die Hinwendung zum mensch­

I ichen Inneren zur Zeit der Jahrhundertwende auf ganz vielfältige Art und Weise erfolgte: nicht nur in künstlerischer, sondern auch in wissenschaftli­ cher Hinsicht. Aufgrund der Gleichzeitigkeit seiner Studien und der literari­ schen Entwicklung könnte es naheliegen, davon auszugehen, dass Freuds Theorien und insbesondere die Psychoanalyse unmittelbar Einfluss auf die Textproduktion seiner Zeitgenossen genommen haben. Zwar gab es durch­ aus Wechselbewegungen zwischen der Literatur der Wiener Moderne ei­ nerseits und Freuds Theorien andererseits; die unreflektierte Annahme einer direkten Beeinflussung von Texten greift jedoch zu kurz und erfordert eine differenzierte Darstellung (vgl. Worbs 1983). Freuds Verhältnis

Die Literatur war von Beginn an ein wichtiger Bezugspunkt in Freuds

zur Literatur

Denken. Bereits im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Hysterie (vgl. allgemein zu diesem Begriff Schaps 1982) in den 1890er Jahren gab Freud zu, "Einsicht in den Hergang einer Hysterie" durch die "Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist" (Freud 1952, 227), zu erlangen. Die Literatur übte sogar auf seine Art zu schreiben Einfluss aus: ,,[E]s berührt mich selbst noch eigen­ thümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind." (ebd.) Für die seelischen Besonderheiten, die er während seiner medizinischen Tätigkeit beobachten konnte, fand er in der Sprache der Me­ dizin keine passenden Worte (vgl. Worbs 1983, 89), sodass er auf literari­ sche Muster zurückgriff (vgl. Schönau 2006). Freud erklärte Literaten gar zu ,,[w]ertvolle[n] Bundesgenossen" (Freud 2003, 14) für die Wissenschaft. Deutlich wird dies auch daran, dass er immer wieder auf klassische literari­ sche Werke rekurrierte, wenn es darum ging, gewisse Phänomene, auf die er durch seine Arbeit stieß, zu beschreiben. Der Ödipus-Komplex beispiels­ weise beruft sich unter anderem auf das Drama König Ödipus von Sophok­ les und in seiner Traumdeutung hat Freud mehrfach auf kanonisierte Werke der Literatur Bezug genommen. Zur Literatur seiner Zeit hielt Freud dennoch tendenziell Abstand: "Seine Privatlektüre war um die Jahrhundertwende durch die Weimarer Klassik, die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Heine und Shakespeare, nicht durch Hauptmann und Hofmannsthai gekennzeichnet." (Worbs 1983, 101) Diese Distanz zu der Literatur seiner Zeit - wobei er den Naturalisten Henrik Ib­ sen und Emile Zola durchaus aufgeschlossen gegenüber stand (vgl. ebd., 99) -, steht auch im Zusammenhang mit seinen Vorbehalten gegenüber der literarischen Darstellung von Phänomenen, für die er sich selbst bezie­ hungsweise seinen Berufsstand als zuständig erachtete. "Wir haben wohl das Recht, ein Dichterwerk zu analysieren, aber es ist vom Dichter nicht recht, unsere Analysen zu poetisieren" (Nunberg/Federn 1977, 170), gibt er während einer Sitzung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zu Pro­ tokoll. Nun kann die Literatur der Wiener Moderne zwar nicht als Poetisie­ rung von Seelen-Analysen gelten, dennoch lässt sich eine grundsätzliche

4. Sigmund Freud und die Literatur

thematische Nähe zwischen Freuds Theorien auf der einen und literarischen Themen sowie Darstellungsverfahren auf der anderen Seite nicht leugnen. Freud sah allerdings "die Aneignung seiner Theorie als illegitimen Übergriff des Dichters in den übergeordneten Bereich der Wissenschaft" (Worbs 1983, 9) an. Daher bestand auch kein enger Kontakt zwischen den Literaten und dem Psychoanalytiker; abgesehen von Jakob Julius David, der jedoch eher als "Randfigur im Cafe Griensteidi" (Worbs 1983, 133) galt. Inwieweit Freud tatsächlich die Dichter als "Bundesgenossen" verstand, kann an einem konkreten Beispiel verdeutlicht werden, das nicht nur aufzu­ zeigen vermag, wie Freud die Literatur zur Veranschaulichung seiner Theo­ rien vereinnahmte, sondern das zudem den Beginn der psychoanalytischen

Freud als ,Literatur­ wissenschaftler'

Textinterpretation markiert (vgl. zum Folgenden auch Orth 2006). In seinem Text Der Wahn und die Träume in W jensens ,Gradiva' aus dem Jahr 1907 widmet sich Freud ganz konkret und äußerst ausführlich einem literarischen Text der Zeit, der jedoch nicht der Wiener Moderne zugeordnet werden kann. Es handelt sich dabei um die im Untertitel als "pompejanisches Phan­ tasiestück" bezeichnete Erzählung Gradiva des heute nahezu unbekannten Schriftstellers Wilhelm Jensen (1837-1911). Die Textauswahl erfolgte nicht zufällig: Jensens Erzählung hatte nicht nur Freud, sondern auch seinen Kreis, die sogenannte ,Psychologische Mittwoch-Gesellschaft' in den Bann gezo­ gen, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Träume, die in dem Text eine zentrale Rolle spielen. Aus diesem Grund hatte sich Wilhelm Stekel, einer der Mitglieder des Kreises um Freud, sogar direkt an den Autor gewandt: "Haben Sie das Buch von Freud über den Traum gelesen, oder haben Sie uns wieder einmal gezeigt, daß der Dichter der Wahrheit näher kommt als die nüchterne Wissenschaft?" (zit. n. Urban 2003, 17f.) Freud veranschaulicht anhand des Gradiva-Textes zentrale Ideen aus sei­ ner Traumdeutung und der Psychoanalyse. Mit von ihm geprägten Begriffen wie Wahn, Verdrängung oder dem Unbewussten vermag er eine einleuch­ tende Deutung des Verhaltens des Protagonisten darzulegen. Die Träume der Hauptfigur Norbert Hanold analysiert er mit der von ihm entwickelten Methode der Analyse realer Träume, also indem er die manifesten Traumin­ halte in latente Traumgedanken übersetzt. Die Bezüge zwischen den Träu­ men und der Handlung stellt Freud dabei mit überzeugenden Argumenten dar, sodass seine Lesart des Textes insgesamt eine durchaus plausible Ge­ samtinterpretation des Textes bietet. Der Gradiva-Text Freuds bildet darüber hinaus den Auftakt zu weiteren Deutungen literarischer Texte vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Theorie. Im Jahre 1912 wurde sogar eine eigene Zeitschrift gegründet, die eine Verknüpfung mit geisteswissenschaftlichen Themen zum Ziel hatte: Imago - Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes­ wissenschaften. In ihr fanden sich nach dem Vorbild der Gradiva-Analyse

Interpretationen literarischer Texte vor dem Hintergrund der freudschen Theoreme. Aufgrund der grundsätzlichen thematischen Ähnlichkeiten zwischen den Gegenständen der Psychoanalyse und der Literatur der Wiener Moderne

Psychoanalytische Interpretationen

37

38 111. Historische und kulturelle Kontexte verwundert es nicht, dass auch deren Texte gewissermaßen auf die Couch gelegt wurden. Insbesondere Arthur Schnitzlers Erzählungen wurden zum Gegenstand unmittelbarer Deutungsversuche, wie beispielsweise die Aus­ einandersetzung des Freud-Schülers Theodor Reik (1888-1969) mit Frau

Beate und ihr Sohn aufzeigt, die bereits ein Jahr nach der V eröffentlichung in Imago erschien (vgl. Kap. V.4). Zuvor hatte Reik schon im Jahr 1913 dem Autor Schnitzler und seinen Texten eine Monografie gewidmet. In Arthur

Schnitzler als Psycholog - dessen Zueignung "Meinem verehrten Lehrer Professor Dr. Sigmund Freud in Dankbarkeit gewidmet" (Reik 1993, 27) den Kontext der Entstehung prägnant verdeutlicht - versucht er, das Potenzial psychoanalytisch geprägter Interpretationen aufzuzeigen (vgl. Reik 1993). Problematische

Bereits Freud hatte in Bezug auf Wilhelm Jensen im Nachhinein die Deu­

Ausweitung auf den

tung auf den Autor verlagert. Allerdings sind seine die Psyche des Autors be­

Autor

treffenden Hypothesen nur im Briefwechsel mit Carl Gustav Jung und Jen­ sen selbst erhalten geblieben. In Reiks Monografie jedoch ist das Erkenntnis­ interesse von vornherein auch auf Schnitzler selbst gerichtet. Das Vorwort suggeriert zunächst eine Konzentration auf die Figuren des Textes: "Die fol­ gende Untersuchung [ ...] behandelt die Gestalten der Dichtungen Arthur Schnitzlers als Objekte psychologischer Analyse; so, als wären sie wirklich lebende Menschen" (ebd., 29). Doch bereits im darauffolgenden Satz wird das erweiterte Erkenntnisinteresse deutlich, wenn es heißt, dass die Figuren durchaus als lebende Menschen angesehen werden können, denn Reik ver­ steht diese als "gelöste Teile seines [Schnitzlers] Ichs, Abspaltungen seiner Persönlichkeit." (ebd.) Eine derart ausgerichtete Grenzüberschreitung mag aus psychoanalytischer Sicht möglich sein - sowohl Freud als auch Reik wa­ ren ja in erster Linie Psychoanalytiker -, aus literaturwissenschaftlicher Sicht allerdings muss sie zumindest irritieren, da mitunter Unterstellungen den Autor (oder die Autorin) betreffend vorgenommen werden, die jegliche theoretische Differenzierung zwischen Autorschaft und Erzählinstanz miss­ achten und den Text instrumentalisieren, um unbelegbare Hypothesen über das vermeintlich Unbewusste von Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu behaupten. Selbst die zeitgenössische Literaturwissenschaft weist gelegent­ lich die Tendenz auf, nicht nur den Text, sondern auch den Autor auf die Couch zu legen - wie beispielsweise in gegenwärtigen Deutungen zu Schnitzlers Fräulein Else, in deren Rahmen dem Autor gar vorgeworfen wird, er hätte den Wunsch, seine Tochter sexuell zu missbrauchen, über den Text symbolisch zum Ausdruck gebracht (vgl. Kap. V.4).

Wiener Moderne

Die Tatsache, dass Schnitzler noch zu Lebzeiten Gegenstand einer psy­

und Psychoanalyse

choanalytisch ausgerichteten Monografie war, zeugt von der parallelen Ent­ wicklung der Psychoanalyse einerseits und der unter anderem auf die Dar­ stellung von Seelenständen zielenden Literatur der Wiener Moderne ande­ rerseits. Trotz des gegenseitigen Interesses herrschte von Seiten der Literaten jedoch eine grundlegende Distanz zu Freud und seiner Theorie: "Ein ein­ deutiges Bekenntnis zu Freud hat [ ...] aus den Kreisen der Wiener Dichter niemand gewagt oder gewollt." (Worbs 1983, 132) Rezipiert wurde Freud von ihnen jedoch durchaus. So erwähnte beispielsweise Hermann Bahr -

4. Sigmund Freud und die Literatur

der bereits 1890 im bezeichnenden Text Die neue Psychologie neue literari­ sche Formen gefordert hatte (vgl. Kap. 1V.1) - in seinem Dialog vom Tragi­

schen (1903) die Studien über Hysterie, die Freud gemeinsam mit )osef Breuer 1895 publiziert hatte. Am Beispiel Arthur Schnitzlers lässt sich die interessierte aber distanzierte

BeispielSchnitzler

Haltung der Literaten der Wiener Moderne zur Psychoanalyse gut veranschau I ichen. Seinen Tagebüchern ist zu entnehmen, dass er die Zeitschrift

Imago durchaus zur Kenntnis nahm. Auch Theodor Reiks Monografie über ihn und seine Texte zählte zu seiner Lektüre. Der Literat stand mit dem Autor von Arthur Schnitzler als Psycholog überdies im Austausch, Reik fungierte gar als ,,[w]ichtigstes Bindeglied zwischen Schnitzler und dem Kreis um Freud" (Worbs 1983, 215). Dennoch fanden Reiks Thesen nicht durchgehend die Zustimmung Schnitzlers. In einem Brief an den Psychoanalytiker offenbart er, dass er dessen Buch über ihn "mit wirklich starkem Interesse, gar nicht selten auch mit sachlicher Zustimmung", allerdings "natürlich keineswegs ohne lebhaften Einwand gelesen habe" (zit. n. Urban 1975, 240). Insbesondere die Passagen in Reiks Werk, die versuchen, das Unbewusste des Autors über dessen Texte zu ergründen, erregen bei Schnitzler einen gewissen Unmut: "Über mein Unbewusstes [ ...] weiss ich aber noch immer mehr als Sie, und nach dem Dunkel der Seele gehen mehr Wege, ich fühle es immer stärker, als die Psychoanalytiker sich träumen (und traumdeuten) lassen." (ebd., 241) Dieses nachvollziehbare Unbehagen Schnitzlers, ungefragt über seine Texte zum Gegenstand einer Psychoanalyse zu werden, benennt damit bereits während der Entstehungsphase psychoanalytischer Deutungen das Grundproblem dieser in die Literaturwissenschaft überführten Methodik der Textinterpretation

(vgl. Pfeiffer/Schönau

2003). Die

Ausdehnung von der Ebene des Textes auf die Ebene der Textproduktion "erscheint [ ...] als ein oberflächlicher biographischer Reduktionismus" (Le Rider 2008, 52) und birgt die Gefahr, "dem Autor die Rolle eines quasi neurotischen, bewußtseinsmäßig unterlegenen Patienten" (Anz 1997, 392) zuzuschreiben. Neben dieser Distanz aufgrund der ihn unmittelbar selbst betreffenden Analysen kritisiert Schnitzler auch grundlegende Theoreme der Psychoana­ lyse. So moniert er beispielsweise die Ausweitung der "Deutungsgrenzen so sehr gegen das Willkürliche zu, daß jede Kontrolle und jede Erklärung ge­ nau so gestattet sein kann wie ihr Gegenteil" (Schnitzler 1976, 277f.). Als "Eingeständnis ihrer Schwäche" sieht er außerdem die Konzentration auf das Unbewusste, die Psychoanalyse )ühlt, daß das Bewußte sie stören, ja manchmal sogar widerlegen könnte", notiert er unter dem Stichwort Über

Psychoanalyse (Schnitzler 1976), was andeutet, dass er sich durchaus um­ fassend mit Freuds Theorien auseinandersetzte. Sein Verhältnis zur Psycho­ analyse war jedoch äußerst ambivalent: ,,Er kann die Anregungen, die von ihr ausgehen, nicht ignorieren, er kann aber noch weniger grundsätzliche Vorbehalte ihr gegenüber ausräumen." (Worbs 1983, 217) Schnitzlers Haltung zur Psychoanalyse ist auch vor dem Hintergrund seines eigentlichen Berufes zu betrachten. Wie Freud war Schnitzler ursprüng-

Schnitzler und Freud

39

40 111. Historische und kulturelle Kontexte lich Mediziner, wodurch er sich eine fraglos professionelle Haltung zur Psy­ choanalyse aneignen konnte, zumal beide zum Teil bei denselben Lehrern ausgebildet wurden. Sowohl Freud als auch Schnitzler spezialisierten sich auf Nervenkrankheiten, sodass sie im Grunde genommen in ähnlichen Be­ reichen tätig waren, sie publizierten teilweise sogar in denselben Gebieten (vgl. Worbs 1983, 204 ff.). Der spätere Schriftsteller kam bereits während seiner Qualifizierungsphase mit Freud in Berührung. Schnitzler, der Ende des 19. Jahrhunderts als Redakteur für das Fachorgan Internationale Klini­ sche Rundschau arbeitete, rezensierte für diese Zeitschrift einige Überset­

zungen Freuds, die dieser von Texten französischer Neurologen, wie bei­ spielsweise von seinem Lehrer Jean-Martin Charcot, angefertigt und kom­ mentiert hatte. Schnitzler war also durchaus früh mit Freuds sich entwi­ ckelndem Ansatz vertraut. Doch auch Freud kannte offensichtlich Schnitzler und sein Werk, wie sich einigen seiner Schriften entnehmen lässt. In Texten aus dem Jahr 1905 bezieht er sich namentlich auf Schnitzler (in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten) und mit Verweis auf dessen Drama Paracelsus sogar auf einen konkreten Text des Kollegen (in Bruchstück einer Hysterie-Ana Iyse). Persönlicher Kontakt

Trotz der gegenseitigen Kenntnisnahme traten Freud und Schnitzler erst relativ spät in persönlichen Kontakt zueinander. In einem Gratulations­ schreiben vom 6. Mai 1906 zu Freuds 50. Geburtstag schreibt Schnitzler jedoch von der Bedeutung Freuds für sein Werk: "Ich danke Ihren Schriften so mannigfache starke und tiefe Anregungen" (zit. n. Weinzierl 1994, 64), gesteht er dem Verfasser der Traumdeutung. Freud wiederum zeigt sich in seiner Antwort vom 8. Mai 1906 davon geehrt und gibt seinerseits zu, dass er sich "der weitreichenden Übereinstimmung bewußt [sei], die zwischen Ihren und meinen Auffassungen mancher psychologischer und erotischer Probleme" bestehen würde und gibt sogar zu, "den Dichter zu beneiden", da er "diese oder jene geheime Kenntnis" von Phänomenen an den Tag le­ gen würde, die Freud sich nur "durch mühselige Erforschung des Objektes" hätte aneignen können (Freud 1955, 95). Noch Jahre später, in seinem Glückwunsch an Schnitzler zu dessen 50. Geburtstag im Jahre 1912, schreibt er ihn als "Herr College" (ebd.) an. Weitere zehn Jahre später, in einem weiteren berühmten Brief vom 14. Mai 1922 (vgl. ebd., 96 f.) macht Freud sogar ein weitreichendes Geständnis. Bei der selbstreflexiven Ausei­ nandersetzung mit der Frage, warum er "nie den Versuch gemacht habe Ih­ ren Verkehr aufzusuchen und ein Gespräch mit Ihnen zu führen" bekennt er: "Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art Doppelgängerscheu" (ebd., 97). Schnitzlers Schriften würden ihn mit einer "unheimlichen Ver­ trautheit" berühren und wie bereits 16 Jahre zuvor bekennt er sich dazu, Neid zu empfinden: "So habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition [ ...] alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe." (ebd.) Der Psychoanalytiker spricht dem Schriftsteller zu: ,,[11m Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher." (ebd.) Erst nach diesem Brief kam es zu einigen persönli­ chen Treffen zwischen Freud und Schnitzler, der im Übrigen ebenfalls eine

4. Sigmund Freud und die Literatur 41

gewisse Form von Gleichgesinntheit festzustellen vermochte. In einem In­ terview äußerte er: "In some respects I am the double of Professor Freud. [ ...] I tread in literature the same path which Freud explores with amazing audacity in science." (Viereck 1972, 10) Aufgrund der sowohl von Freud als auch von Schnitzler konstatierten Ähnlichkeiten wird innerhalb der Forschung immer wieder diskutiert, in­ wiefern Schnitzler bei der Verfertigung seiner Dramen und Erzählungen von dem Begründer der Psychoanalyse und seinem Werk beeinflusst wurde. In­ zwischen herrscht jedoch weitgehend Einigkeit darüber, dass die angebli­ che Intuition des Literaten "seine Erklärung in Schnitzlers medizinischen Kenntnissen" (Worbs 1983, 214) findet. Seine "häufig diskutierte Verwandt­

schaft zur Psychoanalyse geht auf Erfahrungen zurück, an denen er selbst Anteil hatte" (ebd., 258). Man spricht daher eher "von einer Gleichzeitigkeit der Freudschen [sic!] Theorie und der Schnitzlerschen [sic!] Texte [ ...] als vom ,Einfluß' Freuds auf Schnitzler" (Le Rider 2008, 58). Für die Beziehung zwischen Schnitzler und Freud (vgl. dazu auch Thome 1993, 598-722) lässt sich somit zusammenfassen: "Es gibt eine Reihe von Berührungen zwischen Schnitzler und Freud, doch das Einfluss-Modell [ ...] taugt nicht zur Be­ schreibung der Beziehung." (Rohrwasser 2003, 86) Auf das Werk Hugo von Hofmannsthais wiederum wirkte Freuds Theorie durchaus nachhaltig ein. Hofmannsthai wurde gar als "künstlerische[r] Voll­

Hofmannsthai und Freuds Theorien

strecker der Psychoanalyse" (Wunberg 1972, 21) bezeichnet. Zwar sind we­ nige Aussagen Freuds über Hofmannsthai oder seine Werke überliefert, be­ kannt ist jedoch, dass sich der Begründer des Konzepts des Ödipus-Komple­ xes von der hofmannsthalschen Überarbeitung des König Ödipus von So­ phokles beeindruckt zeigte. Freud war allerdings insbesondere von sich selbst begeistert, denn Hofmannsthai "überträgt den Sophokles in einem Sinne, der eine Freudianische [siel] Sicht voraussetzt" (Worbs 1983, 262), da durch seine Übersetzung der Wunsch des Ödipus nach dem Tod des Va­ ters deutlich wird: "Die Bestätigung, die Freud hier fand, ist somit ein Zir­ kelschluß, denn seine Denkweise ist bereits in das eingegangen, woran sie ihre Bestätigung erfährt." (ebd.) Insbesondere Hofmannsthais Drama Elektra, das den Mythos der gleich­ namigen Rächerin in der klassischen antiken Tragödie aufgreift (vgl. Kap. IV.4), weist Spuren von den Studien über Hysterie von Freud und Breuer auf (vgl. Worbs 1983, 269ff.). Die Protagonistin erinnert in ihrer Anlage als

femme fatale an den dort beschriebenen Fall der ,Hysterikerin' Bertha Pap­ penheim, die als Anna O. in die Geschichte der Psychoanalyse einging: "In vielem läßt sich - mit einigen charakteristischen Abweichungen allerdings - die Situation der Anna O. in Hugo von Hofmannsthais Elektra wiederer­ kennen." (ebd., 285) Trotz des aufgrund der Parallelität der Entwicklungen überraschend ambi­ valenten Verhältnisses zwischen Freud und der Literatur der Wiener Moder­ ne darf die Bedeutung der Theorien des Begründers der Psychoanalyse für die Literatur der Moderne nicht unterschätzt werden (vgl. Anz 1997, Anz 2006). Die Auswirkung auf Texte von Autorinnen und Autoren wie Else Las-

Freud und die Literatur des 20. Jahrhunderts

42 111. Historische und kulturelle Kontexte ker-Schüler, Franziska zu Reventlow, Thomas Mann, Franz Kafka, Robert Musil, Alfred Döblin und vielen anderen, (vgl. AltiAnz 2008, Kanz 2011) zeigt: "Die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ist ohne die Rezeptions­ geschichte der Psychoanalyse nicht angemessen zu begreifen." (Anz 1997,

379)

IV. Aspekte und Geschichte der Literatur 1. Neue Psychologie: Die Programmatik

Hermann Bahrs Hermann Bahr gilt, dies haben die Ausführungen in Kap. 111.3 gezeigt, ge-

Hermann Bahr als

meinhin als eine der "schillerndsten, für die Etablierung der deutschsprachi-

Literaturpolitiker

gen ,Moderne' [ . . ] wichtigsten Figuren des Jungen Wien" (Scherer 1993, .

481). Die besonders enge Beziehung zwischen dem Kritiker Bahr und den Wiener Autoren war allerdings nicht nur literaturpolitischer Natur, sondern fand darüber hinaus in ähnlichen Literaturkonzepten Ausdruck. Freilich kann von einem unmittelbaren Bezug zwischen dem Literaturprogramm Bahrs, das er ab 1890 in zahlreichen Essays dargelegt hat, und späteren Texten der Wiener Schriftsteller nur sehr bedingt gesprochen werden. Allerdings zeigt ein Abgleich zwischen seiner Moderne-Auffassung (vgl. Wunberg, 2001, 195 ff.) einerseits und den schriftstellerischen Praktiken von Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthai oder Richard Beer-Hofmann andererseits markante Gemeinsamkeiten. Bereits im Jahre 1890, ein Jahr bevor er den Kontakt zu den jungen Wiener Schriftstellern suchte, verfasste Bahr einen wegweisenden Aufsatz, der

Bahrs Moderne­ Konzept

eine historische Zäsur proklamiert: "Die Moderne", so Bahr in dem gleichnamigen Artikel, der in der Zeitschrift Moderne Dichtung erstmals publiziert wurde, "ist nur in unserem Wunsche und sie ist draußen überall, außer uns. Sie ist nicht in unserem Geiste. Sondern das ist die Qual und die Krankheit des Jahrhunderts, die fieberische und schnaubende, daß das Leben dem

2

Geiste entronnen ist." (Bahr KS 11 , 4) Bahr konstatiert also ein Auseinanderfallen von Geist und Körper, letzterer "fehdet wider den Geist, der Körper der neuen Gesellschaft seit hundert Jahren. Er hat Triebe gezeugt und Wünsche, ungekannt zuvor und unverstanden noch heute, weil der Geist gering blieb, geduckt und krüppelig. Es ist nicht der neue Leib, der uns schmerzt, sondern daß wir seinen Geist noch nicht haben. Wir wollen wahr werden" (ebd.). Angesichts einer sich verändernden Umwelt hat der Mensch - so eine der Grundthesen Bahrs - seine Mitte verloren. Um diesen Zustand der Entfremdung zu verändern, müsse er "das Außen zum Innen [ . . ] machen" .

(ebd., 5), wobei Bahr der Kunst eine Mittlerfunktion zuspricht. Ihre Aufgabe sei die Vermittlung dreier Wahrheiten: der Wahrheit des Körpers, der Gefühle und der Gedanken. "Die Körper wollen wir schauen [ . . ], in denen .

die Menschheit lebt, wollen forschen, welchen Gesetzen sie gehorchen

[ . . ]. Die Gefühle wollen wir suchen, in unserer Brust und in den fremden, .

welche nur irgendwo seufzen, träumen oder schnauben." (ebd., 6) Der Essay Die Moderne sieht die Gegenwart um 1890 als Periode des Übergangs: Alte Denkweisen zeigen sich angesichts der modernen Welt als

Wende nach innen

44 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur nicht mehr tragfähig - allerdings müssen neue Strategien der Lebensaneig­ nung erst noch entwickelt werden. Hier begreift er insbesondere junge, avantgardistische Kunstformen als Möglichkeit, den erstarrten Geist des Menschen grundlegend zu reformieren. Wie eine solche Erneuerung ausse­ hen müsste, skizziert Bahr in Oie Überwindung des Naturalismus (1891).

Oie Überwindung des Naturalismus

Der Essay beginnt programmatisch mit einem Motto Paul Bourgets, das grundsätzlich anzeigt, worum es Hermann Bahr geht. Er möchte seinen Be­ griff einer modernen Kunst zum einen an Vorbilder der europäischen Mo­ derne anschließen (vgl. Wunberg 2001, 195). Zum anderen signalisiert das Motto, dass die um 1890 etablierte naturalistische Kunst zugunsten einer neuen, psychologisierenden Schreibpraxis abgelöst werden solle, wie sie Bourget in Frankreich gegen Emile Zola und Edmond und Jules de Goncourt ins Feld führte: "Die Herrschaft des Naturalismus", so der Beginn des Auf­ satzes, )st vorüber, seine Rolle ist ausgespielt, sein Zauber ist gebrochen." 2

(Bahr KS 11 , 129) Mit diesem rhetorisch effektvollen Einstieg verabschiedet Bahr eine Strömung, für die er einst selbst eingetreten war und die sich zu­ dem im Jahre 1891 noch keineswegs auf dem Abstellgleis befand. Deutlich erkennbar ist hier sein Inszenierungsgeschick: Bahr präsentiert sich als Erneuerer - als ein Kritiker auf der Höhe der Zeit, der die Trends und Rich­ tungen der Kunst erkennt und vorgibt. Neben dem für Bahr typischen "Überwindungseifer" (Wunberg 2001, 160) bildet der Essay aber auch die spezifische Situation eines von Dynamik und Pluralität geprägten literari­ schen Feldes der Vorjahrhundertwende ab. Es entstanden Strömungen, die zeitgleich im Feld agierten und um die jeweilige Vorherrschaft ihrer Pro­ gramme stritten. Bahrs Essay stellt eine solche Positionsnahme in einer, wie er schreibt, offenen Situation dar: "Der Naturalismus ist entweder eine Pau­ se zur Erholung der alten Kunst; oder er ist eine Pause zur Vorbereitung 2

einer neuen: jedenfalls ist er Zwischenakt." (Bahr KS 11 , 132) Dieser Zwi­ schenakt wird grundsätzlich als "Verirrung" (ebd., 130) angesehen, die aber notwendig gewesen sei. Denn der Naturalismus habe immerhin - wenn auch nur einseitig - prinzipiell auf die Veränderung der Welt reagiert. Ein­ seitig, weil er nur den äußerlichen Wandel darstelle, nicht aber die Innen­ welt des Menschen. Insofern braucht es nach Bahr die Wende nach innen, um die "Rätsel der einsamen Seele aufzusuchen" (ebd., 129), womit sich die Psychologie - so Bahr - bereits beschäftige. Doch auch die präzise Ab­ bildung der Psyche, also ein nach innen gekehrter Naturalismus, könne nur ein Zwischenschritt sein. Was Bahr für die Zukunft der Literatur fordert, ist die Darstellung dessen, was seiner Meinung nach das moderne Subjekt aus­ macht: ,,[D]as wunderliche Neue. Und dieses ist im Nervösen." (ebd., 132) Denn der "neue Idealismus drückt die neuen Menschen aus. Sie sind Ner­ ven [ ...]. Sie erleben nur mehr mit den Nerven, sie reagieren nur mehr von den Nerven aus. Auf den Nerven geschehen ihre Ereignisse und ihre Wir­ kungen kommen von den Nerven." (ebd., 133) Bahr möchte demnach beide Seiten der Medaille zeigen, die Wechselbeziehung zwischen äußerem Reiz und innerer Reaktion. ,Innen' und ,Außen' sollen gerade in ihren Verschrän­ kungen abgebildet werden, wodurch Wirklichkeitsaneignung und Wirklich-

1. Neue Psychologie: Die Programmatik Hermann Bahrs

keitskonstruktion - in Abgrenzung zum Programm des Naturalismus - zur rein subjektiven Kategorie werden. Wie eine I iterarische Methode aussehen müsste, die das Nervöse zur Ab-

Die neue Methode

bildung bringt, verdeutlicht Bahr in Die neue Psychologie (1890), ohne zu diesem Zeitpunkt schon die für die literarische Praxis erwachsenden Konsequenzen exakt benennen zu können. "Psychologie thut uns Not, die uns auf die physikalische Episode des Naturalismus schon an und für sich wie das 2

allerneueste vorkommt." (Bahr KS 11 , 88) Die "neue Methode" solle nach Bahr "aus der modernen Denkweise" entspringen, die er als "deterministisch, dialektisch und dekompositiv" klassifiziert (ebd., 90). Deterministisch müsse sie insofern sein, als sie die psychologischen Prozesse )n den Zusammenhang [ihrer] Herkünfte und Bedingungen" zu stellen und damit psychische Veränderungen an die sozialen Umweltbedingungen des Subjekts zu koppeln habe; dialektisch solle sie sein, damit "Gefühle nicht nur bloß im Zusammenhange auseinander", sondern auch "in der Bewegung ineinander, durcheinander, gegeneinander" beschrieben werden können (ebd.) hierdurch lassen sich widersprüchliche Gefühle und Bewusstseinslagen von Figuren darstellen. Und schließlich dekompositiv, )ndem die Zusätze, Nachschriften und alle Umarbeitungen des Bewußtseins ausgeschieden und die Gefühle auf ihre ursprüngliche Erscheinung vor dem Bewußtsein zurückgeführt werden. Die alte Psychologie findet nur den letzten Effekt der Gefühle [ ... ]. Die neue wird ihre ersten Elemente suchen, die Anfänge in den Finsternissen der Seele, bevor sie noch an dem klaren Tag herausschlagen, diesen ganzen langwierigen, umständlichen, wirr verschlungenen Prozeß der Gefühle, der ihre komplizierten Thatsachen am Ende in simplen Schlüssen über die Schwelle des Bewußtseins wirft" (ebd., 91). Bahr lenkt den Fokus also auf die Darstellung des Nicht-Bewussten einerseits und die Prozesse der Bewusstwerdung andererseits, die es abzubilden gilt. Die herkömmlich Ich-Form, nach Bahr diejenige Methode, die am ehesten Aussagen über das Innenleben treffen könnte, reiche nicht aus, "weil sie das Nervöse gerade wegläßt, und die fachmännische ,Ich-Form' kann höchstens eine Not-Unterkunft gewähren, bis dem Bedürfnisse eine verläßlichere Heimstätte gesichert ist" (ebd., 96). Erzähltheoretisch betrachtet, kann die Ich-Form tatsächlich nur bedingt das Innenleben von Figuren beschreiben, lassen sich doch durch die Ich-Perspektive nur Aussagen über innere Vorgänge treffen, die das Subjekt per Reflexion (im Nachhinein) selbst erkannt hat. Was Bahr deshalb als Kern einer postnaturalistischen Ästhetik fordert, ist

Literarische

die Darstellung des Nervösen (als Reaktion auf und Impulsgeber für äußere

Umsetzung

Reize), das heißt der teils bewussten, teils unbewussten Gefühle, Affekte und Motivationen des Subjekts. Wie man sich eine solche Methode konkret vorstellen kann, demonstriert Bahr selbst im 1890 erschienenen ,Liebesroman' Die gute Schule, der als literarische Umsetzung seiner programmatischen Ideen (vgl. Rieckmann 1985, 31-35) gelten kann. Zwischen erlebter Rede und Bewusstseinsbericht changierend werden überwiegend die Seelenstände - wie es im einschlägigen Untertitel heißt - eines namenlos blei-

45

46 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur benden Malers erzählt. Der handlungsarme Roman dreht sich insbesondere um die Leiden und Krisen eines Künstlers, der seine Schaffenskrise durch eine zunehmend außer Kontrolle geratene Liebesbeziehung zu beenden versucht. Sein stetiges Schwanken zwischen verschiedenen Emotionen, Haltungen und Stimmungen findet die formale Entsprechung in den Gedan­ kendarsteilungen, die den Roman dominieren. Doch bleibt es nicht bei die­ ser einseitigen Perspektivierung: In zwei von zwölf Kapiteln wird das aus der Sicht des Protagonisten bereits dargestellte Geschehen zusätzlich aus dem Blickwinkel seiner Partnerin Fifi geschildert, womit die Ereignisse durch die Rezipientinnen und Rezipienten rekontextualisiert werden kön­ nen. Diese Gegenüberstellung unterschiedlicher Sichtweisen in Form einer multiplen internen Fokalisierung erscheint wie die literarische Umsetzung von Bahrs im Rahmen seines Textes Die Moderne aufgestellten Postulats einer "Wahrheit, wie jeder sie empfindet" (Bahr KS W, 7). Dieselbe äußere Welt wird aus divergierenden subjektiven Perspektiven dargestellt. Erzähltechnische

Dass einige der Autoren Jung-Wiens ein ähnliches Literaturprogramm ver-

Innovationen

folgten, zeigte sich erst Jahre später, als tatsächlich jene erzähltechnischen Innovationen vermehrt Teil der literarischen Praxis wurden, die Bahr wohl im Sinn gehabt hat. Obgleich dies nicht nur in Wien, sondern auch ande­ renorts geschah, schrieb Bahr diese Innovationskraft vor allem den jungen Wiener Autoren zu. Besonders in den Texten Arthur Schnitzlers sah er das moderne ,Ich' adäquat abgebildet: "Denn sein Ich ist nach innen konzent­ riert. Ganz dem Dunkel zugekehrt, den Abgründen, die hinter dem Bewußt­ sein sich auftun, dort, wo kein Gewissen, keine Verantwortung wohnt und herrscht. Er ist ein Seelentieftaucher, ein Traumverwirrer und -entwirrer ..." (Zuckerkandl 1981, 173 f.). Ein Blick auf die Literatur der Wiener Moderne zeigt, dass die Darstellung von seelischen Prozessen hauptsächlich mit drei erzähltechnischen Innovationen verbunden ist. Erstens: Mit dem inneren Monolog und der erlebten Rede wurden nun zunehmend Erzähltechniken verwendet, die eine unmittelbare Darsteilbarkeit innerer Transformations­ prozesse erlaubten und damit die Forderung Bahrs nach einer "Methode, [die] die Ereignisse in den Seelen [ ...] zeigen" und nicht nur "von ihnen [ ...] berichten" solle sowie einer Unmittelbarkeit des Erzählens, einlösen konnten (Bahr KS 112, 95). Zweitens erfolgte die Abbildung komplexer Figu­ renpsychen in Form von neuen, komplexen Erzählstrukturen: Das Erzählen wird in modernen Texten vielfach an die heterogenen Wahrnehmungen und Empfindungen eines oder mehrerer Subjekte gekoppelt. Innen- und Au­ ßenperspektive gehen dabei oft unmerklich ineinander über. Dadurch wird verdeutlicht, dass Wahrnehmungen der Umwelt subjektive und damit selek­ tive Wahrnehmungen sind, die mit inneren Bewusstseinslagen korrespon­ dieren. Drittens werden Seelenzustände und insbesondere nicht bewusste Vorgänge durch innovative Formen uneigentlichen Sprechens dargestellt. So lassen sich auf der discours-Ebene der Texte immer wieder spezifische Bildkomplexe (wie etwa die metaphorische Verwendung von Wasser) loka­ lisieren, die gerade die innerpsychische Dynamik seelischer Bewusstseins­ zustände zum Ausdruck bringen.

1. Neue Psychologie: Die Programmatik Hermann Bahrs

Geradezu idealtypisch lassen sich diese Innovationen an Richard Beer­ Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs (1900) veranschaulichen, der - nimmt man Bahrs methodische Überlegungen zum Ausgangspunkt - wohl der erste Text aus dem Kreis der jungen Wiener Autoren ist, der alle Merkmale der neuen Methode einlöste (vgl. Scherer 1993,484). Die Erzählung - laut Bahr ein "verwirrendes Buch, empörend und betäubend und verlockend zu­ gleich, das man hassen möchte und bewundern muss - tückisch wie ein Moor, aber dann wieder klar wie ein Bach, phantastisch und exact zugleich, wie ein heftiger und glühender Traum, und doch so ausgerechnet und kalt bedacht!" (Bahr KS VII, 119) - wird überwiegend durch die damals innova­ tive Form der erlebten Rede vermittelt. Diese Erzähltechnik stellt eine Über­ lagerung von Erzähler- und Figurenstimme dar, die es ermöglicht, "den Be­ wusstseinsinhalt einer Figur mittelbarer als direkte Rede und direkter als der Bewusstseinsbericht" zu präsentieren (Martfnez/Scheffel 2012, 61). "Das macht diese Form der Redewiedergabe besonders geeignet, um psychische Zustände und Vorgänge von Figuren wiederzugeben, die sich sozusagen am Rande der Sprachlichkeit bewegen." (ebd.) Im Unterschied zu her­ kömmlichen Erzähltechniken lässt sich durch die erlebte Rede "die irrefüh­ rende Illusion vermeiden, ein Mensch - der Erzähler - vermöchte Einblick in das Innere einer fremden Psyche [ ...] erlangen [ ...]. Erlebte Rede und In­ nerer Monolog sind [ ...] Techniken, durch die es möglich wird, die unauf­ hebbare Isolation der Subjekte zugleich zu gestalten und - nur für den Leser - aufzubrechen." (Scheible 1999,124) Psychologische Plausibilität verleiht der Erzählung zudem die mehrfach verschachtelte Erzählstruktur. Der Text umfasst mehrere Wirklichkeitsebenen, die der Leser erst retrospektiv unter­ scheiden kann: Er beginnt scheinbar mit der Abbildung von äußerer Reali­ tät, was über eine vermeintlich neutrale Erzählinstanz sowie die dialogische Anfangsszene vermittelt wird: "Durch das offene Fenster strich die kühle Nachtluft feucht und regenschwer. Unten auf der Straße hallten Schritte, dann blieb Einer stehen und rief herauf: ,Paul?' Er trat zum Fenster und lehn­ te sich weit heraus: ,Sind Sie's - Doktor?'" (Beer-Hofmann GA 3, 7) Im An­ schluss gleitet die Perspektive zwar ins Innere der Figur, jedoch lassen sich zunächst die Wahrnehmungen und Empfindungen des Protagonisten Paul noch auf die vorfindliche Realität beziehen: So löst beispielsweise die phy­ sische Berührung mit "eine[r] schmächtige[n] Gestalt die ihn streifte" (ebd.,

10), eine Assoziationskette aus, die die reale körperliche Erfahrung in ein imaginäres weibliches Wunschbild überführt (vgl. Kap. Y.3). Im Folgenden werden dann "die verschiedenen Episoden [derart] ineinander verschach­ telt, daß zunächst unklar bleibt, auf welche Weise sie mit der Erzählgegen­ wart, dem Bewusstsein Pauls, zusammenhängen" (Scheible 1999,126). Im Übergang vom ersten zum zweiten Kapitel wird der Wechsel der Ebenen von Wirklichkeit zu Traum beispielsweise zunächst überhaupt nicht mar­ kiert. Das zweite Kapitel setzt wie bereits das erste mit einer scheinbar ob­ jektiven Beschreibung der Natur ein: "Die hohen Linden aus dem fremden Garten drängten ihre Zweige hart ans Fenster." (Beer-Hofmann GA 3, 16) Dass es sich in den folgenden Schilderungen einer sterbenden Frau um

Psychologische Darstellungsformen im Tod Georgs

47

48 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur einen Traum Pauls handelt, wird zunächst genauso wenig deutlich, wie die Tatsache, "daß in diesen Traum ein als Erinnerung auftretender weiterer Traum, die - irreale - Geschichte von Pauls Jugend, einmontiert ist; in diese Jugendgeschichte wiederum ist die Tempelszene eingeblendet, die sich als Reminiszenz an die Lektüre des Heranwachsenden erst nachträglich er­ schließt." (Scheible 1999, 126) In gleicher Weise wie der Grad an Traum­ handlung zunimmt, wird der Realitätsgehalt des Erzählten stetig subjekti­ viert, bis es schließlich für den Leser unmöglich wird, die Schilderungen überhaupt noch sinnvoll auf Gegenstände der Wirklichkeit zu beziehen. Erzählstruktur

Das Erzählen im Tod Ceorgs folgt damit zunächst keiner Chronologie äußerer Handlungsmomente, sondern dringt von der zu Beginn des Textes be­ schriebenen äußeren Realität immer tiefer in das Subjektinnere vor. Erst ge­ gen Ende des zweiten Kapitels wird dasjenige, was zuvor erzählt wurde, als Traumhandlung markiert: "Paul schrie auf, aber er hörte seine Stimme nicht, sie erstickte in ihm. [ ...] Seine eigene Stimme stieg gellend auf - - - und er war wach. Schweratmend saß er in seinem Bett aufrecht." (Beer-Hofmann GA 3, 62) Erst hier kann der Leser nun zwischen äußerer Handlung und in­ neren Vorgängen unterscheiden und erkennen, dass diese äußere Handlung chronologisch verläuft: So lassen sich beispielsweise der Abendspaziergang, die Traumhandlung der folgenden Nacht, der Tod Georgs sowie die Zugreise nach Wien als aufeinander folgende Handlungsmomente und Raumpositio­ nen erkennen. Die inneren Vorgänge dehnen Raum und Zeit jedoch ins Un­ endliche aus: Zukunft und Vergangenheit werden in den Nacht- und Tag­ träumen des P rotagonisten ineinander verschränkt, Raumgrenzen scheinen aufgelöst zu sein, heterogene Wahrnehmungs- und Empfindungskomplexe lösen sich beständig ab und stehen scheinbar gleichberechtigt nebeneinan­ der. Die Erzählstruktur folgt in radikaler Weise den Wahrnehmungen Pauls, und gerade diese Bindung des Erzählens an das Empfinden des Subjekts ist es, die zu Diskontinuitäten, Ellipsen und Brüchen auf der Handlungsebene führt. Insgesamt präsentiert sich ein Erzählverfahren, das die "Differenz zwi­ schen Erzähler und Erzählgegenstand tendenziell [aufhebt]" (Scheible 1999,

123) und über die Technik der erlebten Rede einerseits, die Ordnung des Er­ zählens andererseits eine exakte Abbildung dessen leistet, was auf der histoi­ re-Ebene erzählt wird: Der Text stellt den Wahrnehmungs- und Bewusst­ seinsprozess eines Mannes dar, der vom "drohenden Wirklichkeitsverlust" den Weg zu "einer neuen Sicherheit des Subjekts im Verhältnis zur Außen­ welt und damit auch zu sich selbst" sucht (ebd., 122). Diese Suche, oder genauer: die psychologische Entwicklung erzählerisch abzubilden, wird in Beer-Hofmanns Text zusätzlich über spezifische Bild­ komplexe bewerkstelligt. So heißt es etwa in einer Traum-Passage: "Nur we­ nige Schritte weit von ihm schlief unbewegt der spiegelnde See. [ ...] Steil fiel das Ufer in den See. Silbern glänzende Luftblasen stiegen manchmal perlend durch das dunkle Wasser nach oben und barsten, leichte Kreise zie­ hend; dann glättete sich wieder der Spiegel und nichts verriet unter der be­ ruhigten Fläche die Tiefe." (Beer-Hofmann GA 3, 45) Die Bildelemente von Oberfläche und Tiefe, das Aufsteigen von Blasen, die die Oberfläche kurz-

2.Subjektentwürfe 49 fristig in Schwingung versetzen, lassen sich als Ausdruck eines seelischen Prozesses lesen: Nichtbewusste Anteile streben von der Tiefe an die Ober­ fläche, ohne sich an dieser Stelle der Erzählung schon dauerhaft im Be­ wusstsein der Figur etablieren zu können. Alles in allem: Hermann Bahr hat Richard Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs nach seinem Erscheinen als "höchst rätselhaftes und geheimnis-

Zusammenfassung

volles, ganz unfassliches Buch, das sich veränderlich und seltsam schillernd ringelt" (Bahr KS VII, 119f.), bezeichnet. Damit scheint er weniger das Buch als vielmehr die in ihm abgebildete Figurenpsyche zu meinen, die seiner Vorstellung einer postnaturalistischen ästhetischen Darstellung des Menschen wohl sehr nahe gekommen sein dürfte. Jedenfalls trifft auf BeerHofmanns Subjekt genau dasjenige zu, was Hermann Bahr an Ernst Machs Idee vom ,unrettbaren Ich' so faszinierte. Die Vorstellung - so beschreibt Mach selbst sein Konzept - "daß dieses Ich sich auflöst in allem, was fühlbar, hörbar, sichtbar, tastbar ist. Alles ist flüchtig; eine substanzlose Welt

[ . . ]. Ihre Realität ist ewige Bewegung, chamäleonartig, schillernd. In .

diesem Spiel der Phänomene kristallisiert, was wir unser ,Ich' nennen." (ZuckerkandI1981, 171)

2. Subjektentwürfe Wenn es eine grundlegende Gemeinsamkeit des kulturellen Diskurses um 1900 gibt, dann ist es der "Zweifel an Subjektivität und Ich-Identität" und das Bewusstsein darüber, dass das "kulturelle Wertesystem der [ . . ] Gesell­ .

schaft allmählich zerfällt" (Zima 2001, 6). Die Einsicht einer "Ambivalenz aller Werte, die sowohl das Denken als auch das Handeln des Subjekts in Frage stellt", wird in Soziologie, Philosophie, Psychologie und Literatur gleichermaßen zum Thema (ebd., 1 f.): Georg Simmels Essay Oie Großstäd­

te und das Geistesleben (1903) bezeichnet zum Beispiel die Großstadt als paradigmatischen Ort der Moderne, der von Unüberschaubarkeit, Verände­ rung, Reizüberflutung und starken Gegensätzen geprägt ist. Die Stadt ver­ ändert den Menschen, sie geht ihm buchstäblich auf die Nerven: "Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitä­ ten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervor­ geht." (SimmeI2009, 103) Durch diesen Wechsel droht dem Ich ein Gefühl der Zerrissenheit zwischen äußerer Form und innerem Sein, er läuft Gefahr, seine Balance zu verlieren. Bekannte (Wiener) Psychologen wie Richard von Krafft-Ebing oder Sigmund Freud sprachen vom Krankheitsbild der Neu­ rasthenie; sie "waren fest davon überzeugt, dass Wien in die erste Reihe jener Großstädte zu stellen sei, in denen die Neurasthenie in epidemischer Weise grassierte" (Hofer 2004, 128). Wird die Subjektkrise bei Simmel als Resultat der neuen urbanen Lebensform verstanden, so stellte Friedrich Nietzsche bereits im Jahre 1878 grundsätzlicher fest, dass das Individuum sich zunehmend von traditionellen Bin-

Friedrich Nietzsehe

50 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur dungen löst. "Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste nebeneinander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen - Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durch­ lebt werden können." (Nietzsehe 1999, 44) Nietzsehe zeichnet sowohl das Bild eines bindungslosen Subjekts wie einer durch Pluralität bestimmten Gesellschaft, für beide stellt er eine Flexibilisierung des Werte-und Moral­ systems fest - ein Gedanke, der in der moralkritischen Schrift jenseits von

Cut und Böse weitergedacht wird. Dass diese Veränderung des Werteden­ kens auf einer veränderten Konzeption des Subjekts basiert, wird deutlich, wenn Nietzsehe den Menschen als dynamisches Subjekt begreift, in dem gegensätzliche Ideen vorhanden seien, zwischen denen "versöhnende Mit­ telmächte" (ebd., 227) einen tendenziellen Ausgleich schafften. Wirklich­ keit, Wahrheit, Moral sind in diesem Subjektentwurf keine statischen, von außen vorgegebenen Kategorien mehr, sondern werden im Bewusstsein des Subjekts überhaupt erst ausgebildet. Damit leitete Nietzsehe im philosophi­ schen Diskurs eine Wende vom ,Außen zum Innen' ein, die nicht zuletzt durch die zunehmende Popularität psychologischer und psychoanalytischer Subjektstudien den wissenschaftlich-künstlerischen Diskurs der 1890er Jah­ ren prägen sollte. Ein Zentrum dieses Diskurses bildet sich in Wien aus und ist verbunden mit den Namen Ernst Mach und Sigmund Freud. Ihre wissen­ schaftlichen Schriften befassten sich mit dem Inneren des Menschen, sie lenkten also den Blick genau auf diejenigen psychischen Prozesse, um de­ ren Darstellung sich auch die Jung-Wiener Schriftsteller bemühten. Sigmund Freud

Die Bedeutung Freuds im Allgemeinen und für das kulturelle Leben im Wien der Jahrhundertwende im Besonderen wurde bereits in Kapitel 111.4 herausgestellt. Grundsätzlich zeigt sich bei Freud ein dynamisches Subjekt­ verständnis. Das Subjekt wird nicht als festes, unveränderbares Konstrukt gedacht, sondern gewinnt seine Dynamik aus dem Spannungsverhältnis zwischen naturhaften Triebimpulsen und kultureller Form - zwei im Ver­ ständnis Freuds prinzipiell in Widerspruch befindliche Ich-Dimensionen. Das Subjektinnere ist also von divergierenden Instanzen bestimmt; hinzu­ kommt, dass wesentliche Prozesse der menschlichen Psyche im Unbewus­ sten liegen und damit nicht unmittelbar zugänglich sind. Das Subjekt bei Freud ist ein komplexes und fragiles, aber vor allem ein dynamisches Sys­ tem: Denn basal für seine wissenschaftliche Praxis ist die Einsicht von der Veränderbarkeit des Individuums durch psychoanalytische Verfahren, die unbewusste Dimensionen des Ichs ins Bewusstsein zu bringen vermögen.

Der Physiker

Eine ähnliche (und doch im Detail sehr unterschiedliche) Vorstellung

Ernst Mach

vom Menschen prägt Ernst Machs an der Schnittstelle zwischen Physik und Psychologie angesiedelte Studie Die Analyse der Empfindungen und das

Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1885). Machs Vorstellungen vom Menschen faszinierten vor allem Hermann Bahr, der sie im Dialog

vom Tragischen (1904) kurzerhand - und literaturpolitisch geschickt - zur "Philosophie des Impressionismus" (Bahr KS IX, 53) erklärte, was die Ge-

2.Subjektentwürfe 51 danken Ernst Machs überhaupt erst populär werden ließ. Machs Studie er­ forscht "die materiellen, physikalischen Grundlagen psychischer Prozesse und Leistungen" (KimmichlWilke 2011, 40) und unterscheidet sich in der basalen Aussage von den Überlegungen Freuds, dass von einer definierba­ ren ,Ich-Identität' überhaupt nicht gesprochen werden könne. Wo Freud im­ merhin noch relativ stabile Kategorien wie das ,Ich', das ,Es' und das ,Über­ Ich' annimmt, konzediert Mach die "Auflösung des Ich in eine variable Menge kleinster Einheiten" (ebd., 42). Beiden gemein ist jedoch die Auffas­ sung von der Dynamik, die das jeweilige Subjektverständnis grundsätzlich bestimmt. So stellt Ernst Mach fest, das Ich sei keine feste Größe, sondern "von relativer Beständigkeit. Die scheinbare Beständigkeit des Ich besteht vorzüglich nur in der [ . . ] langsamen Änderung" (Mach 1922, 3). Wandel .

ist also konstitutiv in seiner Subjekttheorie, aufgrund dieser permanenten Dynamik ist das Ich nur mehr als "denkökonomische, ideelle Einheit denk­ bar" (Lorenz 2007, 113). Begriffe wie ,Körper' oder ,Ich' können - dies ist die logische Konsequenz dieses Denkens - nur "Notbehelfe zur vorläufigen Orientierung" sein (ebd., 112). Der Mensch verändert sich also permanent - im Kleinen wie im Großen: "Größere Verschiedenheiten im Ich verschie­ dener Menschen, als im Laufe der Jahre in einem Menschen eintreten, kann es kaum geben. Wenn ich mich heute meiner frühen Jugend erinnere, so müßte ich den Knaben [ . . ] für einen andern halten, wenn nicht die Kette .

der Erinnerung vorläge." (Mach 1922, 3) Das Ich stellt für Mach auch bio­ grafisch keine Einheit dar - diese kann nur retrospektiv konstruiert wer­ den -, sondern das was ihn ausmacht, fügt sich aus schwer bestimmbaren und wechselnden Empfindungen zusammen. "Die Elemente", so bringt Mach Subjektivität auf den Punkt, "bilden das Ich." (ebd.) Die Einsicht, dass der "Zusammenhang der Elemente" entscheidend für die jeweilige Ausprä­ gung des Ichs ist, wirkt sich auf die Wahrnehmung von Wirklichkeit aus: Diese "existiert nur noch als Empfindungskomplex" (Lorenz 2007, 112), sie setzt sich also temporär aus Elementen sowohl der Außen- wie auch der In­ nenwelt zusammen. Weil die in traditionellen Subjektkonzepten gezogene Grenze zwischen Innen und Außen in Machs Überlegungen nicht existiert, entfallen herkömmliche Gegensätze wie der zwischen Ich und Welt, Schein und Sein oder Traum und Wirklichkeit: "Auch der wüsteste Traum", so Mach, )st eine Tatsache, so gut wie jede andere" (Mach 1922, 9), denn er basiere wie jede Wahrnehmung auf Empfindungen. "Weil Mach die menschliche Erkenntnis auf die Wahrnehmung von Sinnesempfindungen re­ duziert, die stetigem Wandel [ . . ] unterliegen, kann auch die Erkenntnis der .

Welt nur fragmentarisch bleiben." (Nagy 2010(37) Bloß angedeutet werden kann hier, wie außerliterarische Diskurse um 1900 das Subjekt neu gedacht haben, wobei die kursorischen Aussagen zu Nietzsehe, Freud und Mach zentrale Gemeinsamkeiten dieses Diskurses aufzeigen: Erstens vollzieht sich eine Loslösung von der Vorstellung, ab­ strakte, metaphysisch vorgeprägte Begriffe wie ,Gut' oder ,Böse', ,Ich', ,Welt', ,Wirklichkeit' oder ,Wahrheit' seien unter den Bedingungen der Moderne eindeutig zu definieren. Dieses Denken bedingt, dass auch mora-

Subjektkonzepte um 1900

52 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur lische Kategorien ins Schwimmen geraten. "Kann man nicht alle Werte um­ drehn?" (Nietzsche 1999, 17) - so Nietzsches provokante Frage. Was wahr, wirklich oder moralisch ist, ist im Denken der Moderne genauso subjektiv wie relativ und eine sprachphilosophische Bestimmung daher prekär. Zwei­

tens werden statische Identitätsmodelle zugunsten dynamischer Vorstellun­ gen über ein (tendenziell psychologisch definiertes) Subjekt, das als kom­ plexes Arrangement von heterogenen Strukturen gedacht wird, aufgeho­ ben; schließlich drittens: ein statisches und objektives Wirklichkeitsdenken wird zugunsten subjektiver, gleichsam , wahrer' Wirklichkeiten aufgelöst was auch den Traum als gleichrangige Erfahrung von Realität mit ein­ schließt.

Das Subjekt in der literatur Jung-Wiens Unstrittig ist, dass die psychologischen und philosophischen Diskurse um 1900 der damaligen Literatur wichtige Impulse gegeben haben - und umge­ kehrt: Um 1900 zeigen sich "wechselseitige Austauschprozesse, [dleren Komplexität [ . .] mit einem simplen Beeinflussungs-Modell kaum zurei­ .

chend erklärt" (Lorenz 2007, 121) werden kann. Beispielhaft lassen sich Wechselwirkungen und Parallelentwicklungen an Freud und Schnitzler fest­ machen: "Im seiben Jahr, auf das Freud die 1899 niedergeschriebene Traumdeutung datierte (1900), führte Schnitzler mit Lieutnant Gustl den inneren Monolog in die deutsche Literatur ein, um eine unmittelbare Dar­ stellung der heterogenen Wahrnehmungs- und Empfindungskomplexe, des Unbewussten eines dissoziierten Ich zu ermöglichen." (Kanz 2001, 362) Wesentlicher als die Frage, wem von beiden das Copyright gehört, ist die Beobachtung, dass sich ein Interesse an der Psychologie des Subjekts in den verschiedenen Feldern kultureller und wissenschaftlicher Reflexionen nahe­ zu gleichzeitig entwickelt hat (vgl. Kap. 111.4). Verwundern kann daher nicht, dass es zwischen der Ich-Konzeption bei Freud oder Mach und derje­ nigen, die sich in den Texten der Jung-Wiener zeigt, Schnittmengen gibt. Das Ich in der Krise: Ein Brief

Viele Texte der Wiener Autoren beschäftigen sich mit Ich-Krisen, die als Symptom eines Übergangs vom alten zum neuen Subjektdenken gelesen werden können. Veranschaulichen lässt sich eine solche geistige Krise an Hugo von Hofmannsthais Ein Brief (1902), der sich irgendwo zwischen phi­ losophischem, poetologischem und literarischem Text bewegt, und damit, schon was seine Gattungszugehörigkeit angeht, über keine feste Identität verfügt. Die fiktive Figur Lord Chandos schreibt der historischen Person Francis Bacon. Bacon war Begründer des englischen Empirismus und Ver­ treter einer selbstbewussten, methodisch-objektiven Welterklärung, er re­ präsentiert also die Prinzipien der Aufklärung wie Rationalität, Empirie, Wahrheit und Außenorientierung. Dass der fiktive Schreiber von einem an­ deren, subjektiven Ich- und Weltverständnis aus argumentiert, wird schon zu Beginn deutlich: )ch [ . .] möchte mich Ihnen ganz aufschließen", heißt .

es dort, ,,[klaum weiß ich, ob ich noch derselbe bin", von "meinem unbe­ greiflichen Innern" oder der "Ausgeburt meines angespanntesten Denkens" ist die Rede (Hofmannsthai SW XXXI, 45). Schon hier zeigt sich die krisen-

2.

Subjektentwürfe 53

hafte Innenorientierung des Sprechers, die in Kontrast zur alten Aufklärungs­ logik gestellt wird. Die von Bacon verkörperte alte Welt wird im Folgenden als "große Einheit" beschrieben, in der es keine Gegensätze gab - "und in aller Natur fühlte ich mich selber" (ebd., 47). Dementsprechend war es da­ mals noch möglich, das Wesen der Welt mittels Sprache abzubilden, denn Sein und Schein fielen in eins. Für die Gegenwart gilt dies nicht mehr. Das Studium der alten Welt wird für Chandos zur Konfrontation mit "Hierogly­ phen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit, deren Anhauch ich manchmal, wie hinter einem Schleier, zu spüren meinte" (ebd.). Doch nicht nur auf die Vergangenheit kann der Schreiber sprachlich nicht mehr zugrei­ fen, sondern insgesamt kann er Begriffe nicht präzise bestimmen: "Mein Fall ist, in Kürze, dieser: es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. [ ... ]lch empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ,Geist', ,Seele' oder ,Körper' nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich." (ebd., 48) Die Identitätskrise in Hofmannsthais Ein Brief erwächst in erster Linie aus der Erkenntnis, dass Sprache die Gegenstände der Welt nicht mehr abzubil­ den vermag. Weder das seelische, geistige oder körperliche Ich kann mit ihr erfasst noch können Urteile über die Außenwelt formuliert werden: Die "abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze." (ebd., 48f.) Das Resultat ist eine von Zerfall und Fragmen­ tarisierung geprägte Wahrnehmung der eigenen Person und der Umgebung: "Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen." (ebd., 49) Der Brief belässt es schließlich nicht bei der Artikulation eines Defizits, was bereits in der offensichtlichen Diskrepanz zwischen der postulierten Sprachlosigkeit und der gleichzeitigen Wortgewalt des Sprechers angedeu­ tet ist. Anstatt nämlich als Konsequenz aus der Sprachkrise zu verstummen, formuliert der Text einen Lösungsansatz: Die sinnliche Hinwendung zu den kleinen Dingen des Alltags erzeugt eine Emphase, die zumindest für den Augenblick Identität stiftet: das Gefühl einer "die ganze Welt durchweben­ de[n] Harmonie" (ebd., 52). Obgleich diese Harmonie jenseits von Denken und Sprache gefunden wird - das ursprüngliche Problem Chandos' also un­ gelöst bleibt - deutet sich zumindest die Möglichkeit an, das Denken "vom ,unrettbaren Ich' zu überwinden: Das dissoziierte Ich rekonstruiert sich [ ... l, indem es eine mit dem Ich symbolisch im Einklang stehende Welt des Augenblicks herstellt" (Lorenz 2007, 168). Der Prozess einer Rekonstruktion des Ichs, das Defizite einer neuen Selbstwahrnehmung auszugleichen versucht, ist insgesamt bezeichnend für dasjenige Subjektverständnis, das die Literatur der Wiener Moderne prägt. Das Ich wird prinzipiell als dynamisch konzipiert, was sich prägnant in Dif­ ferenz zur Literatur des Realismus erfassen lässt: Begreift der Realismus das Subjekt als invariante Größe, dessen Identität am "Ende seiner Jugendphase [ ... ] aus der Menge [seiner] Möglichkeiten eine Alternative ausgewählt hat und [ ... ] diese gewordene Identität bis zum Ende [seiner] Existenz aufrecht-

Das dynamische Subjekt

54 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur erhält", (Wünsch 2007b, 343) wird das ,moderne' Subjekt "als eine Menge [ ...] ihm inhärente[r] Möglichkeiten gedacht, die zum jeweiligen Zeitpunkt nur partiell realisiert sind" (Titzmann 1989, 36). Es erfährt sich als "Potentia­ lität, aus der sukzessive immer erneute Alternativen realisiert werden kön­ nen" (Wünsch 2007b, 342).

Das Subjekt in

Diese ,Potenzialität' erschließt sich den Figuren häufig in Krisensituatio­

Der Tod Georgs

nen, die den Ausgangspunkt für innerpersonale Prozesse bilden. In ausge­ dehnten Reflexionen, Selbstanalysen oder Konfrontationen mit dem ,Nicht­ Bewussten' gelangen die Figuren zu Erkenntnissen und Einsichten, die eine Neudefinition des Ichs zumindest ermöglichen. Illustriert werden kann die­ ser Zusammenhang besonders prägnant an Richard Beer-Hofmanns Erzäh­ lung Der Tod Georgs: Der Text beschreibt den psychologischen Prozess, der am Ende zu neuen Einsichten über die eigene Identität führt (vgl. Kap. V.3). Dabei erweist sich die Erzählung geradezu als Synthese aus Ernst Machs Ich-Konzeption und Freuds Selbstanalyse, die er im Rahmen seiner Traum­ deutung entwickelt hat: Der Leser kann im Akt der Lektüre zunächst genau denjenigen heterogenen, inkonsistenten und konfliktreichen Empfindungs­ weiten folgen, die Ernst Mach als Merkmale von Subjektivität bestimmt hat. Diese Form der Subjektivität verursacht dem Ich allerdings Probleme: Au­ ßen- und Innenwelt sind derart ineinander verwoben, dass das Subjekt zwi­ schen den äußeren Dingen und den inneren Empfindungen nicht unter­ scheiden kann. Ausgehend von diesem Identitätsproblem zeigt der Text, dass dieses Ich nicht etwa ,unrettbar' verloren ist. Vielmehr führt er vor, wie es in einer Art Selbstanalyse wieder Kontur gewinnt: Träume, die - dem Subjekt und mit ihm dem Leser - kryptisch erscheinen, müssen zuvor aller­ dings dechiffriert werden; sie erklären bestimmte Verhaltensmuster, führen zu Erkenntnissen, die zumindest auf performativer Ebene eine Neuausrich­ tung des Ichs behaupten. Dass der Text ein dynamisches, auf die Potenziali­ tät von Veränderung ausgerichtetes Subjektverständnis an den Tag legt, zeigt sich überdies in den Reflexionen der Figur über den titelgebenden Tod Ge­ orgs. Diese Gedankenprozesse kreisen um die Frage, was für Möglichkeiten Georg durch seinen Tod genommen wurden: "Und Paul dachte, wie Georgs Leben geworden wäre" (Beer-Hofmann GA 3, 73), an anderer Stelle heißt es: "vielleicht wäre er ein Anderer geworden" (ebd., 74). Subjektivität er­ schöpft sich hier also nicht nur in dem, was ein Mensch gerade ist, sondern vielmehr in den Möglichkeiten, die er prinzipiell hat.

Subjektentwürfe bei Schnitzler

Dynamische Subjekte, die schmerzvolle Bewusstseinsprozesse durchlau­ fen, präsentiert auch die Erzählprosa Arthur Schnitzlers. Hier wird vielfach ein Problem des Ichs verhandelt, das Sigmund Freud als Widerspruch zwi­ schen naturhaftem Trieb und kultureller Form bezeichnet hat. Oft sind es se­ xuelle Wünsche, die in Konflikt mit dem bürgerlichen Selbstverständnis ge­ raten, wie die Erzählungen Frau Berta Gar/an (1901) oder Frau Beate und

ihr Sohn (1913) zeigen (vgl. Kap. V.4). Beide Texte nehmen Figuren in den Fokus, die in einem Prozess der inneren Bewusstwerdung die erotische Be­ grenztheit ihres bisherigen Lebens durch die Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft erkennen, einer Gesellschaft, die der Frau "nur die Möglich-

2.Subjektentwürfe 55 keit" einräumt, "sich in die traditionellen Rollen als [ ... ] Gattin, Mutter oder Witwe zu fügen, wenn sie sich nicht selber von dieser Gesellschaft aus­ schließen will." (Loquai 2002, 348) Im Falle Berta Garlans bleibt die Sehn­ sucht nach sexueller Erfüllung wegen der )nfamie der Männer" und einer "verlogenen [Doppel-] Moral der Gesellschaft" ungestillt (ebd., 349). Ent­ scheidet sich Berta schließlich für den "innere[n] Tod der Frau", den sie dem "bürgerlichen Tod (durch Ächtung und Ausschluss)" (ebd., 348) vor­ zieht, wählt die Protagonistin Beate in Schnitzlers späterer Erzählung den Freitod: einerseits, weil ihr klar ist, dass sie die Liebe zu ihrem eigenen Sohn in der bürgerlichen Gesellschaft nicht ausleben kann; andererseits, weil diese Liebe auch gegen eigene moralische Positionen verstößt und damit vom Ich als unmoralisch abgelehnt wird. Diese Kopplung von Psy­ chologie und Moral ist für die Literatur der Wiener Moderne typisch: Psychologische Prozesse führen nicht selten zur Verschiebung moralischer Positionen, zu individuellen Wertmaßstäben, die ein Konfliktpotenzial für das Subjekt darstellen: Konflikte entstehen dann, wenn diese Normen vom Individuum selbst nicht akzeptiert werden können oder wenn sie mit tradi­ tionellen Wertevorstellungen der Gesellschaft kollidieren, herkömmliche Normengrenzen also prinzipiell hinterfragen und damit in Analogie zur Subjektgrenze auch gesellschaftliche Grenzen in Bewegung setzen. Mit der psychologischen Ausrichtung der Subjektkonzeptionen geht

Realitätskonzepte

zwangsläufig eine subjektive Perspektivierung einher. Die literarische Vermittlung beschränkt sich nicht mehr auf die Darstellung einer (konsistenten) Wirklichkeit, sondern zielt vielmehr auf die Beschreibung subjektiver Wirk­ lichkeitserfahrungen ab. Diese Realitätsform bilden die Texte über die discours-Verfahren ab. So ist der innere Monolog in Fräulein Else Ausdruck einer subjektiven Wirklichkeitsbeschreibung, die Aussagen trifft, die nicht oder nur bedingt konsensfähig sind. Multiperspektivisch organisierte Texte wie Schnitzlers Sterben verdeutlichen zudem die Heterogenität personaler Erfahrungswelten: Die Erzählung beschäftigt sich mit dem Thema des Sterbens aus zwei Perspektiven, was prinzipiell verdeutlicht, dass hier nicht

"die Wirklichkeit schlechthin", sondern "die Wirklichkeit im Status ihrer Relativierung durch andere Wirklichkeiten" abgebildet wird (Schärf 2001, 12). Dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit eine Frage der Perspektive ist, zeigt sich zu Beginn von Hugo von Hofmannsthais Romanfragment Andreas

oder die Vereinigten in wünschenswerter Klarheit. Dort wird die )n der Venedig-Literatur beinahe toposartige Schilderung des ersten Blickes auf die Stadt" (Dieterle 1995, 404), wie sie sich etwa in Goethes Italienischer Reise (1829), Platens Sonetten aus Venedig (1824) aber auch noch Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1911) findet, variiert. Hofmannsthais Text setzt folgendermaßen ein: ",Das geht gut', dachte der junge Herr Andres von Ferschengelder, als der Barkenführer ihm am 7ten Sept. 1778 seinen Koffer auf die Steintreppe gestellt hatte und wieder abstieß, ,das wird gut, läßt mich da stehen, mir nichts dir nichts, einen Wagen gibts nicht in Venedig, das weiß ich, ein Träger, wie käme da einer her, es ist ein öder Winkel, wo sich die

Andreas oder die Vereinigten

56

IV. Aspekte und Geschichte der Literatur

Füchse einander gute Nacht sagen.'"

(Hofmannsthai SW XXX, 40) Die

Schilderung der Ankunft wird bei Hofmannsthai ausgelassen, stattdessen er­ zählt der Roman von einem offensichtlich orientierungslosen Protagonisten, der sich in einem ,öden Winkel' der Stadt wähnt, obgleich er sich tatsäch­ lich - wie im weiteren Verlauf der Handlung deutlich wird - im Zentrum der Stadt befindet. Der Romanbeginn bringt damit über die subjektive Wahrnehmung der Stadt die "psychologische Befindlichkeit" (Dieterle

1995, 405) der Hauptfigur zum Ausdruck, indem die Ankunft in Venedig "keinen Vorgang, kein ,Ankommen'" beschreibt, "sondern einen Zustand, ein plötzliches Da-Sein in einem Venedig, das lediglich durch ,Morgen­ grauen', ,Strand' und ,Gassen' [ . . . ] konkretisiert wird, also topographisch keineswegs lokalisierbar ist." (ebd., 399) Die Wahrnehmung der Stadt ist an die Perspektive der Figur gebunden und verweist deshalb auf ihren psychi­ schen Status: Die in der Anfangssequenz beschriebene Orientierungslosig­ keit zeugt von einem Identitätskonflikt, der einleitend das grundlegende Thema der im Folgenden beschriebenen "existentiellen Suche" vorbereitet (ebd., 409). In Schnitzlers Erzählung Die Toten schweigen wird in ähnlicher Weise verdeutlicht, dass die Beschreibung äußerer Ereignisse gleichzeitig das Innere der Figur zeichenhaft abbildet: Der Moment eines Kutschenun­ falls wird in erlebter Rede folgendermaßen beschrieben: "sie fühlte sich fortgeschleudert, wollte sich an etwas klammern, griff ins Leere [ . . . L als drehe sie sich [ . . . ] im Kreise herum". (Schnitzler ES 1, 301) Ganz offensicht­ lich wird hier nicht nur der Unfall beschrieben, sondern gleichsam Emmas Orientierungslosigkeit ausgestellt, die die Konsequenz einer außerehelichen Affäre bildet. Die Figur hat buchstäblich die "Bodenhaftung" verloren, be­ vor im Anschluss der Versuch unternommen wird, zum (bürgerlichen) Selbst zurückzufinden, "zurück in das Licht [ . . . ] zu den Menschen zu kommen" (ebd., 306). Zusammenfassung

Grundsätzlich ist das Ich in den Texten der Wiener Moderne als ebenso krisenhaftes wie dynamisches Ich konzipiert. Diese Krise hat unterschied­ liche Prägungen, sie zeigt sich als Begriffskrise, wenn das Subjekt zwischen Bedeutung und Bedeutetem eine Diskrepanz empfindet oder überhaupt un­ fähig ist, Wirklichkeit adäquat auf den Nenner zu bringen; als psycholo­ gisch-moralische Krise, wenn die Psyche des Ichs an von ihm selbst interna­ lisierte Grenzen der bürgerlichen Moral stößt oder als destabilisierende Wahrnehmungskrise, wenn es nicht zwischen Ich und Welt zu unterschei­ den versteht. So krisenhaft, inkohärent, variabel und dissoziiert sich das Subjekt in den Texten auch präsentiert: Als ,antimetaphysische' Befreiung im Sinne Ernst Machs wird die Ich-Auflösung in der Literatur nicht gefeiert. Der literarische Diskurs betont hingegen gerade die Notwendigkeit, der mit der Dynamisierung des Ichs verbundenen Auflösung herkömmlicher Be­ wusstseins- und Wahrnehmungsgrenzen mit dem Versuch der Neudefini­ tion des Ichs zu begegnen. In vielen von Schnitzlers Erzählungen wie auch in Beer-Hofmanns Der Tod Ceorgs oder Hofmannsthais A ndrea s-Fragment versuchen die Figuren aus den ins Bewusstsein gekommenen Gefühlen, Empfindungen und Erkenntnissen Schlüsse für die weitere Lebenspraxis zu

3. Konzepte von Leben und Tod

ziehen. Der prinzipiellen Erfahrung der Entgrenzung von Subjektivität dies macht die Literatur der Wiener Moderne deutlich - versuchen die Figu­ ren mit neuen Grenzziehungen zu begegnen. Damit bilden die Texte ein Pa­ radigma des ,modernen Textes' schlechthin ab, der den "Tendenzen der Ent­ grenzung, Heterogenisierung und dekonstruktiven Kritik immer ein reinte­ gratives Moment der Wiedervereinigung der zuvor dekonstruierten Darstel­ lungsobjekte" (Petersen 2003,

282) entgegenstellt.

3. Konzepte von Leben und Tod Für die Literatur der Jahrhundertwende ist ,Leben' ein Schlüsselbegriff, der

Schlüsselbegriff

sowohl die pathetische Abkehr

,Leben'

dung

zum

vom

Leben meint (vgl. Rasch

wie auch die emphatische Hinwen­

1967). Der Grund dafür liegt nicht zu­

letzt in der "Verabsolutierung des Subjekts und seiner gleichzeitigen Bedro­ hung durch den Verlust metaphysischer Sinnbezüge" (pfeiffer

1997, 10 1);

beide Entwicklungen lassen eine verstärkte Auseinandersetzung mit Leben und Tod plausibel, wenn nicht sogar zwingend erscheinen: Im Falle des To­ des, dem drohenden Verlust subjektiver Autonomie, stellt sich die Frage nach dem Leben umso mehr. Wie kann das Subjekt seine Autonomie über den Tod hinaus retten und welche Bedeutung hat der Tod für die Ausrich­ tung des gegenwärtigen Lebens? Sigmund Freud hat diese Beziehung fol­ gendermaßen beschrieben: "Dies unser Verhältnis zum Tode aber hat eine starke Wirkung auf unser Leben." (Freud 2000,

50) In der Literatur der Wie­

ner Moderne sind Leben und Tod zentrale Problem- und Reflexionsdimen­ sionen, die eng und vielgestaltig miteinander verbunden sind. Den Bezug beider Dimensionen mag ein Gedicht von Felix Dörmann einleitend illus­ trieren: "Die herbstlich fahle Welt umloht / ein heißes, krankes Abendrot // Um meine Seele werben / Das Leben und der Tod ... - // Ich möchte jauch­ zend sterben ...!" (Dörmann

1895, 46) Der Tod ist hier ästhetisch überformt,

er wird als Zustand konzipiert, in dem das Ich besonders intensiv das Leben genießt. Pointiert ließe sich sagen, dass der Tod die Fülle des Lebens ver­ sinnbildlicht. Arthur Schnitzlers Renaissance-Drama

Der Schleier der Beatrice (1899)

buchstabiert weiter aus, was in Dörmanns Gedicht nur angedeutet ist. Das Drama fokussiert die Situation in der von Cesare Borgia belagerten Stadt Bologna. Das Wissen darüber, dass die Stadt am nächsten Tag eingenom­ men werden wird, erzeugt das Verlangen nach intensivem Leben. Diese In­ tensivierung des Lebens zeigt das Stück besonders deutlich an der jungen Beatrice, die im Stück gleich drei Männer liebt. ,Leben' bedeutet am Vor­ abend des Untergangs nicht nur im biologischen Sinne am Leben zu blei­ ben oder den allgemeinen Lebensregeln der Gesellschaft zu folgen, son­ dern vielmehr die ganze Intensität des Lebens auszukosten. "Das Leben", so der Herzog, "ist die Fülle, nicht die Zeit, / Und noch der nächste Augen­ blick ist weit!" (Schnitzler DW

1, 679) Leben bemisst sich also nicht in der

Lebenszeit, sondern der Summe an ekstatischen Erlebnissen. Ein solches

Leben und Tod in Schnitzlers Der Schleier der Beatrice

57

58 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur emphatisches Verständnis begreift traditionelle Werte und Normen, wie Freundschaft, Treue oder Heimat, als Hindernisse der individuellen Entfal­ tung, als Minderung von Lebensintensität. "Wahn ist nur eins", so heißt es im Stück, "das nicht verlassen können, / Was uns nichts ist, ob Freund, ob Frau, ob Heimat, - / Und eins ist Wahrheit: Glück [ .. ]1" (ebd., 567) Das .

Bedürfnis nach einem leidenschaftlichen Leben ist - so wird zumindest an Beatrice verdeutlicht - schon in der Psyche der Figur angelegt. In einem Traum, so erzählt sie zu Beginn ihrem Geliebten, habe sie mit dem Herzog geschlafen. Daraufhin trennt sich der Geliebte von ihr, weil er den Traum als Ausdruck ihrer geheimen Wünsche interpretiert: "Träume sind Begier­ den ohne Mut, / Sind freche Wünsche, die das Licht des Tags / Zurückjagt in die Winkel unsrer Seele." (ebd., 576) Der weitere Verlauf der Handlung wird ihm prinzipiell Recht geben. Beatrice wird diese ,Begierden' ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen ausleben. Hierbei zeigt sich eine für die Literatur der Wiener Moderne insgesamt prägende Konstella­ tion: Die Entdeckung und das Ausagieren von ehemals nicht-bewussten Wünschen und Trieben kann zwar einerseits zu einem intensiveren Lebens­ gefühl führen, bedeutet aber andererseits die Destabilisierung der sozialen Umwelt, wie sich auch im Schleier der Beatrice zeigt: Hier führt das ego­ istische Ausleben der eigenen Affekte zu Beziehungstragödien: zu Verlet­ Individuelle Freiheit vs. gesellschaftliche

zungen und Selbsttötungen. Im Umgang mit dem emphatischen Lebensmo­

Norm

der Herzog, wenn er das Verhalten von Beatrice als kindlich-natürliches

deli kontrastiert das Stück zwei Positionen: Eine liberale Position bezieht Verhalten akzeptiert: "Aber wir sind allzu streng / Und leiden's nicht, und jeder von uns wollte / Nicht nur das einz'ge Spielzeug sein - nein, mehr! / Die ganze Welt. So nannten wir dein Tun / Betrug und Frevel - und du warst ein Kind!" (ebd., 674f.) Am Ende wird der Herzog selbst die Bahn gesellschaftlicher Vernunft verlassen: Er kündigt an, sich in den Kampf zu stürzen, im Wissen, dass er sterben wird, wobei der drohende Tod ganz im Zeichen eines emphatischen Lebensbegriffs steht: "Von allen Abenteuern, die im Dunkel warten, / Dem neusten und gewaltigsten entgegen!" (ebd., 678) Beatrices Bruder Francesco hingegen sanktioniert ihr Verhalten, in­ dem er sie erdolcht: Erkennbar argumentiert er dabei im Sinne gesellschaft­ licher Tugend- und Moralvorstellungen: "Ich mußt' es tun! [ .. 1 [Nloch .

jetzt, da sie im Tod hier liegt, / Füllt mich mit Grimm und Ekel, sie zu den­ ken / Ohn' alle Weihe heil'gen Sakraments, / Schamlos zu flücht'ger Lust geworben / In eines Mannes Bett. - 0 Schmach und Elend!" (ebd., 676) Das Drama zeigt grundsätzlich, wie der Versuch, ein emphatisches Leben zu realisieren, gegen gesellschaftliche Normen verstoßen kann. Interessant ist schließlich die Verlagerung der Handlung in die Renaissance-Zeit: Diese Epoche ist in besonderer Weise mit Werten wie Freiheit und Freizügigkeit belegt, was vor dem Hintergrund der Entstehungszeit des Dramas folgen­ den Rückschluss zulässt: In der bürgerlichen Gesellschaft um 1900, so könnte man die Ermordung Beatrices deuten, ist ein erfülltes Leben nicht zu haben, insofern "kennzeichnet die historische Konstellation den bloß utopischen Charakter dieses Modells" (lrsigler 2014a, 75).

3. Konzepte von Leben und Tod

Was den Lebensbegriff angeht, bildet der Text Der Schleier der Beatrice im Werk Arthur Schnitzlers keinen Einzelfall - wobei die meisten Texte nicht in einer entlegenen Vergangenheit, sondern der bürgerlichen ,Wirk­

Das emphatische Lebenskonzept bei Schnitzler

lichkeit' um 1900 spielen. Besonders an Frauenfiguren zeigt sich bei Schnitzler immer wieder die defizitäre Existenz im bürgerlichen Korsett. Meist sind es erotische Wünsche, die im Nicht- oder Halbbewussten liegen, die den Figuren nach und nach zu Bewusstsein kommen. Solche Wünsche führen den Figuren vor Augen, wie unerfüllt ihr bisheriges Leben war: dass sie metaphorisch gesprochen ,tot' waren. So ist die Protagonistin aus Frau

Beate und ihr Sohn (1913) anfangs ihrer Rolle als Witwe und Mutter verhaf­ tet, bevor sie, knapp gesagt, ihre erotischen Wünsche entdeckt - und auch auslebt. T ödlich endet die Geschichte schließlich deshalb, weil Beate er­ kennen muss, dass sich ihr Begehren auf den eigenen Sohn richtet - eine Liebe, die gegen die moralischen Normen verstößt und deshalb von ihr (wohl) nicht akzeptiert werden kann (vgl. Titzmann 1998, 97-112 sowie Kap. V.4). In umgekehrter Richtung verläuft die Geschichte in Die Toten schweigen (1897). Der Text erzählt, wie der Geliebte der verheirateten Emma bei einem Treffen des Paares ums Leben kommt. Zwar stirbt der Ge­ liebte wirklich, allerdings hat dieser Tod eine zeichenhafte Bedeutung. Er steht für das Ende der außerehelichen Beziehung, die Abspaltung der se­ xuellen Wünsche, und damit die Möglichkeit der Rückkehr in die Normali­ tät des bürgerlichen Lebens. üb die Protagonistin tatsächlich die von ihr er­ sehnte "Ruhe" (Schnitzler ES 1, 312) findet, lässt der Text offen. Das Ende im Konjunktiv - die Ruhe kommt Emma vor, als "würde" (ebd.) alles gut werden - zeigt prinzipiell, dass die "Toten nicht schweigen und sich die mit dem Geliebten verknüpften Wünsche nicht einfach ausblenden lassen" (lr­ sigler 2014c, 181). In diesem Sinne eröffnet der Text eine Lesart, in der der Tod des Geliebten für das Sterben der außerbürgerlichen Erotik steht, die zum Erstarren Emmas in der bürgerlichen Ehe, also zu einem Tod im meta­ phorischen Sinne, führen könnte (vgl. ebd.). Viele Texte Schnitzlers (und die Literatur der Wiener Moderne insgesamt)

Tod als Auslöser

verhandeln psychologische Prozesse, die prinzipiell aufzeigen, dass die

psychologischer

Grenzen des Bewusstseins variabel sind. Der Tod verweist dabei zeichen­ haft auf die inner- und/oder außersubjektiv begründete Unmöglichkeit, die­ se Grenzverschiebung in ein emphatisches Lebensmodell umzumünzen. Viele Texte, in denen gestorben wird, kreisen also eigentlich um das Leben - der Tod bildet hier vielfach den Ausgangs- oder Endpunkt von Bewusst­ seinsprozessen. Zu solchen Texten zählt neben Leopold von Andrians Der

Garten der Erkenntnis (1895, vgl. Kap. V.2) auch Richard Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs (1900), in der sich die Hauptfigur dem Tod des Freundes Georg stellen muss. Allerdings gerät dieser Bewältigungsversuch zur Auseinandersetzung mit sich selbst: Die Figur muss sich eingestehen, dass der Tod eine Realität darstellt, bei der gängige Muster der subjektiven Bewältigung versagen. Der Tod des Anderen ist daher Anlass für einen psy­ chischen Prozess, der letztlich auf eine veränderte Sicht auf sich selbst und das eigene Leben hinausläuft (vgl. Kap. V.3).

Prozesse

59

60 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur Konzepte von Tod

Gleichzeitig gehört Beer-Hofmanns Text aber auch zu jener großen Grup­

und Sterben

pe von Texten der Wiener Moderne, die sich dezidiert mit dem Problem des Todes befasst. Zumindest literarisch drückt sich eine tiefe Verunsicherung des Individuums in der Konfrontation mit dem Tod aus, was beispielhaft in Arthur Schnitzlers kurzem Prosatext Blumen (1884) deutlich wird. In tage­ buchartiger Form versucht der Erzähler den Tod der früheren Geliebten zu verarbeiten. Schnell wird klar, dass es dem Erzähler überhaupt nicht um die gestorbene Person geht, sondern um eine prinzipielle Auseinandersetzung mit Verlust, Tod und Verfall: "Es ist ja doch nur der allgemeine Schauer, der uns faßt, wenn etwas ins Grab sinkt, das uns einmal gehört hat." (Schnitzler ES 1, 220) Symbolischer Kern der Erzählung ist der Blumengruß der Toten, den er zwar erklären kann, der ihn jedoch gleichzeitig in eine tiefe Unruhe versetzt. Der verwelkende - gleichsam sterbende - Strauß versinnbildlicht das existenzielle Daseins-Problem. Den durch den Tod ausgelösten Schauer - so zeigt sich im Folgenden - wird der Erzähler längere Zeit nicht mehr los. Interessant an der Erzählung ist, dass verschiedene Bewältigungsformen durchgespielt werden, die in der Summe die Hilflosigkeit des Subjekts ange­ sichts des existenziellen Problems nur umso deutlicher zu Tage treten las­ sen. In der Vorstellung, der Tod sei "etwas Freundliches" und wolle "nichts Böses" tun (ebd., 222), drückt sich das Bestreben der Verharmlosung aus; ganz generell stößt eine rationale Bewältigung an Grenzen: Zwar kann er sich die Ereignisse vernünftig erklären, allerdings wird der Tod immer wie­ der als etwas "Gespenstisches" (ebd., 224) empfunden. Vorübergehend tröstlich ist die Erkenntnis, dass jedes Wesen erst gestorben sei, wenn keiner mehr an ihn denkt, was den Versuch darstellt, an der Subjektivität des Ge­ storbenen über den Tod hinaus festzuhalten; und schließlich reagiert die Psyche mit Allmachtphantasien auf den mit dem Tod einhergehenden Machtverlust: "leh kann die Vorhänge herablassen, und die Sonne ist tot.

[ . . ] Ich bin mächtiger als die Sonne und die Menschen und der Frühling." .

(ebd., 227) Die Erzählung zeigt, dass keine dieser Bewältigungsstrategien funktioniert. Das Subjekt zieht sich immer mehr aus dem Leben zurück "zurück von tönenden und lichten Augenblicken; jetzt aber verhallt und verlischt alles, plötzlich, wie in einer dumpfen Grotte" (ebd., 225). Mit dem Verwelken der Blumen geht ein psychischer Verfall einher, zum vermeint­ lich Positiven wendet sich die Situation erst, als die aktuelle Geliebte Gretel den Strauß und damit bildhaft gesprochen die Präsenz von Vergänglichkeit und Tod aus dem Blickfeld des Diaristen entfernt. Erst jetzt kann er die Grot­ te verlassen, )ns Freie hinaus, in den Frühling" gehen (ebd., 228). Der ho­ modiegetische Erzähler scheint über den Berg, indes ist das Problem nur in einer Verdrängung des Todes und Hinwendung zum Leben zu lösen; subs­ tanziell bleibt es aber ungelöst. Verarbeitung

Die Frage, wie dem Tod begegnet, wie er psychologisch und emotional verarbeitet werden kann, beantwortet die Literatur der Wiener Moderne in der Summe so vielgestaltig - und in den meisten Fällen auch widersprüch­ lich und ergebnisoffen - wie Schnitzlers Protagonist in Blumen. In Felix Dörmanns Gedicht Totenliebe aus dem Jahr 1891 überkommt das lyrische

3. Konzepte von Leben und Tod 61

Ich ein sehnsüchtiges Verlangen nach einer Frau, erst nachdem diese gestor­ ben ist; "da lebenswarm noch glühten deine Wangen, I war ich zu kalt" (Dörmann 2014, 17). Bezeichnenderweise endet das Gedicht mit einer Fra­ ge: "Und jetzt, nach Deinem Tod, dies Glutverlangen?" (ebd.) Entwirft die­ ser Text über diesen Widerspruch das Bild eines Subjekts, das dem Tod mit einem gesteigerten Verlangen nach Leben begegnet, so wählt Hofmanns­ thais Protagonist im Drama Der Tor und der Tod (1893) eine ästhetische Form der Todesbewältigung. Claudio, Verkörperung des "Ästheten par ex­

cellence" (Simonis 2000, 292), erkennt erst in der Stunde des Todes seine Lebensdefizite und fühlt durch diese Erkenntnis die Kraft des Lebens wie noch nie zuvor: "Doch hab ich nie mit allen Lebenssinnen I So viel ergrif­ fen, und so nenn ich's gut! I Wenn ich jetzt ausgelöscht hinsterben soll, I Mein Hirn von dieser Stunde also voll, I Dann schwinde alles blasse Leben hin: I Erst, da ich sterbe, spür ich, daß ich bin. [ . . ] So wach ich jetzt, im .

Fühlensübermaß I Vom Lebenstraum wohl auf im Todeswachen." (Hof­ mannsthai SW 111, 79) Der Text zeigt in diesem pathetischen Todesfinale eine ambivalente Haltung gegenüber dem Tod: Denn einerseits ist am Ende eine Abkehr von einer distanzierten, ästhetizistischen Lebensform deutbar, andererseits ist aber auch die Strategie der ästhetischen Todesüberformung erkennbar, die der Grausamkeit des Todes ausweicht (vgl. Simonis 2000, 293). Insgesamt nimmt, so könnte man schlussfolgern, Claudio gegenüber dem Tod eine genauso distanziert-ästhetizistische Haltung ein, wie sie sein Verhältnis zum eigenen Leben schon zu Beginn des Dramas deutlich wer­ den lässt. Noch prägnanter lässt sich die ambivalente Haltung des Subjekts gegenüber dem Tod an Hofmannsthais Gedicht Über Vergänglichkeit (Hofmannsthai SW I, 45) aufzeigen: Die Besonderheit dieser ,Todes- und Vergänglichkeitslyrik' liegt in einer doppelten Codierung des Motivs. Die Ästhetisierung des Todes geschieht vor der Folie einer realen Todessituation: "Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: I Wie kann das sein, daß diese nahen Tage I Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?" (ebd.) Die Situation des Verlustes, bezeichnet als "dies Ding", wird als zu grauenhaft bewertet, um ihr mit den üblichen metaphysischen Sprachfloskeln zu be­ gegnen: "Und viel zu grauenvoll, als daß man klage: I Daß alles gleitet und vorüberrinnt." (ebd.) Hier zeigt sich auf sprachlicher Ebene also die Wir­ kungslosigkeit früherer Bewältigungsformen; stattdessen verdeutlicht das Gedicht im Folgenden einen subjektiven Umgang des lyrischen Ichs, der, bezeichnend für die literarische Moderne, von Widersprüchen geprägt ist: Das lyrische Subjekt fühlt, dass die tote Geliebte Teil seiner Ich-Identität ist. "Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, I Herüberglitt aus einem kleinen Kind." (ebd.) Gleichzeitig ist ihm dieses Ich aber auch "wie ein Hund unheimlich stumm und fremd". (ebd.) Dieses Gefühl von Fremdheit schlägt im nächsten Vers dann wiederum um in Vertrautheit: "Dann [ . . ]1 .

Und meine Ahnen, die im Totenhemd, I [ . . ] So eins mit mir als wie mein .

eignes Haar." (ebd.) Deutlich zeigen sich die Suche nach sprachlicher und emotionaler Bewältigung und insgesamt die Instabilität des Ichs im Ange­ sicht des Todes.

Über Vergänglichkeit

62 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur Realismus vs.

Welche Form der Bewältigung die einzelnen Texte auch ausstellen: In der

Moderne

Vielfalt an Bewältigungsmustern drückt sich aus, dass es für das Thema Tod und Sterben keine konventionellen, kollektiven Formen des Umgangs mehr gibt. Der Tod wird in dieser Literatur hingegen zur subjektiv-psychologi­ schen Angelegenheit. Dieser Paradigmenwechsel wird besonders ersicht­ lich, wenn man einen kurzen Seitenblick auf die Literatur des 19. Jahrhun­ derts wirft, die in weiten Teilen noch über ein "standardisiertes Repertoire an Bewältigungsstrategien" verfügt (Steinhoff 2012, 1817). ,,[Ä]sthetisierte und euphemisierte" die Literatur den Tod lange Zeit "als harmlosen Bruder des Schlafes", ließ sie "gemäß dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit nur die Bösen eines schlimmen Todes sterben [ ...]; phantasierte vom ro­ mantischen Liebestod und der ewigen Vereinigung der Liebenden im Jen­ seits" und sah ihn insgesamt "nicht als Abbruch, sondern als vollendenden Zeitpunkt eines erfüllten Lebens" (ebd.), so lässt sich in der Literatur des Realismus allmählich ein Wandel verzeichnen. Mit der zunehmenden Irre­ levanz religiöser Sinnstiftungssysteme setzt sich zunächst eine "abgeklärte Gelassenheit an die Stelle metaphysischer Todeskonzepte" (ebd.). Der lite­ rarische Todesdiskurs im Realismus lässt sich vereinfacht folgendermaßen zusammenfassen: Ein aufklärerischer Pragmatismus akzeptierte den Tod noch als integrativen Bestandteil des (Familien-)Lebens. Im literarischen (und philosophisch-psychologischen) Diskurs um 1900 erfolgt dann ein Pa­ radigmenwechsel: Tod und Sterben werden zu (subjektivpsychologischen) Grenzerfahrungen, mit denen der Einzelne selbst zu Rande kommen muss.

Tod als "Bezugspunkt des Erzählens"

In diesem Punkt zeigt sich besonders deutlich, wie sich die Literatur der Wiener Moderne von Texten des späten Realismus abhebt: Beiden Literatur­ systemen gemein ist, dass der Tod "Anlass oder Bezugspunkt des Erzählens" ist; jedoch dient er in den Texten der Wiener Moderne vielfach "als Kataly­ sator, dank dessen vorher nicht thematisierte Systemprobleme zur Sprache kommen" (Wünsch 2007b, 351). Schon in der realistischen Literatur stellt der Tod das Subjekt vor ein psychologisches Bewältigungsproblem, was prägnant in Storms Tiefe Schatten-Zyklus (1865) zum Ausdruck kommt. Im Angesicht des Todes der Geliebten formuliert das lyrische Ich: "Markverzeh­ render Hauch der Sehnsucht, / Betäubende Hoffnung befällt mich; / Aber ich raffe mich auf, / Dir nach, dir nach; / Jeder Tag, jeder Schritt ist zu dir. // Doch, unerbittliches Licht dringt ein; / Und vor mir dehnt es sich, / Öde, voll Entsetzen der Einsamkeit; / Dort in der Ferne ahn ich den Abgrund; / Darin das Nichts. -" (Storm 1987, 88) Deutlich wird, dass der Sprecher sich keinen Illusionen über ein etwaiges Leben nach dem Tod hingibt. Es gibt keine tröstenden Sinnsysteme, stattdessen muss das Leben zu Ende gelebt werden, bevor das Ich buchstäblich im Nichts landet. Doch diese Erkenntnis stürzt die Figuren im Realismus selten in Verzweif­ lung. Statt metaphysischer Sinnangebote für die Todesbewältigung wird der Tod in den literarischen Welten des Realismus "zum Maßstab für die Tragfä­ higkeit sinngebender Werte" (Wünsch 2007a, 237) des Lebens. Dies zeigt sich deutlich in Prosatexten des späten Realismus wie Theodor Fontanes

Der Stechlin (1897) oder Conrad Ferdinand Meyers Oie Versuchung des

3. Konzepte von Leben und Tod

Pescara (1887). Das vom Tod bedrohte Subjekt fragt nicht, was nach dem Tod kommt, sondern unterzieht sein Leben einer Prüfung. Er wendet den Blick also dem Leben beziehungsweise der Wertegemeinschaft der Leben­ den zu. Ein Text wie Meyers Die Versuchung des Pescara verdeutlicht diese Tendenz: Der Sterbende geht pragmatisch mit dem Tod um, er verändert weder sein Denken noch sein Handeln, ganz im Gegenteil führt das Wissen um das baldige Sterben zu einer Stärkung von Identität: "Ich kannte die Ver­ suchung lange, ich sah sie gipfeln wie eine heranrollende Woge und habe nicht geschwankt, nicht einen Augenblick, mit dem leisesten Gedanken nicht." (Meyer 1968, 768) Weil Pescara die Werte Treue und Pflicht noch intensiver vertritt als vorher, erzeugt das Wissen um den Tod Stabilität für ihn und die Gesellschaft. In Sterbetexten der Wiener Moderne hingegen werden fragile Ich-Identi­ täten präsentiert, so etwa in Schnitzlers Sterben (1894), der sich beinahe als Summe des literarischen Todesdiskurses der Moderne begreifen lässt. In ihm fehlt jede Beschönigung des Todes, vielmehr bildet sich die Grausam­ keit des Sterbens, das metaphysische Vakuum, das Versagen tradierter Be­ wältigungsformen sowie die Isolation des Sterbenden in radikaler Form ab, dessen Bewusstseinsprozessen der Text konsequent folgt. Es zeigt sich, dass - anders als im Realismus - die Statik des Subjekts mit dem Wissen um die Krankheit aus dem Gleichgewicht gerät. Dieses Wissen löst im Sterbenden einen psychischen Prozess aus, legt seine Affekt- und Triebstruktur frei und führt in letzter Konsequenz zu einer Veränderung seiner moralischen An­ sichten (vgl. Kap. V.3). In Unser Verhältnis zum Tode (1915) aus Zeitgemäßes über Krieg und Tod spricht Sigmund Freud über die Verdrängung des Todes aus dem öffentlichen Raum, die Strategien verdrängen, schönreden und verschweigen, die den Umgang mit dem Thema noch immer beherrschen würden. "Die Neigung, den Tod aus der Lebensrechnung auszuschließen, hat so viele andere Verzichte und Ausschließungen im Gefolge. [ . . ] Es kann dann nicht anders .

kommen, als daß wir in der Welt der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen für die Einbuße des Lebens. Dort finden wir noch Menschen, die zu sterben verstehen." (Freud 2000, 50) Freud erklärt hier die kulturelle Relevanz literarischer Todeskonzepte für das Leben des Lesers. Die Literatur seiner Zeit - so ließe sich schlussfolgern - kompensiert ein Defizit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, indem es etwas zur Sprache bringt, was gemeinhin nicht ausgesprochen wird. Von dieser Warte aus lässt sich verstehen, dass er eine Geistesverwandtschaft zwischen sich und einem Literaten wie Arthur Schnitzler sieht. "Ihr Ergriffen-Sein", so schreibt Freud in einem Geburtstagsbrief im Jahre 1922, "von den Wahrheiten des Unbewussten, von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der Polarität von Lieben und Sterben, das alles berührte mich mit einer unheimlichen Vertrautheit." (Freud 1968, 339) Literatur kommt im Verständnis Freuds eine wesentliche kulturelle Aufklärungsfunktion zu.

Unser Verhältnis zum

Tode

63

64

IV. Aspekte und Geschichte der Literatur

4. Liebe - Sexual ität - Geschlechterrollen Die Thematisierung von Liebesbeziehungen und -konzepten, die explizite oder angedeutete Darstellung sexueller Handlungen und die Reflexion von Gesch lechterrollen sind elementare Bestandtei le der Literatur der Wiener Moderne. Alle wichtigen Autoren, von Peter Altenberg, Richard Beer-Hof­ mann oder Leopold von Andrian über Felix Saiten, Hugo von Hofmannsthai und Arthur Schnitzler bis hin zu Hermann Bahr, haben sich diesem Themen­ komplex auf ganz unterschiedliche Art und Weise literarisch zugewandt. Damit reagierten sie auf entsprechende Diskurse der Zeit, an denen sie gleichzeitig auch mitwirkten (vgl. Fähnders 2010, 108-114). Freuds Ausein­ andersetzungen mit der Triebhaftigkeit des Menschen hatten daran einen ent­ scheidenden Anteil, doch auch abgesehen von seinem Wirken war Sexualität als Thema virulent, wie beispielsweise die psychiatrische Studie mit dem Titel Psychopathia sexualis.

Mit besonderer Berücksichtigung der conträren

Sexualempfindung von Richard Krafft-Ebing aus dem Jahr 1886 zeigt, die

mehrfach neu aufgelegt wurde. Parallel zu Frauen- und Emanzipationsbewe­ gungen stand insbesondere das weibliche Geschlecht im Fokus und geriet da­ bei immer wieder zur Zielscheibe. Dies zeigen provozierende frauenfeind­ liche Schriften wie Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1900) von Paul Julius Möbius oder Otto Weiningers breit rezipiertes Werk Geschlecht und Charakter(1903) (vgl. Le Rider 1985). Dennoch kann für die

Jahrhundertwende von einem "Dualismus im Frauenbild" (Fähnders 2010, 110) gesprochen werden, der sich in einer "grundsätzlichen Tendenz der

, Feminisierung' des Lebens und der Kunst" (ebd.) ausdrückt, woran auch die Literatur der Wiener Moderne einen entscheidenden Anteil hatte. Mit der Betonung von Weiblichkeit und Sexualität ging jedoch eine Revision von Liebeskonzepten einher. ,Neue Psychologie'

In Bahrs Roman Oie gute Schule beispielsweise, der als Versuch einer li­

und ,Neue Liebe'

terarischen Umsetzung seiner eigenen Programmatik im Sinne einer , neuen Psychologie' gelesen werden kann (vgl. Kap. 1V.1), wird ein vermeintlich zeitgemäßes Liebeskonzept postuliert. Die Krise des Subjekts (vgl. Kap. 1V.2), die sich in diesem Roman im Bild des Künstlers in einer Schaffenskrise

manifestiert, führt den Protagonisten zur Reflexion über die Notwendigkeit der Revision einer traditionellen Liebeskonzeption: "Der Aberglaube war doch zu einfältig, daß in dem ewigen Wechsel aller Dinge die Liebe allein unwandelbar bliebe, von der Steinzeit bis aufs Elektrische, in immer glei­ cher Form." (Bahr 1997, 114) Er stellt die Liebe in eine Reihe mit umfassen­ den anthropologischen Elementen, die ebenfalls einem Wandel unterliegen würden: ,, Es wechselten Götter und Recht, die Hoffnungen und die Wün­ sche, das Leben und das Denken. Natürlich wechselte auch die Liebe." (ebd.) Die Liebe müsse den tiefgreifenden Veränderungen der Lebenswelt im ausgehenden 19. Jahrhundert gerecht werden: "Und die neue Zeit be­ gehrte neue Liebe, wie sie neue Kunst begehrte." (ebd.) Durch die Verknüp­ fung mit den für die "neue Zeit" zentralen Begriffen der "Dekadenz und fin de siede" (ebd.) untermauert der Maler diese Forderung. Zwar folgert er,

4. Liebe - Sexualität - Geschlechterrollen

dass diese neue Liebe "eine maschinenmäßige Liebe" (ebd., 117), ja gar in Anspielung auf Thomas Edison, der mit seinen Erfindungen zur ,neuen Zeit' beitrug - eine "Edison-Liebe" (ebd., 115) sein müsse. Doch verbleibt diese Konstruktion eines neuen Liebeskonzepts ambivalent: "Die neue Lie­ be mußte ungeheuer sein, gewaltsam, roh, jäh, furchtbar, maßlos - gotisch mußte sie sein, wie die Zeit. Und dabei etwas ganz Feines, Zartes, zierlich Gedrechseltes, wie ein japanisches Figürchen." (ebd., 116) Die Liebe soll also, schließlich "mußte sie sein, wie die Zeit", auf die Lebensveränderun­ gen reagieren. Wie genau dies vonstattengehen soll, bleibt dem Maler je­ doch unklar: "Freilich, das Detail blieb noch geheim" (ebd., 117) heißt es an einer Stelle. Die kurzzeitig aufgelebte Begeisterung über seine Idee der neuen Liebe flacht ähnlich abrupt ab, wie sie begann, analog zu seinen Emotionen und Stimmungen in Bezug auf seine Kunst und seine Beziehung: "Aber das alles", gemeint ist die Konkretisierung der ,neuen Liebe'",lag noch schwarz im Nebel." (ebd.) So bleibt das Postulat der ,neuen Liebe' aufgrund dieser Ambivalenz in­ haltsleer, womit diese jedoch wiederum der allgemeinen Krisensituation des Subjekts entspricht. Die ,neue Liebe' erscheint somit als konsequente Zuspitzung der Empfindung der neuen Zeit als bedrohend für das Ich: Wenn neben der ,Unrettbarkeit des Ichs' im Sinne Machs (vgl. Kap. 1V.2) selbst die Liebe entidealisiert wird und als ,maschinenmäßig' zu verstehen ist, entfallen sogar diese emotionalen Bindungen als Stütze des Subjekts, womit diese der Zeit geschuldete Liebeskonzeption der Erschütterung des Subjekts nicht entgegenwirkt, sondern im Gegenteil noch dazu beiträgt. Die ,neue Liebe' kann daher als Dekonstruktion idealisierender Liebeskonzep­ tionen, wie sie jahrhundertelang über die Literatur tradiert wurden, verstan­ den werden. Als zentrales Motiv gilt damit einhergehend auch die Relativierung von Liebe als Gefühl. Viele Texte betonen sowohl die Flüchtigkeit als auch die

Flüchtig- und Belie­ bigkeit der Liebe

Beliebigkeit der Liebe als emotionale Zuwendung. Schon der namenlose Protagonist aus Bahrs Oie gute Schule denkt in einer seiner Stimmungslagen "ohne Zweifel", dass es "das Einfachste und Bequemste war [ . . L wenn er .

sich entschloß, sie zu lieben" (Bahr 1997, 113). Wenn der Mensch nicht mehr zum Spielball der Liebe werden kann, sondern die Notwendigkeit be­ steht, Liebe nur noch zu empfinden, wenn man sich für sie entscheidet, so wird dieses Gefühl entromantisiert. In Arthur Schnitzlers Drama Liebelei wird emotionale Flüchtigkeit sowie die Beliebigkeit der Partnerwahl von den männlichen Figuren gar zu einem Beziehungskonzept verklärt (vgl. Kap. V.5). Thematisiert werden diese Aspekte der Liebe unter anderem auch in einer Prosaskizze Peter Altenbergs. In Liebeserklärung (1918) wendet sich ein nicht identifizierbares Subjekt an einen Mann namens Max. Während der erste Satz "üh, Max, ich möchte für dich alles, alles sein, oh Max!" (Alten­ berg 1997, 408) noch suggeriert, dass sich die Person für Max I iebend auf­ opfern möchte, wird dies durch die sich daran anschließende Aussage rela­ tiviert: "Aber wenn ich dann endlich für dich wirklich alles wäre, würde mir

Altenberg: Liebeserklärung

65

66 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur dieser Zustand des

Für-dich-alles-sein allmählich

langweilig werden!"

(ebd.) Die Vorläufigkeit des Gefühls wird explizit benannt, wenn es heißt "Dich erringen, ist vorläufig meine reelle, unentrinnbare Sehnsucht." (ebd.) Dass Max als potenzieller Partner völlig austauschbar ist, kommt in der Ant­ wort auf die selbstgestellte Frage, warum ausgerechnet Max auserwählt wurde, zum Ausdruck: "Wahrscheinlich, weil ich dich noch nicht gewon­ nen habe!" (ebd.) Durch den Schlusssatz wird schließlich die Flüchtigkeit von Emotionen und des damit einhergehenden Begehrens deutlich. Max solle sich doch endlich gewinnen lassen, so ist zu lesen, denn: "je schneller es geschieht, desto schneller bist du mich armes Mistviech los!" (ebd.) Die­ sen Text mit Liebeserklärung zu betiteln erscheint daher regelrecht als Ver­ höhnung dieses Gefühlszustandes. Beer-Hofmann:

Als weiteres Beispiel für die Thematisierung der Flüchtigkeit von Liebe

Camelias

kann Richard Beer-Hofmanns Erzählung Camelias (1891) gelten. Der Prota­ gonist Freddy sinniert, während er von einem Ball kommend nach Hause schlendert und sich zu Bett begibt, also während weniger Stunden erzählter Zeit, über seine Gefühle. Auslöserin für seine emotionalen Reflexionen ist eine junge Dame namens Thea, die ihn mit ihrer "Backfischkoketterie" (Beer-Hofmann GA 2, 86) aus der Fassung bringt. Freddy, der seit dreizehn jahren mit einer Frau namens Franzi liiert ist, fallen zunächst nur kleine De­ tails des Abends ein - ein Stück von Theas Kleid, einige Gesprächsfetzen -, während er die letzten Stunden rekapituliert. je mehr er allerdings über Thea nachdenkt, desto mehr glaubt er, sie zu lieben: "Er liebte sie also?!" (ebd., 92) Gleichzeitig beginnt er, seine Beziehung zu Franzi herabzuset­ zen. Nach und nach findet er etwas an seiner Partnerin auszusetzen; ihre Herkunft, ihr Interesse an finanzieller Absicherung und auch ihre mangeln­ de Leidenschaft: "Und nicht einmal hingegeben - denn da war nichts von Liebe oder Hingabe gewesen; unreif, lüstern und neugierig war sie hinein­ getölpelt in den Schmutz und die Sünde! - Und mit so was hatte er dreizehn jahre gelebt!" (ebd., 95) Freddy fasst daraufhin einen Entschluss: "Morgen heut noch, wollte er ihr den Laufpaß geben!" (ebd., 96) Tatsächlich wird er - zumindest symbolisch - aktiv: Er wischt die wöchentliche, für Franzi be­ stimmte und aus einem Strauß Camelias bestehende Bestellung, die er auf einer Schiefertafel notiert hat, weg und ersetzt sie durch die Order von Par­ ma-Veilchen für Thea. Damit streicht er seine Partnerin aus seinem Leben, um an ihre Stelle Thea zu setzen. Doch dieser symbolische Akt scheint einen neuen Denkprozess anzustoßen. Die Abänderung der Gewohnheit der Strauß Camelias für Franzi war ein wöchentlich wiederkehrendes Ereig­ nis in ihrer Beziehung - veranlasst ihn zu weiteren emotionalen Reflexio­ nen. Freddy merkt, dass er sich in seinem aus Gewohnheiten bestehenden Alltag gut eingerichtet hat: "In seiner jetzigen Lebensweise war alles vorge­ sehen, alles geregelt; Nahrung, Schlaf, Vergnügen - selbst sein Verhältnis zu Franzi. Wenn er jetzt heiratete, wurde ja all' das über den Haufen gewor­ fen!" (ebd., 100) Er beginnt, die Relativierung seiner Beziehung zu Franzi zu relativieren: "Sie war eigentlich gar nicht so arg!" (ebd., 105) Seine noch vor wenigen Stunden aufgeflammte Liebe zu Thea verflüchtigt sich so

4. Liebe-Sexualität-Geschlechterrollen

schnell wie sie ihn erfüllt hat. Der Fetzen von Theas Kleid, der zuvor als Auslöser für seine Gefühle zu ihr fungierte, dient ihm schließlich nur noch als Wiederherstellung der alten Gewohnheit: "Aus der Westentasche zog er ein Stückchen weißen Crppe de Chine - von Theas Kleid - er lächelte trau­ rig, dann fuhr er damit über die Schreibtafel und schrieb von neuem: ,Mor­ gen Camelias bestellen, für Mittag. Adresse wie gewöhnlich'!" (ebd., 107 f.) Trotz dieser Relativierung von Liebe als Gefühl tradieren einige Texte auch in der Literaturgeschichte geläufige Liebeskonzepte, etwa die zum Tod

Aufopfern für die Liebe

führende Idealisierung dieser Emotion, die Aufopferung für die Liebe. So scheitert Christine, die Hauptfigur aus Schnitzlers frühem Bühnenerfolg

Liebelei - darin ganz der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels verhaftet (vgl. Fritz 1992) -, an ihrem Festhalten an einer idealisierten und aufop­ fernden Liebe (vgl. Kap. Y.S). Auch Johanna Wegrat aus Schnitzlers Drama

Der einsame Weg (1903) wird von der Unmöglichkeit der Erfüllung ihrer Liebe zum todkranken Stephan von Sala in den Suizid getrieben. Die Idea­ lisierung der Liebe, die Aufopferung für den Anderen führt zur Katastrophe: Wahre Liebe und Tod fallen also auch in der Wiener Moderne oft in eins (vgl. Kap. IV.3). Es kann daher konstatiert werden, dass in der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende Liebe als emotionaler Wert relativiert und die unter­

Darstellung von Sexualität

schiedlichsten Liebeskonzeptionen auf den P rüfstand gestellt und in der Regel als gescheitert dargestellt werden - nicht zuletzt auch die Ehe als Partnerschaftsinstitution (vgl. Kap. IY.S). Damit einher geht eine gleichzei­ tige Betonung der Sexualität. Was Freud zur gleichen Zeit in seinen psy­ chologischen Studien beschrieb - die Abhängigkeit des Ichs von seinen Trieben -, thematisierten die Literaten in ihren Texten, mal explizit und offensichtlich, mal metaphorisch. Die Infragestellung von den Möglich­ keiten der Liebe geht also einher mit einer Betonung allgegenwärtiger trieb­ gesteuerter Sexualität. Nicht nur in dem skandalumwobenen und Felix Saiten zugeschriebenen pornografischen Text josefine Mutzenbacher (1906), der Lebensgeschichte

einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt, finden sich explizite Dar­ stellungen sexueller Handlungen. Bereits in Bahrs Oie gute Schule werden die Liebesspiele der Figuren recht offen beschrieben. Die Adern des Malers "rauschten von flüssigem Golde und von gewälztem Feuer und von damp­ fenden Weinen, wenn er, mit geblähten Nüstern, nur den Balsam ihrer brau­ nen Brüste schlürfte, und über seine Nerven jedesmal, daß sie sich bogen, war ein großer Wirbelwind gebraust aus glühenden Wonnen, jedesmal, un­ ter prasselnden Stößen, wenn seine hungrige Zunge die heißen Rosen ihres Fleisches leckte" (Bahr 1997, 94). Die Sprache kombiniert Explizitheit (Brüste, Stöße, leckende Zunge) und eine Metaphorik, die einerseits kon­ ventionell (Balsam, Rosen) und andererseits animalisch-triebhaft (hungrig, Fleisch) konnotiert ist. Die Dekonstruktion von Liebe kommt in diesem Roman auch dadurch zum Ausdruck, dass sich das Paar nur über seine sexuelle Beziehung als sol­ ches definiert, selbst als die Sexualität zunehmend aus den Fugen gerät und

Explizite und offensichtliche Darstellungen

67

68 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur animalisch gewalttätig sowie sadomasochistisch bis hin zur Vergewaltigung wird: "Die Kleider herunter, in Fetzen, bog sie über, und mit seiner Hunds­ peitsche. Er wollte sie ganz verwüsten und entfleischen, bis gar keine Spur mehr übrig und er befreit wäre. [ . . ] Da zwang er sie dann zur Liebe und .

züchtigte sie mit Küssen, während sie stieß, speichelte und fletschte." (ebd., 131) Weniger explizit und dennoch offensichtlich thematisiert Schnitzler den Geschlechtsakt im zur damaligen Zeit umstrittenen Drama Reigen (vgl. Kap. 111.3). Der mehrfach stattfindende Sexualakt zwischen verschiedenen Partnern wird hier lediglich im Schriftbild durch die Aneinanderreihung mehrerer Striche angezeigt, wodurch die Imagination der Rezipienten auf besondere Weise angeregt wird (vgl. Schwarz 2012, 193-201). Durch die Dialoge vor und nach dem Sexualakt ist jedoch eindeutig, dass die beiden Figuren, die in einer Szene auftreten, während der Szene miteinander schla­ fen, aber eben ohne dass der Sexualakt an sich zur Darstellung gelangt. Der Sexualtrieb wird hier unabhängig von Geschlecht und gesellschaftlichen Stufen thematisiert. Durch die Struktur des Dramas - jeder Szene folgt eine Szene, in der eine Figur der vorangegangenen Szene mit einer neuen Figur auftritt, die in der anschließenden Szene wiederum mit einer neuen Figur

Andeutungen und Metaphern

zusammenkommt - wird die Allgegenwärtigkeit sexueller Handlungen deutlich. Neben solch expliziten und offensichtlichen Darstellungen sexueller zwi­ schenmenschlicher Beziehungen finden sich in den Texten der Wiener Mo­ derne zahlreiche Beispiele für metaphorische Anspielungen auf Sexualität. So wird in Hofmannsthais Reitergeschichte der Einritt in eine Stadt mit sexu­ ell konnotierten Beschreibungen erzählt (vgl. Kap. Y.2). In Schnitzlers Er­ zählung Frau Beate und ihr Sohn wird ein inzestuöses Liebesspiel zwischen den titelgebenden Personen angedeutet (vgl. Kap. Y.5). Auch einige Dramen weisen entsprechende Deutungsmöglichkeiten auf. In Schnitzlers kurzem Einakter Denksteine (1890) aus dem A natol Zyklus -

beispielsweise gerät der Nebentext zum metaphorischen Sexualakt. Anatol durchwühlt aus Eifersucht das Zimmer seiner Partnerin Emilie auf der Suche nach Hinweisen auf andere oder frühere Liebhaber. Die Szenenbeschrei­ bung zu Beginn des Textes korreliert das Eindringen des Mannes in die Pri­ vatsphäre einer Frau mit der Penetration eines phallusartigen Baumes in das Zimmer: "der Gipfel eines Baumes, kaum noch belaubt, ragt in die Fenster­ öffnung' (Schnitzler HKA 2, 934). Die Andeutung eines metaphorischen Se­ xualaktes wird noch einmal hervorgehoben, wenn Anatol nach wenigen

Dialogzeilen "beginnt die Laden aufzureißen" (ebd., 935). Im Dialog selbst ist es Emilie, die "unschuldig' (ebd., 938) von ihrer Entjungferung berichtet. Der Phallus samt Schambehaarung wird hier zum IISonnenstrahl [ . . l, der zwischen dem Gesträuche hervorkam und über einen Haufen gelber Blu­ .

Seitensprünge als Paradigma

men glitzerte" (ebd.). Als weiteres Kennzeichen für die Aufwertung von Sexualität bei gleich­ zeitiger Relativierung traditioneller Liebeskonzepte ist die häufige Themati­ sierung von Seitensprüngen sowohl aufseiten der Frauen als auch aufseiten

4. Liebe - Sexualität - Geschlechterrollen 69

der Männer zu nennen. Dass es sich dabei offensichtlich nicht um verein­ zelte Randphänomene handelt, kommt beispielsweise durch feine Nuancen in der Figurenbehandlung zum Ausdruck. So tritt die immerhin für sämtli­ che tragische Verwicklungen entscheidende und mit einem anderen ,Herrn' verheiratete Geliebte von Fritz Lobheimer in Schnitzlers Schauspiel Liebelei weder namentlich noch als Figur auf. Von Fritz selbst nur als "Dame in Schwarz" (Schnitzler HKA 4,945) bezeichnet und von seinem Freund Theo­ dor als "jenes Weib" (ebd., 928) tituliert, ist sie der Auslöser für das Duell, bei dem Fritz ums Leben kommt; ein Ereignis, das die Protagonistin Christi­ ne ins Verderben treibt (vgl. Kap. Y.5). Diese Form der Austauschbarkeit und Entindividualisierung, die durch die Namenlosigkeit impliziert wird, fungiert als literarische Anspielung auf das vermeintlich typische Verhalten verheirateter Frauen im Wien der Jahrhundertwende. Dies ist auch bei Schnitzlers Dialog-R eigen der Fall, in dem die männli-

Reigen

chen und weiblichen Figuren- zumindest im Nebentext- ebenfalls namenlos bleiben. Da treibt es die ,Dirne' mit dem ,Soldaten', dieser wiederum vergnügt sich mit dem ,Stubenmädchen'. Diese lässt sich auch vom ,jungen Herrn' verführen, der hingegen außerdem ein Stelldichein mit der ,jungen Frau' hat, die aber auch in ihrer Ehe ihre Sexualität mit ihrem ,Ehegatten' auslebt. Der lässt sich beim außerehelichen Vergnügen mit dem ,süßen Mädel' ein, die andererseits auch mit dem ,Dichter' anbändelt, der darüber hinaus mit der ,Schauspielerin' schläft. Diese hat ein Verhältnis mit dem ,Grafen', der- und so schließt sich der Liebesreigen- die Dirne aufsucht. Aus konsequent weiblicher Perspektive wird der Seitensprung in Hofmannsthals lyrischem Drama Oie Frau im Fenster (1898) thematisiert. Madonna Dionara erwartet ihren Liebhaber, indem sie von ihrem Balkon eine Strickleiter herablässt. In ausführlichen Monologen sehnt sie sich dem Zeitpunkt der Liebesnacht entgegen: "Doch sind es martervolle Stunden! Nein! / nein, nein, nein, nein, so schön, so gut, so schön! / er kommt:

0

weit im

Wege ist er schon!" (Hofmannsthai SW 111, 108) Stattdessen wird sie jedoch von ihrem Mann Messer Braccio aufgesucht, der die Situation rasch erfasst und sie mit ihrem Verhalten konfrontiert. Obwohl sie ahnt, dass ihr Ehemann sie vor Eifersucht töten könnte, gesteht sie ihre Leidenschaft zu einem Anderen, verhöhnt gar ihren Mann, wenn sie ihm vorwirft, dass jeder ihr außereheliches Glück hätte bemerken können. Der Nebentext macht dabei deutlich, dass sie sich in einen quasi rauschhaften Zustand steigert, denn sie spricht "in einem fast deliranten Ton" folgende Worte zu ihrem Gatten: "Wer mich nur gehen sah, der mußt' es wissen! / Ging ich nicht anders? saß ich nicht zu Pferd / wie eine Selige?" (ebd., 113) Sie steigert sich regelrecht in einen todesmutigen Liebestaumel, als sie ihm mit einem eindeutigen Ge­ ständnis ihren Ehebruch ins Gesicht schreit. Ihr Mann fragt sie, was sie getan hätte, wenn er nicht überraschend zu ihr gekommen wäre. Sie "sieht ihn wirr an, begreift die neuerliche Frage nicht, greift sich mit der rechten Hand an die Stirne, hält ihm mit der I inken die Strickleiter hin, schüttelt sie vor seinen Augen, läßt sie ihm vor die Füße fallen" und antwortet "schreiend": "Gethan? gewartet! so! gewartet, so!", wobei sie "wie eine Trunkene ihre

Die Frau am Fenster

70 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur offenen Arme vor seinem Gesicht [schwingt]." (ebd., 114) Messer Braccio kann sich diesen Ausbruch aus der Ehe nicht gefallen lassen, ,,[m]it der Si­ cherheit eines wilden Tieres auf der Jagd" (ebd.) erwürgt er seine Frau mit dem Symbol ihres Ehebruchs: mit der Strickleiter. Weiblichkeits-

Der Tod von Frauen als Ausdruck für die (damals noch vorhandene) Un-

konzepte

möglichkeit, neue Weiblichkeitskonzepte zu etablieren und traditionelle Rol­ lenmuster aufzubrechen, ist ein zentrales Motiv der Zeit, wie neben Oie Frau

im Fenster beispielsweise Schnitzlers Erzählungen Frau Beate und ihr Sohn sowie Fräulein Else zeigen (vgl. Kap. V.4). Die Auseinandersetzung mit Ge­ schlechterrollen, wie sie auch in der das Begehren offen zur Schau stellenden Madonna Dionara zum Ausdruck kommt, ist immer wieder zu beobachten. In diesem Zusammenhang ist Hofmannsthais Bearbeitung des Elektra­ Mythos (1904) bemerkenswert. Verzweifelt über die Ermordung ihres Vaters Agamemnon durch ihre Mutter Klytämnestra verfolgt Elektra Rachegelüste. Sie hat die Hoffnung, dass ihr Bruder Orest die von den Göttern gewollte Rache vollziehen wird. Als sie von seinem vermeintlichen Tod erfährt, ver­ sucht sie zunächst ihre phlegmatische Schwester Chrysothemis zu überre­ den, gemeinsam den Muttermord zu begehen, um die frevelhafte Tötung zu vergelten. Als diese sich weigert, ist Elektra konsequent, wenn sie, laut Re­ gieanweisung "mit wilder Entschlossenheit", beschließt, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen: "Nun denn allein!" (Hofmannsthai SW VII, 96) Als Orest schließlich doch auftaucht, um den Vater zu rächen, ist Elektra an der Tötung zwar nicht beteiligt, durchlebt den Mord aber in Hörreichweite mit. Von der Ferne scheint sie ihrem Bruder beizustehen, gar symbolisch mitzu­ wirken. Als sie den Todesschrei ihrer Mutter vernimmt, "schreit" sie "auf, wie ein Dämon": "Triff noch einmal!" (ebd., 106) Als unmittelbar darauf "ein zweiter Schrei" (ebd.) ertönt, wird die symbolische Beteiligung Elektras angedeutet, denn der Schrei erscheint als direkte Reaktion auf ihre unge­ hörte Aufforderung, noch einmal zuzuschlagen. Hofmannsthais modernisierte Fassung des Mythos basiert in den Grund­ anlagen der Hauptfigur auf dem gleichnamigen antiken Drama des griechi­ schen Tragödiendichters Sophokles, der bereits im 5. Jh. v. Chr. Elektra als "Inkarnation der Rache" (Walther 2010, 155) dargestellt hatte. Es ist jedoch entscheidend, dass Hofmannsthai ausgerechnet Sophokles als Vorlage he­ ranzieht, denn in der Bearbeitung des Mythos durch Aischylos, einem wei­ teren antiken Tragiker, war Elektra als Figur deutlich passiver angelegt. Die Betonung von weiblicher Aktivität, Stärke und Selbstbewusstsein, die der hofmannsthalschen Elektra immanent ist, erscheint vor dem Hintergrund, dass "der ,Krieg der Geschlechter' eines der großen Themen der Epoche" (Le Rider 2008, 107) zur Zeit der Wiener Moderne war, und zwar in den unterschiedlichsten "Bereichen der ästhetischen und theoretischen Moder­ ne, der Literatur, den künstlerischen Disziplinen, der Philosophie, den neu­ en Human- und Sozialwissenschaften" (ebd.), als literarisches Statement. "Weiblichkeit", so Gisela Brinker-Gabler, wird in der Moderne "neu ver­ handelt", die Epoche ist geprägt von "neuen Zuschreibungen und Definitio­ nen des Weiblichen" (Brinker-Gabler 2000,243).

4. Liebe-Sexualität-Geschlechterrollen

Die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Geschlecht war bei den männlichen Autoren der Wiener Moderne allgegenwärtig. Neben der un­ schuldigen Kindfrau, der sogenannten femme enfant, die oft in Peter Alten­

femme enfant, femme fragile und femme fatale

bergs Prosaskizzen zu finden ist, wurde dabei insbesondere das Bild einer

femme fragile literarisch konstruiert (vgl. Thomalla 1972; Schwarz 2012). Dieses Stereotyp steht für "eine stets kränkliche, sehr kindlich anmutende Frauenfigur, meist adliger Herkunft, die dem Tode näher steht als dem Le­ ben" (Schwarz 2012, 46). Als Beispiele gelten in der Forschung die Frauen­ figuren in Beer-Hofmanns Der Tod Ceorgs (vgl. Kap. V.3) oder Schnitzlers

Fräulein Else (vgl. Kap. V.4). Des Weiteren greifen viele Texte dieser Zeit ein traditionelleres Rollenkonzept von Weiblichkeit auf, wenn sie an das "Mo­ tiv der Männer verderbenden, verführerischen Frau" (Schwarz 2012, 92), der femme fatale, wieder anknüpfen - wie beispielsweise Felix Dörmann in seiner Lyrik (vgl. ebd., 92-101). Insbesondere Arthur Schnitzler hat sich, wie zahlreiche Forschungsbeiträ­ ge aufzeigen (vgl. bspw. Gutt 1978, Möhrmann 1985, Weinhold 1987, Kno­ ben-Wauben 1990, Dangel 1991, Catani 2014), in seinen Texten mit einer Vielzahl von typisierten Frauenfiguren auseinandergesetzt. Er "entfaltet", so Stephanie Catani im jüngsten Forschungsbeitrag, "in seinen Texten ein Ty­ pen-Kaleidoskop, das zeitgenössische Geschlechterrollen pointiert ein­ fängt" und erweist sich dabei "als genauer Beobachter einer Jahrhundert­ wende, die dem Sexus eine zentrale Rolle einräumt." (Catani 2014, 309) Besonders der Typus des sogenannten ,süßen Mädels' wird von ihm kontu­ riert (vgl. Gutt 1978, 59-68; Schwarz 2012, 86-92). Dabei handelt es sich um ein "unschuldiges, unverbrauchtes Mädchen" (Schwarz 2012, 86L das oft "für das reiche Bürgertum eine willkommene und vor allem billige Ar­ beitskraft" (ebd., 87) als Stubenmädchen oder ähnliches ist und damit für den Mann als )deales Objekt seiner sexuellen Begierden" (ebd., 87 f.) fun­ giert. Schnitzler begnügt sich jedoch nicht mit der Konstruktion solcher und anderer Typen. Eine Kritik an dem von den Männern geliebten und gelebten Rollenmodell des ,süßen Mädels' wird beispielsweise im Schicksal Christi­ nes aus Liebelei deutlich (vgl. Kap. V.5). Frauen, so kann werkübergreifend konstatiert werden, bleiben bei Schnitzler in der Regel in den gesellschaft­ lichen Konstruktionen ihres Geschlechts gefangen, die sowohl durch Zu­ schreibungen von außen als auch durch internalisierte bürgerliche Normen und Verhaltensmuster auf das Individuum einwirken: "Er stellt dem An­ schein nach moderne, das heißt emanzipierte, gut ausgebildete und häufig kultivierte Frauen dar, die sich jedoch in ihrem Gefühls- und Liebesleben praktisch niemals von den Rollen befreien, die ihnen durch die männlichen Phantasien vorgegeben sind: die Rolle der Mutter, Geliebten, Prostituierten, Femme fatale, des halb neckischen, halb naiven Mädels aus der Vorstadt, welche alle früher oder später zu einer Art Opfer bestimmt sind." (Le Rider 2008, 108)

Schnitzlers Frauentypen

71

72

IV. Aspekte und Geschichte der Literatur

5. Gesellschaftskonflikte Literatur und die Kultur, in der sie entsteht, stehen nicht in einem simplen Abbildungs-, sondern in einem komplexen Wechselverhältnis. Gesellschaft­ lich relevante Themen werden von Texten reflektiert und Texte wiederum prägen gesellschaftliche Diskurse. Literarische Fiktionen sind daher Aus­ druck einer "kulturellen Selbstverständigung" (Gymnich/Nünning 2005, 17), wodurch, dem Literaturwissenschaftler Wilhelm Voßkamp zufolge, Literatur eine zentrale Funktion erfüllt: )n Texten beobachten sich Kulturen selbst." (Voßkamp 2003, 77) Als "Gegenstände der kulturellen Selbst­ wahrnehmung und Selbstthematisierung" (ebd.) ermöglichen sie in einer historischen Perspektive den Zugriff auf Themen und Diskurse vergangener Zeiten. So erweisen sich in Bezug auf die Literatur der Wiener Moderne insbe­ sondere Arthur Schnitzlers Zeitstücke als Spiegelbild gesellschaftlicher Ge­ gebenheiten. Dies wird vor allen Dingen in dem expliziten Bezug entspre­ chender Dramen zu ihrer Entstehungszeit deutlich, der häufig durch Orts­

Das Märchen, Schnitz­ Professor Bernhardi, Schnitzler

und Zeitangaben wie "Wien - Gegenwart" (bspw. in ler DW 1, 125) oder "Wien um 1900" (in

DW 2, 338) angezeigt wird. In Schnitzlers Werken stehen bei alledem hin­ sichtlich der Reflexion von Sozial- und Gesellschaftsthemen insbesondere die Institution der Ehe, die Doppelmoral, der Duellzwang und der in Wien virulente Antisemitismus im Vordergrund. Die Texte reagieren damit auf die allgemeine kulturelle Krisensituation in Österreich um die Zeit der Jahrhun­ dertwende (vgl. Kap. 1.1). Ehen in der Krise

Die Ehe als gesellschaftliche Institution einerseits und die offensichtlichen Schwierigkeiten der Partner, diese dauerhaft zu führen andererseits, gerät dabei häufig in den Fokus der Literatur. Der mit der Heirat einhergehenden gesellschaftlichen Erwartungshaltung monogamer zwischenmenschlicher Beziehungen kann offensichtlich schwer entsprochen werden, was sich in außerehelichen Affären zeigt, die - zumindest in den Texten der Zeit - eher die Regel als die Ausnahme darstellen (vgl. Kap. IV.4). Der "Gegensatz einer auf Kontinuität und Dauer gegründeten Institution und der Inkonstanz eroti­ scher Empfindungen" (Offermanns 1973, 25) führt in den Dramen Schnitz­ lers dazu, eben diese Institution literarisch auf den P rüfstand zu stellen. Eines der zentralen Werke zu diesem Themenkomplex ist die dreiaktige ,Komödie'

Zwischenspiel (1905), die aufgrund eines tendenziell negativen

Endes überwiegend Züge einer Tragödie aufweist (vgl. Orth 2014c). Bereits der ursprüngliche Arbeitstitel "Neue Ehe" deutet die thematische Ausrich­ tung an: Das Künstlerehepaar Amadeus Adams und Cäcilie Adams-Orten­ burg bleibt nach dem gegenseitigen Eingeständnis außerehelicher Neigun­ gen zwar verheiratet und befreundet, trennt sich jedoch als Paar. Mit diesem neuen Ehekonzept versuchen sie, die Distanz zwischen kurzfristigen eroti­ schen Versuchungen und gegenseitiger dauerhafter Verbundenheit zu über­ winden. Doch ihre angeblich fortschrittliche Vereinbarung basiert auf Selbstbetrug, erkennt Cäcilie am Ende des Dramas: "Wenn alles andere

5. Gesellschaftskonflikte

wahr gewesen ist, - daß wir beide uns so schnell darein gefunden in jener Stunde, da du mir deine Leidenschaft für die Gräfin und ich dir meine Nei­ gung für Sigismund gestand - das ist nicht Wahrheit gewesen. Hätten wir einander damals unseren Zorn, unsere Erbitterung, unsere Verzweiflung ins Gesicht geschrien, statt die Gefaßten und Überlegenen zu spielen, dann wären wir wahr gewesen, Amadeus, - und wir waren es nicht." (Schnitzler DW 1, 960) Die ,neue Ehe' scheitert: Amadeus erlaubt sich eine Affäre, kann die Vorstellung aber nicht verkraften, dass auch seine Frau eine Bezie­ hung eingegangen ist. Cäcilie jedoch hatte in der Trennungsphase kein Ver­ hältnis, sondern den Weg zu sich selbst gefunden. Selbstbewusst lehnt sie eine gemeinsame Zukunft mit ihrem Mann ab, als sie erkennt, dass dieser sich selbst etwas zugesteht, was er ihr verwehren möchte: eine Beziehung außerhalb der Ehe. Eine Relativierung des Konzepts Ehe und eine damit einhergehende kritische Reflexion dieser gesellschaftlichen Institution findet sich auch im Einakter Die Gefährtin (1899). Die Handlung des kurzen Theaterstücks setzt nach dem Tod von Eveline, der Ehegattin von Professor Robert Pilgram ein und offenbart im Stile eines analytischen Dramas schrittweise den Zustand der Ehe vor dem tödlichen Herzversagen der Frau (vgl. Orth 2014d). Dabei deutet der Titel auf ein Partnerschaftskonzept hin, das der Protagonist gerade nicht verfolgt hat. Über die Verstorbene sagt er: "Sie war zur Geliebten geschaffen, zur Gefährtin nicht." (Schnitzler DW 1, 506) Robert hat seinen Beruf stets über das Private gestellt, bei seiner Entscheidung für die Hochzeit mit einer zwanzig Jahren jüngeren Frau habe er von vorneherein gewusst, dass ihm "höchstens ein oder zwei schöne Jahre bevorstehen" (ebd., 505). Er sah Eveline offensichtlich nicht als ,Gefährtin' im Sinne einer gleichberechtigten Partnerin an. Doch sein Glaube über den Zustand der Beziehung ist von zahlreichen Illusionen beeinflusst. Zwar unterhielt Eveline eine Affäre mit Pilgrams Assistenten Doktor Alfred Hausmann, doch war diese bei weitem nicht so leidenschaftlich ausgeprägt, wie von Pilgram angenommen, der zwar von dem Verhältnis wusste, seine Frau aber in guten Händen zu wissen glaubte und sich daher auf seine Karriere konzentrieren konnte. In Gesprächen mit Alfred und Evelins Freundin Olga Merholm offenbart sich jedoch, dass Eveline die Affäre mit Alfred nicht ernst genommen hatte und wohl eher das Ziel verfolgte, Robert wieder stärker an sich zu binden. Doch dieser idealisierte das Verhältnis im Sinne Evelines und war davon überzeugt, sie hätte darin jenes Glück gefunden, das er ihr nicht dauerhaft zu geben imstande war. So führten Mutmaßungen und Spekulationen zu einer unglücklichen Ehe, in der die Partner offensichtlich lediglich nebeneinander her als gemeinsam lebten. Olga führt Robert vor Augen, "wie unendlich fern von Ihnen diese Frau gelebt hat" (ebd., 513). Die bereits in Die Gefährtin angedeuteten Kommunikationsschwierigkei­ ten stellen den Dreh- und Angelpunkt in einem weiteren Einakter dar: Stun­

de des Erkennens aus einem Zyklus mit dem bezeichnenden Titel Komödie der Worte (1915) (vgl. Irsigler 2014b). Nachdem die gemeinsame Tochter aus dem Haus ist, schlägt Dr. Karl Eckold seiner Frau Klara vor, zukünftig

Die Gefährtin

73

74 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur getrennte Wege zu gehen. Er weiß um eine Affäre, die Klara vor zehn Jahren eingegangen war. Aus Rücksicht auf die Tochter und die Gesellschaft ver­ zichtete er damals auf eine Trennung, wie er ihr offenbart: "Den äußerlich ruhigen Lauf unserer Existenz zu unterbrechen, eine so tiefgreifende Er­ schütterung unserer

Lebensverhältnisse hervorzurufen, solange unsere

Tochter im elterlichen Hause lebte, das wäre höchst unpraktisch, ja sogar unmoralisch gewesen." (Schnitzler DW 2,484) Wie bereits in Die Gefährtin ist es die Ehefrau, die einen gänzlich anderen Blick auf die Situation hat. Sie ist der Überzeugung, dass die Phase der Entfremdung das Paar wieder zu­ einander geführt hatte: "Wir waren wieder glücklich, glücklich wie zuvor, glücklicher, als wir es je gewesen waren." (ebd., 487) Doch Karl raubt ihre Illusionen und offenbart ihr, dass er sie längt nicht mehr ernst genommen hatte und bereits damals beschloss, sie dereinst zu verlassen: "Weder meine Frau, noch meine Geliebte warst du damals, - so wenig, wie du später mei­ ne Freundin geworden bist. All das konntest du mir nicht mehr werden." (ebd., 488) Jahrelang hatte er ihr etwas vorgespielt, um sich auf diese Art und Weise für ihren Seitensprung an ihr zu rächen. In der ,Stunde des Erken­ nens' ist Klara nur noch entsetzt, ihre Vorstellung von ihrer Ehe ist zertrüm­ mert, die Respektlosigkeit ihres Mannes, die er über Jahre aufrecht erhalten hat, lässt sie verzweifeln: "Du hast das Recht gehabt - vielleicht - mich fort­ zujagen, am Ende sogar mich zu töten. Aber ein Recht, mir die Strafe zu verschweigen, die es dir beliebte, über mich zu verhängen, das Recht hat­ test du nicht. Du hast mich schlimmer betrogen und tausendfach feiger als ich dich. Du hast mich tiefer erniedrigt, als ein Mensch irgendeinen andern erniedrigen darf!" (ebd.) So ist auch in diesem Drama die Ehe ein nur nach außen, also in die Gesellschaft wirkendes Partnerschaftskonstrukt, das im Inneren von Misstrauen, Mutmaßungen, Kommunikationsverweigerung und Erniedrigung geprägt ist. Doppelmoral

In diesem Zusammenhang ist die Doppelmoral als wiederkehrendes Motiv zu konstatieren. So wird in Stunde des Erkennens der Wunsch Karls deutlich, nach außen den Schein zu wahren, während er innerlich bereits seit Jahren mit seiner Ehe abgeschlossen hat. In Zwischenspiel wird die männliche Doppelmoral in der Figur des Amadeus Adams zur Schau ge­ steilt, der sich selbst außereheliche Vergnügungen erlaubt, bei dem ersten Verdacht auf eine Affäre seiner Frau den vermeintlichen Liebhaber aber gleich zum Duell auffordern will. Zahlreiche weitere Werke legen den Finger auf die Thematisierung von Doppelmoral als offensichtlich ent­ scheidende Wunde des Wiener Bürgertums der Jahrhundertwende. In die­ sem Zusammenhang lässt sich auch das Skandalpotenzial von Schnitzlers Dramen erklären (vgl. Kap. 111.3). Theaterpublikum und Kritiker wollten augenscheinlich nicht mit den eigenen fragwürdigen moralischen Unter­ wanderungen konfrontiert werden, die verdeckt gesellschaftlich gelebt, durch die Stücke aber zum Vorschein gebracht wurden. Vor dem Hinter­ grund der häufigen Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und der Betonung von Sexualität (vgl. Kap. IVA) werden immer wieder die unter­ schiedlichen moralischen Maßstäbe von (Ehe-)Männern thematisiert, die

5. Gesellschaftskonflikte

diese ansetzen, wenn es darum geht, für sich selbst völlige (sexuelle) Frei­ heit in Anspruch zu nehmen, während sie nicht bereit sind, dies ihren Frauen oder Partnerinnen zuzugestehen. Die Figur Anatol bringt in Denk­

steine die Absurdität dieser Haltung ungewollt in der Frage "Und Du ver­ fluchst diesen Tag nicht, der Dich mir nahm, bevor ich dich kannte?" (Schnitzler HKA 2, 938) zum Ausdruck, als ihm Emilie von ihrer ersten sexuellen Erfahrung berichtet. Besonders offensichtlich wird diese Haltung in Reigen. Nicht nur, dass viele der Figuren verheiratet sind und dennoch außerehelichen sexuellen Vergnügungen nachgehen; einzelne Figuren verkörpern geradezu die Dop­ pelmoral: durch ihre Aussagen einerseits und ihre Handlungen andererseits. So drückt der Ehemann in der fünften Szene gegenüber seiner (untreuen) Frau seine Abscheu vor Frauen aus, die ihre Sexualität ausleben: "Ich denke doch, daß es gerade für euch anständige Frauen nichts Widerwärtigeres ge­ ben kann als alle diejenigen, die es nicht sind." (Schnitzler DW 1, 350) Er spricht von "armen Geschöpfen" (ebd., 349), von Frauen, die "kein ganz ta­ delloses Leben" (ebd., 351) führen und davon, "daß solche Wesen von Na­ tur aus bestimmt sind, immer tiefer und tiefer zu fallen." (ebd., 350) Er ver­ achtet insbesondere das Verhalten untreuer verheirateter Frauen: "Stell dir doch vor, was diese Frauen für eine Existenz führen! Voll Lüge, Tücke, Gemeinheit und voll Gefahren." (ebd., 352) Dabei führt er selbst ein sol­ ches Leben, wenn er in der darauffolgenden Szene ein ,süßes Mädel' ver­ führt. Schließlich fällt er seinen eigenen fragwürdigen moralischen Vorstel­ lungen zum Opfer, indem er dem Glauben erliegt, seine Frau wäre - nach seinen Maßstäben - tugendhaft. "Geliebt habe ich nur eine - das bist du. Man liebt nur, wo Reinheit und Wahrheit ist" (ebd.), sagt er zu ihr; ohne zu wissen oder zu ahnen, dass sich seine Frau in der vorangegangenen Szene mit einem ,jungen Herrn' sexuell vergnügt hat. Die mit der Doppelmoral einhergehende Thematisierung von Seiten­ sprüngen (vgl. Kap. IV.4) verweist auf ein weiteres zentrales Thema. Auf den Seitensprung folgt mitunter eine Aufforderung zu einem Duell vonseiten des Betrogenen. In Liebelei beispielsweise verläuft die unausweichliche Konfrontation für den männlichen Protagonisten Fritz, der mit einer verhei­ rateten Frau eine Affäre eingegangen war, tödlich und leitet die Katastrophe der Tragödie ein (vgl. Kap. V5). Das

Duell war um 1900

von entscheidender sozialer

Bedeutung

(vgl. Janz/Laermann 1977, 131-154). Es sollte dazu dienen, außerhalb des Gesetzes Recht zu sprechen: "Faktisch war das Duell um 1900 eine bis in kleinste Einzelheiten geregelte Institution der extralegalen Rechtsfindung." (ebd., 137) Der kulturelle Hintergrund für die Duellpraxis war die Furcht vor dem Verlust von Ehre für Angehörige des Militärs. Wer seine Ehre verlor, wurde "zu einer Un-Person, zu einem gesellschaftlichen Niemand" (ebd.,

135). Aus diesem Grund sieht sich die Hauptfigur in Schnitzlers Mono­ lognovelle

Leutnant Gustl verpflichtet, freiwillig aus dem Leben zu

scheiden, da er durch die Beleidigung eines nicht satisfaktionsfähigen Zivili­ sten jeder Möglichkeit enthoben ist, seine Ehre wiederherzustellen. Nur

Eine Frage der Ehre: Das Duell

75

76 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur durch den plötzlichen Tod des Bäckermeisters,der ihn beleidigt hat,sieht er sich gerettet. Im dreiaktigen Schauspiel Freiwild (1896) hat sich Schnitzler im Rahmen eines Dramas umfassend dem Duell gewidmet (vgl. Orth 2014b). In dem Stück gerät der Millionär Paul Rönning in die Mühlen der Duellpraxis,als er es wagt,den Oberleutnant Karinski öffentlich zu ohrfeigen. Ursache für den Streit ist das Interesse beider an der Schauspielerin Anna Riedel. Während Paul ernsthafte Beziehungsabsichten hat, ist Karinski nur auf eine Affäre aus. Der Oberleutnant fordert Paul zum Duell, welches dieser jedoch ab­ lehnt. Paul sieht sich daraufhin dem Vorwurf ausgesetzt, seine Ehre zu ver­ lieren, was er wiederum weit von sich weist: "Ist denn meine Ehre in jeder­ manns Hand, dem es gerade Spaß macht,sie anzugreifen?" (Schnitzler DW 1, 300) Er sieht das Verhalten Karinskis gegenüber Anna als ehrlos an. Paul unterwirft sich schließlich dennoch den gesellschaftlichen Vorstellungen von Ehre, als er eine Flucht vor Karinski ablehnt, der ihm auch ohne Duell nach dem Leben trachtet. Durch dessen entsprechende Drohung sieht sich Paul genötigt, sich der Gefahr zu stellen, um nicht als ehrlos zu gelten: "Man hat es gewagt, mir zu drohen,Anna! - Siehst du ein, daß ich bleiben muß?" (ebd.,323) Diese Haltung bezahlt er mit seinem Leben,denn er wird schlussendlich von Karinski erschossen. Wider den

Duellzwang

Die gute Quellenlage im Falle Schnitzlers - neben seinen Tagebüchern sind zahlreiche Briefwechsel verfügbar - erlaubt ausnahmsweise einen Blick auf die Absichten des Autors,die er mit diesem Drama verfolgt hat. In seinem brieflichen Austausch mit dem Theaterregisseur Otto Brahm, der den Autor angeregt hatte, Paul am Leben zu lassen,schreibt Schnitzler,dass es seine "künstlerische Überzeugung" (zit. n. Seidlin 1975,24) sei,den P ro­ tagonisten sterben zu lassen: "Daß der Vertreter rein menschlicher An­ schauungen gegenüber dem Vertreter beschränkter oder herrschender An­ schauungen unterliegt, ist ein notwendiger und darum tragischer Ab­ schluß." (ebd., 23) Paul muss als "Märtyrer" (ebd., 22) sterben, um die Ab­ surdität des Duellzwangs,durch den Zivilisten zum Spielball von Offizieren werden können,aufzuzeigen (vgl. auch Schnitzler 1967, 322). Wenige Jah­ re nach der Fertigstellung von Freiwild gerät Schnitzler selbst in eine unfrei­ willige Duellsituation, der er sich jedoch verweigert. Er verliert seinen Sta­ tus als Reserveoffizier,als er sich weigert, einen Rezensenten von Leutnant

Custl, der ihn beleidigt hatte, zum Duell zu fordern (vgl. JanziLaermann 1977,110 und 138 f.). Antisemitismus

Den alltäglichen und zunehmenden Antisemitismus in Wien hat Schnitzler ebenfalls zum Gegenstand einiger Werke erhoben. Agitationen gegen Ju­ den und das Judentum waren in Zeiten hetzerischer Schriften, etwa von Otto Weininger (vgl. Le Rider 1985),oder antisemitischer Politiker,wie dem Wiener Bürgermeister Karl Lueger, an der Tagesordnung (vgl. Beller 1989). Schnitzler zeigt,so Jacques Le Rider, "wie sehr der Antisemitismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen und österreichischen Gesell­ schaft zum vorherrschenden kulturellen Kode geworden war" (Le Rider 2008,155).

5. Gesellschaftskonflikte 77

Neben seinem Roman Der Weg ins Freie (1908) ist es insbesondere der

Professor Bernhardi

Fünf-Akter Professor Bernhardi (1912), in dem Schnitzler die allgegenwärtigen antijüdischen Tendenzen literarisch reflektiert. Der titelgebende Protagonist ist Direktor am Elisabethinum, eines medizinischen Instituts in Wien um 1900. Ein vermeintlich kleiner Zwischenvorfall um eine im Sterben liegende Patientin wird von antisemitischen Kräften, die sowohl im Elisabethinum als auch in der Politik und in der Gesellschaft wirken, zum offensichtlich willkommenen Anlass genommen, um eine ,Affäre Bernhardi' in Gang zu setzen. Besagte Patientin ist in ihrer Todesstunde "bei gesteigertem Bewußtsein. [ . . . ] Es ist absolute Euphorie bei ihr eingetreten. [ . . . ] Sie ist verloren, aber sie glaubt sich genesen" (Schnitzler DW 2, 355 f.). Aus diesem Grund und weil er es als seine Pflicht ansieht, "wenn nichts anderes mehr in meinen Kräften steht, meinen Kranken, wenigstens soweit als möglich, ein glückliches Sterben zu verschaffen" (ebd., 356 f.), verweigert er einem Pfarrer, welcher der Todgeweihten die letzte Ölung zukommen lassen möchte, den Zutritt zum Krankenzimmer. Der Besuch des Pfarrers würde ihren "glücklichen Wahn" (ebd., 356) beenden: )ch glaube, Hochwürden, es wäre kein gutes, fast möchte ich zu behaupten wagen, kein gottgefälliges Werk, wenn wir sie aus diesem letzten Traum erwecken wollten." (ebd.) Als die Patientin kurz nach der von einer Krankenschwester überbrachten Nachricht, dass der Pfarrer sie besuchen würde, verstirbt, zeigt sich der Kirchenvertreter entsetzt: "Das arme Geschöpf da drin ist als Sünderin und ohne die Tröstungen der Religion dahingegangen. Und das ist Ihre Schuld" (ebd., 358), wirft er Bernhardi vor. Die humanitären Beweggründe des Juden Bernhardi werden bei der Einschätzung des Vorfalls von seinen antisemitischen Kollegen ignoriert, ihm wird ein "antikatholische[r] Standpunkt" (ebd., 377) unterstellt. Der Fall zieht schnell weite Kreise, insbesondere Bernhardis Konkurrent Professor Ebenwald, unterstützt von familiären Kontakten in Kirche und Politik, forciert die Skandalisierung, die schließlich zu einer Verurteilung Bernhardis "wegen Religionsstörung" (ebd., 407) zu einer zweimonatigen Haftstrafe führt. Die Symbolhaftigkeit des Vorfalls als Zustandsbeschreibung der Gesellschaft wird vom Unterrichtsminister Professor Flint, einem ehemaligen Studienfreund Bernhardis, auf den Punkt gebracht: )ch sehe nämlich in diesem Einzelfall ein Symbol für unsere ganzen politischen Zustände." (ebd., 390) Diese antisemitischen ,Zustände' werden innerhalb des Textes sowohl in kleinen bürokratischen Details als auch im Verhalten gesellschaftlicher Institutionen sowie in offenen Anfeindungen angedeutet. Der fragwürdig agierende Charakter Hochroitzpointner beispielsweise verwehrt in einem Protokoll einem jüdischen Arzt die Ausschreibung seines Vornamens. Auf die Irritation eines Lesers, wieso der Name nur abgekürzt wiedergegeben sei, antwortet Hochroitzpointner: "Das wird aber doch nicht ausgeschrieben." (ebd., 392) Sein Gesprächspartner Dr. Schreimann zeigt kein Verständnis: "Möcht wissen, warum. Mein Großvater zum Bei­ spiel hat Samuel geheißen und hat sich immer ausgeschrieben, und ich heiße Siegfried und schreib mich auch immer aus." (ebd., 393)

Symbolhaftigkeit

78 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur Die auf dem Skandal basierende parlamentarische Anfrage in der Affäre Bernhardi enthält überdies offensichtliche antisemitische Äußerungen. Den "aufs schwerste verletzten religiösen Gefühlen der christlichen Bevölkerung Wiens" solle Genugtuung verschafft werden, zudem solle "künftighin bei Besetzung öffentlicher Stellen ein für allemal von Persönlichkeiten" abgese­ hen werden, "die durch Abstammung, Erziehung und Charaktereigenschaf­ ten nicht in der Lage sind, den religiösen Gefühlen der angestammten christlichen Bevölkerung das nötige Verständnis entgegenzubringen" (ebd.,

400). Während einer Parlamentsdiskussion werden gar Zwischenrufe von der ",Verjudung der Universität!'" (ebd., 408) laut, nach dem Urteil wird Bernhardi von der Bevölkerung mit Ausrufen wie "Nieder mit den Juden!" (ebd., 423) begrüßt. Auch die Presse ist an der "Hetze gegen mich" (ebd.,

434), wie Bernhardi die öffentliche Meinung empfindet, beteiligt: "Die kle­ rikalen Blätter haben gehetzt, soviel sie nur konnten." (ebd., 422) Selbst die Justiz scheint antisemitischen Beurteilungsgrundlagen zu unterliegen, wenn eine Verurteilung erfolgt, obwohl kaum Zeugenaussagen gegen Bernhardi vorlagen (vgl. ebd., 419) und sogar der Pfarrer "seiner Überzeugung Aus­ druck verlieh, daß Professor Bernhardi keine feindselige Demonstration der katholischen Kirche gegenüber beabsichtigt hätte" (ebd., 424). Der Gesamt­ zustand der Gesellschaft ist ernüchternd, so der Anwalt Bernhardis: "Man kann ermessen, wie stark gewisse Strömungen in unserer Bevölkerung heute sein müssen, wenn nicht einmal die Aussage des Herrn Pfarrers imstande war, unserer Sache zu nützen." (ebd.) Am Ende jedoch, nach Bernhardis Entlassung, scheint sich das Blatt zu wenden, liberale Kräfte reißen die Diskursmacht an sich: "Und jetzt fangen gar die liberalen Blätter an, die sich doch bisher zurückgehalten haben, Bernhardi als eine Art Märtyrer hinzustellen, als ein politisches Opfer klerikaler Umtriebe, als eine Art me­ Reflexion realer

dizinischen Dreyfus." (ebd., 448) Mit dieser expliziten Anspielung auf die

Konflikte

damals zeithistorische Dreyfus-Affäre, in der ein jüdischer Offizier in Frank­ reich irrtümlicherweise des Landesverrats bezichtigt und verurteilt wurde, untermauert Schnitzler einmal mehr den Anspruch seiner Texte, im litera­ rischen Raum reale soziale und gesellschaftliche Konflikte zu reflektieren. Dies gelang ihm offensichtlich insbesondere auch mit Professor Bernhardi, was nicht zuletzt daran deutlich wird, dass die für Oktober 1912 geplante Uraufführung in Wien aufgrund eines Verbots nicht erfolgen konnte, da öffentl iche Unruhen befürchtet wurden (vgl. Beniston 2014).

V. Einzelanalysen repräsentativer Werke 1. Skizzen, Splitter und Momentaufnahmen: Moderne

Erzähl-, Darstellungs- und Wahrnehmungsformen in Peter Altenbergs Wie ich es sehe Als Peter Altenberg im Jahre 1896 mit dem schmalen Bändchen

sehe debütierte,

Wie ich es

"Ein neuer Dichter"

feierte Hermann Bahr ihn als besonders originellen Vertre­ ter des jungen Wiens. Lobend erwähnt er den ,eigenen Ton' der Texte: "Die­

se Stimme haben wir noch nie vernommen; hier spricht jemand, den wir nicht mehr vergessen können." (Bahr KS V2, 36) Bahr geht im Anschluss vor allem auf das spezifisch Österreichische ein. Darin findet jene publizis­ tische Strategie ihre Fortsetzung, die Bahr bereits in Das junge Österreich (1893) verfolgte, wo die jungen Autoren als Repräsentanten einer vater­ ländischen Literatur in die Kulturtradition Österreichs inkorporiert werden (vgl. Kap. 111.3): "Das ist mir das liebste an dem Buche des Dichters: er läßt uns in der Ferne ein neues Oesterreich sehen." (Bahr KS V2, 38) Bahr wie­ derholt diejenige Strategie, die er schon im Falle von Loris (Hugo von Hof­ mannsthai) einige Jahre zuvor verfolgt hat: Für sein Programm der Wiener Moderne bringt er einen vermeintlich passenden Dichter in Stellung. Der Vergleich zwischen Hofmannsthai und Altenberg zeigt dabei deutlich, wie heterogen die Gruppe Jung-Wien tatsächlich war. Die beiden Schriftsteller

trennten Welten, was in Hofmannsthais Buchrezension zu Wie ich es sehe deutlich zutage tritt. In der Buchbesprechung Ein neues Wiener Buch (1896) kritisiert Hofmannsthai den manieristisch-selbstgefälligen Stil seines Kollegen, daneben die ausschließliche Beschreibung alltäglicher Dinge so­ wie schließlich die Distanzlosigkeit der Kunst Altenbergs gegenüber dem Leben (vgl. Bunzel 2005, 244). Tatsächlich sind Altenbergs Texte oft am alltäglichen Leben orientiert, was sich zum einen paratextuell in Gattungsangaben wie "Skizzen" oder "Split­ ter" sowie in den Buchtiteln Wie ich es sehe, Was der Tag mir zuträgt (1901) oder Bilderbägen des kleinen Lebens (1909) andeutet. Zum anderen gibt es eine Vielzahl von reflexiven Passagen, in denen der Text seinen Status als Li­ teratur erläutert. Besonders pointiert tut er dies im Text Kunst, der nicht Teil

der Erstausgabe von Wie ich es sehe war und sich somit als Reaktion auf die kritischen Stimmen zu seinem Debüt verstehen lässt. Der Text beklagt zu­ nächst eine dem Alltag des Menschen entfremdete Kunst, die als "edles Phantom" bezeichnet wird - ,,[s]o entfernt von ihrem Alltagdasein, so ohne Beziehung zu ihrem Selbsterhaltungstriebe [ . . . ]. Wir wollen dich aber nun lebendig machen, dich dem Leben des Alltages näherrücken, du blut-, du fleischloses Gespenst »Kunst«! [ . . . ]. Wir wollen die Kunst" - so führt er sein ästhetisches Programm schließlich eng - "dem Alltage vermählen." (Alten-

Die Programmatik Altenbergs

80 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke berg 1914, 293) Und auch darüber, wie und zu welchem Zweck er diese Programmatik verfolgt, gib der Text Auskunft. "Die grösste Künstlerin vor al­ lem ist die Natur und mit einem Kodak in einer wirklich menschlich-zärtli­ chen Hand erwirbt man mühelos ihre Schätze. [ . . ] Der Reichtum des Da­ .

seins, nahegerückt für die, deren notwendige Geschäftigkeit sie hindert, ihn zu erleben! In deinen Tätigkeiten eingekapselt, kannst du nicht rechtzeitig Halt machen vor einem regenbeperlten Spinnennetz im abendlichen Walde und kannst nicht schauen, staunen und verharren! Wir wollen dich erziehen, das heisst aufhalten in deinen Rastlosigkeiten, auf dass du verweilest, schau­ est, staunest!" (ebd.) Altenbergs Verständnis von literarischer Autorschaft hat also zum einen eine pädagogische Komponente, die das Motto des Prosa­ bandes Prodromas aus dem Jahr 1906 buchstäblich zur Sprache bringt: "Im Titel liegt das, was man gewollt hat. Und im Inhalt das, was man nicht ge­ konnt hat. Die Gegenwart wird ihn verdammen, pardon, belächeln. Aber

die Zukunft wird ernst und nachdenklich bleiben. Ein Wegweiser ist kein Ziel. Aber ein Weg-Weiser!" (Altenberg 1906, 7) Zum Zweiten beinhaltet sein Programm die Anleitung des Lesers zum exakten Beobachten, zur mi­ kroskopischen Wahrnehmung der Wirklichkeit. In diesem Konzept fungiert der Künstler als Stellvertreter für den Leser, der es verlernt habe, genau hin­ zusehen. "Moment=Photographen wollen wir werden!" (zit. nach Hiebler

2003, 326), so die Forderung des Schriftstellers nach einer fotografischen Alltagskunst. Fotografische

Die Nähe zur Foto-Kunst zeigt sich beispielhaft am Kurztext Wie ein Bild

Methode und Tele­

- - -. aus Wie ich es sehe, der eine Alltagsszene vermeintlich detailgetreu

gramm-Stil der Seele

abfotografiert: "Es war ein kleines, ganz kleines Gärtchen - -. / Rund herum wuchsen dichte Stachelbeerstauden, mit dicken, glänzenden, roten Träub­ chen." (Altenberg 2009, 131) Erkennbar handelt es sich hier nicht um eine objektive Wiedergabe der Wirklichkeit. Vielmehr ist den Naturbeschreibun­ gen insofern Subjektivität eingeschrieben, als sie Resultate eines individuell gewählten Ausschnitts sind, Details in den Fokus stellen oder - etwa in der Verniedlichung "Träubchen" - die individuelle Wirkung der Eindrücke auf den Sehenden betonen. Und mehr noch: Die Methode des Abfotografierens wird von Altenberg überdies nach Innen gewendet, umfasst also auch die Abbildung seelischer Vorgänge: "Auf einer Bank sass ein junges Mädchen in einem dünnen, rothen, seidenen Kleide. Sie träumte: ,Ich liebe ihn - -.'" (ebd.) In Selbstbiographie, einem Text aus dem Band Was der Tag mir zu­ trägt, bringt Altenberg dieses Verfahren folgendermaßen auf den Punkt:

"Was man ,weise verschweigt' ist künstlerischer, als was man ,geschwätzig ausspricht'. Nicht?! Ja, ich liebe das ,abgekürzte Verfahren', den Tele­ gramm-Stil der Seele!" (Altenberg 1924, 5) Altenberg vs.

Ist damit das Programm Altenbergs in groben Strichen entworfen, so lässt

Hofmannsthai

sich die Distanz, die Hofmannsthais Besprechung des literarischen Debüts von Altenberg prägt, besser verstehen. Denn seine Programmtexte aus jener Zeit, allen voran Poesie und Leben (1896), bestimmen die Literatur als Poe­ sie der Worte: "Die Worte sind alles, die Worte, mit denen man Geschehe­ nes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen und nach inspirierten

1. Skizzen, Splitter und Momentaufnahmen

Gesetzen als ein Bewegtes vorspiegeln kann. Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie." (Hofmanns­ thai 1896, 105) Die Differenz zwischen pragmatischer Lebenskunst einer­ seits und der Bestimmung von Poesie als "gewichtloses Gewebe aus Worten

[ . . ], die durch ihre Anordnung, ihren Klang und ihren Inhalt, indem sie Er­ .

innerung an Sichtbares und die Erinnerung an Hörbares mit dem Element der Bewegung verbinden" und einen "flüchtigen Seelenzustand" hervorru­ fen würden, "den wir Stimmung nennen" (ebd.), andererseits, lässt sich an zwei Texten beider Autoren demonstrieren, die (wohl nur zufällig) den gleichen Titel Ein Brief tragen. Hofmannsthais Text ist von der Einsicht getra­ gen, dass zwischen Zeichen und Bezeichnetem eine Kluft liegt, die dem selbstgewissen Verfassen von Poesie prinzipiell entgegensteht. Altenbergs Ein Brief, aus dem Prosaband Märchen des Lebens, hingegen stellt die ur­

sprüngliche Alltagstauglichkeit des Briefeschreibens - und gleichzeitig die der literarischen Briefform gleichsam wieder her: "Und so hatte denn mein Brief", so die Schlusszeile des kurzen Textes, "dennoch in gewisser Hinsicht einen Zweck gehabt." (Altenberg 1997, 152) Kurzum: Der hier skizzierte Gegensatz zwischen Altenberg und Hofmannsthai zeigt die programmatische Bandbreite der Wiener Moderne. Stilpluralismus - so ließe sich schlussfolgern - ist nicht nur Kennzeichen der literarischen Moderne an sich, sondern sie zeigt sich auch innerhalb einzelner Strömungen um 1900. Inwiefern Peter Altenbergs Prosa Kennzeichen einer modernistischen Ästhetik zeigt, er also als prototypischer Vertreter der Wiener Moderne und einer avantgardistisch-modernistischen Literatur überhaupt gelten kann, lässt sich an drei aufeinander beziehbaren, die moderne Literatur der Jahrhundertwende insgesamt prägenden Merkmalen seiner Texte festmachen: Erstens der Tendenz zur Verwendung innovativer Cattungsformen und zu Cattungshybriden, zweitens einer tendenziellen Strukturoffenheit der Prosatexte, die drittens Deutungsfreiräume und -ambivalenzen befördert und damit eine subjektive Rezeption als kommunikatives Ziel

der Textrezeption erkennen lässt.

Modernistische Verfahren bei Peter Altenberg Prinzipiell kennzeichnet die Literatur der Jahrhundertwende u.a. eine Hin­ wendung zu "kleinen literarischen Formen" und Gattungsexperimenten: "das Prosagedicht, die Skizze, die Novelette, die Studie, der Brief, die Szene und der Einakter, bei den eher analytischen Genres der Essay, der Merk­ spruch und Aphorismus, die Kritik oder die Rezension, schließlich das Feu­ illeton und andere Formen des Zeitschriften- und Zeitungsbeitrags." (Fähn­ ders 2010, 114) Solche Gattungsexperimente prägen auch die Texte Peter Altenbergs, und zwar sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene: Die Bücher set­ zen sich insgesamt aus textuelien Miniaturen unterschiedl icher Gattungstra­ ditionen zusammen. Nicht selten werden diese Traditionen über die Betite­ lung der Einzeltexte sichtbar gemacht. In Wie ich es sehe finden sich Gat­ tungsangaben wie Idylle, Skizze (bzw. Skizzenreihe), Szene, Dialog oder

Modernismus

81

82

V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Brief; Was der Tag mir zuträgt enthält Zuschreibungen wie Autobiografie ("Selbstbiographie") oder Aphorismus. Diese Tendenz zur literarischen Kurzform zeigt sich auch bei anderen Autoren Jung-Wiens: in Hofmanns­ thais lyrischen Dramen, seinem Fragment gebliebenen Andreas-Roman oder Arthur Schnitzlers dramatischer Kurzform des Einakters. Dieser Hang zur kleinformatigen Literatur lässt sich "aus der Konstitution des atomisier­ ten ,unrettbaren Ich' [ableiten], das zu einer großen [ ...] auf Totalität abzie­ lenden Gestaltung sich außerstande sieht" (Fähnders 2010, 114). In dieser Ausrichtung stehen die Texte in deutlichem Gegensatz zum Naturalismus, der mit "Großformen des Romans (bei Zola) und des Theaters seine Trium­ phe feiert" (ebd.). Gattungs­

Betrachtet man die Mikroebene, also die einzelnen Texte Altenbergs, ge­

experimente

nauer, lässt sich auch hier eine Tendenz zu formalen Gattungsexperimenten feststellen. Schon der Paratext von Wie ich es sehe lenkt die Aufmerksam­ keit des Lesers auf die Hybridität der Texte. Ab der zweiten Auflage seines Debütbandes stellt Altenberg ein Motto voran, das die Texte als Mischform aus Prosa und Lyrik bestimmt. "Von einem genialen Alchimisten gehand­ habt", so zitiert das Motto eine Passage aus Joris-Karl Huysmans' Roman A

rebours, "mußte es [ ...] in seinem kleinen Raum im Keimzustand bereits die Kraft eines Romans enthalten, ohne dessen analytische Längen und be­ schreibende Wiederholungen." (zit. n. Nienhaus 1986, 17) Die Kurztexte werden als kompakte, auf die narrative Essenz reduzierte Romane verstan­ den. Wie sich dieses Programm in der Praxis gestaltet, zeigt zum Beispiel die Prosaskizze Im Stadtgarten; sie beginnt mit einem Alliterationen-Gewit­ ter, was dem narrativen Text seinen lyrischen Ton verleiht: "In den Strassen lag der schläfrige stinkende Stadtsommer. In dem Stückchen Garten hinter den goldenen Gittern war es wie am Land." (Altenberg 2009, 49) Inwiefern sich Altenbergs Prosakonzept von traditionellen Prosaformen abhebt, lässt sich an der Skizzen-Reihe Don Juan präzisieren. Sie besteht aus drei episo­ dischen, kurzen Fragmenten, die insgesamt eine Erzählung ergeben. Was im Unterschied zu herkömmlichen Prosatexten fehlt, ist ein übergeordneter Erzähler, der die Erzählfragmente sinnbildend miteinander verschränken würde. Gegenüber traditionellem Erzählen ist dieser Text strukturoffen; ganz offensichtlich wollen die Texte "nicht mehr den einheitlichen Sinnzu­ sammenhang der Großprosa" herstellen, sondern sind vielmehr "aufgesplit­ tert [ ...] in viele Einzelbilder" (Bunzel 2005, 135). Modernes

Der Zusammenhang zwischen dieser Erzählform und einem Wirklich­

Wirklichkeits­

keitsverständnis, das Realität als etwas fragmentarisch-zersplittertes denkt,

konzept

wird nicht nur in der losen Reihung von Erzählfragmenten offensichtlich, sondern zeigt sich überdies in den Einzelskizzen selbst. Gleich das erste Er­ zählfragment der ,Erzählung' Don Juan ist mit Idylle betitelt. Beinhaltet die­ se Gattung traditionell Texte, die ein einfach-naturhaftes Leben in einem be­ grenzten, ländlichen Bereich beschreiben, das in der Regel einen Gegen­ satz zur Wirklichkeit bildet, so zeichnet Altenbergs Text das genaue Gegen­ teil: Das Idyllische manifestiert sich hier nur noch äußerlich, im Bild vom Dichter Albert, der den "Sommer-Sonntag-Nachmittag" mit einem Mäd-

1. Skizzen, Splitter und Momentaufnahmen 83

chen verbringt: "Sie sass in der Milchhalle mit ihrer Mutter und trank weiss­ geibe dicke Milch und ass goldbraunes Landbrod, dichtporiges, duftendes mit Theebutter und Honig." (Altenberg 2009, 47) Beginnt der Text ganz im Stile einer Naturidylle, erweist sich diese (zumindest für das Mädchen) am Ende als das genaue Gegenteil: "Das junge Mädchen setzte sich ans Fenster. Albert starrte vor sich hin. Das junge Mädchen begann leise zu weinen. Sie weinte und weinte - - -. Die Mutter kam leise herein und ging wieder hi­ naus - -. Das war der Sommer-Abend, Sonntag, auf den das junge Mädchen sich die ganze Woche gefreut hatte - - die ganze lange Woche!" (ebd., 48) Weshalb das Mädchen weint, erklärt sich aus dem Mittelteil des Textes: Deutlich wird hier, dass der Dichter verschiedene Frauen trifft, sie als "Quelle" seiner Inspiration begreift. ,,[M]an kann", so rechtfertigt Albert sich gegenüber der Mutter des Mädchens, "nicht aus dem Leeren schöpfen. [ ...] Für mich zum Beispiel sind die Augen der zwölfjährigen Franzi bezau­ bernd - - [ ...]. Es ist der Ausdruck der ursprünglichen reinen Natur - - er berauscht mich." (ebd., 47) Der Dichter, so verdeutlicht der Text, inkorpo­ riert das Mädchen, raubt der Frau ihre Identität: "Sie lebte in Ihm, in Ihm, nur in Ihm - - -." (ebd., 48) Deutlich akzentuiert der Text zwei Wahrnehmungsperspektiven: Was für den Dichter als Ausdruck eines idealen, inspirierenden Naturzustands, also

Subjektive Wahrnehmung

als Idylle erscheint, empfindet das Mädchen als ,Missachtung ihrer zarten Seele' (vgl. ebd.). Die Idylle, so ließe sich mit Blick auf die Gattungstradi­ tion schlussfolgern, erweist sich bei Altenberg nicht mehr als Ausdruck einer alternativen, besseren Lebensform, sondern als subjektiv-projektive Konstruktion des narzisstischen Dichters, was am Ende der dritten und letz­ ten Skizze von Don Juan verdeutlicht wird. "Albert sagte: , Die Welt ist reich und schön

- -

I ' Aber es war seine , innere Welt' . Denn die Welt um ihn he­

rum war armselig und alltäglich." (ebd., 53) Das Idyllische artikuliert sich in Abgrenzung zu den ursprünglichen Gattungskonventionen in einer subjekti­ ven Wahrnehmung der Welt. Ob Idylle, skizzenhafte Erzählung oder Szene und Dialog: In der Verknappung und Neuinterpretation von Gattungen bil­ det sich nicht nur das Zerfallen des Ganzen in Fragmente ab, sondern Gat­ tungsstrukturen werden gleichsam nach innen gewendet; in ihnen bildet sich die subjektive, fragmentarische Wahrnehmung der Innen- und Außen­ welt ab. So wird Wirklichkeit, wie in der Literatur der Moderne insgesamt, zu einer relativen Kategorie - worauf bereits Altenbergs Buchtitel verweist: Wie ich es sehe. Wo es an kohärenzstiftenden Strukturen fehlt, wird grundsätzlich Ambi­ valenz erzeugt. Die Literatur Altenbergs verfügt über eine "offene Struktur", "läßt Lücken zwischen [ ...] einzelnen Sätzen, das nahtlose Ineinandergrei­ fen von Erzähleinheiten ist gestört" (Nienhaus 1 9 8 6 ,

133). Durch die

subjektive Perspektive, das diskontinuierliche, teilweise elliptische Erzählen sowie das Fehlen einer verlässlichen Erzählinstanz tendieren die Texte Altenbergs zu einer Bedeutungs- und daher Deutungsoffenheit, wie sie in zahlreichen Texten der literarischen Moderne zu finden ist. Mit Umbero Eco lasse sich - so Stefan Nienhaus in Das Prosagedicht im Wien der Jahr-

Ambivalenz

84 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke hundertwende

-

von einer die moderne Literatur insgesamt prägenden

"Poetik des Andeutens" sprechen, mit der sich der literarische Text "bewußt als offen gegenüber der freien Reaktion des Lesers" setzt (ebd.). "Ein Werk, das ,andeutet', nimmt bei jeder Interpretation das in sich auf, was der Leser an emotiven und imaginativen Elementen dazubringt." (Eco 1977, 37) Je knapper der Text seinen Gegenstand fasst, desto mehr Freiräume eröffnet er innerhalb der von ihm gesetzten Rezeptionsgrenzen. Diese Freiräume, "deren Füllung durch Phantasie und Reflexion des Lesers zu leisten ist" (Nienhaus 1986, 133), lassen die Texte Altenbergs bereits grafisch er­ kennen: Markantes Stilprinzip in Wie ich es sehe ist der inflationäre Einsatz von Gedankenstrichen, die den Leser zur Reflexion über das Nicht-Gesagte motivieren. Anregung zur

Der Zusammenhang zwischen Offenheit, Deutungsambivalenz und dem

Reflexion

durch sie erzeugten rezeptiven Freiraum lässt sich prägnant an dem kurzen Prosatext Wie wunderbar darstellen. Erkennbar verfügt dieses in vier Teile segmentierte Prosagedicht über eine selbstreflexive Dimension. Der Text, überwiegend die Perspektive eines Dichters einnehmend, schließt mit einem Gedicht: "Es ist ganz kurz, so modern - - -. / Es lautet: ,Wie wunder­ bar! Es hat kein Ende

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I '"� (Altenberg 2009, 165) Das Gedicht im Gedicht

lässt sich als Spiegel des Gesamttextes verstehen, worauf der Titel der Pro­ saskizze Wie wunderbar hindeutet, der gleichsam als Titel des textinternen Gedichtes fungieren könnte. Aufgrund dieser Entsprechung, so ließe sich schlussfolgern, weist sich der Gesamttext selbst den Status ,modern' zu, der an die Eigenschaft der kurzen Form gekoppelt ist: Innerhalb des bereits auf dem Prinzip der formalen Verknappung basierenden Kurztextes stellt das Gedicht auf diese Weise eine weitere Radikalisierung dieses Prinzips dar. Im Kurzgedicht bildet sich also in nuce die Ästhetik des Gesamttextes ab, wobei der Satz "Es hat kein Ende -!", der bezeichnenderweise mit einem Gedankenstrich und damit einer Leerstelle endet, programmatisch gelesen werden kann; und zwar als offenes Ende, das den Leser zur Reflexion über den Text zwingt und gegebenenfalls zur subjektiven Komplettierung anregt. Das knappe, als modern bezeichnete Gedicht bleibt somit ein deutungsoffe­ nes Fragment, das an anderer Stelle des Textes in Kontrast zu traditioneller Lyrik gestellt wird. "Die l yrischen Dichter haben es gut. Sie können sagen: ,Wie ist das Herze mir so schwer - - -.' Und dann reimen sie darauf: ,nim­ mermehr -.' " (ebd., 163) Der Unterschied zwischen Tradition und Moder­ ne besteht in der Auflösung geschlossener Formen, in diesem Falle repräsen­ tiert durch den Reim. Das moderne Gedicht am Ende enthält keinen Reim und wird dennoch explizit als Produkt eines lyrischen Dichters ausgewie­ sen: "Und dann macht er ein Gedicht wie die l yrischen Dichter - - -." (ebd., 164) Auch dieser Befund lässt sich auf den Gesamttext beziehen, der sich gerade deshalb als moderne Lyrik inszeniert, weil er auf formale Kon­ ventionen verzichtet. Das gilt nicht nur für die Form des Textes - hier fehlen viele der die Gattung Lyrik traditionell prägenden Elemente wie Metrum, Reim sowie überhaupt eine ausgeprägte Bildsprache. Sondern auch als Pro­ satext weicht er erkennbar von Gattungskonventionen ab. So erzählt auch

2. "Vom Außen zum Innen"

dieser Text keine Geschichte im eigentlichen Sinne, die logisch nachvoll­ ziehbar eine Ausgangssituation in eine sinnhafte Endsituation überführen würde; die Figurenkonstellation bleibt unklar, weil die Figuren nicht vom Erzähler charakterisiert oder die Beziehung zwischen ihnen erläutert wird. Auch fehlt die Etablierung eines temporalen und räumlichen Zusammen­ hangs im Übergang der einzelnen Episoden. Der Text insgesamt ist struktu­ rell genauso offen wie das ihn beschließende Gedicht. Altenbergs frühe Prosa lässt eine Tendenz zur sowie einer [ . . ] .

Offenheit der Bedeutung"

"formalen Entgrenzung [ . . ] .

Zusammenfassung

(Petersen 2003, 82) erkennen,

wie sie die Literatur um 1900 insgesamt kennzeichnet: Anschaulich wird diese Offenheit etwa in der wissenschaftlichen Rezeption zu Franz Kafkas

Das Urteil (1913) oder Hugo von Hofmannsthais Reitergeschichte,

die eine

beindruckende Menge unterschiedlicher Deutungen provoziert hat (vgl. Jahraus/Neuhaus 2002 und Träbing 1981). In

Wie ich es sehe zeigt sich die-

se Tendenz vor allem in der formalen ,Öffnung' von Gattungsstrukturen: Diskontinuierliches, multiperspektivisches Erzählen dezentralisiert den Text und erzeugt Ambivalenz. Der Hang zu offenen Formen geht einher mit der Ökonomisierung der Prosa, die sich gegenüber traditionellen Prosaformen unter anderem in der radikalen "Handlungsarmut" (Bunzel 2005, 261) der Texte bemerkbar macht. Stattdessen wählen die Texte in

Wie ich es sehe

einen "stark auf psychische Prozesse ausgerichteten Darstellungsfokus" (ebd.) - was sich in inkohärenten Wahrnehmungsbildern manifestiert. Diese modernistische Ausrichtung trägt schließlich Altenbergs Konzept einer

lebensnahen

Literatur Rechnung, wie sie zu Beginn des Kapitels skiz­

ziert wurde. Nah am Leben ist diese Literatur, weil sie erstens banal-all­ tägliche Wahrnehmungsfragmente ins Zentrum stellt, dabei zweitens ein "technokratisches Effizienzideal" (ebd., 263) auf Kunst überträgt, das den wissenschaftlich-technischen Diskurs und die (urbane) Wirklichkeit um

1900 stark geprägt hat und schließlich drittens, weil sie den Leser in den Prozess literarischer Kommunikation mit einbezieht. Geschieht das im Falle von

Wie ich es sehe noch überwiegend über die

Erzeugung von Leerstellen,

so gibt es in den späteren Prosabänden vermehrt Texte, denen ein eindeu­ tiger Sinngehalt eingeschrieben ist: Literatur wird in diesen Texten zum Medium der expliziten Lebenshilfe.

2. "Vom Außen zum Innen": Leopold von Andrians Der

Garten der Erkenntnis und Hugo von Hofmannsthais Reitergeschichte Jede Generation hat ihre eigenen Helden und Hymnen - Kunstwerke, die

"Talkin' 'bout my

das jeweilige Lebensgefühl verkörpern. Leopold von Andrians

generation"

der Erkenntnis

Der Garten

ist - liest man die Briefe und Rezensionen seiner Wiener

Bündnisgenossen - ein solch zentrales Generationenwerk, das im Nachhi­ nein vielfach als literarischer Startschuss in die Wiener Moderne gesehen wurde. Sicher nicht nur aus strategischen Gründen empfahl Hermann Bahr

85

86 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke den Text dem Verleger Samuel Fischer, die Erzählung sei "das beste Werk, nach meinem Urtheile, was bisher die europäische Moderne hervorge­ bracht hat, unsäglich tief u. schön" (zit. n. GreveNolke 1974, 158). Genau­ so zukunftsweisend war der Text für Felix Saiten, der in der Wiener Allge­

meinen Zeitung schrieb: "Alles daran deutet in die Ferne, in die Zukunft, nach etwas, das erst kommen solL" (zit. n. Andrian 2011, 213) Wie prägend die schmale Erzählung für die Autoren Jung-Wiens in der Folge geblieben ist, zeigt sich schließlich in einem Aufsatz Hugo von Hofmannsthais aus dem Jahr 1918. "Inmitten einer Generation, für die es kein anderes Objekt gab als die Außenwelt, wendet sich hier ein unabhängiger, zarter und doch strenger Geist gegen das Innere, sucht das Hohe, Unnahbare mit dem Ver­ trauten zu verbinden." (Hofmannsthai SW XXXIV, 221) Parallelen

In der Wahrnehmung der Zeitgenossen setzt Leopold von Andrians Der

Garten der Erkenntnis formal wie inhaltlich dasjenige um, was Hermann Bahr als Wende vom ,Außen zum Innen' bezeichnet hat (vgl. Kap. 1V.1). Für die vier Jahre später publizierte Reitergeschichte gilt dies zwar grundsätz­ lich auch, allerdings lässt er sich als ,gereifte' Variante einer psychologisie­ renden Literatur verstehen. Ein Vergleich beider Texte zeigt Parallelen zu derjenigen Entwicklung, die Felix Saiten in der Rezension zum Reigen bei Arthur Schnitzler feststellte: Im Jugendwerk Anatol "ward die Pose verherr­ licht [ . . ]. Im Reigen wird dieses ganze Inventar unschuldiger Jugendtorheit .

lächelnd preisgegeben. [ . . ] Beim Anatol beginnt der dichterische Aufruhr, .

im Reigen erfolgt nach manchen Entladungen die Reaktion. ,Anatol' ist der Rausch und Reigen die Ernüchterung. Anatol ist der Lebensdurst und Reigen ist die Sattheit. [ . . ] Ein lächelnder Jüngling, hat Schnitzler diesen Garten .

der Liebe betreten [ . . ]. Nun der erste Jugendrausch verflogen, haben wir .

den Mann in einem nüchternen Augenblick sprechen gehört." (Saiten 1993,

218) Die Rhetorik vom Erwachsenwerden durchzieht die Ausführungen Sal­ tens, abgeschritten wird der Weg von den rauschhaften Jugendträumen hin zu bürgerlicher Saturiertheit. Der Weg, der von Andrians Erzählung Der Garten der Erkenntnis zur Rei­ tergeschichte führt, könnte ganz ähnlich beschrieben werden. Hier die Ent­ wicklungsgeschichte des jugendlichen Träumers, der Form gewinnen, Ge­ gensätze in sich auflösen und ein emphatisches Leben realisieren möchte, sich allerdings als unfähig erweist, zwischen Außen und Innen eine Grenze zu ziehen; dort die ernüchternde Erzählung über ein deformiertes Ich, des­ sen internalisierte gesellschaftliche Form mit den inneren, triebhaften Be­ dürfnissen (tödlich) in Konflikt gerät. Und noch eine Analogie zu dem von Saiten gezogenen Anatol-Reigen-Vergleich lässt sich ausmachen: Sei der

Anatol ein "loses Nebeneinander kleiner Szenen", präsentiere sich der Rei­ gen als wohl komponierte Einheit. Andrians Erzählung ist ähnlich "additiv strukturiert" (Lorenz 2007, 135) wie Schnitzlers frühe Einakter, wohingegen Hofmannsthais Erzählung sein kompositorisches Moment deutlicher aus­ stellt. Neben der subjektiv-psychologischen Ebene, so wird die Analyse zei­ gen, enthält der Text eine kollektiv-psychologische Ebene; beide Ebenen stehen in einem Verhältnis der Homologie.

2. "Vom Außen zum Innen"

Der Garten der Erkenntnis (1895) Leopold von Andrians kurze Erzählung bildet das moderne Subjektverständ­ nis um 1900 (vgl. Kap. 1V.2) beinahe idealtypisch ab. Erforscht wird die Seelenlandschaft des Fürstensohns Erwin, der nach der titelgebenden Er­ kenntnis strebt, diese aber nicht findet und am Ende seiner Suche nach der letztgültigen ,Offenbarung' jung verstirbt. Die Exposition vollzieht eine Bewegung nach Innen. Beginnt der Text zunächst mit einem Erzählerbe­ richt, der an den formelhaften Auftakt eines Märchens erinnert - "Ein Fürst, dessen Güter an Deutschland grenzten, heiratete um sein zwanzigstes Jahr herum eine schöne Frau" (Andrian 2011, 13) -, wechselt die Perspektive zunächst ins Innere von Erwins Mutter. Im ersten Absatz wird dabei in knap­ pen Strichen die Vorgeschichte skizziert, die erklärt, wie Erwin nach dem Tod des Vaters ins Konvikt gekommen ist. Wichtiger als die äußere ist bereits hier die innere Handlung, denn die Erzählung macht eine Persön­ lichkeitsstruktur der Mutter deutlich, die sich im Sohn wiederfinden wird. Der "Sohn [wurde] im Heranwachsen seiner Mutter ähnlich" (ebd.), was sich vor allem in einer Suche nach dem Geheimnis des Lebens artikuliert, "von dem sie glaubte, es werde sich eines Tages wundervoll enthüllen" (ebd., 13). Insgesamt erzählt der Kurzroman eine Coming-of-age-Geschichte, die nicht wie gattungshistorisch gemeinhin üblich eine äußere Handlung mit einer inneren Entwicklung verknüpft, sondern sich stattdessen auf die Dar­ stellung des disparaten Inneren der Figur fokussiert: auf ihre Überlegungen, Empfindungen, Wahrnehmungen und Bewusstseinsprozesse. Auf der Mi­ kroebene des Textes werden die Eindrücke und Ich-Reflexionen zwar relativ ungeordnet präsentiert - damit folgt der Text der subjektiven Realität des Protagonisten. Jedoch ist die Erzählung erkennbar im dreiphasigen Schema der Initiationsgeschichte gestaltet (vgl. Titzmann 2002), das der vermeintli­ chen Unordnung als strukturbildendes Element entgegenwirkt. Der Protago­ nist verlässt das soziale Gefüge (Phase 1) und befindet sich fortan in einer Phase des Übergangs (Phase 2): der Selbstfindungsphase. Der Entwicklungs­ prozess führt schließlich zu einem positiven oder negativen Ergebnis (Phase 3). Im Falle der Andrian-Erzählung scheitert er, wobei dieses Scheitern (wie in vielen Initiationsgeschichten der Goethezeit) durch den Tod der Figur an­ gezeigt wird. "So starb der Fürst, ohne erkannt zu haben." (ebd., 43) Die titelgebende Erkenntnis, mit der sowohl der Wunsch der Figur nach einem Erkennen der Welt als auch die Selbsterkenntnis gemeint sind, bleibt bis zum Schluss aus. Die Psyche der Figur weist hingegen schon früh eine Tendenz zur Spal­ tung auf: "Damals (er ging ins zwölfte Jahr) war der Erwin so einsam und sich selbst genug, wie niemals später; sein Körper und seine Seele lebten ein fast zweifaches Leben geheimnisvoll ineinander." Das Lebensgefühl des jungen Mannes ist also eine "Zweiheit in der Einheit" (Fick 1993, 338), das Erkenntnisstreben zielt vor diesem Hintergrund darauf ab, die )dentität des Gegensätzlichen [zu] erkennen" (ebd.). Allein die Rede vom zweifachen Leben sowie der Körper-Geist-Trennung verdeutlichen früh die Fragilität

Entwicklungs­ geschichte

81

88 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke und Dissoziation des Ichs, wobei dieses Subjektkonzept wiederum deutli­ che Parallelen zu Initiationserzählungen der Goethezeit aufweist (vgl. Titz­ mann 2002). In E.T.A. Hoffmanns Oie Bergwerke zu Falun wird die Spal­ tung des Ichs beispielsweise explizit thematisiert: ,,[E]r fühlte sich wie in zwei Hälften geteilt, es war ihm, als stiege sein besseres, sein eigentliches Ich hinab in den Mittelpunkt der Erdkugel und ruhe aus in den Armen der Königin, während er in Falun sein düsteres Lager suchte." (Hoffmann 2001, 235) Das Ich zerfällt in das soziale Ich und ein als wahr erkanntes Ich, in Hoffmanns Erzählung zeigt sich, dass es zwischen der sozialen und der solipsistischen Existenzform keine Vermittlungsmöglichkeit gibt. Ist in der Literatur der Goethezeit dieser innere Widerstreit als Angriff von außen dar­ gestellt - Venus-Figuren oder Bergköniginnen verführen die Jünglinge mit­ tels ihrer Helfer -, so ist er bei Andrian als Konflikt im Inneren des Subjekts abgebi Idet. Innere

Bei Andrian stehen zwei Lebensmodelle in Konflikt zueinander. Das rea­

Konfliktstruktur

lisierte, ruhige Leben, geprägt von der religiösen Erziehung im Konvikt, er­ scheint vor dem Hintergrund einer anderen, unruhigen und lustvollen Exis­ tenzform als unvollständig: ,,[U]ndeutlich dachte er an ein Leben, in dem man das Schönste, was es gab, in den schönsten und vielfältigsten Formen genoß. Aber in der Ruhe seines jetzigen Daseins fühlte er manchmal einen seltsamen Drang nach Unruhe, halb Neugier nach Entdeckungen, halb Lust, das was er sonst wollte, zu verneinen." (Andrian 2011, 19) Hierin arti­ kuliert sich der Wunsch nach einer Ausweitung der Subjektgrenzen, was prinzipiell die Dynamik des im Text präsentierten Subjektentwurfs zur Dar­ stellung bringt. Das Subjekt entdeckt in seinem Inneren Potenziale, die es zur Entfaltung bringen möchte. Deutlich wird dieser Wunsch nach Transfor­ mation durch die zeichenhafte Bedeutung der Reise, die als endlose Suche nach dem Unbekannten erscheint: "Darum sehnte er sich auf der Reise nach der weiteren Reise, nicht nur nach neuen Dingen und neuen Wesen, sondern auch auf das Ineinanderspielen ihres Daseins mit seinem Dasein, auf die Zufälligkeiten, Schmerzen und Enttäuschungen der Reise, denn auch sie waren herrlich für den Jüngling [... ]." (ebd., 39) Insgesamt drückt sich in den Bewusstseinsprozessen Erwins das Bestreben aus, die Grenzen des Ichs zu sprengen, um ein intensives, emphatisches Leben zu realisieren: "Oft berauschte ihn das Gefühl der vielen, vielen Genüsse, die ihm Wien noch aufbewahrte und der Gedanke, daß unter ihnen das Geheimnis war, in dem der Grund dieses Reizes lag." (ebd., 22) Der "Drang nach dem , An­ deren'" (ebd.), nach Rausch, Ekstase, dem Geheimen und Verbotenen ist dabei allerdings nicht das Ziel; vielmehr zielt die Figur auf eine Synthese von Gegensätzen ab: Er möchte wissen, wie das , Andere' mit dem ,Bekann­ ten' zusammenhängt.

Ich-Entwurf

Auch wenn der "Drang" zu diesem frühen Zeitpunkt der Entwicklung noch "nicht stark" ist und im Laufe der weiteren Handlung zunehmen wird: Offen zutage treten bereits hier die Widersprüche des Ichs, die sich grund­ sätzlich als Divergenzen in der Erzählung zeigen. Das Wahrnehmungsmus­ ter, dem das Denken der Figur folgt, ist geprägt von Gegensätzen: So be-

2. "Vom Außen zum Innen"

schreibt die Figur beispielsweise einen Freund mit Begriffen wie "arm" "Reichtum", "verdorben" - "unschuldig", "licht" - "matt", "hell" "schwarz" (ebd., 23). Weitere Gegensätze, die gebildet werden, sind die­ jenigen zwischen ,Ruhe' und ,Unruhe', sowie ,Geist' und ,Leben'. Diese Gegensätze werden vom Ich als Grenzen wahrgenommen, die prinzipiell zu überwinden sind. Angestrebt ist das Herstellen von Einheit, was der Text durch entsprechende Lexeme zeigt, die sich leitmotivisch durch die Er­ zählung ziehen (z.B. "vereinigt" (ebd., 24), "vereinigen", "vermengt" (ebd. , 29)). In diesem Zusammenhang kommt dem topografischen Gegensatz zwischen ,Land' und ,Stadt' (Wien) eine zeichenhafte Qualität zu. In ihm zeigt sich die Trennung zwischen der christlich-reglementierten geistigen Welt einerseits und dem freien, emphatischen und körperlichen Leben andererseits. Zwischen beiden - so lässt sich die topografische Struktur der Erzählung verstehen - gilt es zu vermitteln, was in einer Schlüsselszene der Erzählung auch geschieht. Inmitten der Natur, auf einer Alm in den Bergen, empfindet er das ,Andere' als sexuelle Begierde. Seine Imaginationen verdichten sich zu orgiastischen Bi Idern der Lust. Er gibt sich dem Fremden hin, das mit der verbotenen "Seite im Wiener Leben" (ebd., 19) in Verbindung steht, und das schon früher "lockend hartnäckig, fast körperlich" (ebd., 17) vor ihn hintrat. Diese Passage ist symbolisch aufgeladen. War zuvor schon von einer "Offenbarung" die Rede (ebd., 26), die das Geheimnis des Lebens entschlüsseln soll, ist jene Bergszene in Analogie zur biblischen Offenbarung auf dem Berg Sinai als erkenntnisstiftende Erweckungsszene konzipiert; allerdings endet sie nicht mit einer religiösen Erleuchtung, sondern vielmehr mit einem tiefen Fall: "In der folgenden Zeit war die Erinnerung an diese Nacht dem Erwin unangenehm; er war gefallen." (ebd., 34) Dieser ,Fall' lässt sich psychologisch begreifen, denn deutlich wird in der oben skizzierten Bergszene das Grundproblem der Figur: Sie kann Außen­ und Innenwelt nicht voneinander trennen. Der Narzissmus artikulierte sich bereits zu Beginn des Textes: "die Dinge der äußeren Welt hatten ihm den Wert, den sie im Traume haben; sie waren Worte einer Sprache, welche zu­ fällig die seine war, aber erst durch seinen Willen erhielten sie Bedeutung, Stellung und Farbe." (ebd., 13 f. ) Diese Ich-Disposition wird in der besagten Bergszene besonders deutlich, als Erwin ein Fenster "an der Wand" vermu­ tet sowie eine "menschliche Gestalt", die "seinetwegen" kam: "Aber wie er das Licht anzündete und die Wand beleuchtet hatte, war kein Fenster da; ein Spiegel hatte ihn getäuscht" (ebd., 34). Statt des Kontaktes zur Außen­ welt, die durch das Fenster und die mögliche Begegnung mit der anderen Person angezeigt wird, zeugt der Spiegel von der Selbstbezogenheit der Fi­ gur. Da Erwin in allem nur sich selbst wahrnimmt, kann die titelgebende Er­ kenntnis - die Entschlüsselung des "Geheimnis des Lebens" (ebd., 37) nicht bewerkstelligt werden. Auch wenn die Selbst-Begegnung auf der Alm frustrierend endet, so zeigt die sexuelle Vereinigungsfantasie immerhin, wie Einheit prinzipiell herstell­ bar, der Narzissmus punktuell zu überwinden wäre. Der wahrhaftigste

Topografie

89

90 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Drang des Menschen sei es, "seinen Leib an den Leib eines anderen Men­ schen zu pressen, weil in dieser geheimnisvollen Vernichtung des Daseins eine Erkenntnis lag" (ebd., 34). Der Preis ist freilich die gänzliche Vernich­ tung der Ich-Existenz, was auf das tödliche Ende des Textes hindeutet. Ver­ wundern kann daher nicht, dass Erwin auch in der Folge der Alm-Episode keine Befriedigung findet, wofür zwei Strukturen seiner Psyche verantwort­ lich sind. Zum einen gelingt es ihm nicht, eine Grenze zwischen dem eige­ nen Ich und den Anderen zu ziehen, stattdessen soll die Einheitserfahrung auf der Alm wiederholt werden, "daß er nicht allein sei, sondern eins mit" seiner Mutter (ebd., 36): ,,[Ejr war ihr Leben und sie war sein Tod, und die­ ser Tod und dieses Leben waren tief und geheimnisvoll verknüpft." (ebd.,

37) Schafft es Erwin also nicht, den Unterschied zwischen Ich und Umwelt wahrzunehmen, so kann er zum anderen die innere Grenze, die ihn seine eigene Subjektivität als etwas Gegensätzlich-Widersprüchliches erleben lässt, nicht dauerhaft auflösen. "Aber jetzt" - so heißt es kurz vor seinem Tod - "war nicht mehr in ihm die lockende Zweiheit des Lebens, es war nichts mehr in ihm als eine einzige schreckliche Drohung." (ebd., 41) Statt eines Ausgleichs von Gegensätzen wie Leben und Tod kommt es nun zur Konfrontation: einem "furchtbaren Zweikampf mit dem Fremden" (ebd.) womit im Sinnzusammenhang der Erzählung nicht in erster Linie die Figur eines Fremden gemeint ist, sondern vielmehr das Fremde oder , Andere' in seiner eigenen Person. Am Ende können die Gegensätze nicht überwunden werden, sie werden vielmehr als unauflösbar empfunden. Kunstdiskurs

Der Text belässt es allerdings nicht bei diesem deprimierenden Befund, sondern deutet die Möglichkeit an, Gegensätze situativ und punktuell auf­ lösen zu können. Eine dieser Situationen ist die Kunstrezeption, die in An­ drians Erzählung zur religiösen Offenbarung stilisiert wird: Für Erwin sind erinnerte Worte des Dichters ein Erlebnis, das Einheit und Sinn verspricht: "Schmerz und Jubel, Erhabenheit und Gemeinheit und die ganze Fülle des­ sen, was Himmel und Hölle birgt, aber so vermengt, in einer solchen Bewe­

gung durcheinanderfließend, so eins durch sie, daß man das Ganze als eine geheimnisvoll zitternde Glorie empfand." (ebd., 26) Die Fixierung des situa­ tiven Einheitserlebens in einem Bild wird an späterer Stelle aufgegriffen, wenn Erwin den Reiz einer Statue empfindet, "auf der sich zwei Frauen umschlungen hielten" (ebd. 28). Was der Figur nur situativ und für kurze Momente gelingt, so könnte man diese Passage des Textes selbstreflexiv deuten, kann zumindest im Kunstwerk dauerhaft verewigt werden. Zwi­ schen Leben und Kunst allerdings, so die Kehrseite dieser Erkenntnis, klafft eine Lücke, die nicht zu überwinden ist. Im Garten der Erkenntnis ist Subjektivität also geprägt durch heterogene Empfindungsstrukturen - insofern lässt sich diese Konzeption des Ichs an Ernst Machs Überlegungen zum , unrettbaren Ich' anschließen (vgl. Kap.

1Y.2). Allerdings stellt diese Heterogenität ein Problem für das Ich dar, das sich zunehmend in Reflexionen verliert. Der angestrebte Ausgleich zwi­ schen Widersprüchen gelingt genauso wenig wie überhaupt "Erkenntnis über sich und die Realität zu erlangen" (paetzke 1992, 32). Der Text ver-

2. "Vom Außen zum Innen"

deutlicht, dass für eine stabile Identität eine Grenze zu ziehen wäre, zwi­ schen der inneren und der äußeren Welt. Was Mach als Befreiung versteht (vgl. Lorenz 2007, 113), wird Erwin letztlich zum Verhängnis. Interessant ist in diesem Zusammenhang überhaupt die Dichte an intertextuellen Bezü­ gen, die alles beinhalten, "was um 1900 modern war: Bourget [ . . ], Nietz­ .

sche und die Lebensphilosophie, die neue Mystik" (Paetzke 1992, 32). In diesen Referenzen zeigt sich insgesamt die (vergebliche) Suche des moder­ nen Subjekts nach Orientierung und Sinn sowie ein Werterelativismus, wie er für viele Texte der literarischen Moderne prägend ist.

Reitergeschichte (1899) Wie Andrians Erzählung vollzieht auch die Reitergeschichte, erstmals veröf­ fentlicht im Jahre 1899 in der österreichischen Tageszeitung Neue Freie Pres­

se, buchstäblich eine Bewegung ,vom Außen zum Innen'. Der Text beginnt zunächst mit einem neutralen Bericht von der Einnahme der Stadt Mailand durch ein Streifkommando am ,,22. Juli 1848, vor 6 Uhr morgens" (Hof­ mannsthai SW XXVIII, 39). Allmählich verliert er dann seinen berichtenden Gestus, stattdessen wird der Bericht durch erotische Semantiken erkennbar subjektiviert: "Nachdem laut übereinstimmender Aussagen der verschiede­ nen Gefangenen die Stadt Mailand von den feindlichen sowohl regulären als irregulären Truppen vollständig verlassen, auch von allem Geschütz und Kriegsvorrat entblößt war, konnte der Rittmeister sich selbst und der Schwa­ dron nicht versagen, in diese große und schöne, wehrlos daliegende Stadt einzureiten." (ebd., 40) Der Tatbestand der militärischen Eroberung wird als sexueller Übergriff beschrieben, was den Einritt der Schwadron nur bedingt als militärisch notwendigen Akt ausweist (vgl. Steinlein 1991, 212). Im Folgenden verengt sich die Perspektive der Erzählung auf die Figur des Wachtmeisters Anton Lerch. Der Text wird ab diesem Zeitpunkt durch Erinne­ rungen, Tagträume, Gedanken und Handlungen nicht nur Einblick in seine Psyche gewähren, sondern immer tiefer in sie eindringen. Diese Psyche lässt sich anhand der Raumstruktur der Erzählung näher er­ läutern, die auf zwei semantischen Prinzipien beruht: Demjenigen der Ho­ mologiebildung einerseits und der Etablierung von Gegensätzen anderer­ seits. Die Erzählung entwirft drei zentrale Handlungsräume, deren Ähnlich­ keit durch das Motiv des ,Eindringens' markiert wird: So wie die Schwadron zu Beginn in die Stadt Mailand einreitet, dringt der Wachtmeister Lerch in Mailand in das Haus einer Frau, der Vuic, ein; und der Mailand-Einritt wird sich schließlich in einem Dorf außerhalb der Stadt wiederholen. Gemein­ sam ist allen drei Situationen die erotische Semantisierung des Eindringens: So wird die Vuic als "eine üppige, beinahe noch junge Frau" (Hofmannsthai SW XXVIII, 41) eingeführt, die ihm bekannt vorkommt, und zum Objekt der triebhaften Gier des Wachtmeisters wird. Deutlich verknüpft die Erzählung die sexuelle Begierde mit dem Wunsch nach Macht. "Im Augenblick aber, während er mit etwas schwerfälligem Blick einer großen Fliege nachsah,

[ . . ] erfüllte ihn das Bewußtsein der heute bestandenen Gefechte und ande­ .

rer Glücksfälle von oben bis unten." (ebd., 41 f.) Beide Eroberungsgesten

Raumstruktur und Psyche

91

92 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke werden als psychologisch motiviert ausgewiesen, als ein "Durst nach uner­ wartetem Erwerb, nach Gratifikationen, nach plötzlich in die Tasche fallen­ den Dukaten" (ebd., 42 f.). Im Zentrum der Fantasien Lerchs steht aber nicht in erster Linie die Beute, die es zu erobern gilt, sondern ein "vollständig ra­ sierter älterer Mann" (ebd., 41), der sich im Haus der Frau aufhält, und den es zunächst aus dem Feld zu schlagen gilt. Dieser Mann, den Lerch im Haus der Frau sieht, steht wenig später im Zentrum eines Tagtraums und wird dort als Liebhaber der Vuic imaginiert. Im Bild des alten "Rasierte[n]", der "Ka­ paunen" (ebd., 42) brachte, wird zugleich die sexuelle Dominanz des jun­ gen Wachtmeisters ausgestellt, der seinem Widersacher die sexuelle Potenz gleichsam abschneidet. Gleichzeitig offenbart die Vorstellung des Mannes als schwach und unterwürfig die Psyche eines labilen Subjekts, das den Älteren als Bedrohung ansieht und seine Stärke aus der (vermeintlichen) Schwäche seines Gegenübers bezieht. Ich-Dynamik

Bis zu diesem Punkt der Erzählung schildert der Text eine Psyche, die die kollektive Eroberung der Stadt in einer subjektiven Machtfantasie spiegelt. Die militärisch-öffentliche Rolle des Eroberers wird in den Bereich des Pri­ vaten verlagert - "in das Zimmer mit den Mahagonimöbeln und den Basili­ kumtöpfen hinein und zugleich in eine Zivilatmosphäre, durch welche doch das Kriegsmäßige durchschimmerte, eine Atmosphäre von Behaglich­ keit und angenehmer Gewalttätigkeit ohne Dienstverhältnis" (ebd.). Diese Machtfantasie verleiht dem Subjekt offensichtlich deshalb Stabilität, weil sie einen Ausgleich zwischen der sozialen Form des Soldaten und dem in­ neren Bedürfnis nach dem Verlassen dieser Form herstellt. Lerch kann "sei­ ne Gewalt geltend" (ebd.) machen, ohne in die Struktur eines Dienstverhält­ nisses gepresst zu sein. Die Fantasie einer zwar strukturautonomen aber im Sinne des soldatisch geprägten Ichs sexuell-gewalttätigen Privatexistenz war, so heißt es im Text, "der Splitter im Fleisch, um den herum alles von Wünschen und Begierden schwärte" (ebd., 43). Angedeutet ist bereits hier, dass das Ich nun in Dynamik gerät, was sich in der anschließenden Dorf­ Episode verfestigt, in der die vermeintliche Stabilität in Labilität umschlägt. Grundsätzlich lässt sich die gesamte Episode als Abbildung psychischer Pro­ zesse lesen. Schon der Entschluss Anton Lerchs in das Dorf, das ihm "auf verlockende Weise verdächtig" (ebd.) schien, abzubiegen, kann als Vordrin­ gen in ein (teilweise unbekanntes) Terrain der eigenen Person interpretiert werden. Die Motivation für das Verlassen des vorgegebenen Weges ist ähn­ lich der in Mailand: Er hofft dort einen feindlichen General "mit geringer Bedeckung zu überraschen und anzugreifen oder anderswie ein ganz außer­ ordentliches Prämium zu verdienen" (ebd., 43). Wie in der Vuic-Szene ist auch hier ein (sexuell konnotierter) Wunsch nach Macht entscheidend, wo­ bei zunächst der ranghöhere, ältere Widersacher bezwungen werden muss. Hierin zeigt sich die problematische Psyche Lerchs, die die militärischen Regeln einerseits internalisiert hat, andererseits danach strebt, diese (hierar­ chischen) Regeln zu überwinden.

Erotik und Macht

Die in der Dorf-Episode symbolisch ins Bild gesetzte Erkundung seiner Seele konfrontiert Lerch mit dem Gegenbild der fantasierten Mahagoni-

2. "Vom Außen zum Innen"

Welt im Haus der Vuic. Denn das Dorf ist als verkommener, schmutziger Raum konzipiert, der einen Macht- und damit Identitätsverlust Lerchs zei­ chenhaft abbildet. Verdeutlicht wird dieser Machtverlust dadurch, dass kei­ ner im Dorf den Wachtmeister als Soldaten wahrnimmt, also seine Autorität anerkennt. So ging die "Frauensperson, deren Gesicht er nicht sehen konn­ te" und die "nur halb angekleidet" war, so "dicht vor dem Pferde, daß der Hauch aus den Nüstern den fettig glänzenden Lockenbund bewegte, der ihr unter einem alten Strohhute in den entblößten Nacken hing, und doch ging sie nicht schneller und wich dem Reiter nicht aus." (ebd.) Im Unterschied zur Vuic gelingt es Lerch nicht, eine dominante Position einzunehmen. Weil die Machtkomponente fehlt, löst die halbnackte Frau auch keine eroti­ schen Gefühle aus, sondern repräsentiert eine Form tierisch-triebhafter Se­ xualität, was durch den impliziten Vergleich der Frau mit einer "unreine[n] Hündin mit hängenden Zitzen" (ebd., 44) ins Bild gesetzt wird. Lerch emp­ findet bei diesem Bild keine sexuelle Lust, was durch die Metapher der ver­ sagenden Pistole (vgl. ebd.) verdeutlicht wird. Entgegen der bürgerlich-kul­ tivierten Sexualität, die Lerch in Mailand imaginiert hat, ist Sexualität im Dorf auf eine tierisch-triebhafte Komponente reduziert. Die Diskrepanz zwischen kultureller Form und Triebnatur wird von Lerch als Entfremdung empfunden, sie findet in der Doppelgänger-Szene des Textes ihren Höhe­ punkt, die gleichsam als Ich-Spaltung lesbar ist. Lerch begegnet sich selbst, er wird buchstäblich mit seinem Spiegelbild konfrontiert, das er erst im letz­ ten Augenblick erkennt. Eine vermeintliche

Rückgewinnung von

Handlungssouveränität und

Identität erfolgt erst wieder in der bestialischen Schlachtszene, wo Lerch seine Rolle als Soldat wiederfindet. Im Zentrum der Schlacht steht der Kampf mit einem jungen Offizier; die Formulierung sein "Eisenschimmel versagte" (ebd., 46) kennzeichnet ihn als alter ego-Figur des Protagonisten. Lerch ersticht den Konkurrenten, woraufhin ihm das "Beutepferd" (ebd.) in die Hände fällt, das er seinem Vorgesetzten präsentiert. Als er ihm die Beute übergeben soll, verweigert sich Lerch: "Während [sein] starr aushaltender Blick, in dem nur dann und wann etwas Gedrücktes, Hündisches aufflackerte und wieder verschwand, eine gewisse Art devoten, aus vieljährigem Dienstverhältnisse hervorgegangenen Zutrauens ausdrücken mochte, war sein Bewußtsein von der ungeheuren Gespanntheit dieses Augenblicks fast gar nicht erfüllt, sondern von vielfältigen Bildern einer fremdartigen Behaglichkeit ganz überschwemmt, und aus einer ihm völlig unbekannten Tiefe seines Innern stieg ein bestialischer Zorn gegen den Menschen da vor ihm auf, der ihm das Pferd wegnehmen wollte." (ebd., 47) Akzentuiert wird hier die Spannung zwischen dem strukturell angepassten, ,devoten' SoldatenIch und dem bestialischen, aus der Tiefe des Ichs stammenden Triebpotenzial, das sich offensichtlich durch die langjährige Anpassung angestaut hat und nun eruptiv ausbricht. Dieses Triebpotenzial erweist sich als etwas ,Unbekanntes', das von den behaglichen Wunschbildern im Tagtraum in Mailand überlagert war. Ist das bestialische Ausagieren von Gewalt im Rahmen der militärischen Aktion rollenkonform, hat der Wutausbruch gegenüber

Triebpotenzial

93

94 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke dem Vorgesetzten drastische Konsequenzen. Die Erschießung Lerchs durch den Baron markiert, dass im hierarchisch organisierten Ordnungssystem des Militärs das Ausleben der Triebe sanktioniert wird. Das Aussteigen aus der sozialen Rolle führt, so lässt sich schlussfolgern, zur Auslöschung der Identi­ tät im sozialen Raum. Mit Blick auf die Psychologie Lerchs hat dieser Tod eine zeichen hafte Bedeutung: Er kennzeichnet metaphorisch die Konse­ quenz seiner Ich-Spaltung. Durch den Verlust der sozialen Form ist das Ich auf die Triebhaftigkeit reduziert, verliert also seine (kulturelle) Identität. Kontexte

Die in der Reitergeschichte dargestellte Ich-Problematik ist nicht nur individualpsychologisch zu verstehen. Vielmehr ist die Psychologie Anton Lerchs an sozial-historische Zusammenhänge gekoppelt, was bereits in der Erzählstruktur angelegt ist. Der Text blendet von der historischen Makroper­ spektive in die sozial-psychologische Mikroperspektive über und bezieht beide Ebenen aufeinander. Dabei lässt sich die Erzählung sowohl auf das historische Ereignis hin lesen, das "die Reitergeschichte über Zeit- und Ort­ sangaben abruft", als auch auf den geschichtlichen Kontext beziehen, "in dem sie als Werk der Jahrhundertwende steht" (paetzke 1992, 65). Histo­ risch gesehen bezieht sich der Text auf die militärischen Auseinanderset­ zungen zwischen Italien und Österreich im Jahre 1848. Im italienischen Unabhängigkeitskrieg ging es um die nationale Selbstbestimmung Italiens, die in der sogenannten Märzrevolution erreicht werden sollte. Mitte des Jah­ res - zu der Zeit also, in der Hofmannsthais Erzählung spielt - war diese Revolution gescheitert, die österreichischen Truppen erlangten die Kontrolle über die Gebiete allmählich zurück. Auf der historischen Ebene geht es also wie auf der psychologischen ganz allgemein um das Verhältnis von Autono­ mieanspruch und Repression; darüber hinaus enthält die Verknüpfung von historischem Ereignis und Psychogramm des Soldaten Lerch ein interessan­ tes Erklärungsangebot für die komplexen Macht-Mechaniken des Krieges: Die Geschichte um den Wachtmeister demonstriert die von psychosexuel­ len Antrieben bestimmte Mechanik des Krieges. Indem der Text die Erobe­ rung Mailands mit dem Eindringen Lerchs in das Haus der Vuic verknüpft, wird die Psychologie Lerchs gleichsam verallgemeinert. In beiden Fällen, so verdeutlicht die Erzählung, ist das Eindringen in den fremden Raum nicht in erster Linie militärisch legitimiert, sondern stellt vielmehr die Realisation (sexueller) Machtfantasien dar. Was die sozialhistorische Relevanz des Tex­ tes um 1900 angeht, so verdeutl icht die Konfrontation zwischen dem Wachtmeister Lerch und seinem adligen Vorgesetzten Baron Rofrano ein gesellschaftliches Problem. Kern des Konflikts ist das Verhältnis zwischen militärischem Hierarchiedenken, das sich gleichsam an den sozialen Schichten orientiert, und den freiheitlichen Bedürfnissen des Individuums. Die Erzählung deutet dabei ein prekäres Zusammenspiel zwischen Ord­ nungs- und Subjektstrukturen an: Das Militär macht sich einerseits die Per­ sönlichkeitsstruktur Lerchs zunutze; sein (triebhaftes) Bedürfnis nach Beute, Belohnung und Macht sind soldatische Qualitäten, die von einem repressi­ ven System in Schach gehalten werden. Wenn diese Statik instabil wird, die Dynamik des Subjekts also mit dem System in Konflikt gerät, reagiert das

3. Auf Leben und Tod

System andererseits mit Gewalt. Lerch wird erschossen, weil er "nur einen Moment zögert, seine Interessen denen der Armee unterzuordnen" (ebd.,

63). Ist die sozial-autoritäre Struktur durch individuelle Ansprüche gefähr­ det, wird die Störung also unmittelbar beseitigt. Hofmannsthais Reitergeschichte weist von dieser Warte aus Gemeinsam-

Zusammenfassung

keiten mit Andrians Der Garten der Erkenntnis auf: In beiden Erzählungen erweist sich das Subjekt als dynamische, von heterogenen, teilweise gegensätzlichen Motiven, Wünschen oder Gedanken geleitete Größe. In beiden Texten ist dieses Subjekt gespalten: Internalisierte Formen eines sozialen Bewusstseins konfligieren mit triebhaften oder emanzipatorischen Bestrebungen. In diesen prekären Psychologien der Figuren bilden sich gleichsam Systemkrisen ab. Bei Andrian repräsentiert die Kirche ein System, das wesentliche Bereiche des Lebens ausblendet und deshalb die Entfaltung des Individuums behindert. Und mehr noch: Im Falle Erwins ist die religiöse Erziehung als eine Ursache dafür zu sehen, dass der Protagonist die Welt in Gegensätzen denkt. Weil das religiöse Leben wesentliche Lebensbereiche ausgrenzt, wird das Bedürfnis nach dem vermeintlich Verbotenen überhaupt erst erzeugt. Auch bei Hofmannsthai sind Subjekt- und Systemebene miteinander verbunden: Im Text Reitergeschichte begünstigt das System Militär die Entfremdung des Ichs, die sich bis zur Ich-Spaltung hin radikalisiert. Insofern wird die Wende ins Figureninnere in beiden Erzählungen an äußere Strukturen rückgekoppelt, was sich auch auf der Ebene des discours abbildet. Beide Erzählungen schildern zwar überwiegend subjektive Wirklichkeiten, was in der Reitergeschichte gegen Ende selbstreflexiv problematisiert wird: "Ob aber in dem Rittmeister" - so heißt es kurz vor der Erschießung Lerchs - "etwas Ähnliches vorging, [ ...] bleibt im Zweifel" (Hofmannsthai SW XXVIII,

48). Allerdings enthalten beide Erzählungen

Strukturen der Objektivierung subjektiver Prozesse: sprachlich-rhetorische Muster, die sich durch die Texte ziehen, die der personalen Erzählweise eine quasi auktoriale Stimme an die Seite stellen und darin einen über das Einzelschicksal der Figuren hinausführenden Deutungshorizont eröffnen. Ist dieser Horizont in der Reitergeschichte ein kollektivpsychologisch-historisierender, so finden sich auch in Andrians Erzählung Anspielungen, die die "Problematik des selbstbezogenen Ästheten auf einen gesellschaftlichen Zustand hin [verallgemeinern], der in wehmütig rückwärtsgewandter Perspektive als drohender Untergang der Monarchie erscheint" (Paetzke 1992,

42).

3. Auf Leben und Tod: Arthur Schnitzlers Sterben und

Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs (1897), Der Tod in Venedig (1911)), Rainer Maria Rilkes (Oie Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910)), Franz Kafkas (Das Urteil (1913), Oie Verwandlung (1915)) oder Georg Trakls: Gestorben wird in der Literatur um 1900 beinahe überall. "Es

Ob in den Texten Thomas Manns (Der Tod

fehlt nicht an [ ...] Beispielen" - schreibt Clemens Sokal in der Neuen Revue

Wiener Todesdichter

95

96

V.

Einzelanalysen repräsentativer Werke vom 29. Mai 1885 -, "die dartun, daß der Todesgedanke einen der Grund­ töne in den literarischen Harmonien des heutigen Tages bildet." (Sokai

1981, 267) So dürfe man sich nicht wundern, dass dies auch für junge Bü­ cher aus Wien zutreffe (ebd.). In der Tat: Ein Blick auf die Wiener Literatur zeigt eine Häufung der Todesthematik: Arthur Schnitzlers Erzählungen Oie Toten schweigen und Sterben tragen ihr Thema genauso im Titel wie Hof­

mannsthals lyrisches Drama Der Tor und der Tod und Richard Beer-Hof­ manns Der Tod Georgs; vom Tod verschont wird auch die Figur Anton Lerch in Hofmannsthais Reitergeschichte nicht - und ebenso gibt es in Felix Sal­ tens Novellenband Der Hinterbliebene (1900) Todesfälle zu beklagen. Ob­ gleich das Thema ,Tod und Sterben' ein für die literarische Modere insge­ samt zentrales Thema ist (vgl. Pfeiffer 1997), wurde es bereits zeitgenössisch als markantes Aushängeschild der jungen Wiener Autoren wahrgenommen. Profilbildend war sicher schon Karl Kraus' polemische Kritik an Schnitzlers Sterbetexten, die er in Oie demolirte Literatur (1896/1897) übte. Sie entzün­ dete sich insbesondere am

"soziokulturellen Standort

[der]

Figuren"

Schnitzlers und der Verwendung des Todesthemas als vermeintlich nur pa­ thetischen "Effekt ohne Tiefe" (Matthias 1999, 15).

"Wenn dann so etwas

wie Tod vorkommt, - bitte nicht zu erschrecken, die Pistolen sind mit Tem­ peramentlosigkeit geladen: Sterben ist nichts, aber leben und nicht sehen! ... Nicht um Leben aufzunehmen, treten diese Nachempfinder dann und wann aus dem Schneckengehäuse ihres angeblichen Ich heraus; nur um dessen kokette Windungen andächtig zu betrachten." (Kraus 1979, 286)

Ästhetik des Sterbens

Dass die Todesthematik gut drei Jahre später zur Marke der Jung-Wiener Literatur geworden war, zeigt sich in Alfred Golds Artikel Ästhetik des Ster­ bens, der am 24. Februar 1900 in der Wiener Zeitschrift Oie Zeit erschienen

ist: "Man kennt schon eine kleine Gruppe von modernen Wiener Todes­ dichtern [ ...]: die Kritik spricht davon, und auch die uns begleitende Litera­ turgeschichte der Gegenwart wird bald nicht umhin können, von ihr Notiz zu nehmen." (Gold 1996, 39) Zwar ist das Etikett der ,Todesdichter' in erster Linie literaturpolitisch zu verstehen- verleiht er doch dem Autorenkreis um Schnitzler und Hofmannsthai ein Profil-; jedoch lässt ein genauer Blick auf die Texte der Jung-Wiener (bei aller Verschiedenheit der ästhetischen Aus­ gestaltung des Themas) auch ein inhaltliches Profil erkennen. Und mehr noch: Die Erzählliteratur der Wiener Moderne bildet, was die Konzeption und Darstellung des Todes angeht, gerade jenen Übergang paradigmatisch ab, der sich vom Realismus hin zur literarischen Moderne vollzieht (vgl. Kap. 1v'3). Dieses Profil lässt sich wie folgt bestimmen: Während der Tod in der Literatur des Realismus die Statik des Subjekts eher festigt als ins Wan­ ken bringt, wird die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit für das mo­ derne Subjekt zum psychologischen Problem; sie löst psychische Prozesse aus, verändert die Figuren, führt in aller Regel zu einer neuen Bestimmung des Verhältnisses zu sich selbst und der Umwelt. Im Falle von Arthur Schnitzlers Sterben wird sich in der Analyse überdies zeigen, wie dieser psychische Prozess die Moralvorstellungen des Sterbenden in radikaler Form verändert.

3. Auf Leben und Tod

Sterben (1894) Arthur Schnitzler will die 1894 in der Neuen Deutschen Rundschau er­

Handlungsübersicht

schienene Novelle Sterben als "ehrenwerte Studie" (zit. n. Nickl/Schnitzler 1964(25) verstanden wissen - und tatsächlich lässt sich der Text als Psycho­ gramm eines Sterbenden lesen: Die Erzählung beginnt mit einer schreckli­ che Diagnose. Felix, ein junger Mann, hat erfahren, dass er nur noch ein Jahr zu leben habe, was er seiner Freundin Marie berichtet. Im Folgenden wird der Krankheits- und Sterbeprozess in Etappen geschildert, die sich an­ hand der erzählerischen Topografie nachzeichnen lassen: Von Wien reist das Paar ins Gebirge, wo es gelingt, den drohenden Tod zeitweise zu ver­ drängen, weil Felix noch keine körperlichen Krankheitssymptome zeigt. Von dort aus geht es über Salzburg, wo beide ein letztes Mal am gesell­ schaftlichen Leben teilnehmen, zurück nach Wien. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird klar, dass Felix faktisch krank ist: Er wird sich nun nur noch in geschlossenen Räumen aufhalten, sein Handlungsraum wird buchstäb­ lich immer kleiner. In Meran, der letzten Station, ist er dann schließlich ans Bett gefesselt. Wichtiger als die äußere ist für das Verständnis der Erzählung die innere Handlung: Sie umfasst, wie der Sterbende einerseits und sein so­ ziales Umfeld andererseits auf die Todesnachricht und den Sterbeprozess reagieren, wie sie das langsame Sterben also bewältigen. Grundsätzlich destruiert der Text "traditionelle Bewältigungsformen - äs­ thetischer wie existentieller Art", entlarvt sie als )llusionär" (Pfeiffer 1997, 148). Seine Absicht, konventionelle Vorstellungen zu unterlaufen, zeigt sich auf der Ebene der literarischen Struktur, präziser: der Motive ,Frühling' und ,Reise': Sowohl die Todesnachricht als auch der Tod ereilen Felix im Früh­ jahr - der Jahreszeit also, die traditionell mit Jugend, Liebe und Vitalität ver­ knüpft ist. Noch deutlicher wird der Konventionsbruch an der Funktion der Reise vom Norden (Wien) in den Süden (Meran). Mit der Nord-Süd-Achse ist einerseits die Hoffnung auf Genesung verbunden. Andererseits spielt die Reise in den Süden auf die in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts häu­ fig dargestellte Sinn- und Identitätsstiftung des Reisenden an. Im Falle von Felix bleibt die Reise in den Süden hingegen sowohl medizinisch als auch mental wirkungslos, und mehr noch: Mit ihr ist eine zunehmende Destabili­ sierung und Isolation verbunden, die ihren Höhepunkt im Augenblick des Sterbens findet.

Sterben unterläuft nicht nur formal konventionelle literarische Muster. Überdies zeigt sich in der Auseinandersetzung der Figuren mit dem Thema Tod, dass traditionelle "Bewältigungsmuster [ . . ] den Schrecken des bevor­ .

stehenden Todes" nicht bannen können (paul 2005, 94). Dies gilt nicht nur für religiös-christliche Vorstellungen über den Tod, die im Text überhaupt keine Rolle spielen (vgl. ebd.), sondern auch für die pragmatische Bewälti­

gung. Auf Maries spontanen, auf den "Topos des romantischen Liebestodes" (ebd., 89) anspielenden Impuls, mit ihm gemeinsam sterben zu wollen, rea­ giert Felix rational: "Das sind Kindereien [ . . ]. leh hab' [ . . ] garnicht das .

.

Recht, Dich mit mir zu ziehen. [ . . ]leh muss gehen, und du musst bleiben." .

(Schnitzler HKA 3, 65f.) Stattdessen will er versuchen, "das letzte Jahr so

Bewältigungs­ strategien

97

98 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke weise als möglich zu verleben", um dann "lächelnd von dieser Welt" zu scheiden (ebd., 69). Diese pragmatische Haltung scheitert genauso, wie der Versuch, die Krise philosophisch zu meistern. "Er wandte sich den Philoso­ phen zu und liess sich von Marie Schopenhauer und Nietzsche aus dem Bü­ cherschrank geben. Aber nur für kurze Zeit strahlte diese Weisheit ihren Frieden über ihn aus." (ebd., 110) Die Begründung von Felix ist schlagend: "Das Leben verachten, wenn man gesund ist, wie ein Gott und dem Tod ru­ hig in's Auge schauen, wenn man in Italien spazieren fährt [... ] das nenn' ich ganz einfach Pose. " (ebd., 111) Vom Leben aus, so lässt sich die Argu­ mentation von Felix bündig zusammenfassen, kann man über den Tod nichts aussagen, man fälsche die "Psychologie der Sterbenden" (ebd.). Schließlich scheitert auch die soziale Bewältigung des bevorstehenden To­ des - die Idee also, dass der Sterbende (und seine nächsten Angehörigen) durch die Gesellschaft gestützt und begleitet werden. Dies zeigt sich im Text ganz radikal: Nicht nur in der eigentlichen Sterbeszene, die den einsa­ men Tod der Figur schildert, sondern auch im Textverlauf. Die Novelle schildert eine Gesellschaft, aus der der Tod weitgehend ausgegrenzt wird. Zeichenhaft bildet der Text dies über die Orte und Räume ab. Bereits das Wissen um den Tod führt zum gesellschaftlichen Rückzug. Während im Wiener Prater das Leben tobt, sitzt das Liebespaar dort "allein" (ebd., 60) in der dämmrigen Ecke eines Gasthauses: ,,[I]ch will auch nicht viel Menschen sehen, das Geräusch thut mir weh!" (ebd., 59) Entsprechend empfindet Felix in Salzburg einen "Widerwillen, mit all diesen Leuten in eine nähere Berührung" zu kommen: "Wir gehören", so beurteilt Felix seine Situation, "nicht dorthin. Für uns sind nicht mehr die bunten Lichter und die singende Fröhlichkeit und die Menschen, die lachen und jung sind." (ebd., 95) Die Novelle markiert also eine Grenze zwischen den Lebenden und den Ster­ benden, zumindest wird diese Grenze vom sterbenden Subjekt gezogen. Dass die Gesellschaft ihrerseits nur unzureichend mit dem Tod umzugehen weiß, zeigt sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen an der Figur des befreun­ deten Arztes Alfred, der die Situation von Felix auch dann noch schönredet, als seine Krankheit voranschreitet. Hier wird ein Versagen sowohl in der Freundes- als auch der Arztrolle evident. Zum anderen sind die Reaktionen auf den Kranken von Hilflosigkeit geprägt: "An den Fenstern des Hauses ge­ genüber", berichtet der Erzähler, "wurden einige mitleidige Frauengesichter sichtbar." (ebd., 131) Eindrucksvoll markiert der Text, dass die Gesellschaft jenseits von Mitleid über keine wirksamen Formen der Sterbebegleitung ver­ fügt. Psychogramm eines Sterbenden

Das Versagen religiöser, philosophischer und sozialer Bewältigungsfor­ men verdeutlicht in Sterben eines ganz deutlich: Der Tod wird zur individu­ ell-psychologischen Angelegenheit. Ganz im Sinne Hermann Bahrs erzählt Sterben, wie die Nerven zunehmend blank liegen, welche psychologischen Prozesse durch das Wissen um den Tod bzw. die tatsächliche Erkrankung ausgelöst werden. Maßgebend für das Verständnis dieser psychischen Pro­ zesse ist die von der Erzählung markierte Differenz zwischen der Sphäre des Lebens und der Sphäre des Todes, die Felix selbst als scharfe Grenze be-

3. Auf Leben und Tod

zeichnet (vgl. ebd., 63). Zunächst empfindet er das Wissen um den Tod als exklusives Wissen, das ihn von den Lebenden trennt und deshalb in ihm ein Gefühl von Erhabenheit und Macht auslöst: "Sein Selbstgefühl wuchs, wenn er sah, wie viel er ihr verschweigen konnte. So einsam wurde er da, so gross." (ebd., 78) Schon wenig später verändert sich seine Stimmung, wenn es "wie eine Erleuchtung über ihn" kommt: "Nicht die Lust am Leben hatte er überwunden, nur die Angst des Todes hatte ihn verlassen, weil er an den Tod nicht mehr glaubte." (ebd., 79) Changiert das Bewusstsein der Figur hier buchstäblich zwischen Leben und Tod, verstetigt sich im Zuge der Handlung eine Tendenz. Der Text bildet die Psyche eines Kranken ab, der sich zunehmend vom Bereich des Todes her definiert. Je mehr ihm das Le­ ben aber entgleitet, desto stärker wird sein Bestreben, sich Elemente dieses Lebens anzueignen. Er saugt es buchstäblich auf, "hatte das Bedürfnis, [. . ] .

mit tieferen Zügen zu atmen" (ebd.). Diese Strategie der Inbesitznahme des Lebens radikalisiert sich im weiteren Verlauf: Marie wird zunehmend als Le­ ben spendendes Objekt wahrgenommen, auf das Felix Besitzansprüche er­ hebt. Zunächst passiert dies noch mit dem Ziel der Lebenserhaltung, später dann - als er sich aufgegeben hat - will er das Leben gleichsam mit in den Tod nehmen. Als das Paar auf der Rückfahrt nach Wien in Salzburg Halt macht, wird die Eifersucht auf alles Lebendige, vor allem aber auf seine Freundin Marie, offensichtlich: "Und auch neben ihm [. . ] ging so ein Stück lachender, lebendiger Jugend." (ebd., 96 f.) Kurze Zeit später heißt es: "Mu­ sik und ein leichtes Trunkensein und so ein süsses Mädel an seiner Seite .

ach ja, es war Marie. Er überlegte. Irgend eine andere wäre ihm nun viel­ leicht gerade so lieb gewesen. [. . ] Ihre Persönlichkeit war ihm beinahe .

gleichgiltig. Sie floss mit allem anderen zusammen." (ebd., 98) Die psychi­ sche Veränderung der Figur manifestiert sich in einem wachsenden Egois­ mus: Besitzdenken und Allmachtfantasien steigern sich, je weiter die Krank­ heit voranschreitet. Überkommt ihn schon nachts im Gebirge am See die "Lust" (ebd., 89) sie aufzurütteln, um mit ihr zu sterben, so hat er in Salz­ burg "ein stolzes Gefühl des Besitzes wie nie zuvor. Nur eines störte ihn manchmal, dass sie nicht freiwillig mit ihm davon sollte" (ebd., 102). In die­ sem Moment verdeutlicht der Text, wie weit sich der Sterbende von den Werten der Lebenden entfernt hat, erwägt er doch die Möglichkeit, seine Partnerin umzubringen: "Ein fester Druck hier am Halse, und es ist gesche­ hen." (ebd., 101) Im Schlafwagen nach Meran schließlich unternimmt der Kranke einen T ötungsversuch, der nur wegen seiner körperlichen Schwäche misslingt (vgl. ebd., 133 f.). Anhand der Figur Felix verdeutlicht die Erzäh­ lung, wie sich die Psyche des Sterbenden verändert, dass das zunehmende Gefühl der Exklusion aus dem Bereich des Lebens dazu führt, dass er sich den Regeln der Lebenden nicht mehr verpflichtet fühlt. Die Entwicklung Maries verläuft, was die Bereiche Leben und Tod angeht, genau umgekehrt: Fühlt sie sich zunächst dem literarisch-romantischen Liebesideal des gemeinsamen Todes verpflichtet, so schildert die Erzählung eine allmähliche Entfremdung von diesem Ideal - und mehr noch: Sie distanziert sich zunehmend von ihrem Geliebten Felix, der für sie immer mehr zum

Liebe und Tod

99

100 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Kranken wird. Im Gebirge, der ersten Etappe der Reise, durchzuckte sie "mit einem Male [ . . ] die Erkenntnis: sie war gerne von seiner Seite aufgestanden, .

gern war sie da, gern allein!" (ebd., 83) Während Felix in Salzburg allem Le­ bendigen, "der Fröhlichkeit der Masse", entfliehen möchte, buchstäblich von der Hauptstraße in einen "weniger hell beleuchteten Teil der Stadt" ein­ biegt - "Hier ist der Platz für uns, wo von dem Jubel nichts herklingt, wo wir einsam sind" (ebd., 95) -, zieht es Marie zur Gesellschaft hin: "Marie aber schien sich [ . . ] wohl zu fühlen, und wie ein Kind blieb sie bald stehen, um .

[ . . ] einigen [ . . ] Sängern nachzusehen." (ebd., 94f.) Obgleich sie während .

.

des gesamten Jahres für ihn sorgt, bedeutet das Sterben die schleichende Ent­ fremdung der einstigen Liebespartner: Mit fortschreitender Krankheit wendet sich Marie immer mehr dem Leben zu, empfindet die Umgebung des Sterbe­ zimmers zunehmend als Belastung und erschrickt vor dem egoistischen Ge­ danken, dass sie sich seinen Tod wünscht: "Wenn's nur vorüber wäre!" (ebd., 142). "Und sie wird leben, sie wird unter Menschen sein, während sie doch draussen ein stummes Grab weiss, wo er ruht, - er! den sie geliebt hat!" (ebd., 145) Die zunehmende Distanzierung der Partner findet im Moment des Todes ihren Höhepunkt, wo genau das passiert, was beide zu Beginn um jeden Preis verhindern wollten: Felix stirbt alleine. Erzählform

Die Erzählung präsentiert die Psychologie zweier Figuren, die über ein Jahr hinweg das Sterben unmittelbar erleben und bewältigen müssen: Bei beiden zeigt sich, dass der Tod nicht aus dem Bewusstsein verdrängt werden kann, dass er subjektive Gefühle wie Egoismus, Mitleid oder Schuldgefühle sowie veränderte Handlungsweisen erzeugt, die teilweise außerhalb der ge­ sellschaftlichen Werte- und Moralvorstellungen liegen. Das Wissen um den Tod verändert das Denken von Felix, löst moralische Standards auf und de­ stabilisiert soziale Beziehungen. Die Darstellung des psychologischen Pro­ zesses, das diesem Mentalitätswandel vorausgeht, erfolgt über damals inno­ vative Darstellungstechniken der erlebten Rede und des inneren Monologs, mittels derer die bewussten und nicht bewussten Triebe, Antriebe und Moti­ ve aus dem Inneren der Person dargestellt werden. Sie geben dem Leser un­ mittelbar Einblick ins Bewusstsein sowohl des sterbenden Felix wie auch seiner Partnerin Marie. Die Erzählung changiert dabei zwischen beiden Per­ spektiven und bildet auf diese Weise die zunehmende Entfremdung beider ab, die aus einer Veränderung der Psyche im fortschreitenden Krankheits­ verlauf resultiert. Der Text ist also multiperspektivisch vermittelt, womit prägnant die fortschreitende mentale Entfremdung der Partner dargestellt wird. Besonders augenfällig wird deren Distanz in Passagen, die dieselbe Situation aus zwei unterschiedlichen Blickrichtungen darstellen. Über das introspektive Erzählen macht Sterben die Psychologie der Figu­ ren nachvollziehbar; dass er darüber hinaus keine moralische Bewertung durch eine übergeordnete Erzählinstanz vornimmt, kennzeichnet viele Er­ zählungen Schnitzlers: Die Seelenvorgänge, die sich in einer Extremsitua­ tion zeigen, sollen sichtbar, das Ich in seiner komplexen, widersprüchlichen und wandelbaren Form dargestellt werden. Die Beurteilung hingegen müs­ sen die Leserinnen und Leser selbst vornehmen.

3. Auf Leben und Tod

Der Tod Georgs (1900) Der Titel von Richard Beer-Hofmanns Erzählung scheint auf den ersten Blick irreführend zu sein; denn geschildert wird im Unterschied zu Schnitz­ lers Novelle kein Sterbeprozess, Georg stirbt unbemerkt, während die Figur Paul, aus deren Perspektive die Geschichte in Form eines Gedankenmono­ logs vermittelt wird, schläft - und träumt. Auf den zweiten Blick allerdings scheint der Titel doch überaus treffend gewählt: Für Paul ist der Tod Georgs von zentraler Bedeutung, weil er einen Prozess der Selbstfindung in Gang setzt. Die Erzählung lässt sich prinzipiell einteilen in ein davor und danach: Wird dem Leser vor dem Tod Georgs die Psyche einer problematischen, fra­ gilen Persönlichkeit präsentiert, so erfährt er danach, wie die Reflexionen des Ichs auf eine veränderte Ich-Welt-Wahrnehmung zulaufen. Doch zurück zum Anfang der Geschichte: Zu Beginn wird ein Protago­ nist eingeführt, der eine stark ausgeprägte narzisstische Weitsicht hat. Paul ist unfähig, zwischen Innen- und Außenwelt zu unterscheiden, er eignet sich vielmehr die Dinge der Wirklichkeit subjektiv an, wodurch diese im übertragenen Sinne sterben, also ihre Identität verlieren. Das Problem eines Bewusstseins, das nicht in der Lage ist, Wirklichkeit und Wunschbild ausei­ nander zu halten, wird im ersten Kapitel evident, wenn er beim Spazier­ gang "eine[r] schmächtige[n] Gestalt [begegnet] die ihn streifte" (Beer-Hof­ mann GA 3, 10). Diese Erfahrung löst in Paul einen Prozess der subjektiven Aneignung in Form eines Wunschbildes aus, das er in den Gebirgshimmel projiziert: "Weither vom Ende des Tals, wo die Berge sich schlossen, leuchteten weiße Gewänder - weißer als die weißen Berge und lichten Wiesen ringsum [ ... ]; aber was sich um den dürftigen Leib dort weich und taudurchfeuchtet legte, war ein Sterbekleid, und trug das blendende Weiß, zu dem der Tod die Knochen bleicht und in dem vereiste Welten sterben." (ebd., 14) Dass die Begegnung mit der Frau und dieses Bild in den Wolken miteinander zu tun haben, markiert der Text wenig später: "Das reiche wo­ gende Drängen seiner Gedanken war vorbei; lässig wiegten sie sich nur zwischen der Frau die er dort in den Wolken gesehen, und dem Mädchen das ihn vorhin im Vorübergehen gestreift. Wie sie sich glichen!" (ebd., 15) Anhand dieser Passagen wird der psychologische Mechanismus der Figur Paul verdeutlicht. Die Vorgänge der Wirklichkeit werden ins Bewusstsein eingesogen oder besser gesagt: in Besitz genommen. Als Konsequenz ver­ lieren diese Vorgänge ihre Lebendigkeit. Sie erstarren in einem leblosen To­ desbild. Dieses Muster bestätigt sich im zweiten Kapitel im Traum von einer sterbenden Frau. Schon die Traumhandlung selbst indiziert, dass der Leser unmittelbaren Zugang zur Psyche Pauls hat. Mittels der Traumhandlung kann er diese Psyche ausdeuten: Die Frau wird im Traum als Gegenstand beschrieben, der ihm ,,[f]ast körperlos schien" (ebd., 21). Das Traum-Ich hat sie lieb, "wie man die Dinge lieb hat" (ebd., 22). Wenig später wird deutlich, weshalb die sterbende Frau zum Objekt geworden ist. ,,[E]r fühlte, daß er weniger litt, erst seitdem die neben ihm lebte, die jetzt da unten starb. Leer und haltlos war sie ihm zugesunken, als hätte er die Kraft und Tugend

Traumhandlung

101

102 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke aller Dinge geerbt, die er ihr getötet [ ...]. Sie sehnte sich nach Inhalt und Fülle." (ebd., 43) Was hier beschrieben wird, ist der Austausch von Leben und Tod: Während die Frau - metaphorisch gesprochen - immer leerer wird, weil das Traum-Ich ihr buchstäblich das Leben aussaugt, scheinen dem Ich Kraft und Tugend zuzuwachsen. "Und nun starb sie; voll von schweren unruhigen Gedanken die er in sie geworfen." (ebd., 56) Voraus­ setzung für sein Leben ist also ihr Sterben, allerdings bezahlt auch das Traum-Ich seinen Preis, denn der Tod der Frau bedeutet das Ende dieses Tauschgeschäfts: "Langsam schien sie seiner Herrschaft zu entgleiten." (ebd., 59) In der Traumhandlung verfestigt sich in zweifacher Hinsicht das Bild Pauls als einer narzisstisch-egoistischen Persönlichkeit: Zum einen zeigt sich im Traumgeschehen eine psychische Struktur, die die Gegenstän­ de der Umwelt auf sich selbst beziehen muss, um zu überleben. Zum ande­ ren wird die geträumte Welt von Georg selbst als ideale Welt beschrieben: "Es schien ihm", so wird seine Gemütslage nach dem Erwachen geschildert, "als wäre der kurze Schlaf mit unendlich Vielem erfüllt gewesen; nichts Gleichgültiges hatte es da in seinem Leben gegeben. [ ...] [N]ichts, das wert­ los am Wege stand und an dem man fremd vorüberging. Ihm hatten alle Dinge ihr Antlitz zugewandt - er konnte nicht an ihnen vorüber; um seinet­ willen waren sie da, und ihr Schicksal vermochte er nicht von dem seinen zu lösen." (ebd., 65) Die Traumwelt ist eine Welt, in der alles auf die Be­ dürfnisse Pauls abgestellt ist, das Subjekt ist hier der Nabel der Welt, um den sich alles dreht. Der Tod als psychi­

Der Tod Georgs stellt für die narzisstische P syche Pauls eine Herausforde­

sche Bedrohung

rung dar, weil er als manifestes, objektives Ereignis nicht ohne weiteres sub­ jektiv zu vereinnahmen ist. Zwar reagiert Paul zunächst im bisherigen Mus­ ter, wenn er fühlte, dass "Georg ihm gestorben" (ebd., 71) sei; Schnell wird aber klar, dass ihm der Tod des Freundes die Grenzen seiner vermeintlichen Allmacht aufzeigt; sie konfrontiert ihn mit der eigenen Sterblichkeit, ver­ deutlicht das P roblem seiner egoistischen Weitsicht - ,,[d]enn nur um sei­ netwillen [ ...] schien Alles da zu sein" (ebd., 81). Diese Weitsicht gesteht den Dingen der Außenwelt kein eigenes Dasein zu: Das narzisstische Sub­ jekt kann zwischen Ich und Welt nicht unterscheiden, wenn es stirbt, so lässt sich die Konsequenz dieser Ich-Zentrierung formulieren, stirbt gleich­ zeitig die ganze Welt.

Erkenntnisprozess

Der Tod Georgs konfrontiert die P syche Pauls mit einem existenziell-me­ taphysischen Problem, das einen Reflexionsprozess in Gang setzt. Diese Re­ flexionen über den Tod führen in der Summe zu drei wesentlichen Erkennt­ nissen. Erstens spricht das Subjekt der Natur nun ein Eigenleben zu; in "herbstliche[r] Klarheit" kann Paul "den stummen Willen der Landschaft [ ...] erfassen, durch die er schritt, und ihr Gesetz" (ebd., 106). Zweitens ge­ lingt es ihm zunehmend, die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zu erkennen. "Aber aus ihm geboren, war die Welt in der er träumte; von ihm gesteckt, waren die Grenzen ihrer Himmel und ihrer Erden. [ ...] War nicht alles zu Ende, wenn man erwachte?" (ebd., 115) Und überdies gelingt es ihm, die Bedeutung des Traums von der sterbenden Frau zu verstehen:

3. Auf Leben und Tod

"Sich selbst nur hatte er in Allen gesucht die ihm begegnet waren [ ...]. Und mehr noch als das; in Allem hatte er nur sich gesucht und sich nur in Allem gefunden. Sein Schicksal allein erfüllte sich wirklich, und was sonst ge­ schah, geschah weit von ihm weggerückt, wie auf Bühnen, Gespieltes [ ...]. Hochmütig hatte er sich von den Andern geschieden, die für ihn spielten, und nie gedacht, daß das Leben - ein starker Gebieter - hinter ihn treten und ihn fassen und drohend ihm zuherrschen konnte: ,Spiel mit!'" (ebd., 123 f.) Das Subjekt versteht also den psychischen Mechanismus, der sein Denken und Handeln bestimmt, worin die dritte wichtige Erkenntnis der Figur liegt: Sie erkennt die Tatsache, dass sie sich in ihrem Narzissmus von der Umwelt hermetisch abgeschottet hat: "Alle Brücken die zu ihm führten, hatte er gesprengt, allen Anteil der ihm an Lebendem und Gewesenem und Kommendem gebührte, hatte er hochmütig verfallen lassen. Nur sein Schicksal war wirklich." (ebd., 125f.) Diese Einsichten des Ichs, die es aus der Selbstanalyse gewonnen hat, führen zu Schlussfolgerungen, die Paul für die Ausrichtung seines zukünftigen Lebens zieht. "Keiner durfte für sich allein sein Leben leben" (ebd., 128), so die Einsicht in die Notwendigkeit sozialer Kontakte und die Erzählung deutet unmittelbar danach an, dass sich Paul seiner Umgebung tatsächlich zu öffnen beginnt: "Er schwieg; und Stimmen wurden vernehmlich, die sonst der Schall seiner Worte übertönt hätte." (ebd.) Der hier angedeutete Gemeinschaftssinn ist nicht nur auf eine sozialere Ausrichtung des Lebens bezogen, sondern in einem metaphysischen Sinne zu verstehen, der schließlich auch eine Lösungsstrategie für den Umgang mit dem Tod bereitstellt: "Nicht wie ein einsamer Ton, ins Leere, verhallte sein Leben. Verschlungen in ein großes, von Urbeginn gemessenes, feierliches Kreisen, trieb sein Leben, mitdurchtönt von ewigen Gesetzen, die durch Alles klangen. [ ...] [U]nd der Tod schied ihn nicht von Allem." (ebd., 130) Das Gefühl des Eingebunden-Seins in den ewigen Kreislauf zeugt von der Einsicht, das subjektzentrierte Denken abzulegen. Darüber hinaus zeigt sich ein neuer Umgang mit dem Problem des Alterns und Sterbens. Bisher hat Paul die Kindheit als einzig glückliche Lebensphase gesehen, die von Unwissen und Naivität einerseits und scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Selbstwerdung andererseits geprägt ist, während im Alter das Subjekt dieser Möglichkeiten beraubt werde. Der Vorgang des Älter-Werdens bedeutete für ihn daher einen zunehmenden Identitätsverlust, der im Tod seinen Höhepunkt findet. Diese pessimistische Aussicht überwindet Paul schließlich durch die Erkenntnis, Teil einer großen Gemeinschaft zu sein. "Denn was Einer auch lebte, er spann nur am nichtreißenden Faden des großen Lebens, der - von Andern kommend, zu Andern - flüchtig durch seine Hände glitt, ein Spinner und, wie sein Leben sich mit hineinverflocht, Gespinst zugleich für die nach ihm." (ebd., 127) Die Gegenwart des Ichs wird nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Zukunft verbunden. Zum Identität stiftenden Moment wird die jüdische Herkunft: von "ihrem Blute war [ ...] er./I (ebd., 134) Das Subjekt begreift sich als Teil einer Gruppe, fühlt sich den Vor- und Nachfahren verbunden, an die Stelle des egoistischen Subjekts er-

Neuinterpretation des Ichs

103

104

V.

Einzelanalysen repräsentativer Werke wächst das neue Selbstgefühl aus einer biologisch-kulturellen Gruppen­ identität, womit dem Tod prinzipiell eine Sinndimension verliehen wird. Das Ich stirbt zwar körperlich, erhält sich jedoch geistig in der Generation der Nachfahren. Mit dem titelgebenden Tod Georgs setzt also allmählich die Rekonstruktion eines Selbstentwurfs ein, an deren Ende die "Besinnung auf seine jüdische Abstammung" dem Protagonisten ermöglicht, "sich [eines] außersubjektiven Moments zu vergewissern" (Scheible 1999: 156), eines Moments, das ihn sich selbst als integrativen Teil eines Ganzen be­ greifen lässt: "Um Georgs Tod hatten quälend seine Gedanken sich gerankt" - so heißt es am Ende des Textes - "und, ohne seinen Willen, war für ihn daraus etwas erwachsen, was seinem Leben Zuversicht gab." (Beer-Hof­ mann GA 3, 135)

Ästhetizismus vs. Fallanalyse

Während Schnitzlers Sterben gemeinhin als "konsequente[] psychologi­ sche[] Analyse" (Pfeiffer 1997, 148) eines Sterbenden bezeichnet wurde, ist Beer-Hofmanns Text eher als ästhetizistische Auseinandersetzung mit dem Thema Tod gelesen worden (vgl. Allkemper 1994, 137 f. und Scherer 1993, 179) - womit einerseits der Unterschied der beiden Texte zutreffend be­ nannt ist. Allerdings sind die beiden literarischen Entwürfe andererseits nicht so weit entfernt, wie es der Gegensatz von psychologischer Nabel­ schau und Ästhetizismus vermuten lässt: Schon Alfred Gold verteidigte in

Ästhetik des Sterbens (1900) die Wiener Dichter und besonders Beer-Hof­ mann gegen die vom "norddeutschen Naturalismus erzogene [Kritik]", die sich damit begnüge, "Wien und die neue Wiener Literatur als einen Pfauen­ käfig anmutiger Moden und Liebhabereien zu kennzeichnen. Ästhetentum sei hier die Wurzel aller Erscheinungen, nichts weiter." (Gold 1996, 39) Die Kritiker würden damit den Texten allerdings nicht gerecht, das ",Sterbe'-Mo­ tiv in der Kunst dieser Gruppe" unterschätzt: "Dieses Motiv ist mehr als Äs­ thetenlaune!" (ebd.) Gold arbeitet in der Folge präzise die Grundspannung von Beer-Hofmanns Text heraus, die aus dem Gegensatz von Ästhetik und Leben, "Formbewusstsein und dem Eindruck des Zerfließens" (Scherer 1993, 180) bestehe. In der Tat: Die Künstlichkeit des Textes, die sich in seiner Sprache im Allgemeinen, der Metaphorik und Motivtechnik im Besonderen zeigt, steht im Widerspruch dazu, dass es sich eigentlich um die (authenti­ sche) Wiedergabe psychischer Vorgänge handelt. Psychologie und Komposi­ tion reiben sich - aber diese Reibung hat eine erkennbare Funktion. Der Text bildet nämlich über seine ästhetische Form präzise die Psyche des narzissti­ schen Ästheten ab, der dieses Lebensmodell aber schließlich zu überwinden versucht. Pointiert ließe sich davon sprechen, dass der Text eine ästhetizisti­ sche Position einnimmt, die gleichzeitig - vor der Folie des lebensbedrohen­ den Todes - als wenig lebenstauglich erscheint. Von hier aus lassen sich die Schnittmengen zu Schnitzlers Sterben ausmachen, denn auch dort stellt der Versuch, den Tod dem Modus einer ästhetizistischen Inbesitznahme Herr zu werden, einen der vielen Bewältigungsversuche des Todes dar: "Ich könnte", so erklärt der kranke Felix, "mit all diesen Dingen machen, was ich will. Auf dem kahlen Fels da drüben könnt' ich Blumen spriessen lassen, und die weissen Wolken könnt' ich vom Himmel vertreiben." (Schnitzler HKA 3, 77)

4. Vom Scheitern neuer Weiblichkeitskonzepte

Beide Texte lassen sich schließlich als psychologische Versuchsanordnun­ gen begreifen, die aus dem Inneren ihrer Figuren erzählen und dabei Strate­ gien aufzeigen, wie der Einzelne mit dem Wissen um die eigene Sterblich­ keit fertig zu werden versucht - und: wie im Angesicht des Todes der Begriff vom Leben sowie das Ich neu definiert werden. In der Literaturgeschichte haben die Texte ohnehin ihren festen Platz: Besonders Schnitzlers Sterben markiert im ausgehenden 19. Jahrhundert einen kulturellen und literarischen Paradigmenwechsel im Umgang mit Sterben und Tod. Spricht noch Sigmund Freud im Jahre 1916 von einem gestörten Verhältnis des modernen Subjekts zum Tod, präziser: von verschweigen und verdrängen (Freud 2000, 50), so hatte Schnitzlers "Anti-Verdrängungsgeschichte" (Pfeiffer 1997, 148) bereits zwei Jahrzehnte zuvor dieses Schweigen in radikaler Form gebrochen. Auch literarisch stellen die Texte eine Veränderung aus. Sie beinhalten vieles, was die literarische Moderne im Unterschied zum Realismus insgesamt ausmacht: die radikale Subjektivität der Figuren, ihre Konzeption als psychologische Größen, die in Konfrontation mit dem Tod nicht auf ihr Leben zurücksehen, sondern den Fokus auf die Möglichkeiten in der Zukunft richten; den Bedeutungsverlust (bei Schnitzler sogar die Bedeutungslosigkeit) metaphysischer Sinnstiftungssysteme sowie die grundsätzliche Fragilität des Ichs und seiner sozialen Bindungen.

4. Vom Scheitern neuer Weiblichkeitskonzepte:

Arthur Schnitzlers Frau Beate und ihr Sohn und Fräulein Else In mehreren Erzählungen hat Arthur Schnitzler Frauenfiguren in das Zen­ trum seiner Texte gestellt, was bereits durch Titel wie Frau Berta Garlan (1900), Frau Beate und ihr Sohn (1913), Fräulein Else (1924) oder Therese. Chronik eines Frauenlebens (1928) deutlich wird. Frauenfiguren ganz unter­

schiedlicher Art weisen somit eine herausgehobene Stellung in seinem Werk auf. Dadurch haben insbesondere die Texte Schnitzlers entscheidend dazu beigetragen, Weiblichkeitskonzepte, die sich zur Zeit der Wiener Mo­ derne gesellschaftlich verfestigten oder herausbildeten, literarisch abzubil­ den, zu entwerfen und zu reflektieren (vgl. Kap. IV.4). Die formale Beson­ derheit der im Folgenden analysierten Erzählungen Frau Beate und ihr Sohn und Fräulein Else liegt in der Eingrenzung der Wahrnehmungsperspektive auf die Protagonistinnen, wodurch diese Frauen nicht nur literarisch thema­ tisiert, sondern zugleich auch literarisch inszeniert werden. Das Geschehen,

die Gefühle und Gedanken der weiblichen Hauptfiguren werden nahezu ausschließlich durch ihre jeweilige Perspektive vermittelt. Diese Erzählstra­ tegie verdeutlicht somit auch auf formaler Ebene die herausgehobene Be­ deutung, die Schnitzler seinen weiblichen Figuren zuspricht. Während Frau Beate und ihr Sohn dabei diverse Formen der Gedankendarstellung nutzt,

Zusammenfassung

105

106 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke knüpft Fräulein Else formal an die berühmte ,Monolognovelle' Leutnant Gustl (1900) an: der Text besteht fast ausschließI ich aus einem inneren Monolog der Hauptfigur. Beide Erzählungen zeigen somit durch ihre unterschiedlichen I iterarischen Mittel die Vielfalt auf, mit der die Innenwelten von Figuren in der Literatur der Wiener Moderne zur Darstellung gelangten (vgl. Kap. 1V.2). Zudem weisen beide Texte durch den Zugang zur inneren Verfassung der Figuren eine Nähe zu psychologischen Theorien auf und wurden dement­ sprechend mit psychoanalytischen Methoden gedeutet (vgl. Kap. 111.4). Sie stehen jedoch insbesondere für das Scheitern neuer Weiblichkeitskonzepte, denn sowohl Beate als auch Else gelingt es nicht, traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit dauerhaft zu überwinden.

Frau Reate und ihr Sohn (1913) Handlungsübersicht

Die Witwe Beate Heinold verbringt mit ihrem 17-jährigen Sohn Hugo die Sommerfrische in einem Erholungsort. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn scheint nicht mehr ungetrübt zu sein: Beate spürt, dass ihr Sohn sich von ihr loszulösen beginnt. Die ungezwungene Offenheit des Kindes ist einer tendenziellen Verschlossenheit gewichen. Auf der Suche nach einer Ursache für seine Veränderung verdächtigt sie die Baronin Fortunata, die sich ebenfalls im Ort aufhält, ein Verhältnis mit dem deutlich jüngeren Hugo eingegangen zu sein.

Kurzerhand beschließt sie, die ehemalige

Schauspielerin mit diesem Verdacht zu konfrontieren und die Baronin zu bitten, das Verhältnis aufgrund des nicht unerheblichen Altersunterschieds zu beenden. Diese zeigt sich überrascht, streitet jegliches Interesse an Hugo ab und sagt Beate zu, sich von ihrem Sohn fernzuhalten. Derweil kommt Hugos ehemaliger Schulfreund Fritz zu Besuch, wodurch Beates Sohn sich wieder etwas aufgeschlossener zeigt und in tendenziell kindlichere Verhal­ tensmuster zurückfällt, was Beate zunächst beruhigt. Sie blüht auf und sieht sich schon bald von zahlreichen Verehrern umringt. Ihr Anwalt Doktor Teichmann interessiert sich ebenso für sie wie der junge Arzt Doktor Ber­ tram, der ältere Direktor Welponer und selbst der etwa 19-jährige Fritz hat sich in sie verliebt. Schließlich erliegt sie dessen Charme und beginnt ein Verhältnis mit dem deutlich jüngeren, prahlerisch veranlagten Freund ihres Sohnes. Das Verhältnis zu Hugo wird wieder distanzierter und sie ist nun überzeugt, dass er und die Baronin inzwischen doch eine Affäre haben, in­ terveniert diesmal allerdings nicht. Die Dinge wenden sich, als Beate ein Gespräch zwischen Fritz und dessen Freund Rudi Beratoner belauscht, in dem ihr Geliebter schließlich mit dem Verhältnis zu ihr prahlt. Beschämt sieht Beate ihren Ruf gefährdet und beschließt, gemeinsam mit ihrem Sohn zu fliehen. Dieser zeigt sich untröstlich, als er - wahrscheinlich - von Au­ ßenstehenden erfahren muss, dass seine Mutter ein Verhältnis mit seinem Freund eingegangen ist. Gemeinsam rudern Beate und ihr Sohn nachts auf den See hinaus, kommen sich sexuell näher und gehen schließlich gemein­ sam unter. Uneindeutigkeit von

Wenn diese knappe Handlungsübersicht insbesondere zum Schluss nur

Ereignissen

noch ansatzweise die Ereignisse wiederzugeben vermag, so liegt dies an der

4.

Vom Scheitern neuer Weiblichkeitskonzepte 107

spezifischen ästhetischen Gestaltung des Textes, die insbesondere zum Ende hin sich damit begnügt, die narrativen Fakten der Geschichte lediglich anzudeuten. Durch die eingegrenzte Perspektive auf Beate und die nahezu durchgängige Zurückhaltung des Erzählers hinsichtlich der Bestätigung oder Kommentierung von Ereignissen bleiben gewisse Elemente der Hand­ lung im Vagen und werden eher impliziert als explizit erzählt. So wird der inzestuöse Akt zum Schluss des Textes eingeleitet mit der Erzählung von ei­ nerseits objektiv wahrnehmbaren Ereignissen und andererseits einem Ein­ blick in Beates Seelenleben, das sich auf ihren Sohn überträgt: "Sie zog ihn näher zu sich heran, drängte sich an ihn; eine schmerzliche Sehnsucht stieg aus der Tiefe ihrer Seele auf und flutete dunkel in die seine über." (Schnitz­ ler ES 2, 111) Das Semikolon markiert dabei den Übergang von Außendar­ stellung und Innensicht. Das Ineinanderübergehen der Empfindungen von Beate und Hugo deutet die körperliche Verschmelzung an. Das Gleiten des Bootes im Wasser wird zur Metapher ihrer Lust: "Und beiden war es, als triebe ihr Kahn, der doch fast stille stand, weiter und weiter, in wachsender Schnelle." (ebd.) Dieser Satz ist einer der wenigen Textsteilen, in denen der Erzähler gewissermaßen korrigierend eingreift und die tatsächlichen Ver­ hältnisse andeutet. Durch die Wörter "der jedoch fast stille stand" entlarvt er die Subjektivität der Empfindungen von Mutter und Sohn, die sich ihrer Lust - "in wachsender Schnelle" - hingeben. Die Verbform "triebe", bezo­ gen auf den Kahn, lässt die Deutung zu, gleichermaßen auf die ,Triebe' zu verweisen, denen sich Beate und Hugo ausliefern. Auf diese Art und Weise kann der Erzähler die Handlungsereignisse andeuten, ohne sie konkret zu erzählen. Auf den sich daran anschließenden gemeinsamen Suizid wird ebenfalls nur angespielt. Erneut ist die Mutter die treibende Kraft: "Beate zog den Ge­ liebten, den Sohn, den Todgeweihten, an ihre Brust. Verstehend, verzei­ hend, erlöst schloß er die Augen; die ihren aber faßten noch einmal die in drohendem Dämmer aufsteigenden grauen Ufer, und ehe die lauen Wellen sich zwischen ihre Lider drängten, trank ihr sterbender Blick die letzten Schatten der verlöschenden Welt." (ebd., 111 f.) Erneut liefert sich Hugo, der "Todgeweihte", seiner Mutter aus. Der "sterbende Blick" und die "ver­ löschende Welt" könnten im Grunde genommen auch eine Ohnmacht an­ deuten, dennoch legen diese letzten Worte der Erzählung aufgrund der Viel­ zahl der Anspielungen auf das Sterben die Deutung einer Doppel-Selbsttö­ tung nahe, ohne jedoch explizit den Tod von Beate und ihrem Sohn zu er­ zählen. Der Grund dafür - und für einige andere Uneindeutigkeiten - liegt in der dem Text zugrundeliegenden Erzählstrategie der subjektiven Perspektiven­ Eingrenzung auf die weibliche Protagonistin. Die drei Kapitel der Erzählung entsprechen jeweils drei Tagen im Leben von Beate, deren Perspektive von Beginn an eingenommen wird: "Es war ihr, als hätte sie ein Geräusch aus dem Nebenzimmer gehört", (ebd., 42) lautet der erste Satz, der bereits im Kern das Erzählprinzip des gesamten Textes enthält. Denn es wird nicht er­ zählt, ob es dieses Geräusch wirklich gegeben hat, sondern lediglich, dass

Subjektivität als Erzählstrategie

108 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Beate es so vorkommt, "als hätte sie ein Geräusch [ ...] gehört". Die Darstel­ lung des Geschehens wird dadurch größtenteils durch die Perspektive von Beate gefiltert: Erzählt wird oftmals nur das, was Beates Innenleben zufolge passiert. Daher liegen oftmals nur Informationen vor, die Beates Sicht auf die Dinge aufzeigen. Es bleibt zum Beispiel offen, was genau Hugo im dritten Kapitel aus der Fassung bringt. Vollkommen aufgelöst erscheint er bei seiner Mutter und wagt nicht, ihr den Grund für seine Erschütterung mitzuteilen. Sie vermutet zunächst, dass er wegen seiner vermeintlichen Beziehung zur Baronin For­ tunata unglücklich ist "Ihr Sohn war es ja, der heute in ihrem Schoße wein­ te, und sie wußte nun, daß er's um Fortunatens willen tat." (ebd., 104) Doch diese ,Gewissheit' steht schon bald im Widerspruch zu einer anderen Ver­ mutung. Nachdem Hugo ihr berichtet, dass man ihn betrunken gemacht hätte und er nicht bei Sinnen gewesen sei, stellt sie die Hypothese auf, dass man ihrem Sohn von ihrer Affäre mit seinem Schulfreund berichtet hätte und dass ihn dieses Wissen so verwirrt hätte. Weder Hugo noch der Erzäh­ ler bestätigen diese Vermutung, was der strikten Eingrenzung auf Beates Perspektive entspricht. Formen der

Der Erzähler nutzt im Verlauf des Textes unterschiedliche Formen der Ge­

Gedanken­

dankendarsteilung, die das innere Empfinden der Figur unterschiedlich dis­ tanziert offenbaren. Verschiedene Varianten der Innensicht (vgl. in theoreti­

darstellung

scher Hinsicht dazu Martfnez/Scheffel 2012, 49-69) gehen dabei mitunter unmittelbar ineinander über und ermöglichen so mal mehr, mal weniger di­ stanzierte Einblicke in Beates Gedankenwelt. In folgendem Auszug bei­ spielsweise wechseln sich Gedankenzitat, Bewusstseinsbericht und erlebte Rede ab: ,,[Gedankenzitat] Wie steht's nun eigentlich, fragte sie sich erregt. Bin ich die Siegerin geblieben? Sie hat mir wohl ihr Wort gegeben. Ja. Aber sagte sie nicht selbst, daß Frauenschwüre nicht viel bedeuten? Nein, sie wird es nicht wagen. Sie hat ja nun gesehen, wozu ich fähig bin. [Bewusst­ seinsbericht] Die Worte Fortunatens klangen in ihr weiter. [Erlebte Rede:] Wie sonderbar sie nur von jenem Sommer in Holland gesprochen hatte!" (Schnitzler ES 2, 60) Im Gedankenzitat ist die Mittelbarkeit der Wiedergabe durch die Erläuterung des Erzählers gegeben, der mit den Worten )ragte sie sich erregt" verdeutlicht, dass die Gedanken der Figur direkt wiedergegeben werden. Die darauffolgenden Sätze können ebenfalls diesem Gedankenzi­ tat zugeordnet werden, auch wenn die Anführungszeichen fehlen, wie je­ doch auch bereits im ersten Satz des Einblicks in Beates Innenleben. Diese Variante des Gedankenzitats steht aufgrund der fehlenden zitatanzeigenden Anführungszeichen in der Nähe zum inneren Monolog, bei dem die Gedan­ ken einer Figur ganz unmittelbar wiedergegeben werden, ohne dass eine er­ zählende Instanz deutlich wird. Dies ist hier jedoch nicht der Fall, sodass ein gewisser Grad an Mittelbarkeit eine Form von Distanz zur Figur nach sich zieht. Diese wird im Anschluss an das Gedankenzitat noch vergrößert, indem der Erzähler zusammenfassend in Form eines Bewusstseinsberichts wiedergibt, was Beate durch den Kopf geht "Die Worte Fortunatas klangen in ihr weiter" ist als Formulierung weit davon entfernt, die konkrete Ausge-

4.

Vom Scheitern neuer Weiblichkeitskonzepte 109

staltung der Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Der darauffolgende Satz wiederum könnte so fast von Beate gedacht worden sein, wenn er nicht in der Vergangenheitsform formuliert wäre, was darauf hindeutet, dass sich der Erzähler bei der Formulierung ,eingeschaltet' hat. Er wählt hier die Form der ,erlebten Rede', in der die Gedanken einer Figur in der Regel in der drit­ ten Person und im Präteritum wiedergegeben werden. Das Ausrufezeichen signalisiert dabei die Nähe zum konkret gefassten Gedanken der Figur. Mit diesem Wechsel von verschiedenen Formen der Innensicht, die einherge­ hen mit einem jeweils unterschiedlichen Grad an Mittelbarkeit durch den Erzähler, wird eine Dynamik erzeugt, die den Text lebendig erscheinen lässt. An einer anderen Stelle geht ein Bewusstseinsbericht in einen inneren Monolog über: "Und sie mußte stehenbleiben, [Bewusstseinsbericht] denn es war ihr, als hörte ihr Herz plötzlich zu schlagen auf. [Innerer Monolog:] Als wüßte ich nicht selber, wo Hugo ist. Als wenn ich es nicht schon seit Tagen wüßte!" (ebd., 78) Der Wechsel in die 1. Person und das Präsens sind Indikatoren für den Wechsel zu einem inneren Monolog. Der Erzähler gibt unmittelbar die Gedanken von Beate wieder, sodass ihr Bewusstseinsinhalt ungefiltert zum Ausdruck kommt. Dadurch rückt die titelgebende Mutter auch formal ins Zentrum der Erzählung. Der Text entspricht somit auch der grundlegenden Konzentration auf das Subjekt innerhalb der Literatur der Wiener Moderne und reagiert somit auf Bahrs Forderung nach einer ,neuen Psychologie' (vgl. Kap. 1V.1 und 1V.2). Überraschend am Verhalten von Beate ist, dass sie sich auf eine Affäre mit dem deutlich jüngeren Fritz einlässt, obwohl sie das von ihr vermutete Verhältnis zwischen der Baronin und ihrem Sohn äußerst negativ bewertet. Ihre Haltung zur Baronin ist alles andere als positiv: "In gewissem Sinn war sie wohl, wie manche Frauen ihrer Art, innerlich zerstört, verrückt und kaum verantwortlich für das Unheil, das sie anrichtete. [ ...] Was es doch für Frauen gab! Was für ein Leben die führten!" (Schnitzler ES 2, 60) Doch schließlich wird sie selbst eine solche Frau sein, wenn sie sich mit Fritz ein­ lässt, der immerhin ihr Sohn sein könnte. Bei der Beantwortung der Frage, wieso sie dennoch ein Verhalten an den Tag legt, das sie eigentlich verur­ teilt, kommt ihr Status als Witwe ins Spiel. In Hugo erkennt sie immer wie­ der ihren verstorbenen Mann Ferdinand wieder. Fast scheint es, als ob sie ihre Lust auf den Sohn übertragen habe. Da sie - zunächst - ihre Begierde nicht mit ihrem Sohn ausleben kann, überträgt sie diese wiederum an den etwa ebenso jungen Fritz. Wenn Hugo ihr also als Ersatz für Ferdinand dient, so dient Fritz als Ersatz für Hugo, wodurch es ihr möglich ist, ihre Lust auszuleben, ohne sich mit ihrem Sohn zu vereinen. Dass es am Schluss dann doch zum Inzest zwischen Beate und ihrem Sohn kommt, spricht für diese These, denn es gelingt ihr zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, die Gleich­ setzung zwischen Vater und Sohn auf eine andere Person umzulenken. Zahlreiche Textsteilen verdeutlichen die Ähnlichkeiten zwischen Hugo und seinem Vater. So denkt sie an die "hellen Kinderaugen" (ebd., 43) ihres Mannes zurück. Immer wieder setzt sie Vater und Sohn in Bezug zueinan­ der: ,,[W]ie Hugo die Züge seines Vaters trug, so rann auch dessen Blut in

Erotische Übertragungen

110 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke ihm, das dunkle Blut jener Menschen aus einer andern, gleichsam gesetzlo­ sen Welt, die als Knaben schon von männlich-düsteren Leidenschaften durchglüht werden und denen noch in reifen Jahren Kinderträume aus den Augen schimmern." (ebd., 46) Häufig werden die äußerlichen Ähnlichkei­ ten betont: "Und es ist auch noch immer sein Kindermund, der volle rote, süße Kindermund! Freilich, den hatte sein Vater auch." (ebd., 65) An ande­ rer Stelle heißt es: "Wie ähnlich er Ferdinand sieht, dachte sie plötzlich." (ebd., 105) Selbst ihr Verhalten gegenüber ihrem Sohn erinnert sie an ihr Verhalten gegenüber ihrem verstorbenen Mann: ",Ja, mach' dich nur schön', sagte Beate. Und beklemmend fiel ihr ein, wie oft sie diese gleichen Worte in längstvergangenen Zeiten zu Ferdinand gesagt hatte." (ebd.) Dass Fritz wiederum als ,Ersatz' für Hugo dienen könnte, kommt Beate sogar explizit nach ihrem Gespräch mit der Baronin in den Sinn. Zwar hat sie ursprünglich die Idee, der Baronin Fritz gewissermaßen als Alternative ,anzubieten', doch wird darin deutlich, dass der Freund ihres Sohnes als Platzhalter fungieren kann: "Und Beate lächelte, als ihr einfiel, daß man ja der Frau Baronin, als Ersatz gewissermaßen, einen eben angelangten hüb­ schen jungen Herrn namens Fritz Weber hätte anbieten können." (ebd., 60) Schließlich wird es Beate selbst sein, die Fritz als Ersatz-Liebhaber annimmt. Inwiefern sie ihre Begierde, die sie gegenüber ihrem Sohn zu verspüren scheint, auf dessen Freund überträgt, wird deutlich, wenn sie mit beiden Jungen zusammen ist: "Es kam ein Augenblick, da sie, wie oft in früherer Zeit, den Arm um Hugos Schultern geschlungen hielt und mit den Fingern in seinen Haaren spielte, zu gleicher Zeit aber Fritz zärtlich lockend in die Augen sah." (ebd., 86) Die körperliche Erotik überträgt sich dabei von ihrem Sohn auf ihren Liebhaber Fritz. Psychoanalytische

Aufgrund der recht heiklen Thematik der Erzählung verwundert es nicht,

Deutung

dass unmittelbar nach Erscheinen des Textes das Interesse der Psychoanaly­ tiker um Sigmund Freud geweckt wurde, denn Literatur und Psychoanalyse standen in der Zeit der Wiener Moderne in einem Wechselverhältnis (vgl. Kap. 111.4). Bereits 1914, also ein Jahr nach der Veröffentlichung von Frau

Beate und ihr Sohn, erschien in der Zeitschrift Imago eine knappe Deutung des Textes durch den Psychoanalytiker Theodor Reik. Er rechtfertigt das In­ teresse seiner Disziplin an der Literatur: "Denn die Psychologie hat seit je­ her erkannt, daß ihr die Dichtung in ihrer intuitiven Seelenkenntnis voraus­ geeilt ist." (Reik 1914, 537) Die frühe Deutung konzentriert sich auf das In­ zestmotiv und sieht in Beates Verhältnis zu Fritz "eine Ersatzbefriedigung des Inzestwunsches" (ebd.). Mitunter wird an dieser psychoanalytischen Deutung jedoch das Problem deutlich, dass Kunstwerke gewissermaßen als ,Träume' missverstanden werden, wodurch Interpretationsansätze zutage treten, die sich vom literarischen Text lösen. Wenn beispielsweise die Über­ zeugung vertreten wird, "daß die Baronin und Beate, Fritz und Hugo ein und dieselbe Person sind, durch den Spaltungsmechanismus vervielfacht" (ebd., 538), so werden strukturelle Ähnlichkeitsbeziehungen, von denen der Text Schnitzlers geprägt ist, für psychologische Erklärungsmuster instru­ mentalisiert.

4. Vom Scheitern neuer Weiblichkeitskonzepte

Dennoch deutet sich bereits bei Reik das zentrale Thema der Weiblichkeit an. Beate, die an ihrer Rolle als Mutter einerseits und als Liebhaberin

Scheitern eines neuen Frauenbildes

andererseits verzweifelt, vermag es nicht, zwischen diesen Rollenmodellen zu vermitteln. Sie scheitert daran, ein "neue[s] Frauenbild" (Titzmann 1998, 102) zu leben. Das Ausbrechen aus den Normen und Werten der Zeit hat im Endeffekt ihren Tod zur Folge. Für Titzmann erzählt Schnitzlers Text daher "repräsentativ vom Zustand der Frühen Moderne selbst, als einem der Krise, als einem zwischen zwei Sy stemen, deren eines nicht mehr akzeptiert und gelebt werden kann, zu dem aber noch keine akzeptable und lebbare Alternative in Sicht wäre" (ebd., 112).

Fräulein Else (1924) Die 19-jährige Else verbringt auf Einladung ihrer Tante einige Wochen zur

Handlungsübersicht

Erholung in San Martino. Dort erreicht sie ein Expressbrief ihrer Mutter, in der diese von großen finanziellen Schwierigkeiten des Vaters berichtet. 30.000 Gulden beträgt die Summe, die kurzfristig zu beschaffen ist, damit ein über die Familie hereinbrechendes Unheil abgewendet werden kann und der Vater nicht verhaftet wird. Die Mutter bittet nun ihre Tochter, bei einem gewissen Herrn von Dorsday, der ebenfalls in San Martino verweilt, um eben diese Summe anzufragen. Er hätte der Familie bereits früher einmal in finanzieller Hinsicht zur Seite gestanden. Als Else ihn schließlich um Hilfe bittet, verlangt Dorsday eine Gegenleistung: Er möchte sie nackt sehen. Else zeigt sich entsetzt über diese Forderung. Als sie über ein Telegramm ihrer Mutter erfährt, dass die Summe sogar 50.000 Gulden beträgt, steigt ihre Verzweiflung. Schließlich entschließt sie sich dazu, sich vor mehreren Personen nackt zu zeigen, um Herrn von Dorsday keine Genugtuung zu verschaffen. Während sie nur mit einem Mantel bekleidet den Musiksalon aufsucht und sich schließlich entblößt, bricht sie zusammen. Die Handlung endet damit, dass sie eine Überdosis Schlafmittel nimmt und das Bewusstsein verliert. Wie schon in Frau Beate und ihr Sohn wird in Fräulein Else strikt die Perspektive der weiblichen Protagonistin eingenommen. Allerdings ist ein entscheidender Unterschied in der konkreten formalen Umsetzung gegeben. Bis auf wenige Ausnahmen besteht der Text durchgängig aus der unmittelbarsten Form der Gedankendarstellung: dem inneren Monolog, das heißt die Gedanken der Figur werden direkt - und somit überwiegend in der 1. Person und im Präsens - wiedergegeben, ohne dass ein Erzähler in das Geschehen (spürbar) eingreifen würde. Schnitzler knüpft damit an seine Erzählung Leutnant Gustl aus dem Jahr 1900 an, die insofern von literaturhistorischer Bedeutung ist, als sie die erste Erzählung in deutscher Sprache ist, die nahezu durchgängig diese Erzählform aufweist. Diese beiden in der Sekundärliteratur als ,Monolognovellen' (vgl. zu dieser Form grundsätzlich Zenke 1976) bezeichneten Texte sind die konsequenteste ästhetische Form der Subjektivierung. Dieses Erzählprinzip ermöglicht - im Fall von

Fräulein Else - den durchgängigen Einblick in die Gedankenwelt einer jungen Frau, die zum Spielball ihrer Familie wird und sich gezwungen sieht,

Monolognovelle

111

112 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke sich einem Mann auszuliefern, der ihre Situation schamlos für sich ausnut­ zen möchte. Allerdings wird der subjektive Gedankenfluss Eises mitunter von Dialo­ gen unterbrochen, wenn die Protagonistin sich mit anderen Figuren unter­ hält. Diese durch Kursivierung auch auf visueller Ebene gekennzeichnete Abwechslung vom inneren Monolog erfüllt dabei eine spezifische Funktion: Die Aussagen anderer Figuren fungieren als äußere Perspektive auf Else und dienen mitunter als Korrektiv zu ihrer Gedankenwelt. So wird die offen­ sichtlich erhebliche Aufregung, die Else verspürt, als sie Dorsday die Bitte ihrer Familie unterbreitet, insbesondere durch die Aussage des älteren Herrn deutlich: "Aber beruhigen Sie sich doch, Fräulein Else." (Schnitzler ES 2,

341) Als sie sich später, nur mit einem Mantel bekleidet, auf die Suche nach Dorsday begibt und von ihrer Tante überrascht wird, erkennt diese den fra­ gilen körperlichen Zustand ihrer Nichte, der durch den inneren Monolog nicht dargestellt wird: "Ist dir nicht wohl, Else? Deine Augen - du hast Fie­ ber. [ . . ] Du mußt sofort zu Bett, Kind, du bist totenblaß./I (ebd., 370) .

Erzähltheoretische

Insbesondere an solchen Dialogszenen wird deutlich, dass Monologno-

Herausforderung

vellen wie Fräulein Else auch erzähltheoretische Grundfragen implizieren: Lässt sich bei einer reinen Bewusstseinsdarstellung überhaupt noch von einem die Narration organisierenden Erzähler sprechen? Kann Else als Er­ zählerin gelten? Müsste die literarische Konstruktion der Geschichte nicht vielmehr einer Autorinstanz zugeschrieben werden? Endgültige Antworten auf solche Fragen gibt es nicht. Ein Text wie Fräulein Else zeigt jedoch die Grenzen der Plausibilität von grundlegenden Kategorien der Literaturwis­ senschaft auf und dient als Extrembeispiel für literaturtheoretische Problem­ stellungen. Behelfskonstruktionen wie die Annahme eines ,impliziten' oder ,abstrakten' Autors (vgl. zu dieser Diskussion beispielsweise Schmid 2014,

47-64) können hinsichtlich der theoretischen Notwendigkeit helfen, eine organisierende Instanz anzunehmen, die der reale Autor ,einsetzt', um eine Geschichte zu erzählen. Theoretisch notwendig ist ein solches Konstrukt, wenn man aufgrund der fiktionalen Kommunikationssituation die Aussagen eines literarischen Textes nicht als reale Aussagen eines Autors missverste­ hen will. Intermedialität

Eine weitere formale Besonderheit des Textes besteht im Abdruck von Noten aus einem musikalischen Werk, die ebenfalls den reinen Gedanken­ fluss der weiblichen Hauptfigur unterbrechen. Die Unterbrechung betrifft jedoch nur das Schriftbild, denn die Notenzitate von Robert Schumanns Klavier-Zyklus Carnaval ,unterbrechen' den Gedankenfluss nicht wie die Dialoge, sie zeigen vielmehr an, dass synchron zu Eises innerem Monolog Musik gespielt wird. Dieser intermediale Bezug auf das Medium Musik in einem literarischen Text (vgl. allgemein zum Konzept der Intermedialität Rajewsky 2002) ist keine Erfindung Schnitzlers und hatte zahlreiche Vorläu­ fer (vgl. Eilert 1991, 322) - wie auch bereits die Form der Monologerzäh­ lung (vgl. Zenke 1976). Es handelt sich um eine besonders auffällige ästhe­ tische Besonderheit, die eine spezifische Funktion erfüllt. Die Integration gerade dieses Klavierstücks lässt sich sowohl thematisch als auch musi-

4. Vom Scheitern neuer Weiblichkeitskonzepte

kalisch deuten. So wurde das Thema des Zyklus' als "Phantasievorstellun­ gen eines freizügigen Karnevalstreibens" gedeutet, die als "entscheidende Ermutigung für Else, nun auch ihrerseits Konventionen und Tabus zu verlet­ zen", fungieren: "Gerade die Illusion eines ungezügelten Maskentreibens bietet ihr die Möglichkeit, Dorsdays Bedingung der Form nach zu erfüllen." (Eilert 1991, 332) Da Else selbst Klavier spielt und das Stück nicht nur er­ kennt, sondern "auch einmal studiert" (Schnitzler ES 2, 371) hat, ist diese These durchaus plausibel. Musikalische Deutungen wiederum haben aufge­ zeigt, dass die konkrete Auswahl der zitierten Stücke "das Spannungsver­ hältnis in Eises Psyche" (Huber 1992) verdeutlicht (vgl. ausführlich zur Deu­ tung der Notenzitate insbesondere Eilert 1991 und Huber 1992). Eises innerer Kampf, der unter anderem durch diese intermedialen Bezü­

Fam ilienopfer

ge zum Ausdruck kommt, und die Krise, die sie im Rahmen dieser Erzäh­ lung durchläuft, liegen vor allem im Verhalten ihrer Familie begründet. Be­ reits zu Beginn des Textes wird deutlich, wie abhängig Else von ihrer Fami­ lie ist. Das Tennisspiel mit ihrem Cousin Paul und Cissy Mohr unterbricht sie, da sie eine Nachricht ihrer Mutter erwartet: "Um vier, wie ich zum Ten­ nis gegangen bin, war der telegraphisch angekündigte Expreßbrief von Mama noch nicht da. Wer weiß, ob jetzt. Ich hätt' noch ganz gut ein Set spielen können." (Schnitzler ES 2, 325) Ohne die Erwartung der Nachricht von ihrer Familie hätte Else also offensichtlich noch gerne ihren eigenen In­ teressen nachgehen können. Indem sie das Tennisspiel der Erwartungshal­ tung ihrer Mutter, den "Expreßbrief" alsbald zur Kenntnis zu nehmen, op­ fert, unterwirft sie sich bereits hier- symbol isch verdichtet und damit gewis­ sermaßen als Vorausdeutung - den Wünschen der Familie. Insbesondere die Mutter drängt Else die Rolle einer Untergebenen auf, wenn sie ihre Hilfe als Liebesbeweis einfordert: "Darum hab' ich mir ge­ dacht, ob du uns nicht die Liebe erweisen und mit Dorsday reden könntest" (ebd., 330), schreibt sie an ihre Tochter, die sie zudem im Brief ständig nur als "Kind" bezeichnet und ihr somit jede Eigenständigkeit und Unabhängig­ keit von der Familie abzusprechen versucht. Die Eltern spekulieren darauf, dass die körperlichen Reize von Else ihrer Bitte um Geld förderlich sein könnten, was auch der Protagonistin durchaus bewusst wird, wie sie in einem ihrer zahlreichen Vorwürfe an die Familie erkennt: ,,[Slie haben mich ja doch nur daraufhin erzogen, daß ich mich verkaufe, so oder so." (ebd., 355) Else ist somit ein Opfer ihrer Familie und indem sie ihrer Familie ein Opfer bringt und als Ausweg nur den Suizid sieht, scheitert sie daran, den Zwängen ihrer Familie - und damit auch den Zwängen der Gesell­ schaft, für die symbolisch die Familie steht- zu entfliehen. Nicht nur die Familie, sondern auch die patriarchalische Ausrichtung der Gesellschaft verhindert ein selbstbestimmtes Leben Eises. Dorsday verkör­ pert die männliche Dominanz auf verschiedenen Ebenen. Sein Verhalten steht sinnbildlich für die Respektlosigkeit gegenüber Frauen und somit auch für die Zementierung traditioneller Geschlechterverhältnisse, deren Gren­ zen Else überwinden möchte, was ihr jedoch nicht gelingt. Bereits im ersten Gespräch zu Beginn der Erzählung, als Else ihn auf ihrem Weg vom Tennis-

Männliche Respektlosigkeit

113

114 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke platz zum Hotel trifft, noch nicht ahnend, in welches Abhängigkeitsverhält­ nis sie zu ihm geraten wird, zeigt sich eine gewisse Distanzlosigkeit Dors­ days, der als Bekannter der Familie Else bereits von ihrer Kindheit an kennt:

",Spotten Sie nicht Else.' - Warum sagt er nicht ,Fräulein Else'?" (ebd., 326) Die inadäquate Anrede, die Else hier verwundert registriert, stellt nur den Auftakt für eine ganze Reihe von Respektlosigkeiten dar. Als er glaubt, sie erpressen zu können, kommt er ihr körperlich zu nahe: "Warum drückt er seine Knie an meine, während er da vor mit steht." (ebd., 342) Aus seinen Blicken spricht die Lust, wie Else immer wieder erkennen muss: "Er soll mich nicht so ansehen, es ist unanständig." (ebd., 341) Selbst der Klang sei­ ner Stimme scheint seinen vermeintlichen Anspruch auf Else untermauern zu wollen: "Seine Stimme klingt schon wieder. Wie zuwider ist mir das, wenn es so zu klingen anfängt bei den Männern." (ebd., 344) Schließlich fasst sie in Worte, in welche Rolle sie sich von Dorsday gedrängt fühlt. Mehrfach spricht sie davon, dass sie sich wie seine "Sklavin" (ebd., 347,

355, 372) vorkomme. Einsamkeit und Lust

Die empfundene Bedrohung durch die Familie einerseits und das Patriarchat andererseits führen bei Else zu einem Gefühl umfassender Einsamkeit. "Ich habe keine Freundin, ich habe auch keinen Freund" (ebd., 335) heißt es an einer Stelle. Selbst die Familie vermag ihr kein Gefühl der Geborgen­ heit zu geben, wie sie in einem Gedanken über das Verhältnis zu ihrem Bruder und ihren Eltern äußert: "Jeder hat eigentlich Angst vor dem Andern, jeder ist allein." (ebd., 337) Das Gefühl der Einsamkeit führt zur Verzweif­ lung: "Ich bin ja ganz allein. Ich bin ja so furchtbar allein, wie es sich nie­ mand vorstellen kann." (ebd., 336) Die große Bedeutung dieser Stimmung Eises steht in Zusammenhang mit einem Konzept von Weiblichkeit, das sie gerne leben würde. Es fehlt ihr je­ doch an Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und ihre Wünsche nach sexueller Freiheit auszuleben. "Ich möchte fortreisen und tun können was ich will" (ebd., 338), denkt sie beispielsweise oder sie möchte "hundert Geliebte haben, tausend, warum nicht?" (ebd., 334) Doch da sie von ihrer Familie abhängig ist und in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft lebt, ist ihr dies nicht möglich. Für ihre Vorstellung von einem Leben als Frau ist in der Welt, in der sie lebt, kein P latz, woraus wiederum das Gefühl von Einsamkeit resultiert. Die von ihr gewählte Variante der Erfüllung von Dorsdays Bitte, sie nackt zu sehen, kann als Versuch gedeutet werden, den Zwängen zumindest eine gewisse Form eines selbstbestimmten Lebens entgegenzusetzen. Zwar spielt sie Dorsdays Spiel mit; jedoch nach ihren eigenen Regeln, indem sie sich in der Öffentlichkeit des Musiksalons entblößt. Doch ihr Körper lässt sie im Stich - durch ihren "hysterischefnl Anfall" (ebd., 378), den Cissy konstatiert, wird Else ihr Scheitern in ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung bewusst und sie zieht die Konsequenz, indem sie eine Überdosis Schlafmittel zu sich nimmt.

Zeitbezug Hysterie

Mit der Erwähnung eines ,hysterischen Anfalls' ist weniger die im heutigen allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnete Form einer übertriebenen

5. Gesellschaftskonflikte

Nervosität gemeint, sondern vielmehr das zur damaligen Zeit diskutierte Phänomen einer als neurotische Störung angesehenen Hysterie (vgl. dazu

1982), die insbesondere von Sigmund Freud ausführlich Fräulein Else ha­ ben entsprechende Bezüge zwischen dem Hysterie-Diskurs um 1900 und vor allem Schaps

erforscht wurde. Psychoanalytisch orientierte Lesarten von

Schnitzlers Text aufgezeigt, wonach Eises Charakter typische ,hysterische Ei­ genschaften' aufweist (vgl. Lersch-Schumacher

1998, 80). Schnitzler greift

demnach zeitgenössische Theorien zur Hysterie auf und verarbeitet sie lite­ rarisch, was zu einer Vielzahl an entsprechenden Deutungen geführt hat. Der Hang der psychoanalytischen Literaturwissenschaft, nicht nur Texte, sondern auch deren Autoren gewissermaßen auf die Couch zu legen, schießt dabei mitunter deutlich über das Ziel hinaus (vgl. allgemein zu die­ sem Komplex Orth

2006). Wenn etwa ein bereits auf der Textebene nur

schwer nachzuweisender vermeintlicher körperlicher Missbrauch Eises durch ihren Vater als Argument dient, um zu behaupten, dass der Autor Schnitzler mit

Fräulein Else seine Fantasie auslebe, die eigene Tochter Lili 1999, 133),

missbrauchen zu wollen (so nachzulesen bei Lange-Kirchheim

dann sind die Grenzen der Literaturwissenschaft deutlich überschritten. Eises ,hysterische' körperliche Reaktion und ihr darauf folgender Selbsttötungsversuch zeigen vielmehr das "weibliche Sterben an der Kultur" (Bronfen

1996). Ihr angedeuteter Tod verweist - wie bereits elf Jahre zuvor das

Scheitern von Beate - auf das Unvermögen der Frauen, sich den gesellschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen der Zeit zu entziehen. Else sieht sich ihrer Familie gegenüber verpflichtet zu helfen. Ihre Scham und das Bewusstsein darüber, ihren Körper verkaufen zu müssen, da sie sich den Zwängen, die ihr aufoktroyiert werden, nicht erwehren kann, lassen ihr aus ihrer Perspektive keine andere Wahl, als aus dem Leben zu treten. Damit impliziert

Fräulein Else ebenso wie Frau Beate und ihr Sohn eine Kritik an

einer Gesellschaft, die es Frauen unmöglich zu machen scheint, unabhängig zu sein, und zwar nicht nur in finanzieller, sondern insbesondere auch in sexueller Hinsicht. Wo der Freitod die vermeintlich einzig freie Entschei­ dungsmöglichkeit ist, kann von Freiheit keine Rede sein.

5. Gesellschaftskonflikte in Schnitzlers Liebelei und

Hofmannsthais Jedermann Obwohl der Literatur der Wiener Moderne häufig ein Hang zum Ästhetizis­ mus unterstellt wird, kann einigen Werken ein expliziter Zeitbezug und da­ mit ein gesellschaftskritisches Potenzial zugestanden werden (vgl. Kap. IY.S). Schnitzlers frühes Schauspiel

Liebelei integriert gleich mehrere The­

men, die auf gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen verweisen und aus denen aufgrund der Dramenhandlung und der Figurenzeichnung eine kritische Haltung deutend erschlossen werden kann. Hofmannsthai wiede­ rum, der sich in seinen Dramen oftmals antiken Stoffen und Mythen zu­ wandte - etwa in

Elektra (1904) oder Ödipus und die Sphinx (1906) - hat

Scheitern an Zwängen

115

116 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke mit seinem Mysterienspiel Jedermann bereits durch den bezeichnenden Un­ tertitel Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes die gesellschaftskritische Tendenz seines Stückes angedeutet. Mit Liebelei gelang Schnitzlers der Durchbruch auf der Bühne. Die Ur­ aufführung am 9. Oktober 1895 im angesehenen Wiener Burgtheater war äußerst erfolgreich und das Liebesdrama sollte in der Spielzeit 1895/96 das meistgespielte Stück werden (vgl. Friedrich 2014, 61). Es "gilt bis heute als eines seiner bedeutendsten und populärsten Stücke" (ebd., vgl. auch Schlicht 2013, 86). Zu Hofmannsthais populärsten Dramen wiederum zählt der Jedermann, der 1911 uraufgeführt wurde und heute geradezu als Kult­ stück gilt, insbesondere durch die seit 1920 traditionelle jährliche Salzbur­ ger Aufführung (vgl. Müry 2014). Alleine zu Lebzeiten des Dichters konnten

70 Auflagen verkauft werden (vgl. Mayer 1993, 66). Arthur Schnitzler: Liebelei (1896) Handlungsübersicht

Nicht nur die im Text angegebene Zeit, sondern auch der Handlungsort ge­ ben in Arthur Schnitzlers drei-aktigem Schauspiel Liebelei einen Hinweis auf den Bezug zur unmittelbaren Entstehungszeit (und auch zum Entste­ hungsort): "Ort: Wien. Zeit: Gegenwart" (Schnitzler HKA 4, 925) heißt es ganz konkret im vorangestellten Nebentext. Dort leben die "junge[n] Leute" (ebd.) Fritz Lobheimer und Theodor Kaiser. Während Fritz ein schwärme­ risch veranlagter Mensch ist, der sich einerseits äußerst emotional in die Af­ färe mit einer verheirateten Frau gestürzt hat und andererseits, um sich ab­ zulenken, eine von seiner Seite aus oberflächliche ,Liebelei' mit Christine Weiring, der Tochter eines Musikers, unterhält, ist Theodors Interesse aus­ schließlich an unverbindlichen Beziehungen, wie er sie mit der Modistin Mizi Schlager pflegt, ausgerichtet. Als die beiden Paare - Fritz und Christine sowie Theodor und Mizi - einen gemeinsam Abend verbringen, werden sie von einem laut Personenverzeichnis namenlosen "Herr[n]" (ebd.) gestört, der Fritz uneingeladen aufsucht. Es stellt sich heraus, dass es sich um den Ehemann seiner Geliebten handelt. Der Herr konfrontiert Fritz mit seinem Wissen über die Affäre und fordert ihn schließlich zum Duell. Christine, die weder von der Affäre noch von dem bevorstehenden Duell, bei dem Fritz ums Leben kommen wird, etwas ahnt, hegt für Fritz tiefe Gefühle. Auf seine ihr gegenüber tendenziell abweisende Art reagiert sie mit Enttäuschung, da sie in ihm ihre große Liebe zu sehen glaubt. Als sie schließlich erfährt, dass er im Duell für eine andere Frau sein Leben lassen musste, verzweifelt sie.

Unterschiedliche

Im Drama werden drei divergierende Beziehungskonzepte gegenüberge-

Beziehungskonzepte

stellt. Theodor und Mizi versinnbildlichen mit ihren Überzeugungen und ihrer losen Beziehung, die sie führen, die Variante einer vorübergehenden Liebelei; ohne Verpflichtungen und tiefe Emotionen. Fritz und Christine hin­ gegen stehen für die schwärmerische Aufopferung für den Partner. Aller­ dings - und dies macht unter anderem die Tragik in diesem Stück aus - rich­ tet sich Fritz' Leidenschaft nicht auf Christine, sondern auf die namenlos bleibende "Dame in Schwarz" (ebd., 945), während Christine ihr Herz voll­ ständig an Fritz verschenkt hat, für den Christine jedoch nur eine Ablenkung

5. Gesellschaftskonflikte

von den Strapazen seiner Affäre darstellt. Das dritte Beziehungskonzept ist die emotionslose und auf Absicherung zielende Verbindung mit einem Part­ ner, der über ein geregeltes Einkommen verfügt. Ein solcher Vorschlag wird Christine von Katharina Binder unterbreitet, die sich selbst als "Frau eines Strumpfwirkers" (ebd., 925) einst für diese Variante entschieden hatte. Insbesondere Theodor vertritt mit seinen Äußerungen die Auffassung,

Konzept ,Liebelei'

dass Glück nur in oberflächlichen Liebschaften zu finden sei, "wo es keine großen Scenen, keine Gefahren, keine tragischen Verwicklungen giebt, wo der Beginn keine besonderen Schwierigkeiten und das Ende keine Qualen hat" (ebd., 932). Sein Frauenbild ist äußerst abwertend und egoistisch: "Die Weiber haben nicht interessant zu sein, sondern angenehm." (ebd.) Seine Liebschaften mit dem weiblichen Geschlecht dienen ihm zu einem be­ stimmten Zweck: "Zum Erholen sind sie da." (ebd.) Als er zu einem Trink­ spruch ansetzt, ironisiert er Beziehungen an sich, indem er abwertend die in seinen Augen vorherrschende Beliebigkeit bei der Partnerwahl zum Aus­ druck bringt, wenn er seinen Satz nicht zu Ende führt: "Also, Kinder ... bevor wir uns so feierlich verbrüdern, wollen wir auf den glücklichen Zufall trin­ ken, der, der ... und so weiter ... " (ebd., 953) Die Geringschätzung und He­ rabsetzung seiner derzeitigen Partnerin Mizi wird bereits in seiner Wortwahl deutlich. Immer wieder spricht er sie als "Kind" an (bspw. ebd., 967). Doch Mizi hat eine ähnliche emotionslose Haltung zu ihrem Partner. Als dieser sich im Zuge des Duells einige Tage nicht meldet und Christine bei ihr nach­ fragt, ob sie und Theodor denn keine Briefe austauschen würden, antwortet Mizi ganz nüchtern: "Was sollen wir uns denn schreiben? .. " (ebd., 1000) Ihr ist die Dauer ihrer Beziehung zu Theodor wohl ebenso egal wie ihrem Partner. In Bezug auf eine mögliche Trennung sagt sie: "Na ja, - ob heut oder morgen - oder in einem halben Jahr, das kommt doch schon auf eins heraus." (ebd., 1001) Für sie zählt nur der Augenblick, die Frage nach der Zukunft stellt sich ihr nicht. "Wer wird denn im Mai an den August denken" (ebd., 937), wirft sie beispielsweise ein, als sie Theodor bittet, seine Uniform anzuziehen und dieser sie auf den August vertrösten will. Fritz wiederum versucht in seiner Beziehung zu Christine, diese distanzierte Haltung zu übernehmen. Er sehnt sich "nach so einer Zärtlichkeit ohne Pathos [ ... l, nach so was Süßem, Stillem, das mich umschmeichelt, an dem ich mich von den ewigen Aufregungen und Martern erholen kann" (ebd., 932). Er ver­ sucht, Christine gegenüber unverbindlich zu bleiben, wenn er ihr sagt: "Von der Ewigkeit reden wir nicht..." (ebd., 943) Zudem offenbart er, dass er an Christine als Person kein wirkliches Interesse hat: "Gefragt wird nichts. Das ist ja gerade das schöne. Wenn ich mit Dir zusammen bin, versinkt die Welt - punktum. Ich frag' Dich auch um nichts." (ebd., 947) Als sie ihm jedoch anbietet, Interesse zu zeigen - "Mich kannst Du um alles fragen." (ebd.) antwortet er nur: "Aber ich thu's nicht. Ich will ja nichts wissen." (ebd.) Eine hingegen zutiefst leidenschaftliche Vorstellung von einer Beziehung weist Christine auf. Wenn sie mit Fritz gemeinsam Zeit verbringt, wird sie nicht müde zu betonen, wie tief die Emotionen sind, die sie für ihn empfin­ det. )ch hab mich so nach Dir gesehnt" (ebd., 941), schmachtet sie ihn an,

Konzept ,Leidenschaft'

117

118 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke als sie aufeinandertreffen. Ganz offen gesteht sie ihm ihre Gefühle ein und macht ihr Glück von ihm abhängig: "Ich denke immer an Dich ... den gan­ zen Tag ... und froh kann ich doch nur sein, wenn ich Dich sehT' (ebd.,

942) Sie glaubt an ihre ewige Liebe zu ihm: "Du bist aber mein Alles [ ... ]. Nein, ich kann mir nicht denken, daß je eine Stunde kommt, wo ich Dich nicht sehen wollte. Solang ich leb', Fritz - -" (ebd., 943) Von ihrer Freundin Mizi wird diese leidenschaftliche Haltung heftig kritisiert. In Bezug auf Christines Verhalten zu Fritz sagt sie: "Verwöhnen thust Du ihn, zu gut bist Du zu ihm. Da muß ja ein Mann arrogant werden." (ebd., 984) Sie versteht insbesondere nicht, warum Christine sich gerade in Fritz verliebt hat: "Er kommt zu spät zu den Rendezvous, er begleit' Dich nicht nach Haus, er setzt sich zu fremden Leuten in die Log' hinein, er laßt Dich einfach aufsit­ zen - das laßt Du Dir alles ruhig gefallen und schaust ihn noch dazu [ ... ] mit so verliebten Augen an." (ebd.) Anagnorisis

Als Christine schließlich erfährt, dass Fritz für eine andere Frau im Duell gefallen ist, kann sie es nicht fassen, dass ihm ihre Gefühle offensichtlich wenig bedeutet haben: "hat er denn nicht gewußt, was er für mich ist" (ebd., 1011), ruft sie aus. In Form der Variante einer Anagnorisis, also einer Erkenntnis, mit der ein Wissensumschwung einhergeht, kommt die Tragik dieser Figur zum Ausdruck: "leh bin ihm nichts gewesen als ein Zeitvertreib - und für eine andere ist er gestorben -! Und ich - hab' ihn angebetet!" (ebd.) Dennoch ist sie nicht bereit, ihre Gefühle für Fritz aufzugeben. Sie glaubt nicht, dass sie in der Lage ist, ihn zu vergessen. Als Theodor seine Hoffnung zum Ausdruck bringt, dass sie sich schon am nächsten Tag beru­ higt haben würde, antwortet sie: "Morgen? - Wenn ich ruhiger sein werde?! - Und in einem Monat ganz getröstet, wie? - Und in einem halben Jahr kann ich wieder lachen, was -? (Auflachend). Und wann kommt denn der nächste Liebhaber? ..." (ebd., 1014)

Formen der Figuren­

Doch auch Fritz scheint mitunter ein durch Leidenschaft geprägtes Bezie­

charakterisierung

hungskonzept zu verfolgen. Sein Hang zu einer zutiefst emotionalen Vor­ stellung von Liebe wird im Gegensatz zu Christine allerdings weniger durch eigene Aussagen als vielmehr durch Zuschreibungen seines Freundes Theo­ dor deutlich. Dadurch treten unterschiedliche Formen der Charakterisierung von Figuren in Dramen (vgl. allgemein dazu Pfister 2001,250-264) zutage: Während Christines Liebeskonzept durch ihre eigenen Aussagen erschlos­ sen werden kann, also als figuraler Eigenkommentar erkenntlich wird, ist dies bei Fritz insbesondere durch die Aussagen einer anderen Figur, also durch einen figuralen Fremdkommentar, möglich. So gibt Theodor gegen­ über Fritz unumwunden zu: "Ich hab' Deine Liebestragödien saU. Du lang­ weilst mich damit." (Schnitzler HKA 4, 932) Die als Figur nicht auftretende, sondern nur in Dialogen erwähnte Frau, der Fritz verfallen zu sein scheint, bringt diesen offensichtlich völlig aus der Fassung. Theodors Freund sei nicht bei Verstand, wenn er "an jenes Weib" (ebd., 928) denken würde. Aus Theodors Perspektive entspricht die Nähe zu dieser Frau der Nähe zu einem "gefährlichen Dunstkreis" (ebd.), laut ihm handelt es sich um eine "un­ glückselige Geschichte" (ebd.), in die Fritz sich verrennen würde. Die da-

5. Gesellschaftskonflikte

raus deutlich werdende Tendenz von Fritz, sich einer Liebe ganz hinzuge­ ben, zeigt sich zudem in seinem Verhalten. Sein Handeln entspricht einer impliziten außersprachlichen Form der Figurencharakterisierung. Die Tatsa­ che, dass er sich dem Duell stellt und dabei zu Tode kommt, zeigt seine Be­ reitschaft, für seine Liebe den Tod in Kauf zu nehmen. Das Duell selbst wiederum wird nicht direkt dargestellt, sondern in Form der Variation eines Botenberichts integriert: Als Theodor im dritten Akt "schwarz gekleidet" (ebd., 1008) Christine aufsucht und somit als ,Bote' fungiert, schließt Chris­ tine daraus, dass ihr geliebter Fritz nicht mehr unter den Lebenden weilt. Die Bereitschaft, für seine Liebe in den Tod zu gehen, wird darüber hinaus auch auf sprachlicher Ebene durch einen Eigenkommentar deutlich: "Ich stehe zu Ihrer Verfügung ... " (ebd., 959) teilt er dem Herrn mit, der ihn zum Duell fordert; in vollem Bewusstsein darüber, dass seine Chancen, zu über­ leben, nicht gut stehen: "Es wird dafür gesorgt sein, daß diese Sache nicht gut ausgeht" (ebd., 961), befürchtet er gegenüber Theodor. Fritz' Gefühle gegenüber Christine sind ambivalent. Immer wieder wird deutlich, dass er mehr für sie zu empfinden scheint, als er sich selbst einge­

Bedeutung des Nebentextes

steht. Dies lässt sich an einigen Stellen aus dem Haupttext, also den Dialo­ gen, insbesondere aber auch aus dem Nebentext, in einigen auf seine emo­ tionale Verfassung hindeutenden Inszenierungsanweisungen, erschließen. Nachdem er Christines Freundin Mizi bereits mehrfach gefragt hat, wo Christine bleiben würde, "eilt" er, als es klingelt, zu ihr "hinaus" (ebd.,

939), als sie schließlich zu den Freunden hinzustößt. Nachdem Fritz - ins­ besondere nach seinem Gespräch mit dem Herrn - ein zunehmendes Inte­ resse an ihr zeigt, wird durch den Nebentext immer wieder deutlich, wie sehr er doch emotional involviert ist. Als er sie beispielsweise besucht, mokiert er sich über die künstlichen Blumen, mit denen sie ihr Zimmer de­ koriert hat: "In Deinem Zimmer müssen wirkliche Blumen stehn, die duften und frisch sind. Von jetzt an werde ich dir ... (Unterbricht sich; wendet sich ab, um seine Bewegung zu verbergen)." (ebd., 991) Seine Gefühle werden in dieser Regieanweisung sowohl explizit benannt ("seine Bewegung") als auch durch seine Unfähigkeit weiterzusprechen und die Notwendigkeit, sich von ihr abzuwenden, deutlich. Schließlich sagt er sogar ,,(leidenschaft­ lich) Ich hab' Dich lieb!" (ebd., 994) und kehrt bei ihrer letzten Verabre­ dung, obwohl er die Szene eigentlich bereits verlassen hat, "noch einmal zurück und drückt sie an sein Herz" (ebd., 998). Für das dritte thematisierte Beziehungskonzept steht die Figur der Katha­ rina Binder, die zugleich die gesellschaftlichen Erwartungen in Bezug auf das Verhalten junger Frauen im Wien der Jahrhundertwende symbolisiert. Ganz konkret schlägt sie Christine vor, sich mit dem "Cousin von Binder" einzulassen, denn dieser sei "jetzt fix angestellt" (ebd., 972). Sie verlangt von ihr nichts anderes als eine "kleinbürgerliche Vernunftheirat" (Fliedl

2005, 83). Gegenüber Christines Vater, Hans Weiring, zeigt sie ihr Unver­ ständnis darüber, dass dessen Tochter an dem besagten Cousin keinerlei In­ teresse zeige: "Ja warum denn nicht? Der Franz ist ein sehr anständiger Mensch - jetzt ist er sogar fix angestellt, das ist doch heutzutag ein Glück"

Konzept ,Absicherung'

119

120 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke (Schnitzler HKA 4, 977). Es sei "doch das gescheidteste" (ebd.), eine solche Verbindung einzugehen: Katharina stellt also den Verstand über das Gefühl. Gesellschaftliche

Gegen dieses rational ausgerichtete Beziehungskonzept richten sich

Erwartungen

gleich zwei positiv besetzte Figuren des Dramas, wodurch eine kritische Haltung impliziert wird. So reagiert Christine selbst abwehrend auf Kathari­ nas Vorschlag und behauptet sich somit gegenüber den Erwartungen einer Gesellschaft, die sie in eine abgesicherte und somit rational statt emotional motivierte Beziehung zu drängen versucht. Auf die Information, dass besag­ ter Cousin ein geregeltes Einkommen hätte, antwortet sie laut Nebentext "gleichgiltig" und lediglich mit einem desinteressierten "Ah." (ebd., 972) Katharina konfrontiert Christine unmittelbar mit deren angeblich inadäqua­ tem Verhalten, das vor dem Hintergrund der traditionellen bürgerlich ge­ prägten "Tugendforderung nach sexueller Unberührtheit der unverheirate­ ten Töchter" (Fritz 1992, 67) zu verstehen ist: "Schau'n Sie, - Wien ist ja eine so große Stadt ... Müssen Sie sich Ihre Rendezvous g'rad hundert Schritt weit vom Haus geben?" (Schnitzler HKA 4, 973) und rät ihr in Form einer belehrenden Aufforderung: "ein bissei vorsichtiger sollten Sie sein!" (ebd.) Doch erneut behauptet Christine sich gegenüber dieser gesellschaft­ lichen Erwartung und fordert ein Recht auf ein eigenes Leben: "Das geht wohl niemanden was an." (ebd.) Katharina lässt nicht locker und versprach­ licht wiederholt die Erwartung der Gesellschaft an das Verhalten einer jun­ gen Frau: "Das Fräulein Christin', die ist keine Person, die mit eleganten jungen Herren am Abend spazieren geht, und wenn schon, so wird's doch so gescheidt sein, und nicht g'rad in unserer Gassen!" (ebd.) Katharina kriti­ siert jedoch nicht nur den Umgang mit Männern, sondern stellt sogar den Umgang mit ihrer Freundin infrage, wenn sie Christine gegenüber äußert, ob Mizi wirklich "eine Gesellschaft für ein anständiges junges Mädel" (ebd.) sei. Zudem stellt sie heraus, "wie bescheiden" (ebd., 974) Christine doch eigentlich sei und dass sie "so für's Häusliche" (ebd.) wäre. Konfron­ tiert mit diesen vielfältigen impliziten Vorwürfen und Erwartungen versucht sie nochmals, Christine zu überreden, den Abend lieber mit ihr als mit einem ,fremden' Mann zu verbringen: "Vielleicht kommen S' doch mit zur Musik?" (ebd.) Doch Christine bleibt bei ihrer Eigenständigkeit, wenn sie mit "Nein ..." (ebd.) antwortet. Nicht nur gegenüber Katharina, sondern auch im Gespräch mit Fritz zeigt sie ihre Eigenständigkeit und ihre Bereitschaft, entgegen der gesellschaftli­ chen Erwartung zu handeln. "Was liegt mir an den Leuten!" (ebd., 988), wirft sie ihm entgegen, als Fritz ihr versichert, dass ihn niemand gesehen habe, als er sie in ihrer Wohnung aufsucht. Als zentrale tragische weibliche Figur steht Christines Position somit konträr zu dem Verhalten, das von ihr erwartet wird. Die zweite Person, die sich gegen die gesellschaftlichen Erwartungen stellt, ist Christines Vater. Im Gespräch mit Katharina stellt er sich auf die Seite seiner Tochter. Sie konfrontiert ihn mit Vorwürfen gegenüber dem Ver­ halten seiner Tochter. Als Katharina auch ihm gegenüber die Vorteile einer Beziehung mit einem finanziell abgesicherten Mann verdeutlicht, stellt er

5. Gesellschaftskonflikte

ihr folgende Frage, die verdeutlicht, dass er seiner Tochter zugestehen möchte, selbst zu entscheiden, mit wem sie eine Liaison eingehen möchte: "Ja, sagen Sie mir, Frau Binder, ist denn so ein blühendes Geschöpf wirklich zu nichts anderem da, als für so einen anständigen Menschen, der zufällig eine fixe Anstellung hat?" (ebd., 977) Hans Weiring bleibt ebenso wie seine Tochter bei seiner Meinung und nimmt Christine gegen die gesellschaftli­ chen Erwartungen in Schutz, wenn er äußert, sie solle nicht ihre "jungen Jahre so einfach zum Fenster hinaus[]werfen" (ebd., 978). Er wünscht sich, dass Christine ihre eigenen und selbstbestimmten Erfahrungen mit der Liebe macht: "Wenn das ganze Leben nur so vorbei gegangen ist, [ ...] ein Tag wie der andere, ohne Glück und ohne Liebe - dann ist's vielleicht besser?" (ebd.) Katharina ist grundsätzlich neben dem Einhalten impliziter Vorschriften auch auf die Rücksichtnahme auf explizite Vorschriften bedacht und steht somit für Spießigkeit in der Gesellschaft. Als der Vater seiner Tochter einen Fliederzweig überreicht, den er zuvor in einem Garten pflückte und sich da­ mit "einer Uebertretung schuldig gemacht" (ebd., 974) hat - womit auch symbolisch die Abkehr des Vaters von traditionellen bürgerlichen Tugend­ vorstellungen zum Ausdruck kommt (vgl. Fritz 1992, 75) -, denkt sie so­ gleich an die möglichen Folgen: "Sein S' froh, daß Sie der Wachter nicht erwischt hat." (Schnitzler HKA 4, 975) Durch die negative Charakterisie­ rung Katharinas - von Mizi wird sie beispielsweise als "falsche Person" (ebd., 940) bezeichnet - kommt eine implizite kritische Haltung gegenüber einer spießigen und einer auf die öffentliche Wahrnehmung bedachte Ge­ sellschaft, für die Katharina stellvertretend steht, zum Ausdruck. Christines Aufbegehren gegen die gesellschaftlichen Erwartungen, ihre Hingabe an ein leidenschaftliches Liebes- und Beziehungskonzept, führen

Scheitern an der Gesellschaft

sie nicht ins Glück, sondern in die tragische Katastrophe. Ihre Vorstellung von einer entgrenzten, jedoch gesellschaftlich geächteten Liebe stürzt sie ins Unglück. Die Enttäuschung über Fritz, ihre Erkenntnis über seinen wah­ ren Charakter, wirken wie die nachträgliche Bestätigung von Katharinas Be­ denken, sich mit diesem Lebemann eingelassen zu haben. Am Ende scheint ihre Verzweiflung sie in den Freitod zu führen. Als sie zu seinem Grab auf­ brechen möchte, deutet sie an, aus dem Leben treten zu wollen: "Es ist sogar besser ... wenn ich ... Laßt mich, laßt mich" (ebd., 1015) stammelt sie und "starren Blickes" sagt sie, was sie am Grab ihres Geliebten nicht tun will: "Ich will dort nicht beten ... nein ..." (ebd.). Mit dieser angedeuteten Selbsttötung - von der auch ihr Vater überzeugt zu sein scheint, wenn seine und die letzten Worte des Dramas "Sie kommt nicht wieder - sie kommt nicht wieder!" (ebd.) lauten - am Ende des Schauspiels zieht sie die Konse­ quenz aus ihrem gescheiterten Versuch, sich gegen die an sie von der Ge­ sellschaft herangetragenen Erwartungen zu wehren. Ihrem Idealismus scheint sie nur entsprechen zu können, indem sie aus dem Leben scheidet. Des Weiteren thematisiert Schnitzler auch in Liebelei eines seiner zentra­ len gesellschaftskritischen Themen: das Duell (vgl. Kap. 1V.5). Als elementa­ rer Bestandteil der dem Text inhärenten Tragik und als auslösendes Moment

Duellthematik

121

122 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke für Christines Verzweiflung erhält dieser Teil der Handlung eine gewichtige Stellung innerhalb des Werks. Zudem zeigt die Möglichkeit eines potenziell tödlichen Duells, das durch einen Ehebruch provoziert wurde, die vorherr­ schenden Moralvorstellungen um 1900 in Wien auf. Wie eine ständig spür­ bare Bedrohung wird in Form von Andeutungen immer wieder auf den für Fritz tödlichen Ausgang des Duells verwiesen, wodurch während des ge­ samten Dramas der unnötige Tod angekündigt wird. Unnötig ist der Tod deshalb, weil, wie Theodor es formuliert, ein "nichtiger Grund" (Schnitzler HKA 4, 1010) das Duell provoziert hat, womit eine kritische Haltung zur Duellpraxis zum Ausdruck kommt. Bereits im ersten Akt spricht Fritz vom Tod, wenn er Theodor erzählt, dass seine Geliebte aus Angst vor ihrem Mann "mit mir sterben" (ebd., 930) möchte. Theodor selbst wiederum deu­ tet in einer unbedachten Äußerung an, dass die beiden Paare nie mehr zu­ sammen werden feiern können, selbstverständlich ohne zu ahnen, wieviel Wahrheit in seinen Worten liegt: "Wenn wir heut mit denen das letzte Mal zusammen wären, wir wären doch nicht weniger fidel, was?" (ebd., 946), sagt er zu Fritz. Christine wiederum schwärmt Fritz von einem Bild vor, das ihre eigene Situation vorwegnimmt. Auf die Frage, um was für ein Bild es sich handle, antwortet sie: "Das ist ein Mädel, die schaut zum Fenster hi­ naus, und draußen, weißt, ist der Winter - und das heißt ,Verlassen' .-" (ebd., 989) Zu Beginn des dritten Aktes, als Fritz bereits im Duell gefallen ist, was Christine zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht ahnt, erinnert ihr Auftritt an eben dieses Bi Id, wodurch das Schicksal ihrer Beziehung zu Fritz bereits deutlich wird: Sie sitzt "allein [ ... ] am Fenster" (ebd., 998). Fritz selbst scheint schließlich zu ahnen, dass das Duell nicht gut für ihn ausge­

Bürger! iches Trauers piel?

hen wird. Auf Christines "Auf Wiedersehn" vermag er lediglich mit "Leb wohl!..." (ebd.) zu antworten. Obwohl im Untertitel neutral als "Schauspiel" (ebd., 925) deklariert, han­ delt es sich bei Liebelei aufgrund der Handlungsführung zweifelsfrei um eine Tragödie. Innerhalb der Forschung wird darüber hinaus zu Recht disku­ tiert, inwiefern das Drama in der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels steht (vgl. Janz/Laermann 1977, 34-40; Fritz 1992), insbesondere vor dem Hintergrund des besonderen Verhältnisses zwischen Vater und Tochter. Schnitzlers Drama weist diesbezüglich eine entscheidende Variation im Vergleich zu kanonisierten bürgerlichen Trauerspielen wie Lessings Miss Sara Sampson (1755), Schillers Kabale und Liebe (1784) oder Hebbels Ma­ ria Magdalena (1844) auf: "Christine geht nämlich noch vom Vaterbild und der strengen Vatermoral des bürgerlichen Trauerspiels aus ohne zu wissen, daß der Vater selbst seine eigenen Moralnormen inzwischen als veraltet und lebensfeindlich betrachtet und entsprechend revidiert hat." (Fritz 1992, 66) Im Bezug zu den Gattungstraditionen stellt die Abkehr Hans Weirings von bürgerlichen Moralvorstellungen somit eine weitere Form impliziter Gesellschaftskritik dar, denn gerade durch die Revision werden diese als überholt dargestellt. Dies ist insofern von Bedeutung, als die Vaterfiguren in bürgerlichen Trauerspielen hinsichtlich "der bürgerlichen Familienmoral" traditionell als "Garant und Überwacher" (ebd., 68) gelten. Durch Christi-

5. Gesellschaftskonflikte

nes Scheitern werden jedoch auch die modernen Moralvorstellungen Wei­ rings, der sich hinsichtlich der gesellschaftlichen Erwartungen bezüglich des Verhaltens junger Frauen auf die Seite seiner Tochter stellt, als gesell­ schaftlich noch nicht akzeptiert dargeboten. Hugo von Hofmannsthai: Jedermann (1911) Die Handlung von Hofmannsthais allegorischem Jedermann ist schnell zusammengefasst: Gott sendet den Tod zu Jedermann, um diesen zum "Gerichtstag" (Hofmannsthai SW IX, 36) vorzuladen. Bevor Jedermann vom Tod

Handlungsübersicht

aufgesucht wird, weist er einen armen Nachbarn und einen Schuldknecht ab, die ihn um Hilfe bitten. Selbst seiner Mutter begegnet er recht unwirsch, erst seiner Geliebten gegenüber zeigt er sich wohlgesonnen. Bei einem ausschweifenden Bankett plagen ihn jedoch düstere Ahnungen und tatsächlich steht schon bald der Tod vor ihm, um ihn zu Gott zu bitten. Bei der verzweifelten Suche nach Beistand muss er feststellen, dass nun wiederum ihm keiner zu helfen bereit ist. Mithilfe des Glaubens (der als Figur auftritt) kann er sich dem Teufel entziehen und seine Werke (ebenfalls als Figur agierend, gemeint ist die Seele, wie Hofmannsthais Notizen entnommen werden kann, vgl. ebd., 237f.) kräftigen, die schließlich gemeinsam mit Jedermann ins Grab steigt, nachdem er das Sakrament empfangen hat. Im Gegensatz zu Schnitzlers explizitem Zeitbezug versteht sich Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes - so der Untertitel - als "Erneuerung"

Traditioneller Stoff

eines "alten Spiels" (ebd., 125), wie es in den ersten Auflagen in einem Informationstext heißt. Explizit beruft sich Hofmannsthai auf ein mittelalterliches Mysterienspiel aus England mit dem Titel Everyman. Als weitere wichtige Quelle für die Dramatisierung des Stoffes diente ihm Hans Sachs' Ein comedi von dem reichen sterbenden menschen, der Hecastus genannt aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Darüber hinaus sind zahlreiche weitere Einflüsse bekannt (vgl. ebd., 108-113). In späteren Auflagen, als das Stück zunehmend erfolgreich wurde, offenbarte Hofmannsthai seine Quellen nur noch andeutungsweise, um im Gegenzug seine eigene Leistung bei der Gestaltung des Dramas umso deutlicher herauszustellen. Durch die verschiedenartigen von Hofmannsthai verwendeten Quellen ist der Text ein gutes Beispiel für die Bedeutung von Beziehungen zwischen verschiedenen Texten, die innerhalb der Literaturwissenschaft vor dem Hintergrund des theoretischen Modells der Intertextualität untersucht werden. Der Jedermann würde ohne die vom Autor herangezogenen Werke in der vorliegenden Form nicht existieren. Bezüglich der Textgenese wurde in der Forschung darüber hinaus die Verwandtschaft mit den Märchen der Brüder Grimm herausgearbeitet. So gilt für sowohl für Grimms Märchen als auch für den Jedermann, dass beispielsweise diverse Texte aus unterschiedlichen Traditionen be- und eingearbeitet sowie Sprichwörter integriert wurden (vgl. Rölleke 1996, 95-98). Darüber hinaus sind Parallelen zu Goethes Faust konstatiert worden (vgl. Rölleke 2001). Thematisch verweist Jedermann außerdem auf ein frühes Werk von Hofmannsthai selbst: In dem lyrischen Einakter Der Tor und der Tod (1894) begegnet der Protagonist Claudio dem Tod

Intertextualität

123

124 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke persönlich und wird durch Personen aus seiner Vergangenheit mit seinen charakterlichen Defiziten konfrontiert (vgl. Kap. 1V.3). Das Element der Gesellschaftskritik ist im Jedermann jedoch noch deut­ licher ausgeprägt und hat durch den Bezug zu einem jahrhundertealten Stoff einen zeitlosen Anspruch. Der Text kritisiert demnach überzeitliche negative menschliche Verhaltensweisen. Hofmannsthai geht es dabei auch darum, das Publikum zu belehren, also zu einem wertebasierten - orien­ tiert an der christlichen Religion - Leben aufzufordern, wie der vorange­ stellten, durch einen "Spielansager" gesprochenen Einleitung explizit ent­ nommen werden kann: "Der Hergang ist recht schön und klar, / Der Stoff ist kostbar von dem Spiel/Dahinter aber liegt noch viel/Das müßt ihr zu Gemüt führen / Und aus dem Inhalt die Lehr ausspüren." (Hofmannsthai SW IX, 35) Mangelnde

Im ersten Teil wird insbesondere die mangelnde Empathie und Hilfsbe­

Nächstenliebe

reitschaft des Jedermann zur Schau gestellt, namentlich in den Auseinander­ setzungen mit dem armen Nachbarn und dem Schuldknecht. Da es sich da­ bei um Szenen handelt, die auf Hofmannsthai selbst und nicht auf die viel­ fältigen Quellen zurückgeführt werden können (vgl. Rölleke 2001, 295), sind sie für die Darlegung der gesellschaftskritischen Elemente des Werks besonders bedeutsam. Der arme Nachbar bittet Jedermann um finanzielle Hilfe, nicht ohne auf dessen Reichtum zu verweisen: "Das ist des reichen Jedermann Haus./Oh, Herr, dich bitt ich überaus/Wollest dich hilfreich meiner erbarmen, /Mild­ tätig beistehn einem Armen." (Hofmannsthai SW IX, 38) Obwohl sie einst Nachbarn waren, erkennt Jedermann den Bittenden nicht einmal, wodurch deutlich wird, dass er an seinen Mitmenschen keinerlei Interesse zeigt, noch nicht einmal an denen in seiner unmittelbaren Umgebung. Denn als sein Gesell ihn fragt, ob er den Nachbarn erkennen würde, antwortet Jeder­ mann: "Ich? Wer solls sein?" (ebd.) Als Jedermann ihm dennoch eine Mün­ ze geben will, fordert der Nachbar mehr. Mit einem halben Beutel Münzen wäre er wieder "gesund und heil" (ebd.). Die titelgebende Figur könnte es sich schließlich leisten: "Bist allermaßen mächtig reich./Teilst du den Beu­ tel auf gleich und gleich,/Dir bleiben die Truhen voll im Haus,/Dir fließen Zins und Renten zu." (ebd., 39) Der arme Nachbar appelliert sogar an den Glauben: "Den teil mit mir, bist du ein Christ." (ebd.) Doch Jedermann möchte das Geld lieber in einen Lustgarten investieren, womit er seine eige­ nen luxuriösen Bedürfnisse über die Hilfsbedürftigkeit eines Mitmenschen stellt: "Mann, da bist du in der Irr,/Wenn du meinst, ich könnt ohnweilen/ Den Beutel Geld da mit dir teilen./Das Geld ist gar nit länger mein, /Muß heut noch abgeliefert sein / Als Kaufschilling für einen Lustgarten." (ebd.) Die Hauptfigur rechtfertigt sich gar vor sich selbst - "unsereins ist hart ge­ plagt" (ebd., 40) - da seine ganzen Besitztümer schließlich reichlich Unter­ halt kosten würden. Der anschließend auftretende Schuldknecht offenbart noch deutlicher den Mangel an Nächstenliebe, den der Protagonist an den Tag legt. Wie durch den Nebentext deutlich wird, ist die Familie des Schuldknechts in

5. Gesellschaftskonflikte 125

schlimme Armut verfallen, denn hinter ihm treten "sein Weib und seine Kinder in Lumpen" (ebd., 41) auf. Dies vergrößert die Schuld des Jeder­ mann, denn er ist es, der die Situation des Schuldknechts zu verantworten hat: "Dein Nam steht auf einem Schuldschein, / Der bringt mich in diesen Kerker hinein" (ebd., 42), lautet der Vorwurf. Doch der so Angeklagte leug­ net seine Verantwortung: "Ich wasch in Unschuld meine Händ / Als einer, der diese Sach nit kennt." (ebd.) Jedermann befürwortet gar die Strafe: "Wer hieß dich Geld auf Zinsen nehmen? / Nun hast du den gerechten Lohn. / Mein Geld weiß nit von dir noch mir / Und kennt kein Ansehen der Person." (ebd.) Wie bereits der arme Nachbar verweist auch der Schuld­ knecht auf die offensichtliche mangelnde Bedeutung christlicher Nächsten­ liebe im Leben Jedermanns: "Sein Herz weiß nichts von Gotts Gebot, / Hat tausend Schuldbrief in seinem Schrein / Und läßt uns Arme in Not und Pein." (ebd.) Er kritisiert den Reichtum: "Wer seine Hand ausreckt darnach / Nimmt an der Seele Schaden und Schmach, / Davon er nimmer wird

genesen. / Des Satans Fangnetz in der Welt / Hat keinen andern Nam als Geld." (ebd., 43) Wird daher bereits in den Szenen mit dem Nachbarn und dem Schuld­ knecht die materielle Orientierung Jedermanns offenkundig, so wird die dem Text inhärente Kritik an der Überbewertung des Geldes im späteren Disput zwischen der titelgebenden Figur und seinem Reichtum, der als "Mammon" auftritt, noch deutlicher. Bereits zu Beginn des Dramas wird Jedermann nicht müde, seine Besitz­ tümer zu betonen: "Mein Haus hat ein gut Ansehn, das ist wahr, / Steht statt­ lich da, vornehm und reich, / Kommt in der Stadt kein andres gleich. / Hab drin köstlichen Hausrat die Meng, / Viele Truhen, viele Spind, / Dazu ein großes Hausgesind, / Einen schönen Schatz von gutem Geld." (ebd., 36) Später, in seiner Verzweiflung auf der Suche nach einem Beistand für seine Vorladung bei Gott, wirft er sich auf die Truhe und zeigt damit, dass er nach wie vor an materiellen Dingen festhält: "Nit ohne dich, du mußt mit mir", spricht er zur Truhe, "Laß dich um alles nit hinter mir. / Du mußt jetzt in ein andres Haus / Drum auf mit dir und schnell heraus." (ebd., 77f.) Aus diesem Schatz entspringt daraufhin Mammon, der sich bewusst ist, welch wichtige Rolle er im Leben Jedermanns spielt: "Dein Reichtum bin ich halt, dein Geld, / Dein eins und alles auf der Welt." (ebd.) Im folgenden Dialog stellt Mammon die Beziehung zwischen Besitz und Besitzendem klar. Für Jedermanns Glauben, sein Geld sei sein Eigentum, hat Mammon nur ein müdes Lächeln übrig: "Dein Eigen, ha, daß ich nit lach." (ebd., 79) Schließlich sei er es, der "regiert in deiner Seei" (ebd.). Auf Jedermanns Überzeugung: "Warst mein leibeigner Knecht und Sklav" (ebd.), antwortet der Mammon: "Nein, du mein Hampelmann recht brav." (ebd.) Der Mensch, so die Botschaft, ist der Sklave seines Geldes und vergisst darüber die Nächstenliebe. Die vom Spielansager angedeutete "Lehr" des

Jedermann ist demnach so offensichtlich wie banal: Statt auf materielle Werte sollte sich das Individuum auf ideelle Werte stützen und durch eine moralische Lebensweise hervortreten.

Überbewertung des Reichtums

126 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Der Salzburger Kult

Die mitunter etwas distanzlose, weil wertende und dadurch nicht unproblematische wissenschaftliche Rezeption des Stückes - der Jedermann­ Experte Heinz Rölleke macht in seinen zahlreichen Publikationen zum Text keinen Hehl aus seiner Begeisterung für das Werk (vgl. etwa Rölleke 1996,

2001) - wird im Bereich der Kultur von einer nach wie vor erfolgreichen Aufführungspraxis begleitet. Besonders relevant in diesem Zusammenhang ist die seit 1920 - mit Ausnahme der NS-Zeit - anhaltende Aufführung bei den Salzburger Festspielen (vgl. Müry 2014). Ironischerweise gilt das Stück, das gegen den Reichtum wettert, den Organisatoren als "Melkkuh" (ebd.,

17) des bedeutenden Festivals. Die Aufführungen sind entsprechend promi­ nent besetzt: Schauspielergrößen wie Will Quadflieg, Curd Jürgens, Maxi­ milian Schell, Klaus Maria Brandauer oder Ulrich Tukur verliehen dem Je­ dermann ihr Gesicht. So zeigt die Aufführungsgeschichte des Jedermann beispielhaft - ebenso wie die regelmäßige Darbietung anderer Stücke auf deutschsprachigen Büh­ nen sowie die beständige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Texten von Bahr, Hofmannsthai oder Schnitzler - die bis heute andauernde Bedeu­ tung der Literatur der Wiener Moderne, die nicht zuletzt auch in ihrer ge­ sellschaftlichen Relevanz begründet liegt.

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Fischer,Samuel(1859-1934) 31, 86

Richard Engländer;

Fjaestad, Gustaf (1868-1948) 22

1859-1919) 13,16,19,22,

Fontane,Heinrich Theodor

24f.,28,31,35,64f.,71, 79ff.,95 Andrian, Leopold von (1875-1951) 13,28,31,59, 64,85ff.

(1819-1898) 62 Franz Joseph I.(eigentlich Erz­ herzog Franz Joseph Kar! von Österreich; 1830-1916) 7f. Freud, Sigmund (1856-1939) 16, 18,21,23,34ff.,49ff.,54,57,

Bacon, Francis(1561-1626) 52f.

63f.,67,105,110,115

20,22,24f.,27,29ff.,35,38, 43ff.,64f.,67,79,85f.,98, 109,126 Beer-Hof mann, Richard (1866-1945) 11,13,16f.,19, 26ff.,31,34,43,47ff.,54,56, 59f.,64,66,71,95f.,101ff. Bierbaum, Otto Julius

Jürgens, Curd(1915-1982) 126 Kaf ka,Eduard Michael (1864-1893) 28,30 Kaf ka, Franz(1883-1924) 42, 85,95 Karll.(eigentlich Franz Joseph Ludwig Hubert Georg Maria; 1887-1922) 8 Klimt, Gustav(1862-1918) 20ff. Kraff t-Ebing, Richard von

Bahr,Hermann (1863-1934) 9ff.,13,16ff.,

Joachim,Jacques 28

George,Stef an(1868-1933) 11 Goethe,Johann Wolf gang von (1749-1832) 55,87f.,123

(1840-1902) 49,64 Kraus,Kar! (1874-1936) 25,96 Kulka,Julius 28

Gold,Alf red(1874-1958) 96, 104 Goncourt,Edmond Louis Antoine Huot de(1822-1896) 44 Goncourt,Jules Alf red Huot de (1830-1870) 44

Lessing, Gotthold Ephraim (1729-1781) 122 Liliencron, Detlev von (1844-1909) 9 Loos,Adolf (1870-1933) 22,35

(1865-1910) 9 Bölsche,Wilhelm(1861-1939) 10 Bourget, Paul(1852-1935) 33, 44,91 Brahm,Otto(1856-1912) 76 Brandauer,Klaus Maria(*1943) 126 Breuer,Josef (1842-1925) 39,41

Hauptmann, Gerhart (1862-1946) 27,36 Hebbel,Christian Friedrich (1813-1863) 122 Heine,Christian Johann Heinrich (1797-1856) 36 Hoff mann,Ernst Theodor Amadeus(1776-1822) 88 Hoff mann,Josef

Charcot,Jean-Martin (1825-1893) 40

(1870-1956) 21f. Hof mannsthai,Hugo von (1874-1929) 9,11ff.,16ff.,

David,Jakob Julius(1859-1906) 37 Döblin,Alf red(1878-1957) 42 Dörmann, Felix(1870-1928) 22, 57,60,71

22,26f.,31 ff.,36,41,43,

Mach,Ernst Waldf ried Josef Wenzel(1838-1916) 18,23, 49ff.,54,56,90f. Mahler,Gustav(1860-1911) 22, 24 Mann,Thomas(1875-1955) 42, 55,95 March, Ottokar Stauf von der (1868-1941) 34 Meyer, Conrad Ferdinand (1825-1898) 62f. Möbius, Paul Julius (1853-1907) 64

52f.,55f.,61,64,68ff.,79 ff.,

Moser,Kolo(1868-1918) 21

85f.,91ff.,115f.,123f.,126

Musil, Robert(1880-1942) 42

Holz,Arno(1863-1929) 9f.,27 Huysmans,Joris-Kar! (1848-1907) 82

Nietzsche, Friedrich (1844-1900) 49ff.,91,98

Eco, Umberto(*1932) 83f. Edison,Thomas Alva (1847-1931) 65 Fels, Friedrich Michael (1864-?) 29

I bsen,Henrik(1828-1906) 28, 36 Jensen,Wilhelm(1837-1911) 37f.

Olbrich,Joseph Maria (1867-1908) 22 Pappenheim, Bertha (1859-1936) 41

136 Personenregister Platen,August von(eigentlich: Karl August Georg Maximilian Gr af von Platen-Hallermund, 1796-1835) 55

Schlaf,johannes(1862-1941) 27 Schnitzler,Arthur

Sophokles(497/496-406/405 v. Chr.) 70

(1862-1931) 9 ff., 13f.,16 ff.,

Stekel,Wilhelm(1868-1940) 37

23ff.,30,34f.,38 ff., 46,52,

Storm, Theodor (1817-1888) 62

54 ff., 59f.,63 ff., 67 ff., 82,86, Quadflieg,Will (1914-2003) 126

95 ff., 100f.,104 ff., 115 ff.,

Trakl, Georg(1887-1914) 95

126

Tukur, Ulrich (*1957) 126

Schnitzler,Olga(geb. Gussmann, Reik, Theodor(1888-1969) 38f., 110f. Reventlow, Franziska Gräfin zu (1871-1918) 42 Rilke, Rainer Maria (1875-1926) 22,95 Rosegger, Peter (1843-1918) 14

1882-1970) 27 Schönberg,Arnold (1874-1951) 22f. Schönerer, Georg Heinrich von (1842-1921) 8 Schopenhauer,Arthur (1788-1860) 98

Wagner, Otto Koloman (1841-1918) 22 Wedekind, Frank (1864-1918) 9 Weininger, Otto (1880-1903) 64,76 Wengraf, Edmund (1860-1933) 24f.

Schumann, Robert Saiten, Felix(1869-1945) 13, 34,64,67,86,96 Schell,Maximilian (1930-2014) 126 Schiller, Friedrich (1759-1805) 122

(1810-1856) 112 Shakespeare,William (1564-1616) 36 Simmel, Georg (1858-1918) 9, 49 Sokal, Clemens 95

Zola, Emile CharIes Antoine (1840-1902) 36,44,82 ZuckerkandI, Berta (1864-1945) 24f.,46,49

Sachregister Affäre 56,59,69,72,74f.

Dissoziation 88

femme fatale 71

Affekt 45,58,63

Doppelgänger 40,93

femme fragile 18,71

Ambivalenz 49,65,81,83ff.

Doppelmonarchie Österreich-

Feuilleton 81

Anagnorisis 118 An der schönen blauen Donau (Zeitschrift) 26 Antisemitismus 8,24,72, 76ff. Aphorismus 81f. Architektur 12,15f.,20ff. Ästhetik 14,27,33,45,81,84, 96,104 Ästhetizismus 104ff.

Ungarn 7f. Doppelmoral 72,74f. Drama 28,36,40f.,57f.,61,65,

Aufklärung 36,52f.,62f.

Fin de Siede 11f.,14,16,18,23, 64

67ff.,70,72ff.,76,82,96,

Flüchtigkeit 65f.

116,120ff.

Fokalisierung 46

Duell 11,69,72,74ff.,80,95, 98,116ff. Dynamik 16,27,44,46,50f., 88,92,94,109

Aufführung 23,28,34,78,116, 126

Figurencharakterisierung 188f.

FotografischeMethode 80 Fragilität 18,63,71,87,101, 105,112 Fragmentarisierung 53 Frauenbi Id 64,71f.,111,117

Ehe 56,59,67,68ff.,72ff.,116, 122

Freie Bühne (Verein) 10,28f., 32

Autobiografie 82

Einakter 68,73,81f.,86,123

Freie Bühne (Zeitschrift) 31f.

Autonomie 57,94

Einsamkeit 62,114

Freiheit 22,58,75,94,114f.

Autorschaft 38,80

Ekstase 88

Freizügigkeit 58

Avantgarde 15f.

Ellipse 48

Fremde 18,90

Avantgardismus 35,44,81

Emanzipation 19,64

BerlinerModerne 12,15,30,32 Bewusstsein 11f.,17,26,28,

Emotion 46,60f.,65ff.,116

Gattungsexperiment 81f.

Empfindung 27,32,46ff.,SOff.,

Gattungstradition 81,83,122

54,56,64f.,72,87,90,107

45ff.,54,56,59,87f.,95,

Empirie 52

99ff.,104,ll1f.

Erkenntnis 31,51,53f.,56,59f.,

Bewusstseinsbericht 45,47, 108f.

Gedankendarstellung 46,105, 108f.,111 Gedankenmonolog 101

61f.,85ff.,89f.,95,100,

Gedankenzitat 108

102ff.,118,121

George-Kreis 11

Bildende Kunst 12,20,22

Erkenntnistheorie 18,35

Geschlechterkonzept 18

Blätter für die Kunst (Zeit­

Erlebte Rede 45ff.,56,100,

Geschlechterrolle 35,64ff.,71,

schrift) 11 Bürgerliche Kultur 10,31f.,34f., 54ff.,67,71,86,93,119ff. (Wiener) Burgtheater 23,28,116

108f.

Geschlechterverhältnisse 113

Erzählinstanz 47,83,100

Gesellschaft 7ff.,15f.,25,28,

Erzählstruktur 46ff.,94

34,37,43,49f.,54f.,57f.,63,

Erzähltechnik 11,46f.

68,71ff.,86,94f.,97f.,100,

Cafe Central 24f.

Erzähltheorie 45,112

Cafe Griensteidl 24f.,26,37

Erzählung 47,49,54ff.,59f.,66, 70,82f.,86ff.,103,105ff.,

Decadence/Dekadenz 9ff.,64

74

Erotik 59,92f.,110

105,113ff.,119ff. Gewissen 32,46 Großstadt 49f.

109ff.

Dekonstruktion 65,67

Es (Freud) 51

Habsburgermonarchie 7f.

Denaturierung 9

Essayistik 30

Handlungssouveränität 93

Deutscher Bund 7 Deutsche Zeitung (Zeit-

Heterogenisierung 57 Fakultätsbi Ider 21

Histoire 48

Fallanalyse 104

(Wiener) Hofoper 23

Die Zeit (Zeitschrift) 30,34

Familie 111ff.,124

Hybridität 82

Discours 46,55,95

Feminisierung 64

Hypnose 35

Diskontinuität 48

femme enfant 71

Hysterie 35f.,39ff.,114f.

schrift) 31,33

138 Sachregister Ich l1f.,18,23,45f.,49ff.,61f.,

Kulturleben 8,10,16,24,50

65,82,86ff.,92ff.,100ff.,

Kulturtheorie 17,35f.

104f.

Kulturtradition 9ff.,23,79

Ich-Perspektive(erzähltheore-

Kunsthandwerk 21

tisch) 45 Lebensorientierung 20

Ideen 10,23,37,45,50

Liebe 34,45f.,55,62ff.,80,86,

Identität 12,18,49,51,53f.,61, 63,83,87,91,93f.,97,101,103 Identitätskonflikt 56

101,106,111f. Ödipus-Komplex 36,41 Offenbarung ,religiöse 87,89f.

Idealismus 32,44,121 Ideenzirkulation 35

Novelle 31,36,55,75,96ff.,

97,99f.,113,116ff.,119,121, 124f. Liebeskonzept 34,64f.,67f., 118,121

Öffentlichkeit 24,27ff.,31f., 114 Ökonomisierung ,erzähleri­ sche 85 Orientierungslosigkeit 56 Ostdeutsche Rundschau

Identitätsmodell 52

Literaturkritik 13,29f.

Identitätsproblem 12,18,53f.

Literaturpolitik ,29ff.,43

Idylle 81ff.

Lyrik 22,61,71,82,84

Paratext 59,82

Illusion 18,34f.,47,97,113

Lyrisches Drama 96

Paris 14f.,29f.

Imago(Zeitschrift) 37ff.,110 Impressionismus 9ff.,18,50 Individuum 9,49f ,55,60,71, 94f.,125 Innensicht 107ff. Innere/Innenwelt/Innen 10f.,13, 18,21,23,25,27,29f.,32ff., 43ff.,74,80,83,85ff.,97, 101,105f.,lOBt.,113 Innerer Monolog 11,46f.,52, 55,10�10�108f.,111f. Innovation 9,12,14,46f. Inszenierung 18,34f.,44,119

(Zeitung) 34

Patriarchat 113f. Medizin 8,21ff.,36,40f.,77f., 97 Melancholie 23 Metaphorik 46,59,67f.,94, 102,104 Metaphysik 51,56f.,61ff., 102f.,105

Perspektive 45ff.,55f.,69,72, 83f.,87,91,94,100f.,105, 107f.,ll1f.,115,118 Philosophie 15,17f.,20f.,23, 49f.,52,62,70,91,98 phonographische Methode 10

Militär 7,75,91ff.

Physik 23,45,50f.

Moderne Dichtung(Zeit­

Polarisierung 34

schrift) 28ff.,44 Moderne Rundschau(Zeitschrift) 28ff.

Politik 7ff.,14ff.,21,28,76ff. Pornographie 34,67 Postnaturalismus 45,49

Intermedialität 113

Moderner Musen-Almanach 9

Pragmatismus 62f.,81,97f.

Internationale Klinische Rund-

Modernismus 81

Preußen 7

Monarchie 7ff.,95

Privatheit 23f.,68,73,92

Intertextualität 123

Monologerzählung 112f.

Prosagedicht 81,83f.

Ironie 23,117

Moral 35,50,52,55f.,58f.,63,

Prosaskizze 65,71,82,84

schau(Zeitschrift) 40

Irrealität 35 Isolation 47,63,97

72,74f.,96,100,122f.,125 Musik 8,12,15,20,22f.,99, 111ff.,116,120

Jugend 48,51,53,86,97,99

Mysterienspiel 116,123

Jugendstil 9

Mythos 20,30f.,41,70

Junges Österreich 11ff.,28 Jung-Wien 9ff.,15f.,20,23f., 26ff.,46,50,52,79,82,86,96 Jurisprudenz 21f.

Psychoanalyse 18,21,23,35ff., 50,110 psychoanalytische Textinterpreta­ tion/Deutung 18,37f.,106, 115 Psychogramm 94,97ff.

Nächstenliebe 124f. Naivität 71,103 Naturalismus 1Off.,25ff.,32f., 44f.,82,104

Psychologie 18,31,35ff.,43ff., 52,55,64,94f.,98,100,104, 109f. Psychologisierung 44,86

Kaffeehaus 13,24ff.,35

Nerven 18,33,44,49,67,98

Kanonisierung 35

Nervenkrankheit 40

Rationalität 52

Kirche 37,78,95

Nervosität 12,23,44f.,115

Raum 23f.,48,63,78,82,91ff.,

Körper 34,43,47,51,53,87,89,

Neue Freie Presse(Zeitung) 91

97,99,101,104,107,110, 112ff. Kultur 7ff.,11,14ff.,20ff.,52,

97

Neurasthenie 49

Rausch 67,69,83,86,88

Neuromantik 9

Realismus lOf.,18,20f.,26,32,

neurotische Störung 115

54,63,72,75f.,93f.,96,

Notenzitat 112f.

104f.,115,126

Novelette 81

53,62f.,96,105 Realität 9,14,35,47ff.,52,59, 82,87,90

Sachregister

Realitätsgehalt (des Erzähl­ ten) 48,55 Reduktionismus ,biographischer 39 Reflexivität 12

Stimme 47f.,79,95,103,114

Über-Ich 51

stream of consciousness 11

Unbewusstes 36ff.,45,50,52,

Subjekt 9,11,18,23,35,44ff.,

Uneindeutigkeit 106f.

98,102ff.,109

Utopie 58

Reizüberflutung 49

Subjektentwürfe 49ff.,88

Repression 94

Subjektivität 57,60,80,90,

Revolution der Literatur 10

63

49ff.,57,60ff.,88,91f.,94ff.,

107f.

Ver Sacrum (Zeitschrift) 20,22 Verdrängung 37,60,63,97,100, 105

Rezension 34f.,79,81,85f.

Subjektkrise 49

Roman 18,29,45f.,55f.,62,64,

Substanzlosigkeit 49

Vernetzung 15,35

Suizid/Selbsttötung 58,67,107,

Vernunftheirat 119

67,77,82,87

113,115,121 Salon 24,111,114

Symbolismus 9,25

Salzburger Kult 126

Wahn 24,32,37,58,77 Wahrheit 27,35,37,43,46, SOff.,58,63,73,75,122

Schaffenskrise 46,64

Tagebuch 26f.,30,60

Schein 35,51,53,74

Tagtraum 92f.

Wandel 8,44,51,62,64,100

Scheitern 29,87,105ff.,111,

Telegramm-Stil 80

Weiblichkeitskonzepte 21,70,

114f.,121,123 (Wiener) Secession 20ff. Seele 20,29,32f.,39,44f.,53, 57f.,80,83,87,92f.,107,123, 125

Theater 8,15,23,28,63,73f., 76,82,116 Theseus-Mythos 20 Tod 7f.,17,23,35,41,47ff., 54ff.,57ff.,67,73,76f.,87,

Seelenkenntnis 110

90,94ff.,101ff.,107,114,

Sekundensti I 10

121ff.

Selbstanalyse 54,103

Todesbewältigung 61f.

Selbstwahrnehmung 9,53,72

Todeskonzepte 60ff.

Sensitivität 12

Tradition 8,12,14,18,20,32f.,

Sexualität 18,34f.,64ff.,74f.,93

4�51,55,5�64,67f.,70f.,

Skandal 33f.,67,74,77f.

79,81ff.,97,106,113,116,

Skizze 65,71,79,81ff.

120ff.

Soziologie 14ff.,49 Sprachkrise 53

Traum 37,46ff.,51f.,58,77,89, 92f.,101f.

Sprachlosigkeit 53

Traumdeutung 36ff.,40,52,54

Sterben 17,25,47f.,55,57ff.,

Traumhandlung 48,101f.

76f.,95ff.,107,115f.,122f.

Trieb 21,23,34,43,50,54,58,

Sterbeprozess 97,101

63f.,67f.,79,86,91,93ff.,

Sterblichkeit 96,102,105

100,107

Stilismus 21

Tugend 58,75,101f.,120f.

105ff. Werte 49f.,52,55,58,62f.,91, 99f.,111 Wirklichkeit 10,27,30,35,48, SOff.,55f.,59,63,80,83,85, 95,101f. Wirklichkeitsaneignung 30,44 Wirklichkeitskonstruktion 44f., 82 Wirklichkeitsverlust 48 Wissenschaft 9ff.,14ff.,20f.,23, 35ff.,50,52,70,85,112,115, 123,126 Witz 35,40 Wunschbild 47,93,101 Zeitschrift(en) 10,16,22,24,26, 28ff.,35,37,39f.,43,81,96, 110 Zeitung(en) 24,31ff.,81,86, 91

139

Werkregister Altenberg, Peter - Bilderbögen des kleinen Lebens 79 -Don Juan 82 f. - Ein Brief 81 -Im Stadtgarten 82 - Kaffeehaus 25 - Kunst 79 f. - Liebeserklärung 65 f. -Märchen des Lebens 81 - Prodr6m6s 80 - Selbstbiographie 80 -Was der Tag mir zuträgt 79 f.,82 -Wie ein Bild 80 -Wie ich es sehe 79 ff. -Wie wunderbar 84 Andrian, Leopold von -Der Garten der Erkenntnis 31,59,85 ff.,95 Bahr, Hermann -Das junge Österreich 27,33, 79 -Dialog vom Tragischen 39, 50 -Die Alten und die Jungen 31 ff. -Die gute Schule 18,29,45 f., 64 f.,67 f. -DieModerne 13,27,29,31, 43 f.,46 -Die neue Psychologie 31, 33,39,45 -Die Überwindung des Natura­ lismus 25,29,30 f.,33,44 - Loris 32 f. -Zehn Jahre 30 Beer-Hofmann, Richard

Dörmann, Felix -Der Abenteurer 22 -Die herbstlich fahle Welt umloht ... 57 -Totenliebe 60 f. Fontane, Heinrich Theodor -Der Stechlin 62 Freud, Sigmund - Bruchstück einer Hysterie­ Analyse 40 -Der Wahn und die Träume in W. Jensens ,Gradiva' 37 -Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten 40 -Die Traumdeutung 36 f.,40, 52,54 - Studien über Hysterie 39, 41 - Unser Verhältnis zum Tode 63,105 -Zeitgemäßes über Krieg und Tod 63,105 Goethe,Johann Wolfgang - Faust 123 -Italienische Reise 55 Gold,Alfred -Ästhetik des Sterbens 96, 104 Hebbel,Christian Friedrich -MariaMagdalena 122 Hoffmann, E.T.A. -Die Bergwerke zu Falun 88 Hofmannsthai, Hugo von -Andreas oder die Vereinigten 55 f.,82 -Der Tor und der Tod 61,96, 123 f.

- Camelias 66 f.

-Die Frau im Fenster 69 f.

-Der Tod Georgs 47 ff.,54,

- Ein Brief 52 f.,81

56,59,71,95 f.,101 ff. Bölsche,Wilhelm -Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie 10 Breuer,Josef - Studien über Hysterie 39,41

- Elektra 41,70,115 -Jedermann 115 f.,123 ff. - Ödipus und die Sphinx 115 - Poesie und Leben 12,80 f. - Reitergeschichte 68,85 f., 91 ff.

- Über Vergänglichkeit 61 -Weltgeheimnis 22 Holz,Arno -Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze 10 Huysmans,Joris-Kar!

- A rebours 82 Ibsen, Henrik -Die Kronprätendenten 28 Jensen,Wilhelm - Gradiva 37 f. Kafka, Franz -Das Urteil 85,95 -Die Verwandlung 95 Krafft-Ebing, Richard - Psychopathia sexualis 64 Kraus,Kar! -Die demolirte Literatur 25, 96 -Zur Überwindung des Hermann Bahr 25 Lessing, Gotthold Ephraim -Miss Sara Sampson 122 Mach,Ernst -Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen 50 f. Mann,Thomas -Der Tod 95 -Der Tod in Venedig 55,95 Meyer,Conrad Ferdinand -Die Versuchung des Pescara 62 f. Möbius, Paul Julius - Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes 64 Nietzsche, Friedrich -Jenseits von Gut und Böse 50 Platen,August von - Sonette aus Venedig 55 Rilke, RainerMaria -Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge 95

Werkregister

Sachs, Hans - Ein comedi von dem reichen sterbenden menschen,der Hecastus genannt 123 Saiten, Felix - Der Hinterbliebene 96 - Josefine Mutzenbacher. Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt 67 Schiller, Friedrich - Kabale und Liebe 122 Schnitzler, Arthur - Anatol 35,68,86 - Blumen 60 - Das Märchen 72

- Der Weg ins Freie 77 - Die Gefährtin 73f. - Die Toten schweigen 56,59, 96 - Fräulein Else 38,55, 70f., 105f.,111ff. - Frau Beate und ihr Sohn 38, 54f.,59,68,70,105ff., 11Of. - Frau Berta Garlan 54f.,105 - Freiwild 76 - Komödie der Worte 73 - Leutnant Gustl 17,52,75f., 106,111 - Liebelei 17,23,65,67,69, 71,75,l15ff.

- Denksteine 68,75

- Paracelsus 40

- Der einsame Weg 67

- Professor Bernhardi 72,

- Der Schleier der Beatrice 57ff.

77f. - Reigen 34f., 68f., 75,86

- Sterben 17,25,55,63,96ff., 104f. - Stunde des Erkennens 73f. - Therese. Chronik eines Frauenlebens 105 - Über Psychoanalyse 39 - Zwischenspiel 72ff. Simmel, Georg - Die Großstädte und das Geistesleben 49 Sophokles - Elektra 70 - König Ödipus 36,41 Storm, Theodor - Tiefe Schatten 62 Weininger, Otto - Geschlecht und Charakter 64 Wengraf, Edmund - Kaffeehaus und Literatur 24

Die Autoren danken Michael Vauth für die Erstellung der Register und die umsichtigen Korrekturen.

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